Verstehen in professionellen Handlungsfeldern
0317
2010
978-3-8233-7519-7
978-3-8233-6519-8
Gunter Narr Verlag
Arnulf Deppermann
Ulrich Reitemeier
Reinhold Schmitt
Thomas Spranz-Fogasy
Wechselseitige Verständigung ist eine Grundvoraussetzung für das Gelingen von Kooperation. Die Art und Weise des Verstehens richtet sich dabei nicht nur nach den zu verstehenden Äußerungen des Gesprächspartners, sondern ebenso nach den Zwecken der Interaktion und den Beteiligungsrollen der Akteure.
Die Autoren zeigen, wie in unterschiedlichen Typen institutioneller Interaktion (in Arzt-Patient-Gesprächen, in der Migrationsberatung und beim Dreh eines Films) Verstehen im Gespräch angezeigt und ausgehandelt wird. Auf Grundlage von Audio- und Videoaufnahmen werden die sprachlich-kommunikativen und kinesischen Verfahren der Dokumentation von Verstehen untersucht. Besonderes Augenmerk gilt dabei dem Zuschnitt auf den jeweiligen Gesprächskontext und der Art und Weise, wie sozialstrukturelle Sachverhalte (institutionelle Routinen, Beteiligungsrechte und -pflichten, professionelle Identitäten) durch Verstehensdokumentationen in der Interaktion enaktiert werden. Dabei wird deutlich, dass Verstehen in der Interaktion nicht
nur retrospektiv, sondern ganz wesentlich auch antizipatorisch ausgerichtet ist. Welches Verstehen wem in welcher Weise angezeigt wird, ist dabei nicht nur kognitiven und kooperativen Belangen geschuldet. Verstehensdokumentationen haben auch handlungssteuernde Funktionen, die rhetorisch genutzt werden können.
<?page no="0"?> Arnulf Deppermann / Ulrich Reitemeier Reinhold Schmitt / Thomas Spranz-Fogasy Verstehen in professionellen Handlungsfeldern Studien zur Deutschen Sprache F O R S C H U N G E N D E S I N S T I T U T S F Ü R D E U T S C H E S P R A C H E <?page no="1"?> S T U D I E N Z U R D E U T S C H E N S P R A C H E 5 2 <?page no="2"?> Studien zur Deutschen Sprache F O R S C H U N G E N D E S I N S T I T U T S F Ü R D E U T S C H E S P R A C H E Herausgegeben von Arnulf Deppermann, Stefan Engelberg und Ulrich Hermann Waßner Band 52 <?page no="3"?> Arnulf Deppermann / Ulrich Reitemeier Reinhold Schmitt / Thomas Spranz-Fogasy Verstehen in professionellen Handlungsfeldern <?page no="4"?> Redaktion: Franz Josef Berens Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. © 2010 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Satz: Tröster, Mannheim Druck und Bindung: Laupp & Göbel, Nehren Printed in Germany ISSN 0949-409X ISBN 978-3-8233-6519-8 <?page no="5"?> Inhalt Arnulf Deppermann Zur Einführung: ‘Verstehen in professionellen Handlungsfeldern’ als Gegenstand einer ethnographischen Konversationsanalyse ...................... 7 Thomas Spranz-Fogasy Verstehensdokumentation in der medizinischen Kommunikation: Fragen und Antworten im Arzt-Patient-Gespräch......................................... 27 Ulrich Reitemeier Verstehensdokumentation in der Migrationsberatung: Transformationen zwischen institutioneller und Betroffenenperspektive ............................................................................... 117 Reinhold Schmitt Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset: Antizipatorische Initiativen und probeweise Konzeptrealisierung .................................................................................... 209 Arnulf Deppermann Konklusionen: Interaktives Verstehen im Schnittpunkt von Sequenzialität, Kooperation und sozialer Struktur .............................. 363 Ausführliches Inhaltsverzeichnis der Beiträge ........................................... 385 <?page no="7"?> 01_Einleitung_final Arnulf Deppermann Zur Einführung: ‘Verstehen in professionellen Handlungsfeldern’ als Gegenstand einer ethnographischen Konversationsanalyse 1. Verstehen als Anforderung in professionellen Handlungsfeldern Verstehen ist eine Grundvoraussetzung für interaktive Kooperation: Einen Beitrag zur Interaktion zu leisten erfordert, dass die Beteiligten die Äußerungen und Handlungen ihrer Partner verstehen, um ihr eigenes Handeln an diesem Verständnis auszurichten und es passend anzuschließen (vgl. Tomasello et al. 2005). Verstehen ist damit grundlegend für die Ausbildung von Intersubjektivität: Die arbeitsteilige Bewältigung von Aufgaben, die Verfolgung gemeinsamer Ziele und die Klärung von Interaktionsproblemen ist darauf angewiesen, dass die Interaktionsteilnehmer zu einem hinreichend geteilten Verständnis der zurückliegenden Interaktionsgeschichte, des erreichten Stands ihrer Interaktion und der (als nächstes) anstehenden Aufgaben gelangen. In den meisten Situationen des Interaktionsalltags ist Verstehen keineswegs ein Selbstzweck, wohl aber eine permanent mitzuvollziehende, unverzichtbare Leistung für die Ermöglichung von aufeinander bezogener Interaktion. Die These, dass Verstehen eine Bedingung der Möglichkeit für die Produktion von aufeinander bezogenen Interaktionsbeiträgen sei, meint hier nicht, dass dieses Verstehen ‘richtiges’ Verstehen sein müsse. Was ‘richtiges’ Verstehen sei, ist eine tückische Frage - Versuche, sie ernsthaft zu beantworten, führen in kaum auszulotende Tiefen psychologischer Spekulation und auf den schwankenden Boden perspektivengebundener normativer Setzungen (vgl. Coupland/ Giles/ Wiemann (Hg.) 1991, Hinnenkamp 1998). Für die Möglichkeit des interaktiven Handelns als solche ist es aber zunächst einmal gar nicht nötig, (in welchem Sinne auch immer) ‘richtig’ zu verstehen. Wohl aber ist es erforderlich, Verhalten des Partners als zeichenhaft und (im Grice'schen Sinne) reflexiv intentional, d.h. zum Verstehen durch den Adressaten bestimmt, zu deuten (vgl. Grice 1969). Grundlegend für interaktive Beteiligung ist es, eine wie auch immer beschaffene Verstehenshypothese hinsichtlich der Bedeutung des Handelns des Partners, seiner Intentionen und Erwartungen und seiner Wissensvoraussetzungen zu bilden. Nur auf dieser Grundlage kann eine Hand- <?page no="8"?> Arnulf Deppermann 8 01_Einleitung_final lung vollzogen werden, die sich an einen oder mehrere spezifische Adressaten unter bestimmten Interaktionsbedingungen richtet und die ihrerseits so beschaffen ist, dass sie von diesen verstanden und beantwortet werden kann. Zwar muss sich solches Verstehen stets auf (retrospektiv) verfügbare hör- und sichtbare Anhaltspunkte stützen. Die Frage nach der ‘Richtigkeit’ des Verstehens entscheidet sich aber erst durch seine Zukunft, d.h. die Folgen der Handlung, die auf einem gewonnenen Verständnis beruht. Und dies gilt sowohl für die Frage nach ‘richtig’ oder ‘falsch’ als auch z.B. dafür, wie wichtig die Genauigkeit des Verständnisses oder bestimmte Aspekte des Verstandenen überhaupt für die Interaktion sind. Nicht also um ‘richtiges’ vs. ‘falsches’ Verstehen und um das Gelingen und Misslingen von Verständigung, sondern um das viel grundlegendere, unerlässlich stets mitlaufende und die Grundlage für alles Handeln schaffende wechselseitige Verstehen in der Interaktion soll es in diesem Band gehen. Welche Probleme dabei auftauchen, wie sich subjektives Verstehen zu intersubjektiver Verständigung verhält und wie es im gemeinsamen Interaktionsprozess zu letzterer wird, wird dann ausgehend von den Formen der Dokumentation von Verstehen in Interaktionen durch bestimmte sprachliche und kinetische Praktiken untersucht. Der vorliegende Band entstand aus der Arbeit im Projekt „Sprachlich-kommunikative Praktiken der Dokumentation von Verstehen in der verbalen Interaktion“, das 2007 in der Abteilung Pragmatik des Instituts für Deutsche Sprache, Mannheim, begonnen wurde. Unsere Datenanalysen beruhen auf Gesprächsaufnahmen aus unterschiedlichen professionellen Handlungsfeldern wie Arzt-Patient-Interaktionen, der Migrationsberatung, Interaktionen auf dem Filmset, Psychotherapiegesprächen, Fernsehdiskussionen und hochschulischen Lehr-Lern-Interaktionen. 1 Ein erster Befund, der uns selbst in seiner Reichweite überraschte, war, in welch hohem Maße sich Verstehen in der Interaktion je nach professionellem Handlungsfeld, in dem die Interaktion stattfindet, unterschiedlich gestaltet. ‘Verstehen in der Interaktion’ ist alles andere als ein homogener Gegenstandsbereich: Die besonderen interaktions- und sozialstrukturellen Gegebenheiten, die unterschiedliche Typen professioneller Interaktionen prägen, schlagen sich unmittelbar auch in einer unterschiedlichen Typik des Verstehens nieder. Ohne den Ergebnissen der einzelnen Kapitel dieses Buchs hier schon vorgreifen zu wollen, seien die wesentlichen Dimensionen dieser Unterschiede des Verstehens in Feldern professioneller Interaktion und den in ihnen vorkommenden Interaktionstypen genannt: 1 In der Folge konzentrierte sich die Arbeit vornehmlich auf die drei erstgenannten Interaktionstypen, die denn auch in diesem Buch systematisch untersucht werden. <?page no="9"?> Zur Einführung 9 01_Einleitung_final - Gegenstände des Verstehens: Was anhand von Partneräußerungen im Gespräch zu verstehen ist, kann vollkommen Unterschiedliches sein: referenzielle Bedeutungen, Redeintentionen, sequenzielle und rollengebundene Handlungserwartungen, fachliche oder künstlerische Konzepte, psychische Zustände, Bewertungen, soziale Typisierungen etc. - Aufgaben des Verstehens: Es ist nicht entscheidend, ob Äußerungen mit guten Gründen von Beobachtern in einer bestimmten Weise interpretiert werden können, sondern, welches Verstehen für die Interaktion relevant ist und wie es dort weiter verarbeitet wird. Dies hängt wesentlich vom Zweck und den thematischen Relevanzen der Interaktion ab. Das Verstehen psychischer Befindlichkeiten der Beteiligten ist z.B. für viele institutionelle Interaktionen kaum relevant, erst recht wird es nicht ausführlich thematisiert. - Beteiligungsrollenbezogene Lizenzen und Pflichten: Verstehen ist nicht nur hinsichtlich seines Gegenstands aspektuell, sondern auch beteiligungsrollenbezogen perspektivisch: Verstehenspflichten sind oft asymmetrisch verteilt, etwa hinsichtlich der Notwendigkeit, das gewonnene Verständnis dem Gesprächspartner anzuzeigen - so muss der Schüler zeigen, dass er den Lehrer verstanden hat, umgekehrt ist dies nicht unbedingt der Fall -, oder hinsichtlich der unterschiedlichen Handlungserwartungen, die beispielsweise aus der Ankündigung einer Probe auf dem Filmset für die Funktionsrollenträger ‘Kamerafrau’, ‘Beleuchter’ oder ‘Schauspieler’ jeweils folgen und von ihnen „verstehend“ umzusetzen sind. - Probleme des Verstehens: Konfligierende Interessen und Ziele der Beteiligten, unterschiedliche Wissensbestände und Erfahrungshintergründe führen zu Verstehenshindernissen, Nichtverstehen, Missverstehen und zu fachlich spezifischen Modi des Verstehens (z.B. im Kontext psychotherapeutischer oder juristischer Deutungsschemata). Sie können Offenlegungen und Klärungen in Reparatur- und Insertionssequenzen und anderen Interaktionsformen, die auf Perspektivenangleichung spezialisiert sind (z.B. Anamnesegespräche, biographische Erzählpassagen, fachliche Vermittlungsexkurse), nötig machen. - Sprachlich-kommunikative Praktiken: Der beobachtbare, sprachlichkommunikative (aber auch kinetische, siehe unten) Ausdruck von Verstehen wird von uns als „Verstehensdokumentation“ bezeichnet (siehe Deppermann/ Schmitt 2008). Die Spannweite von Verstehensdokumentationen reicht von expliziten Thematisierungen von Verstehen (ich verstehe nicht, was du …) über explizite Manifestationen des Verstandenen (ihr wollt jetzt <?page no="10"?> Arnulf Deppermann 10 01_Einleitung_final also…), kodierte Dokumentationsformen, d.h. auf die Kundgabe von Verstehen spezialisierte sprachliche Formen (z.B. durch Rückmeldesignale oder Modalpartikeln), bis hin zu Fällen, in denen das Verstehen gar keine Spur an der Verhaltensoberfläche hinterlässt, sondern nur als situierte Präsupposition des Handelns erschließbar ist, wie z.B. das Verständnis der vorangegangenen Frage in der folgenden Antwort. Verstehen kann also in sehr unterschiedlicher Explizitheit und mit sehr verschiedenem Aufwand dokumentiert werden, es kann durch verständiges Handeln demonstriert oder (bloß) behauptet werden (vgl. Sacks 1992). - Relevanz der visuellen Kommunikation: Sowohl die Verstehensgegenstände als auch die Verstehensdokumentationen betreffen in vielen Fällen nicht nur sprachliches Handeln, sondern auch das beobachtbare kinetische Verhalten. In der multimodalen Interaktion gibt es vieles zu verstehen, was nicht sprachlich angezeigt wird, z.B. den Bezug einer Zeigegeste, einen skeptischen Gesichtsausdruck oder die Abwendung des Oberkörpers als Signal für die bevorstehende Gesprächsbeendigung. Verstehen kann z.B. durch das einer Aufforderung entsprechende, erwartete Handeln gezeigt werden. „Wortloses Verstehen“ spielt naturgemäß in empraktischen Interaktionen oder solchen, die durch längere Strecken kooperativer Interaktion ohne Verbalisierung geprägt sind, eine viel größere Rolle als bei dominant verbalen Interaktionen. - Eigenwertigkeit von Verstehen: Während das möglichst genaue retrospektive Verstehen von Partneräußerungen z.B. in der Psychotherapie oder in Lehr-Lern-Interaktionen phasenweise den Hauptzweck des Gesprächs ausmacht, ist in Interaktionen, die sich auf die Herstellung praktischer Produkte richten, Verstehen lediglich Mittel zum Zweck, so dass es hier fast nur in (problematischen) Ausnahmefällen kurzzeitig zum Interaktionsfokus wird. - Validierung von Verstehen: Die Genauigkeit des für die Interaktionszwecke und für das Folgehandeln erforderlichen Verständnisses und folglich die Anwendung entsprechender Explikations- und Prüfverfahren variiert hochgradig. Wir sehen also, dass die allgemeinen, in der Literatur schon vielfach beschriebenen Eigenschaften institutioneller bzw. professioneller Interaktion, die sie von nicht-institutionellen Gesprächen „unter Gleichen“ unterscheiden, sich in einer enormen Varianz von Verstehensaufgaben, -problemen und -dokumentationspraktiken äußern. Diese resultieren aus den für professionelle Handlungsfelder konstitutiven Eigenschaften wie feldspezifischen Interaktions- <?page no="11"?> Zur Einführung 11 01_Einleitung_final zwecken und -aufgaben, Asymmetrien von Wissen, Macht und Betroffenheit zwischen Experten und Laien, rollenspezifischen Rechten und Pflichten von Funktionsrollenträgern in arbeitsteilig organisierten Interaktionen, institutions- und fachspezifischen Deutungsschemata und Inferenzregeln, institutionellen, interaktionstypspezifischen Sequenzmustern und Handlungsschemata sowie für bestimmte institutionelle Handlungen typischen Formulierungsmustern und speziellen Regeln des Sprecherwechsels (vgl. etwa Nothdurft/ Reitemeier/ Schröder 1994, Heritage 1997, Drew/ Sorjonen 1997, Kallmeyer 1985, Arminen 2005, Brünner 2000). Verstehen ist eine Aufgabe, die sich unter anderem an der Erkenntnis genau dieser Sachverhalte zu bewähren und sich innerhalb des von ihnen abgesteckten Rahmens und in Auseinandersetzung mit ihm zu vollziehen hat. In diesem Buch nähern wir uns daher dem Verstehen in der Interaktion ausgehend von spezifischen Interaktionssituationen: Anstelle vorschneller Generalisierungen rekonstruieren wir zunächst einmal die Situiertheit des Verstehens in seiner Bindung an die besonderen Handlungsstrukturen verschiedener professioneller Felder und spezifischer noch an die lokalen Interaktionsmomente, in denen sich ganz bestimmte Verstehensaufgaben und Möglichkeiten ihrer Bearbeitung eröffnen. Verallgemeinernde Überlegungen, die sich aus dem Kontrast der von uns untersuchten Handlungsfelder ergeben, stellen wir im Abschlusskapitel dieses Buchs an. Als professionelle Handlungsfelder untersuchen wir hier die Arztpraxis, die Beratung von Migranten und das Filmset. Diese drei Felder repräsentieren natürlich nur einen kleinen Ausschnitt der gesellschaftlichen Handlungspraxis. Sie eignen sich aber besonders gut für den Zweck, einen Zugriff auf die Spannweite unterschiedlicher Verstehenskonstellationen und ihres Zusammenhangs mit sozialstrukturellen Sachverhalten zu gewinnen, da sie sich auf verschiedenen, für die besondere Typik des Verstehens sehr relevanten Dimensionen markant unterscheiden: - Die Interaktionen finden in unterschiedlichen Sektoren der Gesellschaft statt (Medizin, Verwaltung/ Recht, Kunst), die sich jeweils durch spezielle, für die Interaktion relevante Fachwissensbestände, professionelle Routinen und Verstehensgegenstände auszeichnen. - In Arzt-Patient-Gesprächen und in der Migrationsberatung treffen wir auf typische Experten-Laien-Konstellationen, während der gemeinsame Dreh eines Films in einer vollprofessionellen Interaktion geschieht, in der unterschiedliche Funktionsrollen arbeitsteilig kooperieren. - In der Migrationsberatung kommt zusätzlich zu den Asymmetrien von Wissen, institutioneller Macht und lebensweltlicher Betroffenheit noch <?page no="12"?> Arnulf Deppermann 12 01_Einleitung_final die Asymmetrie des sprachlichen und kulturellen Wissens hinzu, was die Verständigung besonders erschwert und spezielle Reparaturmechanismen erforderlich macht. - Der Filmdreh richtet sich letztlich auf ein materiales Produkt (den Film), das sich jenseits des Gesprächs objektiviert. In ihm ist die verbale Interaktion nur ein - oftmals untergeordnetes und temporär suspendiertes - Medium der leiblichen Kooperation. Demgegenüber sind die ärztliche Anamnese, die hier innerhalb der Arzt-Patient-Gespräche vorrangig betrachtet wird, und das Beratungsgespräch dominant verbale Interaktionen, in denen der Aufmerksamkeitsfokus der Beteiligten fast ausschließlich auf Sprachlichem liegt. Die in diesen Gesprächen zu erzielenden Resultate sind wesentlich sprachlich verfasst (medizinische Diagnose bzw. beraterische Empfehlungen, Auflagen, Auskünfte etc.). - Die hier untersuchten Arzt-Patient-Gespräche und Beratungen sind dyadisch, die Interaktion auf dem Filmset ist dagegen eine Mehrparteien-Situation mit wechselnden personalen Konstellationen fokussierter Interaktion (im Sinne von Goffman 1963). Dadurch entstehen grundlegend andere interaktive Gegebenheiten wie Situationen der Mehrfachadressierung oder die Notwendigkeit, Monitoring hinsichtlich der Verfügbarkeit anderer Interaktionspartner zu betreiben (vgl. Schmitt/ Deppermann 2007). - Im Unterschied zu den beiden anderen Situationen findet die Interaktion auf dem Filmset nicht in einer weitgehend statischen körperlichen Ausrichtung der Interaktionsteilnehmer aufeinander statt. Diese sind vielmehr permanent (gehend, Objekte manipulierend, Szenen vorspielend etc.) in Bewegung, so dass hier die Konstitution und Abgrenzung temporärer gemeinsamer Interaktionsräume zu einer immer wieder neu zu bewältigenden Aufgabe wird (siehe auch Schmitt/ Deppermann 2010). 2. Zur Gegenstandsbestimmung und zur Methodik der Untersuchung von Verstehen in der Interaktion ‘Verstehen’ ist ein Begriff, der sich zunächst einmal auf lautlose und unsichtbare mentale Aktivitäten zu beziehen scheint, die die Voraussetzung für Handlungen, die auf ihm beruhen, sind. Verstehen ist nicht nur als mentaler Prozess dem Handeln vorausgesetzt: Was warum wie verstanden wurde, ob ein gezeigtes bzw. vermutetes Verständnis akzeptiert wird, muss erkennbar demonstriert werden, um das Handeln (auf einer geteilten Basis) fortsetzen zu können (Clark 1996). Da die Einschätzung des wechselseitigen Verstehens somit eine unhintergehbare Voraussetzung ist, um Handlungen zu koordinieren und geteilte Wirklichkeiten im Gespräch herzustellen, müssen die Teilnehmer Ver- <?page no="13"?> Zur Einführung 13 01_Einleitung_final stehen im Gespräch einander hör- und beobachtbar, als empirisches Phänomen aufzeigen. Verstehen ist außerdem nicht nur ein rezeptives Phänomen, sondern prozessualer Gegenstand interaktiver Aushandlung in Sequenzen, die sich durch Nachfragen, Korrekturen, Präzisierungen, Erläuterungen etc. bilden. Die Dokumentation von Verstehen in Form von verbalen und anderen kinetischen Aktivitäten, mit denen Interaktionsteilnehmer einander öffentlich die Interpretationen des eigenen und fremden Handelns fortlaufend wechselseitig aufzeigen, ist daher eine basale, permanent relevante Aufgabe (Deppermann/ Schmitt 2008). Die Untersuchung von Verstehen in der Interaktion erfordert somit eine eigenständige Gegenstandskonstitution, die weder aus kognitionspsychologischen Untersuchungen, welche sich für die mentalen Prozesse beim Textverstehen interessieren (z.B. Kintsch 1998), noch aus der hermeneutischen Tradition der philologischen, juristischen und theologischen Textauslegung zu gewinnen ist (siehe Scholz 2001). Vielmehr muss der Gegenstand ‘Verstehen in der Interaktion’ ausgehend von der Verstehensdokumentation als beobachtbar zu bearbeitender interaktiver Aufgabe und von den spezifischen Konstitutionsbedingungen der mündlichen Interaktion, nämlich der Interaktivität, dem Situationsbezug, der multimodalen Materialität der lautlichen und kinetischen Verstehensdokumentation und der pragmatischen Rahmung der Interaktion her konzipiert werden (siehe Deppermann 2008). Die Analyse von Verstehensdokumentationen erfordert einen rekonstruktiven Untersuchungsansatz, der die beobachtbaren kommunikativen Phänomene aufsucht, die von Interaktionsteilnehmern als Anzeichen und Ausdruck von Verstehensprozessen produziert und (wiederum beobachtbar) behandelt werden und die in gleicher Weise vom Forscher in ihrer Fixierung auf Audio- oder Videoaufnahme und Transkript beobachtet werden können. Da Verstehensdokumentationen ‘displays’ - also Aktivitäten, mit denen die Interpretation des Handelns aufgezeigt wird - im Sinne der Konversationsanalyse sind (vgl. Sacks/ Schegloff/ Jefferson 1974), ist der hier gewählte methodische Zugang grundsätzlich konversationsanalytisch. ‘Verstehen’ wird nicht als Explanans für interaktives Handeln angesetzt. Im Einklang mit anderen konversationsanalytischen Ansätzen zur Erforschung von sozialen und kognitiven Größen wird ‘Verstehen’ vielmehr als sprachlich-kommunikativ verdeutlichtes und interaktiv hergestelltes Phänomen untersucht (vgl. te Molder/ Potter (Hg.) 2005 für ‘Kognition’; Zimmerman/ Boden (Hg.) 1991 für ‘soziale Strukturen’). Das Interesse richtet sich auf die methodischen Praktiken der Verstehensdokumentation, mit denen Interaktionsteilnehmer dies tun und auf die Systematik der dabei emergierenden interaktiven Prozesse. <?page no="14"?> Arnulf Deppermann 14 01_Einleitung_final Zentral für diese Untersuchung sind die beiden konversationsanalytischen Untersuchungsprinzipien der Sequenzanalyse und der Maxime „order at all points“ (Sacks 1984). Die Sequenzanalyse trägt der ubiquitären Relevanz von ‘nextness’ in der Interaktion Rechnung: Interaktionsteilnehmer sind potenziell in jedem Interaktionsmoment verstehensbezogen rechenschaftspflichtig und in ihren Handlungen als Verstehende interpretierbar, da Verstehen (wie auch Nicht-Verstehen) stets retrospektiv kontextbezogen, d.h. (zumindest) in Bezug auf den vorangehenden Turn anzuzeigen ist; umgekehrt ist jedes angezeigte (Nicht-)Verstehen selbst ein potenzieller Gegenstand der Stellungnahme im folgenden Turn (vgl. Heritage 1995). In diesem retrospektiven Bezug der Verstehensdokumentation und ihrer prospektiven weiteren interaktiven Bearbeitbarkeit (und insbesondere Validierbarkeit und Korrigierbarkeit durch (den) nächste(n) Turn(s)) liegt ihre unhintergehbare Bindung an die Sequenzialität der Interaktion. Die Maxime „order at all points“ geht Hand in Hand mit der Sequenzanalyse. Sie ist gewissermaßen eine ihrer „Ausführungsbestimmungen“, da sie nämlich besagt, dass im sequenziellen Prozess prinzipiell jedes auch noch so zufällig oder irrelevant erscheinende Verhaltensphänomen als systematisch hervorgebracht zu analysieren ist, d.h. in unserem Kontext: potenziell Verstehen dokumentierende Qualität haben kann. Sequenzialität und „order at all points“ weisen zusammengenommen darauf hin, dass es wohl spezialisierte generische Praktiken der Verstehensdokumentation geben mag (die natürlich auch ein eminentes Forschungsinteresse darstellen), dass aber grundsätzlich jedes interaktive Verhalten im konkreten Moment seiner sequenziellen Produktion eine indexikalische, Verstehen dokumentierende Rolle annehmen kann, die fallbezogen zu rekonstruieren ist. 2 Der konversationsanalytische Ansatz wird in diesem Buch durch zwei weitere methodische Zugänge ergänzt: Zum einen durch die Integration einer ethnographischen Betrachtungsweise, zum anderen durch die multimodale Videoanalyse. Die ethnographische Ergänzung besteht darin, dass forscherseitige Kenntnisse des professionellen Handlungsfelds, die auf teilnehmender Beobachtung, Experteninterviews, feldbezogenem Wissen über die fachliche Ausbildung und die berufliche Sozialisation der Akteure und auf früheren eigenen Gesprächsanalysen zum gleichen Handlungsfeld beruhen, im Rahmen der Konversationsanalysen fruchtbar gemacht werden. Diese Integration von Ethnografie ist vielfach notwendig, um die Qualität von Verhaltensäußerungen 2 Dies ist besonders augenfällig bei den präsuppositionalen Verstehensdokumentationen, die ihren Verstehen dokumentierenden Gehalt einzig und allein aus ihrer interaktiven Platzierung und ihrer speziellen Relation zum vorangegangenen Interaktionsverlauf gewinnen, nicht aber aus irgendwelchen kontextfrei funktionierenden Oberflächenmarkierungen. <?page no="15"?> Zur Einführung 15 01_Einleitung_final als Verstehensdokumentationen, die an spezifischen Aspekten der Partneräußerung ansetzen und die spezifische Interpretationen anzeigen, zu erkennen und um die Systematik ihrer speziellen Ausformung und ihre Funktion zu ermitteln. Damit wird die Konversationsanalyse keineswegs durch eine subsumptive Ethnografie ersetzt, die die Bedeutung von Verstehensdokumentationen aufgrund ethnographischer Vor-Urteile unabhängig [von? ] der genauen Konversationsanalyse zu identifizieren meinte. Vielmehr werden ethnographische Wissensbestände im Rahmen der methodischen Restriktionen der Konversationsanalyse zur sensitiveren, umfassenderen und valideren Rekonstruktion von ‘displays’, die für die Interaktionsteilnehmer selbst gelten, von ethnographisch uninformierten Beobachtern aber nicht erkannt oder nicht zutreffend verstanden werden, eingesetzt (siehe Deppermann 2000). Diese ethnographische Ergänzung erscheint uns unerlässlich, wenn man es mit Handlungsfeldern zu tun hat, die sich durch die Ausbildung hochgradig spezifischer interaktiver Routinen und entsprechender Gesprächskulturen aufgrund von Fachlichkeit, Institutionalität und/ oder interaktionsgeschichtlich gegründeter Emergenz auszeichnen. Ethnografische Informationen sind dabei umso wichtiger, wenn man ein in so hohem Maße auf die Inhalte und Funktionen der Interaktion bezogenes Forschungsinteresse wie das am ‘Verstehen in der Interaktion’ verfolgt. Formale und strikt lokal motivierte und operierende Phänomene der Interaktionsorganisation lassen sich zwar oft auch (besser! ) ohne Ethnografie rekonstruieren. Ethnografie ist aber unerlässlich, wenn man die situierte pragmatische Leistung von Aktivitäten analysieren will, mit denen gesprächstranszendente, interdiskursive Referenzen auf beispielsweise medizinische Fachwissensbestände, juristische Rahmenbedingungen oder curriculare Lehrinhalte kontextualisiert werden und die nur mit Bezug auf komplexe, interdependente Zwecksetzungen und Erwartungen an das rollenspezifische Handeln im Rahmen von Interaktionstypen und längerfristigen ‘joint projects’ der Interaktionsteilnehmer zu verstehen sind (vgl. z.B. Cicourel 1992). Die zweite Ergänzung der konversationsanalytischen Methodik besteht in der multimodalen Videoanalyse. Sie wird im vorliegenden Band in der Untersuchung der Interaktion auf dem Filmset (Schmitt i.d.Bd., Kap. 5) angewendet. Die Videoanalyse ermöglicht einen methodischen Zugang zur Multimodalität des Interaktionsgeschehens. Mit ‘Multimodalität’ ist hier gemeint, dass die Interaktion nicht nur auditiv-lautsprachlich verfasst ist, sondern dass auch weitere kommunikative Ressourcen wie Gestik, Mimik, Blick, Bewegung im Raum oder die Manipulation von Objekten zur Verstehensdokumentation eingesetzt werden bzw. dass das Verstehen solcher Aktivitäten selbst zu einer Aufgabe wird (vgl. Goodwin 2000, Norris 2004). Interaktion vollzieht sich <?page no="16"?> Arnulf Deppermann 16 01_Einleitung_final nicht nur unter den Bedingungen von Zeitlichkeit, sondern auch von Räumlichkeit und nutzt diese (vgl. Mondada 2005b; Schmitt (Hg.) 2007). Mit der Räumlichkeit von Interaktion tritt jedoch neben die für die Lautsprache allein entscheidende (zeitliche) Sequenzialität die (räumliche) Simultaneität von visuell beobachtbaren Verhaltensäußerungen. Die Relevanz multimodaler Simultaneität regt zum Nachdenken über die Notwendigkeit der multimodalen Reformulierung zentraler konversationsanalytischer Konzepte wie ‘Turn-Taking’, ‘Pause’, ‘Rückmeldeaktivität’, ‘overlap’, ‘Beteiligter’ (statt ‘Sprecher’ vs. ‘Hörer’) etc. an (Schmitt 2005). In diesem Buch werden wir am Beispiel des Filmsets sehen, dass die Prozesse des Verstehens in einem Setting, in dem empraktisch und phasenweise ohne verbale Beteiligung interagiert wird, in dem mehrere Interaktionsteilnehmer präsent sind, diese durch Bewegung im Raum permanent veränderte Beteiligungsstrukturen herstellen (vgl. Goodwin/ Goodwin 2004) und in dem sich die Interaktion auf nicht-verbale, gegenständliche Resultate richtet, nur aufgrund einer multimodalen Videoanalyse rekonstruiert werden können. Hier interessiert besonders, welche zusätzlichen Aufgaben der Verstehensdokumentation in solchen Situationen entstehen (z.B. hinsichtlich der Verfügbarkeit der Aufmerksamkeit von Interaktionspartnern, der wechselseitigen Wahrnehmung, der Interpretation kinetischen Verhaltens und der sozialen Deutung räumlicher Konfigurationen) und welche relative Relevanz und spezifische Funktionalität den sprachlichen und anderen kinetischen Ressourcen des Handelns für die Verstehensdokumentation zukommt. In Deppermann/ Schmitt (2008, S. 238ff.) haben wir zehn Konstitutionsaspekte dargelegt, die unseres Erachtens bei einer konstitutionstheoretisch adäquaten Analyse von Verstehensdokumentation auf jeden Fall betrachtet werden müssen, um diese in ihren formalen, funktionalen und interaktiven Eigenschaften zu rekonstruieren: 1) Semiotische Realisierung der Verstehensdokumentation (Thematisierung, explizit, präsuppositional etc.), 2) Wahl einer Praktik der Verstehensdokumentation (Korrektur(initiierung), Verstehensappell, semantische Explikation, Intentionszuschreibung etc.), 3) Lokalisierung des Bezugskontexts (z.B. durch Adjazenz, Zitat, Anapher, Wiederholung), 4) Verdeutlichung des Verstehensgegenstands (z.B. Referenz, Intention, epistemische, evaluative oder emotionale Einstellung, Handlungserwartung), 5) Interpretation (= Zuweisung einer Bedeutung), <?page no="17"?> Zur Einführung 17 01_Einleitung_final 6) Herstellung der ‘accountability’ der Verstehensdokumentation (Obligatorik und Legitimation ihrer Relevanz und der Form ihres Vollzugs), 7) Kollaborative Bearbeitung und Feststellung eines Aushandlungsresultats (interaktives Schicksal der weiteren Behandlung der Verstehensdokumentation), 8) Bezug zur Gesprächsaktivität (Relevanz von Verstehensdokumentationen und spezifischen Verstehensaufgaben für die Gesprächszwecke), 9) Bezug zum beteiligungs- und sozialstrukturellen Rahmen (beteiligungsrollen- und institutionenspezifische Rechte und Pflichten der Verstehensdokumentation), 10) Rhetorische Funktionen (prospektive, interaktionssteuernde Funktionen der Verstehensdokumentation). Die bisherige Forschung hat bereits Erkenntnisse über sehr verschiedene Praktiken der Verstehensdokumentation in der Interaktion erbracht (vgl. Deppermann 2008 als Überblick). Grundlegend sind vor allem die Erkenntnisse zur Relation der Adjazenz als Grundlage für die permanente retrospektive Verstehensdokumentation (Sacks/ Schegloff/ Jefferson 1974, Schegloff 2007), zur Relation zwischen interaktiver Progression und Verstehensdokumentation (Heritage 2007), zum interaktiven ‘grounding’ (Clark 1992, 1996), die Untersuchungen zur Organisation von Reparaturen (z.B. Schegloff/ Jefferson/ Sacks 1977, Selting 1987, Egbert 2009), ‘formulations’ (Heritage/ Watson 1979), Wiederholungen (Schegloff 1996, Svennevig 2004), Reformulierungen (Gülich/ Kotschi 1996, Kindt 1998, Kindt/ Rittgeroth 2009) und Rückmeldeaktivitäten (Gardner 2001; Sorjonen 2001; Zifonun/ Hoffmann/ Strecker 1997, S. 360-408), zur Relevanz der so genannten „dritten Position“ in Interaktionssequenzen (Schegloff 1991, 1992) oder zur Bearbeitung von Missverständnissen (Hinnenkamp 1998). Diese Liste ist alles andere als vollständig. Dennoch ist zu konstatieren, dass die Frage, wie Verstehen in der Interaktion hergestellt wird, einen primär retrospektiven Blickwinkel auf interaktives Geschehen erfordert, welcher bislang meist im Schatten einer handlungs- und projektionsorientierten, prospektiven Betrachtungsweise von Interaktion stand. Die Erforschung von Verstehensdokumentationen führt notgedrungen zur Frage, wie Retrospektivität in der Interaktion organisiert ist, wie Retrospektives als solches verfügbar gemacht und für das zukünftige Handeln genutzt wird. Dies scheint uns, neben der stärkeren Einbeziehung inhaltlicher Aspekte, die neue Herausforderung für die Konversationsanalyse zu sein, die von der Untersuchung von Verstehen in der Interaktion ausgeht. <?page no="18"?> Arnulf Deppermann 18 01_Einleitung_final 3. Der Zusammenhang von sprachlichen und kinetischen Ausdrucksressourcen, Interaktions- und Sozialstruktur beim Verstehen in professionellen Handlungsfeldern Wir gehen davon aus, dass eine konstitutionstheoretisch angemessene Untersuchung von Verstehen in der Interaktion den Zusammenhang zwischen multimodalen Ressourcen, d.h., Lautsprache und anderen kinetischen Ausdrucksressourcen, Interaktions- und Sozialstruktur klären muss. Eine Konzentration auf nur eine oder zwei dieser drei Konstitutionsebenen würde entweder zu formal oberflächlichen und lückenhaften oder zu interpretativ verkürzten Analysen führen. Weder die in der Literatur gängigen Ansätze einer isolierten Betrachtung linguistischer Formen und Handlungstypen, der Identifikation von lokalen Mustern der Sequenzorganisation, die der besonderen sprachlichen und kinetischen Realisierung keine Beachtung schenkt und von der sozialen Kontextuierung von Interaktionen absieht, noch gar die abstrakte sozialtheoretische Diskussion von Verstehensfragen sind unseres Erachtens geeignet, die empirische Phänomenologie von Verstehen in der Interaktion angemessen aufzuschließen. In Bezug auf die multimodalen Ressourcen geht es darum, ihren Einsatz in ‘Praktiken’ der Verstehensdokumentation herauszuarbeiten. Eine Praktik ist ganz allgemein dadurch gekennzeichnet, dass bestimmte multimodale Ressourcen in bestimmten Kontexten für bestimmte Funktionen in der Interaktion verwendet werden (vgl. Mondada 2005a). Die Analyse von Praktiken erfordert die genaue Beschreibung ihrer sprachlichen oder kinetischen Realisierungsformen und deren sequenzieller Prozessierung in Turns und ihrer Einbettung in Interaktionssequenzen. Hierzu gehört auch die Klärung des Zusammenhangs von sprachlichen und nicht-sprachlichen Ressourcen, sowohl in Bezug auf ihre zeitliche Koordination als auch hinsichtlich ihrer funktionalen Spezifik und der wechselseitigen Substituierbarkeit (z.B. von Worten, Gesten und Körperpositurveränderungen, gegenständlichen Handlungen und Handlungsbeschreibungen). Die Ebene der Interaktionsstruktur umfasst zum einen die Sequenzorganisation als Mechanismus und Ressource der Aushandlung von Verstehen und der Herstellung von Intersubjektivität (siehe Schegloff 1992; Clark 1992; 1996; Schneider 1994, 2004). Dies geschieht sowohl durch auf Verstehenssicherung spezialisierte Sequenzen wie Reparatur-, Expansions- und Insertionssequenzen als auch durch die Wirksamkeit und Nutzung impliziter Konstitutionsmechanismen der Verstehensproduktion (z.B. durch zeitliche Nähe und Abfolge, den Sprecherwechsel oder die gestalthafte Kontur von Sequenzen durch Grenzmarkierungen). Hier angesiedelt sind auch Praktiken des ‘recipi- <?page no="19"?> Zur Einführung 19 01_Einleitung_final ent design’, mit denen Sprecher anzeigen, welche Verstehensannahmen (bezüglich geteilten Wissens oder spezifischer Wissensbestände und Intentionen des Partners) sie ihren Handlungen und ihrer Formulierungswahl zu Grunde legen (vgl. Schmitt/ Deppermann 2009). Zum anderen interessiert, wie übergreifende Handlungsorientierungen im Kontext von Interaktionstypen das Verstehen einzelner Turns und Sequenzen mitorganisieren. Hier geht es um die datengestützte Rekonstruktion der Relevanz der für einen Interaktionstyp (wie z.B. das Anmnesegespräch oder die Migrationsberatung) charakteristischen Beteiligungsstrukturen und -rechte (z.B. der Gesprächssteuerung, auf bestimmte Aktivitäten), der Routinisierungen von Formulierungswahl, Turnformaten und Handlungssequenzen sowie übergreifender Wissensbestände und Handlungsorientierungen, auf die sich lokale Verstehensinferenzen, welches Antwortspektrum z.B. bei der Frage eines Arzts oder Beraters relevant sein kann, und interaktionstypspezifische Formen der Verstehensdokumentation gründen. Interaktionstypen sind ein Bindeglied zwischen lokalen Interaktionsmomenten und allgemeineren sozialen Strukturen (Institutionen, Organisationen, sozialen Identitäten) und den diesbezüglichen Handlungsorientierungen und Wissensbeständen der Beteiligten. 3 Wie wir bereits eingangs feststellten, haben sich in unseren Untersuchungen Verstehensanforderungen, -probleme und die sprachlich-kommunikativen Praktiken ihrer Bearbeitung in auffälliger Weise als interaktionstypspezifisch und unmittelbar mit sozialstrukturellen Belangen verbunden erwiesen. Für die Untersuchungen von Verstehen in professionellen Handlungsfeldern bedarf es daher eines interaktionssoziologischen Ansatzes, der den Zusammenhang von sozialen und interaktiven Strukturen zum zentralen Untersuchungsgegenstand macht. Ein solcher Ansatz ist seit dem Niedergang der Sprachsoziologie in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre im deutschen Sprachraum nicht mehr verfolgt worden. 4 Er scheint jedoch nötig, will man nicht bei einer verkürzten, lokalen Sicht auf die Konstitutionsprozesse von Verstehen in der Interaktion stehen bleiben, die wesentliche funktionale Motivationen und strukturreproduzierende und -indizierende Potenziale von Verstehensdokumentationen übersieht. Je nach sozialem Kontext sind bereits die Verstehensgegenstände sehr unterschiedlich (z.B. subjektive 3 Vergleiche die entsprechenden Ausführungen zum Konzept der ‘kommunikativen Gattungen’ in Günthner/ Knoblauch (1994). 4 Dieser Niedergang setzte schon mit der Abwendung der objektiven Hermeneutik von der Untersuchung interaktiver Strukturen ein. Seit dem Ende des von Luckmann inspirierten Konstanzer Forschungsprogramms zu ‘kommunikativen Gattungen’ existiert die deutsche Sprachsoziologie de facto nicht mehr. <?page no="20"?> Arnulf Deppermann 20 01_Einleitung_final Befindlichkeiten im Arzt-Patient-Gespräch, juristische und bürokratische Sachverhaltskonzeptualisierungen in der Beratung, künstlerische Konzepte und funktionsrollengebundene Aufgabenprofile auf dem Filmset). Weitere Unterschiede bestehen darin, wie sich sozialstrukturell basierte Aufgaben und Probleme der Herstellung von Verständigung in der Interaktion manifestieren, mit welchen sprachlich-kommunikativen Praktiken Verständigungsaufgaben oder -probleme von den Beteiligten bearbeitet werden, und wie interaktives Handeln in institutionelle Deutungsschemata eingepasst wird (z.B. durch Zuschreibungen sozialer Eigenschaften zu Akteuren, instruierende, bewertende und sanktionierende Äußerungsformate, interdiskursive Verweise auf verstehensleitende Erwartungen). Dabei interessiert auch, wie sich Widerstände artikulieren, verstehensleitende Deutungsschemata explikations- und legitimationsbedürftig werden und welche Effekte Aushandlungsformen auf die (Re-) Produktion sozialer Strukturen haben. Verstehensphänomene scheinen uns insgesamt ein Schlüssel zum Zusammenhang von sozialer Struktur und Interaktionsstruktur zu sein, der über die Systematik sozialstrukturell basierter Beteiligungsrollen mit je spezifischen Rechten, Pflichten, Deutungsschemata und Wissensbeständen, institutionellen Zwecken und (zeitlichen, rechtlichen, fachlichen etc.) Rahmenbedingungen des Handelns vermittelt ist. Diese Drei-Ebenen-Sicht (multimodale Ressourcen - Interaktionsstruktur - Sozialstruktur) der Konstitution von Verstehensdokumentationen im Rahmen einer ethnographischen und multimodalen Gesprächsanalyse setzen wir in folgende Gliederung um, nach welcher die drei professionellen Handlungsfelder ‘Arztpraxis’, ‘Migrationsberatung’ und ‘Filmset’ und die in ihnen stattfinden Interaktionen jeweils dargestellt werden: a) Zunächst wird das Untersuchungskorpus beschrieben und es werden die allgemeinen pragmatischen Strukturen des Handlungsfeldes in ethnographischer Perspektive dargelegt. Hier geht es vor allem um die sozialen Rollen im Feld und ihre Handlungsrelevanzen (Gesprächsaufgaben, Betroffenheits-, Interessens- und Wissensasymmetrien, Hierarchie, Rechte und Pflichten in der Gesprächbeteiligung etc.), interaktionsrelevante institutionelle Rahmenbedingungen (rechtlich, zeitlich, ökonomisch etc.), die handlungsschematische und gattungsmäßige Organisation von Interaktionen im Feld und die Relevanz multimodaler Handlungskonstitution für die unterschiedlichen Interaktionsaufgaben im Feld. b) Auf der Basis von Ethnografie und gesprächsanalytischen Untersuchungen werden dann die wesentlichen feldspezifischen Aufgaben der Verstehensdokumentation und der Verständigungssicherung, die Spezifik der Verste- <?page no="21"?> Zur Einführung 21 01_Einleitung_final hensgegenstände, typische Verstehensprobleme und ihre Ursachen sowie beteiligtenspezifische Asymmetrien in Bezug auf die Verstehensdokumentation und -aushandlung erörtert. c) Die Gliederungsaspekte a) und b) schaffen den ethnographischen Kontext für die detaillierte sequenzanalytische und multimodale Untersuchung von feldtypischen Praktiken der Verstehensdokumentation. Nur durch die ethnographische Kontextualisierung kann deutlich werden, in welcher Weise diese für zentrale Interaktionsaufgaben im Handlungsfeld relevant sind. Die Ethnografie stellt außerdem interpretationsrelevantes Hintergrundwissen für die folgenden Detailanalysen bereit. Die Praktiken werden bzgl. der zehn Aspekte der Analyse von Verstehensdokumentation nach Deppermann/ Schmitt (2008, vgl. oben Kap. 2), analysiert. Da uns in diesem Buch vor allem die sozialstrukturelle Prägung und Relevanz von Verstehen interessiert, liegt das besondere Augenmerk der Analyse der Praktiken auf ihrem interaktionstypologischen Bezug und auf ihrer Bindung an ganz spezifische Beteiligungsstrukturen, die durch beteiligtenspezifische Interaktionsaufgaben, Wissensasymmetrien, Gesprächssteuerungsrechte, Autorisierungen und Zwänge zu Verstehensdokumentationen gekennzeichnet sind. Aus diesem Grund wurden pro Feld zwei (Gruppen von) Praktiken ausgewählt, die jeweils von bestimmten Rollenträgern im Feld realisiert werden. Die Auswahl der genau analysierten Praktiken der Verstehensdokumentation zielte darauf ab, solche Praktiken zu identifizieren, die entscheidend für die Bearbeitung zentraler Interaktionsaufgaben im Handlungsfeld sind und die gleichzeitig für dieses vermutlich recht spezifisch sind. Weiterhin haben wir Praktiken ausgewählt, die grundlegende Strukturen dieses Handlungsfelds gewissermaßen metonymisch reflektieren. Die Analysen der Praktiken sollen also auch die vorangegangenen summarischen ethnographischen Feststellungen über die sozialen Strukturen des Handlungsfelds datengestützt wenigstens teilweise einholen und damit für den Leser veranschaulichen und validieren. Die Parallelisierung der Darstellungen der drei Handlungsfelder hat auch den Zweck, ein Maximum an Systematik und Vergleichbarkeit der Untersuchungen zu gewährleisten. Dementsprechend werden im abschließenden Beitrag von Deppermann (i.d.Bd.) weiterführende Schlussfolgerungen gezogen, die sich zum einen auf die Herausarbeitung der wesentlichen Kontraste der feldspezifischen Befunde stützen, andererseits aber die Gemeinsamkeiten der Organisation von Verstehen in den verschiedenen Feldern zum Ausgangspunkt für verallgemeinernde Betrachtungen zur Logik des Verstehens in der Interaktion nehmen. <?page no="22"?> Arnulf Deppermann 22 01_Einleitung_final 4. Literatur Arminen, Ilkka (2005): Institutional interaction. Aldershot. Brünner, Gisela (2000): Wirtschaftskommunikation: linguistische Analyse ihrer mündlichen Formen. (= Reihe Germanistische Linguistik 213: Kollegbuch). Tübingen. Cicourel, Aaron V. (1992): The interpenetration of communicative contexts: Examples from medical encounters. In: Duranti, Alessandro/ Goodwin, Charles (Hg.): Rethinking context: Language as an interactive phenomenon. 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Einleitung Gespräche zwischen Arzt und Patient sind vertraulich und deshalb in hohem Maße - und dies sogar mit eigener rechtlicher Sicherung - vor dem Einblick durch Außenstehende geschützt. 1 Sie handeln von individuell erlebten und erlittenen Erfahrungen körperlichen Versagens, der Schädigung, des Leids und der Einschränkung bis hin zur existenziellen Bedrohung. Das Wissen über und das Erleben von Beschwerden und Krankheiten ist zwischen den Beteiligten sehr unterschiedlich, es ist daher erforderlich, die Beschwerden zu kommunizieren und zu explorieren. Jeder Patient bringt dabei seine persönliche Betroffenheit und seine eigene, individuelle Geschichte in das Gespräch mit ein, und es ist deshalb notwendig, dass der Arzt besondere Verstehensanstrengungen leistet, um der spezifischen Problematik jedes Patienten gerecht zu werden. Prozesse des Verstehens vollziehen sich jedoch in Gesprächen nicht nur still „in den Köpfen“ der Beteiligten, sondern bedürfen auch des gegenseitigen Aufzeigens und der gemeinsamen Abstimmung durch verbale (und natürlich auch andere symbolische) Ausdrucksmittel. Doch dabei sind es nicht nur semantische Aspekte der Ausdruckswahl und der Proposition, die bei gegenseitigem Verstehen und seiner Organisation eine Rolle spielen. Auch die sequenzielle Organisation des Geschehens und interaktionstypologische Merkmale unterstützen und sichern die Bemühungen der Beteiligten um die Herausbildung von Intersubjektivität, soweit sie für die gemeinsamen oder individuellen Handlungsziele von Bedeutung sind. Darüber hinaus besitzen auch sozialstrukturelle Eigenschaften der Situation und der Beteiligten, wie hier vor allem die Rolle des Arztes im Gespräch, in „seiner“ Praxis oder auch 1 Gerade deshalb danke ich den beteiligten Ärzt(inn)en und Patient(inn)en besonders für die Erlaubnis zur Aufzeichnung und Auswertung ihrer Gespräche und versuche, alle Sorgfalt walten zu lassen. Falls dennoch ein Leser glaubt, Rückschlüsse auf die beteiligten Personen ziehen zu können, möchte ich ihn darum bitten, diese für sich zu behalten - für die hier vorgenommenen Untersuchungen spielt die Identität der Personen auch keine Rolle. <?page no="28"?> Thomas Spranz-Fogasy 28 02 Spranz-Fogasy_final in der Gesellschaft überhaupt, als externe Einflussgrößen produktive, aber auch kontraproduktive Potenziale des Verstehens, Missverstehens und Nichtverstehens. 2 In dieser Arbeit geht es insbesondere um die Beiträge der sequenziellen und interaktionstypologischen Organisation in ärztlichen Gesprächen mit Patienten zur Dokumentation von und Vorsorge für gegenseitiges Verstehen und die damit verbundene Herstellung gemeinsamer Handlungsgrundlagen. Sequenzialität und Interaktionstypik werden als Verstehensressourcen betrachtet und zu rekonstruieren gesucht. Zunächst werden dazu in ethnografischer Zugangsweise verstehensorganisatorische Aspekte der Bedeutung und Funktion ärztlicher Gespräche in der Gesellschaft, im institutionellen und situativen Zusammenhang und in ihren handlungsstrukturellen Eigenschaften untersucht (Kap. 2). 3 Die nachfolgenden beiden Kapitel befassen sich mit zwei häufig vorkommenden komplementären interaktiven Handlungen im Rahmen der gemeinsamen Beschwerdenexploration im Arzt-Patient-Gespräch: ärztliche Fragen (Kap. 3) und Antworten der Patienten (Kap. 4). Der besondere Fokus dieser Untersuchung liegt hier auf den expliziten und impliziten Beiträgen dieser Aktivitätstypen zur Organisation des Verstehens; rekonstruiert werden dabei zwei markante Praktiken der Dokumentation von Verstehen, die explikative ärztliche (Deklarativsatz-)Frage und die antizipative Reaktion in Antworten von Patienten auf ärztliche Fragen. 2. Ärztliche Gespräche als kommunikatives Zentrum des Gesundheitswesens Gesundheit und Krankheit sind zentrale Themen moderner Gesellschaften, die Rede ist gar von der „Gesundheitsgesellschaft“ (Kickbusch 2006). Gesundheit ist ein hochwertiges individuelles und soziales Gut, für deren Erhaltung und Wiederherstellung die Gesellschaft ein komplexes, hochdifferenziertes Funktionssystem bereitstellt. Und auch viele andere Gesellschaftsbereiche wie Wirtschaft, Medien, Recht oder Erziehung sind maßgeblich mit dem Gesundheitsdiskurs befasst: Zeitung und Fernsehen bieten Gesundheitsrubriken, Millionen Internetseiten beschäftigen sich mit Aspekten der Gesundheit und 2 Zu Aspekten der Verstehensorganisation auf den verschiedenen Strukturebenen siehe für das ärztliche Gespräch auch Deppermann/ Spranz-Fogasy (i.Vorb.), Spranz-Fogasy/ Lindtner (2009). 3 Zum ethnographischen Vorgehen und seiner Relevanz für gesprächsanalytische Untersuchungen siehe Deppermann (2000) und Spranz-Fogasy/ Deppermann (2001). Zu Aspekten der Gesprächssituation allgemein siehe Deppermann/ Spranz-Fogasy (2001). <?page no="29"?> Verstehensdokumentation in der medizinischen Kommunikation 29 02 Spranz-Fogasy_final auch in der Politik und Bildung zählt Gesundheit als wichtiges Erziehungsziel. Auch ökonomisch drückt sich die gesellschaftliche Bedeutung dieser Thematik aus: Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes Wiesbaden wurden im Jahr 2005 ca. 10,7% des Bruttoinlandsprodukts der Bundesrepublik Deutschland im Gesundheitswesen erwirtschaftet. 4 Kommunikation spielt im Gesundheitswesen eine besondere Rolle. Mündliche Kommunikation verbindet die Mitglieder unterschiedlicher Gesundheitsberufe und ihre Patienten in Anamnesegesprächen, Visiten, Aufklärungsgesprächen, Dienstübergaben und Teambesprechungen oder auch handlungsbegleitend in Anweisungen am OP-Tisch, Bitten um Mitarbeit bei der körperlichen Untersuchung usw. Zahllose schriftliche Texte sichern die Leistungen von Krankenbetreuungsinstitutionen wie Patientenakten, Arztbriefe, Überweisungen, Rezepte, Krankschreibungen oder Beipackzettel. Das Gespräch zwischen Arzt und Patient kann dabei als elementare Einheit des Gesundheitswesens (Hart 1998, S. 8) gesehen werden bzw. liegt, wie es Epstein/ Campbell/ Cohen-Cole (1993) formulierten, im „Herz der Medizin“: 5 Hier werden Beschwerden exploriert und Diagnosen erstellt, 6 hier werden Behandlungspläne entwickelt und entschieden und die relevanten ökonomischen Entscheidungen des Gesundheitswesens getroffen. Hier werden aber auch die psychosozialen Grundlagen für das zukünftige Befolgen von ärztlichen Ratschlägen und für die Kontrollüberzeugung von Patienten hergestellt und damit psychosoziale Grundlagen für Behandlungsergebnisse geschaffen (Stewart 1995). Damit zeigt sich die salutogenetische Bedeutung der Arzt-Patient-Interaktion als „machtvoller Auslöser für Selbstheilungsprozesse“ (Di Blasi/ Kleijnen 2003). Darüber hinaus macht die gesamtgesellschaftliche Entwicklung zu autonomeren und stärker selbstbestimmten Bürgern (Gerhards 2001) auch vor einer traditionell paternalistischen Medizin nicht halt und fordert eine stärker mitbestimmende ‘mündige’ Patientenrolle, in der persönliche Beratung und Information durch den Arzt zentrale Bedeutung für das Gelingen der Behandlung erhält (Coulter 2002). 4 Siehe dazu http: / / www.sozialpolitik-aktuell.de/ tl_files/ sozialpolitik-aktuell/ _Politikfelder/ Gesundheitswesen/ Datensammlung/ PDF-Dateien/ tabVI8.pdf (Stand: November 2009). 5 Auch die Anzahl der Gespräche, die ein Arzt im Laufe seines Berufslebens mit Patienten führt, verdeutlicht die Relevanz dieses Interaktionstyps. Lipkin et al. (1995) gehen von ca. 150 000 Gesprächen mit Patienten aus, die damit also den weitaus größten Teil des beruflichen Handelns von Ärzten ausmachen. 6 In etwa 75% aller Arztgespräche kommt es ausschließlich aufgrund des Gesprächs mit dem Patienten und einigen wenigen zusätzlichen körperlichen Untersuchungen zu korrekten Diagnosestellungen (siehe Hampton et al. 1975). <?page no="30"?> Thomas Spranz-Fogasy 30 02 Spranz-Fogasy_final All dies macht auch bedeutsam, dass Arzt und Patient in ihren persönlichen Begegnungen einander verstehen, dass sie sich wechselseitig aufzeigen, wie ihre Äußerungen verstanden werden sollen und wie sie die Beiträge des Gesprächspartners verstehen. 2.1 Sozialstrukturelle Grundlagen ärztlicher Gespräche als Verstehensressourcen Wenn Arzt und Patient sich im Gespräch begegnen, geschieht dies bereits unter Voraussetzungen, die nicht nur kommunikative Eigenschaften der Gesprächsteilnehmer betreffen. Sie begegnen sich in der Regel nach Verabredung und in Räumen, die eigens dafür bereitgestellt sind, sie besitzen ein jeweils spezifisches, unterschiedliches krankheitsbezogenes Vorwissen, das für ihr Gespräch bedeutsam ist, und sie wissen - mehr oder weniger -, wie sie ihr Gespräch führen wollen und verbinden damit bestimmte Handlungsziele. 7 Zu den zentralen Voraussetzungen eines Arzt-Patient-Gesprächs gehört die Rollenverteilung. Arzt und Patient müssen ihre Rollen und die damit verbundenen Asymmetrien hinsichtlich Betroffenheit, Wissen, Interessen oder Interaktionsrechten und -pflichten im Gespräch etablieren und aufrecht erhalten. Dazu tragen auch schon formale, dem Gespräch (zunächst) äußerliche Eigenschaften bei, auf die sich die Gesprächsteilnehmer in und mit ihren Interaktionshandlungen beziehen können. So werden in der Arztpraxis in der Regel vorab Terminvereinbarungen vorgenommen oder es gibt feste Sprechstundenzeiten; hier ist dann schon die Anwesenheit in den Praxisräumen, das proxemische Verhalten und auf Seiten des Arztes auch noch ggf. die Kleidung ein starkes Indiz für die Beteiligungsrollen. Ebenso sind territoriale Rechte wie Zutrittsrechte zu Behandlungsräumen oder die Bewegungsräume darin Hinweise auf die Beteiligungsrollen. Zumeist ist auch an der Sitzbzw. Platzverteilung der Protagonisten ablesbar, welche Rollen sie einnehmen. 8 Damit 7 Die folgenden Ausführungen beschränken sich im Wesentlichen auf das Erstgespräch zwischen Arzt und Patient in der niedergelassenen Praxis, da die Vielzahl an Institutionen und Gesprächstypen den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde. Ausführliche Beschreibungen der institutionellen Besonderheiten klinischer Gespräche zwischen Arzt und Patient bieten Lalouschek/ Menz/ Wodak (1990). 8 Im Unterschied dazu Ripke (1996), der den Patienten die Auswahl eines Sitzplatzes überlässt und dies für seine Eindrucksbildung nutzt. Ripke sieht generell den Patient im Zentrum des Geschehens, was sich für ihn auch in der Reihenfolge im Buchtitel ausdrückt: „Patient und Arzt im Dialog“. <?page no="31"?> Verstehensdokumentation in der medizinischen Kommunikation 31 02 Spranz-Fogasy_final verbunden sind - neben sozialsymbolisch bedeutsamen Unterschieden z.B. der Bestuhlung - oft noch Zugriffsmöglichkeiten und -rechte auf bestimmte Handlungsräume (wie Schreibtisch oder Patientenkartei) oder technische Einrichtungen (wie Telefon- oder Sprechanlage, PC, Untersuchungsgeräte etc.). All diese Strukturelemente bilden einen komplexen Wahrnehmungsraum aus, in dem interaktive Rechte und Pflichten organisiert sind und aus dem heraus wechselseitige Zuschreibungen von Wissens-, Erfahrungs- und Erlebenszuständen der Gesprächspartner erfolgen, die angepasste Verstehensdokumentationen einerseits und Verstehensanweisungen andererseits möglich und erforderlich machen. Dies gilt auch für manche gesetzlichen und standesrechtlichen Vorgaben der Approbation und Praxiszulassung. So müssen Sprechzimmer in der Regel optisch und akustisch abgeschlossene Einheiten sein, die eine ungestörte und vertrauliche Interaktion garantieren können, in der eine maximale Fokussierung der Gesprächsteilnehmer aufeinander und damit maximale äußere Verstehensbedingungen möglich sind. Störungen können, wie Cicourel (2004) zeigt, gerade im Kontext medizinischer Kommunikation zu einem ‘overload’ mit problematischen Folgen für das wechselseitige Verstehen führen. 9 Die Sicherung von Vertraulichkeit ist auch Gegenstand einer anderen rechtlichen Vorgabe ärztlichen Handelns, der ärztlichen Schweigepflicht, 10 die per se nur im geschützten räumlichen Rahmen möglich ist, 11 und die ihrerseits in mehreren Hinsichten Auswirkungen auf die Verstehensarbeit von Arzt und Patient besitzt: Sie schafft einen Vertrauensrahmen mit enttabuisierender Funktion, problematische Themen werden dadurch leichter ansprechbar und damit auch leichter verstehbar. 12 Die bisherigen Ausführungen zu einigen äußeren Rahmenbedingungen ärztlicher Gespräche, die eben auch als Verstehensbedin- 9 Siehe auch Ditz (2005) zu Störungen beim Überbringen schlechter Nachrichten. 10 § 203 StGB; ausführliche Informationen dazu für den Bereich der Bundesrepublik Deutschland finden sich unter http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Verschwiegenheitspflicht (Stand: November 2009). 11 Dies wird im Klinikbetrieb aber faktisch häufig missachtet, was gelegentlich dazu führt, dass Mithörer nicht nur vorhanden sind, sondern bestimmte Inhalte auch fälschlich auf sich beziehen, beispielsweise problematische Diagnosen oder Prognosen (siehe Lalouschek/ Menz/ Wodak 1990; Nowak 2010, S. 33ff.). 12 Gelegentlich wird der Arzt aber auch durch die Schweigepflicht behindert, bestimmte Sachverhalte dem Patienten mitzuteilen: so im Falle der häufigen Verweigerung einer innerfamiliären Nierentransplantation in den 1970er Jahren aufgrund der labortechnischen Feststellung, dass der angegebene Vater nicht der biologische sein kann - Transplantationspatienten dieser Jahre waren häufig in den Wirren der Kriegs- und Nachkriegsjahre geboren (mündliche Mitteilung Professor Rainer Dietz, Charité-Universitätsmedizin Berlin). <?page no="32"?> Thomas Spranz-Fogasy 32 02 Spranz-Fogasy_final gungen interpretiert werden können, belegen, dass das Arzt-Patient-Gespräch einer erheblichen gesellschaftlichen Vorsorge unterliegt. Die Gründe dafür liegen sicher vor allem in der gesellschaftlichen und ökonomischen Bedeutung, die dem Gesundheitswesen generell zukommt oder auch in medizinethischen Motiven. Die gesellschaftliche Vorsorge wird aber auch verständlich, betrachtet man die - teils sogar dichotomen - Asymmetrien, die einem Arzt- Patient-Gespräch zugrunde liegen und die für die Zwecke des Gesprächs in hinreichender Weise überbrückt werden müssen. Arzt und Patient unterscheiden sich, sieht man einmal von ‘professionellen’ Patienten 13 ab, zunächst hinsichtlich ihres krankheitsspezifischen Wissens. Der Patient hat eine konkrete individuelle Krankheitserfahrung aufgrund körperlicher Veränderungen, Ausfällen, Einschränkungen oder Schmerzen und, als Laie, ein alltagsweltliches Verständnis seiner Erkrankung und der damit zusammenhängenden Symptome. Der Arzt dagegen hat im Lauf seiner beruflichen Sozialisation eine abstrakte Kenntnis und ein kategoriales Verständnis von Krankheiten und deren Symptomen erworben; er muss daher die alltagsweltlichen Darstellungen in fachliche Kategorien ‘übersetzen’, ohne sie dabei falsch zu interpretieren oder zuzuordnen. Der Patient seinerseits muss seine Anwesenheit qua Darstellung seiner Beschwerden ausreichend legitimieren und dies dem Arzt verständlich machen (Heritage/ Robinson 2006a, Heritage 2009). Die konkreten Krankheitserfahrungen des Patienten sind in der Regel mit Einschränkung, Schmerz und Leid verbunden, die ihn direkt emotional belasten und oft psychische oder soziale, gelegentlich auch ökonomische Folgen haben. Dieser persönlichen Betroffenheit steht die professionelle und professionell-distanzierte Haltung des Arztes gegenüber, für den die subjektiv-emotionalen Aspekte des Krankheitsgeschehens, die der Patient kommuniziert, selbst wiederum Bestandteil seiner kategorialen Verarbeitung sind bzw. sein können. Differenzen zwischen Arzt und Patient bestehen auch in motivationaler Hinsicht. Während der Patient in erster Linie eine Heilung oder Linderung seiner Beschwerden sucht, bestimmen für den Arzt, neben dem Interesse an profes- 13 Hierzu zählen neben Patienten, die selbst Ärzte sind, beispielsweise Patienten mit chronischen Erkrankungen, die sich oft lange Zeit und auf einem hohen fachlichen Niveau mit ihrer Krankheit befasst haben. Im Zeitalter der neuen Medien wächst die Zahl von Patienten mit (semi-)professionellem Fachwissen, was durchaus zu Problemen in der Interaktion mit ihren Ärzten führt, die konkurrent handeln oder fehlerhaftes Wissen korrigieren müssen (siehe Lalouschek 2005a). <?page no="33"?> Verstehensdokumentation in der medizinischen Kommunikation 33 02 Spranz-Fogasy_final sioneller Hilfestellung, auch ökonomische Aspekte sein Handeln. Dies führt, gerade bei den gegenwärtig noch sehr niedrig dotierten Abrechnungsziffern für ärztliche Gesprächsleistungen, zu einer Gesprächsführung mit schnellstmöglicher und effektiver Zielführung (Koch/ Gehrmann/ Sawicki 2007). Und schließlich ist noch eine weitere Asymmetrie als wichtige (Nicht-)Verstehensvoraussetzung zu benennen: Für Patienten ist das Arzt-Patient-Gespräch nicht nur aufgrund der außergewöhnlichen Krankheitserfahrung ein eher singuläres Ereignis; für den Arzt hingegen stellt das einzelne Gespräch in seinem Berufsalltag ein Routinegeschehen dar. Die Gesprächspartner trennt also auch ihr unterschiedliches Wissen über kommunikative Abläufe und Aufgabenstellungen, wie auch die Kenntnis dahinter liegender bzw. damit verbundener institutioneller Anforderungen, beispielsweise der Dokumentation von Patientendaten und Behandlungsschritten. 14 Aus diesen Asymmetrien resultieren oftmals Unterschiede der sachlichen Einschätzung, der subjektiven Bewertung und der Handlungsziele, die ein wechselseitiges Verständnis erschweren. Die Divergenzen müssen daher im ärztlichen Gespräch in für die konkreten Handlungszwecke erforderlichem Maße aufgedeckt und bearbeitet werden. Prinzipiell sind solche Divergenzen aber nicht nur als Verstehensbarrieren anzusehen; sie erzeugen Darstellungs- und Explorationsanforderungen, regeln Rechte und Pflichten der Interaktionsdurchführung und ermöglichen Einsichten in das Beschwerdengeschehen durch die Notwendigkeit, die Perspektive und Relevanzen des jeweils Anderen einbzw. wahrzunehmen. Die genannten Asymmetrien verweisen in sozialstruktureller Hinsicht darauf, dass der Arzt in ein umfassendes System eingebunden ist, das auch seine Professionalisierung ermöglicht und lizenziert hat. In einem lang andauernden Ausbildungsprozess hat er Kompetenzen und die Berechtigung erworben, Patienten zu behandeln und im Rahmen dieser Behandlung Gespräche mit Patienten zu diagnostischen und therapeutischen Zwecken zu führen. Ein nicht unerheblicher Teil der Ausbildung ist dabei dem Erwerb kategorialen Wissens und der Fähigkeit, alltagsweltliche Sachverhalte in medizinisch relevanten Kategorien zu verstehen, gewidmet. 14 Es zeigt sich in vielen Arzt-Patient-Gesprächen, dass schon das Mitschreiben während der Beschwerdenschilderung und die damit verbundene Doppelorientierung das Verstehen erschwert bzw. aufwändigere Verstehensarbeit erforderlich macht. Der zunehmende Einsatz von Computern im Arzt-Patient-Gespräch ist gegenwärtig ein Gegenstand wachsenden Interesses (siehe beispielsweise Greatbatch 2006 (dort auch weiterführende Literatur), Silverman/ Kurtz/ Draper 2005, Smith/ Siebert 2004). <?page no="34"?> Thomas Spranz-Fogasy 34 02 Spranz-Fogasy_final Dabei ist allerdings Gesprächsführung selbst erst in jüngster Zeit systematischer Bestandteil der Ausbildung geworden. Auch wenn in den letzten Jahren mit der Reform der medizinischen Curricula im Studium verstärkt Wert auf den unmittelbaren Praxisbezug gelegt wurde, 15 ist der Aufbau des Studiums zunächst von einer naturwissenschaftlichen Orientierung geprägt, die eine biomedizinische Perspektive priorisiert. Damit verbunden ist eine Präferenz für eine medizinisch-kategoriale Erfassung alltagsweltlicher Sachverhalte, die erst im Lauf der klinischen und der weiteren fachärztlichen Ausbildung sowie im Rahmen des umfangreichen Fortbildungssystems zu einer ganzheitlicheren Sichtweise weiter entwickelt wird bzw. werden kann. 16 Neben dem fachlichen Wissen erwirbt der Arzt im Laufe seiner beruflichen Sozialisation über Ausbildungsinhalte einerseits und die berufliche Praxis andererseits auch eine umfassende Kenntnis der im Gesundheitssystem vorhandenen institutionellen Zusammenhänge (Klinik, Praxisbetrieb, Krankenkassen, Labor etc.). Auch diese Kenntnis bildet, wie die medizinfachliche, einen Wissensrahmen, der das Verstehen anleitet und organisiert. Weitere Aspekte, die Einfluss auf die interaktive Verstehensarbeit besitzen, stellen auch organisatorische und medizinrechtliche Vorgaben dar. So takten beispielsweise Bestellzeiten einer Praxis mehr oder weniger eng die Gespräche mit Patienten und nehmen so Einfluss auf die Möglichkeiten, ein Gespräch ausführlicher oder begrenzter durchzuführen. In apparateintensiven Fachgebieten gibt auch schon die Raumverteilung Unterbrechungen bzw. eine Aufteilung des Gesprächs in mehrere Abschnitte vor. Praxisorganisatorische Rahmenbedingungen wie die Personalführung können ebenfalls störend einwirken, beispielsweise wenn es dem Personal gestattet ist, während laufender Gespräche zu unterbrechen oder Telefongespräche durchzustellen. 17 Und auch die medizin- und kassenrechtlichen Dokumentationspflichten machen es regelmäßig erforderlich, Gespräche im Verlauf zu unterbrechen oder lenken die Aufmerksamkeit der Teilnehmer zeitweise vom Gespräch ab. Ebenso erweist sich der Versicherungsstatus eines Patienten, ob also pflicht-, freiwillig oder privat versichert, als relevant für die Praxis der Gesprächsführung, die bei Privatpatienten oft nicht nur ausführlicher, sondern darüber 15 Siehe dazu beispielsweise die Ausführungen zum Heidelberger Curriculum Medicinale (Heicumed) auf www.medizinische-fakultaet-hd.uni-heidelberg.de/ Home.108072.0.html sowie die einschlägigen Publikationen der Klinik und Poliklinik für Psychosomatik und Psychotherapie an der Universität Köln auf www.uni-koeln.de/ med-fak/ psysom/ forschung/ forschungstart.html (Stand: November 2009). 16 Siehe beispielsweise für die psychosomatische Gynäkologie Neises (2005). 17 Dies ist in dem dieser Untersuchung zugrunde liegenden Korpus durchaus häufig der Fall. <?page no="35"?> Verstehensdokumentation in der medizinischen Kommunikation 35 02 Spranz-Fogasy_final hinaus persönlicher und damit potenziell verstehenstiefer ist. 18 (In diesem Zusammenhang ist auch das hochdifferenzierte Abrechnungssystem mit spezifischen Abrechnungsziffern für unterschiedliche Formen von Gesprächen (Erstgespräch, Anamnese, Folgegespräch, Beratung etc.) zu nennen, wobei Gespräche selbst insgesamt mit anderen (apparativen, labortechnischen) Untersuchungsformen in unmittelbarer - und meist subordinierter - ökonomischer Konkurrenz stehen.) In sozialstruktureller Hinsicht ist nicht zuletzt auch der soziale Status erwähnenswert, der mit der Wahrnehmung des Arztberufes einhergeht. Nach wie vor hält diese Profession in Deutschland seit Jahren uneingeschränkt die Spitzenposition bei der Beurteilung des beruflichen Sozialprestiges inne. 19 Im Verbund mit der zugeschriebenen Expertise erzeugt die damit gegebene soziale Differenz auf Seiten der Patienten eine hohe Toleranz beispielsweise hinsichtlich der Verständlichkeit von Äußerungen (Stichwort: Fachwortgebrauch) oder der unhinterfragten Hinnahme von Therapiemaßnahmen. Umgekehrt kalkulieren Ärzte eigene Unverständlichkeit mit ein, beispielsweise wenn es um differenzialdiagnostische Abklärungen geht, deren Sinn für Patienten zwar undurchschaubar ist, deren Erläuterung aber oft als zu aufwändig eingeschätzt wird. 20 2.2 Interaktionstypologische Eigenschaften ärztlicher Gespräche als Verstehensressourcen Die bisher genannten Aspekte sind als gesprächsexterne Faktoren zu charakterisieren, die unter anderem auch Ressourcen der Verstehensarbeit der Gesprächsteilnehmer im Arzt-Patient-Gespräch darstellen. Sie werden meist implizit (beispielsweise wenn ökonomische Zwänge eine optimale Versorgung qua Zeitbeschränkung behindern), 21 selten explizit (z.B. wenn Erfordernisse 18 Laut Nowak (2010, S. 48ff.) finden sich in Gesprächen mit Privatpatienten signifikant mehr ‘social turns’ als bei Pflichtversicherten; siehe auch Kieserling (1999). 19 Laut der letzten vorliegenden Allensbacher Berufsprestige-Skala von 2005: http: / / www.ifd -allensbach.de/ news/ prd_0512.html (Stand: November 2009) liegen Ärzte darin deutlich vor allen anderen Berufsgruppen. Allerdings ist seit Beginn der Erhebungen im Jahr 1966 bis 2005 eine Abnahme von 84% auf 71% zu verzeichnen, ein Schicksal, das aber von so gut wie allen erfassten Berufsgruppen geteilt wird (Donsbach 2003). 20 Ein Beispiel dafür findet sich im Gesprächsausschnitt #14, wenn die Ärztin fragt: an ander=n geLENken oder so haben sie GAR nichts (Z. 72): Dass diese Frage auch der differenzialdiagnostischen Abklärung endogener oder exogener Verursachung dient, wird von der Ärztin nicht verdeutlicht. 21 „Es sind also auch die Vorgaben der Fallpauschalen, die unsere Kommunikation mit unseren Patienten [...] limitieren.“ (Leschke 2008). <?page no="36"?> Thomas Spranz-Fogasy 36 02 Spranz-Fogasy_final der Praxisorganisation die Gesprächsdurchführung stören) mitverhandelt. Sie stellen für beide Seiten einen - wenn auch unterschiedlich gewussten und gewichteten - Rahmen dar, der stets präsent gehalten wird und ggf. auch explizit behandelt werden muss. Viele Phänomene und Ressourcen interaktiver Verstehensarbeit leiten sich aber von Struktureigenschaften und Handlungsaufgaben von Interaktion allgemein bzw. vom Interaktionstyp Arzt-Patient-Gespräch im Besonderen her. 22 Arzt-Patient-Gespräche werden, wie eben ausgeführt, von vielen gesprächsexternen Faktoren mitbestimmt, sie dienen aber ihrerseits umgekehrt einem übergeordneten, gesprächstranszendenten Handlungszweck: Es geht den Beteiligten um die Ermittlung einer Diagnose und die Entwicklung von Therapieentscheidungen zur in der Regel nach-interaktiven Behandlung von krankheitswertigen Beschwerden, die dem jeweiligen Gespräch vorausliegen (Deppermann 2007). Die kommunikative Handlungslogik ärztlicher Gespräche ist entsprechend diesen Handlungsaufgaben organisiert und - im Unterschied zu vielen alltagsweltlichen Interaktionstypen - relativ deutlich konturiert. Byrne/ Long (1976) haben auf der Basis der Untersuchung von mehr als 2 500 ärztlichen Gesprächen einAblaufmodell chronologisch funktionaler Gesprächsphasen entwickelt, das auch in handlungsschemaanalytischen Untersuchungen im Wesentlichen bestätigt wurde (Spranz-Fogasy 2005, Nowak 2010). Demnach ergibt sich für den Grundtyp eines ärztlichen Gesprächs mit Patienten ein Handlungsschema mit folgenden fünf zentralen Komponenten: 23 - Begrüßung und Gesprächseröffnung - Beschwerdenschilderung und Beschwerdenexploration - Diagnosemitteilung - Therapieentwicklung und Therapieentscheidung - Gesprächsbeendigung und Verabschiedung Das Handlungsschema ist hier in idealtypischer Form dargestellt. Das bedeutet nicht, dass dies der ideale Ablauf eines ärztlichen Gesprächs wäre, sondern dass diese Reihenfolge häufig zu finden und handlungslogisch begründet ist. 22 Zu allgemeinen Verstehensaufgaben und -ressourcen siehe Deppermann (i.d.Bd.). 23 Eine ausführliche Darstellung des Handlungsschemas ärztlicher Gespräche gibt Spranz- Fogasy (2005); zum Konzept der Handlungsschemaanalyse allgemein siehe Spiegel/ Spranz-Fogasy (2001). <?page no="37"?> Verstehensdokumentation in der medizinischen Kommunikation 37 02 Spranz-Fogasy_final Einzelne Aufgaben von Komponenten des Handlungsschemas können dabei von den Teilnehmern in mehreren Anläufen oder Runden bearbeitet werden, oder es werden bestimmte Teilaufgaben vorgezogen bzw. zu einem späteren Zeitpunkt in einer anderen Handlungsphase nachgeholt. Für die Bewältigung dieser Handlungsaufgaben ist - in unterschiedlichem Maß, in unterschiedlichen Hinsichten und in unterschiedlicher Verteilung - ein ausreichender Abgleich des unterschiedlichen Wissens der Beteiligten erforderlich und, darauf bezogen, auch die wechselseitige Dokumentation des (Nicht-)Verstehens. Verstehen ist dabei jeweils subsidiäres, aber notwendiges Handlungsziel: Beschwerden müssen ausreichend verstanden, Diagnosen, Therapievorschläge und Therapieentscheidungen verständlich kommuniziert werden. Die übergreifende Verstehensarbeit verläuft im ärztlichen Gespräch also über Kreuz: Zunächst muss der Arzt verstehen, was der Patient ‘hat’ (Beschwerdenschilderung und -exploration), dann der Patient, wie seine Beschwerden aus medizinischer Sicht beurteilt werden (Diagnose) und schließlich muss der Patient auch verstehen, was der Arzt hinsichtlich einer Therapie sagt (Therapieentwicklung und Therapieentscheidung). 2.2.1 Begrüßung und Gesprächseröffnung In der Eröffnungsphase von Arzt-Patient-Gesprächen müssen die Teilnehmer verschiedene Aufgaben bewältigen, die mit Verstehensleistungen verbunden sind bzw. für das Gespräch Verstehensressourcen etablieren. So müssen sie auf der Ebene der Sozialstruktur die gesprächsrelevanten Rolleneigenschaften von Arzt und Patient aufbauen, mit dem Vollzug erster Aktivitäten Schritte zur Konstitution des Interaktionstyps einleiten und in eins damit eine übergreifende formal-organisatorische Trägerstruktur für den weiteren Vollzug komplementärer Aktivitäten herstellen. Mit der Konstitution der sozialen Rollen sind dabei unter anderem auch interaktionsorganisatorische Implikationen verbunden, die eine Grundlage für die Verstehensarbeit bilden: Der Patient als Initiator der Begegnung erteilt mit seinem Erscheinen in der Praxis einen Behandlungsauftrag, aus dem sich eine asymmetrische bzw. komplementäre Verteilung interaktiver Rechte und Pflichten ergibt. Der Patient überlässt dem Arzt in vielen Hinsichten Durchführungsrechte für die laufende Interaktion, beispielsweise hinsichtlich gesprächsorganisatorischer Eingriffe, hinsichtlich der Einführung alltagsweltlich tabuisierter Themen oder gar hinsichtlich des Vollzugs invasiver Aktivitä- <?page no="38"?> Thomas Spranz-Fogasy 38 02 Spranz-Fogasy_final ten. 24 Auf diese Weise werden komplementäre Initiativen und Reaktionen jeweils bestimmter Typik erwartbar und zugleich mit den rollenkonstitutiven Aktivitäten verstehbar gemacht. Mit der expliziten oder impliziten Aufforderung zur Beschwerdenschilderung 25 wird der Interaktionstyp Arzt-Patient-Gespräch initiiert und der folgenden Interaktion damit ein Orientierungsrahmen gegeben, der das Verstehen bei der Durchführung der konstitutionslogisch geforderten Aufgaben anleitet: bei der Darstellung einschlägiger Sachverhalte, beim Vollzug typischer Aktivitäten oder bei der Wahrung der besonderen Beziehungskonstellation. Sequenzorganisatorisch wird vom Arzt durch die Aufforderung zur Beschwerdenschilderung ein Prozess in Gang gesetzt, den dieser bis zu seinem Abschluss (in der Regel durch die Mitteilung der Diagnose) kontrolliert, und der ihm bis dahin Rechte auf Reparatur- und Expansionsanforderungen verschafft, die im ärztlichen Gespräch vor allem im Frage-Antwort-Muster realisiert werden. Dies erlaubt den Beteiligten eine ständige Bezugnahme aller Aktivitäten auf einen übergeordneten sequenzorganisatorischen Rahmen und deren Interpretation vor eben diesem Hintergrund. 26 2.2.2 Beschwerdenschilderung und Beschwerdenexploration Zentrale Voraussetzung des Handlungszwecks eines Arzt-Patient-Gesprächs ist die angemessene Erfassung der Beschwerden. Beschwerdenschilderung und Beschwerdenexploration dienen dem Abgleich des subjektiven Erfahrungswissens des Patienten mit dem medizinisch-kategorialen Ordnungs- und Handlungswissen des Arztes. Hier ist also Verstehen in besonderer Weise relevant zur gemeinsamen, interaktiven Bewältigung der Handlungsaufgabe(n). Verstehen geschieht im Blick auf Diagnose und Therapie, es geht darum, die Beschwerdensachverhalte zu kategorialen Zwecken aufzubereiten, das heißt, sie zueinander zu relationieren und sie komplexen Kategorien medizinischer Diagnostik zuzuordnen, um daraus dann angemessene Therapieschritte abzuleiten. 24 Festzuhalten bleibt aber, dass zumindest strukturell gesehen der Patient als ‘Auftraggeber’ die Interaktionshoheit bis hin zum Gesprächsabbruch behält - wenngleich sozialstrukturelle Aspekte wie Kompetenzzuschreibung, sozialer Status oder Territoriumshoheit dies faktisch zumeist konterkarieren. 25 Zu den verschiedenen Möglichkeiten für ärztliche Eröffnungszüge siehe Spranz-Fogasy (2005). 26 Zu solchen lang anhaltenden sequenziellen ‘constraints’ von ‘first pair parts’, die eine solche starke konditionelle Relevanz etablieren, siehe Schegloff (1990). Für das Beispiel der Argumentationssequenz siehe Spranz-Fogasy (2003). <?page no="39"?> Verstehensdokumentation in der medizinischen Kommunikation 39 02 Spranz-Fogasy_final Diese Gesprächsphase kann sehr unterschiedlich gestaltet sein, je nach den Möglichkeiten der Patienten zur Darstellung und den Eingriffen oder Ergänzungswünschen des Arztes. Sie zeichnet sich durch ein Wechselspiel von Schilderung, aktivem Zuhören und explorativen Aktivitäten aus. Voraussetzung dafür ist die Etablierung eines interaktionstypologisch motivierten und sequenzstrukturell organisierten, breiten Slots für die Beschwerdenschilderung des Patienten. Dies ist erforderlich, da der Arzt in der Regel keine Kenntnis vom konkreten Beschwerdenbild und vom subjektiven Beschwerdenerleben des Patienten hat. Wie bereits dargestellt, liegt das strukturelle Kontrollrecht über das Explorationsverfahren beim Arzt, also bei demjenigen, der ‘verstehen muss’, um praktisch handeln zu können, was ja der intrinsische Sinn eines ärztlichen Gesprächs ist. Der Arzt leistet die Aufforderung zur Beschwerdenschilderung und entscheidet deshalb darüber, wann die Schilderung des Patienten ausreichend ist (was nicht bedeutet, dass ein Patient nicht seinerseits weitere Sachverhalte auch noch nach Abschlusssignalen des Arztes einbringen kann). Im Rahmen der Beschwerdenschilderung muss der Patient sein Erscheinen in der Praxis legitimieren. 27 Er leistet dies zumeist schon durch seine Angaben zur Art, Lokalisierung, Dauer, Intensität etc. seiner Beschwerden und gibt damit auch Verstehenshinweise kategorialer Art. Der Arzt muss während der Beschwerdenschilderung sein Verständnis mittels Rückmeldesignalen, Reformulierungen und Kommentaren dokumentieren oder durch Nachfragen zur Ergänzung oder Korrektur sein eingeschränktes oder fehlendes Verständnis signalisieren. Dabei ist häufig auch zu beobachten, dass Ärzte bereits frühzeitig ihr medizinisch-kategoriales Wissen aktivieren und damit die Schilderung des Patienten steuern. 28 Ärzte setzen also ihr medizinischkategoriales Wissen nicht nur zur rezeptiven Erfassung des Beschwerdenbildes ein, sondern auch zu dessen aktiver Ermittlung. Beschwerdenschilderung und -exploration sind dabei, wie auch die Verstehensarbeit der Beteiligten darin, kein selbstständiger Handlungszweck. Sie zielen auf Diagnose und Therapie, was beispielsweise in Formulierungen wie „damit ich mir ein genaues Bild machen kann“ oder „damit ich Ihnen helfen kann“ zum Ausdruck kommt. 29 27 Siehe dazu Heritage/ Robinson (2006a). 28 Eine schon etwas ältere Studie (Marvel et al. 1999) zeigt, dass Ärzte ihre Patienten bereits nach durchschnittlich 18 Sekunden zum ersten Mal unterbrechen. Wie später gezeigt wird, sind es aber durchaus auch die Patienten, die sehr frühzeitig signalisieren, das Rederecht abgeben zu wollen (siehe dazu Kap. 4.4 dieses Beitrags: Verfahren antizipatorischer Reaktion auf der Ebene der Gesprächsorganisation). 29 Vergleiche dazu Formulierungen der Gesprächskomponente ‘Orientierung geben’ in Nowak (2010). <?page no="40"?> Thomas Spranz-Fogasy 40 02 Spranz-Fogasy_final In sequenzorganisatorischer Hinsicht sorgen die Gesprächsteilnehmer in der Beschwerdenexploration für die lokale Verknüpfung von Äußerungen und deren Interpretierbarkeit hinsichtlich unterschiedlich starker und unterschiedlich motivierter konditioneller Relevanzen. Sequenzialität konstituiert inhaltliche Bezüge von Äußerungen und Teiläußerungen mit und dadurch auch ihre Bedeutung und Verstehbarkeit. So dokumentiert beispielsweise eine Nachfrage immer auch ein Verstehensproblem relativ zur Bezugsäußerung. Der sequenzielle Gestaltzwang mit seinen Projektionen und Einlösungsanforderungen erzeugt immer prospektive und retrospektive Bindungen beziehungsweise ermöglicht die interpretative Orientierung daran, auch über unmittelbar aufeinander folgende Äußerungen hinaus: Die Bearbeitung einer Aufforderung zur Beschwerdenschilderung ist erst dann erfüllt, wenn der Auffordernde dies bestätigt; die Aufforderung bleibt bis dahin und auch über längere Phasen des interaktiven Austauschs handlungs- und orientierungsrelevant und sorgt für übergreifende Kohärenz des interaktiven Geschehens. 30 Die sequenzorganisatorische Dimension beinhaltet auch weitere systematische reflexive Eigenschaften: So sind zweite Aktivitätsschritte zunächst immer erst als Bearbeitung eines ersten Aktivitätsschritts zu interpretieren oder dritte Schritte immer auch Bewertungen des zweiten Schritts und dessen Bearbeitung des ersten. 31 Auf diese Weise laufen Verstehensdokumentationen gewissermaßen ‘automatisiert’ mit. Fragen als Aktivitäten in zweiter Position sind unterschiedlich stark relevant gesetzt: zwar nie konditionell relevant, 32 wohl aber implizit angeboten (affordant), 33 (partnerseitig) z.B. durch Modalisierungen nahegelegt, (sprecher- 30 Ein längeres und hochkomplexes Beispiel einer Bitte zwischen Freunden analysiert Schegloff (1990). 31 Siehe dazu Schegloff (2007, S. 195ff.); grundsätzlich ist zu berücksichtigen, dass - abgesehen von interaktionseröffnenden und -abschließenden Aktivitäten - alle Interaktionsbeiträge immer alle drei strukturellen Sequenzpositionen besetzen können, je nachdem, wo die Gesprächsteilnehmer jeweils den Schnitt ansetzen - dies dürfte auch die sequenzstrukturelle Grundlage negativer Reaktionszyklen (Spranz-Fogasy et al. 1993) oder der unterschiedlichen Interpunktion von Ereignisfolgen (Watzlawick/ Beavin/ Jackson 1980, S. 57ff.) sein. 32 Selbst bei einer Aufforderung zu einer Frage muss zwischen dem Befolgen der Aufforderung als konditionell relevant gesetzter Aktivität und der Frage als Inhalt der Befolgung und dabei präferierter Aktivität unterschieden werden; zum konversationsanalytischen Konzept der Präferenz siehe Pomerantz (1984), Bilmes (1988) sowie Levinson (2000). 33 Norén/ Linell (2007, S. 389) machen das psychologische Konzept der Affordanz auch semantisch fruchtbar: Affordanzen sind ihnen zufolge nicht Eigenschaften eines isolierten Stimulus, sondern „aspects of the objects and events in the world in relation to human perceivers and users in situations“ (Hervorhebung durch die Autoren). <?page no="41"?> Verstehensdokumentation in der medizinischen Kommunikation 41 02 Spranz-Fogasy_final seitig) kognitiv motiviert oder mittels Rollenverteilung interaktionstypologisch erwartbar (und dies natürlich auch kombiniert). Fragen ihrerseits lösen dann aber wiederum - im Sinne der konversationsanalytischen „machinery“ (Sacks/ Schegloff/ Jefferson 1978, S. 41) - einen konditionell bedingten sequenzorganisatorischen Ablauf aus. Letzteres macht sie dann auch besonders ‘aufladefähig’ für Verstehensanweisungen an den Gesprächspartner hinsichtlich des Frageskopus und der Antworterwartung. Ein (oft vorläufiger) Abschluss der Beschwerdenexploration ist erreicht, wenn der Arzt von sich aus die Sequenzstruktur beendet. Dies geschieht häufig durch den Vollzug weiterführender Aktivitäten, hier z.B. durch die Formulierung einer Diagnose. Im Rahmen der ärztlichen Beschwerdenexploration können auch zwei medizinspezifische fakultative Maßnahmen anfallen: die körperliche Untersuchung des Patienten und die Abnahme von Material (bzw. oft auch nur die Anordnung) für die labortechnische bzw. apparative Untersuchung. Hier sind im Vorfeld und begleitend häufig Begründungsaktivitäten des Arztes zu beobachten, die dem Patienten die Vorgehensweise des Arztes verstehbar machen sollen (Silverman/ Kurtz/ Draper 2005). Die körperliche Untersuchung erfolgt mittels Anweisungen an den Patienten (z.B. sich frei zu machen, sich zu lagern oder Bewegungsabläufe durchzuführen). 34 Dem Arzt geht es dabei darum, mittels Anschauung und Prüfung bzw. Provokation von körperlichen Reaktionen weitere Informationen zum Beschwerdenbild einzuholen und sein Verständnis der Beschwerden zu erweitern bzw. abzusichern. Er operiert dabei auf der Basis seines medizinisch-kategorialen Wissens. Auch die Erfassung von Laborwerten bzw. apparativ gewonnener Informationen dient der Ermittlung und dem besseren Verständnis symptomatisch und differenzialdiagnostisch relevanter Daten; damit oft verbunden ist eine Verlagerung von Teilen der Beschwerdenexploration nach außerhalb der Interaktionssituation. 2.2.3 Diagnosemitteilung Die Diagnosemitteilung ist der interaktionsstrukturelle Ort für die gemeinsame Sachverhaltsdefinition und dient der Reziprozitätssicherung der Ergebnisse der Beschwerdenschilderung und Beschwerdenexploration - sie ist damit gewissermaßen ein Kulminationspunkt der Verstehensarbeit bei der gemein- 34 Einige konversationsanalytische Untersuchungen zum ‘online-commentary’ der körperlichen Untersuchung finden sich in Heath (2006), Heritage/ Stivers (1999), Mangione-Smith et al. (2003). <?page no="42"?> Thomas Spranz-Fogasy 42 02 Spranz-Fogasy_final samen Beschwerdenexploration. Handlungsschematisch bildet sie eine notwendige Gelenkstelle für den Übergang zur Therapieentwicklung und Therapieentscheidung. Dies bedeutet allerdings nicht, dass sie in allen ärztlichen Gesprächen auch explizit verhandelt wird, insbesondere bei leichteren Beschwerden oder in Routinefällen unterbleibt sie oft ganz und ist lediglich in der Therapieanordnung impliziert. 35 Der Arzt dokumentiert qua Diagnosemitteilung sein medizinisches, abstraktkategoriales Verständnis des Beschwerdenbildes und schafft damit zugleich die Voraussetzung seines zukünftigen praktischen Handelns. Verstehensstrukturell erfolgt hier eine Umkehr der Verstehenslast vom Arzt auf den Patient: Letzterer soll die Diagnose sowie ggf. die Erläuterungen dazu verstehen und im Folgenden auch die daraus vom Arzt abgeleiteten Therapievorschläge, die zur Voraussetzung einer mehr oder weniger gemeinsamen Entscheidungsfindung werden. Patienten reagieren auf Diagnosemitteilungen meist gar nicht oder nur mit minimaler Zustimmung, da die Diagnose rein der ärztlichen Verantwortung zugeschrieben wird (Peräkylä 2006). Aktuelle Forschungen zur ‘compliance’ legen nahe, dass es einen engen Zusammenhang gibt zwischen der Art der Diagnosemitteilung und der Compliance, also der Mitarbeit des Patienten an der Therapie. 36 Ein kleinerer Teil der Patienten vermeidet zwar zu viel Information, aber im Allgemeinen kann davon ausgegangen werden, dass Patienten mehr Information wollen, als ihnen Ärzte geben, gerade zu ‘schlechten Nachrichten’. 37 Patienten zeigen ihr Informations- (und Mitteilungs-)bedürfnis jedoch üblicherweise nicht explizit, sondern geben lediglich sprachliche Hinweise (nicht-)verstehensdokumentarischer Natur auf ihr Interesse. Solche „Relevanzmarkierungen“ (Sator 2003) wurden aufgrund ihrer Bedeutung auch zum Fokus aktueller internationaler und interdisziplinärer Forschungsanstrengungen (Zimmermann/ Del Piccolo/ Finset 2007). Patienten, die Diagnosen anzweifeln, tun dies zumeist ohne die ärztliche Autorität in Frage zu stellen, z.B. indem sie körperliche Empfindungen oder Alltagserfahrungen in die Diskussion einbringen (Peräkylä 2006). Hier ist also auf Seiten des Arztes besondere Aufmerksamkeit auf (Nicht-) Verstehenssignale und versteckte Erläuterungswünsche geboten. 35 Zu solchen Fällen bei der Medikamentenverordnung siehe Spranz-Fogasy (1988). Zur Problematik unterlassener Problemdefinition im handlungsschemaanalytisch vergleichbaren Beratungsgespräch siehe Nothdurft/ Reitemeier/ Schröder (1994). 36 Im Überblick siehe Nowak (i.Vorb., S. 12f.). 37 Formen der Überbringung schlechter Nachrichten diskutieren Ditz (2005), Jenkins/ Fallowfield/ Saul (2001), Maynard (2003). <?page no="43"?> Verstehensdokumentation in der medizinischen Kommunikation 43 02 Spranz-Fogasy_final Verständlich aufbereitete und verstehenssichernde Diagnosemitteilungen scheinen eine konstruktive Voraussetzung für daran gebundenes positives Compliance-Handeln der Patienten zu sein. Empirisch finden sich jedoch sehr unterschiedliche Formen der Diagnosemitteilung, die bei einzelnen Ärzten oft systematisch sind und offensichtlich mit unterschiedlichen Verstehens- ‘Ideologien’ einher gehen. Zu diesen Formen gehören - die unterlassene bzw. implizite Diagnoseformulierung; - die Diagnoseformulierung ex negativo, bei der nur vom Arzt ausgeschlossene Diagnosen mitgeteilt werden, eine positive Diagnose jedoch unterbleibt; - eine rein fachterminologische Diagnoseformulierung; - eine alltagsweltlich erläuterte fachterminologische Diagnoseformulierung, sowie - eine rein alltagsweltliche Diagnoseformulierung. Die Diagnosemitteilung wird als flexible kommunikative Verhandlungsmasse behandelt, die gänzlich unterbleiben kann, der Demonstration fachlicher Kompetenz dient oder aber als relevanter Gesprächsinhalt ausdrücklich fokussiert und manifest verstehenssichernd behandelt wird. 2.2.4 Therapieentwicklung und Therapieentscheidung Bei der Therapieentwicklung und Entscheidungsfindung müssen die Möglichkeiten einer therapeutischen Intervention zwischen medizinisch Gebotenem (idealerweise evidenzbasiertem 38 medizinischen Wissen) und den alltagspraktischen Erfordernissen des Patienten ausgehandelt werden. Dabei stehen zunächst Aktivitäten des Arztes im Vordergrund, die Entwicklung eines Therapieplans und seine Erläuterung (auch von Behandlungsalternativen und Risiken), dann aber auch das aktive Erfragen der Wünsche und des Verständnisses des Patienten und die Verhandlung seiner Möglichkeiten zur aktiven Übernahme der Therapievorschläge. Neben den besonderen Anforderungen aktiver Verstehensanweisungen und -sicherung sind vom Arzt deshalb auch Verstehensleistungen analog zu denen der Beschwerdenexploration aufzubringen. 38 „Evidenzbasierte Medizin (EbM, von englisch ‘Evidence-based Medicine’, „auf Beweismaterial gestützte Heilkunde“) ist jede Form von medizinischer Behandlung, bei der patientenorientierte Entscheidungen ausdrücklich auf der Grundlage von nachgewiesener Wirksamkeit getroffen werden.“ http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Evidenzbasierte_Medizin (Stand: November 2009). <?page no="44"?> Thomas Spranz-Fogasy 44 02 Spranz-Fogasy_final Gerade für die Phase der Therapieentwicklung und Therapieentscheidung im ärztlichen Gespräch hat sich in den letzten Jahren aufgrund von Ergebnissen der Compliance-Forschung eine breite Diskussion über partnerschaftliche Entscheidungsmodelle entwickelt. 39 Dennoch zeigen auch neuere Studien, dass ein einseitig paternalistisches Vorgehen immer noch keineswegs selten ist und sich die Entscheidungskultur in der Praxis noch wenig partnerschaftlich gestaltet (Elwyn et al. 2003). Vielfach bleibt deshalb eine Verständnislü- Elwyn et al. 2003). Vielfach bleibt deshalb eine Verständnislü- . Vielfach bleibt deshalb eine Verständnislücke zwischen der Handhabung der formalen Anweisungen bzw. An- oder Verordnungen einerseits und den diese erläuternden medizinisch-therapeutischen Zusammenhängen andererseits. Zwar sind die formalen Vorgaben auch ohne ein tieferes Verständnis umsetzbar, jedoch bildet dieses ähnlich wie im Zusammenhang der Diagnosemitteilung eine wichtige Voraussetzung für die Mitarbeit des Patienten an der Therapie. Auch nicht hinterfragte Annahmen des Arztes über Therapieerwartungen der Patienten insbesondere bei einer medizinisch nicht erklärbaren Symptomatik können in dieser Phase zu problematischen Verschreibungen führen. So konnte gezeigt werden, dass der Anteil unangemessen verordneter Antibiotika durch Annahmen der Ärzte zu Verordnungserwartungen von Patienten bzw. Patienteneltern steigt (Stivers 2006, 2007). Verstehenspräsuppositionen leiten zwar einerseits die Verstehensarbeit an, sie sind jedoch andererseits bei mangelnder Aufklärung bzw. Legitimationsprüfung auch kontraproduktiv. Besonders problematisch kann sich die interaktive Aushandlung von patientenseitigen Bedürfnissen und Therapieplanung auswirken, wenn die Diagnose unsicher und die Symptomatik medizinisch unerklärbar ist, was bei etwa einem Fünftel aller Arztbesuche der Fall ist (Ring et al. 2004, S. 1057). Wäh- Ring et al. 2004, S. 1057). Wäh- . Während Patienten zunächst Akzeptanz und Mitgefühl für ihr Leiden erwarten, tendieren Ärzte zur Erfüllung gesellschaftlicher Erwartungen zur therapeutischen Symptombehandlung ohne erwartbaren Heilungserfolg (Ring et al. 2004). 2.2.5 Gesprächsbeendigung und Verabschiedung Die Gesprächsbeendigung ist in aufgabenorientierten Gesprächen wie dem Arzt-Patient-Gespräch hinsichtlich interaktiver Verstehensleistungen von besonderer Relevanz. Hier müssen die in den voraufgehenden Handlungsphasen erzielten Resultate der Verständigungsarbeit für das zukünftige außersituative 39 Zum Entscheidungsdialog siehe Koerfer/ Köhle/ Obliers (2005), Jung/ Ditz (2007), Nowak (2010). <?page no="45"?> Verstehensdokumentation in der medizinischen Kommunikation 45 02 Spranz-Fogasy_final Handeln noch einmal abgesichert werden (Lalouschek 2005b). Wie die Bear- Lalouschek 2005b). Wie die Bear- . Wie die Bearbeitung der Handlungsschemakomponenten Diagnosemitteilung und Therapieplanung spielt auch die Gesprächsbeendigung für die Compliance eine wichtige Rolle. Verstehensdokumentarische Aktivitäten wie Wiederholungen, Zusammenfassungen oder letzte Abklärungen zu Diagnose und Therapie sind deshalb in hohem Maß erwartbar. Zumeist sind auch noch prognostische Aussagen und Vereinbarungen zum weiteren Therapieprozess Bestandteil der Gesprächsbeendigung, die auch als Resultate vorhergehender Aushandlungen und Verstehensprozesse gelten können. Frühere Untersuchungen zeigten, dass Patienten relativ häufig die Gesprächsbeendigung als ‘letzte Chance’ wahrnehmen, um bisher noch nicht angesprochene Anliegen und Fragen einzubringen. Dies erzeugt Probleme im Zeitmanagement des Arztes und meist Unzufriedenheit mit dem Gesprächsverlauf auf beiden Seiten (White et al. 1997). Fehlende Gelegenheiten, heikle Themen in früheren Gesprächsphasen anzusprechen, sind hierfür als Ursachen beschrieben worden (Robinson 2001). West (2006) zeigt demgegenüber, dass diese Patienteninitiativen regelmäßig auf interaktive Einladung durch den Arzt erfolgen. Es handelt sich demnach um einen Mechanismus der Verstehenssicherung, der an dieser Stelle für beide Seiten erwartbar ist. 2.2.6 Orientierung im Gespräch geben In seiner breit angelegten Metastudie zu gesprächsanalytischen Untersuchungen des Arzt-Patient-Gesprächs erfasst Nowak (2010, i.Vorb.) als Resultat einer Abstraktion über unterschiedliche Forschungsergebnisse neun Gesprächskomponenten. Diese lassen sich aber in das obige Handlungsschema integrieren 40 oder sie stellen Aktivitätstypen dar, die in verschiedenen Abschnitten eines ärztlichen Gesprächs realisiert werden können, wie die Komponente ‘Orientierung im Gespräch geben’. Diese Komponente steht quer zur prozessualen Handlungslogik des Handlungsschemas und ist als fakultative, aber nichtsdestotrotz empirisch regelmäßige Aktivität zu bestimmen. Der Arzt leistet damit explizite, lokale und Phasen übergreifende Verstehensanweisungen für den Patienten. Diese beziehen sich auf vorausgreifende Verdeutlichungen ärztlicher Handlungen, beispielsweise zum Sinn von Fragen in der Beschwerdenexploration, zu nichtverbalen diagnostischen Untersuchungsverfahren oder zur Entwicklung von Therapievorschlägen. Der Patient erhält damit Hilfestellungen zum Verständnis der laufenden Interaktion und zur Einpassung seiner Beteiligung daran (Lalouschek 2004). 40 So ist z.B., wie ausgeführt, die Komponente ‘körperliche Untersuchung’ aus handlungslogischer Perspektive Bestandteil der Beschwerdenexploration. <?page no="46"?> Thomas Spranz-Fogasy 46 02 Spranz-Fogasy_final 2.2.7 Die verstehensbezogene Interdependenz der Komponenten des Handlungsschemas APG Innerhalb der Handlungslogik eines ärztlichen Gesprächs dienen die einzelnen Handlungsschritte auch jeweils zur Schaffung intersubjektiver Voraussetzungen zur Bearbeitung der jeweils nächsten Schritte. Im Ablauf des Handlungsschemas ist aber zusätzlich noch die Möglichkeit von Schleifen eingebaut, sodass also noch im Rahmen der Therapieentwicklung und -entscheidung erneute Rückgriffe auf explorative Aktivitäten erfolgen können oder bereits im Vorgriff bei der Beschwerdenexploration Aspekte der Therapieplanung, z.B. bezogen auf Handlungsmöglichkeiten von Patienten bei der Therapieumsetzung, angesprochen werden können. Für die interaktive Verstehensarbeit bedeutet dies, dass die Teilnehmer stets die Möglichkeit haben, unklare oder noch nicht thematisierte Aspekte des Beschwerdengeschehens, der Diagnose oder der Therapieplanung anzusprechen und abzuklären. Das ärztliche Gespräch steht, wie in diesem Kapitel gezeigt wurde, in einem umfassenden sozialstrukturellen Rahmen und ist an vielfältige interaktionstypologische und sequenzielle Organisationsaufgaben gebunden, die die Verstehensarbeit der Beteiligten bedingen und anleiten. Allen verstehensbezogenen Aspekten nachzugehen, wäre ob der Masse und Vielfältigkeit ein hoffnungsloses Unterfangen. 41 Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich daher auf einen bestimmten Abschnitt des ärztlichen Gesprächs, der handlungslogisch mit manifesten Verstehensaufgaben verknüpft ist, die in der Regel von Arzt und Patient mit komplementären und mehr oder weniger wechselseitig bedingten sprachlichen Aktivitätstypen bearbeitet werden. Untersucht werden ärztliche Fragen und Antworten von Patienten im Rahmen der gemeinsamen Beschwerdenexploration auf besondere Verstehenspraktiken hin, also auf signifikante Formen der Dokumentation und Organisation von Verstehen in diesen Fragen und Antworten. 3. Ärztliche(s) Fragen als Paradigma der ärztlichen Verstehensarbeit Auf Seiten des Arztes ist ein zentraler Teil der Verstehensarbeit im Rahmen der Beschwerdenexploration zu leisten. Hier muss er die Schilderungen des Patienten nachzuvollziehen suchen, relevante Unklarheiten beseitigen, zusätzliche Elemente des Beschwerdengeschehens einholen oder einzelne Aspekte davon absichern. 41 Auch auf den vieldiskutierten Fachwortgebrauch und die damit verbundene Verstehensproblematik kann aus Platzgründen hier nicht eingegangen werden; siehe dazu Brünner (2005), Brünner/ Gülich (2002) sowie Gülich (1999). <?page no="47"?> Verstehensdokumentation in der medizinischen Kommunikation 47 02 Spranz-Fogasy_final Der zentrale Aktivitätstyp, den Ärzte zum Einholen der Beschwerdensachverhalte einsetzen, sind Fragen - sie sind das Arbeitsinstrument ärztlichen Handelns im Rahmen der Beschwerdenexploration. Fragen organisieren das gemeinsame interaktive Handeln, die Agenda 42 der Beschwerdenexploration. Diese Agenda umfasst die Themen, die besprochen, und die Aktivitäten, die vom Patienten ausgeführt werden sollen, wie die Symptombeschreibung, die Erläuterung vorangegangener Schilderungen oder die Darstellung des psychischen Krankheitserlebens. Fragen sind bislang in der Forschung vor allem unter dem Gesichtspunkt ihrer augenfälligen interaktiv-projektiven Kräfte betrachtet worden, 43 retrospektiv wurden allenfalls Nichtverstehen beziehungsweise Verstehensprobleme thematisiert. 44 Boyd/ Heritage (2006, S. 154f.) zeigen aber auch, dass Fragen mehr leisten, als Themen und Handlungsaufgaben zu organisieren: Fragen enthalten Präsuppositionen, die Ärzte als fraglos gegeben behandeln, und sie implizieren Präferenzen dafür, welche Erwartungen Ärzte bezüglich des Inhalts der Antwort seitens der Patienten hegen. In und mit Fragen wird aber auch retrospektiv Verstandenes dokumentiert, kommentiert oder bewertet, und Fragen können damit gewissermaßen auch als Stellungnahmen zu ihren Bezugsäußerungen gesehen werden. Im Folgenden werden nach einer kurzen Beschreibung des zugrunde liegenden Datenkorpus zunächst Typen ärztlicher Fragen nach lexikogrammatischen Merkmalen unterschieden und darauf aufbauend wird eine funktionale Differenzierung vorgenommen. Die quantitative Verteilung der Fragetypen in ärztlichen Gesprächen sowie deren empirisch vorfindliche Sequenzialisierung führen dazu, einen bestimmten Fragetyp, die so genannten Deklarativsatzfragen, zu fokussieren und auch dort funktionale Differenzierungen aufzuspüren. Dabei ist von besonderem Interesse, diese Fragen nicht nur hinsichtlich ihrer projektiven Funktion zu charakterisieren, sondern vor allem auch die retrospektiven Verstehensbekundungen von und Bezugnahmen auf Patientenäuße- 42 Sie leisten also ‘agenda-setting’ im Sinne von Manning/ Ray (2002); siehe auch Boyd/ Heritage (2006). 43 Zu Fragen im Kontext ärztlicher Gespräche siehe beispielsweise Boyd/ Heritage (2006), Frankel (1995), Lalouschek (2002, 2005b), Spranz-Fogasy (2005), Spranz-Fogasy/ Lindtner (2009), Stivers (2007), Stivers/ Heritage (2001); zu Fragen allgemein siehe Blakemore (1992), Luukko-Vinchenzo (1988), Meibauer (1987), Rost-Roth (2003, 2006), Selting (1995), Sperber/ Wilson (1995). 44 Selting (1995) und Rost-Roth (2006) unterscheiden dabei Bedeutungsverstehensprobleme, Referenzverstehensprobleme, akustische Verständigungsprobleme sowie Erwartungsprobleme. <?page no="48"?> Thomas Spranz-Fogasy 48 02 Spranz-Fogasy_final rungen zu erfassen, die in diesen Fragen, ihrer sequenziellen Positionierung und ihrer interaktionstypologischen Kontextualisierung dokumentiert sind. Für diese Untersuchung besonders wichtig erscheint ein Typus von Deklarativsatzfragen, in dem der Arzt Äußerungen des Patienten weitgehender interpretiert und expliziert, als dieser selbst. Dieser Typus von Deklarativsatzfragen erweist sich auch als besonders bedeutsam in Hinsicht auf Stile der ärztlichen Gesprächsführung. 3.1 Daten Der Untersuchung ärztlicher Fragen liegt die Auswertung von 13 Audioaufzeichnungen ärztlicher Gespräche in vier Praxen niedergelassener Ärzte unterschiedlicher Fachrichtung zugrunde (zwei Allgemeinärzte, ein Internist, ein Urologe). 45 Zehn der Gespräche sind Erstgespräche, d.h. Gespräche bei erstmaligem Auftreten der Beschwerden, drei Gespräche sind Folgegespräche. Das Themenspektrum ist breit gestreut, besprochen werden: Erkältung, Magenschmerzen, Kreislaufprobleme, Stresssymptome, bakterielle Infekte oder urologische Probleme nach Polio. Acht Gespräche werden von biomedizinisch orientierten Ärzten geführt, die anderen fünf von psychosomatisch/ psychotherapeutisch ausgebildeten Ärzten. Die Gesamtdauer der Gespräche beträgt 2h 6min 43s. Die Dauer der Gespräche variiert von 2min 9s bis 17min 55s mit einer Durchschnittsdauer von 9min 45s. Insgesamt wurden 535 ärztliche Fragen erfasst und ausgewertet, durchschnittlich stellten die Ärzte also alle 14,2s eine Frage. 3.2 Die syntaktische Typisierung ärztlicher Fragen In syntaktischer Hinsicht lassen sich drei Fragetypen unterscheiden: - W-Fragen (WF) werden durch Interrogativadverbien oder Interrogativpronomen eingeleitet, die mit einem W beginnen (wer, was, wann, wo, wie, warum etc.); diese W-Wörter stehen am Satzanfang, das Verb steht dann an zweiter Satzgliedposition. Beispiele für W-Fragen aus dem Korpus sind: WIE oft (.) müssen sie [n: achts-] [wie] lang sind sie DENN schon hei: serwovor HAM se DENN angst 45 Weitere Gespräche aus ärztlichen Praxen und klinischen Ambulanzen wurden zur Überprüfung der Ergebnisse kursorisch einbezogen. <?page no="49"?> Verstehensdokumentation in der medizinischen Kommunikation 49 02 Spranz-Fogasy_final - Syntaktische Fragen sind definiert durch die Erststellung des Verbs (V1-F). Beispiele dafür sind: HAM se=n UNfall gehabt? sind sie n=bisschen ÄNGSTlicher typ, - Deklarativsatzfragen (DSF) entsprechen in ihrer syntaktischen Struktur dem Deklarativsatz. Beispiele: an den ANder=n FINGern is nichts; das macht dir ANGST dann; WF und V1-F sind also schon anhand ihrer syntaktischen Struktur erkennbar, während DSF als Fragen durch interaktive, insbesondere prosodische, 46 sequenzielle und andere kontextuelle Merkmale identifizierbar sind. Bei den interaktiven Merkmalen sind hier retrospektive und prospektive Momente zu unterscheiden: Retrospektiv wird die Fragecharakteristik oft aufgrund der Behandlung als Frage durch Antworten deutlich gemacht. Prospektiv werden Fragen vielfach durch vorangehende thematische Kontexte oder übergreifende Handlungszusammenhänge erkennbar gemacht, die eine Frage motivieren. So sind beispielsweise ärztliche Fragen im Rahmen der Beschwerdenexploration und nach Abschluss der ersten Beschwerdenschilderung des Patienten erwartbar, da Patienten selten alle medizinisch relevanten Aspekte eines Beschwerdengeschehens von sich aus formulieren (können). Fragen sind geradezu der ‘Defaultfall’ ärztlichen Sprachhandelns in der Phase der Beschwerdenexploration. WF und V1-F sind dabei schon von ihrer äußeren Form her - dem einleitenden W-Wort bzw. der Verb-Erststellung - vom Gesprächspartner von Beginn an als Frage erkennbar, im Unterschied zu DSF. WF und V1-F erleichtern damit dem Gesprächspartner das Verstehen der Sprachhandlungsqualität bereits mit Beginn ihrer Realisierung. DSF sind dagegen nicht immer eindeutig als Frage bestimmbar. Zwar können weitere Merkmale hinzutreten, wie Rückversicherungspartikel (wie nicht wahr, ne, oder etc.) oder die Formulierung eines Partnerereignisses (Partnerereignis meint hier, dass der Partner in Bezug auf den Redegegenstand eine größere epistemische Autorität besitzt, 47 also ein besseres, oft auch nur ihm zugängliches Wissen z.B. bei Emotionen, Schmerzen oder bezüglich des psychosozialen Umfelds etc., wie schon die oben aufgeführten Beispiele verdeutlichen). Dennoch lässt sich die Fragequalität nicht 46 Zur prosodischen Markierung von Fragen siehe Selting (1995). 47 Zum Konzept der epistemischen Autorität siehe Heritage/ Raymond (2005). <?page no="50"?> Thomas Spranz-Fogasy 50 02 Spranz-Fogasy_final immer eindeutig bestimmen, oder Deklarativsätze werden erst retrospektiv als Frage konstituiert (beispielsweise durch eine metakommunikative Charakterisierung als Frage durch den Gesprächspartner). Gerade auch die Intonation ist bei DSF sehr variabel: Das Spektrum reicht von eingangs platzierter bis weit nach rechts verschobener Frageindizierung mittels prosodischer Merkmale, ggf. noch ergänzt durch Rückversicherungspartikel, wie die folgenden Beispiele zeigen: QUÄLT sie schon richtigsie sind eigentlich so mit ihrem ganzen hals NAsen bereich nicht zuFRIEDEN <<all> un das> geht an die subSTANZ (.) <<p>ne? > Die Varianz bei DSF erlaubt bzw. bewirkt, die Fragecharakteristik vage zu halten - es wird oft auch dem Patienten überlassen, die Äußerung als Frage zu interpretieren bzw. - umgekehrt - eine erkennbar als DSF markierte Äußerung als Behauptung zu behandeln. 48 WF sind so genannte ‘offene’ Ergänzungsfragen, bei denen die Antwort nicht bekannt bzw. der Antwortraum offen ist. 49 Der Fragende gibt jedoch eine bestimmte W-Dimension vor, die für ihn aufgrund der bisherigen thematischen Entwicklung und durch die Beiträge des Gesprächspartners relevant geworden ist oder hinsichtlich der lokal eine Frage zur Einholung zusätzlicher Information eingepasst werden kann. V1-F und DSF gelten dagegen als ‘geschlossene’ Entscheidungsfragen, die von ihrer syntaktisch-semantischen Struktur her lediglich eine ja/ nein-Antwort, mit präferierter Zustimmungsoption entsprechend der positiven oder negativen Polarität 50 der Formulierung erwarten lassen. 48 Hier wird deutlich, dass die in weiten Teilen der linguistischen Pragmatik präsupponierte Exklusivität von Deklarativ- und Interrogativsätzen bzw. von Behauptung-Ratifikation- und Frage-Antwort-Sequenzen eine simplifizierende Annahme ist. Empirisch findet sich ein breites Spektrum mit fließenden Grenzen. Dieser Aspekt kann aber im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht weiter verfolgt werden. 49 Dies gilt allerdings nicht für alle WF in gleichem Maße. Fragen beispielsweise nach der Uhrzeit oder nach Anzahlen sind, was den Antwortraum angeht, ebenso restriktiv wie ja/ nein-Fragen (siehe auch Boyd/ Heritage 2006, S. 156f.). 50 Heritage (2001) und Boyd/ Heritage (2006) zeigen, dass Ärzte mit der positiven oder negativen Formulierung einer Frage zum einen Hinweise auf ihren Gewissheitsstatus hinsichtlich des dargestellten Sachverhalts geben (der bei negativer Formulierung in der Regel höher ist) und zum anderen einer einfacheren und damit ökonomischeren Beantwortung Vorschub leisten. <?page no="51"?> Verstehensdokumentation in der medizinischen Kommunikation 51 02 Spranz-Fogasy_final V1-F mit der markanten Prädikatsumstellung an den Äußerungsanfang signalisieren ebenfalls von Beginn an Unsicherheit beziehungsweise Ungewissheit der Fragenden hinsichtlich einer richtigen Antwort, sie schränken den Antwortbereich aber auf eine dichotome ja/ nein-Entscheidung ein. Mit einer solchen syntaktischen Frage mit erkennbaren inhaltlichen Bezügen zu Partneräußerungen dokumentieren Fragende aber immer auch, dass sie den thematischen Sachverhalt soweit verstanden haben, dass sie den Bereich des Fraglichen auf eine solche Dichotomie reduzieren können und sogar mittels der formulierten Polarität eine Annahme über die Antwort besitzen. Diese Annahme speist sich im hier behandelten medizinischen Kontext aus den bisherigen Entwicklungen des Interaktionsverlaufs, aus dem medizin-systematischen Wissen des Arztes oder aus externen Quellen (wie Patientenkartei, Laborwerte oder Arztbrief). Die Zustimmungsoption ist bei DSF dann noch stärker ausgeprägt: Qua syntaktischer Struktur behauptet der Arzt die Proposition, was aber durch verschiedene und unterschiedlich ausgeprägte Fragemarkierungen dann mehr oder weniger relativiert, aber nicht grundsätzlich aufgehoben wird. Am deutlichsten wird dieser Zusammenhang bei Ratifikationsfragen. Der Normalfall ist bei allen Fragetypen die positive Formulierung der Proposition, zumindest im ärztlichen Gespräch kommen jedoch relativ viele Formulierungen mit negativer Polarität vor, die durch die Abweichung vom Normalfall sowie durch die antwortökonomische Vorgabe einen höheren Grad an Gewissheit und Verstehen und eine damit verbundene deutlichere Antwortpräferenz indizieren. So schließt beispielsweise ein Arzt aus ihm vorliegenden Unterlagen und dem bisherigen Gesprächsverlauf mit der Frage: DIAbetes ham sie nich darauf, dass diese Erkrankung wohl nicht vorliegen kann, da sie sonst bereits erwähnt worden wäre. Alle drei Fragetypen können der Einführung neuer, zusätzlicher Sachverhalte dienen, die im Kontext oder aufgrund interaktionsexterner Vorgaben oder einseitig mentaler Assoziation (beispielsweise durch Arztbrief, Interviewleitfaden, Vorab-Erhebungen medizinischer Werte, Patientenkartei, medizinisch-kategorialem Wissen etc.) für den Fragenden relevant werden. Solche Fragen können als Komplettierungsfragen 51 charakterisiert werden; sie dienen dazu, das Wissen des Arztes über den Patienten und seine Beschwerden gemäß professioneller Relevanzen zu vervollständigen, die in den bisherigen Äußerungen des Patienten (noch) nicht erwähnt oder implizit relevant wurden. Der häufigste Fall solcher Komplettierungsfragen sind Fragen, die einem übersituativen medizinischen Fragenkatalog entstammen, der vom 51 Zum Konzept der Komplettierungsfragen siehe Spranz-Fogasy (2005). <?page no="52"?> Thomas Spranz-Fogasy 52 02 Spranz-Fogasy_final Arzt manchmal in Form einer schriftlichen Vorlage genutzt, oft aber auch routinemäßig gewusst wird. Das folgende Beispiel entstammt einem ausführlichen anamnestischen Interview. #1 API2 (02: 25-02: 47) 01 A: WAS für ne AUSbildung machen sie dort? 02 P: .h äh: ich mach: (-) ’also: (.) grad die 03 EINjährige metall, 04 (1.7) <<p>’also (---) metallbau>, 05 (1.2) 06 A: mhm macht SPAß? 07 (-) 08 P: m=joa; 09 (-) 10 A: hm’, 11 (4.6) ((räuspert sich)) 12 (-) is der appeTIT gut? 13 (--) 14 P: joa: (-) he he (-) leider .h, Die syntaktische V1-Frage is der appetit gut ist in diesem Ausschnitt vom Arzt erkennbar ohne direkten thematischen und zeitlichen Zusammenhang und ohne direkten sequenziellen Anschluss gestellt worden: Von der Erörterung eines psychosozialen Zusammenhangs im beruflichen Leben des Patienten wechselt der Arzt nach einer markanten Pause von 4,6s zu einem Aspekt der Lebensführung. Offensichtlich angeleitet durch einen - flexibel gehandhabten - Interview-Leitfaden zur psychosozialen Anamnese, wie sich auch durch den weiteren Kontext ergibt, und zusätzlich zu vorherigen Angaben des Patienten zu seinen Beschwerden und zu bereits aktiv vom Arzt eingeholten Informationen zum körperlichen Status und zu aktuellen Beschwerden erfragt er damit also einen weiteren, allgemeinen Befundaspekt. Komplettierungsfragen erzeugen, insbesondere in professionellen Kontexten, für Patienten wie für den Gesprächsanalytiker häufig das Problem, dass nicht erkennbar ist, inwiefern sie aus professioneller Sicht an vorhergehende Äußerungen angeschlossen sind und dabei auch Verstehen dokumentieren. Auch Interview-Leitfäden in medizinischen Kontexten werden variabel gehandhabt, d.h. dass relevante Beschwerdenaspekte lokal flexibel angeschlossen erfragt werden können. Hinzu kommt, dass Komplettierungsfragen sich für den Arzt oft auch aus externen Quellen wie Patientenkartei, Laborwerten, <?page no="53"?> Verstehensdokumentation in der medizinischen Kommunikation 53 02 Spranz-Fogasy_final Arztbriefen etc. ergeben, die dem Patienten als solche nicht erkennbar gemacht werden. Im Unterschied dazu zeigen Präzisierungsfragen direkte Bezüge zu früheren Äußerungen (meist zu den unmittelbar vorangegangenen). Ihr Gehalt und ihre interaktive Funktion sind zumindest teilweise durch den interaktiven Prozess motiviert, und die Formulierungsweise spiegelt wider, wie der Arzt frühere Äußerungen des Patienten bis dato verstanden hat, und was er demzufolge noch genauer erfahren will. Solche Präzisierungsfragen sind Gegenstand der folgenden Ausführungen. 3.3 Die interaktive Systematik der Fragetypen Die drei hier lexikogrammatisch definierten Fragetypen WF, V1-F und DSF sind zunächst hinsichtlich ihrer formalen Eigenschaften unterschieden worden. In einem zweiten Schritt soll nun versucht werden, auch funktionale Eigenschaften zu charakterisieren. Dabei geht es aber nicht nur um die projektiven Eigenschaften, sondern auch um retrospektive Funktionen bzw. um die systematische Verknüpfung von beiden. In dieser Hinsicht weisen die drei hier syntaktisch, lexikalisch, prosodisch und interaktiv bestimmbaren unterschiedlichen Fragetypen eine auffällige Systematik auf; mit ihnen werden unterschiedliche Verstehenslagen markiert und dokumentiert und interaktiv zu bearbeiten gesucht. Jeder der genannten Fragetypen dokumentiert einen unterschiedlichen Wissensstand. Prospektiv dient die Frage, als kognitive Suchoperation, dann dazu, einen noch fehlenden Wissensaspekt einzuholen. Retrospektiv wird dabei aber zugleich ein bestimmtes Wissen unterstellt, das aus dem bisherigen Interaktionsverlauf bzw. zumeist dem vorangegangenen Turn des Patienten erschlossen wurde. Die drei Fragetypen implizieren dann auch ein zunehmendes Präsuppositionsniveau, das vom Verständnis des gegebenen thematischen Zusammenhangs über die Annahme relevanter Alternativen bis zur Unterstellung einer Proposition reicht: - W-Fragen fokussieren eine spezifische Eigenschaft in Bezug auf den in Rede stehenden Sachverhalt. Mit der jeweiligen Fragepartikel geben sie eine bestimmte Sachverhaltsdimension vor und dokumentieren so die mangelnde Bearbeitung bzw. ein Verständnisproblem hinsichtlich der genannten spezifischen (W-)Kategorie. Mit WF werden demnach kategoriale Aspekte des Redegegenstands bzw. des Beschwerdenzusammenhangs wie Protagonisten, Geschehen, Zeit und Dauer, Ursache, Art und Weise oder Zweck erfragt. Dem Fragenden ist also die kategoriale Einordnung (von Aspekten) des Redegegenstands unzureichend - als verstanden behandelt wird dagegen der Redegegenstand als solcher. <?page no="54"?> Thomas Spranz-Fogasy 54 02 Spranz-Fogasy_final - In V1-Fragen wird alternativ bzw. dichotom eine mögliche Proposition formuliert und als ungewiss dargestellt. V1-F zielen also auf den epistemischen Status der (Nicht-)Existenz von Sachverhalten oder Sachverhaltsaspekten, bzw. auf die Wahrheit und Gültigkeit der Aussagen darüber. Durch ihre syntaktische Form dokumentieren sie dabei mehr präsupponiertes Wissen als WF: Der Arzt konzediert - bis auf Weiteres - den Redegegenstand und seine kategoriale Ordnung und beansprucht mit der V1-F, dass er zum gegebenen Sachverhaltszusammenhang alternative, wenn auch inkompatible Propositionen für möglich hält, über die der Patient aufgrund seines epistemisch-autoritativen Wissens zum Beschwerdengeschehen entscheiden können müsste und soll. Im Unterschied zu WF, die als Ergänzungsfragen eine selbstbestimmte Kategorisierung erfordern, handelt es sich hier um Entscheidungsfragen im Sinne einer ja/ nein-Option. Dabei indizieren V1-F aber durch ihre Formulierung oft bereits eine Antwortpräferenz 52 des Arztes, da sie im Sinne des Progressivitätsprinzips 53 der Interaktion auf eine möglichst unaufwändige Antwort zielen. Der Fragende markiert mit V1-F also den existenziellen Status von Aspekten des Redegegenstands (was gehört [nicht] dazu) als unzureichend - als verstanden behandelt werden aber der Redegegenstand als solcher und seine kategoriale Strukturen. - DSF implizieren eine weitere Steigerung des Wissenszustands beim fragenden Arzt. Mit ihnen wird eine bestimmte Prädikation als nicht nur möglich, sondern als sehr wahrscheinlich gerahmt. Existenz, Wahrheit und Gültigkeit werden ebenso vorausgesetzt wie der behandelte Redegegenstand, es wird jedoch noch nach einer genaueren Bestimmung des Redegegenstands gesucht, die der Patient im Folgenden aber nur noch zu ratifizieren braucht bzw. ratifizieren soll. DSF werden so häufig als reine Ratifikationsfragen dazu genutzt, Behauptungen als intersubjektive Fakten zu verankern; 54 dies beruht in der Hauptsache auf ihrem projektiven Potenzial, das eine starke Zustimmungspräferenz etabliert. 55 Die häufig zu findenden Rückversicherungspartikel („tags“, Jefferson 1981) bei DSF die- 52 Zur Präferenzorganisation von Äußerungen siehe Pomerantz (1984), Bilmes (1988) sowie Schegloff (2007). 53 Das Prinzip der Progressivität wird ausführlich behandelt in Stivers/ Robinson (2006) und Heritage (2007). 54 Im Sinne des interaktionsanalytischen Konzepts des ‘grounding’; siehe Clark/ Schaeffer (1989). 55 Zur Zustimmungspräferenz von DSF siehe auch Boyd/ Heritage (2006). <?page no="55"?> Verstehensdokumentation in der medizinischen Kommunikation 55 02 Spranz-Fogasy_final nen dabei weniger dazu, ihren Status als Fragen zu betonen, sondern dazu, die konditionelle Relevanz und die Zustimmungserwartung zu verstärken. DSF zielen also über die intersubjektive Absicherung auf eine gemeinsame definitorische Bestimmung des Redegegenstands bzw. von Aspekten des Redegegenstands. Dem Fragenden ist demnach die Definition des Redegegenstands in bestimmter (und in der DSF formulierten) Hinsicht unzureichend bzw. deren intersubjektive Geltung - als verstanden behandelt werden hingegen der Redegegenstand als solcher, seine kategoriale Strukturen sowie seine ontologische Charakteristik. Mit dieser Systematik stellen die drei Fragetypen zugleich ein aufeinander aufbauendes Grundgerüst (sachverhalts-)logischer Operationen bereit, die das Verstehen organisieren: (1) die grundlegende kategoriale Orientierung, die ein Fragender mit WF sucht (die kategorialen Elemente), (2) die Entfaltung des Redegegenstands in hinreichender Fülle und in seiner relationalen Organisation mittels V1-F (die Konstitution und Verknüpfung der Elemente) und (3) die Suche nach der intersubjektiven Verankerung definitorischer Bestimmungen mittels DSF (die gemeinsame Definition eines Sachverhalts). Damit werden alle wichtigen Aspekte der kognitiven Organisation von Weltsachverhalten erfasst. Interaktiv stellen die drei Fragetypen also ein Werkzeug zur Verstehensorganisation bereit, sie erzeugen Bedingungen des subjektiven und intersubjektiven Verstehens komplexer Sachverhalte wie eben dem eines Beschwerdengeschehens im Prozess der Interaktion. Fragetyp Kognitive Suchoperation Verstehensdokumentation Beispiele W-Frage kategoriale Aspekte Redegegenstand wovor HAM se DENN angst, V1-Frage Existenz, Wahrheit und Gültigkeit Redegegenstand, kategoriale Aspekte HAM se=n UNfall gehabt? Deklarativsatzfrage Intersubjektivierung definitorischer Bestimmungen Redegegenstand, kategoriale Aspekte, Existenz- und Wahrheitsbestimmung QUÄLT sie schon richtig- Tabelle 1: Syntaktische Fragetypen und die Verteilung von Suchoperationen und Verstehensdokumentationen <?page no="56"?> Thomas Spranz-Fogasy 56 02 Spranz-Fogasy_final Die Systematik der Fragetypen, ihre Relation zueinander und die Möglichkeiten ihrer interaktiven Prozessierung sind in hohem Maße funktional für den spezifischen Zusammenhang der medizinischen Beschwerdenexploration: Sie ermöglichen dem Arzt eine systematische Auffordnung des Beschwerdenkomplexes durch den steten Abgleich mit dem systematisch organisierten medizinisch-kategorialen Wissen. 3.4 Quantitative Verteilung von Fragetypen im ärztlichen Gespräch Die unterschiedlichen und systematisch komplementären Funktionen syntaktisch bestimmter Fragetypen machen eine Untersuchung der quantitativen Verteilung von Fragetypen in ärztlichen Gesprächen interessant. Es gilt herauszufinden, welche der genannten sachverhaltslogischen und verstehensdokumentarischen Operationen im Vordergrund ärztlichen Interesses stehen und gegebenenfalls auch, ob es eine systematische Abfolge der verschiedenen Fragetypen und damit fragebezogen eine Logik der Verstehensorganisation gibt. Ausgewertet wurden alle ärztlichen Fragen in den 13 zugrunde gelegten Gesprächen, nicht nur die in der anfänglichen Explorationsphase. Dies geschah deshalb, weil auch in späteren Handlungsphasen noch explorative Aktivitäten vorkommen und vielfach explorative Aktivitäten multifunktional sind - Fragen im Falle ärztlicher Gespräche also neben explorativen Funktionen auch zugleich funktional für Diagnosemitteilung und/ oder Therapieentwicklung sein können. 56 Die Verteilung der Fragetypen in den 13 ausgewerteten Gesprächen ergibt folgendes Bild: Fragetyp Anzahl (N=535) Häufigkeit W-Frage 090 17% V1-Frage 136 25% Deklarativsatzfrage 273 51% Rest 57 36 07% Tabelle 2: Verteilung syntaktischer Fragetypen in Arzt-Patient-Gesprächen 57 56 Zur Flexibilität der Handlungsschemakomponenten siehe Spranz-Fogasy (2005). 57 Die relativ hohe Anzahl nicht zu bestimmender Fragen ergibt sich vor allem aus elliptischen Fragen. <?page no="57"?> Verstehensdokumentation in der medizinischen Kommunikation 57 02 Spranz-Fogasy_final DSF sind mit über 50% der mit Abstand häufigste Fragetyp in ärztlichen Gesprächen. V1-F machen ein Viertel der Fragen aus und WF lediglich 17%. Die Verteilung der Fragetypen variiert zwischen biomedizinisch und psychosomatisch/ -therapeutisch orientierten Ärzten nur unwesentlich: Ärzte mit biomedizinischer Orientierung (n=372) Ärzte mit psychosomatisch/ -therapeutischer Orientierung (n=163) W-Frage 16% 18% V1-Frage 27% 23% Deklarativsatzfrage 50% 53% Tabelle 3: Verteilung syntaktischer Fragetypen auf Ärzte mit unterschiedlicher Orientierung Allerdings fragen biomedizinisch orientierte Ärzte deutlich häufiger, nämlich 46,5 Fragen pro Gespräch, während psychosomatisch/ -therapeutisch orientierte Ärzte nur 32,6 Fragen pro Gespräch stellen (wobei die Gespräche der letzteren im Durchschnitt - wenn auch nur unwesentlich - länger sind: 10min 10s gegenüber 9min 29s der biomedizinisch orientierten Ärzte; das bedeutet, dass biomedizinisch orientierte Ärzte zeitbezogen etwa 53% mehr Fragen stellen als ihre psychosomatisch/ -therapeutisch orientierten Kollegen). Alle Ärzte formulieren einen erheblichen Teil ihrer Fragen demnach bereits aus der Einstellung eines relativ sicheren Wissens, der Überzeugung, schon Vieles verstanden zu haben, heraus. Ein zentraler Orientierungspunkt ihrer Fragetätigkeit ist dabei offensichtlich die definitorische Bestimmung des Beschwerdengeschehens bzw. von Aspekten davon, wie sie gerade mit DSF gesucht bzw. erfragt wird. Die quantitative Reihenfolge entspricht in ihrer Tendenz nun auch der empirischen Abfolge, d.h. es werden zunächst eher WF, dann V1-F und schließlich DSF geäußert; öfters finden sich auch die Reihenfolgen WF - V1-F bzw. WF - DSF sowie V1-F - DSF. Diese Tendenz gilt in manchen Fällen für ein ganzes (dann meist kurzes) Gespräch, oft aber auch für einzelne thematische Phasen, wenn also verschiedene Teilthemen eines komplexen Beschwerdengeschehens nacheinander verhandelt werden. Ein Beispiel dafür bietet folgender Gesprächsausschnitt: 58 58 Dieser Gesprächsausschnitt wird - unter anderen Gesichtspunkten - ausführlicher analysiert in Kap. 4.3 sowie in Spranz-Fogasy/ Lindtner (2009). <?page no="58"?> Thomas Spranz-Fogasy 58 02 Spranz-Fogasy_final #2 AA_BI_03 (00: 06-00: 56) 01 A: N: A weswegen kommen sie denn HER? 02 P: ja ich habe seit DREI tagen einen ä: h 03 (-) FINger- 04 wo ich nicht weiß: - 05 (.) was ich damit MAchen soll; 06 (---) ’aso ich: wenn ich; 07 (-) GEstern abend hab ich=n BRIEF 08 geschrieben; = 09 =da is er aso ganz dick gewo: rden, 10 (-) 11 A: hm: : ? = 12 P: =und das is als ob hier ein (.) ne nadel 13 oder irgendwas DRIN wär; 14 (1.0) 15 A: HAM se=n UNfall gehabt? 16 P: n überHAU: PT nichts passiert; 17 [in (letzter zeit); ] 18 A: [nich erINNERlich; ] 19 (.) was is=n das hier für=n kleines LOCH, 20 (-) 21 P: ja das heiß: t- 22 (-) da hat mich glaub ich eine KATze: ; 23 (1.0) gehakt- 24 A: wann WAR=n [das? ] 25 P: [das is-] 26 o: ch- 27 (.) des is- 28 (1.3) moment ich bin; 29 (-) ich KOMM nämlich jetzt von 30 auSTRA: lien; 31 und ä: h- 32 (1.2) meine güte es MÜSSte vielleicht am- 33 (--) letzte woche (-) DONnerstag gewesen 34 sein- 35 (---) 36 A: ja: : - <?page no="59"?> Verstehensdokumentation in der medizinischen Kommunikation 59 02 Spranz-Fogasy_final 37 aber hoffentlich hängt das nicht damit 38 zuSAMmen 39 [nich, (.) die hat] <<f>ZWEImal hier 40 P: [ja also sie hat- ] 41 A: rein>gehackt [nich; ] 42 P: [nein ] 43 das (.) das bin ICH gewesen; 44 das is [also die-] 45 A: [ja: , und ] HIER hat ne katze 46 gekratzt; 47 (--) und DA tut=s auch we: h? 48 (.) an der stelle? Die Ärztin beginnt hier ganz offen mit der (W-)Frage nach dem Grund des Arztbesuchs der Patientin (Z. 01). Nach deren Beschwerdenschilderung (Z. 02-13) und in Bezug darauf erfragt sie dann mittels einer V1-F, ob den Beschwerden ein Unfall vorausliege - etwas, was die Patientin nicht von sich aus erwähnt hatte, die Ärztin aber aufgrund der geschilderten Symptomatik vermutet. Implizit fragt die Ärztin damit auch nach einer möglichen Ursache. 59 Nach der Verneinung der Patientin fragt die Ärztin nach einem von ihr entdeckten LOCH (Z. 19), wohl in der Umgebung des von der Patientin angegebenen Körperfeldes; auch hier wird mit der - offenen - W-Frage dokumentiert, dass die Ärztin hier unwissend ist - es handelt sich dann auch um die Eröffnung einer neuen thematischen Phase. Nach den Angaben der Patientin zu der Herkunft der Verletzung (Z. 21-23) sucht die Ärztin mit der wann- Frage noch den Zeitpunkt des Geschehens abzuklären (Z. 24). Die folgenden Aktivitäten der Ärztin bestehen aus einer ganzen „Batterie“ von DSF (Z. 36- 48 und darüber hinaus), 60 in denen sie ein bestimmtes Verständnis des Geschehens und seiner Auswirkungen dokumentiert und es gemeinsam mit der Patientin zu definieren sucht. Der Explorationsprozess erfolgt hier also - wenn auch mit einer Schleife - von einem als weit offen dokumentierten Nichtwissen zu einem mittels Fragen und Antworten immer stärker definierten Verständnis des Beschwerdengeschehens, was sich vor allem auch in der gezielten Wahl der verschiedenen Fragetypen mit deren jeweiligen Verstehensimplikationen ausdrückt. 59 Differenzialdiagnostisch ist sogar anzunehmen, dass die Ärztin hier gleichzeitig die Alternative einer exogenen versus einer endogenen Verursachung abklärt. 60 Die gesamte Beschwerdenexploration ist aufgeführt in Spranz-Fogasy/ Lindtner (2009). <?page no="60"?> Thomas Spranz-Fogasy 60 02 Spranz-Fogasy_final Die Fragetypen WF, V1-F und DSF reflektieren also - in dieser Reihenfolge - Grade gesteigerten Verstehens bzw. gesteigerter Gewissheit. Typischerweise finden sich in sachorientierten und frageintensiven professionellen Kontexten - wie eben der ärztlichen Beschwerdenexploration - deshalb auch Fragetyp- Sequenzen mit zunehmender Verstehenslage. Komplementär zu dieser kognitiven Organisation von Fragen ist auch die sequenz-, bzw. interaktionsorganisatorische Strukturierung: Sie verläuft von Ergänzungs-, also ‘offenen’, Fragen zu ‘geschlossenen’ Entscheidungsfragen mit gesteigerter Zustimmungspräferenz. Hier scheint also ein Trichterprinzip wirksam, das unmittelbar mit der Verstehenslage korreliert, die in der Wahl der unterschiedlichen Fragetypen dokumentiert ist. 61 3.5 Deklarativsatzfragen (DSF) Der Forschungszusammenhang, in dem diese Untersuchung steht, befasst sich mit der Frage, wie Gesprächsteilnehmer einander ihr (Nicht-)Verstehen dokumentieren und aushandeln. Auch in Fragen dokumentieren Ärzte ihr Verständnis dessen, was ein Patient äußert. DSF zeigen dabei einen hohen Grad an Verstehen und Gewissheit seitens der Ärzte. Und auch die quantitative Häufigkeit legt es nahe, sich genauer mit DSF zu befassen. DSF, die inhaltlich direkt an Äußerungen von Patienten anschließen, können als P-motivierte DSF bezeichnet werden. Hier lassen sich zwei Formen unterscheiden: DSF, die für die Proposition nach Ratifikation suchen und solche, die die Proposition selbst problematisieren. P-motivierte DSF bestätigen oder problematisieren also den propositionalen Gehalt von Patientenäußerungen in Gänze oder in Teilen durch vollständige, teilweise und paraphrasierende oder interpretierende und abstrahierende Bezugnahmen. Drei zentrale Verfahrensaspekte dieses Fragetyps sind: 1) Dokumentation(en) des Verstandenen (z.B. mittels wörtlicher Wiedergabe, Verwendung äquivalenter Ausdrücke, komplementärer Konstruktionen etc.); 61 Dies gilt jedenfalls für biomedizinisch orientierte Ärzte. Anders sieht es dagegen bei psychosomatisch orientierten Ärzten aus: Sie beginnen Gespräche überhaupt, aber auch einzelne thematisch definierte Phasen innerhalb ihrer Gespräche oft mit DSF mit explikativem Charakter (siehe unten Kap. 3.7), mit denen sie von der Sachebene auf die Ebene des psychischen Erlebens der Patienten wechseln. Dies entspricht auch einer Vorgabe zur Gesprächsführung, zunächst die Darstellungen von Patienten zu begleiten und ggf. eigene Wahrnehmungen zurückzuspiegeln. Diese Beobachtung muss jedoch noch an weiteren Materialien überprüft werden. <?page no="61"?> Verstehensdokumentation in der medizinischen Kommunikation 61 02 Spranz-Fogasy_final 2) Bezugnahmen (z.B. durch Anaphorik, Konnektoren wie also, dennoch oder auch metakommunikative Formulierungen); 3) definitorische Bestimmung (durch Proposition und Polarität). Bei propositions-problematisierenden DSF kommen vielfach adversative und negierende Ausdrücke bzw. Konstruktionen sowie problematisierende Implikationen hinzu. Ein Beispiel dafür zeigt folgender Gesprächsausschnitt: #3 IA_MR_03 (00: 36-00: 47) 01 A: [WIE ] lang sind sie DEnn schon hei: ser- 02 (--) 03 P: also s ist jetzt en paar TA: gen; 04 m: merk ich das; 05 (--) ALSO es geht dann wieder mal [W: EG,] 06 A: [HÖRN ] 07 tut man [eigentlich] nich 08 P: [besser- ] 09 A: viel [ne; ] 10 P: [NEE es] is nur so MANCHmal kommtet 11 so- 12 dann (und wann) merk ich s- 13 (--) dann geht s (wieder auch) besser 14 (und)- Nachdem die Patientin von ihrer Heiserkeit berichtet hat, erfragt der Arzt zunächst die Dauer der Beschwerden, bevor er dann ein darin impliziertes zentrales Krankheitszeichen als für ihn nicht bzw. kaum vorhanden problematisiert. Den adversativen Charakter seiner Äußerung schwächt er dabei in zweifacher Weise ab: durch die Verwendung des Modaladverbs eigentlich und durch die Gradierung nich viel. Problematisierende DSF sind allerdings sehr selten in APG, u.a. auch, weil der Arzt ja kaum epistemische Autorität hinsichtlich der Beschwerden des Patienten besitzt; im Beispielfall beruft sich der Arzt jedoch auf einen Aspekt, bei dem er zumindest in wesentlicher Hinsicht epistemische Autorität beansprucht: die Hörbarkeit eines Krankheitszeichens. Mit P-motivierten DSF dokumentieren Ärzte ein spezifisches Verständnis von Patientenäußerungen; Patientenäußerungen werden darin zur Bestätigung <?page no="62"?> Thomas Spranz-Fogasy 62 02 Spranz-Fogasy_final oder problematisierend wiedergegeben und damit dem Patienten zur Bestätigung oder Ablehnung bzw. Weiterbehandlung ‘vorgelegt’; die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf ratifikationssuchende DSF. 3.6 Ratifikationssuchende Deklarativsatzfragen Ratifikationssuchende DSF unterscheiden sich hinsichtlich der Art und Weise der Aufnahme und Verarbeitung der Formulierungen und Inhalte von Patientenäußerungen. Sie schließen qua Formulierungsübernahme direkt an, verwenden bedeutungsäquivalent gebrauchte Formulierungen oder führen wahrgenommene Gedankengänge der Patienten aus der Sicht des Arztes weiter fort. Dabei kann nach dem Grad gesteigerter subjektiver Aneignung von Patientendarstellungen in Wiederholung, Paraphrase 62 und Explikation differenziert werden: - Wiederholung dokumentiert dabei - mindestens - ein Verständnis der Ausdrucksseite von (Teilen der) referierten Patientenäußerung(en). #4 AA_BI_01 (00: 41-01: 03) 01 Ä: WARU: M lassen se sich denn schei: den? 02 P: <<p>ja das (-) klappt einfach 03 nich mehr>- 04 Ä: des KLAPPT nich? 05 (--) 06 P: <<p>nee>- 07 Ä: aber das: macht ihnen ja MÄCHTIG zu 08 schaffen nich- 09 woll=n SIE denn, 10 [oder ] will ihr mann; 11 P: [ne (...)] 12 wir wolln=s (.) bei: de; 13 (-) 14 Ä: BEIDE? 15 (--) WArum denn; 16 (1.1) 17 P: (...) (1.0) noch nicht; 18 wir ham uns KU: RZ mal getrennt 62 Wiederholung und Paraphrase sind jeweils spezifische Formen von Reformulierungen; siehe dazu Gülich/ Kotschi (1996) sowie Rittgeroth (2007). <?page no="63"?> Verstehensdokumentation in der medizinischen Kommunikation 63 02 Spranz-Fogasy_final 19 aber- 20 (---) des is (-) DOCH was ganz andres- 21 als wenn man (-) sich nur a: bends 22 sieht, Die Ärztin nimmt im Beispielausschnitt zweimal kurz nacheinander Formulierungen der Patientin direkt, aber verkürzt 63 auf. Frageintonation und eine jeweilige anschließende Pause verdeutlichen, dass die Patientin den Turn übernehmen soll, was diese im ersten Fall auch tut, im zweiten Fall erst auf die nachgeschobene Begründungsfrage warum denn; (Z. 15). 64 Zwar lesen sich beide DSF als einfache Bestätigungsfragen, doch machen die nachfolgenden Fragen der Ärztin jeweils deutlich, dass sie begründende Ausführungen erwartet bzw. wünscht. Wiederholungen übernehmen also teilweise oder vollständig den Wortlaut von Äußerungen, passen die Formulierung aber natürlich deiktisch an. Mit der Wiederholungsfrage legt der Fragende die Aussage dem Gesprächspartner zur wiederholenden Bestätigung, zur weiteren Erläuterung oder aber gegebenenfalls zur Korrektur vor, signalisiert aber zugleich Zweifel an der Aussage bzw. an seinem Verständnis. - Mit Paraphrasen dokumentiert der Arzt ein inhaltliches Verständnis von (Teilen der) referierten Patientenäußerung(en) in eigenen Worten. #5 UR_HD_05 (03: 39-04: 00) 01 A: wenn sie (.) äh: ; 02 (-) was geTRUNKEN haben; = 03 =beziehungsweise wenn sie=s gefühl 04 haben 05 die blase ist VOLL, 06 (.) dann können sie auf die toilette 07 gehen (.) entleeren, 08 P: ich hab 09 A: ganz ein[fach oder-] 10 P: [überHAUPT ] ke’: 63 Interessant ist im ersten Fall, dass die Ärztin aus der prozessualen Formulierung nich mehr (Z. 03) eine Zustandsbeschreibung macht und die Modalpartikel weglässt; damit reduziert sie die Aussage der Patientin auf das ihr Wesentliche und spitzt sie zu. 64 Erkennbar ist, dass die Patientin hier und auch andernorts im Gespräch mit verschiedenen Mitteln den Fragen nach den Gründen der Trennung ausweicht - wir erfahren sie auch bis zum Ende des Gesprächs nicht. <?page no="64"?> Thomas Spranz-Fogasy 64 02 Spranz-Fogasy_final 11 schwierischkeite; 12 A: keine (.) sie setzen sich HIN un dann 13 läufts- 14 P: ja ja: und=SPÜR auch nix- 15 (.) [’aber] (.) dann kann ich net 16 A: [ja; ] 17 P: verSTEHE jetz- 18 A: ja warum des jetz- 19 P: wenn ich dann (.) wieder im bett lieg 20 denk ich=s is doch erscht eh’ halbe 21 stunde rum; 22 (-) und die PAA: R tropfe kann ich dann 23 [NISCHT] halte, 24 A: [ja- ] Die Patientin klagt hier über nächtliche Probleme häufigen Wasserlassens. Im Zuge der Exploration der Beschwerden fragt der Arzt nach verschiedenen anderen möglichen Schwierigkeiten in diesem Zusammenhang. Er benennt hier besonders zeitweiligen Harnverhalt, was die Patientin verneint. Der Arzt bestätigt diese Antwort der Patientin mit einer Wiederholung (keine), bevor er noch einmal zur Absicherung mit einer Paraphrase diesen Sachverhalt erfragt. Interessant in diesem Beispiel ist, dass der Arzt zusätzlich zur Reaktion auf die Äußerung der Patientin auf eine eigene Frage in seinem Turn zuvor Bezug nimmt (dann können sie auf die toilette gehen (.) entleeren; Z. 06ff.), d.h., er verarbeitet zwei Äußerungen in seiner Paraphrase. Paraphrasen formulieren Sachverhaltsdarstellungen von Patienten ‘in anderen Worten’ und zwar in denjenigen des Fragenden selbst. Auch hier wird die Formulierung deiktisch angepasst. Der Fragende verwendet jedoch andere lexikalische Ausdrücke, die er als bedeutungsäquivalent behandelt. Paraphrasen-DSF dienen vielfach der Nachsicherung. Es geht dem Arzt darum, den jeweiligen thematischen Sachverhalt bzw. Sachverhaltsaspekt nachdrücklich und in verschiedenen Facetten soweit möglich intersubjektiv abgesichert zu bestimmen. Mit dieser Absicherung verbunden ist dabei oft eine Relevanzmarkierung des thematischen Zusammenhangs seitens des Fragenden durch eine Doppelung der Aussage. Die Formulierung ‘in eigenen Worten’ verbreitert dabei für beide Gesprächspartner die Grundlage der intersubjektiven Bestimmung durch den expliziten Bezug auf die Ausdruckswelten beider Interaktionspartner. <?page no="65"?> Verstehensdokumentation in der medizinischen Kommunikation 65 02 Spranz-Fogasy_final - Explikation dokumentiert ein tiefergehendes Verständnis von (Teilen der) referierten Patientenäußerung(en), mit dem der Arzt Implikationen des vom Patienten Geäußerten expliziert bzw. von ihm wahrgenommene Implikationen zu explizieren glaubt. Dazu werden diskurssemantisch-generalisierende Operationen wie Zusammenfassung, Deutung, Schlussfolgerung oder Abstraktion eingesetzt. 65 #6 AA_HD_01 (02: 34-03: 00) 01 P: also h’ ähm: wie wenn ich SCHLAfe 02 A: [mh’hm- ] 03 P: [und und] so am AUFwachen bin- 04 .h (.) dann hört ma ja auch SO: nen so=n 05 <<knarrend>HALL>, 06 s=GIBT wenn jemand redet im rau: m- 07 das hört man dann so .h im 08 UNterbewusstsein noch so n bisschen- 09 oder KURZ vor=m ↓einschlafen- 10 ..h und IRGENDwie so HUA: , 11 (---) 12 A: das [macht dir ANGST] 13 P: [schrecklich- ] 14 A: dann; 15 P: ja- 16 A: ne, 17 (1.5) 18 P: und (-) ähm: (--) am freitachAbend hat=s 19 ANgefa: ng=n; 20 (-) ABENDS auf so ner fete? 21 und da hab ich gedacht, 22 <<t>öh: des kommt vom: : > 23 (-) WETter oder so ne; Die Patientin beschreibt in ihrer Beschwerdenschilderung mit deutlicher und zuvor auch explizit benannter Ratlosigkeit akustische Wahrnehmungsstörungen u.a. mit Hilfe verschiedener ‘wie wenn’-Vergleiche. Sie beendet dann ihren Beitrag zunächst mit einem nichtlexikalisierten lautlichen Signal, 66 das Unwohlsein, Beklemmung, Furcht etc. indiziert: HUA. Nach 65 Zu solchen Verfahren der Verallgemeinerung siehe Drescher (1992). 66 Ein „sound object“ im Sinne von Reber (i.Vorb.). <?page no="66"?> Thomas Spranz-Fogasy 66 02 Spranz-Fogasy_final einer kurzen Pause formuliert der Arzt dann eine mögliche Folge der Wahrnehmung ihrer Störung durch die Patientin als Frage an sie (Z. 12ff.). Der Arzt interpretiert und schlussfolgert aus den Darstellungen der Patientin und der Art ihrer Darstellung sowie aus dem nur lautlich dokumentierten Unwohlsein also eine bestimmte Befindlichkeit. Wie zur Bestätigung, aber noch vor Abschluss der Verbalphrase macht dir ANGST, verstärkt die Patientin mit dem Ausruf schrecklichdie Darstellung ihrer Gemütslage und bestätigt dann anschließend noch kurz und knapp die DSF des Arztes. Auffällig hier ist ein thematischer Ebenenwechsel von der Symptomzur Befindlichkeitsebene - nicht mehr die Symptome bilden den Redegegenstand des Arztes, sondern das Erleben der Symptome durch die Patientin. Prinzipiell steckt in diesem Ebenenwechsel das Potenzial eines ‘agendasetting’, also der Platzierung eines neuen, anderen Themas bzw. einer neuen Handlungsaufgabe, 67 auch wenn in diesem Fall die Patientin nach ihrem Bestätigungssignal und einer deutlichen Irritation mit Pause, Verzögerungssignal und erneuter Pause doch wieder mit der Beschwerdenschilderung fortfährt. 68 Mit einer Explikations-DSF geht der Arzt selbst über die Darstellungen des Patienten hinaus, an die er aber in verschiedener Weise anknüpft. Explikations-DSF sind dem Progressivitätsprinzip 69 von Interaktion geschuldet: Während andere Fragetypen den Prozess der gemeinsamen Sachverhaltsaushandlung durch rückbezügliche Aushandlungserfordernisse lokal eher bremsen oder gar blockieren, dokumentieren Explikations-DSF Interpretationsleistungen des Arztes in Bezug auf die Darstellungen des Patienten mit Schlussfolgerungsbzw. Abstraktionscharakter und bringen damit neue thematische Gesichtspunkte und ggf. Handlungsorientierungen (im Sinne des ‘agenda-setting’) ein. Der Arzt ‘versteht’ seinen Gesprächspartner ‘besser’ bzw. ‘tiefer’ oder auch ‘ganz anders’, als dieser sich selbst. Aus diesem Grund finden sich bei Explikations-DSF auch viele Formulierungen, mit denen der Arzt auf die Metaebene wechselt, wobei vor allem psychische Aspekte der Befindlichkeit oder des Erlebens angesprochen werden. 67 Zum Konzept des ‘agenda-setting’ siehe Manning/ Ray (2002) sowie Boyd/ Heritage (2006, S. 155ff.). 68 Zu dieser und anderen Antwortformen siehe Kap. 4 und insbesondere 4.5. 69 Siehe dazu Stivers/ Robinson (2006) und Heritage (2007) sowie schon Schegloff (1979), Goodwin/ Goodwin (1986); auch Deppermann (2008). <?page no="67"?> Verstehensdokumentation in der medizinischen Kommunikation 67 02 Spranz-Fogasy_final Die hier aufgeführten drei Typen von DSF besitzen nun wiederum einen gemeinsamen systematischen Zusammenhang in Bezug auf die Verstehenslage des Fragenden und den laufenden Interaktionsprozess: - Wiederholungen suchen den bis dato erreichten Stand der Interaktion als intersubjektive Verstehensgrundlage abzusichern. - Paraphrasen sichern ebenfalls den bis dato erreichten Stand der Interaktion und verbreitern darüber hinaus die gemeinsame Basis der Verständigung. - Explikationen dokumentieren ein weitergehendes Verständnis des Arztes und führen das Geschehen gemäß dem Progressivitätsprinzip fort. In Hinsicht auf die interaktive Konstitution von Intersubjektivität lässt sich in dieser Reihenfolge auch eine qualitative Steigerung feststellen. Auch die oben nicht weiter ausgeführte Differenzierung von DSF in (1) propositions-problematisierende, (2) ratifikationssuchende (als jeweils Patientenäußerungen referierende) Präzisierungsfragen und (3) Komplettierungsfragen reflektiert bei dieser Abfolge eine Systematik hinsichtlich einer zunehmenden Verstehenslage des Fragenden: Zu (1): Bereits genannte Aspekte eines Sachverhalts sind (noch) nicht ausreichend verstanden bzw. verstehbar und sollen/ müssen hinsichtlich einer genaueren Bestimmung erneut bearbeitet werden. Zu (2): Bereits genannte Aspekte eines Sachverhalts sind ausreichend verstanden bzw. verstehbar und sollen intersubjektiv verankert bzw. ggf. auch noch genauer bestimmt werden. Zu (3): Bereits genannte Aspekte eines Sachverhalts sind ausreichend verstanden bzw. verstehbar, und es sollen ergänzend weitere Aspekte hinsichtlich einer genaueren Bestimmung bearbeitet werden. Mit dieser Systematik sind auch die denkbaren Verstehenslagen hinsichtlich einer gemeinsamen definitorischen Aushandlung erfasst und Gesprächsteilnehmern mit den verschiedenen Fragetypen die interaktiven Mittel zur Bearbeitung an die Hand gegeben. 3.7 Explikations-DSF Explikations-DSF (E-DSF) sind hinsichtlich der übergreifenden Verstehensuntersuchung natürlich besonders interessant: In ihnen bringt der Arzt sein Verstehen des Patienten zum Ausdruck, das über den bisher vom Patienten <?page no="68"?> Thomas Spranz-Fogasy 68 02 Spranz-Fogasy_final selbst beschriebenen Beschwerdensachverhalt hinausreicht, ihn zusammenfasst, schlussfolgert, interpretiert oder von ihm abstrahiert. Pointiert gesprochen: Der Arzt versteht den Patienten anders oder ‘besser’, als dieser sich selbst. Dieser Fragetyp soll im Folgenden deshalb näher betrachtet werden. Reichweite(n) der Bezugnahme durch E-DSF Mit E-DSF nehmen Ärzte Äußerungen von Patienten lokal, aber auch übergreifend zum Anlass, Zusammenfassungen, Schlussfolgerungen oder Deutungen vorzunehmen. Den einfachsten Fall zeigt das nachfolgende Beispiel, in dem der Arzt das Lautsignal des Patienten unmittelbar nach seinem Auftreten als Signalisierung von Nichtwissen expliziert und dies abzusichern sucht. Der Patient bestätigt dies unmittelbar darauf, was der Arzt seinerseits ratifiziert: #7 API2 (03: 52-04: 02) 01 A: und äh’ war=n die BLUTfette dann erhöht, 02 (.) bei ihnen? 03 (1.1) 04 P: pfh: - 05 (-) 06 A: wissen sie nich; 07 P: ’hm’hm- 08 A: hmhm, 09 (2.3) DIAbetes ham sie nich; Hier ist das wechselseitige Verstehen vor allem der sequenziellen Organisation geschuldet: Der Arzt fragt zunächst nach, ob bei einer früheren Untersuchung Blutfette erhöht gewesen seien; der Patient antwortet nach einer kurzen Bedenkzeit mit der nichtlexikalisierten Antwortpartikel pfh: - 70 und der Arzt expliziert diesen Laut, wobei er seine Explikation fragend intoniert und damit eine Stellungnahme des Patienten zu seiner Explikation einfordert, die dieser dann auch liefert. Die E-DSF des Arztes ist an dieser 3. Position zugleich auch 70 „Sound object“ im Sinne von Reber (i.Vorb.). Im vorliegenden Fall bleibt unklar, ob der Patient nicht weiß, ob seine Blutfette erhöht waren, oder ob er nicht weiß, was Blutfette sind. Zu Beginn des Gesprächs hatte der Patient selbst eingebracht, dass bei einer früheren Untersuchung Cholesterinwerte erhoben wurden; bei dieser Gelegenheit wurden erhöhte Leberwerte festgestellt, die zur Überweisung und zu diesem Gespräch geführt hatten. Möglicherweise hat der Arzt mit dem Versuch einer einfacheren Formulierung ein Verstehensproblem beim Patienten also überhaupt erst erzeugt. <?page no="69"?> Verstehensdokumentation in der medizinischen Kommunikation 69 02 Spranz-Fogasy_final eine - negativ polarisierte - Bewertung der Antwort des Patienten auf die vorhergehende Frage des Arztes. Auffällig bei diesem Vorgehen ist, dass der Arzt die thematische Ebene wechselt und die Metaebene des Wissens anspricht. Ausgangspunkt der E-DSF ist aber die Unbestimmtheit der Antwort, die der Arzt mit seiner Frage zu vereindeutigen sucht - hier wird also der definitorische Charakter, der DSF eigen ist, deutlich. Der Arzt hat damit auch Erfolg, was er mit hmhm bestätigt, bevor er mit weiteren explorativen Aktivitäten fortfährt. Im nächsten Gesprächsausschnitt zieht der Arzt eine Schlussfolgerung aus den Darstellungen der Patientin zu ihren Beschwerden und aus ihrem leidenden Sprachausdruck. #8 IA_MR_01 (00: 08-00: 23) 01 P: gut=n tag doktor; 02 ich bin nämlich SO: ’erKÄLTET; 03 (.) ich [werd ] de erkältung gar net los- 04 A: [n=ja-] 05 a: ch du lieber gott; 06 P: hab se schon VIERzehn TA: : che; 07 hab ich=[schon hinner] mir- 08 A: [hmja- ] 09 (---) QUÄLT sie schon richtig- 10 P: ja ja; 11 (1.2) 12 A: hm: : , 13 (1.0) 14 P: dann hab ich immer schon HU: STENtee 15 getrunken und [alles] ’abber, Die Patientin bestätigt die Schlussfolgerung des Arztes und dieser bestätigt wiederum ihre Antwort, bevor die Patientin mit ihrer Beschwerdenschilderung fortfährt. Der Arzt macht deutlich, dass er die Schilderungen der Patientin als über das übliche Maß einer Erkältung hinausgehend versteht, und dass dies einen expliziten Ausdruck von Mitgefühl und die Nachfrage nach der Befindlichkeit sinnvoll macht. Die E-DSF hat hier, wie schon der erste Einwurf des Arztes: a: ch du lieber gott; (Z. 05) auch die Funktion eines empathischen Kommen- <?page no="70"?> Thomas Spranz-Fogasy 70 02 Spranz-Fogasy_final tars, der allerdings das Potenzial besitzt, einen Themenwechsel auf die Befindlichkeitsebene vorzunehmen. Die Patientin reagiert jedoch nicht auf dieses Potenzial, obwohl ihr der Arzt mit der markanten Pause von 1,2s den Slot bereit hält, und auch sein auffällig langgezogenes Bestätigungssignal hm: : mit der anschließenden Pause der Patientin gute Gelegenheit böte, das Thema ihrer Befindlichkeit aufzugreifen. Der Subjekt-elidierte Einwurf des Arztes bezieht sich dabei auf mehrere Äußerungseinheiten in den beiden vorhergehenden Turns der Patientin, mit der Implikation eines empathischen Kommentars aber zugleich auch implizit auf seinen ersten Einwurf. Resultat der Aushandlung des zweiten Einwurfs ist jedenfalls die wechselseitig ratifizierte intersubjektive Bestimmung der Befindlichkeit. Auch hier wechselt der Arzt von der thematischen Ebene der Darstellung einzelner Beschwerdenelemente (erkältet sein ... die Erkältung nicht los werden ... schon vierzehn Tage lang) zur (Meta-)Ebene der Befindlichkeit und Beschwerdenwahrnehmung der Patientin. Der folgende Gesprächsausschnitt zeigt noch deutlicher die Explikation eines längerfristig interaktiv entwickelten Beschwerdenzusammenhangs mit der E-DSF: #9 IA_MR_03 (02: 16-03: 01) 01 A: [’hmhm is <<f>da wie so=n] KLOß>gefühl da 02 unten drin? 03 (---) 04 P: (...) (.) (na minze) (...) (ständischen) 05 geschmack von hier unten- 06 geht das [hier hoch-] 07 A: [mhm ] 08 mhm- 09 P: <<p>so und immer so EIter (...)>- 10 A: hmhm; 11 P: <<p>so fühlt sich das immer an-> 12 (--) ((räuspern)) 13 und immer MO: Rgens hab ich [au immer-] 14 A: [hmhm; ] 15 (-) 16 P: ä: h nach m ZÄHNEputzen 17 <<acc>dann hab ich noch immer n BISSchen> 18 (.) BISSchen; <?page no="71"?> Verstehensdokumentation in der medizinischen Kommunikation 71 02 Spranz-Fogasy_final 19 (--) SCHLEIM so von im rachen ne, 20 (--) <<p>immer so n sch so n> 21 NUR MO: rgens ne- 22 (-) <<acc>un da hatte der herr mohn auch 23 gesagt> da wär HIER äh (.) wär irgendwas: ; 24 (--) <<p>in der [mund]höhle>- 25 A: [hm: ; ] 26 P: (--) und da hab ich TROPfen jekricht- 27 so [JOD ](.)NAsentropf=n- 28 A: [hmhm; ] 29 P: (--) <<p>und dann bin ich auch nimmer 30 HINgegangen>; 31 A: hm: ; 32 P: <<p>weil das immer so UMständlich war>- 33 A: hmhm; 34 P: <<p>nach ESCHwege hinzufahrn>; 35 A: sie sind ’EIgentlich so mit ihrem GANzen 36 hals NAsen bereich nicht zuFRIEDEN hab ich 37 den eindruck- 38 P: nee: HAB ich schon als kind immer alles; 39 [immer] MANDELentzündung und alles- 40 A: [hm: , ] 41 P: op und alles [mögliche] schon ganz viel 42 A: [hmhm; ] 43 P: gemacht; 44 A: hm: - 45 (-) 46 P: und O: HRENschmerzen ABER [auch; ] Die Patientin berichtet ausgehend von einer akuten Heiserkeit ausführlich über ihre lange Leidensgeschichte. Der Arzt fasst diese Leidensgeschichte in abstrahierender Weise zusammen, fokussiert dabei aber ebenfalls und, durch EIgentlich, schlussfolgernd auf die (Meta-)Ebene der Beschwerdenwahrnehmung. Die Patientin bestätigt diese Interpretation und macht weitere Ausführungen zu dem vom Arzt angesprochenen Körperfeld. 71 71 Hier fällt auf, dass der Arzt ausdrücklich Hals und Nase erwähnt, nicht aber Ohren, die in Deutschland üblicherweise zu einem gemeinsamen Facharztgebiet (Hals-Nasen-Ohren- Arzt) gehören; die waren aber bis dato von der Patientin nicht erwähnt worden, was zeigt, dass der Arzt sich direkt an den Äußerungen der Patientin orientiert und nicht an seinen medizinischen Kategorien - kurz darauf thematisiert die Patientin jedoch ihrerseits Ohrenschmerzen als Bestandteil ihres gesamten Beschwerdenbildes (Z. 46). <?page no="72"?> Thomas Spranz-Fogasy 72 02 Spranz-Fogasy_final Die Zusammenfassung und Schlussfolgerung des Arztes dient hier der Komplexitätsreduktion 72 einer vielfältigen und ausführlichen Beschwerdenschilderung und der Herstellung von Intersubjektivität auf einem allgemeineren Abstraktionsniveau. Dies gelingt hier wohl hinsichtlich der gemeinsamen Definition eines Körperfeldes, nicht aber hinsichtlich des Versuchs der Fokussierung auf die Beschwerdenwahrnehmung der Patientin als Redegegenstand. Alle drei Beispiele zeigen deutlich den Wechsel von der Ebene der angesprochenen Sachverhalte auf eine übergeordnete Ebene. Ein solcher Wechsel findet sich regelmäßig bei E-DSF, er betrifft die kommunikative, epistemischkognitive oder emotionale Metaebene der Patienten bzw. deren Schilderungen, also ihr Kommunikationshandeln, ihre Kognitionen (Wissen, Wahrnehmung, Einschätzung) und ihr psychisches Erleben (Befinden, Gefühle). 3.8 Exkurs: Der Einsatz von DSF-Typen und Stile ärztlicher Gesprächsführung Die vorgenommene differenzierte Untersuchung von Deklarativsatzfragen macht es nun auch sinnvoll, die Verteilung der verschiedenen Formen von DSF bei Ärzten auch quantitativ zu erfassen. Unterschieden werden dabei die beiden Formen propositions-referierende (Wiederholung, Paraphrase, Explikation) und komplettierende DSF (n=273). Wiederholung 07% Paraphrase 13% Explikation 42% Komplettierungsfragen 25% Rest 13% Tabelle 4: DSF-Fragetypen Danach ergibt sich über alle untersuchten Gespräche, dass E-DSF mit 42% den häufigsten Fragetyp bei DSF bilden, Ärzte also mit mehr als zwei Fünftel ihrer Fragen Aspekte der Beschwerdenschilderung eigenständig weitergehend zusammenfassen, abstrahieren oder interpretieren. Ein Viertel aller Fragen sind Komplettierungsfragen, mit denen medizin-systematisch zusätzliche Aspekte des Beschwerdengeschehens erfragt werden. Paraphrasen, mit denen 72 Zu Formen und Verfahren der Komplexitätsreduktion siehe Deppermann/ Spranz-Fogasy (1998). <?page no="73"?> Verstehensdokumentation in der medizinischen Kommunikation 73 02 Spranz-Fogasy_final der Arzt Darstellungen des Patienten und sein Verständnis davon in eigenen Worten referiert, machen 13% aller Fragen aus, während Wiederholungsfragen relativ selten sind. Auffällige und interessante Unterschiede ergeben sich noch, wenn man bei der Verteilung der DSF-Typen die jeweilige biomedizinische oder psychosoziale Orientierung der Ärzte bzw. die damit verbundenen unterschiedlichen Konzepte der Gesprächsführung berücksichtigt. Hier ergab die Auswertung folgendes Bild: psychosozial orientierte Ärzte biomedizinisch orientierte Ärzte Wiederholung 03% 11% Paraphrase 19% 10% Explikation → 69% 27% Komplettierungsfragen 6% → 35% Rest 3% 17% Tabelle 5: DSF-Fragetypen und die Verteilung auf Ärzte mit unterschiedlichen Paradigmen Eklatant sind die Unterschiede vor allem bei den Explikations-DSF und den Komplettierungsfragen: Psychosozial orientierte Ärzte versuchen demnach, die Beschwerdenschilderungen der Patienten nachzuvollziehen und selbst mitdenkend weiter zu explizieren. Sie setzen nur sehr wenige Fragen ein, die sich aus ihrem medizinisch-systematischen Wissen speisen (6%). Biomedizinisch orientierte Ärzte dagegen operieren in der Regel schnell und oft mittels Komplettierungsfragen, die sich aus ihrem medizinischen ‘Fundus’ herleiten lassen. Fasst man noch die verstehensdokumentarisch ‘höherwertigen’ DSF- Typen Paraphrase und Explikation zusammen, so ergibt sich, dass psychosozial orientierte Ärzte in fast 90% ihrer DSF vor allem auch ihr eigenes Verstehen dokumentieren und dies zu präzisieren suchen, gegenüber lediglich 37% bei biomedizinisch geprägten Ärzten. Letztere wiederum operieren in 35% der DSF vor allem auf der Basis ihres eigenen medizinisch-systematischen Wissens, das zwar durch Darstellungen der Patienten angeregt, nicht aber für diese erkennbar daran angeschlossen ist. Solche verstehensdokumentarisch reduzierten Komplettierungsfragen setzen psychosozial orientierte Ärzte offensichtlich nur in wenigen Fällen und bei relevantem Bedarf ein - und in aller <?page no="74"?> Thomas Spranz-Fogasy 74 02 Spranz-Fogasy_final Regel auch erst spät im Rahmen der Beschwerdenexploration. Wie an anderer Stelle gezeigt wurde (Spranz-Fogasy 2005), sind Komplettierungsfragen vielfach für Patienten intransparent und ohne thematische Bindung und erschweren damit das wechselseitige Verstehen, das für den Abgleich des subjektiven Beschwerdenwissens von Patienten mit dem medizinisch-systematischen Wissen von Ärzten notwendig ist. 3.9 Verstehensdokumentation in ärztlichen Fragen Ärztliche Fragen im Rahmen der Beschwerdenexploration besitzen nicht nur, wie vielfach untersucht, projektive Kräfte zur Organisation des im ärztlichen Gespräch notwendigen Wissensabgleichs. Sie ordnen ebenso, mit jeweils unterschiedlicher Reichweite, regelmäßig die bis dato verhandelten Themenaspekte auf und dokumentieren den erreichten Stand intersubjektiver Verständigung. Bedeutsam dafür sind aber nicht nur die semantischen Eigenschaften, sondern auch strukturelle Eigenschaften des Aktivitätstyps ‘Frage’, wie die syntaktische Struktur und sequenzielle sowie interaktionstypologische Organisationsmerkmale. Die drei syntaktisch definierten Fragetypen W-Frage, Verb-Erststellungsfrage und Deklarativsatzfrage dokumentieren in systematischer Weise und aufeinander aufbauend Stadien des Verstehens. Dies reicht von der Dokumentation der grundlegenden Anerkennung eines gemeinsamen Redegegenstandes in W-Fragen über die - zumindest vorläufige - Anerkennung kategorialer Strukturen in Verb-Erststellungsfragen bis zur Akzeptanz der Existenz des in Rede stehenden Weltsachverhalts und der propositionalen Wahrheit und Gültigkeit von Aussagen in Deklarativsatzfragen. Allein schon durch ihre syntaktische Struktur und den damit verbundenen gestuften Verstehensstatus besitzen die drei Fragetypen damit also das Potenzial zur Erzeugung einer Verständigungsbasis als Voraussetzung zur Bildung von Intersubjektivität im Rahmen einer interaktionstypologisch organisierten Aufgabenstellung, in der grundlegende Wissens- und Betroffenheitsasymmetrien zwischen den Beteiligten vorherrschen: das subjektive Beschwerdenwissen des Patienten und die damit verbundene persönliche Betroffenheit einerseits und das medizinisch-kategoriale Wissen des Arztes mit seiner professionell-distanzierten Haltung andererseits. Mit der Auswahl des Fragetyps verdeutlicht der Arzt also immer, was er bisher vom Patienten verstanden hat und zugleich auch, was er darüber hinaus für ein ausreichendes Verständnis der Beschwerden noch an Informationen benötigt. <?page no="75"?> Verstehensdokumentation in der medizinischen Kommunikation 75 02 Spranz-Fogasy_final Sequenzorganisatorische Eigenschaften stellen für den Aktivitätstyp ‘Frage’ dann eine zweite Ressource der Verstehensorganisation bereit. Was für Antworten generell gilt und schon vielfach im Rahmen der Diskussion konditioneller Relevanz gezeigt wurde, sind die Aktivitätszwänge, die von ersten Teilen von Nachbarschaftspaaren auf nachfolgende zweite Teile ausgeübt werden. 73 Umgekehrt konnte gezeigt werden, dass nachfolgende Teile im Nachhinein die interaktive Bedeutung voraufgehender Aktivitäten mit- oder gar neu definieren. 74 Auch Fragen sind, obwohl Paradebeispiel der konversationsanalytischen Forschung für ‘first pair parts’, strukturell gesehen dem vorangehenden Interaktionskontext verpflichtet: sowohl durch die Notwendigkeit der Einpassung in das lokale Geschehen und Dokumentation der Bezugnahme als auch durch die Berücksichtigung übergreifender sequenzorganisatorischer Verpflichtungen. All dies muss in Aktivitäten zur Platzierung von Fragen, in lexikalischen und syntaktischen Bezugnahmen ebenso verdeutlicht werden, wie in der Rückbindung an übergreifende Sequenzstrukturen. Im Falle ärztlicher Fragen in der Beschwerdenexploration sind dies vorangegangene Äußerungen des Arztes selbst, deren Bearbeitung durch den Patienten im dritten Sequenzschritt vom Arzt wiederum bewertet wird und, noch übergreifender, der Bezug zur Gesprächseröffnung und Aufforderung zur Beschwerdenschilderung durch den Arzt, die den sequenzorganisatorischen und dadurch kohärenzbildenden Rahmen stiften. 75 So ist zwar manchmal für den Patienten nicht erkennbar, wie sich eine ärztliche Frage motiviert, wenn sie nicht direkt an seine Äußerungen anschließt (wie bei Präzisierungsfragen), ob der Arzt also sein medizinisch-kategoriales Wissen aktiviert oder externes Wissen aus Patientenunterlagen etc. bezieht (wie bei Komplettierungsfragen) - dass diese Fragen aber noch im Rahmen der vom Arzt angestoßenen Sequenzstruktur operieren, stellt verstehensdokumentarisch und -organisierend zumindest einen bestimmten Rahmen dar, an den alle Aktivitäten bis auf Weiteres angebunden sind. Auch der von den Gesprächsteilnehmern hergestellte Interaktionstyp hält schließlich für den fragenden Arzt noch eigene Ressourcen der Verstehensorganisation bereit. Mit ihm sind, wie in Kapitel 2 ausgeführt, Handlungsaufga- 73 Für den hier diskutierten Zusammenhang medizinischer Kommunikation siehe beispielsweise Boyd/ Heritage (2006). 74 So definiert beispielsweise die Problematisierung einer Behauptung die Bezugsäußerung als Bestandteil einer Argumentationssequenz; siehe Spranz-Fogasy (2006). 75 Hier geht es fokal um übergreifende Sequenzstrukturen und deren Orientierungs- und Kohärenzbildungsfunktion im Sinne von Schegloff (1990), die sich im Falle der handlungsschematischen Phase der Beschwerdenschilderung allerdings weitgehend mit interaktionstypologischen Strukturen ärztlicher Gespräche decken. <?page no="76"?> Thomas Spranz-Fogasy 76 02 Spranz-Fogasy_final ben, -rechte und -pflichten verbunden. Dazu gehört für den Arzt, sich mittels explorativer Tätigkeiten ein Bild von den Beschwerden zu machen, das zur Ausarbeitung einer dann auch die Therapie anleitenden Diagnose ausreichend ist. Fragen dokumentieren deshalb auch immer, positiv und ex negativo zugleich, den lokal erreichten Stand intersubjektiver Verständigung und dessen Lücken. Insbesondere Deklarativsatzfragen zeigen dabei den Fortschritt im Prozess der interaktiven Verständigung an. Ihnen gemeinsam ist, dass der Arzt damit weitgehende Gewissheit hinsichtlich der darin formulierten Proposition dokumentiert. Die Subtypen dieses syntaktischen Fragetyps - Wiederholung, Paraphrase und Explikation - reflektieren dabei einen ansteigenden Grad der Übernahme bzw. des Verständnisses der Beschwerdendarstellungen insgesamt oder von Teilen davon. Paraphrasen machen dabei ein Angebot an den Patienten, die beiden ‘Denkwelten’ von Arzt und Patient in partiell intersubjektive Deckung zu bringen. Mit Explikationen geht der Arzt dann aber noch über die Beschwerdenschilderungen des Patienten hinaus und dokumentiert ein Verständnis tiefer liegender oder allgemeinerer Aspekte und Schichten des Beschwerdengeschehens. Dies ist dann, im Sinne des ‘agenda-setting’, ein Angebot, gemeinsam die Suche nach einem grundlegenderen Verständnis aufzunehmen. Der stete Wechsel von Deklarativsatzfragen mit Explikationscharakter auf die kognitive, kommunikative oder psychische Metaebene ist dann auch Ausdruck des Bemühens um tiefer gegründete Intersubjektivität. Die Untersuchung ärztlicher Fragen zeigte, dass Ärzte einen durchaus erheblichen Teil ihrer explorativen Aktivitäten explizit oder implizit der Dokumentation ihres Verständnisses der Beschwerdenschilderungen von Patienten widmen. Dies wird erleichtert durch eine ganze Reihe interaktionsorganisatorischer Vorkehrungen, die systematisch in strukturelle Eigenschaften der syntaktischen, sequenziellen und interaktionstypologischen Organisation eingebaut sind. Dazu gehören, unter anderem, die Anzeige des Verstehensstatus durch den syntaktischen Fragetypus, Formen der reformulierenden oder explizierenden Bezugnahme, die Kohärenz herstellenden Möglichkeiten und Zwänge sequenzieller Positionierung mit retrospektiven Bezügen und prospektiven Projektionen oder die interaktionstypologisch verbürgten Lizenzrechte zur Exploration. Im Folgenden soll es nun um die ‘andere Seite’ gehen, um die Reaktionen der Patienten auf ärztliche Fragen und die Dokumentation des Verstehens dieser Fragen in Antworten. <?page no="77"?> Verstehensdokumentation in der medizinischen Kommunikation 77 02 Spranz-Fogasy_final 4. Die andere Seite - Patientenantworten Im Unterschied zu ärztlichen Fragen wurden die Antworten von Patienten als eigenständige kommunikative Handlungen relativ selten untersucht. Zumeist wird nur geprüft, inwiefern Antworten strukturelle Vorgaben von Fragen erfüllen oder nicht erfüllen bzw. ob sie gemäß dem konversationsanalytischen Konzept der Präferenzorganisation 76 als präferierte oder dispräferierte Reaktionen zu bewerten sind (beispielsweise Boyd/ Heritage 2006). Oder es geht um die Auswirkungen bestimmter lexikalischer Wahlen wie der positiven oder negativen Polarisierung von Äußerungen, die den Gewissheitsstatus hinsichtlich einer Proposition anzeigt (ebd.). Heritage et al. (2007) zeigen, dass im Englischen die Wahl zwischen some und any kriterial dafür ist, welche Antworterwartungen Ärzte haben und dass sie damit vielfach eine bestätigende Reaktion und einen reibungslos(er)en Interaktionsprozess erzeugen bzw. zu erzeugen suchen. Stivers/ Heritage (2001) haben aber auch schon darauf hingewiesen, dass Patienten ihren Antwortraum regelmäßig dazu nutzen, ‘lifeworld narratives’ einzubringen, die im restriktiven Rahmen der Beschwerdenexploration nicht direkt erfragt wurden, die die Patienten aber in diesem Kontext für relevant halten. Die Autoren machen deutlich, dass darin ein wichtiges Potenzial verborgen liegt, mehr über Patienten zu erfahren, und damit die Behandlung zu unterstützen. Im folgenden Teil dieses Beitrags sollen Patientenantworten hinsichtlich der darin enthaltenen Verstehensdokumentationen untersucht werden. Zunächst werden Resultate einer quantitativen Auswertung der Relationen von Fragen und Antworten dargestellt, die zeigen, dass Patienten ihren Antwortraum sehr regelmäßig zu umfangreicheren Darstellungen nutzen (Kap. 4.1). Dies bot Anlass, das Verhältnis zwischen Frageskopus und Antwort zu untersuchen (Kap. 4.2). Die anschließende qualitative, exemplarische Analyse einer Beschwerdenexploration (Kap. 4.3) zeigt, dass Patienten den ärztlichen Fragen nicht nur hinsichtlich ihrer literalen Formulierung nachkommen, sondern in ihren Antworten Präsuppositionen, mögliche Folgefragen und ärztliche Relevanzstrukturen berücksichtigen bzw. mitbearbeiten. Die Ergebnisse der Einzelfallanalyse werden dann zu systematisieren gesucht (Kap. 4.4). Schließlich werden auch noch auf den literalen Sinn einer Frage reduzierte Antworten und deren systematische Hintergründe untersucht (Kap. 4.5). 76 Zum Konzept der Präferenzorganisation siehe Bilmes (1988), Gruber (2001), Levinson (2000), Pomerantz (1984) und Schegloff (2007, S. 58ff.). <?page no="78"?> Thomas Spranz-Fogasy 78 02 Spranz-Fogasy_final 4.1 Quantitative Auswertungen von Patientenantworten Antworten stellen die interaktive Erfüllung konditioneller Relevanz dar, die durch vorhergehende Aktivitäten vom Typus Fragen erzeugt wird. 77 Antworten sind jedoch wesentlich heterogener hinsichtlich ihrer interaktiven und syntaktischen Struktur: So genügen oft schon nonverbale Zeichen der Zustimmung oder Ablehnung wie Nicken oder Kopfschütteln als Antworten auf Fragen, wie auch Antwortpartikel wie mhm, ja oder nein diese Funktionen schon erfüllen können. Und das Spektrum von Antwortmöglichkeiten reicht dann weiter von phraseologischen Ausdrücken und elliptischen Anschlüssen über satzwertige Äußerungen bis hin zu ausgebauten Erzählungen oder anderen Formen komplexer Darstellungsmuster. Natürlich können auch andere Reaktionen auf Fragen - wie z.B. Gegenfragen - Antworten (vorläufig und teilweise längerfristig) suspendieren (siehe Schegloff 1990 und 2007) und dadurch Einschubsequenzen erzeugen. 78 Während nun W-Fragen aufgrund ihres Charakters als Ergänzungsfragen umfangreiche und komplexe Antworten erwarten lassen, sollten die Entscheidungsbzw. Ratifikationsfragen der syntaktisch definierten Fragetypen V1- und Deklarativsatzfrage eher kurze, bestätigende oder verneinende Reaktionen zeitigen. Insbesondere in der anwendungsbezogenen Literatur wie auch in den Leitfäden zur ärztlichen Gesprächsführung werden diese Fragetypen in offene und geschlossene Fragen unterschieden, und es wird regelmäßig zur Vermeidung geschlossener Fragen geraten. 79 Auswertungen der Patientenreaktionen auf die verschiedenen Fragetypen nach der Wortanzahl, mit der sie eine Frage behandeln, zeigen aber, dass zwar W-Fragen, also ‘antwortoffene’ Ergänzungsfragen, mit durchschnittlich 13,2 Wörtern am ausführlichsten bearbeitet werden, V1-Fragen aber mit 10,2 und Deklarativsatzfragen sogar mit 12,5 Wörtern nur knapp dahinter folgen. Ausgewertet wurden dabei die Reaktionen auf alle 535 ermittelten Fragen des hier zugrundeliegenden Korpus, wobei berücksichtigt werden muss, dass Ärzte durchaus häufig mehrere Fragen unmittelbar hintereinander schalten und Patienten sich in ihrer Antwort zumeist auf eine - meist die letzte - Frage bezie- 77 Zum Prinzip der konditionellen Relevanz siehe Schegloff (2007, S. 13ff.). 78 Solche Einschubsequenzen werden im Rahmen dieser Untersuchung zwar als dispräferierte Antworten gewertet, aber nicht eigens behandelt; siehe dazu Levinson (2000, S. 363). 79 Siehe beispielsweise Geisler (2008 und in http: / / www.linus-geisler.de/ ap/ ap07_frage.html (Stand: November 2009)) sowie Lalouschek (2004), Menz/ Lalouschek/ Gstettner (2008), Nowak (2010) und Silverman/ Kurtz/ Draper (2005). <?page no="79"?> Verstehensdokumentation in der medizinischen Kommunikation 79 02 Spranz-Fogasy_final hen. Bei allen Antworten wurde die Wortanzahl gemäß den Bezugsfragen ausgewertet, bei mehrstufigen Antworten wie im folgenden Beispiel wurden beide Bezugsfragen berücksichtigt. #10 AA_HD_01 (03: 53-04: 14) 01 P: also GEStern war ich so spaZIER=N und 02 (.) war=s ganz gu: : t, 03 un (--) IRGENDwann merk ich- 04 (.) <<t>UH: : ich muss mich konzentrieren 05 ne; > 06 (-) ’also (1.1) (...), 07 (3.3) ((Schreibgeräusche)) 08 A: UM nich <<h>UMzufallen? 09 oder um nich (.) auszuflippen>; 10 [oder was heißt] konzenTRIEREN, 11 P: [nö: : : ] 12 A: [wie meinst] 13 P: [also ich ] muss KONzentrieren damit ich 14 mitkrieg was der andere sa: cht, 15 [oder ] 16 A: [ja: : ; ] 17 P: ich hab auch ’ANGST dass ich s dann 18 (.) wieder verGESSE <<knarrend>ne>- In diesem Ausschnitt behandelt die Patientin mit ihrer Negation nö: : : (Z. 11) zunächst die an ihre eigene Darstellung im Deklarativsatz-Format fragend angeschlossenen Interpretationsvorschläge des Arztes UM nich <<h>UMzufallen? oder um nich (.) auszuflippen>; , bevor sie selbst den Sinn des von ihr eingebrachten Ausdrucks konzentrieren als Reaktion auf die W-Frage [oder was heißt] konzenTRIEREN, erläutert. Hier wurde also nö: : : als Einwort-Antwort auf eine Deklarativsatzfrage gewertet und die folgende Passage als Antwort mit 22 Wörtern auf die W-Frage. Die Ergebnisse zeigen jedenfalls, dass das Konzept der offenen Ergänzungsversus geschlossenen Entscheidungsfragen in dieser Hinsicht problematisch ist und nicht pauschal aus der Vielzahl geschlossener Fragen eine direktive bzw. von vielen offenen Fragen eine besonders verständigungs- und patientenorientierte Gesprächsführung abgeleitet werden kann. 80 80 Zur Kritik an dieser Unterscheidung siehe auch Nowak (2010), Robinson/ Heritage (2006) und Spranz-Fogasy (2005). <?page no="80"?> Thomas Spranz-Fogasy 80 02 Spranz-Fogasy_final Der Zuschnitt der Reaktionsmöglichkeiten von Patienten durch die oben dargestellten syntaktischen Fragetypen V1-Frage und DSF, der (scheinbar) kommunikative Ökonomie verspricht, ist aber dennoch strukturell in zweierlei Hinsicht problematisch: (1) Antworten werden dem Patienten in den Mund gelegt und (2) Widerspruch muss umso aufwändiger bearbeitet werden (was Patienten durchaus scheuen können). Allerdings belegen die oben angeführten Zahlen zum Antwortverhalten ohnedies nicht den Effizienzerfolg einer zunehmend einengenden Fragestrategie - umgekehrt lässt sich vermuten, dass es die mit DSF vermittelte Verstehenslage Patienten im Sinne eines ‘agenda-setting’ 81 auch ermöglichen kann, das Thema ausführlicher zu behandeln. Die Auswertung der Patientenreaktionen hinsichtlich präferierter und dispräferierter Antworten ergibt folgendes Bild: Insgesamt wird auf 18,6% aller Fragen dispräferiert reagiert. Eine nach Fragen hinsichtlich der lexikogrammatischen Eigenschaften differenzierte Auswertung zeigt aber eklatante Unterschiede: - Auf WF wird nur sehr selten, in 3,6% aller Fälle, dispräferiert, d.h. beispielsweise mittels Deplatzierungsmarker oder Gegenfrage reagiert. - DSF erfahren in 14,2% der Fälle eine negative Reaktion. - V1-F dagegen werden häufig (in 36,4% der ausgewerteten Fälle) mit nicht erwarteten Reaktionen bearbeitet. Erklärbar wird damit auch die relativ hohe durchschnittliche Wortanzahl in Patientenantworten: dispräferierte Reaktionen erfordern einen höheren Bearbeitungsaufwand. Fragetyp durchschnittliche Antwortlänge in Wörtern Dispräferierte Antworten W-Frage 13,2 3,6% V1-Frage 10,2 36,4% Deklarativsatzfrage 12,5 14,2% Alle 11,9 18,6% Tabelle 6: Antworten auf syntaktische Fragetypen in Arzt-Patient-Gesprächen 81 ‘Agenda-setting’ mittels Fragen bezieht sich auf Themen- und Handlungsaufgaben, denen der Patient nachkommen soll, beispielsweise Symptombeschreibungen, subjektive Krankheitstheorien, Klärungen etc. (Manning/ Ray 2002). <?page no="81"?> Verstehensdokumentation in der medizinischen Kommunikation 81 02 Spranz-Fogasy_final Obwohl dispräferierte Reaktionen bei DSF deutlich niedriger sind als bei V1- F, ist die Wortanzahl der Reaktionen relativ hoch. Es gibt jedoch eine ‘entweder-oder’-Reaktion, also entweder eine ja/ nein-Minimalreaktion, oder es wird - im Sinne des ‘agenda-setting’ - ein anderes Thema bzw. eine andere Handlungsaufgabe in Folge von DSF etabliert und ausführlich bearbeitet (dies zeigen auch die relativ häufigen kurzen Antworten (1-3 Wörter) auf DSF, die etwa ein Drittel der Reaktionen ausmachen und den Durchschnitt senken). 4.2 Frageskopus und Antwortüberschuss Die Antworten von Patienten auf ärztliche Fragen sind aber nicht nur quantitativ umfangreicher, sie sind auch inhaltlich differenzierter und elaborierter, als dies v.a. die Vielzahl von Entscheidungsfragen (V1- und Deklarativsatzfragen) und die von Stivers/ Heritage (2001, S. 151) als „restrictive environrestrictive environments“ charakterisierten Kontexte ärztlicher Gespräche insbesondere in der Phase der Beschwerdenexploration erwarten ließen. Dies betrifft zum einen formulatorische Eigenschaften wie die (manchmal sogar hyperbolische) Verstärkung oder die Abschwächung der Aussagen. So macht die Patientin im folgenden Ausschnitt innerhalb kürzester Zeit deutlich, dass sie die einzelnen Symptome ihrer Krankheit für weniger bedeutsam hält, hingegen die zeitliche Dauer und die damit verbundene Belastung für sie im Vordergrund steht: #11 IA_MR_01 (00: 23-00: 40) 01 A: was haben sie denn AUßer husten noch für 02 beschwerden; 03 (---) 04 P: och soweit=; 05 A: =KOPFschmerzen oder [SCHNUpfen oder; ] 06 P: [JA das is ] (wohl 07 nich [so gut] un)- 08 A: [hmh- ] 09 P: <<h>schnupfen eigentlich GA: R nit>, 10 ’also nurmehr, 11 (-) <<knarrende>HUsten und>- 12 (--) ich habed mol ne KOPFwehtablette 13 [<<knarrend>eingenommen>-] 14 A: [ja: : ] ja: (.) mhm: , 15 (---) un WIE LANG geht das jetzt schon <?page no="82"?> Thomas Spranz-Fogasy 82 02 Spranz-Fogasy_final 16 sachten [sie-] 17 P: [och ] schon bald vierzehn TA: che 18 hab ich das schon in mir- Im Kontrast zu den abschwächenden Formulierungen och gott soweit, wohl nich so gut, eigentlich GA: R nit, nurmehr und mol in der Antwort auf die erste Frage steht hier die verstärkende Wiederholung des Zeitadverbs schon und Verwendung der Gradpartikel bald, wie auch die prosodische Hervorhebung der Angabe des Zeitraums vierzehn TA: che bei der zweiten Antwort. Mit solchen formulatorischen Mitteln machen Patienten ihren Ärzten deutlich, welche Relevanzen sie selbst einzelnen Aspekten des Beschwerdengeschehens zuweisen und was dementsprechend ihre Anliegen sind. 82 Viele Antworten von Patienten weisen darüber hinaus aber auch und in systematischer Weise weitere Eigenschaften auf, die zum Teil sehr weit über den Frageskopus hinausreichen. 83 Dabei handelt es sich aber nicht immer, tatsächlich sogar eher selten, um lebensweltliche Informationen, wie sie Stivers/ Heritage (2001) analysieren. Vielmehr gehen Patienten in ihren Antworten mit implizit gebliebenen bzw. von ihnen an den ärztlichen Fragen wahrgenommenen Fragemotiven sowie mit Antizipationen möglicher Folgen ihrer Antworten um. Es gibt auf diese Weise relativ zum Frageskopus im engeren linguistischen Sinne einen regelmäßigen ‘Überschuss’ in Patientenantworten, der noch systematischer das sequenzielle Format sprengt, als dies schon Stivers und Heritage in ihrer Titelformulierung unterstellen 84 - richtig ist jedenfalls ihre Beobachtung, dass Patienten häufig mehr antworten, als sie gefragt werden. Balints Verdikt über Fragen, die Antworten erzeugen, sonst aber nicht viel (Balint 2001, S. 180), stimmt so sicher nicht. Patienten handeln in der Regel trotz interaktionstypologischer und zeitlicher Beschränkungen - die sie selbst aber auch antizipieren und berücksichtigen - mit ihren Ärzten aus, was ihre Beschwerden sind oder wie sie Diagnosen und Therapievorschläge verstehen. Bei der Fülle an zusätzlichen Aspekten, die Patienten in ihren Antworten einbringen, fallen umgekehrt dann sogar eher reduzierte Antworten auf, also sol- 82 Zu Relevanzmarkierungen von Patienten siehe Sator (2003). Zum Anliegen als spezifischen Bestandteil von Beschwerdenschilderungen siehe Nothdurft (1986). Ärzte haben, so zeigen Untersuchungen von Heritage et al. (2007), gegenüber der Vielfalt thematischer Expositionen von Patienten die Tendenz, die häufig vorkommenden mehrfachen Anliegen von Patienten zu reduzieren. 83 Zum Verhältnis von Frage, Antwort und Fokus siehe Reich (2003). 84 Der Titel lautet „Breaking the sequential mold: Answering ‘more than the question’ during comprehensive history taking“. <?page no="83"?> Verstehensdokumentation in der medizinischen Kommunikation 83 02 Spranz-Fogasy_final che, die tatsächlich im linguistisch engeren Sinne nur ‘bei der Frage bleiben’. Systematisch sind solche Reduktionen beispielsweise bei ärztlichen Fragen, die erkennbar Interviewleitfäden entstammen, aber auch gelegentlich bei Fragen, die auf psychisch problematische Aspekte abheben, wie z.B. bei vielen der oben in Kapitel 3.7 behandelten Explikationsfragen. Diese und andere Formen reduzierter Antworten werden später ausführlicher behandelt (Kap. 4.5). Die meisten Antworten von Patienten verändern dagegen den Frageskopus, sie erweitern oder schränken ihn ein, präzisieren oder korrigieren ihn, sie beziehen zusätzlich noch Aspekte zurückliegender Beiträge ein oder weisen implizite Kritik zurück usw. Unter einer verstehenstheoretischen Perspektive dokumentiert der veränderte Antwortzuschnitt dann auch, dass Patienten mehr und Anderes verstehen, als ihre Ärzte sie faktisch fragen. Antworterweiterungen und andere Antwortvariationen des Frageskopus dokumentieren ein Verständnis von Präsuppositionen, von erwartbaren Folgefragen oder von ärztlichen Relevanzstrukturen. 85 Sie sind zudem fast immer auch proaktiv, d.h. sie organisieren nachfolgende Beiträge in vor allem themen- und handlungsorganisatorischen Hinsichten vor. Als Reaktionen sind solche Antworten daher zugleich antizipatorisch hinsichtlich ärztlicher Aktivitäten und Orientierungen, sie werden daher hier als antizipatorische Reaktionen bezeichnet. Ein erstes Kriterium für die Analyse antizipatorischer Reaktionen sind die relativen themenoperativen Funktionen der Patientenreaktionen auf die ärztliche Frage. Relativ heißt dabei, dass es um die thematische Relation von Antwort und Frage bzw. auch in der Antwort zusätzlich hergestellte Äußerungsbezüge geht (wie alle Äußerungen können auch Antworten auf mehr als eine Bezugsäußerung referieren). Analytisch ist dafür zunächst eine strenge Orientierung am Frageskopus sinnvoll, also an seiner syntaktischen und semantischen Struktur: Wird eine Entscheidungsfrage positiv, negativ, ambivalent oder ausweichend beantwortet, wird eine W-Fragepartikel in der Antwort aufgegriffen oder nicht, werden nicht erfragte Aspekte hinzugenommen, werden frühere Äußerungen einbezogen usw. Alle Abweichungen vom Frageskopus werden daraufhin geprüft, inwiefern sie vom Patienten wahrgenommene, ‘verstandene’, Implikationen und Präsuppositionen in den ärztlichen Fragen dokumentieren und damit interaktiv verhandelbar machen. Der Umgang mit dem Frageskopus liefert dann Hinweise bzw. zeigt auch die thematischen Operationen auf, die antizipativ durchgeführt werden. 85 Chatwin (2006) geht davon aus, dass die meisten Patienten mit den Konventionen der ärztlichen Gesprächsführung gut vertraut sind und damit auch mit den Handlungsrelevanzen der Ärzte. <?page no="84"?> Thomas Spranz-Fogasy 84 02 Spranz-Fogasy_final Als zweites methodisches Hilfsmittel wird die Präferenzorganisation 86 einbezogen, die mit den ärztlichen Fragen einhergeht. Vor allem dispräferierte Reaktionen dokumentieren z.B. durch die Begründungserwartung und darin ausgeführte thematische Aspekte Bezüge zu anderen als in der Bezugsfrage benannten Themen; diese zeigen wiederum, was im jeweiligen Themen- und Handlungszusammenhang vom Patienten relevant gesetzt wird und damit zugleich, was im nächsten bzw. in späteren Beiträgen noch behandelt werden sollte oder nicht, was also für künftige Beiträge antizipiert worden ist. Wichtig ist für die Analyse von Patientenantworten schließlich auch noch die Berücksichtigung des weiteren retrograden sequenziellen Kontextes, auf den in Antworten implizit oder auch explizit Bezug genommen wird, z.B. der Umgang mit (Selbst-)Widersprüchen, mit latenter Kritik etc. Auch damit macht der Patient deutlich, was er an möglichen Folgebeiträgen erwartet und mit seiner Antwort bereits zu bearbeiten sucht. Im Folgenden werden exemplarisch und ausführlicher einige Antworten einer Patientin hinsichtlich ihres Charakters als antizipatorische Reaktionen untersucht, daran anschließend wird der Versuch unternommen, strukturelle Eigenschaften dieser Verstehenspraktik herauszuarbeiten. 4.3 Exemplarische Analysen von Antworten im Gespräch AA_BI_03 87 Die Analyse von Antworten im Gespräch AA_BI_03 beginnt nach der ersten Frage im Anschluss an die Beschwerdenschilderung der Patientin, bezieht aber diese, wie auch die Gesprächseröffnung durch die Ärztin, retrospektiv mit ein, soweit dies für die Antworten der Patientin von Bedeutung ist. 88 Es geht in diesem Gesprächsausschnitt um unklare Beschwerden an einem Fin- 86 Zur Präferenzorganisation siehe Gruber (2001); Levinson (2000, S. 361ff.); Pomerantz (1984) und Schegloff (2007, S. 58ff.). 87 Spranz-Fogasy/ Lindtner (2009) analysieren für den hier untersuchten Ausschnitt ausführlich ärztliche Fragen; siehe auch Kapitel 3.4. 88 Die Beschwerdenschilderung enthält eine in der Regel von Patienten vorbereitete Darstellung und weist demnach weniger Bezüge zur Eröffnungsfrage auf. Bei Untersuchungen zur Beschwerdenexploration (bzw. engl. ‘history-taking’) ist es daher durchaus üblich, diesen ersten Abschnitt auszulassen (siehe auch Boyd/ Heritage 2006). Dennoch zeigt eine von mir angeregte Untersuchung, dass auch hier direkte Reaktionen auf die Art der Gesprächseröffnung vorhanden sind, ob beispielsweise eine kausale (warum sind sie hier? ) oder modale (was haben Sie für Beschwerden? ) Frage gestellt wird (siehe Klüber 2008). Siehe dazu auch Heritage/ Robinson (2006b), die zwei typische Eröffnungszüge von Ärzten (‘general inquiries’ und ‘request for confirmation’) gegenüberstellen. <?page no="85"?> Verstehensdokumentation in der medizinischen Kommunikation 85 02 Spranz-Fogasy_final ger der Patientin, die gemeinsam lokalisiert und genauer ermittelt werden, damit die Ärztin eine Diagnose stellen und eine Behandlung einleiten kann. Die Ärztin eröffnet den medizinischen Teil des Gesprächs mit der (offenen) Frage 89 nach dem Grund des Besuchs, die Patientin schildert ihre Beschwerden und die Ärztin fragt nach: #12 AA_BI_03 (00: 06-00: 28) 01 A: N: A weswegen kommen sie denn HER? 02 P: ja ich habe seit DREI tagen einen ä: h 03 (-) FINger- 04 wo ich nicht weiß: - 05 (.) was ich damit MAchen soll; 06 (---) also ich: wenn ich; 07 GEstern abend hab ich=n BRIEF 08 geschrieben; = 09 =da is er aso ganz dick gewo: rden, 10 (-) 11 A: hm: : ? = 12 P: =und das is als ob hier ein (.) ne nadel 13 oder irgendwas DRIN wär; 14 (1.0) 15 A: ham se=n UNfall gehabt? 16 P: n überHAU: PT nichts passiert; 17 [in (letzter zeit); ] 18 A: [nich erINNERlich; ] 19 (.) was is=n das hier für n kleines LOCH, Auf die positiv formulierte V1-Entscheidungsfrage der Ärztin (A), die auf die Beschwerdenschilderung der Patientin (P) folgt, antwortet diese zunächst mit dem Ansatz einer Negation: n (Z. 16). Sie korrigiert sich jedoch unmittelbar darauf, ohne die Verneinung zu beenden mit einer hyperbolischen und inhaltlich weit reichenden Antwort: n überHAU: PT nichts passiert; [in (letzter zeit); ] (Z. 16/ 17). Die syntaktische Konstruktion bleibt dabei unvollständig, Satzsubjekt und Kopula fehlen. Mit dem Ansatz der Negationspartikel zeigt P an, dass sie die strukturelle ja/ nein-Vorgabe der V1-Entscheidungsfrage wohl kennt und die Frage als solche verstanden hat, mit ihrer Selbstkorrektur macht sie aber deutlich, dass sie 89 Zu Typen der Gesprächseröffnung siehe Spranz-Fogasy (2005). <?page no="86"?> Thomas Spranz-Fogasy 86 02 Spranz-Fogasy_final initiativ über diesen vorgegebenen Rahmen hinaus antworten will - also mehr antwortet, als sie gefragt wurde. Dieser ‘Überschuss’ Ihrer Antwort besteht aus mindestens drei Elementen: - einer hyperbolisch formulierten Verneinung, - einer nicht erfragten zeitlichen Angabe und - einer impliziten Zurückweisung einer potenziellen Kritik an der möglichen Unvollständigkeit ihrer Beschwerdenschilderung, die latent in der Frage As enthalten ist. Die hyperbolische Verneinung besteht dabei aus mehreren Elementen. Mit der Wahl der Ausdrücke überHAU: PT, nichts und passiert indiziert P in mehrfacher Hinsicht eine Erweiterung des Frageskopus, den A gesetzt hatte. über- HAU: PT im Sinne von „auch darüber hinaus“ (Wahrig 1994, S. 1603) überschreitet die semantische Extension von unfall ebenso ins Allgemeine, wie der Ausdruck passiert, der ein Geschehen aller möglichen Art anzeigt. Und auch das Indefinitpronomen nichts „bringt die vollständige Abwesenheit, das absolute Nicht-vorhanden-Sein von etwas zum Ausdruck“ (Duden 2006, S. 1208). Mit dieser Überschreitung des Frageskopus beantwortet P faktisch also eine Frage, die A so gar nicht gestellt hatte, nämlich die, ob außer einem Unfall ein anderes äußeres Geschehen eine Rolle bei der Verursachung ihrer Beschwerden gespielt haben könnte. (Und damit wird für A auch faktisch die mögliche implizite differenzialdiagnostische Frage nach einer exogenen Ursache global beantwortet - die P allerdings gar nicht gehört bzw. verstanden haben muss.) Mit der nachfolgenden, prosodisch ohne Bruch angeschlossenen zeitlichen Angabe in letzter zeit; (Z. 17) bringt P noch einen weiteren Aspekt ein: As Frage ham se=n UNfall gehabt? (Z. 15) bezieht sich mit dem Perfekt zwar auf einen Zeitraum vor dem Auftreten der Beschwerden, 90 wie weit zurück dieser Zeitraum allerdings reichen soll, ist nicht markiert. Insofern berücksichtigt P hier ungefragt auch die ärztlichen Relevanzstrukturen, nach denen Ursachen von Beschwerden nur in einem gewissen zeitlichen Rahmen auftreten können und dieser Rahmen für die Beschwerdendarstellung bzw. die ärztliche Beschwerdenexploration von zentraler Bedeutung ist. 91 Ps Antwort steht aber auch noch in einem weiteren Kontext als nur dem unmittelbaren der Frage As. Deren Frage ist eine Reaktion auf die Beschwerden- 90 Siehe dazu die Ausführungen in Spranz-Fogasy/ Lindtner (2009). 91 Es ist in der Tat auffallend, wie häufig Patienten in Beschwerdenschilderungen Zeitpunkte und Zeiträume nennen und dies vor allem zu Beginn der Beschwerdenschilderungen - siehe auch im Beispielfall selbst: seit DREI tagen (Z. 02). <?page no="87"?> Verstehensdokumentation in der medizinischen Kommunikation 87 02 Spranz-Fogasy_final schilderung Ps und mahnt eine Angabe an, die P offensichtlich nicht bzw. für A nicht ausreichend gemacht hatte. Insofern muss As Frage sequenzstrukturell auch als - kritische - Evaluation der Beschwerdenschilderung in dritter Sequenzposition gewertet werden, 92 die P auf die Eröffnungsfrage As hin geliefert hatte. Genau dieser Kritik begegnet P nun auch mit der markierten Antworterweiterung, den hyperbolischen Formulierungen 93 und der Berücksichtigung der ärztlichen Relevanzstrukturen, wobei Letzteres auch anzeigen dürfte, dass sie sich dieses Aspekts einer Beschwerdenschilderung wohl bewusst war, aber keine Information dazu geben konnte, weil sie hinsichtlich einer Ursache in einem für sie überschaubaren zeitlichen Rahmen selbst ratlos gewesen war - dies hatte sie ja schon in der Beschwerdenschilderung verdeutlicht: wo ich nicht weiß: - (.) was ich damit MAchen soll; (Z. 04/ 05). 94 P bearbeitet mit ihrer Antwort also sehr viel mehr, als sie gefragt worden war. Sie dokumentiert damit ein weitgehendes Verständnis des interaktiven Geschehens, das sich auf Implikationen (semantischer und sequenzorganisatorischer Natur), nachfolgende Fragen (über den Frageskopus UNfall hinaus) und ärztliche Relevanzstrukturen (den Zeitfaktor von Ursache-Beschwerden-Relationen) bezieht. Hinzu kommt, dass sie mit ihrer inhaltlich zwar dispräferierten, aber sequenzorganisatorisch umstandslosen Antwort A retrospektiv problemlos das Fragerecht einräumt und damit die interaktionstypbezogene Verteilung interaktiver Rechte und Pflichten anerkennt. 95 Ps Antwort ist dabei in mehreren Hinsichten dem Prinzip der Handlungsprogression geschuldet. 96 Sie ist bezüglich des nachfolgenden interaktiven Handelns proaktiv, insofern sich Nachfragen nach anderen Ereignissen wie einem UNfall oder der zeitlichen Dimension eines solchen Geschehens erübrigen könnten - allerdings hält sich A im Folgenden gerade nicht an diese Vorgaben: 92 Zur besonderen Bedeutung und Funktion der dritten Sequenzposition als strukturelle Position zur Evaluation und/ oder Reparaturanforderung siehe Schegloff (1992, 1997). 93 Siehe dazu auch die Ausführungen zu ‘extreme case formulations’ in Pomerantz (1986). Sie betont unter anderem deren Funktion als „claim legitimizing“ - im Beispielfall macht P deutlich, dass sie in ihrer Beschwerdenschilderung nicht versäumt hat, ein relevantes Ereignis zu berichten. 94 Diese Äußerung der Patientin ist doppeldeutig: Sie zeigt an, dass P das Geschehen - und damit seine Ursachen - nicht versteht, aber auch, dass sie nicht damit umzugehen weiß, also keine Vorstellung von einer möglichen Behandlung hat. 95 Prospektiv hatte sie schon während und am Ende ihrer Beschwerdenschilderung das Explorationsrecht As antizipiert und verschiedentlich die Bedingungen dafür erzeugt: durch prosodische Abschlusssignale und mehrfache Pausen am Ende von Turnkonstruktionseinheiten. 96 Siehe Deppermann (2008), Heritage (2007), Stivers/ Robinson (2006). <?page no="88"?> Thomas Spranz-Fogasy 88 02 Spranz-Fogasy_final Sie reagiert auf Ps Antwort mit einer (leise gesprochenen) Ratifikationsverweigerung, mit der sie das Erinnerungsvermögen Ps thematisiert: nich erIN- NERlich (Z. 18). Auch hier stellt die dritte Sequenzposition den Slot für eine Evaluation von Ps Antwort bereit. Und tatsächlich hat A auch Anlass zu einer kritischen Einschätzung, wie ihre nächste Frage und die Antwort Ps darauf zeigen. #13 AA_BI_03 (00: 26-00: 34) 18 A: [nich erINNERlich; ] 19 (.) was is=n das hier für=n kleines LOCH, 20 (-) 21 P: ja das heiß: t- 22 (-) da hat mich glaub ich eine KATze: ; 23 (1.0) gehakt- 24 A: wann WAR=n [das? ] Offensichtlich als Resultat einer Beobachtung an Ps Hand, die ihr P gegen Ende ihrer Beschwerdenschilderung zur visuellen Untersuchung angeboten hatte (erkennbar an der deiktischen Formulierung das is als ob hier ein (.) ne NAdel oder irgendwas DRIN wär; (Z. 12/ 13)), wendet sich A hier mit einer erneuten Frage an P: was is=n das hier für=n kleines LOCH, (Z. 19). Auch hier enthält Ps Antwort keine glatte Formulierung, sondern ist durch verschiedene Mittel als dispräferierte, aber auch komplexe Reaktion gekennzeichnet. Sie beginnt mit dem Diskursmarker ja und der Ankündigung einer korrigierenden Reformulierung, was als Reaktion auf eine W-Ergänzungsfrage ungewöhnlich ist. Die Korrektur bezieht sich nun aber nicht auf die Frage As, sondern auf den offensichtlichen Widerspruch zwischen Ps generalisierter Verneinung eines Geschehens in ihrem vorhergehenden Beitrag und der von A explizierten Beobachtung. P signalisiert also nicht nur, dass sie As Frage verstanden hat, sondern auch, dass sie den sachlichen Widerspruch erkennt - sie bezieht also in der Dokumentation ihres Verstehens der Frage As Aspekte ihrer eigenen vorherigen Antwort mit ein. Es handelt sich demnach um ein Zugeständnis, das hier aber in der abgeschwächten Form einer Selbstkorrektur angeboten wird. Retrospektiv wird damit Ps eigene Darstellung suspendiert. Die nachfolgende ‘eigentliche’ Antwort auf As Frage beginnt mit der Identifikation der betroffenen Körperstelle (da), mit der das Vorhandensein und die deiktische Lokalisation des LOCH bestätigt und intersubjektiv gesichert wird. Zusätzlich zur rein deiktischen Lokalisation von A durch da definiert P sich <?page no="89"?> Verstehensdokumentation in der medizinischen Kommunikation 89 02 Spranz-Fogasy_final dabei noch mit dem Reflexivpronomen mich als Objekt eines Geschehens. Im Kontrast zur präsentisch formulierten Frage As verwendet P dann die perfektivische Zeitform, was parallel zur vorherigen Frage ham se=n UNfall gehabt? formuliert ist und wie dort ein Ursachenverhältnis indiziert 97 - P versteht also As Frage nach dem LOCH nicht als modale Frage, wie sie der W-Ausdruck was für ein literal gesehen anzeigt, sondern als kausale, fokussiert also ihre Antwort auf eine bestimmte Interpretation, die für sie im Zusammenhang der Beschwerdenexploration die relevante ist. Zugleich dokumentiert sie damit, dass sie auch, eben unter Bezugnahme auf die vorherige Frage nach dem UNfall, die Frage der Ärztin nach dem LOCH als Frage nach der Ursache versteht. In ihre Antwort schiebt P außerdem mit glaub ich parenthetisch noch eine Relativierung ihres Gewissheitsgrades bezüglich des Sachverhalts ein. Dies thematisiert in gewisser Weise das von A zuvor problematisierte Erinnerungsvermögen und ist zugleich ein Element des Zugeständnisses. Auch die ungewöhnlich lange, einsekündige Wortsuche für gehakt und deren prosodische Anbahnung durch Vokaldehnung und leichte Anhebung der Tonhöhe dokumentieren ein Element ihres Verstehensprozesses: A hatte spezifisch nach einem LOCH gefragt, übliche Verletzungsarten durch eine Katze sind Kratzer oder Bisse, P sucht also nach einem Ausdruck, der genau den erfragten, spezifischen Sachverhalt trifft - dies ist aber zugleich auch eine Antwort auf den modalen Anteil der Frage As. Auch die in explorativen Zusammenhängen häufig verwendete Modalpartikel denn (in der Frage As auf n in is=n reduziert) erfährt in ihren vielfältigen Implikationen Berücksichtigung in Ps Antwort. 98 Zum einen kommt P ihrer damit erhöhten Antwortverpflichtung nach, zum anderen akzeptiert sie damit die ihr von A zugeschriebene epistemische Autorität bezüglich des von A dargestellten Sachverhalts und schließlich legitimiert sie auch retrospektiv ihre mangelhaften früheren Auskünfte durch die Formulierung eines Zugeständnisses. Selbst wenn man berücksichtigt, dass P hier eine W-Ergänzungsfrage, also eine im klassischen Sinne ‘offene’ Frage zu beantworten hat, wird deutlich, dass sie in ihrer Antwort erneut und sehr weitgehend den Frageskopus überschreitet. Dies betrifft vor allem die Einbeziehung eigener vorangegangener Äußerungen: der Beschwerdenschilderung, in der sie keine Angaben zur Ursache ihrer 97 Vgl. dazu ausführlich Spranz-Fogasy/ Lindtner (2009). 98 Mit den Implikationen von denn für die Verstehensarbeit von Gesprächsteilnehmern befasst sich ausführlich Deppermann (2009). <?page no="90"?> Thomas Spranz-Fogasy 90 02 Spranz-Fogasy_final Beschwerden machen konnte und der vehementen Zurückweisung der Unfallthese As unmittelbar zuvor. Sie bearbeitet den augenfälligen Widerspruch zur eigenen Gesichtswahrung jedoch nicht als Rücknahme und Entschuldigung, sondern als Zugeständnis. Zudem interpretiert sie As Frage nicht von deren Wortlaut her primär modal, sondern kausal - ganz im Sinne der Unfallthese As im retrospektiv gesehen dritten Beitragszug. Und schließlich bearbeitet sie auch noch mit ihrer Gewissheitsrelativierung glaub ich en passant den, nur ‘beiseite’ gesprochenen, Kommentar As zu ihrer Erinnerungsfähigkeit. Alle diese Aspekte bearbeitet P in ihrer Antwort integriert im Sinne des Prinzips der Progressivität, macht also keine jeweils zu bearbeitenden Handlungsschritte daraus - sie stellt das wichtigste weiterführende Element in den Vordergrund: die kategorialen Aspekte von Ursache und Verursacherin. Im Folgenden erforscht A mit einer ganzen Reihe von Fragen Zeitpunkt, Häufigkeit und Ort der Verletzungen sowie Symptomverlauf und Auswirkungen auf das angrenzende Körperumfeld, bevor sie schließlich ihre Diagnose stellt: das is <<knarrend>ein: ein: > sicher <<knarrend>ein: > WEICHteilinfekt-. Ps Antworten sind dabei stets ‘überschießend’ und antizipieren ebenfalls ärztliche Relevanzstrukturen, ‘next-turn-questions’ oder interaktionstypologische Handlungsaufgaben. 4.4 Verfahren antizipatorischer Reaktion Schon die exemplarische Analyse einiger weniger Antworten im Rahmen einer ärztlichen Beschwerdenexploration zeigt, wie weit Patienten über den literalen Frageskopus hinausgehen und dafür den sequenziellen und weiteren interaktionsorganisatorischen Kontext einbeziehen bzw. nutzen. Jede dieser Antworten trägt einen ‘Überschuss’ hinsichtlich der Bezugsfrage in sich, und auch im Folgenden - wie in anderen Gesprächen - sind kurze, entscheidungsbezogene Antworten eher die Ausnahme und weisen spezifische Hintergründe auf (siehe Kap. 4.5). Hinsichtlich einer verstehensbezogenen Fragestellung muss allerdings zwischen bloßem ‘Überschuss’ (z.B. bei Ausdrucksdoppelungen wie nein nein) und antizipatorischen Reaktionen unterschieden werden - Ersterer besitzt keinen (zusätzlichen) antizipatorischen Gehalt. Festzuhalten ist aber auch noch eine allgemeine Beobachtung, die schon in den eben untersuchten Antworten deutlich wird: Bei fast allen Antworten auf V1- und Deklarativsatzfragen reagieren Patienten zunächst mit ja- oder nein- Antworten. Dies zeigt, dass sie sich sehr wohl am literalen Sinn von Fragen orientieren, sie aber im Sinne interaktiver Kooperation darüber hinaus auch <?page no="91"?> Verstehensdokumentation in der medizinischen Kommunikation 91 02 Spranz-Fogasy_final regelmäßig als Einladung zur Expansion verstehen bzw. sie jedenfalls faktisch so behandeln, wann immer dies für sie inferierbar, antizipierbar, hilfreich oder zielführend ist. Im Folgenden sollen nun unter Bezug auf zentrale Ebenen der Interaktionskonstitution 99 verschiedene Verfahren antizipatorischer Reaktion systematisiert und erläutert werden, die im hier zugrunde liegenden Datenkorpus vorgefunden werden konnten. Gesprächsorganisation Im Wortsinn antizipatorische Reaktionen sind natürlich ‘Frühstarts’, bei denen der Patient schon vor der Äußerung des eigentlichen Frageskopus bestätigend oder verneinend reagiert. Beispielhaft dafür ist folgende Antwort aus dem eben analysierten Gespräch: #14 AA_BI_03 (01: 17-01: 20) 72 A: an andern geLEN[ken oder so haben sie GAR 73 P: [ nein überHAUPT nichts; 74 (.) ÜBERhaupt nichts; ] 75 A: nichts; nich, ] Zwar kann die Patientin zum Zeitpunkt des Einsatzes ihrer Antwort nicht wissen, welche andern Sachverhalte A ansprechen will, dennoch reagiert sie auf vergleichbare Weise wie schon bei mehreren ihrer Antworten zuvor. Sie antizipiert hier also offensichtlich eine Frage nach anderen Symptomen und mit der Doppelung ihrer Antwort bestätigt sie dieses frühe antizipierende Verständnis. Auf dieser Ebene der Gesprächsorganisation erweist sich aber auch oft schon die regelmäßige Rückgabe des Rederechts an den Arzt als antizipatorische Reaktion: Der Patient erwartet weitere Explorationsaktivitäten des Arztes und stellt dies bei der Realisierung der eigenen Äußerungen in Rechnung. P zeigt diese Erwartung bei der Rückgabe des Rederechts auch in diesem rederechtsbezogen ausgesprochen kompetitiven Gespräch regelmäßig an: mittels syntaktischer Konstruktionen mit Abschlussprojektionen, mittels Abschlussintonation oder auch mittels (mehrfach realisiertem) Rückzug in kompetitiv überlappenden Äußerungen. Sachverhaltsebene Auf der Ebene der Sachverhaltskonstitution weisen Antworten verschiedene themenoperative Funktionen auf, die vielfach mit Antizipationen verknüpft 99 Zum Ebenenkonzept der Interaktionskonstitution siehe Kallmeyer (2005). <?page no="92"?> Thomas Spranz-Fogasy 92 02 Spranz-Fogasy_final sind. Deutlich wird das vor allem bei den schon von Stivers/ Heritage (2001) bemerkten zusätzlichen Informationen in bestätigenden oder verneinenden Antworten von Patienten. Neben den dort untersuchten ‘lifeworld narratives’ finden sich im hier untersuchten Datenkorpus beispielsweise - Generalisierung bzw. Erweiterung des Frageskopus - ein Beispiel dafür ist die o.a. hyperbolische Reaktion n überHAU: PT nichts passiert auf die Frage ham se=n UNfall gehabt? (siehe Kap. 4.3). - Korrektur - dies ist die häufigste Form antizipatorischer Reaktion; Patienten negieren dabei nicht nur Propositionen, die der Arzt geäußert hatte, sondern sie formulieren auch zusätzlich eine andere, alternative Proposition. Im folgenden Gesprächsausschnitt korrigiert die Patientin zwei vom Arzt angebotene Interpretationen eines von ihr selbst gebrauchten Ausdrucks (konzentrieren) durch eine alternative Beschreibung: #15 AA_HD_01 (04: 05-04: 11) 01 A: UM nich <<h>UMzufallen? 02 oder um nich auszuflippen>; 03 [oder was heißt] konzenTRIEREN 04 P: [nö: : : ] 05 A: [wie meinst] 06 P: [also ich ] muss KONzentrieren damit ich 07 mitkrieg was der andere sa: cht, - Präzisierung - dabei werden Propositionen zwar bestätigt, aber um genauere Angaben ergänzt. Im Fortgang des o.a. exemplarischen Falles erfragt die Ärztin beispielsweise noch die genaue Lokalisation der Schmerzen, wonach die Patientin zwar ihre Annahme korrigiert, aber zusätzlich die Schmerzart genauer beschreibt bzw. konkretisiert: #16 AA_BI_03 (00: 52-00: 58) 45 A: [ja: , und ] HIER hat ne katze 46 gekratzt; 47 (--) und DA tut=s auch we: h? 48 (.) an der stelle? 49 P: nein also HIE: R; 50 (--) st: icht es; Dies muss also die Ärztin im Folgenden genauso wenig nachfragen, wie die Schmerzintensität, die die Patientin in Reaktion auf die nächste, ratifikative Nachfrage der Ärztin eigeninitiativ qualifiziert: <?page no="93"?> Verstehensdokumentation in der medizinischen Kommunikation 93 02 Spranz-Fogasy_final #17 AA_BI_03 (00: 56-01: 01) 49 P: nein also HIE: R; 50 (--) st: icht es; 51 (-) 52 A: <<knarrend>da: : >- 53 (-) 54 P: ja- 55 (-) da- 56 (-) ziemlich; In beiden Fällen nimmt die Patientin damit mögliche Nachfragen der Ärztin vorweg. - Qualifizierung - hier gibt der Patient zusätzliche, erläuternde Angaben zu seiner Antwort, z.T. sogar mehrfach, wie im folgenden Ausschnitt zu sehen ist: #18 UR_HD_05 (01: 04-01: 10) 01 A: WIE oft (.) müssen sie [n: achts-] 02 P: [nachts- ] 03 [ also ] drei mal BEstimmt, 04 A: [(gut)-] 05 [un JE: de] menge; 06 A: [dreimal-] 07 P: [also] (.) obwohl isch [NISCHT] sehr viel 08 A: [ja ] [ja ] 09 P: TRINke: , 10 A: ja n=ja; Mit dem ankündigenden und zugleich relevanzhochstufenden also (Z. 03) macht die Patientin deutlich, dass sie keine ‘glatte’ Antwort geben wird und der Sachverhalt, um den es geht, von besonderer Bedeutung für ihr Beschwerdenerleben ist. Ihre Angabe drei mal wird durch das nachfolgende BEstimmt als Mindestangabe und die damit angegebene Häufigkeit als auffällig charakterisiert. Die Häufigkeitsangabe ergänzt sie noch durch eine allgemeine, aber jedenfalls als auffällig hoch gekennzeichnete Mengenangabe des jeweiligen Toilettengangs, womit sie die Relevanz des Symptoms weiter verdeutlicht. Schließlich ergänzt sie ihre Ausführungen auch noch durch eine konzessive Angabe ihres Trinkverhaltens, was die beiden vorherigen Mitteilungen qua <?page no="94"?> Thomas Spranz-Fogasy 94 02 Spranz-Fogasy_final sachlichen Widerspruch noch weniger verständlich macht und die Symptomrelevanz weiter verstärkt. Auch hier werden wieder mögliche Nachfragen - nach der Menge der Urinabgabe und nach ihrem Trinkverhalten - bereits antizipativ bearbeitet. Die genannten thematischen Relationen bilden sicher keine vollständige Liste, und sie stellen auch keine exklusiven Kategorien dar, sie besitzen fließende Grenzen oder überlagern sich auch. Die zusätzlichen Informationen in diesen antizipatorischen Antworten liefern dem Arzt Hinweise zur weiteren Beschwerdenexploration und machen mögliche oder gar erwartbare Folgefragen oft überflüssig. Viele dieser zusätzlichen Informationen sind dabei auch medizinspezifisch und zeigen die antizipative Berücksichtigung ärztlicher (differenzialdiagnostischer) Relevanzstrukturen an. Eine weitere Gruppe von Verfahren antizipatorischer Reaktion auf der Sachverhaltsebene besteht aus der Aus- und Abwahl kategorialer Aspekte. Damit ist gemeint, dass der Patient in einer ärztlichen Frage explizite oder implizite kategoriale Ordnungsgesichtspunkte wahrnimmt und sie in seiner Antwort aufgreift und auswählt oder nicht weiter berücksichtigt. Ein Beispiel für die Auswahl im Beispielgespräch ist die Antwort auf die Frage der Ärztin nach dem LOCH: #19 AA_BI_03 (00: 27-00: 32) 19 A: (.) was is=n das hier für=n kleines LOCH, 20 (-) 21 P: ja das heiß: t- 22 (-) da hat mich glaub ich eine KATze: ; 23 (1.0) gehakt- P antwortet hier primär auf die darin implizierte kausale Frage nach der Verursachung und der Art der Verletzung. Deutlich wird dabei auch die Berücksichtigung etablierter ärztlicher Relevanzbzw. Handlungsorientierungen: die Suche nach Ursachen und nach allgemeinen Merkmalen von Beschwerden. Ein weiteres Verfahren antizipatorischer Reaktion auf der Ebene der Sachverhaltskonstitution ist auch noch die Bearbeitung sequenziell emergierter Sachverhaltsrelationen. Ärztliche Fragen stehen ja, wie in Kapitel 3 gezeigt wurde, zumeist auch in einem erkennbaren Sachverhaltszusammenhang zum voraufgehenden Kontext. Solche Zusammenhänge können von Patienten aufgegriffen und in ihren Antworten mit verarbeitet werden. <?page no="95"?> Verstehensdokumentation in der medizinischen Kommunikation 95 02 Spranz-Fogasy_final Ein markanter Fall hierfür ist das Zugeständnis Ps auf die Frage nach dem LOCH aus dem oben analysierten Gesprächsausschnitt. #20 AA_BI_03 (00: 24-00: 32) 15 A: HAM se=n UNfall gehabt? 16 P: n überHAU: PT nichts passiert; 17 [in (letzter zeit); ] 18 A: [nich erINNERlich; ] 19 (.) was is=n das hier für=n kleines LOCH, 20 (-) 21 P: ja das heiß: t- 22 (-) da hat mich glaub ich eine KATze: ; 23 (1.0) gehakt- P macht durch ihr Zugeständnis deutlich, dass sie den Widerspruch bemerkt hat und löst ihn im Sinne einer handlungsprogredienten Orientierung initiativ soweit auf, dass es keiner weiteren interaktiven Behandlung bedarf. Sequenziell emergierende Sachverhaltsrelationen müssen nicht wie im Beispielfall per se problematisch sein; es können auch einander ergänzende oder bestätigende Verknüpfungen aufgegriffen und in Antworten auf Fragen mitverarbeitet werden. Solche Zusammenschlüsse erlauben dann oft eine simultane Bearbeitung verschiedener Aspekte einer komplexen Thematik. Handlungsebene Bei allen Antworten der Patientin im eben mehrfach analysierten Gespräch (AA_BI_03) wird auch mehr oder weniger deutlich, dass sie den Frageskopus nicht nur einfach erweitert, sondern dass sie auch Aspekte bearbeitet, die in Folge ihrer Reaktion auf den Frageskopus relevant werden könnten. In ihren Antworten ist daher proaktiv die Antizipation von ‘next-turn-questions’ eingebaut. Deutlich wird dies beispielsweise in dem Ausschnitt, in dem beide Gesprächsteilnehmerinnen den genauen Ort der Beschwerden intersubjektiv zu sichern suchen: #21 AA_BI_03 (00: 50-00: 59) 42 P: [nein] 43 das (.) das bin ICH gewesen; 44 das is [also die-] 45 A: [ja: , und ] HIER hat ne katze 46 gekratzt; <?page no="96"?> Thomas Spranz-Fogasy 96 02 Spranz-Fogasy_final 47 (--) und DA tut=s auch we: h? 48 (.) an der stelle? 49 P: nein also HIE: R; 50 (--) st: icht es; 51 (-) 52 A: <<knarrend>da: : >- Hier werden von P gleich zwei potenzielle Nachfragen antizipiert und bearbeitet: Die Frage nach dem ‘Wo‘ (HIE: R) und die Frage nach dem ‘Wie’ (st: icht) der Schmerzen. Beide Fragen sind, allerdings in unterschiedlichem Grad, erwartbar, da durch die negative Antwort Ps eine positive Bestimmung des Beschwerdenortes erforderlich wird und die Art der Schmerzen bis dato von P allenfalls in der Analogie als ob hier ein (.) ne NAdel oder irgendwas DRIN wär (siehe Kap. 4.3, Z. 12) in der anfänglichen Beschwerdenschilderung Ps andeutungsweise thematisiert wurde. Es gehört eben nicht nur zum differenzialdiagnostischen Bestand von Ärzten, die Schmerzqualität erfragen zu müssen, sondern auch zum Weltwissen von Patienten, dass die Schmerzqualität ein medizinisch relevantes Kriterium ist. Die auf den Fortgang der Interaktion gerichteten Antworten zeigen auch die Orientierung Ps am Prinzip der Progressivität: 100 Die ‘eigentliche’ Antwort, das nein, wird zwar gegeben, ist jedoch der geringste Bestandteil der gesamten Reaktion. Wichtiger und auf den Fortgang der Aushandlung orientiert sind aber die Auskünfte zur Ortsidentifikation und zur Schmerzqualität. Auch Verstehen wird hier eher weniger sichtbar in Aktivitäten einer expliziten Retrospektion - die ja zwangsläufig zu erhöhter und ggf. störender Redundanz führen würde -, sondern darin, welche Folgen ein Gesprächsteilnehmer für erwartbar hält und bereits antizipatorisch und proaktiv bearbeitet. Ebene sozialer Identitäten und Beziehungen Auch in einem sach- und zweckorientierten Gespräch wie dem ärztlichen Gespräch mit Patienten werden Aspekte der sozialen Identität und der Beziehung der Beteiligten vielfach mitbehandelt. Das betrifft nicht nur, was im Rahmen ärztlicher Gespräche durchaus häufig der Fall ist, Eigenschaften der psychischen Erlebenswelt von Patienten oder Störungen der Beziehungsfähigkeit. Es betrifft auch schon Aspekte der Interaktionsorganisation, die im Zuge der Aushandlung von Sachverhaltsdarstellungen relevant werden. Hier findet sich im Beispielfall AA_BI_03 eine ganze Reihe von Phänomenen, die im Zusammenhang sequenzstruktureller Eigenschaften stehen. 100 Siehe Deppermann (2008), Heritage (2007) und Stivers/ Robinson (2006). <?page no="97"?> Verstehensdokumentation in der medizinischen Kommunikation 97 02 Spranz-Fogasy_final So ist die Antwort auf die erste Frage As nach der Beschwerdenschilderung auch Ausdruck der Antizipation möglicher Kritik an der Beschwerdenschilderung: #22 AA_BI_03 (00: 24-00: 27) 15 A: HAM se=n UNfall gehabt? 16 P: n überHAU: PT nichts passiert; 17 [in (letzter zeit); ] 18 A: [nich erINNERlich; ] In der Beschwerdenschilderung hatte P zu verstehen gegeben, dass ihr eine Ursache der Beschwerden nicht bekannt ist (wo ich nicht weiß: - (.) was ich damit MAchen soll; Z. 04/ 05). Die Frage nach einem Unfall ist daher auch als potenzieller Angriff darauf, wie P ihrer Auskunftspflicht nachgekommen ist, zu verstehen. Dagegen setzt sie sich hier mit einer impliziten Zurückweisung potenzieller Kritik zur Wehr: n überHAU: PT nichts passiert; (Z. 16). Dies zeigt auch die hyperbolische Formulierungsweise an, deren zentrale Funktion in der Legitimation eigenen Handelns und der markierten Zurückweisung von Ansprüchen besteht. 101 Dies gilt auch für zwei spätere hyperbolisch markierte Zurückweisungen im Beispielfall, die Reaktionen auf die Fragen nach andern fingern (ÜBERhaupt nichts nein; Z. 58/ 59) bzw. andern geLENken (nein überHAUPT nichts; (.) ÜBERhaupt nichts; Z. 72-74) - auch das hätte P sonst von sich aus sagen können oder gar sollen. An anderen Stellen dieses Gesprächs wird deutlich, dass P potenzielle Kritik nicht nur wahrnimmt und in ihren Antworten mitbearbeitet, sondern dass sie auch antizipativ mögliche Kritik abwehrt. Dies geschieht beispielsweise durch die Relativierung eigener Aussagen zur Abwehr von Präzisierungsanforderungen mit Formulierungen wie glaub ich oder es MÜSste vielleicht. Auch das Zugeständnis Ps hinsichtlich eines Widerspruchs ihrer Aussage überHAU: PT nichts passiert zur Entdeckung einer Verletzung durch A enthält implizit eine Vorkehrung gegenüber dem potenziellen Vorwurf unkorrekter bzw. mangelhafter Auskünfte. Die Ausführungen zu Verfahren antizipatorischer Reaktion zeigen eine Fülle von Verfahren, die allein schon im untersuchten Gesprächsausschnitt zu entdecken sind. Auch in den anderen Gesprächen, die dieser Untersuchung zugrunde liegen, bilden kurze, nur am Frageskopus orientierte Antworten die - systematisch erklärbare - Ausnahme (siehe unten Kap. 4.5). Deutlich wird 101 Zu den interaktiven Funktionen solcher ‘extreme case formulations’ siehe Pomerantz (1986). <?page no="98"?> Thomas Spranz-Fogasy 98 02 Spranz-Fogasy_final damit, dass weder der ‘Überschuss’ in den Antworten der Patientin, noch ihr häufiger Charakter als antizipatorische Reaktion ein zufälliges Phänomen sind, sondern Ausdruck einer übergreifenden Orientierung am Gesprächszusammenhang, an gesprächs-, sachverhalts-, handlungs- oder identitätsrespektive beziehungsorganisatorischen Eigenschaften darstellen. Bevor dieser Zusammenhang weiter erörtert wird, soll noch kurz auf solche Antworten in ärztlichen Gesprächen eingegangen werden, die tatsächlich nur kurz und eng am Frageskopus orientiert sind. 4.5 Reduzierte Antworten von Patienten in ärztlichen Gesprächen Die Auswertung der Antworten von Patienten auf ärztliche Fragen hinsichtlich eines ‘Überschusses’ ergab, dass Patienten in 70% der Fälle mehr antworten, als sie gefragt wurden. Diese hohe Zahl macht nun umgekehrt solche Antworten auffällig, in denen tatsächlich nur kurz und bündig reagiert wird. Untersucht man diese wenigen Fälle genauer, so zeigt sich, dass sich regelmäßig systematische Gründe dafür finden lassen. Einige davon sollen jetzt kurz dargestellt werden. Eine erste Gruppe reduzierter Antworten steht im Zusammenhang systematischer ärztlicher Abfragen, die in der Regel ohne unmittelbare Anknüpfung an Darstellungen der Patienten erfolgen. Häufig sind solche Abfragen Bestandteil eines Interview-Leitfadens, mit denen das somatische und psychosoziale Umfeld der Beschwerden erfasst wird. Ein prägnantes Beispiel dafür findet sich denn auch typischerweise nicht in einem der hier zugrunde gelegten Praxisgespräche, sondern stammt aus einer ausführlichen Anamnese in einer psychosomatischen Klinik: #23 API2 (03: 12-03: 32) 01 A: gibt=s AUFfälligkeiten im stuhlgang? 02 (1.1) 03 P: n: : nö: - 04 (---) 05 A: blut, 06 (-) schleim: ? 07 P: ’hm’hm, 08 A: verFÄRbung oder entFÄRBUNG, 09 P: hm=nö: - 10 GANZ normal; 11 A: hmhm, <?page no="99"?> Verstehensdokumentation in der medizinischen Kommunikation 99 02 Spranz-Fogasy_final 12 (--) KEIne verstopfung KEIN durchfall; 13 P: <<p>’hm’hm-> 14 (1.0) ((räuspert sich)) 15 (5.1) 16 A: BRENnen beim WASserlassen? 17 (--) 18 P: hm=nö: ; In diesem Gespräch geht es um erhöhte Leberwerte und Fettleibigkeit. Mit den hier aufgeführten Fragen nach Besonderheiten der Ausscheidungen beim Patienten werden also nicht Symptome erfragt, die für das konkrete Beschwerdengeschehen zentral sind, sondern mögliche Indikatoren einer Diagnose. Durch seine Formulierungsweise verdeutlicht der Arzt dabei einen Listencharakter 102 seiner Fragen: Er reiht Nominalphrasen aneinander und die regelmäßig final steigende Intonation verweist auf weitere folgende Fragen und Turnvorhalt. 103 Der Patient gibt ob der ärztlichen Formulierungsweise im Wesentlichen nur knappe bestätigende oder verneinende Antworten, unter anderem aber wohl auch deshalb, weil sich für ihn kein Zusammenhang zwischen Besonderheiten der Ausscheidungen und seinem Beschwerdenbild ergibt und er demnach keinen Bedarf sieht, erweiternde Angaben zu machen. Einen anderen Hintergrund für das Antwortverhalten weist folgender Gesprächsausschnitt auf: #24 IA_MR_01 (00: 07-00: 23) 01 A: TAG frau kettemann; 02 P: gut=n tag doktor; 03 ich bin nämlich SO: ’erKÄLTET; 04 (.) ich [werd ] de erkältung gar net los- 05 A: [n=ja-] 06 a: ch du lieber gott; 07 P: habse schon VIERzehn TA: : che; 08 hab ich=[schon hinner] mir- 09 A: [hmja- ] 10 (---) QUÄLT sie schon richtig- 11 P: ja ja; 102 Zur Listenbildung in Äußerungen und deren interaktiven Funktionen siehe Atkinson (1984), Jefferson (1991) und Selting (2004); dort geht es allerdings um turninterne Listen mit den Merkmalen Dreierstruktur, Vollständigkeit und Deklarativcharakter. 103 Zur Prosodie als Ressource des Turnbehalts siehe Kern (2007). <?page no="100"?> Thomas Spranz-Fogasy 100 02 Spranz-Fogasy_final 12 (1.2) 13 A: hm: : , 14 (1.0) 15 P: dann hab ich immer schon HU: STENtee 16 getrunken und [alles] ’abber, 17 A: [hm: ] Die Patientin beginnt hier ohne Aufforderung durch den Arzt mit ihrer Beschwerdenschilderung und ist diesem damit in der Abwicklung des Handlungsschemas einen Schritt voraus. Der Arzt ‘begleitet’ ihre Darstellungen mit Rückmeldungen und einem Kommentar, bevor er in explikativer Weise eine Frage nach dem psychischen Beschwerdenerleben stellt. Nach ihrer kurzen Bestätigung sucht sie erkennbar das Rederecht an den Arzt zu übergeben, der sie aber im Gegenzug mit einem ‘Continuer’ (hm: : Z. 13) auffordert, weiter zu sprechen. Sie fährt dann fort mit einer Darstellung von Behandlungsversuchen. Schon vor der Frage des Arztes hatte die Patientin bereits ihre Beschwerdenschilderung abgeschlossen, dessen Frage erscheint demnach als Rückschritt in eine von ihr bereits abgeschlossene Phase. Das zeigt sich auch durch die Darstellung der Behandlungsversuche, mit der sie Fragen der Therapie anspricht und damit wiederum einen Schritt weiter geht. Auch im Folgenden zeigen sich noch Unstimmigkeiten in der Handlungsorientierung der Beteiligten, die Patientin bearbeitet weiterhin Handlungsaufgaben des Arztes mit, der seinerseits dies nicht bemerkt oder aber auf eigenen Durchführungsrechten besteht. Regelmäßig treten in ärztlichen Gesprächen auch heikle Themen auf wie intime Fragen, Fragen mit Kritikpotenzial wie Alkohol- oder Drogenkonsum oder Fragen zum sozialen Umfeld der Patienten. Hier kommt es auch dazu, dass Patienten auskunftsunwillig sind und nur das Nötigste antworten. Im folgenden Gespräch hatte zwar die Patientin ihre laufende Scheidung angesprochen und sogar als Ursache ihrer Magenprobleme angeführt, Nachfragen der Ärztin danach jedoch blockt sie immer wieder ab, wie im folgenden Ausschnitt: #25 AA_BI_01 (00: 41-00: 49) 01 Ä: WARU: M lassen se sich denn schei: den? 02 P: <<p>ja das (-) klappt einfach 03 nich mehr>- 04 Ä: des KLAPPT nich? 05 (--) 06 P: <<p>nee>- 07 Ä: aber das: macht ihnen ja MÄCHTIG zu 08 schaffen nich- <?page no="101"?> Verstehensdokumentation in der medizinischen Kommunikation 101 02 Spranz-Fogasy_final Schon die Antwort auf die warum-Frage hält die Patientin hier sehr allgemein, der Expansionsaufforderung der Ärztin mittels einer Echofrage kommt sie dann sogar nur mit der minimalsten verbalen Antwort nach, womit sie lediglich bestätigt, was sie zuvor selbst formuliert hatte. Schließlich finden sich reduzierte Antworten von Patienten - durchaus häufiger - bei dem Versuch von Ärzten, über den somatischen Zusammenhang hinaus explizit auch psychische Problemzusammenhänge anzusprechen: #26 AA_HD_01 (02: 21-02: 57) 01 P: und zwar ich KOMM- 02 weil=s mir im moment ’aso; 03 (-) seit drei TAgen, 04 <<knarrend>total komisch> geht; 05 (--) DASS ich nämlich ähm: - 06 (2.2) ((schreibgeräusche)) 07 so die STIMm: en so weiter weg höre 08 und selber so- 09 (2.0) ((schreibgeräusche)) 10 A: ’hmhm, 11 P: also h’ ähm: wie wenn ich SCHLAfe 12 A: [mh’hm- ] 13 P: [und und] so am AUFwachen bin- 14 .h (.) dann hört ma ja auch SO: nen so=n 15 <<knarrend>HALL>, 16 s=GIBT wenn jemand redet im rau: m- 17 das hört man dann so .h im 18 UNterbewusstsein noch so n bisschen- 19 oder KURZ vor=m ↓einschlafen- 20 ..h und IRGENDwie so HUA: , 21 (---) 22 A: das [macht dir ANGST] 23 P: [schrecklich- ] 24 A: dann; 25 P: ja- 26 A: ne, 27 (1.5) 28 P: und (-) ähm: (--) am freitachAbend hat=s 29 ANgefa: ng=n; 30 (-) ABENDS auf so ner fete? <?page no="102"?> Thomas Spranz-Fogasy 102 02 Spranz-Fogasy_final Die Patientin schließt ihre erste Beschwerdenschilderung markiert ab, wenngleich sie noch den bewertenden Kommentar schrecklich nachträgt. Parallel zu diesem Kommentar formuliert der Arzt eine explikative Deklarativsatzfrage, mit der er nach dem psychischen Beschwerdenerleben der Patientin fragt (das macht dir ANGST dann; Z. 22-24). P antwortet nur kurz und bestätigend. Auch hier versucht der Arzt mittels ‘Continuer’ die Patientin zu weiteren Ausführungen zu motivieren, es entsteht jedoch eine längere Pause von 1,5s. Der folgende zögerliche Einsatz der Patientin (und ähm (--)) macht deutlich, dass P die Expansionsaufforderung wohl wahrgenommen hat, nun aber zu weiteren Ausführungen im Rahmen ihrer Beschwerdenschilderung zurückkehrt. Im weiteren Verlauf des Gesprächs sucht A immer wieder psychosomatische Aspekte des Beschwerdengeschehens anzusprechen, während P ihrerseits stets biomedizinische Erklärungsmuster thematisiert (Blutdruck, Gehörschaden, Schilddrüse etc.) und darauf beharrt. Dieses Verhalten findet sich regelmäßig auch in anderen der hier untersuchten Gespräche, was darauf schließen lässt, dass Patienten psychologisierende Fragen im biomedizinischen Kontext der Praxisgespräche häufig für unpassend erachten und ihnen mit kurzen Antworten und nachfolgendem selbstkohärenten Anschluss ausweichen. Die Ausführungen belegen, dass Antworten, die auf das Nötigste reduziert sind, Ausnahmen darstellen, die sich unter Bezug auf interaktive Besonderheiten - vor allem auf der Handlungsaber auch der Sachverhalts- und Identitätsrespektive Beziehungsebene - systematisieren lassen. Reduzierte Antworten dokumentieren dann, dass Patienten weitergehende Motive einer ärztlichen Frage entweder nicht verstehen oder sie aber unter interaktionstypologischen oder Beziehungsgesichtspunkten als deplatziert bewerten. Die Reaktionen der Ärzte auf reduzierte Antworten zeigen umgekehrt aber häufig, dass sie ihrerseits oft ausführlichere Antworten auf ihre Fragen erwarten. Im Gesprächsausschnitt #25 (AA_BI_01) fragt A beispielsweise unmittelbar noch nach (aber das: macht ihnen ja MÄCHTIG zu schaffen nich; Z. 07/ 08) und auch in der Folge sucht sie mit einer ganzen Reihe von Fragen die Hintergründe der Scheidung aufzudecken (woll=n SIE denn, oder will ihr mann; / / WArum denn; / / und das HAUT gar nich hin: ; hat er IRGEND ne andere? / / sie AUCH nich; / / ABER woran SCHEIterts denn dann; ). In anderen Fällen haken Ärzte zwar nicht direkt nach den Antworten nach, spätere Nachfragen zeigen jedoch, dass sie sehr wohl andere Antworterwartungen haben, aber lokal auf Nachfragen verzichten - beispielsweise weil sie knappe Antworten als Abwehr verstehen. 104 104 Die Zurückstellung von Fragen und deren späteres Einbringen ist vor allem bei den psychosomatisch orientierten Ärzten im Datenkorpus zu beobachten. <?page no="103"?> Verstehensdokumentation in der medizinischen Kommunikation 103 02 Spranz-Fogasy_final 4.6 Verstehensdokumentation in Patientenantworten Die Untersuchung von Patientenantworten auf ärztliche Fragen macht deutlich, dass es sich bei antizipatorischen Reaktionen nicht um ein zufälliges und seltenes Verfahren der Verstehensdokumentation handelt, sondern um ein systematisches Phänomen im Rahmen der ärztlichen Beschwerdenexploration. Nur wenige Antworten von Patienten in ärztlichen Gesprächen sind gemäß den syntaktisch-strukturellen Vorgaben von Fragen auf das Minimum reduziert, und dafür sind, wie gezeigt, jeweils systematische Bedingungen identifizierbar: Leitfaden-Fragen, divergente Handlungsorientierungen, Auskunftsverweigerung oder Fragen, die als ‘unpassend’ interpretiert werden. Nicht jede Antwort, die gegenüber den syntaktisch-strukturellen Vorgaben ärztlicher (Entscheidungs-)Fragen mit einem ‘Überschuss’ behaftet ist, kann auch als antizipatorische Reaktion charakterisiert werden. Allerdings lassen auch kleine Hinweise, wie beispielsweise schlichte Doppelungen von Antwortpartikeln, oft erkennen, dass retrospektiv etwa Kritik an vorangegangenen eigenen Beiträgen wahrgenommen und prospektiv bearbeitet wird. In vielen Fällen ‘überschießender’ Reaktion jedoch wird deutlich, dass Patienten mehr verstehen, als literal gefragt wird, und dass sie dieses weitere Verstehen in ihren Antworten antizipativ gleich mitbearbeiten. Antizipiert bzw. berücksichtigt werden dabei Präsuppositionen ärztlicher Fragen, ärztliche Relevanzstrukturen oder, vielfach mit solchen Aspekten verbunden, ‘next-turn-questions’. Antworten stehen, mehr als die meisten anderen Handlungszüge, unter starken sequenzorganisatorischen Zwängen, die mit ihren Bezugsäußerungen, also den Fragen, einhergehen. Gesprächsteilnehmern ist immer klar, dass Antworten, die diese Zwänge nicht ausreichend beachten, den fragenden Interaktionspartner dazu berechtigen, auf deren Erfüllung zu bestehen. Umgekehrt haben Antwortende aber auch (fast) 105 immer die Möglichkeit, ihre Antworten proaktiv zu gestalten und dabei auch weitere Kontexte zu berücksichtigen. 106 Manche der hier untersuchten Antworten enthalten eine Fülle von Aspekten, die nachfolgende Interaktion zu beeinflussen, wenn beispielsweise neben der ‘eigentlichen’ Antwort ein Selbstwiderspruch konzediert, aber als reformulierendes Zugeständnis formuliert wird, neben der geforderten modalen Antwort 105 Einschränkungen gibt es vor allem in strikt hierarchischen Interaktionen, beispielsweise vor Gericht, beim Militär, in Schulen, also ganz generell bei institutionellen Befragungen, bei denen zum Teil explizit der Antwortraum beschränkt wird. 106 Nicht bzw. nur ansatzweise untersucht wurden in diesem Beitrag Reaktionen von Patienten, mit denen nach der eigentlichen Antwort neue Themen etabliert oder frühere Beiträge selbstkohärent fortgesetzt werden. <?page no="104"?> Thomas Spranz-Fogasy 104 02 Spranz-Fogasy_final eine kausale gleich mitgeliefert oder das eigene Erinnerungsvermögen als möglicherweise schwächer gekennzeichnet wird. 107 Zu erkennen ist dabei, dass sequenzielle Bezugnahmen und die damit verbundene Verstehensdokumentation auch die Relation früherer, oft weit zurückliegender Beiträge der Beteiligten untereinander betreffen können. Die sequenzielle Position von Antworten bietet also wesentlich mehr Möglichkeiten, als unter einer strikteren Perspektive auf Nachbarschaftspaare sichtbar werden kann und Patienten nutzen diese Möglichkeiten reichlich. Dass dies auch sequenzorganisatorisch von Vorteil ist, liegt auf der Hand: Jeder Aspekt, der antizipativ bereits in einem Antwortbeitrag mitbearbeitet wird, muss nicht eigens in einer weiteren Frage-Antwort-Sequenz bearbeitet werden. Potenziell vierschrittige Sequenzen können so auf zweischrittige reduziert werden - und im Falle multipler Antizipationen ist das Verfahren dann noch ökonomischer. Die treibenden Kräfte antizipatorischer Reaktionen sind dabei in zwei zentralen Prinzipien der Interaktion zu finden: dem Prinzip der Kooperation und dem Prinzip der Progressivität. Gemäß Letzterem sind Interaktionsbeteiligte nicht nur gehalten, Stockungen im Interaktionsablauf zu vermeiden, sondern auch, Redundanzen zu minimieren - aus diesem Grund sind Verstehensdokumentationen auch eher in progrediente Aktivitäten eingebaut, als eigens ausgewiesen 108 -, weiterführende Aktivitäten zu entfalten und damit den Aufwand nachfolgender Aktivitäten gering zu halten - also genau das, was antizipatorische Reaktionen leisten. Antworten, die sich auf die Bearbeitung des literalen Fragefokus beschränken, wirken, wie man an einigen der in Kapitel 4.5 untersuchten Beispiele reduzierter Antworten auch sehen kann, oft sehr unkooperativ und würden Nachfragen geradezu provozieren. Es besteht also häufig auch eine Default-Erwartung für elaboriertere Antworten im Sinne des Kooperationsprinzips. Gerade auch explikative Deklarativsatzfragen (Kap. 3.7), mit ihrem Wechsel auf eine thematische Metaebene, sind Fragen im Sinne eines ‘agenda-setting’ und fordern Patienten zu expandierten Antworten auf. Die Grice'schen Maximen der Relevanz und Quantität (Grice 1993) werden in Bezug auf das geteilte Wissen über den Interaktionstyp Arzt-Patient-Gespräch zur Konstruktion einer kooperativen Antwort genutzt, was von Seiten des Arztes auch reziprok erwartet wird. Gerade Patienten sind zu erhöhter Kooperation aufgefordert, sind sie es doch, die den Arzt aufsuchen und seine Hilfe erbitten. 109 107 Siehe die Analyse zu Ausschnitt #13 in Kap. 4.3. 108 Vergleiche dazu Deppermann (2008), Heritage (2007) und Stivers/ Robinson (2006). 109 Hier gibt es natürlich die Ausnahmen zwangseingewiesener oder Notfall-Patienten. <?page no="105"?> Verstehensdokumentation in der medizinischen Kommunikation 105 02 Spranz-Fogasy_final 5. Fazit und Diskussion Die Untersuchungen dieses Beitrags befassten sich mit verschiedenen Aspekten des Verstehens im Gespräch zwischen Arzt und Patient. In den einleitenden medizinsoziologischen Betrachtungen wurden sozialstrukturelle und interaktionstypologische Rahmenbedingungen als Verstehensressourcen erkennbar, die dem einzelnen Gespräch zwar voraus liegen, mit dessen Konstitution sie aber von den jeweiligen Teilnehmern aktualisiert und berücksichtigt werden müssen bzw. als Interaktionspotenziale genutzt werden können. Dazu gehören schon sozialstrukturelle Merkmale wie die Rollenkonstellation, die besondere Anstrengungen zum Abgleich individueller Wissens- und Erlebenszustände erfordert oder formale Bedingungen wie rechtliche Grundlagen oder institutionelle Aspekte der Praxisorganisation, die auf der einen Seite geschützte Kommunikationsräume schaffen, auf der anderen Seite aber wechselseitiges Verstehen erschweren, beispielsweise durch Zeitbeschränkung oder die Pflicht zur Online-Dokumentation. Mit der Herstellung des Interaktionstyps sind auch spezifische Handlungsaufgaben der Beteiligten verbunden, bei denen Verstehensanstrengungen den Handlungszielen gegenüber zwar subsidiär, aber notwendig sind und zum Grundbestand der gemeinsamen Interaktion gehören: die verständliche und ausreichende Schilderung von Beschwerden, die aktive Exploration des Beschwerdengeschehens, die angemessene Mitteilung der Diagnose, die verständliche Darlegung von Therapiemaßnahmen oder die ausreichende Sicherung der nachlaufenden Behandlung. Einer der auffallendsten Aktivitätstypen in ärztlichen Gesprächen ist das Fragen. Dies aber nicht nur seiner Häufigkeit wegen (in den hier untersuchten Gesprächen durchschnittlich alle 14,2 Sekunden), sondern auch ob seiner besonderen Bedeutung für die Organisation gegenseitigen Verstehens: Fragen indizieren häufig ein Verständnisproblem und sie suchen Informationen zu elizitieren, dieses Problem zu beseitigen. Fragen sind also wichtige und systematische Gelenkstellen der Verstehensarbeit von Arzt und Patient. Und als Gelenkstellen zwischen gegebenem Interaktionsstand und der folgenden Agenda muss in ihnen der erreichte Stand des Wissensabgleichs in ausreichender Weise zugleich als verstanden dokumentiert wie auch deutlich gemacht werden, was für das handlungsbefähigende Verständnis noch fehlt. Insbesondere die Dokumentation des bis dato Verstandenen geschieht aber in vielen Fällen und in vielen Hinsichten implizit: durch sequenzielle Positionierung und Verknüpfung, durch die syntaktische Konstruktion einer Frage (und der damit verbundenen Anzeige eines spezifischen Verstehensstatus) oder durch bestimmte Modalisierungen etc. <?page no="106"?> Thomas Spranz-Fogasy 106 02 Spranz-Fogasy_final Explikative Deklarativsatzfragen stellen dabei einen besonderen Fall dar. Mit ihnen wird in zweifacher Hinsicht Verstehen ‘über das hinaus’, was der Patient geäußert hat oder die Beteiligten gemeinsam explizit verhandelt haben, dokumentiert: Zum einen verdeutlicht der Arzt ein vertiefteres Verständnis der Äußerungen (und ggf. nonverbalen Entäußerungen) des Patienten, zum anderen wechselt er damit auf eine ‘höhere’, metathematische Ebene. Es geht dann um ein grundsätzlicheres gemeinsames Verständnis des Beschwerdengeschehens, oft mit Einbezug der psychischen Verfasstheit des Patienten relativ zu seinen Beschwerden. Antworten von Patienten reflektieren Verstehen dann auf einfachere Weise, als dies Fragen tun. Hier ist die Bezugnahme direkt und gefordert - bezogen auf den literalen Sinn einer Frage kann vom Arzt schnell und einfach überprüft werden, ob seine Frage ‘richtig’ verstanden wurde. Auffällig werden dann aber die vielen Antworten, die über den literalen Sinn und über die syntaktisch-strukturellen Vorgaben hinausgehen und zusätzliche Aspekte bearbeiten. Unter einer verstehensanalytischen Perspektive zeigt sich schnell, dass darin zugleich retrospektiv und antizipativ-prospektiv Präsuppositionen oder ärztliche Relevanzstrukturen berücksichtigt werden, die der Patient in der Frage des Arztes oder auch relativ zum weiteren sequenziellen Kontext wahrgenommen respektive ‘verstanden’ hat. Auch diese Verstehenselemente werden nicht eigens als solche gekennzeichnet, sondern einfach mitbearbeitet, wodurch die Handlungsprogression kontinuierlicher und flüssiger gestaltet und zugleich erhöhte Kooperationsbereitschaft angezeigt wird. Insbesondere sequenzielle und interaktionstypologische Organisationsmomente tragen beim Wechselspiel von Fragen und Antworten im ärztlichen Gespräch in verschiedenster Weise zur interaktiven Verstehensarbeit bei. Das fortgeschriebene ‘Geflecht’ von Äußerungen gibt jedem Beitrag seine spezifische sequenzielle Verankerung, was seine jeweilige(n) Handlungsfunktion(en) anbelangt, aber auch dahingehend, was darin als Verstandenes dokumentiert ist. Zusätzlich zu dieser eher lokalen Bereitstellung interpretativer Ressourcen bildet die sequenzielle Organisation auch übergreifende Zusammenhänge aus, die für die Beiträge den funktionalen Handlungssinn gestalt- und interpretierbar machen. Besonders im Fall der Beschwerdenexploration sorgt die - verbale oder nonverbale - Aufforderung zur Beschwerdenschilderung für einen umfassenden Rahmen, in den jeder Beitrag eingepasst und interpretiert werden kann. Dieser Rahmen schafft zugleich Kohärenz für das <?page no="107"?> Verstehensdokumentation in der medizinischen Kommunikation 107 02 Spranz-Fogasy_final gesamte explorative Geschehen - erst mit der Diagnosestellung kann die Aufforderung zur Beschwerdenschilderung als abgeschlossen betrachtet werden und ein neuer Kohärenzrahmen für die Verstehensarbeit entsteht. Einen solchen Kohärenzrahmen bildet auch die Orientierung der Beteiligten am Interaktionstyp selbst. Äußerungen können so von ihren Produzenten und Rezipienten retrospektiv und prospektiv vor einem übergreifenden Handlungszusammenhang interpretiert werden. Dieser übergreifende Zusammenhang liefert generelle Vorgaben für die Handlungsbeteiligung, für Handlungsrechte und -pflichten, für Beschränkungen und Ressourcen. Ärzte erhalten so die ‘Lizenz zum Fragen’, während Patienten ihrerseits sich weitgehend verpflichten, auch solche Fragen zu beantworten, die in anderen Handlungszusammenhängen als unbillig wahrgenommen oder gar als unzulässige Eingriffe in territoriale Rechte zurückgewiesen würden. Diese interaktionstypologisch bedingten Ressourcen machen es also für die Beschwerdenexploration in ärztlichen Gesprächen möglich, ein im Einzelnen tieferes und im Gesamten umfassenderes Verständnis der Beschwerden von Patienten und deren körperlicher und psychischer Verfasstheit zu erreichen. Fragen und Antworten bilden dabei die zentralen Aktivitätstypen. Sie sind eng an die Prozesse der interaktiven Verstehensorganisation gebunden. Während Fragen Verstehensprobleme im und mit dem Rahmen des bis dato Verstandenen dokumentieren, suchen Antworten eben diese Verstehensprobleme zu lösen und dokumentieren dabei zugleich - mehr oder weniger manifest und ausführlich - das Verständnis nicht nur der Frage, sondern auch ihres Äußerungs- und Handlungskontextes und wirken damit proaktiv auf den weiteren Interaktions- und Verstehensprozess ein. Vor allem antizipatorische Antworten dokumentieren inhaltliches Wissen der Patienten über den Interaktionstyp und damit verknüpfte ärztliche Relevanzen - die Untersuchung deutet darauf hin, dass Interaktionstypwissen auch inhaltlich über die Berücksichtigung von Relevanzstrukturen, Inferenzregeln und ontologischen Wissensdomänen zu fassen ist. Dass Patienten vielfach über das geforderte Antwortmaß hinausgehen, ist dabei kein Zufall, sondern gehört gemäß den Interaktionsprinzipien der Kooperation und Handlungsprogressivität zur interaktiven Verstehensorganisation und zur interaktiven Bildung von Intersubjektivität. Verstehen erweist sich so als ein Prozess, der tief in der Organisation von Interaktion und Kommunikation überhaupt verankert ist und mit reziproken interaktiven Handlungen vollzogen wird. <?page no="108"?> Thomas Spranz-Fogasy 108 02 Spranz-Fogasy_final 6. Literatur Atkinson, Maxwell (1984): Our masters' voices: The language and body language of politics. London/ New York. Balint, Michael (2001): Der Arzt, der Patient und die Krankheit. 10. Aufl. Stuttgart. Bilmes, Jack (1988): The concept of preference in conversation analysis. In: Language in Society 17, S. 161-181. Blakemore, Diane (1992): Understanding utterances. An introduction to pragmatics. Oxford. 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Einleitung Die Migrationsberatung 1 ist ein Handlungsfeld, in dem ganz unterschiedlich positionierte Akteure miteinander im Gespräch sind: Menschen, die nach erfolgter Migration aus einem Kulturkreis in einen anderen mit Problemen der Re-Stabilisierung ihrer Lebenslage und mit der Bewältigung von Integrationserfordernissen zu kämpfen haben, kommunizieren mit Mitarbeitern von Einrichtungen, die den Auftrag haben, den Migranten helfend und beratend zu Seite zu stehen. In der Migrationsberatung kommen in besonderem Maße Asymmetrien in den Beteiligungsvoraussetzungen und Beteiligungschancen zur Geltung. Sie interessieren in diesem Beitrag in ihrer Bedeutung für Verstehensprozesse, genauer gesagt, in ihrer Bedeutung für Verstehensaufgaben der jeweiligen Interaktionsparteien und für die kommunikativen Praktiken, mit denen diese Anforderungen bearbeitet werden. Ziel ist es, die Verstehensarbeit der Akteure in ihrer interaktionsfeldspezifischen Ausformung transparent zu machen. Dazu werden nach einer Beschreibung der empirischen Grundlagen und des Settings, in dem diese Daten gewonnen wurden (Kap. 2), die strukturellen Voraussetzungen des Wirksamwerdens feldspezifischer Verstehensaufgaben rekonstruiert. In diesem Teil der Studie (Kap. 3) werden insbesondere die mit der Institutionalisierung der Migrationsberatung geschaffenen pragmatischen Strukturen aufgezeigt; darauf aufbauend werden dann die jeweils besonderen sozialen Beteiligungsvoraussetzungen der Akteure hinsichtlich ihrer handlungsmethodischen Entfaltungsweisen charakterisiert. 1 Ich übernehme hier die Bezeichnung, die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und vom Bundesministerium des Inneren bei der Neukonzipierung der Beratungsdienste für Zuwanderer gewählt wurde. Bis zum Jahr 2005 gab es separate Beratungsdienste für Ausländer, Flüchtlinge und Aussiedler (vgl. Grothe 2008, S. 36). Die Klienten der Beratungsgespräche, die die empirische Grundlage dieser Studie bilden, sind russlanddeutsche Aussiedler. <?page no="118"?> Ulrich Reitemeier 118 Reitemeier_final Zentraler Kern der Verstehensarbeit von Interaktionsbeteiligten sind die in ihrem interaktiven Handeln gelieferten Verstehensdokumentationen - das Anzeigen dessen, wie vorgängige Aktivitäten eines anderen verstanden wurden und wie sich das eigene Handeln daran orientiert. Nach der überblicksartigen Darstellung von Verstehensaufgaben in der Migrationsberatung werden zwei interaktive Verfahren der Verstehensdokumentation detailliert untersucht. Ausgewählt wurde ein Verfahren, das für die professionelle Beteiligungsweise typisch ist (Kap. 4) und eines, das in seiner situationsflexiblen Verwendung für die klientenseitige Beteiligungsrolle kennzeichnend ist (Kap. 5). Bei der Beschreibung dieser beiden Verfahren kommt es mir nicht nur darauf an, ihr sequenzielles Funktionieren und ihre interaktionsstrukturellen Einbettungen aufzuzeigen, sondern auch darauf, herauszuarbeiten, wie im Gebrauch dieser Verfahren der Verstehensdokumentation mit feldspezifischen Handlungsrelevanzen umgegangen wird. 2. Datengrundlage und Kontext der Datengewinnung Das Datenmaterial für das Interaktionsfeld ‘Migrationsberatung’ stammt aus Beratungsstellen, die speziell für Spätaussiedler eingerichtet worden sind. Die Audio-Aufzeichnungen von insgesamt 17 Beratungsgesprächen sind 1995 im Rahmen des IDS -Projektes „Sprachliche Integration von Aussiedlern“ (siehe Berend 1998, Meng 2001, Reitemeier 2006) entstanden. Einige der Gespräche sind von relativ kurzer Dauer (nur wenige Minuten), andere wiederum dauern bis zu 30 Minuten und länger. Das Gesamtkorpus hat eine Dauer von knapp viereinhalb Stunden. Die Aufnahmen 2 stammen aus verschiedenen Beratungsstellen eines Wohlfahrtsverbandes in konfessioneller Trägerschaft. Vier der Beratungsstellen sind in Nordrhein-Westfalen, eine ist in Niedersachsen ansässig. Die Aufnahmeaktion wurde auf Veranlassung des für Aussiedler- und Flüchtlingsfragen zuständigen Referenten des Wohlfahrtsverbandes durchgeführt; ich hatte ihn im Zuge meiner Feldforschungsaktivitäten kennengelernt. Als er mich darauf ansprach, eine Fortbildung für die in der Aussiedlerhilfe dieses Wohlfahrtsverbandes tätigen Berater (Sozialarbeiter und Sozialpädagogen beiderlei Geschlechts) durchzuführen, erklärte ich mich dazu bereit, sofern aus dem Kreis der Teilnehmer authentisches Material aus der Beratungsarbeit zur Verfügung gestellt wird, das auch für wissenschaftliche Untersuchungszwecke ausgewertet werden kann. 2 Ich verwende für dieses Korpus die Kennziffer 7002, auf Gespräche aus diesem Korpus verweise ich unter Angabe der Transkript-Nr. (z.B. 7002.03) und eines Kurztitels (z.B. „Keine Wunderrepublik“). <?page no="119"?> Verstehensdokumentation in der Migrationsberatung 119 Reitemeier_final Die aufgezeichneten Beratungsgespräche fanden in den Büroräumen der vor Ort tätigen Trägereinrichtungen statt. Außer aus diesen Beratungsstellen liegen keine weiteren Datenmaterialien vor. Hintergrundinformationen zum institutionellen Setting und zur Arbeitsweise der Beratungsstellen für Aussiedler habe ich allerdings mittels ethnografischer Interviews mit Sozialarbeitern, die in der Aussiedlerhilfe in Baden-Württemberg tätig waren, erheben können. Bei den im Gesprächskorpus dokumentierten Interaktionsereignissen handelt es sich um Zwei-Parteien-Konstellationen. In acht Gesprächen sind dies dyadische Situationen, in neun Gesprächen waren auf Klientenseite zwei oder mehr Personen anwesend. In diesen Fällen handelt es sich entweder um Ehepaare, die gemeinsame Anliegen hatten, oder um Verwandte, die aus Gründen der besseren sprachlichen Verständigung hinzugezogen worden waren. In der Regel werden in den Beratungsgesprächen mehrere Probleme behandelt, nur in zwei Fällen kommt lediglich ein einziges Problem zur Sprache. In fünf Fällen haben die Problembetroffenen einen Sprachmittler hinzugezogen. Diese Funktion wird teils so wahrgenommenen, dass der Sprachmittler anstelle des Klienten redet, teils so, dass es zu kurzen nicht-deutschen Sequenzen zwischen Sprachmittler und Klientenpartei kommt, um Nachfragen zu klären oder Auskünfte zu übersetzen. Nicht immer handelt es sich um Probleme, von denen die Klienten oder ihr Familienverband selbst betroffen sind. In neun Fällen wird nicht nur ein eigenes Anliegen vorgebracht, sondern auch ein Problem von Angehörigen. In acht Fällen geht es ausschließlich um Probleme der anwesenden Klientenpartei. Zu den Inhalten der aufgezeichneten Beratungsgespräche: 3 Neben psychischen Belastungen und familiären Sorgen werden in den Beratungsgesprächen Fragen der Arbeitsplatzsuche und Möglichkeiten der beruflichen Förderung sowie rechtlich-administrative Angelegenheiten thematisch. Bei letzteren geht es zumeist um Aufnahmeregularien (Familienzusammenführung, Nachzug von Angehörigen, Verlängerung von Aufenthaltsbewilligungen) und um Fragen der deutschen Volkszugehörigkeit bzw. der Anerkennung des Spätaussiedlerstatus. 4 Andere rechtlich-administrative Beratungsinhalte lassen sich dem Sozialversicherungsrecht (Rentenanträge und -bescheide, Krankenversicherung) und dem Sozialhilfegesetz (Beanspruchung von Wohngeld und Sozialhilfe, Erziehungsgeld), dem Sorgebzw. Familienrecht sowie dem Ver- 3 Angaben zum Gesamtspektrum der Beratungsinhalte und zur bundesweiten Häufigkeitsverteilung dieser Inhalte finden sich in Reitemeier (2006, S. 173f.). 4 Ausführlicher hierzu Reitemeier (2006, S. 35-71). <?page no="120"?> Ulrich Reitemeier 120 Reitemeier_final kehrsrecht (Bußgeldbescheid) zuordnen. Die Präsentation und Rekonstruktion der rechtlich-administrativen Probleme erfolgt in den Beratungsgesprächen zumeist anhand schriftlicher Dokumente, die die Klienten mitgebracht haben. Die Verständigung zwischen Beratern und ratsuchenden Aussiedlern erfolgt auf Deutsch. Dabei werden auf Klientenseite Varietäten des Deutschen verwendet, die sich vom Sprachgebrauch der Berater deutlich unterscheiden. Teils sprechen die Klienten ein dialektales Deutsch, teils beherrschen sie die deutsche Sprache auf einem relativ guten Lernerniveau, verschiedentlich aber auch nur so, dass sie des kommunikativen Beistandes durch Angehörige bedürfen. In zwei Fällen kommt insofern eine ganz besondere Sprachverwendungsbedingung zum Tragen, als mit dem Zeigen von deutschen Sprachkenntnissen eine für anerkennungsrechtliche Fragen wichtige Verifikation von Deutschkenntnissen geleistet werden soll. 5 Von fundamentaler Bedeutung für die Verständigungsprozesse in der Migrationsberatung sind die in der Nachaussiedlungssituation bestehenden Beschränkungen im Handlungsvermögen und Wissen in Bezug auf zu bewältigende Aufgaben. So gründet die Ratbedürftigkeit deutschstämmiger Zuwanderer darin, dass sie gefordert sind, Angelegenheiten sowohl rechtlich-administrativer als auch lebenspraktischer Art abzuwickeln, es ihnen dazu aber an Routinewissen 6 mangelt. Sie gründet ferner darin, dass sie sich mit Handlungsanforderungen und Wissensbereichen auseinandersetzen müssen, die aufgrund des vollzogenen Wechsels in eine andere Gesellschaftsordnung wenig vertraut sind. Prägend für das kommunikative Geschehen in der Migrationsberatung ist somit, dass eine starke Asymmetrie in den Beteiligungsvoraussetzungen und Orientierungsrelevanzen der Akteure besteht: Während die Klienten oftmals ganz elementare Probleme haben, zu verstehen, worum es in der Sache geht, verfügen die Berater über Expertenwissen und über Kompetenzen zur Beschaffung relevanten Wissens. Und während Klienten in der Erlebnisperspektive existenzieller Betroffenheit Probleme fokussieren, sind die Berater nur partiell und nur im Rahmen ihres institutionellen Auftrags mit Problemen, die die Klienten haben, befasst. 5 Der Nachweis von Deutschkenntnissen ist neben der Abstammung von deutschen Eltern und der nachzuweisenden Bekenntnishaltung zur deutschen Kultur (hier genügt ein entsprechender Eintrag in hoheitsstaatliche Identitätspapiere) Voraussetzung dafür, als „deutscher Volkszugehöriger“ anerkannt zu werden. Die Anerkennung nach § 4 BVFG ist Voraussetzung für den Spätaussiedlerstatus, der u.a. eine günstigere rentenrechtliche Einstufung impliziert; sind die Voraussetzungen nicht erfüllt, was oftmals bei Familienangehörigen der Fall ist, erfolgt eine Aufnahme nach § 7, 2 BVFG oder gar nach dem Ausländerrecht. 6 Schütz/ Luckmann (1975, S. 118ff.) unterscheiden beim Routinewissen zwischen Fertigkeiten, Gebrauchswissen und Rezeptwissen. <?page no="121"?> Verstehensdokumentation in der Migrationsberatung 121 Reitemeier_final Der hier grob angerissene Grundsachverhalt der asymmetrischen Beteiligungsvoraussetzungen in der Migrationsberatung wird im Folgenden detaillierter beschrieben, und zwar mit Blick auf die daraus resultierende Pragmatik des Beratungshandelns und die dabei akut werdenden Verstehensanforderungen an die Beratungsparteien. 3. Pragmatische Strukturen und Verstehensaufgaben in der Migrationsberatung 3.1 Lebenslagenspezifische und institutionelle Voraussetzungen für Perspektivendivergenz Die Interaktionsrahmen der Migrationsberatung ist in besonderem Maße von ungleichen Beteiligungsvoraussetzungen bestimmt. 7 Zwischen den Akteuren besteht eine ungleiche Verteilung von Wissen und es bestehen unterschiedliche Betroffenheitsweisen hinsichtlich des Problems, das Gegenstand des Beratungsgespräches ist. Der Ratsuchende bzw. die Klientenpartei und der Berater gehen zwar ein Arbeitsbündnis ein, für das ein bestimmter Bearbeitungsgegenstand bzw. Problemsachverhalt konstitutiv ist und an dem der weitere Gang der Interaktion orientiert ist, auf diesen Gegenstand werden jedoch unterschiedliche Perspektiven eingenommen. Während die Perspektive des Ratsuchenden von Relevanzen bestimmt ist, die in seiner spezifischen Lebenslage gründen, ist die eines professionell tätigen Beraters durch eben diesen Beteiligungsstatus geprägt und sie erfährt durch die Zugehörigkeit zu einer Arbeitsorganisation bzw. zu einer öffentlichen Hilfeeinrichtung einen institutionenspezifischen Zuschnitt. Im Wesentlichen ist die Lebenslage der Aussiedler, die an den Gesprächen aus der Migrationsberatung beteiligt sind, durch folgende Umstände bestimmt: Kulturelle Fremdheit: Aussiedler befinden sich in einer Phase des Übergangs von einem gesellschaftlich-kulturellen System in ein anderes; in dem System, in dem sie Aufnahme gefunden haben, befinden sie sich in der Marginalitätsposition und haben den Prozess der strukturellen Integration (gleichberechtigte Teilhabechancen auf dem Bildungs-, Arbeits- und Wohnungsmarkt) noch nicht abgeschlossen; auch sind viele institutionelle Handlungs- und Funktionsabläufe in diesem System intransparent (so lernen Aussiedler die Profession des Sozialarbeiters oder Sozialpädagogen erst in Deutschland kennen). 7 Grundlegend zu asymmetrischen Beteiligungsvoraussetzungen von Beratungsinteraktion Kallmeyer (1985, 2000), Nothdurft/ Reitemeier/ Schröder (1994) sowie Habscheid (2003). <?page no="122"?> Ulrich Reitemeier 122 Reitemeier_final Anerkennungsrechtliche Statusunsicherheit: Nach der Einreise befinden sich die russlanddeutschen Zuwanderer zumeist in einer Situation, in der ihr anerkennungsrechtlicher Status noch ungeklärt ist und in der sie unter dem Beweisdruck einer Identität als „deutsche Volkszugehörige“ (so der Rechtsterminus) stehen. 8 Die statusrechtlich nicht geklärte Situation impliziert Unsicherheiten hinsichtlich der finanziellen Zukunft (so setzen Maßnahmen der beruflichen Förderung voraus, dass Fragen des Anerkennungsstatus geklärt sind; Gleiches gilt für die Behandlung von Rentenansprüchen usw.). Ungleichwertige Deutschkenntnisse: Aussiedler befinden sich in einer Sprachsituation, in der sie das Deutsche nicht auf dem Kompetenzniveau der Inlandsdeutschen beherrschen; im Kontakt mit diesen fungieren die mitgebrachten russlanddeutschen Dialekte und das lernersprachliche Deutsch als Differenz- und Stigmatisierungsmerkmale. Existenzielle Problembelastung: Der Kontakt zur Beratungsstelle wird aufgrund persönlicher, familiärer und alltagspraktischer Belange aufgenommen; so befinden sich Aussiedler in einer Lebenslage, in der der Nachzug von Familienangehörigen und der Prozess der Familienintegration im Aufnahmeland eine Hauptsorge neben der finanziellen Absicherung ist. Diese lebensweltlichen Erfahrungsbedingungen können etwa in der Weise in das Beratungsgespräch eingehen, dass neben rechtlich-adminstrativ zu klärenden Sachverhalten die lebensweltlich-subjektive Erlebnisperspektive zur Sprache kommt (z.B. wenn unter Hinweis auf den Krieg in Tschetschenien und auf die Rekrutierungspraxis des russischen Militärs auf raschere Bearbeitung eines Antrags auf Nachzug eines Familienangehörigen gedrungen wird). Während die Beteiligungsperspektiven der Klienten entscheidend von Fremdheits-, Marginalisierungs- und Deprivationserfahrungen geprägt sind, sind die Perspektiven der Berater durch ein höheres Maß an Vertrautheit mit den Lebensbedingungen im Aufnahmeland und mit den Ablaufmustern institutionellen Handelns bestimmt. Zumindest die erfahrenen Berater verfügen zudem über fundierte Kenntnisse von den Lebensbedingungen, denen Aussiedler im Herkunftsland ausgesetzt waren, über deren Lebenssituation in Deutschland und über typische Migrantenschicksale. Vor allem aber verfügen die Berater über das Routinewissen, das den Ratsuchenden fehlt, auch verfügen sie durch Ausbildung und Berufserfahrung zumeist über das Spezialwissen, das für die Bearbeitung bestimmter Problematiken nötig ist. Sollte es ihnen einmal an speziel- 8 Diesem Beweisdruck ist insbesondere durch Gebrauch der deutschen Sprache nachzukommen. <?page no="123"?> Verstehensdokumentation in der Migrationsberatung 123 Reitemeier_final len Wissensbeständen mangeln, können sie auf externe Instanzen zurückgreifen und deren Wissensquellen mit ausschöpfen. In den vorliegenden empirischen Materialien sind dies beispielsweise Kommunal-, Landes- und Bundesbehörden, die mit Aufnahme- und Anerkennungsverfahren befasst sind, außerdem die Bundesanstalt für Arbeit mit ihren Ämtern vor Ort, Ausbildungsstätten und potenzielle Arbeitgeber, Gerichte, Polizeibehörden und Rechtsanwälte. Das Rezept- und Spezialwissen der Berater wäre in seiner Relevanz für die Ausformung von Beteiligungsperspektiven verkannt, würde man es lediglich als Fundament von Wissens- und Kompetenzvorsprung ansehen. Der Wissens- und Kompetenzvorsprung, der im Verhältnis zum ratsuchenden Aussiedler besteht, unterliegt bestimmten Anwendungsbedingungen. Unter Berücksichtigung dieser Bedingungen erschließt sich die besondere Perspektivität der Berater auf ihre Klienten und auf deren Problematiken. Für die hier verfolgten Untersuchungsinteressen soll es genügen, diese Anwendungsbedingungen stichwortartig aufzuzeigen: Rechtsbindung: Das, was die Berater bei bestimmten Problemen an Wissen weitergeben können, ist weitgehend festgelegt durch geltendes Recht und durch verfahrensmäßige Abwicklungsprozeduren. Intermediarität: Ein Großteil der Probleme, zu deren Bewältigung die Berater beitragen, besteht deshalb, weil die Klienten mit behördlichen Regelungsprinzipien und Kommunikationsweisen nicht klarkommen. Die Berater sollen bei der Bewältigung dieser Probleme helfen, insofern nehmen sie eine Vermittlerfunktion zwischen den Zuwanderern und den für ihren Aufnahme- und Eingliederungsprozess wichtigen Institutionen ein (im Zusammenspiel mit der Bindung an rechtlich-administrative Regelungen kann sich bei den Beratern eine gewisse Parteilichkeit zu Gunsten der Einrichtungen hoheitsstaatlichen Handelns einstellen). 9 Ökonomieorientierung: Beratungsgespräche werden gewöhnlich unter der Bedingung des ‘vollen Wartezimmers’ bzw. des ‘vollen Terminkalenders’ geführt; Effizienzorientierung in der Beratungsarbeit hat aber nicht nur etwas mit der Knappheit von Zeitressourcen zu tun, sondern auch damit, das nicht alles zum Problem werden kann, was für die Klientenpartei problematisch ist. Parteilichkeit zu Gunsten der Klientel: In der Migrationsberatung tätig zu sein heißt nicht nur über Wissens- und Bearbeitungskompetenzen zu verfügen, es heißt auch dienst- und hilfeleistungsbereit zu sein, sich im Rahmen der bestehenden Möglichkeiten der Interessen der Klienten anzunehmen; mit Par- 9 Siehe hierzu auch Reitemeier (2006, S. 263ff.). <?page no="124"?> Ulrich Reitemeier 124 Reitemeier_final teilichkeit ist hier also nicht unbedingte und grenzenlose Solidarisierung mit den Problembetroffenen gemeint, sondern eine Präferenz dafür, im Sinne und zum Vorteil der Klienten tätig zu sein. 10 3.2 Das Handlungsschema der Beratungsinteraktion und Verstehensaufgaben der beteiligten Akteure In der Migrationsberatung geht es - wie in anderen Beratungssituationen auch - um den Transfer von Wissensbeständen bzw. um die Anwendung spezifischen Wissens, über das ein Akteur verfügt, auf Probleme, die ein anderer Akteur hat. Gefordert ist, die jeweiligen Handlungsperspektiven und Interaktionsstandpunkte so weit anzugleichen, dass Wissenstransfer möglich wird, dass fehlendes Wissen bzw. eine spezifische Sicht auf einen problematischen Sachverhalt kommuniziert und dieses Wissen als ‘lösungstauglich’, als ‘hilfreich’ usw. vom Problembetroffenen ratifiziert wird. Im Weiteren sollen die pragmatischen Strukturen der Migrationsberatung freigelegt werden, indem diesen Konstituenten asymmetrischer Interaktionsverhältnisse nachgegangen und danach gefragt wird, wie sie sich im beraterbzw. klientenspezifischen Beteiligungsverhalten manifestieren. Angestrebt wird eine Beschreibung der handlungsmethodischen Entfaltungsprinzipien der jeweiligen Beteiligungsperspektiven im Hinblick auf dabei akut werdende Verstehensaufgaben. Diese Beschreibung soll auf der Folie der für Beratungsinteraktion charakteristischen handlungsschematischen Aktivitätskerne erfolgen. Dies ist notwendig, um den Stellenwert von Verstehensaufgaben und die Funktionalität ihrer Bearbeitungsverfahren im Verlauf eines Beratungsgespräches bestimmen zu können. 11 10 Dass das Parteilichkeitsprinzip mit den anderen Anwendungsbedingungen kollidiert und durch diese eingeschänkt wird, soll nicht bestritten werden. Das Parteilichkeitsprinzip ist in der Institutionalisierung der Migrationsberatung insoweit angelegt, als in den Programmen und Selbstbeschreibungen der Trägereinrichtungen festgelegt worden ist, auf den Identätswandel der Zuwanderer in spezifischer Weise Einfluss zu nehmen. Dies zeigt sich in solchen Zielformulierungen wie „Hilfegewährung bei persönlichen Schwierigkeiten“; „Hilfe bei Problemen mit administrativen Abläufen und in anerkennungs- und leistungsrechtlichen Angelegenheiten, Übungsfeld für schwierige Anforderungen im Umgang mit Behörden, Kompensation sprachlicher Schwierigkeiten durch Einräumung von mehr Beratungszeit“, die sich in Dokumentationstexten der Trägerverbände von Beratungsstellen finden (vgl. Caritasverband für das Kreisdekanat Neuss e.V. 1992; ähnlich lautende Zielformulierungen finden sich auch in Deutsches Rotes Kreuz 1997). 11 Hingegen wird mit der Rekonstruktion handlungsmethodischer Entfaltungsprinzipien der Beteiligungsperspektiven der Berater und der Klienten der Migrationsberatung in Kap. 3.3 ein Bezugsrahmen aufgespannt, der stärker auf interaktionsfeldspezifische Konstitutionszusammenhänge von Verstehensaufgaben und ihren Bearbeitungsverfahren verweist. <?page no="125"?> Verstehensdokumentation in der Migrationsberatung 125 Reitemeier_final Die allgemeine Ablaufstruktur handlungsschematischer Aktivitätskerne des Beratens lässt sich in Anlehnung an Nothdurft/ Reitemeier/ Schröder (1994, S. 10) folgendermaßen wiedergeben: - Situationseröffnung mit Instanzeinsetzung (Regelung der Zuständigkeit, Zuschreiben von Kompetenz) - Problempräsentation (Problemdarstellung, Anliegensformulierung, Aufforderung zur Lösungsbeteiligung) - Lösungsentwicklung und Lösungsverarbeitung (Entwicklung von allgemeinen Lösungsmöglichkeiten und/ oder konkreter Lösungsvorschlag, Ratifizierung) - Situationsauflösung (‘Entlastung’ des Beraters, Honorierung seiner Leistung, ‘Entlastung’ des Ratsuchenden. Auf der Folie dieses allgemeinen Aktivitätsprogramms der Beratungsinteraktion lassen sich die handlungsschematisch gebundenen Verstehensaufgaben folgendermaßen darstellen: Für die Klienten der Migrationsberatung besteht Verstehensarbeit vor allem darin, ihr Anliegen, ihre Rat- und Hilfebedürftigkeit und die von ihnen verfolgten Handlungspläne (wie ausgereift auch immer sie sein mögen) dem Berater oder der Beraterin verstehbar zu machen. Erst wenn die klientenseitigen Erwartungsfahrpläne vom Professionellen ‘richtig’ verstanden worden sind, ist ein entsprechendes Ausschöpfen beruflicher Kompetenzen und institutioneller Ressourcen möglich. Ein wichtiger Teilaspekt kann hier sein, dass ein Problembetroffener seine Identitätslage (biografische und familiäre Situation, Stand des statusrechtlichen Verfahrens, Wohn- und Arbeitssituation usw.) verstehbar machen muss, nicht nur um adäquate Hilfe zu bekommen, sondern auch um Anspruchsberechtigung dokumentieren zu können. Da an der Bearbeitung der Probleme eines Migranten oftmals noch andere Institutionen (Arbeitsamt, Einbürgerungsbehörde, Ausbildungsstätten u.a.m.) beteiligt sind, besteht für ihn auch die Notwendigkeit, dem Berater verstehbar zu machen, wie er selbst deren Bearbeitungsresultate verstanden hat. Des Weiteren gehört es zur Verstehensarbeit der Klienten, zu verstehen, wie die Raterteilungen und Problemlösungsvorschläge, die die Professionellen ihnen darbieten, zu ihren eigenen Erwartungsfahrplänen passen. Sofern dabei massive Erwartungsenttäuschungen aufkommen, stellt sich ihnen die Aufgabe, eigene Unzufriedenheit mit dem Beratungsergebnis und womöglich die Forderung nach einem anderen Resultat dem Professionellen verstehbar zu machen. <?page no="126"?> Ulrich Reitemeier 126 Reitemeier_final Mit dem theoretisch und praktisch erworbenen Wissen über die Klienten müssen Berater die Spezifik des Problemfalles, den ein Klient präsentiert, erfassen, um dann geeignete Problembearbeitungsaktivitäten initiieren zu können. Dabei müssen sie auch verdeutlichen, nach welchen Relevanzgesichtspunkten sie den Fall behandeln, welche Fallaspekte unter welcher kategorialen Perspektive für die Beratung relevant sind und welche nicht. 12 Ist die Fallspezifik erfasst und sind die bearbeitungsrelevanten Kriterien verdeutlicht worden, sind die Berater gefordert, ein Bearbeitungsergebnis als solches verstehbar, aber auch ‘abnahmefähig’ und akzeptabel zu machen. Über diese, dem handlungsschematischen Zweck der Beratung geschuldete, Verstehensarbeit können sich die Berater noch mit einem anderen Typ von Verstehensarbeit konfrontiert sehen: Weil es sich um Klienten handelt, die fremdkulturelle Orientierungsrelevanzen noch nicht abgestreift haben und die gezwungen sind, sich in einer für sie (noch) fremden Sprache verständlich zu machen, müssen sie auch gewahr sein, dass die von den Problembetroffenen zu leistende Arbeit des Sich-Verstehbar-Machens diesen selbst Schwierigkeiten bereitet. Es kann dann zu den Aufgaben der Berater gehören, Klienten quasi kommunikative Hilfestellungen bei dem Versuch, sich verstehbar zu machen, zu geben. Desgleichen müssen sie gewahr sein, dass auf Seiten der Klienten unzulängliche Voraussetzungen für das Verstehen der beraterseitigen Aktivitäten vorliegen, so dass gesonderte Anstrengungen zur Absicherung des richtig verstanden Werdens erforderlich sind. 3.3 Verstehensaufgaben der Akteure der Migrationsberatung als Resultat der Entfaltungsmethodik ihrer Handlungsperspektiven Nachdem ich ausgehend von Beteiligungsasymmetrien und handlungsschematischen Aktivitätskernen die Verstehensaufgaben der Migrationsberatung in ihrer Typikalität charakterisiert habe, geht es nun darum, das Akutwerden von Verstehensaufgaben stärker unter dem Gesichtspunkt ihrer interaktiven Erzeugung zu beleuchten. Ausgangspunkt ist hier also der Grundtatbestand, dass mit der Darstellung und Geltendmachung der jeweiligen Handlungsrelevanzen sowohl eigene Verstehensaufgaben bearbeitet als auch Verstehensaufgaben für das Gegenüber erzeugt werden. 12 Prinzipiell ist in der Migrationsberatung der Verdeutlichungsaufwand der für das professionelle Problembearbeitungshandeln maßgeblichen Gesichtspunkte deutlich höher als bei der ärztlichen Behandlung (siehe Spranz-Fogasy, in diesem Band) <?page no="127"?> Verstehensdokumentation in der Migrationsberatung 127 Reitemeier_final Für die tiefergehende Rekonstruktion von Verstehensanforderungen in der Migrationsberatung wähle ich eine Vorgehensweise, die bei der interaktiven Entfaltung beteiligungsspezifischer Relevanzen ansetzt. 13 Bei dieser Herangehensweise wird das Beteiligungsverhalten der Beratungsakteure stärker in seinen situationsstrukturellen Vorgaben (vgl. Schneider 2004, S. 276) fokussiert, als dies bei dem auf Ablauforganisation und Verlaufsgestalt abzielenden Konzept ‘Handlungsschema’ der Fall ist. Die Generierungsmechanismen der für dieses Interaktionsfeld typischen Verstehensaufgaben lassen sich so mit engerem Bezug auf die pragmatischen Orientierungsweisen der Beteiligten und mit engerem Bezug auf die sich dabei entfaltenden subjektiven Handlungsrelevanzen und ihre sozialen Fundierungen beschreiben. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, dass sich die Anforderungen an das Verstehen [...] nicht beschränken [lassen; U.R.] auf korrektes Erkennen aktueller Bedeutungsintentionen und erfüllter Bedeutungskonventionen. Beide [Bedeutungsintentionen und -konventionen; U.R.] spielen vor einem kommunikativ unthematischen Hintergrund subjektiver Relevanzen, die so lange nicht mitverstanden werden müssen (und im Prinzip nie vollständig verstanden werden können) wie keine Ereignisse auftauchen, durch die es für die Kommunikation bedeutsam wird, ob Beiträge unter Berücksichtigung dieser Relevanzen konzipiert werden oder nicht. (Schneider 2004, S. 322; Hervorhebungen im Original) Um der besonderen Bedeutung der „unthematisierten“, aber verstehens- und interpretationsleitenden Relevanzen und Erfahrungshintergründe bei der Rekonstruktion von Verstehensanforderungen gerecht werden zu können, setze ich bei den jeweiligen Beteiligungsperspektiven an, die in diesem Kapitel aber nur in ihrer Typikalität, nicht - wie in Kapitel 4 - in fallspezifischer Ausprägung in den Blick genommen werden können. Im Folgenden versuche ich zu zeigen, wie die Entfaltung beteiligungsspezifischer Relevanzen der Klienten der Migrationsberatung auf Orientierungen und Kompetenzen der Berater trifft und wie dabei spezifische Verstehensanforderungen emergieren (und vice versa). Bei der Darstellung der beteiligungsspezifischen Situationsbezüge beginne ich mit denen, die typisch für das Handeln der Berater sind. Damit soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass sie als Situationsmächtige den Einstieg und die Auflösung der Beratungssituation organisieren und es zu ihren institutionalisierten Beteiligungsaufgaben gehört, Bedingungen für die Entfaltung der Klientenperspektive vorzugeben. 13 Auf die grundsätzliche Bedeutung sozialer Rahmenbedingungen und interaktiver Beteiligungsvoraussetzungen bei der Generierung von Verstehensanforderungen macht Schneider (2004, S. 322) aufmerksam: „Die Anforderungen an die Tiefenschärfe des Verstehens sind je nach Art der sozialen Beziehung unterschiedlich.“ <?page no="128"?> Ulrich Reitemeier 128 Reitemeier_final 3.3.1 Entfaltungsprinzipien der professionellen Beteiligungsperspektive und dadurch akut werdende Verstehensanforderungen für die Klientenpartei Meine Ausgangsthese ist, dass die an der Migrationsberatung beteiligten Akteure von vornherein an institutionellen Handlungsbedingungen und asymmetrischen Beteiligungsvoraussetzungen orientiert sind. Seitens der Berater zeigt sich dies vor allem daran, dass ihr professionelles Engagement primär an Statuskategorien orientiert ist, daran, dass sie eine Aufsichts- und Kontrollperspektive auf Klientenprobleme und Klientenverhalten einnehmen sowie daran, dass sie zwar einen Prozess der Perspektivenangleichung in Gang bringen, diesen aber auch systematisch begrenzen. Im Folgenden seien diese handlungsmethodischen Prinzipien näher erläutert. Gezeigt wird, dass die Entfaltungsprinzipien insofern folgenreich für die Beratungsinteraktion sind, als sie spezifische Verstehensanforderungen für die Klientenpartei implizieren. 3.3.1.1 Ausrichtung des professionellen Engagements an Statusmerkmalen Die oben erwähnte Rechtsbindung und die intermediäre Stellung der Migrationsberatung schlagen sich in den Beratungssituationen darin nieder, dass Statuskategorien von Orientierungsrelevanz sind. Im Gebrauch von Statuskategorien werden Rechtsansprüche und Rechtsfolgen konstruiert. In den hier zugrunde liegenden empirischen Materialien betreffen sie vor allem den Spätaussiedlerstatus, den Nachzug von Familienangehörigen, Unterstützungsleistungen nach dem Sozialhilfegesetz und nach dem Rentengesetz. Es sind aber auch solche Statuskategorien von Relevanz, aus denen Optionen für Ausbildungs- und Weiterbildungsmaßnahmen und für das Beschäftigungssystem resultieren, etwa die Teilnahme an einer beruflichen Qualifizierungsmaßnahme (solche Optionen wahrzunehmen setzt das Vorliegen zertifizierter Qualifikationsmerkmale voraus, geht aber auch einher mit diskursiven Rekonstruktionen von Bildungs- und Berufsbiografien). Das Vorliegen bestimmter Statusmerkmale ist ausschlaggebend für beraterseitige Aktivitäten des Wissenstransfers und der Aufklärung über Sachverhalte, die die Klientenpartei im weiteren Umgang mit ihrem Problem bedenken muss (detailliert hierzu Kap. 5). Das Erfassen statusrelevanter Daten ist vor allem bei Erstkontakten von Ratsuchenden ein zentraler Bearbeitungsschritt. Die arbeitsorganisatorische Notwendigkeit, sich an formalen Statusmerkmalen zu orientieren, macht diese Merkmale zur entscheidenden Gestaltungsressource der Beratungsbeziehung und damit auch zu einem Strukturierungsprinzip beraterischer Verstehensleistungen. Anders gesagt: Die Bewältigung der Aufgabe, das Anliegen und das <?page no="129"?> Verstehensdokumentation in der Migrationsberatung 129 Reitemeier_final Problem der Klientenpartei zu verstehen, erfolgt in Orientierung an statuskonstitutiven Merkmalen. So sind Statusmerkmale ausschlaggebend dafür, ob Bearbeitungszuständigkeit vorliegt, ob es sich um ein ‘bearbeitungsfähiges’ Problem handelt und auch dafür, welche Wege der Problemlösung überhaupt in Betracht kommen. Unter diesen Bedingungen ist das Erheben und Feststellen solcher Merkmale ein unmittelbar verstehensrelevanter Vorgang. Der Gebrauch von Statuskategorien als Verstehensressource manifestiert sich auf verschiedene Weisen: im gemeinsamen Durchgehen von Formularen; im Herausfiltern und Reformulieren rechtlich relevanter Daten aus den Schilderungen der Klienten; in eigens initiierten Frageprozeduren, die behördlichen Erfassungs- und Beurteilungskriterien Rechnung tragen; im Durchlesen und Übersetzen von Schriftstücken, die den Beratern ausgehändigt werden, letztlich sogar im Modus der persönlichen Inaugenscheinnahme, wie das folgende Zitat aus einem Transkript belegt: Wenn ich Sie so anschaue, wie steht es denn mit ihrer Rente? 14 Typische Gesprächsaktivitäten, in denen sich beraterseitiges Orientieren an bzw. beraterseitiges Verstehen mittels Statusmerkmalen manifestiert, sind: - Erhebung weiterer Falldaten per Frageschemata; - Auflistung des noch Fehlenden (Aktivitäten, in denen der Berater darüber informiert, was er zur Bearbeitung des Problems noch benötigt); - Einsicht in Schriftdokumente und das Zitieren rechtlich-administrativ relevanter Textpassagen; - Übersetzungen von Klientenäußerungen in die Rechtsterminologie (Beispiel: Aha, dann hat er Pargraph sieben zwei, ja Frau Meinefeld, dann ist er nicht fremdrentenberechtigt; Transkript 7002.01; „Meine Kinder meine erste Probleme“); - Entwickeln von Lösungsvorschlägen unter Bezugnahme auf rechtliche Optionen; dass das Problem des Klienten in hinreichender Form verstanden worden ist, dokumentiert sich hier insbesondere im Vorschlagen von Vorgehensweisen, die auf die Durchsetzung von Rechtsansprüchen zugeschnitten sind, zum Beispiel wenn einer Klientin empfohlen wird, einen Rechtsanwalt hinzuzuziehen (wie im Fall 7002.09; „Touristenvisum“) oder wenn einem Klienten vorgeschlagen wird, sich bezüglich einer größeren Wohnung im Wohnungsamt immer wieder ins Gespräch zu bringen (Transkript 7002.01; „Meine Kinder meine erste Probleme“); 14 In Satzform umgearbeitetes Zitat aus Transkript 7002.01; „Meine Kinder meine erste Probleme“. <?page no="130"?> Ulrich Reitemeier 130 Reitemeier_final - Orientierung über nicht beeinflussbare Verfahrensschritte, etwa die Bearbeitungszeit eines Antrags zur Einreise von Familienangehörigen (Sie wissen, dass das jetzt circa ein Jahr dauert? Transkript 7002.06; „Papiere schneller machen“); - Auskunftseinholung bei externen Stellen; die schriftlich oder telefonisch eingeholten Informationen beziehen sich auf rechtlich-administrative Aspekte, die der Klientenpartei nicht oder nicht richtig bekannt, aber für das Verständnis und die Bearbeitung des problematischen Sachverhalts außerordentlich wichtig sind. Im Vollzug solcher Eruierungs- und Sondierungsaktivitäten stellt sich ein Verstehen dessen ein, worum es im konkreten Fall geht. Im Wesentlichen vollziehen die Berater dabei Verstehensleistungen subsumtionslogischer Art: Sie erfassen personenbezogene Daten; über das Vorliegen oder Nichtvorliegen bestimmter Daten nehmen sie dann Zuordnungen zu vorgegebenen Statuskategorien formalrechtlicher Art vor. Von wegweisender Bedeutung sind dabei statusbzw. einbürgerungsrechtlich relevante sowie demografische Merkmale, anhand derer sich sodann der Relevanzbereich abstecken lässt, in dem der weitere Problembearbeitungsgang erfolgt. Bezogen auf die Ablaufstruktur des Handlungsschemas ‘Beraten’ ist festzuhalten, dass Statuskategorien im Anschluss an die klientenseitige Problemdarstellung und im Zuge der gemeinsamen Rekonstruktion des Problemsachverhalts sowie bei der Entwicklung von Lösungen des Klientenproblems eine hohe Orientierungsrelevanz zukommt. Welche Verstehensanforderungen aber resultieren nun für die Klientenpartei daraus, dass das beraterische Tätigsein an Statuskategorien ausgerichtet ist? Im Idealfall sollte der Klient diese Relevanzen schon antizipieren und seinen Fall demgemäß darlegen, entsprechende Nachweise beibringen etc. Aber über dieses spezielle Wissen verfügen die Klienten zumeist nicht in ausreichendem Maße. Daher kann es zu ihren Anforderungen gehören, zunächst einmal zu verstehen, warum jene Aktivitäten, die der Statusklärung dienen, notwendig sind. Dem Klienten muss ferner einsichtig sein, dass das Erfassen bestimmter persönlicher oder familiengeschichtlicher Daten zur Regelung der Angelegenheit, die die Klientenpartei in die Beratungsstelle geführt hat, notwendig ist. Diese Erfordernisse müssen beraterseitig nicht expliziert werden, wenn die Klientenpartei über die administrativen bzw. behördlichen Prinzipien von Statuskonstruktion im Bilde ist, was gewöhnlich der Fall ist. Maßgeblich trägt dies dazu bei, dass die Klienten zumindest mit dem Durchlaufen des <?page no="131"?> Verstehensdokumentation in der Migrationsberatung 131 Reitemeier_final vom Gesetzgeber geforderten Aufnahme- und Anerkennungsverfahrens mit obligatorischen Prozeduren der Statusfeststellung und -überprüfung in Institutionen vertraut gemacht worden sind (ich komme auf diesen Aspekt in Kap. 3.5 zurück). Verstehenssicherung findet gewöhnlich im Vollzug der oben genannten Aktivitäten und in fraglos vollzogenen Anschlusshandlungen der Klientenpartei statt. In solchen Fällen, in denen die Rechtsmaterie sehr kompliziert ist, sind allerdings ausgebaute Aktivitäten des Erklärens und Aufklärens erforderlich, die dann zumeist auch eigene Sequenzen der Verstehenssicherung im Gefolge haben. 3.3.1.2 Einnahme einer Aufsichts- und Kontrollperspektive Mit der Ausrichtung der Beratungsarbeit an Statusmerkmalen ist eng verknüpft, dass Berater in einer Aufsichts- und Kontrollhaltung agieren. Diese ist zum einen bezogen auf die Daten, die die Klientenpartei über klärungs- und regelungsbedürftige Angelegenheiten beisteuert, zum anderen auf den zurückliegenden und auch auf den künftigen Umgang der Klientenpartei mit diesen Angelegenheiten. Besonders deutlich kommt dieser normative Orientierungsbezug zum Vorschein, wenn es um den Nachweis oder um die Aneignung der für die Zuerkennung des Spätaussiedlerstatus wichtigen Sprachkenntnisse im Deutschen geht. Aber auch mit Blick auf den klientenseitigen Umgang mit behördlich zu erledigenden Angelegenheiten kommt die Überwachungsperspektive zum Tragen. 15 Die Aufsichts- und Kontrollperspektive fokussiert das Problemlösungsverhalten, das ein Klient außerhalb der Beratungssituation an den Tag gelegt hat, das er möglicherweise noch zeigen wird oder noch zeigen muss. Dies findet seinen Niederschlag in Symbolisierungen, die dem Klienten zu verstehen geben, dass er unter der Kuratel des Beraters steht, dass jener ihm zur Seite steht, aber auch den klientenseitigen Umgang mit Problemen bzw. die Problemlösungsanstrengungen der Klientenpartei regelrecht beaufsichtigt. Die Relevanz von Statusmerkmalen bei den zu bewältigenden Problemen bringt vor allem mit sich, dass auf klientenseitige Angaben mit Prüfprozeduren reagiert wird - es gilt schriftliche Unterlagen zu sichten, ihre Korrektheit und Vollständigkeit festzustellen. Aber nicht allein die Sorge um administra- 15 In Einahme einer Aufsichts- und Kontrollperspektive kann es leicht zu Verletzungen reziprozitätskonstitutiver Idealisierungen bzw. von Interaktionspostulaten durch Berater kommen; siehe dazu auch Kap. 4.4.5. <?page no="132"?> Ulrich Reitemeier 132 Reitemeier_final tive bzw. rechtliche Korrektheit von Schriftsätzen und Angaben in Formularen gibt Anlass, einen kontrollierenden Blick einzunehmen, hier spielen auch Erfahrungen mit Klienten hinein, die bei der Erledigung behördlicher Angelegenheiten ungeschickt oder nachlässig waren, Erfahrungen, in denen ein prinzipielles Misstrauen gegenüber der Erledigungsweise bürokratischer Angelegenheiten durch die Klienten gründet. Typische Gesprächsaktivitäten, in denen sich die Einnahme der Aufsichts- und Kontrollhaltung realisiert, sind: - Verstehensappelle (sie gehen darauf zurück, dass es zwingend geboten ist, dass die Klientenpartei bestimmte Fakten zur Kenntnis nimmt, in ihre Problemsicht einbezieht usw., sich damit aber noch schwer tut); - detaillierte Handlungsanweisungen mit hohem instruktiven Charakter (Beispiel: Sie müssen dann auch allerdings mit der ehemaligen Bevollmächtigten sprechen, auch müssen die Kinder einverstanden sein. Transkript 7002.01; „Meine Kinder meine erste Probleme“); - autoritative Verdeutlichungsleistungen (Beispiel: Sie müssen das unbedingt klären; Transkript 7002.09; „Touristenvisum“); - Bearbeitung der inneren Haltung des Klienten im weiteren Umgang mit dem Problem (Aufforderung, Ruhe zu bewahren, sich in Geduld zu üben usw.); - Korrektur klientenseitiger Fehleinschätzungen (Beispiel: Das können Sie sich nicht leisten; der Klient hatte zuvor die Absicht geäußert, eine größere Wohnung zu beziehen; Transkript 7002.11; „Angemessene Unterkunftskosten“); - evaluative Stellungnahmen zu Handlungsschritten oder klientenseitig präferierten Lösungsvorstellungen; - Motivfragen (Fragen nach den Gründen, die einen Klienten veranlassen, sich auf einen bestimmten Lösungsentwurf, der aber vom Berater als weniger sinnvolle Lösung angesehen wird, zu kaprizieren); - Klarstellungen von Problemverantwortlichkeit (insbesondere unter Hinweis auf Unterlassungshandlungen der Klientenpartei). Bei der Einnahme des ‘kontrollierenden Blickes’ wird mit Fallkenntnissen über einzelne Personen und über Familienkonstellationen (in schriftlichen Dokumenten oder in vorausgegangenen Kontakten mit der Klientenpartei und ihren Familienangehörigen gewonnen) operiert. Das Fundament dazu ist al- <?page no="133"?> Verstehensdokumentation in der Migrationsberatung 133 Reitemeier_final lerdings mit einer generellen Unterstellung kulturell defizitären Orientierungsverhaltens und defizitärer Kompetenzausstattung der Zuwanderer gelegt (wie eine solche Unterstellung von einem Berater kommuniziert wird, zeige ich exemplarisch in Kap. 5.3.6.1). Dass die Professionellen der Migrationsberatung eine Aufsichts- und Kontrollperspektive einnehmen, gründet in den Zweckbestimmungen und Funktionserfordernissen dieser Form der Integrationshilfe. In der Beratungsarbeit besteht zum einen eine Bindung an formal-rechtliche Statuskonstruktionen; diese Bindung begründet einen Verifikationsvorbehalt bezüglich der biografischen und familiengeschichtlichen Daten, die im Rahmen des Arbeitsbündnisses relevant werden. Zum anderen besteht ein generalisiertes Bild, das die Probleme der Zuwanderer im Umgang mit administrativ-rechtlichen und lebenspraktischen Anforderungen auf kulturelle Differenzen zurückführt. Dies impliziert die Unterstellung eines den Anforderungen des Integrationsprozesses nicht angemessenen, kulturell disparaten Handlungs- und Orientierungsvermögens. Aus der Einnahme der Aufsichts- und Kontrollperspektive resultieren Interaktionsergebnisse, die sichtbar machen, wie behördliche, verwaltungstechnische und auch vorgängige beraterische Auflagen von der Klientenpartei verstanden worden sind. Sofern die Ergebnisse der Aufsichts- und Kontrollpraktiken negativ ausfallen, können neuerliche oder verstärkte Anstrengungen des Verstehbarmachens der Notwendigkeit bestimmter rechtlich-administrativer Erledigungsschritte 16 wichtig für das Beratungsgeschehen werden. Die Frage, wie Berater Verstehensprobleme auf Seiten der Klientenpartei wahrnehmen, wenn sie in der Aufsichts- und Kontrollhaltung agieren, lässt sich hier nur allgemein beantworten. Auf die prinzipielle Unterstellung defizitärer Wissens- und Kompetenzausstattung habe ich bereits hingewiesen; Verstehensprobleme von Klienten werden im Vollzugshandeln somit konzeptualisiert als „falsche Vorstellungen, von dem was geht und was nicht geht“, als „kein richtiger Durchblick bei den rechtlich-administrativen Abläufen“ und als „nicht wissen können, worauf es im Einzelnen ankommt“. Daneben ist aber noch eine andere Konzeptualisierung von Verstehensaufgaben der Klienten feststellbar: die Annahme, dass die Klienten im Zuge des Aufnahme- und Anerkennungsverfahrens bereits hinlänglich damit vertraut gemacht wurden, wie es in den für sie wichtigen Institutionen zugeht (siehe dazu detailliert Kap. 4). 16 Etwa: auf dem Sozialamt klären, ob die mit einem Touristenvisum eingereiste Ehefrau eines Aussiedlers krankenversichert ist; Beschaffung von Dokumenten und deren Weiterleitung an das Bundesverwaltungsamt usw. <?page no="134"?> Ulrich Reitemeier 134 Reitemeier_final Inwiefern aber ist das beraterseitige Agieren in einer Kontroll- und Aufsichtshaltung von Bedeutung für den Zuschnitt der Verstehensaufgaben, die sich den Klienten der Migrationsberatung stellen? Die oben genannten Gesprächsaktivitäten der Berater zielen darauf, der Klientenpartei klar zu machen, dass die Bedingungen, die sie bei der Bearbeitung des Problems zu berücksichtigen hat (einschließlich der Lösungsalternativen) noch nicht richtig bei ihr ‘angekommen’ sind. Hier lässt sich auch von einer Doppelfunktion der Aufsichts- und Kontrollperspektive sprechen: Es geht sowohl um Verstehen im kognitiven Sinne als auch um Akzeptieren bzw. Hinnehmen (im Sinne von ‘Einsicht in das Notwendige, das zwingend Erforderliche’ usw. entwickeln). Damit werden der Klientenpartei zunächst einmal Aufgaben des Lernens über eine ihnen doch weitgehend fremde Materie sowie Aufgaben des Überdenkens eigener Problembearbeitungsstrategien, geltender Regelungen und vorgezeichneter Bearbeitungsschritte zugewiesen. Der Selbstverständlichkeitsgestus, in dem die professionellen Handlungen vollzogen werden, sowie die autoritativen Verdeutlichungsleistungen der Berater implizieren, dass diese Lernleistungen unauflöslich verbunden sind mit Prozessen des Hinnehmen- Müssens und des Sich-Fügens in einen eingespielten Stil professioneller und institutioneller Problembearbeitung. Das beraterseitige Agieren in einer Aufsichts- und Kontrollhaltung erzeugt für die Klientenpartei also Verstehensaufgaben ambivalenter Art: gefordert ist Verstehen in rein kognitivem Sinne und zugleich ein Akzeptieren-Müssen, dass bestimmte Mitteilungsgehalte wie auch bestimmte Interaktionsbedingungen nicht verhandelbar sind. 3.3.1.3 Perspektivenangleichung bei strikter Ressourcen- und Effizienzorientierung Die Klienten der Aussiedlerberatung sind kulturell Fremde, auch wenn sie sich als „historische Heimkehrer“ (Reitemeier 2006) begreifen können, zudem verfügen viele von ihnen nur über eingeschränkte Kenntnisse der deutschen Sprache. 17 Angleichung der Perspektiven der Beratungsakteure ist vor diesem Hintergrund eine interaktive Aufgabenstellung, die über stark ausgeprägte Differenzen im kulturellen Orientierungswissen und über deutliche Unterschiede im sprachlichen Ausdruckvermögen hinweg zu bearbeiten ist. Seitens der Berater kann der Prozess der Perspektivenangleichung von einer generellen Sympathie- und Solidarisierungshaltung gegenüber den „neuen Fremden“ geleitet sein. Des Weiteren kann dieser Prozess geleitet sein von 17 Diese allgemeine Charakterisierung des Klientels der Aussiedlerberatung bezieht sich auf die Einwanderungssituation zum Zeitpunkt der Gesprächsaufnahmen (1995). <?page no="135"?> Verstehensdokumentation in der Migrationsberatung 135 Reitemeier_final spezifischen Vorkenntnissen über die Lebenslage und Familiensituation der Klienten, etwa wenn aus vorausgegangenen Kontakten bereits bekannt ist, „wo der Schuh drückt“, was die drängenden Sorgen in der Familie sind usw. Perspektivenangleichung kann stillschweigend und unmarkiert erfolgen, sie kann aber auch an bestimmten Stellen auf demonstrative Weise realisiert werden. Dies lässt sich insbesondere in solchen Gesprächszusammenhängen feststellen, in denen die Entfaltung der Klientenperspektive in Äußerungsformaten erfolgt, die die Markierung des Nachvollzugs dieser Perspektive durch den Berater konditionell relevant werden lassen (empirisch beobachtbar z.B. in einem Beratungsgespräch, in dem sich eine Klientin wegen kriegerischer Auseinandersetzungen im Herkunftsland als von großer Besorgnis um das Schicksal von Familienangehörigen geplagt präsentiert). Aufgrund ihrer Ausbildung und Erfahrung verfügen die Berater über fachspezifisches Wissen und auch über professionelle Konzepte für die Gestaltung von Klientenbeziehungen. Dieses Wissen und diese Konzepte gelangen unter Bedingungen der Routinisierung zur Anwendung, also in sich wiederholenden Aktualisierungen von Rezeptwissen (Schütz/ Luckmann 1975) für problematische Fälle und in bewährten Praktiken der Gesprächsführung. Routinisierung des Beratungshandelns manifestiert sich ferner in einem zügigen Zur-Sache- Kommen, in der Konzentration auf das (rechtlich-administrativ) Wesentliche und im umstandlosen Auswählen der ‘passenden’ Schritte zur Bearbeitung des Klientenproblems, kurz: im Gebrauch professioneller Abkürzungsstrategien. Die dabei greifenden Selektivitätsmechanismen schlagen auf den Prozess der Perspektivenangleichung in der Weise durch, dass er systematisch beschränkt wird. Ganz elementar haben diese systematischen Beschränkungen etwas damit zu tun, dass auf die klientenseitigen Interaktionsstandpunkte nur so weit eingegangen werden kann, wie diese in ‘bearbeitungsfähige Sachverhalte’ transformiert werden können. Systematische Begrenzung der Perspektivenangleichung kann dabei auch etwas mit den Grenzen der beraterischen Wissenskompetenzen zu tun haben. Wenn aber die Berater selbst nicht das nötige Wissen parat haben, kommt es darauf an, verstehbar zu machen, dass sie auch nicht alles wissen, dass noch andere Stellen oder Professionen (z.B. Rechtsanwälte) einbezogen werden müssen usw. Weiter haben diese Beschränkungen auch etwas damit zu tun, dass die Migrationsberater auf Aufrechterhaltung ihrer Funktionsrolle bzw. auf Aufrechterhaltung der sozialen Form beraterischer Dienst- und Hilfeleistung bedacht sein müssen. Totale Solidarisierung mit dem Problembetroffenen würde bedeuten, <?page no="136"?> Ulrich Reitemeier 136 Reitemeier_final aus der Funktionsrolle auszusteigen und Dienstbarkeit bzw. Hilfebereitschaft für andere Problembetroffene aufzukündigen. Für die Berater geht es auch darum, Arbeitsfähigkeit aufrechtzuerhalten - der Leidensdruck, unter dem Problembetroffene stehen, darf sie nicht so weit erfassen, dass sie von vorgezeichneten Wegen der Problembearbeitung abweichen und darüber Zeit und Energie für die Bearbeitung anderer Fälle verlieren. Systematische Begrenzung der Perspektivenangleichung geht einher mit spezifischen Anforderungen an Verstehensleistungen sowohl auf Seiten des Beraters wie auch auf Seiten der Klientenpartei. So muss verstehbar gemacht werden und verstehbar sein, dass der Rückgriff auf eingespielte Erledigungspraktiken ‘im Dienste des Klientenproblems’ erfolgt und dies in wohlmeinender und auch effizienter Weise geschieht. Systematische Begrenzung der Perspektivenangleichung erfolgt nicht nur im rigiden Gebrauch von Statuskategorien (siehe Kap. 3.3.1.1), sie realisiert sich verschiedentlich auch in einer tendenziell idealisierenden Sicht der Berater auf ihre Klientel. Eine solche Sichtweise unterstellt den gut informierten, den verständigungsbereiten und lernwilligen Aussiedler. Die Folge daraus ist, dass Aktivitäten, die darauf ausgerichtet sind, Identitätsverfassungen und Problemlagen von Klienten zu eruieren, nur verkürzt oder oberflächlich vollzogen werden. Die Folge daraus ist auch, dass die ‘accountability’ des beraterseitigen Tuns in eher sparsamer Weise und im stillschweigenden Handlungsvollzug erfolgt. 18 Für die Klienten der Migrationsberatung bedeutet dies, mit Verstehensanforderungen folgender Art umgehen zu müssen: Unter erschwerten sprachlichen Verständigungsbedingungen und unter nur oberflächlich explizierten Anwendungsbedingungen des Routineprogramms müssen sie verstehen, ob ihr Problem in hinreichender bzw. optimaler Weise bearbeitet wird. Sofern sie den Eindruck haben, dass die beraterischen Aktivitäten ihrem Anliegen und ihrem Erwartungshorizont entsprechen, müssen sie erfassen, wo im aktuellen Ablaufgeschehen die geeignete Stelle dafür ist, ein Mehr an beraterischem Engagement einzufordern, eine Umfokussierung der Bearbeitungsaktivitäten zu initiieren usw. Fragt man danach, welche Verstehensanforderungen für die Klienten der Migrationsberatung speziell aus der skizzierten Ressourcen- und Effizienzorientierung resultieren, ist Folgendes zu sagen: Seitens der Klienten muss ratifi- 18 Auch wenn die Klienten tatsächlich über so viel Vorwissen verfügen, dass das beraterische Handeln nicht ständig erklärt werden muss, liegt hier eine Quelle für mangelnde Intransparenz des beraterischen Handelns (ich komme drauf zurück). <?page no="137"?> Verstehensdokumentation in der Migrationsberatung 137 Reitemeier_final ziert werden, dass der Prozess der Perspektivenangleichung in stimmiger und hinreichender Weise vollzogen worden ist. Und es muss ferner angezeigt werden, dass das darauf basierende Engagement des Beraters oder der Beraterin als funktional und ‘im Dienste des Klientenproblems’ akzeptiert wird. Handlungspraktisch realisiert sich Ressourcen- und Effizienzorientierung der Berater nun aber oftmals in den bereits erwähnten professionellen Abkürzungsstrategien, wodurch der Prozess der Perspektivenangleichung gestoppt wird. Die Bearbeitung der eben genannten Verstehensaufgaben für Klienten erschwert der Gebrauch professioneller Abkürzungsstrategien in zweierlei Hinsicht: das beraterseitige Handeln als solches wird intransparenter und das Aufspüren und Einbeziehen alternativer Lösungswege ist blockiert. Damit laufen Klienten Gefahr, den aktuellen Prozess der Perspektivenangleichung auf der Basis flüchtiger Eindrücke und des nicht beurteilen Könnens der Produktivität und Gründlichkeit des professionellen Engagements ratifizieren zu müssen. 3.3.2 Entfaltungsprinzipien der Klientenperspektive und ihre Implikationen für Verstehensanforderungen der Berater 3.3.2.1 Ausrichtung des Hilfeersuchens an institutionellen Bearbeitungsbedingungen Auch wenn die Klienten der Migrationsberatung sich in einer Situation kultureller Fremdheit befinden, sind sie bei der Kontaktaufnahme mit der Beratungsstelle immer schon vororientiert über diese Einrichtung. Sie wissen zumindest um deren Zuständigkeit für rechtlich-administrative Angelegenheiten und lebenspraktische Belange. Vor allem bei eigener intensiver Beschäftigung etwa mit statusrechtlichen Angelegenheiten oder mit Fragen der beruflichen Qualifizierung und der Arbeitsplatzsuche verfügen sie zumindest über ein grobes Orientierungswissen über behördliche Relevanzen und Bearbeitungsgänge, über staatliche Fördermaßnahmen, institutionelle Verflechtungen usw. Dadurch sind die Klienten der Migrationsberatung prinzipiell in der Lage, ihr Hilfeersuchen an den fachlichen, organisatorischen und sozialen Bedingungen, unter denen die Berater tätig sind, auszurichten. Eine solche Ausrichtung an institutionellen Bearbeitungsbedingungen erfolgt in der Weise, dass Anliegensformulierungen und Problemdarstellungen unter Einbeziehung rechtlich-administrativ relevanter Statusmerkmale und im Gebrauch der Rechts- und Verwaltungsterminologie vorgenommen werden. Bei Klienten mit größeren Problemen im Gebrauch der deutschen Sprache kann <?page no="138"?> Ulrich Reitemeier 138 Reitemeier_final sich die Ausrichtung an institutionellen Bearbeitungsbedingungen darin manifestieren, dass Schriftstücke einfach ausgehändigt werden oder ein Sprachmittler hinzugezogen wird. Die klientenseitige Ausrichtung an institutionellen Bearbeitungsbedingungen manifestiert sich darüber hinaus in der Art und Weise der Selbstpositionierung. So kann die Tatsache, dass ein Berater sich kümmert und sich der problematischen Angelegenheiten annimmt, für die Klienten ein Ereignis sein, von dem sie glauben, dass darauf mit ausgesprochen devotem Verhalten reagiert werden muss (dies äußert sich beispielsweise darin, dass um Erlaubnis, eintreten zu dürfen, gefragt wird, oder darin, sich zu vergewissern, dass der Berater wirklich Zeit für einen hat usw.). Auch kann das Beratungsgespräch ein so außergewöhnliches Ereignis für den Klienten sein, dass er von sehr starken Dankbarkeitsgefühlen durchdrungen ist, die sich dann im emphatischen Gebrauch von Dankbarkeitsformeln äußern. In der Ablauforganisation des Beratungsgeschehens kommt die klientenseitige Ausrichtung an institutionellen Bearbeitungsbedingungen schon bei der Situationsherstellung und -eröffnung sowie in der Phase der Situationsauflösung zum Tragen. Auch kommt dieses handlungsmethodische Prinzip bei der Anliegenspräsentation und der Aushandlung des Beratungsgegenstandes zur Geltung. Es findet seinen Niederschlag ferner darin, dass Klienten ihrerseits von Kenntnissen über professionelle Bearbeitungsgänge, über institutionelle Verflechtungen, über behördliche Bearbeitungsrelevanzen und rechtliche Regelungen Gebrauch machen, insbesondere im Zuge der Aushandlung von Lösungen für das Problem. Die Ausrichtung an institutionellen Bearbeitungsbedingungen der Beratungsstelle erstreckt sich nicht zuletzt auf den Beweisdruck der Zugehörigkeit zur deutschen Kultur, der eben auch in Beratungssituationen sehr hoch sein kann. Insofern, als im Beratungsgespräch dokumentiert werden kann, wie gut die „Bewerber“ um die deutsche Staatsangehörigkeit deutsch sprechen und insofern, als die Eindrücke des Beraters vom Kompetenzniveau des „Bewerbers“ Berücksichtigung in der zuständigen Einbürgerungsbehörde finden können, 19 schlagen die im Aufnahme- und Anerkennungsverfahren geforderten Identitätsmaßstäbe auf die Migrationsberatung durch. In diesen Fällen wissen die Betroffenen um diese Zusammenhänge, so dass auch ihre kommunikative Präsenz auf diesen Beurteilungskontext zugeschnitten ist. 19 Auch seine prinzipielle Bereitschaft, sich für die statusrechtlichen Angelegenheiten eines Klienten zu engagieren, ist von solchen Spracheindrücken geleitet. <?page no="139"?> Verstehensdokumentation in der Migrationsberatung 139 Reitemeier_final Prinzipiell erfolgt klientenseitig zwar eine Ausrichtung an institutionellen Bearbeitungsbedingungen, die Verstehensanforderungen, die dabei für Berater akut werden, resultieren aber nicht bloß aus den Problempräsentationen der Klienten, sondern auch daraus, dass sich ihre Ausrichtung an den institutionellen Bearbeitungsbedingungen gewöhnlich nur in Ansätzen mit den faktisch und im konkreten Fall geltenden Bedingungen deckt. Das heißt, klientenseitiges Ausrichten an institutionellen Bearbeitungsbedingungen erfolgt zumeist auf der Grundlage unzulänglicher Transparenz der Problemzusammenhänge und der genauen Umstände und Relevanzgesichtspunkte der weiteren Problembearbeitung. So bleibt auch dann, wenn der Klientenpartei rechtlich-administrative Aspekte der Problembearbeitung bekannt sind, doch weitgehend intransparent, wie weit beispielsweise die Bearbeitungsbereitschaft und das Bearbeitungsvermögen des Beraters gehen. Desgleichen bleibt für die Klienten der Migrationsberatung weitgehend intransparent, wie die mit der Fallproblematik befassten Behörden arbeiten und wie diese wiederum mit den Beratungsstellen verflochten sind. Mangelnde Transparenz institutioneller Zuständigkeiten und Bearbeitungsprozeduren ist ja mit ausschlaggebend dafür, dass die Klientenpartei ein bestimmtes Problem hat (so z.B. wenn sie mit einem behördlichen Bescheid unzufrieden ist) und auch dafür, dass Rat und Hilfe gesucht wird. Aus der prinzipiellen Intransparenz, die dem Zusammentreffen eines alltagsweltlichen und eines professionellen Orientierungssystems geschuldet ist, können Interaktionssequenzen resultieren, in denen die Klientenpartei den Darstellungsaktivitäten des Beraters nicht mehr adäquat folgen kann, so dass sie nur noch mittels solcher Reaktionen, die den Charakter von Konfusionsdisplays 20 annehmen, mit den institutionellen Bearbeitungsbedingungen umzugehen vermag. Welche Verstehensanforderungen gehen nun davon aus, dass die Klienten der Migrationsberatung ihr Hilfeersuchen an institutionellen Bearbeitungsbedingungen orientieren, dies aber auf der Grundlage mangelnder Transparenz der Gesamtheit und der Spezifik dieser Bedingungen erfolgt? Zur Beantwortung dieser Frage ist es hilfreich, sich an den typischen Verstehensgegenständen zu orientieren, die dadurch relevant werden, dass auf Seiten des Klienten Wissens- und Orientierungsdefizite in Bezug auf die institutionellen Bedingungen der Problembearbeitung bestehen. Drei Verstehensgegenstände lassen sich hier unterscheiden: 20 Typisch hierfür sind Äußerungsformen wie: Ach, weiß ich doch nicht was das alles soll! , die z.B. dann beobachtbar sind, wenn nach beraterseitigen Aufklärungsaktivitäten Entscheidungsverhalten von der Klientenpartei gefordert wird, diese dazu aber nicht in der Lage ist. <?page no="140"?> Ulrich Reitemeier 140 Reitemeier_final a) Verstehensgegenstand „Fallproblematik“ Die mehr oder weniger adäquat auf institutionelle Relevanzen zugeschnittene Anliegensformulierung bzw. Problempräsentation des Klienten muss vom Berater als Darstellung eines Problemsachverhaltes verstanden werden, auf den sein professionelles Tätigwerden bezogen sein soll. Kommunikative Aktivitäten der Klientenpartei müssen also in ihren problemkennzeichnenden - und das Beratungsverhältnis legitimierenden - Gehalten verstanden werden. Beraterseitig gilt es, das, was der Klient als Anliegen oder Problem vorbringt, zu Konstitutions- und Regelungsprinzipien gesellschaftlicher Funktionsbereiche in Beziehung zu setzen und das klientenseitig Dargestellte in der Logik dieser Funktionsbereiche zu erfassen. Gefordert ist, das Klientenproblem in seiner Sachlogik und Spezifik zu verstehen, so dass es in den dafür einschlägigen Relevanzrahmen (etwa: statusrechtliches Anerkennungsverfahren, Sozialhilfegesetz, berufliche Eingliederung usw.) eingeordnet werden kann. Mit den formal-rechtlichen Merkmalen für die Konstruktion von Statuskategorien steht hier ein basales Verstehens-Instrumentarium bereit. Bearbeitungen dieser Verstehensanforderung erfolgen gewöhnlich in terminologisch genauer gefassten Reformulierungen des Problemsachverhaltes und in der Initiierung weiterer Aktivitäten der Sachverhaltsklärung. Dazu sind maßgebliche Rechtsgebiete und Ablaufregelungen institutionellen Handelns fallbezogen auszulegen und gegenüber der Klientenpartei in ihren Geltungsansprüchen zu verdeutlichen. Das kann unter Umständen bedeuten, dass der Berater gefordert ist, sich selbst erst einmal „schlau zu machen“, also andere Wissensquellen ausfindig zu machen und in Anspruch zu nehmen (etwa durch telefonische Nachfrage oder Dokumenteneinsicht). Auch muss die beraterische Aufmerksamkeit womöglich darauf ausgerichtet sein, zu erfassen, ob nur das präsentierte Anliegen der bearbeitungsrelevante Sachverhalt ist oder ob sich dahinter noch unausgesprochene Probleme, Komplikationen usw. verbergen. b) Verstehensgegenstand „mitgebrachte Verstehensdefizite der Klientenpartei“ Sofern der Berater zu dem Eindruck gelangt ist, ein hinlängliches Verständnis des problematischen Sachverhaltes gewonnen zu haben, kann er im Prinzip sogleich zu problembearbeitenden Aktivitäten übergehen (Auskünfte erteilen, über die Sachlage aufklären, über nächste Schritte informieren usw.). Da aber <?page no="141"?> Verstehensdokumentation in der Migrationsberatung 141 Reitemeier_final der problematische Sachverhalt und die Bedingungen seiner Bearbeitung der Klientenpartei oftmals selbst nicht richtig transparent sind, kommt es auch zu Konstellationen, bei denen das klientenseitige Problemverständnis nicht mit dem Problemverständnis übereinstimmt, das der Berater gewonnen hat Mangelnde Durchschaubarkeit der institutionellen Abläufe, von denen der Klient selbst (oder seine Angehörigen) betroffen ist (sind), fordert vom Berater nicht nur Verstehensleistungen, die auf das Sachproblem bezogen sind (verstehen, was unabhängig vom Problemverständnis des Klienten der problematische Sachverhalt ist), sondern auch Verstehensleistungen, die auf kognitive Schwierigkeiten des Klienten bezogen sind. Hier lässt sich eine spezifische Verstehensanforderung für den Berater lokalisieren: Er muss erschließen, inwieweit die Problemdefinitionen, an denen beide Seiten sich orientieren, übereinstimmen, und er muss darüber hinaus erfassen, wie weit die Aktivitäten gemeinsamer Problemrekonstruktion zur Schärfung des Problemverständnisses und auch zum Lernen über die Problembearbeitungsbedingungen beigetragen haben. Der Berater muss also gewahr sein, dass der Klient bei der Weitergabe von Problemlösungswissen „richtig mitkommt“. 21 Dies betrifft allerdings nicht nur die Frage des stimmigen Nachvollzugs dessen, was der Berater dargelegt, erklärt und empfohlen hat, sondern auch die Frage der Akzeptanz dessen, was die Klientenpartei an Auskünften und Ratschlägen erhält. Bearbeitungen dieser Verstehensanforderung manifestieren sich vor allem in solchen Gesprächsaktivitäten, in denen Berater das Klientenproblem terminologisch präzisiert reformulieren, in denen sie Korrekturen an klientenseitigen Sichtweisen vornehmen, in denen sie definieren, was der ‘problematische Kern’ ist und versuchen, darüber Konsens herzustellen. c) Verstehensgegenstand „Passungsverhältnis zwischen dem Ansinnen der Klientenpartei und erwarteten Verhaltensmustern“ Die mangelnde Transparenz institutioneller Bearbeitungsbedingungen kann auf Seiten der Klientenpartei darin zum Ausdruck kommen, dass sie Verhaltensweisen zeigen, die vom Berater für nicht kompatibel mit den üblichen Bearbeitungsroutinen oder mit Normalformvorstellungen vom Verhalten als Spätaussiedler angesehen werden. So laufen die Klienten bei einem hartnäcki- 21 Dabei sind Verstehendokumentationen des Klienten Bezugsobjekt beraterseitiger Verstehensleistungen, insofern konstituiert sich in den klientenseitigen Verstehensdokumentationen ein Meta-Gegenstand beraterseitigen Verstehens. <?page no="142"?> Ulrich Reitemeier 142 Reitemeier_final gen Verfolgen ihrer Interessen 22 Gefahr, dass ihr Verhalten als unzulängliche Anpassungsleistung an die Verhältnisse in Deutschland angesehen (und verbal auch sanktioniert) wird. Dieser Verstehensgegenstand hat also mit dem kulturellen Orientierungsvermögen zu tun, das die zugewanderten Klienten im Beratungskontext an den Tag legen. Verstehensrelevant ist hier ein Gesichtspunkt, der sich in Frageform so fassen lässt: Gilt das klientenseitige Verhalten als sozial akzeptables und situativ zulässiges Verhalten? Bearbeitungen dieser Verstehensanforderung realisieren sich primär in Gesprächsaktivitäten, in denen aktuelles oder auch zurückliegendes Verhalten der Klientenpartei vom Berater explizit bewertet wird und er sie mit dem unverrückbaren Geltungsanspruch institutioneller Regeln und Erwartungsstrukturen konfrontiert (detailliert hierzu Kapitel 5.3.6.1). 3.3.2.2 Wahrung eines Kontrollanspruchs über die Bedingungen der Problembearbeitung In sachlicher Hinsicht besteht eine hohe Abhängigkeit der zugewanderten Klienten von der Dienst- und Hilfeleistungskompetenz der Beratungsstellen. Dieses Abhängigsein von einer bearbeitungskompetenten Stelle und dieses Angewiesensein auf das Engagement eines Professionellen bedeutet, dass eine externe Instanz bzw. eine advokatorisch agierende Person mit dem Problem befasst ist. Hinsichtlich des Umgangs mit ihrem Problem impliziert dies für die Klientenpartei einen Verlust an Autonomie. Für die Klientenpartei wird dies insbesondere dann erfahrbar, wenn der Berater in der oben skizzierten Aufsichts- und Kontrollhaltung agiert. Mit seinem Beratungsanliegen begibt sich der Klient zwar in ein Abhängigkeitsverhältnis zum Berater, und in den meisten Fällen des Gesprächskorpus wird dieses Hilfeersuchen auch in einer Weise realisiert, die davon zeugt, dass die Klienten das Problem und die damit verbundenen Bearbeitungsmühen quasi abzugeben versuchen, es in die Hände der Berater legen möchten. Die beratungskonstitutive Asymmetrie zwischen Problembetroffenem und Bearbeitungskompetentem (der ja immer nur partiell in der Lage oder Willens ist, das Problem des Ratsuchenden zu bearbeiten) ist damit jedoch nicht aufgehoben. Das Problem bleibt in seiner lebensweltlichen Erfahrungsqualität das 22 Im Datenmaterial z.B. dokumentiert in einem Fall, in dem es der Klientenpartei darum geht, den Berater dafür zu gewinnen, beim Einlegen eines Widerspruchs zu helfen, dieser aber nicht von den Erfolgsaussichten überzeugt ist. Oder in einem Fall, in dem ein Klient die Beraterin dazu zu bewegen versucht, jenseits der offiziellen Regelungen etwas für seine Sache zu tun. <?page no="143"?> Verstehensdokumentation in der Migrationsberatung 143 Reitemeier_final Problem des Klienten, es verbleibt in seiner Verantwortlichkeit und der Klient bleibt letztlich auch Herr der Problemlösungsbemühungen, auch wenn beraterseitig Aufsichts- und Kontrollpraktiken zur Anwendung kommen. Als Problembetroffene können Klienten bereits Problembearbeitungsanstrengungen auf sich genommen haben, die der Beratungsbeziehung vorgelagert waren oder parallel dazu noch virulent sind (so beispielsweise, wenn sich - wie im Fall 7002.02; „Krankenschwester oder -pflegehelferin“ - eine Klientin mit Hilfe des Aussiedlerberaters um einen Ausbildungsplatz bemüht und sie parallel dazu noch andere Pläne, eine Erwerbsmöglichkeit zu finden, verfolgt). Und als Problembetroffene sind die Klienten an bestmöglichen Lösungen ihrer belastenden Angelegenheiten interessiert. Dies sind interaktionsstrukturelle Voraussetzungen dafür, dass die Entfaltung der Klientenperspektive auch unter dem Gesichtspunkt der Wahrung von Kontrolle über den Problembearbeitungsgang erfolgt. In der handlungsschematischen Ablauforganisation der Beratungsgespräche lässt sich das Bemühen um Wahrung eines Kontrollanspruchs bei der Aushandlung des Beratungsgegenstands, bei der Rekonstruktion der Problemgenese und vor allem aber bei der Entwicklung von Lösungen für das Problem lokalisieren. Bei aller Abhängigkeit ist der Klient der Migrationsberatung der in Kap. 3.3.1.2 dargestellten Aufsichts- und Kontrollperspektive des Beraters aber nicht völlig ausgeliefert. Seine Ansprüche, als autonomes Subjekt zu agieren, werden auf dem Wege des Einbringens eigener Relevanzgesichtspunkte, des Abverlangens spezifischer Leistungen des Beraters und des Zurückweisens beraterseitiger Angebote, Vorschläge usw. geltend gemacht (eine weitere Möglichkeit besteht im bewussten Übergehen beraterseitiger Aussagen). Von welchem Zuschnitt die dabei für den Berater akut werdenden Verstehensanforderungen sind, sei im Folgenden ausgehend von typischen Gesprächsaktivitäten der Klientenpartei erläutert: a) Klientenseitige Einbringung von Problemlösungsbemühungen, die im Vorfeld der Beratungssituation und parallel zum Beratungsverhältnis stattgefunden haben Eigene Anstrengungen der Problembearbeitung fungieren hier als Ressource zur Geltendmachung klientenseitiger Interessen bzw. zur Wahrung eines Kontrollanspruchs über den Bearbeitungsgang. Dabei kann der Berater zu einer gänzlich anderen Einschätzung der klientenseitigen Vorgehensweise zur Bewältigung des Problems gelangen. In einer solchen Konstellation wird es zur vordringlichen Aufgabe für den Berater, zu verstehen, wie der <?page no="144"?> Ulrich Reitemeier 144 Reitemeier_final Klient selbst seine Problemlösungsinteressen begründet und welche Ansprüche er daraus ableitet. Hier kann es zu folgender Verkomplizierung kommen: ‘eigene Anstrengungen’ können auch mit Handlungsorientierungen einher gehen, die nur schwer mit dem beraterischen Routineprogramm vereinbar sind. b) Darstellung lebensweltlich-privater Relevanzen und subjektiver Seiten des Problemerlebens Durch klientenseitige Einbringung lebensweltlich-privater Relevanzen kann das beraterseitige Bestreben, die Fallbearbeitung in Orientierung an Statuskategorien zu gestalten, unterlaufen und gestört werden, so dass in zweierlei Hinsichten Verstehensanforderungen für den Berater akut werden: Er muss verstehen, was noch zum bearbeitungsfähigen Sachverhalt gehört und was nicht (Überschüssiges erkennen und ausklammern). Bei dieser filternden Verstehensarbeit muss er allerdings auch die sozialen und emotionalen Funktionsvoraussetzungen des Arbeitsbündnisses im Hinterkopf haben und erfassen, was an Klientenverhalten zugelassen werden muss, damit beiderseitige Kooperativität gewahrt bleibt. c) Einspeisung ‘besseren Wissens’ durch die Klientenpartei Die Klientenausführungen können Informationen enthalten, die für den Berater einen Neuigkeitswert haben und tendenziell den Charakter des fundierteren oder auch konkurrenten Wissens annehmen (etwa wenn sich - wie im Gespräch 7002.03; „Keine Wunderrepublik“ - die Klientenpartei auf Auskünfte oder Empfehlungen einer Behördenmitarbeiterin beruft, diese sich aber nicht mit dem decken, was der Berater bisher als ‘stimmigen’ Umgang mit der problematischen Angelegenheit angesehen hat). Dadurch können für den Berater Verstehensanforderungen vom Typ des „Dazu-Lernen-Müssens“ akut werden. Wenn ein Berater in die Position desjenigen gerät, der dazuzulernen hat und umdenken muss, kann dies allerdings auch folgenreich sein für seinen Beteiligungsstatus und für das Vertrauen, das die Klientenpartei in seine Kompetenz und in seine Bereitschaft, sich zu engagieren, setzt. d) Anzweifeln der Stimmigkeit beraterischer Auskünfte Wenn Klienten beraterseitigen Auskünften in der Sache widersprechen und als ‘nicht richtig’ behandeln, kann es sich entweder um die Konstellation handeln, dass sie tatsächlich besser informiert sind (etwa wenn die Klientenpartei sich mit den Möglichkeiten der Begründung eines Widerspruchs- <?page no="145"?> Verstehensdokumentation in der Migrationsberatung 145 Reitemeier_final verfahrens besser auskennt als der Berater, dies ist im Gespräch 7002.03; „Keine Wunderrepublik“ der Fall). Unter solchen Bedingungen wird die eben skizzierte Verstehensaufgabe des „Vom-Klienten-Lernen-Müssens“ kut. Oder aber es handelt sich um die Konstellation, dass Widerspruch und Korrekturbemühungen des Klienten auf Fehlannahmen oder Irrtümern basieren (empirisch vor allem dann beobachtbar, wenn es um leistungsrechtliche Dinge wie etwa den Bezug von Wohngeld oder Rente geht). Hier wird es für den Berater dann dringlich, zu erfassen und anzuzeigen, dass die Position des Klienten auf invalidem Wissen basiert, desgleichen muss er dann entsprechende Aktivitäten des Klar- und Richtigstellens folgen lassen. 3.3.2.3 Ausagieren von Erwartungsenttäuschungen Im Hinblick auf die Lösung ihrer Probleme setzen die Klienten große Hoffnungen in die Dienste der Migrationsberatung. Im konkreten Problembearbeitungsgang tauchen allerdings oftmals Schwierigkeiten auf, mit denen sie nicht gerechnet haben und die unüberwindlich erscheinen können. Es sind aber nicht nur Schwierigkeiten bei den rechtlich-administrativen Angelegenheiten, die Erwartungsenttäuschungen verursachen, auch die oben erläuterte Intransparenz institutioneller Abläufe und rechtlicher Verfahren kann eine Frustrationsquelle sein. Darüber hinaus können im Gespräch mit dem Berater Prozesse des Gewahrwerdens der tatsächlichen Verhältnisse und einer insgesamt enttäuschenden Lebenssituation in Deutschland ablaufen. Prinzipiell ist hier Emotionsverstehen vom Berater gefordert. Das Ausagieren klientenseitiger Erwartungsenttäuschungen kann auf expressive Weise erfolgen (weinen, klagender Tonfall, Interjektionen) und es kann sich in expliziten Unzufriedenheits- oder Unmutsbekundungen manifestieren (siehe Kap. 5). Andere typische Manifestationsweisen von Enttäuschungsgefühlen auf Klientenseite können sein: - Verzögerungen im Ratifizierungsverhalten beraterseitiger Empfehlungen und daraus hervorgehende langwierige Aushandlungsprozesse über das weitere Vorgehen; - das Verfolgen eines latenten Handlungsschemas der Beschwerdeführung; - Gesprächsaktivitäten, die die Vertrauensgrundlagen im Verhältnis zum Berater problematisieren und - Gesprächsaktivitäten, in denen Misstrauenshaltungen gegenüber Behörden und institutionellen Abläufen bekundet werden. <?page no="146"?> Ulrich Reitemeier 146 Reitemeier_final Seinen handlungssystematischen Platz hat das Ausagieren von Erwartungsenttäuschungen an den Stellen, an denen beraterseitige Aufklärungsaktivitäten vorausgegangen sind, gewöhnlich also im Kontext der Lösungsentwicklung und -verarbeitung. Welche Verstehensanforderungen für den Berater resultieren aber daraus, dass die Faktenlage, über die die Klientenpartei aufgeklärt wird, dem Ratsuchenden nicht ins Konzept passt und dieser sich unzufrieden mit dem Stand der Dinge bzw. dem Beratungsergebnis zeigt? Der Berater ist nicht nur gefordert, zu verstehen, dass eine bestimmte Faktenlage oder eine bestimmte Mitteilung für die Klientenpartei enttäuschend ist. Er ist auch gefordert, das weitere Interaktionsmanagement daran auszurichten, dass klientenseitiges Enttäuschungserleben sich in interaktiven Beteiligungsqualitäten manifestieren kann, die zur starken Belastung der Kooperationsgrundlagen werden können. 4. Die Problemdarstellung der Klientenpartei verstehen und in den professionellen Relevanzrahmen transformieren - exemplarische Analyse eines beraterseitigen Verfahrens der Verstehensdokumentation 4.1 Analysemethodische Vorbemerkungen In diesem Kapitel und im nächsten (Kap. 5) beschreibe ich Verfahren der Verstehensdokumentation, die von den Beratungsakteuren eingesetzt werden, um ihren jeweils besonderen Handlungsaufgaben gerecht zu werden. Dabei nehme ich eine Analyseperspektive ein, die die Verfahren der Verstehensdokumentation in ihren feldspezifischen Funktionsvoraussetzungen und Funktionsweisen zu rekonstruieren versucht. Das feldspezifische Funktionieren der Verfahren wird detailliert an je einem Fallbeispiel untersucht. Inwieweit es sich bei den ausgewählten Verfahren um solche handelt, die typisch für das Handlungsfeld Migrationsberatung sind, erläutere ich unter Bezugnahme auf Realisierungsvarianten in anderen Fällen und indem ich auf interaktionsstrukturelle Bedingungen eingehe, unter denen die Verfahren präferenziell werden. Zur Rekonstruktion der feldspezifischen Funktionsweise der hier und in Kapitel 5 behandelten Verfahren setze ich bei den vorgängigen Gesprächsaktivitäten des jeweiligen Interaktionsgegenübers an. Im Kontext dieser Bezugsäußerungen arbeite ich dann die sequenzielle Organisation und die verstehensindikativen Leistungen der jeweiligen Reaktion die Vorgängeraktivitäten heraus. <?page no="147"?> Verstehensdokumentation in der Migrationsberatung 147 Reitemeier_final Des Weiteren analysiere ich, wie sich die Verquickung von verstehensindikativen Leistungen und Handlungsfunktionen auf der gesprächsrhetorischen Ebene niederschlägt, wie sie in das spezifische ‘recipient design’ des klientenseitigen Äußerungsverhaltens eingeht und welche interaktionsstrukturellen Implikationen damit erzeugt werden. Das Rekonstruieren der feldspezifischen Funktionsweise der Verfahren macht es ferner erforderlich, ihren Prägungen durch handlungsschematische und gattungsspezifische Besonderheiten und durch Bezüge auf sozialstrukturelle Rahmen nachzugehen. Die Gesprächskontexte, anhand derer ich das feldspezifische Funktionieren der ausgewählten Verfahren detailliert untersuche, entnehme ich einem Beratungsgespräch (Transkript 7002.2; „Krankenschwester oder -pflegehelferin“). In Kapitel 5 behandele ich ein Verfahren, das die Klientin in Reaktion auf eine Aufklärungsaktivität des Beraters einsetzt, zuvor aber soll es hier nun um eines gehen, das für das beraterseitige Beteiligungsverhalten typisch ist. 4.2 Die Eröffnung und die klientenseitige Problemdarstellung des Beratungsgespräches „Krankenschwester oder -pflegehelferin“ Wie oben gezeigt, besteht die zentrale Verstehensaufgabe für Professionelle der Migrationsberatung darin, zu erfassen, wie das Problem beschaffen ist, das die Klientenpartei in die Beratungsstelle geführt hat. Erst wenn darüber Klarheit besteht, können die spezifischen Kompetenzen und Ressourcen eines Beraters zur Anwendung kommen (vgl. Kap. 3.2). Wissen über das Problem eines Klienten und darüber, welches Anliegen der Klient gegenüber dem Berater verfolgt, erlangt der Professionelle gewöhnlich über die mündlich entwickelten Problemversionen der Klientenpartei. Sind bereits Gespräche vorausgegangen und schriftliche Dokumente vorgelegt worden, gibt es natürlich schon entsprechende Vortypisierungen des Klientenproblems. Ist eine klientenseitige Problemdarstellung für den Berater hinreichend spezifiziert und das Anliegen der Klientenpartei in seinen Bearbeitungsvoraussetzungen gekennzeichnet, dokumentiert sich beraterseitiges Verstehen des Klientenanliegens gewöhnlich im Ergreifen entsprechender Anschlusshandlungen, etwa dem sofortigen Tätigwerden zur Aufklärung eines rechtlich-administrativen Sachverhaltes (z.B. in Form des Auskunftgebens über die Rechtslage, in Form einer Ankündigung, bei einer zuständigen Stelle die erforderlichen Auskünfte einzuholen usw.). Ist die Problemdarstellung des Klienten jedoch nicht exakt auf die professionellen Bearbeitungsroutinen zugeschnitten, muss der Berater erfassen, wie sich das Klientenproblem in seinem professionellen Relevanzrahmen dar- <?page no="148"?> Ulrich Reitemeier 148 Reitemeier_final stellt. Dadurch werden für ihn ganz besondere Verstehensaufgaben akut: er muss das Problem, das der Klient hat, als solches verstehen und es - sofern dies von der Klientenpartei nicht in hinreichender Form geleistet worden ist - zugleich in rechtlich-administrative Relevanzgesichtspunkte transformieren. Ein typisches Verfahren der Verstehensdokumentation, mit dem Berater auf solche als defizitär angesehenen ersten Problemdarstellungen von Klienten reagieren, ist das einer relevanzrückstufenden Verstehensdokumentation. In dem Gespräch, an dem ich exemplarisch das feldspezifische Funktionieren einer solchen Verstehensdokumentation untersuche, ist ein als Berater tätiger Sozialarbeiter und eine Klientin beteiligt. Das zentrale Problem, um das es darin geht, besteht darin, dass die Klientin gern in ihrem Ausbildungsberuf als Krankenschwester arbeiten möchte (und nicht als schlechter bezahlte Krankenpflegerin), dazu aber die Anerkennung ihres Diploms durch das zuständige Gesundheitsamt benötigt. Das Verfahren der relevanzrückstufenden Verstehensdokumentation kommt gleich zu Beginn des Beratungsgespräches und in Reaktion auf eine klientenseitige Problempräsentation zum Einsatz, das vorgängige Gesprächsgeschehen ist daher relativ überschaubar (die Äußerungen des Beraters sind mit dem Sprechersigle SM , die der Klientin mit AW gekennzeichnet): #1 7002.02 (00: 00: 00-00: 00: 52) 1 SM: <<p>SCHLIEßen sie die TÜR; > 2 (4.6) <<pp>guten> MO: Rgen; 3 (-) 4 AW: <<p>MORge; 5 (--) 6 SM: SO; 7 (8.0) <<dim>SETzen sie sich BITte da,> 8 (1.1) <<p>dort IS BESser; > 9 (2.8) sie HATten AN ↓ gerufen, 10 (-) 11 AW: <<p>mHM,=> 12 SM: =es GEHT um di: e; 13 (1.1) AN ↓ erKENnung- 14 (.) des [diPLOMS,] 15 AW: [ja; ] 16 1.9) 17 SM: <<len>durch das> geSUNDheitsamt; 18 (1.7) <?page no="149"?> Verstehensdokumentation in der Migrationsberatung 149 Reitemeier_final 19 AW: <<p>das hab ich> von meiner FREUNdin 20 das mitgebracht; 21 das GLEIche dass sie geLERnt hat- 22 <<all>und im ä: h> (-) GLEIche- 23 (---) in dem GLEIche KRANkenhaus haben 24 wir geAR ↓ beitet- 25 (--) ihr AR[beits]buch- 26 SM: [SO; ] 27 AW: und IHR (-) ZEUGnis. 28 (1.5) 29 SM: <<p>hm; > 30 (--) 31 AW: und jetzt FÄNGT sie schon am DRITte; 32 (--) deZEMber; 33 (1.1) am dritte JAnuar AN; 34 <<t>das PRAKtikum zu MACHen,> Nach einer kurzen Begrüßungssequenz und einer Anweisung des Beraters an die Klientin, einen bestimmten Platz einzunehmen, folgt eine Äußerung mit der der Berater auf vorausgegangene telefonische Vorklärungen Bezug nimmt. Der kurze Verweis auf den Anruf der Klientin (sie HATten AN ↓ gerufen, (Z. 9)) ist geeignet, das Vorhandensein einer gemeinsamen Wissensbasis (als Ergebnis dieses Telefonats) zu markieren. Gleichzeitig aktiviert er einen Sequenzierungsmechanismus, durch den die Klientin Gelegenheit erhält bzw. gefordert ist, wiederholende, detaillierende, ergänzende usw. Ausführungen zu dem am Telefon Gesagten zu machen. Sie reagiert auf diese Kontextualisierung des vorausgegangenen Telefonats zunächst nur mit einem Rezeptionssignal (<<p>mHM,=> (Z. 11)), unterlässt es also, die erwartbar gemachte Wiederholung bzw. Fortführung des am Telefon Gesagten vorzunehmen. Eine solche Gesprächsaktivität lässt sodann der Berater folgen. Darin wird das Vorhandensein einer gemeinsamen Wissensbasis explizit gemacht und von der Klientin auch bestätigt (vgl. Z. 15). Die Wiedergabe dessen, was in dem Telefonat besprochen wurde, nimmt der Berater mit einer falltypisierenden Fokussierungsformel (=es GEHT um; Z. 12) und mittels einer Lexik, die behördliche Entscheidungsakte (di: e; (1.1) AN ↓ erKENnung- (.) des diPLOMS; (Z. 12-14)) und behördliche Zuständigkeiten (<<len>durch das> geSUNDheitsamt; (Z. 17)) benennt, vor. Auf die allgemeine Reformulierung des Problems, um das der Berater aus dem vorausgegangenen Telefonat weiß, reagiert die Klientin nun mit Aktivitäten, die die erwartbar gemachten Detaillierungen zu dem Problem, das sie <?page no="150"?> Ulrich Reitemeier 150 Reitemeier_final zu einem Anruf in der Beratungsstelle veranlasst hat, enthalten (Z. 19-34). Zum Einstieg in die Problempräsentation verweist die Klientin auf Dokumente, die aus der Betroffenenperspektive eine Kategorisierung ihres Problems vorgeben. Mit den Hinweisen auf das Arbeitsbuch und das Zeugnis (Z. 25/ 27) ihrer Freundin setzt sie schon ein hinreichend geteiltes Verständnis ihres Anliegens voraus. Folgende Darstellungselemente bei der Präsentation ihres Problems und dem Vorbringen ihres Anliegens lassen sich darin unterscheiden: - eine demonstrative Erwähnung von Arbeitszeugnissen einer Freundin (das hab ich> von meiner FREUNdin das mitgebracht; [... ... ...] ihr AR[beits] buch- und IHR (-) ZEUGnis. (Z. 19-27)); - eine explizite Behauptung bezüglich der Gleichheit ihres Falles mit dem der Freundin (sie behauptet, dass sie die gleiche Berufsausbildung und im gleichen Krankenhaus gearbeitet haben; ihr zuvor vorgenommener Verweis auf die mitgebrachten Dokumente unterstreicht die Beweiskraft dieser Behauptung, Z. 19-20); - eine Aussage über die Freundin, aus der hervorgeht, dass diese demnächst ein Praktikum beginnen wird (Voraussetzung für die Anerkennung des im Herkunftsland erworbenen Diploms ist, dass ein Praktikum in einem deutschen Krankenhaus absolviert wird). Ihre Problemdarstellung enthält ein weiteres, allerdings nicht lexikalisiertes Darstellungsmoment: Sie spricht in einem Tonfall, der symptomatisch ist für die Bekundung von Enttäuschung und Verärgerung. Um welche thematischen Aspekte und pragmatischen Implikationen wird die allgemeine und situationseröffnende Falltypisierung des Beraters („Anerkennung des Diploms“) hier (Z. 19-25) angereichert? Und welche Verstehensaufgaben werden für den Berater damit akut? Die zuvor vom Berater vorgenommene Kennzeichnung der Angelegenheit, um die es im Fall der Klientin geht (di: e; (1.1) AN ↓ erKENnung- (.) des diPLOMS; (Z. 13-14)), wird von dieser als Gelegenheit verstanden, ihre Anspruchsberechtigung nachzuweisen. Die allgemeine und kategoriale Benennung des Anliegens der Klientin wird unter zwei Aspekten spezifiziert: a) unter Bezug auf die Freundin erfolgt eine Kenntlichmachung der Kriterien, die die Klientin als maßgeblich für die Entscheidung über die Anerkennung des im Herkunftsland erworbenen Diploms ansieht (gleiche Berufsausbildung, gleicher Ausbildungsträger); <?page no="151"?> Verstehensdokumentation in der Migrationsberatung 151 Reitemeier_final b) mit der behaupteten Gleichheit der Anerkennungskriterien und mit dem angeschlossenen Hinweis darauf, dass die Freundin am „dritten Januar“ (Z. 33) ein Praktikum beginnt, verdeutlicht sie sowohl ihren Anspruch, von den zuständigen Stellen in gleicher Weise wie die Freundin behandelt zu werden, als auch das Anliegen, das sie gegenüber dem Berater hat: Er soll ihr dabei helfen, diesen Anspruch zu realisieren. Diese Konkretisierungen zur allgemein und kategorial gekennzeichneten Fallproblematik implizieren für den Berater folgende Verstehensaufgaben: - Er muss verstehen, worauf es der Klientin ankommt, was sie also in Sachen Anerkennung der mitgebrachten beruflichen Qualifikation für sich erreichen möchte (Verstehen des problembezogenen Handlungsplans der Klienten); - er muss verstehen, was sie in dieser Angelegenheit speziell von ihm erwartet (Verstehen des Klientenanliegens) und - außerdem muss er beurteilen, ob die von der Klientin gegebene Problemdarstellung ausreichend ist, um gegenüber zuständigen Stellen im Interesse der Klientin agieren zu können (Verstehen, ob die klientenseitig gegebene Problemdarstellung ein Sachverhalt ist, der bearbeitbar ist mit den Ressourcen und im Relevanzrahmen der Beratungsstelle). Wie nun reagiert der Berater auf die Problemdarstellung der Klientin und wie bearbeitet er dabei diese Verstehensaufgaben? 4.3 Die Reaktion des Beraters auf die Problemdarstellung der Klientin Die genannten Verstehensaufgaben bearbeitet der Berater mittels einer relevanzrückstufenden Verstehensdokumentation. Der Wiedergabe dieser Aktivität ist vorauszuschicken, dass schon im Zuge der Darstellungsaktivitäten der Klienten eine beraterseitige Reaktion zu beobachten ist, die vermuten lässt, dass der Berater schon früher versucht hat, die Gesprächsaktivitäten der Klientin zu stoppen (siehe das SO; in Zeile 26, das in Überschneidung mit dem von der Klientin verwendeten Ausdruck ARbeitsbuch- (Z. 25) geäußert wird). Nun aber zur ausgebauten Reaktion des Beraters im Anschluss an die Problemdarstellung der Klientin (der folgende Transkriptionsausschnitt gibt mehr als nur die beraterseitigen Äußerungen wieder, da ich zur Rekonstruktion des damit realisierten Verfahrens der Verstehensdokumentation auch auf klientenseitige Anschlussäußerungen Bezug nehme): <?page no="152"?> Ulrich Reitemeier 152 Reitemeier_final #2 7002.02 (00: 00: 51-00: 01: 24) 33 (1.1) am dritte JAnuar AN; 34 <<t>das PRAKtikum zu MACHen,> 35 (4.3) 36 SM: <<all>WARten> sie; 37 beVOR wir das: HIER mit der FREUN ↓ <<t>din 38 vergleichen-> 39 (-) 40 AW: [<<p>(da: / ja: )? >] 41 SM: [ob ] es GLEICH is. 42 (-) 43 AW: ’hmHM, 44 (--) 45 SM: <<all>GEhen wir> noch: mal; = 46 =sie SIND zuERST in rheinland PFALZ 47 ge[WE ]sen; 48 AW: [ja-] 49 (--) ich WAR aber HI: ER. 50 <<t>herr GUSSmaurus-=> 51 =es WAR HI: ER, 52 (--) <<all>die MUTter war doch HIER 53 und die geSCHWISter; 54 und da BIN ich MEHRmals <dim>HERgekommen 55 wegen dem; > 56 (-) wegen- 57 (-) ich HAB geDACHT; > 58 (-) vielleicht FIND ich mir da WOHnung- 59 und=<<knarrend>äh,> 60 (-) <<all>kann UM ↓ ziehen-> 61 aber das hat nicht geKLAPPT, 62 (--) und dann HAT mich die HAUSmeisterin, 63 von ulMENstraße; daHINgeschickt <<dim>ins 64 evanGElische KRANkenhaus; > Der Berater leitet seine Reaktion ein mit einer Formel zur Organisation - genauer gesagt: zur Zurückstellung - von Gesprächsaktivitäten (<<all>WARten> sie; (Z. 36)). Er benennt dann eine Aktivität, die er zurückgestellt wissen will, wobei er diese deutlich als eine gemeinsam durchzuführende Aktivität markiert (beVOR wir das: HIER mit der FREUN ↓ <<t>din vergleichen-> ob <?page no="153"?> Verstehensdokumentation in der Migrationsberatung 153 Reitemeier_final es GLEICH is. (Z. 37-38, Z. 41)). Es folgt eine weitere, formulatorisch verkürzte Aktivität (<<all>GEhen wir> noch: mal; Z. 45), mit der ein bisher noch nicht thematisierter, aber als Bestandteil gemeinsamen Wissens vorausgesetzter Sachverhalt fokussiert wird. Diese Wendung markiert hier nicht etwa einen in früheren Gesprächen thematisierten Sachverhalt, sondern einen Sachverhalt, der in den Bereich der rechtlich-administrativ vorgelagerten Voraussetzungen der Fallbearbeitung fällt. Abgeschlossen wird die Reaktion des Beraters mit einer konstativen Äußerung, die sich auf ein Bundesland bezieht, in dem sich die Klientin aufgehalten hat (die Verwendung des Temporaladverbs zuerst in Z. 46 bezieht sich auf den Zeitpunkt unmittelbar nach ihrer Einreise). Die kategoriale Problemdefinition, die der Berater gleich zu Beginn des Gespräches vornimmt („Anerkennung des Diploms“) ratifiziert die Klientin mit einem kurzen ja; (Z. 15). Sie fährt - nachdem der Berater noch durch das geSUNDheitsamt angefügt hat (Z. 17) - dann fort mit Äußerungen, mit denen sie behauptet, dass sie über die gleichen Voraussetzungen zur Anerkennung ihres Diploms verfügt wie ihr Freundin (Z. 19-25). Auf diese Äußerung bezieht sich der Berater anschließend aber nicht so, als wäre damit eine ausreichende Detaillierung des problematischen Sachverhaltes geleistet. Er bringt zum Ausdruck, dass ihre Problemdarstellung der genaueren Überprüfung bedarf und dies als übernächste Aktivität in Angriff genommen werden soll. Der Berater reagiert zudem mit einer Verdeutlichung vorher zu klärender Dinge. Dadurch wird dem, was der Berater als Bearbeitungsgegenstand ratifiziert, der Status einer nachrangigen Aktivität zugewiesen. Wie sich im Einzelnen Verstehensleistungen des Beraters in dieser Gesprächsaktivität manifestieren und sich das Funktionieren des Verfahrens der relevanzrückstufenden Verstehensdokumentation gestaltet, sei im Folgenden beschrieben. 4.4 Das Verfahren der relevanzrückstufenden Verstehensdokumentation in seiner sprachlichen Ausgestaltung und sequenziellen Realisierung 4.4.1 Die formulatorisch-stilistische Gestaltung der relevanzrückstufenden Verstehensdokumentation Die Reaktion des Beraters erfolgt in einer Anredeform, die im Imperativ gehalten ist. Das an die Klientin adressierte <<all>WARten> sie; (Z. 36) setzt in erster Linie einen ablauforganisatorischen Orientierungspunkt. Die ablauforganisatorische Aktivität des Beraters wird in dem dann folgenden beVOR <?page no="154"?> Ulrich Reitemeier 154 Reitemeier_final wir das: HIER mit der FREUN ↓ <<t>din vergleichen-> ob es GLEICH is. (Z. 37-38, Z. 41) dahingehend erweitert, dass ein übernächster Aktivitätsschritt konkretisiert wird. Die Problemdarstellung der Klientin wird damit in eine gemeinsam zu bearbeitende Handlungsaufgabe transformiert. Das vorangestellte Temporaladverb „bevor“ in Z. 37 allerdings markiert, dass der Berater diese als eine Handlungsaufgabe einstuft, deren Dringlichkeit vorübergehend zu suspendieren ist. Die Kennzeichnung als gemeinsam zu bearbeitender Aktivitätsschritt im Gebrauch der Wir-Form unterstreicht, dass das von der Klientin vorgebrachte Problem vom Berater prinzipiell als Impuls zur Etablierung eines Arbeitsbündnisses aufgenommen worden ist. Mit dem deiktischen Ausdruck das: HIER (Z. 37) wird das Referenzobjekt benannt, das für den Berater an den Äußerungen der Klientin von zentraler Bedeutung ist - die Fallproblematik, die die Klientin mit ihren mitgebrachten Unterlagen und mit ihrer Problemdarstellung präsent gemacht hat. Die Anschlussäußerung des Beraters enthält ein mit der Problemdarstellung der Klientin identisches Formulierungselement (FREUN ↓ <<t>din (Z. 37)). Im Vergleich mit der Gesprächsaktivität, in der die Klientin ihr Problem dargestellt hat, fällt ferner auf, dass die darin aufgestellte Behauptung über gleiche Ausbildungsbedingungen (das GLEIche dass sie geLERnt hat- <<all> und im ä: h> (-) GLEIche- (---) in dem GLEIche KRANkenhaus haben wir geAR ↓ beitet- (Z. 21-24)) in der beraterseitigen Äußerung mit dem Verb vergleichen (Z. 38) pragmatisch gewendet und als ein zu prüfender Sachverhalt aufgenommen wird (ob es GLEICH is. (Z. 41)). Das, was die Klientin über ihre Freundin mitgebracht hat, soll abgeglichen werden mit ihren Daten zur Berufsausbildung und -tätigkeit. Das angefügte ob es GLEICH is. (Z. 41) markiert eine gewisse Offenheit des Ausgangs dieser Vergleichsaktivitäten. Indem dieser Schritt des Vergleichens explizit benannt und er in seinem Ergebnis als noch offen eingestuft wird, wird deutlich gemacht, dass das Bearbeitungsansinnen der Klientin zwar prinzipiell verstanden wurde, jedoch noch nicht situationsverbindlich als solches etabliert ist. Es wird also zum Ausdruck gebracht, dass die von der Klientin behauptete Fallgleichheit als überprüfungsbedürftig angesehen wird und dass ihrer Problemdarstellung noch keine Sachverhalte entnommen werden konnten, die soweit fest stehen und geklärt sind, dass sie weitere Bearbeitungsaktivitäten steuern könnten. In der dann folgenden Gesprächsaktivität des Beraters ist ein Wechsel der Äußerungskonstruktion festzustellen (<<all>GEhen wir> noch: mal; = =sie SIND zuERST in rheinland PFALZ geWEsen; (Z. 45-47)). Insgesamt vollzieht sich in <?page no="155"?> Verstehensdokumentation in der Migrationsberatung 155 Reitemeier_final diesem Redezug das Zurückgehen auf Sachverhalte, deren Thematisierung der Berater zuvor als ‘vorher zu klärende’ markiert hatte. Der Formulierungsansatz <<all >GEhen wir> noch: mal; (Z. 45) hat dabei Account-Qualität für das am Anfang seiner Reaktion geäußerte <<all >WARten> sie; (Z. 36): Die an die Klientin ergangene Aufforderung <<all >WARten> wird damit erklärt, dass etwas berücksichtigt bzw. auf etwas zurückgegangen werden muss, was bisher noch nicht zur Sprache gekommen ist (das angehängte <<all>GEhen wir> noch: mal; (Z. 45) wiederum ist geeignet, anzuzeigen, dass es um einen Sachverhalt geht, über den früher schon einmal gesprochen wurde). Bei der fragmentarischen Formulierungsweise bleibt allerdings offen, wohin oder worauf zurückgegangen werden soll. Auch gibt der Berater keine weiteren Erklärungen dafür, warum noch auf etwas anderes einzugehen ist. An der Stelle, an der eine Konkretisierung des Sachverhaltes oder des Themenbereiches, auf den eingegangen werden soll, erwartbar ist, lässt der Berater die konstatierende Äußerung (sie SIND zuERST in rheinlandPFLAZ geWEse; (Z. 46-47)) folgen. Statt einer kategorialen Benennung des Bezugspunktes, an dem die Problembearbeitung des Beraters ansetzt (analog etwa zu dem Formulierungsmuster: „gehen wir noch mal durch, wo sie sich aufgehalten haben, seit sie in Deutschland sind“), beginnt der Berater mit einer chronologischen Rekapitulation. Er macht hier eine Aussage über einen zurückliegendenAufenthalt der Klientin im Bundesland Rheinland-Pfalz. In Überschneidung mit dieser Äußerung reagiert die Klientin mit einer Äußerung, in der Korrekturabsichten bezüglich der beraterseitigen Sachverhaltsfeststellung angezeigt werden. Zwar bestätigt sie in Z. 48 mit einem kurzen jadie konstatierende Äußerung des Beraters, lässt dann aber einen adversativen Äußerungsteil folgen (ich WAR aber HI: ER,. <<t>herr GUSSmaurus-=> =es WAR HI: ER) war; (Z. 49-51)). Mit dem darin verwendeten Lokaladverb hier verweist die Klientin darauf, sich in dem Bundesland aufgehalten zu haben, in dem sie und der Berater sich aktuell befinden. 4.4.2 Die Verstehensdokumentation in der Reaktion des Beraters Zwar sind mit vorausgegangenen kommunikativen Aktivitäten (Telefongespräch, Situationsherstellung und kategoriale Benennung des Anliegens der Klientin durch den Berater) bereits erste Annäherungen an das professionelle Relevanzsystem vollzogen worden, sie genügen aber noch nicht den für die Herstellung institutionenspezifischer Bearbeitungsfähigkeit des Klientenproblems insgesamt zu berücksichtigen Anforderungen. Es gibt zwar eine Konvergenz in den Handlungsorientierungen der Beteiligten, al- <?page no="156"?> Ulrich Reitemeier 156 Reitemeier_final lerdings ist diese Konvergenz von begrenzter Reichweite und bedarf daher - in der Handlungsperspektive des Beraters - der zügigen gesprächslokalen Bearbeitung. Mit seiner Reaktion auf die Problemdarstellung der Klientin weist der Berater der Bearbeitung der von der Klientin behaupteten Fallgleichheit eine nachrangige Dringlichkeit zu (<<all>WARten> sie; beVOR wir das: HIER mit der FREUN ↓ <<t>din vergleichen-> ob es GLEICH is. (Z. 36-38, Z. 41)); eine solche Aktivität setzt voraus, dass verstanden worden ist, worum es in der Sache geht bzw. was für ein Anliegen vorgebracht worden ist. Die dabei gewählte imperative Anredeform zeigt nicht nur an, dass der Berater sich nach den Ausführungen der Klientin veranlasst sieht, hinsichtlich der weiteren Aktivitätsfolge steuernd einzugreifen, sie zeigt implizit auch an, dass der Berater die Äußerungen der Klientin soweit verstanden hat, dass er einen vorübergehenden Stopp ihrer Aktivitätsorientierung und eine zwischengeschaltete Aktivität zur nachträglichen Bearbeitung von außer Acht Gelassenem für erforderlich hält. Wie der Berater die klientenseitigen Äußerungen verstanden hat, wird ferner daran deutlich, dass er Ausdrücke verwendet, die mit der Semantik der von der Klientin behaupteten Gleichheit der Fälle eng korrespondieren. Allerdings wird auf diese Gleichheitsbehauptung nicht sofort als Plattform für weitere Operationen Bezug genommen, sondern sie wird zunächst einmal nur in eine gemeinsam durchzuführende Handlungsaufgabe transformiert. In der beraterseitigen Reaktion bildet sich nicht nur ab, wie er das konkrete Anliegen der Klientin verstanden hat (als Ersuchen um Hilfe bei der Regelung der Anerkennung eines Diploms), sondern auch, wie er die Anliegenspräsentation auf sein professionelles Relevanzsystem bezieht, nämlich als einen Input, der spezifische Folgeaktivitäten nach sich zieht. Da dieser Input aber noch lückenhaft ist, sind zunächst solche Folgeaktivitäten zu initiieren, die geeignet sind, bestehende Lücken zu schließen. In seiner Reaktion zeigt der Berater somit Dreierlei an: - dass das Anliegen, das die Klientin ihm gegenüber hat, „angekommen“, also von ihm verstanden worden ist; - dass die Problemdarstellung der Klientin in ein noch abzuarbeitendes Aktivitätsprogramm transformiert wurde und - dass die Problemdarstellung der Klientin in Punkten defizitär ist, die für sein advokatorisches Tätigwerden notwendig sind. <?page no="157"?> Verstehensdokumentation in der Migrationsberatung 157 Reitemeier_final Sicherlich ist der latente Mitteilungsgehalt, der in der Problemdarstellung der Klientin enthalten ist („Ich will genauso behandelt werden wie meine Freundin und ebenfalls als Krankenschwester anerkannt werden! “) verstanden worden, diesen behandelt der Berater aber nicht in erkennbarer Weise als solchen. Indem er dies unterlässt, kann er seinen Fokuswechsel als Vorklärung einbringen, ohne ihn mit Markierungen des Zurückweisens unzulänglicher Wissenskompetenzen der Klientin oder ähnlichem zu versehen. Der transformierende Vorgang indiziert, dass der Berater in einem ganz spezifischen Relevanzrahmen Verstehensleistungen vollzieht. In diesem Relevanzrahmen ist das Problem, das die Klientin hat, nicht einfach nur in sachlicher Hinsicht interpretationsrelevant, sondern auch unter pragmatischen Gesichtspunkten, die insbesondere dem Berater auferlegt sind. Seine Verstehensdokumentation hat daher sowohl retrospektive als auch prospektive Bezüge. In retrospektiver Perspektivierung wird auf die Problemdarstellung der Klientin insgesamt reagiert - das Bearbeitungsansinnen, das sie vorgebracht hat, wird prinzipiell ratifiziert. Der prospektive Bezug gilt dem weiteren Umgang mit dem Bearbeitungsansinnen in der aktuellen Situation - der Berater macht deutlich, dass die Ausführungen der Klientin noch nicht so umfassend, erschöpfend oder zugeschnitten sind, dass sogleich zur unmittelbaren Problembearbeitung übergegangen werden könnte. Und er zeigt an, dass die Gleichlagerung ihres und des Falles ihrer Freundin noch Gegenstand darauf bezogener Überprüfungsaktivitäten sein wird. Auch macht der Berater hier deutlich, dass er es ist, der gleichsam als Verfahrenswalter agiert, nicht die Klientin. 4.4.3 Wie Berater und Klientin von impliziten Verstehensgrundlagen Gebrauch machen Die klientenseitige Generierung von Verstehensaufgaben im Zuge der Problemdarstellung basiert auf einem Wissen um die Funktionsrolle des professionell Beteiligten. Das heißt, die Klientin kann in der Gewissheit, dass eine institutionalisierte Bereitschaft bzw. Verpflichtung zur Bearbeitung ihres Problems besteht, agieren (daher - und aufgrund vorausgegangener telefonischer Absprachen - die sehr zügige Präsentation des Arbeitszeugnisses ihrer Freundin). Die vom Berater produzierte Verstehensdokumentation wiederum basiert auf dieser klientenseitigen Annahme hinsichtlich seiner Funktionsrolle. Vorklärungen über Zuständigkeiten, Bearbeitungsbereitschaft usw. sind obsolet. Somit kann auch die Verstehensdokumentation, mit der er auf die Problemdarstellung der Klientin reagiert, sogleich auf pragmatische bzw. ablauforganisatorische Erfordernisse zugeschnitten werden. Dass ein Arbeitsbündnis <?page no="158"?> Ulrich Reitemeier 158 Reitemeier_final zwischen ihm und der Klientin in Kraft ist, lässt sich dabei anzeigen, indem schon an dem Problem der Klientin gearbeitet wird, sozusagen schon in professionellen Relevanzen agiert wird. Der Berater unterstellt, dass die Klientin imstande ist, die Rekapitulation administrativer Falldaten als vordringlichere und obligatorische Aktivität mitzumachen, ohne dies näher erklären zu müssen. Der Klientin wird abverlangt, Logik und Berechtigung der Anwendung professioneller Relevanzen aus dem Vollzugshandeln heraus zu verstehen. Der Berater ist also nicht darum bemüht, sein Handeln für die Klientin transparent zu machen (etwa mittels einer Erklärung dazu, warum noch mal „zurückgegangen“ werden muss). Für ihn ist offenbar weniger von Belang, dass die Klientin diesen Aktivitätsschritt versteht, als vielmehr, dass sie ihn akzeptiert. Somit basiert die Relevanzrückstufung des vorgebrachten Anliegens auf der Unterstellung einer fraglosen klientenseitigen Anerkennung institutioneller Bearbeitungsregeln und eingespielter Bearbeitungsroutinen. Zugespitzter formuliert: Die Relevanzrückstufung impliziert eine Anerkennung der Vorrangigkeit institutioneller Bearbeitungsrelevanzen vor den Bearbeitungserwartungen der Klientenpartei. Dass im Wissen um institutionell abgesicherte Bearbeitungsbereitschaft des Beraters das Klientenproblem vorgebracht werden und der Berater eben solche Wissensstrukturen auf Seiten der Klientin unterstellen kann, geht einher mit der Produktion spezifischer Verstehensanforderungen an die Klientin. In der Position desjenigen, der sich des Klientenproblems im professionellen Relevanzrahmen und in seiner Funktionsrolle annimmt, kann der Berater seine Verstehensdokumentation so gestalten, dass die Relevanzrückstufung des Bearbeitungsanliegens der Klientin als nicht weiter explikations- oder begründungsbedürftig behandelt wird. Wie gesehen (vgl. Kap. 4.2) stützt die Klientin ihren Anspruch auf Anerkennung ihres Diploms als Krankenschwester auf den Fall ihrer Freundin, den sie als gleichgelagert ansieht. Ihrer Anspruchshaltung liegt ein Konstruktionsprinzip zugrunde, dass in alltagsweltlich-naiven, also juristisch nicht fundierten Gleichbehandlungsvorstellungen gründet. Die so konstruierte Anspruchshaltung der Klientin wird auf dem Wege der relevanzrückstufenden Verstehensdokumentation in Opposition gestellt zu einer Anspruchshaltung, die strikt nach administrativ-rechtlichen Maßstäben konstruiert ist. Damit unterstellt der Berater, dass die Klientin imstande ist, a) ohne weiteres nachzuvollziehen, dass eine andere Aktivitätsorientierung vordringlicher ist (das Erfas- <?page no="159"?> Verstehensdokumentation in der Migrationsberatung 159 Reitemeier_final sen rechtlich-administrativer Falldaten) und b), dass sie das Übergehen subjektiver und emotionaler Anteile 23 ihrer Problempräsentation akzeptiert. 4.4.4 Struktureller Aufbau und interaktionsstrukturelle Einbettung des Verfahrens Die relevanzrückstufende Verstehensdokumentation ist ein reaktiv funktionierendes Verfahren. Nach einer vorgängigen Gesprächsaktivität wird diese hinsichtlich ihrer thematischen Relevanz bzw. hinsichtlich ihrer strukturierenden Implikationen für das weitere Interaktionsgeschehen zwar anerkannt, jedoch als eine Aktivität, deren Steuerungsimpuls nur aufgenommen werden kann, wenn zuvor Aktivitäten eines anderen Typs vollzogen werden. Neben der reaktiven Verwendungsweise zeichnet sich das Verfahren durch Kombination einer verstehensindikativen Komponente mit einer umfokussierenden Komponente aus. Prinzipiell handelt es sich somit um ein zweischrittiges Verfahren, bestehend aus einer Aktivität, in der der Sinnstruktur nach zum Ausdruck gebracht wird: „ich habe verstanden worum es ihnen geht“ (verstehensindikative Komponente) und einer, mit der deutlich gemacht wird: „aber bevor wir dem nachgehen können, müssen wir uns noch einer anderen Sache widmen“ (Umorientierungskomponente). Im hier ausführlich behandelten Beispiel findet sich noch ein vorgeschalteter Aktivitätsschritt. Bevor der Berater zeigt, wie er die Äußerungen der Klientin versteht, erfolgt mit der Aufforderung <<all>WARten> sie; (Z. 36) eine Ankündigung der relevanzrückstufenden und der sich daran anschließenden relevanzhochgestuften Aktivität. Diese Aufforderung sehe ich als einen Vorläufer und Verstärker der Umorientierungskomponente an. Wie das folgende Beispiel aus einem anderen Beratungsgespräch zeigt, kann eine solche Vorankündigung der Relevanzrückstufung und anschließenden höherstufigen Relevanzmarkierung auch ausbleiben. #3 7002.05 (00: 01: 21-00: 01: 27 110 SW: und das ] <<pp>hier> die TOCHter; 111 (-) <<p>gu: t-> 112 (-) 113 RW: ich WEIß nicht; 23 Wie schon erwähnt, werden diese Anteile mit prosodischen Mitteln und im Duktus des Enttäuscht- und Verärgertseins über die ungünstigere Anerkennungsregelung, die in ihrem Falle gelten soll, zum Ausdruck gebracht. <?page no="160"?> Ulrich Reitemeier 160 Reitemeier_final 114 <<dim>KANN man das ABschicken oder [nicht; > ] 115 SW: [DES kann; ] 116 <<all>ich GUCK gleich mal DURCH. 117 (-) 118 RW: [JA ja; ] 119 SW: [WOLLN wer] erst mal HIER durchGUcken? > 120 RW: <<p>ja-> Die relevanzrückstufende Verstehensdokumentation ist ähnlich wie das jaaber-Format 24 ein rechtsgerichtes Verfahren, es stellt zwei Foki in Opposition zueinander, 25 wobei der zweite als der relevantere markiert und als Fixpunkt für das Anschlusshandeln etabliert wird. Mit der Hintereinanderschaltung beider Komponenten im Fallbeispiel „Krankenschwester oder -pflegehelferin“ wird das Bearbeitungserfordernis, das mit der Problemdarstellung der Klientin relevant gesetzt wurde, bestätigt, es erfolgt aber auch ein Bezug auf das Relevanzsystem des professionell Beteiligten und damit eine Markierung des Relevanzrahmens, in dem das Klientenproblem einen bearbeitungsfähigen Sachverhalt darstellt. Indem der verstehensindikativen Komponente und der Umorientierungskomponente unmittelbar eine Äußerung zum Einstieg in die Bearbeitung der als vordringlich angesehen Handlungsaufgabe folgt (Nennung des administrativrechtlich relevanten Faktums des Aufenthalts in einem Bundesland), ist hochgradig erwartbar gemacht, dass die Klientin zur Bearbeitung dieser Handlungsaufgabe beiträgt. Dieses zweischrittige Verfahren der Verstehensdokumentation impliziert somit auch eine Beschneidung von Aushandlungschancen für das adressierte Gegenüber. So ist es der Klientin kaum möglich, sich dem Frageschema, das der Berater mit der Äußerung <<all>GEhen wir> noch: mal; = =sie SIND zuERST in rheinland PFALZ geWEsen; (7002.02; „Krankenschwester oder -pflegehelferin“ (Z. 45-47)) initiiert, zu entziehen oder es durch eigene Handlungsprojektionen zu verdrängen. Dies versucht sie zwar im unmittelbaren Anschluss an die Umorientierungsaktivität des Beraters (siehe Z. 49-55), dieser kommt im weiteren Verlauf des Gespräches aber wieder auf dieses Klärungserfordernis zurück (siehe hierzu auch Kap. 4.5.3). 24 Ausführliche Analysen zu diesem Äußerungsformat finden sich in Kallmeyer/ Schmitt (1991). 25 Im Beispiel #3 wird der Versuch von RW , zu klären, ob man die Unterlagen der Tochter in der vorliegenden Form abschicken kann, mit dem beraterseitigen Bemühen, den bereits begonnen Sichtungsgang fortzusetzen, abgeblockt. <?page no="161"?> Verstehensdokumentation in der Migrationsberatung 161 Reitemeier_final 4.4.5 Die Handlungsfunktionalität des spezifischen ‘recipient designs’ der relevanzrückstufenden Verstehensdokumentation Das konversationsanalytische Konzept ‘recipient design’ (Sacks 1992, S. 385ff., 438ff.) bezieht sich darauf, dass Gesprächsbeiträge Merkmale aufweisen, an denen kenntlich wird, wie sich der jeweilige Sprecher auf Identitätsmerkmale des Adressaten seiner Äußerung bezieht. Der rezipientenspezifische Zuschnitt von Äußerungen ist insofern von Relevanz für Verstehensprozesse, als sich darin manifestiert, welche Annahmen über soziale Eigenschaften des Gegenübers interpretationsleitend sind und wie Äußerungen des Gegenübers als Beiträge zur Konstitution einer spezifischen Interaktionsbeziehung verstanden worden sind. Das ‘recipient design’ der relevanzrückstufenden Verstehensdokumentation wird im vorliegenden Fall geformt durch - eine imperative Anredeform (die Klientin wird mit dem <<all>WARten< sie; (Z. 36) adressiert als Akteurin, die in ihrer Aktivitätsorientierung gebremst werden muss; desgleichen wird sie damit als Akteurin in einem bereits etablierten Arbeitsbündnis adressiert), 26 - durch die Verwendung der Wir-Form in dem Äußerungsteil, in dem das Anliegen der Klientin ratifiziert und diese über nächste Schritte der Bearbeitung ihres Anliegens orientiert wird (beVOR wir das: HIER mit der FREUN ↓ <<t>din vergleichen-> (Z. 37-38)), - durch die Verwendung der Wir-Form bei der Umfokussierungsaktivität (<<all>GEhen wir> noch: mal; = (Z. 45)) sowie - mit der Anredeform des Siezens bei der Ingangsetzung eines Frage-Antwort-Schemas (die Klientin wird hier als Situationsbeteiligte, für die spezifische Aktivitätsverpflichtungen hinsichtlich vorzuziehender Bearbeitungsschritte bestehen, adressiert). Der Gebrauch dieser Adressierungsmittel bzw. der Wechsel zwischen persönlicher Anredeform und dem Gebrauch der Wir-Form indiziert, dass die Relevanzrückstufung des Klientenanliegens sowohl mit dem Teilnehmerstatus der 26 Die Umorientierungskomponente dieses Verfahrens hat für die Klienten Implikationen, die sich in Anlehnung an das ethnomethodologische Konzept der Basisregeln als Entzug von Möglichkeiten autonomer Kontrolle über situative Bedeutungszuschreibungen fassen lassen (vgl. Wolff et al. 1977, S. 296ff.). Zum grundlagentheoretischen Konzept der Basisregeln und zu reziprozitätskonstitutiven Idealisierungen siehe auch Schütze (1975, S. 568-586). <?page no="162"?> Ulrich Reitemeier 162 Reitemeier_final Klientin als auch mit dem des Beraters etwas zu tun hat. Dies manifestiert sich in Folgendem: Das von der Klientin dargestellte Problem wird aufgenommen als ein Sachverhalt, dem sich beide Seiten im Rahmen eines Arbeitsbündnisses zuwenden. Mit der persönlichen Adressierung der Klientin wiederum wird angezeigt, dass im Rahmen dieses Bündnisses und dieser Kooperationsbeziehung spezifische Regeln für die Klientin gelten (akzeptieren müssen, dass die thematische und ablauforganisatorische Strukturierung durch den Berater erfolgt; dazu verpflichtet sein, Auskunft über die personale Identität geben zu müssen). Desgleichen wird angezeigt, dass sich der Berater in der Position des situationsmächtigen Regelanwenders befindet. Das spezielle Design der Äußerung, in der die relevanzrückstufende Verstehensdokumentation realisiert wird, ist ferner indikativ für besondere Kooperationsgrundlagen, die zwischen dem Berater und der Klientin bestehen, und zwar in zweierlei Hinsicht. 1) Mit dem Gebrauch der Wir-Form wird die Problemdarstellung der Klientin als ein initialer Zug zur Etablierung eines Arbeitsbündnisses ratifiziert. 2) Der Berater stellt das von der Klientin anvisierte Vorgehen (Vergleich mit der Freundin) nicht in Frage und er behandelt es nicht als eines, das sich als überflüssig, gegenstandslos usw. erweisen wird. Insofern er also in Aussicht stellt, dass sie sich gemeinsam noch ihrem Fokus widmen werden, wird in dieser Verstehensdokumentation durchaus Kooperativitätsbereitschaft demonstriert. Dass hier spezifische Kooperationsgrundlagen in Kraft sind, lässt sich auch im Kontrast zu anderen möglichen Reaktionsweisen an dieser Stelle verdeutlichen: Würde der Berater auf die Problemdarstellung der Klientin eine Aktivität folgen lassen, die keinen verstehensindikativen Teil enthält und ganz unvermittelt die Rekonstruktion von Falldaten relevant setzt (etwa mit einer Äußerung wie „Warten Sie, sie sind zuerst in Rheinland-Pfalz gewesen“), würde ein allein auf Falldaten fixiertes Bearbeitungsschema enaktiert werden. Der Berater würde eine ausgesprochen rigide Reaktionsweise an den Tag legen, eine Reaktionsweise, die einem bürokratisch-direkten Arbeitsstil gleich käme. Seine Reaktion auf die Problempräsentation der Klientin ist aber mit Kooperativitätsmarkierungen versehen. Ich mache dies an der prosodischen Gestaltung der Äußerung in Zeile 36-47 fest, aber auch daran, dass er mit seiner Umorientierungsaktivität ja nicht beabsichtigt, das Bearbeitungsansinnen der Klientin abzuweisen. Gleichwohl ist festzuhalten, dass der Berater hier zwar Kooperativität zeigt, dies aber unter den Maßgaben der professionellen Relevanzen geschieht. <?page no="163"?> Verstehensdokumentation in der Migrationsberatung 163 Reitemeier_final Es erfolgt eine Zuwendung auf das Klientenproblem, für die die oben skizzierte Aufsichts- und Kontrollperspektive orientierungsleitend ist. Dies manifestiert sich in der Verletzung reziprozitätskonstituierender Idealisierungen; verstoßen wird gegen Wahrheitsidealisierungen und gegen Kooperativitätsidealisierungen: Das beVOR wir das: HIER mit der FREUN ↓ <<t>din vergleichen-> (Z. 37-38) markiert, dass eine Wahrheitsunterstellung - wie sie in alltäglichen Situationen üblich ist, wenn jemand eine Behauptung über gleiche berufliche Voraussetzungen aufstellt - zurückgenommen und als verifikationsbedürftig eingestuft wird. Mit der Frage =sie SIND zuERST in rheinland PFALZ geWEsen; (Z. 46-47) unterläuft der Berater Kooperativitätsidealisierungen. Seine Aufforderung zur Anliegenspräsentation (sie HATten AN ↓ gerufen, (Z. 9)) macht für die Klientin erwartbar, dass danach Aktivitäten der Problembearbeitung einsetzen. Dass eine diesbezügliche Kooperativitätsidealisierung nur bedingt Gültigkeit hat, zeigt sich daran, dass einseitig und ohne weitere Erklärungsleistungen abzugeben erneut Aktivitätsverpflichtungen für die Klientin aufgebaut werden, die funktional für eine vervollständigende Sachverhaltsklärung sind. 4.5 Die relevanzrückstufende Verstehensdokumentation und ihre Prägung durch handlungsschematische und gattungsspezifische Bedingungen Auf den allgemeinen Funktionszusammenhang zwischen diesem Verfahren der Verstehensdokumentation und beratungsspezifischen Aktivitätsverläufen habe ich bereits hingewiesen: Erst nachdem vom Berater verstanden worden ist, was das Problem eines Klienten ist und welche Problemkonstituenten dabei eine Rolle spielen, kann er über die Bearbeitungsfähigkeit und über nächste Bearbeitungsschritte befinden. Solche Verstehensprozesse und damit verknüpfte Beurteilungen von Bearbeitungsfähigkeit und -optionen sind im Handlungsfeld der Migrationsberatung durch rechtlich-administrative Relevanzen strukturiert. Für Berater ist das Erfassen solcher Relevanzen prioritär. Als was das Klientenproblem verstanden wird, folgt nicht einfach den Kommunikationsbedürfnissen oder der Handlungsperspektive der Klienten, sondern dem rechtlich-administrativen Relevanzrahmen und den darauf zugeschnittenen Routinen der Erfassung der Klienten-Identität. Dies macht es erforderlich, relevanzrückstufenden Verstehensdokumentationen vorzunehmen. Wie vielschichtig die Verkoppelungen zwischen relevanzrückstufender Verstehensdokumentation und handlungsschematisch gebundenen Aktivitäten im Fall „Krankenschwester oder -pflegehelferin“ ist, sei im Folgenden herausgearbeitet. <?page no="164"?> Ulrich Reitemeier 164 Reitemeier_final 4.5.1 Simultanität von Fallverstehen und Aktivitätssteuerung Die Verwendung des Verfahrens im unmittelbaren Anschluss an eine erste detaillierende Problemdarstellung der Klientin zeugt davon, dass sich der Berater an einem spezifischen Ablaufmuster der Problembearbeitung orientiert. Er realisiert Verstehensleistungen, die nicht einfach nur dem Klientenanliegen und den klientenseitigen Äußerungen gelten, sondern auch der Sequenzierung der Handlungsschritte, die zur Bearbeitung des Klientenanliegens erforderlich sind, dienen. Dass der Berater die klientenseitigen Äußerungen auch in handlungslogischen bzw. ablauforganisatorischen Bezügen versteht, manifestiert sich am deutlichsten in der Aufforderung an die Klientin <<all>WARten> sie; (Z. 36). Wie schon gesagt, wird dieses Verständnis allerdings schon früher angezeigt, nämlich in Zeile 26, wo der Berater (erfolglos) versucht, das Äußerungsverhalten der Klientin mit einem knappen, aber deutlich akzentuierten (und in Überlappung mit einer Gesprächsaktivität der Klientin geäußerten) SO; zu bremsen und so an seinen schon gewonnen Vorstellungen von nächsten notwendigen Bearbeitungsschritten auszurichten. Diese ablauforganisatorischen Interventionen während bzw. nach der Problemdarstellung der Klientin indizieren, dass der Berater hier Verstehensleistungen von grundsätzlicher Bedeutung für die Ausrichtung seines eigenen Beteiligungsverhaltens vollzieht. Diese sind auf Fallverstehen bzw. Fallanamnese fokussiert, das Resultat dieser Verstehensleistungen geht in die Initiierung von Aktivitäten ein, die der Berater als unerlässlich ansieht. 4.5.2 Angleichung von Handlungsperspektiven im Zuge der Dominantsetzung des professionellen Relevanzrahmens Es ist der Handlungslogik von Beratung geschuldet, dass Wissenstransfer stattfinden muss. Wissenstransfer wiederum setzt eine zumindest partielle Angleichung der Handlungsperspektiven voraus. Mit dem frühen Einsatz des Verfahrens gleich nach der klientenseitigen Problemdarstellung wird dieses Erfordernis auf folgende Weise bearbeitet: In dem verstehensindikativen Teil des Verfahrens (beVOR wir das: HIER mit der FREUN↓<<t>din vergleichen-> ob es GLEICH is. (Z. 37-38 + 41)) wird die Problemdarstellung der Klientin von subjektiven Akzentsetzungen (Bekundung von Benachteiligungsempfinden und Verärgerung) quasi bereinigt und in spezifische, gemeinsam durchzuführende Handlungsaufgaben übersetzt. Damit - und unter Verzicht auf demonstratives Emotionsverstehen - nimmt der Berater eine gewichtige Modifikation des klientenseitigen Ansinnens vor. <?page no="165"?> Verstehensdokumentation in der Migrationsberatung 165 Reitemeier_final Die Klientin hatte den Problemsachverhalt so eingebracht, als sei er schon hinreichend geklärt, der Berater hingegen stellt ihn hier als eine noch gemeinsam zu erledigende Aufgabe dar. Mit der relevanzrückstufenden Verstehensdokumentation nimmt der Berater eine auf Fallanamnese und auf den ursprünglichen Startpunkt der problematischen Angelegenheit ausgerichtete Perspektive bzw. Verstehenshaltung ein. Dadurch, dass bei diesem Verfahren der Verstehensdokumentation mit Steuerungssignalen operiert wird, und dadurch, dass für die Klientin Aktivitäten eines ganz bestimmten Typs relevant gesetzt werden (Beantwortung der Frage nach dem Bundesland), wird die Verstehenshaltung des Beraters als der Relevanzrahmen etabliert, in den die klientenseitige Perspektive eingepasst werden muss. In dem verstehensindikativen Teil manifestiert sich somit auch, dass Perspektivenangleichung zu Gunsten der professionellen Perspektive und zu Gunsten institutioneller Relevanzen erfolgt. Die handlungsschematische Kernaktivität, die die Klientin mit ihrer Problempräsentation vollzogen hat, erfährt dabei eine Fremdkorrektur, und zwar insofern, als diese initiale Aktivität um den Aspekt des ‘vorrangig zu Berücksichtigenden’ ergänzt wird. 4.5.3 Funktionalität für situationsspezifische Einsozialisierungserfordernisse Als gesellschaftliche Lösung spezifischer kommunikativer Aufgaben zeichnet sich professionelle Beratung vor allem durch besondere institutionelle und arbeitsorganisatorische Vorkehrungen der Verfügbarmachung spezialisierter Problembearbeitungskompetenz aus (vgl. Reitemeier 1994). Beraterische Dienst- und Hilfeleistung ist dadurch in hohem Maße erwartungssicher. Dies hat allerdings spezifische interaktionsstrukturelle Implikationen, die wiederum das Profil der Verstehensaufgaben formen und sich in den kommunikativen Verfahren ihrer Bearbeitung bemerkbar machen. So besteht eine basale interaktionsstrukturelle Anforderung für Ratsuchende darin, dass sie ein gewisses Maß an Wissen über Zuständigkeiten und Arbeitsweise der Beratungsstelle besitzen müssen, damit es überhaupt zur Kontaktaufnahme und zur Abklärung von Problemzuständigkeit und Bearbeitungsbereitschaft kommen kann. Wenn auch auf Klientenseite ein solches Vorwissen gegeben ist, ist damit nicht automatisch gewährleistet, dass klientenseitige Äußerungen passgenau auf die professionelle Bearbeitungsperspektive zugeschnitten sind (siehe auch Kap. 3.3.2.1). Das zeigt sich im Fall „Krankenschwester oder -pflegehelferin“ daran, dass mit der Verstehensdokumentation Aktivitäten zur Komplettierung der klientenseitigen Problemdarstellung initiiert werden (konkret: Umfokussierung der Interaktion auf Klärung des maßgeblichen Bundeslandes). Inso- <?page no="166"?> Ulrich Reitemeier 166 Reitemeier_final weit kommen dem Verfahren der relevanzrückstufenden Verstehensdokumentation auch Reparaturfunktionen handlungsschematischer Art zu (siehe Kap. 4.5.2). Den institutionell-organisatorischen Vorkehrungen zur effektiven Bearbeitung migrationsbedingter Problemlagen ist es des Weiteren geschuldet, dass in der Interaktion zwischen Problembetroffenen und Beratern Erfordernisse der Einsozialisierung in die besonderen Bedingungen, unter denen Beratungsarbeit erbracht wird, akut werden. Dadurch, dass in der relevanzrückstufenden Komponente der Verstehensdokumentation (<<all>WARten> sie; (Z. 36)) ein Abbremsen der klientenseitigen Aktivitätsorientierung und der Einstieg in die Bearbeitung der als vorrangig zu behandelnden Handlungsaufgaben erfolgt (<<all>GEhen wir> noch: mal; = =sie SIND zuERST in rheinland PFALZ geWEsen (Z. 45-46)), wird von Beteiligungsrechten Gebrauch gemacht, die nur dem Berater zustehen. Auf diese Weise wird die Klientin gesprächslokal in normative Strukturen einsozialisiert, die für das helfende und advokatorische Tätigsein des Beraters konstitutiv sind. Diese normativen Strukturen bestehen nicht nur aus den Regeln, nach denen die Kompetenz zur Interaktionssteuerung verteilt wird, sie bestehen auch aus Regeln, die das professionell korrekte Vorgehen betreffen (hier die Ausrichtung der Problembearbeitung an Sachverhalten, die für eine rechtlich stimmige Fallbeurteilung notwendig sind). Dieser Aspekt bedarf der vertiefenden Erläuterung. Die fundamentale Regel, der der Berater bei der Bearbeitung des Problems der Klientin zu folgen bemüht ist, ist die, dass administrative Zuständigkeiten zu beachten sind. Erstmals versucht der Berater dies, als er im Zuge der beschriebenen Umorientierungsaktivität nach dem Bundesland fragt, in dem sich die Klientin zuerst aufgehalten hat. Dass es ihm dabei um Klärung eines Falldatums geht, an dem seine Bearbeitungsaktivitäten vorrangig ausgerichtet sind (und das für sein weiteres beraterisches Tätigsein sozusagen eine Weichenstellungsfunktion inne hat), zeigt sich auch an einer Gesprächsstelle, an der der Berater unter erneuter Nennung des Bundeslandes das entscheidende Ausgangsdatum des Falles zu definieren versucht. Dieser Versuch erfolgt in Reaktion auf Gesprächsaktivitäten, in denen die Klientin zunächst chronologisch ihre Bemühungen um einen Arbeitsplatz und um behördliche Anerkennung ihres im Herkunftsland erworbenen Diploms als Krankenschwester darstellt. Diese Darstellungsaktivitäten schließt die Klientin mit dem Hinweis auf einen Behördenkontakt ab, in dem für sie der Startpunkt für das Problematischwerden der Anerkennung des Diploms liegt. <?page no="167"?> Verstehensdokumentation in der Migrationsberatung 167 Reitemeier_final #4 7002.02 (00: 01: 54-00: 02: 17) 84 SM: aber da HATten sie noch keine 85 ANer ↓ <<knarrend>kennung-> 86 (-) 87 AW: nein <<p>nein; > 88 (1.3) und da BIN ich HINgegangen ins 89 evanGElische KRANkenhaus? 90 und da HAT (.) die frau TWOrek geSAGT. 91 (-) sie MÜSsen nach stockHAUsen FAHren- 92 und FRAgen; 93 (---) 94 SM: hmHM? = 95 AW: =weil sie KRANkenSCHWESter WARen; 96 ob sie HIER bei UNS? 97 (---) ANerkennungsPRAKtikum machen KÖNnen; 98 ob sie <<all>bei UNS <<dim>Anfangen 99 können; >> 100 (-) 101 SM: ja- 102 (--) 103 AW: bin ich nach stockHAUsen geFAHren 104 mit dem SOHN, 105 (1.3) und DA war die frau MEIsel; 106 (--) [und da] hat=s ANgefangen; 107 SM: [ja- ] 108 (-) hh (--) ja ↑ ANgefangen hat=s EIgentlich 109 VORher. SIE HATten ja den ANtrag auf 110 ANerkennung in rheinland ↓ PFALZ 111 schon ge[STELLT; ] 112 AW: [HATte ich] <<p>noch [nicht; >] 113 SM: [WO ] 114 sie geWOHNT haben; 115 AW: HATte ich noch NICHT- 116 (-) 117 SM: [DOCH- (-) sie HAben (mir; )] 118 AW: [HAT die frau MEIsel ] geSAGT? Wie dem weiteren Gesprächsverlauf entnommen werden kann, handelt es sich bei der in Zeile 105 erwähnten Frau Meisel um die Mitarbeiterin des Gesundheitsamtes, das in Stockhausen ansässig ist. Dort hat die Klientin die ge- <?page no="168"?> Ulrich Reitemeier 168 Reitemeier_final wünschte Anerkennung ihres Diploms nicht bekommen, insofern hat es für sie in dieser Behörde „angefangen“ (Z. 106), problematisch zu werden. Der Definition dieses an Enttäuschungserleben im Gesundheitsamt geknüpften Startpunktes setzt der Berater eine Definition entgegen, die an der administrativen Genese der Fallproblematik orientiert ist und die die einschlägigen Rechtsbestimmungen des zuständigen Bundeslandes fokussiert (Z. 109-114). Die Klientin kann sich also nicht dem Bearbeitungsschema der an rechtlichadministrativen Relevanzen orientierten Fallrekonstruktion entziehen. So muss sie akzeptieren, dass ihr Versuch, den Startpunkt ihrer Fallproblematik an Erfahrungen mit einer Mitarbeiterin des Gesundheitsamtes festzumachen, abgewiesen wird und stattdesen eine nochmalige Aktivität zur Klärung der Länderzuständigkeit vom Berater ergriffen wird. 4.6 Das Verfahren der relevanzrückstufenden Verstehensdokumentation in seinen Bezügen zu sozialstrukturellen Rahmenbedingungen Sozialstrukturelle Rahmenbedingungen schlagen auf die interaktive Ausgestaltung der Gespräche in der Migrationsberatung vor allem im Umgang mit auferlegten rechtlich-administrativen Relevanzen sowie in der Herstellung von Beteiligungsidentitäten und in Bezugnahmen auf soziale Identitätsmerkmale durch. Wie der Gebrauch des Verfahrens im vorliegenden Fall mit sozialstrukturellen Rahmen verwoben ist, sei nachstehend erläutert. 4.6.1 Fallverstehen - Verstehensarbeit im Kontext des hoheitsstaatlichen Aufnahme- und Anerkennungsverfahrens Im Fallbeispiel „Krankenschwester oder -pflegehelferin“ schneidet die Klientin ihre Problemdarstellung zwar auf den Relevanzrahmen des Beraters zu, kann aber nicht alle Relevanzgesichtspunkte, die für den professionell Beteiligten handlungsleitend sind, berücksichtigen. 27 Die Konvergenz in den Handlungsorientierungen der Beratungsakteure ist von begrenzter Reichweite und bedarf daher der gesprächslokalen Bearbeitung. Mit der in der ‘second pair 27 Klientendarstellungen, bei denen quasi in einem Atemzug ein Problem benannt wird und rechtlich-administrative Falldaten zur eigenen Person geliefert werden, könnten von Beratern als überkorrektes Verhalten oder auch als Missachtung seiner Stellung als Situationsmächtiger verstanden werden. Ein unverfänglicher Stil der Anliegenspräsentation könnte dies allenfalls im Kontakt mit Behörden sein. <?page no="169"?> Verstehensdokumentation in der Migrationsberatung 169 Reitemeier_final part position’ vollzogenen Verstehensdokumentation des Beraters werden im Hinblick auf den institutionellen Umgang des Klientenproblems zentrale Funktionen realisiert: - gegenüber dem subjektiven Problemempfinden und dem vorgebrachten Bearbeitungsanliegen wird die institutionelle Sichtweise auf die Klientensituation als übergeordneter Bezugsrahmen, der das weitere Geschehen maßgeblich bestimmt, relevant gesetzt; - gegenüber dem subjektiven Problemempfinden und dem vorgebrachten Bearbeitungsanliegen der Klientin wird deutlich gemacht, dass diese Darstellungen für sich genommen noch keinen Impuls zur Problembearbeitung setzen können, es dazu vielmehr spezifischer Prüf- und Kategorisierungsvorgänge bedarf. Die Zweischrittigkeit der Verstehensdokumentation (verstehensindikative und Umorientierungskomponente) indiziert einen Verstehensprozess, der typisch für Situationen zwischen Professionellem und Klientin ist: Es geht dem Berater um das Verstehen der Fallproblematik, die die Klientin einbringt. Er hat eine Verstehensperspektive inne, die ihm mit seiner Position als Mittler zwischen Problemlagen der Zugewanderten und der Institutionenwelt der Aufnahmegesellschaft sowie als Mitarbeiter einer karitativen Einrichtung auferlegt ist. Diese Position impliziert eine Aufmerksamkeitsausrichtung auf Sachverhalte rechtlich-administrativer Art, die bereits für den Aufnahme- und Eingliederungsprozess relevant waren oder aber in diesem Prozess geschaffen wurden. Daher ist das Verstehen des Problems eines Klienten für den Berater in zweifacher Hinsicht relevanzgesteuert: Er muss verstehen, welches Problem der Klient hat, und er muss verstehen, wie das vom Klienten präsentierte Problem unter Berücksichtigen aller Problemkonstituenten und rechtlich-administrativen Randbedingungen beschaffen ist. Eine derart vorstrukturierte Aufmerksamkeitsausrichtung auf Probleme, die Klienten haben, geht einher mit Verstehensprozessen, die sich als Fallverstehen charakterisieren lassen: Es wird verstanden auf dem Wege des Einordnens wiederkehrender Problematiken in ein vorgegebenes Raster. Gelingt das Einordnen in die vertraute Problemtypologie, sind damit korrespondierende Bearbeitungsaktivitäten vorgezeichnet. Gelingt dieses Einordnen nicht auf Anhieb, ist vorprogrammiert, dass zunächst weitere Aktivitäten darauf gerichtet sein müssen, solche Daten zu eruieren, die das Erfassen der individuellen Variation eines Problemtyps ermöglichen. So ist im hier behandelten Gesprächsbeispiel der umfokussierende Teil der Verstehensdokumentation durch das <?page no="170"?> Ulrich Reitemeier 170 Reitemeier_final Erfordernis motiviert, das konkrete Anliegen der Klientin an den Zuständigkeiten und Regularien beruflicher Integrationsmaßnahmen zu orientieren, die mit der Wohnsitznahme in einem Bundesland gelten. Der soziale Rahmen, der auf dem Wege des Fallverstehens enaktiert wird, ist letztlich der der hoheitsstaatlichen Gestaltung und Begleitung des Integrationsprozesses. Bei der Gestaltung seiner relevanzrückstufenden Verstehensdokumentation vertraut der Berater darauf, dass die Klientin den umfokussierenden Äußerungsteil in eben diesem Bezugsrahmen versteht, weil sie ein Aufnahme- und Anerkennungsverfahren durchlaufen hat, in dem dieser Relevanzrahmen hoheitsstaatlichen Handelns bereits maßgeblich war. In dem ausgewählten Beispiel versucht der Berater unter Verwendung des Verfahrens der relevanzrückstufenden Verstehensdokumentation einen solchen Prozess des Fallverstehens abzurunden, indem er den Fokus um die im Einbürgerungsprozess geschaffenen - und von der Klienten nicht erwähnten - Sachverhalte erweitert. Dies impliziert eine Relevantsetzung der Sinnbezirke, die von dem Klientenproblem mitbetroffen sind (die hoheitsstaatlichen Vorgaben der Steuerung des Integrationsprozesses und die institutionellen Kontexte, in denen die Umsetzung dieser Vorgaben erfolgt, etwa Ausbildungsstätten, Behörden usw.). Eine Berücksichtigung dieser Sinnbezirke vollzieht sich im Gebrauch dieses Verfahrens, und zwar in beiden Komponenten. 4.6.2 Reproduktion sozialer Asymmetrie im Rahmen eines interaktiven Arbeitsbündnisses Wie gesehen, erfolgt die Anwendung des Verfahrens in der ‘second pair part position’ auf eine problemdarstellende Aktivität der Klientin. Dabei handelt es sich um eine für institutionelle Beratungskonstellationen typische ‘category bound activity’ (Sacks 1992) des beratenden Akteurs. 28 Das heißt, dieses Verfahren der Verstehensdokumentation einzusetzen, ist nur dem im institutionellen Auftrag und in professioneller Funktion tätigen Berater möglich. Nur er ist berechtigt, über die Bearbeitungswürdigkeit und über das weitere ‘handling’ des Klientenproblems zu befinden. Dies ist ein ganz wesentlicher Aspekt der zwischen den Beteiligten bestehenden Asymmetrien. Mit der Kontaktaufnahme zur Beratungsstelle hat sich die Klientin in ein Sozialverhältnis begeben, das nicht einfach nur auf Ausschöpfung von Wis- 28 Zur kategoriengebundenen Verwendung von Verfahren der Verstehensdokumentation, die generell bzw. kontextfrei zur Verfügung stehen, siehe auch Kap. 6.1.3 in dem Beitrag von Reinhold Schmitt (in diesem Band). <?page no="171"?> Verstehensdokumentation in der Migrationsberatung 171 Reitemeier_final senskompetenzen ausgerichtet ist, sondern dafür Regeln vorgibt, die von der Klientenpartei nur mit schwerwiegenden Konsequenzen für ihre Handlungsinteressen ignoriert werden können. Diese, für institutionelle Beratung konstitutiven Regeln implizieren (wenn das Arbeitsbündnis funktionieren soll) zum einen eine Anerkennung der beraterischen Kompetenz zur Steuerung der Interaktion, zum anderen die Anerkennung einer Sichtweise auf das Problem, die nicht vollkommen deckungsgleich mit der subjektiven Sichtweise als Problembetroffener ist, sondern Relevanzen folgt, die etwas mit gesellschaftlichen Funktionsbestimmungen der beratenden Institution zu tun haben. Die Anerkennung dieser allgemeinen Bedingungen durch die Klientenpartei erfolgt zumeist implizit bzw. im Vollzug beteiligungsspezifischer Aktivitäten (wie etwa einer klientenseitigen Problemdarstellung zu Beginn des Gespräches). Dabei gilt, dass die prinzipielle Anerkennung der für institutionelle Beratung konstitutiven Regeln zwar Beschränkungen von Aushandlungsspielräumen mit sich bringt, dies aber nicht mit einem gänzlichen Verlust an Aushandlungsressourcen für die Klienten gleichzusetzen ist. Insofern als dieses Verfahren der Verstehensdokumentation in Bezug auf die Anerkennung der spezifischen Handlungsperspektive und Handlungsrelevanzen des Beraters von Bedeutung ist, ist es auch implikativ hinsichtlich des Umgehens mit asymmetrischen Beteiligungsvoraussetzungen. Symptomatisch hierfür ist (im Handlungsfeld Migrationsberatung), dass sich im Gebrauch des Verfahrens der Geltungsanspruch rechtlich-administrativer Bearbeitungsgrundlagen realisiert. Einmal, indem der Berater sich als Anwender institutionell geltender Regeln positionieren kann. Dann aber auch in der Weise, dass der Klient zwar den Aussagen, die auf der Grundlage universeller Regeln getroffen werden, widersprechen, aber sich nicht den damit zusammenhängenden prinzipiellen Klärungsbemühungen des Beraters entziehen kann. Der Einsatz des Verfahrens erfolgt reaktiv und die Klientin wird mit diesem Verfahren der Verstehensdokumentation zur Adressatin einer umorientierenden und höherstufige Relevanzen markierenden Aktivität. Auf diese Weise werden auch Ungleichheiten in den sozialen Beteiligungsvoraussetzungen reproduziert: Es wird gezeigt, dass der Berater der Sachwalter des Handlungsschemas (bzw. des Situationsarrangements) und die Klientin diejenige ist, die sich als Problembetroffene an heteronome Regeln der Problemdefinition halten muss. <?page no="172"?> Ulrich Reitemeier 172 Reitemeier_final 4.7 Resümee Zwischen der Betroffenenperspektive der Aussiedlerin und der professionellen Sicht auf das Klientenproblem besteht ein Passungsproblem. Das Verfahren der relevanzrückstufenden Verstehensdokumentation steht im Dienste der Bearbeitung dieses Passungsproblems - es löst dieses Problem, in dem es die Problemdarstellung der Klientin sowohl in verstehensindikativer Weise als auch in umorientierender und höherstufige Relevanzen einführender Weise verarbeitet. Bei einer relevanzrückstufenden Verstehensdokumentation wird nicht nur gezeigt, wie das von einem anderen Situationsbeteiligten Geäußerte seinem Sinngehalt und seiner Handlungsintentionalität nach verstanden worden ist, der Verstehensgegenstand wird dabei auch als ein Objekt von nachrangiger Dringlichkeit eingestuft. Die Grundstruktur dieses Verfahrens bildet sich in Äußerungsformen des Typs ab: „Das ist ja ein guter Vorschlag, da müssen wir nachher noch mal drüber reden, wie war das aber noch mit xyz? “. Relevanzrückstufende Verstehensdokumentationen sind in Situationen der Alltagskommunikation ebenso geläufig wie in institutionellen Kommunikationssituationen. In institutionellen Arrangements ist der Einsatz dieses Verfahrens in sehr hohem Maße bestimmt durch Interaktionsrahmen, die aus vordefinierten Beteiligungsrollen, aus Zuständigkeitsregelungen und eingespielten Bearbeitungsprogrammen resultieren. Die relevanzrückstufende Komponente dieses Verfahrens verweist zuallererst auf sequenzorganisatorische Anwendungsbedingungen: Da es sich auf die Berücksichtigungsfähigkeit vorgängig etablierter Verstehensgegenstände im weiteren Gang der Interaktion bezieht, ist es ein reaktives Verfahren der Verstehensdokumentation. Eine typische Stelle, an der das Verfahren präferenziell wird, ist die mit der Problempräsentation eines Klienten erwartbar gemachte Anschlusshandlung des Beraters. Prinzipiell ist die Verwendung dieses Verfahrens auch an anderen Stellen von Beratungsgesprächen erwartbar, insbesondere dann, wenn klientenseitig weitere Aspektualisierungen zu Hintergründen und Erfahrungsbedingungen des Problems vorgenommen werden oder auch Projektionen hinsichtlich der Lösung des Problems zur Sprache kommen. Die relevanzrückstufenden Anteile der Verstehensdokumentation verweisen des Weiteren auf feldspezifische Handlungsfunktionalitäten und Funktionsvoraussetzungen. Im vorliegenden Fall wird die Verstehensdokumentation als zweiter Zug im Anschluss an die klientenseitige Problemdarstellung realisiert. <?page no="173"?> Verstehensdokumentation in der Migrationsberatung 173 Reitemeier_final Mit der Umorientierungskomponente wird die Einpassung des Klientenproblems in die Relevanzstrukturen des professionell Beteiligten vorangetrieben. Unter Verwendung dieses Verfahrens der Verstehensdokumentation wird zum einen also nachgeholt oder kompensiert, was von der Klientenpartei nicht bedacht oder antizipiert worden ist. Zum anderen ist der Gebrauch dieses Verfahrens funktional dafür, dass die Interaktionssituation im Sinne der Institution - nach den eingespielten professionellen Routinen und institutionell verankerten Rationalitätsstrukturen - gestaltet werden kann. Es erfolgt die Relevantsetzung eines Sinnbezirkes, der aus Sicht des Beraters unverzichtbar ist. Es wird ein Perspektivenwechsel weg von der klientenseitigen Sicht auf das Problem hin zur rechtlich-administrativen Sicht auf den Problembetroffenen vollzogen. Zwischen den beiden Sichtweisen wird mittels der Umorientierungskomponente des Verfahrens ein Verhältnis von Vorbzw. Nachrangigkeit definiert. Unter Einbeziehung der verstehensindikativen Komponente dieses Verfahrens lässt sich dieser Verstehensprozess auch als ein Vorgang charakterisieren, der Züge eines Übersetzungsverfahrens aufweist. Im Fallbeispiel wird die klientinnenseitige Erwartung, hinsichtlich der Anerkennung ihres Diploms in gleicher Weise behandelt zu werden wie ihre Freundin, vom Berater zwar als Bearbeitungssachverhalt aufgenommen, aber mit Vorbehaltsmarkierungen bezüglich der Stimmigkeit der Gleichheitsbehauptung versehen. Hinsichtlich der Asymmetrien in den Beteiligungsperspektiven impliziert dies, dass das Problem der Klientin als auslegungsrelevant in einem höherstufigen Relevanzrahmen behandelt wird. Ein feld- oder kontextspezifischer Umgang mit Verstehensaufgaben realisiert sich nicht zuletzt in Merkmalen, die der Gesprächsaktivität des Beraters Züge eines Kooperativitätsdisplays verleihen. Sein Äußerungsverhalten ist so gestaltet, dass seine Verstehensdokumentation als effizient oder auch kommunikationsökonomisch kenntlich ist (das Äußerungsverhalten des Beraters ist nicht sehr elaboriert und keineswegs überexplikativ). Auch deutet sein Äußerungsverhalten auf ein Selbstverständnis als professioneller Berater hin, dessen Hintergrundaufmerksamkeit für die Perspektive der Klientenpartei nicht ganz so eingeschränkt und rigide ist, wie dies bei rein bürokratischen Erledigungsweisen der Fall ist. Schließlich ist die im vorliegenden Fall realisierte Verstehensdokumentation außerordentlich implikativ für das Beziehungsgefüge zwischen dem Berater und der Klientin. Nicht nur insofern, als die Klientin in Regeln der Interaktionsgestaltung und zu beachtende Relevanzstrukturen einsozialisiert wird, sondern auch insofern, als der Berater damit auf unterschiedliche Identitätsaspekte der Klientin Bezug nimmt. Denn mit der zweischrittigen Verstehensdo- <?page no="174"?> Ulrich Reitemeier 174 Reitemeier_final kumentation zeigt der Berater eine Form des Beteiligungsverhaltens, bei der er die gesprächslokale Identität der Klientin (hergestellt über die Anliegenspräsentation bzw. Problemdarstellung) verkoppelt mit der kontextübergreifenden sozialen Identität der Klientin (aktualisiert über das Relevantsetzen eines Sachverhaltes, der im Aufnahme- und Eingliederungsprozess geschaffen wurde und kennzeichnend für den Migrantenstatus ist), letztere aber als vorrangig behandelt. 5. Die Aufklärungsaktivität des Beraters verstehen und akzeptieren - exemplarische Analyse einer klientenseitigen Verstehensdokumentation 5.1 Einleitung Zu den zentralen Verstehensaufgaben der Klienten der Migrationsberatung gehört es, anzuzeigen, wie die Informationen und Auskünfte, die sie vom Berater erhalten haben, bei ihnen „ankommen“ (vgl. Kap. 3). Die Informationsgehalte, die ihnen von den professionell Beteiligten vermittelt werden, beziehen sich zum einen auf Konstitutions- und Randbedingungen des Problems, für dessen Bewältigung sie Rat und Hilfe benötigen. Sie betreffen zum anderen den weiteren Umgang mit dem Problem, also das Spektrum an Handlungsalternativen und konkreten Vorgehensweisen zur Lösung eines Problems, aber auch restriktive Bedingungen, die bei der Problembearbeitung eine Rolle spielen können. Im Anschluss an beraterseitige Aufklärungsaktivitäten geht es für die Klientenpartei prinzipiell darum, Mitteilungsgehalte zu verstehen und darum, zu erkennen, was die neuen Sachinformationen für die eigenen Lösungsprojektionen, Handlungspräferenzen usw. bedeuten. Im „glatt“ funktionierenden Fall - dann also, wenn die Übernahme der Mitteilungsgehalte unproblematisch ist - wird auf Klientenseite angezeigt, dass die Informationen genau die Wissensdefizite beheben, die die Klientenpartei hatte; auch wird angezeigt, dass der Klient sich jetzt in der Lage sieht, auf der Grundlage des neuen Wissensstandes die Dinge zu tun oder zu regeln, die für die Bewältigung des Problems nötig sind. Die Herstellung von Intersubjektivität hinsichtlich des Geltungsanspruchs der beraterischen Aufklärungsaktivität kann sich aber auch als schwierig erweisen. Einmal deshalb, weil die Wissensvermittlung rein kognitiv Probleme bereitet, etwa dann, wenn der Klient nicht über das kulturelle Hintergrundwissen oder die rechtlich-administrativen Kenntnisse verfügt, die erforderlich sind, um beraterseitige Aussagen auf Anhieb richtig erfassen und einordnen zu kön- <?page no="175"?> Verstehensdokumentation in der Migrationsberatung 175 Reitemeier_final nen. Die Herstellung von Intersubjektivität kann aber auch durch emotionale Widerstandshaltungen auf Klientenseite oder durch Sichtweisen und Interessenslagen, die unvereinbar mit denen des Beraters sind, erschwert sein. Wie noch genauer zu zeigen ist, geht die Verstehensarbeit, die in solchen Konstellationen für die Klientenpartei akut wird, über den kognitiven Nachvollzug beraterischer Mitteilungsgehalte hinaus, sie wird dann dominiert von Akzeptabilitätsprüfungen der neuen Faktenlage. Bei solchen Prozessen der Verstehensdokumentation erfolgt in einem höheren Maße bzw. in höheren Explizitheitsgraden klientenseitige Perspektivenentfaltung. Dies hat damit zu tun, dass das Anzeigen von ‘nicht oder nur schwer akzeptieren können dessen, worüber der Berater aufgeklärt hat’, die klientenseitige Offenlegung subjektiver Relevanzen, eigener Lösungspräferenzen und längerfristiger Handlungspläne erzwingt. Das im Folgenden vorzustellende Verfahren einer Verstehensdokumentation - die negative Verstehensthematisierung mit daran angeschlossener Verstehenshypothese - ist ein solcher Vorgang, bei dem verstehensindikative Komponenten aufs Engste verknüpft sind mit Verdeutlichungsleistungen einer Haltung des ‘Nicht-Akzeptieren-Könnens’ dessen, was der Berater mitgeteilt hat. Beginnend mit der Darstellung des Gesprächskontextes beschreibe ich dieses Verfahren in analoger Weise zu dem in Kapitel 4 behandelten Verfahren. 5.2 Der Gesprächskontext Für die Rekonstruktion des feldspezifischen Funktionierens dieser Verfahrenskombination wähle ich eine weitere Sequenz aus dem Gespräch „Krankenschwester oder -pflegehelferin“ aus. Es lässt sich daran verfolgen, wie die Klientin auf eine Aufklärungsaktivität des Beraters reagiert, die dieser nach einem Telefonat mit einer besser informierten Stelle vollzieht. Die telefonische Auskunftseinholung erfolgt in einem Krankenhaus, in dem Aussiedlerinnen Praktika zur Anerkennung als Krankenpflegehelferin wie auch als Krankenschwester absolvieren können. Bei dem für solche Praktika zuständigen Mitarbeiter des Krankenhauses erkundigt sich der Berater nach den Auflagen für die Anerkennung als Krankenschwester, die im speziellen Fall der Klientin gelten. Im Verlauf des Beratungsgesprächs waren dieser Auskunftseinholung erfolglose Bemühungen vorausgegangen, anhand schriftlicher Dokumente, die die Klientin mitgebracht hatte, eindeutig zu klären, ob und mit welchen Auflagen es ihr vom Gesundheitsamt gestattet worden ist, ein Praktikum zur Anerkennung als Krankenschwester zu absolvieren. <?page no="176"?> Ulrich Reitemeier 176 Reitemeier_final 5.2.1 Die vorgängige Aufklärungsaktivität des Beraters Nach einem längeren Telefonat mit einem Mitarbeiter einer Ausbildungsstätte ist der Berater soweit über die rechtlich-administrativen Rahmenbedingungen der Anerkennung mitgebrachter Arbeitszeugnisse informiert, dass er die Klientin über die Entscheidungslage ihres Falles aufklären kann: #5 7002.02 (00: 23: 27-00: 24: 27) 522 SM: (--) tschüss-> 523 (2.2) SO- 524 (1.3) ALso; 525 es sieht SO aus? 526 dass SEItens des KREISgeSUNDheitsamtes; 527 auch nach herrn BRINKmanns ausSAgen; 528 (--) sie ↑ NU: R; 529 (.) ein DREImonatiges PRAKtikum- 530 (1.7) HAben machen KÖNnen für die 531 <<cresc>KRANkenpflegeHELferinnenANerKENnung? > 532 (-) <<len>anSONsten um> (.) 533 <<dim>KRANkenschwester zu werden.> 534 (-) HÄT ↓ ten SI: E? 535 (---) NOCH eine ZWEIjährige <<dim>theoREtische 536 AUS ↓ bildung <<knarrend>machen können; >> 537 (3.0) <<f>so-> 538 (--) verGLEIchen wir EINmal was: <<len>IHre> 539 (3.0) kolLE ↓ gin. 540 (-) ist das eine AR ↓ beitskolLEgin; 541 (-) beKANN ↓ te. 542 (---) 543 AW: wir HAben zusammen geAR ↓ beitet; 544 (-) 545 SM: <<t>’ACH-> 546 (-) UND geLERNT <<p>zuSAMmen-> 547 AW: und geLERNT zuSAMmen; 548 JA; 549 (-) 550 SM: ja; 551 AW: die GLEIche AUS ↓ bildung; <?page no="177"?> Verstehensdokumentation in der Migrationsberatung 177 Reitemeier_final 552 NUR die hat ein jahr SPÄter gelernt; 553 und ICH hab ein jahr VORher ange[FANGen lernen- ] 554 SM: [da HAben sie 555 so]gar ein jahr LÄNger geAR ↓ beitet- 556 (3.5) <<dim>SO wie es <<knarrend>AUSsieht; >> 557 (-) 558 AW: <<p>ja-> 559 (1.1) 560 SM: hh SO: ; 561 (-) 562 AW: <<pp>das IST doch; > 563 (1.0) <<all>ist das WICHtig; => Die beraterseitige Aufklärungsaktivität besteht darin, dass zunächst in einer Kurzfassung die telefonisch eingeholten Auskünfte der Klientin übermittelt werden. Der Berater benennt dabei Instanzen, durch die Inhalte, über die er aufklärt, gleichsam validiert sind („das Kreisgesundheitsamt“; „Herr Brinkmann“). Danach kann die Klientin mit einem dreimonatigen Praktikum nur die Anerkennung als Krankenpflegehelferin erlangen, nicht aber - wie von ihr angestrebt - die Anerkennung als Krankenschwester. Diese setzt eine zweijährige Ausbildung voraus, was für die Klientin bedeutet, nochmals eine Lehrzeit in dem Beruf auf sich zu nehmen, den sie bereits im Herkunftsland erlernt hat (siehe Z. 532-536). Nach Übermittlung der Auskünfte geht der Berater dazu über, die Gleichheit des Falles der Klientin mit dem ihrer Bekannten abzuklären (Z. 538-541), dabei stellt sich heraus, dass die Klientin im Unterschied zu ihrer Bekannten ein Jahr länger berufstätig war (Z. 552-555). Die Äußerung, in der der Berater diesen Unterschied hervorhebt, enthält mit dem sogar (Z. 555) eine Relevanzhochstufung. Sie bezieht sich auf das Faktum, dass die Klientin gegenüber der Vergleichsperson aufgrund längerer Berufstätigkeit im Herkunftsland besser dasteht. Allerdings expliziert der Berater dabei keinen Beurteilungskontext, in dem sich das Plus an Arbeitsjahren als Vorteil erweisen könnte. Der Benennung des Unterschiedes folgt mit dem SO in Zeile 556 die Markierung einer ablauforganisatorischen Zäsur; zur Initiierung eines neue Aktivitätsstranges durch den Berater kommt es aber nicht (hierzu hätte durchaus Gelegenheit bestanden), da die Klientin mit einer Verstehensthematisierung das Wort ergreift (Z. 562/ 563). <?page no="178"?> Ulrich Reitemeier 178 Reitemeier_final 5.2.2 Die Reaktion der Klientin auf die Aufklärungsaktivität und das Anschlusshandeln des Beraters Zunächst der Transkriptionsausschnitt, in dem die klientenseitige Reaktion auf die Aufklärungsaktivität des Beraters dokumentiert ist und dieser dann wieder auf die Äußerungen der Klientin reagiert: #6 7002.02 (00: 23: 25-00: 25: 43) 562 AW: <<pp>das IST doch; > 563 (1.0) <<all>ist das WICHtig; => 564 =<<p,dim>ein jahr MEHR oder ein jahr WEnig> 565 (7.3) waRUM? 566 (-) waRUM; = 567 =ich verSTEhe nicht waRUM. 568 (-) wenn ich JETZT (.) <<all>auf DAS GEhe; > 569 ich will EINfach: - 570 (-) WISsen waRUM. 571 die maRIna; 572 (1.2) wie HEIßT sie JETZT, 573 maRIna DOrau; 574 SM: ja: ? 575 (-) 576 AW: die HAT erLAUBnis OHne proBLEM geKRIEGT; 577 zu <<all>KRANken ↓ SCHWESter machen-> 578 (-) und <<h>ICH> muss jetzt ZWEI jahre LERnen; 579 (2.0) LAUT ä: h STOCKhausen; 580 (5.3) die hat EIN jahr NEUN monate geLERNT. 581 (1.0) und hat DREI (.) JAHre PRAK ↓ tikum nur; 582 (-) in RUSSland. 583 (-) 584 SM: j[a? ] 585 AW: [ge]HABT- 586 (1.4) 587 SM: ja- 588 (--) Abe: r ä: h; 589 AW: HÄNGT das ab von DEM zu wem das KOMm: t; 590 wer welche LAUne HAT; 591 (-) <<all>die paPIEre; > <?page no="179"?> Verstehensdokumentation in der Migrationsberatung 179 Reitemeier_final 592 oder WI: E ist das <<knarrend>JETZT; > 593 (---) 594 SM: Ä: H; 595 AW: HÄNGT das ab von DEM zu wem das KOMm: t; 596 wer welche LAUne HAT; 597 (-) <<all>die paPIEre; > 598 oder WI: E ist das <<knarrend>JETZT; > 599 (---) 600 SM: Ä: H; 601 (-) in DER frage bin ich überFRA: GT; 602 AW: <<lachend>jaha; > 603 SM: weil ich NICHT frau MEIsel bin; 604 (2.4) und frau MEIsel entSCHEIdet. 605 (-) DIESbeZÜGlich AUCH nicht <<knarrend>MEHR; > 607 (1.2) WEIL sie in pen ↑ SION ist. 608 (-) wir können HÖCHstens verSUchen dies noch 609 einmal <<cresc>’aufzuROLlen? > 610 (---) und SCHAUen- 611 (---) ob wir eine MITteilung <<p,t>seitens des 612 KREISgesundheitsamtes> erHALten? Mit Blick auf die asymmetrische Interaktionsbeziehung seien im Folgenden verstehensrelevante Aktivitäten der Klientin sowie der sequenzielle Aufbau und die formulatorische Gestaltung ihrer Reaktion auf die Aufklärungsaktivitäten des Beraters beschrieben. Zunächst reagiert die Klientin auf die Feststellung des Beraters, dass sie sogar ein Jahr länger gearbeitet habe als ihre Bekannte, mit einer Äußerung, in der sie einen Konstruktionswechsel vornimmt (<<pp>das IST doch; > (1.0) <<all>ist das WICHtig; => =<<p,dim>ein jahr MEHR oder ein jahr WEnig> (Z. 562-564)). Über diese Verstehensthematisierung per Nachfrage hinaus besteht ihre Reaktion auf die Aufklärungsaktivität darin, dass sie diese als nicht verstehbar behandelt und dann eine Äußerung folgen lässt, in der sie eine Hypothese zur Verstehbarmachung der Aufklärungsgehalte entwickelt. Diese Verstehbarmachung besteht aus einer Deutung zum behördlichen Umgang mit Anträgen, diese Deutung wiederum stellt einen Tatbestand in den Raum, der es rechtfertigt, Verstöße gegen Prinzipien rechtlicher Gleichbehandlung anzuprangern (Z. 588-591). <?page no="180"?> Ulrich Reitemeier 180 Reitemeier_final Wie aber reagiert nun der Berater auf die Unverständnis und Verärgerung bekundenden Gesprächsaktivitäten der Klientin? Er lässt eine Äußerung folgen, mit der er auf die zum Schluss ihrer Äußerungen aufgeworfene Frage nach behördlichen Bearbeitungsprinzipien reagiert. Darin offenbart er zunächst ein Kompetenzdefizit (Ä: H; (-) in DER frage bin ich überFRA: GT; (Z. 601)), das er dann - unter Nennung des Namens der Behördenmitarbeiterin - mit fachlicher Unzuständigkeit erklärt (weil ich NICHT frau MEIsel bin; (Z. 603)). Dann stellt er heraus, dass diese Mitarbeiterin, über die die Klientin indirekt Klage führt, nicht mehr im Dienst ist (Z. 604-607). Es folgt in Z. 608-612 eine Äußerung, die in der Wir-Form eingeleitet ist und in der er die Handlungsalternative darstellt, die im Rahmen des Arbeitsbündnisses angegangen werden könnte. Als Alternative dazu, sich weiter mit „Frau Meisel“ und ihrem Entscheidungsverhalten zu befassen, schlägt er vor, beim Kreisgesundheitsamt um Aufklärung in der fraglichen Angelegenheit nachzusuchen. Im Folgenden gehe ich näher auf die einzelnen Gesprächsaktivitäten ein. 5.3 Beschreibung der gesprächslokalen Realisierung des Verfahrens 5.3.1 Die vorgeschaltete Verstehensthematisierung per Nachfrage Eine klar erkennbare Verstehensthematisierung erfolgt hier zunächst per Nachfrage zur Relevanz der vom Berater getroffenen Feststellung. Es handelt sich um eine Verstehensthematisierung, die sich auf den vom Berater in seiner Aufklärungsaktivität zuletzt genannten Punkt (da HAben sie sogar ein jahr LÄNger geAR ↓ beitet- (Z. 554-555)) bezieht. Mit der Feststellung des Beraters, dass sie ein Jahr länger gearbeitet hat, wird ein Sachverhalt angesprochen, über dessen Relevanz sich die Klientin zunächst nicht ganz im Klaren zu sein scheint, den sie dann aber doch als einen erfasst, der für ihre Interessen unerheblich ist. Der Berater markiert das eine Jahr, das die Klientin im Vergleich zu ihrer Freundin mehr gearbeitet hat (vgl. Z. 554-555), mit dem sogar (Z. 555) als Positivum. Nach der vorausgegangenen Aufklärungsaktivität des Beraters, aus der hervorging, dass sie für eine Anerkennung als Krankenschwester NOCH eine ZWEIjährige <<dim>theoretische AUS ↓ bildung <<knarrend> machen müsste (vgl. Z. 535-536), ist ihr aber wohl klar, dass das eine Jahr <?page no="181"?> Verstehensdokumentation in der Migrationsberatung 181 Reitemeier_final längere Berufsausübung im Herkunftsland nichts an dieser Auflage ändern kann und für ihr Bestreben nach Erlangung der höherwertigen Anerkennung ihrer Berufsausbildung unerheblich ist. Der Formulierungsansatz und die Formulierungsdynamik der dann folgenden Frage <<all>ist das WICHtig; => =<<p,dim>ein jahr MEHR oder ein jahr WEnig> (Z. 563-564) lassen den Schluss zu, dass der Klientin hier die Funktion der Erwähnung des einen Jahres mehr Berufserfahrung nicht auf Anhieb klar ist, jedenfalls zeugt ihre Reaktion dann davon, dass sie wenig Verständnis dafür hat, dass der Berater einen für die administrativ-rechtliche Fallbehandlung vernachlässigbaren Sachverhalt erwähnt. Ein solches Frageformat („Ist das jetzt wichtig? “) ist geeignet, die Irrelevanz des vorgängigen Gesprächsbeitrags zu markieren, und im Lichte des ausgebauten Frageformats erscheint der zuvor realisierte Formulierungsansatz <<pp>das IST doch; > (Z. 562) auch als Ansatz einer sehr barschen Reaktion, die mit dem Wechsel in die Frageform etwas abgemildert wird. Der Berater versteht das Frageformat der Klientin auch nicht als einen Versuch, tatsächlich die Relevanz des einen Jahres längerer Berufsausübung für die Ansprüche der Klientin klären zu wollen, sondern wohl eher als Bekundung von Enttäuschung und Verärgerung. Er verhält sich an dieser Stelle ausgesprochen defensiv, lässt eine Gesprächspause von gut 7 Sekunden entstehen (vgl. Z. 565) und die Klientin dann in ihrer Rede fortfahren. 5.3.2 Die negative Verstehensthematisierung Nach der längeren Pause von gut 7 Sekunden, die nach einem Seufzen der Klientin entsteht, folgt eine Äußerung, mit der die Klientin auf die zentrale Information der beraterseitigen Aufklärungsaktivität - die Tatsache, dass sie die angestrebte Anerkennung als Krankenschwester erst nach einer zweijährigen Ausbildung bekommen kann - reagiert: waRUM? (-) waRUM; ==ich ver- STEhe nicht waRUM. (-) wenn ich JETZT (.) <<all >auf DAS GEhe; >ich will EINfach: - (-) WISsen waRUM. (Z. 565-570). Auch hier zeugt die Formulierungsdynamik davon, dass die Klientin sehr aufgebracht ist. Offenbar macht ihr nicht bloß das Verstehen der Sachinformation, sondern auch das Akzeptieren des Mitteilungsgehaltes zu schaffen. Zudem unterstreicht das angeschlossene ich will EINfach: - (-) WISsen waRUM, (Z. 569-570), dass sich die Klientin in einer Position sieht, in der es ihr zusteht, einen Anspruch auf umfassende Aufklärung geltend zu machen. <?page no="182"?> Ulrich Reitemeier 182 Reitemeier_final 5.3.3 Die in der negativen Verstehensthematisierung enthaltene Verstehensdokumentation In aufgebrachtem Tonfall zeigt die Klientin hier, dass ihr die erhaltene Auskunft nicht ausreicht, sie nimmt eine Verstehensthematisierung vor, die darauf zielt, die Gründe bzw. Kriterien zu erfahren, die es rechtfertigen, dass ihr nur ein dreimonatiges Praktikum zugebilligt wird. In der Vehemenz, mit der die Klientin hier ihr Unverständnis gegenüber der erhaltenen Auskunft bekundet und auch die Häufung der Warum-Frage und der insistierende und mit Nachdruck gesprochene Äußerungsteil ich will EINfach: - (-) WISsen wa- RUM (Z. 569-570) drückt sich aus, dass die vom Berater eingeholten und übermittelten Informationen über Praktika als Anerkennungsvoraussetzung des Diploms bei ihr nicht einfach nur Verständnisfragen (Fragen nach dem bloßen Verständnis der behördlichen Entscheidungslogik) aufgeworfen, sondern auch Unmut und Empörung über die eingeholte Auskunft hervorgerufen haben. 29 Die Klientin deklariert es als ein Verstehensproblem, dass im einen Fall so und im anderen Fall so entschieden wird. Dieses Verstehensproblem ist durchsetzt mit starken Benachteiligungsempfindungen. Die negative Verstehensthematisierung erfolgt aus einer Haltung des Enttäuscht-Seins, des Ungerecht-Behandelt-Werdens heraus. Das Benachteilungs- und Enttäuschungserleben verklammert sozusagen die vorausgegangene Verstehensthematisierung mit der negativen Verstehenshypothese - das nicht Verstehbare ist ein so großes Ärgernis, dass die Klientin nicht frei davon agieren kann. Die Klientin versteht nicht nur den Sinn bzw. die Gründe der Regelung nicht, sie hat vor allem Akzeptanzprobleme damit, dass sie von einer Regelung betroffen sein soll, die sie gegenüber ihrer Bekannten benachteiligt, obwohl bei dieser die gleichen Anspruchsvoraussetzungen für die berufliche Anerkennung (zumindest ihrem Verständnis nach) vorliegen. Sie versteht nicht, wie eine solche Ungleichbehandlung möglich ist. Gegen das für sie nicht Verstehbare wehrt sie sich gesprächsrhetorisch mittels Reihung der Warum-Frage, mittels eines interjektionsartigen ich verSTEhe nicht waR- UM. (Z. 567) und einer Aufforderung zu Erklärungs- und Detaillierungsaktivitäten seitens des Beraters (ich will EINfach: - (-) WISsen waRUM. (Z. 569-570)). 29 Zu Warum-Fragen als Vorwurfs- und Empörungsbekundungen siehe Günthner (2000, S. 128-154). <?page no="183"?> Verstehensdokumentation in der Migrationsberatung 183 Reitemeier_final Dass hier Schwierigkeiten hinsichtlich der Akzeptanz bzw. der Ratifizierungsbereitschaft des Informationsgehaltes der beraterseitigen Aufklärungsaktivität bestehen, tritt in der dann folgenden Äußerung noch deutlicher hervor (Z. 571- 585). Nach der in aufgebrachtem Tonfall vorgenommenen Verstehensthematisierung folgt ein Äußerungsteil, in dem sich erneut die starre Orientierung der Klientin an der von ihr behaupteten administrativen Fallbehandlung ihrer Bekannten manifestiert. In diesem Äußerungsteil prangert sie an, dass sie im Vergleich zu der Bekannten strengere Auflagen zur Erlangung der Anerkennung als Krankenschwester zu erfüllen hat, und das, obwohl sie mehr Berufserfahrung vorzuweisen hat. Die Klientin kontrastiert hier die unterschiedlichen Praktikumszeiten, die verlangt werden, und die unterschiedlichen Ausbildungszeiten und die Berufsjahre im Herkunftsland. Während ihre Bekannte nach einem nur dreimonatigen Praktikum (und nach einer Lehrzeit von einem Jahr und neun Monaten) die Anerkennung als Krankenschwester bekommen soll, wird ihr (bei längerer Ausbildungszeit) ein zweijähriges Praktikum abverlangt. Unter Nennung des Namens der Bekannten, von der die Klientin behauptet hat, dass sie über die gleichen beruflichen Qualifikationsmerkmale verfügt wie sie selbst, verweist sie auf einen behördlichen Entscheid, bei dem die Anerkennung als Krankenschwester nach einer anderen Regelung erfolgt, als dies bei ihr der Fall sein soll (die maRIna; (1.2) wie HEIßT sie JETZT, maRIna DOrau; [... ... ...] die HAT erLAUBnis OHne proBLEM geKRIEGT; (Z. 571-576)). 30 Dieser für ihre Bekannte vorteilhaften Bestimmung stellt sie die wesentlich ungünstigeren Bedingungen gegenüber, die in ihrem Falle gelten sollen (und <<h>ICH> muss jetzt ZWEI jahre LERnen; (Z. 578)). In einem Äußerungsformat, in dem sie die Qualifikationsmerkmale ihrer Bekannten erneut benennt, markiert sie dann die von ihr so empfundene Ungleichbehandlung (Z. 580-582); die Klientin trifft dabei Aussagen über ihre Bekannte und revidiert die zuvor pauschal behauptete Gleichlagerung der Fälle dahingehend, dass sie sich selbst als mit besseren Anspruchsvoraussetzungen für eine Anerkennung als Krankenschwester ausgestattet positionieren kann; im Einzelnen realisiert sich dies folgendermaßen: a) die Betonung, dass maRIna DOrau (Z. 573) ein Jahr und neun Monate gelernt hat, rekurriert auf einen vor dem Telefonat des Beraters vorgenom- 30 Zum Argumentationsmuster des Vergleichens siehe auch Kienpointner (1992, S. 284-306) <?page no="184"?> Ulrich Reitemeier 184 Reitemeier_final menen Abgleich von Falldaten, bei dem sich ergeben hatte, dass die Ausbildungszeit der Klientin (in Kirgisien) zwei Jahre dauerte, die der Bekannten (in Kasachstan) etwas weniger, ein Jahr und neun Monate; b) in der Formulierung die hat EIN jahr NEUN monate LERNT. (1.0) und hat DREI (.) JAHre PRAK ↓ tikum nur; (-) in RUSSland. (vgl. Z. 580-582) wird auf Unterschiede in der Dauer der anschließenden Berufstätigkeit im Herkunftsland verwiesen; die Erwähnung einer Praktikumszeit von drei Jahren bezieht sich auf Zeiten der Berufsausübung in Russland; die Klientin versucht hier zu verdeutlichen, dass sie auch in Bezug auf die Dauer der Berufstätigkeit im Herkunftsland nicht schlechter dasteht als ihre Bekannte. Schließlich zeigt sich hier auch, wie die Klientin die vom Berater weitergegebene Auskunft in pragmatischer Hinsicht (also im Hinblick auf die Gestaltung ihres eigenen Beteiligungsverhaltens) versteht - ihr ist offenbar klar geworden: wenn sie mit ihren beruflichen Interessen hier und jetzt zum Zuge kommen will, muss sie die von ihr so empfundene Ungleichbehandlung ihres Falles und den ihrer Bekannten zum Thema machen. 5.3.4 Die angeschlossene Verstehenshypothese Ihrer negativen Verstehensthematisierung lässt die Klientin Äußerungen folgen, in denen sie Verstehensanstrengungen demonstriert. Sie beziehen sich auf die Mitteilungsgehalte, die sie zuvor als nicht verstehbar eingestuft hatte: #7 7002.02 (00: 25: 09-00: 25: 19) 585 AW: [ge]HABT- 586 (1.4) 587 SM: ja- 588 (--) Abe: r ä: h; 589 AW: HÄNGT das ab von DEM zu wem das KOMm: t; 590 wer welche LAUne HAT; 591 (-) <<all>die paPIEre; > 592 oder WI: E ist das <<knarrend>JETZT; > Mit der vorausgegangen negativen Verstehensthematisierung (Z. 567-582) sind für den Berater Anschlusshandlungen relevant gesetzt worden, die Erklärungen für den Tatbestand der Ungleichbehandlung liefern (oder aber Aktivitäten, die der klientenseitig aufgestellten Behauptung der Ungleichbe- <?page no="185"?> Verstehensdokumentation in der Migrationsberatung 185 Reitemeier_final handlung widersprechen). In Zeile 588 ist auch ein Ansetzen zu einer Äußerung, die einen Widerspruch seitens des Beraters erwarten lässt, zu beobachten, die Klientin schneidet ihm aber gewissermaßen das Wort ab, indem sie mit ihrer Verstehenshypothese selbst Erklärungen für den von ihr beklagten Tatbestand liefert. Nachdem der Berater auf die negative Verstehensthematisierung nicht reagiert bzw. relativ verhalten zu einer Widerspruchsaktivität ansetzt (Z. 588), ist es ein naheliegendes, ja, situationsangemessenes Tun, selbst eine Erklärung dafür zu liefern, dass solche Lücken bzw. Defizite bestehen. In Reaktion auf die vorausgegangene professionelle Aufklärungsaktivität konfrontiert die Klientin den Berater in Frageform mit zwei Erklärungsmöglichkeiten der Ungleichbehandlung. Der Äußerungsteil HÄNGT das ab von DEM zu wem das KOMm: t; (Z. 589) behauptet die Wirksamkeit eines Zufälligkeitsprinzips. Diese Frage hat provokative Gehalte, da sie Willkürhandlungen in den Institutionen unterstellt. Eine präferenzielle Aktivität ist diese provozierende Form des Fragens für die Klientin dadurch geworden, dass der Berater nicht den konditionellen Relevanzen nachgekommen ist, die die Klientin mit ihren Aufforderungen bzw. Warum-Fragen produziert hat. Der angeschlossene Äußerungsteil wer welche LAUne HAT; (Z. 590) spielt auf behördliche Arbeitsweisen an, die durch individuelle Verfassungen und Verhaltensdispositionen von Behördenmitarbeitern bzw. durch Willkürprinzipien bestimmt sind. Das zuvor in Zeile 591 geäußerte <<all>die paPIEre; > sehe ich als elliptische Kennzeichnung bzw. als Formulierungsansatz zur Darstellung der behördlichen Arbeitsvorgänge, bei denen „Launen“ von Mitarbeitern zum Tragen kommen, an. Die Klientin entwickelt ihre Verstehenshypothese zu dem für sie nicht Verstehbaren - den Aufklärungsgehalten, die der Berater zuvor an sie weiter gegeben hatte - in Frageform. Offenbar geht es hier nicht um kognitive Verstehensprobleme, sondern um Akzeptanzprobleme. Indem die Klientin sozusagen in verschärfter Form Empörung bekundet, blockt sie eine oppositive Stellungnahme des Beraters, die dieser mit dem Abe: r ä: h; (Z. 588) projektiert, ab. Dieses Abblocken wird auch betrieben mittels einer Äußerungskontur des sich Steigerns (in Tonhöhe und Sprechtempo), des sich Hinarbeitens auf einen Kulminationspunkt, der mit dem explizit zur Stellungnahme auffordernden Abschlussmarkierer oder WI: E ist das <<knarrend>JETZT; > (Z. 592) erreicht ist. Ihr Widerspruch gegen die nachteiligen Auskünfte ist als Verständnisfrage gerahmt, er erfolgt nicht in moralischen Bezügen (etwa mittels solcher Äußerungen wie „ich finde es ungerecht, dass ...“). Damit wahrt <?page no="186"?> Ulrich Reitemeier 186 Reitemeier_final die Klientin den Anspruch auf Klärung der von ihr aufgeworfenen Frage nach den Prinzipien und Verfahrensregeln, nach denen die Anerkennung von Diplomen erfolgt. Wenn die Verstehenshypothese - die Behauptung, dass in den zuständigen Behörden nach Willkür-, nicht nach Legalitätsprinzipien gearbeitet wird - nicht widerlegbar ist, entsteht für den Berater ein Erklärungsnotstand. Entweder muss er das Eingeständnis machen, dass in einer Behörde nicht nach Legalitätsprinzipien gearbeitet wurde, oder die Verstehenshypothese muss in ihrer Gültigkeit zurückgewiesen bzw. abgeschwächt werden, dies aber macht Plausibilisierungsanstrengungen erforderlich, bei denen der Berater sich auf genaue Kenntnisse über die behördliche Arbeitsweise stützen müsste. Diesbezüglich hat er aber nur vage Kenntnisse. Daher fällt seine erste Reaktion auch ausweichend und kleinlaut aus: (Ä: H; (-) in DER frage bin ich überFRA: GT; weil ich NICHT frau MEIsel bin; (Z. 594-595, Z. 597)); der Berater nennt hier den Namen der Behördenmitarbeiterin, mit der die Klientin zu tun hatte. 5.3.5 Die in der Verstehenshypothese enthaltene Verstehensdokumentation Die Klientin bekundet in ihrer Reaktion auf die Aufklärungsaktivität des Beraters nicht einfach nur, dass sie die Regelung, über die sie aufgeklärt wurde, nicht versteht. In Zeile 589-592 vollzieht sie eine forcierte Aktivität 31 zur Thematisierung von Verstehen. Dieses Forcieren realisiert sich in der Weise, dass die Klientin eine Deutung zum Tatbestand der Ungleichbehandlung explizit macht und dadurch den Reaktionsdruck für den Berater erhöht. Ihre Deutung zur behördlichen Entscheidungsp raxis wird im Frageformat entwickelt (HÄNGT das ab von DEM zu wem das KOMm: t; wer welche LAUne HAT (Z. 591) (-) <<all>die paPIEre; > oder WI: E ist das <<knarrend> JETZT; > (Z. 589-592)). Bei der hier beobachtbaren grammatikalisch leicht defekten Formulierungsweise ist sicherlich hinsichtlich der Interpretation dieser Äußerung Vorsicht geboten. Aus der verwendeten Lexik geht aber unmissverständlich hervor, dass die Klientin die diskrepante Sachlage als Produkt von Willkürhandlungen ansieht. Analog zum Formulierungsprozess lassen sich die verstehensindikativen Leistungen dieser Äußerung als Markierung eines Willkürprinzips bestimmen, das im Entscheidungshandeln der Behörde waltet. 31 Zu forcierenden Aktivitäten als kommunikative Beteiligungsweisen eingeschränkter Kooperativität siehe Kallmeyer/ Schmitt (1996). <?page no="187"?> Verstehensdokumentation in der Migrationsberatung 187 Reitemeier_final Den Mitteilungsgehalt der beraterseitigen Aufklärungsaktivität verarbeitet sie nach der Methode der dokumentarischen Interpretation: 32 Die Auskunft über die Anerkennungsregelungen wird als Indiz für eine bestimmte Arbeitsweise in den zuständigen Behörden gedeutet. Mit ihrer Verstehenshypothese präsentiert die Klientin nun eine Deutung, die die in ihren Augen inkonsistenten Entscheidungen als Resultat einer behördlichen Praxis, die nicht an Gleichbehandlungsprinzipien gebunden ist oder sich nicht daran hält, einordnet. Dass sie diese Deutung in Frageform vornimmt, zeugt davon, dass die Klientin es nach dem aktuellen Stand der Dinge für geboten und zulässig hält, den Berater mit einem solchen Vorwurfsgehalt zu konfrontieren, um ihre subjektive Betroffenheit von der neuen Faktenlage verstehbar zu machen. 5.3.6 Struktureller Aufbau und interaktionsstrukturelle Einbettung des Verfahrens Bei der vorstehend beschriebenen Verstehensdokumentation handelt es sich um ein zweigliedriges Verfahren bzw. um die Verwendung zweier Verfahren, wobei im Gebrauch des ersten (der negativen Verstehensthematisierung), begünstigt durch die defensive Reaktionsweise des Beraters, die Aktivierung des zweiten Verfahrens (die Verstehenshypothese) emergiert. Bevor ich die fallspezifische Einbettung und Emergenz dieses kombinierten Verfahrens herausarbeite, sei gezeigt, wie die beiden Komponenten im Gesamtkorpus sonst Verwendung finden, nämlich alleinstehend. Ich sehe dabei von detaillierten Analysen der Gesprächsaktivitäten ab und begnüge mich damit, die Typikalität ihrer Verwendungsweisen vorzustellen. 5.3.6.1 Alleinstehende Realisierungsweisen negativer Verstehensthematisierungen und Verstehenshypothesen im Gesprächskorpus Negative Verstehensthematisierungen werden im hier zugrundeliegenden Gesprächskorpus sowohl von Klienten als auch von den Beratern verwendet. Solche - ohne Verstehenshypothese realisierten - Verstehensthematisierungen dienen dazu, tatsächliche Probleme des Verstehens einer Vorgängeräußerung 32 Bei der Methode der dokumentarischen Interpretation wird ausgehend von einzelnen Merkmalen das zugrunde liegende Muster eines Sachverhaltes, Gegenstandes usw. erfasst; vgl. Garfinkel (1973). Der Begriff „dokumentarische Methode der Interpretation“ geht zurück auf Mannheim (1964). <?page no="188"?> Ulrich Reitemeier 188 Reitemeier_final zu markieren (Nicht-Verstehen-Konstruktionen; vgl. Deppermann/ Schmitt (2009)) oder aber dazu, Unzufriedenheit mit einer Sachlage zu bekunden bzw. eine Beschwerde vorzubringen. In dem folgenden Gesprächsbeispiel wird mit einer alleinstehenden negativen Verstehensthematisierung eine Beschwerde eingeleitet. Sie bezieht sich auf Auskünfte, die die Klientin (Sprechersigle FW im Transkript) hinsichtlich einer zuständigen Hilfeleistungseinrichtung bekommen hat: #8 7002.03 (00: 02: 39-00: 03: 49) 288 FW: ich verSTEhe das NICHT. 289 (-) i: ICH sage frau STERN muss uns 290 (.) HELfen, 291 .hh (und/ aber) SIE sagt (.) AN ↓ (d)ere; 292 (-) <<pp>ich> verSTEH das NICHT. 293 (---) und (.) JETZT (.) <<knarrend>ä: h> NEUN 294 MON: MOnate wir HAben geWARtet, In dieser negativen Verstehensthematisierung manifestiert sich zunächst einmal echtes Nicht-Verstehen-Können, nämlich insofern, als die Klientin sich tatsächlich nicht sicher ist, wer oder wo die richtige Hilfeinstanz ist (sie erwartet von einer Frau Stern, Mitarbeiterin einer kommunalen Eingliederungsbehörde, Hilfe, wurde von dieser aber an eine andere Stelle verwiesen). Zugleich aber wird hier auch zum Ausdruck gebracht, dass die vom Berater an den Tag gelegte geringe Bearbeitungsbereitschaft nicht einfach so hingenommen wird (dieser hatte zuvor die Absicht des Klientenehepaares, Widerspruch gegen einen nachteiligen Anerkennungsbescheid einzulegen, ohne nähere Prüfung als aussichtslos eingestuft). Der angeschlossene Äußerungsteil, in dem von einer neunmonatigen Wartezeit die Rede ist (Z. 293-294), enthält keine Verstehenshypothese, sondern ist als Unmutsbekundung und Beschwerde über die lange Bearbeitungsdauer eines behördlichen Verfahrens realisiert. Mit dem Herausstellen der langen Wartezeit versucht die Klientin ihr Bearbeitungsansinnen gegenüber dem Berater zu bekräftigen, ihn sozusagen als Hilfeinstanz stärker in die Pflicht zu nehmen. So, wie negative Verstehensthematisierungen prinzipiell alleinstehend realisiert werden können, so kann dies auch bei Verstehenshypothesen der Fall sein. In dem nun folgenden Beispiel wird die Verstehenshypothese des Klienten im unmittelbaren Anschluss an eine beraterseitige Aufklärungsaktivität geäußert (wie in dem ausführlich behandelten Fallbeispiel „Krankenschwes- <?page no="189"?> Verstehensdokumentation in der Migrationsberatung 189 Reitemeier_final ter oder -pflegehelferin“). Hier dient dem Klienten die Verstehenshypothese dazu, die Aufklärungsgehalte ganz pragmatisch und mit engem Bezug auf seine Lebenssituation zu übersetzen. Er reagiert auf die Auskunft, dass der Mietkostenzuschuss des Sozialamtes entfällt, wenn er mit seiner Familie in eine größere, aber auch teurere Wohnung zieht, mit den Worten jetzt muss ich andere Arbeitsstelle suchen (Transkript 7002.11; „Angemessene Unterkunftskosten“). Die in diesem Fall ohne vorausgegangene negative Verstehensthematisierung realisierte Verstehenshypothese wird hier als pragmatische Übersetzung bzw. als auf die eigene Lebenssituation bezogene Schlussfolgerung aus dem von der Beraterin Gesagten entwickelt. Verstehenshypothesen, die seitens der Berater geäußert werden, zielen entweder auf die Absicherung des Verständnisses von Klientenaussagen (nach dem Muster „verstehe ich sie richtig, dass ...“) oder aber sie haben Vorwurfsqualität bzw. dienen der Zuschreibung von Verantwortlichkeit für Probleme, die Klienten haben. Im nachstehend wiedergegebenen Gesprächsausschnitt wird der Klientenpartei unter Bezugnahme auf den Status als deutschstämmige Zuwanderer aus den GUS -Staaten Verantwortlichkeit dafür zugeschrieben, dass das anwesende Aussiedler-Ehepaar Probleme mit der statusrechtlichen Anerkennung hat. Der folgenden Gesprächspassage gingen mehrfache Bemühungen der Klienten voraus, Gründe dafür anzuführen, dass der Ehemann nicht gut deutsch kann. Mit diesen Begründungsanstrengungen (russische Stiefmutter; kein schulischer Deutschunterricht; Arbeit im Bergwerk, nicht im Büro) will sie den Berater davon überzeugen, dass es einen Sinn hat, mit seiner Hilfe gegen den ergangenen „zweitklassigen“ Anerkennungsbescheid als Spätaussiedler (nach § 7, 2 BVFG ) vorzugehen. Der Berater hatte bereits zugesagt, das Ehepaar beim Einlegen eines Widerspruchsvorhabens zu unterstützten, dessen ungeachtet argumentiert die Klientin gegenüber dem Berater sehr erregt und so, als müsste er noch von der Legitimität des Widerspruchsvorhabens überzeugt werden. #9 7002.03 (00: 18: 52-00: 19: 19) 694 FW: in (-) bü ↑ RO geSESsen; 695 mit KUgelSCHREIber- 696 (.) ich HAbe; 697 (-) 698 SM: [frau BEKker. ] 699 FW: [<<p,all>(ICH HAbe)] (-) nie’; > <?page no="190"?> Ulrich Reitemeier 190 Reitemeier_final 700 (-) 701 SM: <<f>nein,> 702 (-) jetzt HÖren sie doch ’einmal ZU. 703 <<len>es GEHT auch um DAS: ? 704 (---) dass OFT<<knarrend> ↓ mals.> 705 (--) die LEUte- 706 (---) NICHT (--) GLAUben, 707 (---) dass: - 708 (---) es HIER SO ist- 709 [wie die LEUte] erZÄHlen.> 710 FW: [(...) ] 711 SM: [und dass es] so SCHWER is. 712 FW: [JA das; ] 713 FW: das [is ANdere; sie GLAUben das is ] 714 SM: [die GLAUben oftmals die KOMmen nach; ] 715 FW: is nich so [SCHLIMM: ? ] 716 SM: [nach ] DEUTSCHland? = 717 FW: =die KOMmen nach DEUTSCHland; 718 <<t,all,dim>und DAS is ALles; > 719 SM: SO. 720 (-) <<all>und dann GLAUben> sie hier wär 721 ↑ WUNderrepublik; 722 FW: <<pp>hmHM,> 723 SM: verSTEhen sie? = 724 FW: <<h,p>=ja-> 725 (--) 726 SM: aber KEIne; 727 (-) IST ↓ nicht wa? 728 (-) niEma. 729 (-) <<dim>BUNdesrepublik; > 730 (.) WA? 731 (---) so- 741 (-) und ↑ EINfach is es hier NICHT. 742 (-) und VIEle machen DRÜben SCHON etwas 742 kaPUTT, 743 was dann SCHWIErig ist hier; 744 (---) <<rall>ORdentlich wieder> zuRECHT 745 <<p> ↓ zu machen; > 746 (--) MH? <?page no="191"?> Verstehensdokumentation in der Migrationsberatung 191 Reitemeier_final 747 .h ALso. 748 (-) SIE holen das AB? 749 (-) 750 FW: <<knarrend,p>ja,> Die Verstehenshypothese (Z. 703-723) ist bezogen auf das konkret gezeigte Beteiligungsverhalten der Klientenpartei. Der Berater verdeutlicht, dass dieses Beteiligungsverhalten aus einer Problemlage resultiert, in die viele Aussiedler sich selbst manövriert haben. Er vermeidet hier eine direkte Adressierung des Ehepaares, weist ihm aber sehr wohl die Hauptverantwortung für die vorgebrachten statusrechtlichen Probleme zu, indem er ein defizitäres Orientierungsverhalten der sozialen Kategorie, der auch das Klientenehepaar angehört („die Leute“; siehe Z. 705, 709), charakterisiert. Indem er die Gesamtkollektivität als mit unrealistischen Vorstellungen vom Integrationsprozess in Deutschland ausgestattet charakterisiert, schreibt er auch dem Klientenehepaar ein den Bedingungen in Deutschland nicht angemessenes Orientierungsverhalten zu. Auf diese Weise macht der Berater deutlich, dass er die aktualkommunikativen argumentativen Bemühungen der Klientin 33 gewissermaßen als verspätete Reparaturanstrengungen für einen Schaden, der eigentlich hätte vermieden werden können, ansieht. Der angeschlossene Verstehensappell in Zeile 723 unterstreicht, dass es sich bei den idealisierten Vorstellungen und Erwartungen, mit denen Aussiedler nach Deutschland kommen, um den Kern des Übels, mit dem das Ehepaar zu kämpfen hat, handelt. Unter Einbeziehung hier nicht abgedruckter vorgängiger Aktivitäten des Beraters, in denen dieser der Klientenpartei unzulängliche Bemühungen um den Erwerb der deutschen Sprache zur Last gelegt hatte, wird evident, dass mit der hier entwickelten Verstehenshypothese zum Orientierungsverhalten der Kollektivität der Aussiedler dem Klientenehepaar die Verantwortung für die Probleme mit der statusrechtlichen Anerkennung zugewiesen wird. 5.3.6.2 Die kombinierte Verwendung beider Komponenten des Verfahrens im Fallbeispiel „Krankenschwester oder -pflegehelferin“ Vor dem Hintergrund der häufiger vorkommenden alleinstehenden Verwendungsweise von negativen Verstehensthematisierungen und von Verstehenshypothesen sollte einsichtig sein, dass es sich in dem ausführlich behandelten 33 Dass er auf das aktuelle Beteiligungsverhalten der Klientin reagiert, zeigt sich vor allem daran, dass er in Z. 702 von der Klientin explizit Zuhörbereitschaft für eine Redeabsichten fordert, die klar machen sollen, worum es eigentlich geht und was der Kern des Problems ist (siehe Z.703). <?page no="192"?> Ulrich Reitemeier 192 Reitemeier_final Fallbeispiel aus dem Gespräch „Krankenschwester oder -pflegehelferin“ um eine Kombination zweier Verfahren handelt (vgl. Kap. 5.3). Die Verstehensdokumentation mittels negativer Verstehensthematisierung und angeschlossener Verstehenshypothese ist ein reaktives Verfahren - seitens der Klientin wird damit auf vorausgegangene Aufklärungsaktivitäten des professionell Beteiligten reagiert. Dass die negative Verstehensthematisierung mit vorausgehender und angeschlossenen Warum-Fragen Vorwurfsbzw. Beschwerdequalität hat, habe ich bereits erwähnt (vgl. Kap. 5.3.3). Der Vorwurfsgehalt wird in dem behandelten Beispiel untermauert, indem die Klientin auf Inkonsistenzen im behördlichen Entscheidungshandeln verweist (Z. 576-582) Das Widersprüchliche sieht die Klientin darin, dass sie bei eigentlich besseren beruflichen Voraussetzungen eine zweijährige Ausbildungszeit absolvieren muss, um die Anerkennung ihres Diploms zu erlangen, während dies bei ihrer Bekannten, die weniger gute Voraussetzungen hat, nicht verlangt wurde. 34 Mit der sogleich angeschlossenen Verstehenshypothese blockt die Klientin den beraterseitigen Versuch der Turn-Übernahme, der erkennbar auf Widerspruch angelegt war (Abe: r ä: h; Z. 588), ab. Mit dieser Verstehenshypothese entfaltet die Klienten eigene Verstehensgrundlagen (interpretative Verarbeitung von Erfahrungen, die sie im Behördenkontakt gemacht hat). Insofern lässt sich auch davon sprechen, dass die darin enthaltene Verstehensdokumentation pragmatisch perspektiviert ist - es wird mit zum Ausdruck gebracht, wie das Verstehensresultat in den eigenen Relevanzrahmen eingeordnet wird und in welchem Passungsverhältnis zu eigenen Handlungsplänen es steht. Verstehen als solches ist hier also nicht eigenwertig. Da dieses Verfahren nicht bloß Verstehens- und Akzeptanzschwierigkeiten bezüglich der Aufklärungssachverhalte anzeigt, sondern auch erklärungsmächtig in Bezug auf diese Sachverhalte ist, können damit interaktive Konstellationen erzeugt werden, die den professionell Beteiligten in besonderer Weise fordern. Mit der negativen Verstehensthematisierung und der Reformulierung des nicht einsichtigen Sachverhaltes (die HAT erLAUBnis OHne proBLEM geKRIEGT; zu <<all>KRANken ↓ SCHWESter machen-> (-) und <<h>ICH> muss jetzt ZWEI jahre LERnen; (Z. 576-578)) werden für den Berater sowohl Anschlusshandlungen akut, die als Aktivitäten des Erklärens und Aufklärens dieses Sachverhaltes ausgeführt werden können, als auch solche, die Zustimmung zu ihrer 34 Wie in Deppermann (2008) gezeigt wird, geht die Darstellung von Widersprüchlichem oftmals mit Nicht-Verstehen-Konstruktionen einher. <?page no="193"?> Verstehensdokumentation in der Migrationsberatung 193 Reitemeier_final Empörung beinhalten, ja, der Aufforderung, hinsichtlich der als ungerecht empfundenen Sachlage Abhilfe zu schaffen, nachkommen. Das projektive Potenzial dieses Verfahrens besteht also vor allem darin, eben solche Handlungsverpflichtungen (Erklärungen liefern für Widersprüchliches und sich zu einem Sachverhalt äußern müssen, der Anlass zur Beschwerde gibt) in Kraft zu setzen. Die Verstehenshypothese der Klientin weist eine Aussagestruktur auf, bei der etwas sehr Unwahrscheinliches, etwas, das eigentlich nicht für eine rationale oder sozial akzeptable Erklärung des Nichtverstehbaren in Frage kommen sollte (nämlich dass bundesdeutsche Behörden nicht nach Legalitätsprinzipien arbeiten), als einzig mögliche Erklärung in den Raum gestellt wird. Von Bedeutung für das aktuelle Interaktionsgeschehen ist dieser Vorgang vor allem insofern, als die Klientin hier demonstriert, durchaus zu Deutungsleistungen und Verstehensprozessen in der Lage zu sein, allerdings zu solchen Deutungsleistungen, die die nicht verstehbaren Aufklärungssachverhalte in einem sehr ungünstigen Licht erscheinen lassen. Daher unterscheidet sich dieses Verfahren auch deutlich von alleinstehenden negativen Verstehensthematisierungen bzw. einfachen Nicht-Verstehen-Konstruktionen. Mit dem Anfügen der Verstehenshypothese wird also ein Verfahren der Verstehensdokumentation aktiviert, das sich insbesondere durch folgende Merkmale auszeichnet: - Die mit der negativen Verstehensthematisierung erwartbar gemachte Aktivität des Beraters, das Nichtverstehbare verstehbar zu machen, wird von der Klientenpartei selbst bearbeitet; sie zeigt damit, dass es kein Verstehensproblem ist, das rational zu klären ist, sondern nur ein durch verwerfliche Motive behördlicher Akteure bedingtes Problem; damit wird nochmals markiert, dass es der Klientin eher um ein normatives Erwartungsproblem als um ein kognitives Verstehensproblem geht. - In dem Äußerungsteil, der die Verstehenshypothese enthält, zeigt die Klientin, wie sich das Nichtverstehbare aus ihrer Handlungsperspektive und auf der Grundlage ihrer Wissensbestände darstellt, allerdings ohne dabei einen absoluten Geltungsanspruch zu erheben. - Das Zeigen eigener Verstehensanstrengungen modifiziert die mit der negativen Verstehensthematisierung für den Berater aufgebauten konditionellen Relevanzen dahingehend, dass der Berater gefordert ist, auf die klientenseitig vorgenommenen Verstehensleistungen reagieren zu müssen. <?page no="194"?> Ulrich Reitemeier 194 Reitemeier_final Es geht bei diesem Verfahren somit nicht nur um das Verstehen eines Informationsgehaltes, sondern auch darum, diese Informationen zu dem klientenseitigen Erwartungshorizont und den subjektiven Lösungspräferenzen in Beziehung zu setzen, und es geht darum, bei einem ungünstigen Ausgang dieses Überprüfungsvorgangs Unzufriedenheit mit eben diesem Resultat zu bekunden. Im Gebrauch dieses Verfahrens realisiert sich ein Verstehen von Aufklärungsgehalten, gepaart mit Aktivitäten der Verarbeitung von Enttäuschungen, die von den Aufklärungsgehalten ausgehen. Dass es um mehr als ein Verstehen vorgängiger Aktivitäten geht, zeigt sich vor allem im zweiten Teil der Verstehensdokumentation, der Verstehenshypothese. Sie zielt nicht so sehr darauf ab, Verstehen der vorausgegangenen Aufklärungsaktivität zu dokumentieren, sondern vielmehr darauf, den Berater mit einem Verständnis zu den Aufklärungssachverhalten (einem Verstehensresultat) zu konfrontieren, das geeignet ist, ihn stärker für die Interessen der Klientin in die Pflicht zu nehmen. Die eigene Aktivität zur Verstehbarmachung dessen, was die Klientin nicht versteht, fordert den Berater zu einer tendenziell solidarisierenden Stellungnahme auf. Die angeschlossene Verstehenshypothese kann so als ein die eigene Äußerung komplettierender Zug ausgeführt werden. Erst im Kontext der negativ gerahmten Verstehensthematisierung erlangt die Verstehenshypothese ihr besonderes interaktionsstrukturelles Gewicht. Mit anderen Worten: Die Entfaltung des gesprächsrhetorischen Potentials der eigenen Verstehenshypothese hat das Bekunden von Nicht-Verstehen-Können sozusagen zur Voraussetzung. 5.3.7 Die Handlungsfunktionalität des Verfahrens Im Folgenden sei näher erläutert, wie der Gebrauch dieses Verfahrens einer kombinierten Verstehensdokumentation auf die interaktive Konstellation im Gespräch „Krankenschwester oder -pflegehelferin“ einwirkt. 5.3.7.1 Protestbekundung im Rahmen einer professionellen Dienst- und Hilfeleistungsbeziehung Mit ihrer negativen Verstehensthematisierung verdeutlicht die Klientin, dass ihr die beraterseitige Aufklärungsaktivität Akzeptanzprobleme bereitet. Auch markiert sie, dass die Gehalte der beraterseitigen Aufklärungsaktivität Plausibilitätslücken bzw. Rationalitätsdefizite aufweisen. Dass eine hypothetische Erklärung bzw. ein Verstehensangebot mittels sozial verwerflicher Arbeitshaltungen in Behörden entwickelt wird, verleiht dieser <?page no="195"?> Verstehensdokumentation in der Migrationsberatung 195 Reitemeier_final Art der Verstehensdokumentation die Symbolisierungskraft einer Unmutsbekundung und scharfen Kritik gegenüber den behördlichen Abläufen, von denen die Klientin unmittelbar betroffen ist. 5.3.7.2 Stärkung der Position als Anspruchsberechtigte Das explizite Geltendmachen eines Aufklärungsbedarfs, der trotz vorausgegangener Aufklärungsaktivität des Beraters besteht, sowie der im Raum stehende Vorwurf, dass die behördliche Arbeitsweise von Willkürprinzipien bestimmt ist, untermauern, dass die Klientin in einer Position agiert, in der sie sich der Legitimität bestimmter Ansprüche gewiss ist. Die referenzielle Offenheit ihrer Reaktion (HÄNGT das ab von DEM zu wem das KOMm: t; wer welche LAUne HAT; (-) <<all>die paPIEre; > oder WI: E ist das <<knarrend >JETZT; > (Z. 589-592)) ist funktional dafür, anzuzeigen, dass sich ihre Ansprüche nicht an einen bestimmten und nur an einen Adressaten, sondern sowohl an den Berater als auch an behördliche Einrichtungen richten. Mit dem Verzicht auf Anredepronomina bei der negativen Verstehensthematisierung und auch bei der Verstehenshypothese macht die Klientin erkennbar, dass nicht nur der Berater Adressat ihrer Klage ist, sondern auch externe Instanzen (Institutionen, die für rechtlich-administrative Regelungen zuständig sind). Auch gibt diese Formulierungsweise einen Hinweis auf Verstehensgrundlagen, die für die Klientin interpretationsleitend sind, nämlich darauf, dass sie damit vertraut ist, dass staatliche Stellen und auch die intermediäre Hilfeeinrichtung nach universellen Regeln, nicht nach partikularistischen, arbeiten sollen. Der Aushandlungsgewinn, den die Klientin erzielen kann, besteht darin, dass der Berater ins Auge fasst, das Entscheidungsverhalten der zuständigen Behörde daraufhin zu überprüfen, ob es mit den eingeholten und weitergegebenen Auskünften über die Behandlung von Anträgen auf Anerkennung des Diploms konform geht. In diesem Kontext und in der beschriebenen Verfahrenskombination ist das Thematisieren von Verstehensschwierigkeiten also eine wichtige Ressource zur Geltendmachung klientenseitiger Interessen. 5.3.7.3 Erzeugung einer dilemmatischen Situation Mit dem Zeigen eigener Verstehensanstrengungen werden die in der negativen Verstehensthematisierung für den Berater aufgebauten konditionellen Relevanzen ein Stück weit mitbearbeitet (es folgen Äußerungen, die das als erklärungsbedürftig Deklarierte plausibilisieren, hierfür zumindest eine Er- <?page no="196"?> Ulrich Reitemeier 196 Reitemeier_final klärungsmöglichkeit anbieten). Daraus aber resultieren Folgeerwartungen an das Beraterhandeln, die spezifischer sind, als die, die bei einer bloßen negativen Verstehensthematisierung in Kraft sind. Der pauschale Vorwurf, dass deutsche Behörden nicht nach Legalitätsprinzipien arbeiten, steht im Raum. Für den Berater ist die Verpflichtung zum Reagieren auf das Nichtverstehbare noch in Kraft, hinzu kommt die Vorwurfsqualität der Verstehenshypothese; dadurch besitzt das Verfahren eine hohe Projektionsstärke für beraterspezifische Anschlussaktivitäten. Würde die Klientin nur mit einer negativen Verstehensthematisierung reagieren, bestünden die interaktionsstrukturellen Implikationen darin, Erklärungen dafür liefern zu müssen, warum die Bestimmungen so sind wie sie sind, seit wann sie in Kraft sind usw. Da aber die Verstehenshypothese angeschlossen wird, stellt sich als interaktionsstrukturelle Implikation ein, auf den Wahrheitsgehalt bzw. die Realitätsentsprechung dieser Behauptung reagieren zu müssen (wenn diese nicht übergangen werden soll). In Kap. 5.3.3 habe ich darauf hingewiesen, dass die von der Klientin aufgestellte Verstehenshypothese pragmatisch einer Vorwurfsaktivität gleich kommt. Dabei hat die in Frageform geäußerte Verstehenshypothese auch die Implikation eines Absurditätsargumentes (vgl. Deppermann 1997), denn der Willkürvorwurf macht eine Zurückweisung präferenziell relevant, die wiederum eine Zustimmung zum Gleichbehandlungsanspruch der Klientin impliziert. Dies aber macht die besondere rhetorische Funktion dieser Verstehenshypothese der Klientin aus: Es wird so Zurückweisung elizitiert, die Akzeptanz ihrer Position nach sich zieht. Damit gerät der Berater in eine dilemmatische Situation, er steht vor Handlungsalternativen, die beide verhängnisvoll für sein Positionierungsverhalten sein können. Im Detail stellt sich das Dilemmatische dieser Situation folgendermaßen dar: Sofern er diese Verstehensleistung als adäquat bzw. die Verstehenshypothese als zutreffend behandelt, stimmt er mit dem darin enthaltenen Vorwurf der nicht korrekten Arbeitsweise der Behörde überein und muss diese zum Bezugpunkt seines weiteren Engagements machen; sofern er die klientenseitige Verstehensleistung als unzutreffend behandelt, ist er gefordert, wiederholende, ergänzende oder nachträglich plausibilisierende Aufklärungsaktivitäten bezüglich der nicht verstehbaren Sachverhalte zu liefern (was er aufgrund mangelnder Kenntnis der Abläufe und Entscheidungsregeln in der zuständigen Behörde nicht kann). <?page no="197"?> Verstehensdokumentation in der Migrationsberatung 197 Reitemeier_final 5.3.7.4 Sichtbarmachen der Grenzen und Möglichkeiten der Funktionsrolle des Beraters Zwar ist der Berater Adressat der klientenseitigen Vorwurfsaktivitäten und der Bekundung von Unmut über ungleiche Behandlung durch eine Behörde, er hat die dafür ausschlaggebende Sachverhaltslage aber nicht zu verantworten. Gleichwohl hat die klientenseitige Aktivität - wie schon gesagt - eine hohe projektive Kraft für das Folgehandeln des Beraters. Wie sich am Transkript verfolgen lässt (vgl. Kap. 5.2.2, Z. 600-612) zeigt er zunächst eine Reaktion, mit der er sich auf seine Mittlerrolle zwischen Behörden und Klienten zurückzieht, und er unterlässt es, der Klientin gleichsam beizupflichten und ihre Vorwurfsaktivität an die verantwortliche Stelle weiterzuleiten. Er weist die Unterstellung einer Willkürpraxis nicht zurück, dies deutet daraufhin, dass er der Klientin zumindest eine gewisse Berechtigung zur Klageführung über behördliche Handlungsweisen zubilligt. Unter Hinweis darauf, dass eine nochmalige Prüfung des behördlichen Entscheidungsganges die einzig verbleibende Alternative ist, befreit er sich dann aus der dilemmatischen Situation. De facto vermeidet der Berater damit eine eindeutige Parteinahme für die Klientin oder die Behörde (bzw. die kritisierte Mitarbeiterin). Er zeigt sich als Sachwalter der Angelegenheit der Klientin, ohne jedoch einseitig als Vertreter ihrer Interessen zu agieren. Das projektive Potenzial dieser kombinierten Verstehensdokumentation schöpft die Klientin hier also dahingehend aus, dass sie erstens den Berater dazu bringt, seinen Beteiligungsstatus markieren zu müssen, zweitens dazu, eine Problembearbeitungsstrategie ins Auge zu fassen, mit der sicher gestellt werden kann, dass es bei der Bearbeitung ihres Anliegens (Anerkennung als Krankenschwester) nicht willkürlich, sondern rechtmäßig zugeht. 5.4 Handlungsschematische und gattungsspezifische Bezüge des Verfahrens Der Handlungslogik nach kann das Verfahren der negativen Verstehensthematisierung mit angeschlossener Verstehenshypothese immer erst dann zum Einsatz kommen, wenn - Aussagen des Gegenübers nicht richtig verstanden worden sind, - zuvor nicht zufriedenstellende Aufklärungsgehalte mitgeteilt oder anderweitige frustrierende Bearbeitungsergebnisse erzielt wurden. 35 35 Solche die Klientenpartei enttäuschenden Bearbeitungsergebnisse können sich vor allem dann einstellen, wenn sich Berater professioneller Abkürzungsstrategien bedienen; ausführlicher hierzu Reitemeier (2006, S. 207ff.). <?page no="198"?> Ulrich Reitemeier 198 Reitemeier_final Die Verwendung des Verfahrens erfolgt im untersuchten Fall an einer Schlüsselstelle des Beratungsprozesses, nämlich im Anschluss an eine Gesprächsaktivität, in der der Berater über Bedingungen aufklärt, die für den weiteren Umgang mit dem Handlungsplan der Klientin „Anerkennung des Diploms als Krankenschwester“ verbindlich sind. Würde die Klientin die für sie nachteiligen Aufklärungsgehalte einfach nur zur Kenntnis nehmen und vielleicht noch in einem resignativen Gestus ihre Enttäuschung bekunden, könnte das Beratungsgespräch eigentlich beendet werden. Eine derartige handlungsschematische Progression wird mit dem hier beschriebenen Verfahren der Verstehensdokumentation abgeblockt bzw. mit derartigen Weichenstellungen hinsichtlich des Situationsablaufs durchbrochen. Die Initialwirkung hinsichtlich der Restrukturierung und Neufokussierung des Interaktionsgeschehens gründet darin, dass der erreichte Stand des Beratungsgespräches aus der Perspektive der Klientenpartei formuliert wird. Mit der Thematisierung des erreichten Standes kann ein rasches Beenden des Beratungsgespräches verhindert werden. Auch kann der Berater in seiner handlungsschematischen Orientierung stärker an die Handlungspläne der Klientin und an den Problemdruck, den sie durchlebt, angebunden werden. Insofern, als dem Einsatz dieses Verfahrens beraterseitige Gesprächsaktivitäten vorausgehen, mit denen verbindliche Anhaltspunkte für die Verfolgung klientenseitiger Handlungspläne aufgezeigt worden sind (und auch insofern, als solche Aufklärungsaktivitäten erst nach speziellen Sondierungsaktivitäten möglich sind), reagiert die Klientin an einer Stelle, an der der Bearbeitungsgang - relativ zum Bearbeitungsanliegen - schon weit vorangeschritten ist. Für ihre Pläne zur Bearbeitung des Problems sieht die Klientin an dieser Stelle schon keine guten Chancen mehr. Sie stellt die erhaltenen Auskünfte nicht in Frage; das von ihr verwendete Verfahren der Verstehensdokumentation - die Kombination einer negativen Verstehensthematisierung mit nachfolgender Verstehenshypothese - verwendet sie sozusagen als ultima ratio zur Geltendmachung ihrer Interessen. Beansprucht wird dabei nicht, das nicht Verstehbare objektiv zu ergründen oder zu erklären, vielmehr wird die Fähigkeit zur kritischen Verständnisbildung über behördliche Arbeitsweisen demonstriert. 5.5 Sozialstrukturelle Bezüge bei der Anwendung des Verfahrens Als klientenspezifische Aktivitätsform zeichnet sich die Verwendung des Verfahrens vor allem dadurch aus, dass die Klientenpartei sich damit als Opfer von Verhältnissen, in denen nicht nach Legalitätsprinzipien gearbeitet wird, <?page no="199"?> Verstehensdokumentation in der Migrationsberatung 199 Reitemeier_final präsentieren kann. Mit dieser Symbolisierungsqualität ausgestattet, fungiert dieses Verfahren als eine der wenigen Steuerungs- und Aushandlungsressourcen, die Klienten der Migrationsberatung über formalrechtliche Anspruchsberechtigung hinaus zur Verfügung stehen. Nicht nur die Verwendung als Aushandlungsressource, auch die Art und Weise, wie bei diesem Verfahren Handlungsabläufe in außersituativen Kontexten relevant gemacht werden, hat sehr viel mit dem Beteiligtenstatus und mit der Soziallage, die diesen Teilnehmerstatus erzwingt, zu tun. So werden mit dem Anschluss der Verstehenshypothese an die negative Verstehensthematisierung spezifische Wissensbestände der Klientin aktualisiert. Dass sie die Behauptung aufstellt, bei der behördlichen Behandlung von Fragen der Anerkennung mitgebrachter Berufsqualifikationen walteten Willkürprinzipien, zeugt von einer Urteilsbildung über behördliche Arbeitsweisen, die in entsprechenden Vorerfahrungen in eben solchen Handlungskontexten gründen. Insofern kann sich im Einbringen klientenseitiger Verstehenshypothesen auch das Ausagieren oder nachträgliche Bearbeiten deprivierender Erfahrungen in Institutionen hoheitsstaatlichen Handelns manifestieren. Zur Untermauerung dieses Befundes sei auf Gesprächsaktivitäten der Klientin eingegangen, die diese im weiteren Verlauf des Beratungsgespräches vollzieht und in denen sie über persönliche Erfahrungen mit einer Behörde spricht. Im Zuge der Rekonstruktion vorausgegangener Behördenkontakte zwecks Erlangung der Anerkennung des Diploms kommt die Klientin mehrfach auf die bereits erwähnte Frau Meisel zu sprechen. Sie stellt diese Person wiederholt als unfreundlich und abweisend agierend dar (u.a. mittels imitierender Wiedergabe ihrer Redeweise) und als Person, die so kategorisch gegen das Klientinnen-Anliegen eingestellt war, dass sie sich auf Anraten ihrer Sprachlehrerin beim Leiter des Gesundheitsamtes über sie beschwert. Erst durch Intervention des Behördenleiters werden die Unterlagen zur Beantragung des Diploms von der Mitarbeiterin des Gesundheitsamtes, Frau Meisel, angenommen. Aus diesem Vorgang und aus den in der Kontaktsituationen mit Frau Meisel erfahrenen Kränkungen resultiert sicherlich die Behauptung, dass bei der Behandlung von Anträgen auf Anerkennung der im Herkunftsland erworbenen Diplome Willkürprinzipien walten. Nicht auszuschließen ist, dass hier auch Erfahrungen, die in staatlichen Einrichtungen des Herkunftslandes gemacht wurden, eine Rolle spielen. Die Anwendung dieses Verfahrens steht auch im Zusammenhang mit sozialen Beteiligungsvoraussetzungen des Beraters. Er ist Adressat von Vorwurfsäu- <?page no="200"?> Ulrich Reitemeier 200 Reitemeier_final ßerungen, für die Handlungen und Regelungen, auf die sich die Vorwurfsäußerungen beziehen, ist er aber eigentlich nicht verantwortlich. Interaktionswirksam werden dabei die ambivalenten Grundlagen seiner Funktionsrolle, nämlich der Auftrag, advokatorisch für die Klientin tätig zu sein, dabei aber auch loyal gegenüber hoheitsstaatlichen Institutionen und Prinzipien rechtsstaatlichen Handelns zu sein. Diese ambivalenten Beteiligungsvoraussetzungen lassen das Verfahren der Verstehensdokumentation für den Berater in verschiedenen Hinsichten heikel werden: Er muss in Unkenntnis der tatsächlichen Abläufe und der genauen Umstände des angeprangerten behördlichen Entscheidungshandelns reagieren (daher das Eingeständnis, überfragt zu sein). Auch muss er darauf bedacht sein, dass das Vertrauen in die Arbeitsweise der Behörden nicht zu sehr Schaden nimmt, die kritisierte Behördenpraxis darf nicht als Schwäche hoheitsstaatlichen Handelns erscheinen (daher der Verweis darauf, dass Frau Meisel nicht mehr im Amt ist). Ferner muss er gewahr sein, dass die Verstehensgrundlagen und die Deutungsweisen der Klientin einer gründlichen Inaugenscheinnahme bedürfen (daher der Vorschlag, eine gründliche Rekonstruktion des Entscheidungshandelns der Gesundheitsbehörde vorzunehmen). 5.6 Resümee Dieses Verfahren der Verstehensdokumentation besteht aus einer negativen Verstehensthematisierung (Aussagestruktur: „ich verstehe nicht …“) und darauf bezogenen eigenen Versehensanstrengungen (Aussagestruktur: „ist es nicht so, dass ...“). Wie auch das im vorausgegangen Kapitel behandelte Verfahren der relevanzrückstufenden Verstehensdokumentation besteht es in propositionaler Hinsicht aus zwei Komponenten: einem Äußerungsteil, der eine bloße Verstehensthematisierung darstellt (hier mit der Rahmungsfunktion von Nichtverstehen) und einem Äußerungsteil, in dem eine negative Verstehenshypothese ausgesprochen wird. Es erfolgen eigene - hypothetische - Verstehensanstrengungen im Anschluss an ein zuvor gezeigtes Unvermögen, vorgängige Äußerungen eines anderen Beteiligten verstehen zu können. Mit einer solchen Verstehenshypothese werden Verstehensleistungen dokumentiert, die in ihren interaktionsstrukturellen Implikationen über jene, die mit bloßen negativen Verstehensthematisierungen erzeugt werden, hinausgehen. Dies gründet zum einen darin, dass die negative Verstehensthematisierung auf Bekundung mangelnder Akzeptabilität sowie Unmut in Bezug auf dargestellte Sachverhalte zugeschnitten ist. Es gründet zum anderen darin, <?page no="201"?> Verstehensdokumentation in der Migrationsberatung 201 Reitemeier_final dass situationsemergent eine Verstehenshypothese angeschlossen wird, die forcierenden Charakter hat und für den Berater das Reagieren-Müssen auf Vorwurfsäußerungen relevant setzt. Die verstehensdokumentarische Aussageform diese Verfahrens besteht darin, zu sagen, dass eine vorgängige Bezugsäußerung nicht verstehbar ist, und zugleich zu behaupten, dass die entsprechenden Mitteilungsgehalte sehr wohl verstehbar sind, wenn man von einer Realität ausgeht, die es so aber nicht geben darf. Eine Besonderheit dieses Verfahrens besteht also in der Paradoxie, wonach eine zuvor bekundete Verstehensschwierigkeit durch nachträglich explizierte Verstehensanstrengungen des Sprechers bereinigt wird. Eine andere Besonderheit dieses Verfahrens besteht darin, dass die gezeigte Verstehensanstrengung nicht mit dem Anspruch auf Sinnadäquatheit realisiert wird, sondern als Ressource der Steuerung des Interaktionsprozesses und der Geltendmachung eigener Handlungsinteressen fungiert. Insofern hat die hypothetisch vollzogene Verstehensleistung den Charakter eines Aushandlungsangebotes. Die Demonstration von Verstehensanstrengungen ist - sofern sie Herausforderungscharakter haben - eine ganz wesentliche Komponente dieses Verfahrens. Das Verfahren hat ferner kontexterweiternde Implikationen. Die damit enaktierten Wissensbestände beziehen sich auf außersituative soziale Prozesse, die ein Klient durchlaufen hat. Wie die Verwendungsweise des Verfahrens im ausgewählten Fall gezeigt hat, finden diese Erfahrungsprozesse ihren Niederschlag nicht einfach nur in Handlungsorientierungen und -dispositionen der Problembetroffenen. Sie finden ihren Niederschlag auch darin, dass sie als Verstehens- und Deutungsressource bereit stehen und zur gesprächslokalen Erzeugung spezifischer Reaktionsverpflichtungen des Professionellen eingesetzt werden können. Die Anwendung des Verfahrens lässt sich daher auch als eine klientenspezifische Form des ‘participants works’ in der Migrationsberatung ansehen. 36 Das Verfahren wurde ausführlich in seiner Verwendung durch die Klientenpartei untersucht. Die sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Verfahren (bzw. seine alleinstehenden Komponenten) auch für den professionell 36 Das Konzept ‘participants work’ bezieht sich darauf, das Akteure ‘structural provisions’ in ihren reaktiven Zügen bearbeiten. In der Bearbeitungsweise situativ wirksamer Interaktionsanforderungen manifestiert sich der jeweils besondere Beteiligungsstatus eines Akteurs, seine spezifischen Handlungsrelevanzen und Hintergrundorientierungen. Dieses Begriffspaar hat Jefferson (1972) in die Konversationsanalyse eingeführt. <?page no="202"?> Ulrich Reitemeier 202 Reitemeier_final Beteiligten präferenziell werden kann. In den Gesprächsaufnahmen aus der Migrationsberatung lässt sich beobachten, dass Berater insbesondere dann auf diese Verfahrenskombination zurückgreifen, wenn ein Klient sich gegenüber Empfehlungen oder Lösungsentwürfen des Beraters sperrt und an eigenen Lösungsvorstellungen festhält, diese vom Berater aber als suboptimal, mit hohen Folgekosten belastet, als nicht richtig durchdacht usw. angesehen werden. Das Zeigen von Unverständnis für die klientenseitigen Lösungspräferenzen und das Aussprechen von Vermutungen darüber, was den Klienten insgeheim umtreibt oder auch das hypothetische Aufzeigen nachteiliger Folgen eines bestimmten Lösungsentwurfs wird vom Berater in solchen Fällen in der Absicht vorgenommen, ein Umdenken auf Seiten des Problembetroffenen zu bewirken. 6. Schlussbetrachtungen und theoretische Einordnung der untersuchten Verfahren der Verstehensdokumentation Am Beispiel der Migrationsberatung wurde in dieser Studie Verstehensarbeit in asymmetrisch strukturierten Interaktionssituationen untersucht. In der Begrifflichkeit von Teilnehmervoraussetzungen lässt sich die asymmetrische Interaktionsanordnung allgemein als Beziehung zwischen Problembetroffenen (Klient) und Bearbeitungszuständigen (Berater) fassen. Im Mittelpunkt der Untersuchung standen interaktive Verfahren der Verstehensdokumentation; detailliiert beschrieben wurde für jede Interaktionspartei je ein Verfahren. Als prägend für die Entfaltung der Handlungsperspektive des Klienten wurde herausgearbeitet, - dass sie Antizipationsleistungen hinsichtlich der Bearbeitungsbedingungen in der Beratungssituation erbringen, wobei diese Bearbeitungsbedingungen aber nicht vollständig transparent sind; - dass sie mit der Inanspruchnahme der bearbeitungskompetenten Stelle tendenziell Autonomie hinsichtlich des Umgangs mit dem Problem einbüßen und - dass Zwischenstände und Ergebnisse des Problembearbeitungsganges für sie unter Gesichtspunkten des Deprivationserlebens interpretationsrelevant werden können. Hingegen ist für die interaktive Entfaltung der Handlungsperspektive des Beraters kennzeichnend, - dass sie subjektive Schilderungen in formal-rechtliche Statuskategorien transformiert; <?page no="203"?> Verstehensdokumentation in der Migrationsberatung 203 Reitemeier_final - dass sie den Problembearbeitungsaktivitäten des Betroffenen in Einnahme einer Aufsichts- und Kontrollhaltung entgegentritt und - dass sie Intersubjektivität unter dem Primat der Ressourcenverfügbarkeit und der Arbeitsökonomie herstellt. Über diese an den Beteiligungsstatus des Problembetroffenen und des Bearbeitungszuständigen gekoppelten Entfaltungsweisen von Handlungsperspektiven werden die asymmetrischen Beteiligungsvoraussetzungen zwischen den Akteuren interaktionswirksam und damit relevant für den Zuschnitt der Verstehensaufgaben, die die Akteure für das Gegenüber produzieren und die sie selbst bearbeiten müssen - so die Ausgangsthese dieser Studie. Detailliert beschrieben wurden zwei Verfahren der Verstehensdokumentation: die relevanzrückstufende Verstehensdokumentation und die negative Verstehensthematisierung mit angeschlossener Verstehenshypothese. Während das erstgenannte Verfahren typisch für die professionelle bzw. bearbeitungszuständige Beteiligungsweise ist, findet das letztgenannte Verfahren sowohl auf Seiten des Problembetroffenen als auch auf Seiten des Professionellen Verwendung. Gemeinsam ist beiden Verfahren, dass sie reaktiv eingesetzt werden und dass sie eine zweiteilige Binnenstruktur aufweisen. In Bezug auf die interaktive Relevanz, die Verstehen bei der Verwendung dieser Verfahren zukommt, unterscheiden diese sich folgendermaßen: Bei dem Verfahren der relevanzrückstufenden Verstehensdokumentation erfolgt in routinisierter Einnahme einer sondierenden Verstehenshaltung professionelles Verstehen. Diese Verstehenshaltung zeichnet aus, dass ihre Prämissen und ihre Handlungsfunktionalität nur im Vollzugshandeln kenntlich gemacht werden. Sie basiert auf der Idealisierung, dass die Klientenpartei das Vermögen zum Verstehen professioneller und institutioneller Handlungserfordernisse mitbringt. Bei dem Verfahren der negativen Verstehensthematisierung mit angeschlossener Verstehenshypothese wird eine Verstehensleistung vollzogen, die zugleich hypothetischer und herausfordernder Art ist. Klientenseitig wird dabei das Vermögen zum Verstehen demonstriert. Ein spezifisches Verstehensresultat wird so interaktiv relevant gesetzt. Das Erbringen einer Verstehensleistung ist eine Ressource, mit der die problembetroffene Partei ihre subjektiven Erfahrungshintergründe (z.B. Deprivationserleben) zum ‘common ground’ (Clark 1992) des weiteren Geschehens in der Beratungssituation machen kann (z.B. als Unmutsbekundung und Vorwurfsäußerung). <?page no="204"?> Ulrich Reitemeier 204 Reitemeier_final Festzuhalten ist, dass der Gebrauch der genannten Verfahren sicherlich nicht auf die Migrationsberatung und auch nicht auf andere Interaktionskonstellationen zwischen Professionellen und Klienten beschränkt ist. In diesem Beitrag ging es aber speziell darum, diese Verfahren in ihrem interaktionsfeldspezifischen Gebrauch zu rekonstruieren. Mit den Ausführungen zu pragmatischen Strukturen der Migrationsberatung wurden dafür die Voraussetzungen geschaffen. Generell zeigt sich die Interaktionsfeldspezifik eines Verfahrens der Verstehensdokumentation darin, dass es - bezogen auf die jeweils besonderen Beteiligungsvoraussetzungen der Akteure und Kontextbedingungen - in strukturreproduktiver Weise zur Anwendung kommt. Im Zuge der Darstellung der beiden Verfahren wurden ihre strukturreproduktiven Implikationen, aber auch die damit vollzogene rhetorische Nutzung von Handlungsspielräumen fallspezifisch aufgezeigt. Abschließend soll noch eine Gemeinsamkeit herausgestellt werden, die zwischen den untersuchten Verfahren besteht, wenn man sie mit Blick auf die Herstellungsproblematik von Intersubjektivität betrachtet. Sowohl bei den Ausführungen zu den Entfaltungsprinzipien der Beteiligungsperspektiven als auch bei den Analysen der lokalen Gesprächsaktivitäten, in denen Verstehensdokumentationen vollzogen werden, hat sich gezeigt, dass bei allen Asymmetrien, die zwischen den Beteiligten bestehen, sehr wohl konvergierende Orientierungsbezüge realisiert werden, dass also über die Unterschiede in den Handlungsperspektiven und Beteiligungsrollen hinweg rasch ein Interaktionsfundament hergestellt werden kann, zumindest was die handlungsschematisch bedingten Beteiligungsaufgaben anbelangt. Das Vermögen nicht nur der Professionellen der Migrationsberatung, sondern auch ihrer Klienten, unthematisierte Relevanzen in Rechnung zu stellen und ihr Kommunikationsverhalten daran auszurichten, ist hier von entscheidender Wichtigkeit. Wie brüchig und diffizil allerdings die Konvergenzen im Orientierungsverhalten der Beratungsakteure sind, haben die hier untersuchten Verfahren der Verstehensdokumentation sichtbar gemacht. Dass es zum Einsatz dieser Verfahren kommt, indiziert, dass die rasch etablierte Verständigungsbasis (und die sie stützende Idealisierung von geteilten Handlungsrelevanzen) einen äußerst tentativen Charakter hat. Die relevanzrückstufende Verstehensdokumentation ebenso wie die Kombination einer negativen Verstehensthematisierung mit einer eigenen Verstehenshypothese ist indikativ dafür, dass Brüche im Prozess der Perspektivenangleichung viru- <?page no="205"?> Verstehensdokumentation in der Migrationsberatung 205 Reitemeier_final lent sind. In Bezug auf den tentativen Charakter des konvergenten Orientierungsverhaltens kommen den verwendeten Verfahren also Reparaturbzw. Kompensationsleistungen zu. Fazit: Ihre strukturreproduktiven Leistungen entfalten die hier behandelten Verfahren der Verstehensdokumentation nicht allein dadurch, dass sie als ‘category bound acitivities’ realisiert werden, sondern auch dadurch, dass sie zur Kompensation der Funktionsunsicherheiten und Unzulänglichkeiten feldspezifischer Anfangsidealisierungen von Problembetroffenen und Bearbeitungszuständigen eingesetzt werden. 7. Literatur Berend, Nina (1998): Sprachliche Anpassung: eine soziolinguistisch-dialektologische Untersuchung zum Rußlanddeutschen. (= Studien zur Deutschen Sprache 14). Tübingen. Caritasverband für das Kreisdekanat Neuss e.V. (1992): Aussiedlerberatung im Kreisdekanat Neuss e.V. Darstellung der Beratungsarbeit für Aussiedler des Caritasverbandes für das Kreisdekanat Neuss e.V. in den Dienststellen Grevenbroich und Dormagen. 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Es handelt sich zum einen um ‘antizipatorische Initiativen’, zum anderen um ‘probeweise Konzeptrealisierungen’. ‘Antizipatorische Initiativen’ sind Interaktionsbeiträge, die von Setmitarbeitern eigenständig und selbstbestimmt realisiert werden, ohne dass diese durch die unmittelbare Interaktionsentwicklung im Sinne konditionell relevanter Vorgaben motiviert sind. Gleichwohl handelt es sich um situationsadäquate, sinnvolle und auf das übergeordnete Ziel der Kooperation bezogene relevante Beiträge. So kündigt - scheinbar aus blauem Himmel - der Aufnahmeleiter eine Probe an, ohne dass dies vorher besprochen worden ist oder sich zwangsläufig aus der aktuellen Situation ergibt. ‘Probeweise Konzeptrealisierungen’ sind reaktive Interaktionsbeiträge, bei denen Setmitarbeiter auf verbale Vermittlungsbemühungen ihrer Kooperationspartner im Laufe der Interaktionsentwicklung dazu übergehen, nicht mehr sprachlich ihr Verständnis zu dokumentieren („okay, das habe ich verstanden“), sondern andere Modalitäten als Ressource einsetzen, um situativ vorzuführen, dass und wie sie die Vermittlungsbemühungen verstanden haben. So demonstriert die Kamerafrau - nachdem sie zuvor primär sprachlich formuliert hat, wie sie die Wünsche der Regisseurin für einen Kameraeinsatz verstanden hat - durch den konkreten Einsatz der Kamera ihr Verständnis. 1 Mein Dank gilt Patrizia Kühner für ihre effektive editorielle Unterstützung und die Kürzung diverser Satzmonster. <?page no="210"?> Reinhold Schmitt 210 Schmitt_final Beide Verfahren werden begriffen als auf die spezifischen Relevanzen des Handlungsfeldes reagierende und bestimmte Verstehensanforderungen in rekurrenter Weise bearbeitende ‘Problemlösungen’, die in ihrer Struktur selbst wieder die Relevanzen in strukturell verdichteter Form zum Ausdruck bringen. Diesem Ansatz liegt die theoretische Annahme zugrunde, dass die Art und Weise, in der Verstehen in empirisch manifester Weise zum Ausdruck gebracht wird, in permanenter Auseinandersetzung mit genau den Bedingungen erfolgt, unter denen es produziert wird. In diesem Verständnis sind Verstehensdokumentationen reflexiv an ihre Produktionsbedingungen gebunden und symbolisieren und reproduzieren diese kontinuierlich. Im ersten Kapitel werden die grundlegenden situations- und organisationsstrukturellen Grundlagen des Filmsets als professionelles Handlungsfeld im Hinblick auf deren Implikationen für die Realisierung von Verstehensdokumentationen beschrieben. Die Aufgabe, die damit verbunden ist, ist eine zweifache: Zunächst geht es darum - noch weitgehend unabhängig von dem theoretisch motivierten Erkenntnisinteresse an ‘Verstehen’ - das Handlungsfeld ‘Filmset’ in seinen konstitutiven Strukturen und Grundlagen zu beschreiben. Die zweite Aufgabe besteht dann darin, auf der Grundlage der präsentierten situations- und organisationsstrukturellen Beschreibung diejenigen Implikationen herauszuarbeiten, die für das spezifische Erkenntnisinteresse an Verstehensdokumentationen zentral sind. Bevor ich jedoch mit der inhaltlichen Beschreibung des Filmsets als Arbeitsplatz beginnen kann, werde ich kurz das Korpus und die materiale Spezifik der empirischen Grundlage darstellen, in der die Interaktionsdokumente des Filmsets vorliegen (Kap. 2). Ziel dieser Kurzdarstellung ist es, die in der Materialität und Spezifik der Interaktionsdokumente selbst begründeten und von den konstitutiven organisations- und sozialstrukturellen Grundlagen und Besonderheiten des Handlungsfeldes ‘Filmset’ unabhängigen Implikationen für die Untersuchung von Verstehensdokumentationen zu reflektieren. In einem nächsten Schritt werde ich dann - auf der Grundlage der bislang zum Filmset vorliegenden analytischen Einsichten und basierend auf meinem detaillierten ethnografischen Wissen über das Handlungsfeld - die zentralen situations- und organisationsstrukturellen Grundlagen des Handlungsfeldes ‘Filmset’ rekonstruieren. Ich gehe dabei so vor, dass ich mit einem weitgehend <?page no="211"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 211 Schmitt_final deskriptiven Einstieg in die Feldbeschreibung starte (Kap. 3). Dabei versuche ich, die für uns 2 dominanten Eindrücke aus unseren Erstkontakten mit dem Filmset wiederzugeben. Ausgehend von dieser Beschreibung werde ich dann in einer nunmehr kategorial-begrifflichen Version die situations- und organisationsstrukturellen Aspekte des Handlungsfeldes identifizieren. Dabei entsteht das Filmset als spezifischer Arbeitsplatz und als professionelles Handlungsfeld, dessen Organisation in allen Bereichen und für alle Anwesenden (mit Ausnahme der dokumentierenden Wissenschaftler) auf die kooperative Realisierung eines „joint project“ (Clark 1996, Linell 1998) ausgerichtet ist (Kap. 4). Die Beschreibung der Situations- und Organisationsstrukturen des Filmsets zielt auf die Rekonstruktion eines Reliefs von Verstehensanforderungen, die die Setmitarbeiter - in unterschiedlicher Weise und abhängig von der jeweiligen Funktionsrolle, die sie am Set innehaben - als Bestandteil und Grundlage ihrer professionellen Kooperation bearbeiten müssen (Kap. 5). Als zentraler Bestandteil des Beitrags werden dann zwei prototypische Verfahrenstypen der Verstehensdokumentation im Detail als multimodal konstituierte Bearbeitungen schauplatzspezifischer Verstehensanforderungen analysiert (Kap. 6). Zum Abschluss werden dann noch einmal im Lichte der konstitutionsanalytischen Einsichten in die multimodale Komplexität der Verstehensdokumentationen allgemeine Verwendungsaspekte und strukturelle Implikationen der analysierten Verfahren diskutiert (Kap. 7). Der Aufbau des Beitrags orientiert sich insgesamt daran, dem Leser die komplexen Strukturen des Filmsets und ihre Implikationen für die Praxis der schauplatzspezifischen Verstehensdokumentationen zum besseren Verständnis der anschließenden Verfahrensrekonstruktionen analysevorgängig möglichst nahe zu bringen. Der Beitrag ist nicht darauf ausgerichtet, den Leser möglichst detailliert am faktischen Gang der Ergebnisproduktion teilhaben zu lassen. Meines Erachtens ist es ein Missverständnis in konstitutionsanalytischen Zusammenhängen, die tatsächlich praktizierte Forschungsmethodologie auch zur Richtschnur der Ergebnispräsentation zu machen, indem man sie reproduziert. Für mich ist es kein Widerspruch, sich bei der Ergebnisproduktion ganz eng auf die konversationsanalytische Maxime zu verlassen, sich bei der gegenstandsbezogenen Theoretisierung und Konzeptentwick- 2 Die Set-Aufzeichnungen sind in Kooperation mit Daniela Heidtmann entstanden. <?page no="212"?> Reinhold Schmitt 212 Schmitt_final lung von den Daten selbst leiten zu lassen, bei der Präsentation der dabei gewonnenen Ergebnisse jedoch einer primär auf die Verstehenssicherung abzielenden Dramaturgie zu folgen. Den Nachweis, dass die konversationsanalytische Forschungsmethodologie in angemessener Weise praktiziert worden ist, müssen in erster Linie die Fallanalysen und die auf deren Ergebnisgrundlage entwickelten Konzepte tragen, nicht aber die gesamte Struktur der Ergebnispräsentation. 2. Korpus und Implikationen der Datenspezifik Die Aufnahmen, die meiner Untersuchung zugrunde liegen, stammen aus dem Hamburger Film Korpus, einer umfangreichen Sammlung von Videoaufzeichnungen. Das Korpus besteht zum einen aus Arbeitssitzungen (so genannte Pitching-Sitzungen), in denen Gruppen von Filmstudenten gemeinsam mit ihren Dozenten Filmideen entwickeln (siehe hierzu Heidtmann 2007; sowie Schmitt 2004, 2005; Heidtmann / Föh 2007). 3 Zum anderen beinhaltet es Aufnahmen, die die Arbeit an unterschiedlichen Drehorten dreier Filmteams zeigt (so genannte Set-Aufnahmen; siehe Schmitt 2007c, Schmitt/ Deppermann 2007 und 2010). Die Set-Aufnahmen sind im Rahmen einer längeren Kooperation des IDS und der Universität Hamburg (Fachbereich Film) entstanden und umfassen insgesamt 40 Stunden Videoaufzeichnungen. 4 Von IDS -Seite waren Daniela Heidtmann und ich an dieser Kooperation beteiligt. Im Laufe unserer Lehrtätigkeit im Zusammenhang mit der Ausbildung von Drehbuchautoren sowie unserer Funktion als Kommunikationsberater im Bereich Pitching entwickelte sich zu den Filmstudenten eine Vertrauensbeziehung, die die zentrale Voraussetzung für die Möglichkeit der Set-Aufnahmen war. Daniela Heidtmann und ich haben im Januar und Februar 2004 die Arbeit von drei verschiedenen Filmcrews an jeweils zwei ganzen Tagen begleitet und aufgezeichnet. Von jeder Crew haben wir sowohl einen Außen- und Innendreh dokumentiert. Soweit es die konkreten Aufnahmebedingungen zuließen, haben wir das Set- Geschehen mit zwei Videokameras aufgezeichnet: Die erste Kamera konzentrierte sich auf die Arbeit des Regisseurs und folgte diesem in seinen Bewegungen, wobei die Kameraeinstellung zwischen moderatem und teilweise 3 Dieses Korpus umfasst 53 Stunden; es wurde von Heidtmann (2009) systematisch ausgewertet. 4 Die Kooperation mit dem Filmstudium Hamburg ist aus anwendungsbezogener Perspektive dokumentiert in Schmitt/ Heidtmann (2003). <?page no="213"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 213 Schmitt_final starkem Zoom variiert. Hierdurch wird es möglich, auch Mimik und Blickorganisation analytisch zu verfolgen, was bei sonstigen authentischen Aufnahmen im Feld oftmals schwierig ist. Je näher aber die Kamera beim Regisseur ist, desto größer ist der Verlust an Informationen über seine Umgebung und seine Bewegungen auf dem Set. 5 Um dies wieder auszugleichen, konzentrierte sich die zweite Kamera auf das Gesamtgeschehen im Umfeld des Regisseurs. In der Synchronisierung beider Aufnahmen gewinnt man einen Überblick über beides: die Arbeit des Regisseurs und seine unmittelbare und weitere Umgebung. Als wir am ersten Tag zum ersten Set kamen, waren wir vor allem beeindruckt von der Vielzahl der Personen, die hier zusammenarbeiteten. Diese Kooperation vieler Setmitarbeiter auf teilweise engstem Raum (vor allem bei den Innendrehs) war für uns zunächst unüberschaubar und unstrukturiert. Dieser erste Eindruck am Filmset führte zunächst zu einer räumlichen Desorientierung, da wir nicht wussten, wo wir uns überhaupt aufhalten konnten/ durften, um den Arbeitsablauf nicht zu stören. Darüber hinaus stellte sich bei uns eine weitgehende Unsicherheit hinsichtlich der relevanten übergeordneten Vorgänge ein. Als wir die erste Aufzeichnung auf dem ersten Set machten, mussten wir uns selbst erst einmal an das scheinbare Durcheinander all dieser Personen, deren Funktion für das Ganze uns zunächst nicht bekannt war, gewöhnen. Gewöhnen mussten wir uns auch daran, dass man uns - weil wir aufgrund unserer Schauplatzunkenntnis unweigerlich häufiger im Weg standen - deutlich zu verstehen gab, dass wir die Arbeit stören. Es dauerte eine ganze Weile, bis wir die Strukturen und die Systematik der Kooperation, die allen Setmitarbeitern fraglos klar war und die sie zielsicher ihren Weg über das Set finden ließ, für uns selbst entdeckt hatten. Das Filmset zeichnet sich - im Vergleich zu anderen Situationen, die ich bereits dokumentiert habe - neben der großen Anzahl der Mitarbeiter weiterhin dadurch aus, dass alle Personen permanent in Bewegung waren: Es gab regelmäßige Umbauten, die zu Platzwechseln und den damit verbundenen logistischen Anforderungen und Umzugs-Aktivitäten führten. Diese grundsätzliche Dynamik der Kooperation und deren räumlich-territoriale Implikationen machten die Videoaufnahmen für uns zu einem Abenteuer und zeigten uns - 5 Das Konzept „Fokusperson“ (Schmitt/ Deppermann 2007) trägt dem Faktum Rechnung, dass Regisseure/ -innen am Set nicht nur durch ihre Funktionsrolle, sondern auch durch den spezifischen Einsatz des Dokumentationsmediums Video zur zentralen Person (gemacht) werden; vgl. auch Schmitt/ Deppermann (2010). <?page no="214"?> Reinhold Schmitt 214 Schmitt_final relativ unmissverständlich - dass wir Fremdkörper am Set waren, die regelmäßig im Weg standen („Wer auf den Kabeln steht, ist doof! “) und die immer gerade dort ihre Kameras platzieren wollten, wo es mit Sicherheit nicht ging, weil wir sonst Teil der Aufnahme geworden wären, deren Entstehen und Durchführung wir aufnehmen wollten. Grundsätzlich konnten wir den Platz für unsere Aufnahmen nur in Abstimmung mit dem Kameramann einnehmen und oftmals kam bei dieser Abstimmung eine eher ungünstige Position für unsere Kameras heraus. Nicht nur aus diesen Gründen, sondern auch um eine maximale Vergleichbarkeit unserer Aufnahmen zu gewährleisten, haben wir hinsichtlich des Kameraeinsatzes folgende Entscheidungen getroffen: Aufgrund der räumlichen und personellen Komplexität des Schauplatzes sowie der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Aktivitäten war es nicht möglich, auch nur im Ansatz das Gesamtgeschehen zu dokumentieren. Als Lösung dieses Problems haben wir uns auf die Regisseure als die zentralen Fokuspersonen des Sets konzentriert und deren Aktivitäten mit beiden Kameras verfolgt. Diese Entscheidung produzierte eine Ausschnittbildung, die sich an den Relevanzstrukturen des Schauplatzes selbst orientiert. Wir haben mit unserer Konzentration auf die Arbeit dieser Funktionsrolle in datenkonstitutiver Hinsicht Relevanzstrukturen des Handlungsfeldes selbst reproduziert und verstärkt: Der Regisseur ist nicht nur auf dem Set die zentrale Fokusperson, sondern wird - in gleich zweierlei Hinsicht - auch durch die Datenkonstitution hierzu gemacht. Der Regisseur steht also nicht nur im Fokus der Setmitarbeiter, sondern wird durch die Kamera ebenfalls für den Analytiker in den Fokus gerückt. Zum anderen rückt der Regisseur auch akustisch in den Fokus, da er mit einem Funkmikrofon verkabelt ist und der Analytiker somit mit den Ohren des Regisseurs hört, was auf dem Set passiert. Dies führt zuweilen zu Verfremdungen der Seh- und Hörerwartung, die wir aufgrund traditioneller Interaktionsdokumente ausgebildet haben: Wir sind nämlich auch dann akustisch ganz nah an dem Geschehen dran, wenn wir den Regisseur nur aus der Ferne oder aber zeitweise überhaupt nicht sehen können. Die strukturelle, durch die Datenkonstitution produzierte Ausschnitthaftigkeit und die damit verbundene Fokussierung auf den Regisseur und seine Umgebung produziert letztlich einen Typus von Interaktionsdokument, der sich dadurch auszeichnet, dass nicht mehr der Gesamtzusammenhang, son- <?page no="215"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 215 Schmitt_final dern ein personenzentrierter Ausschnitt des Gesamtzusammenhangs Grundlage unserer Analysen wird. Diese strukturelle Implikation der Materialspezifik muss hinsichtlich ihrer methodologischen Folgen und seinen konzeptuellen Konsequenzen systematisch reflektiert werden. Die strukturelle Ausschnitthaftigkeit ist ein wesentlicher Unterschied zu den Pitching-Aufnahmen (Heidtmann 2009), die ebenfalls als Videoaufzeichnungen vorliegen. Die Pitching-Aufnahmen zeigen immer alle Interaktionsbeteiligen und erfassen somit den relevanten Gesamtzusammenhang. Beiden Korpora ist hingegen gemeinsam, dass aufgrund ihrer audiovisuellen Datenqualität die systematische Rekonstruktion von Verstehensdokumentationen als multimodal produzierte Phänomene möglich wird. Bei den Set-Aufnahmen kann das gesamte Ausdrucks- und Verhaltensspektrum als Ressource für Verstehensdokumentationen analytisch genutzt werden. Dies führt zu einem differenzierten Bild hinsichtlich der empirischen Varianz von Verstehensdokumentationen und ermöglicht so einen umfassenden Einblick in die verstehensbezogenen Relevanzen des Handlungsfeldes und deren Bearbeitung in Form von Verstehensdokumentationen durch die Interaktionsbeteiligten. Die videobasierte Analyse von Verstehensdokumentationen führt darüber hinaus dazu, nach der spezifischen Funktionalität einzelner modaler Realisierungsformen von Verstehensdokumentationen zu fragen. Vor allem in Kapitel 3 wird dieser Aspekt bei der Realisierung von Verstehensdokumentationen gerade für dieses spezifische Handlungsfeld deutlich werden. 3. Situations- und organisationsstrukturelle Aspekte des Filmsets Nach dieser kurzen Korpusbeschreibung und der Darstellung der materialen Spezifik der Set-Aufnahmen und den damit zusammenhängenden Implikationen für eine auf Verstehensdokumentationen abzielende Gegenstandskonstitution wende ich mich nun der Beschreibung der wichtigen situations- und organisationsstrukturellen Grundlagen des Filmsets zu. Ich werde diese zunächst an allgemeinen Situationsaspekten orientieren, die noch weitgehend formal und ohne spezifische Kenntnisse des Schauplatzes beschrieben werden können. Die Differenzierung situations- und organisationsstruktureller Aspekte erlaubt den systematischen Vergleich mit den anderen Handlungsfeldern gerade im Hinblick auf diese formal-strukturellen Dimensionen. Dies lässt die Frage nach dem Zusammenhang von Verste- <?page no="216"?> Reinhold Schmitt 216 Schmitt_final hensanforderungen und Verstehensdokumentationen zu, die sich beispielsweise bereits aufgrund allgemeiner Situationsmerkmale zwangsläufig ergeben. Ausgehend von dieser formalen Beschreibungsebene werde ich mich dann den zentralen organisationsstrukturellen Aspekten zuwenden, die auf den situationsstrukturellen aufsitzen. Dabei werde ich das Filmset als spezifisch strukturierten professionellen Kooperationszusammenhang fassen. 3.1 ‘Multi Party Interaction’ Wie die einleitende Beschreibung des Sets bereits deutlich gemacht hat, handelt es sich bei dem Handlungsfeld um „multi party interaction“, bei der eine Vielzahl von Personen miteinander interagiert. An der Interaktion auf dem Set nehmen mit allen Mitarbeitern, deren Zahl zwischen 25 und 30 variiert, jedoch wesentlich mehr als beispielsweise die sechs Personen der Pitchings oder die Teilnehmer der primären Interaktionsdyaden der anderen beiden Handlungsfelder teil. Abb. 1-4: „Bevölkerungsdichte“ auf engstem Raum <?page no="217"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 217 Schmitt_final Die Anzahl der an der Interaktion beteiligten Personen hat weitgehende Implikationen für die Rekonstruktion von Verstehensdokumentationen; es stellen sich - für die Beteiligten und für den Analytiker - Fragen, die in dyadischen Zusammenhängen nicht auftauchen. Hierzu gehört beispielsweise der Aspekt der Adressierung: Für wen der Anwesenden wird Verstehen dokumentiert? Auf welches vorgängige Verhalten welches Anwesenden ist das Verstehen bezogen? Bei dyadischen Konstellationen stellen sich diese Fragen entweder überhaupt nicht oder sie sind aufgrund der Übersichtlichkeit der interaktiven und situativen Struktur einfach zu beantworten. 6 3.2 Komplexität der Situations- und Interaktionsstruktur Die Interaktion am Filmset wird durch hochkomplexe situative und interaktive Strukturen geprägt, für die eine permanente personale und interaktionsstrukturelle Dynamik und ein Rhythmus ständig wechselnder Anforderungen in unterschiedlicher personaler Konstellation charakteristisch ist. Dies unterscheidet die Set-Aufnahmen von solchen Aufnahmen, für die eine weitgehende Konstanz der Situations- und Interaktionsstrukturen konstitutiv ist. 3.3 Relevanz der Territorialität/ Räumlichkeit Ein weiterer struktureller Aspekt der Interaktion am Set ist ihre räumlich-territoriale Grundlage. Es handelt sich im unmittelbaren Wortsinn um einen Schauplatz, d.h. um einen Interaktionsrahmen, der nicht unabhängig von seinen räumlichen Ausmaßen, seiner Begrenzung, seiner innerräumlichen Beschaffenheit und der damit gegebenen dinglichen Ausstattung existiert. Die konkrete Räumlichkeit ist ein wesentlicher Teil der komplexen Situationsstruktur. Das Set ist in dieser Hinsicht der gemeinsame Bewegungsraum der Setmitarbeiter, die im Laufe eines Arbeitstages kontinuierlich zwischen verschiedenen Orten dieses Raumes pendeln und ihren konkreten Arbeitsplatz in Abhängigkeit von den für die Filmproduktion ausgesuchten Plätzen wechseln. Mit diesen Wechseln sind die Auflösung und Neuetablierung von Interaktionsräumen verbunden, von denen in der Regel immer mehrere gleichzeitig und teilweise völlig unabhängig voneinander existieren. 6 Goffman (1981) hat als einer der ersten am Beispiel der Basiskategorien ‘Sprecher’ und ‘Hörer’ auf die unreflektierten Beschränkungen dyadischer Interaktionskonzepte hingewiesen und einen ersten Vorschlag zur Ausarbeitung eines ausdifferenzierten ‘participation framework’ formuliert; dieser Vorschlag wurde von Levinson (1988) aufgegriffen und weiter ausdifferenziert. <?page no="218"?> Reinhold Schmitt 218 Schmitt_final Abb. 5: Koexistente Interaktionsräume (v.l.n.r.: a) Beleuchter beim Aufbau, b) Kamerateam beim Kamerawagen, c) Kameramann und Regisseur bei der Besprechung der nächsten Aufnahme) Diese gleichzeitige Koexistenz mehrerer teilautonomer Interaktionsräume ist auf dem Filmset nur möglich, weil das Set eine komplexe Territorialität und räumliche Ausdehnung und Struktur aufweist, die von den Mitarbeitern in unterschiedlicher Weise genutzt werden können. Die einzelnen Interaktionsräume mit ihren Beteiligten existieren in der Regel zudem nicht als territorial oder visuell abgegrenzte Gebilde mit gegenseitiger räumlicher Abschirmung. Zum einen führt das dazu, dass die Grenzen und die Zugänglichkeiten von Interaktionsräumen interaktiv dargestellt und verdeutlicht werden müssen. Dies hat zum andern die Implikation, dass die Mitarbeiter der einzelnen Interaktionsräume immer auf der Grundlage des Prinzips wechselseitiger Wahrnehmungswahrnehmung (Hausendorf 2001) agieren. 3.4 Dynamische Präsenzformen Mit der Bedeutung der räumlich-territorialen Grundlage des Filmsets und der großen Anzahl von Mitarbeitern hängt eine grundsätzlich dynamische Präsenzform zusammen. Mit dem Begriff ‘Präsenzform’ wird auf typische körperliche Existenzformen in der Interaktion verwiesen. Während die dominante Präsenzform in der Migrationsberatung (siehe Reitemeier i.d.Bd.) mit wenigen zeitlich begrenzten Ausnahmen das Sitzen um einen Tisch herum bzw. vor und hinter einem Schreibtisch ist, gibt es auf dem Filmset eine Vielzahl von Präsenzformen: sitzen, stehen, knien, gehen, laufen, rennen, klettern, kauern. Wenn man davon ausgeht, dass Verstehensdokumentationen als Bearbeitung von Verstehensanforderungen auch verkörpert werden können und dass die Art und Weise der körperlichen Präsenzform hierbei eine Rolle spie- <?page no="219"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 219 Schmitt_final len kann, dann stellen diese unterschiedlichen Präsenzformen auch Ressourcen der Verstehensdokumentation dar. Auch sie können somit im Hinblick auf diese spezifische Implikativität analysiert werden. 3.5 Interaktionsräumliche Dynamik Im Gegensatz zu anderen Handlungsfeldern zeichnet sich das Filmset durch eine grundsätzliche interaktionsräumliche Dynamik aus. Bei vielen anderen Situationen bleiben die interaktionsräumlichen Strukturen, sind sie erst einmal für den sozialen Zweck der Situation etabliert, für die Dauer der Interaktion stabil. So bleiben Teilnehmer von Meetings in der Regel für die Dauer des Treffens auf ihren Plätzen um den Tisch herum sitzen. Die Koexistenz mehrerer Interaktionsräume wurde bereits als ein Aspekt der interaktionsräumlichen Dynamik beschrieben. Die Teilnehmer dieser gleichzeitig existierenden Interaktionsräume verständigen sich nur zu bestimmten Anlässen darauf, dass ein einziger Interaktionsraum (an dem dann aber nicht alle Setmitarbeiter teilnehmen) alle anderen dominiert. Dies ist beispielsweise bei einer Probe oder einer Aufnahme der Fall. Eine tatsächliche Einheit des Filmsets gibt es letztlich nur als Abstraktion, die jedoch von keinem der Teilnehmer wirklich erfahren werden kann. Der Einzelne agiert vielmehr in den von ihm mit anderen Mitarbeitern konstituierten teilfunktionalen und hinsichtlich ihrer territorialen Spezifik sich permanent verändernden Interaktionsräumen. 3.6 Interaktion als Arbeit Das Filmset ist ein kollektiver Arbeitsplatz. Bis auf wenige Ausnahmen (Praktikanten und freiwillige Helfer) arbeiten am Set nur Inhaber professioneller Funktionsrollen zusammen. Das Handlungsfeld zeichnet sich durch eine Kooperationsstruktur aus, an der sich alle Mitarbeiter orientieren und zu deren Realisierung und Aufrechterhaltung alle relativ zu ihrem spezifischen Beteiligungsstatus beitragen. Die Interaktion am Filmset wird von allen als Arbeit mit dem Ziel der Herstellung eines gemeinsamen Produktes verstanden. Die gesamte Interaktion ist in ihrer kooperativen Struktur und ihren arbeitsteiligen Grundlagen einzig und allein auf dieses Produkt ausgerichtet. Das Verhältnis von Arbeit und Kommunikation ist so zu charakterisieren, dass für die Arbeit zwar Kommunikation notwendig ist, dass die Beteiligten am Set jedoch nicht zusammenkommen, um zu kommunizieren (um damit etwa ein Problem in Begriffen sozialer oder körperlicher Bedürftigkeit zu lösen oder zumindest zu bearbeiten). Kommunikation ist eine grundlegende Voraussetzung für die gemeinsame Arbeit, stellt jedoch selbst nicht den zentralen Zweck dar. <?page no="220"?> Reinhold Schmitt 220 Schmitt_final 3.7 Kollektive Orientierung auf ein übergeordnetes ‘joint project’ Mit der Definition der Interaktion am Set als Arbeit und dem Set als Arbeitsplatz hängt ein weiteres strukturelles Charakteristikum zusammen: Die Interaktion am Filmset wird geprägt durch eine fraglose kollektive Orientierung an einem gemeinsamen übergeordneten Ziel. Es geht um die Produktion von Aufnahmen einzelner Szenen und Einstellungen für die spätere Zusammensetzung im Schneideraum. Alle Beteiligten orientieren sich an diesem Ziel in funktionsrollenspezifischer Weise. Bereits die körperliche Präsenz am Filmset gilt als Ausdruck dieser gemeinsamen Orientierung und steht zu keinem Zeitpunkt in Frage oder ist Gegenstand von Aushandlungsaktivitäten. Alle orientieren sich bei der Organisation ihrer eigenen Beiträge an den Relevanzen des ‘joint project’; die Sinnhaftigkeit des eigenen Handelns (des eigenen Beitrags) existiert überhaupt nur im Rahmen der übergeordneten Relevanzen des ‘joint project’. Fragt man nach dem sozialen Zweck der Interaktion am Filmset, so ist festzuhalten, dass dieser mit der Produktion von Filmszenen und Einstellungen als Zwischenergebnis für den endgültigen Schnitt in nichtsprachlichen Objektivationen besteht. Das Set ist ein grundlegend produktorientiertes Handlungsfeld, bei dem die produktorientierte Progression der metadiskursiven Thematisierung bzw. Absicherung von Verstehen erkennbar übergeordnet ist. 7 Abweichungen von dieser Orientierung haben entweder ihren systematischen Platz - wie beispielsweise bei konzeptbezogenen Vermittlungsbemühungen der Regisseurin (Kap. 5.2) - oder sie sind - beispielsweise im Zusammenhang mit der Bearbeitung ablaufbezogener Verstehensanforderungen (Kap. 5.1) - Indikatoren für latente Problemlagen und besonders knifflige Situationen. 3.8 Einsatz von Gegenständen und technischen Geräten Die Realisierung des sozialen Zwecks der Situation, d.h. die Arbeit an einem übergeordneten, allen bekannten ‘joint project’ lässt sich nur durch den Einsatz spezieller Gerätschaften und technischer Ausstattung erreichen. Dabei ist die Kamera, die selbst wieder aus Wagen, Sitz, Schienen, Kabel, Bühne, diversen Koffern für unterschiedliche Wagenaufsätze, Optik, Kameravorsätzen etc. besteht (Abb. 6), nur das auffälligste Gerät. Das Set ist angefüllt mit 7 Heritage (2007) spricht in Anlehnung an Schegloff (1979, 2006) im Zusammenhang mit der Referenz auf Personen von der Präferenz für Progressivität gegenüber Intersubjektivität. Am Set gilt die Präferenz für Handlungsprogression gegenüber der Absicherung von Intersubjektivität nicht nur für spezielle interaktive Anforderungen, sondern stellt eine grundlegende Orientierung bei der Organisation der gesamten Kooperation dar. <?page no="221"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 221 Schmitt_final Werkzeugkoffern, Stativen, Lampen, Ständern für Blenden, der Ausrüstung der Requisite, der Maske, der Ausrüstung der Tontechniker usw. Man kann diesen Sachverhalt auch so beschreiben, dass die Kommunikation letztlich nur eine wichtige Voraussetzung für den richtigen Einsatz und das koordinierte Zusammenspiel dieser Gerätschaften darstellt, mit denen die Filmszenen für den späteren Schnitt produziert werden. Diese Geräte (wie beispielsweise die Kamera oder der Videomonitor, an dem bereits gedrehte Szenen angeschaut werden können) werden nicht nur von bestimmten Mitarbeitern eingesetzt, sondern strukturieren selbst als ‘signifikante Objekte’ in gewisser Weise Interaktionsräume. Sie produzieren für die Setmitarbeiter bestimmte Verstehensanforderungen, die beispielsweise mit deren prototypischem Einsatz und den damit assoziierten sozial-interaktiven Implikationen verbunden sind (siehe Schmitt/ Deppermann 2007). Abb. 7-9: Geräte und signifikante Objekte Nach dieser Beschreibung der eher beobachtungsnahen und formalen interaktionsstrukturellen Grundlagen des Filmsets wende ich mich nun der Beschreibung der organisationsstrukturellen Aspekte des Handlungsfeldes zu. 4. Organisationsstrukturen des Filmsets Die organisationsstrukturellen Aspekte des Filmsets verweisen wesentlich stärker auf relevante Orientierungen der Setmitarbeiter. Sie verdeutlichen ihre Sicht auf die soziale Qualität des Filmsets als Arbeitsplatz und die ausdifferenzierte und arbeitsteilig organisierte Form der Kooperation. Organisationsstrukturelle Aspekte zeichnen sich durch folgende Eigenschaften aus: Abb. 6: Kamerawagen <?page no="222"?> Reinhold Schmitt 222 Schmitt_final a) Die Organisationsstruktur ist eine interaktionsvorgängige und durch die Interaktion am Set nicht modifizierbare Vorgabe und Grundlage der Kooperation, b) alle Setmitarbeiter kennen die wesentlichen Aspekte dieser Organisationsstruktur, c) alle Mitarbeiter orientieren sich an ihr und akzeptieren sie als eine zentrale Voraussetzung und Absicherung ihrer eigenen Arbeit am Set und d) alle Mitarbeiter unterstellen sich wechselseitig diese Orientierung an der Organisationsstruktur als wesentliche Grundlage der gemeinsamen Arbeit. Allgemein formuliert haben die organisationsstrukturellen Voraussetzungen am Filmset die primäre Funktion, die Herstellung der Aufnahmen für den späteren Schnitt im Studio, die die Koordination und Kooperation vieler Mitarbeiter auf teilweise engstem Raum erfordert, durch eine ausdifferenzierte Form der Arbeitsteilung sowie der Hierarchisierung unterschiedlicher Funktionsrollen mit spezifischen Zuständigkeiten zu gewährleisten. Eine solche Organisationsform kann jedoch nur dann funktionieren, wenn diejenigen, die eine Funktionsrolle ausfüllen oder als Mitarbeiter eines Funktionsteams (beispielsweise „Kamera“) fungieren, im Sinne der Gesamtstruktur sozialisiert sind und im Rahmen dieser Sozialisation auch das notwendige organisationsstrukturelle Wissen erworben haben. Dies beinhaltet ganz wesentlich eine genaue Vorstellung hinsichtlich der Anforderungen, Zuständigkeiten, Pflichten und Rechte, die mit der eigenen Funktionsrolle verbunden sind, und eine genaue Kenntnis der hierarchischen Position, die damit im Sinne von Anordnungsrechten und Ausführungspflichten gegenüber anderen Mitarbeitern verbunden sind. Zu den relevanten organisationsstrukturellen Voraussetzungen und Grundlagen zählen vor allem die Dichte unterschiedlicher Funktionsrollen mit genau definierten Zuständigkeiten und hierarchischen Implikationen (Kap. 4.1) und das damit zusammenhängende hohe Maß an Arbeitsteilung (Kap. 4.2). Als interaktive Anforderung begegnen den Set-Mitarbeitern vor allem die an spezifische Funktionsrollen gebundene Perspektivität der Wahrnehmung (Kap. 4.3) und die temporäre Koexistenz verschiedener Arbeitszusammenhänge und Interaktionsräume (Kap. 4.4). Es existiert die Notwendigkeit, die eigene Arbeit kontinuierlich mit anderen Arbeitszusammenhängen koordi- <?page no="223"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 223 Schmitt_final nieren zu müssen (Kap. 4.5). Diese Aspekte sollen am Ende des Kapitels zusammenfassend auf ihre spezifischen Implikationen für die Organisation der Verstehensprozesse am Set reflektiert werden (Kap. 4.6). 4.1 Funktionsrollen und Hierarchie Das Filmset ist eine hochkomplexe arbeitsteilige Struktur, die sich in mehrfacher Hinsicht von anderen Kooperationsformen (wie beispielsweise Workshops und Meetings 8 ) unterscheidet. Im Vergleich mit dem Filmset stellen Workshops und Meetings überschaubare Kooperationsformen dar. Diese sind zwar ebenfalls arbeitsteilig und produktorientiert strukturiert, sie sind jedoch eher sequenziell organisiert. In der Regel ist nur ein sehr kleiner Teil der für den Gesamtzusammenhang konstitutiven Funktionsrollen lokal anwesend. Im Gegensatz hierzu ist am Set eine Vielzahl der Funktionsrollen unmittelbar vor Ort, die für die Realisierung der gemeinsamen Zielorientierung notwendig sind. Man hat es beim Set mit einer extremen Verdichtung unterschiedlicher Funktionsrollen und einer noch größeren Anzahl Mitarbeitern zu tun, die diese Funktionsrollen ausüben. Beim Anblick mancher Videoausschnitte drängt sich dem Betrachter das Bild eines Ameisenhaufens auf: Zunächst scheinen alle irgendwie chaotisch durcheinander zu laufen, beim genaueren Hinsehen jedoch werden die Laufwege als - relativ zu den jeweils spezifischen Aufgaben - direkte und zielführende deutlich. Dazu muss man aber etwas Einblick in die Vielfalt der Funktionsrollen und deren Zuständigkeiten und Aufgaben haben. Ohne ethnografische Informationen, die dieses Wissen zur Verfügung stellen, lassen sich bestimmte Verhaltensweisen in ihrer faktischen sozialen Bedeutung allein auf der Grundlage der sequenzanalytisch produzierten Kontextinformationen nicht mehr rekonstruieren. Aus Sicht der Konversationsanalyse lassen sich relevante Kontextaspekte auf Grundlage der Aufzeigepraktiken der Beteiligten rekonstruieren, mit denen sie sich wechselseitig die Relevanz des Kontextes verdeutlichen und auf diese Verdeutlichungen reagieren (Schegloff 1991, 1992, 1997; Watson/ Seiler (Hg.) 1992). So lange man sich in alltagsweltlichen Erfahrungsbereichen bewegt, stellt das methodisch kein wirkliches Problem dar. In sozialen Situationen und Milieus - wie beispielsweise dem Filmset - in denen uns ein solches Wissen fehlt, kann jedoch ein ernsthaftes analytisches Problem entstehen. 8 Vgl. etwa Atkinson/ Cuff/ Lee (1978), Schmitt (2001) und Schmitt/ Heidtmann (2003, 2005), Schmitt (2006b) und Deppermann/ Mondada/ Schmitt (2009). <?page no="224"?> Reinhold Schmitt 224 Schmitt_final Um in solchen Situationen das „problem of relevance“ (Schegloff 1991, 1997) angemessen behandeln zu können, sind wir auf ethnografische Informationen angewiesen. Nur darüber können wir lernen, wie die Beteiligten sich die für die situativen Bedingungen wichtigen Relevanzen wechselseitig aufzeigen. 9 An der Spitze der hierarchisch strukturierten Funktionsrollen steht die Regisseurin. 10 Die Regisseurin besitzt die alleinige Zuständigkeit der Entscheidung, wann von den Proben zur tatsächlichen Aufnahme übergegangen werden kann. Von ihrer Entscheidung ist also letztlich abhängig, wann sich die verschiedenen koexistierenden Interaktionsräume und Arbeitszusammenhänge zu einem einzigen Zusammenhang verdichten, um die Probe bzw. Aufnahme zu ermöglichen. Alle anderen Funktionsrolleninhaber sind in ihren Handlungen unmittelbar von den künstlerischen Entscheidungen der Regisseurin abhängig. Bei einem Dreh gibt sie die räumlichen Arrangements vor, entscheidet, wie die Kamera eingesetzt werden soll und wie viele Proben gemacht werden. All diese Entscheidungen greifen unmittelbar und direkt in die Arbeitsorganisation der anderen Setmitarbeiter ein. Diese müssen, um ihre eigene Arbeit organisieren zu können, immer ein Auge auf die Regisseurin haben. Eine Vielzahl weiterer Funktionsrollen ist der Regisseurin unmittelbar zugeordnet und arbeitet in unmittelbarer Abhängigkeit von ihr. Hier ist zunächst einmal die Regieassistenz zu nennen, die der Regisseurin unmittelbar assoziiert und daher häufig auch in ihrer unmittelbaren Nähe zu finden ist. Gleiches gilt auch für das Continuity Girl. Auch sie geht zumeist in unmittelbarer Nähe der Regisseurin ihrer Arbeit nach und stellt sich so kontinuierlich zur Verfügung. Sie achtet darauf, dass in den gedrehten Szenen die Requisiten immer am richtigen Platz stehen und sie notiert und verwaltet die aus den mehrfach gedrehten Szenen für die Entwicklung ausgewählten Takes. Der Aufnahmeleiter und sein Assistent sind für die gesamte Organisation des Sets im Kernbereich und in der Peripherie (beispielsweise bei Außendrehs) verantwortlich. Sie teilen den Fahrdienst für die Schauspieler und die Crew ein, organisieren das Mittagessen, setzen bei Außendrehs die Blocker ein, die verhindern, dass interessierte Passanten durchs Bild laufen, und sie organisieren wichtige Arbeitsvorgänge wie beispielsweise Proben oder Aufnahmen. 9 Zur Bedeutung ethnografischer Informationen für konversationsanalytische Untersuchungen siehe weiterhin Maynard (1989), Cicourel (1992), die Diskussion zwischen Billig (1999a, b) und Schegloff (1999a, b) und Deppermann (2000). 10 Ich benutze im Kontext der allgemeinen Beschreibung „Regisseurin“ neben „Regisseur“ abwechselnd als generische Bezeichnung für die Funktionsrolle. Im Kontext der Fallanalysen verwende ich hingegen jeweils die geschlechtsspezifischen Begriffe. <?page no="225"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 225 Schmitt_final Der Kameramann bzw. (hier) die Kamerafrau „herrscht“ mit seinen/ ihren Assistenten (meistens drei an der Zahl) zwar über ein eigenes kleines Reich, das sich um den Kamerawagen und das dazu gehörende Equipment von Filmrollen, Objektiven und Stativen etc. erstreckt. Letztlich ist aber auch er/ sie von den Anweisungen des Regisseurs abhängig und kann seiner/ ihrer Arbeit nur in Zusammenarbeit und Abstimmung mit ihm nachkommen. Nicht vergessen werden dürfen natürlich die Schauspieler, die einen Großteil ihrer Zeit am Set auf ihren Einsatz warten. Auch sie sind - wenn sie nicht gerade von der Maskenbildnerin für eine Szene geschminkt werden - auf den Regisseur orientiert. Mit ihm zusammen besprechen sie einzelne Szenen, spielen einzelne Stellen ansatzweise durch, probieren längere Ausschnitte, proben Szenen und spielen dann ihre jeweilige Rolle für die Aufnahme. Das sind die mehr oder weniger unmittelbar um die Regisseurin gruppierten Set-Mitarbeiter, die in ihrer Arbeit in den auf die Regisseurin fokussierten Videoaufzeichnungen in der Regel sichtbar sind. Daneben gibt es noch eine Vielzahl Mitarbeiter(innen), die mehr im Hintergrund bleiben und in den Aufnahmen nur selten sichtbar werden. Hierzu gehört die Requisite, die mit ihren Mitarbeitern für die Ausgestaltung der Szenen mit Möbeln, Bildern etc. verantwortlich ist. Weiterhin zählt dazu die Beleuchtung, deren Mitarbeiter für das richtige Licht sorgen, und die vor allem bei der Vorbereitung und bei Drehpausen bei Umbauten aktiv sind. Der Toningenieur und sein Assistent, der seinen Mikrofongalgen von oben oder der Seite in die zu drehende Szene hält, runden das Gesamtbild ab. 4.2 Arbeitsteilung mit genau definierten Zuständigkeiten Die beschriebenen Funktionsrollen am Set sind verortet in einer allen Beteiligten bekannten hierarchischen Struktur, die sehr genau die jeweiligen Zuständigkeiten der Mitarbeiter und Aufgaben regelt. Niemand am Set stellt diese Hierarchie in Frage, alle verhalten sich erkennbar auf der Grundlage einer allgemeinen Hierarchieorientierung. Bei genauerem Hinsehen kommt die interaktive Konstitution von Hierarchie 11 am Set vor allem bei rekurrenten, quasi ritualisierten Abläufen zum Ausdruck: Ein solcher Ablauf betrifft die Kooperation von Regisseur, Aufnahmeleiter und Aufnahmeassistent. Der Regisseur spricht in normaler Unterhaltungslautstärke mit dem Aufnahmeleiter; dieser wiederholt - nunmehr jedoch mit hörbar größerer Lautstärke - die 11 Zu Grundgedanken eines verbal definierten Modells interaktiver Hierarchiekonstitution siehe Schmitt (2002) und Schmitt/ Heidtmann (2002). <?page no="226"?> Reinhold Schmitt 226 Schmitt_final Anweisung für die weitere Set-Öffentlichkeit. Nach dem Aufnahmeleiter kommuniziert sein Assistent die gleiche Anweisung noch einmal in die Peripherie des Schauplatzes, damit sichergestellt ist, dass tatsächlich auch alle informiert sind und ihr eigenes Verhalten relativ zu diesen Informationen ausrichten können. 12 Im Normalfall findet also keine direkte Kommunikation der Regisseurin mit allen am Set anwesenden Personen statt. Sie hat dafür ihr Sprachrohr. Die Regisseurin ist von organisatorischen Aufgaben gänzlich entlastet und kann sich um die künstlerischen Belange kümmern, d.h. sich auf die Arbeit mit den Schauspielern und der Kooperation mit der Kamerafrau konzentrieren. 4.3 Funktionsrollenspezifische Perspektivität: ‘Schneiden’ Ein interessanter Aspekt der genau geregelten Zuständigkeit unterschiedlicher Funktionsrollen, der gleichzeitig noch einmal die herausgehobene Stellung der Regisseurin im organisationsstrukturellen Gefüge verdeutlicht, ist eine spezifische Perspektive dieser Funktionsrolleninhaber(innen) auf das kooperative Geschehen auf dem Filmset. Die Regisseurin ist die einzige Person, die später - wenn sich der Kooperationszusammenhang ‘Filmset’ schon lange aufgelöst hat - die am Set gemeinsam produzierten Aufnahmen im Schneideraum zu einem fertigen Film zusammenfügt. Sie ist somit die einzige im aktuellen Kooperationszusammenhang, für die noch kein tatsächliches Endprodukt entsteht, sondern gewissermaßen nur ein Zwischenprodukt. Die Orientierung auf das eigentliche Endprodukt (der geschnittene Film) ist jedoch nicht nur ein relevanter Aspekt der Organisationsstruktur des Sets, sondern hat für die unmittelbare Kooperation der Regisseurin beispielsweise mit der Kamerafrau eine zentrale Bedeutung. Diese Orientierung auf das tatsächliche Endprodukt ist Ausdruck einer funktionsrollenspezifischen Perspektivität der Wahrnehmung und Partizipation an der Kooperation, die mit der situativen Endergebnisorientierung der Kamerafrau kontrastiert. Dieser kurze Überblick über die unterschiedliche Art und Weise, in der ein späterer Produktionsschritt für die Wahrnehmung eines aktuellen Arbeitszusammenhangs relevant gemacht wird, zeigt, dass ‘Schneiden’ nicht nur ein projizierter späterer Arbeitsschritt ist, sondern in der aktuellen Kooperation die Qualität einer funktionsrollenspezifischen Wahrnehmung besitzt, die - wie sich noch zeigen wird - bereits die aktuelle Konzeptvermittlung struktu- 12 Eine solche Struktur und die darin implizierten hierarchie-strukturellen Aspekte des Arbeitsplatzes zeigt die Analyse von Beispiel 1. <?page no="227"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 227 Schmitt_final riert. Es ist interessant zu sehen, dass ‘accounts’ 13 für die aktuelle Relevanz des ‘Schneidens’ eine klare sequenzielle Spezifik aufweisen: Sie stehen nie am Anfang von Konzeptvermittlungsbemühungen, sondern reagieren systematisch auf Vorschläge, die sich in irgendeiner Weise als nicht unmittelbar konzeptkompatibel erweisen. 4.4 Koexistenz verschiedener Arbeitszusammenhänge Die meiste Zeit über existiert am Set gleichzeitig eine Vielzahl relativ eigenständiger Arbeitskontexte. Diese bilden zeitweise autonome organisations- und interaktionsstrukturelle Zusammenhänge und konstituieren für eine gewisse Zeit auf engstem Raum auch einen eigenständigen Interaktionsraum mit einem erkennbaren Arbeitsterritorium. In einer Drehpause, in der die Vorbereitungen für den Dreh der nächsten Szene getroffen werden, bedeutet dies beispielsweise die Gleichzeitigkeit und relative Eigenständigkeit folgender Arbeitszusammenhänge: - Die Beleuchter richten nach vorheriger Anweisungen des Kameramanns ihre Strahler ein und bauen ihre Blenden auf, - während der Kameramann die technische Ausstattung der Kamera überprüft, - während einer seiner Assistenten die Bestückung einer neuen Filmrolle vorbereitet, - während zwei weitere Kameraassistenten die Schienen für die Kamerafahrt legen, - während die Requisiteure das Tischarrangement für die nächste Szene drapieren, 13 Mit ‘account’ werden im ethnomethodologisch-konversationsanalytischen Zusammenhang Äußerungen bezeichnet, mit denen sich Interaktionsbeteiligte reflexiv - erklärend oder beschreibend - auf die aktuelle Interaktion beziehen. Die Extension des Begriffs wird dabei unterschiedlich gefasst. Scott/ Lyman (1968) beispielsweise begrenzen die Extension des Begriffs auf interaktionsreflexive Äußerungen, mit denen Verhaltensweisen verdeutlicht werden, die im weitesten Sinne als abweichend (auffällig, unerwartet etc.) charakterisiert werden können und die zudem eine relativ stabile und musterhafte sprachliche Form aufweisen (Entschuldigungen, Rechtfertigungen). Bergmann (1974, S. 87) vertritt hingegen einen umfassenderen Begriff: „Mithin umfasst der ethnomethodologische ‘account’-Begriff all jene sprachlichen Handlungen, die - gleichgültig in welche Satzform sie gekleidet sind und zu welchen kommunikativen Zwecken sie im einzelnen produziert wurden - in der sozialen Welt realisiert, die Ordnung der sozialen Welt beschreiben und sichtbar machen.“ Siehe auch Heritage/ Watson (1979), Heritage (1988), Parker (1988) und Morris/ White/ Iltis (1994). <?page no="228"?> Reinhold Schmitt 228 Schmitt_final - während ein Schauspieler von der Maske für die nächste Szene vorbereitet wird, - während der Aufnahmeleiter mit seinem Assistenten die organisatorischen Vorkehrungen für den nächsten Dreh bespricht, - während der Regisseur sich zusammen mit seiner Assistentin am Videomonitor noch einmal das Ergebnis der letzten Einstellung anschaut, - während die Continuity die bisherigen Aufnahmen für die Entwicklung auflistet - während … Auf Grund der Vielfalt gleichzeitiger Arbeitszusammenhänge erwächst die Notwendigkeit, die durch die verschiedenen Funktionsrollen konstituierten teilautonomen Arbeitszusammenhänge und deren Mitarbeiter lokal im Rahmen der durch das Set gegebenen Territorialität zu koordinieren. In bestimmten Situationen (bei einer Probe oder einem Dreh) läuft diese Koordination auf die Herstellung eines einzigen dominanten Arbeitszusammenhangs hinaus, der dann für eine gewisse Dauer als alleiniger Fokus im Zentrum aller Aktivitäten steht. Dies bedeutet nicht, dass tatsächlich auch alle Anwesenden an diesem Arbeitszusammenhang teilhaben. Während sich ein Teil der Anwesenden beispielsweise auf die Probe konzentriert und diese durchführt (Schauspieler, Regisseur, Kameramann, Kameraassistenz etc.) stellen andere für die Dauer der Probe lediglich ihre Aktivitäten in ihren Arbeitskontexten ein, um den zentralen Arbeitszusammenhang nicht zu stören. Nach Ablauf der Probe oder des Drehs greifen sie dann ihre spezifischen Aufgaben in ihren Arbeitskontexten wieder auf. Für alle Set-Mitarbeiter dominant gesetzte Arbeitszusammenhänge - für deren Konstitution und Aufrechterhaltung das Aussetzen anderer Arbeitsaktivitäten genau so konstitutiv ist, wie rigorose Zugangsbeschränkungen zu bestimmten Arbeitskontexten - sind also immer nur für eine gewisse Zeit stabil und verbindlich. Nach Realisierung des Zieles, für deren Erreichung sie etabliert worden sind, verlieren sie ihren dominanten Status und werden wieder zu einem prinzipiell für alle zugänglichen Kontext. Schlagartig nachdem der Regisseur mit einem „Danke! “ die Probe für beendet erklärt hat, steigt der Geräuschpegel am Set und aus dem Off tauchen zahlreiche Personen auf, die unmittelbar neben dem Regisseur ihrer Arbeit nachgehen, der gerade beginnt, die Probe mit den Schauspielern zu besprechen: Eine Lampe wird abgestaubt, ein Kabel abgeklebt, die Lichtverhältnisse werden mit einem Belichtungsmes- <?page no="229"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 229 Schmitt_final ser geprüft, eine reflektierende Stelle auf der Tischplatte abgeklebt und vieles mehr. Erst wenn die nächste Probe angekündigt wird, verstummen die vielfältigen Aktivitäten auf dem Set wieder. Alle anderen Arbeitszusammenhänge ordnen sich dann erneut dem Kontext ‘Probe’ unter und alles konzentriert sich kurzzeitig auf die Interaktion zwischen den Schauspielern und dem Regisseur. Nach der Probe nehmen dann wieder alle ihre Arbeit auf. 4.5 Koordination Es ist charakteristisch für die Zusammenarbeit der vielen Mitarbeiter am Set, dass die Koordination der gleichzeitig existierenden unterschiedlichen Arbeitszusammenhänge und die Organisation der eigenen Arbeit in Abhängigkeit des Arbeitsstandes anderer Mitarbeiter oder Teams in der Regel nicht explizit verbalisiert wird. Ein Großteil der notwendigen Koordinationsleistungen erfolgt in der Regel gerade nicht verbal, sondern drückt sich in körperlichen intra- und interpersonellen Koordinationsaktivitäten 14 aus. Diese koordinativen Leistungen sind aufgrund der exakten Platzierung und zeitlichen Einpassung in relevante Aktivitätszusammenhänge fraglos identifizierbar. Eigene Aktivitäten werden so als wichtige Voraussetzung und konstitutiver Teil der Realisierung komplexerer Arbeitsaktivitäten anderer Mitarbeiter deutlich. 4.5.1 Monitoring-Aktivitäten Die eigenen - durch die jeweilige Funktionsrolle bestimmten - Arbeitsbeiträge in den Fluss gleichzeitig ablaufender anderer Arbeitszusammenhänge so zu integrieren, dass nicht nur die funktionsrollenspezifische Aufgabe, sondern die für die kollektive Zielorientierung notwendigen Voraussetzungen geschaffen werden, setzt kontinuierliches Monitoring 15 zumindest der für die eigene Funktionserfüllung unmittelbar relevanten anderen Arbeitszusammenhänge voraus. Setmitarbeiter orientieren sich dabei (auf der Grundlage ihres spezialisierten Wissens um die Abläufe, die normalerweise durchlaufen werden 14 Zur zentralen Bedeutung von Koordination für die Interaktionskonstitution siehe Schmitt (2007d); zur Differenzierung von intra- und interpersoneller Koordination siehe Deppermann/ Schmitt (2007). 15 Monitoring-Aktivitäten haben bislang bei der Analyse von Interaktion keine zentrale Rolle gespielt. Zu den wenigen Arbeiten im konversationsanalytischen Kontext zählt Goodwin (1980) und aus multimodaler Perspektive Schmitt/ Deppermann (2007). Zu Monitoring als mentalem, selbstbezogenem ‘Kontrollverfahren’ von Akteuren bei der Realisierung von Handlungsplänen siehe Rehbein (1977, S. 216-219) und Levelt (1983) bei Selbstkorrekturen während der Äußerungsproduktion. <?page no="230"?> Reinhold Schmitt 230 Schmitt_final müssen, damit eine Szene für den Dreh präpariert und der Dreh letztlich realisiert werden kann) am aktuellen Arbeitsstand im Zuständigkeitsbereich derjenigen Funktionsrolleninhaber, mit denen sie a) unmittelbar kooperieren oder b) von deren eigener Arbeitsorganisation ganz grundsätzlich die gesamte Struktur und Koordination des Filmsets abhängt. Monitoring ist eine der zentralen Voraussetzungen für die reibungslose Zusammenarbeit der vielen unterschiedlichen Funktionsrollen. Nur über kontinuierliches Monitoring ist Koordination als organisationsstrukturelle Bedingung der für das Set spezifischen Zusammenarbeit ohne explizite Verbalisierung der zu organisierenden Abläufe und Zusammenhänge möglich. Gerade in der Fraglosigkeit wechselseitiger Abstimmung und dem weitgehenden Fehlen expliziter Thematisierungen kontinuierlich zu leistender organisatorischer Belange zeigt sich die Professionalität der verschiedenen Funktionsrollen und deren Koordination im Großen wie im Kleinen. Über Monitoring wird beispielsweise abgeklärt, ob die Annäherung eines hierarchisch übergeordneten Funktionsrolleninhabers für bestimmte Mitarbeiter koordinative Aktivitäten notwendig machen. Die Aktualität koordinativer Relevanz entsteht aus einem kontinuierlichen Abgleich aktueller Konstellationen mit dem vorgängigem professionellen Wissen hinsichtlich allgemeiner Abläufe, der sequenziellen Logik von Arbeitsschritten und der notwendigen Beteiligung bestimmter Funktionsrollen an ihr. Teil dieser allgemeinen Ablaufvorstellung ist auch die Zusammenarbeit und Hierarchie bestimmter Funktionsrollen bei bestimmten Arbeitsschritten und die relative Eigenständigkeit einzelner Funktionsrollen bei anderen. Monitoring ist kein rein subjektiver Wahrnehmungsvorgang, der sich nur gewissermaßen zufällig interaktiv bemerkbar macht. Sicher nicht alle, aber viele Monitoring-Aktivitäten folgen der Logik interaktiver Wahrnehmungswahrnehmungen. Sie werden in einer Weise realisiert und verdeutlicht, die darauf angelegt ist, selbst von denen, die beobachtet werden, wahrgenommen und in der Qualität als Monitoring verstanden zu werden. 4.5.2 Orientierungs-Displays Der strukturellen Anforderung an viele Setmitarbeiter, über kontinuierliche Monitoring-Aktivitäten die für die Kooperation notwendige Koordination unterschiedlichster Arbeitszusammenhänge zu gewährleisten, korrespondiert auf Seiten der Fokuspersonen eine Anforderung, diese notwendigen Monitoring- <?page no="231"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 231 Schmitt_final Aktivitäten durch - im weitesten Sinne - organisationsstrukturell zu verstehende Verhaltensweisen zu erleichtern. Die Koordination der Arbeitsabläufe und deren personelle Partizipationsstruktur erfolgt also auf der Grundlage zweier konvergierender Orientierungen, die dem Verhalten unterschiedlicher Funktionsrollen zu Grunde liegen. Während ein Teil der Setmitarbeiter kontinuierlich Monitoring betreibt, produzieren die von ihnen beobachteten Mitarbeiter auf Wahrnehmbarkeit (auf Monitoring) angelegte Displays, mit denen sie den für die aktuelle Kooperation relevanten Setmitarbeitern zu verstehen geben, wie ihre aktuelle Orientierung im Moment aussieht, welche nächsten Aktivitäten damit zusammenhängen und welche Mitarbeiter für deren Realisierung notwendig sind. Zwischen Monitoring und der Produktion solcher arbeitsorganisatorisch sensiblen Orientierungs-Displays zeigt sich folgende hierarchisch definierte Beziehung: Während Monitoring am Set primär eine Leistung untergeordneter Funktionsrollen ist, scheint die Produktion von Orientierungs-Displays eher eine allgemeine, rollenunspezifische Anforderung zu sein. Das Verhältnis von Orientierungs-Displays und Monitoring ist seinerseits gegründet in dem professionellen Wissen der Beteiligten über typische Ablaufstrukturen und Organisationszusammenhänge der Arbeit am Set. Die besondere Relevanz von Monitoring in einem verstehensbezogenen Erkenntniszusammenhang zeigt sich vor allem in Bezug auf die Koordination in einem hochgradig differenzierten, praxeologischen Arbeitszusammenhang. Sie hat vor allem auch eine zeitliche Implikation: Der Aspekt des richtigen Timings, d.h. der Realisierung bestimmter Handlungsvollzüge zu einem - relativ zur laufenden Interaktion - präzise bestimmbaren Zeitpunkt, ist ein wesentliches Indiz für die Wirksamkeit verstehensbezogener kognitiver Leistungen, die selbst jedoch nicht beobachtbar sind. Diese Leistungen zeigen sich jedoch genau dann, wenn organisationsstrukturell notwendige Aktivitäten zwar von den zuständigen Mitarbeitern der Arbeitsteilung und ihrer Zuständigkeit gemäß ausgeführt werden, die Realisierung jedoch zu spät oder zu früh erfolgt. Monitoring und ablaufbezogene Orientierungs-Displays sind zwei Konzepte, die in der Handlungsorientierung der Setmitarbeiter systematisch aufeinander bezogen sind. Orientierungs-Displays sind zu verstehen als performative Aktivitäten, die - sollen sie erfolgreich sein - für andere, die Monitoring betreiben, dargestellt und verdeutlicht werden müssen. Solche Displays werden auf Grundlage von Wahrnehmungswahrnehmungen (Hausendorf 2001) vollzo- <?page no="232"?> Reinhold Schmitt 232 Schmitt_final gen. Sie stellen dabei jedoch nicht nur systematisch die Bedingungen ihrer Wahrnehmbarkeit in Rechnung, sondern auch die damit nahegelegten richtigen Verstehensleistungen ihrer Adressaten. Orientierungs-Displays sind also nicht nur wahrnehmbar, sie reagieren in ihrer Gestaltung selbst auf die Situation des Wahrgenommen- und Verstanden- Werdens. Solche Displays werden durch diese funktionale Implikation leicht zum Gegenstand von Stilisierung und Ritualisierung. Dies gilt besonders für Fokuspersonen. Bei ihnen sind solche Displays eine ökonomische Ressource, deren Verstehbarkeit in ihrer ablaufbezogenen Funktionalität durch stilisierende Routinen der Symbolisierung sichergestellt wird. Weil Fokuspersonen wie beispielsweise die Regisseurin immer damit rechnen müssen, unter Monitoring zu stehen (und dies nicht nur für die erfolgreiche Performanz ihrer Rolle, sondern hinsichtlich der verstehensbezogenen Implikationen ihres Verhaltens auch benötigen), stehen sie in zweifacher Hinsicht in besonderem Maße in der Pflicht: Zum einen müssen sie Orientierungs-Displays produzieren, zum anderen müssen sie diese in ihrer Displayqualität von anderen, nicht ablaufrelevanten Verhaltensweisen distinktiv halten und damit verstehbar machen. 4.6 Verstehensimplikationen der Organisationsstruktur In dem komplexen, räumlich dynamischen, arbeitsteiligen, produktorientierten Handlungsfeld ‘Filmset’, in dem die Kooperation aufgrund der Zeitknappheit ökonomisch organisiert werden muss, tragen die beschriebenen organisationsstrukturellen Aspekte grundsätzlich zur Absicherung der Verstehensprozesse bei. Die Notwendigkeit hierzu ist deswegen besonders groß, weil Verstehen in der aktuellen Situation unmittelbar handlungspraktische Konsequenzen hat. Die Arbeitsteilung und die Differenzierung klar definierter Funktionsrollen mit den ihnen assoziierten Hierarchieimplikationen sind die zentrale organisationsstrukturelle Vorkehrung für die Absicherung des Verstehens als Voraussetzung der objekt- und zielorientierten Kooperation vieler Mitarbeiter auf teilweise engem Raum. Das Wissen um die hierarchischen und funktionalen Implikationen der Arbeitsteilung und der durch sie temporär zusammengeführten Funktionsrollen besitzt eine unmittelbare Relevanz für die Organisation der Verstehensprozesse am Set im Sinne einer basalen Reduktion der Verstehenskomplexität. Es muss nicht von jedem Setmitarbeiter alles verstan- <?page no="233"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 233 Schmitt_final den werden und nicht jedem gegenüber müssen Orientierungsdisplays produziert werden. Die Organisation und Produktion von Verstehensdokumentationen werden durch die Arbeitsteilung vorstrukturiert und in ihrer situativen, am Arbeitsablauf orientierten Relevanz weitgehend bestimmt: Es ist klar, wer Fokusperson und dadurch Objekt kontinuierlicher Monitoring-Aktivitäten ist, wer wem welche Orientierungsdisplays „schuldet“, wer zu welchem Zeitpunkt und an welcher Stelle im Arbeitsverlauf in welchem Ausmaß verstanden werden und wem man das Verstehen des eigenen Verhaltens verständlich machen muss. So haben die temporär eigenständigen Arbeitszusammenhänge für die Produktion von Verstehen primär die Funktion, die hohe Dichte und Komplexität sehr unterschiedlicher Vorgänge am Set relevanzgerichtet zu reduzieren. Aus der Perspektive der Mitglieder des einen Arbeitszusammenhangs sind immer nur bestimmte andere Arbeitszusammenhänge wichtig und Gegenstand von Monitoring-Aktivitäten. Monitoring ist eine zentrale Verstehensvoraussetzung in einem Kooperationszusammenhang, der aufgrund seiner Zeitknappheit sehr weitgehend darauf verzichtet, relevante Informationen und Zusammenhänge zu verbalisieren. Die unterschiedlichen Set-Mitarbeiter müssen sich vielmehr die für ihren Kooperationsbeitrag notwendigen Verstehensvoraussetzungen selbst und eigenverantwortlich beschaffen. Die detaillierte Arbeitsorganisation, der über weite Strecken prognostizierbare Arbeitsablauf, die ausdifferenzierte Arbeitsteilung und der minutiös festgelegte Drehplan schaffen hierfür zentrale Voraussetzungen. Gleichwohl müssen diese organisationsstrukturellen Vorkehrungen bei der faktischen Zusammenarbeit kontinuierlich an die spezifischen Bedingungen der konkreten Situation adaptiert werden. Monitoring-Aktivitäten spielen bei diesem Adaptionsprozess eine ganz wichtige Rolle für die wechselseitige Koordination und die Kooperation am Set. Die Verstehensimplikationen von Orientierungsdisplays sind direkt auf diese setspezifische Praxis und Relevanz des kontinuierlichen Monitoring bezogen. Sie stellen die Permanenz von Monitoring in Rechnung und sind in gewisser Weise Verstehensangebote, auf deren Grundlage Monitoring sehr ökonomisch organisiert werden kann. <?page no="234"?> Reinhold Schmitt 234 Schmitt_final 5. Feldspezifische Verstehensanforderungen Die Setmitarbeiter erleben die situations- und organisationsstrukturellen Bedingungen des Filmsets als Bündel von Verstehensanforderungen, dessen konkretes Profil ganz wesentlich von der Funktionsrolle bestimmt wird, die sie innehaben. Unterschiedliche Typen von Verstehensanforderungen lassen sich unter Bezug auf die Struktur des schauplatzspezifischen Wissens differenzieren, die Aspekte von allgemeiner und spezialisierter Relevanz aufweist. Der schauplatzspezifische Wissenshaushalt besteht zum einen aus allgemeinen Wissensbeständen, über die (in gewissem Umfang) alle Setmitarbeiter verfügen müssen, um eine reibungslose und zielführende Kooperation zu gewährleisten. Zum anderen existieren spezifische Wissensbestände, über die nur besondere Teams (beispielsweise Kamera) und die Inhaber bestimmter Funktionsrollen (Regisseurin, Schauspieler, Aufnahmeleiter etc.) verfügen. Fragt man nach allgemeinen Charakteristika, die diese unterschiedlichen Wissensbestände modellieren, wird folgende Differenzierung relevant: Diejenigen Wissenselemente, über die alle Setmitarbeiter verfügen, beziehen sich primär auf die Organisation und die Struktur des Ablaufs der gemeinsamen Arbeit am Set. Aus diesen auf die Organisation und Struktur des Ablaufs der Kooperation bezogenen allgemeinen, rollenunspezifischen Wissensvoraussetzungen erwachsen im Rahmen des spezifischen Handlungsfeldes für alle Setmitarbeiter ablaufspezifische Verstehensanforderungen. 5.1 Ablaufspezifische Verstehensanforderungen Wenn sich aus der temporären Eigenständigkeit der Interaktion zwischen dem Regisseur und den Schauspielern, die gerade dabei sind, eine Szene zu besprechen und probeweise anzuspielen, eine Probe entwickelt, die durch den Aufnahmeleiter angekündigt wird, dann verstehen alle Setmitarbeiter, was dies für die aktuelle Organisation des gesamten Filmsets bedeutet. Sie wissen, wer an dieser Probe beteiligt sein wird, wie lange sie etwa dauern wird und welche Vorkehrungen jeder Mitarbeiter für ihre Durchführung erbringen muss. Alle in diesem Moment gerade irgendwo mit eigenen Arbeiten Beschäftigten müssen, soweit sie nicht an der Probe teilnehmen, für die Dauer der Herstellung und der Durchführung der Probe ihre eigenen Relevanzen zurückstellen, ihren eigenen Arbeitszusammenhang unterbrechen und möglichst jede Form von Bewegung und Lärm vermeiden. Erst wenn die Probe vorüber ist, können sie ihre Arbeit fortsetzen. <?page no="235"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 235 Schmitt_final Diese Verstehensdokumente werden in der Regel nicht als explizite Verstehensthematisierungen realisiert, bei denen Verstehen an der sprachlichen Oberfläche aufscheint oder gar explizit zum Gegenstand der Interaktion wird. Für die Verstehensdokumentation haben sich vielmehr schauplatzspezifische, teilweise formelhafte Formulierungen entwickelt, die sich immer auf konkret anstehende Aufgaben beziehen oder Konsequenzen aus vorangegangenen Handlungen zum Gegenstand haben (okay, wir sind dann mal in einer Probe; okay dann mal Ruhe bitte, wollen wir mal etc.). Oder sie werden vollzogen als auf den aktuellen Interaktionsverlauf abgestimmte und auf das ‘joint project’ bezogene relevante Anschlusshandlungen. Sie werden jedoch nicht explizit in ihrer Qualität als Verstehensdokumente thematisiert. 16 In den analysierten Aufnahmen lassen sich praktisch keine auf die Sicherung von Verstehen spezialisierte Sequenzen finden. Ein interessanter Aspekt in diesem Zusammenhang ist, dass dieses allgemeine ablaufbezogene Verstehen (und dessen Implikationen für die eigene Arbeitsorganisation), über das alle Setmitarbeiter verfügen, in sehr spezifischer Weise gesichert bzw. gewährleistet wird. Mit Ausnahme der zentralen Fokusperson (dem Regisseur) gilt für alle Set-Mitarbeiter, dass sie sich auf der Grundlage kontinuierlicher Monitoring-Aktivitäten eigenverantwortlich und als Bestandteil ihrer Aufgabendefinition am Set die Verstehensvoraussetzungen, die für den geordneten Ablauf der Kooperation notwendig sind, selbst sichern müssen. Es gibt, was die Organisation dieser grundlegenden Verstehensanforderungen betrifft, am Set eine klare Präferenz für die eigenverantwortliche Sicherung der Verstehensvoraussetzungen als permanente Anforderung der Kooperation und der eigenen Arbeitsorganisation: Auf der Basis kontinuierlicher Monitoring-Prozesse entscheiden die Setmitarbeiter selbst, was es für sie zu verstehen gilt und welche faktischen Handlungskonsequenzen sich aus diesem Verstehen für sie ergeben. 17 Ablaufbezogenes Verstehen am Set ereignet sich in Bahnen weitgehend vorstrukturierter, sich in ihrer Grundstruktur wiederholender routinemäßiger Abläufe, in denen der Kooperationsbeitrag einzelner Funktionsrolleninhaber oder Funktionsgruppen seine spezifische Position und Relevanz hat. Für den routinemäßigen Vollzug dieser Abläufe ist charakteristisch, dass er zwar nur als verstehensbasierter Vollzug routinisiert realisiert werden kann, dass aber 16 Im Sinne der Unterscheidung von Sacks (1992g, S. 252) handelt es sich also nicht um ‘claimed understanding’, sondern um ‘exhibit understanding’; was die Demonstration von Verstehen betrifft, siehe auch Hindmarsh/ Reynolds/ Dunne (2009). 17 Beispiele für ablaufbezogene Verstehensdokumentationen sind analysiert in Deppermann/ Mondada/ Schmitt (2009) sowie Schmitt (2007c). <?page no="236"?> Reinhold Schmitt 236 Schmitt_final manifeste sprachliche Verstehensdokumentationen eine Seltenheit sind. So wäre es ausgesprochen auffällig (und eher ein Zeichen mangelnder Kooperation) wenn die Mitarbeiter auf die Ankündigung einer Probe mit einem Okay explizit anzeigen würden, dass sie die Implikationen dieser Ankündigung verstanden haben, statt gleich die notwendigen Konsequenzen daraus zu ziehen. 5.2 Künstlerisch-thematische Verstehensanforderungen Neben den ablaufspezifischen Verstehensanforderungen gibt es funktionsrollenspezifische Verstehensanforderungen, die sich primär auf inhaltliche, thematische oder ‘ideen-’ und ‘konzeptspezifische’ Fragen beziehen. Die damit verbundenen Verstehensanforderungen betreffen insgesamt den ganzen Bereich „künstlerischer Fragen“, weswegen ich diesen Typ ‘künstlerisch-thematische Verstehensanforderungen’ nenne. Einzelne Mitarbeiter müssen in einem durch ihre Funktionsrolle und den darin verankerten unmittelbaren Kooperationskontakten strukturierten Zusammenhang und Relevanzrahmen auch - im weitesten Sinne - inhaltlich verstehen, was ihre Kooperationspartner in konkreten Situationen jeweils wollen. Dabei ist das Wollen in funktionsrollenspezifischer Weise vorgeprägt und legitimiert. Das wechselseitige Wissen um die mit einzelnen Funktionsrollen assoziierten künstlerisch-thematischen Erwartungen sorgt dafür, dass auch dieser Bereich weitgehend von expliziten Verstehensthematisierungen zugunsten impliziter Dokumentationen im Sinne einer optimalen Gewährleistung einer ökonomischen Kooperation entlastet ist. Die Notwendigkeit, ‘Intentionsverstehen’ in Form von Verstehensthematisierungen explizit zu indizieren, ist aufgrund der kollektiven, zielorientierten, praxeologischen Grundlage der Kooperation am Set eher selten. Intentionen, die auf die Realisierung des ‘joint project’ bezogen sind, haben über große Strecken eine evidente und prognostizierbare Qualität: Das, was der Inhaber einer Funktionsrolle im Kontext der gemeinsamen Kooperation beabsichtigen oder wollen kann, ist aufgrund des wechselseitigen Wissens um rollenspezifische Zuständigkeiten in sehr weitgehendem Sinne erwartbar. Eine systematische Ausnahme von dieser - oberflächlich betrachtet dokumentfreien Praxis der Verstehenssicherung stellt das Konzeptverstehen dar (siehe unten). Immer dann, wenn künstlerische Vorstellungen der Regisseurin nicht aufgrund vorheriger Absprachen evident sind (beispielsweise: wie genau eine Kamerafahrt aussehen soll und worauf dabei der Fokus liegt), aus der aktuellen Kooperation emergieren (beispielsweise: indem sich eine neue An- <?page no="237"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 237 Schmitt_final schlussmöglichkeit für den späteren Schnitt ergibt) oder sich im Laufe des gemeinsamen Arbeit ändern (beispielsweise: weil ein Schauspieler ausgefallen ist und man improvisieren muss), sind die zentral Beteiligten gezwungen, Verstehen manifester zu bearbeiten, als dies im routinemäßigen Ablauf sonst der Fall ist. Aber auch dann werden diese Verstehensanforderungen in der Regel in konkretem Handeln, d.h. in inkorporierter Weise, realisiert. Auch sie sind selten Gegenstand expliziter Dokumentation und sequenzieller Bearbeitung. Werden sie dennoch in Form von Verstehensdokumentationen bearbeitet, dann ist damit in der Regel eine Relevanzgewichtung verbunden, die den aktuellen Kooperationszusammenhang gegenüber routinemäßigen Relevanzen hervorhebt. Der bisherige Stand der Analysen deutet darauf hin, dass sich die beiden differenzierten Typen von Verstehensanforderungen in systematischer Weise hinsichtlich ihrer universellen und rollenspezifischen Implikationen unterscheiden. Ablaufbezogene Verstehensanforderungen scheinen einen höheren Universalitätsgrad zu besitzen als inhaltlich-thematische, die stärker mit bestimmten Funktionsrollen assoziiert zu sein scheinen. Ablaufbezogene Verstehensanforderungen werden zudem viel stärker in routinemäßigen Abläufen oder im Kontext von Wiederholungen ausgeführt. Die Notwendigkeit zur situativen Adaption ist zudem aufgrund der Ablaufrekurrenz und der Vorstrukturierung durch den Drehplan relativ überschaubar. Künstlerisch-thematische Verstehensanforderungen hingegen sind immer dann prominent, wenn etwas Neues entsteht und der zurückliegende Verlauf kreative Ideen produziert. Solche Situationen stellen dann an die zu ihrer Bearbeitung notwendigen Verstehensleistungen wesentlich größere Anforderungen und münden dann auch in sequenziell gestreckten Aushandlungen. Grundsätzlich kann man sagen, dass im Unterschied zu ablaufbezogenen Verstehensanforderungen die Kooperationspartner im Bereich der künstlerischen Verstehensanforderungen weniger weit ‘vorverständig’ und nur zum Teil durch sozialisationsspezifische Normalformerwartungen abgesichert sind. Künstlerische Verstehensanforderungen sind zudem für Aushandlungen prinzipiell offener. Außerdem handelt es sich dabei um den Bereich, dessen funktionsrollenspezifisches Relief besonders deutlich ist. Künstlerische Verstehensanforderungen gelten in besonderem Maße für die Inhaber derjenigen Funktionsrollen, die unmittelbar dem Regisseur als dem zentral künstlerisch Verantwortlichen zugeordnet sind: Dies betrifft vor allem die Kamerafrau und die Schauspieler. <?page no="238"?> Reinhold Schmitt 238 Schmitt_final 6. Dokumentationsverfahren im Detail Im folgenden Kapitel wird detailliert rekonstruiert, mit welchen Verfahren der Verstehensdokumentation die beschriebenen verstehensbezogenen Anforderungen konkret bearbeitet werden. Dabei werden zwei Typen von Verstehensdokumentationen analysiert, die die größte Feldspezifik aufweisen und in dieser Hinsicht für das untersuchte Handlungsfeld typisch und konstitutiv sind. Zum einen handelt es sich um ein Verfahren, das systematisch bei der Bearbeitung ablaufbezogener Verstehensanforderungen eingesetzt wird, nämlich um antizipatorische Initiativen (Kap. 6.1). Für dieses Verfahren werden vier Beispiele analysiert, die antizipatorische Initiativen in ihrer strukturellen Ausstattung, ihren situations- und kontextspezifischen Realisierungsbedingungen und Voraussetzungen und in ihrer modalen Vollzugsspezifik vorstellen. Zum anderen werden probeweise Konzeptrealisierungen analysiert (Kap. 6.2). Die Entscheidung, gerade dieses Verfahren in seiner multimodalen Komplexität detailliert zu rekonstruieren, hat folgende Gründe: Das Verfahren ist nicht nur ein prägnanter Fall ‘künstlerisch-thematischer’ Verstehensdokumentationen, sondern es kann hinsichtlich seiner interaktionsstrukturellen Etablierung, Realisierung und grundlegenden Funktionalität nur aus einer multimodalen Analyseperspektive heraus analysiert werden. Und es ist ein Verfahren, das eine klare funktionsrollenspezifische Implikativität besitzt. Dieser Punkt ist eine zentrale Voraussetzung für die Theoretisierung der fallspezifischen Ergebnisse vor allem hinsichtlich der sozialstrukturellen Prägung von Verstehensdokumentationen. Das Kapitel schließt mit einem Resümee der wichtigsten Ergebnisse der empirischen Untersuchung der Verstehensdokumentationen. In diesem Zusammenhang werden die beiden analysierten Verfahren im Sinne kommunikativer (Klein-)Gattungen als verfahrensstrukturelle Verdichtungen zentraler Relevanzen des untersuchten Handlungsfeldes reflektiert. 6.1 Antizipatorische Initiativen Ablaufbezogene Verstehensdokumentationen sind in den Set-Aufzeichnungen relativ einfach zu finden. Die Systematik und Rekurrenz der Abfolge einzelner Arbeitsschritte bringt eine weitgehende Prognostizierbarkeit mit sich und führt als erstes zu einem bestimmten Typ ablaufbezogener Verstehensdokumentatio- <?page no="239"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 239 Schmitt_final nen: Es handelt sich um funktionsrollenspezifische Verstehensdokumentationen der Aufnahmeleiter im Zusammenhang mit der Herstellung und Organisation der Proben und Aufnahmen. Auf der Grundlage meiner bisherigen Recherchen im Set-Korpus und der bislang durchgeführten verstehensbezogenen Analysen 18 erhärtet sich der Eindruck, dass vor allem die Aufnahmeleiter ablaufbezogene Verstehensdokumentationen häufig in Form antizipatorischer Initiativen realisieren (Schmitt 2007c, Deppermann/ Schmitt i.Vorb.). Ohne den nachfolgenden Analysen zu weit vorzugreifen, kann man die antizipatorischen Initiativen der Aufnahmeleiter im Zusammenhang mit der Probeherstellung grob wie folgt charakterisieren: Auf der Basis ihrer grundsätzlichen Orientierung auf die Regisseure als zentrale Fokuspersonen und der damit zusammenhängenden räumlichen Koordination analysieren die Aufnahmeleiter - basierend auf kontinuierlichen Monitoring-Aktivitäten - online das interaktive Geschehen und entscheiden sich auf der Grundlage eines Konzeptes grundsätzlicher Mit-Adressiertheit und funktionsrollengebundener Zuständigkeit zum geeigneten Zeitpunkt und in unterschiedlich expliziter verbaler Abstimmung mit den zentral Beteiligten (Regie, Schauspieler, Kamera) für die Herstellung einer Probe. Diese kündigen sie nach erfolgter Ratifikation durch die Regisseure verbal an. Die verfahrensspezifische Realisierung dieser ablaufbezogenen Verstehensdokumentationen im Kontext der Herstellung von Proben sind - anders als andere antizipatorische Initiativen (siehe unten) vollständig an das Medium Sprache gebunden und daher in ihrer zentralen Funktionalitätsvoraussetzung modalitätsspezifisch: Sie können nicht eigenständig in einer anderen Modalität (beispielsweise Gestikulation oder Blick etc.) realisiert werden. Der Grund hierfür liegt in einem zentralen organisationsstrukturellen Merkmal der Set-Kooperation begründet: Aufgrund der ausdifferenzierten Arbeitsteilung mit ihrem Netzwerk aus Zuständigkeiten, Abhängigkeiten und dem übergeordneten Status proben- und aufnahmebezogener Arbeitskontexte im Kosmos vielfältig koexistierender Arbeitszusammenhänge an verschiedenen Orten sind von der Organisation dieser zentralen Arbeitszusammenhänge immer mehrere Mitarbeiter und Funktionsgruppen betroffen. Diese müssen über die bevorstehende Probe oder Aufnahme informiert werden, damit sie durch die 18 Diese Einschätzung beruht auf der Einsicht in das übereinstimmende Verhalten der drei Aufnahmeleiter an den drei Sets, an denen wir Aufnahmen gemacht haben. Alle Aufnahmeleiter realisieren dieses Verfahren rekurrent und systematisch im Zusammenhang mit der Probeherstellung. <?page no="240"?> Reinhold Schmitt 240 Schmitt_final Organisation ihrer eigenen Arbeitskontexte ihren spezifischen Beitrag zur Voraussetzungssicherung dieser Proben und Aufnahmen beisteuern. Dies macht also eine im Gesamtkontext des Sets hörbare Ankündigung notwendig. Um sicher zu stellen, dass wirklich alle Setmitarbeiter die Ankündigung einer Probe/ Aufnahme mitbekommen, wird eine erste Ankündigung des Aufnahmeleiters in der Regel von seinem Assistenten noch einmal wiederholt. Ich wende mich zunächst der verbalen Realisierung des Verfahrens zu und analysiere dann im zweiten Teil dieses Kapitels auch Verfahrensrealisierungen, die in anderen Modalitäten erfolgen. Dies geschieht zum einen mit dem Ziel, ein möglichst großes Spektrum unterschiedlicher Verfahrensrealisierungen zu erfassen. Zum anderen soll dadurch der Status antizipatorischer Initiativen als ein zentrales Instrument für die reibungslose und ökonomische Organisation der Kooperation vieler unterschiedlicher Funktionsteams und Setmitarbeiter verdeutlicht werden. 6.1.1 Verbale antizipatorische Initiativen Beispiel 1: Ankündigung einer Probe (Aufnahmeleiter 1) 19 #1 wolln wer MAL? (Set-MH/ 20/ 01/ 04/ Take-01-RS) Das erste Beispiel stammt aus der Vorbereitung einer Probe für einen Dreh. Der Regisseur hatte zuvor die zu drehende Einstellung mit den Schauspielern bereits einmal durchgespielt und mit ihnen besprochen. Es geht darum, dass ein junges Paar von der Ärztin erfährt, dass es ein behindertes Kind bekommen wird. Der Raum, in dem gedreht wird, befindet sich in einem stillgelegten Flügel eines Krankenhauses. Er ist bereits weitgehend als Ärztezimmer hergerichtet, mit Schreibtisch und Stühlen. Der Flur vor dem Ärztezimmer ist vollgestellt mit Equipment unterschiedlichster Art und es herrscht eine hektische Betriebsamkeit. Das Video zeigt folgenden Ausschnitt während der Besprechung (Abb. 10): Julie ( JU ) und Phillip ( PH ) sind mit dem Rücken zur Kamera, der Ärztin gegenüber platziert, die hinter ihrem Schreibtisch sitzt. Der Regisseur ( MA ), steht links neben dem Tisch der Ärztin, sein Aufnahmeleiter ( AL ) steht hinter ihm und das Continuity Girl seitlich versetzt zu seiner linken Seite. Beide halten Unterlagen in ihren Händen. Der Aufnahmeleiter steht mit angewinkeltem linken Bein, die linke Hand in der Hosentasche vergraben, mit herabhängender rechter Hand, in der er seine Unterlagen hält, 19 Die Transkription erfolgte gemäß den GAT -Konventionen (Selting et al. 1998). Die Gesamttranskripte der in Kap. 4.6 analysierten Fälle befinden sich im Anhang. <?page no="241"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 241 Schmitt_final lässig mit der Schulter an die Wand gelehnt hinter dem Regisseur. Seine Präsenz verkörpert in all diesen Aspekten, dass er nicht in den Besprechungsdiskurs integriert ist. Abb. 10: Das Ärztezimmer Nach dieser Besprechung entsteht eine Pause, die der Regisseur beendet, indem er die Schauspieler fragt WOLLen wir das ganze PROBIERen noch mal? (Z. 01). 01 MA: WOLLen wir das ganze PROBIERen noch mal? Das körperliche Verhalten des Regisseurs während seiner Frage verdeutlicht eine klare Orientierung auf Phillip, auf den er während seiner gesamten Äußerungsproduktion blickt und dem er seinen Kopf zugewandt hat (Abb. 11, 12). Der Schauspieler seinerseits orientiert sich weder körperlich noch mit seinem Blick auf den Regisseur, sondern schaut geradeaus. Im Hintergrund sehen wir den Aufnahmeleiter ( AL ), der mit der genauen Justierung seines Headsets beschäftigt ist, mit dem er über Funk mit Außenmitarbeitern verbunden ist. Diese selbstbezogenen Organisationsaktivitäten haben erkennbar nichts mit der Interaktion zwischen dem Regisseur und den Schauspielern zu tun. Gleichwohl hat sich der Aufnahmeleiter in unmittelbarer Nähe des Regisseurs postiert und kann so den weiteren Gang der Interaktion als „bystander“ (Goffman 1981) verfolgen. <?page no="242"?> Reinhold Schmitt 242 Schmitt_final 01 RE: WO LLen wir das ganze PROBIERen noch m a l? 20 Der Regisseur formuliert mit PROBIERen ein Konzept, dessen Implikationen allen bekannt sind und relativ zur eigenen Funktionsrolle koordinative Relevanz produziert oder nicht. Für Probieren ist konstitutiv, dass es einen Arbeitszusammenhang stiftet, an dem ausschließlich Regisseur und Schauspieler beteiligt sind. Nur für diese entstehen koordinative Relevanzen: Sie müssen sich für eine gewisse Zeitspanne lokal zur Verfügung halten, sich räumlich aufeinander orientieren und relativ zu ihrer Rolle agieren. Für alle anderen Träger von Funktionsrollen besitzt die Ankündigung keine vergleichbaren Implikationen; abgesehen davon, dass sie den durch das Probieren konstituierten Arbeitszusammenhang durch ihre Arbeit nicht stören dürfen. Zudem wird das Probieren - als Arbeitszusammenhang mit spezifischen Beteiligungsweisen - in eine Reihe vorgängiger Realisierungen von Probieren gestellt. Damit ist für die Schauspieler klar, dass sie sich nicht auf einen neuen Arbeitszusammenhang einstellen müssen. 02 PH: [gerne ] (1.0) gerne. 03 JU: [((nickt kurz))] 04 (3.0) Phillip beantwortet die Frage zweimal mit gerne (1.0) gerne. Seine Reaktion besteht in einer ratifizierenden Reaktion, mit der er die Frage des Regisseurs beantwortet. Seine Reaktion erfüllt die durch die Frage etablierten konditionellen Relevanzen in präferierter Weise. In übereinstimmender Weise reagiert auch Julie, die simultan zu seinem ersten gerne (Z. 02) kurz nickt. Nach der dreisekündigen Sprechpause (3.0) beginnt Julie in Reaktion auf die bereits erfolgte positive Antwort Phillips ihren Drehbuchtext zu sprechen was soll das HEIßen <<dim> das [testergebnis ist UNerwartet; >]. 20 Die Abbildungen sind den fettgedruckten Transkriptstellen zugeordnet. Abb. 11-12 <?page no="243"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 243 Schmitt_final 05 JU: (--) was soll das HEIßen<<dim> das 06 [testergebnis ist UNerwartet; > ] Julie behandelt die vorgängige Antwort Phillips als relevanten Kontext für ihre eigene Reaktion. Sowohl die konkrete Platzierung als auch die Form ihrer Reaktion zeigen, Julie geht davon aus, dass auf die zweifache Ratifikation Phillips und ihrer nickenden Zustimmung nicht noch einmal eine Reaktion (Re-Ratifikation) des Regisseurs erfolgen wird. Diese Erwartung konvergiert mit der des Regisseurs. Gäbe es diesbezüglich eine Erwartungsdivergenz, würde das zu einer Überlappung seiner Reaktion mit dem Beginn des Spieldialogs von Julie führen. Die Erwartungskonvergenz ist weitgehend im gemeinsamen professionsspezifischen Wissen der Beteiligten verankert. Sie hat ihren Kern in der herausgehobenen Position und der Strukturierungs- und Definitionsmacht des Regisseurs als zentrale Fokusperson des Filmsets. Relativ zu diesem Wissen behandelt Julie die Frage des Regisseurs nicht als ernsthafte Frage, sondern eher als Ankündigung einer ‘next action’. Diese gemeinsame Wissensgrundlagen und ihre Konsequenzen für die Strukturierung des aktuellen Handlungszusammenhangs führen dazu, die Frage des Regisseurs ausschließlich in Bezug auf ihre Implikationen für die Organisation der weiteren Arbeit zu verstehen und das eigene Verhalten dementsprechend auszurichten. Julie startet jedoch erst nach einer längeren Sprechpause (3.0) mit ihrem Text, wartet also zunächst einmal ab, ob der Regisseur den freien ‘slot’ nicht doch für eine Reaktion ergreift. Doch auch Phillip beginnt nun zu sprechen, wobei sein Beitrag Julies Text nicht nur überlappt [<<all>wart ma lass uns ABwarten] dass es-> (-) dass es RUhig is; , sondern sie explizit bei ihrem Probieren unterbricht. 07 PH: [<<all>wart ma lass uns ABwarten] dass es-> 08 (-) dass es RUhig is; Abb. 13 <?page no="244"?> Reinhold Schmitt 244 Schmitt_final Phillip thematisiert die aktuellen Bedingungen am Set, die aus seiner Perspektive für das nochmalige Probieren der Szene ungünstig sind: Für ihn ist es zu laut. Während er zu sprechen beginnt, blickt er kurz zu Julie (wart ma) (Abb. 13), dreht dann seinen Oberkörper nach rechts und blickt kurz in Richtung Flur, der sich in seinem Rücken befindet, von woher der Lärm kommt, kehrt dann jedoch noch einmal kurz mit seinem Blick zu Julie zurück (dass es-), um dann erneut in Richtung Flur zu schauen. (Abb. 14). 08 PH: dass es RUhig is; Das Eindrehen des Oberkörpers und der Blick in Richtung Flur zieht nicht nur den Blick des Regisseurs mit, sondern auch der Aufnahmeleiter, der zu Beginn der Intervention Phillips noch nach rechts unten geschaut hatte (vgl. Abb. 13), blickt zunächst bei Phillips ABwarten (Z. 07) zu dem Schauspieler und folgt dann dessen Blick zum Flur. Wie Abbildung 14 zeigt, blicken alle drei Beteiligten nun in Richtung Flur zur Geräuschquelle. Obwohl nur an seine Partnerin gerichtet, erfolgt auf Phillips Äußerung nun eine Reaktion des Aufnahmeleiters. ‘Abwarten’ mag für den Schauspieler ein angemessenes Konzept sein. Passivität gehört jedoch nicht zur Funktionsanforderung des Aufnahmeleiters in Bezug auf die Aufgabe, am Set die Voraussetzungen für die Probendurchführung zu schaffen. Zu seiner Aufgabe gehört es vielmehr, die organisatorischen Bedingungen aktiv herzustellen, damit die Schauspieler ihrer Arbeit nachgehen können. Nicht nur für die Schauspielerin, die in ihrem Drehbuchdialog unterbrochen wird, sondern auch für den Aufnahmeleiter besitzt die Äußerung des Schauspielers situative Relevanz und veranlasst ihn zu einer unmittelbaren Reaktion. Abb. 14 <?page no="245"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 245 Schmitt_final 08 PH: dass es RUhig is; Bei genauerer Betrachtung und unter Berücksichtigung seiner funktionsrollenspezifischen Zuständigkeit steckt in der situationsreflexiven Äußerung des Schauspielers dass es- RUhig is; (Z. 08) eine indirekte, aber für Insider durchaus erkennbare Ansprache des Aufnahmeleiters. Dass es diesbezüglich ein gemeinsames Wissen gibt, zeigt die körperliche Orientierung sowohl des Schauspielers als auch des Aufnahmeleiters. Der Schauspieler wendet nach seiner Äußerung seinen Kopf zum Regisseur (Abb. 15) und blickt ihn an, wobei der Regisseur seinen Blick erwidert. Doch auch der Aufnahmeleiter hat in Reaktion auf die Äußerung des Schauspielers seine bisherige Orientierung aufgegeben und hat seinen Kopf in Richtung Schauspieler gedreht und blickt ihn wie der Regisseur ebenfalls an. 09 AL: <<cresc>wollen wer [MAL-> ] 10 RE: [((nickt PH zu))] 11 [(--) ] 12 PH: [((nickt zu AL))] 13 AL: ja? (-) 14 PH: <<p, dim>weil das sehr perSÖNnlich ist> 15 (1.0) 09 AL: <<cresc>wollen wer [MAL-> ] Abb. 15 Abb. 16 <?page no="246"?> Reinhold Schmitt 246 Schmitt_final Der Aufnahmeleiter schaltet sich aktiv ein, ohne abzuwarten, ob der Regisseur auf den Hinweis des Schauspielers reagiert. Bei der Produktion seiner Frage <<cresc>wollen wer MAL-> (Z. 09) ist sein Blick auf Phillip gerichtet. Er blickt aufmerksam und mit leicht angehobenem Kopf zu dem Schauspieler (Abb. 16) und nickt diesem zweimal kurz zu. 13 AL: ja? (-) Zum Abschluss seiner Frage (Z. 13: ja ? ) wendet er seinen Kopf in Richtung Flur (Abb. 17). Seine Frage ist erkennbar elliptisch: Es fehlt genau eine für die Arbeitsorganisation relevante kategoriale Bezeichnung (wie etwa ‘Probieren’), auf deren Grundlage sich die unmittelbar Beteiligten auf die neuen Bedingungen und Anforderungen einstellen können. Eine solche explizite Konzeptformulierung scheint jedoch im aktuellen Arbeitszusammenhang für Phillip, den mittels Blick und Nicken Adressierten, nicht notwendig zu sein, um die Äußerung des Aufnahmeleiters als Hinweis auf einen relevanten neuen Aktivitätszusammenhang zu verstehen. Es scheint auszureichen, die Frage bei dem erreichten Entwicklungsstand zu belassen und mit dem abschließenden ja ? den mit der Frage verbundenen Aufforderungscharakter zu unterstreichen. Phillip reagiert auf diese Frage, indem er sich vom Aufnahmeleiter abwendet, nach vorne-unten blickt und sich für eine durch die Frage projizierte, jedoch nicht explizit angekündigte ‘next action’ bereit hält. Auch der Regisseur, der zum gleichen Zeitpunkt seinen Blick Phillip zuwendet, als dieser seinen Kopf in seine Richtung dreht, nickt dem Schauspieler simultan zu dem MALdes Aufnahmeleiters kurz zu (Z. 12). Das abschließende ja des Aufnahmeleiters ist zwar an Phillip adressiert, jedoch auch vom Regisseur zu hören und in seinen pragmatischen Implikationen zu verstehen. Dies ist ein wichtiger Aspekt: Der Regisseur hat als mit-adressierter und statushöchster Teilnehmer im gegebenen Kontext somit die Möglichkeit, auf das Verhalten des Aufnahmeleiters zu reagieren, beispielsweise zu intervenieren, wenn er damit nicht einverstanden ist. Abb. 17 <?page no="247"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 247 Schmitt_final Phillip reagiert im Folgenden auf die konditionelle Relevanz, die der Aufnahmeleiter mit seiner Frage etabliert hat, und begründet mit weil das sehr per- SÖNlich ist, warum er für das Probieren der Szene mehr Ruhe haben möchte. Einerseits reagiert er auf die gesprächsorganisatorischen Implikationen der Äußerung des Aufnahmeleiters (vor allem auf den appellativen Charakter des abschließenden ja? ). Andererseits liefert er damit aber keine unmittelbare auf die Frage bezogene Antwort. Es handelt sich hier eher um die begründende Expansion seiner vorherigen Äußerung, in die hinein die Frage des Aufnahmeleiters insertiert ist. 16 AL: <<f> okay dann MACHen wir jetzt mal eine PRObe,> 17 (--) Interessanterweise verhält sich der Aufnahmeleiter jedoch so, als hätte er eine auf seine Frage passende Antwort bekommen. Er versteht Phillips Begründung also ganz offensichtlich als zustimmende Antwort auf seine Frage. Nach Phillips Begründung kündigt er - laut gesprochen und erneut ohne explizite Aushandlung mit dem Regisseur - nun eine Probe an (Abb. 18). 21 Beim Beginn seiner Ankündigung mit dem eröffnenden okay schaut er noch zu Phillip, dem Schauspieler. Danach ist sein Blick dann zum Flur und auf die dort befindlichen Mitarbeiter gerichtet (Abb. 19). Das die Äußerung eröffnende okay in Kombination mit dem dann verweist auf ein zweiteiliges Schluss-Format. Dieses besteht aus einem ersten Teil, in dem (in einem Wenn-Kontext) relevante Bedingungen für die Formulierung des zweiten Teils (dem Dann-Kontext) „stehen“, in dem dann die Schlussfolgerungen aus dem vorher ‘Dargestellten’ gezogen werden. 21 Es ist interessant, sich diese Äußerung in ihrem sequenziellen Zusammenhang und hinsichtlich ihres Status als ‘third position’ gerade auch als Verdeutlichung des Verständnisses einer auf die eigene Initiative erfolgten Reaktion etwas genauer anzuschauen. Abb. 18-19 <?page no="248"?> Reinhold Schmitt 248 Schmitt_final Was aber nutzt der Aufnahmeleiter als Wenn-Kontext für die Formulierung seiner Schlussfolgerung? Ist es die Begründung des Schauspielers? Ist es das, was der Aufnahmeleiter bei seinen Monitoring-Aktivitäten visuell und akustisch wahrgenommen hat? Ist es seine nicht formulierte Interpretation der aktuellen Arbeitsbedingungen am Set? Was der Aufnahmeleiter de facto als Schlussfolgerung formuliert, ist die Ankündigung einer Probe. Der Aufnahmeleiter hat also für sich - und wie gleich noch zu sehen sein wird, auch für alle andern Setmitarbeiter - entschieden, wie mit der aktuellen suboptimalen Situation umgegangen werden soll. Dabei kommt es mit seiner Ankündigung zu einem für die Arbeitsorganisation am Set und die damit zusammenhängenden Koordinationsaktivitäten grundlegenden Wechsel des zentralen Konzeptes: ‘Probieren’ wird durch ‘Probe’ ersetzt. Mit diesem Konzeptwechsel gehen für die Schauspieler, den Regisseur, den Aufnahmeleiter, das Continuity Girl und für viele andere Set-Mitarbeiter manifeste Veränderungen einher. Probieren ist ein Konzept, dessen Implikationen allen bekannt sind und das relativ zur eigenen Funktionsrolle koordinative Relevanz produziert oder nicht. Für ‘Probieren’ ist konstitutiv, dass es einen Arbeitszusammenhang stiftet, an dem ausschließlich Regisseur und Schauspieler(innen) beteiligt sind. Nur für diese entstehen koordinative Relevanzen: Sie müssen sich für eine gewisse Zeitspanne lokal zur Verfügung halten, sich räumlich aufeinander orientieren und relativ zu ihrer Rolle agieren. Für alle anderen Träger von Funktionsrollen besitzt die Ankündigung keine vergleichbaren Implikationen; abgesehen davon, dass sie den durch das ‘Probieren’ konstituierten Arbeitszusammenhang durch ihre Arbeit nicht stören dürfen. Insofern sind sie hinsichtlich der Autonomie ihres Arbeitszusammenhangs ansatzweise beeinträchtigt. Das ändert sich nunmehr grundsätzlich. Die Durchführung einer Probe verlangt nun von allen Setmitarbeitern eine temporäre Ausrichtung auf genau den einen Arbeitszusammenhang, den der Regisseur mit den Schauspielern konstituiert. Für die Dauer der Probe müssen sie ihren eigenen Arbeitszusammenhang unterbrechen, damit die für die Durchführung der Probe notwendige Ruhe am Set einkehren kann. Angesichts dieser weitreichenden Implikationen ist es erstaunlich, dass der Aufnahmeleiter seine antizipatorische Initiative selbstbestimmt und ohne Absprache und Absicherung mit dem Regisseur ergreift. Das Verhalten des Regisseurs zeigt jedoch, dass der Aufnahmeleiter mit seiner Initiative (eine Probe anzukündigen) genau die Orientierung und Erwartung des Regisseurs <?page no="249"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 249 Schmitt_final getroffen hat. Dieser verhält sich ganz so, als habe er selbst die Probe angeordnet. Er verfolgt interessiert die konkreten organisatorischen Aktivitäten des Aufnahmeleiters und seines Assistenten bei der Herstellung der Probe und übernimmt, nachdem die Voraussetzungen gegeben sind, vom Aufnahmeleiter wieder die Initiative. Als eine zentrale Voraussetzung für die Probendurchführung bearbeitet der Aufnahmeleiter nun explizit die Geräuschquelle im Flur, die er - zuvor zusammen mit dem Schauspieler und dem Regisseur - bereits mit seinem Blick als Störung kenntlich gemacht hatte. 18 AL: (--) wenn die LAMpen stehn wär TOLL; 19 wenn wir ein- 20 AL: (--) <<dim> BISSchen ruhe halten könnten; > Der Aufnahmeleiter spricht nun die Beleuchter indirekt an (wenn die LAMpen stehn) und stellt ihnen noch eine gewisse Zeit zur Verfügung, die Lampen, die sie gerade aufbauen, zu platzieren. Seine Ansprache macht jedoch klar, dass dieser Zeitrahmen begrenzt ist und die Arbeiten möglichst schnell abgeschlossen werden müssen. Im Rahmen der bereits erfolgten Ankündigung der Probe sind neben den Beleuchtern auch alle übrigen Set-Mitarbeiter mit-adressiert. Mit wenn wir ein- (--) <<dim>BISSchen ruhe halten könnten; > (Z. 19-20) (Abb. 20) fordert er alle am Set Anwesenden dazu auf, die für die Probe notwendige Ruhe einkehren zu lassen. Wie die Abbildung zeigt, ist der Aufnahmeleiter einen Schritt von der Wand nach vorne getreten und hat neben seinem Blick auch den Oberkörper leicht eingedreht und auf den Flurbereich ausgerichtet. Sein Unterkörper bleibt hingegen auf den Tisch mit dem Regisseur und den Schauspielern als dem Ort der bevorstehenden Probe ausgerichtet. Mit diesem „body torque“ (Schegloff 1998) verdeutlicht er, dass er gleich Abb. 20 <?page no="250"?> Reinhold Schmitt 250 Schmitt_final wieder zum Tisch zurückkommen wird und der Tisch seine dominante Orientierung darstellt. Die Vorbereitung der Probe wird also nun explizit für alle anderen noch ablaufenden Arbeitsprozesse relevant gemacht, ungeachtet der augenblicklichen autonomen Strukturen in diesen einzelnen Arbeitskontexten. Während der Ansage des Aufnahmeleiters verfolgt der Regisseur die Reaktionen der Set-Mitarbeiter: Die meiste Zeit über beobachtet er das Geschehen im Flur, wo die Beleuchter mit ihren Lampen beschäftigt sind. Die bisherige Analyse der Initiativen des Aufnahmeleiters verdeutlicht folgende Aspekte, die für Realisierung und Funktionalität antizipatorischer Initiativen auf dem Film-Set konstitutiv sind: Erstens hat der Aufnahmeleiter die kurze Aushandlung zwischen dem Regisseur und Phillip im Kontext der Probier-Frage sowie das kurze Intermezzo zwischen Phillip und Julie wahrgenommen. Dies unterstreicht ganz zentral die Bedeutung von Monitoring als zentrale Bedingung antizipatorischer Initiativen. Zweitens besitzt das Monitum des Schauspielers - obwohl nicht explizit an ihn adressiert - für den Aufnahmeleiter handlungspraktische Implikationen. Er wird ohne explizite Abstimmung mit dem Regisseur selbstbestimmt initiativ. Er schätzt die aktuelle Situation nicht so ein, dass er mit seiner Initiative die Handlungsabsichten des Regisseurs behindert. Er weiß, dass er und nicht der Regisseur für die Herstellung der Voraussetzungen dass es- RUhig is zuständig ist. Folglich kann er davon ausgehen, dass dieser keine Veranlassung hat, an dieser Stelle aktiv zu werden. Drittens interpretiert nur der Aufnahmeleiter Phillips Äußerung als Aufforderung, auf der Grundlage der mit seiner Funktionsrolle assoziierten Zuständigkeit und Verantwortung tätig zu werden. Dies unterscheidet ihn von allen anderen Beteiligten, die Phillips Äußerung ebenfalls gehört haben. Die für das Filmset konstitutive ausdifferenzierte Form arbeitsteiliger Zuständigkeit ist letztlich dafür verantwortlich, dass die Äußerung des Schauspielers gerade für den Aufnahmeleiter (und nur für ihn) eine besondere Verstehensanforderung darstellt, die er mit dem Verfahren der antizipatorischen Initiative bearbeitet. Er setzt das passive Konzept (‘Abwarten’) des Schauspielers aktiv um. Er zeigt damit, dass er es als seine Verantwortlichkeit versteht, den Zustand, auf den gewartet wird, aktiv herbeizuführen. 22 22 Mit Bezug auf Sacks (1992b-f) Vorstellung von „category bound activities“ kann man hier sehr deutlich das an die jeweilige Kategorie (hier Funktionsrolle) gebundene Verhalten der Beteiligten sehen, das - bezogen auf den gleichen Anlass - einmal auf Passivität und einmal auf aktives Gestalten orientiert ist. <?page no="251"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 251 Schmitt_final Dass diese Initiative a) selbstbestimmt erfolgt, b) für alle anderen Beteiligten orientierungsleitend wird, c) ganz im Sinne des Regisseurs realisiert wird und d) als funktionale Problemlösung die Defizite der aktuellen Situation behebt, zeigt die Kompetenz und Professionalität des Aufnahmeleiters, antizipatorische Initiativen fraglos und als ökonomisches Verfahren in Reaktion auf die aktuelle Interaktionsentwicklung als Ressource einzusetzen. All das hat jedoch im visuellen und auditiven Monitoring und in der Kompetenz, sich zum richtigen Zeitpunkt angesprochen zu fühlen, seine zentrale Voraussetzung (Schmitt/ Deppermann 2007). Bei genauem Hinsehen wird ein Adressierungsmodell deutlich, das sich an den Anforderungen der spezifischen Kooperationsform der Setmitarbeiter orientiert und auf die Ökonomisierung des interaktiven Austauschs abzielt. Die Grundlage dieses Modells ist die fraglose Unterstellung des aktuell Sprechenden, dass die für die momentane Arbeitsorganisation relevanten Beteiligten mithören und für sich entscheiden, ob sie sich angesprochen fühlen oder nicht. Aus Sprecherperspektive stellt sich das Modell also primär als eine Art Globaladressierung dar, bei der handlungsrelevante Äußerungen nicht funktionsrollenspezifisch adressiert werden müssen. Dass die Äußerungen vielmehr in die Öffentlichkeit des Set entlassen werden, ohne selbst einen spezifischen Adressaten zu identifizieren, führt zu einer enormen Entlastung für den Sprecher, die angesichts der Vielzahl potenzieller Kooperationspartner nicht zu unterschätzen ist. Aus Sicht der potenziellen Adressaten solcher unadressierten Äußerungen führt das Modell zur Notwendigkeit permanenter Monitoring-Aktivitäten, um für genau den Fall gewappnet zu sein, in dem - aufgrund der Funktionsrolle, die man inne hat, und aufgrund der aktuellen Interaktionsentwicklung - klar ist, dass man sich selbst im Akt einer verstehensbasierten eigenständigen Entscheidung zum Adressierten macht. Setmitarbeiter, die aufgrund ihrer Funktionsrolle in bestimmten Situationen bzw. Arbeitszusammenhängen potenziell Adressierte sein können, müssen sich also grundsätzlich zur Verfügung halten; genau so, wie das der Aufnahmeleiter hier getan hat. Adressierungen werden in der Regel nicht personenspezifisch, sondern als ‘audience design’ (Bell 2001, Coupland 2007, Clark 1992) realisiert. Mitglieder dieses ‘audience’ entscheiden dann auf Grundlage ihrer aktuel- <?page no="252"?> Reinhold Schmitt 252 Schmitt_final len Situationseinschätzung und den Implikationen ihrer Funktionsrolle, ob sie sich adressiert fühlen. Es handelt sich also um eine Form der weitgehend interpretationsgestützten Selbstwahl des Adressaten, wobei allein schon die Tatsache, dass ein spezifischer Mitarbeiter für sich gesprächsorganisatorische Implikationen erkennt und sich als Sprecher etabliert, unter den Bedingungen des Feldes eine Form der Verstehensdokumentation darstellt. Diese Entscheidung der Beteiligten, sich selbst zum Adressaten zu machen, korrespondiert mit spezifischen Erwartungen derjenigen, die Äußerungen mit einer unspezifischen Globaladressierung realisieren. So, wie sich nur bestimmte Beteiligte angesprochen fühlen, so verbinden sich seitens der Sprecher mit Äußerungen, die alle/ mehrere Beteiligte hören können und die auch (diffus) an alle adressiert sind, nur in Bezug auf bestimmte Beteiligte spezifische Folgeerwartungen, die zudem sehr unterschiedlich ausfallen können. Man kann sich das an folgendem Beispiel verdeutlichen: In einer länger gestreckten Aushandlung zwischen der Regisseurin und der Kamerafrau, in der besprochen wird, wie eine Szene kameratechnisch realisiert werden soll, kommt die Regisseurin letztlich zu einer Entscheidung: Die Szene soll mit einer Handkamera gedreht werden. Die Formulierung dieser Entscheidung wird von unterschiedlichen Beteiligten, die der Aushandlung gefolgt sind, in sehr verschiedener Weise verstanden, was sich in unterschiedlichen Folgehandlungen dokumentiert: Der Kameraassistent orientiert sich in Richtung Kamerawagen, um die Handkamera für die nächste Szene vorzubereiten. Der Aufnahmeleiter hebt zwei kleine Sandsäcke auf, die zuvor bei einem Kameraschwenk als Basis einer Rampe gebraucht wurden, und räumt sie so als mögliche Hindernisse für den kommenden Gang der Kamerafrau mit der Handkamera aus dem Weg. Die generelle Struktur hinter diesen beiden Handlungen des Kameraassistenten und des Aufnahmeleiters ist identisch: Auf der Grundlage kontinuierlicher Monitoring-Aktivitäten gelangen beide zu einem spezifischen Verstehen der Entscheidung ‘Handkamera’. Sie definieren sich übereinstimmend als Adressierte und realisieren als Folge die oben beschriebenen Handlungen, die sich beide vorbereitend auf den Dreh mit der Handkamera beziehen. Das für das Set spezifische Adressierungs-Modell und die damit verbundenen Implikationen hinsichtlich der Beteiligungsstruktur der verschiedenen Setmitarbeiter eröffnet unter organisationsstruktureller Hinsicht einen interessanten Blick auf den Zusammenhang von kollektivem, ziel- und produktorientiertem professionellem Handeln unter spezifischen Bedingungen. Das Modell reagiert auf einen schauplatzgebundenen Kontext mit hoher Kontaktdichte und <?page no="253"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 253 Schmitt_final arbeitet auf der Grundlage sehr weitgehender arbeitsteiliger Ausdifferenzierung und speziell darauf bezogener und in Auseinandersetzung mit diesen Strukturen entstandenen Lösungen im Bereich professionsspezifischer, interaktionskonstitutiver Anforderungen. Unter einer solchen Perspektive hat das Modell folgende Implikationen für die zielbezogene Kooperation: Ökonomie-Implikation: Da die Arbeiten am Set grundsätzlich immer unter Zeitdruck ablaufen, ist der weitgehende Verzicht auf unmittelbar nicht notwendige oder funktionale interaktive Praktiken (explizite Adressierungen) eine plausible Reaktion. Orientierungs-Implikationen: Eine arbeitsorganisatorische Struktur, die sich durch die Notwendigkeit auszeichnet, das Verhalten anderer zumindest so weit zu verfolgen, dass man sich in bestimmten Situationen angesprochen fühlen kann, verhindert das Abtauchen im eigenen Arbeits- und Zuständigkeitszusammenhang. Der Status eines prinzipiell immer Mit-Adressierten erhält so die Wachsamkeit der Mitarbeiter und stärkt die Orientierung an dem ‘joint project’. Autonomie-Implikationen: Die Anforderung, als potenziell immer Mit-Adressierter selbst zu entscheiden, ob man aktiv werden muss und wenn ja, wie - statt auf konditionell relevante Vorgaben zu reagieren - stellt einen autonomiebezogenen Ausgleich zu engen, durch die feingliedrige Arbeitsteilung etablierten Zwängen und Vorstrukturierungen dar. 23 Beispiel 2: Ankündigung einer Probe (Aufnahmeleiter 2) #2 gitta bist du okay? (Set-UG/ 20/ 02/ 04/ Take-01-RS) Auch Beispiel 2 zeigt, dass antizipatorische Initiativen - obwohl sie nicht durch das Prinzip der konditionellen Relevanz projiziert werden - nicht unkontextualisiert vom Himmel fallen. Sie erfolgen vielmehr in Reaktion auf die lokale Interaktionsentwicklung, die einer detaillierten Online-Analyse (Dausendschön-Gay/ Krafft 2000, 2002; Mondada 2006; Schmitt i.Vorb.) unterzogen wird. Zuweilen ist es dabei notwendig, die Voraussetzungen für die Realisierung und die Angemessenheit der Platzierung dieses Verfahrens im aktuellen Interaktionsgeschehen explizit sicher zu stellen und zu überprüfen. Auch dann, wenn beispielsweise der Aufnahmeleiter einen sicheren Eindruck von der aktuellen Interaktionsentwicklung hat, initiiert er - in unterschied- 23 Dieses Modell mit den skizzierten Implikationen stellt eine interessante Adaption des Normalfalls der von Sacks/ Schegloff/ Jefferson (1974) beschriebenen ‘turn-taking-Organisation’ dar. <?page no="254"?> Reinhold Schmitt 254 Schmitt_final lich manifester Weise - kurze Aushandlungssequenzen, die sich auf die erkennbare Ratifikation seiner Einschätzung und die sich daraus ergebenden Handlungsfolgen beziehen. Im ersten Beispiel war das die nicht zu Ende formulierte Frage des Aufnahmeleiters wollen wer [MAL-] (Z. 09) und die Nachfrage ja? (Z. 13). Die konkrete Realisierung der Voraussetzungssicherung als Bestandteil des Verfahrens unterscheidet sich im Einzelfall hinsichtlich der Form und des Ausmaßes der empirischen Repräsentanz. Beispiel 2, das die Voraussetzungssicherung und Realisierung der antizipatorischen Initiative eines anderen Aufnahmeleiters an einem anderen Set zeigt, ist diesbezüglich manifester als Beispiel 1. Der Videoausschnitt zeigt die Vorbereitung verschiedener Setmitarbeiter auf die Probe der nächsten Szene (Abb. 21). Die Regisseurin bespricht dabei mit dem Schauspieler, wie er an das Fahrrad, das in der Szene eine zentrale Rolle spielt, herantreten und wann er wie seinen Text sprechen soll. Eine Mitarbeiterin der Requisite (Gitta) ist währenddessen noch mit der genauen Justierung des Fahrrades beschäftigt, das im richtigen Winkel gekippt sein muss, damit der auf dem Gepäckträger platzierte Ranzen nicht herunterfällt bzw. das Fahrrad umwirft. Die Regisseurin, die Kameracrew mit der Kamerafrau und der Aufnahmeleiter, der mit der Überprüfung des Funkkontaktes zu einem Mitarbeiter im Inneren des Gebäudes beschäftigt ist, stehen neben und hinter dem Kamerawagen für die Probe bereit. Im Zuge dieser Vorbereitungsaktivitäten übernimmt dann der Aufnahmeleiter die Initiative zur Herstellung der Probenvoraussetzungen. Schauen wir uns also diesen Vorgang etwas genauer an. 01 RE: <<f,>uli der KOmmt und macht=ne probe.> 02 RE: entschuldige- 03 RE: (-) glaub [ichjetzt gleich. 04 AL: [nä: der kuckt einmal Abb. 21 <?page no="255"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 255 Schmitt_final 05 RE: [da kuck da bei der tür.] 06 AL: [durch er hat nur durch ] die tür gekuckt. 07 RA: [nein der hat [da ] nur ] 08 KA: [nur] 09 RE: ach so. 10 XW: <<p> funkkontakt> (--) 11 RE: funkkontakt sehr gut. Die Regisseurin ( RE ) weist die Kamerafrau ( KA ) auf die beginnende Probe hin <<f,>uli der KOmmt und macht=ne probe.>, was eine kurze interaktive Verdichtung in Gang setzt, an der sich der Aufnahmeleiter ( AL ), die Regieassistentin ( RA ) und auch kurz die angesprochene Kamerafrau ( KA ) beteiligen. Übereinstimmend weisen sie darauf hin, dass der Schauspieler noch nicht mit der Probe beginnen will, sondern einfach nur einmal durch die Glastür nach draußen geblickt hat (Z. 04-08). Die Regisseurin reagiert hierauf mit ach so. und antwortet im Anschluss an die Frage, wie der Funkkontakt ist, mit funkkontakt sehr gut. Dies ist nun der Moment, an dem der Aufnahmeleiter aktiv wird. Er blickt zu Gitta, der Requisiteurin, die noch am Fahrrad beschäftigt ist, und spricht diese an <so gitta bist du okay? > (Abb. 22) . 12 AL: <so gi tta bist du okay? > 13 (2.0) Nach seiner Frage und in der sich anschließenden Sprechpause orientiert sich der Aufnahmeleiter auf die Kamerafrau, dreht dabei seinen Kopf in ihre Richtung und schaut zu ihr, die auf dem Kamerawagen mit der Kamera beschäftigt ist. Sie blickt durch das Objektiv ihrer Kamera, während der Aufnahmeleiter sie nun namentlich mit dem laut gesprochenen <<f>Uli? > adressiert (Abb. 23). Nach einer Sprechpause von zwei Sekunden Dauer reagiert die Kamerafrau auf seine Nachfrage mit einem leicht singenden be: rei: t. Abb. 22 <?page no="256"?> Reinhold Schmitt 256 Schmitt_final 14 AL: <<f> U li? > 15 (2.0) 16 KA: <<leicht singend> be: rei: t.> Der Aufnahmeleiter schätzt auf der Grundlage seiner Online-Analyse der aktuellen Interaktionsentwicklung die Situation so ein, dass er in seiner Funktion als derjenige, der die Bedingungen für Proben und Drehs herzustellen hat, aktiv wird. Er wird dies in spezifischer Weise: Er wartet nicht weiter ab und schaut dem Treiben am Fahrrad und an der Kamera nicht weiter zu, sondern involviert andere Setmitarbeiter in seine Aktivität der Voraussetzungssicherung. Zu diesen Personen gehören Gitta, die Requisiteurin, und Uli, die Kamerafrau. Beide spricht er mit lauter Stimme an. Die Reihenfolge, in der die Adressierungen erfolgen, ist durch die Struktur des Arbeitsprozesses motiviert. Bevor Gitta mit ihrer Arbeit am Fahrrad nicht fertig ist, ergibt es keinen Sinn, die Kamerafrau auf die Probe vorzuorientieren. Die Requisiteurin und die Kamerafrau sind jedoch nur die namentlich adressierten Personen, mit-adressiert sind in den Aktivitäten des Aufnahmeleiters weitaus mehr Personen. Zu den ebenfalls angesprochenen Funktionsrolleninhabern, die aufgrund ihrer räumlichen Positionierung in der aktuellen Situation und aufgrund der Lautstärke der Äußerungen des Aufnahmeleiters dessen Aktivitäten auf jeden Fall mitbekommen haben, gehören die Regisseurin und deren Assistentin, die Mitglieder der Kameracrew und natürlich auch der Schauspieler, der die Szene spielen soll. So wie der Aufnahmeleiter durch seine Pausen dem Regisseur die Gelegenheit zur Reaktion gegeben hat, so eröffnet der Aufnahmeleiter in diesem Beispiel ebenfalls die Gelegenheit zur Ratifikation seiner Initiative, die Vorbereitungsaktivitäten nun zur tatsächlichen Durchführung der Probe überzuleiten. Abb. 23 <?page no="257"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 257 Schmitt_final Gemäß der hierarchischen und funktionsrollenspezifischen Position der Regisseurin kann nur sie diese Ratifikation realisieren, sei es durch stumme Zustimmung oder durch eine explizite verbale Reaktion. Dass die Kamerafrau schon mit be: rei: t. auf seine Nachfrage reagiert hat, reicht als Ratifikation nicht aus. Die Regisseurin fasst - hinter dem Lichtschutz des Kameraobjektivs verborgen - mit ihrem ja? (Abb. 24) noch einmal nach und projiziert dann in einem Schlussverfahren (dann) und in sehr allgemeiner Weise mit dann wolln wer mal machen. eine Folgehandlung. Diese benennt sie jedoch nicht selbst. Das ist, arbeitsteilig geregelt, die Zuständigkeit des Aufnahmeleiters: Er transformiert und spezifiziert die Äußerung der Regisseurin in die konkrete Ankündigung einer Probe. 17 RE: (1.1) ja? 18 RE: (-) dann wolln wer mal machen. (--) Während der Aufnahmeleiter bei der Reaktion der Regisseurin in Richtung Fahrrad geblickt und den Bereich gescannt hat, der für die Probe gebraucht wird, dreht er nun seinen Kopf zur Seite und beginnt eine Rückorientierung seines Blicks zur Kamera. Er startet nach einer kurzen Sprechpause (--) mit abermals lauter Stimme in die Öffentlichkeit des Set hinein mit der Ankündigung der Probe. 19 AL: <<f> o kay. dann ACHt ung .> Abb. 24 Abb. 25-26 <?page no="258"?> Reinhold Schmitt 258 Schmitt_final Es ist interessant, sich die sehr weitgehende Analogie dieser Probeankündigung mit der Ankündigung im ersten Beispiel durch den dortigen Aufnahmeleiter zu verdeutlichen. Die Analogie bezieht sich sowohl auf das Äußerungsformat als auch auf die Sequenzierung der Äußerung. Das ist konkret die Zweiteiligkeit der Ankündigung, die aus der vorangestellten Fokussierung <<f >okay. dann ACHtung.> (Abb. 25-26) und der nachfolgenden Aufforderung zum probeadäquaten Verhalten der Setmitarbeiter besteht <<f >und ruhe bitte für die probe> (Abb. 27-28). 20 AL: (-) <<f> und ruhe bitte für die pro be > Beide Aufnahmeleiter realisieren zudem übereinstimmend eine extrem verkürzte Variante einer zweiteiligen Wenn-Dann-Struktur, bei der der Wenn-Teil jeweils weggelassen wird und ein okay in der Startposition ihrer Ankündigung (Beispiel 1: okay dann MACHen wir jetzt mal eine Probe" Z. 16). Ganz in Analogie zu Beispiel 1 realisiert der Aufnahmeleiter auch hier seine antizipatorische Initiative im fein gewebten Netz der setspezifischen Hierarchie und arbeitsteiligen, funktionsrollenspezifischen Aufgaben und Zuständigkeiten. Sein Zuständigkeitsbereich erschöpft sich in der Herstellung der Voraussetzungen für eine Probendurchführung. Den Startschuss zur Durchführung der Probe kann er (genau wie sein Kollege in Beispiel 1) selbst nicht eigenständig geben. Beiden Aufnahmeleitern ist zudem gemeinsam, dass sie die Ratifikation für ihre Initiative einholen. Dies zu tun ist die unantastbare Zuständigkeit der Regisseurin. Der Aufnahmeleiter trägt dieser Tatsache dadurch Rechnung, dass er sich nach der Gesprächspause (2.0), in der die betroffenen Setmitarbeiter sich nach seiner Vorankündigung auf die gleich beginnende Probe hin orientieren und koordinieren, zur Regisseurin wendet und dabei ein aufforderndes und? (Abb. 29) spricht. In diesem Moment blicken sich Regisseurin und Aufnahmeleiter kurz an. Abb. 27-28 <?page no="259"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 259 Schmitt_final 21 (2.0) 22 AL: und? 23 RE: <<p>und bitte> Diese Aufforderung macht neben dem kurzen Blickkontakt auch durch die Lautstärke klar, dass es hier um einen Austausch geht, der nur die beiden betrifft. Der Aufnahmeleiter macht also den weiteren Fortgang der aktuellen Interaktion von einer weiteren Ratifikation der Regisseurin abhängig. Die Regisseurin reagiert auf seine Aufforderung mit dem leise gesprochenen <<p>und bitte>. Der Aufnahmeleiter hat sich nach dieser kurzen Aushandlungssequenz mit der Regisseurin bereits wieder in Richtung Fahrrad und Hauseingang orientiert, aus dem der Schauspieler heraustreten wird. Bei dieser Umorientierung wiederholt er mit angehobener Lautstärke noch einmal wörtlich die Reaktion der Regisseurin und gibt somit den offiziellen Startschuss für den Beginn der Probe (Abb. 30). 24 AL: <<f>und bitte > Während der Aufnahmeleiter die Voraussetzungen für die Durchführung der Probe überprüft, schaut die Regisseurin bereits auf den Videomonitor, auf dem sie die Probe verfolgen wird. Unmittelbar danach tritt der Schauspieler aus der Tür und beginnt mit dem Spiel der Szene. Abb. 29 Abb. 30 <?page no="260"?> Reinhold Schmitt 260 Schmitt_final Bei diesem Beispiel steht die antizipatorische Initiative des Aufnahmeleiters stärker im Kontext einer kollektiven Organisation der Probe, bei der sich auch die Regisseurin verbal beteiligt. Das Beispiel zeigt die mehrschrittige Etablierung der Probe, die durch eine zweiteilige Phase der Voraussetzungssicherung und Ratifikation der antizipatorischen Initiative gekennzeichnet ist. Dies zeigt - deutlicher als in Beispiel 1 - die grundsätzliche Ambivalenz des Verfahrens: Antizipatorische Initiativen sind aufgrund ihres nicht oder nur bedingt prognostizierbaren Charakters immer der Gefahr ausgesetzt, zum falschen Zeitpunkt (zu früh oder zu spät) realisiert zu werden und damit mit Aktivitäten anderer zu kollidieren. Aufgrund ihres grundsätzlich vorgreifenden Charakters laufen sie zudem Gefahr, den Zuständigkeitsbereich anderer Setmitarbeiter (hier der Regisseurin) zu tangieren und zu einer Kompetenzirritation zu führen. Es ist gerade die interaktive Bearbeitung dieser unterschiedlichen Implikationen des Verfahrens als Legitimation seiner Realisierung, die hier zu der gestreckten, durch verbale Voraussetzungssicherung und Ratifikationsaufforderung geprägten Struktur führt. Es reicht - so kann man schließen - für den Aufnahmeleiter in dieser Situation nicht aus, dass er die Einschätzung hat, jetzt eine Probe herstellen zu können. Um dies mittels antizipatorischer Initiative faktisch tun zu können, ist der interaktive Umweg über die verbale Abstimmung mit den zentral Beteiligten notwendig. Diesen Umweg ging - wenn auch nicht in der expliziten Art und Weise - auch der Aufnahmeleiter im ersten Beispiel, als er den Schauspieler gefragt hatte: wollen wer MAL-. Erst nachdem der Regisseur in der für ihn produzierten Sprechpause nicht aktiv wurde, ist er zur Ankündigung der Probe übergegangen. Aber auch dort kam der Startschuss vom Regisseur. Ungeachtet der Systematik, Rekurrenz und weitgehenden interaktiven und sprachlichen Übereinstimmungen, in der antizipatorische Initiativen im Ankündigungskontext von beiden Aufnahmeleitern vollzogen werden, besitzen sie keine Selbstevidenz für alle betroffenen Beteiligten, d.h. sie müssen ausgehandelt und interaktiv abgesichert werden. Sie sind sozusagen nicht das intersubjektive Ergebnis eines interpretativen Selbstlaufes, bei dem alle relevanten Beteiligten - aufgrund ihrer Online-Analysen der aktuellen Interaktionsentwicklung - automatisch zur übereinstimmenden Einschätzung kommen. Die Ankündigung einer Probe ist in ihrer Qualität als antizipatorische Initiative vielmehr immer eine selbstbestimmte Entscheidung und das Ergebnis der auf die Ablaufstruktur bezogenen Interpretation des Aufnahmeleiters und <?page no="261"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 261 Schmitt_final der damit verbundenen spezifischen Perspektive, aus der heraus die Online- Analyse gespeist wird. Dies bedeutet auch, dass die von der Ankündigung betroffenen Beteiligten durchaus unterschiedliche Online-Analysen von der aktuellen Interaktionsentwicklung haben. Diese sind durch die jeweils funktionsrollenspezifischen Relevanzen der Beteiligten motiviert, welche die aktuelle Interaktionsentwicklung sehr unterschiedlich fokussieren und aspektualisieren. Ablaufbezogene Verstehensdokumentationen werden zudem nicht nur vom Aufnahmeleiter und dessen Assistenten als Teil ihrer funktionsrollenspezifischen Zuständigkeit realisiert. Solche Verstehensdokumentationen werden auch - aber wesentlich seltener - von anderen Setmitarbeitern vollzogen, scheinen jedoch auch hier eine gewisse Bindung an bestimmte Funktionsrollen zu besitzen. Antizipatorische Initiativen anderer Setmitarbeiter zeichnen sich im Unterschied zu denen der Aufnahmeleiter dadurch aus, dass ihre Prognostizierbarkeit wesentlich eingeschränkter ist. Dies hängt unter anderem auch mit ihrem Status hinsichtlich des kommunikativen Haushaltes derjenigen zusammen, die sie realisieren. 24 Beispiel 3: Continuity #3 das detail wollt ihr ja noch (Set-UG/ 20/ 02/ 04/ Take-02-RS) Das dritte Beispiel zeigt eine antizipatorische Initiative der Continuity. Die Continuity ist die Mitarbeiterin, die dafür Sorge trägt, dass in den einander folgenden Aufnahmen eines Films alle Details - Szenenbild, Kostüm, Haltung, Licht usw. - gleich bleiben. Die Aufnahmen werden in der Regel nicht in der gleichen Reihenfolge, in der sie aufgenommen werden, auch montiert. Umso wichtiger ist es, die Details der Aufnahme sehr genau zu protokollieren, um den Eindruck der Kontinuität aufrecht zu erhalten. Zum Kontext: Nach einem Gespräch mit ihrer Kamerafrau begibt sich die Regisseurin ( RE ) zum Gaffer 25 ( GA ), der noch bei dem Fahrrad sitzt, das in der zuvor gedrehten Szene eine zentrale Requisite war, und beginnt eine Unterhaltung mit ihm. Im Kontext der Beendigungsphase der Interaktion zwischen der Regisseurin und dem Gaffer finden sich nach und nach die Träger verschiedener Funktionsrollen ein, die bereits zuvor zusammen mit der Regisseurin am 24 Man kann daher auch nicht durch die Ablaufstruktur des Arbeitsprozesses geleitet systematisch nach ihnen suchen. 25 Gaffer/ Chefausleuchter: Er erhält in der Regel seine Anweisungen vom Kameramann und ist zuständig für Aufbau, Inbetriebnahme, Positionierung und Wartung des Lichts, der Beleuchtung und aller anderen elektrischen Einrichtungen am Set. <?page no="262"?> Reinhold Schmitt 262 Schmitt_final Videomonitor standen und sich mit ihr die zuvor gedrehte Szene mit dem Fahrrad angesehen hatten. Es handelt sich neben dem Aufnahmeleiter und der Regieassistentin eben auch um die Continuity. Beendigungsphase des Gesprächs Regie - Gaffer Das Gespräch zwischen Regie und Gaffer kreist thematisch um die zurückliegende Aushandlung zwischen der Regisseurin und der Kamerafrau, wie die Einstellung zu drehen ist. Das nachstehende Transkript beginnt mit der Beendigungsphase dieses Gesprächs. Die Klärung der Frage, wie sich die Continuity an den Interaktionsraum annähert, wie sie sich im Randbereich etabliert und dort auf sich aufmerksam macht, ehe sie selbst ein Gespräch mit der Regisseurin beginnt, gibt wichtige Hinweise auf die Vorbereitung und Kontextualisierung ihrer antizipatorischen Initiative. Dies ist bei diesem Beispiel von besonderer Bedeutung, da ihre Initiative - anders als die beiden vorhergehenden der Aufnahmeleiter - nicht durch den routinemäßigen Arbeitsablauf motiviert und daher im aktuellen Kontext auch nicht erwartbar ist. Die Konzentration auf die Anbahnung und Etablierung im Interaktionsraum ist auch deswegen zentral, weil sie Ausdruck der Interpretation ihres aktuellen Geschehens und als Verkörperung ihres Verständnisses der Interaktion zwischen Regie und Gaffer ist. Durch die spezifische Art und Weise ihrer Annäherung und Etablierung im existierenden Interaktionsraum verkörpert die Continuity ihr Verständnis vor allem im Hinblick auf den für sie relevanten Aspekt der Zugänglichkeit zum Interaktionsraum und der ‘availability’ der Regisseurin. Der Prozess der schrittweisen Annäherung und Etablierung der Continuity im Interaktionsraum (Mondada 2007, Schmitt/ Deppermann 2007) der Regisseurin und dem Gaffer besteht aus drei verschiedenen Phasen: der Annäherung, der Verankerung und der Gesprächseröffnung. Annäherung 01 GA: IHR müsst wissen was ihr wollt, 02 RE: ja ich WEIß was ich will; 03 GA: und dann LEUCHT ich euch (auch). 04 RE: <<all> ich WEIß was ich will; > 05 RE: <<all> ich weiß auch dass du das LEUCHtest.> Parallel zur Äußerung << all >ich weiß auch dass du das LEUCHtest.> (Z. 05) der Regisseurin läuft die Continuity ( CO ) von links hinter dem Aufnahmeleiter vorbei ins Bild auf die im Vordergrund befindlichen Interaktanten zu. Ihr Blick ist dabei auf den Boden gerichtet. Simultan mit dem du der Regisseurin richtet das Continuity Girl ihren Blick kurz auf die Sprecherin (Abb. 31). <?page no="263"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 263 Schmitt_final 5 RE: <<all> ich weiß auch dass du das LEUCHtest.> Gleichzeitig zur Äußerung des Gaffers also insoFern; ihr müsst es nur WISsen. verlangsamt sie leicht ihren Gang und macht eine leichte, zögerliche Bewegung mit ihrem linken Bein. Sie geht dann sofort noch einen Schritt nach rechts auf die Regisseurin zu und tritt damit in deren Blickfeld. Ihr Blick ist bei dieser Bewegung auf den Gaffer gerichtet. Sie hat ihren Körper bei WAS? so positioniert, dass ihre Vorderseite der Regisseurin zugewandt ist (Abb. 32). 06 GA: (--) also insoFern; 07 GA: ihr müsst es nur WISsen. 08 RE: (-) WAS? Verankerung 09 GA: ihr MÜSST euch nur einigen. 10 RE: (-) ↑ JA? 11 (2.0) 12 GA: SEHR schön. 13 RE: (--) eine handkamera SO? 14 RE: eine handkamera SO, 15 RE: und FERtig. Abb. 31 Abb. 32 <?page no="264"?> Reinhold Schmitt 264 Schmitt_final Bei dem ↑ JA? der Regisseurin bewegt sie ihrem Blick vom Gaffer weg auf den Boden vor sich (Abb . 33). Sie nickt leicht und blinzelt mehrfach. Ihre Körperposition ist dabei statisch: sie ist sozusagen eingerastet (Kendon 1990), d.h. sie hat inzwischen für die Aufnahme fokussierter Interaktion ein stabiles Fundament, das sie bis zur Auflösung des Interaktionsraumes beibehält. 10 RE: (-) ↑ JA? Beginn des Gesprächs zwischen Regisseurin und Continuity 15 RE: und FERtig. 16 RE: (---) [und ZIT.] 17 CO: [MHM. ] 16 RE: (---) [ un d ZIT.] Simultan mit dem Äußerungsbeginn und ZIT platziert sie einen zustimmenden Rückmelder MHM., der etwas verzögert - und dadurch als ‘overlap’ - auf den Äußerungsabschluss der Regisseurin und FErtig. in Zeile 15 reagiert. Zusätzlich zu ihrer Rückmeldung nickt sie (Abb. 34), verstärkt also den Aspekt der positiven verbalen Rückmeldung in einer anderen Modalität. Die Regisseurin hat sich inzwischen vom Gaffer in Richtung Continuity weggedreht und blickt diese für einen kurzen Moment direkt an. Die Continuity schaut jedoch weiter auf den Boden vor sich. Abb. 33 Abb. 34 <?page no="265"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 265 Schmitt_final 18 RE: (-) und dann kann ich [ das SCHNEIden. ] 19 CO: [ich hatte gerade überlegt? ] Im Folgenden hebt die Continuity ihren Kopf etwas an, blickt dabei zwischen der Regisseurin und dem Gaffer in die Ferne (Abb. 35) und beginnt dann einen eigenen thematischen Beitrag mit der Äußerung ich hatte gerade überlegt? ob man irgendWIE-, die sie jedoch nicht zum Abschluss bringt. In diesem Teil verweist sie auf eigene Überlegungen, die sie als situativ entstanden (ich hatte gerade überlegt? ) charakterisiert. Sie startet ihre Äußerung zu einem Zeitpunkt, zu dem der Beitrag der Regisseurin sich noch in Progression befindet, wodurch es zu einer etwas längeren Überlappung mit dem Äußerungsabschluss der Regisseurin kommt. Bei dieser Überlappung handelt es sich - auf die Continuity bezogen - in gewisser Weise um einen ‘motivierten Frühstart’. Die Regisseurin hatte ihren Beitrag mit eine handkamera SO? eine handkamera SO, und dem daran anknüpfenden Fazit und FERtig. thematisch bereits erkennbar abgeschlossen. Dieser Eindruck wird auch durch die nachfolgende Pause (---) verstärkt. Im Sinne von Schegloff (1996, S. 90) realisiert sie dann aber mit und ZIT. eine ‘post completion’, die inhaltlich und pragmatisch keine neuen Relevanzen mehr etabliert. Bei dieser ‘post completion’ handelt es sich um die Wiederholung des Fazits und FERtig, wobei ZIT 26 als lautmalerisches Element FERtig substituiert. Diesem nachgeschobenen Element folgt erneut eine kurze Pause, ehe die Regisseurin eine zweite ‘possible post completion’ realisiert, die dann von der Continuity überlappt wird. Bereits die erste kurze Überlappung, bei der beide Sprecherinnen gleichzeitig starten, verdeutlicht die Orientierung der Continuity am Äußerungsabschluss der Regisseurin. Beim zweiten nachgeschobenen Element, als sie dieses als solchen erkennen kann, startet sie dann ihre eigene Äußerung. 20 CO: ob man irgendWIE- 21 CO: das DEtail woll ihr ja noch.= 26 Das und ZIT ist eine den Setmitarbeitern bekannte Abschlussformel der Regisseurin. Abb. 35 <?page no="266"?> Reinhold Schmitt 266 Schmitt_final 22 CO: da braucht [ihr IHN ja.] Mit dem Äußerungsteil ob man irgendWIEbeginnt sie das, was sie sich überlegt hat, inhaltlich zu formulieren. Interessant ist in diesem Teil die Referenz man, die unspezifisch auf ein Kollektiv verweist, sowie die Äußerungsmodalisierung irgendWIE-. Mit dieser werden ihre Überlegungen in ihrem Status als vage und vorläufig qualifiziert. Die Continuity bringt jedoch die inhaltliche Darstellung ihrer Überlegungen nicht zu Ende. Sie startet vielmehr neu mit das DEtail wollt ihr ja noch.= da braucht ihr IHN ja. Hier formuliert sie einen Aspekt, der seine Relevanz für einen zukünftigen Arbeitszusammenhang (einer ‘next action’) besitzt. Die Continuity formuliert hier ihr Wissen und ihre Erwartungen hinsichtlich der Handlungsorientierungen anderer (ihr), zu denen die Regisseurin als ihre aktuelle Adressatin gehört. Diese Erwartung wird durch das ja als unproblematisch modalisiert und die Grundlagen, auf der diese Erwartung formuliert wird, als fragloses und geteiltes Wissen. Die Modalität der fraglosen Sicherheit wird auch durch das Fehlen von Abschlussmarkierungen deutlich, die - etwa wie eine angehängte ‘tag-question’ - Bestätigungsbedarf signalisieren würden. 22 CO: [da braucht ihr IHN ja.] 23 RE: [das DEtail. ] 24 RE: da brauchen wir IHN. Die Äußerungsmodalität der fraglosen Sicherheit wird in der folgenden Äußerungsentwicklung beibehalten. Auch in da braucht ihr IHN ja . ist wieder ein ja mit fallender und unbetonter Intonation, diesmal als Abschluss integriert, das abermals keine Einladung zur Bestätigung der Richtigkeit des formulierten Inhaltes darstellt. Das ja fungiert hier als Modalpartikel und nicht etwa als ‘tag’ mit gesprächsorganisatorischen Implikationen. Der Inhalt wird vielmehr in deklarativer Weise formuliert und als bekannt vorausgesetzt. Gleichwohl Abb. 36 <?page no="267"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 267 Schmitt_final bietet die Continuity der Regisseurin durch die Sprechpause die Möglichkeit, auf das zuletzt Gesagte zu reagieren. Zu Beginn ihrer Äußerung (bei da) bewegt sie ihren Kopf kurz in Richtung Regisseurin, richtet ihren Blick jedoch weiterhin - wenn nun auch nicht mehr so deutlich - auf den Boden. So wie sie mit ihrer konkreten sprachlichen Realisierung (Äußerungsmodalisierungen, Markierung der Vagheit und Vorläufigkeit) ihre Initiative im Hinblick auf damit durch die Regisseurin implizierbare Forderungen oder Vorgaben freihält, so unterstreicht auch ihre Körperhaltung und ihre Blickorganisation, dass es sich tatsächlich um eine Überlegung, nicht jedoch um einen konkreten Vorschlag mit konkreten Handlungsimplikationen handelt. Dass sie ihre Äußerung an dieser Stelle nicht weiterführt, hat wohl auch damit zu tun, dass die Regisseurin in ihren Äußerungsabschluss hinein bereits verbal aktiv geworden ist. Sie reformuliert in Überlappung mit das DEtail genau den thematischen Aspekt, der für sie hinsichtlich des weiteren Arbeitsganges relevant ist. Die dann mit einem schnellen Anschluss erfolgende Reaktion der Regisseurin da brauchen wir IHN. (Z. 24) ist ein sehr weitgehendes, fast wörtliches Zitat der vorherigen Äußerung der Continuity. Bis auf die Personenreferenz, die sie - da sie selbst Teil des ihr ist - in wir ändern muss, will sie sich selbst nicht ausschließen, wiederholt sie mit übereinstimmender Akzentsetzung (IHN.) und fallender Schlussintonation die Partneräußerung. Die Regisseurin hat also die antizipatorische Initiative der Continuity hinsichtlich der Relevanz ihrer Überlegung bzw. ihres Zutreffens auch aus ihrer Sicht ratifiziert. Unklar ist jedoch, ob sich daraus - und wenn ja, welche - Handlungskonsequenzen für sie ergeben. Diese Frage der Handlungskonsequenzen hatte auch die Continuity offen gelassen, was sich im Zuschnitt ihrer Initiative als ‘Überlegung’ deutlich niederschlägt. Die Reaktionen der Regisseurin sind für die Continuity daher primär so zu verstehen, dass sie zu weiteren Ausführungen, Präzisierungen und Kontextualisierungen aufgefordert ist, aus denen sich dann konkrete Handlungskonsequenzen entwickeln könnten. 25 CO: braucht ihr IHN? Abb. 37 <?page no="268"?> Reinhold Schmitt 268 Schmitt_final Die Continuity wiederholt mit braucht ihr IHN? noch einmal ihre - von der Regisseurin als Zitat wiederholte - eigene Äußerung, wobei sie nunmehr auf das einleitende da und auf den Akzent auf IHN verzichtet. Sie behält dabei ihre Körperpositur und ihren Blick bei (Abb. 37), nickt lediglich kurz bei braucht. 26 CO: ob der ob er REINtritt und sich den ranzen nimmt. Im Folgenden formuliert sie dann das Ergebnis ihres zurückliegenden Nachdenkens als vorsichtigen Vorschlag, wie die Regisseurin beim Dreh des Details, das noch ansteht, vorgehen könnte. Das Detail war bereits beim gemeinsamen Ansehen der Videoaufnahme Thema zwischen der Regisseurin und der Continuity gewesen. Jetzt zeigt sich, dass die Continuity ihre Überlegungen in den Rahmen der in ihrer Eingangsäußerung angelegten syntaktischen Struktur ich hatte gerade überlegt? ob man irgendWIEeinpasst. Der jetzige Vorschlag substituiert - auf der Grundlage der syntaktischen Einpassung - den Teil ob man irgend- WIE- und präzisiert diesen dadurch. Der Verweis auf das Detail erhält durch diese syntaktische Integration den Status einer Insertion. 27 o’ aber das kann sie wahrscheinlich nicht 28 MITschwenken ne? 29 (1.8) Der Vorschlag wird sofort hinsichtlich seiner kameratechnischen Realisierbarkeit im Rahmen des zuvor besprochenen erneuten Drehs (das DEtail wollt ihr ja noch.) der am Videomonitor angeschauten Einstellung problematisiert aber das kann sie wahrscheinlich nicht MITschwenken ne ? . Diese Problematisierung wird mit dem adversativen Konnektor aber, eingeleitet, der hier in erster Linie Diskontinuität der thematischen Relevanzen signalisiert. Die Fraglichkeit der Realisierung ihres Vorschlags kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass die Continuity - beginnend mit REINtritt (Z. 26) bis einschließlich der Problema- Abb. 38 <?page no="269"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 269 Schmitt_final tisierungsindizierung mit aber (Z. 27) mehrfach leicht mit den Achseln zuckt und ebenfalls leicht den Kopf schüttelt. Und auch ihre Mimik drückt ihren Zweifel an der Machbarkeit ihres Vorschlags aus: Zum Gaffer blickend beißt sie sich in der Pause (1.8) auf die Unterlippe und kneift ihre Augen etwas zusammen, was den Eindruck von Nachdenklichkeit erweckt. Der von der Continuity unterbreitete Vorschlag bezieht sich auf eine noch zu drehende Einstellung, in der ein Schulranzen, der auf dem Gepäckträger des Fahrrades geklemmt ist, gefilmt werden soll. Die Continuity schlägt konkret Folgendes vor: Das Detail soll im Rahmen der nächsten Einstellung, bei der der Gang eines Schauspielers als ‘ POV’ (‘perspective of view’) mit einer Handkamera realisiert werden soll, gleich mitgedreht werden. Dass diese ‘ POV’ als relevanter nächster Arbeitsschritt im Rahmen des übergeordneten ‘joint project’ ansteht, hat eine konkrete Vorgeschichte, die als relevante retrospektive Gründung des Vorschlags eine zentrale Rolle spielt. Diese Geschichte besteht a) aus der gemeinsamen Interaktion im Zusammenhang mit dem Anschauen der Szene am Videomonitor, b) dem Gespräch der Regisseurin mit der Kamerafrau und c) der nachfolgenden Unterhaltung der Regisseurin mit dem Gaffer über diese Szene. Der Vorschlag der Continuity verfügt also über unterschiedlich retrospektive Anker. Er nutzt diese interaktive Vorgeschichte, in der sie selbst bereits am Videomonitor das Detail (den Ranzen) thematisiert hatte, als relevanten Kontext und als Legitimation für ihre antizipatorische Initiative. Hinsichtlich der antizipatorischen Implikationen ihres Verhaltens wird Folgendes deutlich: Erstens macht sich die Continuity Gedanken, wie die Regisseurin bei dem erneuten Dreh der am Videomonitor betrachteten Szene das Detail integrieren könnte. Die Voraussetzungen dafür, dass sie diesen Vorschlag überhaupt machen kann, liegen in ihrem kontinuierlichen Monitoring des Verhaltens der Regisseurin, seit diese den Videoraum verlassen hat, um mit der Kamerafrau und anschließend dem Gaffer zu sprechen. Erst im Rahmen dieser Gespräche wurde die Entscheidung getroffen, die Einstellung mit einer anderen Kamera noch einmal zu drehen. Zweitens ist bereits die Tatsache, dass sie sich zum ‘richtigen’ Zeitpunkt in der Peripherie des Interaktionsraumes etabliert, den Regisseurin und Gaffer gemeinsam um das Fahrrad herum konstituiert haben, Ausdruck antizipatorischen Verhaltens. Dass sie der Regisseurin nicht bereits zur Kamerafrau gefolgt ist, hat seine Grundlage in dem Wissen um relevante Ablaufstrukturen <?page no="270"?> Reinhold Schmitt 270 Schmitt_final und den Implikationen, den die zielbezogene Kooperation bestimmter Funktionsrollen (hier Regie und Kamera) im Hinblick auf die Zugänglichkeit dieser Interaktion für andere Funktionsrollen besitzen. Der zentrale Punkt ist jedoch ein arbeitsorganisatorischer. Erst nachdem die Regisseurin im Gespräch mit dem Gaffer nochmals ihre mit der Kamerafrau getroffene Entscheidung, die Einstellung mit der Handkamera zu wiederholen, formuliert hat, sind die Voraussetzung für die erfolgreiche Realisierung der antizipatorischen Initiative der Continuity gegeben. Drittens ist die konkrete sprachliche Realisierung des Vorschlags aufschlussreich. Sie qualifiziert zum einen den Beitrag als antizipatorische Initiative, zum anderen aber macht sie deutlich, dass mit der antizipatorischen Initiative für die Continuity gewisse Risiken verbunden sind. Dieser letzte Punkt verweist darauf, dass unter den gegebenen organisationsstrukturellen und arbeitsteilig-hierarchischen Bedingungen, die die Kooperation zwischen Regisseurin und Continuity regeln, antizipatorische Initiativen der oben analysierten Art (Vorschlag, der in den Zuständigkeitsbereich der Regisseurin eingreift) nicht ganz unproblematisch sind. Um die antizipatorische Initiative - und die damit für die ‘next action’ verbundenen positiven Implikationen (zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, indem das Detail gleich mitgedreht wird) - überhaupt realisieren zu können, produziert die Continuity eine Äußerung mit einem spezifischen ‘recipient design’ (Sacks/ Schegloff/ Jefferson 1974, S. 727; Schmitt/ Deppermann 2009). Dieses ‘design’ trägt sowohl dem Status der Rezipientin (= Regisseurin) als auch ihrem eigenen (= der Regisseurin zu- und untergeordnete Mitarbeiterin) in mehrfacher Weise Rechnung. Die zurückliegende Analyse hat diesbezüglich folgende Aspekte deutlich gemacht: Der Vorschlag als zentrales Element der antizipatorischen Initiative wird explizit und durchgängig als Aushandlungsgegenstand angeboten. Die Initiative wird als Überlegung realisiert, nicht aber als Vorschlag oder gar Aufforderung. Zur Abschwächung möglicher konditionell relevanter Implikationen wird der Vorschlag durch die sofortige Problematisierung seiner kameratechnischen Machbarkeit in seiner Relevanz zurückgestuft. Die Initiative etabliert sehr offene Anschlussimplikationen, die die Entscheidung, was mit der Überlegung passieren soll, vollständig von der Regisseurin abhängig macht. Insgesamt wird eine Orientierung erkennbar, alles zu vermeiden, was die Regisseurin als Eingriff in ihren Zuständigkeitsbereich (oder gar als Übergriff) missverstehen könnte. <?page no="271"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 271 Schmitt_final 30 RE: ÄH: - 31 da: s WEIß ich nicht. 32 ERST mal, 33 RE: LASS uns einfach- 34 CO: o[KAY; ] In ihrer Antwort reagiert die Regisseurin auf zwei unterschiedliche Aspekte: Zum einen verdeutlicht sie mit da: s WEIß ich nicht., dass sie die Frage, bezüglich der Kamerafrau aber das kann sie wahrscheinlich nicht MITschwenken ne? (Z. 27-28), nicht beantworten kann. Zum anderen stellt sie die Relevanz dieser Frage mit ERST mal, LASS uns einfachzurück. Auch wenn sie ihre Äußerung zunächst nicht weiterführt, wird dennoch ihre eher ablehnende Haltung hinsichtlich des Vorschlags der Continuity deutlich. Die Regisseurin hat bei ihrer Antwort ihren Kopf in Richtung Fahrrad gedreht und auch ihre Hand in diese Richtung ausgestreckt, wobei ihr Unterkörper in der bisherigen, auf die Continuity ausgerichteten Position verbleibt. Die Continuity hat inzwischen ihren Blick von der Regisseurin gelöst und blickt nun hinter ihr vorbei in die Richtung, in der der Kamerawagen steht. Beide sind also inzwischen bereits projektiv orientiert: Die Regisseurin auf das Fahrrad, das gefilmt werden wird, die Continuity auf den Kamerawagen und die Kamera, mit der das Fahrrad gefilmt werden wird (Abb. 39). 34 CO: o[ KAY; ] Abb. 39 Abb. 40 <?page no="272"?> Reinhold Schmitt 272 Schmitt_final Betrachtet man die Reaktion der Continuity auf das Verhalten der Regisseurin, fällt vor allem das sehr frühe, zustimmende oKAY; auf (Z. 34), mit der sie der noch nicht zu Ende formulierten Entscheidung der Regisseurin zustimmt. Die Continuity blickt bei dieser positiven Rückmeldung kurz zur Regisseurin, behält sonst jedoch ihre Körperpositur unverändert bei (Abb. 40). Klar ist jedoch zu diesem Zeitpunkt bereits, dass die Regisseurin ihren eigenen Relevanzen folgt und sich dabei nicht mit der Frage der kameratechnischen Machbarkeit auseinandersetzt (ÄH: da: s WEIß ich nicht .). Aufgrund des Äußerungsstarts, mit der die Regisseurin die kurze Sprechpause beendet (ERST mal,) und der Weiterführung LASS uns einfachkann die Continuity jedoch zu diesem Zeitpunkt bereits erkennen, dass die Regisseurin die beiden Einstellungen unabhängig voneinander drehen will. Die Continuity bestätigt ihre Zustimmung zur Entscheidung der Regisseurin zum Abschluss der Unterhaltung mit mhm, (Z. 39) und ↑ oKAY. (Z. 40) noch zweimal. 35 RE: [dieses] diesen [(diesen); ] 36 CO: [und das dann ABsetzen] 37 RE: ABsetzen? 38 RE: [lass] es uns jetzt AB[setzen.] 39 CO: [gut.] [mhm, ] 40 <<h, singend> ↑ oKAY.> 39 CO: [gut.] [mhm, ] 40 <<h, singend> ↑ okay 41 [(2.5)] Bereits bei ihrer zweiten Rückmeldung mhm; (Z. 39, Abb. 41) zeigen sich deutliche Auflösungserscheinungen des Interaktionsraums: Der Gaffer ist im Begriff aufzustehen; die Continuity ist noch deutlicher als bereits zuvor mit ihrem Blick in einem anderen Bereich des Schauplatzes und auch die Regis- Abb. 41 <?page no="273"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 273 Schmitt_final seurin hat ihren Blick vom Fahrrad abgewandt und blickt an der Continuity vorbei in die Ferne. Alle drei sind also körperlich mehr oder weniger deutlich selbstbezogen koordiniert, obwohl die Regisseurin und die Continuity verbal noch aufeinander orientiert sind. Wenn man die spezifische sprachliche Realisierung der antizipatorischen Initiative der Continuity unter einer hierarchiereflexiven Perspektive betrachtet, kann man nicht nur das gewählte Format und die konkrete sprachliche Form, sondern auch ihre Körperpositur und ihre Blickorganisation als kommunikative Selbstbeschränkung und damit als typisches Verhalten von Untergebenen gegenüber Vorgesetzten oder Statushöheren beschreiben (Schmitt/ Heidtmann 2002). Hinsichtlich der antizipatorischen Initiative reflektiert die kommunikative Selbstbeschränkung die Risiken, die mit diesem Verfahren im Rahmen der organisationsstrukturellen Bedingungen des Handlungsfeldes Filmset und speziell hinsichtlich der Kooperation zwischen Continuity und Regisseurin verbunden sind. Konkret bestehen die Risiken darin, dass eine solche Initiative Gefahr läuft, als Vor- und Übergriff in den zuständigen Autonomie- und Entscheidungsbereich der Regisseurin verstanden zu werden. Die oben beschriebenen sprachlichen Verfahren sind Ressourcen, die zur Bearbeitung genau dieser Risiken eingesetzt werden. 6.1.2 Nonverbale antizipatorische Initiativen Ich wende mich im Folgenden einer Verfahrensrealisierung zu, die sich von den bisher präsentierten Fällen unterscheidet. Die Unterschiede betreffen zum einen die modalen Ressourcen, die zur Realisierung der antizipatorischen Initiativen eingesetzt werden, zum andern die unmittelbare interaktive Relevanz der antizipatorischen Initiative. Die bislang analysierten Beispiele antizipatorischer Initiativen hatten als gemeinsames Merkmal Verbalität als zentrale Vollzugsmodalität und Realisierungsvoraussetzung. Die analysierten Verfahren wurden zwar nicht ausschließlich verbal realisiert, sondern hatten auch andere Modalitätsanteile. Ohne die verbalen Aktivitäten hätten jedoch weder die beiden Aufnahmeleiter, noch die Continuity ihr Verstehen - in für die aktuelle Situation und bezogen auf die übergeordneten Relevanzen adäquater und funktionaler Weise - dokumentieren können. Die antizipatorischen Initiativen hatten zudem für die etablierte, aktuelle Interaktion unmittelbare Konsequenzen: Sie waren nicht nur Bestandteil der Interaktion, sondern standen im Fokus derselben. In dem <?page no="274"?> Reinhold Schmitt 274 Schmitt_final folgenden Beispiel hingegen sind die eingesetzten Ressourcen nicht verbaler Natur und die antizipatorische Initiativen ist nicht nur kein unmittelbarer Bestandteil der Interaktion, sondern bleibt für die aktuelle Interaktion unmittelbar folgenlos. Antizipatorische Initiativen werden nicht nur verbal, sondern auch vollständig in anderen Modalitäten realisiert. Bei genauem Hinsehen zeigt sich sogar, dass die nicht-verbale Realisierung des Verfahrens systematisch und mit hoher Rekurrenz von sehr unterschiedlichen Setmitarbeitern vollzogen wird. Diese nicht-verbalen Verstehensdokumentationen werden in der Regel ohne erkennbare Relevanzmarkierungen in den Vollzug kooperativer Handlungen inkorporiert und stellen genau in dieser Form und ihrer systematischen Rekurrenz eine der zentralen Grundlagen der gemeinsamen Arbeit am Set dar. Ohne den permanenten, in der Regel unauffälligen und für den Außenstehenden kaum wahrnehmbaren Vollzug kontinuierlicher antizipatorischer Initiativen würde die Kooperation am Set zusammenbrechen. Man kann - und dies ist keine Übertreibung - sagen, dass der Beitrag, den die meisten Setmitarbeiter zum ‘joint project’ leisten, antizipatorische Qualität besitzt. Eine grundsätzliche antizipatorische Orientierung ist für die eigenständige Arbeitsorganisation aufgrund der hierarchischen und arbeitsteiligen Zusammenarbeit eine wesentliche Voraussetzung für die reibungslose und ökonomische Kooperation vieler Mitarbeiter und Funktionsteams auf engem Raum. Die Qualität eines Verhaltens als nonverbale Realisierung des Dokumentationsverfahrens zeigt sich daher primär in vermittelter Weise darin, dass ein Setmitarbeiter eine für die Realisierung des ‘joint project’ funktionale und notwendige Aktivität, für die er aufgrund seiner Funktionsrolle zuständig ist, zum richtigen Zeitpunkt, mit dem richtigen Zuschnitt, auf der Basis einer grundlegenden Ökonomieorientierung und in der richtigen Modalität realisiert. Indem die einzelnen Setmitarbeiter ihre Funktionsrolle professionell ausfüllen, produzieren sie kontinuierlich ein fein gewebtes Netz nonverbaler Verstehensdokumentationen des Typs ‘antizipatorische Initiative’. Ich werde nachfolgend ein Beispiel für eine solche unauffällige nonverbale Verfahrensrealisierung präsentieren, um exemplarisch einen Einblick in die Vollzugsspezifik dieser Verfahrensrealisierung zu vermitteln und ihren unauffälligen und scheinbar beiläufigen Status für die Bearbeitung der aktuellen Kooperationsanforderungen zu verdeutlichen. <?page no="275"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 275 Schmitt_final Beispiel 4: Kameraassistent #4 Kameraassistent (Set-UG/ 20/ 02/ 04/ Take-03-RS) Zum Kontext: Das Beispiel stammt aus einer Sequenz, die im folgenden Kapitel (6.2) im Detail analysiert wird. Im Kontext der Klärung, wie eine Einstellung kameratechnisch umgesetzt werden soll, löst sich die Kamerafrau aus der Interaktionsdyade mit der Regisseurin, um ihr durch den konkreten Einsatz der Kamera, die auf dem Kamerawagen montiert ist, zu zeigen, wie sie sich die Kamera in Aktion vorstellt. Die Regisseurin begibt sich, als die Kamerafrau bereits ihren Wagen erklommen hat, zum Videomonitor, um die Kamerabewegung dort verfolgen zu können. Diesem Ereignis geht bereits eine längere Aushandlung über die beste kameratechnische Lösung voraus, an der ausschließlich die Regisseurin (RE) und die Kamerafrau ( KA ) beteiligt waren. Obwohl niemand aus der dreiköpfigen Kameracrew, die die Kamerafrau bei ihrer Arbeit unterstützt, in diese Aushandlung involviert war, ist genau zu dem Zeitpunkt, als er gebraucht wird, der für die Führung des Videokabels zuständige Assistent zur Stelle. Er hat das Kabel ergriffen, welches die Kamera mit dem Videomonitor verbindet, um es bei der zu erwartenden Bewegung der Kamera nach vorne nachzuführen und so gegen Einklemmen zu sichern. Schauen wir uns die Annäherung und Etablierung des Kameraassistenten im Interaktionsraum an und fragen wir nach den Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit er genau zu dem Zeitpunkt und an dem Ort erscheint, an dem er gebraucht wird. 74 KA: das wäre dann richtig was vom staTIV, 75 einfach nur lange BRENNweite- 76 ein fester STAND, 77 KA: und du [(bist ran)] 78 RE: [NEIN lucy.] Sehr deutlich ist die Gleichzeitigkeit zweier Bewegungen: Unmittelbar nachdem die Kamerafrau sich in Richtung Kamerawagen in Bewegung setzt, beginnt auch die Annäherung des Assistenten. Dieser (mit weißer ärmelloser Weste und in Abb. 43 in Rückenansicht) orientiert sich von rechts kommend zum Kamerawagen (Abb. 42-43). Diese Bewegung reagiert auf die Bewegung der Kamerafrau (nur im ersten Bild teilweise am rechten Rand zu sehen), die ihrerseits auf den Hinweis der Regisseurin fahr en stück RAN. (Z. 79) reagiert. <?page no="276"?> Reinhold Schmitt 276 Schmitt_final 79 RE: fahr en stück RAN. 80 RE: (-) A ber; 81 <<h> eben erst FEST? > 82 und dann RAN. Kurze Zeit später ist der Kameraassistent bereits in unmittelbarer Nähe des Kamerawagens angelangt (Abb. 44) und ergreift, noch bevor die Kamerafrau ihre Demonstrationsfahrt mit der Kamera beginnt, mit seiner rechten Hand das Videokabel, um es der Bewegung der Kamera nachzuführen (Abb. 45). 83 ( 1.5/ 4.5) 27 83 ( 1.7/ 4.5) 27 Die Angabe „(1.5/ 4.5)“ bedeutet, dass das Standbild das Geschehen nach 1.5 Sekunden der insgesamt 4.5 Sekunden andauernde Sprechpause zeigt. Abb. 42 Abb. 43 Abb. 44-45 <?page no="277"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 277 Schmitt_final Der Kameraassistent hat mit dieser Aktion eine antizipatorische Initiative realisiert, die auf dem kontinuierlichen Monitoring der situativen Interaktionsentwicklung basiert. Es wird deutlich, dass er sich als einziger der Setmitarbeiter und auch der Kameracrew als mit-adressiert verstanden hat und sich selbst - relativ zu den praktischen Belangen und Anforderungen der aktuellen Kooperation - als relevanter Beteiligter definiert. Als solcher stellt er fraglos und ohne erkennbare Orientierung auf die Interaktion zwischen Regisseurin und Kamerafrau (kein Blickkontakt, sein Augenmerk gilt ausschließlich dem Kameraequipment) seine spezifischen Kompetenzen in den Dienst der Aushandlung zwischen Regisseurin und Kamerafrau. Aus einer multimodalen Perspektive werden also auch hinsichtlich des Erkenntnisinteresses an Verstehensdokumentationen nicht nur die klassischen Beteiligungsrollen von Sprecherin und Hörerin relevant und analysierbar. Vielmehr wird deutlich, dass auch in diesem spezifischen Erkenntniszusammenhang immer das ganze Interaktionsensemble (Schmitt i.Vorb.b) stehen muss, will man wesentliche interaktionskonstitutive Aspekte nicht übergehen. Die Videoaufnahme macht deutlich, dass der Kameraassistent die aktuelle Interaktionsentwicklung online so analysiert und versteht, dass sie sein Eingreifen und seine Mitwirkung in spezifischer Weise erfordert. Nur formuliert er dieses Verständnis nicht, sondern realisiert die für ihn als Inhaber einer spezifischen Funktionsrolle daraus resultierenden Handlungen. Diese führt er kontextsensitiv, das heißt unter Berücksichtigung der aktuellen interaktionsstrukturellen und interaktionsdynamischen Relevanzen aus: Er ist da, wo er gebraucht wird; hält sich aber jenseits seiner situativen ‘Dienstleistung’ für die Kamerafrau deutlich zurück. Gleichwohl wäre die Kamerafrau ohne seine Unterstützung nicht (zumindest nicht ohne weiteres) in der Lage, die beabsichtigte Kamerabewegung zu realisieren und damit ihrerseits genau die Form von Verstehensdokumentation zu realisieren, die im nächsten Kapitel als ‘probeweise Konzeptrealisierung’ analysiert wird. 6.1.3 Fazit 6.1.3.1 Falltranszendierende Gemeinsamkeiten Die analysierten verbal realisierten antizipatorischen Initiativen lassen sich als spezifisches Verfahren der Verstehensdokumentation wie folgt charakterisieren: <?page no="278"?> Reinhold Schmitt 278 Schmitt_final Inkorporierung verstehensindikativer Verweise In allen Beispielen sind die verstehensreflexiven Hinweise in den verstehensindikativen Äußerungen auf spezifische Weise realisiert. Die Tatsache, dass für den Interaktionsteilnehmer Aspekte des Verstehens lokal relevant sind, werden nicht expliziert (etwa durch den Gebrauch verstehensindikativer Verben wie „verstehen“, „begreifen“ etc.). Die verstehensbezogene Relevanz des interaktiven Verhaltens muss also vom Produzenten auf andere Art so kenntlich gemacht werden, dass andere Teilnehmer aufgrund der Spezifik des Handlungsvollzuges (Platzierung, Äußerungsstruktur, kontextreferentielle Verweise, re-fokussierende Lexik etc.) diese erschließen können. So liefert die Verstehensmanifestation der ersten beiden Beispiele sprachliche Hinweise auf spezifische Verstehensobjekte (Probe in Beispiel 1 und 2, Detail in Beispiel 3), die sich aufgrund ihrer Unauffälligkeit und permanenten Präsenz als relevanter Aspekt der Kooperation eher der Aufmerksamkeit entziehen, als dass sie sich in den Vordergrund drängen würden. Dabei kann leicht übersehen werden, dass genau damit relevante Verstehensobjekte formuliert und die Setmitarbeiter zu spezifischen Verstehensleistungen und daraus resultierenden Handlungskonsequenzen aufgefordert werden. Kontextualisierungs- und Legitimierungsnotwendigkeit Die Verstehensdokumentation reagiert nicht auf eine unmittelbar zuvor etablierte konditionelle Relevanz, sondern erfolgt als selbstbestimmte Entscheidung eines Interaktionsbeteiligten. Der für die Sequenzpaar-Konstitution grundlegende Mechanismus mit seinen weitreichenden Implikationen für die Erklärung des reaktiven Zuges als Erfüllung der im initiativen Zug angelegten Projektion entfällt also in diesem Fall als primäre Erklärung (Deppermann/ Schmitt i.Vorb.). An dessen Stelle tritt nunmehr die Rekonstruktion äußerungs- oder verhaltensstruktureller Hinweise auf die in der zurückliegenden Interaktion liegenden Bezugsanker der Verstehensdokumentation. Aufgrund des Wegfalls der Relevanz des für die Verstehensdokumentation unmittelbar vorgängigen sequenziellen Kontextes wird der Ausweis des relevanten Kontextes für die Verstehensdokumentation für die Produzenten selbst zum interaktiven Problem. Spuren der Bearbeitung dieses Problems sind die verstehensbezogenen Absicherungen und Legitimationen. Dabei stellen sich die Ressourcen der Bearbeitung dieses interaktiven Problems für unterschiedliche Beteiligte auch durchaus unterschiedlich dar. Die Aufnahmeleiter in Beispiel 1 und 2 finden aufgrund ihrer ablaufbezogenen Zuständigkeit und dem <?page no="279"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 279 Schmitt_final allgemeinen Wissen aller Setmitarbeiter eine durch den Arbeitsablauf immer schon präparierte systematische Umgebung für ihre antizipatorische Initiativen vor. Demgegenüber muss die Continuity durch geeignete Mittel (hier zentrale Begriffe, Konzepte) den relevanten Kontext ihrer Initiative für die Regisseurin explizit verdeutlichen. Als mittelbarer Bezugspunkt verliert der unmittelbare sequenzielle Kontext jedoch nicht vollständig seine Bedeutung. Vielmehr kommt er bei ‘antizipatorischen Initiativen’ in einer etwas anderen Hinsicht zur Geltung. Der vorgängige Partnerbeitrag wird dabei nicht mehr hinsichtlich seiner Implikationen befragt, die er für die Verstehensdokumentation besitzt. Stattdessen kommen allgemeine interaktionsstrukturelle Implikationen, die er für den selbstinitiierten Beitrag mit seiner thematisch-pragmatischen Spezifik eröffnet (im Sinne allgemeiner Platzierungs- und Anschlussmöglichkeiten) in den Blick. Bei einer solchen sequenziellen Rekonstruktion rücken also eher Fragen der thematischen Kontinuität und Diskontinuität (im Sinne der Abgeschlossenheit vorangehender Handlungs- und Themenkomplexe (in Beispiel 3) oder der pragmatischen Passung im Sinne eines konsequenten Anschlusshandelns (Beispiel 1, 2, 4)) und der gemeinsamen Bedeutung beider Beiträge im Kontext übergeordneter Relevanzen in den Blickpunkt. Organisationsstrukturelle Bedingtheit und Funktionalität Zu den wesentlichen Aspekten, die als Hintergrund und Grundlage der antizipatorischen Initiativen relevant sind, gehören neben der - in den Daten selbst repräsentierten - Relevanz interaktiver Vorgängigkeit (Interaktionsgeschichte) auch Aspekte der interaktionsvorgängigen Organisationsstruktur (Arbeitsteilung, hierarchische Funktionsrollen etc.). Hier spielt vor allem die detaillierte Arbeitsteilung mit ihren funktionsrollenspezifischen Zuständigkeiten, Abhängigkeiten und Verantwortlichkeiten eine zentrale Rolle. Man muss - in Begriffen organisationsstruktureller Relevanz - wissen, wer zu welchem Zeitpunkt mit welchem Anliegen mit wem interagiert bzw. im Sinne übergeordneter Relevanzen überhaupt sinnvollerweise interagieren kann. In der Regel lassen sich die verstehensindikativen Implikationen des interaktiven Vollzuges in hinreichender Weise aus dem dokumentierten Verhalten der Beteiligten selbst rekonstruieren. Für die Einschätzung der verstehensindikativen Relevanz der anderen Aspekte ist hingegen profundes Wissen über die Ordnungsstrukturen des Sets als Arbeitsplatz notwendig. Dieses lässt sich nur durch die verschiedensten Verfahren des ethnografischen Zugangs gewinnen. <?page no="280"?> Reinhold Schmitt 280 Schmitt_final Strukturelle Gefährdung Antizipatorische Initiativen machen aufgrund ihrer relativen sequenzstrukturellen Autonomie die explizite Kontextualisierung der Verstehensdokumentation und deren Legitimierung notwendig (lediglich in Beispiel 4 wird darauf verzichtet). Vor allem die Art und Weise, wie diese beiden Anforderungen bearbeitet werden, eröffnet Einblicke in den Zusammenhang von Verstehen in der Interaktion und den für Verstehen relevanten sozialstrukturellen Bedingungen. Das Continuity-Beispiel zeigt in prototypischer Ausprägung diesen Zusammenhang von Verstehen und sozialstrukturellen Aspekten (hier: Organisations- und Rollenstruktur). Dieser sozialstrukturelle Aspekt motiviert sowohl die Tatsache, dass es die Continuity ist, die hier antizipatorisch initiativ wird, als auch die Art und Weise, in der sie dies tut. Der letzte Punkt wird besonders deutlich an der Explizitheit der anfänglichen Re-Kontextualisierung und Re-Fokussierung, mit der die Continuity einen Aspekt der weit zurückliegenden, vorgängigen interaktiven Relevanz (das Detail, das Namensschild) als für den weiteren Fortgang des ‘joint projects’ bedeutsam zur Sprache bringt. Die explizite Kontextualisierungsanforderung entspringt der Notwendigkeit, die antizipatorische Initiative als sinnvolle und funktionale Aktivität im Rahmen des ‘joint project’ und der (un-)mittelbar anstehenden Aufgaben auszuweisen und dadurch der Regisseurin verständlich zu machen, dass die Continuity - als Bestandteil ihrer Aufgaben - für sie denkt. Die Notwendigkeit der Legitimierung der Initiative entspringt also der Notwendigkeit, die Initiative als Ausdruck genau der rollenspezifischen Arbeitsteilung zu charakterisieren, in der sich die Verantwortung der Funktionsrolle Continuity realisiert, und nicht als Übergriff in die Zuständigkeit der Regisseurin. Handlungsfeldspezifische Reflexivität und Relevanz Das Beispiel zeigt den Zusammenhang von grundlegenden Strukturen des professionellen Handlungsfeldes und den mit den feldspezifischen Kernanforderungen zusammenhängenden Anforderungsprofilen an die Beteiligten und der Art und Weise, in der Verstehen empirisch manifest wird. Bei der Bearbeitung des Profils schauplatzspezifischer Verstehensanforderungen ist fast immer mehr als nur Sprache relevant, wobei umgekehrt Sprache für die Organisation und das Verstehen von Abläufen konstitutiv ist (Beispiele 1-4). Bei dem ablaufbezogenen Anforderungsprofil kommt es primär darauf an, zu verstehen, was die augenblickliche Konstellation in dem Bereich, dem sie durch ihre <?page no="281"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 281 Schmitt_final Funktionsrolle arbeitsteilig zugeordnet ist, für die Organisation der eigenen Arbeit bedeutet und welche Verhaltensmöglichkeiten oder Verhaltenserwartungen sich daraus ergeben. Aufgrund der Professionalität, zu der auch das Wissen um die Zuständigkeiten der anderen Funktionsrolle gehört, und aufgrund der Übersichtlichkeit der kleinteiligen Arbeitsteilung und Zuständigkeiten, gibt es in diesem Anforderungsbereich keinen Anlass für kernaktivitätsbezogene explizite Verstehensthematisierungen. Was jedoch systematisch zu beobachten ist, sind Verstehensdokumentationen des Typs ‘antizipatorische Initiative’, mit denen Träger von Funktionsrollen als Bestandteil ihrer Funktionsrolle für andere Funktionsrollenträger und im Dienste des übergeordneten ‘joint project’ Handlungsgelegenheiten schaffen. 6.1.3.2 Strukturelle Eigenschaften des Verfahrens 28 Antizipatorische Initiativen sind eine spezifische Form kommunikativer Praktik, bei der es sich um selbstbestimmte kooperative Aktivitäten handelt, die einen Beitrag zu einer ‘next action’ als Teil der Realisierung eines übergeordneten ‘joint project’ beitragen. Das gemeinsame übergeordnete Projekt ist bereits etabliert und durch vorangegangene Aktivitäten anderer Beteiligter vorangetrieben worden. Anders jedoch als bei der projektiven Sequenzkonstitution werden antizipatorische Initiativen nicht durch konditionell relevante Vorgängeraktivitäten als Folgeaktivität projiziert. Antizipatorische Initiativen können sowohl verbal als auch in anderen Modalitäten realisiert werden; sie können zentraler Bestandteil einer fokussierten Interaktion sein oder als für die aktuelle Interaktion nicht oder nur mittelbar relevante Aktivitäten in einem anderen Diskurszusammenhang. Sie können darüber hinaus von den Interaktionsbeteiligten wahrgenommen werden oder sie werden ohne Beachtung vollzogen. Sie können von Interaktionsbeteiligten einer fokussierten Interaktion (beispielsweise von ‘by-standers’/ ‘overhearers’) realisiert werden, die zwar Handlungen zur Bearbeitung des ‘joint projects’ vollziehen, aber selbst nicht Teil einer fokussierten (verbalen) Interaktion sind. Antizipatorische Initiativen verfügen über eine erkennbare sozialstrukturelle Implikation: Sie werden typischerweise von Inhabern hierarchisch untergeordneter Funktionsrollen vollzogen, die damit auf Verhaltensweisen hierarchisch Übergeordneter reagieren und für deren zukünftigen Handlungsmöglichkeiten einen vorbereitenden und absichernden Beitrag leisten. Antizipatorische Initia- 28 In Kapitel 6.1.3.2-6.1.3.4 referiere ich Ergebnisse, die aus gemeinsamen Analysen und Diskussionen mit Arnulf Deppermann hervorgegangen sind und die in schriftlicher Form in Deppermann/ Schmitt (2008) und Deppermann/ Schmitt (i.Vorb.) festgehalten sind. <?page no="282"?> Reinhold Schmitt 282 Schmitt_final tiven basieren auf Retrospektiv-prospektiv-Interpretationen (vgl. Cicourel 1974; Garfinkel 1967), die sich in der Regel auf komplexere und größere interaktive Zusammenhänge beziehen. Antizipatorische Initiativen weisen - bezogen auf ihre retrospektiv-prospektive Charakteristik - folgende formale Eigenschaften auf: - kontinuierliches Monitoring des Verhaltens relevanter Fokuspersonen und der Interaktionen, in der sie involviert sind; - die retrospektive Interpretation aktueller lokaler Aktivitäten im Hinblick auf deren Implikationen für den weiteren Fortgang der kooperativen Interaktion; - die prospektive Orientierung auf ein ‘joint project’, das durch zurückliegende Partneraktivitäten relevant und erkennbar gemacht worden ist; - die selbstbestimmte Realisierung einer nächsten Handlung, die einen Beitrag für das ‘joint project’ leistet und die auf dem kollektiven Wissen um die funktionsrollenspezifische Zuständigkeiten, Aufgaben und Kompetenzen der Beteiligten basiert und um die existierenden Abhängigkeiten derjenigen Handlungsschritte, die benötigt werden, damit das ‘joint project’ realisiert werden kann. 6.1.3.3 Zur aktuellen interaktiven Relevanz des Verfahrens Kommen wir nun zu dem Aspekt der unmittelbaren interaktiven Relevanz und Folgenhaftigkeit der analysierten antizipatorischen Initiativen zurück, der bereits verschiedentlich angeklungen ist. Diesbezüglich unterscheiden sich die verbalen von den nichtverbalen Realisierungen. Im ersten Fall ist die zielorientierte Verfahrensrealisierung ein unmittelbarer Beitrag zur aktuellen Interaktion und zudem eindeutig an das Medium der Verbalität gebunden, beim Kameraassistenten im letzten Beispiel hingegen nicht. Seine antizipatorische Initiative ist kein Beitrag, der in die aktuelle Interaktion zwischen Regisseurin und Kamerafrau eingreift. Sie ist zudem nicht in der verbalen Modalität realisiert. Gleichwohl besitzt sie Implikationen für die aktuelle Interaktion zwischen Regisseurin und Kamerafrau. Seine Initiative ist unmittelbar subsidiär für die Absicht der Kamerafrau, der Regisseurin die kameratechnische Umsetzung zu demonstrieren. Ohne selbst an der Bearbeitung dieser Aufgabe aktiv Teil zu haben, stellt seine Initiative dennoch eine wesentliche Voraussetzung für das Gelingen ihrer Absicht dar. <?page no="283"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 283 Schmitt_final Dies ist jedoch eine Frage der unmittelbaren und mittelbaren interaktiven Implikativität bzw. Folgenhaftigkeit des Verfahrens, die analytisch getrennt werden muss von der Frage nach den interaktionsstrukturellen Implikationen des Verfahrens selbst. Hinsichtlich der interaktionsstrukturellen Implikationen und der konstitutiven Struktureigenschaften des Verfahrens sind die analysierten Beispiele gleich. In ihrer Qualität als antizipatorische Initiativen werden sie nicht durch den für die Sequenzkonstitution maßgeblichen Mechanismus der konditionellen Relevanz und der damit verbundenen Projektivität und Erwartbarkeit bestimmter Folgehandlungen motiviert. Gleichwohl sind sie nicht frei von Strukturzwängen und übergeordneten Motivierungen und Zielsetzungen. Ihre spezifische Produktivität liegt in folgendem Zusammenhang: Ohne selbst ein Beitrag zur aktuellen Interaktionsentwicklung zu sein (bzw. sein zu müssen) leisten sie - motiviert durch die aktuelle Interaktionsentwicklung - einen unilateralen Beitrag für die Entwicklung eines ‘joint project’. 6.1.3.4 Zur Funktionalität des Verfahrens: Chancen und Risiken Während für den von der Konversationsanalyse als Standardfall untersuchten Sequenzierungsmechanismus der konditionellen Relevanz starke Erwartungen für mögliche Folgeaktivitäten etabliert werden, die mittels ‘machinery’ eine Erfüllung mehr oder weniger erzwingen, sind antizipatorische Initiativen viel eher Teil dessen, was Jefferson (1972) als „participant's work“ beschrieben hat. Es obliegt den Beteiligten, den Interaktionsverlauf zu ‘lesen’ und Gelegenheiten für die Platzierung selbstbestimmter kooperativer Beiträge zu finden. Der Vollzug antizipatorischer Initiativen setzt also unweigerlich das Verstehen der aktuellen Interaktion voraus und dokumentiert immer das Verständnis desjenigen, der das Verfahren realisiert. Wenn man von einem solchen Verständnis ausgeht, eröffnet sich beispielsweise die Möglichkeit, emergente Interaktionsentwicklungen als durch motiviertes Verstehen initiierte systematische Interaktionsentwicklungen zu analysieren. Der konzeptionelle Nutzen ‘antizipatorischer Initiativen’ liegt in methodologischer Hinsicht also primär darin, mit emergenten Strukturen analytischer umgehen zu können und nach der Systematik der Herstellung solcher Emergenzen zu fragen. Statt solche Strukturen als emergent zu klassifizieren und sie damit letztlich einer systematischen Analyse zu entziehen, werden sie als antizipatorische Initiativen nunmehr als exakt getimte, zielführende Beiträge der laufenden Interaktion sichtbar. Sie werden motiviert durch globalere Interpretationen der Beteiligten, die einen retrospektiven Bezug haben, gleichzeitig aber immer <?page no="284"?> Reinhold Schmitt 284 Schmitt_final auf zukünftige Bearbeitungsschritte übergeordneter ‘joint projects’ bezogen sind. Sie gehorchen nur nicht dem Mechanismus der konditionellen Relevanz: Sie werden nicht durch initiale Züge projiziert und erfüllen demnach auch keine sequenziell vorgängig etablierte Erwartungsstruktur. Auf der einen Seite sind antizipatorische Initiativen daher wesentlich risikoreicher als Beiträge im Rahmen konditionell etablierter Sequenz- und Erwartungsstrukturen. Gerade weil sie nicht projiziert sind und dadurch keinerlei kontextuelle Evidenz besitzen, die sich die vorgängige Partneraktivität zu Nutze machen könnte, und weil sie selbstbestimmt vollzogen werden, stehen sie auf dem unsicheren Boden komplexer und unsicherer Inferenzen. Sie laufen Gefahr, unkoordiniert zu sein (oder zu scheinen) und in ihrer Qualität als eingepasste, relevante und kooperative Beiträge übersehen oder missverstanden zu werden. Die Analysen der verbalen Realisierungen, in denen die antizipatorischen Initiativen Bestandteil der fokussierten Interaktion waren und dadurch unmittelbare Konsequenzen für deren weiteren Fortgang produzierten, haben gezeigt, dass und wie antizipatorische Initiativen kontextualisiert und legitimiert werden, damit ihre interaktive Funktionalität nicht verpufft oder gar lokale Störungen produziert. Dies betrifft vor allem die unterschiedlichen Techniken der Aufnahmeleiter, bei den Regisseuren die für die Vollendung der Initiative notwendige Ratifikation einzuholen. Auf der anderen Seite stellen antizipatorische Initiativen ein mächtiges Mittel der Ökonomisierung kooperativer Arbeitszusammenhänge dar. Dies ist gerade in professionellen Arbeitskontexten eine unabdingbare Voraussetzung. Antizipatorische Initiativen sind, neben ihrer Bedeutung für die Konstruktion von Interaktionssequenzen, von primärer Relevanz im Kontext professioneller Interaktion. Da viele Formen professioneller Interaktion unter hohem Zeitdruck ablaufen, sind gerade antizipatorische Initiativen sehr weitgehend verantwortlich für reibungslose und erfolgreiche Kooperation. Sie sind sowohl eine Ressource für angemessene, kollaborative professionelle Interaktion als zielorientiertes Unternehmen als auch für die interaktive Herstellung und die Symbolisierung eines professionellen Habitus. Darüber hinaus tragen erfolgreiche antizipatorische Initiativen dazu bei, einen sozialen Zusammenhang unter den Interaktionsbeteiligten zu entwickeln und aufrecht zu erhalten. Das - in alltagsweltlicher Formulierung ausgedrückte - Mitdenken der anderen und die erfolgreiche eigene antizipatorische Bearbeitung relevanter Anforderungen produziert ein kollektives Gefühl, sich ohne Worte zu verstehen und die Gedanken der anderen ‘lesen’ zu können. <?page no="285"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 285 Schmitt_final 6.2 Probeweise Konzeptrealisierung Aufgrund ihrer komplexen multimodalen Gestalt und ihrer teilweise tief gegründeten Verankerung in der interaktionsstrukturellen Entwicklung werde ich nur zwei Realisierungen dieses Verfahrens vorstellen können. Die Auswahl der beiden Fälle erfolgt als minimaler Kontrast im Rahmen grundsätzlicher Vergleichbarkeit. Bei weitgehender Konstanz situations- und interaktionsstruktureller Bedingungen zeigt der erste Fall (Kooperation zwischen Regisseurin und Kamerafrau) die Realisierung des Verfahrens unter erschwerten Verstehensbedingungen. Der zweite Fall (Kooperation zwischen Regisseurin und Schauspieler) wird demgegenüber unter wesentlich unproblematischeren Bedingungen realisiert und weist daher eine gänzlich andere interaktionsstrukturelle Charakteristik auf. Zusammen genommen und im unmittelbaren Vergleich ermöglichen die beiden Fälle einen ersten Einblick in die Varianzbreite der Realisierung dieses spezifischen Verfahrens und seiner Produktivität und Adaptivität hinsichtlich sehr unterschiedlicher Situations- und Kooperationsbedingungen (zunächst nur bezogen auf das Set). Die Konzentration auf probeweise Konzeptrealisierungen bedeutet nicht, dass in den beiden analysierten Beispielen nicht auch andere Verfahren der Verstehensdokumentation realisiert werden. Ich werde vor allem bei der Analyse des ersten Beispiels zwei weitere Verfahren beschreiben, die in einem mehr oder weniger direkten Zusammenhang mit der probeweisen Konzeptrealisierung stehen: Das Verfahren ‘Schlüsse ziehen’ spielt als Vorbereitung bzw. vorgelagertes Verfahren und damit als Teil der relevanten interaktiven Vorgängigkeit der Konzeptrealisierung eine Rolle. Das Verfahren ‘antizipatorische Initiative’ hingegen steht als subsidiäres Verfahren im unmittelbaren Kontext der probeweisen Konzeptrealisierung. 6.2.1 Beispiel 1: Regisseurin und Kamerafrau Als Einstieg in die detaillierte empirische Analyse habe ich einen Ausschnitt ausgewählt, der eine komplexe und langgestreckte Aushandlung zwischen den Inhaberinnen zweier Funktionsrollen dokumentiert, deren Zusammenarbeit für die Zweckrealisierung der setspezifischen Interaktion von zentraler Bedeutung ist. Es geht um die Kooperation von Regisseurin und Kamerafrau. Regisseurin und Kamerafrau müssen kontinuierlich zusammenarbeiten, und diese Kooperationsdyade ist - neben der Kooperation von Regisseur und Schauspieler, die als Kontrastfall im Anschluss beleuchtet wird - die neuralgische Stelle im Produktionsgang der Filmerstellung. Aus der Kooperation <?page no="286"?> Reinhold Schmitt 286 Schmitt_final zwischen den Inhaberinnen dieser Funktionsrollen gehen die für den späteren Schnitt notwendigen Einstellungen und Szenen hervor. Die Kooperation erfolgt dabei auf der Grundlage einer klaren Arbeitsteilung: Die Regisseurin weist die Kamerafrau an, das Konzept, das sie von einer bestimmten Einstellung hat, kameratechnisch umzusetzen. Das ausgewählte Beispiel zeigt in prototypischer Weise den komplexen Zusammenhang sehr unterschiedlicher Verstehensanforderungen, die sich in systematischer Weise am Set genau für diese beiden Funktionsrolleninhaber in künstlerisch-thematischer Hinsicht stellen. Die Funktionsrollengebundenheit ist insofern ein wichtiger Aspekt, weil diese spezifische Kooperation - wie bereits in der Feldbeschreibung dargelegt - durch eine signifikante Hierarchie charakterisiert ist, die dazu führt, dass die Inhaber untergeordneter Funktionsrollen sich in ganz grundlegender Weise an der Regie orientieren und ihre Arbeitsorganisation mit ihr abstimmen müssen. Diese monodirektionale Abstimmung findet ihren Ausdruck in der Konstitution des Inhabers dieser Rolle als Fokusperson (vgl. Schmitt/ Deppermann 2007). 6.2.1.1 Konzeptverstehen Bei der nachfolgenden Analyse geht es um die Rekonstruktion der mit der Funktionsrollenkonstellation und dem ausgewählten Handlungszusammenhang implementierten Anforderungen und Möglichkeiten der Produktion von Verstehensdokumentationen als Voraussetzung professioneller Kooperation. Der Handlungszusammenhang ist dadurch charakterisiert, dass sich Regisseurin und Kamerafrau darüber austauschen, wie die nächste Einstellung gedreht werden soll. Bezogen auf die Dokumentation von Verstehen als zentraler Voraussetzung professioneller Kooperation geht es in dem ausgewählten Ausschnitt im weitesten Sinne um etwas, was ich als ‘Konzeptverstehen’ bezeichnen und in folgender Weise charakterisieren will: Die Regisseurin muss ihr Konzept der zu drehenden Einstellung der Kamerafrau vermitteln. Die Kamerafrau muss dieses Konzept einerseits verstehen und ihr Verstehen dokumentieren und sie muss es andererseits anschließend realisieren. Schauen wir uns diesen allgemeinen Zusammenhang nun etwas genauer an. Die Regisseurin steht also vor der Aufgabe - als Teil der Vorbereitung des nachfolgenden Drehs - der Kamerafrau möglichst präzise zu vermitteln, wie diese die Einstellung kameratechnisch realisieren soll. Den mit dieser Aufga- <?page no="287"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 287 Schmitt_final be der Regisseurin verbundenen Teil der Verstehensanforderungen kann man als ‘Konzeptvermittlung’ bezeichnen. Er besteht darin, die als mentales Modell - zumindest in Teilen - vorhandene Idee oder Vorstellung der nachfolgenden Einstellung für die Kamerafrau verstehbar zu machen. Hierzu gehört unter anderem die Auswahl einer adäquaten Begrifflichkeit, eine der Aufgabe angemessene Darstellungs- und Formulierungslogik und ein ‘recipient design’, das sich bei der Vermittlung an der spezifischen Perspektive der Kooperationspartnerin orientiert und deren funktionsrollengebundene Relevanzen in Rechnung stellt. Allgemein betrachtet handelt es sich um die Transformation eines in der inneren Realität vorhandenen kognitiven Modells in die intersubjektive Welt des aktuellen, kontextspezifischen Interaktionszusammenhangs, für den nicht Verstehen „an sich“, sondern die gemeinsame Produktion von Szenen bestimmend ist. Diese Szenen werden von der Regisseurin später - wenn sich der Kooperationszusammenhang ‘Filmset’ schon lange aufgelöst hat - im Schneideraum zu einem fertigen Film zusammengefügt. Es ist im aktuellen Zusammenhang wichtig, sich an einen Aspekt zu erinnern, der eine zentrale Grundlage und Bedingung für die Kooperation dieser beiden Funktionsrolleninhaberinnen darstellt und den ich in der Feldbeschreibung als ‘funktionsrollenspezifische Perspektivität’ bezeichnet habe: Während die Kamerafrau die Kooperation mit der Regisseurin auf der Grundlage einer Produktorientierung organisiert, die auf die situative Realisierung kameratechnisch bestmöglicher Szenen und Einstellungen ausgerichtet ist, beteiligt sich die Regisseurin an der Kooperation auf der Grundlage ihrer spezifischen Wahrnehmung, die ich als ‘Schneiden’ konzeptualisiert habe. Sie betrachtet die zu drehenden Szenen und Einstellungen nicht nur in ihrer aktual-situativen Relevanz, sondern immer auch bereits im Hinblick darauf, wie die einzelnen Szenen hinterher am Schneidetisch montiert werden sollen, um daraus einen Film mit einer chronologischen Erzählstruktur zu erstellen. 6.2.1.2 Konzeptverstehen als Aushandlungsprozess Charakteristisch für Konzeptvermittlungsaktivitäten ist ihre sequenzielle Struktur. Für Konzeptverstehen ist ein teilweise sehr ausgedehnter konzeptbezogener Austausch- und Aushandlungsprozess konstitutiv. Diese Tatsache reflektiert die Normalform der Kooperation der Funktionsrolleninhaber und darf nicht als Ausdruck problematischer oder gar defizitärer professioneller Kooperation missverstanden werden. Dass dem so ist, liegt in der komplexen Struktur künstlerisch-thematischer Verstehensanforderungen. <?page no="288"?> Reinhold Schmitt 288 Schmitt_final Wenden wir uns nun also der Adressatin der Konzeptvermittlung zu. Sie ist diejenige, deren Aufgabe es ist, das vermittelte Konzept zunächst einmal zu verstehen, es in den Relevanzen der eigenen Funktionsrolle zu reflektieren und einen Realisierungsvorschlag zu unterbreiten. In einem nächsten Schritt ist es dann ihre Aufgabe, nach erfolgter Ratifikation durch die Regisseurin das Konzept kameratechnisch umzusetzen. Hier wird noch einmal ein ganz zentraler Aspekt der Kooperation und der damit zusammenhängenden Implikationen für Verstehen deutlich: Verstehen am Set ist nur in einer Zwischenphase Sprachverstehen, dessen Zweck sich darin realisiert, verstanden zu haben. Die Dokumentation von Verstehen muss sich vielmehr in Form eines objektiven, physikalischen Ergebnisses bewähren. Dieses kann die Regisseurin als belichtete Filmrollen mit nach Hause nehmen, um sie später im Schneideraum weiter zu bearbeiten. 6.2.1.3 Die pragmatische Struktur der Aushandlung Schauen wir also einmal etwas genauer hin und fragen nach den Verfahren, mit denen die Kamerafrau ihr Konzeptverstehen dokumentiert sowie nach der Struktur der funktionsrollenspezifischen Kooperation, die für die Auswahl und die Realisierung der Dokumentationsverfahren den zentralen organisationsstrukturellen Bezugspunkt darstellt. Die Crew hat eine Einstellung geprobt, bei der es um die subjektive Sicht eines Schauspielers geht. Die Kamera sollte dabei so eingesetzt werden, dass der Zuschauer den Eindruck bekommt, er sehe das Geschehen mit den Augen der Filmfigur. Zunächst tritt der Schauspieler aus einem Gebäude und geht auf sein Fahrrad zu. Er erkennt dann, dass auf seinen Gepäckträger ein roter Schulranzen geschnallt ist, der einem Jungen gehört, den er zuvor zur Schule gebracht hatte. Ab diesem Moment soll nun die Kamera den Gang des Schauspielers so dokumentieren, dass es quasi der Zuschauer ist, der auf das Fahrrad zugeht. Am Ende der Einstellung soll der Zuschauer nur noch den roten Schulranzen auf dem Gepäckträger eines Fahrrades sehen, den die Kamera in Großformat fokussiert. Das Transkript zeigt die Besprechung dieser Probe zwischen der Regisseurin ( RE ) und der Kamerafrau ( KA ), die sich zuvor am Videomonitor gemeinsam die Kamerafahrt angesehen haben, welche die Kamerafrau als erste Umsetzung des Konzeptes der Regisseurin realisiert hatte. Der Ausschnitt zeigt zu Beginn der Besprechung in der Äußerungsproduktion der Regisseurin Formulierungsprobleme, die sich als weitgehender Konstruk- <?page no="289"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 289 Schmitt_final tionsumbau im Rahmen einer Reformulierung manifestieren. Es wird deutlich: Die Regisseurin ist mit dem, was sie auf dem Videomonitor sieht, nicht zufrieden. Beispiel 5: Regisseurin - Kamerafrau #5 DRAUFsichtiger (Set-UG/ 20/ 02/ 04/ Take-05-RS) Erste Kritik (Regisseurin) 35 RE: ich finde sowieSO (.) du bist, 36 (-) also mir wärs LIEber du bist nicht- 37 RE: [du hast AUßer’- ] 38 KA: [ich bin DRAUFsichtiger.] Die Regisseurin formuliert ihre Kritik in zwei eigenständigen Äußerungen, die sie jedoch beide nicht zu Ende formuliert: Es fehlt das Vollverb bzw. das Prädikativum. Dadurch bleibt der spezifische Aspekt ihrer Kritik unklar. Mit der ersten Äußerung ich finde sowieSO (.) du bist, formuliert sie in einem deskriptiven Modus, wobei vor allem das sowieSO ohne den Kritikpunkt zu spezifizieren, die Globalität der Kritik manifestiert. Es kann nicht um ein Detail gehen, sondern eher um etwas Grundlegendes, das der Regisseurin an der realisierten Kamerafahrt nicht gefällt. Mit der zweiten Äußerung also mir wärs LIEber du bist nichtperspektiviert sie ihre Kritik neu und verlässt dabei den deskriptiven Modus. Sie formuliert nun ihre Kritik relativ zu ihren eigenen Relevanzen und Erwartungen (mir wärs lieber), die sich aus ihrem Konzept der Einstellung ergeben. Sie kommt jedoch nicht dazu, zu spezifizieren, was genau ihr lieber wäre, denn die Kamerafrau etabliert sich nun simultan mit der dritten Äußerung du hast AUßer', mit der die Regisseurin wieder in den deskriptiven Modus zurückkehrt, ebenfalls als Sprecherin. So kommt es im Folgenden zu einer Überlappung zwischen Regisseurin und Kamerafrau. Die Kamerafrau reagiert - obwohl die Äußerung der Regisseurin nicht nur noch nicht vollendet, sondern auch hinsichtlich ihres erwartbaren Abschlusses noch nicht prognostizierbar ist - nun auf die Kritik an der realisierten Kamerabewegung. Der spezifische pragmatische Gehalt, der vor allem in der Äußerung du hast AUßer'- (Z. 37) zum Ausdruck kommt, ist jedoch deutlich: Es ist Kritik an der kameratechnischen Umsetzung des Konzeptes der Regisseurin. <?page no="290"?> Reinhold Schmitt 290 Schmitt_final Erste Verstehensdokumentation der Kamerafrau 37 RE: [du hast Außer’- ] 38 KA: [ich bin DRAUFsichtiger.] 39 NE? Die Kamerafrau ( KA ) reagiert mit ich bin DRAUFsichtiger. (Z. 38) auf die Kritik der Regisseurin und greift dabei die von der Regisseurin in Zeile 41 abgebrochene Formulierung du bist NEIN und führt dann deren nicht weitergeführte Äußerung zu Ende. Interessant ist dabei die implizite Kontrastbzw. Vergleichsrelation, die die Kamerafrau durch den Komparativ realisiert (sie ist nicht „draufsichtig“, sondern „draufsichtiger“), was einen kontrastiven Vergleich impliziert. Das konkrete Bezugsobjekt von DRAUFsichtiger kommt allerdings nicht zur Sprache. Es ist jedoch naheliegend, dass sich die Kamerafrau auf das Ergebnis der gedrehten Einstellung bezieht, die sich beide am Videomonitor anschauen. Die Implikationen der hier sichtbaren Sprachökonomie, bei der sich die Beteiligten daran orientieren und sich darauf verlassen, nur wirklich die Dinge referenziell oder prädikativ zu spezifizieren, die situativ fraglich sein können, macht es dem Analytiker nicht gerade leicht, die tatsächlich realisierte Qualität der Verstehensdokumentation zu fassen. Aber auch der Kamerafrau scheint nicht wirklich klar zu sein, ob sie mit ihrer Antizipation exakt den Punkt getroffen hat. Ihre Reaktionsaufforderung NE? (Z. 39) und die nochmalige explizite Nachfrage oder WAS ist'- (Z. 40) reagieren darauf, dass keine Bestätigung seitens der Regisseurin erfolgt. Sie sind ein klares Angebot an die Regisseurin, ihre ‘antizipatorische Aktivität’ (hier speziell die Ergänzung DRAUFsichtiger ) zu ratifizieren und deren intersubjektiven Status dadurch zu klären. Erste Zurückweisung und Reformulierung der Kritik (Regisseurin) 40 KA: oder [WAS ist’- ] 41 RE: [du bist NEIN; ] 42 d’ d’ WICHtig ist da’- 43 beVOR? 44 (--) d’ du (-) d’ du BIST, 45 du hast jetzt das ganze FAHRrad wieder im blick. Die Reaktion der Regisseurin auf die antizipatorische Ergänzung (ich bin DRAUFsichtiger) mit der offenen Referenz besteht in einem auffallend unmodalisierten und akzentuierten NEIN; , mit dem sie ihren neuen Start du bist, beendet. <?page no="291"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 291 Schmitt_final Sie scheint also genau verstanden zu haben, um was es der Kamerafrau ging, verzichtet jedoch ihrerseits darauf, explizit auf ihr Anliegen einzugehen, sondern betont, was aus ihrer Sicht der relevante Punkt (WICHtig ist da'- Z. 42) ist. Dass sie die Kamerafrau tatsächlich verstanden hat, zeigt ihr Hinweis da' be- VOR? (zu ergänzen ist hier: du draufsichtiger bist). Es geht also nicht um die Frage der Draufsichtigkeit (auf den Ranzen als letztlich fokussiertes Objekt), sondern darum, dass die Kamerafrau eine konzeptinadäquate Starteinstellung für die Kamerabewegung gewählt hat: du hast jetzt das ganze FAHRrad wieder im blick. (zu ergänzen wäre hier: am Anfang der Einstellung). Erster ‘account’ (Kamerafrau) 46 RE: ich finde [es ist eigentLICH, ] 47 CO: [würd ich AUCH sagen; ]= 48 KA: =<<all> ja weil du vorhin gesagt hast 49 es soll> fokusSIERter sein; Die Kamerafrau begründet ( ja weil ) ihre Wahl der Einstellung als Umsetzung des Konzeptes (fokusSIERter) der Regisseurin und verweist auf den zurückliegenden Kontext der Konzeptformulierung mittels einer Formulierungswiedergabe <<all > ja weil du vorhin gesagt hast es soll > fokusSIERter sein; (Z. 48/ 49). Dabei setzt sie explizite Retrospektivität als Ressource des Belegs ein, die Regisseurin schon richtig verstanden zu haben. Sie legitimiert damit nicht nur ihr Verständnis, sondern auch die kameratechnische Umsetzung, die beide am Videomonitor betrachten und besprechen. Die Regisseurin reagiert auf diesen Verweis indem sie - ohne dies allerdings explizit zu markieren - ihre von der Kamerafrau wiedergegebene Äußerung noch einmal wiederholt und dabei klarstellt, was das Bezugsobjekt der Fokussierung bereits in der zurückliegenden Situation hätte sein sollen. Korrektur des ‘account’ und Wiederholung der Kritik (Regisseurin) 50 RE: fokussierter auf den ↑ RANzen; 51 und du hast immer noch das ganze FAHRrad im blick 52 am anfang- Dass auch die Regisseurin eine retrospektive Perspektive einnimmt, verdeutlicht der Hinweis auf die aktuelle Situation als und du hast immer noch das ganze FAHRrad im blick am anfang-. Der Ranzen als Fokus der Regisseurin und das Fahrrad als Fokus der Kamerafrau bilden hier einen Kontrast, bei dem und als adversativer Konnektor fungiert. Mit dem immer noch drückt die Regisseurin deutlich aus, dass entgegen der impliziten Selbstevaluation der <?page no="292"?> Reinhold Schmitt 292 Schmitt_final Kamerafrau auch noch die am Videomonitor sichtbare Einstellung auf das Fahrrad konzeptinadäquate Kontinuität zeigt. Durch das nachgeschobene am anfangmacht die Regisseurin noch einmal deutlich, was sie mit beVOR? bereits formuliert hatte: Der Fehler liegt am Anfang der Kamerabewegung, das Ergebnis hingegen (das, was die Kamerafrau als Draufsicht bezeichnet hat) steht hier nicht zur Diskussion. Explikation des ‘account’ (Kamerafrau) 53 KA: ach so ich dachte ich fokussier [dann durch] 54 RE: [NEIN; ] 55 KA: diese RUMfahrt [nachher.] 56 RE: [NEIN. ] In Reaktion hierauf expliziert die Kamerafrau mit dem Konzept RUMfahrt, wie sie die Realisierung der Einstellung und die von der Regisseurin geforderte Fokussierung kameratechnisch umsetzen wollte. Damit legitimiert sie erneut ihr Verstehen mit Handlungsintentionen, die auf ihrem früheren Verständnis der Anweisungen der Regisseurin beruhen. Vergleichbar ihrer lakonischen Reaktion mittels eines akzentuierten NEIN; (Z. 41), reagiert die Regisseurin auch hier auf die kamerabezogene Interpretation ihres Konzeptes ‘Fokussiertheit’ mit einer zweifachen, jeweils akzentuierten Verneinung. Dabei erfolgt ihre erste Reaktion zu einem sehr frühen Zeitpunkt, als sich die Äußerung der Kamerafrau noch in der Entwicklung befindet und ein Ende nicht prognostizierbar ist. Ungeachtet der Übereinstimmung hinsichtlich der Angemessenheit des Konzeptes ‘Fokussiertheit’ zeigen sich zwischen der Vorstellung der Regisseurin und der umsetzungsorientierten Realisierung der Kamerafrau deutlichen Unterschiede: Während die Kamerafrau eine RUMfahrt als Optimallösung dieser Einstellung vor Augen hat, spielt ein solcher dynamischer Einsatz der Kamera für die Regisseurin keine Rolle. Zweite Zurückweisung und ‘account’ (Regisseurin) 56 RE: [NEIN. ] 57 ich will gar keine große RUMfahrt- 58 sondern einfach NUR- 59 (--) ALso so’ 60 (-) ich weiß noch nicht mal ob ich diese beWEgung 61 schneide. 62 [also es kann nur so ne ANbewegung einfach so en] <?page no="293"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 293 Schmitt_final Während die Kamerafrau einen aspektualisierten Blick auf jede Einstellung als in ihrer eigenen Logik optimal zu realisierendes Werkstück hat, betrachtet und bewertet die Regisseurin diese Einstellung bereits im Rahmen des Gesamtzusammenhangs, d.h. unter vorgreifender Berücksichtigung der Endmontage dieser Einstellung mit der vorherigen und der nachfolgenden. Dieser Zusammenhang kann durchaus gute Gründe liefern, die gegen eine dynamische ‘Rumfahrt’ sprechen. Man kann hier die Gefahren erahnen, die ein Ökonomiekonzept mit maximal reduzierter Explikation referenzieller Bezüge mit sich bringen kann. Tendenziell reden die Regisseurin und die Kamerafrau aneinander vorbei, da sie sich nicht im gleichen Relevanz- und Bezugsrahmen befinden. Die Regisseurin will im Akt einer Konzeptvermittlung verdeutlichen, wie eine Einstellung gedreht werden soll. Sie fokussiert damit eine zukünftige Aktivität, für die sie relevante Voraussetzungen schafft. Die Kamerafrau hingegen legitimiert ihr vergangenes Handeln, indem sie ihr zurückliegendes Verständnis regieseitiger Anweisungen thematisiert. Sie bearbeitet also die kritischen Implikationen, die mit der Konzeptvermittlung verbunden sind. Sie reagiert damit primär rückbezüglich und geht kaum auf die aktuellen Hinweise der Regisseurin ein. Die Kamerafrau behandelt letztlich die kritischen Hinweise der Regisseurin nicht in erster Linie als Bestandteil ihrer Konzeptvermittlung, sondern eher als Vorwurf. Dies ändert sich jedoch im weiteren Interaktionsverlauf. Die Kamerafrau gibt ihre retrospektionsbasierten Verstehensdokumentationen auf und reagiert nun direkt auf die Konzeptvermittlungsanstrengungen der Regisseurin, wobei sie eine Reihe von ‘Schlussverfahren’ produziert, die wir uns nachfolgend etwas genauer ansehen wollen. Im weiteren Verlauf der Aushandlung darüber, wie die Einstellung tatsächlich gedreht werden soll, kommt es zu einer Kaskade von Verstehensdokumentationen der Kamerafrau. Sie realisiert dabei zweimal ein Verfahren, das man als ‘Schlüsse ziehen’ bezeichnen kann. Damit reagiert sie lokal und unmittelbar auf Ausführungen der Regisseurin und formuliert dabei jeweils die kameratechnische Lösung, die sich für sie ergibt. Erster Vorschlag (Kamerafrau) 62 RE: [also es kann nur so ne ANbewegung einfach so en] 63 KA: [okay dann gehe ich am einfachsten (... ... ...)] 64 KA: ne ~CLO[se~ äh ] 29 65 RE: [das ist] das ↑ STEHN- 29 Das Zeichen „~“ wird für die Markierung englischer Ausdrücke im Transkript benutzt. <?page no="294"?> Reinhold Schmitt 294 Schmitt_final Simultan und in andauernder Überlappung mit der Äußerungsproduktion der Regisseurin macht die Kamerafrau einen weiteren Vorschlag [okay dann geh ich am einfachsten (... ... ...)]. Die nicht vollständig verstehbare Äußerung ist in ihrem Bezug jedoch klar erkennbar. Sie schließt unmittelbar an die Abwahl der ‘Rumfahrt’ als erste angebotene Lösung durch die Regisseurin an und ist darauf bezogen als Alternative zu verstehen. Das einleitende okay mit dem anschließenden dann deutet die Verarbeitung der Ablehnung des ersten Vorschlags an. Der Hinweis am einfachsten etabliert eine implizite Opposition zur ‘Rumfahrt’ als eher kompliziert und aufwändig zu realisierende Kameralösung; die Formulierung ne ~CLO [se~ äh? ] benennt dann das konkrete Konzept, das als Alternative zur ‘Rumfahrt’ mit anschließender Großaufnahme nunmehr realisiert werden soll. Es handelt sich dabei um eine Einstellung ohne Dynamik und Bewegung, die gleich auf das fragliche Objekt in Großaufnahme fokussiert. Dritte Zurückweisung und erste Instruktion (Regisseurin) 65 RE: [das ist] das ↑ STEHN- 66 er ↑ STEHT. 67 (---) NE? 68 also du’ <all> egAL-> 69 ich MÖCHte dann- 70 (--) m’ MACH es bitte mit ner bewegung? 71 (-) weil dann bin ich FREI? Auf diesen erneuten Vorschlag reagiert die Regisseurin wieder vergleichbar lakonisch und erneut ohne erkennbaren Bezug zum Vorschlag der Kamerafrau. Die Lakonie bekommt hier durch die Wiederholung das ist das ↑ STEHN- und er ↑ STEHT. die Qualität eines Ausdrucks leichten Genervt-Seins und der abnehmenden Bereitschaft zur weiteren Aushandlung. Das Stehen bezieht sich hier auf den Endpunkt der Einstellung, bei dem der Schauspieler, der den Ranzen vom Gepäckträger genommen hat, vor dem Fahrrad steht und auf den Ranzen in seinen Händen blickt. Die Kameraeinstellung soll dann dem Betrachter den fokussierten Ranzen als bildfüllendes Objekt zeigen. Nach einer kurzen Pause reagiert die Regisseurin mit dem akzentuierten NE? auf die ausbleibende Reaktion der Kamerafrau und fordert diese dadurch zu einer Reaktion auf (vgl. Jefferson 1981). Es folgt eine kurze Phase, in der die Regisseurin drei verschiedene Ansätze zur Produktion einer Äußerungen macht, sie jedoch alle nicht zu Ende führt (Z. 68-69), bevor sie eine Art Kompromiss vorschlägt: Dieser sieht zwar keine ‘Rumfahrt’, jedoch eine Kame- <?page no="295"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 295 Schmitt_final rabewegung vor. War der Vorschlag der Kamerafrau darin gegründet, dass sie eine möglichst interessante Einstellung wählt, die das technisch Machbare ausschöpft (‘Rumfahrt’), begründet (weil ) die Regisseurin ihren Wunsch auf der Grundlage ihrer spezifischen Wahrnehmungsperspektive ‘Schneiden’. Eine Bewegung eröffnet ihr hinterher bei der Montage der einzelnen Einstellungen im Schneideraum einen größeren Spielraum: weil dann bin ich FREI? (Z. 71). Reformulierung und zweiter Vorschlag (Kamerafrau) 72 KA: JA? 73 oKAY, 74 das wäre dann richtig was vom staTIV, 75 einfach nur lange BRENNweite- 76 ein fester STAND, 77 KA: und du [(bist ran)] 78 RE: [NEIN lucy.] Bezogen auf diesen Kompromiss der Regisseurin benutzt die Kamerafrau erneut das Verfahren ‘Schlüsse ziehen’. Abermals startet sie nach einem zustimmenden Rückmelder JA? mit oKAY, das wäre dann und formuliert anschließend, was sich als kameratechnische Lösung unter den im nicht formulierten Wenn-Teil ihres Beitrages als Lösung ergibt: richtig was vom staTIV, einfach nur lange BRENNweiteein fester STAND,. Vierte Zurückweisung und zweite Instruktion (Regisseurin) 78 RE: [NEIN lucy.] 79 fahr en stück RAN. 80 (-) Aber; 81 <<h> eben erst FEST? > 82 und dann RAN. (4.5) Bevor sie jedoch ihre Ausführungen fortsetzen kann, reagiert die Regisseurin erneut mit einer lakonischen und akzentuierten Verneinung (NEIN ) und adressiert die Kamerafrau mit lucy.. Dann erklärt sie, wie die vorgeschlagene zweite Alternative zu modifizieren ist, damit es in ihr Konzept passt. Realisierung der probeweisen Konzeptrealisierung (Kamerafrau) Nach ihren beiden verbalisierten Vorschlägen ändert die Kamerafrau nun ihre Beteiligung an der Suche nach der adäquaten kameratechnischen Lösung für <?page no="296"?> Reinhold Schmitt 296 Schmitt_final die nachfolgende Einstellung. Im Zuge dieser Veränderung kommt es auch im Bereich der Verstehensdokumentation zu einem Wechsel, der nicht nur fallspezifische, sondern systematische, für die Kooperation bestimmter Funktionsrolleninhaber am Set (und sicherlich auch darüber hinaus) typische Qualität besitzt: Die Kamerafrau verbalisiert nun nicht ihr Verständnis des von der Regisseurin vermittelten Konzeptes der nächsten Einstellung, sondern geht in Reaktion auf den letzten Hinweis fahr en stück RAN. dazu über, diese Aufforderung nun tatsächlich mit Hilfe ihrer Kamera umzusetzen. Die Kamerafrau interpretiert also den Beitrag der Regisseurin als konkrete Handlungsanweisung und kommt dieser - als Dokumentation ihres Verständnisses - dadurch nach, dass sie sich in Richtung Kamera in Bewegung setzt und nun das, was sie zuvor an Verstehen verbalisiert hat, nun faktisch in seinen Konsequenzen für den Einsatz der Kamera vorführt. ‘Schlüsse ziehen’ als Verfahren der Verstehensdokumentation eröffnet eine Perspektive, die nur wenig zu tun hat mit der beispielsweise im Anschluss an Grice (1975) diskutierten Frage der Wirkung von Implikaturen sprachlicher Handlungen und den Schlussverfahren, die Interaktionsbeteiligte einsetzen, um diese zu identifizieren. Es geht auch nicht darum, Schlussverfahren in argumentationstheoretischer oder formal-logischer Hinsicht in Bezug auf ihre induktive, deduktive oder abduktive Qualität oder hinsichtlich der Wahrheitswertfähigkeit oder Wahrscheinlichkeit von Argumenten zu bewerten. Nicht die mentale Interpretation von Partneräußerungen ist entscheidend, sondern das Anzeigen der Aktivität des Schlussfolgerns und die damit verbundenen handlungspraktischen Folgen. Es geht um die Fokussierung und Rekonstruktion der Struktur empirisch manifester Verfahren, mit denen Beteiligte dokumentieren, dass und was sie verstanden haben. Im vorliegenden Fall bedeutet dies Folgendes: Im Kontext professioneller, arbeitsteilig organisierter Kooperation und auf der Grundlage funktionsrollenspezifischer Zuständigkeit und Pflichten geht es für die Beteiligte, die das Schlussverfahren realisiert (die Kamerafrau), darum, ihrer Kooperationspartnerin (der Regisseurin) zu zeigen, dass deren vorgängige Äußerungen als Aufforderung verstanden wurden, sich auf der Basis spezieller eigener Kompetenzen an der Suche nach einer Problemlösung zu beteiligen. Das Interessante an diesem Verfahren ist nun, dass ein Problemlösungsvorschlag unterbreitet und verdeutlicht wird, und dass es sich dabei um einen - durch die eigenen Kompetenzen und Zuständigkeiten perspektivierten - Schluss relativ zu den partnerseitigen Vorgaben und Relevanzen handelt. <?page no="297"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 297 Schmitt_final Wenn man so will, dann besteht das Dokumentationsverfahren also aus einem Problemlösungsvorschlag und dem Nachweis der Schlussqualität durch Verweis auf die vorgängige Partneraktivität. Dies wird im vorliegenden Fall durch eine quasi grammatikalisierte Formel „das (Rückverweis auf den Partner) wäre dann“ (Anzeigen der Schlussfolgerung) geleistet. 6.2.1.4 Zur Notwendigkeit der multimodalen Analyseperspektive Da die Verstehensdokumentationen im bisherigen Interaktionsverlauf primär sprachlich realisiert wurden, war das Verbaltranskript als Grundlage durchaus ausreichend. Der Wechsel der Kamerafrau von der auf das Konzept bezogenen verbalen Verstehensdokumentation (ihrem Konzeptverstehen) hin zur (probeweisen) Konzeptrealisierung mittels des faktischen Kameraeinsatzes macht jedoch einen Wechsel in der Analyseperspektive notwendig. Die Analyse folgt den tatsächlichen Relevanzen der Daten und trägt ab jetzt der in der Videoaufnahme dokumentierten multimodalen Qualität der Kooperation am Set durch die systematische Berücksichtigung gerade auch der visuellen Anteile der Kommunikation Rechnung. 30 Solche Formen zu vernachlässigen, würde nicht nur zu einer willkürlichen Reduktion des tatsächlichen Spektrums von Verstehensdokumentationen führen, was einen konstitutiven Aspekt von Interaktion insgesamt eliminieren würde, sondern auch die spezifischen Beziehungen zwischen unterschiedlichen modalen Realisierungen von Verstehensdokumentationen aus dem Blick verlieren (bzw. erst gar nicht in den Blick bekommen! ). Wir werden in der weiteren Analyse noch sehen, dass es einen systematischen Zusammenhang im Hinblick auf die modalitätsspezifische Realisierung sequenziell geordneter Verstehensdokumentationen gibt. Bei systematischer Berücksichtigung der visuellen Kommunikationsanteile wird deutlich, dass nicht erst jetzt andere Ausdrucksmöglichkeiten als die rein sprachliche für die Aushandlung des Konzeptverstehens in der analysierten Situation eine Rolle spielen. Die gesamte Aushandlung ist natürlich multimodal realisiert, nur hatte bislang diese multimodale Spezifik bezogen auf die analysierten Verstehensdokumentationen zu Beginn der Konzeptvermittlung keinen zentralen Stellenwert, sondern tritt erst im Laufe der weiteren Entwicklung in den Mittelpunkt. Das Verhaltensprofil der Kamerafrau lässt sich insgesamt als Prozess der kontinuierlichen Anreicherung multimodaler Ressourcen bei der Realisierung ihrer Verstehensdokumentationen beschreiben. Man kann sich diese Entwicklung exemplarisch verdeutlichen, wenn man da- 30 Zu den verschiedenen Implikationen, methodischen und theoretischen Konsequenzen einer multimodalen Konzeption von Interaktion siehe Schmitt (2004, 2005, 2006a, 2007a, b) sowie Deppermann/ Schmitt (2007). <?page no="298"?> Reinhold Schmitt 298 Schmitt_final nach fragt, welche Rolle die Filmkamera als zentrales Arbeitsinstrument und „signifikantes Objekt“ (Schmitt/ Deppermann 2007) im Kontext der Aushandlung spielt. Die Kamera bekommt im Laufe der Aushandlung über die konzeptadäquate Umsetzung der zu drehenden Einstellung eine immer größere Bedeutung bzw. empirische Relevanz auch gerade im Hinblick auf die Verstehensdokumentationen der Kamerafrau. Die Kamera wird zuerst redebegleitend gestikulatorisch symbolisiert, indem die Kamerafrau im Kontext der Beschreibung der ‘Rumfahrt’ als erstem Lösungsvorschlag mit ihrem linken Arm eine kreisförmige Bewegung macht (Abb. 46-51). Gestikulation und Äußerungsentwicklung sind durch eine eher lose Koordination bestimmt, bei der es nicht möglich ist, Segmente der Gesamtgestikulation bestimmten Elementen der verbalen Äußerung zuzuordnen. Zudem taucht die Kamera als diskretes Objekt weder in der Gestikulation, noch in der Verbalisierung unmittelbar auf. Äußerungselemente, die indirekt auf die Kamera verweisen, sind „fokussieren“ und „Rumfahrt“. „Fokussieren“ verweist auf eine spezifische Kameraeinstellung und Bildgestaltung, „Rumfahrt“ auf die Bewegung, die mit der Kamera ausgeführt wird. 52 RE: am anfan g - 53 KA: ach so ich dachte ich fo kussier 53 KA: da nn durch 55 KA: d ie se RUMf ah rt Einen erkennbar eigenständigeren Stellenwert hat die Darstellung der Kamera im Kontext des zweiten Lösungsvorschlags, bei dem die Kamerafrau die statische Kamera auf dem Stativ mit Weitwinkeleinstellung gestikulatorisch dar- Abb. 46-51 <?page no="299"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 299 Schmitt_final stellt und damit die faktische Realisierung dieser Einstellung mit der richtigen Kamera projiziert. Die Gestikulation der Kamerafrau ist nun eher illustrativer Art und wesentlich systematischer mit der Äußerungsproduktion koordiniert. Die größere Bedeutung der Kamera wird zudem durch eine manifeste, auf die Kamera als zentralen Gegenstand der Äußerungsproduktion bezogene Begrifflichkeit deutlich. Hierzu zählen staTIV und BRENNweite, wobei beide Begriffe jeweils in der Modalität der Gestikulation in systematischer Koordination ihrer verbalen Produktion illustrierend dargestellt werden (Abb. 52-55). 73 KA: oK AY , 74 KA: das wäre dann richtig was vom sta TIV, 75 KA: einfach nur lange BRENNw ei te- Abb. 52 Abb. 53-54 Abb. 55 <?page no="300"?> Reinhold Schmitt 300 Schmitt_final Verschiedene Aspekte im Verhalten der Kamerafrau verdeutlichen den qualitativ veränderten Status ihrer Kameradarstellung: Dies sind vor allem ihre Körperausrichtung, die nun auf das Objekt orientiert ist, das bei der nachfolgenden Einstellung im Fokus steht (ein Fahrrad mit einem Ranzen auf dem Gepäckträger). Im Sinne von Kendon (1990) hat sie die zuvor existierende Interaktionsachse mit der Regisseurin aufgelöst und sich quasi selbst ‘als Kamera’ auf das Objekt ausgerichtet. Bezogen auf dieses Objekt verdeutlicht sie nun die kameratechnische Lösung. Zudem gibt es eine relevante proxemische Veränderung, da sich die Kamerafrau für ihre Kameradarstellung deutlich von der Regisseurin entfernt hat (Abb. 56-57). Die Orientierung auf die Regisseurin wird nun primär über den Blick aufrechterhalten, der - folgt man den Implikationen solcher Doppelorientierungen, wie sie Schegloff (1998) als „body torque“ beschrieben hat - gegenüber der körperlichen Ausrichtung eine untergeordnete interaktive Relevanz ausdrückt. 41: RE: [du bi st NEIN] 74 KA: was vom staTIV, Fragt man, welche auf Verstehen bezogenen Implikationen diese beiden multimodalen Verfahren besitzen, so eröffnen sich folgende Einblicke: Die Kamerafrau verbindet gleich zu Beginn der Entwicklung ihrer ersten Lösungsvorschläge ihre Verstehensdokumentationen mit der Demonstration der kameraspezifischen Folgen, die sich aus Kritik und Instruktion der Regisseurin für sie ergeben. Sie verdeutlicht damit die für sie relevante Orientierung, die sprachlich realisierte Konzeptvermittlung medial zu transformieren und sie zunächst im Modus der auf den Kameraeinsatz bezogenen Darstellung zu präsentieren. Dass genau dieser Aspekt beim zweiten Verfahren deutlicher in den Vordergrund tritt, darf man als Reaktion auf das Scheitern ihrer ersten Lösungspräsentation sehen. Die Kamerafrau begegnet also der Zurückweisung ihres Vorschlags mit einer stärkeren Orientierung auf das Werkzeug, mit dem sie das Konzept der Regisseurin umsetzen wird. In der Logik dieser Orientierung ist es dann konsequent, als Steigerung des Kamerabezugs diese dann tatsächlich zur Demonstration einzusetzen. Abb. 56-57 <?page no="301"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 301 Schmitt_final Die Kamera wird schließlich nicht mehr redebegleitend symbolisiert, sie projiziert und symbolisiert auch keinen Einsatz mehr, sondern wird - wie die nachfolgende Detailanalyse zeigen wird - nunmehr tatsächlich als konstitutiver Bestandteil des Verfahrens der probeweisen Konzeptrealisierung eingesetzt. Dieses Verfahren will ich im Folgenden detailliert hinsichtlich seiner multimodalen Konstitutionslogik rekonstruieren. Wie die weitere Analyse zeigen wird, realisiert jedoch nicht nur die Kamerafrau, sondern auch die Regisseurin das Verfahren. Ich werde diese beiden Beispiele in der Sequenzialität ihrer tatsächlichen Realisierung rekonstruieren und mich dabei vor allem auf die interaktionsstrukturelle Entwicklung des jeweiligen Verfahrens und dessen Verhältnis zum vorgängigen Interaktionsgeschehen konzentrieren. 6.2.1.5 Interaktionsstruktur der probeweisen Konzeptrealisierung Schauen wir zunächst einmal auf die interaktionsstrukturelle Entwicklung und die Spezifik der Realisierung der probeweisen Konzeptrealisierung der Kamerafrau. Die Kamerafrau realisiert das Verfahren in unmittelbarer Reaktion auf die Zurückweisung ihres letzten Lösungsvorschlags (Stativ, kleine Brennweite, fester Stand) durch die Regisseurin (NEIN lucy.; Z. 78). 74 KA: das wäre dann richtig was vom staTIV, 75 einfach nur lange BRENNweite- 76 ein fester STAND, 77 KA: und du [(bist ran.)] 78 RE: [NEIN lucy. ] 79 fahr en stück RAN. 80 (-) Aber; 81 <<h> eben erst FEST? > 82 und dann RAN. Für die Konzeptrealisierung sind zwei unterschiedliche Aspekte von Bedeutung. Die Kamerafrau behandelt die Äußerung der Regisseurin fahr en stück RAN. (Z. 79) nicht primär als weiteren Lösungsvorschlag der Regisseurin, sondern als konkrete Handlungsanweisung in der aktuellen Situation. Sie begreift die Äußerung nicht primär als Teil der Diskussion über eine zukünftige Handlung (Einsatz der Kamera beim Wiederholungsdreh), sondern als unmittelbare Instruktion für eine ‘next action’. Dies ist der zentrale Auslöser dafür, ihre momentane Position in der Nähe der Regisseurin zu verlassen und sich in Richtung Kamerawagen in Gang zu setzen. Zum anderen ist für die Konzeptrealisierung die Spezifizierung der konkreten Kamerabewegung - so wie die <?page no="302"?> Reinhold Schmitt 302 Schmitt_final Regisseurin sie haben will - von wesentlicher Relevanz. Sie entscheidet darüber, wie die Kamerafrau das Verfahren konkret realisiert bzw. sequenziell strukturiert (<<h > eben erst FEST? > und dann RAN.; Z. 81/ 82). Wenden wir uns nun dem konkreten Zusammenhang zu, in der der Gang der Kamerafrau zur Kamera und die Realisierung des Verfahrens mit der Äußerungsproduktion der Regisseurin koordiniert sind. Die Regisseurin beginnt gleichzeitig mit ihrer überlappenden Etablierung als Sprecherin, das Heranfahren, um das es ihr geht, auch gestikulatorisch darzustellen. Die Bewegung ihres linken Arms und der Hand, die sie zur Gestikulation 31 einsetzt, beginnt simultan mit dem Einatmen, mit dem sie die Voraussetzungen zum Sprechen schafft. Zuerst ändert sich die Handhaltung (Abb. 58-59), dann erst schließt sich auch der Arm zu einer Aufwärtsbewegung an, die als erstes Bewegungssegment ihren Endpunkt mit dem vollständigen Vollzug von lucy erreicht. Hier sehen wir einen um etwa 90° angewinkelten Unterarm und eine aufgestellte, offene Hand, deren Fläche nach vorne weist (Abb. 60-61). 77 KA: und du [(bist ran.)] 78 RE: N EIN lucy 31 „Gestikulation“ verweist auf ein Konzept, mit dem alle in der Interaktion sichtbaren Aktivitäten, die Beteiligte primär mit ihren Händen (und damit zwangsläufig auch mit ihren Unter- und Oberarmen und einem Teil des restlichen Körpers) ausführen, als potenziell relevante Beiträge zur Interaktionskonstitution fokussiert werden (Kendon 1980, McNeil 1992). Es geht nicht darum, einen spezifischen Form-Funktions-Zusammenhang (bestimmte Gesten) als mehr oder weniger situationsunabhängige Bedeutung zu rekonstruieren. In diesem Sinne liegt dem Gestikulationskonzept keine semiotische Basis zu Grunde. Die analytische Perspektive ist stark an die konversationsanalytische Methodologie und deren methodische Implikationen angelehnt, interaktives Verhalten als in der Zeit sich entwickelndes Geschehen zu rekonstruieren und nicht bestimmte, theoretisch motivierte Konstellationen oder Konfigurationen zu analysieren. Es geht um die holistische Rekonstruktion der gestikulatorischen Gesamtbewegung in ihrer Bedeutung als wahrnehmbarer, kontextsensitiver, gestalthafter modalitätsspezifischer Beitrag zur Interaktionskonstitution. Gestikulation beschreibt das, was Kendon (2000, S. 49) als „gesturing“ bezeichnet. Soweit es mir bewusst ist, versuche ich die durchaus gängige Identifikation von ‘Gestikulation’ und ‘Gestik’ - wie sie auch bei Kendon zu finden ist - zu vermeiden. Abb. 58-59 <?page no="303"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 303 Schmitt_final 78 RE: NEI N lu cy Simultan mit der Produktion von fahr en stück RAN. (Z. 79) passieren zwei interessante Dinge, die in einem klaren sequenziellen Zusammenhang stehen: Zum einen - und als Aspekt intrapersoneller Koordination (Deppermann/ Schmitt 2007) - bewegt die Regisseurin aus der zuvor eingenommenen Ruheposition heraus die erhobene offene Hand und ihren Arm nach vorne. Zum anderen - und als ein Aspekt interpersoneller Koordination - verändert die Kamerafrau ihre Körper- und Blickorientierung auf die Regisseurin unmittelbar nach Ende der Äußerung, dreht sich von ihr nach links weg und senkt dabei ihren Kopf leicht nach unten. Diese Bewegung nach links mit dem Wegdrehen des Kopfes erfolgt genau zum Zeitpunkt der maximalen Extension der Bewegung (Abb. 62-64). Man kann sagen, dass die Regisseurin (mit ihrer linken Hand) nicht nur selbst etwas nach vorne fährt, sondern dass sie mit dieser ‘Fahrt’ auch den Anstoß zur Bewegung der Kamerafrau zum Kamerawagen gibt; diese quasi anschiebt. Die Regisseurin scheint überrascht, dass diese sich von ihr ab- und dem Kamerawagen zuwendet. Man kann diesem Moment der Überraschung entnehmen, dass aus der Perspektive der Regisseurin ihre Konzeptvermittlung kein sich unmittelbar anschließendes faktisches ‘Umsetzungshandeln’ der Kamerafrau projiziert. Dies ist ein weiterer Hinweis auf die bereits angesprochene latente Missverständnisstruktur, die dem Austausch der beiden zugrunde zu liegen scheint. Die Regisseurin folgt der Kamerafrau dann jedoch gleich - während sie weiter spricht - auf ihrem Weg zur Kamera: Sie wird quasi von der Bewegung der Kamerafrau mitgenommen. Abb. 60-61 <?page no="304"?> Reinhold Schmitt 304 Schmitt_final fahr en stück RAN Abb. 62-64: die en-stück-ran-Fahrt der Regisseurin 81 RE: <<h> eben erst FEST? > Abb. 65 <?page no="305"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 305 Schmitt_final Bereits bei eben ist die Kamerafrau dabei, den Kamerawagen zu erklimmen (Abb. 65). Sie ergreift unmittelbar, nachdem die Regisseurin ihre Äußerung Aber; <<h> eben erst FEST? > und dann RAN. vollendet hat, - mit der sie die Kamerafrau darauf hinweist, wie sie die Einstellung realisieren soll - mit ihrer rechten Hand den Führungsarm der Kamera. Sie führt dann die Kamera zur vollen Extension nach vorne und wird dabei vom Blick der Regisseurin verfolgt. Sie selbst ist jedoch nunmehr vollständig mit dem Einsatz ihres Arbeitsgerätes beschäftigt und reagiert nicht mehr auf die Regisseurin, sondern ist nach vorne orientiert auf das Fahrrad, das in der nächsten Einstellung gefilmt werden soll (Abb. 66). Sie führt dann die Kamera nach hinten und erreicht auch bei dieser Bewegung die volle Extension. Diese Rückwärtsbewegung der Kamera zwingt auch die Regisseurin zu einer Rückwärtsbewegung, die sie bis zum Videomonitor fortsetzt, um dort die probeweise Konzeptrealisierung der Kamerafrau (hier die Kamerabewegung) zu verfolgen (Abb. 67). 83 (4.5) [ Kamerafrau volle Konzentration] 90 (6.7) [ Regisseurin am Videomonitor] Abb. 66 Abb. 67 <?page no="306"?> Reinhold Schmitt 306 Schmitt_final 6.2.1.6 Reaktive Verfahrensrealisierung (Kamerafrau) Wenden wir uns aber nun - nachdem wir die interaktionsstrukturelle Genese rekonstruiert haben - der ‘probeweisen Konzeptrealisierung’ der Kamerafrau zu. Hatte sich die Kamerafrau zuvor wortlos von der Regisseurin abgewandt, um sich mit der Vorbereitung der Konzeptrealisierung zu beschäftigen, so markiert ihre nun wieder einsetzende verbale Aktivität (Z. 84-85), dass diese Vorbereitung abgeschlossen ist. Sie geht nun tatsächlich zum demonstrativen Teil über. 74 KA: das wäre dann richtig was vom staTIV, 75 einfach nur lange BRENNweite- 76 ein fester STAND, 77 KA: und du [(bist ran.)] 78 RE: [NEIN lucy. ] 79 RE: fahr en stück RAN. 80 (-) Aber; 81 <<h> eben erst FEST? > 82 und dann RAN. 83 (4.5) 84 KA: ja dann wäre das FESte? 85 wär dann Eher. Die vorherige Abwendung von der Regisseurin, der sie faktisch den Rücken zukehrt und dadurch eine ‘back-to-face’-Konstellation etabliert, signalisiert im Rahmen der übergeordneten Projektion den Übergang von der Interaktion über die kameratechnische Umsetzung der Konzeptvorstellungen der Regisseurin zur probeweisen kameratechnischen Umsetzung. Die wortlose Abwendung von der Regisseurin und die Hinwendung zur Kamera produzieren ein Display eingeschränkter ‘availability’. 32 Bei der Realisierung des Verfahrens spielt also neben der visuellen Eigenständigkeit und dem faktischen Einsatz der Kamera auch die Verbalität eine zentrale Rolle. Die Sprache hat - auf die Entwicklung des Verfahrens bezogen - kommentierende Qualität. Die Kamerafrau beschreibt zumindest am Anfang, als es darum geht, die Qualität ihres Verhaltens als probeweisen Einsatz der Kamera zu verdeutlichen, was sie tut. Die Kamerafrau verdeutlicht damit, dass sie immer noch dabei ist, die Züge der Regisseurin im Kontext ihrer Konzeptvermittlung relativ zu ihren spezifi- 32 Die Display-Vorstellung wird bei der videogestützten Interaktionsanalyse unter anderem benutzt von Goodwin (1981), der „Engagement“- und „Disengagement-Displays“ analysiert hat sowie Heath (1982a, b und 1984), der Analysen zu „Recipiency“- und „Availibility- Displays“ unternommen hat. <?page no="307"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 307 Schmitt_final schen Relevanzen umzusetzen. Sie thematisiert dabei die in der vorgängigen Aushandlung relevanten Aspekte, die auch in der letzten Äußerung der Regisseurin noch einmal formuliert worden sind: erst FEST? > und dann RAN. (Z. 81-82). Sie reproduziert also bei der Verfahrensrealisierung, indiziert durch ihre verbalen Kommentaraktivitäten, die in der Bezugsäußerung beschriebene Abfolge. Sie reformuliert dabei mit das FESte? ihre Formulierung einfach nur lange BRENNweiteein fester STAND, in Zeile 75 und 76 und rekontextualisiert dadurch, dass sie die zuvor nur verbalisierte kameratechnische Lösung nunmehr probeweise umsetzt. Zum anderen - und darin zeigt sich ein Aspekt von Kontinuität ihres zurückliegenden Dokumentationsverhaltens - verdeutlicht sie mit der zweimaligen Verwendung von dann die schlussfolgernde Qualität ihres Tuns. Sie ist immer noch dabei, aus den Reaktionen der Regisseurin relevante kameratechnische Konsequenzen zu ziehen. Sie verdeutlicht mit dem dann die Verarbeitung der Partnerreaktionen auf ihre Vorschläge. Es handelt sich um einen der vielen Fälle von Schlussverfahren, bei denen der Wenn-Teil, in dem im expliziten zweiteiligen Wenn-Dann-Format die relevanten Bezüge aufgegriffen und formuliert werden, nicht realisiert wird. Auffallend ist auch hier wieder die Tendenz zum ökonomischen Einsatz von Sprache. Die Beschreibung der Handlung, die sie durchführt, ist in unterschiedlicher Hinsicht reduziert: In Zeile 85 beispielsweise fehlt ein hinweisendes Element (etwa ein angehängtes so), das auf das momentan auf dem Videomonitor zu sehende Bild verweist. Hinsichtlich der interaktiven Konstitution von Retrospektivität ist ihre Kommentaräußerung ein interessanter Fall. das FESte? verweist zum einen in seiner unmittelbaren sequenziellen Position auf die vorgängige Äußerung der Regisseurin, hat jedoch als thematische Relevanz eine weiter zurückreichende Karriere. Die Kamerafrau re-kontextualisiert damit implizit auch ihre eigene - vor der letzten Äußerung der Regisseurin liegende - Gesamtbeschreibung richtig was vom staTIV, einfach nur lange BRENNweiteein fester STAND, (Z. 74-76). In dem sprachlich nicht präsenten Wenn-Teil sind also gewissermaßen die Äußerungen beider enthalten. Diese doppelte Retrospektivität ihrer Äußerung muss jedoch aus dem verbalisierten Dann-Teil erschlossen werden. 87 RE: JA? 88 (4.0) 89 RE: und JETZT? 90 (6.7) 91 RE: aHA. 92 (1.8) <?page no="308"?> Reinhold Schmitt 308 Schmitt_final Die probeweise Demonstration der Kamerabewegung scheint der Regisseurin zu lange zu dauern. So jedenfalls ist ihr aufforderndes JA? (Z. 87) zu verstehen, mit der sie auf die ‘Statik’ des Videobildes (das man vermittelt über die statische Kamera erschließen kann) reagiert und die Gesprächspause beendet. Die Regisseurin wiederholt nach weiteren 4 Sekunden, in denen es immer noch keine Demonstration der dynamischen Kameraphase gibt, ihre Aufforderung mit und JETZT? . Daraufhin demonstriert die Kamerafrau in der Gesprächspause (6.7), wie die Kamerabewegung aussehen würde. Das lakonische aHA. der Regisseurin als Reaktion auf das Bild am Videomonitor, ist als Verstehensdokumentation semantisch ebenso unspezifisch wie pragmatisch eindeutig: Es dokumentiert als „change of state-token“ (Heritage 1984) einen Erkenntnisgewinn bezüglich des Resultats der probeweisen Realisierung ihres Konzeptes durch die Kamerafrau: Sie ist mit dem Resultat ganz offensichtlich nicht zufrieden. Obwohl sie ihre Unzufriedenheit über das Ergebnis nicht formuliert, versteht die Kamerafrau die Reaktion der Regisseurin genau in diesem Sinne. Dieses Verständnis drückt sich darin aus, dass sie das Ergebnis der probeweisen Konzeptrealisierung zugunsten einer vorherigen Alternative (der ‘Rumfahrt’) selbst abwählt. Auch diese Alternative wird nicht benannt, vielmehr formuliert die Kamerafrau die negativen Implikationen der gerade eben probierten Lösung: der Charakter des Ranzens geht verloren. 93 KA: ich find das schöner Anders- 94 das sieht man richtig den chaRAKter? von dem 95 KA: RUCKsack ehrlich gesagt [(nicht mehr).] 96 RE: [.hh ] 97 es GEHT nicht um den charakter von dem 98 RE: [rucksack? sondern um den] GANG? von dem MANN? 99 KA: ja da STEHste es is- ] Die Regisseurin reagiert mit einer unmodalisierten Zurückweisung der Relevanzen der Kamerafrau. In einer durch den Einsatz eines Nicht-Sondern-Formats hinsichtlich der oppositiven Qualität hochgestuften Reaktion weist die Regisseurin die Kamerafrau darauf hin, dass der Aspekt, der gegen den letzten Lösungsvorschlag spricht, für die zu drehende Einstellung überhaupt nicht relevant ist. Damit markiert sie das von der Kamerafrau dokumentierte Verstehen bezogen auf ihr eigenes Konzept der Einstellung als irrelevant und die Äußerung der Kamerafrau somit als Missverständnis bzw. letztlich sogar als Nichtverständnis. <?page no="309"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 309 Schmitt_final 6.2.1.7 Initiative Verfahrensrealisierung (Regisseurin) Auch die Regisseurin wechselt nun in Reaktion auf die deutlich gewordenen unterschiedlichen Vorstellungen hinsichtlich der zu drehenden Einstellung bei ihrer Konzeptvermittlung die eingesetzten Mittel. Während sie zuvor primär sprachlich engagiert war, geht sie jetzt zur Darstellung des einen Konzeptaspektes über, der ihrer Meinung nach bei der Einstellung im Zentrum steht. Auch sie muss sich hierfür genau wie die Kamerafrau erst einmal adäquate Bedingungen für ihre Konzeptrealisierung schaffen. Dazu verlässt sie exakt mit Beginn ihrer Äußerung das is so- (Z. 101) ihre bisherige Position (Abb. 68) und geht auf die Kamerafrau zu, die inzwischen ihren Kamerawagen verlassen und sich in Richtung Fahrrad begeben hat, auf dem sich der zu filmende Ranzen befindet. Am Ende ihrer Äußerung ist sie bei der Kamera angelangt und spricht von dort aus mit der Kamerafrau (Abb. 69). 100 RE: (--) und das’ du machst den GANG von dem mann und du. 101 RE: da s is so- 102 RE: du schw’ sch webst so daHER; Abb. 68 Abb. 69 <?page no="310"?> Reinhold Schmitt 310 Schmitt_final Im Anschluss daran macht sie der Kamerafrau den Gang des Schauspielers vor, indem sie selbst den Weg abschreitet, den der Schauspieler (Peter, dessen subjektive Sicht, die Kamera einfangen soll) in der zu drehenden Einstellung zum Fahrrad zurücklegen wird. 103 RE: (--) <<staccato>d’ der geht s’-> 104 peter is so ZACKig. 105 EINS- 106 ZWEI- 107 DREI- 108 VIER- 109 ZACK- 110 is der an dem DING; 111 KA: [<<p> ja das stimmt.>] Sie setzt die dynamische Geh-Bewegung des Mannes in Bezug zu der von der Kamerafrau angebotenen Problemlösung du schw' schwebst so daHER; . ZA- CKig (Z. 104). Die Hervorhebung dieser Dynamik - und damit auch die des Gegensatzes zum Schweben - wird dadurch verstärkt, dass die Regisseurin jeden einzelnen Schritt, den sie macht, „zackig“ mitzählt (Abb. 70-73). 105 RE: EINS- 106 RE: ZWEI- 107 RE: DREI- 109 RE: ZACK Diese Schritte, die sowohl gegangen als auch beim Gehen gezählt werden, rahmt die Regisseurin zusätzlich durch das eröffnende Adjektiv ZACKig. und dem abschließenden ZACK-. Die Kamerafrau stimmt der Regisseurin mit der leise gesprochene Äußerung ja das stimmt. (Z. 111) explizit zu und übernimmt damit indirekt auch deren negative Bewertung des Ergebnisses ihrer probeweisen Konzeptrealisierung. Mit dieser Zustimmung endet auch der ausgewählte Ausschnitt. Abb. 70-73 <?page no="311"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 311 Schmitt_final Wir haben es hier also mit einem weiteren Fall des Verfahrens ‘probeweise Konzeptrealisierung’ zu tun, wobei es nunmehr die Regisseurin ist, die das Verfahren realisiert. Es ist interessant zu sehen, dass die Regisseurin mit ihrer Verstehensdokumentation auf jene der Kamerafrau reagiert und sich dabei des gleichen Verfahrens bedient: Zum einen ermöglicht die zweifache Verfahrensrealisierung die Möglichkeit der Kontrastierung gerade auch im Hinblick auf die sozialstrukturelle Indikativität der Verfahrensrealisierung. Zum anderen kann man ausgehend von der adjazenten Position der beiden Verfahren die Frage stellen, ob es unter bestimmten Bedingungen eine sequenzielle Implikation bestimmter Verfahren der Verstehensdokumentation gibt. Die Frage lautet konkret: Sind mit der Realisierung eines bestimmten Verfahrenstyps bestimmte Anschlussimplikationen verbunden, die sich als Kopiereffekt bei Verfahren zeigen, mit denen Interaktionsbeteiligte auf zuvor realisierte Verfahren antworten? Obwohl beide das gleiche Verfahren realisieren, lassen sich doch klare Unterschiede erkennen, die nicht zuletzt hinsichtlich der sozialstrukturellen Implikationen interessant und aussagekräftig sind. Auf einen Unterschied wurde bereits hingewiesen, nämlich die sequenzielle Spezifik der beiden Verfahren. Die Verfahrensrealisierung der Kamerafrau steht im Kontext ihrer Dokumentationsstrategie des Schlüsse-Ziehens und ist als zunächst modal angereicherte, dann transformierende Weiterführung dieser Strategie zu sehen. Sie reagiert auf die Karriere ihrer vorherigen Versuche, ein konzeptadäquates Verstehen zunächst primär sprachlich zu realisieren. Die Steigerungsbzw. Anreicherungsdynamik bei ihren Verstehensdokumentationen, die ihren Endpunkt in der Realisierung des Verfahrens ‘probeweise Konzeptrealisierung’ hat, ist gewissermaßen auch eine ‘Korrektur’ der anfänglich in dem analysierten Ausschnitt noch beobachtbaren Orientierung an der auf Antizipation basierenden Ökonomisierung der Kooperation. Diese Orientierung hat sich im Kontext der aktuellen Verstehensanforderungen weder als tragfähig noch als zielführend erwiesen und wurde daher modifiziert: zunächst von der Kamerafrau aus einer reaktiven Position (= dokumentieren, wie man den andern verstanden hat) und dann auch von der Regisseurin aus einer initiativen Position heraus (= dokumentieren, wie man verstanden werden will). Hinsichtlich der Entwicklung der analysierten Aushandlung zwischen der Regisseurin und der Kamerafrau und unter besonderer Berücksichtigung der Frage nach den Verfahren, mit denen beide Funktionsrolleninhaberinnen Verstehensdokumentationen realisieren, kann man also so etwas wie eine Angleichung hinsichtlich der Modalitäten der Verstehensdokumentationen beobach- <?page no="312"?> Reinhold Schmitt 312 Schmitt_final ten. Es scheint so zu sein, dass für Kamera und Regie in Reaktion auf die bisherige teilweise argumentativ-strittige Aushandlung der Einsatz zusätzlicher Modalitäten bei ihrem Bemühen, sich selbst verständlich zu machen und das Verstehen von Partneraktivitäten zu dokumentieren, eine vergleichbare und wohl auch motivierte Option darstellt. Dabei ist sequenziell betrachtet bei beiden der Einsatz darstellender, inszenierender oder vorführender Verstehensdokumentationen eine späte Option, die sukzessive als Reaktion auf vorangehende Züge entsteht und die zunächst dominante Ökonomieorientierung ablöst. 6.2.1.8 Interaktionsreflexive Konzeptimplikationen Fragt man danach, wie sich dieser Befund der späten Option hinsichtlich der Realisierung des Verfahrens ‘probeweise Konzeptrealisierung’ weiter deuten lässt, so wird eine retrospektive und interaktionsreflexive Implikation erkennbar. Die Realisierung des Verfahrens zeigt, dass im aktuellen Kontext der Kooperation zwischen den beiden Funktionsrolleninhaberinnen gewissermaßen ein Ausnahmefall vorliegt. An möglichen Gründen für die erhöhten Anforderungen an die Verstehensdokumentation lassen sich einige (die bereits in der zurückliegenden Analyse deutlich geworden sind) auflisten. Grundsätzlich ist die Transformation eines kognitiven Modells in die Intersubjektivität der Sprache eine komplexe Anforderung. Die Tatsache, dass die Regisseurin ihr kognitives Konzept nicht gleich zu Beginn der Aushandlung einmal vollständig expliziert, sondern kontinuierlich in der Aushandlung mit der Kamerafrau entwickelt, ist ein Hinweis darauf, dass ihr Konzept wahrscheinlich noch nicht vollständig und ausgearbeitet existiert. Empirische Evidenz zeigt sich in der Formulierungsdynamik ihrer Konzeptvermittlung, die mehrfach durch Abbrüche und durch allgemeine Vagheit der Darstellung gekennzeichnet ist. Das endgültige Konzept der Einstellung entsteht vielmehr erst durch die Dynamik aus Konzeptvermittlung (Regisseurin), kameratechnischem Lösungsvorschlag (Kamerafrau), Abwahl des Lösungsvorschlags und Formulierung neuer Konzeptaspekte (Regisseurin). Die Komplexität der Konzeptvermittlung zeigt sich auch darin, dass die Regisseurin in der dynamischen Aushandlung mit der Kamerafrau die relevanten Zusammenhänge nie als Ganzes darstellt, sondern eher durchgängig aspektualisiert, um was es ihr konkret geht. Diese Aspektualisierung, die sich gerade auch aus der Notwendigkeit ergibt, auf die Vorschläge der Kamerafrau zu re- <?page no="313"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 313 Schmitt_final agieren, führt dazu, dass im schnellen Wechsel sehr unterschiedliche Relevanzen im Vordergrund stehen: das Detail, der Stand des Mannes, der Gang des Mannes, die Fokussierung, ‘Schweben’ versus ‘Dynamik’ der Kamerabewegung etc. Auch die funktionsrollenspezifische Perspektivendivergenz zwischen den beiden Funktionsrolleninhaberinnen (lokale Produktorientierung bei der Kamerafrau versus ‘Schneiden’ bei der Regisseurin) trägt zur unterschiedlichen Relevantsetzung einzelner Aspekte bei. An dieser Stelle soll noch einmal betont werden, dass die probeweise Konzeptrealisierung a) gemessen an der Dauer und Erstreckung der gesamten Konzeptvermittlung ein spätes Verfahren ist, das unterstützend eingesetzt wird und auf die Karriere fehlgeschlagener, zunächst primär sprachlich, dann gestikulatorisch angereicherter Schlussverfahren reagiert; das zudem auch didaktische Züge trägt und auf die Evidenz der Anschaulichkeit des Kameraeinsatzes baut; b) ein settingspezifisches und settingreflexives Verfahren ist, denn die Möglichkeit zu dieser Art von Verstehensdokumentation besteht gerade dadurch, dass Verstehen hier nicht auf ein kognitives oder interaktionstranszendentes Produkt bezogen ist, sondern auf eine unmittelbar vor Ort herstellbare Objektivierung. Insgesamt muss man sich also davor hüten, so etwas wie die ‘Schuldfrage’ zu stellen und in diesem Zusammenhang beispielsweise der Kamerafrau ungenügendes Verstehen zu unterstellen, da ihre Vorschläge allesamt von der Regisseurin abgelehnt werden. Vielmehr muss man die gesamte Aushandlung als Klärungsprozess begreifen, in dem gerade die abgelehnten Vorschläge dazu beitragen, die Konzeptentwicklung bei der Regisseurin voranzutreiben. Dieser konstitutive Zusammenhang besteht ungeachtet der Tatsache, ob der positive Beitrag der abgelehnten Vorschläge zu irgendeinem Zeitpunkt gratifiziert oder explizit formuliert wird. Lediglich das erkennende aHA. (Z. 91) verdeutlicht - wenn auch in negativer Weise - die Kollaborativität des Prozesses der Konzeptentwicklung und Konzeptpräzisierung. In der hier analysierten Fallspezifik zeigt sich ein durchaus allgemeiner Zusammenhang, der vor allem im Hinblick auf Selbstverstehen interessant ist. Selbstverstehen ist nicht nur (oder vielleicht sogar nicht einmal in erster Linie) eine individuell-kognitive Leistung, sondern auch (und teilweise sehr weitgehend) das Ergebnis eines interaktiven Aushandlungsprozesses, in dessen Verlauf das Selbstverstehen überhaupt erst eine für die Vermittlung notwendige <?page no="314"?> Reinhold Schmitt 314 Schmitt_final Präzision und Qualität erlangt. So kann sich bei der Konzeptvermittlung zeigen, dass ein Interaktionsbeteiligter die Vermittlung eines Konzeptes, einer Idee oder einer Vorstellung nicht mit einer einmaligen Vermittlungsleistung erreichen kann. Er ist vielmehr gezwungen, sein Selbstverstehen in Reaktion auf demonstriertes (eingeschränktes) Fremdverstehen in Auseinandersetzung mit diesen reaktiven Verstehensdokumentationen sukzessive zu präzisieren und zu verändern. Nach erfolgreichem Abschluss dieses Prozesses hat sich so nicht nur das Ausmaß des Fremdverstehens durch diese verstehensdokumentarische Dynamik und der damit verbundenen Notwendigkeit, jeweils lokal auf Partnerdokumentationen reagieren zu müssen, vergrößert, sondern auch die das Konzept vermittelnde Interaktionsbeteiligte vollzieht eine Verstehensanreicherung mit: Auch sie selbst erreicht letztlich erst durch den interaktiven Prozess ein besseres Verständnis ihres anfänglichen Konzepts. In gewisser Weise kann man davon sprechen, dass der dynamische interaktive Austausch von Verstehensdokumentationen (und in diesem Kontext auch die initiativen Dokumentationen als Grundlage der Konzeptvermittlung) auch so etwas wie eine ‘selbstepistemische Qualität’ besitzen. 6.2.1.9 Sozialstrukturelle Implikationen des Verfahrens Hinsichtlich der sozialstrukturellen Implikationen der Realisierung des Verfahrens ‘probeweise Konzeptrealisierung’, die hier vor allem den Status und die arbeitsteilige Hierarchie der beteiligten Funktionsrolleninhaberinnen betreffen, ergeben sich interessante Einsichten. Es wird nämlich deutlich, dass beide Verfahrensrealisierungen im Hinblick auf sehr unterschiedliche Konstitutionsaspekte kontrastieren. Die Kontrastivität der unterschiedlichen Konstitutionsaspekte hat letztlich die Qualität eines strukturellen Merkmals, das unter dem gemeinsamen Dach des gleichen Verfahrens zu einer manifesten Differenz der Verfahrensrealisierung führt, deren sozialstrukturelle Bedingtheit mit Händen zu greifen ist. Schaut man sich die einzelnen Kontrastaspekte an, dann werden gleich mehrere Kontrastdimensionen deutlich. Diese stellen sich im Einzelnen wie folgt dar: - Dem reaktiven Einsatz der Kamerafrau als ‘Erfüllung der von der Regisseurin etablierten Reaktionsverpflichtungen’ steht die initiative Realisierung der Regisseurin gegenüber, die für die Kamerafrau Reaktionsverpflichtungen etabliert. <?page no="315"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 315 Schmitt_final - Der weitgehend reduzierten Beschreibung beim probeweisen Einsatz der Kamera sowie der dabei reduzierten Dynamik und Lautstärke steht die laut gesprochene und kontinuierliche Darstellung des aktuellen eigenen Tuns der Regisseurin gegenüber, die damit in unterschiedlichen Modalitäten Aufmerksamkeit beansprucht. - Dem deskriptiven Modus der Kamerafrau steht der erkennbar evaluative Modus der Regisseurin gegenüber, die zur Vorbereitung ihrer Verfahrensrealisierung das ‘Schweben’ der Kamera kritisiert und der Kamerafrau selbst vormacht, wie der Gang ‘richtig’ ist. - Der Konzentration auf die Kamera und der damit implizierten Abwendung von der Regisseurin steht der zackige, durch das laute Zählen der Schritte leicht aggressive Gang der Regisseurin direkt auf die Kamerafrau, die sich beim Fahrrad aufhält, gegenüber (unterschiedliche proxemische Profile als Statusindikation). Zusammengenommen deuten die dargestellten Kontrastdimensionen der Verstehensdokumentation auf zwei statusaffine und statusreproduktive Realisierungsmodi hin, wobei die Kamerafrau das reaktive Verfahren als Verstehensdokumentation ‘von unten’ und die Regisseurin das initiative Verfahren als Verstehensdokumentation ‘von oben’ vollzieht. 6.2.1.10 Fazit Die Analyse hat gezeigt, dass sich die zentrale Rolle der Regisseurin auch im Kontext wechselseitiger Verstehensdokumentationen - wie man selbst verstanden werden will und wie man den anderen verstanden hat - reproduziert. Es wurde deutlich, dass der Vollzug von Verstehensdokumentationen in funktionsrollenspezifischer Weise erfolgt und dass die Inhaberinnen der beiden Funktionsrollen auch dadurch kontinuierlich die hierarchischen Grundlagen ihrer Kooperation interaktiv (re-)konstituieren. Dies ist ein weiterer empirischer Beleg für die theoretische Annahme, dass die Orientierung der Mitarbeiter von professionellen Arbeitsgruppen an der zugrundeliegenden Organisationsstruktur ihrer Kooperation ein nicht hintergehbares Faktum darstellt (Schmitt/ Heidtmann 2002). Die Analyse des Ausschnitts eröffnet also gerade aufgrund des funktionsrollenspezifischen Vollzuges der Verstehensdokumentationen auch Einblicke in die ‘sozialstrukturelle Implikativität’ dieses spezifischen Verfahrens der Verstehensdokumentation und dessen Realisierung. Es wurde weiterhin deutlich, dass die probeweise Konzeptrealisierung im Vergleich mit anderen Verfahren eine ausgeprägte feldspezifische Qualität aufweist und diesbezüglich exemplarisch und in prototypischer Weise die Bear- <?page no="316"?> Reinhold Schmitt 316 Schmitt_final beitung verstehensspezifischer Anforderungen am Set reflektiert. Dieses Verfahren ist daher besonders geeignet, den theoretisch postulierten Zusammenhang zu verdeutlichen, wonach die Art und Weise, in der Verstehen in bestimmten Handlungsfeldern interaktiv relevant wird, die interaktiven Relevanzen des Handlungsfeldes selbst verdeutlicht und mit-konstituiert. Es hat sich gezeigt, dass die sozialstrukturelle Implikativität der Dokumentationsverfahren nicht nur in der funktionsrollenspezifischen Anhaftung einzelner Verfahren besteht, sondern dass auch die Spezifik der Verfahrensrealisierung eine vergleichbar wichtige Rolle spielt. Probeweise Konzeptrealisierungen sind von ihrer Konstitutionslogik Verfahren, die nur durch die detaillierte Rekonstruktion ihrer multimodalen Gesamtgestalt analytisch adäquat erfasst und in ihrer zentralen Funktionalität für die Kooperation in dem spezifischen Handlungsfeld beschrieben werden können. Sie zeigen so in eindringlicher Weise, welche konstitutive Rolle gerade nichtsprachlich-visuelle Realisierungen bei der Dokumentation von Verstehen in der Interaktion insgesamt (und nicht nur am Set) spielen. Aus der konstitutionsanalytischen Beschreibung der zurückliegenden Analyse kann man über Verstehen in diesem spezifischen professionellen Kontext schließlich lernen, dass es neben den bereits dargelegten Aspekten auch einen spezifischen Zusammenhang zwischen Verstehen und professioneller Kooperation gibt. Der ausgewählte Ausschnitt ist als Dokument dieses Verhältnisses prototypisch. Die hier beobachtbare Sprachökonomie, die sich als weitgehende Reduktion von Explizitheit und Präzision zeigt, in der über relevante Aspekte des aktuellen Kooperationszusammenhangs gesprochen wird, ist typisch für die professionelle Kooperation am Set. Empirische Evidenz für eine solche (sprach-)ökonomische Grundlage der professionellen Kooperation zeigt sich beispielsweise - im Offenlassen von Referenzen (etwa des Ranzens), - im Rückgriff auf professionsspezifische/ funktionsrollenspezifische Konzepte (Stichwort DRAUFsichtiger), durch die sich komplexe Zusammenhänge begriffsartig zusammenfassen lassen, - in der Reduktion des Tempus- und Modusgebrauchs und insgesamt - in einer weitgehenden Reduktion expliziter Verstehensdokumentationen. Der ausgewählte Ausschnitt zeigt jedoch auch die Grenzen einer solchen Ökonomisierung. Dies wird hinsichtlich verschiedener Aspekte im Kontext kom- <?page no="317"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 317 Schmitt_final plexer Verstehensanforderungen im künstlerisch-thematischen Bereich evident: bei der Konzeptvermittlung, bei der Wahrnehmungsrelevanz struktureller Perspektivität und der Relevanz funktionsrollenspezifischer Interpretationen des aktuellen Geschehens. In solchen Kontexten wird es zuweilen nötig, in Reaktion auf die faktische Interaktionsentwicklung explizitere Formen der Verstehensdokumentation zu praktizieren und etwas mehr von dem eigenen funktionsrollenspezifischen Wissen für den anderen Kooperationspartner zu explizieren, um eine ökonomische Realisierung des übergreifenden ‘joint project’ nicht zu gefährden. Die hierfür notwendige Entscheidung ist von den involvierten Beteiligten als Akt der Vermittlung zu treffen zwischen a) der ‘turn-by-turn’-Dynamik, die sich aus konzeptbezogenen Lösungsvorschlägen ergibt und zur lokalen Relevanz singulärer Konzeptaspekte führt, und b) dem übergeordneten Konzeptzusammenhang, über den letztlich nur eine der Funktionsrolleninhaberinnen verfügt: die Regisseurin. 6.2.2 Beispiel 2 Regisseurin und Schauspieler Das Verfahren ‘probeweise Konzeptrealisierung’ ist im Set-Zusammenhang ein probates Mittel bestimmter Funktionsrolleninhaber gerade für ihre Kooperation mit der Regisseurin. Besonders häufig findet man es (in der sequenziellen Ordnung: ‘erst Beschreibung, dann probeweise Konzeptrealisierung’) als Ressource von Schauspielern, die damit der Regisseurin verdeutlichen, wie sie eine Spielanweisung umsetzen wollen. Die Realisierung des Verfahrens ereignet sich dabei systematisch im unmittelbaren Vorfeld von Wiederholungsdrehs, wenn der vorherige Dreh besprochen wird, um daraus Konsequenzen zu ziehen. In solchen Fällen ist das Verfahren in der Regel monoaspektuell, d.h. auf einen einzelnen, klar fokussierten Aspekt bezogen: beispielsweise die Bewegung des Schauspielers, die Emotionalität seines Spiels oder die Schlichtheit seines Ausdrucks. Probeweise Konzeptrealisierungen sind häufig zwischen zwei Proben platziert, reagieren oft auf kritische Bemerkungen der Regisseurin und entwickeln bezogen auf diese Kritik häufig Alternativen oder verbesserte Angebote der Schauspieler. Dieses Angebot wird in der Regel von den Regisseuren explizit ratifiziert oder zurückgewiesen. Probeweise Konzeptrealisierungen haben als inhärenten interaktionsstrukturellen Aspekt ein Angebot zur Aushandlung und sind somit auf Ratifikation angelegt. <?page no="318"?> Reinhold Schmitt 318 Schmitt_final Beispiel 2: Regisseurin und Schauspieler Das zweite Beispiel für das Verfahren ‘probeweise Konzeptrealisierung’ entstammt einer solchen Kooperation von Regisseurin und einem Schauspieler. Es weist Parallelen, aber auch deutliche Unterschiede zum ersten Beispiel auf, das die Regisseurin und die Kamerafrau bei der Bearbeitung konzeptspezifischer Verstehensanforderungen zeigt. Die besondere Eignung für eine minimale Kontrastierung besteht darin, dass beide Fälle im Zusammenhang mit Konzeptverstehen realisiert werden, wobei es dieselbe Regisseurin ist, die als zentrale Verstehensanforderung die Vermittlung einer Idee, eines Konzeptes bearbeitet. 6.2.2.1 Interaktionsstrukturelle Spezifik des Verfahrens Die Crew hat gerade eine Szene geprobt, in der der Schauspieler aus dem Gebäude tritt. Er nähert sich seinem Fahrrad, erkennt den roten Ranzen des Jungen, wegen dem er zu spät zum Vorstellungsgespräch gekommen ist, auf seinem Gepäckträger festgeklemmt und geht wütend auf sein Fahrrad zu. Er flucht dabei über den Jungen, von dem er annimmt, dass er sich in der Nähe irgendwo versteckt hat. An seinem Fahrrad angekommen, nimmt er den Ranzen vom Gepäckträger, erkennt ein Adressschild und beginnt die Adresse vorzulesen, wobei ihm langsam dämmert, dass dies die Adresse einer Frau ist, mit der er vor einigen Jahren eine Beziehung hatte. 6.2.2.2 Kritik der Regisseurin (emotionaler Moment) #6 kleines aas (Set-UG/ 20/ 02/ 04/ Take-12-RS) 01 RE: es war- 02 ((lacht)) 03 (1.1) 04 RE: <<lachend>~that was~ (.) hOPPsala> 05 (--) 06 <<t>~a little bit~> 07 (-) <<lachend> ~too much~> Der Ausschnitt beginnt mit der spaßig modalisierten Kritik der Regisseurin am Spiel des Schauspielers in der zurückliegenden Szene. Die Modalisierung wird erreicht durch die Sequenzialität des Lachens, das eine Äußerungsproduktion in Deutsch es war- (Z. 01) unterbricht, und der Reformulierung dieser Äußerungsstruktur in Englisch ~that was~ (Z. 04). Da die Sprache am Set Deutsch ist, stellt der Sprachenwechsel im Zusammenhang mit dem Lachen, <?page no="319"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 319 Schmitt_final das es kontextualisiert, eine Modalitätsmarkierung dar (= eingeschränkte Ernsthaftigkeit). Die Regisseurin kritisiert den Schauspieler dahingehend, dass er sein Spiel übertrieben hat ~that was~ (.) hOPPsala> (--) << t >~a little bit~ > (-) << lachend > ~too much~>. In Form einer Modalitätsangleichung realisiert auch der Schauspieler mit ~too much~ eine Äußerung in Englisch, mit der er zu erkennen gibt, dass er den zentralen Informationskern (Kritik an seinem Spiel, Vorwurf, überzogen zu haben) verstanden hat. Diese Äußerung ist eine spezifische Form der Verstehensdokumentation und hat als solche verschiedene Implikationen. Aufgrund der prosodischen Realisierung ist eine Nachfrage, die Nicht-Verstehen signalisieren würde, auszuschließen. In gesprächsorganisatorischer Hinsicht ist dieses Teilzitat ein untergeordneter Turn, der den aktuellen Sprecher in seinem etablierten Recht anerkennt und keinerlei Anzeichen hinsichtlich Äußerungsexpansion und damit verbundener Etablierung als nächster Sprecher aufweist. Durch die Sprachwahl und der damit zusammenhängenden Angleichung an die Regisseurin macht der Schauspieler auch klar, dass er die spezifische Modalität, in der die Kritik erfolgt, verstanden und durch den eigenen Gebrauch akzeptiert hat. 08 SP: ~too [much~ ] 09 RE: [<<lachend>jo meia] 10 RE: .hh nee dieser wenn du das runterreißt.> 11 SP: jaHA 12 RE: <<lachend>ja> 13 RE: [((lacht))] 14 SP: [zu viel ] 15 RE: <<lachend>n bisschen SPAß muss der PEter ja auch 16 haben.> Im Folgenden tauschen sich die beiden darüber aus, was genau ~a little bit~> (-) << lachend > ~too much~> war, wobei die Regisseurin auf die Verstehensdokumentation des Schauspielers zunächst in Bayerisch mit jo meia antwortet und dadurch seine Selbstkritik bekräftigt. Erst im Anschluss wechseln beide in die hochdeutsche Normallage, die für die verbale Kooperation am Set typisch ist. Die Regisseurin markiert diesen Wechsel durch das nee, mit der sie eine Mikropause beendet, die anschließend begonnene Äußerung jedoch zugunsten eines Neuanfangs gleich wieder abbricht. Mit ihrer anschließenden Äußerung wenn du das runterreißt. macht sie klar, in Bezug worauf der Schauspieler in der vorherigen Probe überzogen hatte. Dabei referiert das auf den Ranzen, der auf dem Gepäckträger des Fahrrads festgeklemmt war. Diesen <?page no="320"?> Reinhold Schmitt 320 Schmitt_final hatte der Schauspieler in einer großen, teilweise überdramatisierten und leicht slapstick-mäßigen Art vom Gepäckträger gerissen. Er versteht die Referenz und reagiert mit einem freudigen jaHA auf die Präzisierung der Kritik, worauf die Regisseurin kurz lachen muss. Dieses jaHA besitzt vergleichbar dem vorherigen too much verstehensindikative Qualität. Der Schauspieler macht damit klar, dass er die Kritik der Regisseurin für angemessen erachtet. Er wiederholt im Anschluss mit zu viel noch einmal das anfängliche too much der Regisseurin und damit auch noch einmal, was auch aus seiner Sicht der zentrale Fehler seines zurückliegenden Spiels war. Die Regisseurin beendet ihre Kritik und behält dabei ihre grundsätzliche Modalisierung bei. Mit ihrer lachend realisierten Äußerung bisschen SPAß muss der PEter ja auch haben. formuliert sie ihr Verständnis dafür, dass auch der Schauspieler, der sonst immer ihren Anweisungen Folge leisten muss, sich selbst zuweilen etwas Spaß organisiert - beispielsweise durch das Überziehen seines Spiels als spontane Slapstick-Einlage. Diese Äußerung ist ein expliziter ‘account’ der unernsten Kritikmodalität, die zuvor durch Lachen und Code- Switch und indikative Prosodie kontextualisiert wurde. 6.2.2.3 Entwicklung eines ersten Lösungsvorschlags Kurze Zeit später entwickelt der Schauspieler als Alternative zu seinem zurückliegenden Spiel einen Alternativvorschlag. ((9.2)) 26 SP: also Eigentlich (.) würde man das ja schon- 27 wenn ich den DA erKENNe- 28 (-) wuPP- 29 (---) 30 SP: is das NA.: das is Ja 31 SP: a=also auf [dem WEg, <<f> DU KLEInes ] Aas; > 32 RE: [ja=nei=nein das is das nicht.] 33 SP: [wo steckst du; ] 34 RE: [NEE-Ne=nee ] 35 (.) mach das nich. Interessant ist dabei, dass er diesen Vorschlag nicht in Ich-Form formuliert, sondern dafür das unpersönliche, semantisch pluralische man benutzt (Z. 26). Er beginnt also die Vorschlagsentwicklung unter der Perspektive eines allgemeinen Räsonierens und wechselt erst, als er tatsächlich auf seinen Beitrag als Schauspieler zu sprechen kommt, in die Ich-Form. <?page no="321"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 321 Schmitt_final Sein Vorschlag, der durch also als Diskursmarker für Modalitäts- und Aktivitätswechsel eingeleitet wird, besteht darin, die zu spielende Szene - anders als von der Regisseurin vorgesehen - zu organisieren und sein Erkennen der Situation („aha, das ist der Ranzen des Jungen, wegen dem ich zu spät zu meinem Vorstellungsgespräch gekommen bin“) wesentlich früher, d.h. bereits auf dem Weg zum Fahrrad (a=also auf [dem Weg, f > DU KLEInes ] Aas; >) (Z. 31) und nicht erst dort zu zeigen. Hierauf reagiert die Regisseurin zu einem sehr frühen Zeitpunkt, an dem sie die weitere Entwicklung des Vorschlags eigentlich nur erahnen kann. Dadurch kommt es zu einer längeren Simultanpassage, in der der Schauspieler seinen Vorschlag zu Ende formuliert und die Regisseurin diesen bereits ablehnt [ ja=nei=nein das is das nicht.] (Z. 32). Sie liefert zunächst keinen Grund für ihre Zurückweisung des Vorschlags, sondern formuliert in der Modalität fragloser Sicherheit das nicht. Im Vergleich zu ihrer lakonischen Ablehnung der Lösungsvorschläge der Kamerafrau investiert sie hier erkennbar mehr interaktive Energie und produziert mehr Formulierungsmaterial. Zwar evaluiert sie wie bei der Kamerafrau auch hier den Vorschlag des Schauspielers in negativer Weise, es ist jedoch die Spezifik dieser Evaluation, die im Vergleich Differenzqualität etabliert. In gewisser Hinsicht drückt sich in dem interaktiven Aufwand, mit dem die Regisseurin ablehnend auf den Vorschlag des Schauspielers reagiert, ein größeres Maß an Bereitschaft aus, sich damit auseinanderzusetzen. Eine lakonische Äußerung würde im Vergleich dazu den Vorschlag mit einem Wisch ‘wegfegen’. Zudem liefert sie im Anschluss selbst eine Begründung für ihre Ablehnung, was im Hinblick auf den Vorschlag ebenfalls - wenn auch indirekt - relevanzhochstufend wirkt. Gegenüber der Kamerafrau hatte sie primär auf die negativen Aspekte der Vorschläge verwiesen, ohne zu begründen, warum die Ablehnung erfolgt. Sie weist also zunächst den Vorstoß des Schauspielers explizit zurück [NEE- Ne=nee] und formuliert dann ihre Ablehnung noch einmal explizit mach das nich. Sie beginnt im Anschluss eine Äußerung, in der sie positiv formuliert, was der Schauspieler stattdessen machen soll mach das bitte-. Sie bringt diese Äußerung jedoch nicht zu Ende - es fehlt ein Hinweis darauf, was er konkret machen soll - sondern realisiert eine Begründung, die an den davor offen gelassenen Hinweis (mach das nicht., Z. 35) anschließt: weil ich das hier brauche. <?page no="322"?> Reinhold Schmitt 322 Schmitt_final 6.2.2.4 Begründungen im Kontext der Konzeptvermittlung Beispiel 1: weil ich das hier brauche 36 RE: mach das bitte- 37 weil ich das hier brauche. 38 SP: okay. 39 RE: groß 40 SP: [okay ] 41 RE: [weil da bist] du noch amerikanisch (.) Mit ihrer Äußerung weil ich das hier brauche. liefert sie den Grund, der gegen den Vorschlag des Schauspielers spricht, das Erkennen bereits auf dem Weg zum Fahrrad zu spielen: Das Erkennen soll erst erfolgen, wenn der Schauspieler bereits am Fahrrad (hier) angekommen ist. Diese Antwort wird durch den Nachschub groß noch spezifiziert und verweist auf die Kameraeinstellung, in der das Erkennen gedreht werden wird: mit dem Gesicht des Schauspielers in Großaufnahme. Hier zeigt sich, dass für das Konzept, das die Regisseurin von dieser Szene hat, eine klare räumliche Struktur konstitutiv ist. Diese räumliche Struktur gliedert die Szene (und damit auch das Spiel des Schauspielers) klar in zwei unterschiedliche Teile, die bislang in der zurückliegenden Konzeptaushandlung nur implizit thematisch waren und zwar als ‘Da-Hier-Kontrast’. Im ‘Da-Kontext’ findet die Bewegung des Schauspielers zum Fahrrad hin statt, im ‘Hier-Kontext’ steht der Schauspieler bei seinem Fahrrad und schaut sich nach dem Besitzer des Ranzens um. Auf den Nachtrag groß, der aus der Perspektive der Kameraeinstellung das hier neu perspektiviert und dadurch präzisiert, reagiert der Schauspieler mit okay. Er gibt damit zu erkennen, dass er die Ausführungen der Regisseurin trotz der weitreichenden Ökonomisierung ihrer Konzeptvermittlung verstanden hat. Aspekte der Sprachökonomie sind hier: der Verzicht auf explizite Referenzen wie beispielsweise den (Z. 5 = Ranzen), implizite und unmarkierte Kontrastbildung wie hier (Z. 37) versus da (Z. 41). Es sind alles pronominale oder deiktische Aspekte, die geteiltes Hintergrundwissen relevant machen, das zum Verstehen dieser Ausdrücke nötig ist. Dies wiederum verweist auf eine starke Präsupposition von geteiltem Wissen. Wir sehen hier eine Veränderung in der bisherigen Konzeptvermittlung der Regisseurin, die sich im Folgenden noch weiter fortsetzen wird. In ihrem Verhalten wird ein allgemeiner Aspekt deutlich, der insgesamt für Konzeptverstehen als interaktiver Prozess charakteristisch ist und der auch bereits im zuvor <?page no="323"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 323 Schmitt_final analysierten Fall der Kooperation der Regisseurin mit der Kamerafrau deutlich wurde: Die Regisseurin formuliert ihr spezifisches Konzept, das sie hinsichtlich der Produktion einzelner Szenen hat, nur dann, wenn aufgrund der konkreten Interaktionsentwicklung die Notwendigkeit hierzu entsteht. Solange die Kooperation im Sinne des ‘joint project’ zielorientiert und erfolgreich läuft, organisiert die Regisseurin ihren verbalen Austausch in ökonomischer Weise. Nur wenn ihr der konkrete Interaktionsverlauf im Kontext ihrer Vermittlungsbemühungen verdeutlicht, dass sie einen Teil ihres spezifischen Konzeptwissens explizit formulieren muss, geht sie dazu über, Einblicke in ihr Konzept zu geben und dabei ihre Haltung und ihre Entscheidungen zu begründen. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch eine Veränderung, welche die multimodale Realisierung der Konzeptvermittlung der Regisseurin betrifft. Gleichzeitig mit Beginn der begründenden Explikation relevanter Wissenshintergründe wird die Regisseurin auch gestikulatorisch aktiv(er) und verdeutlicht damit ihre verbalen Ausführungen noch in einem anderen Medium als dem der Sprache. Bislang standen sich Regisseurin und Schauspieler - getrennt durch das Fahrrad - in etwas größerem Abstand gegenüber. Die Regisseurin gibt ihre bis dato statische Position im Kontext der Vorbereitung ihrer ersten Begründung auf (Abb. 74), tritt näher an das Fahrrad heran und beginnt gleichzeitig mit ihrer rechten Hand zu gestikulieren (Abb. 75-76). 34 RE: [NEE-Ne= nee] 35 RE: das n i ch. 37 RE: h ie r brauche Genau zu dem Zeitpunkt, als sie mit ihrer Äußerung weil ich das hier brauche bei hier, dem relevanten Bezugsaspekt für das ‘Erkennen’, angelangt ist, ist sie auch bei dem Fahrrad angekommen und hat einen stabilen Stand erreicht. Nun vollzieht sie - als Teil ihrer bereits kurz zuvor begonnenen Gestikulation - mit ihrer rechten Hand eine kurze Bewegung nach unten und hebt sie im Anschluss sofort wieder hoch, wodurch das hier als besonders relevant markiert wird. Abb. 74-76 <?page no="324"?> Reinhold Schmitt 324 Schmitt_final Beispiel 2: weil da bist du noch amerikanisch Die Regisseurin bleibt weiterhin im Begründungszusammenhang (weil ) und liefert nun für den Schauspieler wichtige Informationen, wie die Kamera sein Spiel konkret einfangen wird 41 RE: [weil da bist] du noch amerikanisch (.) 42 du läufst auf. 43 SP: aha (-) okay ‘Amerikanisch’ verweist auf eine Kameraeinstellung, bei der die Person ab den Knien aufwärts zu sehen ist (auch ‘medium long shot’ oder ‘knee shot’), das ‘Auflaufen’ bezeichnet eine Kameraeinstellung, bei der der Schauspieler in den von der unveränderten, d.h. statischen Kamera produzierten Ausschnitt hineinläuft, bei der also die Kamera seiner Bewegung nicht mit einer eigenen Bewegung folgt. Auch hier begleitet die Regisseurin ihre verbalen Ausführungen durch gestikulatorische Aktivitäten. Als sie dem Schauspieler verdeutlicht, dass er „da noch amerikanisch“ ist, bringt sie zur Verdeutlichung der Distanz zum aktuellen Standpunkt der beiden am Fahrrad (dem hier) ihren rechten Arm mit ausgestreckten Fingern zur vollen Streckung und berührt dabei fast den Schauspieler (Abb. 77). Als sie beschreibt, dass er in die statische Kamera hineinläuft, macht sie mit Arm und Hand eine Bewegung zu sich hin und symbolisiert dadurch die Perspektive der Kamera (Abb. 78). Als sie ihre Äußerung beendet hat und der Schauspieler mit einem aha reagiert, hängen beide Arme lose an ihrem Körper herunter, da sie momentan ganz offensichtlich nicht zur Verdeutlichung relevanter Sachverhalte gebraucht werden (Abb. 79). 41 RE: noch amerikani sch Abb. 77 <?page no="325"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 325 Schmitt_final 42: RE: du läufst au f. 46: (-) Auf diese begründenden Hinweise reagiert der Schauspieler in zweifacher Weise mit einer verstehensindikativen Rückmeldung: zunächst mit einem erkennenden aha, dann - nach einer Mikropause - mit einem zustimmenden und akzeptierenden okay. Die Bezugsobjekte dieser beiden Verstehensdokumentationen lassen sich wie folgt unterscheiden: Das aha signalisiert den Neuigkeitswert, den die Begründung für den Schauspieler besitzt und damit seine veränderten Verstehensgrundlagen hinsichtlich der Abwahl seines Lösungsvorschlages durch die Regisseurin und hinsichtlich der Art und Weise, wie er sich bewegen soll. Das okay hingegen zeigt seine Bereitschaft an, die Konsequenzen umzusetzen, die diese Einstellungsangabe für sein Spiel in der nächsten Probe hat. 6.2.2.5 Erste probeweise Konzeptrealisierung (Regisseurin) Im nächsten Schritt ihrer Konzeptvermittlung variiert die Regisseurin nun den gerade dargelegten Aspekt der Kameraeinstellung und der damit zusammenhängenden Größe des Ausschnitts. Konkret verdeutlicht sie dem Schauspieler, welcher Teil seines Körpers in der amerikanischen Einstellung tatsächlich erfasst wird weißt da bist du SO-. 44 RE: weißt da bist du SO- 45 so bist du- 46 (-) 47 RE: und da seh ich also nich 48 (--) 49 RE: dIEses- <<p>das: (.) GIBT=s doch gar nicht; .h> Auch hier erfolgt wieder der Verweis auf die Einstellung durch da, was auf den Bewegungskontext verweist, und erneut unterstützt die Regisseurin ihre verbalen Ausführungen gestikulatorisch. Als sie die Größeneinstellung ver- Abb. 78-79 <?page no="326"?> Reinhold Schmitt 326 Schmitt_final deutlicht, geht sie zunächst etwas in die Knie und zeigt mit der linken Hand, die sie etwas über Kniehöhe hält (Abb. 80), ab wo die Kamera den Schauspieler erfasst. Bei der Wiederholung so bist Duist sie wieder im Stand, kennzeichnet aber weiterhin mit der linken Hand den Bildausschnitt (Abb. 81). Diese Anzeige hält sie bis da seh ich konstant (Abb. 82). 44 RE: weißt da bist du SO- 45 RE: so bist du- 47 RE: und da seh ich also nich Ihre Gestikulation ändert sich erst im Übergang zur Beschreibung der Implikationen, die mit dieser Einstellung zusammenhängen, dass nämlich der mimische Ausdruck, den die spätere Großaufnahme einfangen wird, nicht zu sehen sein wird. In diesem Zusammenhang realisiert die Regisseurin ein interessantes Vermittlungsverfahren, das wir uns im Folgenden etwas genauer anschauen wollen. Dieses Vermittlungsverfahren besteht aus zwei aufeinander bezogenen Teilen: einer Ankündigung und einer Darstellung. Abb. 80-82 <?page no="327"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 327 Schmitt_final Den Ankündigungsteil realisiert die Regisseurin hier mit der Äußerung und da seh ich also nich (--) dIEses-,. Simultan mit ihrer Äußerungsentwicklung da seh ich also nich (--) führt die Regisseurin zunächst ihre linke geöffnete Hand, dann auch ihre rechte bis etwa in Kopfhöhe (Abb. 83-84) und hält beide Hände bei nich für einen Moment rechts und links neben ihren Kopf (Abb. 85). Während der ganzen Zeit dieser Handbewegung blickt sie den Schauspieler an. Mit ihren multimodalen Aktivitäten bearbeitet sie folgenden Aspekt ihrer Konzeptvermittlung: Sie fokussiert die Aufmerksamkeit des Schauspielers auf etwas, was sie nicht explizit benennt, sondern nur enaktierend darstellt: die Großaufnahme seines Gesichts, wie es die Kamera nachher festhalten wird. Abb. 83: also Abb. 84: also Abb 85: nich 47 RE: und da seh ich a ls o ni ch Bevor sie dann mit dem Darstellungsteil beginnt, wendet sie in der Mikropause (--) (Z. 48) vor dIEses (Abb. 86) zunächst ihren Blick vom Schauspieler ab und senkt diesen etwas nach unten. Danach löst sie auch ihre Handhaltung auf. Auch diese Handhaltung hat ihre Funktionalität im Zusammenhang mit der enaktierenden Darstellung. 48 (--) Ihre Darstellung - und damit der zweite Teil ihres Vermittlungsverfahrens - besteht aus einem Teil des Drehbuchtextes, den der Schauspieler spricht, wenn er beim Fahrrad angekommen ist. Diesen Text spricht die Regisseurin jedoch Abb. 86 <?page no="328"?> Reinhold Schmitt 328 Schmitt_final nicht einfach, sondern taucht für einen kurzen Moment in die Rolle des Schauspielers ein und spielt diesem den kurzen Moment vor. Sie versetzt sich also in die Lage des Schauspielers und demonstriert, wie aus ihrer Perspektive der Text in der gewünschten Einstellung gesprochen werden kann, nämlich leise und etwas gepresst: <<p>das: (.) GIBT=s doch gar nicht; . 49 RE: d IE ses- <<p>das: (.) GIBT=s doch gar ni cht ; > .h Dass sie nicht einfach nur den Text spricht, sondern für den Schauspieler probeweise ihr Konzept genau jenes Momentes realisiert, in dem sich das Erkennen ereignet, zeigt das Fehlen jeglicher deskriptiver oder kommentierender Aspekte, die prosodische Realisierung der Äußerung, sowie die Tatsache, dass die Regisseurin den Blick vom Schauspieler abgewandt hat (Abb. 87). Sie realisiert diese Äußerung nicht für einen spezifischen Adressaten, sondern vollbringt ihre probeweise Konzeptrealisierung viel eher für ein anonymes Publikum. Sie verhält sich also genau so, wie sich der Schauspieler nachher im Dreh verhalten soll, der seinen Drehbuchtext auch nicht spezifisch adressiert. Erst als sie mit ihrer Darstellung zu Ende kommt, blickt sie den Schauspieler wieder an. Sie hat zudem beide Arme und Hände wieder seitlich an ihrem Körper und verdeutlicht auch dadurch, dass sie mit ihrer kleinen Vorführung zu Ende ist. (Abb. 88). 6.2.2.6 Zitat der probeweisen Konzeptrealisierung (Regisseurin) Die Regisseurin beendet nach ihrer kleinen Vorführung eine Mikropause (.) mit also ich-, entwickelt die projizierte Äußerung jedoch zugunsten eines Umbaus nicht weiter. Sie wechselt mit duzunächst die Perspektive (von ich zu du), entscheidet sich jedoch nach einer kurzen gefüllten Pause mh dazu, wieder zu ihrer zuvor abgebrochenen Äußerung zurückzukehren und diese nun mit ich f=brauch das großkleines aas [wo STECkst du? zu Ende zu bringen. Abb. 87-88 <?page no="329"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 329 Schmitt_final 50 RE: also ichdumh ich f=brauch das groß- 51 RE: kleines aas [wo STECkst du? zack] zack- 52 SP: [okay=kay ] 53 (--) Das also markiert dabei den Wechsel zwischen zwei verschiedenen Darstellungsmodi. Die Regisseurin verdeutlicht damit, dass sie von dem performativen Darstellungsmodus ihrer probeweisen Konzeptrealisierung zu einem deskriptiven Modus wechselt. Sie zitiert dabei zwar mit kleines aas [wo STECkst du? den Drehbuchtext, tut dies jedoch in erster Linie um für den Schauspieler das Verständnis zu ermöglichen, wie sich der enaktierte Gesichtsausdruck in Großaufnahme zum Sprechtext des Drehbuchs verhält. Sie realisiert jedoch keine vergleichbare inszenatorische Darstellung mehr. Dies wird auch in verschiedener Hinsicht deutlich: Es gibt keinerlei Ankündigung für eine Darstellung und der Äußerung fehlen jegliche Hinweise auf eine performative Qualität, wohingegen ihre Unmarkiertheit sehr gut zu einer reflexiven Funktionalität passt. Der Hinweis ich f=brauch das groß- (Z. 50) bezieht sich auf die Kameraeinstellung, die das Gesicht des Schauspielers bei der Äußerung kleines aas [wo STECkst du? (Z. 51) im Großformat einfangen soll. Nachdem die Regisseurin ihre Vorstellung des Spiels des Schauspielers vorgeführt hat, geht es bei der nochmaligen Wiederholung der Äußerung kleines aas [wo STECkst du? lediglich darum, den Moment zu verdeutlichen und in der Szene, die groß gebraucht wird, präzise zu lokalisieren,. Wie schon zuvor begleitet der Schauspieler die Ausführungen mit verstehensindikativen Rückmeldungen: Er nickt zunächst bei kleines, was eine leicht verzögerte Reaktion auf den wiederholten Hinweis darstellt, dass dieser Text erst in der Großaufnahme gesprochen wird, wenn der Schauspieler bereits am Fahrrad zum Stehen gekommen ist. Dann verbalisiert er sein Verstehen und seine Akzeptanz simultan mit dem wo STECkst der Regisseurin mit einem leicht gedehnten okay=kay, was eine Reaktion auf den zitierten Drehbuchtext der Regisseurin ist. Diese Reaktion erfolgt zu einem frühen Zeitpunkt, an dem der Schauspieler identifizieren kann, dass der Text tatsächlich auf das Drehbuch verweist. Dazu muss er nicht die vollständige Realisierung der Regisseurin abwarten. Als weiteren Schritt im Rahmen ihrer Konzeptvermittlung realisiert die Regisseurin im unmittelbaren Anschluss die Äußerung zack zack-. 51 RE: kleines aas [wo STECkst du? zack] zack- <?page no="330"?> Reinhold Schmitt 330 Schmitt_final Welche Funktion diese Äußerung im aktuellen Zusammenhang hat, wird erst klar, wenn man sich anschaut, wie sich die Regisseurin bei ihrer Äußerung körperlich verhält. Sie ist nämlich immer noch dabei, dem Schauspieler zu zeigen, wie sie sich sein Verhalten in der fraglichen Einstellung am Fahrrad vorstellt. Sie tut dies, indem sie ihre verbale Äußerung dadurch ‘semantisiert’, dass sie - in Form eines körperlichen Kommentars - verdeutlicht, was sie damit meint. Mit der Realisierung des ersten zack dreht sie ihre Schulter und ganz leicht auch ihren Oberkörper nach rechts ein, wendet ihren Kopf ebenfalls nach rechts und blickt an dem Schauspieler vorbei in die Ferne (Abb. 89). Mit der Realisierung des zweiten zackbringt sie ihre Schulter und ihren Oberkörper wieder in die Startposition zurück, wendet jedoch den Kopf noch etwas nach links und blickt abermals seitlich an dem Schauspieler vorbei (Abb. 90). 51 RE: kleines aas [wo STECkst du? za ck] z a ck- Die Regisseurin zeigt dem Schauspieler damit, wie er sich am Fahrrad verhalten soll. Er soll sich nach dem Jungen suchend einmal nach rechts und nach links wenden. Die ansatzweise Enaktierung ihrer Vorstellung, bei der sie dem Schauspieler ihr Konzept vorführt, erspart der Regisseurin eine detaillierte Beschreibung des Verhaltens, das sie vom Schauspieler erwartet. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass der Schauspieler ihre Enaktierung genau in diesem Sinne versteht. Die Regisseurin geht dann dazu über, den für sie zentralen Punkt der Fahrrad- Großaufnahme zu formulieren: Der Schauspieler soll - wobei sie nicht formuliert, wie er das genau machen soll (das überlässt sie seiner Professionalität) - diese Einstellung am Fahrrad, in der er in Großaufnahme zu sehen sein wird, zu einem emotionalen Moment ausgestalten. Abb. 89-90 <?page no="331"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 331 Schmitt_final 54 RE: und dann- (.) und dann brauch ich eben diesen 55 RE: [emotionalen moment. ] Im gewissen Sinne lassen sich die gesamten zurückliegenden Vermittlungsanstrengungen der Regisseurin funktional und im Sinne einer schrittweisen Vorbereitung auf genau diesen emotionalen Moment beziehen: Seine Darstellung ist sowohl der zentrale Kern der Einstellung als auch eine Herausforderung für den Schauspieler. Um ihm die besten Voraussetzungen für die Darstellung dieser Emotionalität zu geben, sind die kameraperspektivischen Informationen über die amerikanische Einstellung, das Auflaufen und die Großaufnahme im Stehen wichtige Orientierungen für sein Spiel. Die konkrete Realisierung ihrer letzten Äußerung, vor allem die mit zunehmender Äußerungsentwicklung sukzessive zurückgenommene Lautstärke, ist ein Hinweis darauf, dass die Regisseurin an diesem Punkt an einem vorläufigen Ende ihrer Konzeptvermittlungen angelangt ist. Die leiser werdende Äußerung besitzt klare gesprächsorganisatorische Implikationen und kann als Vorbereitung des Rückzuges aus der Sprecherrolle und damit als Angebot an den Schauspieler verstanden werden, auf die zurückliegenden Ausführungen der Regisseurin zu reagieren. Ein erstes Resümee der Bemühungen der Konzeptvermittlung der Regisseurin macht Folgendes deutlich: Was als prägender Aspekt manifest wird, ist die deutliche Kontrastivität zu ihren Vermittlungsbemühungen in der Kooperation mit der Kamerafrau. Dort hatte sie sich primär darauf beschränkt, auf Vorschläge der Kamerafrau zu reagieren, und sich sehr weitgehend zurückgehalten, durch detaillierte Ausführungen zu ihrem Konzept und durch die Begründung ihrer Abwahl der unterbreiteten Vorschläge der Kamerafrau das Verstehen ihres Konzeptes zu erleichtern. Hier zeigt sich demgegenüber, dass sich die Regisseurin sehr viel Mühe gibt, dem Schauspieler möglichst detailliert verständlich zu machen, wie ihr Konzept der Szene aussieht. Sie setzt dabei unterschiedliche Mittel und Verfahren ein, die von der Mitteilung einstellungstechnischer Details bis hin zur probeweisen Konzeptrealisierung reichen. Außerdem wurde deutlich, dass sich die Regisseurin mit der Formulierung von negativen Bewertungen zurückhält. Sie führt eher externe Gründe für ihre Abwahl an. Eine solche Kooperationsgestaltung schützt die Arbeitsbeziehung, indem weitgehend auf mögliche Face-Bedrohung verzichtet wird. Zwar ist auch hier eine deutliche Orientierung an Sprachökonomie zu <?page no="332"?> Reinhold Schmitt 332 Schmitt_final erkennen, aber die Bereitschaft, die verbalen Ausführungen hinreichend zu präzisieren und gegebenenfalls durch andere Modalitäten zu sichern und zu verdeutlichen, ist klar erkennbar. Es ist eine interessante Frage - die an dieser Stelle zunächst noch offen bleiben muss - unter Bezug auf welche relevanten Aspekte der Interaktions- oder Organisationsstruktur des Handlungsfeldes man dies erklären kann. Wenden wir uns zunächst aber wieder der Analyse dieses Ausschnitts zu und rekonstruieren, wie der Schauspieler auf die zurückliegenden Konzeptvermittlungen der Regisseurin reagiert. Konzentrieren wir uns dabei zunächst auf sein Verhalten im Zusammenhang mit der Abschlussorganisation der letzten Äußerung der Regisseurin (emotionaler Moment). Hier sehen wir, dass der Schauspieler sich parallel zur leiser werdenden Äußerung der Regisseurin - und noch bevor sie ihren zentralen Hinweis auf den emotionalen Moment formuliert hat - von ihr abwendet und sich nach rechts dreht (Abb. 91-93). 55 RE: [em o tion a len momen t . ] Gleichzeitig beginnt er in Überlappung mit der Äußerungsbeendigung der Regisseurin (moment) zu sprechen [aber wie viel ist das]. Der Schauspieler, der bislang sehr konzentriert und als aktiver und systematisch rückmeldender Beteiligter den Ausführungen der Regisseurin gefolgt war, scheint verstanden zu haben, worum es der Regisseurin geht, noch bevor sie ihre Äußerung vollständig realisiert hat. Und er scheint auch auf die gesprächsorganisatorischen Implikationen zu reagieren, die ihn davon ausgehen lassen, dass er jetzt den Turn bekommt. Auch die inhaltliche Gestaltung seiner Frage [aber wie viel ist das] ist das wirklich- (Z. 56-57) zeigt, dass er den Aspekt des emotionalen Momentes nicht nur als zentralen Punkt verstanden hat, sondern sogleich beginnt, ihn weiter zu entwickeln. Er verdeutlicht im Modus des lauten Denkens, dass er Abb. 91-93 <?page no="333"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 333 Schmitt_final die Ausführungen der Regisseurin verarbeitet und sich selbst dabei klar zu machen versucht, wie viel Darstellung und Spiel dieser emotionale Moment tatsächlich beansprucht. Insofern markiert seine Frage sowohl für ihn selbst als auch für die Regisseurin den Startpunkt der weiteren Problemlösungsentwicklung durch den Schauspieler. Ein zentraler Bestandteil dieser Problemlösung ist eine nunmehr expandierte ‘probeweise Konzeptrealisierung’. 6.2.2.7 Probeweise Konzeptrealisierung I (Schauspieler) Der Schauspieler beginnt zunächst mit ich meine eine Äußerung, die einen deskriptiven Modus projiziert, wechselt dann jedoch zum performativen Modus der vorführenden Darstellung und spielt - ähnlich wie die Regisseurin zuvor - ansatzweise einen Ausschnitt der Einstellung vor und spricht dabei mit du kleines aas genau den ersten Teil des Drehbuchtext, den zuvor die Regisseurin bereits zitiert hatte (Z. 47). 56 SP: aber wie viel ist das] 57 SP: ist das wirklich- (.) 58 <<p> ich meine du KLEInes aas; 59 [wo] steckst du mh? > 60 RE: [ja] 61 RE: ja [genau. SO. ] Er spricht jedoch nicht nur den Text, sondern setzt dazu auch die Suchaktivitäten in Szene, die zuvor die Regisseurin mit zack] zack- (Z. 51) knapp und nur andeutungsweise vollzogen hatte. Während er spricht, vollzieht er, indem er sich nach links dreht, eine 180°-Wendung bei der probeweisen Darstellung seiner Suche nach dem Jungen (Abb. 94-97). 58 SP: <<ST,p> ich meine du KL EI nes aa s ; Abb. 94-96 <?page no="334"?> Reinhold Schmitt 334 Schmitt_final 59 SP: [wo] steckst du mh? > Als ein interessanter Punkt bei der Realisierung des Verfahrens wird hier also die Interaktionssensitivität und Interaktionsreflexivität deutlich: Der Schauspieler bearbeitet mit seiner Konzeptrealisierung genau einen der Punkte, die die Regisseurin zuvor im Rahmen ihrer Konzeptvermittlung angesprochen und selbst auch ansatzweise dargestellt hatte. Er entwirft also seine probeweise Konzeptrealisierung punktgenau auf die Suchaktivität, die die Regisseurin vom Darsteller haben möchte, nachdem er beim Fahrrad angekommen ist. Der Schauspieler eröffnet dann der Regisseurin mit dem angehängten mh? (Z. 59) die Möglichkeit zur Stellungnahme zu seiner kleinen Vorführung. Die Regisseurin ratifiziert die Darstellung des Schauspielers explizit mit ja [ genau. SO.], nachdem sie bereits während der Realisierung mit [ ja] (Z. 60) eine positive Rückmeldung gegeben hatte. Nach erfolgter Ratifikation durch die Regisseurin entwickelt der Schauspieler dann die Szene weiter. Es scheint also ganz so, als wäre die explizite Zustimmung der Regisseurin zu seiner Vorstellung für ihn die Voraussetzung für deren Weiterentwicklung. 62 SP: [dann geh ich ganz] rum 63 ich WEIß du bist hier <<acc> und hast dich 64 irgendwo hier> verSTECKT; 65 (-) 66 RE: ja Der nächste Zug dieser Weiterentwicklung besteht zunächst in einer deskriptiven Äußerung, mit der der Schauspieler sein aktuelles Verhalten kommentiert [dann geh ich Ganz] rum. Er ist also immer noch dabei, seine Suche nach dem Jungen zu bearbeiten und spricht dabei zur Drehung, die er vollführt und die ihn wieder zum Fahrrad und zur Regisseurin zurückführt: ich Abb. 97 <?page no="335"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 335 Schmitt_final WEIß du bist hier << acc > und hast dich irgendwo hier > verSTECKT; . Auch dieser Entwicklungszug wird von der Regisseurin mit einem bestätigenden ja ratifiziert. 67 SP: und dann [entdeck (... ] 68 RE: [und dann nimmst du ja] 69 un dann nimm=s einfach mal runter. ((14)) Im unmittelbaren Anschluss sprechen beide Beteiligte zur gleichen Zeit, wobei beide die gleiche Fortführung mit und dann gewählt haben. Beide befinden sich also in einer Entwicklungsdynamik, in der die einzelnen Schritte aneinander anschließen. Der Schauspieler bricht seine Äußerung zugunsten der Bestätigung der Regisseurin ab (und dann [entdeck (…)]), während die Regisseurin ihre Äußerung zu Ende bringt ([und dann nimmst du ja] un dann nimm=s einfach mal runter.). Es folgt eine Passage von 14 Sekunden Dauer, in der beide mit dem auf dem Gepäckträger festgeschnallten Ranzen „kämpfen“, der einigen Widerstand bei dem Versuch des Schauspielers leistet, ihn hochzunehmen. Diese Passage ist für den aktuellen Erkenntniszusammenhang nicht von Interesse. 6.2.2.8 Kern der probeweisen Konzeptrealisierung (Schauspieler) Nachdem der Ranzen vom Gepäckträger gelöst ist, schließt der Schauspieler an den vor dem Kampf liegenden Zusammenhang an und zitiert - in fast wörtlicher Wiedergabe - die Äußerung der Regisseurin aus Zeile 69 (und dann nehm ich ihn einfach runter.). 86 (---) 87 SP: un dann nehm ich ihn einfach runter. 88 (2.2) Die einzigen Unterschiede bestehen darin, dass der Schauspieler durch die Perspektivität seiner Äußerung (er beschreibt etwas, was er selbst tut) gezwungen ist, sowohl die Fremdreferenz der Regisseurin (du) durch eine Selbstreferenz (ich) zu ersetzen und die grammatische Form dementsprechend anzugleichen; darüber hinaus referiert er (ebenso implizit wie die Regisseurin) mit ihn und nicht mit es auf den Ranzen. Als weitere kleine Modifikation tilgt er das mal in der Äußerung der Regisseurin. Diese weitgehende Wiederholung der Partneräußerung hat erkennbare verstehensindikative Qualität. Die <?page no="336"?> Reinhold Schmitt 336 Schmitt_final Formulierungsübernahme ist ein Verfahren, um Intersubjektivität und die punktgenaue Wiederaufnahme eines vorangegangenen gemeinsamen Interaktionsstands zu verdeutlichen. 89 SP: <<p>dann les ich das> Danach macht er eine etwas längere Sprechpause, ehe er die Entwicklung und deren Darstellung weiter bearbeitet. Der nun folgende Teil ist das Herzstück seiner probeweisen Konzeptrealisierung und soll daher auch mit der gebührenden Feinheit im Bemühen um eine möglichst genaue Rekonstruktion der multimodalen Gesamtgestalt analysiert werden. Die Darstellung beginnt zunächst mit einer sehr leise gesprochenen deskriptiven Einleitung, mit der der Schauspieler wohl eher für sich selbst das Startsignal gibt, als dass er die Regisseurin auf das Kommende vorbereiten würde. Er beginnt dann auch ohne Umschweife mit dem Lesen, wobei die Bezeichnung ‘Lesen’ bei weitem nicht das erfasst, was er tatsächlich tut: Er spielt nämlich für die Regisseurin, die unmittelbar vor ihm steht, den Augenblick vor, den sie als emotionalen Moment in den Mittelpunkt der gesamten Szene gerückt hatte. Seine Darbietung besteht aus drei Teilen, die jeweils durch markante Pausen getrennt sind, deren Länge von Segment zu Segment zunimmt. Schauen wir uns also nun die drei Segmente der Konzeptrealisierung an, die man entsprechend dem dramaturgischen Aufbau der Einstellung wie folgt bezeichnen kann: 1. Vor dem Erkennen, 2. Erstaunen, 3. Erkenntnis. 6.2.2.9 Vor dem Erkennen Der Schauspieler hält den Ranzen vor seinem Oberkörper und liest das Namensschild, das an dem Ranzen befestigt ist, vor. Seine Stimme ist eine typische Vorlesestimme, die sich wie folgt charakterisieren lässt: Sie hat eine mittlere Lautstärke, weist keinerlei Akzente oder andere formulierungsdynamische Hervorhebungen (wie etwa Tempowechsel) auf und wirkt neutral in dem Sinne, dass es keinerlei prosodische Merkmale gibt, die es erlauben würden, den Vorleser zu dem, was er vorliest in ein spezifisches Verhältnis zu setzen. 90 SP: juri rosenbauer (.) GARTenstraße ↓ elf- 91 (1.6) Während der ganzen Zeit verharrt der Schauspieler in einer statischen Körperhaltung, den Ranzen vor seinem Oberkörper haltend (Abb. 98). Diesen Präsenzmodus verändert er auch nicht während der Pause von 1,6 Sekunden Dauer. Er hebt jedoch während der Pause den Kopf leicht an und scheint in die Ferne zu blicken (Abb. 99). <?page no="337"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 337 Schmitt_final 90 SP: juri r o senbauer 91 (1.6) Die Regisseurin verfolgt das probeweise Spiel des Schauspielers gebannt und konzentriert sich dabei fast durchgängig auf seinen Gesichtsausdruck und verharrt dabei in vollständig statischer Körperhaltung. Nur die Fingerhaltung ihrer linken Hand verändert sich minimal (die gestreckten Finger werden ganz leicht zur Handfläche hin angewinkelt). Außerdem nimmt sie ihren Blick einmal vom Gesicht des Schauspielers und schaut für einen Augenblick auf den Ranzen. Wie der Schauspieler, so verändert die Regisseurin ihre statische Präsenzform auch in der Pause nicht: Sie vermittelt den Eindruck höchster Konzentration. 6.2.2.10 Erstaunen Der Schauspieler beendet die Sprechpause nach 1,5 Sekunden und wiederholt mit leicht reduzierter Lautstärke den Nachnamen des Jungen rosenbauer? . Diese Wiederholung unterscheidet sich in zweierlei Hinsicht von der Realisierung des Nachnamens beim vorherigen Vorlesen. Es ist nichts mehr von der Vorlesestimme übrig: Die Wiederholung zeigt nunmehr einen Sprecher, der in irgendeiner Beziehung zu diesem Namen steht, den er zu kennen scheint. Es ist vor allem der Aspekt des Erstaunt-Seins, der der Namenswiederholung seine spezifische Bedeutung gibt und den Sprecher nun zu diesem Namen erkennbar in Beziehung setzt. Nach der erstaunten Wiederholung des Namens macht der Schauspieler eine Sprechpause von zwei Sekunden Dauer. 92 SP: <<p, erstaunt>rosenbauer? > Abb. 98-99 <?page no="338"?> Reinhold Schmitt 338 Schmitt_final Auch während dieses Spiels verharren beide Beteiligte in ihrer statischen Körperhaltung. Es lassen sich beim Schauspieler überhaupt keine Veränderungen erkennen, bei der Regisseurin haben sich lediglich die Finger ihrer rechten Hand noch etwas mehr geschlossen. Ihre rechte Hand verweilt nach wie vor am Saum ihrer Jacke, leicht zu einer offenen Faust gekrümmt (Abb. 100). 93 (1.8) Sowohl die Regisseurin als auch der Schauspieler sind in der Realisierung ihrer spezifischen Funktionsrolle weiterhin hochgradig konzentriert. Die Regisseurin ist immer noch auf den Gesichtsausdruck des Schauspielers fokussiert, während er an ihr vorbei in die Ferne zu blicken scheint. Auch wenn man seinen Blick nicht sehen kann, so verdeutlicht seine Kopfhaltung, dass ein Blickkontakt mit der Regisseurin auszuschließen ist. 6.2.2.11 Erkennen Im letzten Segment stellt der Schauspieler das Erkennen dar, das sich schon bei der Wiederholung des Nachnamens angedeutet hatte. Mit dem ebenfalls leise gesprochenen KAThrin formuliert er quasi für sich selbst das Ergebnis der Erkenntnis, die sich bei ihm nach dem Lesen der Adresse eingestellt hat: Es gibt eine Frau zu dem Nachnamen, und es ist eine Frau, mit der ihn eine frühere Beziehung verbindet. 94 SP: KAThrin. 95 (4.7) Abb. 100 <?page no="339"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 339 Schmitt_final Danach macht der Schauspieler eine lange Sprechpause von vier Sekunden Dauer, in der er sich langsam aus der probeweisen Konzeptrealisierung herauslöst. Diese Bewegung vollzieht sich wie folgt: Der Schauspieler verharrt zunächst unbewegt in seiner bisherigen Körperpositur und hält seinen Kopf auch weiterhin in der bisherigen Position. Nach einer kurzen Pause wendet er seinen Kopf etwas nach rechts (Abb. 101), behält sonst aber seine Körperhaltung bei. Als erstes Zeichen der Beendigung seiner probeweisen Konzeptrealisierung wendet er seinen Kopf nach links und blickt die Regisseurin an, die auf sein Gesicht fokussiert ist (Abb. 102). Im Anschluss daran löst er seine linke Hand vom Ranzen und realisiert mit geöffneter Hand und gespreizten Fingern eine präsentative Geste. Simultan mit seiner Bewegung beginnt auch die Regisseurin wieder gestikulatorisch aktiv zu werden: Sie hebt beide Hände in Brusthöhe an und realisiert ebenfalls eine Präsentationsgeste mit beiden Händen („palm up open hand“, Müller 2003). Das Auflösen ihrer bisherigen konzentrierten Anspannung spiegelt sich auch mimisch wider. Die Regisseurin beginnt in Reaktion auf die Blickzuwendung des Schauspielers zu lächeln (Abb. 103). Es ist schließlich die Regisseurin, die die Pause mit einem Ja beendet, zu dem sie ihre Arme senkt und beide geöffneten Hände in Hüfthöhe positioniert. In ihrem Gesicht hat sich das anfängliche Lächeln inzwischen zu einem vollen Lachen entwickelt (Abb. 104). Der Schauspieler hat inzwischen seinen Kopf wieder etwas nach rechts und nach unten gewendet. Er hat zum Zeitpunkt des Lachens der Regisseurin keinen unmittelbaren Blickkontakt mehr mit ihr. 95 ( 1.6 / 4.7) ( 3.1 / 4.7) Abb. 101-102 <?page no="340"?> Reinhold Schmitt 340 Schmitt_final 95 ( 3.4 / 4.7) 96 RE: JA (.) ja ((lacht)) Die beiden aufeinander bezogenen präsentativen Gesten sind Teil einer gestikulatorischen Aushandlung. Der Schauspieler bietet der Regisseurin damit die vollendete Konzeptrealisierung als seine Problemlösung für die Darstellung des emotionalen Moments an. Die Regisseurin evaluiert die Konzeptrealisierung nach dem Motto „Perfekt! “. Im Folgenden entsteht aus der gestikulatorischen Würdigung der Regisseurin eine explizite Evaluation der probeweisen Konzeptrealisierung. Die Regisseurin, die zuvor bei der ersten probeweisen Konzeptrealisierung des Schauspielers teilweise simultan, teilweise in die Pausen hinein und auf Einladung positive Rückmeldungen produziert hatte, hält sich bei der zweiten Konzeptrealisierung mit verbalen Reaktionen vollständig zurück. Sie interpretiert also die Pausen, die der Schauspieler bei seiner Darstellung macht, nicht als Reaktionsgelegenheiten oder gar als Reaktionsaufforderung. Vielmehr versteht sie den Stellenwert der Sprechpausen als konstitutiven Teil der probeweisen Konzeptrealisierung und weist ihnen bei der Produktion des emotionalen Moments durch den Schauspieler daher genau den gleichen Stellenwert zu wie auch der Präsentation des Drehbuchtextes. Obwohl der Schauspieler nicht angekündigt hat, dass er nun zu einer vollständigen Form der Konzeptrealisierung übergeht, die sein ganzes Ausdrucksrepertoire beanspruchen wird, versteht die Regisseurin, dass genau dies der Fall ist. Sie koordiniert ihr eigenes Verhalten dementsprechend und verfolgt gespannt, was ihr der Schauspieler präsentiert. Entscheidend für die intersubjektiv übereinstimmende Einschätzung von Schauspieler und Regisseurin im Hinblick auf die probeweise Konzeptreali- Abb. 103-104 <?page no="341"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 341 Schmitt_final sierung und deren Ende sind - neben dem geteilten Wissen der beiden - vor allem die Informationen, die der Schauspieler der Regisseurin diesbezüglich gibt. Erst als er sie anschaut und dadurch aus der probeweisen Konzeptrealisierung heraustritt und mit ihr wieder unmittelbare Interaktion aufnimmt, versteht sie das als Beendigungssignal und als Slot für eine Rückmeldung. Es ist ausgesprochen interessant und spricht für das weitgehende wechselseitige Verstehen der beiden, dass sie zum richtigen Zeitpunkt zur gleichen Interpretation der bisherigen gemeinsamen Konzeptaushandlung kommen. Dieses intersubjektive Verstehen, das vollständig ohne explizite Verstehensdokumentationen auskommt, stellt für beide ideale Voraussetzungen für die Realisierung ihrer funktionsrollenspezifischen Aufgaben zur Verfügung: Es ermöglicht dem Schauspieler eine ungestörte Entfaltung seines Könnens bei dem Versuch, den von der Regisseurin gewünschten emotionalen Moment zu produzieren. Die Regisseurin hingegen erhält die ungestörte Möglichkeit, der probeweisen Realisierung ihres Konzeptes aus der Nähe zu folgen und sich dabei - wie das die Kamera später in der Großaufnahme tun wird - auch speziell auf den Gesichtsausdruck des Schauspielers zu konzentrieren. 6.2.2.12 Explizite Abschlussevaluation (Regisseurin) Die Regisseurin wiederholt nach einer Mikropause noch einmal ihr zustimmendes Ja und beginnt dann zu lachen. Dieses Lachen beendet sie mit einem abermaligen ja, dem sie nach einer weiteren Pause (---) mit sUper; eine explizite Positivevaluation folgen lässt. Nach einer erneuten Pause (--) baut sie ihre positive Bewertung der Präsentation mit genAU. dieses weiter aus und stellt dann im Folgenden dar, was sie mit dieses genau meint. 96 RE: JA (.) ja ((lacht)) 97 ja (---) sUper; 98 (--)genAU. dieses 99 de (.) de ich ke Ihre nachfolgende Äußerung de (.) de ich ke, die auf den ersten Blick den Eindruck macht, als strotze sie nur so vor Formulierungsabbrüchen und Neuanfängen, erfüllt genau in dieser Gestalt und in ihrer performativen Qualität ihre Funktion als lokal-sensitive Form der Verstehensdokumentation. Sie ist zwar nicht im Hinblick auf ihre grammatisch-syntaktische Form, sehr wohl aber in Bezug auf ihre verstehensindikative Qualität wohlgestaltet, obwohl sie gehäuft Anzeichen eines defekten, ungrammatischen Beitrags <?page no="342"?> Reinhold Schmitt 342 Schmitt_final aufweist. Die Regisseurin produziert mit dieser Äußerung eine lautmalerische Darstellung dessen, was sie bei der probeweisen Konzeptrealisierung (der Produktion des emotionalen Momentes) im Gesicht des Schauspielers gesehen hat. Sie spiegelt damit dem Schauspieler ihr Verstehen seines Spiels, wobei sie auf eine Mischung aus Verbalisierung und Performation zurückgreift. 100 RE: (--) schEIße. 101 ((lacht)) Sie beendet diese Sprechpause dann mit schEIße. und einem anschließenden Lachen. Der evaluative Ausdruck bezieht sich nicht auf die dargebotene Leistung des Schauspielers (das wäre ein massiver Widerspruch zu ihrer fast euphorischen Positivbewertung), sondern ist ebenfalls Bestandteil ihrer Verstehensdokumentation. Sie fasst damit genau den Moment des Erkennens in Worte, in dem der Schauspieler realisiert, dass er von einem Teil seiner Vergangenheit eingeholt worden ist. Hier zeigt sich ein interessanter Punkt, der sowohl für die Konzeptualisierung von Verstehensdokumentationen gerade hinsichtlich des Aspekts ‘Situationssensitivität’ als auch in methodischer Hinsicht bezüglich der Adäquatheit und Notwendigkeit der Analyse von Verstehensdokumentationen wesentlich ist: Ihre spezifische verstehensindikative Qualität und ihren verfahrensspezifischen Charakter erhält die Äußerung de (.) de ich ke primär durch ihre interaktionsstrukturelle und kontextuelle Spezifik. In diesem Relevanzrahmen wird die Verstehensdokumentation durch die projektive und kohärenzstiftenden Rahmung genAU. dieses realisiert. Die Zustimmung ( genAU) und die Herstellung von Koreferenz (dieses) machen als zwei zentrale Basisoperationen den verstehensindikativen Status dieser Äußerung deutlich. Sie zeigen, dass es sich um eine verstehensdokumentierende verbale Inszenierung - gewissermaßen um eine lautmalerische Paraphrase der Konzeptrealisierung des Schauspielers - handelt und nicht etwa um einen davon unabhängigen eigenständigen Kommentar der Regisseurin. In methodischer Hinsicht - das hat der Gang der zurückliegenden Analyse gezeigt - ist es unabdingbar, das spezifische Erkenntnisinteresse an Verstehensdokumentationen auf eine detaillierte, zunächst weitgehend theoretisch indifferente und breit angelegte konstitutionsanalytische Rekonstruktion des Interaktionsgeschehens zu gründen. Nur so kann man der Gefahr begegnen, solche unauffälligen, für die Interaktionskonstitution und die Rolle, die Verste- <?page no="343"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 343 Schmitt_final hensdokumentationen dabei spielen, jedoch konstitutive Formen nicht zu übersehen. Was die grundsätzliche Frage der Konzeptualisierung betrifft, so eröffnet die zunächst noch fallspezifische Erkenntnis folgende weiterführende Überlegung: Es scheint so zu sein, dass man bei Verstehensdokumentationen in Analogie zur Konzeption kommunikativer Gattungen (Luckmann 1986) zwei Grundtypen identifizieren kann: 1) Solche, die - vergleichbar der gattungsspezifischen Realisierung - verfestigte Problemlösungen für wiederkehrende, systematische kommunikative Anforderungen darstellen und die genau in dieser Funktionalität in formaler Hinsicht unterschiedlich indiziert sind (beispielsweise durch indikative Lexik, interaktionsstrukturelle und sequenzielle Spezifik, Äußerungsformat etc.) und 2) solche, die - vergleichbar den spontan in situ entwickelten Realisierungen - auf die situativen Besonderheiten reagieren und (wie im vorliegenden Fall bei der fraglichen Äußerung der Regisseurin) als Ergebnis der Auseinandersetzung und Adaption mit diesen interaktions-, situations- und organisationsstrukturellen Kontingenzen entwickelt werden und oft keinerlei funktionsindikative Auszeichnungen aufweisen. Darüber hinaus - und das ist eine weitere Implikation solcher unmarkierten und situativ-spontanen Realisierungen - können solche Formen in der Regel überhaupt nur auf der Grundlage audiovisueller Interaktionsdokumente identifiziert und angemessen analysiert werden. Im vorliegenden Fall ist interessant zu sehen, wie sich der Wechsel der Beteiligungsweise der Regisseurin vom konzentrierten Beobachten des Spiels hin zu dessen Evaluation und der Realisierung der eigenen Verstehensdokumentation auch proxemisch und gestikulatorisch widerspiegelt. Bei ihrem Lachen (Z. 96) macht sie einen ersten Schritt nach hinten (Abb. 105). Die weiteste Entfernung vom Fahrrad und dem Schauspieler und den im Hinblick auf die Bewegungsdynamik betrachtet expressivsten Ausdruck erreicht sie simultan mit der expliziten Positivbewertung sUper (Z. 97) (Abb. 106). Die Regisseurin geht aus dieser Position dann wieder nach vorne (Abb. 107) und ist bei dieses (Z. 97) bereits wieder am Fahrrad angelangt (Abb. 108). Mit dem nach schEIße. (Z. 100) einsetzenden Lachen beginnt sie bereits ihren Austritt aus dem Interaktionsraum und beginnt ihre Abwendung vom Schauspieler (Abb. 109). <?page no="344"?> Reinhold Schmitt 344 Schmitt_final 96 RE: JA (.) ja ((lacht)) 97 RE: ja (---) s U per; 98 RE: (--)genAU. dies es 101 RE: ((lacht)) Rückblickend wird deutlich, dass im Vergleich zum eher unmarkierten Auslaufen der letzten Konzeptrealisierung des Schauspielers und dem weichen Übergang zur direkten Interaktion mit der Regisseurin der Beginn der zweiten Konzeptrealisierung deutlich indiziert wird. Es gibt zudem auch eine zentrale Handlung, die neben dem Startpunkt auch markiert, dass die zweite Konzeptrealisierung vollständiger ausgearbeitet werden wird. Es handelt sich um das Geschehen, bei dem zunächst die Regisseurin den Schauspieler auffordert, den Ranzen vom Gepäckträger zu nehmen un dann nimm=s einfach mal runter (Z. 69) und die Wiederholung dieser Äußerung durch den Schauspieler selbst und dann nehm ich ihn einfach runter. (Z. 87). Mit der Integration des Ranzens in die probeweise Konzeptrealisierung wird verdeutlicht, dass es jetzt um die vollständige und realistische Darstellung geht und sich die probeweise Konzeptrealisierung eher in Richtung von ‘Probieren’ als eine Vorstufen einer tatsächlichen Probe verschoben hat. 33 33 Die Unterschiede zwischen den beiden Konzepten ‘Probieren’ und ‘Probe’ sind detailliert beschrieben in Schmitt (2007c). Abb. 105-109 <?page no="345"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 345 Schmitt_final 6.2.2.13 Fazit Die zurückliegende Rekonstruktion des Verfahrens ‘probeweise Konzeptrealisierung’ hat gezeigt, dass die Beteiligten - ähnlich wie im ersten Fall - auch hier im Kontext des Konzeptverstehens noch weitere, teilweise unauffällige Verstehensdokumentationen realisieren. Hierzu gehören - eine ganze Reihe unterschiedlich semantisierter ‘verstehensindikativer Rückmeldungen’ (vom Kopfnicken, über nh, mhm, ja, ja=ja und okay) auf beiden Seiten, - ‘explizite Evaluationen’ als ‘third-position’-Aktivitäten, mit denen die Regisseurin dokumentiert, dass reaktive Verstehensdokumentationen auf Verstehensangebote konzeptadäquat sind (genau und super), - vor den beiden Demonstrationen des Schauspielers andeutungsweise ‘probeweise Konzeptrealisierungen’ der Regisseurin als integrierte Bestandteile ihrer Vermittlungsbemühungen sowie - eine nach der Konzeptrealisierung des Schauspielers erfolgende evaluative Reaktion der Regisseurin im Kontext ihrer enaktierenden Positivevaluation (de/ de/ ich/ ke/ ) und (scheiße), die in Form einer eigenen kleinen Konzeptrealisierung ihr Verstehen der Darbietung des Schauspielers zum Ausdruck bringt. Hinsichtlich der probeweisen Konzeptrealisierungen des Schauspielers wurde deutlich, dass er seine Demonstrationen eng bezogen auf zentrale Relevanzen der Konzeptvermittlung der Regisseurin gestaltet. Dass er die Konzeptvermittlung der Regisseurin in spezifischer Weise versteht, zeigt sich in der Auswahl der Aspekte, die er performativ präsentiert: Zum einen ist das der Moment, bei dem es primär um die Darstellung seiner Suche nach dem Jungen geht, als er bereits bei seinem Fahrrad angelangt ist (das zack] zackder Regisseurin in Zeile 51). Zum anderen zeigt er der Regisseurin, wie er den emotionalen Moment, den eigentlichen Höhepunkt der Einstellung, umsetzen will. Beide Konzeptrealisierungen bearbeiten also ausschließlich den ‘Hier-Bereich’ der Einstellung (Suche nach dem Jungen am Fahrrad, emotionaler Moment des Erkennens), der ‘Da-Bereich’ (das Auflaufen) erfährt keine performative Bearbeitung. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass die beiden probeweisen Konzeptrealisierungen hinsichtlich der Ausarbeitung ihres performativen Charakters sehr unterschiedlich sind. Sie differieren in zweierlei Hinsicht: <?page no="346"?> Reinhold Schmitt 346 Schmitt_final Einerseits gestaltet der Schauspieler selbst seine zweite Vorführung als die wichtige aus. Er hat nicht mehr die Hände in den Taschen und verzichtet zudem - außer einem kurzen einleitenden Hinweis - auf Kommentare, die seine Demonstration beschreiben, sondern taucht vollständig in diese ein. Diese unterschiedliche Ausgestaltung der beiden Demonstrationen reflektiert sein spezifisches Verstehen der Relevanzen der Regisseurin. Andererseits - und das ist der eigentlich interessante Aspekt unter einer verstehensbezogenen Erkenntnisperspektive - ist die probeweise Konzeptrealisierung des emotionalen Moments das Ergebnis einer gemeinsamen Herstellung, an der sich beide gleichermaßen beteiligen. Die zweite Demonstration wird auch von der Regisseurin als die wichtige behandelt. Dies zeigt sich primär darin, dass sie sich vollständig mit begleitenden und ratifizierenden Reaktionen zurückhält und auch die teilweise langen Pausen als Bestandteile der Konzeptrealisierung versteht. Diese übereinstimmende intersubjektive Hochstufung der zweiten Demonstration ist eine nicht explizit ausgehandelte Übereinkunft der beiden Beteiligten, die sich als konvergentes Verständnis der aktuellen Interaktionsentwicklung genau zum richtigen Zeitpunkt einstellt. 7. Schlussbemerkung Nach der konstitutionsanalytischen Rekonstruktion des zweiten Beispiels für probeweise Konzeptrealisierungen (Regisseurin und Schauspieler) geht es abschließend um die Beantwortung der Frage, inwieweit die zentralen Einsichten in die Struktur und die Funktionsweise des Verfahrens, die bei der ersten Analyse produziert wurden, als fallspezifisch oder als verfahrensimmanent konzipiert werden können. Vergleicht man die beiden analysierten Beispiele, so werden vor allem folgende Aspekte als Kontrast konstituierend deutlich: Komplexität der Konzeptvermittlung Die Verstehensanforderungen für die Regisseurin sind in den beiden analysierten Fällen unterschiedlich komplex, was sich in der Präzision niederschlägt, mit der sie ihr Konzept jeweils vermittelt. Sie kann dem Schauspieler selbst ansatzweise vorspielen, wie sie sich die Realisierung ihres Konzeptes vorstellt. Sie bewegt sich damit in dessen originären Kompetenzbereich und hat zu die- <?page no="347"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 347 Schmitt_final sem einen vergleichbaren Zugang. Bei dem Versuch, der Kamerafrau ihr Konzept zu vermitteln, ist sie nicht nur weitgehend auf Verbalisierung angewiesen, sondern verfügt hinsichtlich der spezifischen Wissensgrundlagen und Umsetzungsrelevanzen nicht über vergleichbare Kompetenzen wie die Kamerafrau. Funktionsrollenimplikation der Kooperationsgestaltung Die Kooperationsbeziehung mit dem Schauspieler ist organisationsstrukturell und funktionsrollenbedingt mit anderen Implikationen verbunden als die Zusammenarbeit mit der Kamerafrau. Die Kooperation der Regisseurin mit dem Schauspieler weist (zumindest im analysierten Beispiel) eine stärkere Gleichwertigkeit der Funktionsrollen im Hinblick auf deren künstlerische Grundlagen und damit verbundene Autonomieimplikationen auf. Dies führt zu einer stärkeren Orientierung der Regisseurin an den Vorschlags- und Präsentationsaktivitäten des Schauspielers. Während sich die Kamerafrau bei der technischen Umsetzung eng an die Vorgaben der Regisseurin halten muss, kann der Schauspieler in einem gewissen Rahmen selbstbestimmt sein Spiel in den einzelnen Szenen und Einstellungen ausgestalten. Die jeweiligen funktionsrollenspezifischen Ausgestaltungen wurden in den Analysen vor allem in der Art und Weise deutlich, in der die Regisseurin jeweils ihre Kritik formuliert: im Falle der Kamerafrau explizit, unmodalisiert, lakonisch und akzentuiert; im Falle des Schauspielers hingegen impliziert, mehrfach modalisiert und in der Relevanz rückgestuft. Erwartbarkeit des Verfahrens ‘probeweise Konzeptrealisierung’ Ein zentraler Aspekt ist die unterschiedliche Erwartbarkeit des Einsatzes von probeweisen Konzeptrealisierungen als Bestandteil der beiden unterschiedlichen Kooperationsdyaden. Die Kamerafrau realisiert das Verfahren in Reaktion auf die zuvor gescheiterten Versuche, verbal eine konzeptadäquate Lösung zu entwickeln. In diesem Sinne wurde die probeweise Konzeptrealisierung als spätes Verfahren mit interaktionsreflexiven Implikationen beschrieben. Das ist im zweiten Beispiel nicht der Fall. Das Verfahren ist dem Schauspieler durch die Funktionsrolle in erwartbarer Weise als Verhalten assoziiert und besitzt diesbezüglich den Status einer kategoriengebundenen Aktivität. Es reagiert nicht in einem reflexiven Sinne auf den Interaktionsverlauf, sondern steht dem Schauspieler (und im konkreten Fall beiden Seiten der Kooperationsdyade) von Anfang an zur Bearbeitung <?page no="348"?> Reinhold Schmitt 348 Schmitt_final rekurrenter Verstehensanforderungen im Kontext von Konzeptverstehen fraglos zur Verfügung. Es ist zudem der valideste Prüfstein für Verstehen, denn es soll verstanden werden, wie gespielt werden soll. Das Verfahren der probeweisen Konzeptrealisierung hat dabei seinen systematischen Platz in den Vor- und Nachbesprechungen von Proben. Es stellt gewissermaßen eine noch nicht öffentliche Vorstufe zum ‘Probieren’ dar, bei dem eine Einstellung vor der eigentlichen Probe von den Schauspielern für den Regisseur, der dem Spiel konzentriert folgt, schon einmal präsentiert wird. Gegenüber dem Probieren als öffentliche Veranstaltung stellt die probeweise Konzeptrealisierung eine an die konkrete Dyade Regisseur - Schauspieler gebundene, eher ‘private’ Demonstration dar. Arbeitsorganisatorisch und ablaufbezogen steht das Verfahren am Anfang einer Kette von produktionsbezogenen Arbeitszusammenhängen, die sich durch die sukzessive Partizipation von immer mehr Setmitarbeitern und dem Einsatz von immer mehr technischen Geräten auszeichnet. Bei dieser Kette handelt es sich um 1) die ‘ probeweise Konzeptrealisierung ’ als konstitutiver Bestandteil der Kooperation von Regisseurin und Schauspieler, 2) das ‘ Probieren’ als kollektive Vorbereitung einer Szene oder Einstellung, an der alle Schauspieler und die Regisseurin teilnehmen und die das gesamte Programm umfasst, 3) die ‘Probe ’ als Gesamtveranstaltung aller Setmitarbeiter, bei der die Szene - teilweise unter Mitarbeit der Kameracrew, jedoch ohne tatsächliche Dokumentation - realistisch gespielt wird und schließlich 4) die ‘Aufnahme’ als Gesamtveranstaltung, bei der die endgültige Variante der Szene mit der Kamera für den späteren Schnitt aufgezeichnet wird. Als eine wesentliche Erkenntnis der kontrastiven Analyse wurde Folgendes deutlich: Die in Beispiel 6 bei der Analyse der Kooperation zwischen Regisseurin und Kamerafrau rekonstruierte Spezifik der Verfahrensimplikationen (vor allem die Aspekte ‘interaktionsstrukturelle Spezifik’, ‘Interaktionsreflexivität’ und ‘sozialstrukturelle Implikativität’) sind in dieser Ausdrucksgestalt nicht dem Verfahren selbst inhärent. In welcher konkreten empirischen Form sich diese verfahrensimplikativen Aspekte jeweils zeigen, scheint primär mit Besonderheiten der Funktionsrollenspezifik zusammenzuhängen, die der jeweiligen Kooperationsbeziehung zugrunde liegt. Je nach Ausstattung der Funktionsrolle, mit der die Regisseurin kooperiert, zeigen sich deutliche Unterschiede hinsichtlich der grundsätzlichen Erwartbarkeit und der spezifischen <?page no="349"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 349 Schmitt_final Realisierung bestimmter Verfahren der Verstehensdokumentation. Bezogen auf das Verfahren ‘probeweise Konzeptrealisierung’ reicht dabei die Spannweite von einer weitgehenden Erwartbarkeit und Verfügbarkeit des Verfahrens und der problemlosen Realisierung auch ohne größere Vorbereitungs- und Ankündigungsaktivitäten auf Seiten des Schauspielers (das Verfahren als Bestandteil seines kategoriengebundenen Verhaltensspektrums) bis hin zur Realisierung des Verfahrens als eine Art ‘Notanker’, mit der die Kamerafrau interaktionsreflexiv auf den bisherigen Gang und den erreichten Stand der Aushandlung im Kontext der Konzeptvermittlung reagiert. Verfahren, Funktionsrolle und kommunikativer Haushalt Wenn man an Überlegungen von Günthner (2006) zu Konstruktionen und minimalen Formen kommunikativer Gattungen anschließt, gleichzeitig an der grundlegenden funktionalen Bestimmung kommunikativer Gattungen im Sinne von Luckmann (1986) festhält (kommunikative Gattungen sind institutionalisierte Lösungen für gesellschaftlich relevante, wiederkehrende kommunikative Anforderungen), zudem das Konzept des „kommunikativen Haushaltes“ in funktionsrollenspezifischer Wendung aspektualisiert und dann auf den systematischen Einsatz und die starke Funktionsrollenbindung antizipatorischer Initiativen am Set überträgt, ergibt sich hinsichtlich der beiden analysierten Verfahren folgender Befund: ‘Antizipatorische Initiativen’ und ‘probeweise Konzeptrealisierungen’ sind ein wesentlicher Bestandteil des kommunikativen Haushaltes bestimmter Funktionsrolleninhaber. Diese konstituieren sich interaktiv unter anderem über den systematischen Vollzug solcher Verstehensdokumentationen und werden über die rekurrente Realisierung dieser Form von Verstehensdokumentationen in ihrer spezifischen Aufgaben- und Wirkstruktur auch für andere Setmitarbeiter identifizierbar. Diesen Zusammenhang kann man in einer etwas anderen Formulierung und unter Bezug auf Sacks (1992b-f) auch wie folgt fassen: Antizipatorische Initiativen haben hinsichtlich ihrer systematischen Bindung an bestimmte Funktionsrollen einen Status, der bezüglich seiner implizierten Indikativität mit der Vorstellung kategoriengebundener Aktivitäten verglichen werden kann. 34 Hinsichtlich dieser Statusimplikationen sind sie aufgrund der arbeitsteiligen Organisationsstruktur erwartbar und für die Aufrechterhaltung und Ökonomisierung der Realisierung des übergeordneten ‘joint project’ eine konstitutive Voraussetzung. Sie sind ein wichtiger Teil der Orientierung der Setmitarbeiter für die Organisation und Koordination wiederkehrender Arbeitsabläufe. 34 Sie hierzu auch die Beobachtung von Reitemeier (i.d.Bd.). <?page no="350"?> Reinhold Schmitt 350 Schmitt_final 8. Anhang Analysierte Transkriptausschnitte Beispiel 1: Antizipatorische Initiative (Aufnahmeleiter 1) 01 MA: WOLLen wir das ganze PROBIERen noch mal? 02 PH: [gerne ] (1.0) gerne. 03 JU: [((nicht kurz))] 04 (3.0) 05 JU: (--) was soll das HEIßen<<dim> das 06 [testergebnis ist UNerwartet; > ] 07 PH: [<<all>wart ma lass uns ABwarten] dass es-> 08 (-) dass es RUhig is; 09 AL: <<cresc>wollen wer [MAL-> ] 10 RE: [((nickt PH zu))] 11 [(--) ] 12 PH: [((nickt zu AL))] 13 AL: ja? (-) 14 PH: <<p, dim>weil das sehr perSÖNnlich ist> 15 (1.0) 16 AL: <<f>okay dann MACHen wir jetzt mal eine PRObe,> 17 (--) 18 (--) wenn die LAMpen stehn wär TOLL; 19 wenn wir ein- 20 (--) <<dim>BISSchen ruhe halten könnten; > Beispiel 2: Antizipatorische Initiative (Aufnahmeleiter 2) 01 RE: <<f,>uli der KOmmt und macht=ne probe.> 02 entschuldige- 03 RE: (-) glaub [ichjetzt gleich. 04 AL: [nä: der kuckt einmal 05 RE: [da kuck da bei der tür] 06 AL: [durch er hat nur durch] die tür gekuckt. 07 RA: [nein der hat [da ] nur] 08 KA: [nur] 09 KA: ach so. 10 XW: <<p> funkkontakt> (--) 11 RE: funkkontakt sehr gut. 12 AL: <so gitta bist du okay? > 13 (2.0) 14 AL: <<f>Uli? > <?page no="351"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 351 Schmitt_final 15 (2.0) 16 KA: <<leicht singend> be: rei: t.> 17 RE: (1.1) ja? 18 (-) dann wolln wer mal machen. (--) 19 AL: <<f>okay. dann ACHtung.> 20 AL: (-) <<f>und ruhe bitte für die probe> 21 (2.0) 22 AL: und? 23 RE: <<p>und bitte> 24 AL: <<f>und bitte> Beispiel 3: Antizipatorische Initiative (Continuity) 01 GA: IHR müsst wissen was ihr wollt, 02 RE: ja ich WEIß was ich will; 03 GA: und dann LEUCHT ich euch (auch). 04 RE: <<all> ich WEIß was ich will; > 05 <<all> ich weiß auch dass du das LEUCHtest.> 06 GA: (--) also insoFern; 07 ihr müsst es nur WISsen. 08 RE: (-) WAS? 09 GA: ihr MÜSST euch nur einigen. 10 RE: (-) ↑ JA? 11 (2.0) 12 GA: SEHR schön. 13 RE: (--) eine handkamera SO? 14 eine handkamera SO, 15 und FERtig. 16 RE: (---) [und ZIT.] 17 CO: [MHM. ] 18 RE: (-) und dann [kann ich das SCHNEIden. ] 19 CO: [ich hatte gerade überlegt? ] 20 ob man irgendWIE- 21 das DEtail wollt ihr ja noch.= 22 CO: [da braucht ihr IHN ja.] 23 RE: [das DEtail. ] 24 RE: da brauchen wir IHN. 25 CO: braucht ihr IHN? 26 ob der ob er REINtritt und sich den ranzen nimmt. 27 o’ aber das kann sie wahrscheinlich nicht 28 MITschwenken ne? <?page no="352"?> Reinhold Schmitt 352 Schmitt_final 29 (1.8) 30 RE: ÄH: - 31 da: s WEIß ich nicht. 32 ERST mal, 33 LASS uns einfach- 34 CO: o[KAY; ] 35 RE: [dieses] diesen [(diesen); ] 36 CO: [und das dann ABsetzen.] 37 RE: ABsetzen? 38 [lass] es uns jetzt AB[setzen.] 39 CO: [gut.] [mhm, ] 40 <<h, singend> ↑ oKAY.> 41 (2.5) Beispiel 4: Antizipatorische Initiative (Kameraassistent) Der Kameraassistent realisiert seine antizipatorische Initiative parallel zum Interaktionsgeschehen, das im folgenden Transkript abgebildet ist. Er selbst realisiert keine verbalen Äußerungen. 74 KA: das wäre dann richtig was vom staTIV, 75 einfach nur lange BRENNweite- 76 ein fester STAND, 77 KA: und du [(bist ran)] 78 RE: [NEIN lucy.] 79 fahr en stück RAN. 80 (-) Aber; 81 <<h>eben erst FEST? > 82 und dann RAN. 83 (4.5) Beispiel 5: Probeweise Konzeptrealisierung (Kamerafrau) 35 RE: ich finde sowieSO (.) du bist, 36 (-) also mir wärs LIEber du bist nicht- 37 RE: [du hast AUßer’- ] 38 KA: [ich bin DRAUFsichtiger.] 39 NE? 40 KA: oder [WAS ist’- ] 41 RE: [du bist NEIN; ] 42 d’ d’ WICHtig ist da’- 43 beVOR? <?page no="353"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 353 Schmitt_final 44 (--) d’ du (-) d’ du BIST, 45 du hast jetzt das ganze FAHRrad wieder im blick. 46 RE: ich finde [es ist eigentLICH, ] 47 CO: [würd ich AUCH sagen; ]= 48 KA: =<<all> ja weil du vorhin gesagt hast 49 es soll> fokusSIERter sein; 50 RE: fokussierter auf den ↑ RANzen; 51 und du hast immer noch das ganze FAHRrad im blick 52 am anfang- 53 KA: ach so ich dachte ich fokussier [dann durch] 54 RE: [NEIN; ] 55 KA: diese RUMfahrt [nachher.] 56 RE: [NEIN. ] 57 ich will gar keine große RUMfahrt- 58 sondern einfach NUR- 59 (--) ALso so’ 60 (-) ich weiß noch nicht mal ob ich diese beWEgung 61 schneide. 62 RE: [also es kann nur so ne ANbewegung einfach so en] 63 KA: [okay dann geh ich am einfachsten (... ... ...)] 64 KA: ne ~CLO[se~ äh? ] 65 RE: [das ist] das ↑ STEHN- 66 er ↑ STEHT. 67 (---) NE? 68 also du’ <all> (egAL)-> 69 ich MÖCHte dann- 70 (--) m’ MACH es bitte mit ner bewegung? 71 (-) weil dann bin ich FREI? 72 KA: JA? 73 oKAY, 74 das wäre dann richtig was vom staTIV, 75 einfach nur lange BRENNweite- 76 ein fester STAND, 77 KA: und du [(bist ran)] 78 RE: [NEIN lucy.] 79 fahr en stück RAN. 80 (-) Aber; 81 <<h>eben erst FEST? > 82 und dann RAN. 83 (4.5) 84 KA: ja dann wäre das FESte? <?page no="354"?> Reinhold Schmitt 354 Schmitt_final 85 wär dann Eher. 86 (5.4) 87 RE: JA? 88 (4.0) 89 RE: und JETZT? 90 (6.7) 91 RE: aHA. 92 (1.8) 93 KA: ich find das schöner Anders- 94 das sieht man richtig den chaRAKter? von dem 95 KA: RUCKsack ehrlich gesagt [(nicht mehr).] 96 RE: [.hh ] 97 RE: es GEHT nicht um den charakter von dem 98 RE: [rucksack? sondern um den] GANG? von dem MANN? 99 KA: [ja da STEHste es is- ] 100 RE: (--) und das’ du machst den GANG von dem mann und du. 101 das is so- 102 du schw’ schwebst so daHER; 103 (--) <<staccato>d’ der geht s’-> 104 peter is so ZACKig. 105 EINS- 106 ZWEI- 107 DREI- 108 VIER- 109 ZACK- 110 is der an dem DING; 111 KA: <<p> ja das stimmt.> Beispiel 6: Probeweise Konzeptrealisierung (Schauspieler) 01 RE: es war- 02 ((lacht)) 03 (1.1) 04 RE: <<lachend>~that was~ (.) hOPPsala> 05 (--) 06 <<t>~a little bit~> 07 (-) <<lachend> ~too much~> 08 SP: ~too [much~ ] 09 RE: [<<lachend>jo meia] 10 RE: .hh nee dieser wenn du das runterreißt.> 11 SP: jaHA <?page no="355"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 355 Schmitt_final 12 RE: <<lachend>ja> 13 RE: [((lacht))] 14 SP: [zu viel ] 15 RE: <<lachend>n bisschen SPAß muss der PEter ja auch 16 haben.> ((9.2)) 26 SP: also Eigentlich (.) würde man das ja schon- 27 wenn ich den DA erKENNe- 28 (-) wuPP- 29 (---) 30 is das NA.: das is Ja 31 SP: a=also auf [dem WEg, <<f> DU KLEInes ] Aas; > 32 RE: [ja=nei=nein das is das nicht.] 33 SP: [wo steckst du; ] 34 RE: [NEE-Ne=nee ] 35 (.) mach das nich. 36 mach das bitte- 37 weil ich das hier brauche. 38 SP: okay. 39 RE: groß 40 SP: [okay ] 41 RE: [weil da bist] du noch amerikanisch (.) 42 RE: du läufst auf. 43 SP: aha (-) okay 44 RE: weißt da bist du SO- 45 so bist du- 46 (-) 47 und da seh ich also nich 48 (--) 49 dIEses- <<p>das: (.) GIBT=s doch gar nicht; > .h 50 also ichdumh ich f=brauch das groß- 51 RE: kleines aas [wo STECkst du? zack] zack- 52 SP: [okay=kay ] 53 (--) 54 RE: und dann- (.) und dann brauch ich eben diesen 55 RE: [emotionalen moment. ] 56 SP: [aber wie viel ist das] 57 ist das wirklich- (.) 58 <<p> ich meine du KLEInes aas; 59 SP: [wo] steckst du mh? > <?page no="356"?> Reinhold Schmitt 356 Schmitt_final 60 RE: [ja] 61 RE: ja [genau. SO. ] 62 SP: [dann geh ich ganz] rum 63 SP: ich WEIß du bist hier <<acc> und hast dich 64 irgendwo hier> verSTECKT; 65 (-) 66 RE: ja 67 SP: und dann [entdeck (...) ] 68 RE: [und dann nimmst du ja] 69 un dann nimm=s einfach mal runter. ((14)) 86 (---) 87 SP: un dann nehm ich ihn einfach runter. 88 (2.2) 89 <<p>dann les ich das> 90 juri rosenbauer (.) GARTenstraße ↓ elf-> 91 (1.6) 92 <<p, erstaunt>rosenbauer? > 93 (1.8) 94 KAThrin. 95 (4.7) 96 RE: JA (.) ja ((lacht)) 97 ja (---) sUper; 98 (--)genAU. dieses 99 de (.) de ich ke 100 (--) schEIße. 101 ((lacht)) <?page no="357"?> Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset 357 Schmitt_final 9. Literatur Antaki, Charles (Hg.) (1988): Analysing everyday explanation. A casebook of methods. London. Atkinson, Maxwell A./ Cuff, Edward C./ Lee, John R.E. (1978): The recommencement of a meeting as a member's accomplishment. In: Schenkein, Jim (Hg.): Studies in the organization of conversational interaction. New York, S. 133-275. Bell, Allan (2001): Back in style: Reworking audience design. In: Eckert, Penelope/ Rickford, John R. (Hg.): Style and sociolinguistic variation. Cambridge, S. 139-169. Bergmann, Jörg R. (1974): Der Beitrag Harold Garfinkels zur Begründung des ethnomethodologischen Forschungsansatzes. Unveröff. Ms. Konstanz. Billig, Michael (1999a): Whose terms? Whose ordinariness? 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Arnulf Deppermann Konklusionen: Interaktives Verstehen im Schnittpunkt von Sequenzialität, Kooperation und sozialer Struktur In diesem abschließenden Beitrag sollen auf Basis der in diesem Band vorgelegten Analysen zur Interaktion im Arzt-Patient-Gespräch, in der Migrationsberatung und auf dem Filmset wesentliche Befunde zusammengefasst und weiterführende Überlegungen zum Verstehen in professionellen Handlungsfeldern angestellt werden. Ausgangspunkt ist die Einsicht in die Ubiquität der Dokumentation von Verstehen als Interaktionsaufgabe, die im Prinzip der retrospektiven Sensitivität der Organisation von Turns und Sequenzen ihren allgemeinen Ausdruck findet (Kap . 1). Verstehen operiert jedoch nicht nur retrospektiv. Professionelle Kooperation erfordert zu ihrem Gelingen Verstehensleistungen, die sich in antizipatorischen Handlungen ausdrücken, welche die Handlungsprogression im Rahmen eines ‘joint project’ vorantreiben (Kap. 2). Wenn Verstehen zum eigenständigen Fokus und dominanten Gegenstand der Interaktion wird, dann sind dies fast immer problematische Fälle. 1 Im unproblematischen Fall dokumentiert sich Verstehen dagegen zumeist als im Handeln selbst impliziertes Verstehen, das nicht eigens manifestiert wird. Verstehen erscheint in diesen Fällen empirisch als perspektivische Aneignung (Kap. 3). Die enge Bindung des Verstehens und seiner Dokumentation an die Handlungskontexte, in denen Verstehensaufgaben entstehen, und seine Artikulation als perspektivische Aneignung, die selbst das kollektive Handeln vorantreibt, führt schließlich dazu, dass Verstehensdokumentationen oftmals Indikatoren der in der Interaktion hergestellten und reproduzierten sozialen Strukturen sind und zu ihrer Herstellung selbst maßgeblich beitragen (Kap. 4). 1. Retrospektive Sensitivität von Turn- und Sequenzorganisation als Konstitutionsprinzip der Verstehensdokumentation Die hier vorliegenden Untersuchungen mögen gerade aus linguistischer Perspektive überraschen und vielleicht auch verwirren, zeigen sie doch, dass in der Interaktion sehr viel mehr an Verstehensaufgaben entsteht als man nach 1 Wir beziehen uns auf die drei hier untersuchten Handlungsfelder und sehen ab von Interaktionstypen, deren Hauptzweck zumindest phasenweise in der Herstellung von Verstehen besteht, wie z.B. in der Psychotherapie oder der literarischen Diskussion. <?page no="364"?> Arnulf Deppermann 364 05_Konklusion_final einem Blick in Arbeiten zur linguistischen Semantik und Pragmatik glauben könnte. Verstehen betrifft nicht nur die dort ausgiebig behandelten Fragen der (Ko-)Referenzherstellung, des Verstehens von Begriffen (Intensionen), Satz- und Äußerungsbedeutungen, Illokutionen, Implikaturen oder die Kohärenz zwischen Sätzen, Sprechakten und Textabschnitten. Für Interaktionsteilnehmer stellen sich regelmäßig weitere Verstehensaufgaben. Sie betreffen erstens die Herstellung des interaktiven Kontakts: Ist ein Interaktionspartner verfügbar (‘available’), ist seine Aufmerksamkeit gesichert, wer ist (in welcher Weise) Adressat einer Handlung? Da diese basalen Verstehensaufgaben häufig nicht auf akustischem Wege, sondern durch visuelle Kommunikation (v.a. durch Blick und Körperausrichtung) bearbeitet werden, werden sie als solche oft erst durch die Methodologie der Videoanalyse sichtbar und als wissenschaftlicher Gegenstand erforschbar (vgl. Schmitt i.d.Bd.). Die Videoanalyse zeigt dabei, dass bereits die Wahrnehmung und das Monitoring des Handelns von Interaktionspartnern nicht bloß passive, selbstverständliche Voraussetzungen von Verstehensakten sind. Wahrnehmung und Monitoring sind aktive Orientierungsleistungen und Verfahren der Informationssuche, die sowohl für die Koordination des interaktiven Kontakts als auch für die Dokumentation des gewonnenen Verständnisses entscheidend sind und auf denen alle inhaltlich und kooperationsbezogen spezifischeren Formen des Verstehens aufbauen. Verstehensaufgaben betreffen zweitens den Bereich der Organisation des gemeinsamen Handelns: Wann wird ein Sprecherwechsel projiziert und wem wird der Turn zugewiesen, welche Erwartungen hinsichtlich Anschlusshandlungen werden etabliert, welches übergeordnete Interaktionsprojekt (‘joint project’, kommunikative Gattung) wird angezeigt? Verstehen dokumentiert sich wesentlich als Vermögen des kompetenten Mitspielens in der jeweils aktuellen Situation, d.h. dem Beitrag zu einer kooperativen Handlungsprogression in Bezug auf gemeinsame Zwecke. Drittens schließlich geht es um das sozialemotionale Verstehen von Modalitätsrahmungen (Spaß, Ernst, Fiktion, Ironie etc.), Emotionen, Identitäts- und Beziehungszuschreibungen. 2 Die Vernachlässigung der drei Verstehensbereiche des interaktiven Kontakts, der zukunftsbezogenen Kooperation und der sozialemotionalen Selbst- und Fremdpositionierung scheint daher zu rühren, dass Verstehen in der Linguistik meist nur als Aufgabe eines Rezipienten von Sätzen und Texten konzipiert und untersucht wurde. Verstehen im Interaktionsalltag ist aber eine Aufgabe, die für die Teilnehmer auf allen Ebenen der Organisation ihrer Interaktion ent- 2 Dieser Bereich wurde in den hier vorliegenden Untersuchungen allerdings nur ansatzweise behandelt und stand nicht im Zentrum der Datenanalysen. <?page no="365"?> Konklusionen 365 05_Konklusion_final steht. 3 Interaktionsteilnehmer müssen aber ihr Verständnis nicht rein rezeptiv und nur für sich selbst bilden, sondern im situierten Anschlusshandeln unter Beweis stellen. Die Dokumentation von Verstehen in der Interaktion ist also in ihrer allgemeinen Konstitutionslogik geprägt durch die Verpflichtung zu einer Handlung, die sensitiv auf den durch eine Partneraktivität geschaffenen Kontext reagiert, dessen Deutung erkennen lässt, und selbst einen gemeinsamen, zukunftsorientierten Interaktionsprozess fortschreibt. Diese so definierte allgemeine Konstitutionslogik macht die Verstehensdokumentation zu einer ubiquitären Aufgabe, die aufgrund der Vielfalt potenziell verstehensrelevanter Interaktionsgegebenheiten vielmals multi-aspektuell ist - verschiedene Verstehensgegenstände müssen in Aktivitäten zugleich behandelt werden. Für die Verstehensdokumentation stehen den Interaktionsteilnehmern vielfältige Praktiken bereit, die mehr oder weniger auf einzelne Aufgaben der Verstehensdokumentation spezialisiert sind (wie auf die Demonstration von Aufmerksamkeit und Verstehen, Bedeutungszuschreibungen, die Dokumentation von Skepsis oder Nichtverstehen, Verstehensprüfungen und -nachfragen, (Selbst-)Korrekturen und deren Initiierung etc., vgl. Deppermann i.d.Bd., Deppermann 2008, Deppermann/ Schmitt 2008, Kindt/ Rittgeroth 2009). Unsere Analysen zeigen aber, dass solche spezialisierten Aktivitäten nur ein Fall von Verstehensdokumentationen sind. Wir können drei Fälle unterscheiden: a) Aktivitäten, die ausschließlich auf die Verstehensdokumentation spezialisiert sind, sind entweder sehr kurz (wie Rückmeldeaktivitäten, Herstellungen von Ko-Referenz) oder sie machen Verstehensfragen dann explizit und zum Thema, wenn Verständigung, d.h. die Herstellung von Intersubjektivität, 4 zum Problem wird. Die Thematisierung von Verstehen ist beispielsweise bei den in Reitemeier (i.d.Bd., Kap. 5.3) untersuchten negativen Verstehensthematisierungen und den Verstehenshypothesen von Klienten in der Migrationsberatung ein Problemindikator, der auf diver- 3 Vgl. Kallmeyer (2005) zu Ebenen der Interaktionskonstitution. Hinsichtlich all dieser Ebenen muss Reziprozität, d.h. Verständigung über die Perspektiven der Beteiligten, hergestellt werden, soll Interaktion in jeder dieser Konstitutionshinsichten koordiniert vollzogen werden (vgl. Deppermann 1999). 4 Verständigung kann sich sowohl auf die Bedeutung von sprachlichen und visuellen Aktivitäten auf allen möglichen Ebenen der Interaktionskonstitution beziehen als auch auf deren Bewertung und auf die Richtung des gemeinsamen Handelns, d.h. die Orientierung an geteilten Interaktionszwecken. Verständigung kann somit sowohl semantisch-kognitive, als auch moralisch-praktische und evaluativ-emotionale Dimensionen des Interaktionsgeschehens betreffen. <?page no="366"?> Arnulf Deppermann 366 05_Konklusion_final gente Orientierungen und Erwartungsdiskrepanzen hinweist. In anderen Fällen zeigen Verstehensexplikationen an, dass die umstandslose Progression nicht problemlos durchführbar zu sein scheint, sondern vorgängige Absicherungen und retrospektive Kontextualisierungen (z.B. bei antizipatorischen Initiativen; vgl. Schmitt (i.d.Bd., Kap. 6.1) oder nachträgliche Reparaturen nötig sind (vgl. etwa die wiederholten Korrekturen in ebd., Kap. 6.2.1). Im Normalfall werden dagegen Verstehensvoraussetzungen nicht expliziert. Das interaktive ‘grounding’ durch spezialisierte Verstehensdokumentationen (vgl. Clark 1996) scheint nach den bisherigen Untersuchungen instrumentell vorgenommen zu werden, d.h. es steht im Dienste der Ermöglichung der weiteren Handlungsprogression. Eigenwertig wird es nur, wenn es dabei um die Festschreibung von gesprächstranszendent relevanten Gesprächsergebnissen geht. b) Viele Aktivitäten benutzen im Kontext der Konstitution von Handlungen Verfahren der Verstehensdokumentation, die sich nicht fokal auf die retrospektive Sicherung von Verständigung richten, sondern die auf einer mehr oder weniger präsupponierten Verständigungsbasis das gemeinsame Handeln vorantreiben. Hier handelt es sich also um Verfahren der Verstehensdokumentation, die durchaus eine äußerungsstrukturell bestimmbare Qualität haben, also an der Formulierung als solche erkennbar sind, die jedoch in Turns eingebaut werden, deren Handlungsfokus nicht in der Verstehensdokumentation besteht. Beispiele dafür sind die unterschiedlichen Fragetypen der Ärzte, mit denen diese anknüpfend an Patiententurns ihnen unbekannte Sachverhalte erfragen und dabei jeweils mit dem syntaktischen Fragetyp anzeigen, was sie für die Frage als bereits gemeinsam gewussten Hintergrund präsupponieren (vgl. Spranz-Fogasy i.d.Bd., Kap. 3). Ein anderes Beispiel sind anaphorische Verweise, die den Bezug zu Vorgänger- Turns herstellen. c) Schließlich gibt es Verstehensdokumentationen, die nicht mit einem auf die Verstehensdokumentation spezialisierten Verfahren operieren, sondern ausschließlich aufgrund ihrer sequenziellen Platzierung zu solchen werden. Prominente Beispiele sind die Patientenantworten, die nicht manifest thematisieren, wie die vorangehende ärztliche Frage interpretiert wurde (vgl. ebd., Kap. 4), oder die in Schmitt (i.d.Bd., Kap. 6.2) untersuchten künstlerischen Konzeptrealisierungen, die nur durch ihre sequenzielle Platzierung als enaktierende Reaktion auf ein zuvor verbal artikuliertes künstlerisches Konzept zu Verstehensdokumentationen werden (und deshalb nicht etwa einfach nur Vorführungen sind). <?page no="367"?> Konklusionen 367 05_Konklusion_final In den Fällen b) und c) ist die Verstehensdokumentation also im Handeln, das selbst die Interaktion vorantreibt, enthalten. Die Interaktionsteilnehmer finden damit eine Synthese zwischen den beiden für die Herstellung von sozialer Interaktion basalen Prinzipien, nämlich dem Prinzip der Progressivität des gemeinsamen Handelns (vgl. Schegloff 2007) und dem der Sicherung von Intersubjektivität (und damit der Dokumentation von Verstehen) in Bezug auf dieses Handeln (vgl. Heritage 1984). Beide Prinzipien stehen potenziell im Konflikt zueinander (siehe Heritage 2007): Die Sicherung von Intersubjektivität durch retrospektiv ausgerichtete Verstehensdokumentationen suspendiert die Interaktionsprogression; diese dagegen kann zu Intersubjektivitätsdefiziten führen, wenn für sie und in ihr die Verständigung über das (vorangegangene) Handeln nicht hinreichend sichergestellt ist. Empirisch zu beobachten ist, dass eine Präferenz dafür besteht, Progressivität so zu gestalten, dass dabei zugleich Intersubjektivität hergestellt wird. Dies trägt der Relevanzstruktur, nach der das gemeinsame Handeln und nicht das (retrospektive) Verstehen Zweck der Interaktion ist, ebenso Rechnung wie der Voraussetzungsstruktur, dass gemeinsames Handeln die Sicherung der Intersubjektivität von Handlungsschritten und -ergebnissen erfordert. Die Präferenz für die simultane Herstellung von Progressivität und Intersubjektivität entspricht einem interaktiven Ökonomieprinzip, das immer dann anwendbar ist, wenn Verstehen vermutlich unproblematisch bzw. hinreichend eindeutig aus dem Handeln inferierbar ist. Während diese Präferenz plausibel macht, warum Verstehen nach Möglichkeit inkorporiert vollzogen wird, erklärt sie doch nicht, warum dies geschehen kann und teilweise sogar muss. Bedingung der Möglichkeit für inkorporierte Verstehensdokumentationen ist das allgemeine Faktum der Sequenzialität der Interaktion. Sequenzialität ist zunächst einmal ein zeitliches Faktum, 5 das in der Folge von nächsten Handlungen auf vorangegangene besteht. Der Grundtatbestand der zeitlichen Abfolge hat wesentliche Konsequenzen sowohl für die Interaktionskonstitution als auch für die Verstehensdokumentation. Jede nächste Handlung innerhalb einer fokussierten Interaktion 5 Die zeitliche Dimension der Sequenzialität ist für das Kind in der frühen Sozialisation die Grundvoraussetzung für die Bildung von Interpretationen und damit für den Erwerb von Handlungssinn als Funktion und schließlich auch als Motiv von Aktivitäten. Durch die zeitlich kontingente Reaktion der Eltern auf das Verhalten des Kindes lernt dieses selbst „zu meinen“ (Bruner 1987), d.h. das durch die elterliche Reaktion dokumentierte Verständnis als Selbstverständnis und Bedeutung seiner Aktivitäten zu erwerben und künftig gezielt durch eigenes Handeln zu produzieren. Der Erwerb von Handlungsfähigkeit und sprachlicher Bedeutungskompetenz beruht in dieser Weise auf dem allgemeinen, zeitlich konstituierten Mechanismus interaktiver Sequenzialität. <?page no="368"?> Arnulf Deppermann 368 05_Konklusion_final wird als retrospektiv sensitiv, d.h. auf die vorangehende Handlung bezogen, verstanden. Dieser Bezug ist nicht nur so beschaffen, dass die vorangehende Handlung den Kontext, an den die Folgehandlung (thematisch, aktional) kohärent anknüpft, abgibt. Spezifischer kann jede Folgehandlung daraufhin gelesen werden, welches Verständnis der vorangegangenen Handlung sie dokumentiert, nämlich im Sinne einer die Folgehandlung legitimierenden, verständlich oder relevant machenden Voraussetzung (vgl. Schneider 2004). Beispiele dafür sind die retrospektive Definition einer vorangehenden Aktivität als ‘Frage’, indem auf sie eine als solche erkennbare ‘Antwort’ gegeben wird (Goffman 1981, Schegloff 2007) oder der ‘default’, Bewertungen und Kommentare eines Folgesprechers stets auf den vorangegangenen Beitrag zu beziehen. Diese Unterstellung der retrospektiven Sensitivität von Anschlusshandlungen in Bezug auf ihre Vorgänger können Interaktionsteilnehmer zur Ökonomisierung ihrer Turnproduktion im Einklang mit der Präferenz für Progressivität nutzen. Da der vorangegangene Turn der natürliche Bezugspunkt für den nächsten ist, sind sie davon entlastet, im Anschlussturn explizit den Bezug zum Vorgängerturn herzustellen, wenn dieser der Bezugspunkt ist. Ebenso ist es nicht nötig, eine explizite Interpretation des Vorgängerturns zu geben, wenn die Relation des Anschlussturns zum Vorgängerturn auf der Basis intersubjektiv eingespielter Deutungskonventionen und unterstellbarer Wissenshintergründe hinreichend erkennen lässt, wie der Vorgängerturn interpretiert wurde. Spezialisierte Verstehensdokumentationen sind demnach nur nötig, - wenn Verstehen und Verständigung zum eigenständigen Interaktionsgegenstand werden soll, - wenn zu verdeutlichen ist, dass nicht der unmittelbar vorangehende Turn der Bezugspunkt des hier und jetzt produzierten Anschlusshandelns ist, oder - wenn eine spezifische Interpretation vermittelt werden soll, die sich nicht ohne Weiteres allein durch eine progressive Handlung mitbedeuten lässt. Es liegt nahe, anzunehmen, dass die verstehenstheoretische Seite des allgemeinen zeitlichen Faktums der Sequenzialität gegenüber der handlungsbezogenen Seite primär ist: Die Tatsache, dass die zeitliche Kontiguität aufeinander folgender Turns als Heuristik für die Stiftung interpretativer Kohärenz genutzt wird, schafft die Voraussetzung für die Ressourcen und Restriktionen der sequenziell kontextsensitiven Turnproduktion. Aufgrund der Vorgängigkeit der Kohärenzunterstellung anhand zeitlicher Kontiguität werden Formulierungsverfahren wie Adjazenz-Ellipsen oder kollaborative Turnergänzungen in Folgeturns beispielsweise überhaupt erst möglich. <?page no="369"?> Konklusionen 369 05_Konklusion_final Fassen wir noch einmal kurz die bisher angesprochenen Eigenschaften von Verstehensdokumentationen zusammen: - die unabschließbare Vielfalt möglicher situierter Verstehensgegenstände, - die Ubiquität der Aufgabe zur Verstehensdokumentation, - die fundamentale Rolle von Sequenzialität als Verstehensressource für die Qualität von Anschlusshandlungen als Verstehensdokumentationen. Fügen wir an dieser Stelle noch eine weitere wichtige Eigenschaft hinzu, auf die wir später noch genauer eingehen werden: - In vielen Kontexten reicht es nicht, Verstehen einfach zu behaupten. Akteure müssen durch ihr Handeln demonstrieren, welcher Art ihr Verständnis in Bezug auf genau die Verstehensaufgabe, die der vorangehende Gesprächsbeitrag stellt, ist. 6 Nehmen wir diese vier Eigenschaften zusammen, dann verwundert es nicht, dass zur Verstehensdokumentation vielfach keine spezialisierten Verfahren benutzt werden. Stattdessen finden wir kontextbezogene und nur in diesem Kontext als genau diese Verstehensdokumentation funktionierende Formen, die sich an den spezifischen kontextuellen Aufgaben und Gegebenheiten ausrichten, diese bearbeiten und für ihre eigene Konstitutionsweise nutzen. 2. Progressivität, Projektion und Antizipation als Konstituenten von Verstehen in kooperativen Handlungsprozessen Professionelle Interaktionen sind aufgabenbezogene Kooperationen, in denen die Beteiligten gemeinsame Interaktionszwecke arbeitsteilig auf Basis komplementärer Rollenprofile bearbeiten. Diese Bestimmung gilt nicht nur für vollprofessionelle Interaktionen (z.B. innerhalb einer Organisation), sie gilt auch für Experten-Laien-Interaktionen in institutionellen Interaktionstypen (Arzt-Patient-Gespräch, Beratung, Unterricht, Interaktionen vor Gericht). Die Kooperation dient dabei der Herstellung von objektivierten Produkten bzw. gesprächstranszendent relevanten Ergebnissen, die in materialer Form (z.B. ein Film), mentaler Form (z.B. Wissensvermittlung) oder in Form von Festlegungen auf aus dem Gespräch folgenden Handlungskonsequenzen (z.B. Therapie, Urteil) bestehen können. Das anvisierte Resultat kann dabei mehr oder weniger selbst verbal strukturiert sein, wie beispielsweise bei einer Beratung, einer mündlichen Prüfung oder einer Diagnosestellung. Die wechselseitige 6 Vgl. Sacks (1992, S. 252 u.ö.) zum Unterschied zwischen ‘claiming’ vs. ‘demonstrating/ proving understanding’. <?page no="370"?> Arnulf Deppermann 370 05_Konklusion_final Dokumentation und die Ausarbeitung von Verstehen sowie die Erzielung eines gemeinsamen Verständnisses sind für das Erreichen des Gesprächszwecks in fast allen Fällen instrumentell unerlässlich. Sie sind aber nur in Ausnahmefällen mit dem Gesprächszweck selbst identisch (z.B. bei Mediationen, Problemlösegesprächen, bestimmten Therapiegesprächen oder Diskussionen). Doch auch in den letztgenannten Fällen (manche Therapien vielleicht ausgenommen) ist mit dem wechselseitigen Verstehen der Gesprächszweck noch nicht erreicht; er erfordert zusätzlich die Verständigung auf eine gemeinsame Sicht, also nicht nur das Verstehen, sondern die Akzeptanz der Partnerposition als gültige Wirklichkeitssicht. 7 Da Verstehen zumindest in einsichtsbasierten, d.h. nicht auf autoritären, durch Hierarchie oder Machtverhältnisse abgesicherten oder auf ritualisierter Routine beruhenden Ergebnisproduktionsprozessen die Voraussetzung für die Akzeptanz von Ergebnissen ist, liegt es nahe, dass umgekehrt die Dokumentation von Nicht-Verstehen gleichbedeutend mit Nicht-Akzeptieren ist. Verstehen und Akzeptieren können zwar in Verstehensdokumentationen durchaus getrennt werden; 8 negative Verstehensthematisierungen sind aber ein konventionalisiertes Verfahren, um Nicht-Akzeptanz und Widerspruch zum Ausdruck zu bringen (vgl. Reitemeier i.d.Bd., Kap. 5 und Deppermann/ Elstermann 2008). Da sich Kooperationsprozesse auf gemeinsam zu realisierende, während des Gesprächs in der Zukunft liegende Gesprächszwecke richten, sind sie durch eine Progressionsorientierung gekennzeichnet. Wie sich diese konkret ausformt, ist inhaltlich und handlungsphasenbezogen vom erreichten Stand des gemeinsamen Handelns und von den zu bearbeitenden Aufgaben und ihren Aufbauverhältnissen her bestimmt. Die Progressionslogik aufgabenbezogener Interaktionen findet ihren Niederschlag im Handlungsschema von Interaktionstypen (Nothdurft/ Spranz-Fogasy 1991, Kallmeyer 1985; vgl. Spranz-Fo- 7 Hilfreich ist hier die Unterscheidung zwischen formaler und materialer Kooperation (Ehlich 1987): Die Dokumentation von Verstehen ist ähnlich wie etwa die gemeinsame Orientierung an Regeln des Sprecherwechsels eine formale Voraussetzung für die Möglichkeit materialer Kooperation, die aber erst durch die zusätzliche gemeinsame Verfolgung geteilter Gesprächszwecke entstehen kann. So ist beispielsweise bei divergenten Handlungsorientierungen oder Interessenkonflikten durchaus formale Kooperation möglich, ohne dass material kooperiert wird. 8 Eine Trennung der Dokumentation des Verstehens der Behauptung der Patientin von der Akzeptanz dieser Behauptung findet bspw. statt, wenn die Ärztin die Behauptung der Patientin, es sei „überhaupt nichts passiert“, mit „nicht erinnerlich“ kommentiert (vgl. Spranz- Fogasy i.d.Bd., Kap. 4.3). Sie verdeutlicht damit, dass sie den von der Patientin mit ihrer Auskunft erhobenen Wirklichkeitsanspruch nachvollzieht, dessen Gültigkeit aber nicht ratifiziert, sondern die Aussage als nur subjektiv gültig behandelt. <?page no="371"?> Konklusionen 371 05_Konklusion_final gasy i.d.Bd., Kap. 2.2 für Arzt-Patient-Gespräche; Reitemeier i.d.Bd., Kap. 3.2 für Beratungsgespräche) und in den aufeinander bezogenen rollengebundenen Zuständigkeiten in ‘joint projects’ (vgl. Schmitt i.d.Bd., Kap. 4 für den Filmdreh). Die Kenntnis solcher allgemeinen Handlungsschemata, rollengebundenen Rechte und Pflichten und ihrer Verknüpfung mit denen anderer Rollen und das Verfügen über die entsprechenden Wissensbestände und Handlungsfähigkeiten sind allgemeine Beteiligungsvoraussetzungen, die auch Verstehensvoraussetzungen sind. In Bezug auf den jeweiligen konkreten Interaktionsmoment gilt es jedoch, dieses allgemeine Wissen situiert einzusetzen und verstehensdokumentatorisch zum Ausdruck zu bringen. Dabei ist nicht nur der vorangehende Partnerbeitrag retrospektiv in Bezug auf seine Deutung und Funktion im Kontext der Kooperation zu verstehen, sondern vor allem prospektiv das vom Partner mit seinem Beitrag projizierte Anschlusshandeln zu realisieren. Die lokale Stiftung von Projektionen für Anschlusshandlungen ist die zentrale Triebkraft für die intersubjektiv orientierte Herstellung der Progression des Handelns. Aufgrund der Progressivitätsorientierung von Interaktionen ist daher die Realisierung der projizierten nächsten Handlung die wichtigste und präferierte Form der Verstehensdokumentation. Für die Handlungsprogression interessiert nicht, ein möglichst genaues retrospektives Verständnis vorangegangener Turns zu dokumentieren, sondern zu zeigen, dass man die situiert relevant gemachten Erwartungen des Partners an das eigene Anschlusshandeln versteht, indem man eine erwartungskongruente Handlung vollzieht. Somit zeigt sich, dass die Zukunftsgerichtetheit des zu Verstehenden, der Handlungen des Gesprächspartners, dafür sorgt, dass Verstehen vielfach am besten in inkorporierten Formen zu realisieren ist, welche nämlich nicht das zu Verstehende selbst retrospektiv zum Thema machen, sondern das Verständnis der vorgängigen Erwartung durch deren Erfüllung anzeigen. Verstehensdokumentationen gehen aber häufig über die Erfüllung von Projektionen, die mit einer Partnerhandlung etabliert wurden, hinaus. Die Untersuchung der ‘überschießenden’ Patientenantworten in Spranz-Fogasy (i.d.Bd., Kap. 4.2) und das Verfahren der antizipatorischen Initiativen in der Arbeit auf dem Filmset (Schmitt i.d.Bd., Kap. 6.1) zeigen, dass antizipatorisches Handeln nicht nur für die Effizienz von Kooperationen entscheidend ist, sondern auch eine spezifische Form der Verstehensdokumentation darstellt. Antizipatorisches Handeln unterscheidet sich von projiziertem Handeln darin, dass seine Realisierung durch den vorangehenden Beitrag nicht erkennbar (konventionell) relevant gemacht und als Erwartung verdeutlicht wird. Es beruht <?page no="372"?> Arnulf Deppermann 372 05_Konklusion_final also in viel höherem Maße als projiziertes Handeln auf der Eigeninitiative und den einseitigen situierten Relevanzeinschätzungen des Handelnden. Antizipatorisches Handeln kann aber nur dann einen systematischen kooperativen Beitrag leisten, wenn es sich auf die Kenntnis intersubjektiv geteilter Handlungsschemata und ‘joint projects’ stützt, wenn es an der geteilten Einschätzung des aktuellen Stands der Gemeinschaftshandlung ansetzt, und wenn es so gestaltet ist, dass die Motivation und die Funktion des antizipatorischen Handelns in genau diesem Moment für die Bearbeitung gemeinsamer Gesprächszwecke in seiner Realisierung dem Partner verdeutlicht wird. In welcher Weise dokumentiert nun antizipatorisches Handeln ein Verständnis des Partnerhandelns? Es kann dabei ja nicht um das Verständnis einer Partnererwartung an das eigene Anschlusshandeln gehen, denn eine solche wurde ja nicht projiziert. Allgemein gesprochen dokumentieren antizipatorische Handlungen ein Verständnis des momentanen, mit dem vorangehenden Partnerbeitrag erreichten bzw. durch ihn signalisierten Stands eines kooperativen Unternehmens und dessen, was als Nächstes zu seiner erfolgreichen Fortsetzung ansteht. Partnerbeiträge können wie beispielsweise im Fall der in Schmitt (i.d.Bd, Kap. 6.1) untersuchten antizipatorischen Initiativen indizieren, dass der Partner ein bestimmtes ‘joint project’ (z.B. eine Probe, ebd., Kap. 6.1.1) vorbereitet bzw. sich auf dieses ausrichtet. Im Falle der Reaktion auf das Partnerhandeln mit einer antizipatorischen Initiative wird daher nicht nur angezeigt, dass der lokale Handlungssinn des Partnerhandelns verstanden wurde, sondern vor allem, dass es als Schritt in einem Kooperationsprozess verstanden wird, welcher seinerseits zur Realisierung des übergeordneten Zwecks eine komplementäre, ebenfalls auf die Erreichung des gemeinsamen Kooperationsziels gerichtete Handlung erfordert bzw. zumindest hilfreich erscheinen lässt. Das antizipatorische Handeln ist daher strukturell in die Triade ‘Handlung des ersten Akteurs - antizipatorische Reaktion des zweiten Akteurs - Produkt des kollaborativen Handelns’ eingespannt, die bereits Mead (1968 [1934]) mit dem Begriff der „triadischen Struktur des Handlungssinns“ fasste: Die Partnerhandlung wird ebenso wie die eigene Handlung als jeweiliger Beitrag zu einem gemeinsamen, reziprok bekannten, in der Zukunft liegenden Handlungsziel gesehen, von dem her beide ihren Sinn und ihre Verständlichkeit gewinnen. Die antizipatorische Handlung dokumentiert daher das Verstehen des vom Partner initiierten ‘joint projects’. In gleicher Weise verdeutlichen die antizipatorischen Reaktionen der Patientenantworten (Spranz-Fogasy i.d.Bd, Kap. 4.4), dass die Patienten die ärztlichen Fragen in Bezug auf die übergreifenden Relevanzen der Anamnese und ihres Zwecks, diagnostisch und therapieplanungsbezogen verwertbare Informationen zu liefern, ausdeu- <?page no="373"?> Konklusionen 373 05_Konklusion_final ten. Antizipatorische Handlungen sind ein Fall des „going beyond the information given“ (Bruner 1957): Sie beruhen auf kooperativen Inferenzen, die sich vor allem auf die Deutung von vorangehenden Partnerhandlungen in Bezug auf übergeordnete Kooperationsschemata stützen. Interaktionsteilnehmer scheinen sich dabei an den von Grice (1979) vorgeschlagen Kooperationsmaximen zu orientieren. Vor allem die Relevanz- und die 2. Quantitätsmaxime (auch: „Informativitätsmaxime“ genannt; vgl. Levinson 2000) sind einschlägig: Patienten scheinen z.B. davon auszugehen, dass das in ärztlichen Fragen Gemeinte im Einklang mit Wissen über das Handlungsschema von Anamnesen so zu ergänzen und zu spezifizieren ist, dass eine kooperative Antwort auch diese nicht in der Frage thematisierten Gehalte ansprechen kann bzw. sollte (vgl. Spranz-Fogasy i.d.Bd., Kap. 4.6). Diese Befunde zeigen, dass intersubjektiv als geteilt unterstelltes handlungsschematisches Wissen als eine wichtige Quelle für maximenbasierte Anreicherungen von Äußerungsbedeutungen zu rekonstruieren ist. Allerdings muss hier angemerkt werden, dass es bei der anreichernden Interpretation von Fragen nicht um konversationelle Implikaturen geht - denn die Fragen verstoßen nicht manifest gegen Maximen - und dass sich das Operieren mit den Maximen in der Anschlusshandlung selbst zeigt, nicht also nur wie in der Grice'schen Theorie auf der Ebene der privaten mentalen Interpretation stattfindet. Antizipatorisches Handeln ist ein Handeln, das wohl vom unmittelbar vorangehenden lokalen Partnerhandeln seinen Ausgang nimmt, dieses aber im Kontext weiter in die Zukunft reichender Ziel- und Zeitbezüge interpretiert. Wie in Bezug auf das Filmset gezeigt wurde, ist antizipatorisches Handeln gerade in vollprofessioneller Teamkooperation wie auf dem Filmset ein Muss, da es als Abkürzungsverfahren die Veranlassung durch Projektion und Instruktion erspart und so für eine zeitliche Ökonomisierung und Effizienzsteigerung der Kooperation sorgt (Schmitt i.d.Bd., Kap. 6.1.3). Voraussetzung für die gelingende antizipatorische Beteiligung in der Interaktion sind sowohl rollenbezogene Zuständigkeiten innerhalb kooperativer Prozesse als auch das reziproke Wissen der Beteiligten über sie. Dieses beruht vor allem auf praktischen Vorerfahrungen und Routinen, die den Verlauf von Kooperationsprozessen prognostizieren und auch bestimmte Verstehensaufgaben erwarten lassen. Es umfasst sowohl ablaufbezogenes als auch fachliches, sachverhaltsbezogenes Wissen. 9 Je mehr auf Routinen vertraut werden kann, sei es aufgrund von Er- 9 In Bezug auf die Reziprozität des Wissens ist dabei nicht entscheidend, dass ‘ego’ das gleiche weiß wie ‘alter’, sondern dass es zwischen ‘ego’ und ‘alter’ geteiltes Wissen ist, worüber der jeweils andere Bescheid weiß. So müssen weder der Patient die Diagnose stellen noch die Regisseurin die Kamera bedienen können. Beide müssen aber wissen, welche Handlungen vom anderen zu erwarten sind und welche Zuarbeiten er/ sie dafür braucht. <?page no="374"?> Arnulf Deppermann 374 05_Konklusion_final fahrung, sei es aufgrund der Uniformität der Sequenz von Aufgaben, desto geringer werden Explikations- und Aushandlungsbedarf und desto fragloser kann antizipatives Handeln realisiert werden. Schließlich kann es selbst so zur Routine werden, dass es seinerseits zum Teil der projektiven Erwartungsstruktur von Kooperationsprozessen wird. Die in diesem Band versammelten Untersuchungen zeigen aber auch, dass antizipatives Handeln nicht nur Chancen (im Sinne der Effizienzsteigerung, Beschleunigung und wohl auch größeren subjektiven Zufriedenheit mit der Kooperation), sondern auch Risiken birgt (vgl. Schmitt i.d.Bd, Kap. 6.1.3.4). Antizipatorisches Handeln kann (relativ zu Partnererwartungen oder zu seinen Durchführungsvoraussetzungen) zu früh kommen, es kann für den Partner, der es nicht erwartet, deplatziert, unmotiviert, unverständlich oder (unter hierarchischen Gesichtspunkten) ungehörig erscheinen. Deshalb ist es schlüssig, dass antizipatorisches Handeln zur Minimierung seiner Risiken verstehensbezogen kontextualisiert und in seiner Funktion legitimiert wird und dass dies vor allem durch Verstehensdokumentationen in Bezug auf die Handlungsintentionen der Partner geschieht. Antizipatorisches Handeln ist ein Fall von interaktiver Kontingenz: Als nicht projiziertes Handeln kann es für emergente Interaktionsprozesse sorgen, da es nicht nur zur Abkürzung von Interaktionsprozessen führen, sondern auch tangentiale Potenziale der Fortsetzung von Interaktionssequenzen, die vielleicht im Moment der Realisierung des antizipatorischen Handelns nur für den Akteur selbst bestanden, nicht aber für die anderen Beteiligten, aktualisieren und somit die Interaktion in eine unvorhergesehene Bahn lenken. Ob dies geschieht, liegt natürlich nicht nur an der Handlung selbst, sondern auch daran, wie sie von den Ko-Interaktanten aufgegriffen wird (vgl. Deppermann/ Mondada/ Schmitt i.Dr.). 3. Verstehensdokumentation als perspektivische Aneignung Es wurde bereits wiederholt hervorgehoben, dass Verstehensdokumentationen sich nur selten darin erschöpfen, rein retrospektiv zu verdeutlichen, wie ein Partnerbeitrag verstanden wird. Im gängigen Fall der Verstehensdokumentation durch progressives Handeln wird das Verstandene entweder nur andeutungsweise oder nur als Handlungsvoraussetzung erschließbar angezeigt. Verstehensdokumentationen sind deshalb zumeist perspektivische Aneignungen: Es wird nicht die Bezugsäußerung für sich oder für ihren Produzenten genommen verstanden, sondern sie wird standpunktgebunden, d.h. relativ zu den Relevanzen der eigenen Beteiligungsrolle, also eigenen Handlungsaufgaben, Zuständigkeiten, Ergebnisinteressen und in Bezug auf das vom Partner proji- <?page no="375"?> Konklusionen 375 05_Konklusion_final zierte Handeln aufgefasst und gemäß dieser Relevanzen transformiert. Wir sahen dies in vielfältigen feld- und rollenspezifischen Weisen in den Untersuchungen dieses Buchs: Die Regisseurin versteht Vorschläge der Kamerafrau unter der Perspektive des Schneidens, die Kamerafrau die Konzepte der Regisseurin mit Blick auf die Kameraführung, der Berater die Darstellungen der Klientin in Bezug auf deren statusrechtliche Kategorisierung, die Ärztin die Symptomschilderungen der Patientin als differenzialdiagnostische Information etc. Es scheint uns wesentlich für eine empirische Sicht auf Verstehen in der Interaktion zu sein, dass die Dokumentation von Verstehen sich meistens nicht auf die Redeintentionen des Partners bezieht, sondern anzeigt, was angesichts der Partneräußerung als passende Anschlusshandlung verstanden wird und wie dies zu den eigenen situierten Handlungsorientierungen passt. Die handlungsleitende Frage des Reagierenden lautet also nicht: „Was bedeutet die Handlung für ihren Produzenten? “, sondern: „Was bedeutet das, was er tut, für mich? “ Die Trennung zwischen dem Verstandenen und dem, wie der Verstehende dies für das eigene Handeln nutzt und transformiert, wird zumeist nicht empirisch erkennbar vollzogen. Eklatantester Aufweis des Verstehens als perspektivische Aneignung sind die Fälle, in denen mehrere Beteiligte die gleiche Handlung eines Ko-Interaktanten vollkommen unterschiedlich je nach Beteiligungsrolle beantworten, wie z.B. bei der Ankündigung einer Probe (vgl. Schmitt i.d.Bd., Kap. 5.1). Dieses adressatenspezifische Reagieren zeigt, dass für die soziale Kooperation nicht die verstehende Reproduktion des Sprechersinns maßgeblich ist, sondern dass gerade die Multiplizität und Standortgebundenheit beteiligungsrollenspezifischer Verstehensdokumentationen, die jeweils anzeigen, welche Schlussfolgerungen positionsgebunden in Bezug auf das eigene Handeln relevant sind, die Produktivität sozialer Kooperationen ausmachen. Diese Produktivität besteht verstehensbezogen darin, dass Verstehen nicht behauptet, sondern demonstriert wird und sich bewähren muss durch eine kompetente, den Beitrag des anderen, die von ihm gestifteten Erwartungen und bei ihm erkennbaren Intentionen in Rechnung stellende Reaktion. Die Frage nach dem „Richtig-“ oder „Falsch-Verstehen“ entscheidet sich daher meist nicht dahingehend, ob eine vom Sprecher intendierte Bedeutung richtig verstanden wurde, sondern ob die Anschlusshandlung den Erwartungen des vorangehenden Sprechers entspricht oder auch nur in der dritten Position als passend akzeptiert wird (vgl. Schegloff 1992, Schneider 2004, Deppermann 2008). So ist es beispielsweise in der Auseinandersetzung der Regisseurin mit der Kamerafrau letztlich nicht entscheidend, ob sie die Kamerafrau genau versteht, sondern ob letztere ein Produkt erstellen kann, das die Regisseurin akzeptiert (vgl. Schmitt i.d.Bd., Kap. 6.2.1). <?page no="376"?> Arnulf Deppermann 376 05_Konklusion_final Aufgrund dieses nicht bloß abbildenden, sondern aneignend-transformierenden Charakters des Verstehens wird die Perspektivendivergenz in Verstehensprozessen zum produktiven Faktor. Dies kann in verschiedener Weise geschehen. Perspektivendivergenz ist beispielsweise die Voraussetzung für die fachlich-professionelle Transformation alltagsweltlich erlebter und kategorisierter Probleme (vgl. Spranz-Fogasy und Reitemeier i.d.Bd.). Die Produktivität der standortgebundenen Verstehensdokumentation zeigt sich auch, wenn ein Akteur erst in der Auseinandersetzung mit Verständnissen seines Handelns, die für ihn inakzeptabel sind, dazu gelangt, die eigene Position durch die Korrektur ihrer Formulierung zu klären und somit eine über das Scheitern am Fremden vermittelte Selbstverständigung erreicht (vgl. Schmitt i.d.Bd., Kap. 6.2.1). Auch die Dokumentation von Nicht-Verstehen kann dazu führen, dass die formulierte Position noch einmal der Revision unterworfen wird (vgl. Reitemeier i.d.Bd., Kap. 5). Die Standortgebundenheit der Aneignung hat aber auch als mögliche Kehrseite die ‘Einpassung’ der Äußerungen des Gegenübers in vorausgesetzte Kategorisierungsschemata (vgl. ebd., Kap. 3.3.1). Zwar kann man auch hier noch von einer Art des Verstehens sprechen, da eine zeichenhafte Deutung stattfindet. Sie ist aber weder daran orientiert, die Bedeutung des Beitrags des Partners für diesen selbst noch dessen Erwartungen an das Anschlusshandeln des Adressaten in Rechnung zu stellen. Im Unterschied zu den oben in Kapitel 2 diskutierten antizipativen Handlungen entsteht hier die Abkürzung der Interaktion nicht auf der Basis eines ggfs. ausgehandelten und fortlaufend hinsichtlich seiner gemeinsam geteilten Geltung geprüften Verständnisses von Handlungszwecken und Durchführungsmodalitäten der Interaktion. Beim ‘Einpassen’ entsteht die Ökonomisierung der Interaktion aus unilateraler Kategorisierung und aus der Anwendung einseitiger organisationaler bzw. institutioneller Routinen. ‘Einpassen’ ist also wohl ein Verfahren der Verstehensdokumentation, aber keines, das auf intersubjektive Verständigung abzielt und Aushandlungsspielräume offen lässt. Vielmehr zielt es auf eine effiziente Bearbeitung von Partnerbeiträgen im Rahmen routinisierter - z.B. bürokratischer - Schemata ab. 4. Die Indikatorqualität von Verstehensdokumentationen für soziale Strukturen in der Interaktion Die in der Gesprächsforschung immer wieder aufgeworfene und kontrovers diskutierte Frage nach dem Zusammenhang zwischen Mikro (Interaktionsstruktur) und Makro (Sozialstruktur) drängt sich auch unweigerlich bei der Untersuchung von Verstehensdokumentationen in der Interaktion auf (Boden <?page no="377"?> Konklusionen 377 05_Konklusion_final 1994, Habscheid 2000, Schegloff 1991). Der Bezug der interaktiven Praktiken der Verstehensdokumentationen zu sozialen Strukturen in der Interaktion wird umso augen- und ohrenfälliger, wenn man Verstehensdokumentation - wie im vorliegenden Band - in unterschiedlichen Handlungsfeldern und bezüglich verschiedener Beteiligungsrollen vergleicht. Die Formen der Verstehensdokumentation erscheinen dann in vielen Fällen regelrecht als eine Sonde zur Identifikation von Hierarchie, Status und anderen interaktiven Asymmetrien aufgrund von Wissen, Zuständigkeit, Betroffenheit und institutioneller Autorität. Wir möchten hier kurz zusammenfassen, an welchen Stellen Verstehensdokumentationen sozialstrukturelle Gegebenheiten indizieren. Mit hierarchischen Verhältnissen und Experten-Laien-Diskrepanzen gehen asymmetrische Pflichten der Verstehensdokumentation einher. Hierarchiehöhere und institutionelle Experten weisen Aktivitäten ihrer Partner öfters lakonisch ohne weitere Begründung und ohne spezifische Verstehensdokumentation zurück (vgl. Reitemeier i.d.Bd., Kap. 4.5; Schmitt i.d.Bd., Kap. 6.2.1). Hierarchieniedere dagegen müssen vor allem als Ausführende detailliert ihr Verstehen der Instruktionen und Belehrungen seitens Hierarchiehöherer demonstrieren (vgl. ebd., Kap. 6.2). In Bezug auf die Mehrpersonenkonstellation des Filmsets wurde festgestellt, dass Hierarchieniedere gehalten sind, permanent Monitoring ihrer Vorgesetzten zu betreiben, um im rechten Moment für diese verfügbar zu sein, die Verfügbarkeit der Vorgesetzten selbst einschätzen zu können und um antizipatorische Beiträge zu Kollektivhandlungen zu leisten, welche von den Vorgesetzten in Gang gesetzt wurden. Für die Hierarchiehöheren dagegen zeigte sich vor allem die Aufgabe, ihre eigenen Beiträge und genereller ihre gesamte leibliche Beteiligungsweise in der Interaktion so zu gestalten, dass sie problemlos und eindeutig in Hinblick auf die sich aus ihr ergebenden Koordinationsanforderungen für die anderen Funktionsrollen ‘lesbar’ wird (vgl. ebd., Kap. 4 und 5). Einige dieser Befunde hinsichtlich des Zusammenhangs von Interaktions- und Sozialstruktur dürften eher korrelativer Natur sein und auch je nach Interaktionssituation und individuellem Rollenträger unterschiedlich ausfallen (z.B. Lakonie und Verzicht auf Verstehensdokumentation). In diesen Fällen scheint die Form der (reduzierten bzw. ausbleibenden) Verstehensdokumentation zwar nicht durch die hierarchische Position „determiniert“, doch aber in einer Weise lizenziert zu sein, die für Hierarchieniedere nicht vergleichbar bereit steht. Um diesen Punkt eingehender zu klären, wären nicht nur statistische Untersuchungen über die Verteilung von Verstehensdokumentationsverfahren nötig, sondern auch kontrastive Untersuchungen, die die Spannweite der Rea- <?page no="378"?> Arnulf Deppermann 378 05_Konklusion_final lisierungsformen bei unterschiedlichen Vertretern der gleichen Interaktionsrolle unter die Lupe nehmen. Anders liegt der Fall bei Verfahren der Verstehensdokumentation, die offensichtlich kategoriengebundene Handlungen sind (vgl. Sacks 1992, Hester/ Eglin (Hg.) 1997, Schegloff 2007). Mit ihnen werden sozialstrukturelle Rollen als situierte Beteiligungsrollen enaktiert (vgl. dazu auch Zimmerman 1998). Dies gilt ganz offensichtlich ebenso für die schauspielerischen Konzeptrealisierungen (Schmitt i.d.Bd., Kap. 6.2.2) wie für die Ankündigungshandlungen als rollenspezifische antizipatorische Initiativen der Aufnahmeleiter auf dem Filmset (vgl. ebd., Kap. 6.2.1). Ähnlich gelagert sind bestimmte Formen ärztlicher Fragen, wie z.B. negativ polare Frageformate (Spranz-Fogasy i.d.Bd., Kap. 3.2) oder das Verfahren der Relevanzrückstufung des Klientenbeitrags als Vorbereitung für die Umfokussierung der Fallbearbeitungsprozedur in der Migrationsberatung (Reitemeier i.d.Bd., Kap. 4.5). Solche Verstehensdokumentationen sind konstitutive Bestandteile des Handlungsrepertoires der sozialstrukturellen Rolle als Interaktionsrolle, mit dem Rollenträger ihre Interaktionsaufgaben in bestimmten sequenziellen Kontexten bearbeiten. Einen dritten, sehr interessanten Zusammenhang zwischen Sozialstruktur und Verstehensdokumentationen können wir schließlich bei der gesprächsrhetorischen Nutzung (vgl. Kallmeyer (Hg.) 1996) von Verstehensdokumentationen sehen. Dies war etwa der Fall bei der Klientin in der Migrationsberatung (Reitemeier i.d.Bd., Kap. 5): Die negative Verstehensdokumentation und die Formulierung einer provokativen Verstehenshypothese sind Steuerungsressourcen, mit denen Laien im Sinne eines „participant work“ (Jefferson 1972) gewissermaßen gegen die institutionsstrukturell abgesicherte Machtposition des Experten ihren diskursiven Handlungsspielraum erweitern und auf kommunikativem Wege ihre Interessen durchzusetzen versuchen können (vgl. auch Kallmeyer/ Schmitt 1996). 10 Die diskursiv zu mobilisierende „Macht der Unterlegenen“ beruht dabei offenbar auf der Funktionalisierung einer Diskursideologie des Verstehens als kommunikativem Zentralwert, der als eine Ressource „von unten“ eingesetzt werden kann. Im konkreten Fall partikularisiert sie sich darin, dass Betroffene einen Anspruch darauf haben, dass kommunikative Handlungen (und insbesondere Entscheidungen), denen sie ausgesetzt sind, für sie verständlich, d.h. hinreichend legitimiert sein müssen. Diese Diskursideologie hat offenbar auch für Hierarchiehöhere eine hohe normative Bindungskraft, über die sich diese nicht durch einfaches Übergehen einer problematisierenden Verstehensdokumentation hinwegsetzen können. 10 Einen vergleichbaren Fall des Einsatzes einer problematisierenden Verstehensdokumentation als gesprächsrhetorisches Verfahren „von unten“ diskutieren Deppermann/ Schmitt (2008) am Beispiel einer Lehr-Lern-Interaktion. <?page no="379"?> Konklusionen 379 05_Konklusion_final Obwohl in manchen Fällen der Zusammenhang zwischen der Interaktionsrolle, die durch die institutionelle bzw. organisationale Rolle bestimmt ist, und der Form der Verstehensdokumentation nicht so klar ist, muss festgehalten werden, dass durch die Form der Verstehensdokumentation selbst die interpersonelle Beziehung der Beteiligten mitkonstituiert wird. Verstehensdokumentationen sind nämlich stets Verfahren des ‘recipient design’ (vgl. Schmitt/ Deppermann 2009), die das Verhältnis der Interaktionsbeteiligten als epistemische Subjekte zum Ausdruck bringen. Damit sind in Bezug auf die interpersonelle Beziehung Aspekte wie die folgenden berührt: Wer behandelt wen als wofür kundig, kompetent, dokumentations- und belegpflichtig oder glaubwürdig und wer rahmt umgekehrt sein eigenes Handeln als selbstverständlich oder legitimationsbedürftig in Bezug auf einen spezifischen Rezipienten? Die gesprächsanalytische Untersuchung zeigt also, dass Verstehen durchaus sozialstrukturell spezifisch geprägt ist. Diese Erkenntnis mag überraschen, da sie weit über den zu erwartenden und natürlich auch in unseren Daten zu sehenden Befund hinausgeht, dass Verstehen durch Fachwissen und Fachterminologie beeinflusst wird. (Dies wird in allen drei Felduntersuchungen an vielen Stellen klar.) Wir sehen zusätzlich, dass auch das Verstehen von Interaktionsabläufen und die Frage, wer was wie genau verstehen muss und darf zumindest hinsichtlich des Anzeigens dieser Verstehensleistungen eine eminent soziale und nicht nur eine allgemein kognitive Seite hat. Inwiefern der Unterschiedlichkeit von interaktionsöffentlichen Verstehensdokumentationen auch ‘private’ kognitive Unterschiede entsprechen, kann mit der Methodik der Konversationsanalyse natürlich nicht ausgewiesen werden. Angesichts des allgemeinen Zusammenhangs der Entwicklung kognitiver Kompetenzen und Routinen aus der regelmäßigen Teilnahme an und der Praktizierung von sozialen Routinen (vgl. etwa Tomasello 2002) ist aber anzunehmen, dass die sozialstrukturelle Spezialisierung von Verstehensdokumentationen auch für kognitive Verstehenseinstellungen und -leistungen folgenreich sein dürfte. 5. Die Relationalität von retrospektiv-prospektiven Verstehensdokumentationen In Kapitel 2 dieses Beitrags wurde die retrospektive Sensitivität der sequenziellen Organisation von Gesprächen als Fundament von Verstehensdokumentationen herausgearbeitet. Ihr grundlegender Status für die Interaktionsorganisation sollte aber nicht zu der einseitigen Annahme verführen, Verstehensdokumentationen seien nur lokal-sequenziell bezogen. Die Argumentationen in den Kapiteln 3 und 4 liefen darauf hinaus, dass die Orientie- <?page no="380"?> Arnulf Deppermann 380 05_Konklusion_final rung an prospektiven Gesprächsentwicklungen, übergeordneten Gesprächsphasen, den generellen Gesprächszwecken und rollenbezogenen sozialen Kooperationsstrukturen dafür sorgt, dass der unmittelbar vorangehende Turn oft keineswegs der einzige Bezugspunkt einer Verstehensdokumentation ist. Damit wird nicht behauptet, dass er unwichtig sein kann - im Gegenteil, die detaillierte Sequenzanalyse zeigt oftmals, dass global orientierte Reaktionen, die ein bestimmtes sehr allgemeines Verständnis eines Interaktionspartners, einer Sachverhaltsposition, einer Institution etc. zum Ausdruck bringen, sich an ganz konkreten unmittelbar vorangehenden Aktivitäten entzünden. Doch genauso klar wird, dass solche Vorgängerturns vor verschiedenen interpretativ relevanten Hintergründen verstanden werden, die über sie hinausreichen und ihnen erst ihre situativ relevante Interpretation verleihen: - Die vorangehende Interaktionssequenz: Anschlusshandlungen bearbeiten oft nicht nur den unmittelbar vorangehenden Turn, sondern zusätzlich sein Verhältnis zu vorangegangenen. Damit zeigen sie zugleich an, wie sie den vorangegangenen Turn im Kontext einer weiter reichenden Interaktionssequenz interpretieren. Z.B. wird in Spranz-Fogasy (i.d.Bd., Kap. 4.3) gezeigt, dass eine Patientin ihre Antwort auf eine ärztliche Informationsfrage so formuliert, dass erkennbar wird, dass sie die Arztfrage zugleich als eine Infragestellung der Glaubwürdigkeit ihrer früheren Äußerungen interpretiert. - Die Funktion von Turns im Rahmen von Interaktionstypen und weiterreichenden joint projects: Verstehensdokumentierende Reaktionen zeigen, dass Turns als Schritte im Kontext der Bearbeitung größerer Einheiten kollektiver Handlungen verstanden werden und dass auf sie als solche reagiert wird. Diese Interpretations- und Reaktionseinstellung ist zum einen für die Selektion spezifischer Reaktionsalternativen, die über den vorangegangenen Turn hinaus erkennbar durch die Relevanzen des Interaktionstyps bzw. ‘joint project’ nahegelegt werden, verantwortlich. Auch dies zeigt sich z.B. im Arzt-Patient-Gespräch an der Beschränkung auf Antworten, die aus Sicht des Patienten vermutlich diagnostisch relevant sein können. Besonders deutlich werden solche Orientierungen an übergeordneten Schemata kollektiven Handelns an antizipatorischen Reaktionen (ebd., Kap. 4.4) und an antizipatorischen Initiativen (s.o. Kap. 2), die als grundlegende Praktik ablaufbezogener Koordinationen verschiedener Funktionsrollen am Filmset ausgewiesen wurden. - Vorerfahrungen: Zusätzlich zum allgemeinen Wissen, das vor allem den formalstrukturellen Ablauf von Interaktionstypen und ‘joint projects’ und die Zuständigkeiten von Funktionsrollenträgern betrifft, gehen in die loka- <?page no="381"?> Konklusionen 381 05_Konklusion_final len Verstehensdokumentationen auch stärker evaluativ gefärbte und auf individuelle Akteure bezogene interpretative Voreinstellungen aufgrund von Vorerfahrungen ein. Diese führen zu generalisierenden, personalisierenden und moralisierenden Deutungen (vgl. auch Nothdurft 1998), wie etwa in der Verstehenshypothese der Klientin in der Migrationsberatung, die in Reitemeier (i.d.Bd., Kap. 5) eingehend untersucht wird. - Schließlich werden Turns auch vor dem Hintergrund von interaktionsunabhängigen Gegebenheiten, z.B. Akten, Sichtbarem, Vorkenntnissen, Fachwissen, Normalitätsannahmen über wahrscheinliche Sachverhalte, verstanden. Diese können dazu herangezogen werden, um die interaktiven Darstellungen in professionelle Deutungsschemata einzupassen, sie durch den Vergleich in ihrer Geltung infrage zu stellen (vgl. Spranz-Fogasy i.d.Bd., Kap. 4.3 und Reitemeier i.d.Bd., Kap. 3.3.2) oder schlussfolgernd zu ergänzen. Wenn einer oder mehrere dieser vier unterschiedlichen Kontexte in lokale Verstehensprozesse eingehen, richten sich diese nicht nur auf ein lokales Verstehensobjekt, sondern behandeln es als ein relationales Ereignis, dessen Verständnis erst in Bezug auf einen weiteren zeitlichen, personalen, sachlichen, fachlichen etc. Kontext zu gewinnen ist. Die hier versammelten Analysen bekräftigen also durchaus in Abgrenzung von einer rein sequenzgebundenen Sichtweise von Verstehensdokumentationen, dass Verstehen einer weitergehend retrospektiv-prospektiven Orientierung folgt, wie dies schon von frühen ethnomethodologischen Studien immer wieder betont wurde (vgl. Garfinkel 1967, Cicourel 1973). 11 Verstehen in der Interaktion erweist sich damit als ein Phänomenbereich, der nicht nur linear sequenziell, sondern eben oftmals auch hierarchisch-relational organisiert ist: retrospektives Geschehen wird in Bezug auf antizipierte Zwecke und Ziele ausgelegt, lokale Ereignisse in Bezug auf übergreifende Interaktionsphasen und Zwecke spezifizierend gedeutet, zeitlich weiter zurückliegende Kontexte werden selektiv als relevante Deutungshintergründe für aktuelles Geschehen herangezogen. Eine linguistisch informierte Konversationsanalyse kann in vielen Fällen datengestützt zeigen, mit welchen Praktiken und in Bezug auf welche Kontexte solche weiter reichenden Prozesse des retrospektiven und prospektiven Ver- 11 Im Unterschied zu diesen Studien beziehen wir uns speziell auf Gesprächsprozesse und die Konversationsanalyse entsprechender Daten. Unser Interesse ist primär auf die konkreten interaktiven sprachlichen und visuellen Praktiken der Verstehensdokumentation gerichtet und nicht auf die sehr allgemein-formalen, kognitiven Interpretationsverfahren, die den Hauptgegenstand der frühen sozialphänomenologischen und ethnomethodologischen Untersuchungen ausmachten. <?page no="382"?> Arnulf Deppermann 382 05_Konklusion_final stehens in der Interaktion dokumentiert werden. Das relationale Zustandekommen von Verstehensleistungen wird allerdings in der Verstehensdokumentation oft nicht als solches angezeigt. Vielfach erweist häufig erst die Analyse längerer vorgängiger Interaktionssequenzen entscheidende Verstehensbezüge, die in der Verstehensdokumentation selbst zumindest für einen Beobachter nicht erkennbar angezeigt wurden (vgl. auch Bilmes 1985) bzw. es bedarf umfänglicheren ethnografischen Hintergrundwissens, um verstehensrelevante Bezüge zu identifizieren und eventuell auch als subtil in der Verstehensdokumentation mit angezeigt auszumachen. Solche Fälle stellen den Untersucher vor erhebliche methodologische Probleme, da die über den lokalen Kontext hinausgehenden Verstehensbezüge oftmals empirisch nur sehr schwer und voraussetzungsreich auszuweisen sind. Generell ist damit der weite Bereich von Retrospektivität in der Interaktion als eine gerade für Verstehensbildung und Verstehensdokumentationen essenzielle Dimension angesprochen. Die Untersuchung der Phänomenologie der Retrospektivität in der Interaktion und die Entwicklung entsprechender methodischer Zugänge stellt ein wesentliches Desiderat dar, wenn wir besser verstehen wollen, wie Verstehen in der Interaktion funktioniert. Dieses Thema konnte im Rahmen dieses Buchs leider nicht systematisch erkundet werden. Es wird jedoch ein Hauptanliegen unserer zukünftigen Arbeit sein. 6. Literatur Bilmes, Jack (1985): „Why that now? “ Two kinds of conversational meaning. In: Discourse Processes 8, S. 319-355. Boden, Deirdre (1994): The business of talk: Organizations in action. Cambridge. Bruner, Jerome S. (1957): Going beyond the information given. In: Bruner, Jerome S./ Brunswik, Egon/ Festinger, Leon/ Heider, Fritz et al. (Hg.): Contemporary ap- (Hg.): Contemporary approaches to cognition: A symposium held at the University of Colorado. Cambridge, MA , S. 41-69. Bruner, Jerome S. (1987): Wie das Kind sprechen lernt. Bern. Cicourel, Aaron V. 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London, S. 87-106. <?page no="385"?> Ausführliches Inhaltsverzeichnis der Beiträge Arnulf Deppermann Zur Einführung: ‘Verstehen in professionellen Handlungsfeldern’ als Gegenstand einer ethnographischen Konversationsanalyse ............... 7 1. Verstehen als Anforderung in professionellen Handlungsfeldern ............................................................................... 7 2. Zur Gegenstandsbestimmung und zur Methodik der Untersuchung von Verstehen in der Interaktion............................... 12 3. Der Zusammenhang von sprachlichen und kinetischen Ausdrucksressourcen, Interaktions- und Sozialstruktur beim Verstehen in professionellen Handlungsfeldern...................... 18 4. Literatur............................................................................................ 22 Thomas Spranz-Fogasy Verstehensdokumentation in der medizinischen Kommunikation: Fragen und Antworten im Arzt-Patient-Gespräch .................................. 27 1. Einleitung ........................................................................................ 27 2. Ärztliche Gespräche als kommunikatives Zentrum des Gesundheitswesens......................................................................... 28 2.1 Sozialstrukturelle Grundlagen ärztlicher Gespräche als Verstehensressourcen ....................................................................... 30 2.2 Interaktionstypologische Eigenschaften ärztlicher Gespräche als Verstehensressourcen .................................................................. 35 2.2.1 Begrüßung und Gesprächseröffnung ........................................ 37 2.2.2 Beschwerdenschilderung und Beschwerdenexploration ............. 38 2.2.3 Diagnosemitteilung ................................................................ 41 2.2.4 Therapieentwicklung und Therapieentscheidung ....................... 43 2.2.5 Gesprächsbeendigung und Verabschiedung .............................. 44 2.2.6 Orientierung im Gespräch gebe n ............................................. 45 2.2.7 Die verstehensbezogene Interdependenz der Komponenten des Handlungsschemas APG ................................................... 46 <?page no="386"?> Ausführliches Inhaltsverzeichnis 386 3. Ärztliche(s) Fragen als Paradigma der ärztlichen Verstehensarbeit ............................................................................. 46 3.1 Daten ................................................................................................ 48 3.2 Die syntaktische Typisierung ärztlicher Fragen ............................... 48 3.3 Die interaktive Systematik der Fragetypen ...................................... 53 3.4 Quantitative Verteilung von Fragetypen im ärztlichen Gespräch........................................................................................... 56 3.5 Deklarativsatzfragen ( DSF ) .............................................................. 60 3.6 Ratifikationssuchende Deklarativsatzfragen.................................... 62 3.7 Explikations- DSF ............................................................................. 67 3.8 Exkurs: Der Einsatz von DSF -Typen und Stile ärztlicher Gesprächsführung ............................................................................ 72 3.9 Verstehensdokumentation in ärztlichen Fragen ............................... 74 4. Die andere Seite - Patientenantworten ........................................ 77 4.1 Quantitative Auswertungen von Patientenantworten ....................... 78 4.2 Frageskopus und Antwortüberschuss............................................... 81 4.3 Exemplarische Analysen von Antworten im Gespräch AA_BI_03 ......................................................................... 84 4.4 Verfahren antizipatorischer Reaktion............................................... 90 4.5 Reduzierte Antworten von Patienten in ärztlichen Gesprächen....................................................................................... 98 4.6 Verstehensdokumentation in Patientenantworten .......................... 103 5. Fazit und Diskussion .................................................................... 105 6. Literatur........................................................................................ 108 Ulrich Reitemeier Verstehensdokumentation in der Migrationsberatung: Transformationen zwischen institutioneller und Betroffenenperspektive............................................................................. 117 1. Einleitung ...................................................................................... 117 2. Datengrundlage und Kontext der Datengewinnung ................. 118 3. Pragmatische Strukturen und Verstehensaufgaben in der Migrationsberatung .......................................................... 121 <?page no="387"?> Ausführliches Inhaltsverzeichnis 387 3.1 Lebenslagenspezifische und institutionelle Voraussetzungen für Perspektivendivergenz.............................................................. 121 3.2. Das Handlungsschema der Beratungsinteraktion und Verstehensaufgaben der beteiligten Akteure .................................. 124 3.3 Verstehensaufgaben der Akteure der Migrationsberatung als Resultat der Entfaltungsmethodik ihrer Handlungsperspektiven .................................................................. 126 3.3.1 Entfaltungsprinzipien der professionellen Beteiligungsperspektive und dadurch akut werdende Verstehensanforderungen für die Klientenpartei ...................... 128 3.3.1.1 Ausrichtung des professionellen Engagements an Statusmerkmalen .................................................................. 128 3.3.1.2 Einnahme einer Aufsichts- und Kontrollperspektive ................ 131 3.3.1.3 Perspektivenangleichung bei strikter Ressourcen- und Effizienzorientierung ..................................................... 134 3.3.2 Entfaltungsprinzipien der Klientenperspektive und ihre Implikationen für Verstehensanforderungen der Berater .......... 137 3.3.2.1 Ausrichtung des Hilfeersuchens an institutionellen Bearbeitungsbedingungen ..................................................... 137 3.3.2.2 Wahrung eines Kontrollanspruchs über die Bedingungen der Problembearbeitung ........................................................ 142 3.3.2.3 Ausagieren von Erwartungsenttäuschungen ............................ 145 4. Die Problemdarstellung der Klientenpartei verstehen und in den professionellen Relevanzrahmen transformieren - exemplarische Analyse eines beraterseitigen Verfahrens der Verstehensdokumentation .................................................... 146 4.1 Analysemethodische Vorbemerkungen .......................................... 146 4.2 Die Eröffnung und die klientenseitige Problemdarstellung des Beratungsgespräches „Krankenschwester oder -pflegehelferin“ .............................................................................. 147 4.3 Die Reaktion des Beraters auf die Problemdarstellung der Klientin .................................................................................... 151 4.4 Das Verfahren der relevanzrückstufenden Verstehensdokumentation in seiner sprachlichen Ausgestaltung und sequenziellen Realisierung...................................................... 153 4.4.1 Die formulatorisch-stilistische Gestaltung der relevanzrückstufenden Verstehensdokumentation ................... 153 <?page no="388"?> Ausführliches Inhaltsverzeichnis 388 4.4.2 Die Verstehensdokumentation in der Reaktion des Beraters ....... 155 4.4.3 Wie Berater und Klientin von impliziten Verstehensgrundlagen Gebrauch machen ............................... 157 4.4.4 Struktureller Aufbau und interaktionsstrukturelle Einbettung des Verfahrens .................................................... 159 4.4.5 Die Handlungsfunktionalität des spezifischen ‘recipient designs’ der relevanzrückstufenden Verstehensdokumentation ..................................................... 161 4.5 Die relevanzrückstufende Verstehensdokumentation und ihre Prägung durch handlungsschematische und gattungsspezifische Bedingungen ........................................... 163 4.5.1 Simultanität von Fallverstehen und Aktivitätssteuerung ........... 164 4.5.2 Angleichung von Handlungsperspektiven im Zuge der Dominantsetzung des professionellen Relevanzrahmens ................................................................. 164 4.5.3 Funktionalität für situationsspezifische Einsozialisierungserfordernisse ............................................. 165 4.6 Das Verfahren der relevanzrückstufenden Verstehensdokumentation in seinen Bezügen zu sozialstrukturellen Rahmenbedingungen...................................................................... 168 4.6.1 Fallverstehen - Verstehensarbeit im Kontext des hoheitsstaatlichen Aufnahme- und Anerkennungsverfahrens ...... 168 4.6.2 Reproduktion sozialer Asymmetrie im Rahmen eines interaktiven Arbeitsbündnisses ...................................... 170 4.7 Resümee ......................................................................................... 172 5. Die Aufklärungsaktivität des Beraters verstehen und akzeptieren - exemplarische Analyse einer klientenseitigen Verstehensdokumentation ........................................................... 174 5.1 Einleitung ....................................................................................... 174 5.2 Der Gesprächskontext .................................................................... 175 5.2.1 Die vorgängige Aufklärungsaktivität des Beraters ................... 176 5.2.2 Die Reaktion der Klientin auf die Aufklärungsaktivität und das Anschlusshandeln des Beraters .................................. 178 <?page no="389"?> Ausführliches Inhaltsverzeichnis 389 5.3 Beschreibung der gesprächslokalen Realisierung des Verfahrens ...................................................................................... 180 5.3.1 Die vorgeschaltete Verstehensthematisierung per Nachfrage .......................................................................... 180 5.3.2 Die negative Verstehensthematisierung ................................ 181 5.3.3 Die in der negativen Verstehensthematisierung enthaltene Verstehensdokumentation ................................... 182 5.3.4 Die angeschlossene Verstehenshypothese ............................. 184 5.3.5 Die in der Verstehenshypothese enthaltene Verstehensdokumentation ................................................... 186 5.3.6 Struktureller Aufbau und interaktionsstrukturelle Einbettung des Verfahrens .................................................. 187 5.3.6.1 Alleinstehende Realisierungsweisen negativer Verstehensthematisierungen und Verstehenshypothesen im Gesprächskorpus ........................................................... 187 5.3.6.2 Die kombinierte Verwendung beider Komponenten des Verfahrens im Fallbeispiel „Krankenschwester oder -pflegehelferin“ .......................................................... 191 5.3.7 Die Handlungsfunktionalität des Verfahrens ......................... 194 5.3.7.1 Protestbekundung im Rahmen einer professionellen Dienst- und Hilfeleistungsbeziehung ................................... 194 5.3.7.2 Stärkung der Position als Anspruchsberechtigte .................... 195 5.3.7.3 Erzeugung einer dilemmatischen Situation ........................... 195 5.3.7.4 Sichtbarmachen der Grenzen und Möglichkeiten der Funktionsrolle des Beraters ................................................. 197 5.4 Handlungsschematische und gattungsspezifische Bezüge des Verfahrens ................................................................... 197 5.5 Sozialstrukturelle Bezüge bei der Anwendung des Verfahrens........ 198 5.6 Resümee ......................................................................................... 200 6. Schlussbetrachtungen und theoretische Einordnung der untersuchten Verfahren der Verstehensdokumentation........... 202 7. Literatur........................................................................................ 205 <?page no="390"?> Ausführliches Inhaltsverzeichnis 390 Reinhold Schmitt Verfahren der Verstehensdokumentation am Filmset: Antizipatorische Initiativen und probeweise Konzeptrealisierung ....... 209 1. Einleitung ...................................................................................... 209 2. Korpus und Implikationen der Datenspezifik........................... 212 3. Situations- und organisationsstrukturelle Aspekte des Filmsets ................................................................................... 215 3.1 ‘Multi Party Interaction’................................................................. 216 3.2 Komplexität der Situations- und Interaktionsstruktur.................... 217 3.3 Relevanz der Territorialität/ Räumlichkeit...................................... 217 3.4 Dynamische Präsenzformen........................................................... 218 3.5 Interaktionsräumliche Dynamik..................................................... 219 3.6 Interaktion als Arbeit...................................................................... 219 3.7 Kollektive Orientierung auf ein übergeordnetes ‘joint project’........ 220 3.8 Einsatz von Gegenständen und technischen Geräten..................... 220 4. Organisationsstrukturen des Filmsets ....................................... 221 4.1 Funktionsrollen und Hierarchie ..................................................... 223 4.2 Arbeitsteilung mit genau definierten Zuständigkeiten................... 225 4.3 Funktionsrollenspezifische Perspektivität: ‘Schneiden’ ................ 226 4.4 Koexistenz verschiedener Arbeitszusammenhänge ....................... 227 4.5 Koordination .................................................................................. 229 4.5.1 Monitoring-Aktivitäten .................................................................. 229 4.5.2 Orientierungs-Displays .................................................................. 230 4.6 Verstehensimplikationen der Organisationsstruktur ...................... 232 5. Feldspezifische Verstehensanforderungen ................................. 234 5.1 Ablaufspezifische Verstehensanforderungen ................................. 234 5.2 Künstlerisch-thematische Verstehensanforderungen ..................... 236 6. Dokumentationsverfahren im Detail .......................................... 238 6.1 Antizipatorische Initiativen............................................................ 238 6.1.1 Verbale antizipatorische Initiativen ........................................ 240 6.1.2 Nonverbale antizipatorische Initiativen .................................. 273 <?page no="391"?> Ausführliches Inhaltsverzeichnis 391 6.1.3 Fazit ................................................................................. 277 6.1.3.1 Falltranszendierende Gemeinsamkeiten ............................... 277 6.1.3.2 Strukturelle Eigenschaften des Verfahrens ............................ 281 6.1.3.3 Zur aktuellen interaktiven Relevanz des Verfahrens .............. 282 6.1.3.4 Zur Funktionalität des Verfahrens: Chancen und Risiken ....... 283 6.2 Probeweise Konzeptrealisierung.................................................... 285 6.2.1 Beispiel 1: Regisseurin und Kamerafrau .............................. 285 6.2.1.1 Konzeptverstehen .............................................................. 286 6.2.1.2 Konzeptverstehen als Aushandlungsprozess ......................... 287 6.2.1.3 Die pragmatische Struktur der Aushandlung ......................... 288 6.2.1.4 Zur Notwendigkeit der multimodalen Analyseperspektive ....... 297 6.2.1.5 Interaktionsstruktur der probeweisen Konzeprealisierung ........ 301 6.2.1.6 Reaktive Verfahrensrealisierung (Kamerafrau) ..................... 306 6.2.1.7 Initiative Verfahrensrealisierung (Regisseurin) ..................... 309 6.2.1.8 Interaktionsreflexive Konzeptimplikationen ......................... 312 6.2.1.9 Sozialstrukturelle Implikationen des Verfahrens ................... 314 6.2.1.10 Fazit ................................................................................. 315 6.2.2 Beispiel 2: Regisseurin und Schauspieler ............................. 317 6.2.2.1 Interaktionsstrukturelle Spezifik des Verfahrens ................... 318 6.2.2.2 Kritik der Regisseurin (emotionaler Moment) ...................... 318 6.2.2.3 Entwicklung eines ersten Lösungsvorschlags ....................... 320 6.2.2.4 Begründungen im Kontext der Konzeptvermittlung .............. 322 6.2.2.5 Erste probeweise Konzeptrealisierung (Regisseurin) ............. 325 6.2.2.6 Zitat der probeweisen Konzeptrealisierung (Regisseurin) ..................................................................... 328 6.2.2.7 Probeweise Konzeptrealisierung I (Schauspieler) .................. 333 6.2.2.8 Kern der probeweisen Konzeptrealisierung (Schauspieler) .................................................................... 335 6.2.2.9 Vor dem Erkennen .............................................................. 336 6.2.2.10 Erstaunen .......................................................................... 337 6.2.2.11 Erkennen ........................................................................... 338 6.2.2.12 Explizite Abschlussevaluation (Regisseurin) ........................ 341 6.2.2.13 Fazit ................................................................................. 345 <?page no="392"?> Ausführliches Inhaltsverzeichnis 392 7. Schlussbemerkung ....................................................................... 346 8. Anhang .......................................................................................... 350 9. Literatur........................................................................................ 357 Arnulf Deppermann Konklusionen: Interaktives Verstehen im Schnittpunkt von Sequenzialität, Kooperation und sozialer Struktur........................ 363 1. Retrospektive Sensitivität von Turn- und Sequenzorganisation als Konstitutionsprinzip der Verstehensdokumentation ................. 363 2. Progressivität, Projektion und Antizipation als Konstituenten von Verstehen in kooperativen Handlungsprozessen ..................... 369 3. Verstehensdokumentation als perspektivische Aneignung ...................................................................................... 374 4. Die Indikatorqualität von Verstehensdokumentationen für soziale Strukturen in der Interaktion ........................................ 376 5. Die Relationalität von retrospektiv-prospektiven Verstehensdokumentationen........................................................... 379 6. Literatur.......................................................................................... 382 <?page no="393"?> Wechselseitige Verständigung ist eine Grundvoraussetzung für das Gelingen von Kooperation. Die Art und Weise des Verstehens richtet sich dabei nicht nur nach den zu verstehenden Äußerungen des Gesprächspartners, sondern ebenso nach den Zwecken der Interaktion und den Beteiligungsrollen der Akteure. Die Autoren zeigen, wie in unterschiedlichen Typen institutioneller Interaktion (in Arzt-Patient-Gesprächen, in der Migrationsberatung und beim Dreh eines Films) Verstehen im Gespräch angezeigt und ausgehandelt wird. Auf Grundlage von Audio- und Videoaufnahmen werden die sprachlich-kommunikativen und kinesischen Verfahren der Dokumentation von Verstehen untersucht. Besonderes Augenmerk gilt dabei dem Zuschnitt auf den jeweiligen Gesprächskontext und der Art und Weise, wie sozialstrukturelle Sachverhalte (institutionelle Routinen, Beteiligungsrechte und -pflichten, professionelle Identitäten) durch Verstehensdokumentationen in der Interaktion enaktiert werden. Dabei wird deutlich, dass Verstehen in der Interaktion nicht nur retrospektiv, sondern ganz wesentlich auch antizipatorisch ausgerichtet ist. Welches Verstehen wem in welcher Weise angezeigt wird, ist dabei nicht nur kognitiven und kooperativen Belangen geschuldet. Verstehensdokumentationen haben auch handlungssteuernde Funktionen, die rhetorisch genutzt werden können. ISBN 978-3-8233-6519-8