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Semiotik des Theaters

Die Aufführung als Text

0819
2009
978-3-8233-7529-6
978-3-8233-6529-7
Gunter Narr Verlag 
Erika Fischer-Lichte

Das Theater erscheint wie Roland Barthes festgestellt hat, als ein besonders "privilegiertes semiologisches Objekt." Denn es arbeitet nicht nur wie andere Kunstgattungen - z.B. Literatur und Malerei - mit einem einzigen Zeichensystem, sondern vereinigt sich in eine Vielzahl heterogener Zeichensysteme (wie Sprache und Gestik, Kostüm und Dekoration, Musik und Beleuchtung), deren jedes nach anderen Prinzipien Bedeutung hervorbringt. Soll das Theater seinerseits als ein spezifisches bedeutungserzeugendes System begriffen und erforscht werden, müssen daher die einzelnen beteiligten Zeichensysteme einerseits in ihrer jeweiligen Eigenart, andererseits in ihren Beziehungen zueinander untersucht werden. Der von Coseriu in der Linguistik getroffenen Unterscheidung zwischen den Ebenen des Systems, der Norm und der Rede entsprechend wird diese Untersuchung unter systematischem, historischem und analytischem Aspekt durchgeführt.

<?page no="1"?> Semiotik des Theaters <?page no="3"?> Erika Fischer-Lichte Semiotik des Theaters Eine Einführung Band 3 Die Aufführung als Text ~ Gunter Narr Verlag Tübingen <?page no="4"?> Titelbild: Peter Roggisch in der Rolle "Heinrich IV." (Foto: Sabine Brunk, Frankfurt) Fotos auf Seite 137,139,141,142,166,169,177,184 von Maria Eggert, Frankfurt Fotos auf Seite 98,100,102,143,144,146,148,150, 152,154,155,156 vonSabineBrunk,Frankfurt Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. I. Auflage 1983 2., durchgesehene Auflage 1988 3., unveränderte Auflage 1995 4., unveränderte Auflage 1999 5., unveränderte Auflage 2009 © 2009· Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 . D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Satz: Rauth, Sindelfingen Gesamtherstellung: Laupp & Göbel, Nehren Printed in Germany ISBN 978-3-8233- 6529-7 <?page no="5"?> Inhalt III Der theatralische Code als Rede . . . . . . . . . . . . . . . . .. 7 1 Die Aufführung als theatralischer Text . . . . . . . . . . . .. 10 1.1 Der Begriff des theatralischen Textes ... . . . . . . . . . .. 10 1.2 Zur Konstitution des theatralischen Textes .......... 22 1.3 Transformation des literarischen Textes des Dramas in den theatralischen Text der Aufführung ............ 34 1.4 Hermeneutik des theatralischen Textes . . . . . . . . . . . .. 54 2 Verfahren der Bedeutungs- und Sinnkonstitution als Methoden der Analyse theatralischer Texte . . . . . . .. 69 2.1 Theorie und Methode. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 69 2.2 Einzelne Analyseprozeduren . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 75 2.2.1 Der Rekurs auf den theatralischen Code als System und Norm ................................ 75 2.2.2 Segmentierung ............................ 76 2.2.3 Selektion und Kombination .................... 85 2.2.4 Externe und interne Umkodierung ................ 96 2.3 Zur Anwendung der Methode ................... 108 2.4 Notationsprobleme .......................... 112 3 Analyse eines theatralischen Textes - Pirandellos "Heinrich der Vierte" in der Inszenierung von Augusto Fernandes .......................... 119 3.1 Vorüberlegungen ............................ 119 3.2 Kontexte für die kinesischen Zeichen . . . . . . . . . . . . . . 122 3.2.1 Die Handlung .............................. 122 3.2.2 Die Zeichen des Raumes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 3.2.3 Die Zeichen der äußeren Erscheinung .............. 126 3.3 Die kinesischen Zeichen ....................... 131 3.3.1 DefInition der Rollen (I. Akt) ................... 131 3.3.2 "Symbolische Interaktion" (11. Akt) ............... 143 3.3.3 Festlegung der Beziehungen (Ill. Akt) .............. 165 3.4 Überlegungen zum kinesischen Code des heutigen dramatischen Theaters ........................ 185 Anmerkungen .................................. 189 Literaturverzeichnis .............................. 213 <?page no="7"?> III. Der theatralische Code als Rede Auf der Ebene der Rede umfaßt der theatralische Code alle jene Elemente, die in einer konkreten Aufftihrung funktionell zu werden vermögen denen im Kontext der Aufftihrung eine Bedeutung beigelegt werden kann. Während der theatralische Code als System alle allgemeinen Möglichkeiten und Bedingungen für die Erzeugung von Bedeutung auf dem Theater enthält, der theatralische Code als Norm dagegen alle für eine bestimmte Epoche oder Gattung typischen und charakteristischen Möglichkeiten und Bedingungen, regelt der theatralische Code auf der Ebene der Rede den aktuellen Prozeß einer einmaligen Bedeutungserzeugung: er bezieht sich stets nur auf eine einzige Hervorbringung, auf die jeweilige individuelle Aufflihrung. Auf der Ebene der Rede stellt also der theatralische Code die Gesamtheit aller Regeln dar, welche der Produktion und Rezeption jeweils einer Aufführung zugrundeliegen. Wenn wir den theatralischen Code auf der Ebene der Rede untersuchen wollen, können wir ihn folglich nur in bezug auf ein konkretes Werk, auf eine bestimmte Aufftihrung untersuchen: es gilt, die betreffende Aufflihrung zu beschreiben und zu analysieren, um sie zu verstehen. Mit dieser Zielsetzung betreten wir das Gebiet der Analytischen Theaterwissenschaft und damit den am wenigsten entwickelten Bereich der Theaterwissenschaft. Wohl besitzen wir zum Teil sogar detaillierte - Beschreibungen und Dokumentationen einzelner glanzvoller Hoffeste und Aufführungen bereits aus der Renaissance und dem Barock, verfügen über zahlreiche Theaterkritiken, die seit der Aufklärung vor allem seit Lessings "Hamburgischer Dramaturgie" weit über eine einfache Wiedergabe hinaus gezielt ausgewählte Beschreibungen zum Zweck der Deutung und kritischen Wertung vornehmen, von einer systematischen Aufftihrungsanalyse kann jedoch in keinem Fall die Rede sein. Dieser im Vergleich zu anderen Kunstwissenschaften so auffällige und eklatante Mangel an Werkanalysen hat nicht zuletzt in dem besonderen ontologischen Status der Aufführung seinen Grund, dem wir im ersten Teil dieser Arbeit ausführliche Überlegungen gewidmet haben. Denn da das Artefakt' der Aufflihrung nicht vom Prozeß seiner Hervorbringung losgelöst und unabhängig von seinen Pro duzen- <?page no="8"?> 8 ten überliefert werden kann, läßt sich eine Analyse auch genau genommen nur im Verlauf der Aufführung sowie am Ort der Aufführung vollziehen. Eine Analyse von Aufführungen der Vergangenheit ist daher prinzipiell ausgeschlossen. Aber auch eine mögliche Analyse zeitgenössischer Aufführungen wird von dieser Eigenart wesentlich und nachhaltig erschwert, wenn nicht gar verhindert. Denn wenn sich zwischen Vollzug der Aufführung als Realisation der theatralischen Zeichen und Rezeption der Aufführung als Interpretation der theatralischen Zeichen kein zeitlicher oder räumlicher Abstand schieben läßt, so entfällt für den Rezipienten die für eine Werkanalyse unverzichtbare Möglichkeit, seine Ergebnisse nach Beendigung der Aufführung noch einmal am Werk selbst kontrollieren und gegebenenfalls korrigieren zu können. Die traditionelle Enthaltsamkeit der Theaterwissenschaft auf dem Gebiet der Aufführungsanalyse erscheint daher nur allzu verständlich. Ob sie allerdings auch gerechtfertigt oder gar notwendig ist, müßte erst noch überprüft werden. Die angesprochenen Schwierigkeiten einer Aufführungsanalyse, die sich aus dem besonderen ontologischen Status der Aufführung ergeben, betreffen im wesentlichen die Unmöglichkeit, ihr Artefakt überliefern zu können. Sollte sich jedoch für das prinzipiell nicht fuder- und tradierbare materielle Artefakt der Aufführung ein relativ adäquates Korrelat schaffen lassen, so wären folglich diese Schwierigkeiten, wenn auch nicht behoben, so doch weitgehend vermindert. Denn da dieses Korrelat unabhängig vom Vollzug der Aufführung zur Verfügung stünde, könnten die vorläufigen Resultate einer Analyse an ihm jederzeit überprüft und entsprechend korrigiert werden. In der Funktion eines derartigen Korrelats ließe sich beispielsweise eine ausführliche Film- und Video dokumentation verwenden oder auch ein graphischer Text, in den die Aufführung auf der Grundlage spezieller Notationsverfahren möglichst vollständig zu transkribieren wäre. Dieses Korrelat darf selbstverständlich auf keinen Fall mit dem Artefakt der Aufführung verwechselt werden. Dieses existiert nur im Vollzug der Aufführung, d.h. im Verlauf des Prozesses, in dem die ausgewählten und ausgearbeiteten theatralischen Zeichen de facto realisiert werden. Das Korrelat dagegen stellt lediglich eine Hilfskonstruktion dar, welche die Analyse erleichtern helfen soll, der das Transitorische des Theaters so nachdrücklich entgegensteht. Wenn also die Möglichkeit einer Aufführungsanalyse tatsächlich im wesentlichen davon abhängt, daß für das Artefakt der Aufführung ein fixier- und tradierbares Korrelat hergestellt werden kann, müßte sie durch die Entwicklung entsprechender Dokumentations- und Notationsverfahren prinzipiell garantiert werden können. Sollte dagegen aus dem besonderen ontologischen Status der Aufführung auch ein <?page no="9"?> 9 besonderer epistemologischer Status folgen, wären mit der Herstellung eines adäquaten Korrelats noch keineswegs die grundsätzlichen Voraussetzungen für die Durchführung einer Aufführungsanalyse geschaffen. Vor jeglicher Entwicklung von Dokumentations- und Notationsverfahren sowie vor der Ausarbeitung von Analysemethoden müßte daher zunächst der epistemologische Status von Aufführungen geklärt werden. Wir haben uns also die Frage zu stellen, auf welche Weise und in welchen Termini eine Aufführung bestimmt werden kann, wenn sie zum Objekt der Erkenntnis im Sinne einer Analyse avancieren soll. <?page no="10"?> 10 1. DIE AUFFüHRUNG ALS THEATRALISCHER TEXT Wenn der theatralische Code auf der Ebene der Rede Auswahl und Realisation jener Zeichen und Zeichenkombinationen regelt, welche in ihrer Gesamtheit eine konkrete, individuelle Aufführung konstituieren, so läßt sich die Aufführung in diesem Sinne generell als ein strukturierter Zusammenhang von Zeichen defmieren. Diese Bestimmung nun ist innerhalb der neueren Texttheorie als allgemeinste Defmition des Textbegriffs bekannt und geläufig. Wir können daher die Aufführung in epistemologischer Hinsicht als Text und, da wir ihre Zeichen als theatralische Zeichen qualiflZiert haben, genauer als theatralischen Text bestimmen. Aufführungsanalyse läßt sich folglich als ein besonderer Modus der Textanalyse begreifen und durchfUhren. Soll dieser besondere Modus präzisiert werden, muß daher zunächst geklärt werden, welcher speziellere -über die allgemeine Defmition hinausgehende - Textbegriff den nachfolgenden überlegungen zugrundegelegt werden soll. 1.1. Der Begriff des theatralischen Textes Da die Texttheorie am weitesten in der linguistik als Textlinguistik entwickelt worden ist, muß bei der übertragung eines spezielleren Textbegrlffs auf das Gebiet der Analytischen Theaterwissenschaft sichergestellt sein, daß der hier verwendete Begriff keine Bestimmungen entllält, die sich ausschließlich auf sprachliche Texte beziehen lassen. Für unsere Zwecke erscheinen vielmehr nur diejenigen Textbegriffe als brauchbar, die für a) alle Texte, b) alle Arten ästhetischer Texte und c) alle Arten multimedialer Texte Gültigkeit reklamieren. Wenn wir einen Begriff des theatralischen Textes entwickeln und verwenden wollen, der über die allgemeine Bestimmung der Aufführung, ein strukturierter Zusammenhang von Zeichen zu sein, hinausgeht, können wir folglich nur auf solche Texttheorien zurückgreifen, die mit einem Textbegriff arbeiten, der unter eine der drei genannten Kategorien fällt. In seiner "Textlinguistik" liefert Coseriu eine Bestimmung des Textbegriffs, die sich auf alle Arten von Texten anwenden läßt: "Je- <?page no="11"?> 11 der Text hat Sinn".2 Entsprechend formuliert er als Grundproblem der Textlinguistik die Frage: "Wie entsteht 'Sinn' und wie versteht man ihn? "3 Sowohl die Behauptung als auch die aus ihr abgeleitete Frage lassen sich ohne jegliche ModifIkation auf die AuffUhrung, den theatralischen Text, beziehen. Die allgemeine Problemstellung einer AuffUhrungsanalyse läßt sich daher in den Leitfragen zusammenfassen, auf welche Weise die Aufführung Sinn erzeugt, welche Verfahren der Sinnerzeugung sich aufdecken lassen und welcher mögliche Sinn endlich von der Aufführung konstituiert wird. 4 Damit sind die wichtigsten Aufgaben, die von einer Aufführungsanalyse als Analyse eines theatralischen Textes zu erftillen wären, bereits genannt und im Sinne von Globalzielen formuliert. Diese umfassenden Ziele gilt es nun auf der Grundlage anderer Texttheorien aufzufachern und näher zu spezifIzieren. Bei seiner Bestimmung des ästhetischen Textes verfahrt Lotman zunächst ähnlich allgemein: "Ein künstlerischer Text ist komplex aufgebauter Sinn. Alle seine Elemente sind sinntragende Elemente. "5 Der ästhetische Text unterscheidet sich also vom nicht-ästhetischen durch die Eigenart, daß keines seiner Elemente redundant ist. Während man den Sinn eines nicht-ästhetischen Textes auch verstehen kann, wenn einzelne Elemente fehlen, vertauscht oderverfalscht sind, läßt sich der Sinn des ästhetischen Textes nur verstehen, wenn seine Struktur nicht verändert wird. Denn sein Sinn kann "außerhalb der betreffenden Struktur weder existieren noch übermittelt werden."6 Eine Strukturanalyse erscheint daher als der einzig mögliche Weg zur Sinnkonstitution, zum Verstehen des künstlerischen Textes. Um die Prozedur einer solchen Strukturanalyse genauer beschreiben zu können, nimmt Lotman zusätzliche Bestimmungen zum Textbegriff vor. Ein Text ist durch folgende drei Merkmale gekennzeichnet: 1. Explizität, 2. Begrenztheit und 3. Strukturiertheit. "1. Explizität. Der Text ist in bestimmten Zeichen ftxiert und steht in diesem Sinne in Opposition zu den extratextuellen Strukturen."7 In diesen Zeichen ist eine Bedeutung aufgehoben und fIXiert, die ohne eine solche Objektivierung nicht hätte kommuniziert werden können. Die Explizität des Textes stellt daher eine Voraussetzung flir seine Analyse dar: weil die Bedeutungen, die übermittelt werden sollen, in Zeichen fIXiert sind, können sie von denen, welche die Zeichen wahrnehmen und interpretieren, auch verstanden werden. Bei ästhetischen Texten gilt darüber hinaus, daß die Zeichen nur in der jeweiligen Kombination und Position, in der sie eingesetzt sind, die intendierte Bedeutung explizit zu machen vermögen. Für die Analyse eines theatralischen Textes folgt aus dem Merkmal der Explizität, daß die de facto realisierten Zeichen und Zeichen- <?page no="12"?> 12 kombinationen aufgelistet und beschrieben werden sollten. Jeder einzelne theatralische Text muß entsprechend daraufhin untersucht werden, a) welche der generell zur Verfügung stehenden Zeichensysteme in ihm tatsächlich Verwendung finden, b) welche Art von Zeichen innerhalb eines Systems und c) welche spezifischen konkreten Zeichen realisiert werden. Die Selektion der theatralischen Zeichen fungiert also in dreifacher Hinsicht als bedeutungstragendes Element: 1. als Auswahl der zu verwendenden Zeichensysteme (Frage: welche Zeichensysteme sind beteiligt? ), 2. als Auswahl innerhalb eines Systems (Frage: werden stilisierte oder realistische Gesten verwendet, historische oder charakterisierende Kostüme, gegenständliche oder abstrakte Dekorationen u.a.m.? ), 3. als Auswahl eines besonderen konkreten Zeichens (Frage: wird geseufzt oder geschluchzt, sind die Augen dabei geschlossen oder nicht, wie ist die Stellung des Körpers, der Hände etc.? , welche Länge hat das Gewand, welche Farbe, welchen Schnitt etc.? ). Denn da die Explizität des Textes sich in der Aufführung als eine je besondere Auswahl von theatralischen Zeichen und Zeichenkombinationen realisiert, muß die Selektion derjenigen Elemente, die in diesem Text als theatralische Zeichen fungieren, auf allen drei Ebenen als bedeutungstragendes Element angesehen und entsprechend interpretiert werden. "2. Begrenztheit. Der Text hat die Eigenschaft, begrenzt zu sein. In dieser Beziehung steht er einerseits in Opposition zu allen materiellen Zeichen, die ihm nicht angehören (nach dem Prinzip enthalten nicht enthalten). Andererseits steht er in Opposition zu allen Strukturen, die nicht über das Merkmal der Grenze verfügen."g Das Merkmal der Begrenztheit meint also zweierlei: a) die Abgrenzung von Elementen, die nicht im Text enthalten sind. In diesem Sinne stellt die Begrenztheit die Umkehrung der Explizität dar. Denn während dort gerade die positive Auswahl bestimmter Zeichen als bedeutungstragendes Element fungiert, kommt hier diese Funktion dem Ausschluß der nicht gewählten Zeichen aus dem Text zu. Der dreifachen positiven Selektion entspricht hier der dreifache Ausschluß. Dabei kann durchaus der Fall eintreten, daß dem Ausschluß eine größere Wichtigkeit zukommt als der Selektion: der bewußte Verzicht auf ein sonst übliches Zeichensystem beispielsweise wie der Verzicht auf Beleuchtung, Dekoration, Kostüm, Requisit kann zum Träger einer für die Aufführung wesentlichen und konstitutiven Bedeutung avancieren. Die Begrenztheit als Ausschluß muß dergestalt als ein unter Umständen nicht unwichtiges bedeutungstragendes Element gewertet werden. b) die zeitliche und räumliche Abgrenzung. Sie realisiert sich im theatralischen Text einerseits als ein bestimmter Zeitabschnitt unterschiedlicher Ausdehnung, der von Anfang und Ende der <?page no="13"?> 13 Aufführung markiert wird, andererseits als je bestimmte Ausgrenzung eines Raumes, der für die Schauspieler, sowie eines Raumes, der für die Zuschauer vorgesehen ist. Sowohl die zeitliche Ausdehnung als auch die Raumkonzeption sind unter der Bedingung als bedeutungs· . tragendes Element der Aufftihrung zu begreifen, daß sie a) von der allgemein gültigen und akzeptierten Norm abweichen oder b) als bedeutungstragende Elemente konzipiert sind, weil eine auf sie bezogene allgemein gültige Norm nicht vorausgesetzt werden kann. 9 Besteht beispielsweise Konsens, daß Aufftihrungen nur in speziellen Theaterbauten abgehalten werden sollten, muß die Ausgrenzung eines Spielraumes auf dem Markt oder in der Fabrikhalle als Zeichen begriffen werden. Ist andererseits beispielsweise kein Konsens über die "richtige" Länge einer Aufftihrung gegeben, wird jede Spieldauer als bedeutungstragendes Element zu werten sein. "3. Strukturiertheit. Der Text stellt nicht eine einfache Abfolge von Zeichen zwischen zwei äußeren Grenzen dar. Ihm eignet eine innere Organisation, die ihn auf syntagmatischer Ebene in ein strukturiertes Ganzes verwandelt." 10 Um die Strukturiertheit eines Textes einsehen zu können, müssen daher vor allem die Kombinationen untersucht werden, welche die Zeichen untereinander eingehen. Wir haben im I. Teil dieser Arbeit drei allgemeine Regeln der Kombination formuliert, die von jedem theatralischen Text auf besondere Weise realisiert werden: 1. Jedes Zeichen eines Zeichensystems kann mit jedem Zeichen eines anderen sowie mit anderen Zeichen desselben Systems kombiniert werden. Eine Aufführung muß folglich daraufhin untersucht werden, welche Zeichen in ihr de facto miteinander verknüpft sind. So können beispielsweise linguistische, paralinguistische , mimische, gestische proxemische Zeichen sowie Zeichen der Systeme Maske, Frisur, Kostüm miteinander kombiniert werden, die alle auf die ,gleiche Bedeu· tung etwa eine bestimmte Emotion verweisen und sich so gegen· seitig unterstützen und verstärken. Oder die miteinander verknüpften Zeichen der verschiedenen Systeme weisen auf unterschiedliche Bedeutungen hin und vermögen sich so gegenseitig abzuschwächen, zu neutralisieren, zu modifizieren oder einander zu widersprechen. 2. Jedes Zeichen kann sowohl gleichzeitig als auch in der zeitlichen Abfolge mit einem anderen kombiniert werden. Es muß daher festgestellt werden, ob die ermittelten Kombinationen in der Simultaneität oder in der Sukzessivität erfolgen. So kann es beispielsweise für die Bedeutung einer Sequenz nicht unerheblich sein, ob zwei Personen gleichzeitig mit demselben Kostüm auftreten oder nacheinander, ob eine Figur bei einer Tätigkeit singt oder erst nach Beendigung dieser Tätigkeit usf. <?page no="14"?> 14 3. Die Kombination der Zeichen, die unterschiedlichen Zeichensystemen zugehören, kann sowohl gleichberechtigt als auch hierarchisch gegliedert erfolgen. Es muß folglich jeder theatralische Text daraufhin untersucht werden, ob in ihm ein bestimmtes Zeichensystem als Dominante fungiert. Denn in diesem Fall würde den von seinen Zeichen hervorgebrachten Bedeutungen gegenüber den von Zeichen der anderen Systeme hervorgebrachten Bedeutungen ein besonderes Gewicht zukommen. Aufgrund der besonderen Kombinationen, welche die Zeichen eines theatralischen Textes untereinander eingehen, bildet der Text ein System von Äquivalenzen und Oppositionen, das in seiner Gesamtheit und jeweiligen Eigenart die spezifische Strukturiertheit des Textes bedingt und ausmacht. Die drei Merkmale, die Lotman anführt, Explizität, Begrenztheit und Strukturiertheit, werden also vor allem durch die je besondere Selektion und Kombination der als theatralische Zeichen fungierenden Elemente realisiert. Dadurch wird im bzw. durch den theatralischen Text eine bestimmte Bedeutung hervorgebracht. Die besondere Realisierung der drei konstitutiven Merkmale als je spezifische Auswahl und Kombination der theatralischen Zeichen erscheint dergestalt als ein besonderer Modus der Erzeugung von Bedeutung im theatralischen (allgemeiner: im ästhetischen) Text. Die jeweilige Art der Realisierung muß daher ihrerseits als bedeutungstragendes Element bei einer Strukturanalyse Berücksichtigung finden. Lotman versucht nun, die allgemeinen Bedingungen zu ermitteln, unter denen in einem (ästhetischen) Text Bedeutung entsteht. Er lenkt dabei die Aufmerksamkeit insbesondere auf alle jene Fälle, wo "zumindest zwei verschiedene Ketten von Strukturen vorhanden sind ... Bei der Urnkodierung stellen sich zwischen bestimmten Paaren von ihrer Natur nach verschiedenen Elementen Entsprechungen her, wobei jeweils ein Element in seinem System als Äquivalent eines anderen Elements in dessen System aufgefaßt wird. Die Trennung in die zwei Ebenen ... ist allerdings selbst nur bedingt durchführbar ... , da die Herstellung einer Äquivalenzrelation zwischen Elementen zweier verschiedener Systeme zwar der häufigste, aber keineswegs der einzige Fall der Entstehung von Bedeutungen ist. Man könnte auf semiotische Systeme verweisen, die Anspruch auf Universalität erheben, und die prinzipiell keine Substitution von Bedeutungen aus Strukturen eines anderen Bereichs zulassen. Dann haben wir es mit Relationsbedeutungen zu tun, die dadurch zustandekommen, daß ein Element durch andere Elemente des gleichen Systems ausgedrückt wird. Dieser Fall kann als interne Urnkodierung defmiert werden."}} <?page no="15"?> 15 Entsprechend unterscheidet Lotman grundsätzlich zwei Arten der Bedeutungserzeugung im Text: 1. die externe und 2. die interne Umkodierung. In einem konkreten Text wird Bedeutung meist durch die alternierende Anwendung beider Verfahren erzeugt, wobei in vielen Fällen der Text dadurch charakterisiert ist, daß eines von beiden deutlich dominiert. Bei der externen Urnkodierung entsteht also Bedeutung dadurch, daß einzelne Elemente des Textes auf außertextuelle Strukturketten bezogen werden: jedem fraglichen Element des Textes ist mindestens ein Element mindestens einer anderen Strukturkette zuzuordnen. Dieser Modus der Bedeutungserzeugung ist für viele theatralische Texte typisch und kennzeichnend. Im ersten Teil dieser Arbeit habe ich die Verfahren der Bedeutungserzeugung auf dem Theater ganz allgemein unter systematischem Aspekt untersucht und prinzipiell drei Arten von Bedeutungserzeugung ausdifferenziert, die auch in heutigen zeitgenössischen theatralischen Texten - und nur auf diese können sich unsere aktuellen Überlegungen richten in unterschiedlichem Ausmaß und sozusagen unterschiedlichem Mischungsverhältnis realisiert werden. Diese drei Arten der Bedeutungserzeugung können wir jetzt in Übernahme der Lotman'schen Terminologie als unterschiedliche Modi einer externen Urnkodierung bestimmen: 1. Die in der Aufführung realisierten Zeichen und Zeichenkombinationen lassen sich auf einen bestimmten zugrundeliegenden theatralischen Code im Sinne einer Norm beziehen. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für diesen Modus der Bedeutungserzeugung stenen Aufführungen fernöstlicher Theater wie der Peking-Oper, des No-Theaters, des Kabuki-Theaters u.a. dar, die durch häuflgere Gastspiele in den letzten Jahren auch bei uns weiteren Kreisen bekannt geworden sind. Diese Aufführungen lassen sich nur verstehen, wenn man imstande ist, ihre einzelnen Elemente auf den allen Aufführungen dieser Theaterform zugrundeliegenden theatralischen 'code zu beziehen, der rur jedes Element eine bestimmte Bedeutung vorsieht. Aufführungen unseres heutigen Theaters dagegen sind selbstverständlich nicht in vergleichbarer Weise auf einen derartigen Code zurückzuführen. Aber auch wenn wir über feste theatralische Normen heute nicht verfügen können, folgt daraus noch keineswegs, daß einzelne Aufführungen nicht doch bestimmte theatralische Konventionen als gültig und allgemein akzeptiert voraussetzen. Zu diesen Konventionen können wir einerseits jahrhundertealte Konventionen wie beispielsweise das Beiseitesprechen oder auch bestimmte Kostümtypen (z. B. das Flickenkostüm des Harlekins) rechnen, andererseits relativ junge, die erst im Laufe der letzten zehn bis fünfzehn <?page no="16"?> 16 Jahre entstanden sind und sich schnell stabilisiert haben. Zu diesen neueren Konventionen gehört beispielsweise eine spezifische Verwendung von Kostüm, Requisit und Dekoration, die auf alle Epochen und Kulturen verweisen können, ohne jedoch die Zugehörigkeit der Person oder des Raumes zur betreffenden Epoche und Kultur zu bedeuten. Sie werden vielmehr zur Charakterisierung der Person und ihrer spezifischen Situation eingesetzt. Die Kenntnis dieser Konvention wird daher den Zuschauer beispielsweise der Peymann'schen "Iphigenie"-Inszenierung daran hindern, Iphigenies Schreibmaschine lediglich als einen Anachronismus zu beanstanden, und ihn vielmehr befahigen, die Schreibmaschine im Hinblick auf Iphigenie und ihre besondere Situation wahrzunehmen und in diesem Sinne als ein Zeichen zu interpretieren. Dem Element / Schreibmaschine/ kann also eine im Kontext der Aufftihrung adäquate Bedeutung nur unter Rekurs auf die entsprechende Konvention beigelegt werden. Diese Konvention hat zwar nicht eine bestimmte Bedeutung für das Element ftxiert, jedoch immerhin das universe of discourse abgegrenzt und festgelegt, auf das die möglichen Bedeutungen verweisen können. 2. Die in der Aufftihrung realisierten Zeichen und Zeichenkombinationen lassen sich auf außertheatralische kulturelle Codes beziehen, welche den primären kulturellen Systemen zugrunde liegen. Dieser Modus der Bedeutungserzeugung bestimmt alle Aufftihrungen eines realistischen Theaters sowie vereinzelte realistische Segmente einer ansonsten nicht realistischen Aufftihrung. Er beruht auf der Voraussetzung, daß Schauspielern und Zuschauern die primären kulturellen Systeme, auf die rekurriert wird, in gleicher Weise bekannt sind. Die einzelnen Elemente des theatralischen Textes müssen daher, wenn ihre Bedeutung konstituiert werden soll, auf Elemente der betreffenden kulturellen Systeme bezogen werden. Auf diese Weise kann einer bestimmten Ansammlung von Möbeln auf der Bühne die Bedeutung "bürgerlicher Salon" oder "kleinbürgerliche Wohnküche" beigelegt werden, lassen sich Kostüme als Abendrobe, Kittel, Polizeiuniform identiftzieren, ist einem Kopfnicken die Bedeutung Bejahung, Afftrmation zuzusprechen, deuten ein hastiger Gang, geballte Fäuste, eine laute Stimme, zusammengezogene Brauen auf die Emotion Wut hin usw. Als außertextuelle Strukturketten, auf die die einzelnen Elemente des theatralischen Textes bezogen werden müssen, wenn Bedeutung entstehen soll, fungieren in diesem Fall also die unterschiedlichen primären kulturellen Systeme wie Sprache, Gesichtsausdruck, Gestik und Bewegung, Kleidung, Make-up, Höflichkeitsrituale, Einrichtungsvorstellungen etc. etc. Ihre Kenntnis befähigt den Zuschauer, den Elementen des theatralischen Textes <?page no="17"?> 17 eine im Kontext dieser Aufftihrung adäquate Bedeutung beizulegen. Die Möglichkeit allerdings, Elementen eines theatralischen Textes durch Rekurs auf die primären kulturellen Systeme der umgebenden Gesellschaft eine Bedeutung zu attribuieren, stellt ihrerseits eine für das abendländische Theater charakteristische, viele Jahrhunderte hindurch wenn auch teilweise eingeschränkt gültige theatralische Konvention dar. 3. Die in der Aufftihrung realisierten Zeichen und Zeichenkombinationen lassen sich auf außertheatralische kulturelle Codes beziehen, welche verschiedenen sekundären kulturellen Systemen zugrundeliegen. Als sekundäre kulturelle Systeme seien Dichtung, Malerei, Musik, Theater, Film, Mythos, Religion und andere soziale Institutionen definiert. Dieser Modus der Bedeutungserzeugung läßt sich nicht auf eine gesamte Aufftihrung anwenden, sondern regelt die Bedeutungsattribution lediglich bei einzelnen Elementen eines theatralischen Textes. Auch in diesem Fall wird davon ausgegangen, daß die betreffenden sekundären kulturellen Systeme, auf die Bezug genommen werden soll, sowohl den Schauspielern als auch den Zuschauern geläufig sind. So kann in unserer Kultur vorausgesetzt werden, daß jedes erwachsene Mitglied imstande sein wird, eine Gestalt mit Hörnern und Pferdefuß als Teufel, ein Gerippe mit Sense und Stundenglas als Tod, eine Figur mit Flügeln als Engel, einen alten Mann mit weissem Bart, rotem Kapuzenmantel und Krummstab als St. Nikolaus zu identifizieren usf. In neuerer Zeit haben uns Western und Kriminalfilm mit einer Vielzahl von Stereotypen des Aussehens, der Bewegung und der Räumlichkeit versorgt, die jetzt in vergleichbarer Weise als allgemein bekannt vorausgesetzt werden können. Eine bestimmte Art, im wiegenden Schritt über die Bühne zu gehen beispielsweise, wird heute mit gewiß gleicher Sicherheit auf die Stereotype des Cowboys bezogen werden wie die Geste des Händewaschens seit Jahrhunderten auf Pilatus' berühmte Worte. Derartigen Elementen eines theatralischen Textes läßt sich also nur unter der Bedingung eine im Kontext der Aufftihrung adäquate Bedeutung beilegen, daß sie auf Elemente der außertextuellen Strukturkette eines sekundären kulturellen Systems bezogen werden. Jedes Element eines theatralischen Textes, das in irgendeiner Weise auf ein Element eines anderen Textes anspielt, erhält daher seine Bedeutung nur durch den Rückbezug auf jenen Text, dem das Element, auf das angespielt wird, entstammt. Dieser besondere Modus einer externen Umkodierung ist für viele zeitgenössische Auffiihrungen typisch und charakteristisch. 1 2 Bei der internen Umkodierung entsteht Bedeutung dadurch, daß ein Element des Textes durch andere Elemente desselben Textes be- <?page no="18"?> 18 stimmt wird. Für dieses Verfahren der Bedeutungserzeugung, das in nicht-ästhetischen Texten meist nur im Falle von Definitionen zur Anwendung kommt, sind in theatralischen Texten besonders günstige Bedingungen und vielfaltige Voraussetzungen gegeben. Denn jeder theatralische Text setzt sich aus heterogenen Zeichen zusammen. An seiner Konstitution sind die unterschiedlichsten Systeme theatralischer Zeichen beteiligt. So liegt es nahe, im theatralischen Text dadurch Bedeutung zu erzeugen, daß ein Element eines Zeichensystems durch eines/ mehrere Elemente eines anderen oder mehrerer anderer Zeichensysteme bestimmt wird. Diese Art der Bedeutungserzeugung ist so geläufig, daß auch in vielen dramatischen Texten auf sie hingewiesen wird. So sagt beispielsweise Squenz im "Sommernachtstraum": "Es könnte auch einer mit einem Dornbusch und einer Laterne herauskommen und sagen, er komme, die Person des Mondscheins zu defJgurieren oder zu präsentieren." (III,l). Die Sprache soll hier einem nicht-sprachlichen Element seine Bedeutung beilegen. Diese Art der internen Umkodierung ist zwar besonders häufig in theatralischen Texten anzutreffen, stellt jedoch keineswegs die einzige Möglichkeit dar. Auch gestische Handlungen können sehr gut diese Funktion übernehmen: sie sind imstande, beispielsweise einen simplen Stock als Rapier, einen schmutzigen Lappen als zu verehrende Landesfahne oder einen mit einem Stuhl kärglich möblierten Raum als Thronsaal auszuweisen. Neben solchen einfachen Formen der internen Umkodierung sind komplexere zu unterscheiden, wie sie auch in der von uns unten analysierten Inszenierung "Heinrichs IV." häufig verwendet werden. Hier baut die interne Umkodierung auf einer externen auf. So muß z.B. zunächst aufgrund der Kenntnis der primären kulturellen Systeme ein roter Läufer oder ein Handschuh als solcher d. h. in seiner konkreten aktuellen Funktion erkannt werden, ehe im weiteren Verlauf der Aufführung aufgrund einer internen Umkodierung der läufer in Opposition zum nackten Boden als der Ort erscheinen kann, an dem Heinrich als Kaiser agiert, oder der Handschuh als Zeichen für Kleidung schlechthin. Eine derartige Form der theatralischen Metaphernbildung in der Aufführung läßt sich folglich als besonderer Modus einer internen Umkodierung bestimmen und begreifen. Seiner Differenzierung in die Verfahren der externen und der internen Umkodierung entsprechend unterscheidet Lotman zwischen paradigmatischen und syntagmatischen Bedeutungen. Ästhetische Texte bauen immer auf beiden Arten von Bedeutung auf; die ausschließliche Konstitution einer von beiden ist ihnen nicht möglich, wohl aber eine dominantenbildende. Für paradigmatische sowohl wie für syntagmatische Bedeutungen, die im ästhetischen Text er- <?page no="19"?> 19 zeugt werden, gilt, daß sie selten aufgrund einer eindeutigen Zuordnung entstehen. Meist kann das fragliche Element des ästhetischen Textes auf unterschiedliche Elemente unterschiedlicher außertextueller Strukturketten bzw. auf unterschiedliche textuelle Elemente bezogen werden. Fast jedes Element läßt sich daher als Schnittpunkt verschiedener syntagmatischer und paradigmatischer Achsen beschreiben. Seine Bedeutung entsteht entsprechend aufgrund der sich dergestalt herstellenden Relationen. Was hier über das einzelne Element eines theatralischen (allgemeiner: eines ästhetischen) Textes ausgesagt ist, gilt in einer spezifischen ModifIzierung ftir den gesamten Text. Denn insofern einzelne seiner Elemente auf andere Texte bezogen werden müssen, wenn ihnen eine Bedeutung beigelegt werden soll, erscheint der Text selbst als Kreuzungs- und Schnittpunkt der unterschiedlichen Texte, die auf dem Wege über jene einzelnen Elemente in ihn Eingang gefunden haben. Indem der Text dergestalt auf diese anderen Texte verweist und sich dadurch zugleich von ihnen abgrenzt, konstituiert er sich als je besonderer individueller Text. Seine spezifische Intertextualität erscheint auf diese Weise als Bedingung für die Möglichkeit seiner Konstitution. 13 Wir haben den Begriff des theatralischen Textes durch Rekurs auf Coserius allgemeinen Textbegriff und auf Lotmans Begriff des künstlerischen Textes näher zu bestimmen versucht. Nun ist jedoch der theatralische Text nicht nur als ein künstlerischer Text zu begreifen, sondern andererseits auch als ein multimedialer Text. Unter diesem Aspekt läßt er sich mit anderen ästhetischen sowie nicht-ästhetischen multimedialen Texten wie Comics, Film, Revue, Show, Happening, Performance, Zirkus etc. vergleichen. Sowohl die Theorie als auch die Analyse multimedialer Texte stecken noch in ihren Anfängen. Zwar sind auf einzelnen Gebieten (wie Film, Zirkus, Happenini 4 ) bereits vielversprechende ausbau-·und entwicklungsfähige Ansätze ausgearbeitet und zur Diskussion gestellt worden. Von einer umfassenden Theorie multimedialer Texte kann jedoch keine Rede sein. 1 5 Ganz allgemein lassen sich multimediale Texte als solche Texte definieren, die gleichzeitig mit Hilfe unterschiedlicher Medien 16 wie Filmbild und Ton, Schrift und Bild, Schauspieler, Bühnenraum und Ton etc. kommuniziert werden. Jedes beteiligte Medium kann Zeichen eines oder auch mehrerer Zeichensysteme übermitteln. Eine feste Zuordnung von Zeichensystem und Medium findet dabei nicht statt. Dasselbe Medium kann Zeichen unterschiedlicher Systeme übermitteln (wie das Filmbild oder auch der Schauspieler) wie umgekehrt die Zeichen eines Systems sich von unterschiedlichen Medien <?page no="20"?> 20 kommunizieren lassen (wie sprachliche Zeichen durch Laut oder Schrift, gestische Zeichen durch den Schauspieler oder das Filmbild usf.). Die heterogenen Zeichen, aus denen ein multimedialer Text sich aufbaut, dürfen daher nicht mit den unterschiedlichen Medien, die sie übermitteln, gleichgesetzt werden. So lassen sich mimische und gestische Zeichen oder auch Zeichen der äußeren Erscheinung sowohl im Film als auch in der Theateraufftihrung einsetzen. Beide Arten multimedialer Texte können sich also zum Teil aus den gleichen Zeichen aufbauen. Während das eine Mal jedoch diese Zeichen über das Medium des Filmbildes transmittiert werden, übermittelt sie im andern Fall der Schauspieler. Insofern nun das jeweilige Medium eine besondere Auswahl, Gestaltung und Kombination der Zeichen erforderlich macht, ist es unmittelbar am Prozeß der Bedeutungserzeugung beteiligt: den mimischen Zeichen beispielsweise, die eine Großaufnahme vorftihrt, eignet gewiß eine andere Qualität als den gleichen mimischen Zeichen, die ein Schauspieler auf der Bühne notwendigerweise in Kombination mit anderen Zeichen realisiert. Man wird ihnen daher auch kaum dieselbe Bedeutung zusprechen können. Die spezifische Medialität wirkt hier wesentlich auf den Prozeß der Bedeutungserzeugung ein und muß deshalb auch als ein konstitutiver Faktor mitberücksichtig werden. Der theatralische Text bedarf stets mindestens zweier Medien: des Schauspielers, der über optische und akustische Kanäle Zeichen übermittelt, und des ihn umgebenden Raumes, der die unterschiedlichsten Arten visueller Zeichen zu übermitteln imstande ist. Darüber hinaus können weitere der Transmission heterogener akustischer Zeichen dienende Medien eingesetzt werden. Als für den theatralischen Text konstitutiven Medien gebühren also auf jeden Fall dem Schauspieler und dem Raum besondere Beachtung.! 7 Wir haben die Aufftihrung als einen in der Sprache des Theaters abgefaßten Text definiert. Diese Sprache zeichnet sich durch die Eigenart aus, auf keine homogene kleinste bedeutende Einheit zurückgeftihrt werden zu können, sondern aus heterogenen Zeichensysternen zu bestehen, die sich ihrerseits auch nicht alle in kleinste bedeutende Einheiten zergliedern lassen. Das System dieser Sprache, ihre langue, habe ich im ersten Teil der vorliegenden Arbeit zu konstruieren, zu besclueiben und darzustellen versucht. Aufgrund der dort entwickelten Überlegungen müssen wir davon ausgehen, daß jeder theatralische Text sich aus Zeichen zusammensetzt, die den unterschiedlichsten Zeichensystemen entstammen, welche in ihrer Gesamtheit jene Sprache des Theaters konstituieren. Dieser Text nun wird, wie wir gesehen haben, stets auf dem Wege über zumindest zwei verschiedene Medien übermittelt: den/ die Schau- <?page no="21"?> 21 spieler und den ihn/ sie umgebenden Raum. Wenn auch eine feste Zuordnung bestimmter Zeichensysteme zu einem der beiden Medien naheliegt und de facto auch meist eingehalten wird, läßt sie sich dennoch nicht als allgemein gültige Regel voraussetzen. Zwar können mimische, gestische, proxemische Zeichen nur vom Schauspieler übermittelt werden es sei denn, es werden als Teil der Dekoration Filme eingesetzt - , aber diese Zeichen das soll noch einmal betont werden müssen keineswegs ausschließlich als Zeichen für eine vom Schauspieler verkörperte Rollenfigur dienen, wie umgekehrt auch die Zeichen des Raumes nicht die ausschließliche Funktion haben, den Raum zu bedeuten. Die Bedeutung eines theatralischen Zeichens ist also keineswegs durch die Wahl des es übermittelnden Mediums festgelegt wenn auch mitbestimmt. Aufgrund der Mobilität des theatralischen Zeichens läßt sich vielmehr den von den unterschiedlichen beteiligten Medien übermittelten Zeichen eine auf dieses Medium bezogene eindeutig fixierte Funktion nicht zusprechen: das Medium des Raumes kann Zeichen übermitteln, die auf die vom Schauspieler verkörperte Rollenfigur verweisen, wie umgekehrt durch das Medium Schauspieler sich Zeichen transmittieren lassen, die der Konkretisation des Bühnenraumes dienen. Gerade diese Eigenart des theatralischen Textes läßt den Anteil seiner speZifischen Medialität am Prozeß der Bedeutungserzeugung um so klarer hervortreten: die Besonderheit, daß ein bestimmtes theatralisches Zeichen durch das Medium des Schauspielers, des Raumes oder auch des Lautsprechers übermittelt wird, kann ihrerseits zum bedeutungstragenden Element avancieren. Andererseits ist ganz allgemein davon auszugehen, daß sowohl Multimedialität schlechthin als auch jede spezifische Ausformung der Multimedialität den Prozeß der Bedeutungserzeugung in besonderer Weise beeinflußt. Wir müssen allerdings gestehen, daß alle diesbezüglichen Untersuchungen im jetzigen Stadium noch eher Projektcharakter haben. Auf bereits vorliegende gesicherte Resultate kann deshalb auch nicht zurückgegriffen werden, wenn die spezifische Wirkungsweise der Multimedialität wie beispielsweise eine affektive Reaktion durch multimediale Stimulation beschrieben und verstanden werden soll. Ob multimediale Texte in besonderer Weise geeignet sind, Spannung und Angst, Trauer und Erschütterung, Freude und Rührung, "Mitleid und Furcht" zu erregen wie es die Tragödien- und Trauerspielpoetiken vieler Jahrhunderte behaupten und postulieren -, ob sie in besonderer Weise fahig sind, Identifikationsprozesse auszulösen, kann auch beim gegenwärtigen Stand der Forschung weiterhin lediglich behauptet werden, ohne daß sich diese These bereits wissenschaftlich falsifIzieren oder gar verifizieren ließe. 1B Ari- <?page no="22"?> 22 stoteles zumindest war der Ansicht, daß die Wirkung der Tragödie "sich auch ohne Aufführung und Schauspieler zeige" 19 , daß sie also der multimedialen Realisierung nicht bedürfe, um die gewünschte Wirkung die Erregung von Mitleid und Furcht und "eine Reinigung von eben derartigen Affekten"'2o zu erreichen. Nichtsdestoweniger werden wir nachfolgend von der Voraussetzung ausgehen, daß die spezifische Medialität von Schauspieler und Raum für den Prozeß der Bedeutungserzeugung im theatralischen Text eine wesentliche und grundlegende Funktion erftillt. 1.2 Zur Konstitution des theatralischen Textes Aufgrund der allgemeinen Bestimmung des Textbegriffs, wie sie Coseriu und Lotman gegeben haben, läßt sich die Konstitution eines Textes als Prozeß einer Sinngebung, als Prozeß der Erzeugung von Bedeutung beschreiben. Dieser Prozeß wird auf zwei komplementären Ebenen vollzogen: als Produktion sowie als Rezeption des Textes. Wir wollen uns in diesem Abschnitt ausschließlich mit der Textkonstitution als einem produktionsästhetischen Vorgang beschäftigen, dem Rezeptionsprozeß dagegen das Kapitel über die "Hermeneutik des theatralischen Textes" widmen. Der theatralische Text wird in der Regel von einem Kollektiv produziert. An seiner Herstellung sind meist der Regisseur, mehrere Schauspieler, der Bühnenbildner, der Kostürnsowie der Maskenbildner in kreativer Funktion beteiligt. Die Kollektivität der Produktion stellt entsprechend eines der konstitutiven Merkmale des theatralischen Textes dar. Die Bedeutungen, die mit ihm erzeugt werden, sind folglich von unterschiedlichen Subjekten hervorgebracht, auf den Prozeß der Sinngebung, der mit ihm vollzogen wird, wirken unterschiedliche Subjekte ein. Die Frage nach Funktion und Rolle des Subjekts im Prozeß der Textkonstitution erscheint daher im Hinblick auf die Konstitution des theatralischen Textes als vordringliches und wohl auch besonders komplexes und schwieriges Problem. Insofern nun Kristeva diese Frage als zentrales Problem ihrer Theorie des poetischen Textes behandelt, wollen wir versuchen, im Anschluß an ihre Thesen einige Überlegungen zu formulieren, welche die besondere Rolle des Subjekts bei der Konstitution des theatralischen Textes wenigstens ansatzweise zu erhellen vermögen. Kristeva bestimmt die Konstitution des poetischen Textes als ,.Erkundung des Prozesses, der das Subjekt konstituiert"21 . Sie begreift den Text als Ort einer Praxis der Sinngebung, welche das produzierende Subjekt als einen Prozeß vollzieht, in dem sich "die Bedingung <?page no="23"?> 23 des Subjekts" schlechthin darstellt. Wenn diese ihre Ausgangsthese sich auf den theatralischen Text übertragen läßt, stellt sich als grundlegendes Problem die Frage ,auf welche Weise es den unterschiedlichen Subjekten, die a-'l der Produktion des theatralischen Textes beteiligt sind, möglich sein soll, sich im Prozeß seiner Produktion als Subjekt zu konstituieren, inwiefern also auch die Produktion eines theatralischen Textes als Praxis der Sinngebung aller an ihm kreativ beteiligten Subjekte begriffen und bestimmt werden kann. Kristeva unterlegt ihrer Theorie einen Subjektbegriff, der das Subjekt weder als ein transzendentales phänomenologisches Ego definiert, noch auch als ein cartesianisches Ego, sondern als ein "subjekt-im-Prozeß". Diesen Subjektbegriff erläutert sie unter Rekurs auf die psychoanalytische Subjekt-Theorie Freuds und ihre Weiterentwicklung durch Lacan, indem sie die Begriffsopposition des "Semiotischen" und des "Symbolischen" einfUhrt, die sie anschliessend ihrer Bestimmung des poetischen Textes zugrundelegt. Kristeva erläutert das Semiotische im Gegensatz zum herrschenden Sprachgebrauch gerade nicht als eine regelbefolgende Zeichenverwendung diese belegt sie mit dem Terminus des Symbolischen sondern als eine Phase, die ihr vorausgeht und den Prozeß der Sinngebung wesentlich mitbestimmt. "Es handelt sich einerseits um das, was die Freudsche Psychoanalyse als Balmung und strukturierende Disposition der Triebe postuliert, andererseits geht es um die sogenannten Primärvorgänge, bei welchen sich Energie sowie deren Einschreibung verschieben und verdichten: diskrete Energiemengen durchlaufen den Körper des späteren Subjekts und setzen sich im Laufe der Subjektwerdung nach Maßgabe von Zwängen ab, die auf den inlmer schon semiotisierten Körper durch Familien- und Gesellschaftsstrukturen ausgeübt werden."22 Das Semiotische hat daher auch eine widersprüchliche Struktur. Denn es ist einerseits der "Geburtsort" des Subjektes, andererseits aber der Ort seiner Negation, "an dem seine Einheit dem Prozeß von Ladungen und Stasen weicht, der diese Einheit allererst herbeiführt. "23 Vom Semiotischen den Trieben und ihrer Artikulation unterscheidet Kristeva das Symbolische, das sie als den Bereich der Bedeutung bestimmt, "der inlmer auch einer des Satzes und der Urteile ist, anders ausgedrückt: der ein Bereich von Setzungen ist. "24 In diesem Sinn beruht das Symbolische stets auf einer Setzung, es entsteht als Folge einer Thesis. Jedes Zeichen muß daher als thetisch begriffen werden und entsprechend jeder Prozeß einer Zeichenverwendung als eine Abfolge von Setzungen. Ohne Thesis gibt es keine Bedeutung, olme Bedeutung jedoch nicht das Symbolische. Sie stellt die wichtigste Voraussetzung für den Prozeß der Sinngebung dar. <?page no="24"?> 24 Denn "die thetische Bedeutung (konstituiert) ... das Subjekt, da sie die Schwelle zur Sprache ist und sich nicht auf den Prozeß des Subjektes reduzieren läßt. "25 Das Symbolische ist also ebenso wie das Semiotische widersprüchlich strukturiert. Als Thetisches stellt es die Bedingung für die Möglichkeit der Konstitution des Subjekts dar, als System intersubjektiv gültiger Bedeutungen dagegen seine Negation. An der Nahtstelle zwischen dem Semiotischen und dem Symbolischen, am Ort ihres Zusammentreffens konstituiert sich nach Kristeva das Subjekt, weil allein aus dieser Nahtstelle "Sinn hervorgeht."26 Der Prozeß der Sinngebung ist es aber gerade, welcher ausschließlich imstande ist, das Subjekt als Subjekt zu konstituieren. Dieser Prozeß wird nun bei der Konstitution eines poetischen Textes auf eine Weise vollzogen, welche die subjektive Bedingung jeglicher Sinngebung wieder hervortreten läßt. Denn während in den meisten signifikativen Systemen das Symbolische versucht, das Semiotische so weit wie möglich zurückzudrängen und zu beherrschen, läßt sich der poetische Text gerade als "Semiotisierung des Symbolischen"27 bestimmen, d.h. als ,jenes unaufhaltbare Funktionieren der Triebe auf die Sprache zu, in ihr und durch sie hindurch".28 Das Semiotische bricht dergestalt in die Ordnung der Signifikanten der intersubjektiv gültigen denotativen Sprache ein und führt zu ihrer Destrukturierung bzw. Umstrukturierung, wie sie nicht nur in einer besonderen Musikalität der Sprache, in Reim, Rhythmus, Metrum, Klangstruktur ihren Ausdruck zu finden vermag, sondern auch im Spiel der Bilder,einer spezifischen Agrammatikalität u.a. mehr. Das intersubjektiv gültige Zeichensystem der denotativen Sprache wird vom Semiotischen weitgehend zerstört und in ein neues System, das der poetischen Sprache, transformiert. Der Text, das Resultat dieses Prozesses, bedeutet dergestalt "das Un-Bedeutende (in-signifiant). Er belebt in der signifIkanten Praxis jene Funktionsweise, die keinen Sinn kennt und schon vor ihm und ungeachtet seiner wirkt. "29 In der Deformation der poetischen Sprache kann sich das Subjekt daher auch angemessen repräsentiert finden. Bei der Übertragung der Kristeva'schen Thesen vom poetischen auf den theatralischen Text wird besonders dieser Gesichtspunkt einer eingehenden Überprüfung bedürfen. Denn die Mehrzahl der theatralischen Zeichen gehört Zeichensystemen an, die nicht in vergleichbarer Weise über ein System denotativer Bedeutungen verfügen wie die Sprache. Das Zusammentreffen des Semiotischen und Symbolischen bei der Setzung der mimischen, gestischen und proxemischen Zeichen beispielsweise wird daher auch kaum als Deformation einer vorgegebenen Ordnung von SignifIkanten, als Einbruch des Semiotischen in das Symbolische angemessen zu beschreiben sein. <?page no="25"?> 25 Die Konstitution des poetischen Textes, welche das Subjekt konstituiert, konstituiert in diesem Prozeß nach Kristeva keineswegs auch ein Objekt: der poetische Text stellt nicht irgendein Objekt dar. Sofern Kunst als mimesis begriffen wird, muß folglich berücksichtigt werden, daß die mimesis als Realisat poetischer Sprache nur noch insofern an der symbolischen Ordnung der denotativen Sprache zu partizipieren vermag, "als sie bestimmte konstitutive Regeln ... nach-erzeugt; infolgedessen muß sie zwar ein Objekt setzen, doch ist dieses ,Objekt' lediglich die Folge der Triebökonomie des Aussagens, der Setzung dieses Objekts gegenüber bleibt sie gleichgültig."30 Auch wenn das Subjekt also im ästhetischen Text einen Gegenstand nachahmt, indem es einen vokalen, gestischen, verbalen oder anderen SignifIkanten reproduziert, erreicht es dadurch nicht diesen Gegenstand, auch nicht vermittelt über das Symbolische, sondern es "durchquert das Symbolische" und erreicht so wiederum das Semiotische, das "sich jenseits der sozialen Grenze"31 und jenseits des Objektes befindet. Der poetische Text, in dem dergestalt das Semiotische das Symbolische deformiert und sich so in es transformiert, kann daher als jener Signifikant begriffen werden, "der flir das ego einen Gegenstand bezeichnet; beide können dann als thetische konstituiert werden. Aufgrund seines thetischen verändernden Charakters kann der SignifIkant das Subjekt repräsentieren wohlgemerkt, er repräsentiert nicht das thetische ego, sondern den Prozeß seiner Setzung.'.32 Der Prozeß, in dem das Subjekt den poetischen Text konstituiert, läßt sich folglich als jener Prozeß bestimmen, in dem das Subjekt selbst als Subjekt konstituiert wird. Der poetische Text fungiert dergestalt als SignifIkant flir den Prozeß der Setzung des den Text konstituierenden Subjekts. Ungeachtet der Einwände, die sich im einzelnen gegen Kristevas Thesen, die wir hier nur skizzenhaft wiedergeben konnten, erheben lassen, kommt dieser Theorie unbestritten das Verdienst zu, komprornißlos auf den Anteil des Subjekts am Prozeß der Textkonstitution hingewiesen und damit den Rückbezug des Textes auf das ihn konstituierende Subjekt wieder hergestellt zu haben, ohne andererseits den Text wie in der Literatur- und Kunstgeschichte in der Tradition des expressiven Kunstbegriffs immer wieder geschehen 33 auf die Funktion zu reduzieren, Ausdruck der Subjektivität seines Schöpfers zu sein. Die Konstitution des Textes erscheint vielmehr als Prozeß einer Sinngebung, in der das den Text produzierende Subjekt sich selbst erst als Subjekt konstituiert. Wenn wir Kristevas Theorie des poetischen Textes als Ausgangspunkt für die Entwicklung einer entsprechenden. Theorie des theatralischen Textes fruchtbar machen <?page no="26"?> 26 wollen, müssen wir unsere Überlegungen daher vordringlich der Frage widmen, auf welche Weise die Praxis der individuellen Sinngebung von den unterschiedlichen am Prozeß der Konstitution des theatralischen Textes beteiligten Subjekten vollzogen wird. Da es in unserem Zusammenhang kaum sinnvoll erscheint, dieses Problem in extenso zu erörtern, werden wir seine Untersuchung auf diejenige Gruppe potentiell Mitwirkender beschränken, die gemäß unserer in der Einleitung gegebenen Deflnition hinsichtlich der Aufführung als unverzichtbar gelten muß, weil sie als einer der Theater allererst konstituierenden Faktoren bestimmt ist auf die Schauspieler. Im dramatischen Theater auf das wir uns nachfolgend ausschließlich konzentrieren wollen steht die Arbeit der Zeichenbzw. Textkonstitution, welche der Schauspieler leistet, unter einer dreifachen Bedingtheit: derjenigen der im literarischen Text des Dramas vorgegebenen Rolle, derjenigen seiner individuellen Physis und derjenigen der zur Zeit herrschenden Konventionen der Schauspielkunst, also des gültigen schauspielerischen Codes als Norm. Die im literarischen Text des Dramas niedergelegte Rolle enthält, wie bereits Simmel mit aller Deutlichkeit festgestellt hat, keinerlei konkrete Anweisungen oder Ausführungsbestimmungen für den Schauspieler. Denn "die Bühnenflgur, wie sie im Buche steht, ist sozusagen kein ganzer Mensch, sie ist nicht ein Mensch im sinnlichen Sinne sondern der Komplex des literarisch Erfaßbaren an einem Menschen. Weder die Stimmen noch der Tonfall, weder das ritardando noch das accelerando des Sprechens, weder die Gesten noch die besondere Atmosphäre der lebenswarmen Gestalt kann der Dichter vorzeichnen oder auch nur wirklich eindeutige Prämissen daftir geben. Er hat vielmehr Schicksal, Erscheinung, Seele dieser Gestalt in den nur eindimensionalen Verlauf des bloß Geistigen verlegt. Als Dichtung angesehen ist das Drama ein selbstgenügsames Ganzes; hinsichtlich der Totalität des Geschehens bleibt es Symbol, aus dem diese sich nicht logisch entwickeln läßt."34 Im Drama sind nicht lebendige Figuren präsent, sondern es ist lediglich ein literarischer Text gegeben, aus dessen Zusammenhang der Schauspieler bzw. Regisseur bestimmte Elemente und Teilstrukturen im Hinblick auf die in diesem Text als A, B oder C bezeichnete Rollenflgur interpretieren muß. Die Rollenflgur ist also jeweils nur als diejenige Bedeutung gegeben, welche den entsprechenden Elementen und Teilstrukturen des aus sprachlichen Zeichen aufgebauten literarischen Textes beigelegt wird. Je mehrdeutiger das Drama in dieser Hinsicht ist, desto unterschiedlicher werden die Rollenflguren erscheinen. Aus diesem Grund wendet sich auch Simmel ganz entschieden gegen die Vorstellung, "als ob die ideale Art eine Rolle zu spielen, mit dieser Rolle selbst eindeutig und <?page no="27"?> 27 notwendig gegeben wäre; als stiege für den, der nur hinlänglich scharf zu sehen und logisch zu folgen wüßte, aus den Buchseiten des Hamlet selbst seine ganze theatralische Versinnlichung heraus; so daß es, genau genommen, von jeder Rolle nur eine einzige 'richtige' schauspielerische Darstellung gibt, der sich der empirische Schauspieler mehr oder weniger nähert. Allein dies wird durch die Tatsache widerlegt, daß drei große Schauspieler die Rolle in drei völlig verschiedenen Auffassungen spielen werden, jede der anderen gleichwertig und keine 'richtiger' als die andere ... Man (kann) also den Harnlet (nicht) ... einfach aus der Dichtung heraus spielen, denn diese legitimiert die Auffassung von Moissi ebenso, wie sie die von Kainz oder Salviati legitimiert hatte."35 Die unterschiedlichen "Auffassungen" ein und derselben Rollenfigur sind in der Vieldeutigkeit des ästhetischen Textes des Dramas sowie seiner einzelnen Elemente und Teilstrukturen begründet. Insofern ihnen verschiedene Bedeutungen beigelegt werden können, lassen sich auch unterschiedliche Rollenauffassungen entwickeln. Alle in diesem Sinne "möglichen" Bedeutungen der entsprechenden Elemente und Teilstrukturen des literarischen Textes sind folglich als "legitime" Rollenauffassungen zu begreifen und zu akzeptieren. Denn die jeweilige Rollenauffassung stellt nichts anderes dar als das Resultat jenes Rezeptionsprozesses, in dem den auf die Rollenfigur bezogenen Elementen und Teilstrukturen des Dramas aus dem Kontext des gesamten Textes heraus eine Bedeutung beigelegt wird als das Resultat eines jeweils unter anderen Bedingungen vollzogenen Prozesses einer Bedeutungskonstitution. Der Schauspieler geht also bei der Gestaltung einer Rolle von einer Bedeutung aus, die er unter welchen Bedingungen und auf welche Weise auch immer am literarischen Text des Dramas als Vorstellung von dieser Rolle entworfen hat. Am Beginn seiner Arbeit steht als erste Bedingtheit in diesem Sinne ein wie auch immer vollzogener und möglicherweise mit dem Abschluß der Arbeit selbst erst zu Ende kommender hermeneutischer Prozeß. Denn die im literarischen Text des Dramas vorgegebene Rolle stellt keine feste Größe dar, an der alle sich in gleicher Weise orientieren könnten, sondern muß in einem jeweils anders ablaufenden - Rezeptionsprozeß als jeweils andere Bedeutung ihrerseits erst konstituiert werden. Da in unserem Zusammenhang nun weniger die Frage von Belang ist, auf welche Weise der Schauspieler von der lediglich als Bedeutung konstituierten Rollenfigur zur Konstitution ihrer konkreten Gestaltung gelangt ob er also, wie in den verschiedenen Schauspielertheorien der letzten zweihundert Jahre immer wieder leidenschaftlich und kontrovers diskutiert, beispielsweise sich erst ein "Phantom" schaffen, dem er seine Darstellung anzugleichen sucht wie Diderot <?page no="28"?> 28 meinte -, oder ob er zunächst bestimmte Gefühle in sich auslösen soll, die ihn zur "richtigen" Gestaltung führen werden, oder ob er im Gegenteil besser mit spezifischen physischen Handlungen zu beginnen habe, etc.etc? 6 -, werden wir hier auch nicht auf die unterschiedlichen Phasen und Möglichkeiten des schauspielerischen Arbeitsprozesses als solchen eingehen. Im Mittelpunkt unseres Interesses stehen vielmehr die allgemeinen Be dingtheiten , unter denen jener Prozeß der Zeichen- und Textkonstitution vom Schauspieler im dramatischen Theater generell vollzogen wird. Will der Schauspieler die von ihm als mögliche Rollenfigur konstituierte Bedeutung nun seinerseits mit welchen Methoden und in welchen Arbeitsgängen auch immer in Zeichen der Schauspielkunst objektivieren und so kommunizierbar machen, stößt er auf die zweite Bedingtheit seiner Arbeit: seine eigene individuelle Körperlichkeit. Während andere Künstler ein eigenständiges, von ihnen losgelöstes und in diesem Sinn fremdes Material bearbeiten wie der Dichter die Sprache oder der Bildhauer den Stein gestaltet der Schauspieler, wie Plessner es formuliert hat, "im Material der eigenen Existenz". 3 7 Aufgrund dieses besonderen Sachverhaltes kann auch nicht allen Schauspielern das gleiche Material zur Verfügung stehen; jedem ist vielmehr in seiner eigenen Physis gleichsam ein einzigartiges unverwechselbares Material zugewiesen. Die Individualität des Künstlers hinterläßt folglich im Falle der Schauspielkunst nicht erst in der Art und Weise der Materialbearbeitung und ihrem Resultat, dem Werk, ilue Spuren, sondern der Arbeitsprozeß des Schauspielers nimmt seinen Ausgang von einem Material, in das diese seine Individualität sich bereits eingeschrieben hat: der Körper des Schauspielers bringt seine je eigene Natur sowohl als seine je besondere Geschichte in den Gestaltungsprozeß mit. Der menschliche Körper stellt ein Material dar, das weder eindeutig als Natur wie der Stein, den der Bildhauer bearbeitet noch als Kultur wie die Sprache, welche der Dichter gestaltet zu identifizieren ist, sondern sowohl der Natur als auch der symbolischen Ordnung einer Kultur zugehört. Die Grenze zwischen beiden verläuft mitten durch ihn hindurch. Als Organismus ist der Körper zweifellos ein Teil der Natur, "als je unterschiedliches organismisches Prom eines Körperbedarfs"38 eines bestimmten Individuums darüber hinaus je besondere, individuelle innere Natur eines Menschen. Auf diesen von der Natur auf je spezifische Weise geschaffenen Körper wirkt jedoch von Anfang an die umgebende Kultur zunächst in Gestalt der mütterlichen Fürsorge ein: sie hat nicht nur an der Entwicklung, Umstrukturierung und Regulierung der Körperbedürfnisse, der Ausbildung der Triebstärke und der Art der Triebartikulation erheblichen <?page no="29"?> 29 Anteil, sondern beeinflußt sogar die Ausfonnung der erwachsenen Körpergestalt, die weitgehend den in der betreffenden Kultur herrschenden Verhältnissen was Ernährung, Hygiene, Gesundheitsftirsorge etc. betrifft unterworfen und von den geltenden Idealen abhängig ist. Der Körper eines jeden Menschen stellt daher das Produkt eines mit der Geburt beginnenden und erst mit dem Tode endenden Wechselverhältnisses zwischen seiner je besonderen Natur und der ihn umgebenden Kultur dar ein Produkt, das in dieser seiner spezifischen Eigenart wiederum ganz individuell ist. 39 Als Natur ist der Körper in-signifiant, als Kultur dagegen kann er von Fall zu Fall zum signifiant avancieren die Grenze zwischen dem Un-Bedeutenden und dem Bedeutenden ist quer durch den Körper gelegt. Beide Bereiche stoßen in ihm direkt aneinander. An diesem Material muß der Schauspieler die von ihm gewählten Zeichen herausarbeiten und realisieren, aus ilun muß er seine konkrete Rollenfigur gestalten. Seine Physis, soweit sie vom Zuschauer wahrgenommen werden kann wie die Stimme und die Körperoberfläche -,muß er zum signifiant erheben, alles Un-Bedeutende in Bedeutendes verwandeln. Seine individuelle Körperlichkeit wird dergestalt ganz und gar in eine symbolische Ordnung überfUhrt. Beim Prozeß der Konstitution eines derartigen "Körpertextes"40 findet der Schauspieler sich der dritten Bedingtheit seiner Arbeit konfrontiert, dem gültigen schauspielerischen Code als Nonn. Der schauspielerische Code legt einerseits fest, welche körperlichen Erscheinungsweisen und Veränderungen überhaupt als Zeichen verwendet und verstanden werden sollen bzw. können, und bestinunt andererseits in unterschiedlichem Umfang und unterschiedlicher Genauigkeit die möglichen Bedeutungen, welche diesen Veränderungen und Erscheinungsweisen beigelegt werden können. Auf diesen Code wird sich auch der Zuschauer beziehen, wenn er die vom Schauspieler hervorgebrachten Zeichen interpretieren, den von ihm konstituierten Körpertext verstehen will. Für die bei uns vorherrschende Theaterfonn gilt beispielsweise, daß großes Pathos sowohl in der Deklamation als auch in Geste und Bewegung nicht mehr als Ausdruck eines "echten" tiefen Gefühls akzeptiert wird. Pathos kann eingesetzt werden, um die gezeigten Geftihle als falsch, als vorgetäuscht zu denunzieren oder sie als übertriebene und unangemessene Geftihle der Lächerlichkeit preiszugeben oder um einen historischen Geftihlsausdruck gleichsam zu zitieren u.a.m. Der gegenwärtig auf den Bühnen der Bundesrepublik gültige schauspielerische Code enthält allerdings im Vergleich mit den schauspielerischen Codes anderer Theaterformen oder auch anderer Epochen im ganzen relativ wenige Regeln, deren Befolgung prinzipiell erwartet oder gar gefordert würde. Dieser <?page no="30"?> 30 Sachverhalt, der aus dem in allen Kunstarten zu konstatierenden,ftir die Kunst der Postavantgarde generell charakteristischen Verlust allgemein verbindlicher ästhetischer Normen hervorgeht und in ihm seinen Grund hat, mindert das Gewicht der dritten Bedingtheit des schauspielerischen Arbeitsprozesses erheblich wie weit allerdings tatsächlich, ist nur im Einzelfall unter Berücksichtigung spezifischer lokaler oder gattungsbedingter Traditionen zu beurteilen, die durchaus eine stärkere Bindung an einen bestimmten Regelkanon zur Auflage machen können. Der schauspielerische Code läßt sich daher allgemein als eine -mehr oder weniger präzis abgefaßte, in unserem Fall eher unbestimmt gehaltene - Vorschrift begreifen, an deren Leitfaden der Schauspieler die Umwandlung des Un-Bedeutenden seiner wahrnehmbaren Physis in Bedeutendes vollziehen soll. Bei der Konstitution der Rolle als Körpertext treffen also drei ftir den Prozeß dieser Sinngebung fundamentale Faktoren zusammen: die im literarischen Text des Dramas niedergelegte Rolle mit ihren unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten, die individuelle Physis des Schauspielers mit iluen je spezifischen Gestaltungsmöglichkeiten und der allgemein vorgegebene gültige schauspielerische Code. Am Ort ihres Zusammentreffens entsteht Sinn nämlich die konkrete Rollenfigur als Sinn des dergestalt je spezifisch konstituierten Körpertextes. Läßt sich diese Konstellation nun als jenes Zusammentreffen des Semiotischen mit dem Symbolischen, als jene "Semiotisierung des Symbolischen" begreifen, welche Kristeva für den Prozeß der Sinngebung, der bei der Konstitution des poetischen Textes vollzogen wird, beschrieben und postuliert hat? Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir uns zunächst klar machen, welche Beziehung das Semiotische und das Symbolische jeweils eingehen, wenn der Schauspieler die sprachlich verfaßte Rolle, seine Physis und den schauspielerischen Code miteinander konfrontiert. Der sprachliche Rollentext läßt sich als eine symbolische Ordnung beschreiben, die als Teil einer umfassenderen symbolischen Ordnung derjenigen des gesamten Dramentextes hergestellt ist. Insofern nun der Dramentext als ein poetischer Text konstituiert wurde, ist seine spezifJSche symbolische Ordnung durch den Einbruch des Semiotischen in die symbolische Ordnung der denotativen Sprache entstanden. Er stellt entsprechend eine semiotisierte symbolische Ordnung dar. Indem der Schauspieler sich diesen Text gleichsam "einverleibt", geschieht eine zweite Semiotisierung: seine individuelle Physis bemächtigt sich des Textes und bringt ihn sozusagen unter den von ihr gesetzten Bedingungen zugleich als einen fremden und als ihren ei- <?page no="31"?> 31 genen ein zweites Mal hervor. Der Schauspieler schafft also die Rollenfigur als Sinn des von ihm konstituierten Körpertextes in dieser Hinsicht tatsächlich aufgrund einer "Semiotisierung des Symbolischen". Umgekehrt aber wird in diesem Prozeß der nur semiotisierte und daher noch insignifikante Körper des Schauspielers durch Bezug auf die sprachlich verfaßte Rolle und auf den schauspielerischen Code zum Signifikanten erhoben. Die insigniflkante Physis wird so strukturiert, daß sich in ihr eine symbolische Ordnung herstellen läßt. Dieser Vorgang läßt sich nun eher als "Symbolisierung des Semiotischen" beschreiben. Während also das Zusammentreffen des schauspielerischen Codes mit der individuellen Physis des Schauspielers sich im Hinblick auf die Physis als Symbolisierung des Semiotischen vollzieht, löst es hinsichtlich des schauspielerischen Codes wiederum eine Semiotisierung des Symbolischen aus, die von einer je individuellen Realisierung der Regeln bis zu ihrer völligen Aufllebung reichenkann.Denn der Schauspieler vermag im Prozeß der Rollengestaltung durchaus den vorliegenden geltenden Code zu durchbrechen und an seiner Stelle einen neuen zu etablieren, der auf den Bedingungen und Möglichkeiten aufbaut, die einerseits von der als Bedeutung konstituierten Rollenfigur des literarischen Textes und andererseits von der individuellen Körperlichkeit des Schauspielers gestellt und eröffnet werden. Wohl also entsteht auch bei der Konstitution des schauspielerischen Körpertextes Sinn an der Nahtstelle zwischen dem Semiotischen und dem Symbolischen, jedoch keineswegs ausschließlich als eine Semiotisierung des Symbolischen. Die Rollenfigur geht vielmehr als Sinn des Körpertextes aus einem Prozeß hervor, der durch das Wechselverhältnis von Semiotisierung des Symbolischen einerseits und Symbolisierung des Semiotischen andererseits in Gang gesetzt und in seinem Verlauf bestimmt wird. Das Subjekt des Schauspielers bemächtigt sich dabei sowohl der literarischen Rolle als auch seiner eigenen individuellen Physis als auch des allgemein gültigen schauspielerischen Codes und eignet sie sich mit dem Ziel an, alle drei miteillander zu konfrontieren und aus dieser Konfrontation die Rollenfigur als Sinn d~s derart konstituierten Textes entstehen zu lassen.Als Subjekt eben dieses Sinngebungsprozesses konstituiert es dergestalt sich selbst als jenes Subjekt-im-Prozeß, welches Kristeva intendiert. An der Konstitution der Rollenfigur als Körpertext durch den Schauspieler sind selbstverständlich noch andere Faktoren als nur die genannten drei Bedingtheiten beteiligt. Während diese jedoch im Hinblick auf die Konstitution eines derartigen Körpertextes als spezifisch und charakteristisch angesehen werden können, liegen jene <?page no="32"?> 32 der Konstitution auch Texten anderer Art zugrunde. Dies gilt vor allem fUr die Intertextualität, die bei jedem Prozeß einer Textkonstitution wenn auch jeweils in unterschiedlichem Ausmaß in Erscheinung tritt. So wird auch der Schauspieler bei der Ausarbeitung der Zeichen, welche in ihrer Gesamtheit die Rollenfigur konstituieren sollen, sich auf andere Texte beziehen, so z.B. auf die Darstellung derselben dramatis persona durch einen anderen Schauspieler oder auf seine eigene Darstellung anderer Rollenfiguren sozusagen in einem Selbstzitat. Er kann aber auch genauso gut auf Texte anderer Kunstgattungen oder außerkünstlerischeTexte zurückgreifen, seien dies nun fIlmische Texte wie beispielsweise die Darstellung einer Person in einem einzelnen Film oder eines Personentypus in einem besonderen Filmgenre - oder Bilder, die Personen in einer bestimmten Haltung bzw. Pose oder mit einer eigentümlichen Mimik oder Gestik zeigen, oder auch literarische Beschreibungen, in denen das Verhalten einer Person detailliert wiedergegeben wird, u.a.m. Auch wenn alle derartigen Elemente, die in welcher Weise auch immer auf einen anderen Text bezogen sind. zu dem sie dergestalt eine Relation herstellen, beim Prozeß der Konstitution der Rollenfigur als Körpertext eine wesentliche, ja durchaus fundierende Funktion erfüllen mögen, kann das Faktum iluer Verwendung dennoch nicht als charakteristisch für die Eigenart dieses Prozesses gelten. Denn entsprechende Verfahren der Intertextualität sind bei nahezu allen Prozessen einer Textkonstitution anzutreffen. Die Kollision von literarisch gestalteter Rolle, individueller Physis des Schauspielers und gilltigem schauspielerischen Code dagegen stellt einen Faktor dar, welcher in dieser Form nur dem Prozeß der Konstitution einer Rollenfigur als Körpertext eigentümlich ist. Der tlleatralische Text, die Aufftihrung, ist nun nicht mit einem einzelnen Körpertext identisch, sondern setzt sich aus einer Vielzahl von Körper- (und Raum-)texten zusammen, deren jeder auf ein einzelnes Subjekt verweist, das ihn in einer Abfolge von Setzungen, die durchaus auch als Ergebnis einer Zusammenarbeit mit dem Regisseur oder anderen Schauspielern entstanden sein können, seinerseits konstituiert hat. Die Körpertexte der Schauspieler sind folglich auch nicht anderen Arten von Teiltexten wie dem Kapitel eines Romans oder einem Bildausschnitt vergleichbar, welche Texten entstammen, die in iluer Gesamtheit von einem Subjekt konstituiert sind. Sie stellen vielmehr Teiltexte dar, die jeweils ein anderes individuelles Subjekt geschaffen hat. Die Aufftihrung ist daher auch als ein Text zu bestimmen, der seine Eigenart in dem SpezifIkum hat, von mehreren Subjekten zugleich konstituiert zu sein, ohne daß die je be- <?page no="33"?> 33 sondere Individualität der einzelnen beteiligten Subjekte in seiner kollektiv aufgebauten Struktur ununterscheidbar unterginge. Dieses rur die Konstitution des theatralischen Textes so charakteristische Merkmal möchte ich mit dem aus der Musik entlehnten Terminus der "Polyphonie"41 bezeichnen. Denn so wie in einem Chorsatz die unterschiedlichen Stimmen oder in einem Instrumentalwerk die verschiedenen beteiligten Instrumente sich nach ihrer jeweiligen Klangfarbe, Stimmführung, Melodie etc. differenzieren und heraushören lassen, sind auch am theatralischen Text der Aufführung die einzelnen an seiner Produktion kreativ mitwirkenden Subjekte zumindest die Subjekte der Schauspieler als je eigene Subjekte zu erkennen und zu unterscheiden. Die polyphone Struktur erscheint daher geradezu als ein fundamentales, rur den theatralischen Text in seiner Eigenart konstitutives Charakteristikum. Wird ein Text gemäß dieser Bestimmung als polyphon bezeichnet, erhebt sich unabweisbar die Frage nach der Einheit seines Sinnes. Denn es kann keineswegs angenommen werden, daß die hier punktuell hergestellte Analogie zur Musik sich bis zu der Schlußfolgerung weiterführen ließe, der besondere von einem Subjekt als Rollenfigur hervorgebrachte Sinn müßte sich auf den von den anderen beteiligten Subjekten als je andere Rollenfigur erzeugten Sinn in einer Weise beziehen, daß ihre Gesamtheit wie die Gesamtheit der Stimmen den Klang des Chorsatzes einen einheitlichen Sinn als Sinn des theatralischen Textes ergeben würde. Wohl kann man davon ausgehen, daß . der Regisseur Sorge tragen wird, diese verschiedenen Körpertexte in ein entsprechendes Verhältnis zueinander zu bringen. Aber da diese Texte nicht einer landläufigen Meinung zum Trotz, welche den theatralischen Text als ausschließlich vom Regisseur konstituiert und bestimmt begreift wie objekthafte Versatzstücke fUr den Regisseur beliebig disponibel sind, sondern hinter jedem ein Subjekt steht, das sich im Prozeß seiner Konstitution als Subjekt selbst konstituiert hat, muß die Möglichkeit durchaus in Betracht gezogen werden, daß die verschiedenen Körpertexte sich gegen eine derartige Vereinheitlichung sperren und statt der Einheit des Sinnes die nicht mit Eindeutigkeit verwechselt werden darf eine Vielheit von Sinn entsteht. Eine solche Vielheit von Sinn, wie sie nur von einem polyphonen Text erzeugt werden kann, ist nicht mit der von Kristeva als Polylogie bezeichneten Eigenart poetischer Texte gleichzusetzen. Denn Polylogie ist als die Fähigkeit des Subjekts-im-Prozeß zu begreifen, seinerseits eine Vielzahl von Stimmen und Körpern anzunehmen und so eine Pluralität von Zeiten und Räumen durch den Bezug auf andere Texte ins Bewußtsein zu rufen und zu evozieren. Polylogie ist daher als Folge einer extremen Form der Intertextualität zu verste- <?page no="34"?> 34 hen. 42 Polyphonie dagegen meint die Interaktion von unterschiedlichen Texten, die, da sie jeweils von einem derartigen Subjekt-im- Prozeß konstituiert sind, iluerseits als polyloge hervorgebracht werden. Der theatralische Text kann folglich auch nicht als ein SignifIkant begriffen und bestintrnt werden, welcher ein Subjekt als Subjekt-im- Prozeß repräsentiert beispielsweise das Subjekt des Regisseurs -, sondern er repräsentiert vielmehr als SignifIkant jenen Prozeß, in dem unterschiedliche Subjekte sich als ein solches Subjekt-im-Prozeß konstituieren und dabei zueinander in Beziehung treten. Die Vielheit von Sinn ist daher als ein charakteristisches und grundlegendes Merkmal des theatralischen Textes vorauszusetzen als ein Merkmal, welches die Konstitution des theatralischen Textes in besonderer Weise auszeichnet und defIniert. 1.3 Transfonnation des literarischen Textes des Dramas in den theatralischen Text der Aufführung Bei der Konstitution der Aufführung als eines polyphonen Textes gehen die verschiedenen an diesem Prozeß beteiligten Subjekte von einem gemeinsamen Bezugspunkt aus: dem literarischen Text des Dramas. Unter allen Texten, die bei der Produktion des theatralischen Textes auf dem Wege über einzelne Elemente oder gar Teilstrukturen Eingang in illn finden und seine spezifische Intertextualität ausmachen, kommt ihm eine besondere Bedeutung, eine privilegierte Stellung zu. Denn er liegt der Aufführung nicht nur in einzelnen Elementen oder Teilstrukturen, sondern als gesamter Text zugrunde: der theatralische Text gilt als Aufführung des literarischen Textes. Damit wird das Verhältnis zwischen beiden Arten von Texten zum Problem. Denn wenn die Aufführung als szenische Realisation eines literarischen Textes begriffen wird 43 , muß geklärt werden, ob sie lediglich eine Übermittlung des literarischen Textes in einem anderen Medium darstellt nämlich dem der Bühne und der Schauspieler - oder ob es sich bei der Transformation des literarischen in einen theatralischen Text um einen Übersetzungsprozeß handelt, bei dem aus einem Zeichensystem in ein anderes übertragen wird. Für den literarischen Text des Dramas fungieren Buch und Schrift als bedeutungsindifferente Medien der übermittlung. Der Sinn des Dramas wird nicht davon berührt, ob er in einer Zeitschrift, in einer Gesamtausgabe oder als Taschenbuch erscheint, ebensowenig wie die Wahl des Schrifttypus ihn zu beeinflussen vermag. Schauspieler und Bühnenraum stellen dagegen Medien dar, die in den übermittlungs- <?page no="35"?> 35 prozeß immer schon bestimmte Bedeutungsqualitäten mitbringen und sich daher für eine bedeutungsindifferente Übermittlung nicht verwenden lassen. Dies gilt, wie ich im letzten Kapitel darzulegen versucht habe, in besonderer Weise für den Schauspieler. Denn seine wahrnehmbare Physis ist in jedem ihrer Elemente als signifiant zu begreifen. Sowohl die Stimme 44 als auch der Körper sind auf dem Theater vollkommen ungeeignet, als reines Medium der Übermittlung zu dienen, ohne nicht selbst durch ihre spezifische Beschaffenheit den Prozeß der Bedeutungskonstitution wesentlich zu beeinflussen. Wir haben daher auch die Physis des Schauspielers nicht als Medium für die Rollenfigur bestimmt, sondern als Material und in diesem Sinne als eine der fundamentalen Bedingtlleiten, welche der Konstitution des Körpertextes in ihrer gegenseitigen Kollision zugrundeliegen. Der Schauspieler selbst ist folglich auch nicht als ein bedeutungsindifferentes Medium zu begreifen, sondern als Subjekt eines Prozesses, in dem auf dem Wege über die Ausarbeitung und Realisierung schauspielerischer Zeichen die Rollenfigur als Sinn dieses derart konstituierten Körpertextes geschaffen wird. . Der Bühnenraum dagegen vermag unter bestimmten Bedingungen durchaus als bedeutungsindifferentes Medium zu fungieren. Wenn eine theatralische Norm eine spezifische Bühnenform als verbindlich vorschreibt, so ist die ilu zugrundeliegende Raumkonzeption nur in bezug auf die Norm als bedeutungstragendes Element zu werten, nicht jedoch im Hinblick auf die einzelne Aufführung 45 • So blieb im 19. Jaluhundert die Form der Guckkastenbühne für die einzelne Aufführung bedeutungsindifferent, auch wenn sie in bezug auf die zugrundeliegende theatralische Norm als Zeichen begriffen und interpretiert werden kann. In der einzelnen Aufführung fungierte sie als bloßes Medium für die Präsentation von Dekorationen, Requisiten und Schauspielern. Bei heutigen Aufftihrungen dagegen ist in der Regel davon auszugehen, daß auch die realisierte Raumkonzeption bereits selbst als bedeutungstragendes Element intendiert ist. Wird der literarische Text des Dramas aus den bedeutungsindifferenten Medien Buch und Schrift in die per se signifikanten Medien Schauspieler und Bühne übertragen, wird auch ein Wechsel der verwendeten Zeichensysteme erforderlich. Denn während der literarische Text ausschließlich aus sprachlichen Zeichen besteht, wird der Körpertext des Schauspielers mit Notwendigkeit zumindest aus gestischen, proxemischen und paralinguistischen Zeichen sowie den Zeichen der äußeren Erscheinung synthetisiert sein. Die Transformation des literarischen Textes des Dramas in den theatralischen Text einer Auffüh- <?page no="36"?> 36 rung ist daher auch nur als Übersetzung aus dem sprachlichen Zeichensystem in das System theatralischer Zeichen angemessen zu bestimmen und zu beschreiben, nicht jedoch als seine bloße übermittlung in einem anderen Medium. Wir unterscheiden grundsätzlich drei Arten der übersetzung 46 : 1. die intralinguale übersetzung hier wird ein Ausdruck einer Sprache in einen anderen derselben Sprache übersetzt, wie es beispielsweise bei einer Definition geschieht; 2. die interlinguale oder eigentliche übersetzung hier wird ein Text einer natürlichen Sprache in eine andere natürliche Sprache übertragen; 3. die intersemiotische Übersetzung oder Transformation hier wird der Text eines Zeichensystems in ein vollkommen anderes Zeichensystem übersetzt. Während die beiden ersten Arten der übersetzung im selben Zeichensystem bzw. in demselben Typ von Zeichensystem vollzogen werden, muß in der dritten von einem Zeichensystem in einen anderen Typ von Zeichensystem übersetzt werden: Worte in Gesten, Buchstaben in Lichtsignale, Sätze in mathematische Formeln usw. Dabei kann keineswegs als selbstverständlich vorausgesetzt werden, daß sich ein derartiger intersemiotischer übersetzungsprozeß zwischen Texten aller beliebigen Zeichensysteme vollziehen läßt. Man wird wohl ebensowenig Lockes "Essay Concerning Human Understanding" adäquat in die gestischen Zeichen einer Pantomime übersetzen können wie Eichendorffs "Mondnacht" in mathematische Zeichen. Es muß daher in jedem Fall untersucht werden, aufgrund welcher Bedingungen eine übersetzung zwischen den fraglichen Zeichen möglich ist. Aus der Definition der Transformation des Dramas in eine Aufführung als übersetzungsprozeß ergeben sich dergestalt verschiedene Fragen, das Verhältnis zwischen Drama und Aufftihrung betreffend: 1. Welches sind die besonderen Bedingungen für die Möglichkeit der übersetzung aus den sprachlichen in die theatralischen Zeichen? 2. Auf welche Weise wird der übersetzungsprozeß vollzogen? Wird vom einzelnen Wort ausgegangen, vom Satz, der vollständigen Replik oder vom ganzen Dialog? Werden die einzelnen, größere Teiltexte konstituierenden Zeichen übersetzt oder wird direkt auf diese Teiltexte wie Figur, Szene, Raum zurückgegriffen? Wird der Haupttext getrennt vom Nebentext 47 übersetzt oder werden von beiden betroffene Zeichengruppen herausgearbeitet und gesondert transformiert? 3. Wie ist eine "adäquate" übersetzung der sprachlichen in theatralische Zeichen zu bestimmen und worin besteht entsprechend die Äquivalenz zwischen dem Ausgangstext dem Drama als Litera- <?page no="37"?> 37 tur - und dem Zieltext der Aufführung als Theater? Wird sich folglich das in der Theaterkritik hartnäckig verwendete Kriterium der "Werktreue" als Wertmaßstab bei der Beurteilung von Inszenierungen theoretisch begründen lassen? ad 1. Die Frage nach den Bedingungen für die Möglichkeit einer Transformation des dramatischen in den theatralischen Text ist bereits im 18. Jahrhundert gestellt worden wenn auch in der eingeschränkten Form als Frage nach der übersetzbarkeit der sprachlichen in gestische Zeichen. Wie im zweiten Abschnitt des zweiten Teils der vorliegenden Arbeit ausgeführt, haben ihr Diderot vor allem im "Taubstummenbrief" - und Lessinf speziell im "Laokoon" eingehende Überlegungen gewidmet. 4 Diderot kommt bei seinem in konkreten Kommunikationssituationen empirisch durchgeführten Vergleich zwischen den sprachlichen und den gestischen Zeichen zu dem Schluß, daß beide Arten von Zeichen in gleicher Weise geeignet sind, auf Handlungen, konkrete Gegenstände und solche Ideen hinzuweisen, die durch eine übertragene Benennung dargestellt werden können 49 • Während jedoch gestische Zeichen zur Darstellung eines abstrakten Zusammenhanges kaum eingesetzt werden können, übertreffen sie die sprachlichen Zeichen, wenn es um den Ausdruck ausserordentlicher Empfindungen und extremer seelischer Zustände geht, welche "die erhabenen Gesten" auf eine Weise darzustellen fähig sind, wie "auch die größte Beredsamkeit (sie) niemals wiedergeben kann."so Für das Verhältnis von Drama und Theater folgt aus diesen Untersuchungen, daß das Drama sich als Gegenstände seiner Darstellung vorzugsweise Handlungen und außerordentliche Empfmdungen wählen sollte, wenn seine sprachlichen Zeichen in die theatralischen Zeichen von Mimik, Gestik und Bewegung übersetzbar sein sollen. Lessing gelangt aufgrund theoretischer Überlegungen zu einem ähnlichen Ergebnis. 5 1 Weil die Zeichen der Schauspielkunst sich sowohl im Raum erstrecken als auch in der Zeit aufeinanderfolgen, sind sie auch fähig, den "wahren sinnlichen Eindruck" sowohl von nebeneinander existierenden wie die Malerei als auch von aufeinanderfolgenden Gegenständen wie die Dichtung hervorzurufen, sowohl Körper als auch Handlungen nachzuahmen. Da sie auf beide Arten von Gegenständen zugleich bezogen sind, ahmen sie also Körper nach, die sich bewegen und verändern, bzw. Handlungen, die von bestimmten Körpern ausgeführt werden: sie ahmen stets handelnde Menschen nach. Wenn das Drama als Werk der Dichtung Handlungen zu seinem Gegenstand hat, werden sich folglich seine sprachlichen Zeichen in Zeichen der Schauspielkunst übersetzen lassen. Da die Zeichen <?page no="38"?> 38 der Schauspielkunst jedoch nicht nur Handlungen, sondern stets handelnde Menschen bedeuten, kann sich ihre Funktion kaum darin erschöpfen, die im Drama dargestellten Handlungen adäquat zu übertragen. Sie werden vielmehr stets zusätzliche Bedeutungen schaffen, die das Drama als Literatur zu konstituieren, unfähig ist: Bedeutungen, die der konkreten Physis zukommen, mit welcher der Schauspieler die Handlungen vollzieht. Um die Frage nach der übersetzbarkeit der sprachlichen Zeichen des Dramas in die vor allem gestischen - Zeichen der Schauspielkunst beantworten zu können, untersuchen also Diderot und Lessing der eine auf empirischem, der andere auf theoretischem Wege die Eigenart einerseits der sprachlichen, andererseits der gestischen Zeichen und grenzen den Bereich an Gegenständen aus, in dem beide Arten in ihrer Darstellungsfähigkeit konvergieren bzw. die gestischen Zeichen die sprachlichen excellieren. Sie kommen mit ihren unterschiedlich durchgeführten Untersuchungen übereinstimmend zu dem Ergebnis, daß die sprachlichen Zeichen des Dramas unter der Bedingung in die theatralischen der Schauspielkunst zu übersetzen sind, daß sie sich auf Gegenstände beziehen, die auch durch Zeichen der Schauspielkunst zumindest ebenso gut dargestellt werden können. Diese Schlußfolgerung dient sowohl Diderot als auch Lessing als Prämisse und Rechtfertigung für eine normative Dramenästhetik. Denn aus ihr ergibt sich eine notwendige Beschränkung des Dramas auf bestimmte Gegenstände der Darstellung. Sehen wir zunächst von den zu einer normativen Poetik führenden bzw. eine normative Poetik legitimierenden - Konsequenzen der Untersuchungen beider ab und konzentrieren uns auf ihre Vorgehensweise. Beide setzen voraus, daß es Gegenstände gibt, die sowohl von sprachlichen als auch von gestischen Zeichen "angemessen" nachgeahmt werden können. Werden diese Gegenstände zuerst in sprachlichen Zeichen dargestellt und dann diese sprachlichen Zeichen in die entsprechenden gestischen Zeichen "übersetzt", so fungieren die in diesem Fall verwendeten theatralischen Zeichen der Schauspielkunst als Interpretanten für die sprachlichen Zeichen des Dramas. Die sprachlichen Zeichen des Dramas sind also immer dann in theatralische Zeichen der Schauspielkunst zu transformieren, wenn die theatralischen als Interpretanten für sie zu fungieren vermögen. Als Interpretant soll dabei nach Peirce jedes "Repräsentamen" defininiert sein, "das von einern anderen Repräsentamen bestimmt wird". 5 2 Diderot und Lessing haben die Gruppe der sprachlichen Zeichen des Dramas, für welche die Zeichen der Schauspielkunst als Interpretanten dienen können, durch Rekurs auf die Reden der dramatis personae zu ermitteln versucht. Weil sprachliche und gestische Zei- <?page no="39"?> 39 chen sich nur in bezug auf bestimmte Arten von Gegenständen füreinander als Interpretanten verwenden lassen, kommen daher beide zu dem Schluß, daß die Reden der dramatis personae von eben diesen Gegenständen handeln müssen und gelangen so zwangsläufig zu einer normativen Beschränkung. 5 3 Wenn wir ihre entsprechend präskriptive Formulierung der Bedingung für die Möglichkeit einer Transformaton in eine deskriptive umformulieren wollen, empfiehlt es sich daher, auf eine Ebene zurückzugehen, auf der die Frage nach alternativen "Gegenständen der Nachahmung" wie auf der Ebene der Reden der dramatis personae oder gar auf der Ebene der Bestimmung der als dramatis personae geeigneten Charaktere noch gar nicht gestellt werden kann. Lessing und Diderot ist durchaus in der Behauptung zuzustimmen, daß sprachliche Zeichen nur unter der Bedingung in theatralische übersetzt werden können, daß beide sich als Interpretanten füreinander verwenden lassen. Wenn wir die Bedingungen für die Möglichkeit der Transformation deskriptiv formulieren wollen, müssen wir daher die fraglichen Zeichen auf einer Ebene ermitteln, die normativen Einschränkungen und Bestimmungen nicht zugänglich ist. Da jedoch sowohl die Reden der dramatis personae als auch die jeweiligen dramatis personae in ihren Eigenarten und Qualitäten derartigen normativpräskriptiven Zugriffen jederzeit offen sind, scheiden sie als Ermittlungsebene aus. Wenn also die dramatis personae und ihre Reden auch ständig anders bestimmt und gestaltet sein mögen, so ist doch dagegen das Faktum, daß überhaupt eine dramatis persona gegeben ist, für jedes Drama unbestritten konstitutiv. Um es ganz einfach und trivial auszudrücken: ohne dramatis persona gibt es kein Drama. Im literarischen Text erscheint diese dramatis persona meist als Eigenname (ödipus, HamIet) , aber auch als Gattungsbezeichnung (Mensch, Engel), Bezeichnung ihres Geschlechtes (Mann, Frau), ihrer Nationalität (Franzose, Skythe), ihres sozialen Standes (Marquis, Bauer), ihres Berufs (Seemann, Diener), eines Typus (der Geizige, die Eitle), als Ordnungszahl (Erster, Zweiter) oder einfach als Buchstabe (A, B) auf jeden Fall ist eine Personenbezeichnung irgendeiner Art gegeben. Im theatralischen Text dagegen haben wir als irreduzibles, ihn definierendes und konstituierendes Element den Schauspieler bestimmt, der eine Rollenfigur verkörpert. Hier also erscheint die dramatis persona in Gestalt der konkreten Physis eines Schauspielers. Als Gegenstand, auf den sowohl die Personenbezeichnung im literarischen Text des Dramas als auch die reale Körperlichkeit des Schauspielers im theatralischen Text der Aufführung als sein Zeichen bezogen sind, können wir daher die dramatis persona bestimmen. Im Hinblick auf <?page no="40"?> 40 sie lassen sich also das sprachliche Zeichen des Namens/ der Personenbezeichnung und das theatralische Zeichen der Physis des Schauspielers als Interpretanten füreinander verwenden. Dabei ist die Frage nach der Priorität völlig ohne Belang; ob die Rollenfigur zuerst in der Verkörperung durch den Schauspieler gegeben ist und später mit dem sprachlichen Zeichen des Namens/ der Personenbezeichnung in einem literarischen Text notiert wird, oder ob sie im literarischen Text als Name/ personenbezeichnung genannt wird und später erst in der Verkörperung durch den Schauspieler auf der Bühne erscheint, bleibt hinsichtlich dieser ihrer Funktion, als Interpretant füreinander verwendet werden zu können, ohne jegliche Bedeutung. Denn sowohl der Name als auch der Körper sind imstande, eine Rollenfigur zu repräsentieren. S4 Damit ist die Bedingung für die prinzipielle Übersetzbarkeit des Dramas in eine Aufftihrung ermittelt. Da der Name im literarischen Text des Dramas ebenso auf die Rollenfigur verweist wie der Körper des Schauspielers im theatralischen Text der Aufftihrung, kann er auch stets durch den Schauspieler in die Sprache des Theaters übersetzt werden: der Körper des Schauspielers wird als Interpretant für das sprachliche Zeichen des Namens eingesetzt und verstanden. Entsprechend kann dann der dem Namen zugeordnete Text von dem Schauspieler, der als Interpretant dieses Namens fungiert, als mündliche Rede realisiert und auf diese Weise in theatralische Zeichen wie beispielsweise paralinguistische und kinesische transformiert werden. ad 2. Der Prozeß der übersetzung nimmt von einer rezeptiven Sinnkonstitution seinen Ausgang: der literarische dramatische Text, der transformiert werden soll, wird gelesen und interpretiert. Für diesen Vorgang gelten alle jene Prämissen und Bedingungen, welche eine Hermeneutik des literarischen Textes bestimmen: die allgemeinen Probleme des "Vorurteils" also des geschichtlich und lebensgeschichtlich bedingten Standortes des Interpreten - und des historischen Abstandes, sofern es sich um ein Drama der Vergangenheit handelt, das gattungsspezifische Problem der zugrundeliegenden Gattungsform und ihrer Realisierung sowie das allein auf den betreffenden Text bezogene Problem seiner Struktur, seiner Intertextualität und dergleichen mehr. Sowohl die Bedeutungen einzelner Elemente und Teilstrukturen als auch der Sinn des ganzen Textes können, wie bei jedem ästhetischen Text, äußerst vielfältig sein. S5 Daraus folgt, daß bereits der Ausgangspunkt des Transformationsprozesses, das ästhetische Objekt des Dramas s6 , seinjeweilig konstituierter Sinn, sowohl für die einzelnen Subjekte eines Produktionsteams als auch für unterschiedliche Produktionsteams jeweils ein anderer sein kann, <?page no="41"?> 41 auch wenn das Artefakt des dramatischen Textes allen in gleicher Weise vorliegen mag. Ebensowenig wie aus einzelnen Elementen und Teilstrukturen des Dramas eine verbindliche Rollenauffassung als ihre "richtige" Bedeutung abzuleiten ist, läßt sich also auch ein allein gültiger Sinn des Dramas konstituieren, der als verbindliche Textauffassung zu formulieren wäre. Die im Interpretationsprozeß gefundenen Bedeutungen, die schon im Hinblick auf eine Applikation, d. h. hier auf ein bestimmtes zeitgenössisches Publikum und die aktuelle Situation, konstituiert sein mögen, stellen in diesem Sinne den eigentlichen Ausgangspunkt für den Prozeß der Transformation dar. Für diese Bedeutungen müssen nun wiederum im Hinblick auf ein konkretes Publikum und die aktuelle Kommunikationssituation aus dem Repertoire der theatralischen Zeichen diejenigen ausgewählt werden, die nach Meinung der Produzenten des theatralischen Textes imstande sein könnten, als angemessene und geeignete Interpretanten für die am literarischen Text konstituierte Bedeutung zu fungieren. Die Auswahl ist dabei in keiner Weise bereits vom literarischen Text vorgezeichnet, bestimmt oder eingeschränkt. 57 Denn aus ihm lassen sich nur die Bedeutungen gewinnen, für die theatralische Zeichen als Interpretanten gefunden werden sollen, nicht jedoch diese Zeichen selbst. Ihre Auswahl ist vielmehr einesteils vom geschichtlich und lebensgeschichtlich bedingten Standort der an ihr Beteiligten der Schauspieler, des Regisseurs, des Bühnenbildners beeinflußt, weil sie wesentlich von ihrer subjektiven Einschätzung der Bedeutungsmöglichkeiten und der leistungsfähigkeit der zur Verfügung stehenden theatralischen Zeichen abhängt. Zum anderen aber wird sie durch das Repertoire an theatralischen Zeichen begrenzt, die der jeweilige Code bereitstellt. Dabei muß allerdings berücksichtigt werden, daß jeder Akt einer Zeichen- und Textkonstitution dieses Repertoire zu erweitern und zu verändern vermag. Da wir andererseits gegenwärtig an keine festen theatralischen Normen gebunden sind also auf kein allgemein verbindliches Repertoire an theatralischen Zeichen zurückgegriffen werden kann -,läßt sich als einzige Regel, von der sich Schauspieler und Regisseur bei der Auswahl leiten lassen sollten, die Maxime formulieren, daß ihrer übereinstimmenden Auffasung nach das zu wählende bzw. gewählte Zeichen imstande sein sollte, in der gegebenen Situation für das fragliche Publikum als angemessener Interpretant für die von ihnen intendierte Bedeutung, die sie dem fraglichen Element des literarischen Textes beigelegt haben, fungieren zu können. Daraus folgt, daß die Anzahl der theatralischen Zeichen, die als Objektivation und Vermittlung einer Bedeutung wählbar sind, im heutigen abendländischen Theater nahezu beliebig groß ist. <?page no="42"?> 42 Da beim Transformationsprozeß dergestalt von den Bedeutungen ausgegangen wird s8 , die am literarischen Text konstituiert sind, muß als nächstes die Frage geklärt werden, ob die Bedeutungen einzelner sprachlicher Zeichen, unterschiedlicher Zeichengruppen oder Teilstrukturen oder die Bedeutung des ganzen Textes in theatralischen Zeichen ausgedrückt werden soll, auf welche Einheiten also der Transformationsprozeß bezogen ist. S9 Der Aufbau des Dramas scheidet als Gliederungsprinzip , nach dem der Transformationsprozeß durchgeführt werden könnte, von vornherein aus. Denn das Drama ist stets in Haupt- und Nebentext gegliedert, auch wenn der Nebentext bis auf die Angabe der Namen, der Szenenbzw. Aktanfänge und -schlüsse reduziert sein mag. Während die Zeichen des Haupttextes immer die direkten Reden der dramatis personae bedeuten, enthalten sowohl der Haupttext als auch der Nebentext Zeichen, die auf unterschiedliche theatralische Zeichen wie paralinguistische und kinesische Zeichen, Maske, Frisur, Kostüm, Requisiten, Dekoration und Beleuchtung, Musik und Geräusche verweisen mögen. Diese prinzipielle Zweiteilung des literarischen Textes findet im theatralischen Text der Aufführung keinerlei Entsprechung. Die Transformation der sprachlichen Zeichen des Dramas in die theatralischen der Aufführung muß also nach anderen Prinzipien als dem dieser Zweiteilung vollzogen werden. Ganz allgemein lassen sich drei grundsätzliche Modi der Transformation unterscheiden, die allerdings als idealtypische zu verstehen sind, weswegen sie auch kaum je in vollkommener Ausschließlichkeit Verwendung finden werden: a) die lineare, b) die strukturelle und c) die globale Transformation. 6o In concreto haben wir meist mit Transformationsprozessen zu tun, in denen alle drei, zumindest jedoch zwei Modi realisiert werden. a) Beim ersten Typ wird nach der Auswahl der Schauspieler, die als Interpretanten für die Namen des literarischen Textes fungieren sollen, im Prozeß der Transformation linear vorgegangen. Das heißt: es wird von Satz zu Satz; von Replik zu Replik, von Dialog zu Dialog vorangeschritten. Nachdem die Bedeutung eines Satzes aus dem Zusammenhang seiner unterschiedlichen Kontexte heraus wie der Charakteristik der sprechenden Rollenfigur, des Themas und der Argumentation des Dialogs, des Handlungsverlaufs der Szene, der semantischen Beziehungen im ganzen Text etc. konstituiert worden ist, werden theatralische Zeichen gesucht, die imstande sind, in Übereinstimmung mit der am literarischen Text gewonnenen und entworfenen Rollenauffassung als Interpretanten ftir die Bedeutung dieses Satzes zu fungieren. Da die theatralischen Zeichen meist nicht über feste, quasi lexika- <?page no="43"?> 43 lische Bedeutungen verfügen und daher ihre Bedeutung je nach Kontext und Kommunikationssituation zu verändern vermögen, muß bei dieser Vorgehensweise vor allem das Problem der Anschlüsse befriedigend gelöst werden. Denn es muß gewährleistet sein, daß die als Interpretanten für einen Satz verwendeten theatralischen Zeichen durch ihre Einbindung in den Ablauf des theatralischen Textes also durch die vorausgehend, nachfolgend und gleichzeitig realisierten Zeichen nicht eine Bedeutung erhalten, welche die vom Regisseur/ Schauspieler gemeinte und gewollte in unerwünschter Weise modifiziert oder gar überhaupt nicht mehr betrifft. Die Interpretanten müssen daher so ausgewählt werden, daß sie sowohl auf der paradigmatischen Achse ihrer Beziehung zu den sprachlichen Zeichen des Dramas als auch auf der syntagmatischen Achse ihrer textualen Verkettung in der Aufführung die vom Regisseur und Schauspieler intendierte Bedeutung zu übermitteln durchaus in der Lage sind. Dieser Modus der Transformation folgt weitgehend dem Ablauf des dramatischen Textes. Satz für Satz werden nacheinander die Worte übersetzt, welche die dramatis personae in eben dieser Reihenfolge als ihre Reden äußern sollen. Daher dominieren auch in der Aufführung die Bedeutungen der Dialoge. Denn ihnen vor allem gilt die Suche nach adäquaten Interpretanten. Selbstverständlich müssen auch bei dieser Vorgehensweise Zeichen gefunden werden, welche die äußere Erscheinung der Rollenfiguren und den Raum konstituieren, ohne daß bei ihrer Auswahl dem Ablauf des Textes gefolgt werden könnte. Dieser Umstand weist nachdrücklich darauf hin, daß die lineare Transformation sich nicht durchgehend auf einen dramatischen Text anwenden läßt, sondern mit anderen Modi verknüpft werden muß. Sie kann allerdings durchaus als dominierender Modus den Transformationsprozeß weitgehend bestimmen. b) Beim Modus der strukturellen Transformation wird von komplexen Teilstrukturen wie Figur, Raum, Szene ,Handlung ausgegangen. Auf der Grundlage des dramatischen Textes wird zunächst die Bedeutung solcher Teilstrukturen konstituiert: beispielsweise werden der Charakter einer Figur und seine besondere Entwicklung im Verlauf des Dramas herausgearbeitet, wird die spezifische architektonische undrhythrnische Gliederung einer Szene nachgezeichnet und bestimmt oder die für einzelne Szenen bzw. das ganze Drama eigenartigen Raumvorstellungen vergegenwärtigt. Für die in diesem Prozeß konstituierten Bedeutungen derartiger Teilstrukturen werden nun mögliche theatralische Interpretanten gesucht. Auf diese Weise entstehen relativ selbständige Teiltexte, wie wir es im letzten Kapitel am Beispiel des Körpertextes einer Rollenfigur zu zeigen versucht haben. <?page no="44"?> 44 Für diese Teiltexte ist ein wichtiger Unterschied zu den entsprechenden Teilstrukturen des literarischen Textes charakteristisch_ Während die Bedeutungen im Drama stets nur in einem zeitlichen Nacheinander konstituiert werden, können sie in den Teiltexten der Aufführung bis zu einem gewissen Grad in der Simultaneität ihren Ausdruck finden. Sofern es den Körpertext einer Rollenfigur betrifft, muß berücksichtigt werden, daß sowohl die äußere Erscheinung des Schauspielers als auch seine Körperhaltung, seine Art sich zu bewegen sowie seine Stimmlage im Zuschauer bereits beim ersten Auftreten eine Fülle von Bedeutungen evozieren, die im literarischen Text erst im Verlauf mehrerer Szenen ermittelt werden können. Mit dem ersten Auftritt wird hier sozusagen die Grundstruktur des Körpertextes geliefert, auf deren Basis alle weiteren Informationen über die Rollenflgur gegeben und verarbeitet werden. Sofern der Teiltext einer Szene gemeint ist, der durch eine bestimmte räumliche Konzeption, einen mit Farben und Formen der Dekorationen, Kostüme und Beleuchtung hergestellten Eindruck, ein spezifisches choreographisches Arrangement der Figuren, eine musikalische Feinabstimmung ihres Tonfalls und anderes mehr aufgebaut und strukturiert sein mag, so gilt auch hier, daß mit Hilfe simultan eingesetzter theatralischer Zeichen zunächst eine Grundstruktur erstellt wird, auf deren Basis alle Veränderungen eingeführt und verstanden werden müssen. Weil dieser Modus der Transformation dergestalt zunächst Teiltexte konstituiert, stellt sich für ihn das Problem, auf welche Weise diese Teiltexte miteinander in Verbindung gebracht und aufeinander bezogen werden können. Denn der Sinn des Textes geht nicht aus einer einfachen Addition dieser Teiltexte hervor, sondern entsteht aufgrund einer Wechselwirkung zwischen den Bedeutungen der Teiltexte und den Bedeutungen der Relationen, in die sie aufgrund spezifischer Kombinationen zueinander treten. Die mit theatralischen Zeichen konstituierten Bedeutungen der Teiltexte müssen folglich sowohl in der Simultaneität (beispielsweise mehrerer Körpertexte oder von Körpertext und Raumtext) als auch in der zeitlichen Abfolge (beispielsweise mehrerer Raum- oder Handlungstexte) auf eine Weise miteinander verknüpft werden, daß zwischen ihnen Beziehungen sichtbar werden, welche auf die Struktur des gesamten Textes und dergestalt auf seinen Sinn verweisen. Solche Beziehungen können auf die unterschiedlichste Weise hergestellt werden. Eine Möglichkeit ist beispielsweise mit dem Ablauf der Dialoge gegeben. Denn sofern sie den ganzen theatralischen Text durchziehen, sind sie auch in der Lage und geeignet, Relationen zwischen den verschiedenen, von ihnen durchkreuzten Teiltexten herzu- <?page no="45"?> 45 stellen. In einem solchen Fall wird die Nahtstelle zwischen dem Modus der linearen und der strukturellen Transformation offenbar. Denn beide konstituieren hier in enger Verzahnung den gesamten theatralischen Text. Kommt den Dialogen dagegen im theatralischen Text nur eine sekundäre, deutlich untergeordnete Funktion zu, scheidet dieser Typus der Kombination weitgehend aus. An seiner Stelle ließen sich spezifische Gliederungsarten realisieren wie beispielsweise eine wiederholte oder charakteristisch variierte Verwendung einzelner Elemente, wie Gesten oder Bewegungen, Kostüme und Farben, Requisiten und Dekorationen u. a. mehr. Daneben ist selbstverständlich auch die Einführung übergeordneter Codes denkbar, die bereits der Konstitution der Teiltexte vorgegeben werden, so daß die Herstellung von Relationen zwischen den Teiltexten schon durch den Bezug auf einen allen in gleicher Weise zugrundeliegenden Hypercode gesichert ist. Die Zahl derartiger Kombinationsmöglichkeiten ist in jedem Fall beträchtlich. Während die lineare Transformation den theatralischen Text konstituiert, indem sie die Bedeutungen der einzelnen Sätze bzw. Repliken der Dialoge sukzessive in theatralische Zeichen übersetzt, die sie im Hinblick auf die von den Produzenten intendierte Bedeutung sorgfaltig aneinander anschließt, überträgt die strukturelle Transformation zu diesem Zweck sozusagen en bloc jeweils mehrere Strukturkomplexe, die sie in spezifischer Weise zueinander in Beziehung setzt. Es mag zunächst den Anschein haben,als wenn diese beiden Modi jeweils bevorzugt auf bestimmte Typen von Dramen anzuwenden wären, so z.B. die lineare Transformation bei Dramen der Klassik, die strukturelle dagegen bei romantischen, naturalistischen, symbolistischen Dramen. Nun kann zwar keineswegs bestritten werden, daß die Struktur dieser Dramen eine solche Transformation nahelegen mag. Aber der Rekurs auf einen bestimmten Transformationsmodus läßt sich in keinem Fall mit Notwendigkeit aus einem Dramentypus ableiten. Er resultiert vielmehr aus Bedingungen, die jenseits des literarischen Dramentextes gesucht werden müssen und meist mit dem auf der Ebene der Norm geltenden theatralischen Code in Verbindung stehen. 61 c) Im Gegensatz zur linearen und zur strukturellen Transformation geht die globale vom Sinn des dramatischen Textes und nicht von den Bedeutungen einzelner Elemente oder Teilstukturen aus. Ihn will sie mit der Auswahl und Realisierung bestimmter theatralischer Zeichen in der Aufführung konstituieren. Es wird also ein theatralischer Text geschaffen, der in seiner Gesamtheit imstande sein soll, als Interpretant für den Sinn des dramatischen Textes zu fungieren. <?page no="46"?> 46 Der Gesichtspunkt, unter dem die globale Transformation vollzogen wird, ist insofern umfassender als der die beiden anderen Modi bestimmende, als er sie durchaus im Sinne von Realisationsmöglichkeiten unter sich begreift. Denn als leitende Maxime gilt diesem Transformationsmodus stets die Frage, auf welche Weise der Sinn, den die an der Aufführung beteiligten Subjekte als Sinn des literarischen Textes meinen gefunden zu haben, sich im gegebenen Kommunikationszusammenhang d. h. im Hinblick auf die aktuelle Situation und vor allem das Publikum, das keineswegs immer nur der Wirklichkeit entrückt, verzaubert, erschüttert oder gar belehrt werden soll, sondern häufig auch schockiert und verletzt am angemessensten in theatralischen Zeichen konstituieren läßt. Dabei kann es sich nun durchaus als zweckmäßig erweisen, Satz für Satz die Dialoge zu transformieren oder fur Teilstrukturen Teiltexte als komplexe Interpretanten zu synthetisieren. Ebensogut ist aber auch der Fall denkbar, daß die produzierenden Subjekte der Meinung sind, dieser Sinn ließe sich in der Aufftihrung am treffendsten konstituieren, wenn man Teile des Dialogs oder auch andere Teilstrukturen verändert oder umstellt, ganz und gar wegläßt oder auch neue hinzuftigt. Der Sinn des literarischen Textes kann unter diesen Umständen im theatralischen Text auf eine Weise neu geschaffen werden, daß seine einzelnen Elemente und Teiltexte eventuell nur unter großen Schwierigkeiten - oder auch gar nicht zu einzelnen Elementen oder Teilstrukturen des literarischen Textes in Beziehung gesetzt werden können. Diese Vorgehensweise, die wir mit der Bezeichnung "globale Transformation" eindeutig als theatralische Transformation eines literarisch-dramatischen Textes qualifiziert haben, muß klar von einer anderen unterschieden werden, die zunächst ähnlich anmuten mag, jedoch mit einer Transformation eines dramatischen Textes in dem von uns hier gemeinten Sinne nicht das geringste gemein hat. Wenn beispielsweise Schauspieler oder Regisseure irgendeine Vorstellung oder Idee, einen Handlungsablauf oder ein Verhalten, eine Überzeugung oder einen Gedanken, kurz: eine Bedeutung, die nicht einem konkreten dramatischen Text, sondern anderen Text- oder Lebenszusammenhängen entstammt, in eine Aufftihrung umsetzen wollen, so können sie dazu selbstverständlich auch auf unterschiedliche dramatische Texte ebenso wie auf alle anderen Arten von Texten als Material zurückgreifen, aus dem sie sich einzelne Elemente als Versatzstücke herausnehmen, um sie im Zusammenhang der Aufftihrung in je spezifischen Funktionen beliebig zu montieren. In diesem Fall aber haben wir es nicht mit einer theatralischen Transformation des betreffenden dramatischen Textes in dem Sinne zu tun, daß die <?page no="47"?> 47 Aufführung als Interpretant des Dramas verstanden werden könnte. Es handelt sich vielmehr lediglich um einen ganz normalen Fall von Intertextualität, bei dem im Prozeß der Textkonstitution unterschiedliche Texte in unterschiedlichen Funktionen in den neu zu schaffenden Text Eingang finden. Selbstverständlich kann auch beim Vorgang einer globalen Transformation in dieser Weise auf andere dramatische Texte als den zu transformierenden zurückgegriffen werden. Diese Art der Intertextualität von unterschiedlichen dramatischen Texten in einer Aufführung stellt jedoch in diesem Fall nur eine Methode zur Transformation eines anderen dramatischen Textes dar: Beide Vorgänge müssen daher auch theoretisch klar voneinander abgegrenzt und streng voneinander geschieden werden. Diese drei Modi der Transformation, die lineare, strukturelle und globale, sind, das soll noch einmal abschließend betont werden, lediglich als idealtypische Modi zu begreifen, die in der hier beschriebenen Form wohl kaum je ausschließlich zur Anwendung kommen werden. Sie bezeichnen eher gewisse dominierende Tendenzen, die am Transformationsprozeß in je unterschiedlicher Weise hervortreten mögen. ad 3. Die Frage nach der Äquivalenz zwischen dem Ausgangstext und dem Zieltext, die man an jede Übersetzung wird stellen dürfen, erscheint, wenn man den vorstehenden Überlegungen zum Transformationsprozeß folgt, in bezug auf das Verhältnis zwischen dem literarischen Text des Dramas und dem theatralischen der Aufführung als außerordentlich schwierig und komplex. Denn die Kriterien, auf die sich ihre Beantwortung stützen könnte, lassen sich weder als präzise gefaßt noch auch gar als objektiv bezeichnen. Dieser in der Tat nur prekär zu nennende Sachverhalt ist auf verschiedene Gründe zurückzuführen. Einerseits steht er zweifellos in einer engen Beziehung zur Ausgangslage des Transformationsprozesses. Denn wenn der literarische Text, der in einen theatralischen transformiert werden soll, sowohl in seinem Sinn als auch in den Bedeutungen seiner einzelnen Elemente und Teilstrukturen auf unterschiedliche Weise verstanden werden kann,muß rur die Beurteilung der Aufführung hinsichtlich ihrer Äquivalenz zunächst sichergestellt sein, daß die von den Produzenten der Aufführung am literarischen Text konstituierten Bedeutungen erkannt und als legitim akzeptiert sind. Geht der Zuschauer dagegen vom Sinn des literarischen Textes aus, wie er ihn verstanden hat, und will ausschließlich diesen Sinn in der Aufführung in theatralischen Zeichen konstituiert finden, so ist der Beurteilung ihrer Äquivalenz in bezug auf den zugrundeliegenden literarischen Text jegliche Basis entzogen. Eine zweite Schwierigkeit entspringt andererseits dem Umstand, <?page no="48"?> 48 daß auch aus einer weitgehenden Übereinstimmung in der Interpretation des literarischen Textes, einem ähnlichen Verständnis des Dramas nicht unbedingt auch eine übereinstimmende Beurteilung hinsichtlich der Eignung der eingesetzten theatralischen Zeichen folgt, diese Deutung angemessen zum Ausdruck bringen zu können. Wenn wie in unserem Gegenwartstheater der Fall der Bezug auf einen gemeinsamen zugrundeliegenden theatralischen Code als Norm nicht mehr garantiert ist, aus dem sich entsprechende intersubjektiv gültige Wertungskriterien ableiten ließen, kann die Kluft zwischen dem auf der Bühne de facto Realisierten und dem vom Zuschauer apriori Erwarteten und Postulierten so groß werden, daß sich das Problem der Äquivalenz sinnvoll nicht mehr diskutieren läßt. Ein solches Mißverhältnis kann sowohl hinsichtlich des Modus der Transformation entstehen als auch im Hinblick auf die Auswahl einzelner theatralischer Zeichen oder einer Gruppe von theatralischen Zeichen. Setzt der Zuschauer beispielsweise die lineare Transformation als gültige Norm voraus und wird mit einer globalen konfrontiert, die mit Umstellungen und Veränderungen arbeitet, so wird er meist nicht in der Lage sein, sich von seinem Vorverständnis zu lösen und auf die Inszenierung einzulassen. Oder ist er der Auffassung, Dekorationen, Requisiten und Kostüme müßten deutlich auf die Epoche und Kultur verweisen, in der das Drama spielt, die Produzenten der Aufführung aber sind der Regel gefolgt, diese Elemente als Zeichen für die Charaktere der dramatis personae auszuarbeiten und zu realisieren, so wird auch in diesem Fall eine Verständigung über eine mögliche Äquivalenz kaum herbeizuftihren sein. Wenn wir Äquivalenz ohne Rücksicht auf derartige subjektive Bedingungen beschreiben und bestimmen wollen, werden wir sie daher nur ganz allgemein defmieren können: Äquivalenz ist dann gegeben, wenn die Aufführung sich als Interpretant für die mögliche(n) Bedeutung(en) des zugrundliegenden Dramas verstehen läßt. Auch eine derart allgemein gehaltene Definition der Äquivalenz enthebt uns nicht der Verpflichtung, der Frage nachzugehen, inwieweit eine solche Äquivalenz zwischen dem literarischen Text des Dramas und dem theatralischen Text der Aufführung überhaupt hergestellt werden kann. Denn die Eigenart der theatralischen Zeichen ist von derjenigen der sprachlichen Zeichen so verschieden, daß zumindest ein Zweifel erlaubt sein muß, ob sich die mit sprachlichen Zeichen konstituierten Bedeutungen tatsächlich äquivalent in theatralischen Zeichen werden konstituieren lassen. Während den sprachlichen Zeichen, auch den auf konkrete Gegenstände verweisenden, als symbolischen Zeichen, ein hohes Maß an <?page no="49"?> 49 Abstraktheit und Unbestimmtheit eignet sogar die genaueste Beschreibung eines Kostüms beispielsweise wird bei unterschiedlichen Subjekten eine bis zu einem gewissen Grad jeweils andere Vorstellung des gemeinten Objektes hervorrufen -, sind die theatralischen Zeichen, wie bereits Lessing bemerkt und betont hat, durch das Merkmal der Ikonizität charakterisiert. Diese ihre Ikonizität aber wird zusätzliche Bedeutungen in die Aufführung hineintragen, welche von den sprachlichen Zeichen des Dramas nicht abgedeckt sind, so daß im Verlauf des Transformationsprozesses eine spezifische Verschiebung eintritt. Dies zeigt sich bereits bei der Gegenüberstellung des Namens bzw. der Personenbezeichnung mit der für ihn im theatralischen Text als Interpretanten fungierenden Körperlichkeit des Schauspielers. Namen wie beispielsweise Ödipus, Hamlet oder Faust evozieren zwar sofort viele Kontexte ihrer Verwendung - Mythen, Erzählungen, Dramen, unterschiedliche Rezeptionen dieser Texte etc. sowie eine Fülle daraus resultierender Bedeutungen, sie geben jedoch als Namen keine Auskunft über die spezifische Physis ihrer Träger, über Gestalt, Gesicht, Stimme. Der Schauspieler dagegen tritt stets mit einer besonderen Stimme und Gestalt, einem bestimmten Gesicht auf, ganz gleich, ob nun mit seiner eigenen natürlichen Körperlichkeit oder in einer spezifischen Verstellung und Kostürnierung. Er ftillt die Unbestimmtheit des Namens, mit dem unendlich viele verschiedene Körper gemeint sein können, mit einer einzigen individuellen Physis aus, die in ihrer Konkretheit z.B. der Gestalt, eines Gesichtszuges oder des Stimmtimbres - Bedeutungen hervorruft, die der Name allein zu konstituieren ganz unfähig wäre. Die je spezifische Körperlichkeit des Schauspielers stellt dergestalt für den Zuschauer einen Komplex von Bedeutungen dar, welche der Leser dem sprachlichen Zeichen des Namens in vergleichbarer Weise unter keinen Umständen attribuieren kann. 62 Diese Opposition zwischen der relativen Unbestimmtheit der sprachlichen und einer weitgehenden Konkretheit der theatralischen Zeichen gilt für alle Objekte und Vorgänge, von denen im Haupt- oder Nebentext derart die Rede ist, daß sie als auf der Bühne anwesend bzw. ablaufend gedacht werden müssen. Wenn Claudias Ton in "Emilia Galotti" als "stutzig" beschrieben oder in "Kabale und Liebe" vom Kammerdiener gesagt wird, er würde die nachfolgenden Sätze "mit schrecklicher Stimme" oder "mit fürchterlichem Lachen" sprechen, so weisen diese Sätze jeweils auf einen Eindruck hin, der beim Zuschauer hervorgerufen werden soll, ohne jedoch auch nur eine konkrete Anweisung zu übermitteln, unter Verwendung welcher paralinguistischer Zeichen der Schau- <?page no="50"?> 50 spieler diesen Eindruck hervorzurufen hätte. Der Schauspieler nun wird die betreffenden Sätze jeweils auf eine ganz bestimmte Weise sprechen, der in der Regel sehr viel mehr Bedeutungen werden beigelegt werden können als lediglich die eine Bedeutung: "stutzig", "schrecklich" oder "fürchterlich". Ähnliches gilt für Anweisungen zur Mimik, Gestik und Bewegung: wenn es vom Prinzen in "Emilia Galotti" heißt, er ,Jächle" , oder von Appiani, er blicke "mit niedergeschlagener Miene", von Don Carlos, "er gehe langsam und still weg", oder von Karl Moor, "er laufe wütend auf und nieder", so werden diese Sätze jeweils in theatralische Zeichen übertragen werden müssen, die sich als ein ganz bestimmtes Lächeln, in einem bestimmten Ausdruck von Niedergeschlagenheit etc. und darüber hinaus stets in einem spezifischen Gesicht, einem individuellen Körper realisieren. Den konkreten theatralischen Zeichen werden sich daher auch in jedem Fall noch viele andere zusätzliche Bedeutungen attribuieren lassen als den entsprechenden sprachlichen Zeichen. Diese Unbestimmtheit ist in gleicher Weise für jene sprachlichen Zeichen charakteristisch, die sich auf Kostüme, Requisiten, Dekoration oder Musik beziehen. So bringt Luise einfach "das Glas auf einem Teller", ohne daß eine Aussage über das konkrete Aussehen von Glas und Teller gemacht wird, erscheint Grillparzers Sappho "köstlich gekleidet", ohne daß ausgeführt würde, welche wie beschaffenen Kleidungsstücke sie im einzelnen trägt. Wenn in "Dantons Tod" die Dekorationen als "ein Zimmer", "Straße vor Dantons Haus", "ein Kerker" bezeichnet werden, so können diesen sprachlichen Zeichen beliebig viele konkrete Räume entsprechen, und sei's auch der vollkommen leere Bühnenraum. Nun wird man einwenden können, daß diese "Leerstellen"63 vom Leser mühelos durch die Kenntnis des geltenden theatralischen Codes auszuftillen waren, so daß diese Unbestimmtheit nur für spätere als die zeitgenössischen Leser zutreffen würde. Denn wenn man die entsprechenden Kostüm- und Raumvorstellungen des Theaters kennt, wird man auch imstande sein, die vagen sprachlichen Angaben mit relativ übereinstimmenden Vorstellungen zu komplettieren. Darüber hinaus ist zu bedenken, daß z.B. das naturalistische Drama durchaus genaue Angaben über Kleidung, Requisiten und Dekorationen liefert, so daß aus diesen Angaben detaillierte, weitgehend übereinstimmende Vorstellungen abzuleiten sind. Diese Einwände sind natürlich in bezug auf heutige Inszenierungen nicht stichhaltig, weil diese weder auf einen gültigen theatralischen Code zurückgreifen können noch auch gezwungen sind, detaillierte, auf einen theatralischen Code vergangener Zeiten bezogene <?page no="51"?> 51 Angaben zu befolgen. Darüber hinaus ist ihnen jedoch auch prinzipiell zu begegnen. Vorstellungen werden immer differieren und in vielen Aspekten ungenau bleiben. Ein spezifisches Kostüm jedoch, ein besonderer Gegenstand, eine bestimmte Dekoration werden in dieser ihrer Konkretheit wenn auch keineswegs immer auf dieselbe Weise wahrgenommen und lassen sich daher auch mit Bedeutungen belegen, die den entsprechenden Sätzen des literarischen Textes keineswegs zukommen müssen. Dies gilt in verstärktem Maße für den Einsatz von Musik. Wenn beispielsweise der Herzog in "Was ihr wollt" den Musikanten befiehlt, weiterzuspielen, weil "Musik der Liebe Nahrung ist", so wird auf der Bühne eine ganz bestimmte Musik ertönen eine Musik, die Bedeutungen hervorzurufen vennag, die weit über jene vom Herzog angesprochene Bedeutung hinausgehen. Sie schafft, mehr noch als Kostüme, Requisiten und der jeweilige Bühnenraum, jeweils ihre eigenen Bedeutungen. 64 Da die theatralischen Zeichen sich in ihrer Ikonizität grundlegend von den sprachlichen Zeichen unterscheiden, werden also auch die im Transfonnationsprozeß konstituierten Bedeutungen von den in der Interpretation des literarischen Textes konstituierten zum Teil sogar erheblich abweichen. Insofern nun im Transfonnationsprozeß Bedeutungen und nicht "Bezeichnungen" übertragen werden,65 stellt die Unbestimmtheit vor allem auch ungenau gehaltener Angaben geradezu eine Erleichterung dar, wenn es um die Transfonnation von Dramen vergangener Zeiten geht. Denn eben weil es von Sappho lediglich heißt, sie sei "köstlich gekleidet", oder von Karl Moor, "er laufe wütend auf und nieder", eben weil die Orte nur als "Straße" oder "zimmer" bezeichnet sind, lassen sich diese Aussagen auch innerhalb jeder theatralischen Konvention mühelos transfonnieren: die sprachlichen Zeichen geben nur einen Eindruck wieder, der von der Aufführung durch die Verwendung jeweils anderer theatralischer Zeichen hervorgerufen werden kann. Beschränken sich die sprachlichen Zeichen jedoch nicht nur auf die Wiedergabe eines Eindrucks, sondern machen wie im naturalistischen Drama beispielsweise detaillierte Angaben, die theatralischen Zeichen betreffend, durch deren Verwendung dieser Eindruck hervorgerufen werden soll, sind die Produzenten der Aufflihrung in keiner Weise gehalten, die konkreten theatralischen Zeichen gemäß diesen Angaben zu realisieren. Wenn sie zu der überzeugung kommen, daß die Befolgung der Angaben nicht zum gewünschten Eindruck fUhren wird, müssen sie genau wie in jedem anderen Fall auch hier die entsprechenden theatralischen Zeichen, die dann konkret realisiert werden sollen, selbst erst auswählen. Denn die detail- <?page no="52"?> 52 lierten Angaben werden in der Regel auf den in der Entstehungszeit des Dramas gültigen theatralischen Code bezogen sein. Wird beispielsweise von Karl Moor gesagt, er "renne wider die Wand" oder "zerreiße sein Kleid von oben bis unten", so zielen diese Sätze auf theatralische Zeichen, welche dem "Sturm und Drang" als angemessener Ausdruck für die Gefühle der Wut oder der Verzweiflung erschienen sein mögen. Sollte ein heutiger Schauspieler jedoch auf die Idee verfallen, den Sätzen entsprechende Handlungen durchzuführen, würden diese Handlungen wohl kaum als angemessener Ausdruck für die genannten Gefühle verstanden werden, sondern eher den Eindruck eines unechten Gefühls hervorrufen und so die Szene eventuell als lächerlich denunzieren. 66 Meinen Schauspieler und Regisseur, daß an dieser Stelle tatsächlich die Bedeutung "Wut" oder "Verzweiflung" konstituiert werden sollte, werden sie gewiß auf andere theatralische Zeichen zurückgreifen. Eine derartige Aufspaltung von "Bezeichnung" und "Bedeutung" wird häufig durch den historischen Abstand bewirkt: die "Bezeichnung" hat in der jeweiligen theatralischen Konvention ihren Grund, die "Bedeutung" dagegen in der Charakteristik der Figur oder der Logik der Handlungsabfolge. Die "Bezeichnung" also die detaillierte Angabe ist daher häufig als ein historisch bedingter Vorschlag zur theatralischen Konstitution der jeweiligen "Bedeutung" zu verstehen. Der Transformationsprozeß sollte sich folglich auch nicht nach den "Bezeichnungen" richten, sondern von den "Bedeutungen" seinen Ausgang nehmen. Wird diese Voraussetzung akzeptiert und beachtet, erscheinen selbstverständlich auch solche Aussagen transformierbar, die nicht zu übertragen sind, wenn sie als direkte Anweisung zur Hervorbringung bestimmter theatralischer Zeichen aufgefaßt werden. So wird beispielsweise in vielen Dramen die Reaktion einer Person mit den Worten "entfärbt sich" (Lady Milford), "erbleicht" (Frau John) o.ä. beschrieben. 67 Wie bereits Descartes betont hat, sind jedoch Erblassen und Erröten zu jenen physiologischen Vorgängen zu rechnen, die nicht willentlich vom Subjekt ausgelöst werden können. Sie sind folglich auch nicht als theatralische Zeichen frei verfügbar. Werden nun auf sie bezogene Sätze als Anweisungen begriffen, die strikt befolgt werden müssen, erscheinen derartige Sätze selbstverständlich als nicht transformierbar. Werden sie dagegen als literarischer Ausdruck für bestimmte psychische Vorgänge wie "Erschrecken", "Schwachwerden", "Sich-Entsetzen" verstanden, lassen sie sich ohne Schwierigkeit in theatralische Zeichen übersetzen, die als Interpretanten für derartige Bedeutungen zu fungieren durchaus geeignet sind. <?page no="53"?> 53 Die in allen derartigen Fällen gewählten und realisierten theatralischen Zeichen werden sich nun keineswegs darin erschöpfen, lediglich auf die am literarischen Text konstituierten Bedeutungen zu verweisen, sondern vielmehr aufgrund ihrer Ikonizität ihrerseits weitere, zusätzliche Bedeutungen in den theatralischen Text hineintragen. Durch diesen Vorgang tritt allm: ä1i1ich eine Bedeutungsverschiebung in bezug auf den literarischen Text und die anfangs an ihm konstituierten Bedeutungen ein. Denn auch die-·zusätzlichen Bedeutungen gehen bestimmte Relationen sowohl untereinander als auch zu den aus dem literarischen Text gewonnenen Bedeutungen ein, so daß im Verlauf des Transformationsprozesses ein ganz neues, in dieser Struktur einzigartiges Bedeutungsgeftige entsteht, das nun keineswegs nur ausschließlich aufgrund seiner Beziehung zu dem zugrundeliegenden literarischen Text des Dramas beurteilt werden kann. Es handelt sich vielmehr um ein eigenständiges Kunstwerk, das ebensowenig als bloße Übersetzung eines Dramas angemessen zu begreifen ist wie umgekehrt das Drama lediglich als Vorlage für eine Aufführung im Sinne einer Partitur. Sowohl das Drama als auch die Aufführung stellen jeweils ein Werk sui generis dar, das wohl durch vielfaltige Beziehungen an das je andere geknüpft sein mag, in seiner jeweiligen Eigenart und Besonderheit jedoch allein aus dieser Relation heraus kaum adäquat verstanden werden kann. 68 Es läßt sich daher in der Tat bezweifeIß, ob diese Relation mit dem Terminus der Äquivalenz zutreffend erfaßt und gekennzeichnet ist. Erklärt man sich allerdings bereit, die oben gegebene ganz allgemeine Defmition der Äquivalenz eines theatralischen mit einem dramatischen Text zu akzeptieren, braucht man derartigen Vorbehalten und Einwänden nicht weiter nachzugehen. Da nämlich nach dieser Defmition Äquivalenz vorliegen soll, wenn die Aufflihrung sich als Interpretant für die potentielle(n) Bedeutung(en) eines Dramas verstehen läßt, impliziert dies die Möglichkeit, die Aufführung als einen selbständigen Text und zugleich als Transformation eines dramatischen Textes zu begreifen. Denn dem Interpretanten kommt, da er bereits vor seiner Bestimmung durch jenes andere Zeichen, für das er als Interpretant fungiert, als Zeichen defmiert ist, auch darm eine Zeichenfunktion zu, wenn er nicht auf dieses andere Zeichen bezogen wird. Äquivalenz zwischen dem literarischen Text des Dramas und dem theatralischen der Aufführung braucht unter diesen Umständen auch nicht als völlige Sinnbzw. Bedeutungsgleichheit zwischen beiden bestimmt und begriffen zu werden. Der Terminus Äquivalenz, wie wir ihn hier verwenden und verstanden wissen möchten, meint vielmehr lediglich, daß beide Texte sich im Hinblick auf einen gemeinsamen Sinn interpretieren lassen. <?page no="54"?> 54 Der Begriff der Werktreue dagegen erscheint auch und gerade unter Berücksichtigung dieses Sachverhalts wenig brauchbar. Denn er suggeriert die Möglichkeit, auf das literarische Werk wie auf einen Fixpunkt Bezug nehmen zu können, so daß bei der Transformation nicht von unterschiedlichen ästhetischen Objekten auszugehen wäre, sondern von einer festen, für alle gleichen Bedeutung. Dieser "richtigen" Bedeutung des literarischen Werkes müßte dann die eine "richtige" Umsetzung in eine Aufftihrung entsprechen. Eine solche Annahme kann jedoch nach unseren bisherigen überlegungen nur als absurd zurückgewiesen werden. Während also durchaus theoretisch sich die Möglichkeit postulieren läßt, im Prozeß der Transformation eines dramatischen in einen theatralischen Text eine Äquivalenz im oben beschriebenen Sinne herzustellen, folgt daraus noch keineswegs, daß auch intersubjektiv gültige, allgemein akzeptierte und in dieser Hinsicht objektive Kriterien zu fmden und zu formulieren sein müßten, auf Grund derer eine solche Äquivalenz festgestellt werden könnte. Eine derartige Einschätzung wird vielmehr als Werturteil immer subjektiven Bedingungen unterworfen sein und daher auch kaum allgemeine Anerkennung erwarten oder gar verlangen dürfen. Denn Äquivalenz, so wie wir sie defmiert haben, kann immer nur als Äquivalenz für ein Subjekt dargelegt und von eben diesem Subjekt realisiert, eingesehen, erläutert und verstanden werden, weil sie eine hermeneutische Kategorie par excellence darstellt. 1.4 Hermeneutik des theatralischen Textes Produktion und Rezeption eines theatralischen Textes verhalten sich in gewisser Weise reziprok zueinander: 69 während die Produktion als Prozeß einer Sinnkonstitution verläuft, in dem die an ihm beteiligten Subjekte unter bestimmten Bedingungen Zeichen und Zeichenkombinationen auswählen, ausarbeiten und in einem Vorgang realisieren, welcher den je spezifischen individuellen theatralischen Text konstituiert, erscheint die Rezeption als Prozeß einer Sinnkonstitution, in dessen Verlauf die ihn vollziehenden Subjekte diesen Zeichen und Zeichenkombinationen nun ihrerseits unter bestimmten Bedingungen eine Bedeutung beilegen und so dem Text einen spezifischen Sinn zusprechen. Wird Rezeption auf diese Weise beschrieben und begriffen, stellt sie sich als ein komplexer Vorgang dar, der in dreierlei Hinsicht untersucht werden karm: 1. als Reflexion auf die Bedingungen sowohl der Bedeutungsattribu- <?page no="55"?> 55 tion, sofern einzelne Elemente bzw. Teiltexte betroffen sind, als auch der Sinnzuschreibung, insofern die Überlegungen auf den gesamten Text gerichtet sind: d.h. als Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit, einen theatralischen Text zu verstehen; 2. als Entwicklung spezifischer Verfahren der Bedeutungsattribution und Sinnzuschreibung: d.h. als Ausarbeitung von Methoden, die zum Verstehen eines theatralischen Textes fUhren sollen; 3. als Analyse und Interpretation eines konkreten theatralischen Textes, die unter den in 1) dargelegten Bedingungen und unter den in 2) ausgearbeiteten Verfahren mit dem Ziel vorgenommen werden, sowohl den einzelnen Elementen bzw. Teilstrukturen eine Bedeutung als auch dem gesamten Text einen Sinn zuzusprechen: d.h. mit dem Ziel, diesen individuellen theatralischen Text zu verstehen. Rezeption eines theatralischen Textes als Prozeß einer Sinnkonstitution (3) setzt also sowohl eine Thoerie des Verstehens (1) als auch spezifische Methoden des Verstehens (2) voraus. Mit dieser Feststellung finden wir uns an die Hermeneutik verwiesen, die in ihrer jahrtausendelangen Geschichte sich einerseits als Entwicklung von Verfahren der Textauslegung, 70 andererseits als Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens realisiert hat. 71 Während sie bis weit ins 19. Jahrhundert überwiegend als "Kunstlehre der Auslegung" begriffen und betrieben wurde d.h. als ein jeweils neu zu erstellendes System von Regeln, das auf die auszulegenden Schriften anzuwenden ist -, hat sie sich in unserem Jahrhundert zu einer Grundlagenwissenschaft, einer wissenschaftstheoretischen Disziplin gewandelt, deren Aufgabe es nun gerade "nicht ist, ein Verfahren des Verstehens zu entwickeln, sondern die Bedingungen aufzuklären, unter denen Verstehen geschieht". 72 Auch wenn also die Hermeneutik einst "nur" ein Kanon von Regeln war, während sie heute eine Theorie des Verstehens ist, folgt daraus noch keineswegs, daß der Anwendung von Regeln früher nicht auch implizit ein bestimmter Verstehensbegriff zugrunde gelegen hätte, noch auch, daß eine heutige Hermeneutik sich umstandslos dem mühseligen Geschäft entziehen dürfte, derartige Regeln neu zu formulieren. 73 Es ist das Verdienst Peter Szondis, mit allem Nachdruck auf die Notwendigkeit hingewiesen zu haben, sich dieser Aufgabe anzunehmen, deren Ausführung er bereits in einigen wesentlichen Punkten in der Hermeneutik Schleiermachers angelegt und präformiert sah. 74 Diesem Hinweis ist u.a. Manfred Frank nachgegangen und hat den Versuch gewagt, unter Rekurs auf Schleiermachers Hermeneutik die von Heidegger und Gadamer entworfene Theorie des Verstehens mit der Theorie der strukturalen Textanalyse <?page no="56"?> 56 zu vennitteln. 75 Hinter den in dieser Arbeit erreichten Stand hermeneutischer Theoriebildung darf auch eine Henneneutik des theatralischen Textes heute nicht mehr zuriickfallen. Da im Rahmen dieser Arbeit eine detaillierte Auseinandersetzung mit Gadamers Theorie des Verstehens nicht möglich noch auch angebracht ist, verweise ich diesbezüglich auf die von mir andernorts angestellten überlegungen. 76 Sie sollen hier nur insofern aufgegriffen und gegebenenfalls präzisiert werden, als ihre Anwendung auf das Genus der theatralischen Texte dies erforderlich erscheinen läßt. Auszugehen ist auch in diesem Fall von Gadamers grundlegender Einsicht in die geschichtliche Bedingtheit eines jeden Verstehensprozesses: der geschichtlich und lebensgeschichtlieh bedingte Standort des Interpreten, hinter den unter keinen Umständen und auf keine Weise zuriickgegangen werden kann, bestimmt prinzipiell den Prozeß der Interpretation, und zwar sowohl was die spezifische Fragestellung als auch was die in ihm konstituierten Bedeutungen betrifft. Als besonders fruchtbar hat sich in diesem Zusammenhang die von Gadamer in die henneneutische Theorie eingeführte Kategorie des "Vorurteils" erwiesen. Gadamer geht von der überlegung aus, daß "die Vorurteile des einzelnen weit mehr als seine Urteile die geschichtliche Wirklichkeit seines Seins"77 ausmachen. 78 Denn "lange bevor wir uns in der Rückbesinnung selber verstehen, verstehen wir uns auf selbstverständliche Weise in Familie, Gesellschaft und Staat, in denen wir leben".79 Diese Vorurteile, die von der jeweiligen überlieferung, zu der ein Subjekt gehört,80 - und seinen je spezifischen lebenserfahrungen abhängen und bestimmt sind, bedingen den Prozeß des Verstehens, der an einem Text vollzogen wird, in der Weise, daß ein jeweils anderer, je eigener Sinn in ihm konstituiert wird. Die Summe der "Vorurteile" ergibt das jeweilige Vorverständnis, mit dem der Rezipient an einen Text herantritt ein Vorverständnis, von dem zwar nicht abstrahiert, das jedoch vom Rezipienten seinerseits eigens reflektiert werden kann. Von allen generell möglichen, flir jeden Verstehensprozeß relevanten "Vorurteilen" interessieren uns in diesem Zusammenhang nun vor allem jene, die speziell auf theatralische Texte bezogen sind. Unter ihnen kommt ein besonderes Gewicht dem Verständnis des zugrundeliegenden Dramas zu. Denn die Bedeutungen, welche der Rezipient seinen Elementen und Teilstrukturen beigelegt, der Sinn, den er ihm zugeschrieben hat, werden wesentlich die Erwartungshaltung bestimmen und präfonnieren, mit welcher er der entsprechenden Aufführung gegenübertritt. Diese seine am literarischen Text des Dramas entwickelten Erwartungen können relativ allge- <?page no="57"?> 57 mein bleiben oder auch im Gegenteil sehr konkret werden: sie mögen einerseits den allgemeinen Sinn des Dramas betreffen oder auch eine allgemeine Raumvorstellung und Rollenauffassung, andererseits einzelne Charakterzüge einer Person, eine ganz spezifische Stimmung in einem Raum oder sogar ganz konkrete Details wie Dekorationselemente, Requisiten, Kostüme ja vielleicht sogar Gesicht und Gestalt einer dramatischen Figur. Wie auch immer diese Erwartungen im einzelnen beschaffen sein mögen, werden sie in ihrer Gesamtheit ein spezifisches Vorverständnis darstellen und schaffen, auf dessen Hintergrund oder auch Fundamentum der auf die Aufführung gerichtete Verstehensprozeß begonnen und vollzogen wird. Da das Drama als ein ästhetischer Text unterschiedliche Möglichkeiten für Bedeutungs- und Sinnkonstitution nicht nur zuläßt, sondern direkt eröffnet und nahelegt, kann nun sehr leicht der Fall eintreten, daß Produzenten und Rezipienten von einem jeweils unterschiedlichen Verständnis des betreffenden dramatischen Textes ausgehen. Damit aber entsteht für den die Aufführung intendierenden Verstehensprozeß ein spezifisches Problem, auf das wir bereits im Zusammenhang mit der Frage nach der Äquivalenz kurz hingewiesen haben: wie ist ein Verstehen der Aufführung möglich, wenn der Rezipient von einem grundlegend anderen Vorverständnis des dramatischen Textes ausgeht als die Produzenten? Denn da der Rezipient von seinem eigenen Vorverständnis nicht in der Weise absehen kann, als habe er überhaupt keines und ginge in diesem Sinne "vorurteilsfrei" an die Aufführung heran, wird dieses sein Vorverständnis es ihm vielleicht gar nicht gestatten, sich auf die Aufführung so einzulassen, daß er instand gesetzt wird, ihr einen Sinn zuzuschreiben, wenn dieser Sinn von demjenigen, den er am entsprechenden literarischen Text konstituiert hat, prinzipiell verschieden ist. Diesem Einwand ist ganz grundsätzlich zu begegnen. Denn wohl stellt das jeweils eigene Vorverständnis den Ausgangspunkt für einen jeden Verstehensprozeß dar, jedoch nicht in der Weise, daß es ihn einseitig determinieren würde. Die vom eigenen Vorverständnis bedingten Bedeutungen werden vielmehr nur probeweise eingesetzt und müssen, wenn sie sich im weiteren Verlauf des Verstehensprozesses nicht als geeignet erweisen, korrigiert und durch andere ersetzt werden. s1 Die an der Aufführung vollzogenen Prozesse der Bedeutungskonstitution sind also durchaus auch in der Lage, das sie anfangs bestimmende Vorverständnis nun ihrerseits zu modifizieren und auf diese Weise z.B. zu einem neuen Verständnis des zugrundeliegenden Dramas zu führen. Auf diese Eigenart eines jeden Verstehensprozesses ist auch im Hinblick auf die Rezeption einer Aufführung mit allem Nachdruck <?page no="58"?> 58 hinzuweisen. Denn sie vennag jedes diesen Prozeß bedingende "Vorurteil" in der Weise zu betreffen, daß es aufgrund des besonderen Verlaufs dieses Prozesses selbst einer Veränderung unterzogen wird. Wenn, wie Gadamer betont, die Vorurteile des einzelnen Summe und Resultat seiner je spezifischen geschichtlich und lebensgeschichtlich bedingten Erfahrungen sind, wird auch die Aufführung als eine ganz besondere Möglichkeit, neue Erfahrungen zu machen, auf diese ,; Vorurteile" einwirken und sie in welcher Weise auch immer verändern können. 82 Die "Vorurteile" stellen also wohl eine Bedingung des Verstehens dar, nicht aber seine Detennination. Ähnlich wie die am literarischen Text des Dramas entwickelten Vorstellungen vennögen auch die an früheren Aufführungen desselben Stückes konstituierten Bedeutungen den aktuellen Verstehensprozeß zu präfonnieren. Dies gilt vor allem dann, wenn eine solche Aufführung in besonderer Weise als gültig und überzeugend aufgefaßt und bewertet wurde. Dieses Urteil mag den Sinn der Aufführung ganz allgemein betreffen oder sich auch sehr viel spezifischer beispielsweise auf eine bestimmte Besetzung und die von diesem Schauspieler vertretene und dargestellte Rollenauffassung beziehen; es wird in jedem Fall die Rezeption der aktuellen Aufführung wesentlich bedingen. Sowohl die am literarischen Text des Dramas als auch die an vorhergehenden Aufführungen dieses Dramas entworfenen und gewonnenen Vorstellungen, Einsichten und Erwartungen richten sich auf bestimmte Bedeutungen bzw. den Sinn der vorliegenden aktuellen Aufführung eben desselben Dramas. Neben derartigen Erwartungen müssen als Bedingungsfaktoren für den Rezeptionsprozeß selbstverständlich auch solche berücksichtigt werden, welche den theatralischen Code als Nonn im weitesten Sinn betreffen. Zu diesen Erwartungen sind in erster Linie alle jene zu rechnen, die sich auf die Prinzipien und die Art der Zeichenauswahl und -kombination sowie auf den Modus der Transfonnation beziehen. Nun befmden wir uns, was theatralische oder allgemeiner: ästhetische Nonnen angeht, heute, wie bereits verschiedentlich betont, in einer besonderen Lage. Denn während in früheren Epochen auch im europäischen Theater eine Aufführung stets im Hinblick auf eine bestimmte, generell vorausgesetzte Nonn rezipiert wurde, deren Erfullung als selbstverständlich galt, so daß von ihr wesentlich abzuweichen, als Ausdruck eines besonderen Stilwillens bzw. als Zeichen für den Beginn einer neuen Ära zu interpretieren war,83 können wir heute auf entsprechende allgemein akzeptierte Nonnen nicht zurückgreifen. Daraus folgt nun allerdings keineswegs, daß die früher von der geltenden Nonn eingenommene Stelle im System der das Ver- <?page no="59"?> 59 stehen einer Aufführung bedingenden "Vorurteile" heute leerbleiben müßte. Sie wird vielmehr von den Erwartungen besetzt, die sich bei jedem einzelnen auf der Grundlage seiner spezifischen Theatererfahrungen herausgebildet haben, mögen dies nun Erfahrungen sein, die sich auf die Kenntnis unterschiedlicher theatralischer Formen und Stile beispielsweise vom naturalistischen Theater bis zu den verschiedensten Erscheinungsformen des Avantgarde-Theaters stützen, oder auch Erfahrungen, die sich lediglich auf eine flüchtige Bekanntschaft mit dem gegenwärtigen lokalen Theater beschränken. Die Summe der individuellen Erfahrungen ist hier an die Stelle einer allgemein verbindlichen, lern- und tradierbaren Norm getreten. Mit Hilfe dieser Erfahrungen lassen sich nun allerdings durchaus für unterschiedliche Theaterformen sozusagen rudimentäre Normensysteme rekonstruieren, die auf neue Aufführungen anwendbar wären und so ihr Verstehen erleichtern könnten. Denn die Wahl einer bestimmten theatralischen Form muß unter der Bedingung, daß keine theatralische Form kanonisiert und als Norm vorausgesetzt ist, ihrerseits stets als bedeutungstragendes Element begriffen werden, das zur Interpretation herausfordert. Neben diesen allgemeineren "Vorurteilen" werden auch sehr viel speziellere wie beispielsweise das Wissen um lokal bedingte Vorlieben und Eigenheiten die Erwartungen beeinflussen. Unter diese Art von Vorverständnis wäre auch die Kenntnis anderer Inszenierungen desselben Regisseurs oder anderer Arbeiten desselben Bühnenbildners zu subsumieren ebenso wie ein auf die Kenntnis unterschiedlicher RollendarsteIlungen eines Schauspielers aufbauendes Wissen um das Ausmaß und die Grenzen seiner individuellen Möglichkeiten. Die den theatralischen Code als Norm im weitesten Sinne betreffenden Erwartungen können sich also sowohl auf ganz allgemeine Aspekte richten wie auf Realismus oder eine wie auch immer geartete Stilisierung der Inszenierung, auf die Dominanz der Geste vor dem Wort, auf eine der Chronologie des Dramas folgende oder sie außer acht lassende Vorgehensweise u.am. als auch auf ganz bestimmte Details der Aufführung wie die Manier des Schauspielers A, sich bei der Darstellung von Verzweiflung zusammenzukrümmen, oder die Eigenart des Regisseurs B, in Dekoration und Kostüm jeweils zwei Epochen einander zu konfrontieren, oder auf einen speZifischen Einsatz der Beleuchtung u.am. Alle diese Erwartungen sind Teil jenes historisch und lebensgeschichtlich bedingten Systems von "Vorurteilen", welches jedem Verstehensprozeß - und in diesem Fall jedem auf eine besondere aktuelle Aufführung gerichteten Verstehensprozeß zugrundeliegt und seinen Verlauf wesentlich bestimmt. Von diesen Vorurteilen <?page no="60"?> 60 kann nicht in der Form abgesehen werden, als gäbe es sie nicht; es ist lediglich möglich, auf sie zu reflektieren und sie daher auch im Prozeß des Verstehens gegebenenfalls zu verändern. Aus der Prämisse der geschichtlichen Bedingtheit des Verstehens ergibt sich für Gadamer nun nicht nur die Notwendigkeit, die eigenen Vorurteile zu reflektieren, sondern auch diejenige einer Reflexion auf den historischen Abstand zwischen der Epoche des Rezipienten und der Entstehungszeit des Textes, der verstanden werden soll. Diese zweite fiir eine heutige Hermeneutik unverzichtbare und konstitutive Voraussetzung bedarf nun ganz offensichtich einer ModiflZierung, wenn es um die Rezeption theatralischer Texte geht. Denn der besondere ontologische Status der Aufführung, ihre absolute Gegenwärtigkeit, läßt einen historischen Abstand im Sinne Gadamers zwischen Rezipient und Produzent überhaupt nicht zu. Wohl muß in besonderen Fällen ein kultureller Abstand berücksichtig werden wie beispielsweise bei Gastspielen fernöstlicher Theater bei uns oder umgekehrt; 84 eine solche Distanz entfallt aber selbstverständlich bei allen Aufführungen einer Theaterform in ihrem eigenen Kulturkreis. Wir haben also die zweite hermeneutische Prämisse, die Reflexion auf den historischen Abstand, hinsichtlich des Verstehens theatralischer Texte in ihr Gegenteil zu verkehren: in die Reflexion auf ihre absolute Gegenwärtigkeit. Diese absolute Gegenwärtigkeit stellt insofern eine wesentliche Bedingtheit des Verstehensprozesses dar, als aus ihr folgt, daß der Rezipient in der Aufführung weder vor- und zurückgehen, noch sich in besondere Details vertiefen, noch auch sich über den Kontext der Aufführung hinaus zusätzliches Material beschaffen kann, auf das er den Verlauf der Aufführung unterbrechend zum besseren Verstehen zurückzugreifen vermöchte. 85 Da Realisation der Zeichen und Zeichenkombinationen durch den Schauspieler und ihre Interpretation durch die Zuschauer nahezu gleichzeitig ablaufen, müssen auch Möglichkeiten für die Zuschauer gegeben sein, diesen Zeichen und Zeichenkombinationen ad hoc eine Bedeutung zuzusprechen. Eine derartige Möglichkeit stellt natürlich die generelle Voraussetzung dar, daß Produzenten und Rezipienten Mitglieder derselben Kultur, Zeitgenossen einer Epoche sind, auch wenn sie unterschiedlichen Generationen oder verschiedenen sozialen Schichten zugehören mögen. Ihr geschichtlich bedingter Standort wird folglich auch dann große Übereinstimmung aufweisen, wenn ihre lebensgeschichtlich bedingten Standorte weit auseinander liegen mögen. Ein Minimum an gemeinsamen Voraussetzungen ist damit garantiert. über dieses Minimum hinaus hat das Theater jedoch im Laufe seiner Ge- <?page no="61"?> 61 schichte ein Verstehen seiner Produkte durch zusätzliche spezifische Verfahren zu sichern gesucht. Zwei solcher Verfahren habe ich im Kapitel über "Theatralische Kommunikation" im ersten Teil der Arbeit bereits vorgestellt: 1. die Herstellung eines für Theatermacher wie Zuschauer verbindlichen theatralischen Codes wie beispielsweise im Barocktheater 86 - und 2. die Beschränkung auf ein homogenes Publikum, das in seinen Anschauungen, Vorstellungen, Lebensweisen, Kenntnissen, Werthaltungen, kurz: in seinen Bedeutungssystemen so weitgehend übereinstimmt, daß eine Bezugnahme des theatralischen Textes auf dieses allen Zuschauern gemeinsame Bedeutungssystem sein Verstehen ermöglicht wie beispielsweise im bürgerlichen IDusions- 87 oder auch im Wiener Volkstheater. Es handelt sich also jeweils um unterschiedliche Verfahren einer externen Umkodierung: während im ersten Fall die Aufführung verstanden werden kann, weil ihre Zeichen und Zeichenkombinationen sich auf der Grundlage eines rur alle Zeitgenossen gültigen Codes im Sinne einer Norm interpretieren lassen, wird dies im zweiten Fall durch die Beziehung der Zeichen und Zeichenkombinationen auf allen Zuschauern in vergleichbarer Weise zugängliche außertheatralische kulturelle Codes ermöglicht, die einerseits den primären kulturellen Systemen, andererseits unterschiedlichen sekundären Systemen zugrundeliegen mögen. 88 Wenn von einem verbindlichen theatralischen Code nicht mehr ausgegangen noch auch die Homogenität des Publikums in einem Maße vorausgesetzt werden kann, daß ein übereinstimmender Bezug auf die entsprechenden primären und sekundären kulturellen Systeme prinzipiell gesichert erscheint, kommt der Struktur des jeweiligen theatralischen Textes und damit den speziellen in ihm realisierten Verfahren der internen Umkodierung eine besondere Relevanz zu. Denn das Verstehen der Aufführung kann in diesem Fall nur unter der Voraussetzung gewährleistet sein, daß einerseits die Bedeutungen ihrer Elemente und Teilstrukturen auf den syntagmatischen Ebenen zu konstituieren sind und sich andererseits der Struktur der Aufführung Hinweise entnehmen lassen, auf welche der gegenwärtig möglichen externen Strukturketten ein Element bezogen werden kann, um eine Bedeutung zu erhalten - oder auch Hinweise darauf, daß der Rezipient es assoziativ auf jede beliebige textexterne Strukturkette beziehen mag. 89 Die absolute Gegenwärtigkeit des theatralischen Textes stellt also in zweifacher Hinsicht eine wesentliche Bedingtheit für das Verstehen dar. Während sie einerseits durch die kompromißlose Bindung an den Ablauf der Aufführung die Möglichkeiten einer differenzierten, reflektierten Bedeutungskonstitution vielleicht sogar erheb- <?page no="62"?> 62 lieh einschränken mag, erzwingt sie dadurch andererseits einen Rückbezug auf das bei allen Zuschauern ad hoc verftigbare bzw. aktualisierbare Bedeutungspotential. Dieses Potential, das bei den Produzenten ebenso wie bei den unterschiedlichen Rezipienten aufgrund ihrer Teilhabe an derselben Kultur in wesentlichen Punkten konvergieren wird, erscheint nun, verstanden als das von dieser Kultur ausgebildete und tradierte System von Denk- und Verhaltensmustern sowie anderer kulturspezifischer Eigenarten, Kenntnisse und Fähigkeiten, in besonderer Weise geeignet, als gemeinsame Grundlage ftir die Prozesse der Sinnkonstitution in Produktion und Rezeption zu fungieren, auch wenn die Ergebnisse dieser Prozesse aufgrund sozial und subjektiv bedingter Verschiedenheiten divergieren mögen. Der Rekurs auf dieses allen Mitgliedern der Kultur gemeinsame System an Bedeutungen sichert dergestalt ganz allgemein die Möglichkeit, theatralische Texte zu verstehen. Dieser Rückgriff legt dabei zwei prinzipiell unterschiedliche Modi der Bedeutungskonstitution nahe. Entweder kann versucht werden, aus diesem System diejenigen Elemente herauszufmden und zu aktualisieren, deren Bedeutung sich auch innerhalb einer pluralistischen Gesellschaft als weitgehend übereinstimmend voraussetzen läßt, und so auf der Basis dieser künstlich hergestellten Homogenität operiert werden, d.h. die Elemente und Teilstrukturen des theatralischen Textes erhalten eine Bedeutung durch Bezug auf die von ihnen aktualisierten außertextuellen Strukturketten. 9o Oder aber das System wird in seiner Gesamtheit vorausgesetzt, und auf seiner Grundlage werden im theatralischen Text neue Bedeutungen generiert, d.h., die Elemente und Teilstrukturen des theatralischen Textes erhalten eine Bedeutung aufgrund des spezifischen Systems von Relationen, die zwischen ihnen hergestellt werden können. 91 Während man im ersten Fall aus dem zugrundeliegenden System Bedeutungen übernimmt, werden im zweiten durch Hinweis auf diese Bedeutungen neue Bedeutungen erzeugt. Wenn auch also auf jeweils unterschiedliche Weise, stellt doch der von der absoluten Gegenwärtigkeit der Aufftihrung erzwungene Rekurs auf das ad hoc aktualisierbare Bedeutungspotential dergestalt eine wesentliche Bedingung ftir das Verstehen theatralischer Texte dar. Als dritte konstitutive Bedingung des Verstehens, die es im Hinblick auf das Verstehen theatralischer Texte noch eigens zu reflektieren gilt, bleibt endlich seine Zirkelhaftigkeit zu berücksichtigen. Ihre Relevanz, die ftir die hermeneutische Theorie aufgrund der hermeneutischen Prämissen des "Vorurteils" und des "Zeitenabstands" unmittelbar zutage liegt und einsichtig ist, wird von der analytischen Wissenschaftstheorie angezweifelt, wenn nicht gar hef- <?page no="63"?> 63 tig bestritten. 92 Sie vertritt den Standpunkt, daß es sich beim Prozeß der Interpretation lediglich um eine "bloße Heuristik von Antizipationen (handelt), die sich hernach an den diskursiven Fakten des Textes zu bewahrheiten oder zu falsifIZieren hätten" ,93 daß also von einem unauthebbaren Zirkel keine Rede sein könne. Dieser Einwand muß genau überprüft werden, weil er geradezu ein Kernstück hermeneutischer Theorie betrifft. 94 Wenn, wie wir gesagt haben, der Rezipient auf der Grundlage seines geschichtlich und lebensgeschichtlich bedingten Vorverständnisses die Rezeption eines (theatralischen) Textes beginnt, wird er zunächst den ihm präsentierten Zeichen probeweise jene Bedeutungen beilegen, die sie für ihn aufgrund seines eigenen Bedeutungssystems haben. Wenn er nun feststellt, daß diese Bedeutungen im Kontext der Aufflihrung keinen Sinn ergeben, wird er sie durch solche zu ersetzen suchen, aus denen sich auf der Grundlage seines nunmehrigen Wissens über die Aufflihrung ein Sinn konstituieren läßt. Erweist der weitere Verlauf auch diese Bedeutungen als ungeeignet, müssen sie wiederum modifIZiert bzw. durch entsprechende andere ersetzt werden. Auf der Grundlage des jeweiligen Vorverständnisses, das sich mit dem Fortschreiten der Aufflihrung ständig verändert, werden also laufend darin ist der analytischen Wissenschaftstheorie durchaus zuzustimmen neue Interpretationshypothesen entworfen, welche den Sinn des zu interpretierenden Textes immer auf andere Weise antizipieren. Aber diese Hypothesen lassen sich vom Ende der Aufflihrung her nicht wie die analytische Wissenschaftstheorie postuliert 95 endgültig und eindeutig verifizieren bzw. falsifizieren. Denn da die Aufflihrung als ein ästhetischer Text die Möglichkeit unterschiedlicher Sinnkonstitutionen bereithält, können wir nicht von der Existenz einer einzigen "richtigen" Interpretation ausgehen, an der die Berechtigung der einzelnen Interpretationshypothesen intersubjektiv gültig überprüft werden könnte. Jede vollzogene Sinnkonstitution ist daher vielmehr nicht als das Ende des Rezeptionsprozesses, sondern immer nur als ein vorläufiges Ende zu begreifen, von dem aus der Prozeß der Sinnkonstitution jederzeit erneut wieder aufgenommen werden kann. Auch der zuletzt konstituierte Sinn, der nun den einzelnen Elementen und Teilstrukturen ihre Bedeutung zuweist und damit bestimmte Interpretationshypothesen wenigstens im Hinblick auf sie bestätigt bzw. verwirft, ist nicht der einzig mögliche oder richtige, sondern immer nur ein vorläufiger, der als integrierender Bestandteil des jetzigen Vorverständnisses durch eine Fortsetzung des Prozesses jederzeit revidiert werden kann. Nun erfährt allerdings diese theoretische Unabschließbarkeit des Interpretationsprozesses hinsichtlich der Interpretation theatrali- <?page no="64"?> 64 scher Texte aufgrund deren ontologischen Status eine erhebliche Relativierung. Denn nach Beendigung der letzten Aufführung ist eine Wiederaufnahme des Prozesses nicht mehr möglich. Der vorläufig letzte Sinn muß der letzte bleiben, der sich nur noch aus der Erinnerung heraus, aber nicht mehr am Text selbst revidieren läßt. Die absolute Gegenwärtigkeit der Aufführung gilt dergestalt auch für ihre Interpretation eine Fortführung ad infmitum ist ausgeschlossen. Damit aber büßt der hermeneutische Zirkel faktisch viel von seiner allgemeinen theoretisch unbezweifelbaren Relevanz ein. Mit dem Begriff des hermeneutischen Zirkels ist nun gemeinhin nicht nur die prinzipielle Unabschließbarkeit eines jeden Verstehensprozesses intendiert, sondern, darin impliziert, zugleich auch die sie zum Teil mitbegründende spezifische Teil-Ganzes-Relation: die Bedeutungen der einzelnen Elemente und Teilstrukturen eines Textes können nur von seinem Sinn her konstituiert werden wie umgekehrt sich der Sinn nur auf der Grundlage der Bedeutungen der Elemente und Teilstrukturen konstituieren läßt. 96 Unabhängig von der Frage nach der Abschließbarkeit des Interpretationsprozesses wird damit also die Beziehung zwischen den einzelnen Elementen und den von ihnen aufgebauten Teilstrukturen, zwischen Teilstrukturen geringerer Komplexität und den von ihnen aufgebauten Teilstrukturen höherer Komplexität sowie endlicl). zwischen den Teilstrukturen höherer Komplexität und dem von ihnen aufgebauten gesamten Text zum wichtigen hermeneutischen Problem. Denn jede dieser Ebenen semantischer Kohärenz konstituiert die Bedeutung der nächsthöheren mit, obwohl sie selbst ihre Bedeutung erst durch den Bezug auf diese nächsthöhere erhalten kann. Solange die Hermeneutik ausschließlich auf sprachliche Texte gerichtet war, konnte sie sich eingehend mit diesem Problem in Form einer Reflexion auf den hermeneutischen Zirkel beschäftigen, ohne die ihm zugrundeliegende Einteilung in unterschiedliche Ebenen semantischer Kohärenz ihrerseits problematisieren zu müssen. Denn die war mit der grammatischstilistischen Gliederung in Wort, Satz, Abschnitt bzw. Kapitel und Gesamtschrift vorgegeben. 97 Soll dagegen eine Hermeneutik auch non-verbaler Texte entwickelt werden, muß hinsichtlich der Reflexion der Teil-Ganzes-Relation zunächst ein Modell flir die Gliederung in verschiedene Ebenen semantischer Kohärenz vorgelegt werden, das auch für diese Texte Gültigkeit zu beanspruchen vermag. In seiner "Strukturalen Semantik" hat Greimas nun ein derartiges Modell entworfen, das diesen Ansprüchen Genüge zu leisten verspricht. Er unterscheidet hier vier einander potenzierende Ebenen semantischer Kohärenz: 1. die elementare Ebene, welche die Seme in der Synthesis eines Lexems/ <?page no="65"?> 65 Semems erfaßt; 2. die klassematische Ebene, welche von den lexikalischen Einheiten im Sinnzusammenhang einer Phrasis konstituiert wird; 3. die Ebene der Isotopien, deren Elemente wiederkehrende Klasseme darstellen; und 4. die Ebene der Totalität des Gesamttextes. 98 Damit hat Greimas die vier Ebenen semantischer Kohärenz so allgemein beschrieben und defmiert, daß seine Gliederung auch auf nicht-sprachliche Texte anwendbar erscheint. In einem theatralischen Text beispielsweise ließen sich diese Ebenen wie folgt unterscheiden: 1. die elementare Ebene hier wären alle Arten theatralischer Einzelzeichen einzuordnen (wobei wir das Problem der Isolierung derartiger Einzelzeichen in diesem Kontext zunächst einmal ausklammern) wie einzelne Gesten, Bewegungen, Requisiten, Einzelteile der Dekoration, Teile des Kostüms etc.; 2. die klassematische Ebene ihr wären einfache Zeichenkombinationen wie Verhaltenssequenzen, ein bestimmtes Kostüm, ausgewiesene Raumabschnitte u.ä. zuzurechnen; 3. die Ebene der Isotopien sie wird von den unterschiedlichen Körper- und Raumtexten realisiert; und schließlich 4. die Ebene der Totalität des gesamten theatralischen Textes. Durch wechselseitige Beziehung dieser unterschiedlichen Ebenen semantischer Kohärenz aufeinander müßten sich also die Bedeutungen der Elemente und Teilstrukturen sowie der Sinn des gesamten theatralischen Textes konstituieren lassen. Dabei haben wir allerdings zu berücksichtigen, daß wir den theatralischen Text als einen polyphonen Text bestimmt haben, als einen Text also, dessen Teiltexte ihrerseits auf ein je verschiedenes Subjekt verweisen, das sie jeweils konstituiert hat. Es wäre daher zu überprüfen, ob die Situierung der Körpertexte auf der Ebene der Isotopien legitim erscheint oder ob nicht vielmehr mit gleichem Recht der Körpertext als Totalität eines gesamten Textes angesehen werden könnte, der seinerseits von drei Ebenen geringerer semantischer Kohärenz aufgebaut wird. Die erste Ebene würde in diesem Fall wiederum von den Einzelzeichen wie Geste, Bewegung, Teil des Kostüms gebildet, die zweite von kinesischen Sequenzen, dialogischen Sequenzen, einem kompletten Kostüm, die dritte von der Gesamtheit aller Kostüme dieser dramatis persona. Die Ebene der Totalität wäre endlich mit dem Sinn des gesamten Körpertextes als Konstitution der Rollenfigur X gegeben. Ein solches Vorgehen mag dann gerechtfertigt sein, wenn auf den Anteil je verschiedener Subjektivität an der Konstitution des theatralischen Textes hingewiesen werden soll. Es darf jedoch dabei der mE. übergeordnete Gesichto,punkt nicht aus dem Blick verloren werden, daß auch die einzeb .en Körpertexte durch ihre Einbindung in einen theatralischen Text hren Sinn wesentlich verändern können <?page no="66"?> 66 und auf diese Weise erst den Sinn des gesamten theatralischen Textes konstituieren. Will man dem Merkmal der Polyphonie Rechnung tragen, erscheint daher ein Verfahren der Bedeutungs- und Sinnkonstitution angemessen, welches die mögliche Spannung zwischen dem Sinn einzelner Körpertexte und dem Sinn des gesamten theatralischen Textes ihrerseits als einen bedeutungserzeugenden Faktor aufzufmden und für die Interpretation fruchtbar zu machen vermag. Ist eine solche Spannung dagegen nicht zu entdecken noch zu aktivieren, bleibt die Einsicht, daß jeder Körpertext von einem je eigenen Subjekt konstituiert ist, für den Prozeß der Bedeutungskonstitution durch den Rezipienten weitgehend funktionslos. Wir haben im Verlauf dieses Kapitels immer wieder auf die Ästhetizität des theatralischen Textes hingewiesen. Insofern nun dieses Merkmal seinerseits eine spezifische Bedingtheit für das Verstehen darstellt, soll es abschließend unter diesem Aspekt noch einmal eigens hier angesprochen werden. Der ästhetische Text unterscheidet sich vom nicht-ästhetischen vor allem durch seine Vieldeutigkeit. 99 Während in nicht-ästhetischen Texten die Möglichkeit der Bedeutungsattribution a) durch die Stellung des Zeichens im Syntagma (die syntaktische Dimension), b) durch seine Beziehung auf ein Objekt, für welches das betreffende Element als Zeichen fungiert (die semantische Dimension) und c) durch die jeweiligen Zeichenbenutzer und die besondere Kommunikationssituation (die pragmatische Dimension) wesentlich eingeschränkt werden, so daß eine, wenn auch textsortenspezifisch durchaus unterschiedliche, möglichst große Eindeutigkeit entsteht, sind die drei semiotischen Dimensionen bei ästhetischen Texten auf eine Weise aufeinander bezogen, daß gerade die gegenteilige Wirkung erzielt wird: eine erhebliche Potenzierung ihrer Vieldeutigkeit. Wie Mukarovsky überzeugend dargelegt hat, verweist ein ästhetischer Text, welcher bestimmte Objekte bzw. eine bestimmte Wirklichkeit zum Thema hat, nicht wie ein entsprechender nicht-ästhetischer Text auf eben diese Objekte, eben diese Wirklichkeit. Er benutzt sie vielmehr nur als "Mittler" für seine eigentliche Mitteilung. "Die sachliche Bezogenheit ist hier vielfältiger Art und weist auf Wirklichkeiten hin, die dem Betrachter bekannt sind, die jedoch keinesfalls im Werk selbst ausgedrückt und angedeutet sind und sein können, denn sie bilden einen Bestandteil der Erfahrung des Betrachters.'.1 00 Da der ästhetische Text also nicht die in ihm selbst thematisierten Objekte und Wirklichkeiten, von denen er unmittelbar Nachricht gibt, als seine Mitteilung intendiert, karm die Beziehung zwi- <?page no="67"?> 67 schen ihnen und den benennden Zeichen auch nicht als die semantische Dimension des Textes angesehen werden: dem ästhetischen Text fehlt folglich eine eigenständige semantische Dimension. Diese Eigenart, welche ihn grundlegend von allen Arten nicht-ästhetischer Texte unterscheidet, bewirkt seine Vieldeutigkeit. Denn sie hat zur Folge, daß seine einzelnen Aussagen nicht eindeutig auf eine außerhalb des Textes gegebene Wirklichkeit bezogen und auf diese Weise in ihrer Bedeutung festgelegt werden können. Da eine eigenständige semantische Dimension dergestalt beim ästhetischen Text nicht vorausgesetzt werden kann, muß sie von jedem Rezipienten, vermittelt über die syntaktische und die pragmatische Dimension, im Prozeß der Rezeption ihrerseits erst hergestellt werden. Ihre Konstitution erscheint daher weitgehend abhängig von der spezifischen Struktur des Textes (der syntaktischen Dimension) einerseits sowie von den individuellen Erfahrungen des Rezipienten (der pragmatischen Dimension) andererseits. Der Sinn, welcher einem ästhetischen Text zugeschrieben wird, entsteht also als Resultat einer Interaktion zwischen einem je besonderen Subjekt mit der spezifischen Struktur dieses je besonderen Textes. Er ist folglich als das Ergebnis einer subjektiven Setzung zu betrachten, die wohl von den "zeichenbefunden" des Artefakts motiviert wird, ohne jedoch von ihnen necessitiert werden zu können. Denn allein aus der Ordnung der Zeichen eines ästhetischen Textes läßt sich sein Sinn, quasi als ein objektiv mit ihnen gesetzter, nicht ableiten. Zu seineJr Konstitution bedarf es vielmehr einer Interpretation, die als eine vom Subjekt und seinen spezifischen Bedingungen abhängige Konstruktion der fehlenden semantischen Dimension ihrerseits eine subjektive, singuläre Zeichenverwendung darstellt. Interpretation läßt sich in diesem Sinne durchaus als ein "gelenktes Schaffen"lol begreifen, welches neue Bedeutungen hervorbringt, die wohl vom Text zugelassen und motiviert, jedoch weder eindeutig gefordert noch auch objektiv und mit Notwendigkeit aus ihm ableitbar sind. Der theatralische Text eröffnet also in seiner Eigenschaft als ein ästhetischer Text unterschiedliche Möglichkeiten flir Prozesse der Bedeutungsattribution und Sinnzuschreibung. Da aus seinen Zeichen und ihrer Ordnung weder ihre Bedeutungen noch sein Sinn eindeutig und flir alle potentiellen Rezipienten in gleicher Weise zu deduzieren und festzulegen ist, muß das rezipierende Subjekt sie interpretieren, d.h. ihnen aufgrund seiner individuellen Erfahrungen unter Berücksichtigung der spezifischen Textstruktur eine Bedeutung beilegen und so den Sinn des Textes für sich konstituieren. Ein flir alle gültiger Sinn läßt sich einem theatralischen Text nicht zuschreiben. Denn seine Ästhetizität bedingt eben seine Vieldeutigkeit. <?page no="68"?> 68 In Anbetracht der unterschiedlichen allgemeinen Bedingungen, unter denen sich das Verstehen theatralischer Texte vollzieht, läßt es sich resümierend folgendermaßen beschreiben und bestimmen: einen theatralischen Text zu verstehen, soll heißen, ausgehend vom eigenen geschichtlich und lebensgeschichtlich bedingten Bedeutungssystem seinen Zeichen und ihrer Ordnung in einem theoretisch unabschließbaren Prozeß Bedeutungen beizulegen, aus denen sich ein vom Text motivierter und ftir das rezipierende Subjekt gültiger und schlüssiger Sinn konstituieren läßt. Im Prozeß des Verstehens werden also nicht unbedingt diejenigen Bedeutungen rekonstruiert, welche die verschiedenen Produzenten des theatralischen Textes in ihm zu konstituieren gedachten, noch auch den Zeichen diejenigen Bedeutungen beigelegt, welche sie für den Rezipienten außerhalb ihrer Einbindung in die symbolische Ordnung des theatralischen Textes gehabt haben mögen; sondern indem der Rezipient diese Ordnung gemäß einer selbst gefundenen bzw. erfundenen - Regel konstruiert, schafft er Bedeutungen, die mit den Bedeutungen, die diesen Zeichen in den beiden genannten Bedeutungssystemen zukommen, nicht identisch sind. Unter diesem Aspekt gesehen, stellt das Verstehen eines theatralischen Textes einen produktiven Prozeß dar, in dem unterschiedliche Bedeutungssysteme die der Produzenten und des Rezipienten über die symbolische Ordnung des Textes miteinander vermittelt werden und so das Bedeutungssystem des Rezipienten eine vielleicht schwerwiegende - Veränderung erfährt. 102 Das Resultat dieses Prozesses, der in ihm konstituierte Sinn des theatralischen Textes, kann nicht anders als subjektiv, als individuell sein. Aus diesem Sachverhalt ist nun keineswegs der Schluß zu ziehen, Verstehen eines theatralischen Textes stelle eine so subjektive Angelegenheit dar, daß intersubjektiv überprüf- und nachvollziehbare Verfahren der Bedeutungs- und Sinnzuschreibung, von jedermann anwendbare Methoden des Verstehens sich nicht würden entwickeln lassen. 103 Aus ihm folgt lediglich, daß derartige Verfahren weder mit dem Ziel ausgearbeitet werden, noch auch zu dem Ziel führen können, einen allgemein gültigen Sinn eines theatralischen Textes, seinen objektiv gegebenen "richtigen" Sinn zu konstituieren. <?page no="69"?> 69 2. VERFAHREN DER BEDEUTUNGS- UND SINNKON- STITUTION ALS METHODE DER ANALYSE THEA- TRALISCHER TEXTE 2.1 Theorie und Methode Eine Methode, die zum Verstehen theatralischer Texte führt, läßt sich logischerweise nur aus zwei Arten von Theorien ableiten: entweder aus einer Theorie des Verstehens oder aus einer Theorie des theatralischen Textes.! 04 Im ersten Fall wird man vom Begriff des Verstehens ausgehen und seine einzelnen Bestimmungen daraufhin überprüfen, ob sich auf ihrer Grundlage methodische Postulate werden finden und aufstellen lassen, die aufjeden theatralischen Text anwendbar wären, sowie einzeIne methodische Schritte isolieren und abgrenzen, in denen der Prozeß der Sinnkonstitution am theatralischen Text vollzogen werden sollte. Im zweiten Fall dagegen wird man vom Begriff des theatralischen Textes ausgehen und versuchen, aus seinen einzelnen Bestimmungen Aspekte der Textualität zu abstrahieren, die sich in Regeln umformulieren lassen, welche sowohl die allgemeinen Grundsätze des Sinngebungsprozesses als auch die einzelnen in ihm durchzuführenden Operationen betreffen. Beide Wege zur Entwicklung einer Methode sind theoretisch legitim und gleichberechtigt. Schlagen wir den ersten Weg ein, fmden wir uns allerdings gewissen Schwierigkeiten konfrontiert. Denn die hermeneutische Theorie, welche wir zugrundegelegt haben, zielt auf die Reflexion der Bedingungen, unter denen der Verstehensprozeß vollzogen wird. Nun stellt jedoch die erste dieser Bedingungen, der geschichtlich und lebensgeschichtlich bedingte Standort, eine Bedingung dar, die im Subjekt des Rezipienten ihren Grund hat; und die zweite, die absolute Gegenwärtigkeit, eine Bedingung, die im ontologischen Status der Aufführung fundiert ist. Aus beiden werden sich daher kaum irgendwelche methodischen Maximen und Postulate ableiten lassen, die auf die Interpretation eines theatralischen Textes anwendbar wären. Erst die dritte, der hermeneutische Zirkel, läßt sich endlich als eine Bedingung ansehen, die auf den Text selbst bezogen ist, insofern sie die besondere ihn konstituierende Teil-Ganzes-Relation betrifft. <?page no="70"?> 70 Diese Relation impliziert nun in der Tat einige Voraussetzungen, die expliziert werden müßten, wenn der Prozeß der Bedeutungsattribution methodisch reflektiert vollzogen werden soll. Denn wenn einem Textelement eine Bedeutung immer erst durch seine Einbindung in die nächsthöhere Ebene semantischer Kohärenz beigelegt werden kann, während umgekehrt sich die Bedeutung auf dieser Ebene erst durch Rekurs auf die Bedeutungen der Elemente auf der nächstniedrigeren Ebene konstituieren läßt, folgt daraus, daß der Text in Ebenen unterschiedlicher semantischer Kohärenz gegliedert werden muß, wenn ihm überhaupt ein Sinn zugesprochen werden soll. Aus der Teil-Ganzes-Relation läßt sich also zunächst einmal die allgemeine methodische Forderung nach Segmentierung des Textes in unterschiedliche Ebenen semantischer Kohärenz ableiten, die für den Vorgang der Bedeutungsattribution Relevanz besitzen sollen.los Eine solche Segmentierung stellt die Voraussetzung für jede noch so minimale hermeneutische Operation dar. Wenn nämlich beim Prozeß der Interpretation zunächst die eigenen Bedeutungen probeweise eingesetzt werden sollen, impliziert auch ein solches Vorgehen, daß Klarheit darüber besteht, auf welchen Ebenen semantischer Kohärenz die konstitutiven Elemente als Zeichen begriffen werden sollen. Denn nur wenn sie als Zeichen erkannt sind, können ihnen auch auf der Grundlage des jeweiligen Bedeutungssystems Bedeutungen zugesprochen werden. Die Anerkenntnis beispielsweise eines Ausrufs, einer längeren Verhaltenssequenz, eines einzelnen Requisits oder einer kompletten Dekoration als Zeichen setzt also eine entsprechende Gliederung bereits voraus. I06 Diese zunächst nur probeweise beigelegten Bedeutungen sollen nun im weiteren Verlauf des Rezeptionsprozesses modifiziert und durch andere ersetzt werden können, die geeigneter erscheinen, auf den immer wieder neu und anders antizipierten Sinn des Textes zu verweisen. Auch dieser Vorgang impliziert eine ganze Reihe von Voraussetzungen, die explizit zu machen, gegebenenfalls zur Auflistung möglicher Analyseschritte fUhren könnte. Denn wenn eine Bedeutungsattribution durch nachfolgende Elemente des Textes korrigiert werden kann, gewinnt die Beziehung dieser Elemente zu den vorhergehenden besondere Relevanz. Es muß daher geklärt werden, aufgrund welcher Bedingungen jeweils welche nachfolgenden Elemente bzw. Teilstrukturen eine ModiflZierung oder gar Ersetzung der initialen Bedeutungen wenn auch nicht necessitieren, so doch dringend nahezulegen scheinen. Das heißt, es müssen die spezifischen Relationen zwischen aufeinanderfolgenden Elementen a) derselben Ebene semantischer Kohärenz und b) unterschiedlicher Ebenen semantischer Kohärenz untersucht werden. <?page no="71"?> 71 Vor allem dieses zweite aus dem Begriff des hermeneutischen Zirkels abgeleitete methodische Postulat ist in dieser Weise noch so allgemein formuliert, daß ihm präzise Anweisungen für die Durchführung konkreter Analyseoperationen kaum zu entnehmen sind. Diese müßten vielmehr erst auf der Grundlage anderer theoretischer Prämissen aus dem allgemeinen Postulat ausdifferenziert und weiterentwickelt werden, ehe es sich als ein von jedermann nachvollziehbares und überprüfbares Verfahren auf theatralische Texte anwenden ließe. Aus dem Begriff des Verstehens, wie wir ihn zugrundegelegt haben, ist also eine bestimmte Methode des Verstehens als ein Set präzise gefaßter Regeln und Handlungsanweisungen unmittelbar nicht abzuleiten. Der Begriff des theatralischen Textes dagegen, wie wir ihn definiert und expliziert haben, enthält eine ganze Reihe von Bestimmungen, die in derartige Regeln umformuliert werden könnten. Dies gilt bereits rur die erste allgemeine Bestimmung, von der unsere Überlegungen ihren Ausgang genommen haben: der theatralische Text ist als Realisierung des theatralischen Codes auf der Ebene der Rede definiert. Während der theatralische Code auf der Ebene des Systems alle generellen Möglichkeiten und Bedingungen für theatralische Prozesse der Bedeutungserzeugung enthält und auf der Ebene der Norm alle fUr eine bestimmte Epoche oder Gattung charakteristischen Möglichkeiten und Bedingungen, regelt er auf der Ebene der Rede den Prozeß einer singulären Bedeutungserzeugung, die Konstitution von Sinn in einem individuellen theatralischen Text. Der Text stellt also eine in dieser besonderen Form nur ein einziges Mal vorgenommene Selektion und Kombination der von System und Norm angebotenen Möglichkeiten dar. Aus dieser ersten Bestimmung des theatralischen Textes folgt bereits eine erste Interpretationsregel. Denn da der Text als eine singuläre Verwendung eines allgemeinen, intersubjektiv gültigen semiotischen Systems definiert ist, kann er in dieser seiner Singularität auch nur durch Rekurs auf jendes zugrundeliegende semiotische System verstanden werden. Der theatralische Text muß also in den Zusammenhang des theatralischen Codes a) als System und b) als Norm gestellt und in bezug auf die von ihnen gebildeten Kontexte analysiert werden. Den umfassendsten Kontext stellt für den theatralischen Text in dieser Hinsicht zweifellos der theatralische Code als System, die langue der theatralischen Sprache, dar. Als erstes methodisches Postulat ergibt sich dergestalt die Forderung, daß der theatralische Text auf der Grundlage des semiotischen Systems, als dessen Realisierung er konstituiert ist, ~ des theatrali- <?page no="72"?> 72 schen Codes auf den Ebenen des Systems und der Norm zu analysieren sei. Unsere zweite Bestimmung betraf den theatralischen Text als einen künstlerischen Text. Lotman definiert ihn als komplex aufgebauten Sinn. "Alle seine Elemente sind sinntragende Elemente."lo7 Aus dieser Aussage folgt zweierlei: Sie besagt nämlich erstens, daß kein Element eines theatralischen Textes, insofern er ein ästhetischer Text ist, als redundant angesehen werden kann, dh. jedes Element ist grundsätzlich interpretierbar. 10B Und sie besagt zweitens, daß diese als bedeutungstragend fungierenden - und in dieser Hinsicht gleichberechtigten - Elemente in ihrer Gesamtheit einen komplexen Aufbau konstituieren, dh. gleichzeitig unterschiedlichen Stufen semantischer Kohärenz zugehören müssen. Das Merkmal der Komplexität meint also dieselbe Eigenart des Textes, weiche auch der hermeneutische Zirkel mit der Beschreibung der besonderen Teil- Ganzes-Relation intendiert. Entsprechend folgt auch aus ihm die Notwendigkeit, den theatralischen Text in unterschiedliche Ebenen semantischer Kohärenz zu gliedern. Da jedes Element des theatralischen Textes prinzipiell interpretierbar ist und gleichzeitig unterschiedliche Ebenen semantischer Kohärenz konstituieren hilft, muß bei der Bedeutungsattributionjeweils geklärt sein, auf weicher Ebene semantischer Kohärenz dem betreffenden Element die ermittelte Bedeutung beigelegt werden soll. Da die Gesamtheit der Ebenen semantischer Kohärenz sowie ihrer Wechselbeziehungen dergestalt die Komplexität des theatralischen Textes ausmacht,läßt sich diese Komplexität auch nur unter der Bedingung angemessen analysieren und hernach erneut synthetisieren, daß der Text in Segmente unterteilt wird, die unterschiedlichen Ebenen sematischer Kohärenz angehören. Aus unserer zweiten Bestimmung des theatralischen Textes folgt also einerseits als zweites methodisches Postulat die Forderung nach einer Gliederung des Textes in unterschiedliche Ebenen semantischer Kohärenz sowie andererseits die allgemeine Interpretationsregel, daß jedem Element eines theatralischen Textes grundsätzlich eine Bedeutung zugesprochen werden kann. Unsere dritte Bestimmung des theatralischen Textes bestand in der Auflistung und Explikation der drei Merkmale Explizität, Begrenztheit und Strukturiertheit. Aus ihnen lassen sich nun unmittelbar methodische Postulate ableiten. Die Merkmale der Explizität und Begrenztheit nämlich betreffen sowohl die Selektion der de facto realisierten Zeichen und Zeichenkombinationen aus den generell zur Verfiigung stehenden Möglichkeiten als auch die spezifische Nicht- Selektion. Sie defmieren daher 1. die Auswahl der verwendeten bzw. <?page no="73"?> 73 nicht verwendeten Zeichensysteme, 2. die Auswahl der Art der Zeichen innerhalb der Zeichensysteme und 3. die Auswahl der einzelnen konkreten Zeichen als bedeutungstragende Elemente. Folglich muß ein theatralischer Text daraufhin untersucht werden, 1. welche der allgemein zur Verfügung stehenden Zeichensysteme in ihm tatsächlich Verwendung finden und auf welche verzichtet wird; 2. welche Art von Zeichen innerhalb eines Systems bevorzugt und welche Arten ausgeschlossen; und 3. welche spezifischen konkreten Zeichen tatsächlich realisiert werden. Das Merkmal der Strukturiertheit dagegen betrifft die besonderen Relationen, die zwischen den ausgewählten und realisierten Elementen bestehen. Um sie zu ermitteln, müssen die Kombinationen untersucht werden, welche die Zeichen untereinander eingehen. Es ist also bezüglich jedes Zeichens festzustellen, mit welchem Zeichen desselben oder eines anderen Zeichensystems es a) simultan und b) sukzessiv kombiniert ist, und ob, diese Kombinationen unter einer spezifischen Dominantenbildung erfolgen. Auf diese Weise ist das System von Äquivalenzen und Oppositionen zu konstruieren, welches die besondere Struktur des zu analysierenden Textes bedingt und hervorbringt. Als zunächst noch allgemein formuliertes methodisches Postulat können wir dergestalt aus den drei Merkmalen der Explizität, Begrenztheit und Strukturiertheit die Forderung ableiten, daß der theatralische Text auf die in ihm vorgenommene spezifische Selektion und Kombination der theatralischen Zeichen hin zu untersuchen sei. Die vierte Bestimmung endlich betraf den besonderen Modus der Bedeutungserzeugung in theatralischen (ästhetischen) Texten. Lotman unterscheidet grundsätzlich zwei Modi der Bedeutungserzeugung in Texten, die externe und die interne Umkodierung, die in ihrer Wechselbeziehung den Sinn des Textes konstituieren. Daraus folgt, daß hinsichtlich einer Bedeutung, die einem Element beigelegt werden soll, geklärt werden muß, aufgrund welcher Art von Urnkodierung sie entsteht, ob sie also eine paradigmatische oder eine syntagmatische Bedeutung darstellt. Im ersten Fall wäre anschließend zu untersuchen, auf welche außertextuellen Strukturketten das betreffende Element bezogen werden kann, wenn es eine Bedeutung erhalten soll, und welche Bedeutung ihrerseits dieser Relation des Textelementes zur ermittelten außertextuellen Strukturkette zukommen mag. Im zweiten Fall dagegen ist der Frage nachzugehen, auf welches andere Textelement das fragliche Textelement sich beziehen läßt, wenn ihm eine Bedeutung beigelegt werden soll eine Frage, die einerseits durch Rekurs auf das bereits (re-)konstruierte System von <?page no="74"?> 74 Äquivalenzen und Oppositionen zu beantworten ist bzw. andererseits durch ihre Beantwortung eben dies System zu konstruieren hilft. I 09 Aus dem Merkmal der Wechselbeziehung paradigmatischer und syntagmatischer Bedeutungen in einem theatralischen Text läßt sich dergestalt als viertes methodisches Postulat die Forderung ableiten, daß die jeweilige Art der Bedeutungserzeugung ebenso wie die besondere Wechselbeziehung zwischen beiden Modi der Bedeutungserzeugung zu ermitteln und in ihrer spezifischen Funktion zu bestimmen sei. Wir haben den theatralischen Text darüber hinaus als einen multimedialen Text bestimmt. Da die Theorie multimedialer Texte jedoch zum gegenwärtigen Zeitpunkt erst in Ansätzen entwickelt ist, erscheint es vernünftiger, auf eine Ableitung methodischer Postulate aus ihr wenigstens im Augenblick noch zu verzichten. Unsere eingangs vorgenommenen unterschiedlichen Bestimmungen des Begriffs des theatralischen Textes haben sich also durchaus als geeignet erwiesen, als Ausgangspunkt ftir die Deduktion und Aufstellung methodischer Postulate zu dienen, deren Befolgung den Rezipienten instand setzen soll, den Sinn eines theatralischen Textes zu konstituieren. Wir konnten auf diese Weise folgende vier Forderungen formulieren: 1. Der theatralische Text muß auf das zugrundeliegende semiotische System bezogen werden. 2. Er ist in unterschiedliche Ebenen semantischer Kohärenz zu gliedern. 3. Er muß auf die in ihm vorgenommene je spezifische Selektion und Kombination der theatralischen Zeichen hin untersucht werden. 4. Es sind jeweils die unterschiedlichen Arten der Bedeutungserzeugung zu ermitteln und in ihrer jeweiligen Funktion zu bestimmen. Um diesen Forderungen Genüge leisten zu können, müssen am Text entsprechende Prozeduren vollzogen werden, die es anschließend noch zu entfalten und zu erläutern gilt. Vorher sei allerdings kurz auf einige allgemeine Grundsätze hingewiesen, denen die Interpretation als Durchführung dieser Prozeduren folgen sollte. Jede Aussage muß so formuliert sein, daß sie intersubjektiv zu verstehen ist (also defmierte Begriffe verwendet).llo Sie darf keine Widersprüche enthalten. lli Sie muß von jedermann auf den Text selbst zurückgeführt und so auf ihre Berechtigung hin überprüft werden können. 112 Das soll nicht heißen, daß jede Aussage durch Text- <?page no="75"?> 75 befunde verifizierbar bzw. falsifIzierbar sein müßte dies ist nach unseren hermeneutischen Prämissen bei deutenden Sätzen überhaupt nicht möglich -, sondern lediglich, daß der Bezug dieser Aussage auf einen tatsächlichen Textbefund feststellbar sein muß. II3 Alle weiteren Grundsätze, die es darüber hinaus zu beachten gälte, sind bereits auf einzelne Analyseprozeduren bezogen und können daher nicht als allgemeine Prinzipien im oben definierten Sinn den Ausführungen zu den einzelnen Analyseprozeduren insgesamt vorangestellt werden. 2.2 Einzelne Analyseprozeduren 2.1.1 Der Rekurs auf den theatralischen Code als System und Nonn Der Rekurs auf den theatralischen Code als System und Norm ist insofern nicht mit den anderen drei methodischen Postulaten zu vergleichen, als er nicht eigentlich eine spezifische, gesondert durchzuführende Prozedur darstellt, sondern vielmehr eine Voraussetzung für den Vollzug der aus den anderen Postulaten abzuleitenden Prozeduren. Denn eine Segmentierung kann nur auf der Grundlage der vom theatralischen Code als System bereitgehaltenen Möglichkeiten der Einheitenbildung vorgenommen werden; die Selektion ist stets als eine Selektion aus dem vom System bzw. der Norm zur Verfügung gestellten Repertoire an theatralischen Zeichen zu begreifen ebenso wie die Kombination immer als eine singuläre Realisierung der von System und Norm vorgesehenen und zugelassenen Kombinationsmöglichkeiten; die externe Umkodierung stellt eine besondere Relation zum theatralischen Code als Norm her, insofern die Norm festlegt, aufweIche außertextuellen Strukturketten Elemente des Textes bezogen werden können, um eine Bedeutung zu erhalten, und die interne Umkodierung endlich zu den von System und Norm angebotenen Kombinationsmöglichkeiten, insofern sie in diesen Möglichkeiten fundiert ist und auf ihnen aufbaut. Wir haben also den Rekurs auf den theatralischen Code als System und Norm anläßlich der Beschreibung einer jeden dieser Prozeduren vorzunehmen. Darüber hinaus ist jedoch noch generell auf die spezifische Beziehung hinzuweisen, weIche der theatralische Code zwischen den Ebenen von a) System und Norm, b) System und Rede, c) Norm und Rede herstellt. Alle drei stehen zunächst in einem Verhältnis wachsender Allgemeinheit sowie je größerer Gültigkeit zueinander oder, in umgekehrter Richtung gesehen, in einem Verhältnis steigender Individualisierung und je geringerer Gültigkeit. Während der theatralische Code als Rede nur jeweils einer einzigen Auf- <?page no="76"?> 76 ftihrung zugrundeliegt und nur flir diese eine Gültigkeit besitzt, regelt er als Norm die Hervorbringung einer ganzen Reihe von Aufführungen und reklamiert als System endlich Gültigkeit flir potentiell alle Aufführungen. Auf der Ebene mit jeweils geringerer Allgemeinheit stellt der theatralische Code also eine beschränkte Auswahl aus den auf der allgemeiner gültigen Ebene insgesamt angebotenen Möglichkeiten dar. Umgekehrt aber vermag nun die speziellere Ebene ihrerseits den theatralischen Code auf der/ den allgemeineren Ebene(n) zu verändern: jede neue Norm kann nämlich die vom System vorgesehenen Zeichen, Kombinations- und Bedeutungsmöglichkeiten vervielfältigen wie auch jede Aufftihrung imstande ist, die ihr zugrundeliegende Norm zu verändern oder gar eine neue Norm zu etablieren und so ihrerseits das Repertoire des Systems zu modifizieren und zu erweitern. 114 Ein theatralischer Text kann daher wohl einerseits als je spezifische Realisierung der von System und Norm bereitgehaltenen Möglichkeiten begriffen werden, jedoch gegebenenfalls auch andererseits als je spezifische Veränderung bzw. Aufhebung der zugrundeliegenden Norm und je spezifische Erweiterung des zugrundeliegenden semiotischen Systems. 115 Jede Aufführung muß folglich daraufhin untersucht werden, a) auf welche Norm bzw. Normen sie sich bezieht, b) ob sie diese Normen erftillt, durchbricht oder aufhebt, c) ob sie eventuell eine neue Norm einführt, d) ob und wie weit dies im Rahmen der vom System generell angebotenen Möglichkeiten geschieht, e) ob und wiefern sie damit das Repertoire des Systems erweitert. Der Rekurs vom theatralischen Code als Rede von der Auffiihrung auf den theatralischen Code als Norm und System ist also in zweifacher Richtung zu verstehen und zu vollziehen: sowohl als ein Rekurs, der den Text als eine singuläre Verwendung des zugrundeliegenden allgemeinen Systems ausweist, als auch als ein Rekurs, der ihn gegebenenfalls als eine Veränderung und Erweiterung eben dieses Systems erkennen läßt und entsprechend zu beschreiben vermag. 116 2.2.2 Segmentierung Die Segmentierung des theatralischen Textes stellt eine für jede Analyse fundamentale Operation dar. Denn wenn der Text nicht gegliedert und in Einheiten geringerer semantischer Kohärenz, als seine Gesamtheit sie bildet, zerlegt werden kann, ist eine Analyse als derjenige Prozeß, welcher einzelnen Elementen und Teilstrukturen eine Bedeutung und dem gesamten Text einen Sinn zuschreibt, überhaupt nicht durchzuführen. <?page no="77"?> 77 Die Segmentierung des Textes in unterschiedliche Ebenen semantischer Kohärenz muß von der Rückführung des zugrundeliegenden semiotischen Systems auf kleinste bedeutende Einheiten streng unterschieden werden. Zwar setzt sie in gewisser Weise diese Prozedur bereits voraus, ist jedoch nicht mit ihr identisch, sondern stellt, theoretisch gesehen, eine Prozedur sui generis dar. Denn während die Rückführung des Systems auf kleinste bedeutende Einheiten eben diejenige Einheit ermittelt, welche das System in seiner Eigenart als ein besonderes semiotisches System konstituiert wie beispielsweise das Wort als kleinste bedeutende Einheit das semiotische System der Sprache -, weswegen jede Äußerung in diesem System in diese seine kleinsten bedeutenden Einheiten zu zerlegen ist, die ihrerseits nicht weiter in bedeutende, sondern nur noch in unterscheidende Einheiten zu zerlegen sind, gliedert die Segmentierung den Text in unterschiedliche Ebenen semantischer Kohärenz, deren jeder die kleinste bedeutende Einheit als sie konstituierendes Element gleichzeitig zugehört: das Wort beispielsweise konstituiert die Ebene des Wortes, wie die des Satzes, die Ebene des Kapitels, wie diejenige der ganzen Schrift. Beim theatralischen Code als System liegen die Verhältnisse nun allerdings insofern ganz anders als bei der Sprache, als er sich nicht auf derartige homogene kleinste bedeutende Einheiten zurückfUhren läßt. Da er seinerseits von einer Vielzahl unterschiedlicher semiotischer Systeme konstituiert wird, ist er vielmehr auch nur auf deren kleinste bedeutende Einheiten - und also in seiner Gesamtheit auf heterogene kleinste bedeutende Einheiten reduzierbar. Alle Versuche, das Theater als semiotisches System in irgendeiner Weise in homogene Einheiten zu zergliedern, die auch bei einer Aufführungsanalyse zugrundegelegt werden könnten wie Kowzans Vorschlag einer minimalen simultanen Einheit, deren Dauer mit derjenigen eines zeitlich kürzesten Zeichens identisch ist, oder Ruffmis Einteilung in segni parziali und segni globali, Hamons Einführung der "personnage" als theatralischer Einheit oder Jansens Definition der Situation als kleinster konstitutiver Einheit 117 -, sind entsprechend bisher erfolglos geblieben. Statt weiterhin nach einer solchen homogenen Einheit zu suchen, sollte die Heterogenität der verschiedenen kleinsten bedeutenden Einheiten als conditio sine qua non anerkannt und weiteren Untersuchungen als Ausgangspunkt vorgegeben werden. Von diesem Vorgehen muß nun die Prozedur der Segmentierung prinzipiell unterschieden werden. Denn sie ist nicht auf die Ebene des Systems, sondern ausschließlich auf diejenige der Rede, also auf konkrete theatralische Texte gerichtet. Ihre Art der Gliederung kann daher auch nicht auf die Ebene des Systems sozusagen rückübertra- <?page no="78"?> 78 gen werden. Weil es sich bei beiden Arten der Gliederung in dieser Weise um qualitativ und vor allem funktional unterschiedliche Operationen handelt, muß jeder Versuch, ein Modell zu fmden, welches der Gliederung sowohl des Systems als auch des konkreten Textes zugrundegelegt werden könnte, fehlschlagen. In der unzulässigen Gleichsetzung, zumindest Gleichbehandlung beider Ebenen ist entsprechend der Grund für die InsuffIZienz so vieler diesbezüglicher Vorschläge anzunehmen. l1B Wir haben im Zusammenhang mit der Problematik des hermeneutischen Zirkels Greimas' Vorschlag einer Gliederung des Textes in vier Ebenen semantischer Kohärenz resümiert und ihn als ein geeignetes Modell für die Segmentierung theatralischer Texte zunächst übernommen. Diese Entscheidung gilt es nachfolgend zu begründen und en detail auszuführen. Greimas' elementare Ebene wird im theatralischen Text von den unterschiedlichen theatralischen Einzelzeichen realisiert, von Wort und Geste, Teilen des Kostüms und der Dekoration, einer Scheinwerfereinstellung oder einem Requisit u.am. Auf dieser Ebene wird folglich jene Problematik virulent, der wir uns bei dem Versuch konfrontiert fanden, jedes den theatralischen Code als System mitkonstituierende semiotische System seinerseits auf seine kleinsten bedeutenden Einheiten zu reduzieren. 119 Die elementare Ebene des Textes wird folglich von jenen heterogenen kleinsten bedeutenden Einheiten gebildet, auf die der theatralische Code als System in seiner Gesamtheit zurückgeflihrt werden kann. Die elementare Ebene des Textes stellt dergestalt den Ort dar, an dem die beiden verschiedenen Operationen der Gliederung die Reduzierung des Systems auf kleinste bedeutende Einheiten und die Segmentierung des Textes in unterschiedliche Ebenen semantischer Kohärenz sich berühren und kreuzen: die Reduzierung ermittelt jene kleinsten bedeutenden Einheiten, welche überhaupt die elementare Ebene semantischer Kohärenz des Textes zu bilden vermögen. In dieser Hinsicht setzt die Segmentierung die Reduzierung voraus, ohne doch mit ihr identisch zu sein. Auf der elementaren Ebene lassen sich den einzelnen theatralischen Zeichen selbstverständlich nur solche Bedeutungen zusprechen, die nicht erst aufgrund des Kontextes dh. der Einbindung des Zeichens in höhere Ebenen semantischer Kohärenz konstituiert werden können. Es sind daher auch nur Bedeutungen vorauszusetzen, die sich den entsprechenden Zeichen aufgrund ihres Vorkommens in anderen Verwendungskontexten beilegen lassen: so ist ein bestimmtes Möbelstück ad hoc als Garderobenständer zu identifIZieren auch wenn diese Bedeutung im weiteren Verlauf der Inszenie- <?page no="79"?> 79 rung korrigiert und durch die Bedeutung "Baum" ("Warten auf Godot") ersetzt werden muß -, ein Kleidungsstück als Hemd oder Weste genauer: Hemd eines Adligen aus der Zeit Ludwigs XN. und Weste eines Handwerkers aus dem beginnenden 19. Jahrhundert zu erkennen, eine bestimmte Veränderung der Körperhaltung als der Vorgang des Sich-Setzens, ein Verziehen der Mundwinkel als Lächeln u.a.m. Die elementare Ebene stellt in der Tat diejenige Ebene dar, auf der den Zeichen ausschließlich aufgrund des jeweiligen Bedeutungssystems des Rezipienten eine Bedeutung beigelegt werden kann oder aber falls das betreffende Zeichen unbekannt ist gar nicht. 120 Die nächsthöhere Ebene semantischer Kohärenz hat Greimas als die klassematische Ebene bestimmt. Sie ist im theatralischen Text nicht ohne Schwierigkeiten zu ermitteln. Denn theatralische Klasseme können darin noch durchaus dem Satz vergleichbar von Sequenzen höchst unterschiedlicher Dauer und Komplexität gebildet werden, ohne daß jedoch wie beim Satz ein Abgrenzungskriterium für sie gegeben wäre. Als Kombinationen von Zeichen überschreiten sie zwar bereits die elementare Ebene der Einzelzeichen, bleiben aber noch unterhalb der Ebene der Isotopien. Daraus folgt, daß eine einfache Kombination von wenigen Zeichen den Klassemen ebenso zuzurechnen ist wie komplexe Kombinationen aus unterschiedlichen Verhaltenssequenzen, Kostümen und Dekorationsteilen. Ein zweites Problem besteht darin, daß als Klasseme einerseits Kombinationen aus Zeichen eines einzigen Zeichensystems ausgegrenzt werden können, andererseits aber auch Kombinationen aus Zeichen, die verschiedenen semiotischen Systemen entstammen; sowohl eine Kombination aller derjenigen Zeichen, die gleichzeitig realisiert werden, als auch eine Kombination aller Zeichen eines oder mehrerer Zeichensysteme, die nacheinander realisiert werden. Die Wahl der Kombinationen, die man auf der klassematischen Ebene untersuchen will, ist daher nicht von vornherein eingeschränkt, sondern wird sowohl von den spezifischen jeweils als Isotopie bestimmten Zeichenkombinationen als auch vom besonderen Ziel der Untersuchung abhängen. 121 Aufgrund ihrer Kombination zu Klassemen können die ad hoc konstituierten Bedeutungen der einzelnen Zeichen gegebenenfalls als legitim bestätigt werden und sich gegenseitig zu einer übergeordneten Bedeutung des ganzen betreffenden Klassems ergänzen wie die einzelnen Bestandteile eines Kostüms beispielsweise in ihrer Gesamtheit die Bedeutung: Kleidung eines Adligen am Hofe Ludwigs XIV. konstituieren mögen und so ihren Träger auf besondere Art ausweisen oder verschiedene Dialog- und Verhaltenssequenzen, Kostüme, <?page no="80"?> 80 Requisiten und Dekorationsteile die Bedeutung: Weihnachtsmahl einer Großfamilie. Andererseits vermag die Kombination der einzelne,n Zeichen zu Klassemen auch eine erste Möglichkeit für eine Korrektur im Sinne einer Präzisierung, Erweiterung oder Ersetzung ihrer ad hoc konstituierten Bedeutungen zu eröffnen. Wenn beispielsweise 'das Hemd aus der Zeit Ludwigs XN. zusammen mit sonst zeitgenössischer Kleidung getragen wird und der Schauspieler gerade dabei ist, dieses Hemd auszuziehen, so wird aus der Bedeutung des Hemdes nicht wie im anderen Fall zu schließen sein, daß sein Träger ein Adliger am Hofe Ludwigs XIV. sein müsse. Die Einbindung des Einzelzeichens "Hemd" in ein Klassem modifiziert dergestalt die ihm anfangs beigelegte Bedeutung beträchtlich. Eine dritte Möglichkeit stellt schließlich der Fall dar, daß die ad hoc konstituierten Bedeutungen der Einzelzeichen auf der Ebene ihrer Kombination zum Klassem weder eine Bestätigung fmden noch auch durch geeignetere ersetzt werden können. Wird das zitierte Hemd beispielsweise durch eine orientalische Pluderhose, heutige Gummistiefel und einen preußischen Dreispitz komplettiert, so läßt sich aus den Bedeutungen der einzelnen Zeichen weder eine gegenseitige Modifizierung ableiten noch auch eine Gesamtbedeutung des ganzen Klassems konstituieren, ohne daß nicht diese Ebene überschritten und auf die nächsthöhere der Isotopien übergegangen würde. Die Ebene der Isotopien wird ihrerseits von derartigen wiederkehrenden Klassemen gebildet. Diese Ebene ist rur den Prozeß der Bedeutungs- und Sinnzuschreibung nun insofern von besonderer Relevanz, als eine Analyse kaum je von der elementaren Ebene der einzelnen theatralischen Zeichen noch auch von der klassematischen ihren Ausgang nehmen sondern die beiden Ebenen niedrigerer semantischer Kohärenz immer schon in bezug auf die Ebene der Isotopien berücksichtigen wird. Entsprechend kommt ihrer Ausgrenzung eine besondere Bedeutung zu. Es gibt nun unterschiedliche Möglichkeiten, die Ebene der Isotopien zu erstellen. Man kann ein Verfahren wählen, welches a) entweder auf einzelne beteiligte Zeichensysteme oder b) auf Syntagmen verschiedener Größe oder c) auf textübergreifende Kategorien als Konstituenten gerichtet ist. Im ersten Fall wird man versuchen, die Gesamtheit der Zeichen entweder eines einzigen Zeichensystems oder einer Gruppe verwandter Zeichensysteme wie beispielsweise der kinesischen Zeichen, der Zeichen der äußeren Erscheinung, der Zeichen des Raumes - oder zweier/ mehrerer opponierender Zeichensysteme wie beispielsweise der verbalen und nonverbalen Zeichen der direkten <?page no="81"?> 81 Kommunikation auszugrenzen und ihnen jeweils im Rekurs auf die sie bildenden klassematischen und elementaren Ebenen eine Bedeutung beizulegen_ Bei diesem Verfahren werden die betreffenden Zeichensysteme jeweils parallel über den gesamten Verlauf der Aufführung verfolgt und auf ihre jeweilige gesonderte, nur von ihnen ohne Interferenz mit anderen konstituierte Bedeutung hin unter- SUCht. 122 Eine solche Auswahl der Isotopien ist vor allem dann gerechtfertigt bzw. empfiehlt sich, 1. wenn die einzelnen Systeme oder Systerngruppen per se eine Bedeutung konstituieren, welche den Sinn des Textes wesentlich zu bestimmen vermag wie beispielsweise eine vom Raum aufgebaute grundsätzliche Opposition zwischen Innen und Außen -, 2. wenn den einzelnen Systemen bzw. Systemgruppen unterschiedliche Prinzipien der Bedeutungserzeugung zugrunde liegen wie beispielsweise realistische Ausführung der Kostüme vs. symbolische Gestaltung des Raumes - und 3. wenn die opponierenden Zeichensysteme aufgrund ihrer teilweisen oder durchgehenden Opposition eine spezifische Bedeutung zu konstituieren vermögen wie beispielsweise das besondere Verhältnis zwischen verbalen Zeichen auf der einen und paralinguistischen und und kinesischen auf der anderen Seite. Wann immer ein Zeichensystem aufgrund seiner spezifischen Ausgestaltung oder seiner besonderen Beziehung zu einem anderen Zeichensystem in seiner Gesamtheit eine für den Sinn des theatralischen Textes relevante Bedeutung zu konstituieren vermag, ist die Wahl des Zeichensystems als Isotopieebene als zweckmäßig und angemessen zu beurteilen. 123 Beim syntagmenbildenden Verfahren wird dem Ablauf der Aufführung gefolgt und als Isotopieebene Situation, Szene oder Akt ausgegrenzt. Es werden hier also Segmente gewählt, die bereits im literarischen Text des Dramas vorgegeben und gekennzeichnet sind. 124 Im theatralischen Text sind ihre Grenzen meist durch Auftritt bzw. Abgang einer Person, Dekorationswechsel, Verlöschen bzw. Aufleuchten der Scheinwerfer oder Herunterlassen bzw. Heraufziehen des Vorhanges markiert. Alle Zeichen und Zeichenkombinationen, die zwischen diesen Grenzen realisiert werden, bilden in ihrer Gesamtheit die betreffende Isotopie. Die in ihr enthaltenen Klasseme und Einzelzeichen werden entsprechend daraufhin zu untersuchen sein, auf welche Weise sie die Bedeutung dieser Situation, Szene bzw. dieses Aktes aufbauen und welche Situations-/ Szenen-/ Aktbedeutung sie dabei konstituieren. Selektion und Kombination der theatralischen Zeichen sind also bei diesem Vorgehen stets auf die Einheit der Situation/ Szene/ des Aktes als übergeordnete Größe bezogen, von der her sowohl ihre Funktion als auch ihre Bedeutung bestimmt ist und ermittelt werden kann. <?page no="82"?> 82 Die Wahl von Situation/ Szene/ Akt als Isotopie erscheint vor allem bei zwei Typen von Aufführungen besonders geeignet: 1. bei solchen, welche von der einzelnen Situation oder Szene ausgehen und die unterschiedlichen Einzelszenen nach einem übergeordneten Prinzip wie beispielsweise dem des Kontrastes miteinander montieren, und 2. bei solchen, in denen gerade die Logik des Handlungsablaufs durch eine die Kohärenz zwischen den Szenen herausstellende Abfolge betont wird. Denn so verschieden, ja diametral entgegengesetzt das Konstruktionsprinzip beider Aufftihrungstypen sein mag, konvergieren sie doch in dem besonderen Status, den sie der Situation oder Szene als Handlungsbzw. Präsentationseinheit zusprechen. 125 Das dritte Verfahren, die Ebene der Isotopien zu erstellen, ist ähnlich wie das syntagmenbildende Verfahren auf Größen bezogen, die bereits in der Dramentheorie vorgegeben sind. Hier werden nun Segmente gebildet, die weder an den Ablauf der Aufführung noch an die Realisierung eines bestimmten Zeichensystems gebunden sind, sondern sich textübergreifend konstituieren. Bei diesem Verfahren könnte als Isotopie die Rollenflgur gewählt und ausgegrenzt werden eine Kategorie also, welche die dramentheoretische Diskussion seit dem "sturm und Drang"dominiert. 126 Soll sie als lsotopie gelten und fungieren, müssen folglich alle einzelnen Zeichen und Klasseme, welche zu ihrer Konstitution beitragen, daraufhin untersucht werden, welche Bedeutung ihnen in bezug auf die fragliche Figur beigelegt werden kann bzw. umgekehrt, welche Bedeutung sie sub specie dramatis personae X erhalten. Bei der Wahl der Rollenfigur als Isotopie stellt sich zum ersten Mal das Problem, auf welche Weise die sie konstituierenden Klasseme/ Einzelzeichen zu ermitteln sind. Denn während beim ersten Verfahren die im Hinblick auf die gewählte Isotopie relevanten Klasseme durch Rekurs auf alle de facto realisierten Zeichen des betreffenden Zeichensystems bzw. der betreffenden Gruppe von Zeichensystemen einwandfrei festzustellen sind, beim syntagmenbildenden Verfahren dagegen durch Rekurs auf die Markierungen, welche die Grenzen der jeweils gewählten Einheiten anzeigen es sind alle zwischen diesen Grenzen realisierten Klasseme zu berücksichtigen -, sind beim dritten Verfahren keineswegs so günstige Voraussetzungen für die Durchführung dieser Prozedur gegeben. Wohl ist anzunehmen, daß alle sowohl vom Schauspieler als auch am Schauspieler realisierten Zeichen bzw. Klasseme die Ebene der gewählten Isotopie bilden, aber es kann nicht ausgeschlossen werden, daß darüber hinaus auch Zeichen anderer Systeme - Requisiten, Dekoration, Musik, Geräuschen, dieselbe Funktion zukommt. Es ist also in diesem Fall mit der Ausgrenzung der Isotopieebene nicht zu- <?page no="83"?> 83 gleich auch bereits der vollständige Korpus diesbezüglich potentiell zu untersuchender Zeichen und Klasseme erstellt und gegeben, sondern der Prozeß der Korpusgewinnung muß zumindest teilweise gleichzeitig mit jenem Prozeß vollzogen werden, in dem der Einheit Rollenfigur aufgrund der Untersuchung der sie bildenden Klasseme bereits eine Bedeutung zugesprochen wird. Die Wahl der Rollenfigur als Ebene der Isotopie ist bei jeder Aufführung möglich, sie ist im Gegensatz zu den beiden anderen Verfahren nicht von bestimmten Strukturmerkmalen abhängig.! 27 Denn da Theater sich immer dort ereignet, wo der Schauspieler A eine Rollenfigur X verkörpert, während der Zuschauer S zuschaut, ist die Möglichkeit für diese Wahl bereits mit der Minimaldefinition theatralischer Prozesse gegeben. Ohne daß also aufgrund einer vorab erfolgten, ersten "unwissenschaftlichen" Rezeption bereits Vorannalunen über die Struktur der Aufführung und ihre daraus resultierende Eignung für ein bestimmtes Verfahren der Isotopienerstellung gegeben wären, läßt sich jede Analyse vom Segment der Rollenfigur her beginnen. Sie stellt daher in gewisser Weise die fundamentale Isotopieebene einer Aufführung dar. Es mag auf den letzten Seiten der Eindruck entstanden sein, als würden wir ganz ähnliche Modelle der Einheitenbildung entwickeln, wie sie Jansen mit der Einheit "Situation" und Hamon mit der Einheit "personnage" vorgeschlagen haben. Demgegenüber soll jedoch noch einmal mit allem Nachdruck betont werden, daß die Größen "Situation/ Szene/ Akt" und "Rollenfigur" hier nicht als homogene kleinste bedeutende Einheiten des theatralischen Codes als System bestimmt sind, sondern als komplexe Ebenen semantischer Kohärenz konkreter theatralischer Texte. Sie sind also ausschließlich als Segmente des Textes und damit als Einheiten des theatralischen Codes auf der Ebene der Rede zu verstehen; ihr theoretischer Status ist folglich von demjenigen der Größen "Situation" und "personnage" wesentlich verschieden. Die Wahl der jeweiligen Isotopieebene ist nicht determiniert. Sie wird einerseits von gewissen Vorannalunen, die Struktur der Aufführung betreffend, abhängen, andererseits vom besonderen Ziel der Analyse. Will man beispielsweise die spezifische Leistungsfähigkeit oder Innovationskraft einzelner beteiligter Zeichensysteme ermitteln und unter Beweis stellen,t 28 wird man sicher das erste Verfahren wählen; stehen der Aufbau oder die Kategorie der Handlung im Mittelpunkt des Interesses, wird man sich für das zweite Verfahren entscheiden; zielt dagegen die Untersuchung auf die Charakterisierung von Typen' auf psychologische Vorgänge oder Interaktionsprozesse, wird <?page no="84"?> 84 man der Kategorie der dramatis persona als Ebene der Isotopie den Vorzug geben. 129 Darüber hinaus darf man nicht außer acht lassen, daß keinerlei Notwendigkeit besteht, die einmal gewählte Isotopieebene während des gesamten Verlaufs der Analyse hindurch beizubehalten. Es kann durchaus gute Gründe daftir geben, beispielsweise von der Rollenfigur zu Situation/ Szene/ Akt oder zu einzelnen Zeichensystemen überzugehen und umgekehrt. In einem solchen Fall ist jedoch daraufzu bestehen, daß die Gründe für einen derartigen Wechsel der Isotopieebene dargelegt und die Ziele eines solchen Vorgehens einsichtig und plausibel gemacht werden. 1 30 Die vierte Ebene semantischer Kohärenz stellt endlich diejenige der "Totalität des Sinnes", des ganzen theatralischen Textes dar. Sie wird von der Gesamtheit der Isotopien gebildet und ist daher vor allem durch Rückgang auf die Ebene der Isotopie zu konstituieren. D.h., es müssen jeweils die besonderen Beziehungen untersucht werden, die zwischen den als Isotopie gewählten Segmenten bestehen die Beziehungen also zwischen den unterschiedlichen beteiligten Zeichensystemen und Zeichensystemgruppen, zwischen den einander folgenden Szenen bzw. Akten, zwischen den einzelnen dramatis personae der Aufführung. Auf der Grundlage dieses Relationsgeftiges wird sich einerseits die im Rekurs auf die Klasseme konstituierte Bedeutung der entsprechenden Einheiten bestätigen oder korrigieren lassen und andererseits im selben Prozeß der Sinn der Aufführung konstituieren. Die Ebene der Isotopien nimmt, wie unschwer zu folgern ist, in der Hierarchie der verschiedenen Ebenen semantischer Kohärenz in gewisser Weise eine Sonderstellung ein. Denn sowohl die sie konstituierenden Ebenen niedrigerer semantischer Kohärenz als auch die von ihr konstituierte Ebene höherer semantischer Kohärenz sind auf sie wie auf einen Angel- oder Drehpunkt bezogen: die Klasseme werden im Hinblick auf sie zueinander in Relation gesetzt und erhalten so ebenso wie die theatralischen Einzelzeichen, aus denen sie sich zusammensetzen eine Bedeutung, während der Sinn des Textes auf dem Fundament des Beziehungskomplexes entsteht, der durch ihre Einheiten gebildet wird. Obwohl auch die auf der Ebene der Isotopien gewählten Segmente ihre Bedeutung ebenso wie die Segmente der anderen Ebenen nur aufgrund der besonderen Wechselwirkung zwischen den Ebenen unterschiedlicher semantischer Kohärenz erhalten, nimmt diese Ebene dennoch eine Sonderstellung ein, da alle Analyseoperationen auf sie als auf ihre zentrale Achse bezogen sind. Der Wahl der Isotopieebene kommt daher nicht nur hinsichtlich der Prozedur der Seg- <?page no="85"?> 85 mentierung, sondern darüber hinaus auch im Hinblick auf den gesamten Analyseprozeß eine besonders hohe Relevanz ZU. 131 2.2.3 Selektion und Kombination Die Untersuchung der singulären Selektion und Kombination theatralischer Zeichen, die eine Aufführung in ihrer Individualität ausmachen und konstituieren, hat vor allem zwei wichtige Prämissen zu berücksichtigen: sie muß 1. auf die vom theatralischen Code als System und als Norm angebotenen Möglichkeiten rekurrieren und 2. in bezug auf jeweils eine bestimmte Ebene semantischer Kohärenz durchgeftihrt werden. Während die erste Prämisse insbesondere der Untersuchung der Selektion gilt, da eine Selektion stets nur als Selektion aus den von System oder Norm zur Verfügung gestellten Möglichkeiten vollzogen werden kann, ist die zweite eher auf die Untersuchung der Kombinationen gerichtet. Denn die Kombinationen realisieren sich auf jeder Ebene semantischer Kohärenz als Kombination jeweils anderer Elemente: auf der klassematischen Ebene als Kombination heterogener Einzelzeichen, auf der Ebene der Isotopien als Kombination von Klassemen, auf der Ebene des gesamten Textes als Kombination von Isotopien. Dieser Differenz sollte daher jede Untersuchung Rechnung tragen. Wir haben die Selektion in dreifacher Hinsicht als bedeutungstragendes Element bestimmt: 1. als Auswahl der zu verwendenden Zeichensysteme; 2. als Auswahl des zu realisierenden Zeichentypus innerhalb der einzelnen verwendeten Zeichensysteme ; 3. als Auswahl aller besonderen de facto realisierten Zeichen. Dieser dreifachen positiven Wahl korrespondiert möglicherweise auch als Signifikant ein entsprechender dreifacher Ausschluß. Es muß also zunächst untersucht werden, welche der vierzehn allgemein möglichen Zeichensysteme tatsächlich als bedeutungserzeugende Systeme eingesetzt worden sind. Ist auf eines oder mehrere der potentiell zu verwendenden Systeme verzichtet worden, ist der Grund bzw. die Funktion dieses Verzichtes zu ermitteln. Schreibt die Norm vor, dieses System nicht einzusetzen wie beispielsweise die Gattungsnorm der Pantomime hinsichtlich der sprachlichen Zeichen -,oder ergibt sich seine Hintanstellung aus der besonderen Aufftihrungssituation wie der Verzicht auf Beleuchtung bei einer Nachmittagsvorstellung oder einer Matinee im Gartentheater -,so ist die Absenz des betreffenden Systems selbstverständlich als bedeutungsindifferent zu bewerten. <?page no="86"?> 86 In allen anderen Fällen dagegen stellt die je spezifische Auswahl in der Tat ein bedeutungstragendes Element dar. Es lassen sich in dieser Hinsicht prinzipiell drei Möglichkeiten unterscheiden: 1. die Nonn verlangt den Einsatz, ohne daß er erfolgt; 2. die Nonn verlangt den Verzicht, ohne daß er eingehalten wird; 3. die Nonn stellt die Verwendung des betreffenden Zeichensystems frei, und das System wird eingesetzt. 13 2 Die Funktion der jeweiligen Selektion als signifikant bzw. insignifikant ist also in allen derartigen Fällen nur durch Rekurs auf die zugrundeliegende Norm zu ermitteln. Kann von einer entsprechenden Nonn nicht ausgegangen werden, gilt grundsätzlich jede Wahl ebenso wie jeder Verzicht als bedeutungstragendes Element. Die Selektion ist zweitens als Auswahl des zu realisierenden Zeiehentypus innerhalb der einzelnen verwendeten Zeichensysteme zu untersuchen. Bei dieser Prozedur ist beispielsweise hinsichtlich der kinesischen Zeichen zu überprüfen, ob sie auf der Grundlage eines Codes realisiert werden, welcher in vergleichbarer Weise die Hervorbringung kinesischer Zeichen in der umgebenden Kultur regelt und deswegen weitgehend als "natürlich" empfunden wird, oder ob sie auf einen Code zurückzuführen sind, der als artifIZiell in welcher Hinsicht auch immer einzuschätzen ist. Die Kostüme z.B. müßten daraufhin untersucht werden, ob sie realitätsangemessen, d.h. nach Maßgabe historischer, kultureller, sozialer, berufsspezifischer u.a. Gegebenheiten, oder nach irgendwelchen anderen Kriterien beispielweise als charakteristische oder Phantasiekostüme entworfen sind; hinsichtlich der Dekorationen müßte ennittelt werden, ob sie plastisch oder malerisch gestaltet sind, ihre Ausführung einerseits im Detail, andererseits insgesamt nach einem realistischen oder abstrakten Modell erfolgt u.a.m. Jedes Zeichensystem ist in dieser Hinsicht gesondert zu untersuchen, damit festgestellt werden kann, ob die Zeichen in den unterschiedlichen Systemen auf der Grundlage desselben bzw. eines ähnlichen Prinzips realisiert werden oder ob Differenzen auftreten, die ihrerseits wieder als bedeutungstragende Elemente zu begreifen und entsprechend zu interpretieren sind. Ist der jeweils zugrundegelegte Typus ermittelt, muß seine Beziehung zur geltenden Nonn untersucht werden. Denn wenn bereits die Nonn die Wahl des tatsächlich realisierten Typus vorschreibt, ist das Faktum seiner Realisierung als bedeutungsindifferent zu betrachten. Auch in diesem Fall hat also wieder die Regel Gültigkeit, daß nur eine Abweichung von der Nonn allerdings bereits die kleinste als signifikant begriffen werden kann. 133 Ist eine Norm nicht vorauszusetzen oder enthält die zugrundegelegte Nonn keine Vorschriften, den zu realisierenden Zeichentypus betreffend, gilt jede Wahl grundsätzlich als bedeutungstragendes Element. Denn <?page no="87"?> 87 dann sind alle im System enthaltenen, d.h. überhaupt nur möglichen Typen von Zeichen als das Repertoire anzusehen, aus dem selektiert wird. 134 Drittens ist die Selektion endlich als Auswahl aller de facto in der Aufführung realisierten Zeichen zu untersuchen. In dieser Prozedur muß also zumindest theoretisch bei jedem einzelnen Zeichen sowohl seine jeweilige Eigenart als auch die Bedeutung seiner Wahl ermittelt werden; d.h. es ist jedesmal die Frage zu stellen, welches Zeichen gewählt wurde und aus welchen Gründen bzw. zu welchem Zweck und im Hinblick auf welche Funktion die Wahl gerade auf dieses eine Zeichen gefallen sein mag. Dieser Frage hinsichtlich aller in einer Aufführung realisierten Einzelzeichen nachzugehen und eine Antwort auf sie zu fmden, dürfte nun wohl jede in puncto Gründlichkeit und Vollständigkeit noch so ambitiöse Analyse überfordern. Im Unterschied zur Untersuchung der auf der ersten und zweiten Stufe getroffenen Wahlen, die durchaus in extenso durchgeführt werden kann, muß folglich die Untersuchung der Wahl, die selektierten Einzelzeichen betreffend, ihrerseits selektiv verfahren. Sie wird sich immer nur auf einen beschränkten Korpus derartiger Einzelzeichen beziehen können. Damit finden wir uns dem Problem konfrontiert, nach welchen Kriterien ein solcher Korpus zusammengestellt werden soll. Denn nach unseren bisherigen Aussagen über die Aufführung als einen ästhetischen Text ist anzunehmen, daß jedes einzelne Zeichen, da es nicht redundant ist, auch Relevanz besitzt. Wenn wir nicht alle für den Text in seiner Gesamtheit relevanten Zeichen untersuchen können, müssen wir unser Untersuchungsfeld folglich auf kleinere Bereiche beschränken und brauchen dann jeweils nur diejenigen Zeichen zu berücksichtigen, die in bezug auf diesen Bereich als relevant einzuschätzen sind. Eine solche Beschränkung könnte beispielsweise mit Blick auf die Unterscheidung in Ebenen verschiedener semantischer Kohärenz vorgenommen werden. Es wären dann z.B. nur alle diejenigen Zeichen zu untersuchen, die für das Segment a auf der klassematischen Ebene wie beispielsweise für das Kostüm der Rollenfigur X - oder für das Segment A auf der Ebene der Isotopien wie z.B. für die Rollenfigur X - Relevanz besitzen. In einem derartig eingeschränkten Bereich würde dann eine zumindest annähernde Vollständigkeit auch mit einiger Berechtigung postuliert und mit großer Wahrscheinlichkeit tatsächlich erreicht werden können. Werden die Grenzen dagegen zu weit gesteckt wie beispielsweise alle Segmente auf der Ebene der Isotopien (z.B. alle dramatis personae) -,müßte auch in diesem eingeschränkten Bereich wieder, nach welchen Kriterien auch immer, selektiert werden. Es <?page no="88"?> 88 wäre also in einem solchen Fall zunächst das Problem einer begründeten Kriterienauswahl und -formulierung zu lösen. Ist der Bereich hinreichend überschaubar abgegrenzt, kann die oben gestellte Frage erneut aufgegriffen und in bezug auf jedes einzelne in diesem Bereich realisierte Zeichen untersucht werden. Dabei darf allerdings eine wichtige Voraussetzung nicht übersehen werden: die Wahl eines Elementes kann immer nur dann Signifikant sein, wenn zu diesem Element eine Alternative vorgesehen ist. 13S Kann kein anderes Element an seine Stelle treten, ist seine Wahl dagegen bedeutungSindifferent. Will man feststellen, ob bereits die Selektion dieses Zeichens als bedeutungstragendes Element anzusetzen ist, muß man daher prüfen, ob der theatralische Code als System oder Norm Alternativen zu diesem Zeichen bereithält. Dies läßt sich nun nur auf dem Wege einer Substitution ermitteln, die man im Hinblick auf den theatralischen Text selbstverständlich nur in Gedanken durchführen kann. Man setzt als.o ein anderes Element, das aufgrund seines Vorkommens und seiner Position im Repertoire der Norm oder des Systems diesbezüglich in Frage zu kommen scheint, an die Stelle des tatsächlich gewählten und überprüft, ob sich die Bedeutung des Klassems, dem das betreffende Zeichen zugehört, durch diese Operation ändert. 136 Erweist sich das untersuchte Zeichen auf diesem Wege als substituierbar, kann das Faktum seiner Wahl als ein Signiftkant angesehen und im weiteren Verlauf der Analyse entsprechend behandelt werden. Während die Untersuchung der Selektion als signifikant in bezug auf die Auswahl der ersten und zweiten Stufe durchaus als eine gesonderte Prozedur durchgeführt werden kann, erscheint es fraglich, ob dies auch im Hinblick auf die Untersuchung der de facto realisierten theatralischen Zeichen als sinnvoll anzusehen ist. Denn da eine solche Untersuchung sich nur jeweils an einem eingeschränkten Bereich vollziehen läßt, wird sie als Folge einer Entscheidung begonnen, die bereits im Hinblick auf bevorzugte Ebenen oder Ziele der Analyse getroffen ist. Sie wird sich daher auch in unterschiedliche ,jeweils aus diesen Zielen abzuleitende Analysezusammenhänge einordnen und entsprechend in wechselnden Kontexten durchführen lassen. Da hinsichtlich der Kombination die allgemeine Regel gilt, daß grundsätzlich jedes Zeichen eines Zeichensystems mit jedem anderen desselben oder eines beliebigen anderen Zeichensystems sowohl in der Simultaneität als auch in der Sukzession kombiniert werden kann, müssen sollen die jeweils realisierten Kombinationen ihrerseits als mögliche Signiftkanten nachgewiesen werden die Relationen untersucht werden, die a) auf der klassematischen Ebene zwi- <?page no="89"?> 89 schen den einzelnen theatralischen Zeichen, b) auf der Ebene der Isotopien zwischen den verschiedenen Klassemen und c) auf der Ebene des Gesamttextes zwischen den als Isotopie gewählten Segmenten bestehen. Wohl ist also auf jeder Ebene semantischer Kohärenz der Komplex möglicher Relationen gesondert zu konstruieren, dennoch können die Prinzipien, welche der Herstellung derartiger Relationen auf den einzelnen Ebenen zugrundeliegen, durchaus identisch sein. Grundsätzlich nämlich lassen sich nur zwei Arten von Beziehungen unterscheiden: 1. die Relation der Äquivalenz und 2. die Relation der Opposition. Alle denkbaren Relationen lassen sich also entweder als äquivalente oder als oppositive beschreiben. Nun können allerdings, das sei hier gleich einleitend betont, die Merkmale und Aspekte, in bezug auf welche Äquivalenz oder Opposition bestehen soll, höchst unterschiedlich bestimmt sein. Von Äquivalenz sprechen wir, wenn zwei Einheiten, die auf derselben Ebene semantischer Kohärenz ermittelt sind, im Hinblick auf wenigstens ein Merkmal durch einander zu substituieren sind. Dabei muß die Bedingung erftillt sein, daß dies gemeinsame Merkmal durch den Text eine spezifische Funktion erhält, während die divergierenden Merkmale von ihm neutralisiert werden. 137 Äquivalenz liegt beispielsweise vor, wenn zwei Personen mit zwar jeweils andersfarbigem und anders frisiertem, aber in jedem Fall gefarbtem Haar auftreten, und das Merkmal des Gefärbtseins funktionalisiert wird; oder wenn zwei vollkommen verschiedene Personen ein ähnliches bzw. das gleiche Kostüm tragen oder eine ähnliche Handlung begehen und das Merkmal der Ähnlichkeit bzw. Gleichheit der Kostüme/ Handlungen als signiftkant erscheint; wenn zwei verschiedenen Dekorationen, z.B. einer Innen- und einer Außendekoration,das Element Tür gemeinsam ist und eben dieses Merkmal eine bestimmte Funktion erhält; oder wenn zwei verschiedene Szenen in derselben Dekoration spielen und auf dies Faktum vom Text als auf einen Signiftkanten hingewiesen wird u.a.m. Identität ist also nicht generell mit Äquivalenz gleichzusetzen, sie stellt vielmehr nur einen Spezialbzw. Grenzfall der Äquivalenz dar .138 Als oppositiv bezeichnen wir zwei gleichwertige (dh. auf derselben Ebene semantischer Kohärenz situierte) Einheiten, wenn sie sich im Hinblick auf wenigstens ein Merkmal gegenseitig ausschließen. Auch bei der Opposition muß wiederum die Bedingung erftillt sein, daß das oppositive Merkmal vom Text eine Funktion zugewiesen bekommt und die einander entsprechenden Merkmale neutralisiert werden. Während wir bei der Äquivalenz nur ganz allgemein zwischen unterschiedlichen Graden der Entsprechung bis hin zum höchsten, <?page no="90"?> 90 der Identität, differenzieren, lassen sich die Oppositionen prinzipiell in drei Klassen bzw. Arten von Oppositionen einteilen: in a) privative, b) graduelle und c) äquipollente Oppositionen. 1 39 Bei der privativen Opposition unterscheiden sich die beiden fraglichen Einheiten dadurch, daß die eine das betreffende Merkmal aufweist, die andere aber nicht. Von einer derartigen privativen Opposition können wir beispielsweise sprechen, wenn die Person A ihr Äußeres dadurch verändert, daß sie in Situation X eine Periicke trägt, in Situation Y dagegen nicht und sowohl das Tragen der Periicke als auch ihr Fehlen als signifikant erscheint; oder wenn dieselbe Dekoration in Szene X ein bestimmtes Element Cl: z.B. einen Schrank enthält, in Szene Y dagegen nicht, und wiederum sowohl das Faktum des Enthaltenseins des Schrankes als auch dasjenige seines Nicht-Enthaltenseins in der Dekoration funktionalisiert wird; oder wenn eine Person ein Merkmal aufweist beispielsweise eine Krone -, durch das sie zu allen anderen Personen in Opposition tritt, weil keine andere über es verfügt, und dieser Gegensatz seinerseits semantisiert wird, u.a.m. Eine graduelle Opposition liegt dann vor, wenn das die Opposition begriindende Merkmal sich jeweils nach Graden unterscheidet. In der linguistischen Semantik muß als beliebtes Belegbeispiel für diese Art der Opposition häufig die Reihe der Bezeichnungen für Wärmegrade: eisig kalt kühl -lau wann heiß herhalten. Auf dem Theater haben wir es mit einer graduellen Opposition zu tun, wenn sich beispielsweise der Helligkeitsgrad der Beleuchtung zwischen den Situationen v, w, x, y, z ändert und diese graduellen Unterschiede ebenso wie das Faktum ihres Wechsels funktionalisiert werden (weil vielleicht jedem Helligkeitsgrad eine bestimmte Tageszeit entspricht); oder wenn die Rollenflguren aufgrund ihrer sozialen Zugehörigkeit differieren und sich leicht eine steigende/ fallende Reihe des sozialen Status, der durch unterschiedliche komplexe Klasseme bedeutet wird, wie Bettler, Bauer, Bürger, Edelmann, König, bilden läßt, die ihrerseits als signifIkant erscheint; oder wenn die Lautstärke der Geräusche in den Situationen X und Y graduell verschieden ist und diese Differenz semantisiert wird (weil sie gegebenenfalls auf die Nähe oder Ferne des von dem Geräusch bedeuteten Objektes verweist) u.a.m. Eine äquipollente Opposition läßt sich feststellen, wenn das betreffende Merkmal bei den verglichenen Einheiten jeweils anders realisiert ist, aber alle Realisierungen als gleichrangig bzw. gleichwertig anzusehen sind und sich gegenseitig ausschließen. So können wir beispielsweise hinsichtlich der Reaktion der unterschiedlichen dramatis personae von einer äquipollenten Opposition sprechen, <?page no="91"?> 91 wenn eine ihnen überbrachte Nachricht bei A einen Wutanfall auslöst, während B mit einem traurigen Gesicht ans Fenster tritt und hinausschaut, bei C zu einem vergnügten Schmunzeln führt, während D und E sich über einen vollkommen anderen Gegenstand weiter unterhalten, als wäre nichts geschehen, und das Faktum der unterschiedlichen Reaktionen seinerseits semantisiert wird; oder hinsichtlich der Abfolge der Dekorationen, wenn jede Szene in einer anderen Räumlichkeit spielt, weswegen jede einzelne zu allen anderen in Opposition steht, und diese Eigenart durch den Verlauf der Aufführung als signifIkant ausgewiesen wird; oder hinsichtlich eines einzelnen Zeichens wie beispielsweise der Kopfbedeckung, wenn in einer Szene A einen Strohhut, B ein Jägerhütchen, C einen Filzhut und E eine Baskenmütze trägt und diese Differenz vom Kontext her eine Funktion erhält. Insofern zwischen zwei/ mehreren Einheiten die Relation einer Äquivalenz oder einer Opposition besteht, gilt sie also immer nur im Hinblick auf ein/ mehrere bestimmte(s) Merkmal(e). Diese Merkmale lassen sich nun wiederum in Klassen zusammenfassen, als deren wichtigste wir 1. Art bzw. Aussehen (Ähnlichkeit), 2. Umfang, 3. Position, 4. Distribution und S. Frequenz hier ausdrücklich anführen möchten. Äquivalenz und Opposition können also 1. hinsichtlich der Art bzw. des Aussehens der untersuchten Einheiten bestehen. Dieses Merkmal betrifft mögliche Entsprechungen und Unterschiede in der vom Zuschauer wahrnehmbaren, auf bestimmte Weise gestalteten Materialität der Segmente. So können sowohl einzelne Zeichen wie eine Geste, ein Requisit, ein Kostüm- oder Dekorationselement, ein Geräusch etc. aber auch verschiedene Klasseme wie Verhaltenssequenzen, Kostüme, Dekorationen, Tonsequenzen etc. als auch die unterschiedlichen Isotopien wie Rollenfiguren, Szenen, Zeichensysteme einander ähnlich oder unähnlich sein, sich in ihrer spezifischen Gestaltung entsprechen oder einander ausschließen. Nun ist Ähnlichkeit ein Merkmal, das ganz offensichtlich vor allem, wenn es sich um Äquivalenz handelt vom Zuschauer besonders schnell und leicht festgestellt werden kann: während zwar auch einem aufmerksamen Zuschauer beim ersten Durchlauf noch eine einmalige Wiederholung bzw. variierte Wiederholung eines Tonfalls oder einer Geste entgehen mag, sind ähnliche Requisiten, Kostüme bzw. Kostümteile, Dekorationen bzw. Dekorationselemente oder ähnliche musikalische Einlagen so augenbzw. ohrenfällig, daß von ihnen sozusagen ad hoc Notiz genommen wird. Den das Merkmal Aussehen (Ähnlichkeit) betreffenden Äquivalenzen und Oppositionen kommt daher im Hinblick auf den Rezeptionsprozeß eine besondere Relevanzzu. 140 <?page no="92"?> 92 Die Einheiten derselben Ebene semantischer Kohärenz können 2. in bezug auf das Merkmal des Umfangs äquivalent oder oppositiv sein. Einzelne Zeichen, Klasseme oder Isotopien sind folglich daraufhin zu untersuchen, ob sie von gleicher oder unterschiedlicher Größe, Lautstärke, Dauer, unterschiedlichem Ausmaß etc. sind. So kann beispielsweise das Faktum signifikant sein (bzw. werden), daß zwei Dekorationsteile zwei Stühle von unterschiedlicher Größe oder zwei Kostümelemente zwei Hüte gleich groß sind, daß die Lautstärke eines Geräusches das Klingeln einer Straßenbalm sich im Verlauf der Aufftihrung nicht ändert, die Rede der Person A lang und leise, diejenige der Person B dagegen laut und kurz ist, daß eine Verhaltenssequenz a, die von A vollzogen wird, einen kürzeren Zeitraum andauert als die Anwesenheit des Kostüms (x, das A trägt, daß A und B in der Szene X die gleiche Zeit über auf der Bühne verweilen, in Szene Y A jedoch länger als B; daß die einzelnen Szenen gleich lang oder von unterschiedlicher Dauer sind, daß minimalen oder gar keinen Dekorationen reich ausgestaltete Kostüme gegenübertreten u.a.m. Äquivalenz und Opposition können 3. in bezug auf die Position der Einheiten bestehen. In Hinblick auf den theatralischen Text folgt daraus, daß die Position eines Elements sowohl im Raum als auch in der Zeit, d.h. innerhalb des zeitlichen Ablaufs der Aufftihrung in ihrem Verhältnis zur entsprechenden Position eines anderen Elementes derselben Ebene semantischer Kohärenz,als signifIkant zu fungieren vermag. Es müssen also die betreffenden Einheiten daraufhin untersucht werden, a) an welcher Stelle im zeitlichen Ablauf der Aufführung sie in Erscheinung treten wobei die in irgendeiner Weise herausgehobenen Stellen wie Anfang, Ende, Höhepunkt, vor oder nach Auftreten von A oder vor oder nach Ereignis X selbstverständlich besondere Relevanz besitzen - und b) auf welchem räumlichen Punkt bzw. Segment sie in welcher Weise z.B. einander zugekehrt oder voneinander abgewandt, mit dem Rücken oder frontal zum Publikum u.a.m. placiert sind. Beide Untersuchungsprozeduren können natürlich auch miteinander verknüpft werden. So läßt es sich beispielsweise zweifellos als ein bedeutungstragendes Element einschätzen, wenn Person A am Anfang der Szene X rechts vom mit dem Rücken zu B, der sich links hinten befindet, am Ende der Szene dagegen ebenfalls links hinten steht, das Gesicht B zugewandt. Jeder Positionswechsel jeder Einheit, auf welcher Ebene semantischer Kohärenz auch immer, ist in diesem Sinn als Signifikant aufzufassen. Dabei können sowohl unterschiedliche Positionswechsel zueinander äquivalent oder oppositiv sein - Wechsel der Person A von Position (Xl zu Position (X2, Wechsel der Person B von <?page no="93"?> 93 Position ßl zu Position ß2 etc. als auch das Verharren in einer Position - A in Position al , B in Position a2, während andererseits Positionswechsel und Verharren in der gleichen Position zueinander in Opposition treten können: Verharren von A in al vs. Wechsel bei B von ßl zu ß2 oder: Verharren von A in al in Situation X vs. Wechsel bei A von al in a2 in Situation Y etc. etc. Oppositionen und Äquivalenzen in bezug auf das Merkmal der Position können dergestalt gerade im theatralischen Text von besonders hoher Relevanz sein und sollten deswegen stets mit größter Sorgfalt untersucht werden. Als 4. Merkmal, auf das bezogen Einheiten einander äquivalent oder oppositiv zu sein vermögen, haben wir die Distribution genannt. Auch dieses Merkmal gilt wie dasjenige der Position für Raum und Zeit. Es betrifft also einerseits die Anwesenheit eines Elementes an verschiedenen Punkten des zeitlichen Ablaufs der Aufflihrung, sowie andererseits die gleichzeitige räumliche Anordnung mehrerer Elemente. Im ersten Fall werden also zwei oder mehrere Einheiten daraufhin untersucht, an welchen Stellen im Verlauf der Aufflihrung sie jeweils auf der Bühne anwesend sind ob also beispielsweise A und B immer gleichzeitig auf der Bühne erscheinen oder B nur, wenn A nicht da ist, oder ob A und B wohl in den Szenen 1,7 und 9 gleichzeitig anwesend sind, A dagegen allein in den Szenen 2, 3,6 und B in den Szenen 4, 5 und 8 u.a.m. Im zweiten Fall dagegen wird die räumliche Anordnung der Elemente zu verschiedenen Zeitpunkten der Aufführung zu untersuchen sein. Dabei muß berücksichtigt werden, daß jeder Positionswechsel eines einzigen Elementes die gesamte Anordnung zu der vor dem Positionswechsel bestehenden in Opposition treten läßt. Es sollten allerdings diesbezüglich nicht nur die jeweils unmittelbar aufeinanderfolgenden Ordnungen der Elemente untersucht werden, sondern auch die Beziehungen zwischen entfernt voneinander liegenden Distributionen, wie beispielsweise im Extremfall die Anordnung der Elemente im Raum zu Beginn und Ende einer Sequenz, einer Szene, eines Aktes, der ganzen Aufführung. Die zeitliche Distribution der verschiedenen räumlichen Distributionen kann darüber hinaus auch in der Weise signiftkant werden, daß einzelne räumliche Distributionen an bestimmten Stellen sich komplett oder mit einer charakteristischen Variante wiederholen, andere dagegen überhaupt nicht und jeweils nur an einer Stelle in Erscheinung treten. Wie aus diesen kurzen Ausflihrungen unschwer zu ersehen, hängen Position und Distribution eng miteinander zusammen, sollten aber aus methodischen Gründen in der Analyse streng voneinander unterschieden werden. 141 Äquivalenz und Opposition können 5. hinsichtlich der Frequenz der Einheiten bestehen. Denn die einzelnen Elemente aller Ebenen <?page no="94"?> 94 semantischer Kohärenz lassen sich sowohl gleich bzw. annährend gleich häufig als auch mit unterschiedlicher Häufigkeit einsetzen. Während bei der Untersuchung einer Einheit hinsichtlich ihrer Distribution die Aufmerksamkeit gerade auf die spezifischen Stellen bzw. Punkte ihrer Anwesenheit im zeitlichen Ablauf oder im Raum gerichtet ist, gilt bei der Untersuchung ihrer Frequenz das Interesse sozusagen lediglich der statistischen Häufigkeit ihres Vorkommens im zeitlichen Ablauf oder im Raum, ohne jede Rücksicht auf den jeweiligen Zeitpunkt oder Ort ihrer Realisierung. Wird nach der Frequenz einer Einheit im Raum gefragt, muß die Anzahl der Exemplare ermittelt werden, in denen sie auf der Bühne erscheint (z.B. zwei Bilder, ein Stuhl, drei Personen etc.); geht es dagegen um ihre Frequenz im zeitlichen Ablauf der Aufführung, ist festzustellen, wie oft sie auf der Bühne erscheint (z.B. 1 Aufschrei, 7 Gänge über die Bühne, 15 Auftritte etc.). Diese fünf Klassen von Merkmalen stellen die wichtigsten dar, auf die bezogen zwischen zwei oder mehreren Einheiten eine Äquivalenz oder eine Opposition bestehen kann. Sie sind einerseits, wie hier angeführt, jeweils gesondert zu untersuchen, andererseits kann jedoch auch die spezifische Korrelation zwischen zwei oder mehreren dieser Merkmale signifikant sein. So ist es beispielweise durchaus als ein relevanter Unterschied anzusehen, ob zwei Einheiten in bezug auf eines, zwei oder gar mehrere Merkmale einander äquivalent oder oppositiv sind; ob zwischen zwei Merkmalen wie beispielsweise Frequenz und Umfang oder Ähnlichkeit und Position deutliche Korrelationen bestehen wenn also hohe Frequenz mit großem Umfang, niedrige Frequenz mit geringem Umfang korreliert, Ähnlichkeit mit entsprechenden oder, im Gegenteil, konträren Positionen u.am. - oder eine derartige Beziehung sich nicht nachweisen läßt. Will man beispielsweise ein Zeichensystem auf seine mögliche Dominanz hin untersuchen, empfiehlt es sich zu überprüfen, ob Umfang, Distribution und Frequenz miteinander korrelieren. läßt sich feststellen, daß dies Zeichensystem, was den Umfang, die Verteilung auf besonders herausgehobene Stellen und die Häufigkeit seiner Verwendung angeht, allen anderen Zeichensystemen überlegen ist und auf diese Weise zu ihnen allen in Opposition steht, kann man annehmen, daß es die anderen dominiert. Den Bedeutungen seiner Zeichen würde in einem solchen Fall höhere Relevanz zukommen als den Zeichen der anderen Zeichensysteme. Ganz allgemein läßt sich die Regel aufstellen, daß eine deutliche Korrelation zwischen zweien oder mehreren dieser Merkmale immer signifikant sein wird. 142 Äquivalenzen und Oppositionen zwischen Einheiten werden im Text mit Hilfe spezifischer Operationen hergestellt. Will man den <?page no="95"?> 95 Text auf Äquivalenzen und Oppositionen hin untersuchen, liegt es daher nahe, dieselben Operationen, wenn auch sozusagen in umgekehrter Richtung, durchzuführen: Addition, Subtraktion, Permutation und Substitution. 143 Bei Addition und Subtraktion werden Äquivalenz und Opposition dadurch hervorgerufen, daß man einem der fraglichen Elemente etwas hinzuftigt oder wegnimmt. Erhält beispielsweise eine der Personen eine Krone, so tritt sie durch dieses Attribut zu allen anderen in Opposition; wird sie ihr wieder entzogen, entsteht in bezug auf dieses Attribut zwischen ihr und den anderen erneut eine Beziehung der Äquivalenz. Addition und Subtraktion stellen vor allem hinsichtlich der Merkmale Umfang, Frequenz und wenn auch in etwas eingeschränkterem Maße - Aussehen besonders häufig verwendete Verfahren dar. Das Hinzuftigen bzw. Weglassen einer Geste, eines Kostüm- oder Dekorationsteils, eines Requisits, eines Scheinwerfers kann Ähnlichkeit oder Verschiedenheit einer Verhaltenssequenz, des Kostüms bzw. der äußeren Erscheinung, des Raumes, der Stimmung bewirken, kann den Umfang einer Verhaltenssequenz, eines Kostüms, der Dekoration, der Helligkeit verändern, die Häufigkeit dieser Geste, dieses Kostüm- und Dekorationsteils, dieses Requisits und dieser Scheinwerfereinstellung vermindern oder erhöhen. Sollen Äquivalenzen und Oppositionen in bezug auf die Merkmale Aussehen, Umfang und Frequenz ermittelt werden, erscheint es daher zweckmäßig, an den betreffenden Einheiten die Operation der Addition oder der Subtraktion vorzunehmen. Denn sie wird jeweils Aufschluß darüber zu geben imstande sein, ob die untersuchten Einheiten in bezug auf das fragliche Merkmal als äquivalent oder oppositiv zu bestimmen sind. Permutation und Substitution sind dagegen auf die Merkmale der Distribution und der Position bezogen. Will man die Frage klären, ob zwei oder mehrere Einheiten hinsichtlich ihrer Position äquivalent oder oppositiv sind, muß man die Operation der Substitution durchfUhren. Lassen sich die fraglichen Einheiten hinsichtlich ihrer Position durcheinander substituieren, sind sie in bezug auf ihre Position äquivalent; stellt sich eine solche Substitution dagegen als unmöglich heraus, liegt eine die Position betreffende Opposition vor. Mit Hilfe der Permutation endlich läßt sich feststellen, ob zwei oder mehrere Einheiten hinsichtlich ihrer Distribution äquivalent oder oppositiv sind: eine geglückte Permutation verweist auf das Vorliegen einer Äquivalenz, eine mißglückte dagegen auf dasjenige einer Opposition. Die einzelnen Verfahren sind also jeweils auf eines oder mehrere bestimmte Merkmale bezogen und lassen sich daher auch nur sinn- <?page no="96"?> 96 voll zur Ennittlung von Äquivalenzen und Oppositionen einsetzen, wenn sie ausschließlich in Zusammenhang mit dem/ den Merkmal(en) Verwendung finden, dem/ denen sie zuzuordnen sind. Eine Ausnahmestellung nimmt hier das Merkmal der Ähnlichkeit ein. Auch wenn diesbezügliche Äquivalenzen und Oppositionen häufig vielleicht sogar meist durch Addition und Subtraktion zu ermitteln sind, läßt sich in manchen Fällen dieses Ziel besser auf dem Wege der Substitution erreichen. Sie erscheint vor allem dann geeigneter, wenn Ähnllchkeit/ Unähnlichkeit nicht durch ein Plus oder Minus entsteht, sondern wie beispielsweise bei allen äquipollenten Oppositionen durch prinzipiell gleichwertige Differenzen und Homologien. Diese Ausnahmeregelung unterstreicht die besondere Relevanz des Merkmals Aussehen (Ähnlichkeit), auf die wir bereits mit Nachdruck hingewiesen haben. Die Gesamtheit einerseits der selektierten Elemente, andererseits der zwischen ihnen bestehenden Äquivalenzen und Oppositionen begründet die spezifische Struktur des theatralischen Textes, auf deren Basis allein sich sowohl die Bedeutungen seiner Elemente auf den verschiedenen Ebenen semantischer Kohärenz als auch sein Sinn konstituieren lassen. 2.2.4 Interne und externe Umkodierung Wenn Bedeutung im Text auf dem Wege einer internen oder externen Umkodierung entsteht, folgt daraus, daß der Rezipient einem Textelement eine Bedeutung beilegen kann, indem er es entweder auf ein anderes Textelement oder auf eine außertextuelle Strukturkette bezieht. Dazu muß allerdings eine allgemeine Voraussetzung gegeben sein: der Rezipient muß in bezug auf den theatralischen Code als System und als Nonn zumindest über eine minimale Kompetenz verfUgen. Denn wenn er die syntaktischen, semantischen und pragmatischen Regeln nicht kennt, denen die Erzeugung von Bedeutung auf den Ebenen des Systems und der betreffenden Norm folgt, wird er die Bedeutungen einzelner Textelemente zu konstituieren auch nicht fähig sein. Die Kenntnis des zugrundeliegenden semiotischen Systems stellt insofern die conditio sine qua non einer jeden Bedeutungsverleihung, einer jeden Sinnzuschreibung dar. 144 Wir haben nun verschiedentlich darauf hingewiesen, daß wir heute nicht an stabile, allgemein gültige theatralische Normen gebunden sind. Auf feste, quasi lexikalische Bedeutungszuweisungen, in denen die möglichen Bedeutungen eines Textelementes durch die Nonn abgegrenzt und festgelegt wären, kann folglich auch nicht zurückge- <?page no="97"?> 97 griffen werden. Dennoch lassen sich durchaus für eine große Zahl von Aufführungen, die in diesem Sinne jeweils auf eine gemeinsame, allen zugrundeliegende Norm zu beziehen sind, einige allgemeine Regeln formulieren, denen die Bedeutungserzeugung in der einzelnen Aufführung folgt. Als eine derartige Regel hatten wir bereits die spezifische Verwendung von Kostümen, Requisiten und Dekorationen angeführt, die nicht als Zeichen für die epochale, nationale, soziale Zugehörigkeit einer dramatis persona eingesetzt werden, sondern zum Zweck ihrer Charakterisierung. 145 In diesem Fall sieht also die Norm den Rekurs auf spezifisches kulturelles Wissen und damit eine besondere Form der externen Umkodierung vor. Die entgegengesetzte Regel gilt für Aufführungen des Boulevardtheaters: hier sollen Kostüme, Requisiten, Dekorationen ebenso wie Mimik und Gestik gemäß den Konventionen eines realistischen Theaters verwendet und interpretiert werden. Der Zuschauer weiß also, daß er hinsichtlich der Bedeutungsverleihung auf seine Kenntnis der primären kulturellen Systeme seiner Kultur zurückgreifen kann. 146 Das zeitgenössische avantgardistische Theater dagegen folgt einer allgemeinen Regel, welche einerseits die Semantisierung bisher insignifikanter Elemente und andererseits die Desemantisierung stark konventionalisierter Zeichen vorschreibt. Diese Regel setzt eine spezifische Wechselbeziehung zwischen Verfahren der internen und der externen Umkodierung voraus. 147 Will der Rezipient den einzelnen Elementen einer Aufführung eine Bedeutung beilegen, kann er also die jeweils durchzuführenden internen und externen Umkodierungen nur unter Rekurs auf die allgemeine Regel der Bedeutungserzeugung vornehmen, welcher die Aufführung folgt. Selbstverständlich ist dies eine ganz triviale Maxime, sie sollte jedoch, um mögliche Mißverständnisse zu vermeiden, nochmals ausdrücklich formuliert werden. Die interne Umkodierung stellt ein Verfahren der Bedeutungsverleihung dar, das von den spezifischen Relationen zwischen den Elementen des Textes auf den unterschiedlichen Ebenen semantischer Kohärenz seinen Ausgang nimmt. Aufgrund der besonderen Äquivalenzen und Oppositionen, in die ein Element hinsichtlich bestimmter Merkmale eintritt, läßt sich ihm eine Bedeutung zusprechen, die über diejenige hinausgeht, die ihm in Befolgung der auf der Ebene der Norm gültigen allgemeinen Regel der Bedeutungserzeugung beigelegt werden kann. Wir wollen dies kurz an einem Beispiel aus "Heinrich IV." verdeutlichen. 148 Die allgemeine Regel besagt hier, daß Kostüme, Requisiten und Dekorationen diejenigen Kleidungsstücke und Gegenstände deno- <?page no="98"?> 98 <?page no="99"?> 99 tieren, welche sie repräsentieren: ein Handschuh ist also zunächst als ein Handschuh, eine Krone als eine Krone, eine Brille als eine Brille, ein Leuchter als ein Leuchter usf. zu begreifen. Im 11. Akt nun zieht Heinrich sich nach den Worten "uebt Ihr Eure Tochter wirklich? " vor Donna Mathfide, die als Heinrichs Schwiegennutter Adelheid auftritt, kniend einen Handschuh aus, dann mit der nun bloßen rechten Hand Donna ~athfides linken, führt ihn mit beiden Händen an seine Lippen und küßt ihn. Da zu diesem Zeitpunkt der Handschuh lediglich als Handschuh und die Hand entsprechend als Hand eingeführt ist, läßt sich Heinrichs Handlung als Zeichen der Courtoisie, der Ergebenheit deuten. Wenige Minuten später erhalten Hand und Handschuh jedoch eine andere Bedeutung, so daß auch Heinrichs Handlung jetzt anders zu verstehen ist. Von den übrigen dramatis personae entfernt auf den Boden kniend streift Heinrich mit den Worten: "Auf dem Bett ich ohne dieses Kostüm -" seinen zweiten Handschuh ab und legt ihn auf den Boden. Zwischen den Worten "dieses Kostüm" und dem Handschuh wird dergestalt eine Beziehung der Äquivalenz hergestellt. Heinrich fährt fort: "sie auch ... ja, mein Gott, ohne Kleider ... ein Mann und eine Frau ... das ist natürlich. Da denkt man nicht mehr daran, was man ist." Bei diesen Worten legt Heinrich die beiden bloßen Hände vor sich auf den Boden, blickt bei "ein Mann" auf die rechte, bei "eine Frau" auf die linke und beugt sich mit seinem Oberkörper weit über sie. Auf diese Weise entsteht einerseits eine Äquivalenz zwischen "Mann und Frau ohne Kleider auf dem Bett" und den beiden bloßen nebeneinander auf dem Boden liegenden Händen, andererseits eine Opposition zwischen Handschuh und Hand, welche der Opposition zwischen Kleidung und nackter Mensch äquivalent iSt. 149 Diese interne Umkodierung verleiht Hand und Handschuh eine spezifische Bedeutung, die sowohl das vorhergehende als auch das nachfolgende Spiel mit dem Handschuh ihrerseits umkodiert: wenn Heinrich seinen Handschuh auszieht, will er sich so läßt sich diese Handlung aufgrund der nun gültigen Prämissen neu interpretieren - Donna Mathfide als "nackter" Mensch, dh. ohne jede Kostümierung und Maske, präsentieren und verlangt von ihr, indem er ihr den Handschuh abstreift, dasselbe. Dabei wahrt er jedoch eine gewisse Distanz zu ihr; denn er küßt lediglich den Handschuh, das abgelegte Kostüm, das ihm lieb ist, nicht aber die Hand, den Menschen selbst, der ihm fremd geblieben ist. Heinrichs Handlung erhält dergestalt durch die spätere Umkodierung nachträglich eine zusätzliche Bedeutung. Die auf diese Weise eingeführte Bedeutung des Handschuhs als Kleid bzw. Kostüm der betreffenden Person fungiert in der Folge <?page no="100"?> 100 <?page no="101"?> 101 als Ausgangsbedeutung für weitere Umkodierungen. Heinrich fahrt mit den Worten "Das Kleid, wie es da hängt, ein Gespenst! " fort, holt dabei Donna Mathildes Handschuh hervor, hält ihn am ausgestreckten Arm, ihn nur mit dem spitzen Daumen und Zeigefmger fassend, weit von sich und läßt ihn herunterhängen. Der Handschuh erhält aufgrund der dergestalt hergestellten Äquivalenz nun die zusätzliche Bedeutung "Gespenst". Da in den folgenden Worten Gespenster als "kleine Kombinationen des Geistes, Bilder, die wir im Schlaf nicht mehr steuern können" und die uns "Angst machen'~ bestimmt werden, gilt diese Bestimmung auch für den Handschuh: er erscheint unter diesen Voraussetzungen als das Bild, das Heinrich sich von Donna Mathilde gemacht hat, als seine Vorstellung von ihr, die ihn selbst ängstigt. Wenn er nun mit nachfederndem Arm diesen Handschuh entschlossen fallen läßt, so gibt er damit bewußt und willentlich diese seine Vorstellung preis und verzichtet auf jede weitere Beziehung zu Donna Mathilde, da diese Beziehung nur eine zwischen "Gespenstern" sein könnte, nicht aber eine zwischen Menschen. Heinrich beendet die Unterredung, indem er einen Dolch unter dem Büßerhemd hervorzieht, mit ihm den Handschuh aufspießt und an den Boden heftet; er durchbohrt das Bild, das er von Donna Mathilde hat, zerstört so seine Vorstellung von ihr und hat sich damit, was ihn angeht, von seiner Vergangenheit befreit. 15o Durch eine Reihe derartiger interner Umkodierungen wächst dem Element Handschuh ein Komplex von Bedeutungen zu, die Beziehung zwischen Heinrich und Donna Mathilde betreffend - Bedeutungen, die über seine anfängliche aufgrund der geltenden Norm konstituierte als Handschuh weit hinausgehen. Alle diese Bedeutungen sind nun nur durch Rekurs auf die äquivalenten und oppositiven Relationen zu konstituieren, in die der Text das Element "Handschuh" stellt. Daraus folgt als allgemeine Regel, nach der ein Rezipient interne Umkodierungen vorzunehmen hat, daß zunächst die unterschiedlichen Relationen gefunden bzw. konstruiert werden müssen, die das fragliche Element zu anderen gleichzeitig, vorher oder nachher präsentierten Elementen einzugehen vermag. Denn nur aus dem spezifischen Gefüge dieser Relationen können Anweisungen deduziert werden, aufwelche(s) andere(n) Textelement(e) das betreffende Element zu beziehen ist, wenn es eine Bedeutung erhalten soll. Die syntagmatischen Bedeutungen lassen sich also als diejenigen Bedeutungen bestimmen, die in Kenntnis des zugrundeliegenden semiotischen Systems allein aufgrund der besonderen Relationen zwischen den Textelementen der unterschiedlichen Ebenen semantischer Kohärenz zu konstituieren sind. Die interne Umkodierung setzt dergestalt das Auffmden bzw. Kon- <?page no="102"?> 102 struieren möglicher Äquivalenzen und Oppositionen im theatralischen Text als notwendige Bedingung voraus. Die externe Um kodierung dagegen hat jeweils ein spezifisches kulturelles Wissen zur Prämisse. Denn ein Textelement läßt sich selbstverständlich nur unter der Bedingung auf ein oder mehrere Element(e) einer außertextuellen Strukturkette beziehen, daß die betreffende Strukturkette dem Rezipienten bekannt, also Teil seines kulturellen Wissens ist. Im Unterschied zu anderen Texten entfällt nun beim theatralischen Text aufgrund seiner Eigenart der absoluten Gegenwärtigkeit die Möglichkeit eines historischen Abstandes zwischen Produzenten und Rezipienten. Insofern sie derselben Kultur angehören, wird ihnen daher auch das kulturelle Wissen dieser Kultur, welches alle ihre Mitglieder teilen, gemeinsam sein. Ist die fragliche außertextuelle Strukturkette , auf die ein Textelement bezogen werden muß, wenn es eine Bedeutung erhalten soll, Teil dieses kulturellen Wissens, ist die Möglichkeit der entsprechenden externen Umkodierung gesichert: jedes Mitglied der Kultur wird imstande sein, das Textelement auf die betreffende außertextueIIe Strukturkette zu beziehen. Zum kulturellen Wissen, das wohl bei allen Mitgliedern unserer Kultur vorausgesetzt werden kann, gehört beispielsweise die Kenntnis, daß Menschen auf dem Mond waren, Weihnachten Christi Geburt gefeiert wird, die Nazis Millionen Juden umgebracht haben, Goethe der größte deutsche Dichter war, die Menschen Afrikas überwiegend Schwarze sind, wir in einer Demokratie <?page no="103"?> 103 leben. Außer derartigen speziellen Kenntnissen sind selbstverständlich auch alle Formen kultureller Stereotypen hierher zu rechnen wie die Vorstellung eines Königs mit einer Krone, eines Indianers mit einem Federschmuck oder die Stereotypen des steifen Engländers, geizigen Schotten, stolzen Spaniers etc. Alle Textelernente, die auf derartiges selbstverständliches Wissen, allgemein verbreitete Stereotypien, generell akzeptierte und geteilte Vorstellungen, Meinungen und Überzeugungen anspielen, auf die sie bezogen werden müssen, um eine Bedeutung zu erhalten, können daher von jedem dieser Kultur angehörenden Zuschauer ad hoc mit der entsprechenden Bedeutung belegt werden. Das kulturelle Wissen, das für eine externe Urnkodierung vonnöten ist, kann jedoch auch nur als Spezialwissen einer bestimmten, unterschiedlich großen Gruppe gegeben sein. Während beispielsweise das die christliche Religion betreffende Wissen noch zu Beginn unseres Jahrhunderts als allgemein verbreitetes kulturelles Wissen gelten konnte, ist es heute bereits als ein Spezialwissen zu betrachten, das zwar noch einer relativ großen Gruppe von Mitgliedern unserer Kultur gemeinsam ist, sich jedoch keineswegs mehr als allgemein bekannt voraussetzen läßt. Beziehen sich Elemente einer Aufführung auf Teile dieses Wissens, kann, wenn es sich nicht um ein in dieser Hinsicht homogenes ausgewähltes Publikum handelt, nicht davon ausgegangen werden, daß alle Zuschauer ihnen eine Bedeutung zu attribuieren in der Lage sein werden. Dies gilt natürlich in verstärktem Maße für alle jene Elemente, die auf außertextuelle Strukturketten bezogen werden müssen, welche als Teil eines sehr speziellen kulturellen Wissens beispielsweise über bestimmte historische Ereignisse, physikalische Erkenntnisse, wenig verbreitete literatur, kaum zugängliche Bilder etc. etc. nur sehr wenigen Zuschauern bekannt sein können. Da der Zuschauer jedoch nicht die Möglichkeit hat, die Aufführung zu unterbrechen und sich das für das Verständnis einzelner Elemente notwendige Spezialwissen zu beschaffen, ist der Prozeß der Rezeption der Be deutungs- und Sinnverleihung in einem solchen Fall ernsthaft gefährdet, wenn für die jeweiligen Elemente nicht außer den geforderten paradigmatischen Bedeutungen auch entsprechende syntagmatische konstituiert werden können. Der Rekurs auf spezielles kulturelles Wissen ist dagegen unproblematisch, wenn die Zusammensetzung des Publikums Grund zu der Annahme gibt, daß die Zuschauer weitgehend über das zur Bedeutungsattribution notwendige Wissen verfügen. Sollte allerdings die fragliche Relation zwischen dem Textelement und einem Element einer außertextuellen Strukturkette sich allein aufgrund des besonderen Wissens oder der ganz individuellen Erfah- <?page no="104"?> 104 rung eines der Produzenten herstellen lassen, wird kein Zuschauer die dergestalt zu konstituierende Bedeutung zu fmden in der Lage sein. Textelemente, die auf persönliche Meinungen, Wertungen, Probleme und Obsessionen sowie auf irgendeine Privatmythologie eines der Produzenten zurückgehen, lassen sich folglich nur unter der Bedingung als Signifikanten verwenden, daß ihre Bedeutung nicht mit einer externen Umkodierung konstituiert werden muß, sondern auf dem Wege interner Umkodierungen eingeführt und entwickelt wird! Sl Externe Umkodierungen lassen sich nur vornehmen, wenn der jeweilige Bezug auf die fragliche außertextuelle Strukturkette wenigstens einer Gruppe vertraut ist. Auch die externen Umkodierungen setzen selbstverständlich eine Kompetenz des Zuschauers hinsichtlich des zugrundeliegenden semiotischen Systems voraus. Wenn als allgemeine Regel der Bedeutungserzeugung zB. der Rekurs auf Konventionen des realistischen Theaters gilt, folgt aus der Verwendung historischer Kostüme, daß sie als Zeichen für die Epoche, die soziale Schicht, den Berufetc. der betreffenden dramatis personae fungieren. Ihre Interpretation verlangt daher die Kenntnis der klassen- und berufsspezifischen Mode dieser Zeit. Ist dagegen von der Regel auszugehen, daß historische Kostüme auch unterschiedlicher Epochen der Charakterisierung der dramatis personae dienen, muß zu ihrer Interpretation nicht nur auf die Kenntnis der Mode der jeweiligen Zeit rekurriert werden, sondern darüber hinaus auch auf eine weitergehende Kenntnis der betreffenden Epoche, beispielsweise ihrer prinzipiellen Vorstellungen über den Menschen, die im Hinblick auf die dramatis personae aktualisiert werden sollen. Wenn z.B. in einer "Sommernachtstraum"-Inszenierung 1S2 Hermia, Helena, Lysander und Demetrius in der Knöpfstiefelmode auftreten, wie sie ftir die Jugend um die Jahrhundertwende charakteristisch war, so muß der Zuschauer eine gewisse Kenntnis über die Jugendlichen dieser Epoche, über die sie bestimmenden gesellschaftlichen Normen, kurz: über den von diesen Kostümen evozierten historischen, sozialen und literarischen Kontext mitbringen, wenn er sie als Zeichen für die dramatis personae interpretieren will. Die allgemeine Regel grenzt so die Menge aller möglichen außertextuellen Strukturketten, auf die ein Textelement generell bezogen werden könnte, entsprechend ein. Eine weitere Eingrenzung wird durch die syntagmatischen Bedeutungen vorgenommen. Denn die paradigmatischen und syntagmatischen Bedeutungen werden nicht unabhängig voneinander konstituiert, sondern in enger Wechselbeziehung zueinander. Eine ModiflZierung der Bedeutung kann daher in beiden Richtungen erfolgen: die paradigmatischen Bedeutungen lassen sich durch anschließende interne Umkodierungen ebenso verändern wie umgekehrt die synlOS <?page no="105"?> tagmatischen durch nachfolgend durchgeführte externe Umkodierungen. So eröffnet beispielsweise in der oben beschriebenen Handschuh- Sequenz die Einführung des Dolches weitere, von den bisherigen internen Umkodierungen nicht erfaßte Bedeutungsrnöglichkeiten. Der Dolch kann als Waffe auf die historische Strukturkette: kriegerische Auseinandersetzung verweisen, auf die auch andere Textelemente vor allem verbale Sequenzen an anderen Stellen bezogen sind. 153 Im Hinblick auf diese Strukturkette kann Donna Mathildes Handschuh, den Heinrich fallen läßt, auch als Fehdehandschuh interpretiert werden, den er Donna Mathilde hinwirft, das Durchbohren des Handschuhs entsprechend als Durchführung und siegreiches Beenden der Fehde. Da die entsprechenden verbalen Sequenzen Liebesbeziehungen thematiSieren/ 54 können Dolch und Handschuh jedoch auch ebensogut auf eine entsprechende psychoanalytische Strukturkette bezogen werden: dem Dolch ist dann die Bedeutung eines Phallus-Symbols und dem Handschuh diejenige eines sexuellen Fetischs zuzusprechen. Das Durchbohren des Handschuhs ließe sich unter diesen Voraussetzungen als symbolischer Vollzug des Geschlechtsaktes zwischen Heinrich und Donna Mathilde interpretieren. Nun können diese beiden Strukturketten natürlich noch ihrerseits aufeinander bzw. das Durchbohren des Handschuhs auf beide zugleich bezogen werden. Heinrichs Handlung läßt sich dann als Ausdruck für seine ambivalente, sowohl aggressive als auch libidinöse Beziehung zu Donna Mathilde, als Zeichen für seine Haßliebe zu ihr deuten. Diese paradigmatischen Bedeutungen ergänzen die syntagmatischen um wesentliche Aspekte, ohne jedoch zu ihnen in Widerspruch zu treten. Damit ist eine wichtige allgemeine Bedingung angesprochen, die für die Beziehung zwischen syntagmatischen und paradigmatischen Bedeutungen bestimmend ist: wenn die mit Hilfe einer externen Umkodierung konstituierte Bedeutung y des Textelementes a seiner auf dem Wege einer internen Umkodierung konstituierten Bedeutung x widerspricht, ist y nicht auf a anwendbar. Beinhaltet y dagegen Propositionen, die entweder in x enthalten sind oder über x hinausgehen oder in keiner erkennbaren Beziehung zu den in x enthaltenen Propositionen stehen, ohne ihnen zu widersprechen, kann außer x auch y als mögliche Bedeutung für a angenommen werden. Die zuerst konstituierten syntagmatischen Bedeutungen grenzen dergestalt die Menge der möglichen paradigmatischen Bedeutungen, die sich für das fragliche Textelement überhaupt konstituieren lassen, auf spezifische Weise ein. <?page no="106"?> 106 Wird zunächst eine externe Umkodierung vollzogen, kann eine Modiflzierung der paradigmatischen Bedeutungen des Textelementes durch nachfolgende interne Umkodierungen vorgenommen werden. Wenn in Neuenfels' "Iphigenie"-Inszenierung lSS gleich zu Beginn der Aufführung auf der Vorderbillme ein Glaskasten zu sehen ist, in dem eine menschenähnliche Gestalt ruht, so läßt sich dieses Element ad hoc einerseits auf gläserne Reliquienschreine, andererseits auf Schneewittchen im gläsernen Sarg beziehen. 1s6 Da im weiteren Verlauf der Aufführung dieser Glaskasten als "Bild Dianens" angesprochen wird, scheidet die zweite Möglichkeit eindeutig aus. Die so hergestellte Äquivalenz zwischen dem Glaskasten und dem Bild Dianens läßt nun eine offensichtlich zwischen beiden Textelementen bestehende Opposition, die auf den jeweiligen kulturellen Kontext zurückzufiihren ist, dem sie jeweils entstammen, funktionslos erscheinen: der Reliqienschrein stellt einen Kultgegenstand der christlichen, das Bild Dianens einen Kultgegenstand der antiken Religion dar. Beide werden vom Text hinsichtlich ihres Merkmals, Kultgegenstand einer Religion zu sein, äquivalent gesetzt. Von den anfangs möglichen paradigmatischen Bedeutungen bleibt so nur die Bedeutung: Kultgegenstand als mögliche Bedeutung übrig. Diese Bedeutung erfährt nun durch weitere interne Umkodierungen zusätzliche Modiflzierungen. Ich möchte nur zwei Beispiele herausgreifen: zu diesem Kultgegenstand, den sowohl Iphigenie als auch offiziell die Skythen verehren, wird ein Stierschädel, der neben dem Glasschrein im Sand vergraben ist, in Opposition gesetzt. Der halbnackte Thoas wühlt ihn eigenhändig aus dem Sand hervor, stellt ihn auf eine halbhohe Säule und betet ihn mit unverständlichem Gemurmel inbrünstig an. Im Gegensatz zum literarischen Text des Dramas, der einen für Griechen und Skythen gemeinsamen Kultgegenstand vorsieht, wird im theatralischen Text der Aufführung zwischen diesem Kultgegenstand und einem zweiten, zusätzlich eingeführten eine Opposition hergestellt, welche den Stierschädel einem von Magie bestimmten und den Reliqienschrein einem rational argumentativen Umgang mit den Göttern zuordnet. Stierschädel und Glaskasten fungieren dergestalt als Zeichen und Inbegriff zweier in spezifischer Weise unterschiedlicher kultureller Lebensformen. 1s7 Wenn Iphigenie später den Glasschrein in Packpapier wickelt, mit Bindfaden als Postpaket zurechtmacht, auf das sie den Bestimmungsort "Delphi" schreibt, erfährt seine bisherige Bedeutung eine weitere entscheidende ModiflZierung. Denn Iphigenies Handlung läßt ihn jetzt in Opposition zu Kultgegenständen schlechthin treten, da diese gemeinhin in feierlichen Prozessionen getragen werden, 1 58 und setzt ihn dergestalt mit einem profanen Objekt gleich, das mit der <?page no="107"?> 107 Post befördert werden kann. Der Glasschrein übernimmt nun aufgrund der durch Handlungen Iphigenies vollzogenen internen Umkodierungen die Funktion eines Indikators für innere Vorgänge der dramatis persona: er zeigt den Beginn jenes Prozesses an, in dem Iphigenie ihre seit der Kindheit unverändert beibehaltenen "Götterbilder", ihre Vorstellungen von den Göttern, einer kritischen überprüfung unterzieht, welche ihren Höhepunkt erreicht, wenn Iphigenie der Inhalt des "Götterbildes" als Sand durch die Finger rinnt. Die anfangs möglichen paradigmatischen Bedeutungen eines Textelements werden dergestalt durch nachfolgende interne Umkodierungen einerseits eingeschränkt, andererseits erweitert. Wie für das Verhältnis von syntagmatischen und nachfolgenden paradigmatischen Bedeutungen gilt auch für die Beziehung zwischen den paradigmatischen und späteren syntagmatischen die Regel, daß die mit Hilfe einer externen Umkodierung konstituierte Bedeutung y des Textelementes a nicht auf a anwendbar ist, wenn sie seiner mit einer internen Umkodierung konstituierten Bedeutung x widerspricht, es sei denn, dieser Widerspruch würde in einer nachfolgend zu konstituierenden umfassenderen Bedeutung z, die sowohl x als auch y als ihre Elemente zu enthalten vermag, aufgehoben. Jedes Textelernent, auf welcher Ebene semantischer Kohärenz auch immer situiert, kann dergestalt im Verlauf der Aufführung unterschiedliche syntagmatische und paradigmatische Bedeutungen erhalten. Einem Element lassen sich also in der Regel mehr als eine Bedeutung beilegen. Da diese unterschiedlichen Bedeutungen keinesfalls beliebig durch einander substituierbar sind, sondern vielmehr jeweils aufgrund einer spezifIschen Kombination des Textelementes mit anderen Elementen in einer besonderen Position im Ablauf der Aufführung konstituiert werden, ist die Gesamtbedeutung des betreffenden Elementes auch nicht als Summe seiner verschiedenen Einzelbedeutungen, sondern nur als eine nach bestimmten Prinzipien strukturierte Ordnung dieser Einzelbedeutungen angemessen zu beschreiben. Diese Ordnung liegt nun auch bei Abschluß der Analyse keineswegs vollständig vor. Denn sie enthält als ihre Elemente niemals sämtliche Bedeutungen, die aufgrund aller überhaupt nur möglichen internen und externen Umkodierungen prinzipiell konstituiert werden könnten, sondern immer nur diejenigen, welche der Rezipient unter Rekurs auf sein kulturelles Wissen und das unter den besonderen, von ihm verfolgten Aspekten der Untersuchung konstruierte RelationsgefUge dem betreffenden Element beizulegen in der Lage war. Jede Veränderung des RelationsgefUges (aufgrund beispielsweise veränderter Untersuchungsziele) ebenso wie spezifIsche Erweiterungen des kulturellen Wissens können die Anzahl der Einzelbe- <?page no="108"?> 108 deutungen vergrößern und eine Umstrukturierung ihrer Ordnung notwendig werden lassen. Der Prozeß der Bedeutungsattribution kann daher zu keinem Zeitpunkt als exhaustiv angesehen und als endgültig abgeschlossen betrachtet werden. 159 2.3 Zur Anwendung der Methode Eine Aufführung zu analysieren heißt, die ihr zugrundeliegende Ordnung zu (re-)konstruieren, um ihren Elementen eine Bedeutung und ihr insgesamt einen Sinn zuzusprechen. Allein diesem Ziel dient die Durchführung der genannten Prozeduren. Damit sie in ihrer Gesamtheit als Analysemethode auf einen konkreten theatralischen Text auch de facto angewendet werden können, müssen jedoch noch einige Fragen geklärt werden, eine mögliche Hierarchie bzw. eine gegebenenfalls einzuhaltende Reihenfolge der einzelnen Schritte betreffend. Wir haben bereits gesehen, daß bestimmte Prozeduren einander voraussetzen: so die Untersuchung der Kombinationen die Segmentierung, die interne Urnkodierung ihrerseits die Untersuchung der Kombinationen und alle zusammen den Rekurs auf das zugrundeliegende semiotische System. läßt sich nun aus dem Faktum dieser wechselseitigen Abhängigkeit die Notwendigkeit einer bestimmten Reihenfolge ableiten, in der die einzelnen Prozeduren durchgeführt werden sollten? . Diese Frage ist nicht ganz leicht zu beantworten. Denn wohl verlangt beispielsweise die Untersuchung der Selektion den Rekurs auf das zugrundeliegende semiotische System, aber auf dieses System läßt sich andererseits sinnvoll nur im Hinblick auf die jeweils untersuchten Elemente rekurrieren, nicht jedoch global und losgelöst von der Frage nach bestimmten Elementen; zwar setzt die interne Umkodierung voraus, daß zwischen den zwei/ mehreren betreffenden Elementen die Relation einer Äquivalenz oder Opposition ermittelt ist, umgekehrt jedoch kann sie ihrerseits den Ausgangspunkt für eine Neubestimmung der Beziehungen darstellen; wohl müssen erst die verschiedenen Ebenen semantischer Kohärenz abgegrenzt und festgelegt sein, ehe Relationen zwischen Elementen einer Ebene sich herstellen lassen, aber diese Relationen können dann ihrerseits einen Wechsel der Isotopieebene und damit eine Revision der anfangs vorgenommenen Segmentierung notwendig machen usf. Aus dieser besonderen Sachlage ist zu schließen, daß eine bestimmte Reihenfolge der einzelnen Prozeduren derart, daß die jeweils nächste erst nach Abschluß der ihr vorausgehenden durchgeführt werden kann, sich nicht festlegen läßt. Ein logisch erster Analyseschritt ist nicht <?page no="109"?> 109 zu ermitteln. Da jedoch jede einmal getroffene Wahl einer Prozedur für die Fortführung der Analyse insofern ein Präjudiz darstellt, als sie die anschließende Durchfiihrung bestimmter anderer mit Notwendigkeit nach sich zieht, folgt daraus, daß jede der genannten Prozeduren prinzipiell als erster Analyseschritt gewählt und vorgenommen werden kann. Danach allerdings ist die Einhaltung einer entsprechenden Reihenfolge obligatorisch. Wenn dergestalt die Wahl des ersten Analyseschrittes nicht vorgeschrieben werden kann, bleibt zuletzt noch die Frage zu klären, ob die Analyse gegebenenfalls von einem bestimmten Textelement ihren Ausgang nehmen muß. 160 Einerseits haben wir Lotmans Grundsatz akzeptiert, daß jedes Element des Textes als relevant zu gelten hat. Andererseits verfUgt die Aufführung über das Merkmal der Strukturiertheit, dh., jedes ihrer Elemente steht zu anderen Elementen in Relation, diese gehen wiederum zu anderen eine Beziehung ein usf. Aus diesen beiden Prämissen läßt sich der Schluß ziehen, daß es prinzipiell möglich sein muß, von jedem beliebigen Textelement auszugehen, um die dem Text zugrundeliegende Ordnung zu rekonstruieren. Sowohl die Wahl des ersten Analyseschrittes als auch die Wahl des ersten zu untersuchenden Textelementes steht also grundsätzlich frei. Diese Wahlfreiheit kann natürlich durch die besonderen Aspekte und Ziele der Untersuchung eingeschränkt werden. Da bei einem so umfänglichen Text, wie eine Aufführung ihn darstellt, das Postulat der Vollständigkeit der Analyse von vornherein nicht aufrechterhalten werden kann, ist stets davon auszugehen, daß sie lediglich in einer jeweils anders zu bestimmenden Partialität zu realisieren sein wird. Es erscheint daher zweckmäßig, zunächst die Ziele und Aspekte zu formulieren, unter denen die Untersuchung durchgeführt werden soll, und dann mit der Analyse an denjenigen Textelementen einzusetzen, die im Hinblick auf diese Ziele in besonderer Weise Relevanz besitzen. 161 Dieser Grundsatz gilt nicht nur hinsichtlich der Wahl des Textelements, von dem die Analyse ihren Ausgang nehmen soll, sondern darüber hinaus auch für die Selektion aller Textbefunde, die zu berücksichtigen sein werden. Denn wenn die Analyse nicht vollständig sein kann, wird sich die Untersuchung auch niemals auf alle prinzipiell und generell überhaupt nur zu erhebenden Daten des Textes erstrecken, sondern stets nur auf eine wesentlich begrenztere Anzahl. Deren Auswahl sollte daher nach dem Kriterium ihrer jeweils vorauszusetzenden Relevanz hinsichtlich der formulierten Untersuchungsziele erfolgen. Nun kann natürlich der Fall eintreten, daß zwei Rezipienten so <?page no="110"?> 110 unterschiedliche Ziele im Auge haben, daß sie für ihre Untersuchung jeweils Datenmengen berücksichtigen, die kaum Überschneidungen aufweisen. Da die jeweils (re-)konstruierte Ordnung des Textes mit divergierenden Daten begründet wird, muß die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, daß hier zwei voneinander abweichende Ordnungen erstellt worden sind. Damit erhebt sich die Frage, ob diese Ordnungen, weil sie am selben Text mit Hilfe derselben Prozeduren wenn auch an unterschiedlichen Datenmengen -konstruiert worden sind, einander kompatibel und durch einander zu ergänzen sein müssen,162 oder ob grundsätzlich die Möglichkeit besteht, daß sie einander zumindest in einigen Punkten ausschließen. Wird letzteres eingeräumt, müßte weiter gefragt werden, ob diese Möglichkeit nur für Ordnungen gelten soll, die aufgrund divergierender Datenmengen erstellt werden, oder ob sie auch für solche anzunehmen ist, die sich auf weitgehend übereinstimmende Daten stützen. Folgt also, kurz gesagt, aus der Anwendung derselben Methode, der Durchftihrung derselben Prozeduren, deren jeder Schritt intersubjektiv überprüfbar vollzogen wird, bereits auch mit Notwendigkeit eine Übereinstimmung der Resultate? Wir hatten am Ende unserer Überlegungen zur Henneneutik des theatralischen Textes damit die Antwort auf diese Frage sozusagen vorwegnehmend quasi als Schlußfolgerung die Meinung geäußert, daß intersubjektiv überprüf- und nachvollziehbare Verfahren der Bedeutungs- und Sinnzuschreibung weder mit dem Ziel ausgearbeitet werden noch auch zu dem Ziel fUhren können, einen allgemein gültigen Sinn des theatralischen Textes, seinen mit der Ordnung der Zeichen gesetzten, objektiv gegebenen "richtigen" Sinn zu konstituieren. Nach Ausarbeitung entsprechender Verfahren kann nun der Nachweis für die Richtigkeit dieser These nur unter Rekurs auf einzelne dieser Analyseprozeduren gefUhrt werden. Wir gehen davon aus, daß für die (Re-)konstruktion der dem theatralischen Text zugrundeliegenden Ordnung nicht die Intention der Produzenten maßgeblich ist, sondern allein die Relationen zu berücksichtigen sind, die sich ob mit oder ohne Wissen der Produzenten, nach oder gegen ihren Willen zwischen den Textelementen herstellen lassen. 163 Der Rezipient hat daher die Möglichkeit, ein Textelement in einer externen Umkodierung auf eine außertextuelle Strukturkette zu beziehen, die der Produzent nicht im Sinn hatte die ihm gegebenenfalls sogar fremd ist, so daß auch die Möglichkeit eines unbewußten Rückgriffs auf sie ausgeschlossen werden kann -, wenn die auf diese Weise konstituierte paradigmatische Bedeutung die oben fonnulierten Bedingungen erfüllt. Da zwischen paradigmatischen und syntagmatischen Bedeutungen ein enges Wechselverhält- <?page no="111"?> 111 nis besteht, kann diese paradigmatische Bedeutung, insofern sie dem betreffenden Element neue Möglichkeiten eröffnet, Relationen zu anderen Textelementen einzugehen, auch die Konstitution neuer syntagmatischer Bedeutungen nach sich ziehen. Diese mögen wiederum den Bezug zu anderen außertextuellen Strukturketten ermöglichen usf. Geht ein anderer Rezipient nun hinsichtlich des betreffenden Elementes von einer anderen paradigmatischen Bedeutung aus derjenigen, die der Produzent intendiert hatte oder aber auch von einer dritten, die ihm aufgrund seines spezifischen kulturellen Wissens nahezuliegen scheint -, so ist nicht auszuschließen, daß die von ihm am Ende erstellte Ordnung von derjenigen unseres ersten Rezipienten so erheblich abweicht, daß beide nicht miteinander zu harmonisieren sein werden. Jeder einzelne Schritt, den unsere fiktiven Rezipienten vollzogen haben, soll als überprüf- und begründbar angenommen werden, beide sollen die von ihnen konstituierten Bedeutungen im Einklang mit den von uns formulierten Postulaten ermittelt haben. Dennoch sind sie zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangt, ohne daß einem von ihnen ein Fehler nachgewiesen werden könnte. Für diese Differenz sind vor allem zwei Gründe anzufiihren: 1. Die Beziehungen, die sich jeweils zwischen zwei/ mehreren Textelementen herstellen lassen, werden im weiteren Verlauf der Analyse nicht mehr unabhängig von den Bedeutungen, die diesen Textelementen vorher auf dem Wege einer internen oder externen Umkodierung beigelegt worden sind, geknüpft. Jede Umkodierung kann vielmehr ihrerseits die Bildung weiterer aufgrund der bisherigen Bedeutungen nicht herstellbarer Relationen ermöglichen. Da der theatralische Text als ein ästhetischer keine eindeutigen Vorschriften enthält, auf welches andere Textelement (bei interner Umkodierung) bzw. auf welches Element welcher außertextuellen Strukturketten (bei externer Umkodierung) das betreffende Element bezogen werden muß, ergibt sich daher eine Vielzahl gleichberechtigter Möglichkeiten für eine solche Wahl. Zwei unterschiedlich vorgenommene interne oder externe Umkodierungen können dergestalt zum Ausgangspunkt für die Konstruktion zweier unterschiedlicher Relationengefüge avancieren. 2. Mit der Feststellung einer möglichen Relation zwischen zwei/ mehreren Textelementen ist nicht zugleich auch eine potentielle Bedeutung dieser Relation angegeben. Aus dem bloßen Faktum einer Relation läßt sich deren Bedeutung nicht sozusagen mit Hilfe einer mathematischen Gleichung ableiten: wenn die Elemente A und B in bezug auf das Merkmal X äquivalent (oder oppositiv) sind, so folgt daraus in keiner Weise, welche Bedeutung dieser Äquivalenz <?page no="112"?> 112 (Opposition) beigelegt werden kann oder gar soll. Denn die Bedeutung entsteht nicht automatisch als Folge des Funktionierens eines generativen Systems; zu ihrer Konstitution bedarf es vielmehr stets eines interpretativen Aktes des rezipierenden Subjekts. 164 Die durch ihn erfolgte Bedeutungsattribution wird zwar von dem Kontext, in dem die betreffende Relation steht wie weitere Relationen oder durch interne oder externe Umkodierungen bereits konstituierte Bedeutungen der Elemente A und B motiviert sein, in keinem Falle jedoch necessitiert. Es gibt immer mehrere Wahlmöglichkeiten. Eine auf diese Weise vollzogene Bedeutungskonstitution kann folglich weder richtig noch falsch sein, da sie nicht aus bestimmten Prämissen mit Notwendigkeit ableitbar ist, sondern lediglich bei Einhaltung der genannten Bedingungen möglich und daher zulässig oder bei Verstoß gegen sie nicht möglich und daher unzulässig. Es ist also sowohl von der Voraussetzung einer Vielfalt möglicher Ordnungen, die sich als deJ; ll Text zugrundeliegend konstruieren lassen, auszugehen als auch von der Voraussetzung einer Vielfalt der Möglichkeiten, die einmal erstellte Ordnung zu interpretieren. Aus beiden Prämissen folgt, daß die Anwendung einer intersubjektiv überprüf- und nachvollziehbaren Methode über deren Notwendigkeit hier kein Wort mehr verloren zu werden braucht eine übereinstimmung in den Ergebnissen der Analyse weder garantieren noch auch herbeiführen kann. 2.4 Notationsprobleme Wir haben verschiedentlich darauf hingewiesen, daß sich Aufführungsanalyse als eine wissenschaftliche Disziplin nur wird betreiben lassen, wenn es gelingt, für das per se transitorische materielle Artefakt des theatralischen Textes ein relativ adäquates fuder- und tradierbares Korrelat zu schaffen. Diese Funktion zu erftillen, sind theoretisch sowohl Videoaufzeichnungen bzw. f1lmische Reproduktionen als auch graphische Notationssysteme geeignet. Videoaufzeichnungen haben den Vorteil, daß sie die verschiedenen theatralischen Zeichen in ihrer je spezifischen Ikonizität wiederzugeben in der Lage sind wenn auch stets nur ausschnitthaft. Denn erfaßt die Kamera die ganze Bühne - und damit alles, was dem Zuschauer aus seiner Perspektive sichtbar ist -,sind häufIg Bewegungen, a) welche von einer Person, die sich im Bildschatten einer anderen befIndet, ausgeführt werden, oder b) die nur eine geringfügige Positionsveränderung beim entsprechenden Körperteil hervorrufen, sowie die mimischen Zeichen kaum zu erkennen. Wählt sie aber einzel- <?page no="113"?> 113 ne Personen oder gar Bewegungen aus, geht der simultane Kontext verloren, in den die erfaßten Zeichen gestellt werden müssen, wenn ihnen eine Bedeutung zugesprochen werden soll. Darüber hinaus ist bei Videoaufzeichnungen zu bemängeln, daß ihre einzelnen in der Untersuchung analysierten Ausschnitte in der schriftlichen Fassung nicht als ad hoc überprüfbare Belege herangezogen werden können, auf die jeder Leser in gleicher Weise zu rekurrieren vermöchte. Dadurch aber wird die Konvertibilität der Analyse und daraus folgend ihre überprüfbarkeit erheblich beeinträchtigt. Langfristig wird man daher nicht umhinkönnen, ein Verfahren zu entwickeln, das es erlauben wird, die einzelnen Zeichen des theatralischen Textes, vor allem die anders nicht zu dokumentierenden paralinguistischen und kinesischen Zeichen, in graphische Zeichen zu transkribieren. Derartige Verfahren werden im Tanztheater selbstverständlich nur in bezug auf die körperlichen Bewegungen, also die gestischen und proxemischen Zeichen bereits seit vielen Jahrhunderten erprobt. Die meisten Versuche allerdings haben sich über den engsten Umkreis ihrer Erfmder hinaus kaum je Geltung zu verschaffen vermocht. Weite Verbreitung und entsprechende Popularität erlangte nur das Verfahren, welches Raoul Auger Feuillet in seinem 1701 herausgegebenen Lehrbuch zur Tanznotierung propagierte, 165 ohne es jedoch selbst entwickelt zu haben. Diese Ehre gebührt Pierre Beauchamps.166 Seine Tanzschrift enthielt sowohl ein Alphabet für die Artistik der Bein- und Fußarbeit als auch Zeichen für die begrenzte Anzahl der gebräuchlichen Arm- und Handftihrungen. Die Bewegungen des Oberkörpers brauchten nicht notiert zu werden, da er stets nur in aufrechter Haltung und nach den in jeder höfischen Erziehung eingedrillten Regeln der Grazie getragen wurde. Beauchamps' Notationssystem war dergestalt vollkommen ausreichend und geeignet, um die Tänze des damaligen höfischen Stils so wiederzugeben, daß sie jederzeit von anderen Tänzern reproduziert werden konnten. Das heute gebräuchliche System zur Tanznotation wurde von Rudolf von Laban in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts entwickelt. 167 Es trägt also bereits den Revolutionen des Tanztheaters, wie der Ausdruckstanz oder der Modern Dance sie darstellen, Rechnung. Dieses System ist so angelegt, daß es für 1. die Raumrichtung, 2. die Höhenlage, 3. die Dauer der Bewegung und 4. den die Bewegung ausführenden Körperteil Zeichenelemente vorsieht. Jedes Schriftzeichen ist so konzipiert, daß es gleichzeitig über diese vier Faktoren Auskunft zu geben vermag. 168 Diese sogenannte Labanotation ist dergestalt imstande, alle relevanten Aspekte der tänzerischen Bewegung zu erfassen und eine Bewegungssequenz so zu fixieren, <?page no="114"?> 114 daß sie jederzeit auf der Grundlage dieser Notation reproduziert werden kann. 169 Es stellt sich für uns nun die Frage, ob sich ein entsprechendes System auch für das dramatische Theater wird entwickeln lassen. Die Labanotation folgt ähnlich wie das von Bouissac für Akrobaten ausgearbeitete Notationssystem 170 dem Prinzip, daß es nur für diejenigen Aspekte einer Bewegung, die konsensmäßig als relevant gelten, ein Zeichenelement vorsieht. Es wird also an einer Bewegung nicht alles, was sich generell an ihr feststellen läßt, notiert, sondern nur dasjenige, was vorab als relevant festgelegt ist. Ein solches Verfahren ist daher auch nur in Fällen anwendbar, in denen ein ent· sprechender Konsens besteht. Im Bereich des zeitgenössischen dramatischen Theaters ist diese Voraussetzung nur bei bestimmten fernöstlichen Theatern wie beispielsweise der Peking-Oper oder dem No-Theater gegeben. Weil hier die jeweilige Norm eine begrenzte Anzahl anwendbarer kinesischer Zeichen vorsieht, deren jedes genau beschrieben und von jedem anderen hinreichend deutlich unterschieden werden kann, muß es auch möglich sein, für jedes dieser Zeichen ein graphisches Zeichen zu wählen, das es in einer schriftlichen Darstellung angemessen, d.h. ftir jeden lesbar und verständlich, zu repräsentieren vermag. Im westlichen Theater dagegen können wir weder von einer Begrenzung auf eine bestimmte Anzahl realisierbarer Bewegungen, noch auch von einer Festlegung bestimmter Aspekte einer Bewegung als relevant ausgehen. Prinzipiell kann jede mögliche Bewegung auch auf dem Theater ausgeführt werden und jeder denkbare Aspekt Relevanz besitzen. Wir brauchen daher ein Notationssystem, das derartige Vorauswahlen nicht seinerseits zur Prämisse hat. Damit finden wir uns dem Problem der Datengewinnung konfrontiert. Denn es ist naiv zu glauben, wir könnten die von den Schauspielern auf der Bühne ausgeflihrten Bewegungen einfach beobachten, ohne sie zu interpretieren, und für die derart beobachteten Bewegungen dann im nachhinein Zeichen erfmden. Die Segmentierung des Bewegungsablaufs in Einheiten, die als solche zu notieren wären, setzt vielmehr immer schon eine Interpretation voraus: nur weil dem Beobachter ein bestimmtes Segment des Bewegungsablaufs als signifikant erscheint, kann er es als eine abgrenzbare Einheit wahrnehmen. l71 Die Deskription der Bewegungsabläufe wird dergestalt zunächst immer auf der Grundlage der Wahrnehmungsmuster erfolgen, die in der betreffenden Kultur Gültigkeit besitzen. Eine voraussetzungslose "objektive" Beschreibung von Bewegungsabläufen ist nicht möglich. Soll ein deskriptives Verfahren angewandt werden, auf dessen Basis ein entsprechendes Notationssystem zu entwickeln <?page no="115"?> 115 wäre, müssen vorab die Prämissen und spezifischen Kriterien geklärt sein, nach denen die Beschreibung vorgenommen werden soll. Die Entwicklung eines Notationssystems stellt also dergestalt keineswegs nur ein rein technisches, sondern durchaus auch ein hermeneutisches Problem dar. Dennoch hat es in den letzten Jahren Versuche gegeben, Notationssysteme zu entwickeln, die imstande sein sollen, das gesamte Bewegungsverhalten darzustellen. Der bekannteste ist derjenige Birdwhistells/ 72 den wir im I. Teil der vorliegenden Arbeit bei der Darstellung der gestischen Zeichen relativ ausführlich erörtert haben. Birdwhistell geht von der These aus, daß sich das linguistische Prinzip der Gliederung in zwei Ebenen auch auf das Bewegungsverhalten übertragen läßt. Entsprechend versucht er, den Bewegungsablauf in Analogie zum sprachlichen Modell in Kinemorphe oder Acts (Morpheme) zu zergliedern, die sich ihrerseits wieder in Kineme (phoneme) zerlegen lassen sollen. Das Bewegungsverhalten würde sich bei Gültigkeit dieser Prämisse als eine Folge von Kombinationen aus einem begrenzten Repertoire von Kinemen beschreiben lassen, die sich zu Acts verknüpfen, die ihrerseits in Handlungskontexte eingebunden sind. Für jedes Kinem müßte sich unter dieser Voraussetzung ein graphisches Zeichen finden lassen, das es symbolisch repräsentieren soll, so daß Bewegungsabläufe sich als Abfolge der für die Kineme gesetzten graphischen Zeichen würden darstellen lassen. Nun hat zwar Birdwhistell auch ein entsprechendes Notationssystem entwickelt, es selbst bisher jedoch nur an einigen wenigen Interaktionsausschnitten erprobt. 1 73 Andere Forscher dagegen hat die hohe Komplexität und Zeitaufwendigkeit vom Einsatz und der überprüfung dieses Systems bisher abgehalten, so daß sich begründete Aussagen über seine Praktikabilität und Zuverlässigkeit zum gegenwärtigen Zeitpunkt kaum machen lassen. Andererseits ist auch bis heute nicht nachgewiesen, daß eine Segmentierung des Bewegungsverhaltens in Kinemorphe und Kineme tatsächlich möglich ist. Dies setzt voraus, daß in der Tat ein Repertoire immer wiederkehrender kleinster diskreter Einheiten identifIZiert werden kann. Eine solche Annahme wird sichjedoch nur sehr schwer belegen lassen. Denn da das Bewegungsverhalten innerhalb der Grenzen seiner kulturellen Bedingtheit einerseits große individuell bedingte auch von der jeweiligen Physis bedingte - Unterschiede aufweist und andererseits nur in Ausnahmefällen (wie beim Kopfnicken bzw. -schütteln, beim Grüßen, Drohen mit der Faust u.ä.) arbiträr kodiert ist, meist jedoch ikonischen Abbildcharakter trägt, ist, wie bereits von verschiedenen Forschern betont wurde,174 aufgrund der fehlenden Zeicheninvarianz eine entsprechende Gliederung <?page no="116"?> 116 nicht möglich. An sie ist jedoch das von Birdwhistell erarbeitete Notierungsverfahren gebunden: läßt sich der Bewegungsablauf nicht in aus Kinemen zusammengesetzte Kinemorphe zerlegen, ist eine von der Existenz der Kineme ausgehende Notation hinfällig geworden. In neuester Zeit hat Frey versucht, ein derartiges umfassendes Notationssystem zu entwickeln. 175 Seinen Ansatzpunkt fmdet er in der Vorstellung, daß nicht-verbales Verhalten vom Beobachter in Form diskreter Verhaltenseinheiten von "Bewegungen" und "Ruhepositionen" registriert wird. Er zieht daraus den Schluß, daß Messung und aus ihr folgende Notation von Bewegungsverhalten am ehesten möglich ist, wenn eine zeitliche Reihe nacheinander eingenommener Positionen erfaßt wird. Es wird also von der Ruheposition ausgegangen, diese wird beschrieben, dann die nächste usf. Je stärker der Zeitabstand zwischen zwei derartigen Ruhepositionen reduziert wird, desto größer wird die Meßgenauigkeit. Bisher ist es Frey und seinen Mitarbeitern gelungen, ein relativ genaues Beschreibungs- und Notationssystem fiir die Ruhepositionen zu erarbeiten. Der Grad der Reproduzierbarkeit der derart erfaßten Positionen ist beeindruckend hoch. 176 Ob allerdings mit Serien derartiger Positionscodes auch Bewegungen tatsächlich angemessen notiert und aufgrund dieser Notate beliebig reproduziert werden können, bleibt noch nachzuweisen. Einen anderen Weg hat Scherer eingeschlagen. 177 Er verzichtet von vornherein auf einen derartig ambitiösen Ansatz, ohne ausschließen zu wollen, daß eines Tages durchaus ein System zur umfassenden Beschreibung menschlichen Bewegungsverhaltens entwickelt werden kann. Seine Intention geht vielmehr dahin, das Notationssystem für wie er sich einschränkend ausdrückt kommunikativ relevantes Bewegungsverhalten den Anforderungen der jeweiligen wissenschaftlichen Fragestellung anzupassen. Er will also nicht Bewegungsverhalten erschöpfend beschreiben, sondern es unter bestimmten Aspekten und Fragestellungen analysieren. Da für eine solche Analyse in besonderer Weise die Funktionen nicht-verbaler Verhaltensweisen in der sozialen Interaktion und ihr Verhältnis zum verbalen Interaktionsverhalten von Interesse sind, geht Scherer zunächst von derartigen Funktionen aus. Er stützt sich dabei auf den Ansatz von Ekman und Friesen, den wir in Teil I der vorliegenden Arbeit im Abschnitt über die gestischen Zeichen ausführlich referiert haben. 1 78 Entsprechend unterscheidet er fünf grundsätzliche Funktionen des nicht-verbalen Verhaltens, die von folgenden fünf Klassen erftillt werden: 1. Illustratoren: sie ergänzen, verdeutlichen, pointieren das Gesagte; 2. Adaptoren: sie stellen selbst manipulative oder autoerotische Bewegungen sowie nicht-funktionale Objektmanipulationen dar, die unter anderem der Erregungsabfuhr oder Bedürfnis- <?page no="117"?> 117 befriedigung dienen können; 3. Embleme: sie verfügen über eine eindeutig festgelegte Bedeutung, die auch mit einem Wort oder Satz ausgedrückt werden kann; 4. Regulatoren: sie regeln den Kommunikationsablauf, den Wechsel der Sprecher-Hörer-Rolle u.ä.; s. Affekt- Darbietungen: sie drücken eine Stimmung bzw. einen Affekt aus. 179 Diese Funktionseinteilung hat Scherer zunächst der Klassifikation von Hand-, später auch der von Kopf- und Rumpfbewegungen zugrundegelegt. 18o Jeder untersuchten Verhaltenseinheit muß also eine der fünf Funktionen zugesprochen werden. Als Verhaltenseinheit gilt dabei jede Position und jede Bewegung. Es muß folglich zunächst Anfangs- und Endpunkt einer Verhaltenseinheit festgestellt und anschließend dieser Bewegung bzw. dieser Position eine Funktion zugeordnet werden. Die übereinstimmung der Beurteilung zwischen verschiedenen Kodierern hat sich dabei als befriedigend hoch erwiesen! 81 Dieses Verfahren beruht natürlich darauf, daß ähnlich wie bei einer Theaterauffiihrung derjenige, der die untersuchte Bewegung ausführt, und derjenige, der sie hinsichtlich ihrer Funktion beurteilt, derselben Kultur angehören. Die relativ hohe Übereinstimmung bei der Beurteilung wird nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein, daß alle Kodierer als Mitglieder derselben Kultur auf ähnliche Wahrnehmungsmuster und Beurteilungskriterien rekurrieren können. Die Bedingung für die Möglichkeit, daß a) der Proband gerade diejenige Bewegung ausführt, welche unterschiedliche Kodierer übereinstimmend als signiftkant einschätzen, und daß b) ein auffallend hoher Prozentsatz der Kodierer dieser Bewegung dieselbe Funktion zuordnet, besteht eben in der Zugehörigkeit aller Beteiligten zur selben Kultur. Sie stellt die Voraussetzung dafür dar, daß eine solche Untersuchung unter den gegenwärtigen Gegebenheiten und Bedingungen überhaupt durchgeführt werden kann. Insofern wir bei der Aufführungsanalyse von ähnlichen Prämissen ausgehen, erscheint das von Scherer entwickelte Verfahren durchaus übertragbar, zumal da es eine gleichzeitige Beschreibung des vokalen Verhaltens nach den Kriterien a) Pause oder Sprache, b) Intensität der Stimme und c) Intonationskonturen sowie seine entsprechende Notation vorsieht. 182 Leider hat dieses Verfahren jedoch im Hinblick auf eine Aufflihrungsanalyse einen gravierenden Nachteil. Es ist bisher nur imstande, Hand-, Kopf- und Rumpfbewegungen zu erfassen, nicht jedoch Körperbewegungen, die zu einer erheblichen Änderung der Position im Raum führen, wie beispielsweise Gänge quer über die Bühne. Es ist daher auch nur auf einen bestimmten Ausschnitt von Bewegungsverhalten anwendbar, der jedoch in einer Aufführung keineswegs immer besonders wichtig sein, noch auch besonders häufig auftreten muß. Eine generelle Anwendbarkeit des Verfahrens <?page no="118"?> 118 kann daher zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht vorausgesetzt werden. Ein voll entwickeltes Notationssystem, das wir bei einer Aufftihrungsanalyse uneingeschränkt zugrundelegen könnten, liegt also nicht vor. Die Systeme, an denen gegenwärtig gearbeitet wird, sind entweder zu komplex und noch zu wenig erprobt, als daß sie sich bei einer Aufftihrungsanalyse einsetzen ließen, oder aber befmden sich tatsächlich noch in statu nascendi, sind bestenfalls partielle, dh. mit eingeschränkter Applikationsmöglichkeit entwickelt. Nun ist jedoch die Theatersemiotik nicht imstande, selbst ein solches Verfahren zu entwickeln. Sie wird daher auf den Zeitpunkt warten müssen, an dem ein Verfahren wie das von Scherer oder auch das von Frey so weit ausgearbeitet ist, daß es für alle möglichen Arten signifIkanten Bewegungsverhaltens anwendbar wird. Dann kann sie es vielleicht in einzelnen Punkten ihren eigenen Intentionen entsprechend modifIZieren und einer Aufftihrungsanalyse zugrundelegen. Da die Diskussion um Verfahren zur Notation von Bewegungsverhalten gegenwärtig noch in vollem Gange ist, besteht durchaus Anlaß zur Hoffnung, daß in nicht allzu ferner Zeit ein praktikables System vorliegen wird. Bis dahin wird man sich für die Analyse mit dem Videoband und in der schriftlichen Aufzeichnung mit möglichst präzise gefaßten verbalen Umschreibungen behelfen müssen. <?page no="119"?> 119 3. ANALYSE EINES THEATRALISCHEN TEXTES- PIRANDELLOS "HEINRICH DER VIERTE" IN DER INSZENIERUNG VON A. FERNANDES 3 .1 Vorüberlegungen Abschließend wollen wir die vorstehend skizzierte Methode sozusagen als Demonstration ihrer Praktikabilität und Effektivität auf einen konkreten theatralischen Text anwenden. Prinzipiell ist dazu jede beliebige Aufführung geeignet. Aus praktischen Gründen 183 wurde eine Inszenierung der Städtischen Bühnen, Frankfurt, gewählt: Luigi Pirandellos "Heinrich der Vierte". Deutsch von Georg Richert. Inszenierung Bühnenbild Kostfune ... (Heinrich der Vierte) Marchesa Mathilde Spina Frida, ihre Tochter Der junge Marchese Carlo di Nolli Baron Tito Belcredi Doktor Dionisio Genoni Die vier angeblichen "Geheimen Räte des Kaisers" Landolf (Lolo) Harald (Franco) Ordulf (Momo) Bertold (Fino) Giovanni, ein alter Kammerdiener Zwei Diener in historischen Kostümen Premiere: 8. Januar 1978 Augusto Fernandes Erich Wonder Margit Koppendorfer Peter Roggisch Anneliese Römer Tanja von Oertzen Matthias Fuchs AlexanderWagner Edgar M. Böhlke Norbert Kentrup Kees Campfens Matthias Scheurig Michael Abendroth Kurt Dommisch GerdKnopf Jürgen Emrich Die Analyse wurde nach mehrmaligem Besuch der Aufführung an einer Videoaufzeichnung vorgenommen. Eine Befragung des Regisseurs, der Schauspieler oder anderer Mitarbeiter nach ihren Vorstellungen und Intentionen wurde nicht durchgeführt, sondern allein <?page no="120"?> 120 vom theatralischen Text ausgegangen, wie er als fertiges Produkt den Zuschauern präsentiert wurde. Die Auswahl des spezifischen Untersuchungsaspektes denn eine möglichst umfassende und entsprechend umfangreiche Analyse erschien im Hinblick auf unsere besonderen Zielsetzungen wenig zweckdienlich 184 erfolgte nach dem Kriterium, daß die Analyse in einer deutlichen und notwendigen Beziehung zu den in den Teilen I und 11 entwickelten Gedankengängen durchgeführt werden sollte. Aufgrund dieser Forderung schieden eine Reihe prinzipiell möglicher und sinnvoller Problemstellungen von vornherein aus; so z.B. die Frage, ob Fernandes' Inszenierung einen bisher noch nicht entdeckten Sinn des Werkes aktualisiert habe oder die szenische Realisierung einer in der Rezeptionsgeschichte bereits bekannten Interpretation darstelle (und damit einen denkbaren Beitrag zur Pirandello-Philologie)/ 85 oder die problemorientierte Frage nach der besonderen Gestaltung der Realitäts- und Identitätsproblematik in der Aufführung. Auch eine Untersuchung der Transformation fällt nicht unter das genannte Kriterium, da sie als Untersuchung der Relationen zwischen dem literarischen Text des Dramas und dem theatralischen der Aufführung ausschließlich auf die Ebene der Rede bezogen wäre. Darüber hinaus ist es gewiß sinnvoller, dem Problem der Transformation a) an einer Aufführung, die nicht ihrerseits schon eine linguistische übersetzung zugrundelegt, nachzugehen und b) an einem Vergleich zwischen zwei Inszenierungen desselben Dramas, beispielsweise an Neuenfels' und Peymanns Inszenierung von Goethes "Iphigenie" .186 Wir haben eingangs Theater unter Rekurs auf die Bedingung bestimmt, daß der Schauspieler A eine Rolle X verkörpert, während der Zuschauer S zusieht. Aufgrund dieser Defmition haben wir im I. Teil bei der Darstellung des Systems der theatralischen Zeichen besondere Aufmerksamkeit den mit der Physis des Schauspielers gegebenen und in diesem Sinne nicht-substituierbaren kinesischen Zeichen gewidmet und entsprechend im 11. Teil bei der diachronen Untersuchung ausschließlich den Wandel der kinesischen Zeichen beschrieben und erörtert. Es erscheint daher nur folgerichtig, bei der Untersuchung des theatralischen Codes auf der Ebene der Rede, also bei der Auffiihrungsanalyse, wiederum die kinesischen Zeichen in den Mittelpunkt des Interesses zu stellen und sie im Hinblick auf ihre besondere Gestaltung, Funktion und Leistung im theatralischen Text "Heinrich IV." zu analysieren .18 7 Wir haben bei der Untersuchung der kinesischen Zeichen auf der Ebene des Systems verschiedene Kriterien für ihre Analyse heraus- <?page no="121"?> 121 gearbeitet und angegeben, die kurz noch einmal ins Gedächtnis zurückgerufen werden sollten. 1. Die kinesischen Zeichen können Bedeutungen erzeugen a) auf der Objektebene, d.h. durch ihre Beziehung zu den sprachlichen Zeichen bzw. als sprachersetzende darstellende Zeichen, b) auf der Subjektebene, d.h. in bezug auf die jeweilige Rollenfigur, und c) auf der Ebene der Intersubjektivität, d.h. im Hinblick auf die Beziehungen zwischen den miteinander interagierenden dramatis personae. Daraus folgt, daß eine Analyse der kinesischen Zeichen in einem theatralischen Text untersuchen muß, a) auf welcher der drei Ebenen sie hier Bedeutung erzeugen und ß) ob sie dabei bevorzugt auf einer dieser drei Ebenen Bedeutung hervorbringen, 'Y) aufweIche Weise sie auf jeder Ebene Bedeutungen erzeugen und 8) endlich, welche Bedeutungen bzw. Bedeutungsmöglichkeiten sie de facto hervorbringen bzw. eröffnen. 2. Die kinesischen Zeichen sind eng auf die Zeichen der äußeren Erscheinung bezogen. Eine besondere Schminkweise vermag die mimischen Zeichen ebenso stark zu beeinflussen wie eine bestimmte Gestalt und spezielle Kleidung die Gestik. Vor der Untersuchung der kinesischen Zeichen sollten daher die Zeichen der äußeren Erscheinung zumindest in allen diesbezüglich relevanten Aspekten dargestellt werden. 3. Als intentionale Gesten und intentionale Bewegungen im Raum stehen die kinesischen Zeichen andererseits mit den Zeichen des Raumes in einem deutlichen Zusammenhang. Denn viele Gesten und Bewegungen erhalten nur aufgrund der besonderen Zeichen des Raumes, auf die sie sich beziehen, der verschiedenen Requisiten und Dekorationsteile, eine Bedeutung. Es erscheint daher zweckmäßig, vor bzw. bei der Untersuchung der kinesischen Zeichen auch die Zeichen des Raumes zu beschreiben und entsprechend zu analysieren. Aus diesen Prämissen ergeben sich einige Konsequenzen, die Wahl der Isotopieebene betreffend. Denn wenn einerseits die Untersuchung sich auf die kinesischen Zeichen konzentrieren soll, dazu andererseits aber auch eine Analyse der Zeichen der äußeren Erscheinung und des Raumes notwendig ist, kann als Isotopieebene sinnvollerweise nur jeweils eine Gruppe zusammengehöriger Zeichensysteme gewählt werden, also die Gruppe der kinesischen Zeichen die mimischen, gestischen, proxemischen Zeichen -, die Gruppe der Zeichen der äußeren Erscheinung - Maske, Gestalt, Frisur, Kostüm -, die Gruppe der Zeichen des Raumes - Dekoration, Beleuchtung, Requisiten. Mit dieser Wahl der Isotopieebene sind die einzelnen Schritte, in denen die Analyse vollzogen werden soll, zumindest in einer Art Grobgliederung festgelegt. <?page no="122"?> 122 Ehe wir jedoch mit dem ersten Schritt, der Beschreibung der Zeichen des Raumes, beginnen, soll zum besseren Verständnis der nachfolgenden AusfUhrungen mit wenigen Worten die Geschichte wiedergegeben werden, welche sowohl das Drama als auch die Aufführung erzählen. 3.2 Kontexte für die kinesischen Zeichen 3.2.1 Die Handlung Ein begüterter junger italienischer Adliger, dessen Name nicht genannt wird, ist bei einem Maskenumzug, in dem er den Salierkaiser Heinrich IV. dargestellt hat, vom Pferd gestürzt und aus einer tiefen Ohnmacht in dem festen Glauben erwacht, tatsächlich Heinrich IV. zu sein. Seine wohlhabende Familie richtet ihm in einem Landhaus mehrere Zimmer als stilechte Gemächer ein, engagiert als Heinrichs aus dem niederen Landadel stammende "Geheime Räte" vier junge Leute und legt einen umfangreichen Kostümfundus an, aus dem jeweils Personen ausgestattet werden können, wenn "Heinrich" eine bestimmte Audienz zu geben verlangt. Zwölf Jahre verbringt "Heinrich" auf diese Weise, vom Wahnsinn umnachtet. Dann wacht er plötzlich eines Morgens geheilt auf und beschließt, bewußt die Rolle Heinrichs Iv. weiterzuspielen, da er sein Leben außerhalb dieser Rolle ohnehin für "zusammengebrochen", für "zu Ende" (339) hält. Nach dem Tode seiner Schwester, acht Jahre später, also zwanzig Jahre nach dem Unglück will sein Neffe Carlo di Nolli "Heinrich" von einem Arzt untersuchen lassen, weil er dies seiner Mutter, die von "Heinrichs" Heilbarkeit überzeugt war, auf ihrem Totenbett versprochen hat. An diesem Punkt nun setzt die Handlung des Dramas ein. Carlo di Nolli kommt mit einem Arzt, Dionisio Genoni, und begleitet von seiner Verlobten, der Marchesina Frida, sowie ihrer Mutter, der Marchesa Mathilde Spina, und deren Liebhaber, dem Baron Tito Belcredi, in das Landhaus, in dem "Heinrich" Hof hält. Vor dem Unglück war "Heinrich" sowohl mit Donna Mathilde als auch mit Belcredi bekannt gewesen: in Donna Mathilde war er heimlich verliebt, während er in Belcredi den Rivalen im Kampf um ihre Gunst sehen mußte. In historischer Kostümierung als Bischof Hugo von Cluny (der Doktor), als Adelheid, die Mutter der Kaiserin Berta (Donna Mathilde) und einfacher Cluniazensermönch (Belcredi) lassen sie durch die "Geheimen Räte" "Heinrich" um eine Audienz ersuchen unter dem Vorwand, bei Papst Gregor für ihn bitten zu wollen. <?page no="123"?> 123 Nach dem Besuch, bei dem Donna Mathilde von "Heinrich" erkannt worden zu sein meint, konstatiert der Arzt eine prinzipielle Heilbarkeit. Er will versuchen, "Heinrich" mit einer Art Schocktherapie von seinem Wahn zu befreien: Frida, die ihrer Mutter ganz ungewöhnlich ähnlich sieht, soll das Kostüm der Markgräfin Mathilde von Toscana anlegen, welches ihre Mutter bei dem verhängnisvollen Maskenzug getragen hatte, und so am Abend "Heinrich" im Thronsaal gegenübertreten, begleitet von di Nolli, der sich als ein zweiter, junger "Heinrich IV" verkleiden soll. Gleich nach der Konfrontation wird dann ihre Mutter, ebenfalls im Kostüm der Markgräfm Mathilde, in Erscheinung treten. Empört über den Auftritt Donna Mathildes und Belcredis hat "Heinrich" seine "Geheimen Räte" über seinen wahren Zustand aufgeklärt. Die jungen Leute geben, gegen seinen Willen diese Information weiter, allerdings erst, nachdem Donna Mathilde, Frida und di Nolli sich nicht nur den Anweisungen des Arztes entsprechend kostümiert haben, sondern bereits im Thronsaal die Konfrontation "Heinrichs" mit der jungen "Markgräfm Mathilde von Toscana" stattgefunden hat. Es kommt zu einer allgemeinen Auseinandersetzung, in deren Verlauf Belcredi zunehmend darauf bestehen will, daß "Heinrich" sein Kostüm ablegt und die "Maskerade" beendet. Daraufhin spielt "Heinrich" erneut den Wahnsinnigen und als Belcredi als einziger ihm diesen Rückfall in den Wahnsinn nicht glauben will, ersticht er Um mit dem Degen eines danebenstehenden "Geheimen Rats". Den Rest seines Lebens wird er nun als "Heinrich IY." verbringen müssen. 3.2.2 Die Zeichen des Raumes Die Inszenierung verwendet die traditionelle Form der Guckkastenbühne. Für die Wahrnehmung der auf ihr präsentierten Zeichen ist damit eine relativ einheitliche Perspektive gegeben. Da dieses Faktum darüber hinaus keinerlei Relevanz im Hinblick auf die Analyse der kinesischen Zeichen besitzt, werden wir auf die Raumkonzeption nicht weiter eingehen. Die Handlung spielt in zwei unterschiedlichen Dekorationen: Akt I und III in einem Thronsaal (Dekoration A), Akt 11 in einem anderen Saal des Landhauses (Dekoration B)! 88 Die Auswahl der einzelnen Elemente beider Dekorationen erfolgte offenbar im wesentlichen nach realistischen Prinzipien. Denn aufgrund ihres spezifischen Aussehens lassen sie eindeutige Schlüsse sowohl auf ihre Funktion als auch auf ihre epochale Zugehörigkeit zu: sie sind ohne <?page no="124"?> 124 Schwierigkeiten beispielsweise als mittelalterlicher Thron, als mittelalterliches Schreibpult zu identiftzieren, ohne jedoch eine naturalistische Kopie zu sein. Beiden Dekorationen ist die sichtbare Begrenzung durch drei hohe Wände gemeinsam, deren linke in der oberen Hälfte von einigen kleinen rechteckigen Schlitzen durchbrochen wird, durch die Licht einfällt, sowie die Gestaltung des Bodens. Er ist mit quadratischen Fliesen ausgelegt und weist auf der rechten Seite nahe der Rampe einen stufenförmigen, muldenartigen Absatz auf. Dekoration A, der Thronsaal, enthält in der Mitte der rechten Wand eine große Tür, bei deren Öffnung helles Licht in den Raum strömt, und an der linken Wand vorn an der Rampe eine kleine Tür, durch die "Heinrich" bei der Audienz auftritt. Vor der linken Wand, ungefähr in ihrer Mitte, steht mit Blick auf die große Tür in der gegenüberliegenden Wand ein hölzerner Thronsessei, rechts und links von je zwei schweren Leuchtern flankiert, deren Kerzen brennen. Vor dem Thron, parallel zur linken Wand, ist ein roter Läufer ausgerollt, der mit einem zweiten, der von der Tür in der linken Wand ausgeht und parallel zur Rampe verläuft, in einem rechten Winkel zusammenstößt. Ein weiterer Teppich verläuft zwischen den beiden hinteren Leuchtern hindurch parallel zur Rückwand. In dieser Wand befmden sich an der Stelle, an welcher der erste Läufer endet, zwei von ausgearbeiteten Rahmen eingefaßte Nischen, in denen im I. Akt zwei Bilder stehen, welche in lebensgröße zwei junge Menschen im Karnevalskostüm als Heinrich IV, und die Markgräftn Mathilde von Toscana darstellen. Mit Ausnahme dieser beiden Bilder, auf deren Besonderheit im Dialog der vier "Geheimen Räte" am Anfang des I. Aktes ausdrücklich hingewiesen wird, enthält dieser Raum kein Detail, das gegen seine spezifische Historizität verstoßen würde. Auch die Beleuchtung wird auf eine Weise eingesetzt, die unmißverständlich "Kerzenlicht" bedeuten soll. Dekoration B, ein anderer Saal im Landhaus, wird durch das große steinerne Schreibpult auf der linken hinteren Bühnenhälfte, vor der hinteren Wand plaziert, ebenfalls eindeutig als ein historischer, nämlich mittelalterlicher Raum ausgewiesen. Die linke Wand enthält in der Mitte, direkt über dem Boden, ein großes, mit einem schmiedeeisernen Gitter versehenes Fenster, durch das helles Licht einfällt. Vor dem Fenster ist in den Boden ein rechteckiger Wassergraben eingelassen. Nicht weit von diesem Graben steht eine hölzerne Bank ohne Lehne, deren Standort verschiedentlich verändert wird. Dekoration B weist drei Türen auf: zwei an der rechten Wand, eine direkt an der Rampe durch sie betritt "Heinrich" den Raum - und eine an der Ecke zur mittleren Wand durch sie treten die zeit- <?page no="125"?> 125 genössischen Personen auf sowie eine Art Tapetentür in der hinteren Wand. Weder ein Detail der Dekoration noch die Lichtverhältnisse weisen auf die Pseudohistorizität dieses Raumes hin: er erscheint durchgehend als Raum aus der Zeit Heinrichs IV. Dekoration A wiederholt sich im III. Akt mit einer leichten Variation: die beiden Bilder fehlen. An ihrer Stelle stehen Frida und Carlo di Nolli im historischen Kostüm in den Nischen. Es gibt jedoch noch eine zweite Abweichung, die insofern besonders wichtig ist, als sie gegen die Historizität des Raumes verstößt: nachdem im Anschluß an die Konfrontation "Heinrichs" mit der jungen "Markgräfin Mathilde von Toscana" alle in den Thronsaal geeilt sind, ändern sich die Lichtverhältnisse. Sie zeigen jetzt das Einschalten des elektrischen Lichtes an. Damit wird der historische Raum als Nachahmung, als Fälschung, auf jeden Fall als Anachronismus ausgewiesen. Am Schluß des III. Aktes erfolgt eine weitere Veränderung, auf die wir am Ende der Analyse noch einmal zurückkommen werden. Nachdem der von "Heinrich" niedergestochene Belcredi aus dem Thronsaal getragen, Donna Mathildes Schrei ertönt ist und "Heinrich" zu seinen "Geheimen Räten" die Worte "Wir bleiben zusammen ... hier ... zusammen ... und für immer" (343) gesprochen hat, werden alle drei Wände hochgezogen, gleichzeitig setzt die Musik ein und volles Licht fällt auf "Heinrich". Zwischen den beiden Dekorationen A und B einerseits sowie zwischen der Dekoration A (I. Akt) und A' (Ill. Akt) andererseits lassen sich nun bestimmte Relationen feststellen. A und B sind insofern äquivalent, als sie beide einen mittelalterlichen Raum darstellen; sie sind insofern zueinander oppositiv, als sie 1. einen je verschiedenen Raum darstellen (Aussehen bzw. Ähnlichkeit), 2. einander ausschließen und folglich an verschiedenen Stellen erscheinen (position), 3. unterschiedlich häufig realisiert werden (Frequenz) und 4. A sowohl vor als auch nach B erscheint (Distribution). A ist zu A' äquivalent, da N eine Wiederholung von A darstellt. A' tritt jedoch zu A 1. durch das Fehlen der Bilder, 2. durch die Veränderung der Lichtverhältnisse und 3. durch die Veränderung am Schluß in Opposition. Die durch die Veränderung der Lichtverhältnisse hervorgerufene Opposition ist für uns insofern besonders interessant, als sie in bezug auf den Raum erst sehr spät einen Gegensatz aktualisiert, der von den Zeichen der äußeren Erscheinung bereits im I. Akt, schon beim ersten Auftreten der Personen, hergestellt wird: die Opposition historisch (Zeit Heinrichs IY.)-zeitgenössisch (zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts). Bis zur Veränderung der Lichtverhältnisse, also bis zum Einschalten des elektrischen Lichts (nachdem alle wissen, daß "Heinrich" den Wahnsinnigen nur spielt), realisiert die Dekoration <?page no="126"?> 126 von diesem Oppositionspaar ausschließlich das Glied: historisch. Der Raum, in dem sich alles bis zu diesem Zeitpunkt abspielt, ist also ein historischer Raum. 3.2.3 Die Zeichen der äußeren Erscheinung Innerhalb der Zeichensysteme, welche in ihrer Gesamtheit die äußere Erscheinung konstituieren, erfolgte die Selektion offensichtlich ebenso wie innerhalb der Systeme der Zeichen des Raumes nach realistischen Prinzipien (bis auf eine äußerst signifIkante Ausnahme). Alle Kostüme sind aufgrund ihrer spezifIschen Beschaffenheit - Form, Schnitt, Farbe, Zubehör sowohl in ihrer Funktion als auch nach ihrer epochalen Zugehörigkeit eindeutig zu erkennen. Während die Opposition: historisch-zeitgenössisch bzw.: 12. Jahrhundert - 20. Jahrhundert von den Zeichen des Raumes erst sehr spät aktualisiert wird, ist sie für die Zeichen der äußeren Erscheinung durchgehend konstitutiv. Dabei besteht zwischen den Kostümen des 12. und denjenigen des 20. Jahrhunderts eine generelle die Farbe betreffende Opposition. Während die mittelalterlichen Kostüme farblich sehr unterschiedlich gestaltet sind, sowohl kräftige Farben wie das satte Rot des Königsmantels oder das helle Lila des Umhangs der Markgräfm Mathilde von Toscana aufweisen, als auch wie die Kleidung der "Geheimen Räte" in den verschiedensten Pastelltönen gehalten sind, sowohl Weiß zeigen wie Heinrichs Büßerhemd, oder sein besticktes Gewand unter dem Königsmantel als auch dunkle Farben wie die Mönchskutten oder der Mantel der Kaiserinmutter -, sind die zeitgenössischen Kostüme ausschließlich in dunklen Tönen - 2: . T. im Kontrast zu Weiß gehalten. So tragen Donna Mathilde, Frida und Belcredi im I. Akt schwarze, di Nolli und der Arzt graue Mäntel, im III. Akt Belcrecli und der Arzt dunkle Anzüge und weiße Hemden. Heinrich trägt ein weißes, am Saum reich besticktes Hemd mit einem Ledergürtel, einen Brustpanzer, Kettenärmel, Beinschienen, einen roten Königsmantel, darüber im I. und 11. Akt (1. Hälfte) ein weißes Büßerhemd, auf dem Kopf eine Krone. Die Haarsträhne direkt über der Stirn ist gelb gefarbt, aufbeide Wangen ist ein runder roter Fleck geschminkt. Dies ist die einzige Abweichung vom realistischen Prinzip. Seine "Geheimen Räte" sind in pastellfarbene Hemden mit Ledergürteln gekleidet, bei offIZiellen Anlässen zusätzlich mit knielangen Umhängen in hellen Farben. Allen steckt ein Degen an der Seite. Lolo (Landolf) trägt eine Brille. Solange er allerdings "Heinrich" <?page no="127"?> 127 rur wahnsinnig hält, setzt er sie nur in dessen Abwesenheit auf. Seine äußere Erscheinung realisiert dergestalt gleich bei seinem ersten Auftreten zu Beginn des I. Aktes die Opposition: historisch-zeitgenössisch. Donna Mathilde ist im I. Akt in einen schwarzen, knöchellangen engen Pelzmantel mit breitem hochgeschlagenen Kragen gehüllt, trägt schwarze Lederhandschuhe und schwarze Schuhe mit sehr hohen Absätzen. Als Mutter der Kaiserin Berta hat sie einen bodenlangen, weiten schwarzen Mantel angezogen, der am Saum und an den Verschlußkanten reich bestickt ist, trägt das rötliche Haar in einem schwarzen Netz, darüber eine Krone. Über die Hände hat sie lange schwarze Stoffhandschuhe gestreift. Als Markgräfm Mathilde von Toscana ist sie in ein langes, cremefarbenes tailliertes Gewand gekleidet, über die Schultern fällt ein fliederfarbener Umhang herab, auf dem Kopf sitzt eine silbrige Kappe. Belcredi trägt einen eleganten dunkelgrauen Straßenanzug mit weißem Ziertaschentuch, darüber im I. Akt einen schwarzen Mantel mit Pelzkragen, den er über die Schultern gehängt hat, schwarze Handschuhe, einen dunklen Hut und ein zierliches Stöckchen. Seine Verkleidung als Mönch besteht in einer schwarzen Kutte, die er über den Anzug zieht. Der Arzt trägt ebenfalls einen dunklen Straßenanzug und im I. Akt einen dunkelgrauen zugeknöpften Mantel. Seine Brille hält er meist in den Händen. Als Hugo von Cluny ist er in einen weiten, faltenreichen, hinter ilun über den Boden schleifenden schwarzen Umhang gekleidet, der frei herunterhängt und einen langen weißen Einsatz über dem Anzug freigibt. Auf dem Kopf trägt er ein Käppchen. Carlo di Nolli erscheint im I. Akt mit dunklem Anzug und dunklem, offenen Mantel. Auf dem Kopf trägt er einen mittelgrauen Hut. Im III. Akt hat er Heinrichs Königsornat angelegt. Frida trägt im I. Akt einen schwarzen Pelzmantel mit hochgeschlagenem Kragen, einen eleganten kleinen Hut mit einem langen, nach unten stehenden Federbusch an der Vorderseite und hochhackige Schuhe. Als Markgräfm Mathilde von Toscana ist sie wie ihre Mutter gekleidet. Der Diener Giovanni trägt anfangs einen Frack, später tritt er als der "kleine Mönch" in einer Mönchskutte auf. Aufgrund der Kostüme lassen sich bestimmte Relationen zwischen den Personen herstellen. Die Gruppe derjenigen Personen, die nur im historischen Kostüm erscheinen - Heinrich und seine vier "Geheimen Räte" -, steht in Opposition zu der Gruppe von Personen, die sowohl im historischen als auch im zeitgenössischen Kostüm auftreten. Sind gleichzeitig Personen in historischer und in zeitgenössischer Kleidung auf der Bühne wie zu Beginn des ersten Aktes, <?page no="128"?> 128 wenn der Besuch di Nollis und seiner Begleitung auf die "Geheimen Räte" trifft, oder wie im III. Akt -,sind die Personen im Kostüm derselben Epoche zueinander äquivalent und allen, die ein Kostüm aus der anderen Epoche tragen, oppositiv. Neben derartigen Relationen, welche die Personen an der Achse: historisch-zeitgenössisch in jeweils unterschiedliche Gruppen zusammenfassen ( a) die "Geheimen Räte": der Besuch; b) die "Geheimen Räte", Donna Mathilde, der Arzt und Belcredi: Frida und di Nolli usw .), lassen sich auch auf das Kostüm bezogene Relationen zwischen einzelnen Personen herstellen. So ist Heinrich beispielsweise im I. Akt zu Mathilde, dem Arzt und Belcredi insofern äquivalent, als sie alle ein historisches Kostüm tragen, im III. Akt dagegen besteht eine sehr weitgehende Äquivalenz zu di NoIli, der in eine Kopie seines Königsornats gekleidet ist (Wiederholung), darüber hinaus im Hinblick auf die Historizität des Kostüms eine Äquivalenz zu Donna Mathilde und Frida, die beide das Kostüm der Markgräfm Mathilde von Toscana tragen und in bezug auf dieses Merkmal ihrerseits einander äquivalent sind wenn auch in bezug auf das Merkmal des Alters oppositiv. Entsprechend kann die Relation di Nolli - Frida Gunger Heinrich und junge Mathilde) als einerseits äquivalent, andererseits oppositiv zur Beziehung "Heinrich" - Donna Mathilde (alter Heinrich und alte Mathilde) beschrieben werden. Zu Belcredi steht "Heinrich" im III. Akt in einer deutlichen Opposition, die mehrere Merkmale betrifft: "Heinrich" trägt ein Kostüm des 12., Belcredi eines aus dem 20. Jahrhundert, "Heinrichs" Kleidung ist farbig (rot, weiß und gold), Belcredis dagegen farblos (grau und weiß), "Heinrichs" Haar ist zum Teil farbig (die gelb gefärbte Stirnlocke), Belcredis grau, "Heinrichs" Gesicht ist farbig (die roten Flecken auf den Wangen), Belcredis dagegen bleich, "Heinrich" ist groß und wirkt aufgrund seiner Kleidung eher stattlich, Belcredi ist bedeutend kleiner, schmal und eher grazil zu nennen. Was die Zeichen der äußeren Erscheinung betrifft, so etablieren sie im III. Akt zwischen "Heinrich" und Belcredi die Relation einer denkbar starken, sehr weitgehenden Opposition. Am Anfang des I. Aktes besteht zwischen Donna Mathilde und Belcredi insofern eine Äquivalenz, als beide in der Kleidung der zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts auftreten, die sie darüber hinaus noch als Angehörige derselben gesellschaftlichen Schicht ausweist. Diese Äquivalenz wird im zweiten Teil des I. Aktes nur zum Teil transformiert: beide tragen wohl ein Kostüm aus dem 12. Jahrhundert,jedoch eines, das sie unterschiedlichen Ständen zuweist. Die Mutter der Kaiserin Berta ist, was das Merkmal der in der Kleidung manifestierten gesellschaftlichen Stellung betrifft, eher dem Abt <?page no="129"?> 129 Hugo von Cluny und "Heinrich" (beide tragen eine Krone) äquivalent. Zu "Heinrich" tritt sie jedoch hinsichtlich der Farbe ihres Mantels in Opposition: rot (farbig) gegen schwarz (farblos). In bezug auf dieses Merkmal besteht wiederum Äquivalenz zu Belcredi. Im III. Akt endlich besteht aufgrund der Kleidung zwischen Donna Mathilde und Belcredi eine deutliche Opposition. Während Belcredi die farblose Kleidung der zeitgenössischen Herrenmode trägt, ist Donna Mathilde in ein farbiges mittelalterliches Gewand gehüllt, das in mehrfacher Beziehung eine Äquivalenz zu "Heinrich" herstellt. Frida und di Nolli sind insofern äquivalent, als sie beide im I. Akt im zeitgenössischen und im III. im historischen Kostüm erscheinen. Im 11. Akt wird ganz kurz eine Opposition zwischen ihnen hergestellt, wenn Frida sich den anderen für einen Moment bereits im Kostüm der Markgräfm Mathilde von Toscana zeigt. Die Beziehung Frida di Nolli ist im I. Akt, was die Kleidung betrifft, der Beziehung Donna Mathilde - Belcredi äquivalent, im III. Akt dagegen derjenigen Donna Mathilde - "Heinrich". Der Arzt steht sowohl im I. als auch im 11. Akt jeweils in der Relation einer Äquivalenz zu der Gruppe von Personen, mit der er auftritt, zunächst als Arzt im zeitgenössischen Anzug, dann als Abt Hugo von Cluny in historischem Kostüm. Im III. Akt dagegen besteht eine Äquivalenz nur noch zu Belcredi, zu allen übrigen Personen auf der Bühne tritt er aufgrund seines modernen Straßenanzuges in Opposition. Das Merkmal der Brille stellt eine gewisse Äquivalenz zwischen ihm und Lolo (Landolf), dem Wortführer der "Geheimen Räte", her, die Art ihrer Handhabung jedoch läßt beide zueinander in Opposition treten. 189 Innerhalb der Gruppe der Personen, die sowohl im zeitgenössischen als auch im historischen Kostüm erscheinen, steht Mathilde hinsichtlich der Anzahl der Kostüme in einer Opposition zu allen anderen. Wähend jeder sonst ein zeitgenössisches und ein historisches Kostüm trägt, tritt Mathilde wohl in einem zeitgenössischen,jedoch in zwei unterschiedlichen historischen Kostümen auf, als Mutter der Kaiserin Berta und als Markgräfm Mathilde von Toscana. Diese lediglich aufgrund der Zeichen der äußeren Erscheinung herbzw. feststellbaren Relationen zwischen den dramatis personae fungieren als eine Art deutlich sichtbarer, sozusagen augenfälliger Basis, von der die Interaktion jeweils ihren Ausgang nimmt. Wohl mag die nachfolgende Interaktion diese von der äußeren Erscheinung etablierten Relationen modiftzieren, neutralisieren oder gar in ihr Gegenteil verkehren, in jedem Fall aber wird das Verhältnis zwischen der jeweiligen Ausgangsstruktur des Relationsgeftiges und seinen späteren Umstrukturierungen als ein wichtiger Signifikant zu gelten haben. Auf dem Hintergrund dieses Relationsgefüges werden die <?page no="130"?> 130 kinesischen Zeichen eingesetzt und realisiert. Sie werden sich daher auch nur unter Rekurs auf die von der äußeren Erscheinung hergestellten Beziehungen interpretieren lassen. Bezogen auf die allgemeine Opposition historisch-zeitgenössisch sind auch zwischen den Zeichen des Raumes auf der einen und den Zeichen der äußeren Erscheinung auf der anderen Seite bestimmte Relationen zu konstatieren. Während im I. und 11. Akt jeweils in "Heinrichs" Anwesenheit Äquivalenz zwischen beiden Gruppen von Zeichen besteht, treten sie in seiner Abwesenheit in Opposition zueinander: Menschen, die aufgrund ihrer Kleidung eindeutig als Menschen des 20. Jahrhunderts zu erkennen sind, halten sich in historischen Räumen auf, die wegen ihrer Ausstattung ebenfalls eindeutig dem 12. Jahrhundert zugeordnet werden müssen. Damit entsteht eine Situation, wie sie für Exkursionen zu historischen Sehenswürdigkeiten charakteristisch ist die Situation beispielsweise einer Burgbesichtigung. Im III. Akt dagegen sind die Verhältnisse bedeutend komplizierter. Während wohl einerseits zwischen historischem Raum und historischen Kostümen eine Äquivalenz und entsprechend zwischen dem historischen Raum und den zeitgenössischen Kostümen Belcredis und des Doktors eine Opposition besteht, stellt andererseits das elektrische Licht eine Äquivalenz zwischen Raum und zeitgenössischen Kostümen und eine Opposition zwischen dem Raum und den historischen Kostümen her. Dies besondere Relationsgeftige läßt den Raum eher wie eine Theaterdekoration und die Personen in historischen Kostümen als Schauspieler in Verkleidung erscheinen. Dieser Eindruck wird durch den Einsatz zeitgenössischer Requisiten wie der Zigarette in den Händen des ,jungen Heinrich" di Nollis und der alten Markgräfm Donna Mathildes weiter verstärkt. Die Requisiten lassen sich ebenfalls nach der von der Opposition historisch-zeitgenössisch vorgegebenen Ordnung klassifIzieren. Sie bestehen größtenteils aus Elementen der äußeren Erscheinung 190 wie Brille, Handschuhe, Stöckchen, Hut vs. Krone, Degen, Dolch, Büßerhemd, Mantel, Kampthandschuhe, Beinschienen, Schuhe sowie aus Dekorationselementen wie roter Läufer, Lampe, Bank. Daneben finden noch Pergamentrolle, Feder, Tintenfaß, Laute als historische und Zigarettenetui, Feuerzeug, Zigaretten als zeitgenössische Requisiten Verwendung. Wie bereits angedeutet, kann die Opposition historisch-zeitgenössisch auch durch die Beziehung der Requisiten zu den Zeichen des Kostüms oder der Dekoration aktualisiert werden, so z.B. durch die Kombination des historischen Abtkostümes mit der zeitgenössischen Brille oder die Kombination des Königsornats mit der Zigarette. <?page no="131"?> 131 Die Opposition: 12. Jahrhundert - 20. Jahrhundert ist also sowohl für die Gestaltung der Zeichen des Raumes und der Zeichen der äußeren Erscheinung konstitutiv als auch für die Beziehung zwischen den Zeichen a) desselben Zeichensystems (Kostümelement A: Kostümelement B/ Dekorationselement A: Dekorationselement B etc.) und b) verschiedener Zeichensysteme (Kostümelement A: Raumelement A/ Kostümelement B: Raumelement B etc.). Das realistische Selektionsprinzip findet ganz offensichtlich in der herausragenden Bedeutung, der fundamentalen Funktion dieser Opposition seinen Grund. Denn nur wenn sich die einzelnen Elemente des Raumes und der äußeren Erscheinung in ihrer epochalen Zugehörigkeit eindeutig erkennen lassen, kann die Opposition hergestellt werden und vermag entsprechend zu funktionieren. 3.3 Die kinesischen Zeichen Die kinesischen Zeichen sollen sowohl in bezug auf ihre besondere Gestaltung als auch im Hinblick auf ihre spezifische Funktion und Leistung in der Aufführung untersucht werden. Da keineswegs vorausgesetzt werden kann, daß sie im gesamten Text einheitlich realisiert und verwendet werden, empfiehlt es sich, der äußeren Gliederung des Handlungsablaufs folgend, sie jeweils gesondert für den 1., 11. und 111. Akt zu untersuchen. Dabei versteht es sich von selbst, daß nicht sämtliche zwischen den vom Öffnen und Schließen des Vorhangs markierten Grenzen realisierten kinesischen Zeichen berücksichtigt werden können. Wir werden daher bezüglich des I. Aktes, in dem die Personen in bestimmten typischen Haltungen, Gesten und Gängen eingeführt werden, die kinesischen Zeichen in ihren allgemeinen Grundzügen beschreiben, bezüglich des 11. und III. Aktes dagegen eine kurze Sequenz jeweils en detail analysieren und anschließend zu größeren Einheiten in Beziehung setzen. 3.3.1 Definition der Rollen (I. Akt) Wenn die Personen lediglich in ihren Grundhaltungen, typischen Gesten und Bewegungen beschrieben werden, lassen sich die betreffenden kinesischen Zeichen nur auf der Ebene des Subjekts und der Intersubjektivität untersuchen, da der direkte Bezug auf den gleichzeitig gesprochenen Text unberücksichtigt bleiben muß. Die Bedeutungen, die wir ihnen zusprechen können, werden also entweder die <?page no="132"?> 132 jeweilige dramatis persona betreffen oder Beziehungen, die zwischen zwei oder mehreren dramatis personae bestehen. Legen wir die Einteilung der Funktionen nonverbaler Zeichen in der Kommunikation zugrunde, wie Scherer sie mit seiner Differenzierung in die parasyntaktischen (auf die Gliederung der Rede bezogenen), parasemantischen (auf die Bedeutungen der Rede bezogenen), parapragmatischen (Ausdruck und Reaktion der Kommunikationsteilnehmer betreffenden) und dialogischen (Regulation der Kommunikation betreffenden) Funktionen vorgenommen hat,191 werden wir die Untersuchung der kinesischen Zeichen im I. Akt ausschließlich im Hinblick auf ihre parapragmatischen Funktionen vornehmen. Es sind also relativ andauernde Zustände, Haltungen, Geftihlslagen etc. der einzelnen Personen und die zwischen ihnen bestehenden Beziehungen zu ermitteln. Die Aufflihrun~ beginnt nach öffnen des Vorhangs und Verstummen der Musik 19 mit einem Gespräch der vier "Geheimen Räte". Bertold (Fino) soll heute seine Rolle zum ersten Mal übernehmen und die anderen drei weisen ihn ein, indem sie ihm die Gemächer zeigen und alles Notwendige erklären. In dieser Szene lassen sich eine Reihe von Gesten und Bewegungsabläufen beobachten, die offensichtlich typisch für die drei bereits eingearbeiteten "Geheimen Räte" sind. Während Bertold, sein Bündel in den Armen haltend, häufig mit gesenktem Kopf und eingezogenen Schultern eher ängstlich und abwartend daneben steht, laufen und springen sie über die Bühne, wenden sich sowohl untereinander als auch Bertold häufig körperlich zu. Sie pflegen vergleichsweise wenig Blickkontakte nur dann, wenn sie sich zu dritt über Bertold auf dessen Kosten recht harmlos amüsieren wollen -, sondern ziehen direkte Körperkontakte vor. Sie versetzen sich häufig gegenseitig einen Schlag auf die Schulter oder in den Rücken, einen Stoß in die Rippen oder einen leichten Boxhieb, sie legen einander die Hand auf die Schulter oder schlingen gar den Arm um die Schultern. Ihre lockeren, ungezwungenen Gesten und Gänge lassen auf der Subjektebene den Schluß zu, daß es sich bei diesen dramatis personae um relativ unkomplizierte, fröhliche junge Leute handelt. In bezug auf die Ebene der Intersubjektivität sind kameradschaftliche, positive, weitgehend symmetrische Beziehungen zwischen ihnen zu konstatieren. Die körperliche Berührung beispielsweise ist nicht das Privileg eines einzelnen, sondern wird gegenseitig vorgenommen. Eine Ausnahme macht hier Bertold, der die an ihn gerichteten Gesten (noch) nicht erwidert. Ein gewisses Dominanzgebaren ist bei Landolf (Lolo) festzustellen. Er trägt die Schultern besonders weit zurückgenommen und <?page no="133"?> 133 häufig das Kinn sehr hoch, er stemmt die Hände in die Hüften oder legt sie auf den Rücken. Vor allem führt er die hinweisenden Gesten aus, mit denen die räumlichen Gegebenheiten erklärt werden sollen. Seine dominante Rolle innerhalb der Gruppe der "Geheimen Räte" ist eindeutig. (Ihr entspricht auch, daß ihm die größte Textmenge zugeordnet ist.) Die Gesten stehen in keiner erkennbaren Beziehung zu den Kostümen der dramatis personae. Wir haben es hier mit einer gestischen Verhaltensform zu tun, wie sie für eine Gruppe zeitgenössischer Jugendlicher kennzeichnend sein mag, in der entspannte, freundschaftliche Beziehungen herrschen. Das Prinzip, welches ganz allgemein der Selektion des Typus von kinesischen Zeichen, wie sie hier realisiert werden, zugrundegelegen hat, beruht offensichtlich auf einer Anlehnung an das in unserer Kultur herrschende kinesische System. 193 Es besteht also eine sichtbare Diskrepanz zwischen den historischen Kostümen auf der einen und den kinesischen Zeichen, die betont und nachdrücklich auf Jugendliche unseres Jahrhunderts verweisen, auf der anderen Seite. Wohl wird dieser Widerspruch von den begleitenden Worten erklärt, jedoch durch die sichtbare Opposition von Kostüm und Geste als ein Widerspruch eingeführt, der sozusagen quer durch die Person geht. Da diese Szene die dramaturgisch der Exposition dient die Aufführung eröffnet, kommt der in ihr dargestellten und vorgeführten Opposition zwischen dem Äußeren der Personen und ihrem gestischen (und verbalen) Verhalten eine besondere Bedeutung zu, die auf die gesamte Problematik der Aufführung vorausweist. Zwischen dieser Szene und der nächsten, in der di Nolli mit dem Doktor, seiner Verlobten Frida, deren Mutter Donna Mathilde und Belcredi auftritt, stellt der Aufbau des Dramas eine deutliche Entsprechung her. Während in der ersten Szene ein neuer "Geheimer Rat" in seinen Dienst eingeftihrt und mit Hilfe dieses Kunstgriffs die gegenwärtige Situation erläutert wird, läßt sich in der anschließenden Szene der Doktor mit den näheren Umständen bekanntmachen, die "Heinrichs" Wahnsinn vorausgegangen sind, wodurch die Vorgeschichte nachgetragen und in die gegenwärtige Situation die Ausgangssituation des Dramas hineingeholt wird. Damit ist die Exposition abgeschlossen. Dieser funktionalen auf die Handlung bezogenen Äquivalenz treten nun mehrfache Oppositionen zwischen beiden Szenen gegenüber. Die erste betrifft das Kostüm: während die "Geheimen Räte" in den farbigen historischen Kostümen aus dem 12. Jahrhundert erscheinen und in dieser Hinsicht der Historizität des Raumes entsprechen, sind die Personen um di Nolli in dunkle Gewänder nach <?page no="134"?> 134 der Mode der zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts gekleidet, auf diese Weise zur Historizität des Raumes in Gegensatz tretend: sie passen nicht hierher. Die zweite Opposition wird durch das nonverbale Verhalten dieser Personengruppe hergestellt. Bereits ihr Auftritt unterscheidet sich signifIkant von demjenigen der "Geheimen Räte": in Korrespondenz zur dunklen Farbe ihrer Kleidung ist er langsam und gemessen. Donna Mathilde stolziert, Frida trippelt, der Doktor und di Nolli schreiten und Belcredi endlich schlendert gemächlich durch die Tiir in den Raum. Im weiteren Verlauf der Szene verharren alle fast durchgehend auf der rechten vorderen Bühnenseite. Lediglich Donna Mathilde durchquert, wenn sie ihr Bild erblickt, den ganzen Raum bis links hinten, um es betrachten zu können. Im Dialog vermeidet diese Gruppe von Personen jeglichen Körperkontakt. Es wird nur ein einziges Mal eine Berührung vorgenommen. Wenn Donna Mathilde die Sätze spricht: "Manchmal kommt es in dem großen Leid, das uns Frauen immer wieder zustößt, vor, daß uns zwei Augen anschauen, aus denen der innige Schwur einer Liebe spricht, die unvergänglich ist.", 194 schreitet sie, den Arm um Fridas Taille geschlungen, mit ihr gemeinsam über die Bühne auf diese Weise die Solidarität der Frauen im Leiden demonstrierend. Andere Körperkontakte erfolgen nicht. Der Abstand, den die Personen zu einander einhalten, ist stets größer, als daß sie sich überhaupt im Gespräch berühren könnten. Nur Frida und di Nolli, die Verlobten, stehen so nahe beieinander, daß ihre Füße sich beinahe berühren, auch wenn sie die Oberkörper nach hinten zurückbeugen. Ihre Körper sind dabei in einem rechten Winkel einander zugewandt. Die anderen drei Personen dagegen wenden sich im Gespräch weder mit dem Kopf noch mit dem Körper den anderen zu, teilweise sogar demonstrativ voneinander ab. Es entsteht auf diese Weise einerseits, was das Verhältnis Donna Mathildes zu Belcredi betrifft, der Eindruck einer gewissen Aggressivität, zumindest Gereiztheit, andererseits ganz allgemein einer Selbstbezogenheit dieser dramatis personae, einer Kommunikationsunfähigkeit oder -unlust. Dieser Eindruck wird durch zwei Verfahren verstärkt: 1. durch das Spiel mit den in diesem Sinne als Requisiten fungierenden Kostümteilen und 2. durch den Einsatz der Sprache. Donna Mathilde trägt den großen Kragen ihres langen Pelzmantels hochgeschlagen und wickelt sich sowohl bei ihren Gängen als auch im Stehen immer wieder in den Mantel ein, indem sie ihn mit beiden Händen soweit wie möglich übereinanderschlägt und auf diese Weise eng um sich schließt. Mit dieser nir sie in dieser Szene typischen Geste isoliert sie sich von den anderen, speziell von Belcredi, <?page no="135"?> 135 auf dessen Äußerungen hin sie besonders häufig diese Geste macht, und bezieht sich so nachdrücklich nur auf sich selbst. Der Doktor dagegen spielt im Gespräch ununterbrochen mit seiner Brille, die er immer wieder absetzt, in den Händen hält, hin und her dreht, ihre Bügel herunter- und heraufklappt, sie wieder aufsetzt etc. Bei dieser Beschäftigung mit seiner Brille sieht er selten einen anderen an, meist blickt er auf die Brille und seine Hände, auf diese Weise die im Laufe der Szene immer deutlicher hervortretende Versponnenheit und Befangenheit in seiner eigenen Theorie vom Wahnsinn illustrierend und bekräftigend. Belcredi endlich konzentriert seine Aufmerksamkeit auf sein elegantes Spazierstöckchen. Er schlenkert es hin und her, malt mit ihm auf den Boden, bohrt es in den Boden etc. Dieser betont häufige Eh1.satz von Adaptoren und Selbst-Adaptoren (nach Ekmans Klassifikation) verweist einerseits auf die intensive Beschäftigung der betreffenden dramatis personae mit sich selbst, andererseits, daraus folgend, auf ihre Unfähigkeit, sich einem anderen zuzuwenden. In Übereinstimmung mit dieser Funktion der Adaptoren werden, sie verstärkend, die verbalen Zeichen eingesetzt: die Personen sprechen ihre Texte häufig gleichzeitig oder leise und unverständlich vor sich hin murmelnd. Auf diese Weise vermögen sie zwar ihre expositorische Funktion nicht zu erfüllen die Vorgeschichte bleibt weitgehend unverständlich -, intensivieren jedoch den Eindruck, daß die dramatis personae zu einer Kommunikation miteinander nicht in der Lage oder aber nicht willens sind. Sie ziehen es vor, entweder sich selbst bzw. ihre Theorien zu produzieren oder sich scheinbar oder tatsächlich teilnahmslos abseits zu halten. Während der Grundgestus der Personen in dieser Szene dergestalt auf die Beziehungen zwischen den Personen verweist und so vorrangig auf der Ebene der Intersubjektivität Bedeutung erzeugt, ist die speziflsche Art und Weise, in der er jeweils ausgefiihrt wird, auf die Ebene des Subjekts bezogen: sie charakterisiert die dramatis personae. Donna Mathildes Bewegungen sind auffallend lebhaft: sie wirft abrupt den Kopf nach hinten, dreht sich ruckartig um vor allem, wenn sie als Reaktion auf eine Äußerung Belcredis sich von ihm abwendet -, fährt heftig mit dem ganzen Arm durch die Luft, macht energische, wenn auch, bedingt durch die hohen Absätze, kleine Schritte, bei denen sie sich nachdrücklich in den Hüften wiegt. Ihr gestisches Verhalten läßt auf einen stark emotionalen, unausgeglichenen Zustand, einen ausgesprochen dominierenden Charakter schließen. Belcredi dagegen bewegt sich langsam und lässig. Häufig wendet er sich ganz und gar von allen ab, mit seinem Gehstöckchen be- <?page no="136"?> 136 schäftigt. Er erscheint als ruhig und gelassen, relativ unbeteiligt und desinteressiert. Der Doktor macht sehr kleine, eckige Bewegungen. Meist behält er die Arme am Oberkörper und agiert nur mit den Unterarmen. Er hebt oft dozierend die rechte Hand, auf seine Reden verweisend, ohne sie ausdrücklich an einen der Anwesenden zu richten. Er scheint sich dergestalt ganz mit seiner Rolle als flir ein bestimmtes Problem herangezogener Fachmann, als Arzt, zu identifizieren und unterläßt jegliche Geste, die nicht als Ausdruck dieser Rolle verstanden werden könnte. Dem Sich-Festhalten an der Brille korrespondiert ein Sich-Festhalten sowohl an der eigenen Theorie als auch an dieser seiner spezifischen Rolle. Frida steht die ganze Szene über fast bewegungslos daneben. Sie verändert lediglich von Zeit zu Zeit die Position ihrer Hände, hält entweder beide jeweils an den Verschlußkanten ihres Mantels oder verschränkt sie vor dem Bauch. Ihrem Gesicht ist keine Regung zu entnehmen. Sie wirkt ausdrucks- und teilnahmslos, ohne daß sich diese Haltung aufgrund bestimmter Gesten genauer qualifizieren ließe beispielsweise als Ablehnung oder Desinteresse, Zurückhaltung oder Langweile, Wohlerzogenheit oder Blasiertheit u.am. Di Nolli bewegt sich zwar auch wenig im Raum, läßt jedoch durchaus gewisse Gefühlsregungen erkennen. So blickt er durchgehend ernst, zum Teil etwas verärgert drein, tritt, wenn die Reden der anderen vor allem das Gezänk zwischen Donna Mathilde und Belcredi sich immer länger hinziehen, von einem Fuß auf den anderen, ballt leicht die Fäuste, macht auch einmal einen Schritt vorwärts, hebt den rechten Arm und den Kopf. Er zeigt also Zeichen einerseits einer gewissen Ungeduld, andererseits des Wunsches, in das Gespräch einzugreifen und die Geschehnisse voranzutreiben, ohne jedoch über derartige Anläufe hinauszukommen und sich bei den anderen durchsetzen zu können. Die Bedeutungen, welche die kinesischen Zeichen dergestalt auf der Subjektebene erzeugen, betreffen, so läßt sich resümierend folgern, vorwiegend die gegenwärtige Gefühlslage der dramatis personae (gleichgültig, verärgert, interessiert, gereizt etc.) sowie ihre jeweils intendierte Selbstdarstellung, also die Rolle, welche jede Person sich selbst zuschreibt und vor den anderen spielen möchte (die leidende, unverstandene Frau, der sachverständige Arzt, der gelassene, desinteressierte Zuschauer etc.) , weniger konstante Charakterzüge. Die Personen werden also durch ihr gestisches Verhalten auf eine Weise gekennzeichnet, welche Schlüsse auf so etwas wie ihr "Wesen", auf ihren Charakter kaum zuläßt. Die Bedeutungen, welche die kinesi- <?page no="137"?> 137 sehen Zeichen auf der Subjektebene hervorbringen, stehen entsprechend in einem engen Zusammenhang mit denjenigen, welche sie auf der Ebene der Intersubjektivität erzeugen. Denn die Gefühlszustände sind ebenso wie die abgegebenen Selbstdarstellungen Resultat und zugleich Bedingungsfaktor des Interaktionsprozesses. So ist beispielsweise Donna Mathildes Gereiztheit als Reaktion auf Belcredis Verhalten zu bewerten oder di Nollis Verärgerung als Reaktion auf das Gezänk beider. Die Selbstdarstellungen dagegen sind auf die Rollenzuweisungen bezogen, welche die anderen vornehmen. So stimmen wohl alle mit Genoni darin überein, daß er in dieser Situation nur in der Rolle des Fachmannes, des Arztes agieren kann, es bestehen jedoch zumindest zwischen Belcredi und Donna Mathilde Divergenzen, sowohl was die von ihr gewünschte Rolle der unverstandenen Frau als auch was die von ihm intendierte des gelangweilten Zuschauers betrifft. Die von den kinesischen Zeichen auf der Subjektebene erzeugten Bedeutungen sind dergestalt also auch direkt auf den Prozeß der Interaktion bezogen, der zwischen den dramatis personae abläuft. Die folgende Szene führt beide Personengruppen mit "Heinrich" zusammen. "Heinrich" tritt barfuß auf, den Oberkörper leicht vorgebeugt, mit großen Schritten über den roten Läufer hastend, den die "Geheimen Räte", unmittelbar nachdem sie das Erscheinen "Seiner Majestät, des Kaisers" (301) angekündigt, nachdrücklich hochgeris- <?page no="138"?> 138 sen und direkt vor "Heinrich" ausgebreitet haben. Sowohl die Körperhaltung als auch der Gang dieses ersten Auftritts sind charakteristisch für "Heinrichs" gestisches Verhalten in dieser Szene. Seine Schritte bleiben ausgreifend, bestimmt und schnell, der Oberkörper wird zum Teil wie in der Attacke gegen Belcredi, den er für Petrus Damiani hält noch weiter vorgebeugt, die Armbewegungen sind ebenfalls raumgreifend, energisch geftihrt und herrisch. Diesem ersten Grundgestus tritt ein zweiter gegenüber: nach seinem vergeblichen Versuch, sich zu demütigen (',Ich weiß nicht, warum, aber heute schaffe ich es einfach nicht, mich zu demütigen" (306)),setzt er sich, die Beine eine Zeitlang angezogen, dann im Schneidersitz, auf den Teppich. Mit den Händen umklammert er seine Knie oder berührt zwei der dicht um ihn gescharten "Geheimen Räte". Mit diesen beiden Grundgestus gibt "Heinrich" zwei verschiedene Selbstdarstellungen ab, die beide in einem engen Zusammenhang stehen. Der erste verweist auf Heinrich den Kaiser als Herrscher ihm korrespondiert das Königsgewand -, der zweite auf Heinrich den Kaiser als Büßenden, der sich vor Papst Gregor demütigen muß ihm entspricht das Büßerhemd über dem Königsornat. Beide Selbstdarstellungen sind so angelegt, daß die Rolle des Kaisers sich jeweils mit einer zweiten überschneidet: der Rolle des Wahnsinnigen. Auf sie sind die prononciert herrischen Schritte und Armbewegungen im ersten Grundgestus und die übertrieben ängstlichen, schutzsuchenden Haltungen des zweiten Grundgestus bezogen. Auf diese Rolle verweisen als Zeichen der äußeren Erscheinung der gelbgefarbte Haarschopf über der Stirn und die beiden roten runden Flecken auf den Wangen. "Heinrich" agiert also stets gleichzeitig in zwei Rollen der des Kaisers und der des Wahnsinnigen. Die Kaiserrolle wird dabei von seinem gestischen Verhalten nachdrücklich betont, die des Wahnsinnigen immer nur zwischenzeitlich, sporadisch realisiert. Die besondere Bedeutung, welche der Kaiserrolle in ihren beiden unterschiedlichen Ausprägungen zukommt, wird durch eine spezifische interne Urnkodierung zusätzlich hervorgehoben. Vor "Heinrichs" Auftreten als "Seine Majestät, der Kaiser" wird unübersehbar an dem roten Läufer herumgezogen, über den er auftreten wird; ehe Heinrich auf dem Läufer niederkniet, um sich als Kaiser vor dem Papst zu demütigen, wird der Teppich wiederum eine Weile hin- und hergezerrt, ehe er für diesen Zweck richtig zu liegen scheint. Es wird dergestalt zwischen "Heinrichs" Agieren als Kaiser und dem roten Läufer eine spezifische Relation hergestellt, welche dem Läufer die Bedeutung zuweist: Ort, an dem "Heinrich" in seiner Rolle als Kaiser agiert. Diese Bedeutung kann dann für den weiteren Verlauf <?page no="139"?> 139 zugrundegelegt und in diesem Sinne bei der Interpretation seines gestischen Verhaltens vor allem im III. Akt berücksichtigt werden. Mit seiner Selbstdarstellung in zwei Rollen, derjenigen des Kaisers und des Wahnsinnigen, eröffnet "Heinrich" zwei unterschiedliche Möglichkeiten für die anderen, sich ihm gegenüber zu verhalten, Beziehungen zu ihm einzugehen. Die Gruppe der "Geheimen Räte" reagiert überwiegend auf die Rolle des Kaisers. Ihr gestisches Verhalten ist von demjenigen in der ersten Szene signiftkant verschieden. Sie schreiten gemessen und würdevoll, ihre Gesten tragen zeremoniellen, ja rituellen Charakter. Alle bewegen sich in aufrechter Haltung, in deutlicher Entfernung voneinander und in respektvoller Distanz zu "Heinrich", es sei denn, daß er sie zu sich winkt. Wohl berührt "Heinrich" sie im Gespräch, sie ihrerseits dagegen haben zu ihm wie auch untereinander keinerlei Körperkontakt. Ihr gestisches Verhalten entspricht dergestalt vollkommen einerseits der asymmetrischen Beziehung, wie sie durch die Rollen "Kaiser" und "Geheime Räte" festgelegt ist, andererseits der allgemeinen Vorstellung von der Verhaltensform derartiger "Geheimen Räte" bei einer offIZiellen Veranstaltung an einem mittelalterlichen Hof, wie eine Audienz sie darstellt. Sie wechseln ihr gestisches Verhalten mit der Rolle, die ihnen jeweils zugewiesen wird. Es korrespondiert jetzt der Historizität des Raumes und ihrer Kostüme einerseits sowie den Rollen der "Geheimen Räte" im Umgang mit ihrem Kaiser andererseits. Das auf diese Weise rollenkonforme gestische Verhalten läßt sich dergestalt <?page no="140"?> 140 auch nur bezüglich dieser Rollen interpretieren, nicht aber im Hinblick auf die Subjekte, die sie spielen. Belcredi und der Doktor reagieren mit ihrem gestischen Verhalten nahezu ausschließlich auf die Rolle des Wahnsinnigen. Im Kostüm des Cluniazensermönchs realisiert Belcredi als kostüm- und entsprechend rollenangemessene Geste lediglich den Kniefall zu Beginn der Audienz. Er versucht ansonsten, die in der vorausgehenden Szene entworfene Rolle des gelassenen wenn auch nicht mehr ganz desinteressierten - Zuschauers auch im historischen Kostüm weiterzuspielen. Er bleibt darin durchaus der vom Kostüm vorgegebenen Rolle adäquat weitgehend im Hintergrund, "Heinrich" allerdings im Widerspruch zu dieser Rolle höchst despektierlich stets mit den Blicken verfolgend. Der vom Kostüm geforderten Bescheidenheit widerspricht auch seine Gestik nachdrücklich: er verschränkt seine Arme in Ermangelung des Stöckchens, mit dem er sie beschäftigen könnte über der Brust, auf diese Weise gleichzeitig die Zurückgezogenheit des Zuschauers und eine gewisse Dominanz demonstrierend (statt sie beispielsweise in den Ärmeln der Kutte zu verbergen). Indem er die mit der Rolle des Wahnsinnigen unlösbar verbundene Rolle des Kaisers, soweit es irgend geht, ignoriert, mit seinem gestischen Verhalten also kaum aufsie eingeht, gelingt es ihm, die vor dieser Konfrontation abgegebene Selbstdarstellung und Rollendefinition auch in dieser Situation beibzw. aufrechtzuerhalten. Der Doktor geht ebenfalls mit seinem gestischen Verhalten nahezu ausschließlich auf die Rolle des Wahnsinnigen ein, dergestalt seine eigene Rolle als Arzt konsequent weiterftihrend. Er folgt "Heinrich" nicht nur ständig mit den Blicken, sondern, wenn er sich von ihm unbeachtet glaubt, auch ganz direkt. Als "Heinrich" sich auf den Läufer setzt, tritt er dicht hinter ihn, hockt sich ebenfalls hin und reckt sogar den Kopf vor, um ihn besser beobachten zu können. Das historische Kostüm erweist sich dabei als ausgesprochen hinderlich: häufig droht er über die lange Schleppe zu stolpern. Spricht "Heinrich" ihn an, weiß er nicht, wo er mit seinen Händen bleiben soll. Immer wieder holt er zwischendurch die Brille hervor, um sich an ihr festhalten zu können. Während Belcredi offensichtlich ganz bewußt mit seinem gestischen Verhalten der vom Kostüm geforderten Rolle widerspricht, ist der Doktor nicht in der Lage, sich kostümadäquat zu bewegen und so die historische Rolle des Abtes mit der zeitgenössischen des Arztes zu harmonisieren. Er vermag nur in der einmal festgelegten, klar defmierten Rolle zu agieren. Donna Mathilde dagegen versucht, ein gestisches Verhalten zu zeigen, welches sowohl ihrem historischen Kostüm als Mutter der Kaiserin Berta und entsprechend der Rolle "Heinrichs" als Kaiser <?page no="141"?> 14] angemessen ist als auch auf seine Rolle als Wahnsinniger adäquat zu reagieren vermag. Dadurch entstehen signifIkante Brüche in ihrem Verhalten. Während sie einerseits in sehr aufrechter würdevoller Pose "Heinrich" gegenübertritt, die Arme kontrapostisch angewinkelt oder gar die Hände leicht vor der Brust ringend, hockt sie sich andererseits, als er auf dem Läufer sitzt, neben ihn, den Oberkörper vorgebeugt, die Hände locker auf den Knien haltend. Ihr gestisches Verhalten wird dergestalt stets in Reaktion auf "Heinrichs" gestisches Verhalten quasi als eine Nachahmung realisiert: sie paßt sich in Haltung und Bewegung ihm an. Ihr gestisches Verhalten läßt sich dahingehend interpretieren, daß sie in jedem Fall auf "Heinrich" einzugehen wünscht. Das ist jedoch in der Rolle, die sie in der vorausgehenden Szene für sich entworfen hat, nicht möglich. Sie muß daher in der Konfrontation mit "Heinrich" ihre Rolle neu defInieren. Entsprechend probiert sie in Reaktion auf die jeweils von "Heinrich" abgegebenen Selbstdarstellungen unterschiedliche Verhaltensweisen aus, ohne sie in dieser Szene bereits zu einer einheitlichen Rolle synthetisieren zu können. Durch diese widersprüchlichen, jedoch stets von "Heinrichs" RollendefInitionen ausgelösten Verhaltensweisen signalisiert sie sowohl ihm als auch dem Zuschauer, daß sie eine Beziehung zu ihm herstellen möchte, die, nicht von einer der vorab festgelegten Rollen bestimmt, jenseits dieser Rollen realisiert werden sollte eine persönliche Beziehung, die zu etablieren sie allerdings das angemessene gestische Muster noch nicht gefunden hat. <?page no="142"?> 142 Die kinesischen Zeichen vor allem die gestischen und proxemisehen sind, so läßt sich bereits nach dem I. Akt feststellen, ebenso wie Kostüme und Requisiten gemäß der allgemeinen Opposition: historisch-zeitgenössisch gestaltet. Sie können folglich der äußeren Erscheinung (bzw. dem Requisit) in dieser Hinsicht einerseits äquivalent, andererseits oppositiv sein. "Heinrich" ist im I. Akt die einzige dramatis persona steht folglich hinsichtlich dieses Merkmals zu allen anderen in Opposition -, bei der die Zeichen der äußeren Erscheinung zu den kinesischen Zeichen nicht ein einziges Mal in einen deutlichen Widerspruch treten. Denn die Zeichen der äußeren Erscheinung verweisen sowohl auf die Rolle des Kaisers als Herrscher als auch auf die Rolle des Kaisers als Büßenden als auch auf die Rolle des Wahnsinnigen. Die kinesischen Zeichen aktualisieren also jeweils eine dieser Rollen in besonderer Weise. Sie müssen folglich mindestens einer der von der äußeren Erscheinung repräsentierten Rollen immer äquivalent sein, den beiden anderen jedoch gegebenenfalls oppositiv. Die von "Heinrich" verwendeten Zeichen der äußeren Erscheinung und die kinesischen Zeichen realisieren dergestalt durch ihr Verhältnis zueinander stets sowohl eine Relation der Äquivalenz als auch eine der Opposition. In der Verwendung durch andere Personen dagegen sind sie einander entweder äquivalent oder oppositiv, so bei den "Geheimen Räten" in der ersten Szene oppositiv, in der dritten dagegen äquivalent, bei Donna Mathilde, Belcredi und dem Doktor in der zweiten <?page no="143"?> 143 Szene äquivalent, in der dritten jedoch, soweit es Belcredi und den Doktor betrifft, oppositiv und bei Donna Mathilde in einigen Sequenzen äquivalent, in anderen dagegen, z.B. wenn sie sich zu "Heinrich" auf den Boden hockt, ebenfalls oppositiv. Während das Kostüm bei ihnen lediglich die historische und soziale Rolle festlegt, defmieren die kinesischen Zeichen darüber hinaus noch die speziellen Rollen, welche die drarnatis personae in übereinstimmung mit ihrer vom Kostüm bezeichneten Rolle, in Widerspruch zu ihr, über sie hinausgehend, sie entfaltend oder ohne erkennbaren Bezug auf sie in der Interaktion mit den anderen spielen wollen, und qualiftzieren die Beziehungen, die zwischen ihnen bestehen. 3.3.2 "Symbolische Interaktion" (11. Akt) Der zweite Akt baut sich aus drei Szenen auf; in der ersten besprechen der Doktor, Belcredi, Donna Mathilde und di Nolli im zeitgenössischen Kostüm den Therapievorschlag des Doktors, während sie <?page no="144"?> 144 <?page no="145"?> 145 auf Fridas Rückkehr warten. In der zweiten verabschieden sich Donna Mathilde als Adelheid, Mutter der Kaiserin Berta, und der Doktor als Hugo von Cluny von "Heinrich", in der dritten endlich eröffnet "Heinrich" seinen "Geheimen Räten" seinen wahren Zustand. Für die Analyse der kinesischen Zeichen wurde eine kurze Sequenz aus der zweiten Szene gewählt, in der die Beziehung zwischen "Heinrich" und Donna Mathilde entwickelt wird (Anfang: "Liebt Ihr Eure Tochter wirklich? " (322), Ende: "Und Ihr liebt Eure Tochter? " (323». Die von "Heinrich" und Donna Mathilde in dieser Sequenz realisierten kinesischen Zeichen wurden der Qualität der Videoaufzeichnung entsprechend so genau wie möglich protokolliert, die der übrigen dramatis personae dagegen nur summarisch festgehalten. verbale Zeichen H.: Liebt Ihr Eure Tochter wirklich? Sequenzprotokoll kinesische Zeichen "Heinrich" steht auf dem steinernen Pult zwischen Bank und Schreibfläche, die Hände (in Kampfhandschuhen) mit angewinkelten Armen vor der Brust in geringer Entfernung voneinander, jedoch ohne sich gegenseitig zu berühren, haltend. Er hält den Oberkörper leicht über die Schreib fläche vorgebeugt, blickt Donna Mathilde ernst an. Donna Mathilde steht dem Schreibpult in einer gewissen Entfernung gegenüber, neben der Bank ohne Lehne. Sie steht sehr aufrecht, den Blick an "Heinrich" vorbei auf den Doktor gerichtet, die Hände vor der Brust ringend. Der Doktor steht seitlich hinter Donna Mathilde, aber näher am Schreibpult, in der rechten Hand die Pergamentrolle haltend, die "Heinrich" ihm gegeben hit, mit der linken die lange <?page no="146"?> 146 <?page no="147"?> verbale Zeichen M.: Aberja, sicher ... Einsetzen der Musik 147 kinesische Zeichen Schleppe seines Umhangs packend. Er steht aufrecht, den Blick auf "Heinrich" geheftet, ohne Brille. Die "Geheimen Räte" hocken oder knien seitlich zwischen dem Schreibpult und dem Doktor und heben die Papiere auf, die "Heinrich" von der Schreibfläche gewischt hat. Landolf steht noch links vom Schreibpult, die Feder in der Hand haltend, mit Blick auf "Heinrich". "Heinrich" richtet den Oberkörper auf, senkt den Kopf, blickt Donna Mathilde an. Lando/ f wendet seinen KopfDonna Mathilde zu. "Heinrich" schreitet langsam die drei Stufen des Pults hinunter, sich mit der linken Hand am Geländer haltend. Der rechte Arm macht eine heftige abwehrende Bewegung. Er geht zögernd und schleppend auf Donna Mathilde zu, dabei fällt der rechte Arm schlaff herab. Vor ihr angekommen, hält er ganz kurz inne und wendet sich dann nach links ab, macht zwei schnellere Schritte, der rechte Arm erhält wieder Spannung, beide Arme werden jetzt seitlich geführt, der Oberköper ist leicht nach vorn gebeugt. Er verlangsamt wieder seine Schritte, bis er am Wassergraben steht. Hier beugt er sich weiter vor, geht dann durch das Wasser bis zum Gitter. Er neigt den Oberkörper am Gitter vor, blickt hinaus. Dann kniet er nieder, faßt das Gitter mit beiden Händen, beugt den Oberkörper ganz dem Gitter zu und schaut hinaus ins Licht. Alle seine Bewegungen werden im Einklang mit der Musik ausgeführt. Donna Mathilde geht, als "Heinrich" sich von ihr ab dem Wassergraben zuwendet, in seinem Rücken um ihn herum und bleibt am Wassergraben stehen, als "Heinrich" bereits im Wasser ist. Sie wendet sich ihm frontal zu, blickt ihn mit konsterniertem Gesichtsausdruck an und wendet sich dann brüsk wieder ab zum <?page no="148"?> 148 <?page no="149"?> 149 musikalische Zeichen kinesische Zeichen Musik hört auf verbale Zeichen H.: Und wollt Ihr, daß ich mit meiner ganzen Liebe, meiner ganzen Hingabe, das schwere Leid, das ich ihr angetan habe, wieder gutmache? Auch wenn Ihr nicht an die Ausschweifungen glaubt, deren mich meine Feinde beschuldigen? M.: Nein, nein! Ich glaube das nicht! Ich habe nie daran geglaubt. Doktor hin. Der Doktor geht an den "Geheimen Räten" vorbei nach vorn und stellt sich neben Donna Mathilde. Er trägt jetzt seine Brille, die er aufgesetzt hat, als "Heinrich" zum Wassergraben gegangen ist. Beide blicken auf "Heinrich" und beobachten ihn. Lando/ f, der sich zu den anderen "Geheimen Räten", die weiterhin mit den Papieren beschäftigt sind, gesellt hat, nachdem "Heinrich" vom Schreibpult heruntergestiegen ist, tritt hinter Donna Mathilde und blickt ebenfalls auf "Heinrich". Alle Personen außer Heinrich bewegen sich asynchron zur Musik. "Heinrich" spricht die Sätze am Gitter kniend nach draußen. Er bewegt dabei den Oberkörper vor und zurück. Donna Mathilde blickt auf ihn. "Heinrich" wendet sich zu Donna Mathilde herum, energisch sein Hemd mit der rechten Hand raffend. Die übrigen "Geheimen Räte" stehen auf. In der Folge wenden sie sich abwechselnd einander und dem Paar "Heinrich"-Donna Mathilde zu. Der Doktor bleibt den Rest der Sequenz über neben Donna Mathllde stehen, jede Bewegung "Heinrichs" mit den Blicken, z.T. mit vorgebeugtem Oberkörper, verfolgend. Er fUhrt dabei nachdenklich die Hand ans Kinn. Donna Mathilde wendet sich "Heinrich" zu, neigt leicht den Oberkörper und den Kopf vor, hält die Arme leicht angewinkelt seitlich am Körper. <?page no="150"?> 150 <?page no="151"?> verbale Zeichen H.: Also dann ... wollt Ihr? M.: Was denn? H.: Daß ich mich Eurer Tochter wieder in Liebe zuwende? H.: Bitte, bitte, seid ja keine Freundin der Markgräfin von Toscana. M.: Trotzdem wiederhole ich, daß sie nicht weniger als wir um Gnade für Euch gefleht hat. 151 kinesische Zeichen "Heinrich" kniet vor Donna Mathilde (er im Wassergraben, aber direkt am Rand, sie außerhalb am Rand stehend), die Hände gegen sie erhoben. Donna Mathilde legt die Hand an ihren Kragen. "Heinrich" zieht seinen rechten Handschuh aus und legt ihn neben den Wassergraben auf den Boden. "Heinrich" faßt mit beiden Händen Donna Mathlldes linke Hand und blickt auf ihre/ seine Hände. Er beugt leicht den Oberkörper zurück und zieht ihr mit seiner bloßen rechten Hand den Handschuh ab. Donna Mathilde beugt sich ganz leicht vor. "Heinrich" nimmt den Handschuh in beide Hände und küßt ihn. Donna Mathilde beugt sich mit dem Oberkörper wieder zurück, hebt die bloße Hand in die Höhe der anderen, die sie vom Mantel löst. "Heinrich" steckt den Handschuh in sein Hemd, beugt sich weit vor, faßt mit seiner Rechten Donna Mathildes linke Hand und lehnt sein Gesicht auf sie. Donna Mathilde faßt mit der rechten Hand wieder ihren Mantel in Kragenhöhe, beugt ihren Kopf ganz leicht über Heinrichs Kopf. "Heinrich" hebt den Kopf und blickt Donna Mathilde direkt ins Gesicht, ihre linke Hand weiter in beiden Händen haltend. Donna Mathilde blickt "Heinrich" eindringlich an (beschwörender Tonfall). "Heinrich" läßt abrupt ihre Hand los, beugt den Oberkörper zurück, rafft mit beiden Händen jeweils seitlich sein Hemd und rutscht jäh vom Rand des Wassergrabens in den Wassergraben zurück. <?page no="152"?> 152 <?page no="153"?> verbale Zeichen H.: Sagt mir das nicht! Sagt mir das nicht! Aber mein Gott, gnädige Frau, seht Ihr denn nicht, wie das auf mich wirkt? M.: Ihr liebt sie immer noch? H.: Immer noch? Wie könnt Ihr sagen: immer noch? Wißt Ihr das etwa? Niemand weiß es. Niemand darf es wissen. M.: Aber vielleicht sie ... sie weiß es, weil sie so für Euch gefleht hat. H.: Und Ihr liebt Eure Tochter? 153 kinesische Zeichen Donna Mathilde bleibt unverändert stehen, die linke Hand so geführt, wie "Heinrich" sie losgelassen hat. "Heinrich" blickt Donna Mathilde nicht an, sondern hat seine Augen starr geradeaus gerichtet. Donna Mathilde blickt mit einem zweifelnden, unsicheren Gesichtsausdruck direkt auf ihn herunter. "Heinrich" wendet sich brüsk nach rechts vorn von Donna Mathilde ab, das Hemd mit beiden Händen raffend, vor sich ins Leere starrend. Donna Mathilde faßt mit der linken (bloßen) Hand an die Verschlußkante ihres Mantels in Brusthöhe. Donna Mathilde beugt sich wieder leicht vor, löst die Hand vom Mantel. "Heinrich" blickt kurz zu Donna Mathilde hin, ohne ihr ins Gesicht zu sehen. Er wendet den Kopf wieder weg von ihr, starrt vor sich hin. Donna Mathilde beugt sich mit Kopf und Oberkörper weit vor, ohne sich jedoch von der Stelle zu bewegen. Bei "sie" schlägt sie mit der flachen, ausgestreckten linken Hand nachdrücklich in die Luft. "Heinrich" wendet seinen Kopf zu ihr hin, blickt auf die Hand. Donna Mathilde beugt sich noch weiter vor, richtet die linke Hand auf, führt sie in Richtung ihres Gesichts und bewegt sie bei "so" mit Nachdruck auf und nieder. "Heinrich" sieht ihr dabei mitten ins Gesicht. "Heinrich" blickt Donna Mathilde beim Sprechen an, dann wendet er den Kopf von ihr ab nach rechts vorn, wirft ihn zurück, ebenso die <?page no="154"?> 154 <?page no="155"?> 155 <?page no="156"?> 156 <?page no="157"?> verbale Zeichen 157 kinesische Zeichen Schultern, wobei er die Hände vom Hemd löst, und bricht in schallendes Gelächter aus. Donna Mathilde richtet sich abrupt auf, steht sehr aufrecht da, die linke Hand wieder an der Verschlußkante ihres Mantels, und blickt erstaunt und indigniert auf den lachenden "Heinrich" . In der hier protokollierten Sequenz lassen sich die kinesischen Zeichen sowohl auf die sie realisierenden Subjekte als auch auf die Interaktion zwischen den Subjekten hier vor allem zwischen "Heinrich" und Donna Mathilde als auch auf die Objektebene einerseits der musikalischen, andererseits der verbalen Zeichen beziehen. Wir werden zunächst ihre Relation zu den musikalischen Zeichen untersuchen. Zwischen der Musik und "Heinrichs" Bewegungen besteht hinsichtlich des Rhythmus als auch der Grundstimmung eine deutliche Äquivalenz. "Heinrich" fUhrt alle Gesten und Gänge im Einklang mit der Musik aus; seine Bewegungen sind langsam und gemessen, sein Gesichtsausdruck leer, später, wenn er am Gitter kniet und ins Licht hinausblickt, sehnsüchtig. Die Musik wurde von allen Befragten als "elegisch" bezeichnet. 195 Diese zweifache Äquivalenz wird andererseits durch die Opposition unterstrichen, in welche die von den anderen dramatis personae realisierten kinesischen Zeichen zu den musikalischen treten: sie sind asynchron zur Musik und lassen sich in keiner Weise zur elegischen Grundstimmung der Musik in Beziehung setzen. Denn sie sind teils abrupt (bei Donna Mathilde), teils zerfahren (beim Doktor) und zum Teil schnell und emsig (bei den die Papiere zusammensammelnden "Geheimen Räten"). Wenn die Musik dergestalt einerseits "Heinrichs" Bewegungen hinsichtlich der genannten Merkmale äquivalent, denen der anderen dramatis personae dagegen oppositiv ist, läßt sich folgern, daß die Musik in besonderer Weise auf "Heinrich" bezogen sein soll daß sie sich gegebenenfalls als Ausdruck flir "Heinrichs" Innerlichkeit wird interpretieren lassen. Dazu muß allerdings vorher 1. die Art der musikalischen Zeichen, 2. ihre Ausdehnung und 3. ihre Position berücksichtigt werden. Bei der Musik, die an dieser Stelle eingespielt wird, handelt es sich um eine Passage aus Verdis "Requiem". Sie befmdet sich im ersten Teil, "Requiem und Kyrie", und beginnt nach den ersten fünf Takten. Es ist der Abschnitt: "Requiem, requiem, requiem aeternam <?page no="158"?> 158 dona, dona eis, Domine"196 Mit Einsatz der Musik (ein Takt vor "Requiem ... ") fangt "Heinrich" an, die drei Stufen hinunterzusteigen, beim ersten "requiem" fällt sein Arm herab, in der Pause nach dem ersten "requiem" bleibt er kurz vor Donna Mathilde stehen. Nach der Pause wendet er sich von ihr ab, macht im Verlauf des zweiten "requiem" die schnelleren Schritte. Hier erhält auch der Arm wieder Spannung. In der Pause nach dem "requiem aeternam" bleibt er am Wassergraben stehen und beugt sich vor. Beim ersten "dona" geht er durch den Wassergraben zum Gitter, hält in der folgenden Pause inne und blickt hinaus. Beim zweiten "dona" kniet er nieder, umfaßt das Gitter, schaut während der nachfolgenden drei Takte (eis, Domine) hinaus. Die Musik wird hier allerdings rein instrumental eingesetzt, die Vokalstimmen - und damit der Text fehlen. Die musikalische Sequenz wird von zwei verbalen Sequenzen eingerahmt, die deutlich aufeinander bezogen sind. Vor Einsatz der Musik richtet "Heinrich" an Donna Mathilde als Adelheid die Frage: "Liebt Ihr Eure Tochter wirklich? ", die sie mit "Aber ja, sicher ... " beantwortet, nach dem Verklingen der Musik spricht "Heinrich" die Sätze: "Und wollt Ihr, daß ich mit meiner ganzen Liebe, meiner ganzen Hingabe, das schwere Leid, das ich ihr angetan habe, wieder gutmache? " "Heinrich" beginnt diese Szene in der Rolle des Kaisers als Herrscher, auch wenn er das Büßerhemd trägt: er geht in aufrechter Haltung mit festen, jedoch nicht zu großen Schritten (er trägt Schuhe), auf dem Kopf die Krone und die Hände mit Kampfhandschuhen bekleidet. In dieser Rolle nimmt er den Dialog mit Donna Mathilde auf. Seine Frage benennt also die Beziehung, welche Adelheid zu ihrer Tochter Berta hat. Seine Sätze nach der Musik dagegen thematisieren das Verhältnis zwischen Heinrich und seiner Frau Berta. Nun signalisieren der Gang "Heinrichs" auf Donna Mathilde zu, das schlaffe Niederfallen seines Armes, die Abwendung von ihr, daß es in dieser Sequenz um die Beziehung zwischen "Heinrich" und Donna Mathilde geht. Die verbale Ebene entspricht den historischen Rollen, die kinesischen dagegen dem Verhältnis, in dem beide einmal zueinander standen bzw. welches heute beide zueinander einnehmen könnten. Die kinesischen Zeichen übernehmen damit eine wichtige parasemantische Funktion. Sie kodieren die Sätze um: "Berta" erscheint jetzt als eine Art Platzhalter, die Verschlüsselung nämlich, die jeweils entweder für "Mathilde" oder für "Heinrich" eingesetzt wird. "Liebt Ihr Eure Tochter wirklich? " heißt dann "Liebt Ihr mich wirklich? ", und "Wollt Ihr ... daß ich das schwere Leid, das ich ihr angetan habe ... " entsprechend "Wollt Ihr ... daß ich das schwere Leid, <?page no="159"?> 159 das ich Euch angetan habe . . .". Indem die Musik zwischen diese beiden Sequenzen geschaltet wird, erhält sie daher auch einen Bezug auf dieses Verhältnis. Da sie andererseits jedoch sich ausdrücklich nur auf "Heinrich" bezieht, kann sie auch nur im Hinblick auf sein Verhältnis zu Donna Mathilde, seine Gefühle für sie interpretiert werden. Die Musik erscheint dergestalt als Ausdruck der Sehnsucht Heinrichs nach einem anderen vielleicht dem früheren - Leben, in dem er tatsächlich etwas für Donna Mathilde empfand. Diese Interpretation wird durch die spezifische Verwendung des Lichts unterstützt. Licht fällt oben durch die kleinen Schlitze in den hohen Mauem oder, wenn die große Tür des Thronsaals (wie im I. Akt) sich öffnet, durch diese Tür. In den Räumen bleibt es im Vergleich zu diesem hellen Licht immer dunkel, zumindest dämmrig. Das Licht erscheint so als Zeichen einer anderen und im Einklang mit der Lichtsymbolik unserer Kultur besseren Welt, eines anderen, besseren Lebens jenseits dieser Mauem, welche "Heinrich" umschließen. Wenn "Heinrich" sowohl bei den letzten Takten der Musik als auch bei seinem ersten Satz nach ihrem Verstummen durch das Gitterfenster ins helle Licht schaut, so läßt sich dies durchaus als Sehnsucht nach jenem besseren Leben interpretieren, in dem seine Geftihle Erwiderung gefunden hätten und sich hätten verwirklichen können. Diese Sehnsucht ist aber nicht auf die reale, die heutige Donna Mathilde gerichtet, von der er sich gerade abgewandt hat, sondern auf seine Vorstellung, sein Bild von ihr. Berücksichtigt man darüber hinaus, daß die Musik einem Requiem entstammt, so lassen sich die hohen Mauem, die dunklen Räume als Grabkammer deuten, in die das Licht des Lebens des wirklichen oder des ewigen einfällt. "Heinrich" empfmdet sich folglich wie ein Toter, ein vom Leben Ausgeschlossener, der in der knienden Haltung des Bittenden bzw. Betenden auf "ewige Ruhe", auf Erlösung hofft. Diese Erlösung erwartet er jedoch nicht von der jetzigen Mathilde. Wenn "Heinrich" sich mit den nächsten Sätzen, welche seine, des historischen Heinrichs Ausschweifungen betreffen, Donna Mathilde wieder zuwendet, ist ganz folgerichtig diese seine Regung bereits verflogen: er trägt einen munteren, fast verschmitzten Gesichtsausdruck zur Schau. Indem er in der knienden Haltung verharrt, zitiert er gleichsam den vorherigen Zustand, setzt ihn allerdings eben als Zitat sozusagen in Anführungszeichen. Entsprechend kann auch die körperliche Zuwendung hier nicht als Ausdruck einer inneren Zuwendung gedeutet werden. "Heinrich" spielt vielmehr aus der Sicherheit der historischen Rolle heraus sozusagen probeweise, als Experiment, die Rolle des Liebhabers, auf die jetzt die knien- <?page no="160"?> 160 de Haltung des Bittenden in Opposition zur vorhergehenden Sequenz lediglich als nicht ernst gemeinte Anspielung bezogen werden kann. Diese Verdoppelung bzw. gleichzeitige Aktualisierung verschiedener Rollen ist für "Heinrich" im ganzen weiteren Verlauf dieser Sequenz charakteristisch. Während seine Worte in übereinstimmung mit dem Kostüm stets auf seine historische Rolle als Kaiser bezogen sind, zitieren die kinesischen Zeichen die Rolle des Liebhabers. Da diese Rolle sowohl den historischen Liebhaber Heinrich als auch den gegenwärtigen Liebhaber "Heinrich" meinen kann, bietet sich so die Chance, sowohl beide Rollen miteinander zu harmonisieren als auch sie in Widerspruch zueinander treten zu lassen. Während "Heinrich" im weiteren Verlauf die zweite Möglichkeit realisiert, setzt Donna Mathilde die Gegebenheit der ersten voraus. Donna Mathilde hat "Heinrich", als er seine wahren Gefühle in der Folge der musikalischen Sequenz ahnen läßt, wie einen Wahnsinnigen, zumindest Unbegreiflichen beobachtet und sich den Doktor mit Blicken zu Hilfe gerufen. Jetzt dagegen, als Heinrich die Rolle des Liebhabers übernimmt, wendet sie sich ihm zu, wenn auch ihre Haltung eine gewisse Reserve oder Unsicherheit verrät: in Anspielung auf ihre vor allen gegen Belcredi gerichtete Geste, mit der sie sich in der 2. Szene des ersten Aktes in den Mantel einwickelte, hält sie während dieser Sequenz immer wieder die Hand am Kragen ihres Mantels, sein (bzw. ihr) Verschlossensein damit unterstreichend. Donna Mathllde und "Heinrich" befmden sich nun einander gegenüber, er kniend am Wassergraben, wenn auch direkt am Rand, sie aufrecht auf dem Boden, wenn auch unmittelbar neben dem Wassergraben. Der Wassergraben wird dergestalt zur "Wasserscheide" ihrer Beziehungen, er markiert unübersehbar die Grenze, die Heinrich und den Bereich des Wassers das sich unter Rekurs auf die in unserer Kultur geltende Symbolik mit einer Reihe externer Urnkodierungen weiter ausdeuten ließe (so ist es z.B. häufig als Bereich des Mysteriösen angesprochen, dem die geheimen Sehnsüchte gelten, als Gegenwelt zur Realität des normalen menschlichen Lebens; es wird zum Mond in Beziehung gesetzt und im Einklang damit zum Wahnsinn etc.) von Donna Mathilde und dem Bereich des festen Bodens unter den Füßen trennt. Diese Bedeutungsmöglichkeiten des Wassergrabens werden ausschließlich von "Heinrichs" Spiel aktualisiert. Die anderen dramatis personae haben ihn vor "Heinrichs" Auftreten als einen ganz realen Wassergraben behandelt, den man benutzen kann, um seine Zigarettenkippen hineinzuwerfen. Wenn "Heinrichs" Bewegungen beim nächsten Satz: "Daß ich mich Eurer Tochter wieder in Liebe zuwende? " eindeutig auf die Rolle des Liebhabers anspielen (er zieht den Handschuh aus etc. <?page no="161"?> 161 etc.), so nimmt er dadurch wiederum eine Umkodierung des Satzes vor, der entsprechend als: "Daß ich mich Euch in Liebe wieder zuwende? " verstanden werden muß. Indem Heinrich jedoch lediglich den Handschuh küßt und nicht die bloße Hand, signalisiert er, wie aufgrund der späteren Umkodierung von "Hand" und "Handschuh" angenommen werden kann, daß er mit seinen Liebesbezeugungen nur ihr Kostüm, sein ihm vertrautes Bild von ihr meint, nicht aber sie selbst, die eine Fremde für ihn ist. In diesem Sinne ist auch die nachfolgende Opposition zwischen den verbalen und den kinesischen Zeichen zu verstehen. Während "Heinrich" mit seinen Worten: "Bitte, bitte, seid ja keine Freundin der Markgräfm von Toscana" Donna Mathilde dringend davor warnt, wieder in ihre frühere Rolle, in der er sie geliebt hat, zu schlüpfen auch wenn diese Bitte innerhalb der historischen Situation als an Adelheid gerichtet wortwörtlich verstanden werden kann -, hebt er den Kopf zu ihr auf und blickt ihr zum ersten Mal nach Verstummen der Musik direkt ins Gesicht, ihre bloße Hand in beiden Händen haltend. Auf diese Weise bittet er die jetzige reale Mathilde, ihm nicht das Bild, das er von ihr hat, anzutasten und zu zerstören. Donna Mathilde dagegen mißversteht beide Signale. Mit eindringlichem Blick und beschwörendem Tonfall versucht sie nun gerade, "Heinrich" von den positiven Gefühlen der Markgräfm ihm gegenüber und damit von ihren eigenen Gefühlen für ihn zu überzeugen. Sie benutzt die historische Rolle, um die Möglichkeit für eine potentielle Rolle als gegenwärtige Liebende abzutasten. "Heinrichs" Reaktion zeigt, daß er ihre Absicht durchschaut hat: er rückt demonstrativ von der realen Mathilde ab in den Wassergraben, dergestalt den Abstand zwischen beiden beträchtlich erhöhend. Donna Mathilde mißversteht wiederum sowohl die verbale als auch die gestische Reaktion. Ohne bereits mögliche Gefühle offenzulegen sie bleibt aufrecht am Rande des Wassergrabens stehen, hält weiterhin die zwischendurch für kurze Zeit gelöste rechte Hand am Kragen und legt die linke an die Verschlußkante ihres Mantels-, versucht sie auf der verbalen Ebene, "Heinrich" zu einem Eingeständnis seiner Liebe zu ihr zu bewegen, die historische Rolle und die gegenwärtige umstandslos einander gleichsetzend. Daher deutet sie auch jetzt wieder seine Reaktion falsch. Indem "Heinrich" bei den Worten "Niemand weiß es. Niemand darf es wissen" den Kopf von Donna Mathilde abwendet und vor sich ins Leere starrt, gibt er zu verstehen, daß seine früheren Gefühle für Mathilde mit der gegenwärtigen Situation, mit der jetzigen Mathilde nicht das geringste zu tun haben, daß Donna Mathilde sie folglich aus dem Spiel lassen soll. Sie dagegen meint, von der historischen Ebene direkt auf die gegen- <?page no="162"?> 162 wärtige schließen zu können, und wendet sich ihm nun, nach dem vermeintlichen Geständnis, geradezu inbrünstig zu. Sie beugt nicht nur den Kopf, sondern auch den Oberkörper zu "Heinrich" hinunter, die linke bloße Hand offen ausgestreckt ihm entgegenhaltend, die rechte vom Mantel gelöst. Sie bleibt jedoch am Rande des Wassergrabens stehen: "Heinrichs" Bereich zu betreten, ist sie nicht willens. Diese Opposition innerhalb der kinesischen Zeichen, die teils Zuwendung, teils Beharren im eigenen Bezirk meinen, decouvriert Donna Mathildes Geflihle für "Heinrich" als sehr bedingte und daher auch nicht wirklich ernst zu nehmende GefUhle. Bei "sie" schlägt Donna Mathilde mit der flachen Hand durch die Luft, dergestalt das Wort betonend und ihm Nachdruck verleihend. Die Geste übernimmt also hier in bezug auf die Worte eine parasyntaktische Funktion: sie gliedert den Satz, auf sein wichtigstes Element hinweisend. Durch die besondere Bedeutung der bloßen Hand erhält sie jedoch zusätzlich eine parasemantische Funktion: "sie" (die Markgräfin von Toscana, die Donna Mathilde einst dargestellt hat) wird dergestalt mit der bloßen Hand der heutigen realen Mathilde gleichgesetzt. In diesem Sinne ist auch "Heinrichs" Blick auf die ausgestreckte bloße Hand zu deuten: er versteht, daß sie die historische Ebene mit der gegenwärtigen in eins setzt, die historische Mathilde - und damit zugleich auch die Mathilde, die "Heinrich" früher geliebt hat mit sich selbst, der heutigen Mathilde identifiziert, daß diese reale Mathilde sich ihm anbietet, ohne allerdings bereit zu sein, sich tatsächlich auf sein Leben (den Wassergraben! ) einzulassen. Er erteilt ihr daher auf beiden Ebenen eine Abfuhr: auf der historischen Ebene weist er Adelheid, die Mutter Bertas, mit Worten auf ihr widersprüchliches Verhalten hin, wenn sie ihm anstelle Bertas Mathilde, die Markgräfin von Toscana, nahezubringen versucht. Er bezieht sich also hier ohne Mehrdeutigkeiten ausschließlich auf die historische Ebene. Auf der gegenwärtigen Ebene dagegen setzt er kinesische und paralinguistische Zeichen ein: er wendet sich vollständig von Donna Mathilde ab und bricht in schallendes Gelächter aus. Dadurch allerdings erfährt der Satz wieder eine Umkodierung; er ist zu verstehen als rhetorisch-höhnische Frage "Und Ihr liebt mich? " (wollt allen Ernstes behaupten, daß Ihr mich liebt? ). Donna Mathilde zieht sich auf diese Reaktion hin wieder in sich selbst zurück: sie richtet sich sehr gerade auf und faßt mit der bloßen Hand an die Verschlußkante ihres Mantels. "Heinrich" hat mit seinem gestischen Verhalten in der historischen Rolle die aktuelle Rolle des Liebhabers gespielt und beendet. Er hat auf diese Weise jeglicher Art von Liebesbeziehung zur heutigen, realen Mathilde ein Ende gesetzt, ohne daß diese Beziehung <?page no="163"?> 163 auf der verbalen Ebene jemals direkt thematisiert worden wäre. Während die verbalen Zeichen historische Beziehungen benennen, werden die kinesischen Zeichen eingesetzt, um eine aktuelle Beziehung zum Ausdruck zu bringen und zu realisieren. Wohl bewirken sie dadurch eine Umkodierung der verbalen Zeichen, jedoch nicht in dem Sinne, daß deren neue Bedeutung nun an die Stelle der alten treten würde. Die Sätze werden vielmehr doppeldeutig, sind gleichzeitig sowohl auf die historische als auch auf die gegenwärtige Ebene zu beziehen. Andererseits aber modiftzieren auch die auf der historischen Ebene situierten Sätze die Bedeutungen der auf der aktuellen Ebene situierten kinesischen Zeichen: sie weisen sie als Ausdruck der Beziehung zwischen "Heinrich" und Berta sowie zwischen "Heinrich" und Mathilde aus. Auf diese Weise erhalten auch die kinesischen Zeichen jene Doppeldeutigkeit: sie sind ihrerseits nicht "wörtlich" zu verstehen, sondern gleichzeitig sowohl auf die aktuelle Situation als auch auf die historischen Rollen zu beziehen. Worte und Gesten kodieren sich dergestalt hier gegenseitig um. Die Beziehungen, auf die sie verweisen, erhalten dadurch einen symbolischen Wert: sie sind nicht als tatsächliche Beziehungen, die durch sie ausgedrückt würden, sondern ausschließlich als symbolische Beziehungen zu verstehen, die folglich, wie im Falle der aktuellen Beziehung zwischen "Heinrich" und Donna Mathilde, auch nicht als real gegeben, sondern nur als symbolisch durchgespielte von den kinesischen Zeichen bedeutet werden. Der symbolischen Beendigung einer möglichen Liebesbeziehung zwischen "Heinrich" und der heutigen Mathilde korrespondiert am Ende der Szene die bereits im letzten Kapitel angeflihrte und besprochene symbolische Beendigung der Liebesbeziehung, die "Heinrich" zur früheren Mathilde, zu seinem Bild von ihr eingegangen war. Weil Mathilde jetzt das Bild zerstört hat, sieht "Heinrich" sich genötigt, nun auch diese Beziehung zu beenden. Indem er den Handschuh, das Symbol für das Kostüm, die äußere Erscheinung, das Gespenst als "Bild unseres Geistes", mit dem Dolch durchbohrt, befreit er sich von diesem Bild wie auch immer man seine gestische Handlung aufgrund externer Umkodierungen sonst noch deuten mag - und "erlöst" sich damit von jener für ihn so qualvollen Beziehung. Diese Korrespondenz gewinnt zusätzliche Evidenz durch das auch in dieser Sequenz als Grundgestus verwendete Knien "Heinrichs", welches auf das Knien einerseits vor der jetzigen Mathilde, andererseits vor dem Gitter anspielt. Der in der Musik und dem Hinausschauen ins Licht zum Ausdruck gekommenen Sehnsucht nach einem anderen Leben, nach "Ruhe", nach "Erlösung" ent- <?page no="164"?> 164 spricht dergestalt die am Ende der Szene vollzogene symbolische Befreiung. Beide Klasseme, sowohl die Verbindung der Musik mit dem Licht als auch der Dolchstoß durch den Handschuh,lassen sich nicht unmittelbar auf Elemente bzw. Klasseme des literarischen Textes beziehen. In der Aufführung erfüllen sie jedoch eine ganz wesentliche Funktion, weil sie auf zwei exponierte Klasseme im III. Akt vorausweisen: dem Dolchstoß durch den Handschuh korrespondiert der Degenstich, den "Heinrich" Belcredi versetzt, dem simultanen Einsatz von Licht und Musik detjenige am Ende des Dramas, der zugleich mit dem Hochziehen der Wände verbunden ist. Die durch die symbolische Befreiung erfüllte Sehnsucht nach Erlösung weist auf die durch die reale Befreiung bewirkte Erlösung in einer symmetrischen Umkehrung voraus: während im 11. Akt die Sehnsucht nach Erlösung der symbolischen Befreiung vorausgeht, erscheint im III. Akt die Erlösung als Folge der realen Befreiung. Im 11. Akt verbleiben alle gestischen Handlungen im Bereich des Symbolischen. Die spezifische Beziehung zwischen verbalen und kinesischen Zeichen, welche den kinesischen Zeichen in bezug auf die verbalen und den verbalen in bezug auf die kinesischen eine parasemantische Funktion zuweist, aufgrund derer ihre Bedeutungen jeweils wesentlich modiflZiert werden, bewirkt so, daß jegliche Eindeutigkeit vermieden wird, die Beziehungen zwischen den dramatis personae nicht festgelegt oder gar faktisch determiniert werden kÖIUlen. Die kinesischen Zeichen verweisen daher auch niemals allein auf eine einzige Rolle, sondern aktualisieren jetzt nicht nur bei "Heinrich", sondern auch bei Donna Mathilde gleichzeitig mindestens zwei verschiedene. Beiden gelingt es, in der historischen Rolle ihr gegenwärtiges Verhältnis abzuklären, wenn auch unter verschiedenen Prämissen. Die grundlegende Opposition historisch-zeitgenössisch erscheint daher in dieser Sequenz vorübergehend aufgehoben. Während im I. Akt die kinesischen Zeichen stets in Äquivalenz oder Opposition auf die Zeichen der äußeren Erscheinung bezogen sind, dergestalt der vom Kostüm bedeuteten Rolle die von ihnen aktualisierte Rolle konfrontierend, vermögen sie, ihre spezifische Funktion in dieser Szene, den dramatis personae ein lediglich symbolisches Ausagieren und Beenden ihres Verhältnisses zu ermöglichen, nur auf grund der besonderen Beziehungen zu erfiillen, die sie zu den verbalen Zeichen eingehen. <?page no="165"?> 165 3.3.3 Festlegung der Beziehungen (Ill. Akt) Im III. Akt sind mit Ausnahme der kurzen Anfangssequenz, in der Frida, die junge "Markgräfin von Toscana", "Heinrich" gegenübertritt alle Personen gleichzeitig auf der Bühne, außer Belcredi und dem Doktor alle im historischen Kostüm. Die Beleuchtung bedeutet von da an: elektrisches Licht. Sowohl die Zeichen des Raumes als auch die Kostüme realisieren auf diese Weise die Opposition historisch-zeitgenössisch. Heinrich wendet sich im Dialog überwiegend an Belcredi und an den Doktor. Für die Analyse wurde daher eine kurze Sequenz ausgewählt, in deren Verlauf er zunächst seine Worte an den Doktor richtet, dann aber wieder wie in der vorhergehenden Sequenz - Belcredi anspricht. Sie beginnt mit dem Satz: "Sie sind Arzt? " und endet mit Belcredis Worten: "Unglaublich, ich fmde es unglaublich, daß du das ... es ist unglaublich, daß du das hast machen können, nachdem du wußtest, daß du frei warst von diesem Unglück." (S. 337) Soweit die Qualität des Videobandes es zuließ die ein Festhalten der mimischen Zeichen hier größtenteils unmöglich machte -, wurden die Bewegungen aller auf der Bühne Anwesenden protokolliert, besonders genau allerdings diejenigen "Heinrichs", Belcredis und des Doktors. Die Personen nehmen zu Beginn der Sequenz folgende Position im Raum ein: Nischen Rückwand xGR x Giovanni G; J xGR xGR ... x ~ xGR Frida : : I x Doktor "" ....l x di Nolli Leuchter x x Belcredi Mathilde Heinrich Rampe <?page no="166"?> 166 Im nachfolgenden Sequenzprotokoll beziehen sich die Angaben in Klammem nach dem Text in der Spalte "verbale Zeichen" auf die paralinguistischen Zeichen. verbale Zeichen H.: Sie sind Arzt? (ironisch und vorwurfsvoll) Sequenzprotokoll 197 kinesische Zeichen "Heinrich" steht aufrecht auf dem roten Läufer, hebt den rechten Arm gerade ausgestreckt mit ausgestrecktem Zeigefmger gegen den Doktor, läßt bei "Arzt" erst den Zeigefinger, dann die Hand sinken. Während des Satzes geht er auf dem Läufer mit großen energischen Schritten auf den Doktor zu. Der Doktor steht aufrecht, die Brille in beiden Händen vor sich in Gürtelhöhe haltend. Belcredi steht ebenfalls aufrecht, in der rechten Hand den Stock, die linke leicht angewinkelt, wendet sich beim Satz langsam frontal dem Doktor zu und steckt die linke Hand in die Hosentasche. <?page no="167"?> verbale Zeichen Doktor: Ja ... (tonlos) H.: Ja, und Sie haben dabei mitgeholfen, sie so als Markgräfm von Toscana herzurichten? "Ja" ist betont, "Markgräfin" wird ironisiert und ge- 167 kinesische Zeichen di Nolli wendet sich mit "Heinrichs" Bewegung zu "Heinrich" herum und sieht ihn an. Donna Mathilde steht aufrecht, den Kopf gesenkt, die beiden weit geöffneten Hände an den Fingerspitzen aneinanderlegend und in Brusthöhe vor sich haltend. Frida steht aufrecht, den rechten Arm um die Taille geschlungen, den linken mit dem Ellenbogen darauf stützend. Die Finger der linken Hand liegen auf der Zierkante ihres Umhangs, unmittelbar am Krageneinsatz. Die Geheimen Räte stehen, die Hände in die Hüften gestemmt, bzw. eine Hand in die Hüfte gestemmt, die andere ans Kinn gelegt oder (Bertold) die Fingerknöchel beider in Brusthöhe gehaltenen Hände aneinander reibend. Sie blicken abwechselnd zu "Heinrich" und zum Doktor. Giovanni läßt die Arme seitlich herunterhängen. Später legt er sie auf den Rücken. Doktor: bei "Ja" führt er die rechte Hand kurz an die Schläfe, die linke hält weiterhin die Brille. Er geht einen großen Schritt auf "Heinrich" zu. "Heinrich" unterbricht kurz seinen Gang und reibt die Hände am Kleid unter dem Mantel. Dann geht er vom Läufer einen Schritt auf den Doktor zu. Die anderen wenden sich "Heinrich" zu. "Heinrich" steht nun dem Doktor gegenüber. Er läßt bei "mitgeholfen" mit der rechten Hand das Gewand los und weist mit dem Zeigefmger der rechten Hand erst auf den Doktor (bei "Sie "), dann auf Frida ("so "). Der Doktor hält wieder die Brille in beiden Händen. Bei "sie so" blickt er abwechselnd zu Frida und zu di Nolli. <?page no="168"?> 168 verbale Zeichen spielt hochnäsig gesprochen. Die Worte kommen staccatoartig heraus, überschlagen sich fast). Wissen Sie, was Sie damit riskiert haben, Herr Doktor? Daß ich wieder verrückt werde. (in heftiger Erregung gesprochen; die Stimme vibriert) Mein Gott nochmal! Bilder lebendig werden lassen, kinesische Zeichen Donna Mathilde geht mit hastigen Schritten auf Belcredi zu, beide Arme seitlich in die Hüften gestemmt. Bei "sie so" wendet sie sich kurz Belcredi zu und blickt dann unruhig zwischen "Heinrich" und Belcredi hin und her. Sie steht nun neben Belcredi, mit dem Rücken zum Publikum. Belcredi steht bei "mitgeholfen" Mathilde gegenüber und schaut sie kurz an. Er blickt dann flüchtig zu "Heinrich" hin, schaut anschließend vor sich hin. Er nimmt gleichzeitig den Stock in die linke Hand, holt ein Zigarettenetui heraus, nimmt sich eine Zigarette und steckt die Hand in die Hosentasche. Bei "Markgräfin von Toscana" macht er einen Schritt nach links und steht bei "herzurichten" nun mit leicht gespreizten Beinen neben Donna Mathilde, den Rücken zum Publikum, die rechte Hand wieder aus der Tasche ziehend. Er zündet die Zigarette an und steckt sie in den Mund. Die Geheimen Räte schauen abwechselnd "Heinrich" und Belcredi an und gehen dabei einen Schritt nach vorne. Landolf kommt von hinten und bleibt auf gleicher Höhe mit den anderen stehen. "Heinrich" steht neben dem roten Läufer dem Doktor gegenüber, beide im ProfIl zum Publikum. Er läßt seine rechte Hand langsam sinken, bei "Herr Doktor" schnell bis ganz unten, und hält den Kopf dem hinteren Bühnenraum zugewandt. Nach "Herr Doktor" wendet er Kopf und Oberkörper herum und blickt nun dem Doktor direkt ins Gesicht. Der Doktor sieht "Heinrich" an. di Nolli wendet sich bei "riskiert" nach rechts und geht bei "verrückt werde" zwei Schritte in Donna Mathildes Richtung. "Heinrich" hält weiterhin die linke Hand an der Innenseite des Mantels. Bei "Mein Gott nochmal! " wendet er sich kurz nach links, geht sehr <?page no="169"?> verbale Zeichen aus dem Rahmen springen lassen. (in äußerster Empörung herausgeschrien; Klimax; aggressives Lachen bei "springen lassen") 169 kinesische Zeichen bestimmt um den rechts stehenden "Geheimen Rat" herum, wieder nach vorne an den anderen "Geheimen Räten" vorbei, bei "Bilder" direkt auf Frida zu. Bei "Rahmen" wird sein Gang schleppend, er beugt die Schultern nach vorne, hebt, die Luft zersägend, die rechte Hand. Bei "springen lassen" faßt er langsam mit ihr nach der Innenseite seines Mantels. Er steht jetzt neben Frida, beide Körper in einem rechten Winkel zueinander. Die Arme hält er seitlich angewinkelt, die Hände am Mantel. Der Doktor schaut Heinrich nach, in der rechten Hand die Brille haltend; blickt dann auf die Fingernägel der linken Hand. di Nolli geht langsam auf Donna Mathilde und Belcredi zu, macht dann mit Belcredi einen Schritt auf Donna Mathilde zu. Sie bilden nun eine Dreiergruppe, Mathilde und Belcredi mit dem Rücken zum Publikum, di Nolli in einem rechten Winkel neben Belcredi (also seitlich zum Publikum, von Belcredi fast verdeckt). Nach ,)assen" holt di Nolli sich von Belcredi <?page no="170"?> 170 verbale Zeichen Ah, ich sehe, was für eine wunderbare Kombination. (verhalten, theatralisch ausgerufen) kinesische Zeichen eine Zigarette aus dem Etui. Auch Mathilde nimmt sich eine Zigarette. Die Geheimen Räte schauen abwechselnd einander und "Heinrich" an, blicken ihm nach, wenn er an ihnen vorbeigeht. Landolf geht dabei, die Arme auf den Rücken gelegt, den Kopf zu "Heinrich" zurückgewandt, nach rechts auf den Läufer zu. Frida ist an der gleichen Stelle stehengeblieben, sie hält jetzt mit beiden Händen die Zierkanten des Umhangs und zieht sie leicht um sich zusammen. Sie senkt den Kopf ein wenig mehr. "Heinrich" macht bei "Ah" neben Frida auf gleicher Höhe zwei kleine Schritte. Er dreht den Oberkörper in Richtung auf Mathilde und di Nolli. Seine Unterarme weisen, ohne daß die Hände den Mantel loslassen, auf beide. Dann hebt er den Kopf ruckartig und blickt Mathilde und di Nolli an. Bei "sehe" blickt er in die Runde, legt die Unterarme in Bauchhöhe übereinander, immer noch den Mantel mit den Händen haltend. Er wendet erst den Kopf, dann den Oberkörper langsam Frida zu. Bei "Kombination" blickt er wieder auf Mathilde und di Nolli. Donna Mathilde wirft bei "Ah" "Heinrich" einen Blick zu; bei "sehe" schaut sie nach links auf di Nolli, bei "was" wieder auf "Heinrich", bei "Kombination" zu di Nolli. Sie hält die rechte Hand in die Hüfte gestemmt, hebt die linke, in der sie die Zigarette hält, in die Höhe des Feuerzeuges, mit dem di Nolli ihr Feuer gibt, während er auf "Heinrich" blickt. Belcredi steht mit leicht gespreizten Beinen, den Rücken dem Publikum, den Kopf "Heinrich" zugewandt. Frida fängt bei "Ah" an, langsam den Kopf zu heben, wobei sie "Heinrich" ansieht. Bei "Kombination" wendet sie den Kopf in Mathildes <?page no="171"?> verbale Zeichen Zwei Paare, wunderbar, großartig, Herr Doktor, für einen Irren! (er spricht langsam, artikuliert, jedes Wort deutlich, Steigerung hin zu "Irren"; wird sehr stark betont,mit bitterer Ironie als Vorwurf gesprochen; bei "Herr Doktor" leise Drohung in der Stimme) Ihm kommt das natürlich alles wohl nur wie ein Karnevalsscherz vor, nicht wahr? (als abschätzige Feststellung schnell gesprochen) 171 kinesische Zeichen und di Nollis Richtung, blickt beide eine Weile an. Dann wirft sie auf "Heinrich" wieder einen kurzen, auf Mathilde und di Nolli einen längeren Blick. Giovanni dreht sich mit dem ganzen Körper zu "Heinrich" herum und sieht ihn an. "Heinrich" wiegt sich bei "großartig" hin und her, den Mantel in der rechten Hand schwingend. Bei "Herr Doktor" läßt die rechte Hand den Mantel los. Bei "Irren" fängt "Heinrich" an, von Frida fort in Richtung auf den Doktor zuzugehen. di Nolli hält immer noch das brennende Feuerzeug in der Hand, den Blick auf "Heinrich" geheftet. Donna Mathilde schaut, nachdem sie sich hat Feuer geben lassen, zu "Heinrich" hin. Belcredi steckt bei "Herr Doktor" die rechte Hand in die Hosentasche, lehnt sich, die Zigarette im Mund, zurück, so Heinrich direkt wenn auch auf Entfernung gegenüberstehend. Frida blickt bei "zwei Paare" immer noch zu Mathilde und di Nolli, wendet dann den Kopf "Heinrich" zu und senkt ihn langsam bei "großartig". Bei "Herr Doktor" wendet sie den Blick jäh wieder Mathilde und di Nolli zu, anschließend dem Doktor, zuletzt "Heinrich". "Heinrich" weist mit dem Unterarm auf Belcredi. Bei "Karnevalsscherz" geht er an Belcredi vorbei, weiter auf den Doktor zu, wirft seinen Kopf in Belcredis Richtung zurück, kommt bei "nicht wahr" zum federnden Stand vor dem Doktor. Belcredi geht um Mathilde und di Nolli herum, tritt in die Mitte des Lichtkegels, der auf die Mitte der vorderen Bühne fällt, und bleibt rauchend stehen. Als "Heinrich" an ihm vorbeigegangen ist, dreht er sich auf der Stelle mit <?page no="172"?> 172 verbale Zeichen Gut, dann weg mit meiner Maskerade; hier, bitte, alles, auch meine Maske soll weg, damit ich dich begleiten kann. (erst trotzig, dann gepreßt gesprochen; provokativer Unterton; "Maske" und "dich"betont) kinesische Zeichen dem linken Fuß ihm zu, den Stock in der angewinkelten linken Hand haltend. Donna Mathilde dreht den Körper mit "Heinrichs" Gang, so daß ihr Blick stets auf ihn gerichtet ist, ebenso di Nolli. Frida folgt "Heinrich" mit dem Blick, die Hände auf dem Bauch übereinandergelegt, geht zwei Schritte nach links in Richtung Bühnenmitte . Die anderen haben alle den Blick auf "Heinrich" gerichtet und drehen sich seinem Gang entsprechend herum. "Heinrich" wendet sich vom Doktor ab, Belcredi zu, macht jedoch vier energische Schritte direkt nach vorn (bis "weg''). Bei "Maskerade" hebt er den rechten Arm zur Krone und hält mit der linken den Mantelsaum. Er tastet mit einer suchenden Handbewegung nach der Krone, berührt sie und nimmt sie vom Kopf. Dabei wird sein Gang tranceartig. zum Schaukelgang. Dann wendet er sich energisch nach rechts, geht direkt auf Belcredi zu. Die linke Hand löst sich vom Mantelsaum, berührt die Krone. "Heinrich" nimmt nun die Krone in die linke Hand und streckt den rechten Arm leicht vor, um die Mantelfalten aufzufangen. Belcredi dreht sich immer mit "Heinrichs" Gang im lockeren Stand mit. Er nimmt mit der linken Hand, die den Knauf seines Stöckchens urnfaßt, die Zigarette aus dem Mund. Bei "bitte" zieht er die rechte Hand aus der Hosentasche, geht einen Schritt vorwärts, dann seitwärts, bis er "Heinrich" frontal gegenübersteht. Auch Donna Mathilde macht einen Schritt in "Heinrichs" Richtung, ebenso (bei "damit") der Doktor, der die Brille mit beiden Händen kurz zum Gesicht fUhrt. di Nolli wirft bei "Maskerade" Mathilde einen kurzen Blick zu und sieht erneut "Heinrich" an. Er dreht den Körper um 180 0 , wiegt sich im Stehen leicht hin und her, dabei mit der rechverbale <?page no="173"?> Zeichen B.: Ja,ja, mich, wieso? Die, die hier ... (verblüfft, erregt, betont das erste "die") H.: Ja, gut, wo woll'n wir hingehn, in den Club, in Frack und weißer Krawatte, oder vielleicht ins Haus der Marchesa, wir beide zusammen? (H. unterbricht B.; "Ja, gut" überschneidet sich mit "die hier". Er spricht aggressiv, schnell und spöttisch.) 173 kinesische Zeichen ten Hand die Zigarette am Munde haltend, während er an ihr zieht. Frida blickt bei "Maskerade" zu "Heinrich", bei "Maske" auf ihre Hände und geht zögernd drei weitere Schritte von rechts zur Bühnenmitte. Die anderen folgen "Heinrich" mit den Blicken. Bei "Ja, ja" bleibt Belcredi noch stehen, beide Hände halb erhoben. Bei "mich" weist er mit der rechten Hand kurz auf sich zurück und breitet dann bei "wieso? Die hier" beide Arme aus. Nun dreht er sich halb nach hinten und zeigt gleichzeitig mit der rechten Hand über die linke hinaus. Er bleibt nun nur noch auf dem linken Bein stehen, bewegt das rechte, als wollte er auf "Heinrich" zugehen. "Heinrich" hebt bei "wo woll'n" die rechte Hand und wendet sich kurz di Nolli zu, bei "Club" wieder Belcredi. Bei ,)ns Haus der Marchesa" blickt er Donna Mathilde an. Die zieht bis "Krawatte" an ihrer Zigarette, den linken Arm in die Hüfte gestemmt. Bei "Marchesa" wendet sie sich abrupt auf dem Fuß nach rechts. (Sie geht im weiteren Verlauf ganz nach rechts, dann zum Bühnenhintergrund, an der Rückwand vorbei zum Thron und damit aus dem Videobild.) Der Doktor steht Belcredi zugewandt, die linke Hand in der Hosentasche, mit der rechten die Brille haltend. Bei den Worten "Club" und "Frack" hebt er jeweils die Brille hoch, bei "Frack" etwas höher. di Nolli steht mit Blick auf Belcredi. Er hält die Zigarette mit der rechten Hand am Mund. Bei "wo woll'n" geht er auf Belcredi zu. Er wendet sich nun ganz nach links und sieht Mathilde nach, den Kopf stärker als den Körper drehend. Frida legt in Gürtelhöhe die Finger beider Hände zusammen und bewegt sie. <?page no="174"?> 174 verbale Zeichen B.: Nein, wohin du willst. Oder willst du vielleicht, ich habe so den Verdacht, hierbleiben, so, wie du aussiehst, in diesem Kostüm, so als Fortsetzung eines verunglückten Karnevalstages? (erst aggressiv, dann wieder beherrscht, ab: "so wie du aussiehst" abwehrend, abschätzig gesprochen; dann als vorwurfsvolle Fragen) kinesische Zeichen Die Geheimen Räte machen unterschiedliche Schritte, einer stemmt die Hand in die Hüften, ein anderer läßt sie seitlich fallen. Belcredi geht mit den ersten Worten einen Schritt vor, zeigt mit dem Finger des ausgestreckten rechten Armes auf "Heinrich" und läßt einen weiteren Schritt nach vorne folgen. Bei "oder willst du vielleicht" senkt er den Arm, anschließend geht er einige Schritte, wobei er die rechte Hand an den gesenkten Kopf führt. Bei "hierbleiben, so wie du aussiehst" hält er im Gehen inne und streckt die Arme aus, eine zweimalige winkende Zeigegeste ausführend und die Hand dann lässig zum Körper zurücknehmend. Er tritt einen Schritt zurück. Bei "in diesem Kostüm" macht er drei Schritte nach vorn und betont "Kostüm" durch eine nach oben ausgeführte werfende Bewegung der rechten Hand. Bei "so als Fortsetzung ... " geht er mit elastischen Schritten erhobenen Hauptes in einem Halbkreis um di Nolli herum, so daß er "Heinrich" nun wieder wenn auch in größerer Entfernung gegenübersteht, breitet beim Gehen die Arme aus und schlenkert sie im Rhythmus seines Ganges. Bei "Karnevalstages" schwingt der Stock mit, und der Körper vollführt eine wippende Bewegung. "Heinrich" weicht bei Belcredis ersten Schritten auf ihn zu ("wohin du willst"), seinerseits zwei Schritte zurück und faßt mit der rechten Hand an seinen Mantel. Er sieht Belcredi nach, die linke Hand leicht erhoben. Der Doktor hebt die Brille mit der rechten Hand ein wenig in die Höhe, zieht die linke Hand nach. Bei "aussiehst" senkt er beide Hände, führt die rechte Hand zum Gesicht, mit leichter Verzögerung dann die linke, läßt sie wieder sinken, hebt nochmals die linke und betrachtet sich seine Fingernägel. <?page no="175"?> verbale Zeichen Weißt du, was ich dir sagen kann? Unglaublich, ich fmde es unglaublich, daß du das ... es ist un ... daß du das hast machen können, nachdem du wußtest, daß du frei warst von diesem Un ... (laut herausschreiend, tobend, zurechtweisend, scharf; die Zischlaute werden stark betont, die Vokale gehen unter) 175 kinesische Zeichen di Nolli sieht kurz Belcredi nach und geht dann zwei Schritte auf "Heinrich" zu. Belcredi macht bei seinem ersten Wort einen Trippelschritt vor und zurück. Er wechselt den Stock von der linken in die rechte Hand, führt nun mit der linken in "Heinrichs" Richtung eine Schleuderbewegung aus und reckt den Kopf vor. Bei "unglaublich" macht er fünf große Laufschritte, ballt die linke Hand zur Faust, wiederum in "Heinrichs" Richtung. Anschließend hebt er sie in Gesichtshöhe , senkt sie ein wenig, hebt sie erneut, hält sie dann halbhoch; nach dem zweiten "unglaublich" läßt er sie sinken. Er steht nun mit geschlossenen Füßen vor "Heinrich", den Stock in der rechten Hand in Körpermitte haltend, den Oberkörper leicht vorgebeugt. Nach "daß du das ... " hebt er beide Hände in drohender Weise, wendet sich halb in Richtung der Rampe und legt die linke Hand an die Stirn. Er steht jetzt mit leicht gespreizten Beinen und dreht den Oberkörper stärker zur Rampe als die Beine. Die rechte Hand, die den Stock hält, hängt herunter. Bei "machen" streckt er die Arme nach vorn, die Hände nach oben geöffnet, zuckt mit den Schultern und wendet sich wieder "Heinrich" zu. Nach "können" läßt er beide Hände auf die Oberschenkel klatschen. Bei "nachdem du wußtest" macht er einen kleinen Schritt nach vorn, wechselt den Stock wieder von der rechten in die linke Hand und zeigt dabei auf "Heinrich". Bei "frei" ballt er die rechte Hand zur Faust und schüttelt sie, sich gleichzeitig mit "Heinrich" nach rechts drehend. Er bleibt breitbeinig stehen, den angewinkelten Arm hochgestreckt. "Heinrich" dreht sich bei Belcredis ersten Worten tänzelnd seitwärts nach hinten. Er hält die Krone in der linken Hand halb hoch, mit der rechten faßt er den Mantel. Dann geht er zwei <?page no="176"?> 176 verbale Zeichen kinesische Zeichen kleine Schritte nach hinten. Nach dem zweiten "unglaublich" bleibt er stehen und dreht sich so, daß er nun direkt Belcredi gegenübersteht. Er streckt dabei den Bauch heraus, schiebt bei "daß du das . . ." mit der rechten Hand den Mantel nach hinten auf den Rücken und stellt das linke Bein vor. Bei "wußtest" fängt er an zu gehen, erst mit kleinen Schritten, dann schneller, seine Schritte werden größer. Er vollführt im Gehen einen Halbkreis, den Blick stets auf Belcredi gerichtet. Der Doktor sieht Belcredi an, die Brille in der rechten Hand haltend. Bei "unglaublich" greift auch die linke Hand nach der Brille. Er steckt dann die linke in die Hosentasche und blickt di Nolli an. Darauf guckt er nach hinten rechts, die Brille hochhebend. di Nolli steht "Heinrich" zugewandt. Er zieht an seiner Zigarette und blickt dabei auf den Boden. Er dreht den Körper kurz in Belcredis Richtung, dann wieder zurück, schaut zum Doktor hin und zieht wieder an der Zigarette. Als "Heinrich" zu gehen anfängt, verfolgt er mit dem Körper "Heinrichs" Gang. Zusätzlich zu der allgemeinen Opposition, in die der Thronsaal des III. Aktes aufgrund des elektrischen Lichtes, das ihn geradezu decouvrierend als bloße Theaterdekoration erscheinen läßt, zum Thronsaal des I. Aktes tritt, lassen sich, wie an der protokollierten Sequenz abzulesen, zwischen Kostüm und kinesischen Zeichen Relationen feststellen, die sich in mancher Hinsicht als eine Umkehrung der entsprechenden Relationen des I. Aktes präsentieren. So verhalten sich beispielsweise die "Geheimen Räte" hier in "Heinrichs" Beisein wie im I. Akt ausschließlich in seiner Abwesenheit: ihre Gesten sind unzeremoniell, locker, "natürlich", ihre Bewegungen durch den Raum frei und ungezwungen. Lollo trägt ganz selbstverständlich seine Brille. Ihr Auftreten realisiert dergestalt wie in I, 1 und im Gegensatz zu I, 3 die Opposition historisch (Kostüm) -zeitgenössisch (kinesische Zeichen). Frida steht fast den ganzen Akt über nahezu an derselben Stelle wie in der zweiten Szene des I. Aktes. Sie bewegt sich auch hier <?page no="177"?> 177 wieder kaum von ihrem Platz und führt die gleichen Gesten aus wie dort: sie faßt die Zierkanten ihres Umhangs wie dort die Verschlußkanten ihres Pelzmantels, sie legt die eine Hand an den Kragen, verschränkt die Hände über dem Bauch etc. Wie in I, 2 hält sie den Kopf häufig gesenkt, folgt der Aktion der anderen nur von Zeit zu Zeit mit den Blicken. Ihr gestisches Verhalten aktualisiert also auch hier wieder die Rolle der gleichgültigen, gelangweilten, passiven Zuschauerin. Im Unterschied zum I. Akt steht sie jetzt allerdings allein an ihrem Platz di Nolli hat sich teils zu ihrer Mutter und Belcredi gesellt, teils befmdet er sich auch seinerseits allein mitten zwischen den Protagonisten. In einen deutlich sichtbaren Gegensatz zur Frida des I. Aktes tritt die Frida des III. Aktes darüber hinaus durch ihr Kostüm als Markgräfm von Toscana, das sie in eine Beziehung zu "Heinrich" stellt. Ähnliches gilt ftir di Nolli. Auch sein gestisches Verhalten unterscheidet sich nicht signifIkant von demjenigen im ersten Akt, etabliert jedoch zwischen Kostüm und kinesischen Zeichen die Relation einer Opposition. Aus der Rolle dessen, der das Geschehen zu beschleunigen gewillt ist wie im I. Akt -, hat er sich allerdings in diejenige eines äußerst interessierten, ja engagierten Zuschauers zurückgezogen (behält beispielsweise das brennende Feuerzeug in der Hand). Donna Mathilde hat einen interessanten Rollentausch vorgenommen. Während sie im I. Akt in bezug auf Belcredi die Rolle der <?page no="178"?> 178 unverstandenen Frau gespielt hat, "Heinrich" gegenüber jedoch die der entgegenkommenden, einfiihlsamen Freundin, ist jetzt eine gewisse Umkehrung zu konstatieren. Auf "Heinrichs" Äußerungen hin führt sie jene abrupten Gesten aus (wie die jähe Kehrtwendung nach ,)n das Haus der Marchesa"), wie sie im I. Akt ftir ihre Reaktion auf Belcredis Äußerungen typisch waren. Dagegen wendet sie sich Belcredi nicht nur mit Blicken zu, sondern geht auch zu ihm, stellt sich neben ihn und zündet sich, wie er, eine Zigarette an, dergestalt gemeinsam mit ihm rauchend. Während ihr Kostüm sie zu "Heinrich" in Beziehung setzt, stellt ihr gestisches Verhalten eine Beziehung zu Belcredi her. Da ihre Gesten andererseits prononciert zeitgenössischen Charakter haben (Rauchen, Hände in die Hüften stemmen, mit den Fingern spielen etc.), realisiert ihre Relation zum Kostüm wiederum die Opposition: zeitgenössisch-historisch. Belcredis Verhalten stellt bis zu "Heinrichs" erstem direktem Angriff auf ihn ("Ihm kommt das natürlich alles wohl nur wie ein Kamevalsscherz vor, nicht wahr? ") weitgehend eine Wiederholung seines Verhaltens aus I, 2 dar, in dieser Hinsicht der Wiederholung des Kostüms äquivalent. Es aktualisiert die Rolle des eher unbeteiligten, jedoch amüsierten Zuschauers: Belcredi steht in lockerer Haltung auf einem Platz, die eine Hand in der Hosentasche, das Stöckchen lässig in der anderen, ruhig eine Zigarette rauchend und das Geschehen ausschließlich mit Blicken verfolgend. Eine signifIkante Veränderung tritt erst nach "Heinrichs" Angriff ein. Der Doktor hat, da "Heinrich" bereits geheilt ist, im III. Akt ftir seine Rolle als Arzt eigentlich die Grundlage eingebüßt. Es gibt nichts mehr zu beobachten, keine Theorie zu validieren. Dennoch hält er sich den ganzen Akt über an ihr ebenso wie an seiner Brille fest, die er erst dann wieder aufsetzt, wenn "Heinrich", Frida ergreifend, erneut vom Wahnsinn befallen zu sein scheint, also die Basis ftir die Arztrolle wieder hergestellt ist. Da der Doktor die Rolle des Arztes nicht durchgehend spielen kann, hält er sie die ganze Zeit über sozusagen im Wartestand in Bereitschaft, ohne je eine andere zu aktualisieren: sie erscheint auf diese Weise als die einzige Rolle, die er zu spielen bereit oder imstande ist. Die Mitteilung, daß "Heinrich" geheilt ist, hat ftir alle die Ausgangsbasis einer Interaktion mit ihm grundlegend verändert. Die von "Heinrich" bisher angebotenen Rollen des Wahnsinnigen bzw. des Kaisers haben ihre Gültigkeit verloren. Folglich ziehen sich alle anderen zunächst in jene Rollen zurück, die sie nicht nur unabhängig von "Heinrichs" Rollendefmitionen, sondern auch in Interaktionsprozessen, an denen er nicht teilhat, die sich nicht einmal auf ihn beziehen, zu spielen gewohnt sind. Jeder hat offensichtlich eine der- <?page no="179"?> 179 artige klar abgegrenzte, spezielle, längst festgelegte Rolle inne. Für "Heinrich" dagegen ist die Notwendigkeit entstanden, entweder eine neue Rolle im Umgang mit den anderen zu fmden oder aber seine alte Rolle neu zu legitimieren. Er beginnt diesen Prozeß, indem er einzelne von ihnen in dieser ihrer festgelegten Rolle angreift, so am Anfang der hier protokollierten Sequenz den Doktor. "Heinrich" startet seine Attacke vom roten Läufer aus, als Rückgriff gleichsam auf seine alte Rolle als Kaiser bzw. als ihr Zitat. Auf sie spielen auch die energischen Schritte an, mit denen er über den roten Läufer auf den Doktor zugeht. Wenn er ihm gegenübersteht, hat er jedoch den Teppich verlassen: er steht nun auf demselben Boden der Wirklichkeit wie die anderen. Und doch verändert sein Gang diesen Boden signiflkant. Wenn "Heinrich" sich bei "Mein Gott nochmal" vom Doktor abwendet, Frida und di Nolli als ,)ebendig gewordene, aus dem Rahmen gesprungene Bilder" bezeichnend, geht er durch die Gruppe der "Geheimen Räte" hindurch, die anderen sorgfältig meidend, direkt auf Frida zu, eben jenes lebendig gewordene Bild aus der Vergangenheit. Der Gang durch den Raum wird so zum Gang durch die Zeit: bei Frida angelangt, ist "Heinrich" in jene Vergangenheit zurückgekehrt, die dem Walmsinn vorausging. Er stellt sich dabei wie im I. Akt di Nolli, wenn auch seitenverkehrt so neben Frida, daß ihre Körper in einem rechten Winkel einander zugewandt sind, auf diese Weise seine Beziehung zur kostümierten Frida mit di Nollis Beziehung zu Frida äquivalent setzend. Er evoziert dergestalt seine frühere Beziehung zur früheren Mathilde und weist zugleich auf den späteren Moment kurz vor Schluß der Aufführung voraus, indem er, den Walmsinnigen spielend, Frida ergreift und für sich beansprucht. Der Gang vom roten Läufer quer über die ganze Bühne hin zu Frida nimmt so die Bedeutung einer Rückkehr zu jener Vergangenheit an, in der er, noch nicht dem Walmsinn verfallen, am Leben der anderen teilhatte. Während in der analysierten Sequenz aus dem 11. Akt verbale und kinesische Zeichen auf eine Weise aufeinander bezogen sind, daß sie sich gegenseitig umkodieren, ist hier ihr Verhältnis ein qualitativ anderes. "Heinrich" vollführt seinen Angriff auf den Doktor in unmißverständlichen, wenn auch ironischen Worten, auf die seine Gesten sich illustrierend und unterstützend beziehen. Wenn er beispielsweise bei "Sie" (Sie sind Arzt? ) mit ausgestrecktem Arm und Zeigefinger auf den Doktor weist, so pointiert diese Geste lediglich seine Worte, ohne ihnen eine neue, eine eigene Bedeutung hinzuzufügen. Das gleiche gilt für die seine nächsten Worte begleitende Zeigegeste oder das energische Luft-Zersägen seiner Hand bei "aus dem Rahmen <?page no="180"?> 180 springen lassen"; für die auf Mathilde und di Nolli und dergestalt auf seine nachfolgenden Worte vorausweisende Zeigegeste bei "Ah" oder den Blick in die Runde bei "sehe"; für das Hin- und Herwenden des Kopfes zwischen Frida, Mathilde und di Nolli bei "was für eine wunderbare Kombination" oder das Hin- und Herwiegen des Oberkörpers bei "großartig". Alle diese gestischen Zeichen sind durchweg der Klasse der Illustratoren zuzurechnen. Ihre Funktion besteht ausschließlich darin, die Bedeutungen der verbalen Zeichen zu unterstützen und so ihre Eindeutigkeit zu erhöhen. Der Angriff wird wesentlich verbal vollzogen und die nonverbalen Zeichen hier vor allem die paralinguistischen und die gestischen werden eingesetzt, um sie zu verdeutlichen, zu illustrieren, zu pointieren und so ihre Wirkung beträchtlich zu steigern. Neben derartigen gestischen Zeichen verwendet "Heinrich" auch einige Adaptoren. So hält er während des Zeigegestus mit der anderen Hand die Innenseite seines Mantels fest, greift anschließend auch mit der rechten Hand an ihn und läßt ihn, während er neben Frida steht, nicht mehr los. Er legt sogar in dieser Haltung die Unterarme vor dem Bauch übereinander, so daß der Eindruck entsteht, er würde sich in seinen Mantel einwickeln. "Heinrich" konzipiert also seine neue Rolle, indem er zu jener Vergangenheit zurückkehrt, die dem Wahnsinn vorausliegt, und sich dabei an dem Requisit festhält, das sowohl für ihn als auch für die anderen einerseits eine Rolle bzw. Situation dieser Vergangenheit, andererseits die Rolle des Wahnsinnigen denotiert. Aus dieser Konstellation heraus greift "Heinrich" Belcredi, den Rivalen aus jener Vergangenheit, in seiner aktuellen Rolle als amüsierten Zuschauer an: "Ihm kommt das natürlich alles wohl nur wie ein Kamevalsscherz vor, nicht wahr? " Dieser Angriff stellt vielfältige Beziehungen her. Er entfaltet zunächst die deutlich sichtbare weitgehende Opposition, die zwischen "Heinrich" und Belcredi hinsichtlich der Zeichen der äußeren Erscheinung besteht und auf eine tiefergehende Opposition verweist. Andererseits aktualisiert er die alte Beziehung der Rivalität zwischen beiden, auf die, eingebettet in das mehrdeutige Rollenspiel des I. Aktes, der Ausfall gegen Petrus Damiani bereits symbolisch verwiesen hatte. Damit knüpft er zugleich an dieses Element aus dem I. Akt an und entwickelt es weiter. In anderer Hinsicht jedoch wird durch diesen Angriff auch eine Beziehung zum 11. Akt hergestellt. Denn während "Heinrich" dort in der Rolle des Wahnsinnigen und des Kaisers seine alte Rolle als Liebhaber der Mathilde symbolisch wieder aufnehmen, durchspielen und beenden konnte, knüpft er jetzt ganz direkt an die feindselige Beziehung wieder an, die in jener Zeit zwischen Belcredi und ihm <?page no="181"?> 181 bestanden hatte. Da der Grund für die damalige Feindschaft die Rivalität um Mathildes Gunst jedoch nicht mehr besteht, muß "Heinrich" die Rolle des Gegners nun im Hinblick auf einen anderen Gegenstand entwerfen. Er fmdet ihn in Be1credis gegenwärtiger Rolle als amüsierter, unbeteiligter Zuschauer. Nicht nur auf der verbalen (er spricht von Belcredi in der 3. Person! ), sondern auch auf der gestischen Ebene drückt "Heinrich" geradezu provokativ Geringschätzung Belcredi gegenüber aus: er weist mit dem Unterarm in seine Richtung, geht an ihm vorbei und wirft lediglich den Kopf zu ihm zurück. Er bleibt nicht vor ihm, sondern vor dem Doktor stehen. Belcredi greift diese Kampfansage auf: er löst sich von der Gruppe der anderen und tritt vom Rande des Geschehens, an dem er sich bisher aufgehalten hat, in die Mitte der Bühne, mitten ins Licht. Er bleibt zunächst, die gelockerte Haltung beibehaltend, abwartend stehen. Wenn "Heinrich" ironisch den Vorschlag macht, die "Maskerade" zu beenden, geht er noch nicht direkt auf Belcredi zu, sondern wendet sich vom Doktor ab und macht einige energische Schritte nach vorn, in Richtung auf das Publikum. Das bisher mittelbar nämlich durch die spezifische Verwendung der kinesischen Zeichen und die besonderen Relationen zwischen Kostüm und kinesischen Zeichen zum Ausdruck gebrachte Verständnis von Rolle und "Maske" wird nun unmittelbar in Sprache gefaßt: die "Maske" soll weg. Während "Heinrich" zu diesem Zweck die Krone absetzt, greift Belcredi im selben Moment nach der Zigarette und nimmt sie aus dem Mund: Krone und Zigarette erscheinen dergestalt beide als Requisiten eines Rollenspiels. Sie lassen sich zwar gegeneinander vertauschen, wie auch das Königsornat sich mit "Frack und weißer Krawatte" vertauschen läßt, eine Beendigung des Rollenspiels, der "Komödie" (335), wird dadurch jedoch nicht bewirkt. "Heinrich" und Belcredi stehen einander in dem Augenblick frontal gegenüber, in dem sie, die Requisiten ihres Rollenspiels (Krone : Kaiser: : Zigarette: lässiger Zuschauer) in der Hand haltend, die Frage einer neuen Rollendefmition in ihren Worten thematisieren. Der Antagonismus zwischen beiden wird dergestalt mit dieser Frage in Zusammenhang gebracht: welche Rolle kann bzw. soll "Heinrich" in Zukunft spielen? In der frontalen Gegenüberstellung beider wird auf diese Weise die allgemeine, deutlich sichtbare Opposition zwischen ihnen auf diese Frage bezogen. Sie stellt den eigentlichen Streitpunkt dar. Ihretwegen ersticht "Heinrich" am Ende Belcredi. Denn Belcredi will ihn auf die Rolle festlegen, welche die Gesellschaft für einen "normalen'~ nicht walmsinnigen Mann in einer bestimmten Position vorgesehen hat eine Rolle, deren Kostüm in <?page no="182"?> 182 der Tat Frack und weiße Krawatte darstellen -, Heinrich dagegen will sich weder seine Rolle von anderen vorschreiben lassen noch auch sich auf eine Rolle beschränken. Er wird daher die Rolle wählen, die ilun die meisten Möglichkeiten zur Veränderung und damit zugleich zur Selbstbestimmung gewährt: die Rolle des Wahnsinnigen. Die gegnerische Position beider, ihre frontale Gegenüberstellung, die bis zum Ende der protokollierten Sequenz als typische und charakteristische Grundposition beibehalten wird, auch wenn einige Gänge sie zwischendurch verändern -, erscheint daher als Ausdruck jenes prinzipiellen Antagonismus und weist in dieser Eigenschaft bereits auf den Zusammenstoß am Ende voraus. In dieser Sequenz dominieren wie im ganzen III. Akt bis kurz vor Schluß die verbalen Zeichen. Die Funktion der kinesischen Zeichen besteht wiederum darin, sie zu illustrieren, zu pointieren und zu unterstützen. So weist Belcredi bei "mich" mit der Hand auf sich zurück, bei "die hier" weit von sich zu den anderen hin. Die geringschätzige Ablehnung des Satzes "so wie du aussiehst" unterstreicht er durch eine zweimalige winkende Zeigegeste, ebenso das pejorativ gemeinte "in diesem Kostüm" durch die nach oben ausgeführte werfende Bewegung. Daneben verwendet Belcredi eine Reihe von Mfekt-Darbietungen: so ballt er verschiedentlich die Faust ("unglaublich", "frei"), zuckt die Schultern "machen"), hebt die Hand an den Kopf "ich fmde es unglaublich"). Dabei beziehen sich sowohl der Ausdruck von Wut und Aggression als auch der von Unverständnis auf "Heinrichs" freie Wahl der Rolle des Wahnsinnigen, seine Weigerung, als nun wieder "normaler" Mann auch ins "normale" Leben der Gesellschaft zurückzukehren. Die Mfekt-Darbietungen haben also die Funktion, die Einstellung Belcredis zu dem von ilun thematisierten Sachverhalten zum Ausdruck zu bringen. Auch sie sind in diesem Sinne wiederum auf die verbalen Zeichen bezogen. Während "Heinrich" diese Sequenz als Agierender und Belcredi als Zuschauender beginnt, kehren sich die Rollen im Laufe der Interaktion um. Am Ende der protokollierten Sequenz ist Belcredi der Agierende, dem "Heinrich" mit geradezu provozierender Gelassenheit zuschaut: er streckt den Bauch heraus, schiebt den Mantel nach hinten, stellt das linke Bein vor und verfolgt Belcredi mit den Blikken. Belcredis Empörung, sein Wutanfall, seine Drohung werden durch "Heinrichs" Verhalten in ähnlicher Weise als "Theater" (336), als "Komödie" (335) denunziert, wie vorher "Heinrichs" Ausfälle durch Belcredis zuschauende Haltung. "Heinrich" demonstriert dergestalt Belcredi sozusagen ad oculos, daß auch er andere Rollen als <?page no="183"?> 183 die ihm zudiktierte des gelassenen Zuschauers zu spielen vennag, daß die Festlegung auf eine Rolle folglich widersinnig ist. Die Dominanz der verbalen Zeichen wird erst kurz vor Schluß aufgehoben. "Heinrich" hat mit Worten die anderen von seinem Recht auf ein eigenes Leben als "Heinrich N." und damit auf einen eigenen Rollenentwurf nicht überzeugen können. Nun wiederholt er diesmal allerdings mit den hastenden Schritten, dem leicht vorgebeugten Oberkörper des I. Aktes den Gang quer über die Bühne zu Frida, zu seiner Vergangenheit, bleibt jedoch nicht wie beim ersten Mal -lediglich neben ihr stehen, sondern umannt sie, reißt sie an sich. Gang und Geste aktualisieren auf diese Weise die Rolle des Wahnsinnigen und zwingen den anderen eine entsprechende Reaktion auf. Was Worte nicht vennocht haben, gelingt dergestalt der Geste sie beglaubigt unmittelbar die Legitimität der intendierten Selbstdarstellung: alle verhalten sich "Heinrich" gegenüber sofort wieder wie zu einem Wahnsinnigen bis auf Belcredi: er besteht darauf, ihn als einen "nonnalen" Menschen zu behandeln. Wenn "Heinrich" in der Rolle des Wahnsinnigen ihn ersticht, befreit er sich daher von demjenigen, der ihn an seinem eigenen Leben, seinem eigenen Rollenentwurf um jeden Preis hindern will. Zugleich aber ersticht er in ihm auch den alten Rivalen, tötet in ihm seine eigene Vergangenheit, die dem Wahnsinn vorausliegt. Während im II. Akt die Abrechnung mit der Vergangenheit, mit ihren alten Beziehungen, rein symbolisch erfolgte, wird sie hier real durchgeführt. Der Stoß mit dem Degen ist keine symbolische Geste, sondern vollzieht vielmehr tatsächlich das, was er bedeutet. Denn er bedeutet nicht nur die Tötung des Gegners, sondern fUhrt sie auch aus. Der Mehrdeutigkeit der Rolle stellt sich auf diese Weise die "Eindeutigkeit" der Geste entgegen, die in dieser Situation allein noch imstande ist, den eigenen Rollenentwurf dem Zugriff der anderen zu entziehen. Durch den Schluß der AuffUhrung erhält diese Tat eine besondere Bewertung. Nachdem Belcredi hinausgetragen ist und Donna Mathildes Schrei ertönt, setzt laut die Musik ein, alle drei Wände werden gleichzeitig hochgezogen, auf "Heinrich", der Gesicht und rechte Hand erhoben hält, fant volles licht. Die Musik entstammt wie die des 11. Aktes dem "Requiem" von Verdi. Es ist der Beginn des zweiten Teiles "Dies Irae" bis zum Vorspiel zu "Quantus Tremor" (',Dies irae, dies illa, solvet saeclum in favilla, teste David cum Sibylla" in mehrfacher Wiederholung), wiederum ohne die Vokalstimmen. 198 Diese längere Sequenz fungiert als eine Art Rahmen für die ganze AuffUhrung. Vor Beginn, noch bei geschlossenem Vorhang, erklingt sie das erste Mal und beendet nach Schließen des Vorhanges den ersten Akt. Nach der Pause geht <?page no="184"?> 184 sie erneut (vor Öffnen des Vorhangs) dem II. Akt voraus, der mit Windgeräuschen und dem Wirbel welker Blätter über den Bühnenboden endet, und ertönt zuletzt am Schluß. Sowohl die musikalischen Motive aus "Dies Irae", die hier eingespielt werden, als auch dasjenige aus dem "Requiem und Kyrie", das im 11. Akt den Dialog unterbricht, werden im letzten Teil des "Requiem", dem "Libera me", wieder aufgenommen. 199 Sie sind also im "Requiem" selbst deutlich auf das "Libera me" bezogen. Wir hatten bei der Analyse der Sequenz aus dem 11. Akt festgestellt, daß die Musik hier die Funktion erfüllt, "Heinrichs" Inneres, das sich weder in Worten noch in Gesten jemals direkt vor den anderen ausspricht, für den Zuschauer zum Ausdruck zu bringen. Sie erschien dort vor allem in der Verbindung mit dem Licht als Äquivalent fUr "Heinrichs" Sehnsucht nach "Erlösung", nach Befreiung von den Bildern der Vergangenheit. Die verstärkte Wiederaufnahme dieser Elemente am Schluß läßt ihn entsprechend als Eintreten dieser Erlösung erscheinen: die Mauern der "Grabkammer" heben sich, das Licht des Lebens fallt auf "Heinrich" er ist frei. Indem die Musik die Aufführung gleichsam einrahmt, erfüllt sie jedoch noch eine andere, zusätzliche Funktion. Insofern nämlich sie allein auf "Heinrich" be~ogen werden kann worauf ihre einmalige, einzige Verwendung innerhalb der Aufführung (im 11. Akt) hindeutet -, weist sie die gesamte Aufführung als "Heinrichs" "Dies Irae" aus, als seinen Gerichtstag, an dem von ihm selbst über seine <?page no="185"?> 185 Erlösung oder ewige Verdammnis entschieden wird. Er hat der Versuchung der Gesellschaft, die vor allem in Mathilde, Belcredi und dem Doktor ihre Abgesandten geschickt hat, um ihn in ein "normales", d.h. von anderen festgelegtes Leben zurückzuführen, widerstanden, seinen bis zu diesem Tag von niemandem bestrittenen weil fiir erzwungen und in diesem Sinne fiir von außen festgelegt gehaltenen - Rollenentwurf als seinen eigenen, frei gewählten den anderen entdeckt und gegen ihren Einspruch erfolgreich verteidigt: er ist damit frei geworden für ein Leben "im Licht". Musik und Licht werden hier also in ganz ähnlicher Weise eingesetzt wie bei den Apotheosen des Barocktheaters, wenn auch in einer spezifischen Verkehrung mit einer signifIkant anderen Funktion. Denn sie beziehen die heilsgeschichtliehe Kategorie der Erlösung, die sie zitieren, auf den Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen, des ausschließlich in der Immanenz angesiedelten menschlichen Rollenspiels: die "Verdammnis" das ist die Festlegung der Rolle durch die anderen, die "Erlösung" das ist die Verwirklichung des eigenen Rollenentwurfs, dem erbitterten Widerstand der anderen abgerungen. Musik und Licht versehen dergestalt die Vorgänge auf der Bühne mit einem besonderen Kommentar, sie fügen ihnen eine Exegese hinzu, welche der alten Metapher vom Leben als Rollenspiel, auf die in der Aufflihrung immer wieder angespielt wird, eine neue Bedeutung zuspricht und ihr so einen aktuellen Sinn verleiht. 3.4 Überlegungen zum kinesischen Code des heutigen dramatischen Theaters In der analysierten Aufflihrung werden die kinesischen Zeichen ebenso wie die Kostüme bevorzugt im Hinblick auf die Problematik des "Rollenspiels" eingesetzt: sie leisten die Abgabe der intendierten Selbstdarstellung vor den anderen, defmieren die Rollen, welche die dramatis personae in der Interaktion zu spielen gedenken, und qualifIZieren endlich die Beziehungen, die zwischen ihnen bestehen. Die an der Achse der prirtzipiellen Opposition: historischzeitgenössisch ausgerichteten Relationen zwischen Kostüm und kinesischen Zeichen erfüllen in diesem Kontext die Funktion, auf das bei den unterschiedlichen Personen bzw. Personengruppen zugrundeliegende Rollenverständnis zu verweisen. Die farbliehe Gestaltung der Kostüme liefert dabei eine erste allgemeine Bewertung: die einheitlich dunklen Töne der zeitgenössischen Kostüme deuten auf die enge Begrenztheit des zeitgenössischen Rollenrepertoires, die <?page no="186"?> 186 farbigen der historischen Kostüme dagegen auf die vielfältigen Möglichkeiten unterschiedlicher Rollen. Denotiert das Kostüm eine von außen (von "Heinrich" oder von der Gesellschaft) festgelegte Rolle, so signalisiert Äquivalenz zwischen Kostüm und gestischem Verhalten die vollkommene Fremdbestimmung, den Status von "Marionetten", eine Opposition dagegen (wie in I, 1) die Unfähigkeit, die Chance eines anderen Rollenangebots zu nutzen. Ist das Kostüm zwischen mehreren Möglichkeiten frei gewählt (wie das der Kaiserinmutter, des Abtes von Cluny und des Cluniazensermönchs), so weist eine Äquivalenz mit den kinesischen Zeichen auf die Fähigkeit zum Rollenwechsel (wie zum Teil bei Mathilde), eine Opposition jedoch auf das Verharren in einer einzigen, vorab längst festgelegten Rolle (wie bei Belcredi und dem Doktor). "Heinrich", der die Zeichen der äußeren Erscheinung so gewählt hat, daß sie ein vielfältiges und vor allem vielschichtiges gestisches Verhalten nicht nur zulassen, sondern überhaupt erst ermöglichen, erscheint daher in diesem Kontext als Paradigma einer selbstbestimmten Existenz. Unabhängig von dieser ganz besonderen Aufgabe, welche die kinesischen Zeichen nur in Zusammenhang mit den Zeichen der äußeren Erscheinung zu erftillen vermögen, kann ihre Funktion in der Aufftihrung ganz allgemein aus ihrem Bezug zum Interaktionsprozeß zwischen den dramatis personae bestimmt werden: sie haben deren Selbstdarstellung zu leisten, spezifische Beziehungen zwischen ihnen herzustellen und diese Beziehungen zu qualifizieren. Das heißt: sie erzeugen bevorzugt auf der Ebene der Intersubjektivität Bedeutung. Läßt sich nun diese Fragen wollen wir abschließend wenigstens noch formulieren und zur Diskussion stellen, wenn wir sie auch nicht defmitiv beantworten können aus dieser singulären Verwendung der kinesischen Zeichen auf ihre generelle Funktion im heutigen Theater der Bundesrepublik schließen? Wir haben immer wieder mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß eine allgemein verbindliche theatralische Norm heute nicht gegeben ist, daß vielmehr unterschiedliche theatralische Formen und entsprechend auch unterschiedliche theatralische Codes mit jeweils begrenzter Gültigkeit nebeneinander existieren. Eine generelle, d.h. für alle Theaterformen - oder auch eingeschränkt: für alle Formen des dramatischen Theaters gültige Funktion der kinesischen Zeichen wird sich daher auch nicht ermitteln lassen. Dennoch ist es prinzipiell weder ausgeschlossen noch abwegig, der Frage nachzugehen, ob die in der analysierten Aufftihrung festgestellte Funktion der kinesischen Zeichen nicht doch über diese einzelne Inszenierung <?page no="187"?> 187 hinaus ftir eine bestimmte Form des dramatischen Theaters eine gewisse Repräsentanz besitzt. Befriedigend wird sich diese Frage selbstverständlich nur auf der Grundlage einer umfassenden Untersuchung beantworten lassen, welche eine ausreichend große Anzahl von Inszenierungen berücksichtigt, die sie alle unter diesem Aspekt analysiert. Wir wollen uns dagegen hier damit begnügen, aufgrund einzelner Beobachtungen, die an unterschiedlichen Inszenierungen gemacht wurden, lediglich die Berechtigung einer solchen Frage zu bekräftigen und nachdrücklich auf die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit einer derartigen gemeinsamen Funktion hinzuweisen. Fernandes' Inszenierung ist einer Richtung des dramatischen Theaters zuzurechnen, die Günther Rühle als "Theater einer neuen Bildlichkeit"200 bezeichnet hat. Diese Richtung hat sich in der Bundesrepublik im Laufe der siebziger Jahre in enger Verbindung mit der Entstehung einer neuen Form des Bühnenbildes (beispielsweise bei den Bühnenbildnern Herrmann, Wonder, Minks, Freyer) entwickelt. Als ihre prominentesten und prononciertesten Vertreter geiten die Regisseure Stein, Grüber, Minks, Zadek, Fernandes, Neuenfels und Peymann. Die große Verschiedenheit ihrer Arbeiten vorweg eingeräumt und eigens unterstrichen, fällt doch eine gewisse Gemeinsamkeit in der Behandlung bestimmter Genera der kinesischen Zeichen ins Auge. Zu ihnen gehören 1. die Körperhaltung des Schauspielers im Sinn eines Grundgestus der dramatis persona; 2. die Gruppierung mehrerer Personen auf der Bühne, dabei vor allem a) die Zuordnung der Personen einerseits zum Raum, andererseits zueinander und b) die Abstände zwischen ihnen sowohl in der Vertikalen als auch in der Horizontalen; 3. die Gänge über die Bühne und 4. das Spiel mit den Requisiten. Diese Arten kinesischer Zeichen werden von allen genannten Regisseuren bevorzugt immer wieder eingesetzt, um die Personen sowohl im Hinblick auf ihre spezifische Situation als auch hinsichtlich ihrer Beziehungen untereinander zu charakterisieren. 201 Die kinesischen Zeichen im dramatischen Theater der neuen Bildlichkeit erftillen also dominant eine grundlegend andere Funktion als die kinesischen Zeichen des bürgerlichen Illusionstheaters bis zur Jahrhundertwende oder auch im heutigen Theater eines Rudolf Noelte. Denn während sie dort die Funktion haben, Geflihle, psychische Vorgänge, die subtilsten seelischen Regungen einer dramatis persona zum Ausdruck zu bringen, sollen sie hier eine Situation verdeutlichen und Beziehungen qualifIzieren: sie sind vor allem auf die Interaktionsprozesse bezogen, die zwischen den Personen ablaufen. Spätestens seit der Jahrhundertwende wird das Drama nicht müde, <?page no="188"?> 188 die Schwierigkeit,ja die Unmöglichkeit sprachlicher Kommunikation zu thematisieren, das Mißlingen und Scheitern der unterschiedlichsten Versuche vorzuftihren, mit der Sprache und in der Sprache zu kommunizieren. Das Theater der neuen Bildlichkeit knüpft an diese Hinterlassenschaft an: es untersucht die Kommunikationsprozesse, die sich jenseits der Sprache zwischen den Personen in Haltung, Abstand, Gang und Geste vollziehen, die Kommunikation in der "Körpersprache". Dabei läßt sich eine interessante Parallele zum Theater der Aufklärung herstellen. Denn so wie dort die Herausbildung eines neuen kinesischen Codes als Antwort auf Fragen erfolgte, die auch die zeitgenössische wissenschaftliche Diskussion um die "Gebärdensprache" dominierten, ist ein entsprechender Bezug zwischen der Entwicklung einer neuen theatralischen Körpersprache und der wissenschaftlichen Erforschung des gestischen Verhaltens heute ebenfalls nicht ganz von der Hand zu weisen. Auch wenn von einer direkten gegenseitigen Beeinflussung, in welcher Richtung auch immer, nicht die Rede sein kann, wird sich kaum ernsthaft bestreiten lassen, daß sowohl in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem gestischen Verhalten als auch bei der Herausbildung einer neuen theatralischen Körpersprache diejenigen Funktionen der kinesischen Zeichen im Mittelpunkt des Interesses stehen, die auf Ablauf und Vollzug von Interaktionsprozessen gerichtet sind. In diesem Zusammenhang darf jedoch nicht übersehen werden, daß im Unterschied zur Aufklärung dieser kinesische Code der des Theaters der neuen Bildlichkeit lediglich als ein möglicher kinesischer Code anzusehen ist, der gleichberechtigt neben und mit anderen kinesischen Codes (beispielsweise dem des bürgerlich-realistischen Theaters oder dem des politischen Theaters) heute auf den Bühnen der Bundesrepublik realisiert wird. Er repräsentiert daher auch nur einen wenn auch besonders gewichtigen und ästhetisch avancierten - Ausschnitt aus dem Spektrum gegenwärtig möglicher Formen dramatischen Theaters. <?page no="189"?> Anmerkungen 1 Zum Begriff des Artefaktes, wie er hier gebraucht wird, vgl. Jan MukaIovskY, Ästhetische Funktion, Norm und ästhetischer Wert als soziale Fakten, in: Jan Mukarovsky, Kapitel aus der Ästhetik, Frankfurt/ M. 1970, S. 7-113. 2 Eugenio Coseriu, Textlinguistik. Eine Einführung. Herausgegeben und bearbeitet von Jörn Albrecht, Tübingen 1980, S. 51. 3 Ebenda. 4 Da wir bisher den Ausdruck "Sinn" vermieden und stets nur von Erzeugung von "Bedeutung" gesprochen haben, bedarf die nachfolgende Übernahme dieses Terminus einer Erläuterung. Während "Bedeutung" sowohl auf einzelne Elemente, Teilstrukturen oder den gesamten Text bezogen sein kann weswegen wir von der Bedeutung des Textes, aber den Bedeutungen einzelner Elemente sprechen -, soll der Terminus "Sinn" nur auf den gesamten Text bezogen werden. "Sinn" wird also nachfolgend gleichbedeutend mit dem Ausdruck "Gesamtbedeutung eines Textes" verwendet werden. 5 Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, München 1972, S. 27. 6 Ebenda, S. 25. 7 Ebenda, S. 83. 8 Ebenda, S. 84. 9 Dieser Fall kann generell bei zeitgenössischen Aufführungen vorausgesetzt werden. 10 Lotman, a.a.O., S. 85. 11 Ebenda, S. 60. 12 Vgl. zu diesen drei Modi einer externen Umkodierung E. Fischer-Lichte, Theatrical Communication, in: A. Helbo (ed.), Actes du premier congres d'JASPA, Degres 29, Modeles theoriques, 1982, s.f 1-9. 13 Dieses Phänomen der Intertextualität hat zuerst Michael Bachtin in seiner Arbeit über Dostojewskis Romane aus dem Jahre 1929 "Problemy poetiki Dostoevskogo" (dt. Probleme der Poetik Dostojewskijs, München 1971, Übersetzung der erweiterten Fassung aus dem Jahre 1963 von Adelheid Schramm) untersucht und es mit dem Ausdruck der "Polyphonie" bezeichnet, den wir nachfolgend in einer anderen Bedeutung verwenden werden. Was Bachtin "Polyphonie" nennt, hat Kristeva später als "Polylogie" bezeichnet. Vgl. hierzu Julia Kristeva, Polylogue, Paris 1977 (S. Anm. 41). 14 Vgl. hierzu die einschlägigen Arbeiten von Metz und Pasolini zum Film, von Bouissac zum Zirkus, von Nöth zum Happening. 15 S. hierzu Ernest W.B. Hess-Lüttich, Soziale Interaktion und literarischer Dialog, I. Grundlagen der Dialoglinguistik, Berlin 1981, spez. Kap. 3.3 Medialität und Multimedialität. Zum Verhältnis von Kanal, Code, Sinn und Modus in Zeichensystemen, S. 289-318. 16 Zum Begriff des Mediums vgl. vor allem G. Maletzke, Grundbegriffe der <?page no="190"?> 190 Massenkommunikation, München 1964, H. Richter, Zum kommunikationssoziologischen Inhalt des Medienbegriffs, in: E.w.B. Hess-Lüttich et al. (Hrsg.), Stilforschung und Rhetorik-Patholinguistik-Sprecherziehung, Stuttgart 1978, S. 37-43, F. Knilli, "Medium", in: W. Faulstich (Hrsg.), Kritische Stichwörter zur Medienwissenschaft, München 1979, S. 230-251. 17 Zur spezifischen Medialität des Theaters vgl. E.W.B. Hess-Lüttich, Multimediale Kommunikation als Realität des Theaters, in: K. Oehler (Hrsg.), Zeichen und Realität, Wiesbaden 1984, M. Pfister, Das Drama, München 1977, spez. Kap. 1.3 Drama als plurimediale Darstellungsform, S. 24-29. Gegen Pfisters Ausdifferenzierung (S. 27) ist einzuwenden, daß hier nicht hinreichend deutlich zwischen Medium und Zeichensystem unterschieden wird. Den unterschiedlichen Medien, Schauspieler, Raum und gegebenenfalls Lautsprecher, sind wohl bestimmte Kanäle zuzuordnen, nicht aber in gleicher Weise die Zeichensysteme. S. dazu die nachfolgenden Seiten. 18 Zur Forschungslage vgl. E.W.B. Hess-Lüttich, Soziale Interaktion und literarischer Dialog, a.a.O. 19 Aristoteles, Poetik, übersetzt von Olof Gigon, Stuttgart 1961, S. 36. 20 Ebenda, S. 33. 21 Julia Kristeva, Die Revolution der poetischen Sprache, Frankfurt/ M. 1978, S.77. 22 Ebenda, S. 36. 23 Ebenda, S. 39. 24 Ebenda, S. 53. 25 Ebenda, S. 55. 26 Ebenda,S. 210. 27 Ebenda, S. 88. 28 Ebenda, S. 31. 29 Ebenda, S. 75. 30 Ebenda, S. 67. 31 Ebenda, S. 88. 32 Ebenda, S. 76f. 33 Vgl. hierzu E. Fischer-Lichte, Kunst und Wirklichkeit, in: Zeitschrift rur Semiotik, Jg. 5 1983, H. 1. 34 Georg Simmel, Zur Philosophie des Schauspielers, in: G.S., Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse. Einleitung von Michael Landmann, Frankfurt/ Mo 1968, S. 75-95, S. 75f. 35 Ebenda, S. 78. 36 Zu dieser in der Aufklärung begonnenen Diskussion vgl. Teil 11 der vorliegenden Arbeit. 37 Helmuth Plessner, Zur Anthropologie des Schauspielers (1948), in: H.P., Zwischen Philosophie und Gesellschaft (1953), Frankfurt/ M. 1979, S. 205-219. 38 Alfred Lorenzer, Über den Gegenstand der Psychoanalyse oder: Sprache und Interaktion, Frankfurt/ M. 1973, S. 102. 39 Zu dieser Problematik vgl. den von D. Kamper und V. Rittner herausgegebenen Sammelband: Zur Geschichte des Körpers, München 1976. 40 Der Begriff des Körpertextes, der rur unseren Zusammenhang in beson- <?page no="191"?> 191 derer Weise geeignet erscheint, wurde von Günther Lohr in seiner Frankfurter Dissertation: Körpertext. Historische Semiotik der komischen Praxis vom Cinquecento bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, 1979, geprägt. 41 Diesen Begriff hat, worauf in Anm. 13 bereits hingewiesen wurde, Michael Bachtin in die Literaturwissenschaft eingeführt. Da er mit diesem Tenninus jedoch die Vielstimmigkeit eines von einem Subjekt geschaffenen Textes im Sinne von dialogischen Beziehungen, die einen Text konstituieren, und damit eine bestimmte Form der Intertextualität meint, den Kristeva heute mit dem Terminus der Polylogie gefaßt und bekanntgemacht hat, halte ich es für vertretbar, den Ausdruck der Polyphonie nachfolgend auf den hier skizzierten Sachverhalt anzuwenden. 42 Vgl. hierzu J. Kristeva, Polylogue, a.a.O. 43 Vgl. hierzu Manfred Pfister, Das Drama, München 1977, spez. S. 2449. 44 Auf die Zeichenhaftigkeit der Stimme hat in letzter Zeit vor allem Helga Finter wieder die Aufmerksamkeit gelenkt. Vgl. hierzu Helga Finter, Die Soufflierte Stimme, in: Theater heute, H. 1, 1982, S. 45-51, sowie dieselbe, Die Theatralisierung der Stimme im Experimentaltheater, Vortrag, gehalten auf dem 4. Semiotischen Kolloquium in Hamburg, in: Klaus Oehler (Hrsg.), Zeichen und Realität, Wiesbaden 1984. 45 Vgl. hierzu meine Ausführungen zur Raumkonzeption des Barocktheaters im 11. Teil der vorliegenden Arbeit. 46 Zur Theorie der Übersetzung vgl. u.a. Wolfram Wilss (Hrsg.), Semiotik und Übersetzen, Tübingen 1980. 47 Zu der Einteilung des literarischen dramatischen Textes in Haupt- und Nebentext s. Roman Ingarden, Von den Funktionen der Sprache im Theaterschauspiel, in: R.I., Das literarische Kunstwerk, Tübingen 1960, S.403425. 48 Zur nachfolgenden Zusammenfassung vgl. die entsprechenden Abschnitte über Diderot und Lessing im 11. Teil der vorliegenden Arbeit. 49 Dies führt Diderot am Beispiel der Schachpartie aus, die der Taubstumme für ihn verloren glaubt. S. Denis Diderot, Brief über die Taubstummen, in: D.D., Ästhetische Schriften, hrg. von Friedrich Bassenge, 2 Bde., Frankfurt/ Mo 1968, Bd. 1, S. 27-97, S. 36f. 50 Ebenda, S. 34. 51 Vgl. hierzu Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon, in: G.E. L., Werke, 6. Bd.: Kunsttheoretische Schriften, München 1974, sowie G.E. L., Hamburgische Dramaturgie, vor allem: 5. Stück, in: Werke, 4. Bd.: Dramaturgische Schriften, 1973, S. 256f. 52 Charles Sanders Peirce, Schriften 11, Vom Pragmatismus zum Pragmatizismus. Mit einer Einführung hg. v. Karl-Otto Apel, Frankfurt/ M. 1970, S. 352f. Der Interpretant eines Zeichens "umfaßt alles, was an dem Zeichen selbst explizit ist, unabhängig von seinem Kontext und den Umständen, unter denen es ausgesprochen wurde" (ebenda, S. 472). Zum Begriff des Interpretanten vgl. u.a. auch Umberto Eco, Einführung in die Semiotik, München 1972, Das Interpretans, S. 76-8l. 53 Zweifellos verändern beide die bis dahin geltende dramatische Norm grundlegend, ohne allerdings den Anspruch aufzugeben, ihrerseits eine neue "richtige" Norm zu fonnulieren, die von nun an Gültigkeit besitzen soU. <?page no="192"?> 192 54 In diesem Zusammenhang ist die in neueren Identitätstheorien, vor allem denen des Symbolischen Interaktionismus, herausgearbeitete Funktion sowohl des Namens als auch des Körpers, als Identitätsdokument verstanden zu werden, von besonderem Interesse. Name und Körper weisen also beide auf die Identität der Rollenfigur hin und sind hinsichtlich dieser Funktion miteinander austauschbar. Vgl. zu der Funktion von Namen bzw. Körper u.a. Jean Marie Benoist (Hrsg.), Identität. Ein interdisziplinäres Seminar unter Leitung von Claude Levi-Strauss, Stuttgart 1980, David J .D. Levita, Der Begriff der Identität, Frankfurt/ M. 1976 2 , Georg H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt/ M. 1975 2 , Gregory P. Stone, Appearance and the Self, in: Arnold M. Rose (ed.), Human Behavior and Social Processes, An Interactional Approach, London 1962, pp. 86-118, Anselm Strauss, Spiegel und Masken, Frankfurt/ M. 1974. 55 Zum Problem der Texthermeneutik vgl. in diesem Zusammenhang Erika Fischer-Lichte, Bedeutung - Probleme einer semiotischen Hermeneutik und Ästhetik, München 1979. 56 Zum Begriff des ästhetischen Objekts vgl. ebenso wie vorher zum Begriff des Artefaktes Jan Mukarovsky, Ästhetische Funktion, Norm und ästhetischer Wert als soziale Fakten, a.a.O. 57 Vgl. hierzu Ansgar Hillach, Sprache und Theater, in: Sprachkunst 1,1970, S. 256-259, u. 2,1971, S. 299-328. 58 Auch Jolanta Brach betont bereits in ihrer frühen Arbeit, daß bei der Transformation eines dramatischen Textes in eine Aufführung Bedeutungen übertragen werden sollen. Dies scheint ihr vor allem deswegen möglich zu sein, weil die theatralischen Zeichen keine lexikalisch festgelegten Bedeutungen haben. Vgl. hierzu J. Brach, 0 znakach literackich i znakach teatralnych, in: Studia Estetyczne, 2, Warszawa 1965, S. 241-259. 59 Das Problem der Transformation nimmt also die Frage nach der kleinsten bedeutenden Einheit wieder auf, wenn auch in modifizierter Form, weil zunächst von den Einheiten des literarischen Textes des Dramas ausgegangen wird. Vgl. hierzu Teil I, 5.2 Gliederung und Hierarchisierung, der vorliegenden Arbeit. 60 Osinski nimmt auch eine Dreiteilung vor, allerdings unter anderen Gesichtspunkten. Er unterscheidet: 1. das realistische Modell: die substantielle Übersetzung mit Orientierung auf die Substanz des literarischen Werkes; 2. das antirealistische Modell: die substantielle Übersetzung mit Orientierung auf die theatralische Substanz; 3. das kreative Modell: die funktionale Übersetzung mit Orientierung auf die Analogie der Strukturen (Strukturhomologie). Vgl. hierzu Zbigniew Osinski, Przektad tekstu literackiego na jyzyk teatru. (Zarys problematyki), in: Jan Trzynadlowski, Dramat i Teatr, Wroctaw 1967, S. 119-156. An dieser Einteilung scheint mir die Ausrichtung auf bestimmte Stilformen wie realistisch/ antirealistisch nicht glücklich zu sein. Denn beide von Osinski beschriebenen Varianten (1. und 2. Modell) sind durchaus sowohl in einer realistischen als auch in einer antirealistischen Aufführung möglich. Aus diesem Grunde habe ich die Unterscheidung linear-strukturell-global vorgezogen. Denn sie legt die einzelnen Modi nicht apriori auf bestimmte Stilprinzipien fest. 61 Vgl. hierzu Erika Fischer-Lichte, The Dramatic Dialogue - Oral or Literary Communication? , in: A. van Kesteren/ H. Schmid (eds.), Drama, Theatre and Semiotics, Amsterdam 1983. <?page no="193"?> 193 62 Diese Feststellung hat in ähnlicher Form bereits VeltruskY getroffen. Vgl. hierzu Jjfj VeltruskY, Dramatic Text as a Component of Theater, in: L. Matejka/ J.R. Titunic (eds.), Semiotics of Art. Prague School Contribution, Cambridge/ Mass. 1976, pp. 94-117. 63 Zur Theorie der Leerstellen vor allem in narrativen Texten vgl. Wolfgang Iser, Der implizite Leser, München 1972, derselbe, Der Akt des Lesens, München 1976. 64 Vgl. zu diesen Überlegungen Tadeusz Kowzan, Le texte et le spectacJe. Rapports entre la mise en scene et la parole, in: Cahiers de l'association internationale des etudes francaises, 1, 1969, p. 63-72. 65 Während Coseriu im Hinblick auf die interlinguale Übersetzung mit Nachdruck darauf hinweist, daß nicht die Bedeutungen des Textes, sondern "durch die Bedeutungen der anderen Sprache" "die gleiche Bezeichnung und der gleiche Sinn" wiedergegeben werden, ist beim Prozeß des intersemiotischen Übersetzens eines Dramas in eine Aufführung die historische Bedingtheit der Bezeichnungen (im Sinne der genauen Angaben) zu berücksichtigen. Vgl. hierzu Eugenio Coseriu, Falsche und richtige Fragestellungen in der Übersetzungstheorie, in: Nobel Symposium 39. Theory and Practice of Translation, ed. by 1. Grahs/ G. Korlen/ B. Malmberg, Bern/ Frankfurt/ M./ Las Vegas 1978, pp. 17-32, Zitat S. 21. 66 Will man dagegen gerade den historischen Abstand bewußtmachen und zu diesem Zweck die genannten Geftihle der Lächerlichkeit preisgeben, ist die korrekte Ausftihrung derartiger Szenenanweisungen sicher ein effektives Mittel. 67 Zu derartigen sprachlichen Zeichen im literarischen Text vgl. u.a. Ernest W.B. Hess-Lüttich, Drama, Silence and Semiotics, in: Kodikas/ Code, Vol. 1, 1979, No. 2, pp. 105-120. 68 Im Gegensatz zu Raszewski, Skwarczynska, Pfister u.a. gehe ich also nicht davon aus, daß das Drama nur als "Partitur" ftir die Aufführung und in diesem Sinne andererseits selbst schon als plurimedialer Text anzusehen ist. Ich insistiere vielmehr mit allem Nachdruck auf der ästhetischen Eigenart und Autonomie beider. S. hierzu Zbigniew Raszewski, Partytura Teatralna, in: Pamiytnik Teatralny, rok VII, 1958, z. 3/ 4 (27/ 28), S. 380412, Stefania Skwarczynska, Wokot Teatru i Literatury, Warszawa 1970, Manfred Pfister, Das Drama, a.a.O. 69 Dies gilt nicht nur für theatralische, sondern ftir alle Arten von Texten. Bereits Schleiermacher hatte bemerkt, "daß jeder Akt des Verstehens die Umkehrung eines Aktes des Redens ist". (Fr. D.E. Schleiermacher, Hermeneutik, nach den Handschriften neu herausgegeben und eingeleitet von Heinz Kimmerle, Heidelberg, 1959, S. 80), wodurch er den Bezug der Hermeneutik auf die Rhetorik begründet sah. 70 Zur Geschichte der Hermeneutik als Auslegungslehre vgl. u.a. E. Betti, Allgemeine Auslegungskunst als Methodik der Geisteswissenschaft (1955), Tübingen 1967, G. Ebeling, Hermeneutik. In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Hrsg. K. Galling, Bd. 3, 3. völlig neu bearbeitete Auflage, Tübingen 1959, Sp. 242-262, W.H. Friedrich, Allegorische Interpretation. In: Fischer- Lexikon Literatur 11, 1. Teil, hrg. v. W.-H. Friedrich und W. Killy, Frankfurt/ Mo 1965, S. 18-23, H. Kimmerle, Die Hermeneutik Schleiermachers im Zusammenhang seines spekulativen Denkens, Diss. Heidelberg 1957, <?page no="194"?> 194 F. Ohly, Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter, in: Zf. f. dt. Altertum und dt. Lit., Bd. 89, 1958/ 9, S. 1-23, Sonderausg. d. Wiss. Buchges. Darmstadt 1966 (= Libelli, Bd. 218), Peter Szondi, Einftihrung in die literarische Hermeneutik, Studienausgabe der Vorlesungen Bd. 5, Frankfurt/ Mo 1975, 1. Wach, Das Verstehen. Grundzüge einer Geschichte der hermeneutischen Theorie im 19. Jahrhundert. I.-III. Reprographischer Nachdruck d. Ausg. Tübingen 1926-33, Hildesheim 1966. 71 Diese Tradition der Hermeneutik wurde von Dilthey begründet und vor allem von M. Heidegger und H.-G. Gadamer weiterentwickelt. Vgl. hierzu vor allem: W. Dilthey, Die Entstehung der Hermeneutik, in: Gesammelte Schriften, Stuttgart/ Göttingen, Bd. 5, 1961, S. 317-338, M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1927, H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960. 72 Gadamer, Wahrheit und Methode, a.a.O., S. 279. 73 Vgl. hierzu E. Fischer-Lichte, Zum Problem der Bedeutung ästhetischer Zeichen, in: Kodikas/ Code, Vol. 3.1980 S.269-283. 74 P. Szondi, L'hermeneutique de Schleiermacher, in: Poetique, H. 2,1970, S. 141-155. 75 Vgl. hierzu M. Frank, Das individuelle Allgemeine, Frankfurt/ M. 1977. 76 Vgl. hierzu E. Fischer-Lichte, Bedeutung - Probleme einer semiotischen Hermeneutik und Ästhetik. a.a.O. 77 Gadarner, Wahrheit und Methode, a.a.O., S. 261. 78 Stegmüllers Einwände gegen den Begriff des "Vorurteils", daß er a) weder der Umgangssprache entnommen, b) noch als terminus technicus eigens definiert sei, noch auch c) als theoretischer Begriff aufgefaßt werden könne, weil eine entsprechende Theorie nicht formuliert sei, erscheinen nicht ganz stichhaltig. Denn Gadamers Theorie des Verstehens entfaltet den Begriff auf eine Weise, daß er als die Summe derjenigen internalisierten Denk- und Verhaltensmuster bestimmt werden kann, welche handlungsleitend sind, ohne in dieser Eigenschaft reflektiert worden zu sein. Wohl ist Stegmüller voll und ganz in der Forderung zuzustimmen, daß ein Wissenschaftler selbstverständlich "in klaren Begriffen ... reden und außerdem einen klaren Standpunkt beziehen können" (S. 31) muß, aber der Begriff des Vorurteils läßt sich durchaus in einer Weise bestimmen und verwenden, daß ihm das Prädikat "klar" zugesprochen werden kann. Vgl. hierzu W. Stegmüller, Walther von der Vogelweides Lied von der Traumliebe und Quasar 3 C273. Betrachtungen zum sogenannten Zirkel des Verstehens und zur sogenannten Theorienbeladenheit der Beobachtungen. Wesentlich erweiterte und verbesserte Fassung eines Vortrages, gehalten anläßlich des Deutschen Philosophenkongresses, Kiel 1972, in: W. S., Rationale Rekonstruktion von Wissenschaft und ihrem Wandel, Stuttgart 1979, S. 27-86. 79 Gadamer, Wahrheit und Methode, a.a.O., S. 261. 80 Selbstverständlich ist auch in diesem Zusammenhang auf meiner andernorts geäußerten Kritik an Gadamers Traditionsbegriff zu insistieren. Denn Gadamer hypostasiert die Überlieferung auf eine Weise, daß sie als eine Art selbstreguliertes System erscheint, das sich auch hinter dem Rücken bzw. über die Köpfe der von ihm betroffenen Subjekte hinweg durchsetzt. Nur so ist seine Definition des Verstehens, daß es "selbst nicht so sehr als eine Handlung der Subjektivität zu denken (sei), sondern als Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen" (a.a.O., S. 274f.) zu verstehen, gegen die <?page no="195"?> 195 wiederholt Kritik vorgetragen worden ist. Vgl. hierzu u.a. M. Frank, Das individuelle Allgemeine, a.a.O., spez. S. 20-34, J. Habermas, Zu Gadamers 'Wahrheit und Methode', in: Hermeneutik und Ideologiekritik, Theorie- Diskussion, Frankfurt/ M. 1971, S. 45-56 sowie die zitierte Schrift der Verf., Bedeutung - Probleme einer semiotischen Hermeneutik und Ästhetik, a.a.O., spez. S. 146-153. 81 Auf die Eigenart dieses Vorgangs werde ich im Zusammenhang mit dem hermeneutischen Zirkel näher eingehen. S. dazu weiter unten! 82 Zu diesem Problem habe ich mich ausführlich geäußert in E. Fischer- Lichte, Bedeutung - Probleme einer semiotischen Hermeneutik und Ästhetik, a.a.O., sowie dieselbe, Literaturdidaktik als ästhetische Reflexion, in: R. Schäfer (Hrg.), Germanistik und Deutschunterricht, München 1979, S.44-73. 83 Wie wir dies beispielsweise im 11. Teil der vorliegenden Arbeit für den theatralischen Code im Übergang vom Barock zur Aufklärung gezeigt haben. 84 Natürlich läßt sich eine Aufführung der Peking-Oper beispielsweise auch mit anderen ästhetischen Kriterien rezipieren als sie vom entsprechenden theatralischen Code vorgegeben und gefordert werden, und zweifellos kann eine derartige Rezeption auch einen hohen ästhetischen Genuß bereiten. Der Begriff des Verstehens ist auf sie allerdings nicht anwendbar. Denn dies würde verlangen, daß der dieser Aufführung zugrundeliegende, in einer fremden Kultur unter spezifischen Bedingungen entwickelte Code sowohl in seiner vorliegenden Form gelernt als auch auf jene spezifischen Bedingungen seiner Entstehung hin untersucht werden müßte. Die kulturelle Distanz läßt sich nicht dadurch überspringen, daß sie ignoriert und die entsprechende Aufführung nach den in unserer Kultur entwickelten Maßstäben rezipiert wird, sondern nur durch reflektierte Auseinandersetzung mit der Fremdheit dieser Kultur lediglich überbrücken. 85 Ohne eine solche Möglichkeit ist dagegen die Rezeption literarischer Texte vergangener Epochen kaum denkbar. 86 Vgl. hierzu die Konstruktion dieses theatralischen Codes im 11. Teil der vorliegenden Arbeit. 87 Diese Homogenität war dem bürgerlichen Illusionstheater von der Aufklärung bis zum Einsetzen der historischen Avantgarde-Bewegungen durch den deutlichen Bezug auf eine gesellschaftliche Klasse, nämlich das Bürgertum, garantiert. 88 Vgl. hierzu E. Fischer-Lichte, Theatrical Communication, in: Andre Helbo (ed.), Actes du colloque Semiologie du spectac1e, a.a.O. 89 Dies ist z.B. dann der Fall, wenn einer Aufflihrung, wie beispielsweise im modernen Musiktheater eines Kagel, das Prinzip der Aleatorik zugrundegelegt wird. Vgl. hierzu Christine Finkbeiner, Aspekte des Allegorischen in der Neuen Musik, Diss. Frankfurt/ M. 1981. 90 Als derartige Strukturketten, bei denen vorausgesetzt werden kann, daß sie auch einem ansonsten inhomogenen Publikum unserer Kultur in gleicher Weise bekannt sind, werden häufig Comics, Kriminalfilme, Western u.ä. verwendet. Ihnen werden bestimmte Personen-, Verhaltens- oder Raumvorstellungen quasi als Stereotypen entlehnt, durch deren Aktualisierung eine allgemeine Basis geschaffen wird, von der aus dann speziellere Bedeutungen konstituiert werden können. <?page no="196"?> 196 91 Derartige Verfahren der Bedeutungskonstitution lassen sich im avantgardistischen Theater eines Richard Foreman oder RobertWilson nachweisen. 92 Vgl. dazu einerseits die philosophischen Arbeiten von Theodor Abel, The Operation Called "Verstehen", in: Fergl/ Brodbeck (eds.), Reading in the Philosophy of Science, New Vork 1953, S. 677ff. und W. Stegmüller, Walther von der Vogelweides Lied von der Traumliebe, a.a.O., sowie die literaturwissenschaftlichen Arbeiten von Heide Göttner, Die Logik der Interpretation. Analyse einer literaturwissenschaftlichen Methode unter kritischer Betrachtung der Hermeneutik, München 1979, S. 62ff., spez. S. 131ff. und Siegfried 1. Schmidt, Literaturwissenschaft als argumentierende Wissenschaft, München 1975, spez. S. 196ff. 93 M. Frank, Das individuelle Allgemeine, a.a.O., S. 308. 94 Mit diesem Einwand setzt sich vor allem M. Frank kritisch auseinander. Vgl. hierzu 'Das individuelle Allgemeine', a.a.O., S. 305-313. 95 Vgl. hierzu die angegebenen Arbeiten von Göttner, Schmidt und Stegmüller. 96 Sofern der hermeneutische Zirkel nur als diese spezifische Teil-Ganzes- Relation begriffen wurde, ist er in der Geschichte der Hermeneutik vor allem des 18. und des frühen 19. Jahrhunderts durchaus als auflösbar angesehen worden. Vgl. hierzu P. Szondi, Einflihrung in die literarische Hermeneutik, a.a.O. 97 Entsprechend unterscheidet Schleiermacher ebenso viele Anwendungen des Zirkels wie er Ebenen von jedesmal die vorige an Allgemeinheit übertreffenden Wechselbeziehungen ausdifferenziert zwischen 1. Einzelvorkommen eines Wortes und Zusammenhang des Satzes, 2. Satz und Rede, 3. a) Rede und einzelne Schrift eines Autors, b) Hauptgedanken und Nebengedanken einer Schrift, 4. a) Einzelwerk eines Autors und 'ganzer Literatur' eines Zeitalters, b) Einzelwerk und Lebenstotalität eines Autors, 5. Lebens- und Werk-Totalität des Autors und 'gemeinsamem Geist' des Zeitalters. (Hermeneutik, a.a.O., S. 147ff.) Wie hieraus zu entnehmen, lassen sich Ebenen immer größerer Allgemeinheit konstruieren, die weit über die allein vom Text konstituierten Ebenen hinausgehen. 98 Vgl. hierzu A.J. Greimas, Strukturale Semantik, Braunschweig 1971. 99 Zu den folgenden nur knapp skizzierten Überlegungen vgl. ihre ausflihrliche Begründung in E. Fischer-Lichte, Bedeutung - Probleme einer semiotischen Hermeneutik und Ästhetik, a.a.O., dieselbe, Zur Konstitution ästhetischer Zeichen, in: H. Sturm/ A. Eschbach (Hrsg.), Ästhetik und Semiotik, Tübingen 1981, S. 17-28. 100 Jan Mukarovsky, Ästhetische Funktion, Norm und ästhetischer Wert als soziale Fakten, a.a.O., S. 97. Zu dieser Bestimmung der Eigenart des ästhetischen Zeichens durch Mukarovsky vgl. meine Ausflihrungen in Bedeutung - Probleme einer semiotischen Hermeneutik und Ästhetik, a.a.O., Literaturdidaktik als ästhetische Reflexion, a.a.O., Zur Konstitution des ästhetischen Zeichens, a.a.O., Zum Problem der ästhetischen (Re-)Konstruktion von Wirklichkeit, in: Klaus Oehler (Hrsg.), Zeichen und Realität, a.a.O., Kunst und Wirklichkeit, a.a.O. <?page no="197"?> 197 101 Jean-Paul Sartre, Was ist Literatur? Reinbek b. Hamburg 1958, S. 29. 102 Zur Veränderung des Bedeutungssystems beim Rezipienten durch den Rezeptionsprozeß vgJ. meine diesbezüglichen ausführlichen Darlegungen in: Bedeutung - Probleme einer semiotischen Hermeneutik und Ästhetik, a.a.O.,sowie in: Literaturdidaktik als ästhetische Reflexion, a.a.O. 103 Denn aus der Subjektivität des konstituierten Sinnes ist auf logischem Wege kaum eine wie auch immer geartete - Subjektivität der Methode zur Konstitution dieses Sinnes abzuleiten. Es ist daher sowohl allen denen energisch entgegenzutreten, welche meinen, Interpretation lasse sich nur durch einen unkontrollierbaren Akt subjektiver Einfühlung vollziehen, als auch denen, die mit der Forderung nach einer intersubjektiv nachvollziehbaren Methode jeglichen subjektiven Anteil an Prozessen der Bedeutungs- und Sinnkonstitution kompromißlos ausgeschlossen wissen wollen, weil für sie aus der Subjektivität des Sinnes mit Notwendigkeit die Subjektivität - und d.h.: Unwissenschaftlichkeit der Methode folgt. 104 Zur entsprechenden wissenschaftstheoretischen Problematik vgJ. u.a. H. Albert, Plädoyer für einen kritischen Rationalismus, München 1971, W.K. Essler, Wissenschaftstheorie, FreiburglMünchen 1970/ 1, D. Freundlieb, Hermeneutics versus Philosophy of Science, in: Poetics 13, S. 47- 105, H. Kuhn, Methodenlehre, in: D. Krywalski (Hrg.), Handlexikon zur Literaturwissenschaft, München 1974, S. 306-310, F. v. Kutschera, Wissenschaftstheorie, 2 Bde., München 1972, W. Leinfellner, Einführung in die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, 2. Aufl., Mannheim 1967, W. Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Berlin/ Heidelberg/ New York 1969ff. 105 VgJ. hierzu M. Frank, Das individuelle Allgemeine, a.a.O., S. 305ff. 106 Der Begriff Zeichen meint hier also nicht nur die Zeichen auf der elementaren Ebene, sondern ebenfalls die Einheit auf höheren Ebenen semantischer Kohärenz, wie ein Kostüm, ein Lied, eine Dialogsequenz, eine Dekoration, eine Person. Diese Zeichen werden andernorts als Superzeichen definiert; bei dieser Bestimmung bleibt die Abgrenzung der unterschiedlichen Komplexitätsgrade problematisch. Ich werde deshalb von der Unterscheidung der Zeichen nach Ebenen semantischer Kohärenz ausgehen. 107 Lotman, Die Struktur des literarischen Textes, a.a.O., S. 27. 108 VgJ. hierzu auch Michael Titzmann, Strukturale Textanalyse, Theorie und Praxis der Interpretation, München 1977. 109 Diese Wechselbeziehung ist jedoch nicht als zirkelhaft, sondern lediglich als komplementär zu bezeichnen, wenn sie im Hinblick auf bestimmte Ziele und Aspekte der Untersuchung betrachtet wird. 110 VgJ. hierzu Michael Titzmann, Strukturale Textanalyse, a.a.O., speziell die elementaren Interpretationsregeln S. 20ff. 111 Das Postulat der Widerspruchsfreiheit ergibt sich aus der Logik. Denn aus einander widersprechenden, aber gleichzeitig als wahr behaupteten Aussagen läßt sich jede beliebige Aussage ableiten. Dieses Postulat schließt nicht den Fall aus, daß der analysierte Text Widersprüche enthält. Deren Funktion aufzuklären, wäre vielmehr Aufgabe der Analyse. Dabei darf sie sich nur nicht selbst in Widersprüche verwickeln. 112 Das Element, über das eine Aussage gemacht wird, muß also auch tatsächlich im Text selbst und nicht lediglich in der Vorstellung des Interpreten <?page no="198"?> 198 gegeben sein. Ist es aber in diesem Sinne ein Textbefund, so kann es auch von jedem beliebigen Rezipienten als tatsächlich gegeben bestätigt werden. 113 Aus dem Rekurs auf den Textbefund kann eben nicht auf die "Richtigkeit" der Deutung geschlossen werden. Deswegen kann auch Titzmanns Interpretationsregel lc nicht übernommen werden, die besagt: "Interpretatorische Aussagen müssen unmittelbar oder mittelbar empirisch nachprüfbar, d.h. verifizierbar bzw. falsifizierbar sein." (22) Überprüfbar in diesem Sinne sind nur beschreibende, nicht aber aus ihnen abgeleitete deutende Sätze. Denn sie sind, wenn der entsprechende beschreibende Basissatz wahr ist, nicht auch "richtig" oder "falsch", sondern lediglich "berechtigt" oder "nichtberechtigt", "plausibel" oder "nicht-einsichtig". 114 Diese Möglichkeit wurde bereits von den Russischen Formalisten erkannt und mit Hilfe des Wechsels Automatisierung/ Deautomatisierung theoretisch begründet. 115 Diesen Gesichtspunkt hebt vor allem Kristeva hervor, wenn sie die poetische Sprache als "Semiotisierung des Symbolischen" beschreibt. Vgl. dazu auch M. Frank, Das Sagbare und das Unsagbare, Frankfurt/ M. 1980. 116 Diese Erweiterung intendiert m.E. auch Eco, wenn er von der "Dialektik zwischen Codes und Botschaften" spricht, "wo die Codes zwar die Hervorbringung der Botschaften lenken, aber neue Botschaften die Codes umstrukturieren können". (Einführung in die Semiotik, München 1972, S.143) 117 Vgl. hierzu Teil I, Kap. 5.2 Gliederung und Hierarchisierung; zur angesprochenen Problematik s. T. Kowzan, Litterature et spectacIe, Warszawa 1972, F. Ruffini, Semiotica dei teatro: la stabilizzazione dei senso. In: Biblioteca teatrale 12, 1975, S. 205-239, P. Hamon, Pour un statut semiologique du personnage, in: Poetique du redt, Paris 1977, S. 115- 180, S. Jansen, Entwurf einer Theorie der dramatischen Form, in: J. Ihwe (Hrg.), Literaturwissenschaft und Linguistik, Bd. 2, Frankfurt/ Mo 1973, S. 215-245. 118 Diese Verwechslung beeinträchtigt auch die ansonsten sehr bedenkenswerten Ansätze Marco de Marinis. Vgl. hierzu Problem i e aspetti di un approccio semiotico al teatro, in: Lingua e stile; Anno X, 1975, no. 2, S. 343-347, Lo spettacolo come testo, in: Versus 21, 1978, S. 66-104 (I) sowie Versus 22,1979, S. 3-31 (Il). 119 Vgl. hierzu die in Teil I hinsichtlich der einzelnen am theatralischen Prozeß möglicherweise beteiligten Zeichensysteme unternommenen Versuche, sie in kleinste bedeutende Einheiten und kleinste unterscheidende Züge zu zergliedern. Die dort dargestellte Problematik wird sich natürlich entsprechend bei der Erstellung der elementaren Ebene bemerkbar machen. 120 Dies ist häufig der Fall bei avantgardistischen Aufführungen, in denen insignifikante Elemente, ftir die in der Regel im Bedeutungssystem des Rezipienten keine Stelle vorgesehen ist, eingeführt werden und im Laufe der Aufführung aufgrund interner Um kodierungen Bedeutungen erhalten. 121 Vgl. zu diesem Problem auch weiter unten Abschnitt 2.3 Zur Anwendung der Methode. 122 Das Verfahren der parallelisierenden Isotopieerstellung steht natürlich in engem Zusammenhang mit der von Kowzan ausgearbeiteten Systematik der theatralischen Zeichen. Es liegt entsprechend auch den von <?page no="199"?> 199 Kowzan angeregten und betreuten Analysen zugrunde, die Studenten an der Universität Lyon durchgeftihrt haben (s. Analyse semiologique du spectacle tMatral Etudes dirigees et prt! sentees par T. Kowzan. Universite Lyon 11, Centre d 'Etudes et de Recherches ThM.trales 1976). Dieses Verfahren wendet auch A. Eschbach an. S. hierzu A. Eschbach, Pragmasemiotik und Theater. Ein Beitrag zur Theorie und Praxis einer pragmatisch orientierten Zeichenanalyse, Tübingen 1979. 123 Dies gilt natürlich vorrangig für Aufftihrungen, in denen ein innovativer Einsatz eines Zeichensystems bzw. einer Gruppe von Zeichensystemen wie beispielsweise der kinesischen oder der architektonischen Zeichen erfolgt. 124 In der dramentheoretischen Diskussion, die um die Begriffe "Handlung" und "Geschehen" von Aristoteles bis Brecht geftihrt wurde, wird vor allem auf diese Art der Einteilung zurückgegriffen. Vgl. hierzu u.a. Manfred Pfister, Das Drama, a.a.O., Kap. 6. Geschichte und Handlung, S. 265-326, wo diese Diskussion resümiert und ihrerseits im Hinblick auf Ergebnisse der neueren Narrativitätsforschung (z.B. C. Bremond, Logique du recit, Paris 1973, AJ. Greimas, Elements d'une grammaire narrative, Paris 1970, T. Todorov, La grammaire du recit, in: Langages 12, 1968, S. 94-102) erörtert wird. 125 In diesem Sinne kann bei dieser Art der Segmentierung der Aufftihrung selbstverständlich auf Resultate entsprechender dramentheoretischer Untersuchungen, welche die Kategorie der Situation oder Szene in den Vordergrund stellen, rekurriert werden. (S. hierzu U.a. R. Grimm und D. Kimpel, Situationen, in: Grimm/ Wiedemann (Hrg.), Literatur- und Geistesgeschichte, Festgabe ftir O. Burger, Berlin 1968, S. 325-360, A. Hübler, Drama in der Vermittlung von Handlung, Sprache und Szene, Bonn 1973, S. Jansen, Qu'est-ce qu'une situation dramatique? in: Orbis Litterarum, 28, 1973, S. 235-292, H.C. Lancaster, Situation as a Term in Literary Criticism, in: MLN 59, 1944, S. 392-395, G. Polti, Les 36 situations dramatiques, Paris 1895, D. Schnetz, Der moderne Einakter. Eine poetologische Untersuchung, Bern 1967, R. Scholes, The Dramatic Situations of Etienne Souriau, in: Structuralism in Literature. An Introduction, New Haven 1974, S. 50-58, E. Souriau, Les deux cent mille situations dramatiques, Paris 1950, L. Spitzer, Situation as a Term in Literary Criticism again, MLN 72,1957, S. 124-128, K. Weigand, Situation und Situationsgestaltung in der Tragödie, Diss. Frankfurt/ M. 1941.) 126 Während von Aristoteles bis Lessing als opinio communis galt, daß die Handlung im Drama das Primäre sei, weswegen die Personen um der Handlung willen da seien, formuliert Lenz die Antithese, daß die Handlung nur zwecks Charakterisierung der Personen da sei. Dennoch stellt die Kategorie der Person schon vorher (bereits bei Aristoteles, ganz prononciert jedoch bei Diderot und Lessing) eine der wesentlichen dramentheoretischen Kategorien dar. 127 Selbstverständlich ist auch eine parallelisierende Segmentierung immer möglich, weil eine Aufftihrung stets unterschiedliche Zeichensysteme verwenden wird. Geschieht dies allerdings gemäß einer geltenden Konvention (wie beispielsweise heute beim Boulevardtheater), so erweist sich eine solche Segmentierung als wenig fruchtbar. - Eine syntagmenbildende Segmentierung ist dagegen in allen jenen Fällen kaum möglich bzw. extrem ungünstig, in denen es keine Handlung gibt, in denen eine Ge- <?page no="200"?> 200 schichte nicht erzählt wird wie häufig im avantgardistischen Theater (beispielsweise bei Robert Wilson). 128 Eine parallelisierende Segmentierung erscheint also immer dann zweckmäßig, wenn einzelne Zeichensysteme bzw. Gruppen von Zeichensystemen entweder auf ganz neue Art oder kontrastiv zueinander verwendet werden. 129 Während bei der Analyse der Handlung einer Aufführung generell ähnlichen Prinzipien gefolgt werden kann wie bei der Handlungsanalyse eines Dramas, muß die Personenanalyse von grundsätzlich anderen Prämissen ausgehen, da hier die äußere Erscheinung und die kinesischen Zeichen eine im Drama keineswegs immer vorgesehene Stelle einnehmen. 130 So läßt sich beispielsweise die Entwicklung einer Person nur aufgrund ihrer wechselnden Situierung in Raum und Zeit beschreiben. Der Segmentierung nach Personen muß entsprechend die nach Handlungsfolgen, nach Szenen an die Seite treten. 131 Vgl. hierzu auch weiter unten Abschnitt 2.3 Zur Anwendung der Methode. 132 Der erste Fall ist zweifellos in der neueren Theatergeschichte am häufigsten anzutreffen, so in Brechts Verzicht auf das Licht als bedeutungserzeugendem System, in der ersten Verwendung schwarzer Trikots im modernen Ballett, mit der zunächst das Kostüm als Signifikant geleugnet wird, in Handkes Verzicht auf gesprochene Worte in "Das Mündel will Vormund sein", das beispielsweise im Gegensatz zu Becketts "Actes sans paroles" ausdrücklich als Drama deklariert wird, wodurch seine Zuordnung zur Gattung der Pantomime ausgeschlossen ist. 133 Eine solche Abweichung stellte in der Theatergeschichte häufig den Beginn für einen allgemeinen Code-Wechsel dar. Heute dagegen ist sie in der Regel nur im Hinblick auf die betreffende Aufführung als Signifikant zu begreifen. 134 So stehen dem abendländischen Theater heute alle bekannten, jemals irgendwo gültigen theatralischen Normen als Material zur Verfügung. Wenn die Arbeiten beispielsweise der internationalen Truppe "Parapluie" die Kostüme mittelalterlicher Umzüge, Kostüme und Gesten der commedia dell'arte, Handlungsschemata und große pathetische Gesten des Melodramas etc. etc. verwenden, so aktualisieren sie damit ein Potential, das im Repertoire des theatralischen Codes als System enthalten ist. Aufgrund dieser heute gegebenen Möglichkeit, Elemente theatralischer Formen vergangener Zeiten und fremder Kulturen zu benutzen und auf diese Weise die jeweiligen theatralischen Formen, ihre Epochen bzw. Kulturen quasi zu zitieren, wird die Intertextualität in viel höherem Maße als in früheren Zeiten zu einem konstitutiven Faktor, der zu seiner Aktualisierung häufig eines enormen kulturellen Wissens bedarf. 135 Vgl. hierzu M. Titzmann, Strukturale Textanalyse, a.a.O., S. 86ff. 136 Zur Substitution vgl. auch Titzmann a.a.O., S. 104ff., wo diese für jedes strukturale Verfahren konstitutive Operation im Rückgriff auf unterschiedliche Autoren resümierend dargestellt wird. 137 Zum Begriff der Äquivalenz vgl. J. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, a.a.O., S. 143ff. 138 Entsprechend äußert sich auch Lotman. "Äquivalenz ist jedoch nicht gleich Identität. Der Umstand, daß Textabschnitte, die allgemein- <?page no="201"?> 201 sprachlich gesehen verschiedene Semantik haben, nun als äquivalent erscheinen, zwingt einerseits dazu, ftir sie gemeinschaftliche (neutralisierende) Archiseme zu entwickeln, und verwandelt andererseits ihre Differenzen in ein System relevanter Oppositionen." (a.a.O., S. 177) 139 Seit Trubetzkoj in seinen "Grundzügen der Phonologie", Prag 1939, den Begriff der Opposition eingeftihrt und die Oppositionen in privative, graduelle und äquipollente unterschieden hat, gehört sowohl dieser Be griff als auch diese Differenzierung zum Grundbestand einer jeden strukturalistischen Methode, in welchem Objektbereich auch immer. 140 Dies wird sich auch in unserer Analyse "Heinrich IV." zeigen, wo der Ähnlichkeit der Kostüme geradezu eine Schlüsselfunktion zukommt. 141 Vor allem bei der Untersuchung der Merkmale Position und Distribution zeigt sich, daß die Kategorien Raum und Zeit quasi als Koordinatensystem fungieren, in das die einzelnen Elemente der Aufftihrung einzutragen sind. Eine jede Analyse wird daher Raum und Zeit entsprechend zu berücksichtigen haben. 142 Aufgrund derartiger Korrelationen läßt sich eine mögliche Dominanz sozusagen mit Hilfe von objektiv gegebenen Textbefunden nachweisen, ohne daß auf so vage und unbrauchbare Kategorien wie den "Eindruck" rekurriert zu werden brauchte. 143 Diese Verfahren zählen heute zum Grundbestand der methodischen Möglichkeiten einer semiotischen Textanalyse. Vgl. hierzu vor allem die beiden einschlägigen Arbeiten von H.F. Plett, Textwissenschaft und Textanalyse, Heidelberg 1975 und M. Titzmann, Strukturale Textanalyse, a.a.O. 144 Der Rekurs auf das zugrundeliegende semiotische System ist bei den Prozeduren der internen und der externen Umkodierung also ebenso selbstverständliche Voraussetzung wie ftir die Durchführung der anderen Prozeduren. 145 Inszenierungen, die dieser Regel folgen, sind in den siebziger Jahren besonders häufig von den Regisseuren Zadek, Neuenfels und Peymann geschaffen worden. Man denke vor allem an ihre Klassiker-Inszenierungen (bei Zadek insbesondere an seine Shakespeare-Inszenierungen). 146 In diesem Fall gibt die Norm also nicht nur an, daß eine externe Umkodierung vorgenommen werden muß, sondern darüber hinaus auch die betreffenden außertextuellen Strukturketten, auf welche die einzelnen Elemente der Aufführung bezogen werden müssen, wenn sie eine Bedeutung erhalten sollten: die primären kulturellen Systeme. 147 Hierfür liefern sowohl die Arbeiten von Wilson und Foreman als auch diejenigen von Kagel und Ligeti zahlreiche Belege. 148 Luigi Pirandello, Dramen I/ II. Deutsch von Georg Richert, München 1962/ 3, Bd. I, S. 273-343, nachfolgend S. 324. 149 Hier liegt eindeutig der Fall einer mit theatralischen Zeichen gebildeten Synekdoche vor. Er erscheint hinsichtlich einer Rhetorik bzw. Poetik theatralischer Texte als lohnende Aufgabe zu untersuchen, auf welche Weise hier jeweils die klassischen Figuren der Rhetorik entwickelt werden und welche Figuren vor allem ein theatralisches Pendant finden. Das Feld einer theatrologischen Metapherologie ist noch weitgehend unbestellt. 150 Vgl. hierzu auch die in Kap. 3 durchgeführte Analyse der Beziehungen zwischen "Heinrich" und Donna Mathilde. <?page no="202"?> 202 151 Vonuwerfen ist also m.E. einem Regisseur nicht, daß er auf derartige private Elemente zurückgreift (denn sie können entweder die Erfahrung des Rezipienten erweitern oder sich einem aUge meinen Erfahrungsbereich zuordnen lassen), wenn er sie auf dem Wege interner Umkodierungen einfUhrt, sondern nur, daß er sie gegebenenfaUs als bekannt voraussetzt und zur Konstitution ihrer Bedeutung auf externe Umkodierung verweist es sei denn, jeder Rezipient soU diese Leerstelle aufgrund seiner eigenen privaten Erfahrung ruUen. 152 Inszenierung von Wilfried Minks an den Städtischen Bühnen Frankfurt, Spielzeit 1977/ 78. 153 So spricht "Heinrich" bereits im I. Akt von einem möglichen Feldzug gegen den Papst, den er' nur aus "politischer Klugheit" unterläßt (a.a.O., S. 306). Daneben evozieren "Heinrichs" Brustpanzer, die Beinschienen und die Turnierhandschuhe den Kontext mittelalterlichen Kampfes. 154 So spricht "Heinrich" in diesem wie im vorhergehenden Akt zu Donna Mathilde, der angeblichen Mutter seiner historischen Frau Berta, immer wieder über seine Beziehungen zu Berta, seine Gefühle fUr sie, die Möglichkeit, sie zu lieben. Wie in der ausfUhrlichen Analyse zu zeigen sein wird, bewirkt der Einsatz der theatralischen Zeichensysteme der Betonung, Mimik, Gestik. Be\l(egung und Musik, daß "Heinrichs" Aussagen über seine Beziehung zu Berta als Aussagen über seine Beziehung zu Donna Mathilde interpretiert werden können. 155 Städtische Bühnen Frankfurt, Spielzeit 1980/ 81. 156 Die Intertextualität ist entsprechend eine Folgeerscheinung externer Umkodierungen. Wenn Elemente des Textes nur unter der Bedingung eine Bedeutung erhalten können, daß sie auf den Text bezogen werden, dem sie entstammen, auf den sie durch ihren bloßen Einsatz wie ein Zitat anspielend verweisen, folgt daraus, daß die Intertextualität als Komplex derartige Verweisungen nur in paradigmatischen Bedeutungen, allein aufgrund externer Um kodierung sich konstituieren und realisiert werden kann: je höher der Anteil paradigmatischer Bedeutungen, desto gewichtiger die Intertextualität. 157 Eine derartige Differenz zwischen dem literarischen Text des Dramas und dem theatralischen der AuffUhrung wirft natürlich die Frage nach der Äquivalenz auf. Ganz offensichtlich hat Neuenfels aufgrund anderer literarischer Textelemente die Dichotomie zweier Kulturen als eine wichtige Bedeutung konstituiert -übrigens durchaus im Einklang mit Adornos berühmter, auch im Programmheft abgedruckter Interpretation - und für diese Dichotomie spezifische theatralische Zeichen gesucht (wie außer dem Stierschädel auch die Opposition zwischen Thoas mit Straßenanzug und Brille, auf dem Stuhl sitzend und ein Buch lesend, und Thoas halbnackt, mit tätowierter Haut, auf dem Boden hockend). Die Einführung von Elementen, die im literarischen Text nicht vorgesehen sind, stellt daher auch kein Argument gegen eine mögliche Äquivalenz dar. 158 Entsprechend sagt auch Iphigenie in IV, 2, zu Arkas: Nun/ Eil' ich mit meinen Jungfrau'n, an dem Meere / Der Göttin Bild mit frischer Welle netzend, / GeheimnisvoUe Weihe zu begehn. / Es störe niemand unsern stillen Zug! (V. 1436 - 1440) 159 Hier zeigt sich bereits deutlich, daß hermeneutische Prämissen und semiotische strukturale Methode einander keineswegs ausschließen, sondern, wie M. Frank es intendiert, miteinander zu vermitteln sind. Vgl. hierzu <?page no="203"?> 203 auch M. Frank, Das individuelle Allgemeine, a.a.O., S. 247ff. sowie den nachfolgenden Abschnitt 2.3. 160 Diese Frage hat anscheinend zuerst Roland Barthes in seiner Schrift "L'analyse structurale du recit. Apropos d'Actes X-XI", in: Recherches de science religieuse 58, S. 17-37 gestellt. Auch Titzmann geht ihr nach, beantwortet sie ähnlich wie wir (IR 42: Die TA kann ein beliebiges "Text"-Datum bzw. eine beliebige Klasse von "Text"-Daten als Ausgangspunkt wählen, sofern die jeweiligen Daten nur "beobachtbar" sind.), ohne allerdings diese Antwort näher zu begründen. (Strukturale Textanalyse, a.a.O., S. 368.) 161 Das Urteil, welches der Textelemente in besonderer Weise hinsichtlich der formulierten Ziele Relevanz besitzt, ist dem Rezipienten natürlich nur aufgrund einer gewissen Erfahrung im Umgang mit theatralischen Texten möglich. Denn ein "objektives" Kriterium für Relevanz gibt es nicht, da nichts an sich relevant ist, sondern die Regel gilt, daß x für einen Bereich y hinsichtlich eines Kriteriums z Relevanz besitzt. Zur Relevanz vgl. auch M. Titzmann, Strukturale Textanalyse, a.a.O., S. 343ff. Die Einschätzung der jeweiligen Relevanz hängt also weitgehend vom Subjekt des Rezipienten ab. 162 Titzmann bejaht diese Frage ausdrücklich. Auf seine hier bereits mehrfach zitierte Schrift möchte ich an dieser Stelle nochmals eindringlich hinweisen, auch wenn ich seine Thesen nicht in jedem Fall unterstütze. Hinter die von ihm gesetzten Standards für jedwede Textanalyse läßt sich allerdings m.E. nicht mehr zurückgehen. Deswegen sollte auch die "Strukturale Textanalyse" künftig für jede Analyse von Texten, die den Anspruch erhebt, wissenschaftlich ernst genommen zu werden, als Grundlage angesehen werden. - Dennoch habe ich, wie gesagt, gegen einzelne dort vorgetragene Prämissen und Schlußfolgerungen prinzipielle Einwände. Während Titzmann behauptet, daß es "zum jeweiligen Zeitpunkt genau eine optimale Textanalyse eines gegebenen Textes" gibt (S. 381), halte ich eine derartige These, wie nachfolgend auszuführen sein wird, nicht für hinreichend begründbar. Meines Erachtens ist Titzmann zu wenig bereit, sich überhaupt auf hermeneutische Prämissen einzulassen und sie ernsthaft in seine Überlegungen einzubeziehen, was wie M. Frank gezeigt hat durchaus möglich wäre. 163 Vgl. hierzu Franks Ausführungen zu Schleiermachers Grundsatz "Einen Autor besser verstehen als er sich verstand ". Das individuelle Allgemeine, a.a.O., S. 358ff. 164 Ganz ähnlich äußert sich Dan Sperber anläßlich der Kritik an Levi-Strauss' strukturalistischer Mythenbeschreibung: "Keine Grammatik erzeugt ... aus sich selbst die Gesamtheit der Mythen, ebensowenig wie der Apparat der visuellen Wahrnehmung an sich selbst die Gesamtheit aller möglichen Wahrnehmungen erzeugt. Der Apparat, der die Mythen erzeugen soll, hängt von einem äußeren Reiz ab und ähnelt den kognitiven Apparaten, steht den semiologischen Apparaten jedoch entgegen: es ist ein interpretatives und kein generatives System." (Über Symbolik, Frankfurt{M. 1975, S 121.) Sperbers Theorie der Symbolik in den Mythen ist weitgehend auf die Symbolik in der Kunst übertragbar und daher auch bei der Interpretation ästhetischer Texte in diesem Sinne zugrundezulegen. 165 Siehe hierzu Raoul Auger Feuillet, Choreographie, Paris 1701. <?page no="204"?> 204 166 Beauchamps Rechte als Urheber der Tanzschrift wurden von der französischen Regierung 1666 ausdrücklich anerkannt. Dennoch kam es nach Erscheinen von Feuillets Buch 1704 zu einem Prozeß um die Urheberrechte, die ausdrücklich Beauchamps zuerkannt wurden. 167 S. hierzu Rudolf von Laban, 1. Heft der Serie "Schrifttanz", Methodik, Orthographie, Erläuterungen, Wien 1928; derselbe, Principles of Dance and Movement Notation, London 1956. 168 S. hierzu: Die [ünfGrundsätze der Kinetographie Laban (Abb. Seite 205) "Erstens: Die Raumrichtung wird durch die Form und die Schattierung der Zeichen (siehe zweitens) dargestellt. Die Zeichen sind stilisierte Richtungspfeile (Fig. 1). Zweitens: Die Höhenlage und damit die dritte Dimension wird durch die Schattierung der Zeichen ausgedrückt. Figur 3a: Hohe Richtungen werden schraffiert. Figur 3b: Die mittlere Höhe wird durch einen Punkt im sonst leeren Zeichen ausgedrückt. Figur 3c: Tiefe Richtungen werden schwarz ausgefüllt. Drittens: Die Dauer der Bewegungen wird durch die Länge der Zeichen veranschaulicht (Figur 5 und 6). Viertens: Aus der Stellung der Zeichen im und am Liniensystem ist ersichtlich, welcher Körperteil bewegt werden soll (Figur 7). Fünftes: Die Zeichen werden von unten nach oben fortlaufend gelesen (Figur 7). Aus der Reihenfolge der Zeichen ist daher ersichtlich, wann eine Bewegung auszuführen ist. Mit jedem Schriftzeichen werden gleichzeitig folgende grundsätzliche Fragen beantwortet: Welcher Körperteil soll bewegt werden, wie lange dauert die Bewegung tmd wohin soll die Bewegung führen? In Beispiel 9 werden vier verhältnismäßig schnelle Schritte vorwärts gemacht, während der rechte Arm langsam nach rechts und der linke mit mittlerer Geschwindigkeit über vorne nach oben geführt wird. Dieselben Grundsätze werden auch für Drehungen angewandt. Aus der Form des Zeichens ersieht man, ob man über links (Figur 2a) oder über rechts (Figur 2b) drehen soll, aus der Länge der Zeichen ist ersichtlich, wie lange die Bewegung dauert (Figur 5 und 6) und aus der Stellung der Zeichen im Liniensystem wird ersichtlich, ob der ganze Körper (erste Spalte) oder ein einzelner Körperteil gedreht werden soll (siehe die anderen Spalten in Figur 7)." 169 Zur Labanotation vgl. außerdem A. Hutchinson, Labanotation, New York 1954, dieselbe, Labanotation or Kinetography Laban, New York 1970, A. Kunst, Abriß der Kinetographie Laban, München 1952, derselbe, A Dictionary of Kinetography Laban (Labanotation), Plymouth 1980, V. Preston-Dunlop, An Introduction of Kinetography Laban, London 1963, dieselbe, Practical Kinetography Laban, London 1969. 170 S. P. Bouissac, La mesure des gestes, Den Haag 1973. 171 Vgl. zu diesem Problem u.a. E.W.B. Hess-Lüttich, Medial Transformation and Semiotic Structure: Problems of Notation in Corpus Analysis, in: E.W.B. Hess-Lüttich (ed.), Multimedial Communication, Vol. I: Semiotic Problems of its Notation; Vol. 11; Theatre Semiotics, Tübingen 1982, Vol. I, pp. 263-286, B. Switalla, Die Identifikation kommunikativer "Daten", in: Zeitschrift für Semiotik, Bd. 1, H. 2/ 3, 1973, S. 161-175. <?page no="205"?> Iv v ~D dD d RF • tl\V RV ~ T_ over tlle 141ft Tour Qgauche 2" Wen.~un9 über links ~ T"n OYer tne tisht Tour CI dtoite 2.11 "'endung "bert«hls ~ Circuklr Palh f, ! l: oIcft : Chttnir. d. wd_ ~ur QIIIIdI. 1 c ~ Kr eisloieg über links' f G~arPolhtofh.,.; gI1t : Ot.",i" doi cerde surdioiit ld). l(..i"09 über r.rnts (zu Anmerkung 168) high haut hom 80 ARS ZT ~ LFK GAVH % LVH left Sode oftl.. Body P.Ottie gauche (lu corps IiHke Körper$eife ~ medi .... level Ilaw . niveau moyen bas 5 11 ...itt.lhoth 3c tief • J. J J. J J.).- Jill ifi ,.1111 ... ..< oe t .CalU",", Support. ('leps) I.eol,."o transferh (pas) LSpaHo, 'übenrogungcoo(Sd-"; 1! d ~ .COIU"'"' Log 9o.tur05 2. colo.no,9 .. tes dHJ~",b.s 2. Sf"'lh o Bei"ge.f• ., t .CoIU"'",liPperfl"hf aody J. col ..... Uaut du corpa 3. Spalle, Oberkörper right SJ.dll ., Ihe lSOCIy partie droite du c• ..,.5 rechte Körperleite 205 [( ... ab ,. <?page no="206"?> 206 172 Seine Ergebnisse finden sich bereits in der 1952 erschienenen "Introduction to Kinesics" (Louisville). 173 Ein solches Beispiel sei nachfolgend angeflihrt: (aus: R. Birdwhistell, Introduction to Kinesics, a.a.O., p. 29) "DATA: Conversation B: Hostess-guest event. Observed April 17, 1952; analyzed (with G.L. Trager) on April 18. Introductory note: Guest of honor forty-five minutes late. Three couples waiting, plus host and hostess. Hast had arranged guest list for function. 1. t. 8. ,11'2\2.> oJ 11 '2 \ 2 \" 11' 1 2 .. 11 , 1 ... JlDate... Ob-" .... r. etre1c1 ; roll •• rat oomD~b: rl: Q~oil" • W If ~~ }ow(~_ """ -Ö'-''' tf: s) 'r a f mt ~"''''" 11".... i .. ~ .,' -" ~,..,. .. : ...... 2 ... .,.S .. 0: -2, 1 2".. 8,2 8"I: <S' 21"' 7>.1' Quen, 111 nr-r .OITTJ lot b.ld"~ ; ro" Ic"" "oal1l '6'iJ""ftP "~ '" ""I-r "# H .... 40- .. " .. ", ~1\ ~ L ,~; JID.t .... CL<: > '''·ff/ ~-4 Q~": l' ~M'" .; 3 .. r I"'; ~ ·tlo...., .. .... « .. ~c.; ,~, t , a,z q~l .. l~" \I a'l 1'1 r.-l/ ~.,=,: : ; \: : : : ; '2/ Ollen, T": : ,. h>.T. .....11 I dm Ja: : r.: " Tc=.f r.: : ) I'd 1~ Y ." '» \'I'W .. ~" .. , H-M --- "" -t~_ +f't' .", ~. ..~ ___ dC.... "" : t. .. ",a, 1 -=- ~ .. n tl>=: ; c: : : : : =: "-t I cl "ic."c I c: . .......... Description: 1. As the hostess opened the door to admit her guest, she smiled a closedtoothed smile. As she began speaking she drew her hands, drawn into loose fists, up between her breasts. Opening her eyes very wide, she then closed them slowly and held them closed for several words. As she began to speak she dropped her head to one side and then moved it toward the guest in a slow sweep. She then pursed her lips momentarily before continuing to speak, nodded, shut her eyes again, and spread her arms, indicating that he should enter. 2. He looked at her fixedly, shook his head, and spread his arms with his hands held open. He then began to shuffle his feet and raised one hand, turning it slightly outward. He nodded, raised his other hand, and turncd <?page no="207"?> 207 it palm-side up as he continued his vocalization. Then he dopped both hands and held them, palms forward, to the side and away from his thighs. He continued his shuffling. 3. She smiled at hirn, lips pulled back from clenched teeth. Then, as she indicated where he should put his coat, she dropped her face momentarily into an expressionless pose. She smiled toothily again, clucked and slowly shut, opened, and shut her eyes again as she pointed to the guest with her lips. She then swept her head from one side to the other. As she said the word "all" she moved her head in a sweep up and down from one side to the other, shut her eyes slowly again, pursed her lips, and grasped the guest's lape! . 4. The guest hunched his shoulders, which pulled his lapel out of the hostess's grasp. He hold his coat with both hands, frowned, and then blinked rapidly as he slipped the coat off. He continued to hold tightly to his coat." 174 Vg! . hierzu u.a. P. Ekman/ W. Friesen, The repertoire of nonverbal behavior: Categories, origins, usage, and coding, in: Semiotica 1, 1969, S. 49-98, K.R. Scherer, Die Funktionen des nonverbalen Verhaltens im Gespräch, in: D. Wegner (Hrsg.), Gesprächsanalyse. Bericht zum fUnften IPK-Kolloquium, Hamburg 1977, S. 273-295. 175 S. hierzu S. Frey/ J. Pool, A new approach to the analysis of visible behavior. Forschungsberichte aus dem Psychologischen Institut, Bern 1976, S. Frey/ H.-P. Hirsbrunnerl A. Bieri-Florin, Vom Bildschirm zum Datenprotokoll: Das Problem der Rohdatengewinnung bei der Untersuchung nichtverbaler Interaktion, in: Zeitschrift fUr Semiotik 1, 1979, S. 193-209, S. Frey I H.-P. Hirsbrunner I U. Jorns, Time-Series Notation. A Unified Method for the Assessment of Speech and Movement in Communication Research, in: E.W.B. Hess-Lüttich (ed.), Multimedial Communication, a.a.O. 176 Vgl. hierzu Tabelle Seite 208 aus Zeitschrift fUr Semiotik 1, 1979, S. 202. 177 Vgl. hierzu K.R. Scherer/ H.G. Wallbott (Hrsg.), Nonverbale Kommunikation: Empirische Untersuchungen zum Interaktionsverhalten, Weinheim 1978, K.R. Scherer/ H. Haltofl H. Helfrichl R. Standke/ H.G. Wallbott, Psychoakustische und kinesischc Verhaltensanalyse zur Bestimmung distaler Indikatoren affektiver Erregungszustände, in: W.H. Tack (Hrsg.), Bericht über den 30. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Regensburg, Göttingen 1977, S. 324-325, K.R. Scherer/ H.G. Wallbott, U. Scherer, Methoden zur Klassifikation von Bewegungsverhalten: Ein funktionaler Ansatz, in: Zeitschrift für Semiotik 1, 1979, S. 177-192. 178 Vgl. hierzu P. Ekman/ W. Friesen, The repertoire 01" nonverbal behavior: Categories, origins, usage, and coding, a.a.O. 179 Scherer hat versucht, einige dieser Funktionen in das Morrissche Schema der syntaktischen, semantischen und pragmatischen Dimension von Zeichen einzuordnen. S. Scherer, Die Funktion des nonverbalen Verhaltens im Gespräch, a.a.O. 180 Scherer stützt sich dabei zum Teil auf Verfahren, die von Krout, Mahl, Ekman, Friesen, Freedman und Rosenfeld entwickelt wurden. Vgl. hierzu EkmanjFriesen, The repertoire of nonverbal behavior, a.a.O., M. Freedman I S. Hoffman, Kinetic behavior in alte red clinical states: Approach to objective analysis of motor behavior during clinical interviews, in: <?page no="208"?> Tabelle 1. Zusammenfassung des Notationssystems zur Zeitreihenkodierung der Körperposition ~ 00 Körperteil Anzahl kodierter Dimension Skalenniveau / Erfa8bare BewegungsvariatIon Dlm,nsionen Anzahl Positionen (1) Kopf 3 Sagittal Ordinal I 5 Heben/ Senken des Kopfes Rotational Ordinal I 5 Links-/ Rechtsdrehung des Kopfes Lateral Ordinal I 5 Links-/ Rechtskippung des Kopfes (2) Rumpf 3 Sagittal Ordinal I 5 Vorbeugen/ Zurücklehnen des Rumpfes Rotational Ordinal I 5 Unks-/ Rechtsdrehung des Rumpfes Lateral Ordinal I 5 Links-/ Rechtskippung des Rumpfes (3) Schultern * 2 Vertikal Ordinal I 3 Heben/ Senken der Schulter Tiefe Ordinal I 3 Vor-/ Zurückschieben der Schulter (4) Oberarme * 3 Vertikal Ordinal I 9 Heben/ Senken des Oberarms Tiefe Ordinal I 9 Vorwärts-/ RücRwärtsbeugung des Oberarms Berührung Nominal I 7 Oberarm kontakt mifTisch/ Stuhl-/ Körperregionen (5) Hände * 9 Vertikal Ordinal I 14 Aufwärts-/ Abwärtsverlagerung der Hand Horizontal Ordinal I 9 Links-/ Rechtsverlagerung der Hand Tiefe Ordinal I 8 Vorwärts-/ Rückwiirtsverlagerung der Hand xlv Orientierung Ordlnal I 9 Richtungsänderung der Hand in der Vertikalebene z Orientierung Ord/ nal I 5 Vorwärts-/ Rückwärtsbeugung der Hand Drehung Ordinal I 9 Aufwärts-/ Abwärtsdrehung der Handfläche Öffnung Ordinal I 4 Öffnen/ Schi ießen der Hang Faltung Nominal I 2 Finger ineinander gefaltet/ nicht ineinander gefaltet Berührung Nominal I 52 Handkontakt mit Tisch/ Stuhl-/ Körperregionen (6) Oberschenkel * 3 Vertik.al Ordinal I 5 Heben/ Senken des Oberschenkels Horizontal Ordinal I 5 Links-/ Rechtsverlagerung des Oberschenkels Berührung Ordinal I 3 Kontakt der Oberschenkel im Bereich car Knie (7) Füße' 7 Vertikal Ordinal I 9 Aufwärts-/ Abwärtsverlagerung des FuSes Horizontal Ordinal I 7 Links-/ Rechtsverlagerung des FuSes Tiefe Ordinal I 7 Vorwäits-/ Rückwärtsverlagerung des Fußes Sagittal Ordinal I 5 Aufwärts-/ Abwärtskippung des Fußes Rotational Ordinal I 5 Einwärts-/ Auswärtsdrehung des Fußes Lateral Ordinal I 5 Einwärts-/ Auswärtskippung des Fußes Berührung Nominal I 10 Fußkontakt mit Tisch/ Stuhl-/ Körperregionen (8) Sitzposition 2 Horizontal Ordinal I 3 Links-/ Rechtsverlagerung der Sitzposition Tiefe Ordinal / 3 Vorwärts-/ Rückwärtsverlagerung der Sitzposition _ ~ __ ...... _ _ _______ L..- 1 * Getrennte Kodierung für linken und rechten Körperteil <?page no="209"?> INkREH[NTIERUNGSWEITE NA"E DES KDDI[RERS .00 KODIER[R %2: %%2: %%2: 2: %%%%%%%%%%%%%UUXZ: U: X%2: X%2: %%%%%%%%%%%%%%%%%%%%X%%X: : ! XX%%%%%%%%%%an%%%%%%%%%%XX%: t%%X%%: unX%%%%%X%%%%%%%%%%%%%X%%XZ%%%%%% ZEIT RECHTE LINKE K 0 P F RUH P r ZE: n STILLE: STIM" ro LAUTSTAERKE FO ItAHD HAND BEWEGUNG ORI[NTIERUNG POSITION PAUSrtl LOS GRUN(lrR[QUENZ -5: 27: 5'i------: -------: -------j(j-- ---- - <: ------ i- ---- -; ------51! ! ? f! f ----- -----'(1- -- ------ -- ----------------------------------------- 5: 27: 55 KI < 1 5: 27: 55 < 138.3 5: 27t59 KI < 1 5: 27: 59 148.0 5: 27: 63 kl < 1 5: 27: 63 132.6 5: 27: 67 KI 1 5: 27: 67 150.5 KI 1 : 5: 27: 71 •• 5: 27: 71 5: 27: 75 5: 27179 5: 27: 83 UI 5: 27: 87 UI 5: : 27: 91 UI 5: 27: 95 UI 5: 21: 99 UI 5: 28: 3 UI 5: 28: 1 UI 5: 28: J 1 UI 5: 20: 15 UI 5: 20: 19 UI 5: 20: 23 UI 5: 20: : 7 UI 5: 28: 31 UI 5: 28: 35 UI 5: 28: J9 UI 5: 28: 43 UI 5: 2a: 47 UI 5: 28: 5J UI 5: 28: 55 UI 5: 28: ~9 UI 5: 28: ~1 UI 5: 28: 67 UI 5: 28: 71 UI 5: 28: 75 5: 28: 19 5: 29: 83 5: 28: 87 5: 28: 91 5: 28195 5: 28: 9, ! 5: 29: ] PO 5: 29: 7 PO 5129: 11 PO KI 1 5: 27: 75 kI 1 5: 27: 79 KI 1 5: 27: 03 KI 1 S127: B7 KI 1 5: 27: 91 KI 1 5: 27: 95 kI 1 5: 27: 99 KI 1 5%28% J KI 1 5: 20: 7 Kl 1 S: 2B: 11 KI 1 5: 28: 15 kI 1 5: 28: 19 KI 1 5: 2B: 2J kI 1 5: ; ! B: 27 kI 1 5: 20: 31 KI 1 ~S: 2B: 35 KI 1 5: 28139 1(1 1 5: 28143 KI 1 5: 28: 47 KI 1 5: 28: 51 KI 1 5: 28: 55 kl 1 5: 20: 59 KI 1 5: 20: 63 KI 1 5: 2B: 67 KI 1 5: 20: 71 KI 1 : 5: 28: 75 KI 1 5: 20: 79 kI 1 5: 28: 03 1 5: 20: 137 1 5: 28: 91 1 5: 28: 95 1 5: 28: 99 5: 29: 3 5: 29: 7 5: 29: 11 •• •• •• •• •• •• •• •• •• 11 •• UI PV KI untermalender Illustrator Positionsveränderung Kopf-Illustrator 163. 158. 153.3 J39.J 144.6 J57. J68.4 198.4 184.1 J84.1 201.5 206.4 208.1 193.9 181.5 168.4 154.2 110.8 92.1 105.3 TEXT • i ch j e I zt 5I e I " j • I z I u md • " k • " 5: 29: 15 5: 29: 19 5: 29: 23 : 5: 29115 PO 5: 2': U PO 5: 29: 23 PU " Kopfzuwendung (zum Gesprächspartner) Kopf gesenkt Abb. 3. Beispiel für eine Multikanal-Darstellung Rumpforientierung "normal-aufrecht" Beginn einer Verhaltenseinheit keine Bewegungsaktivität IV ~ <?page no="210"?> 210 Perceptual and Motor Skills 24,1967, S. 527-539, M.H. Krout, Autistic gestures: An experimental study in symbolic movement, in: Psychological Monographs 46, 1935, S. 119-120, G.F. Mahl, Gestures and body movements in interviews, in: J. Shlien (ed.), Research in psychotherapy, Washington D.C., American Psychological Associaton 3, 1968, S. 295- 346, H.M. Rosenfeld, Instrumental affiliative functions of facial wd gestural expressions, in: Journal of Personality and Social Psychology 4, 1966, S. 65-72. 181 Siehe als Beispiel ftir ein derartiges Vorgehen die Tabelle auf Seite 209 (aus Zeitschrift ftir Semiotik 1, 1979, S. 190). 182 Wir haben die Problematik der Notation der paralinguistischen Zeichen bisher unbeachtet gelassen. Auf diesem Gebiet sind allerdings auch noch keine standardisierten allgemein anwendbaren Verfahren entwickelt. Vgl. hierzu U.a. J. Bortz, Physikalisch-akustische Korrelate der vokalen Kommunikation. Arbeiten des Psychologischen Instituts der Universität Hamburg, Nr. 9, 1966, I. Fonagy I E. Berard, "11 est huit heures": contribution a I'analyse semantique de la vive voix, in: Phonetica 26, 1972, S. 157-192, W. Geiseler, Zur Semiotik graphischer Notation, in: Melos - Neue Zeitschrift rur Musik 4, 1, 1978, S. 27-33, J. Laver, Labels for voices, in: Journal of the International Phonetic Association, 4,2,1974, S. 62-75, P. Winkler, Notationen des Sprechausdrucks, in: Zeitschrift ftir Semiotik 1, 1979, S. 211-224. 183 Da bei einer Aufführungsanalyse das Videoband lediglich als Gedächtnisstütze dienen soll und insofern der häufige Besuch der zu analysierenden Inszenierung unabdingbar ist, war es selbstverständlich, daß auf eine Produktion der Städtischen Bühnen, Frankfurt, zurückgegriffen wurde. Aus terminlichen Gründen (Abstimmung mit dem Semesterprogramm) wurde Augusto Fernandes' Inszenierung gewählt. Vgl. zu dieser Aufführung auch das vom Schauspiel Frankfurt herausgegebene Programmheft, Luigi Pirandello, Heinrich IV., H. 57, Spielzeit 1977/ 78. 184 Eine umfassende Analyse der Aufftihrung nach unterschiedlichen Gesichtspunkten wurde in den von mir im SS 1978 und WS 1978/ 79 abgehaltenen Seminaren zur Aufftihrungsanalyse durchgeftihrt. 185 Zum Drama Pirandellos vg! . u.a. G. Behme, Zur Technik der Dialogform bei Pirandello, Münster, Phi! . Diss. 1974; W. Barsellino, Immagini di Pirandello, Roma 1979, G. Bosetti, Chacun sa verite: Pirandello. Analyse critique, Paris 1972, S. Costa, Luigi PirandelIo, Firenze 1978, F.N. Mennemeier (Hrsg.), Der Dramatiker PirandelIo, Köln 1965, J.M. Gardair, Pirandello, fantasmes et logique du double, Paris 1972, L. Lugnani, Pirandello. Litterature e teatro, Firenze 1975, R. Matthaei, Pirandello, Velber b. Hannover 1967, J. Moestrup, The structural patterns of Pirandello's work, Odense 1972, M. Rössner, Pirandello Mythenstürzer. Fort vom Mythos. 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Erich Wonder hat mit einem Modell gearbeitet, das später vernichtet wurde. 189 Landolf steckt bei Bedarf die Brille sofort weg und kann sich, ohne daß ihm etwas anzumerken wäre, auch so behelfen. Der Doktor dagegen wirkt hilflos ohne sie: es ist, als sei ihm ein Teil von ihm selbst weggenommen, nicht lediglich ein Instrument zum besseren Sehen. 190 Dies ist der Grund, weswegen ich die Requisiten erst an dieser Stelle d.h. im Anschluß an die Zeichen der äußeren Erscheinung behandle, obwohl sie nach meiner Systematik generell den Zeichen des Raumes zuzurechnen sind. 191 VgJ. zu diesen Funktionen K.R. Scherer, Die Funktionen des nonverbalen Verhaltens im Gespräch, a.a.O. 192 Auf die Rahmenfunktion der Musik werde ich an anderer Stelle eingehen. VgJ. hierzu 3.3.3. 193 Deswegen lassen sich die kinesischen Zeichen auch zunächst einmal aufgrund unserer Alltagserfahrung deuten. 194 Die deutlichen Abweichungen der hier wiedergegebenen Sätze von denen in der Druckfassung, die ich zitiere, ist dadurch zu erklären, daß ich mich auf die von den Schauspielern tatsächlich gesprochenen Sätze beziehe. Da die Schauspieler sich die Sätze der Übersetzung häufig umformuliert haben, sind entsprechend Divergenzen entstanden. 195 Befragt wurden die Teilnehmer des Seminars zur Aufflihrungsanalyse. Sie gaben übereinstimmend den Terminus "elegisch" als zutreffend und charakteristisch für die fragliche musikalische Sequenz an,ohne zu wissen, woher diese Musik stammt. 196 Guiseppe Verdi, Requiem. Zum Todestage Alessandro Manzoni's componiert. Clavierauszug mit Text von Micheie Saladino, Leipzig 1927, S. 1 (Takt 6) - 2 (Takt 5). 197 Eine erste Fassung des Protokolls dieser Sequenz wurde von einer studentischen Arbeitsgruppe im Rahmen des Seminars zur Aufführungsanalyse (SS 1978 WS 1978/ 79) erstellt. Sie wurde bei der Abfassung des vorliegenden Protokolls hinzugezogen. 198 G. Verdi, Requiem, a.a.O., S. 22-30 (vorletzter Takt>. 199 Verdi, Requiem, a.a.O., S. 171-184 (4. Takt) (Motiv des "Dies Irae"), S. 187 (bis '1 im letzten Takt) (Motiv des "Requiem"). 200 S. G. Rühle, Die Erfindung der Bildersprache flir das Theater, in: G.R., Theater in unserer Zeit, Frankfurt/ M. 1976, S. 224-233. 201 VgJ. hierzu die in den siebziger Jahren in der Zeitschrift "Theater heute" lebhaft geführte Diskussion über die unterschiedlichsten Arbeiten der genannten Regisseure, die jeweils mit einer gründlichen Darstellung und eingehenden Würdigung verbunden ist. <?page no="213"?> Literaturverzeichnis Das Literaturverzeichnis stellt eine Auswahlbibliographie dar. Es führt nicht annähernd alle im Text oder in den Anmerkungen zitierten Titel an, sondern enthält lediglich die in unserem Zusammenhang besonders wichtigen. / . Allgemeine Semiotik, ; fsthetik, Texttheorie Bachtin, M., Problemy poetiki Dostoevskogo (1929). Dt.: Probleme der Poetik Dostojewskijs, München 1971 (Übersetzung der erweiterten Fassung aus dem Jahre 1963 von Adelheid Schramm.). Barthes, R., Elemente der Semiologie, Frankfurt/ Main 1979. Bense, M., Aesthetica (I - IV), Stuttgart 1954-1960. 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Darüberhinaus werden wichtige grundsätzliche Probleme theatralischer Bedeutungsereeugung wie das Problem der Mobilität und Polyfunktionalität des theatralischen Zeichens, der Kombination heterogener theatralischerleichen, der theatralischen Kommunikation diskutiert und abschließend Theatralität als ein besonderer Modus ästhetischer Bedeutungserzeugung bestimmt. Band 2 Vom "künstlichen" zum "natürlichen" Zeichen - Theater des Barock und der Aufklärung Der zweite, historische Teil wendet diese Definition der Theatralität auf die Untersuchung des Theaters einer bestimmten Epoche unter geschichtlichem Aspekt an. Auf der synchronen Ebene wird das Theater der Barockzeit als ein spezifisches System zur Erzeugung von Bedeutung im Kontext fundamentaler Prinzipien dieser Epoche beschrieben und interpretiert, auf der diachronen Ebene die Veränderung von Mimik, Gestik und Bewegung im Übergang vom Barock zur Aufklärung. Die Konstituierung des "natürlichen" Schauspielstils des bürgerlichen Illusionstheaters, wie er bis zu den historischen Avantgardebewegungen in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts seine Gültigkeit behalten sollte, wird dabei als repräsentatives Sinnsystem der Aufklärung begriffen und entfaltet. Band 3 Die Aufführung als Text Der dritte, analytische Teil versucht, Prinzipien und Methoden für die Aufflihrungsanalyse zu entwickeln und sie auf die Analyse einer konkreten Aufführung anzuwenden. Es wird von den Ergebnissen moderner textwissenschaftlicher Forschung ausgegangen und die Aufflihrung entsprechend als Text aus theatralischen Zeichen, wie sie im ersten Teil der Arbeit untersucht worden sind, bestimmt. Als wichtigste Probleme werden diejenigen der Konstitution des theatralischen Textes, der Transformation eines literarischen dramatischen in einen theatralischen Text, der Notation des theatralischen Textes sowie einer Hermeneutik des theatralischen Textes erörtert. Die hierbei gewonnenen Einsichten werden der anschließenden Analyse einer Aufflihrung (Pirandellos "Heinrich IV." in der Inszenierung von Augusto Fernandes am Schauspielhaus Frankfurt) zugrunde gelegt.