Topographie deutscher Kulturvertretung im Paris des 20. Jahrhunderts
0818
2010
978-3-8233-7551-7
978-3-8233-6551-8
Gunter Narr Verlag
Hans Manfred Bock
An welchen Orten und mit welchen Motiven, Absichten und Ergebnissen traten deutsche Kulturrepräsentanten im 20. Jahrhundert in Paris in die mehr als episodische, strukturierte Interaktion mit Vertretern der französischen Kultur und Gesellschaft ein? Bedingt durch die internationalen und bilateralen Machtkonstellationen entstanden symbolische Begegnungsorte, in deren Aktivitäten in der Regel außenkulturpolitischer Gestaltungswille und zivilgesellschaftliche Initiativen zusammen wirkten mit dem Ziel der Repräsentation, der Penetration oder der Mediation. Als deutlichste Entwicklungslinie in diesem soziokulturellen Interaktionsbereich wird der Übergang nachgezeichnet zwischen zwei Mustern transnationaler Begegnung: der tendenzielle Wechsel vom individuellen Austausch von nationalen Elitemitgliedern zur organisierten gesellschaftlichen Gruppenbegegnung. In dem Buch wird in 12 Kapiteln und zahlreichen Fallbeispielen die Entstehung, Entwicklung und Funktion deutsch-französischer Begegnungsorte in Paris vom Ende des Ersten Weltkrieges bis in die Gegenwart dargestellt. Deren Spektrum reicht vom Carnegie-Haus und dem Sitz der Union pour la verité bis zur Vertretung im Internationalen Institut für geistige Zusammenarbeit und dem Institut d'Etudes germaniques, vom Deutschen Haus in der Cité Universitaire und der Außenstelle des DAAD bis zu den Ursprüngen des DFJW in den Pariser Verständigungsorganisationen der Nachkriegsjahre und zur Gründung des Institut d'Allemand d'Asnières.
<?page no="0"?> edition lendemains 18 Hans Manfred Bock Topographie deutscher Kulturvertretung im Paris des 20. Jahrhunderts <?page no="1"?> Topographie deutscher Kulturvertretung im Paris des 20. Jahrhunderts <?page no="2"?> edition lendemains 18 herausgegeben von Wolfgang Asholt (Osnabrück) und Hans Manfred Bock (Kassel) <?page no="3"?> Hans Manfred Bock Topographie deutscher Kulturvertretung im Paris des 20. Jahrhunderts <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagfotos: Oben links: Ehemaliger Sitz der Carnegie-Stiftung (linke Hälfte) Oben rechts: Ehemaliger Sitz des Institut d’études germaniques Unten links: Institut d'Allemand d'Asnières Unten rechts: Heinrich-Heine-Haus / Cité Universitaire (Foto: Artur Pfau) © 2010 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 1861-3934 ISBN 978-3-8233-6551-8 <?page no="5"?> 5 Inhalt Vorwort.................................................................................................................... 7 I. Pariser Orte deutsch-französischer Begegnung im Zeichen von kultureller Repräsentation, Penetration und Mediation ...................... 9 II. Bußgang zu den „Zivilisationsliteraten“? Zu Thomas Manns Paris-Aufenthalt im Januar 1926 ............................................................ 61 III. Europa als konkrete Utopie? Zum intellektuellen Umfeld der deutschen Vertretung im Internationalen Institut für geistige Zusammenarbeit in Paris 1927-1933 ...................................................... 97 IV. Berlin-Paris, Paris-Berlin. Zur Topographie zivilgesellschaftlicher Begegnung in der Locarno-Ära 1925-1930 ......................................... 121 V. Der lange Weg zum Deutschland-Haus in der Cité Universitaire von Paris 1927-1956 ................................................................................ 165 VI. Weimar in Paris. Zu einigen weniger bekannten Ursprüngen des deutschen Exils in Paris.................................................................. 193 VII. Das Pariser Exil des konservativen Pazifisten Paul Distelbarth 1933-1939.................................................................................................. 209 VIII. Reisen zwischen Paris und Berlin in der Zwischenkriegszeit ......... 249 IX. Vom Elitenaustausch zur zivilgesellschaftlichen Gruppenbegegnung. Die Ursprünge des Deutsch-Französischen Jugendwerks ........................................................................................... 269 X. Versöhnung und Verständigung. Die Maison de l’Allemagne in der Cité Universitaire de Paris 1956-1972 ...................................... 295 XI. Universitätsrevolte und Reform des französischen Germanistikstudiums. Erinnerung und Dokumentation zur Gründung des Institut d’Allemand d’Asnières 1968-1972............... 339 XII. Vertretung und Vermittlung. Die Pariser Zweigstelle des Deutschen Akademischen Austauschdienstes 1964-2004 ................ 365 Nachweis der Erstveröffentlichung................................................................. 391 Namensindex ...................................................................................................... 393 <?page no="7"?> 7 Vorwort Das hier vorgelegte Buch ist Teil einer größeren Untersuchung der deutsch-französischen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen im 20. Jahrhundert. Deren erster, lebensgeschichtlich angelegter Band erschien unter dem Titel „Kulturelle Wegbereiter politischer Konfliktlösung“. Der abschließende organisationsgeschichtliche Band „Versöhnung oder Subversion? “ soll im nächsten Jahr erscheinen. Die in diesen Bänden zusammengestellten Studien sind entstanden aus den Erfahrungen und Beobachtungen von rund fünfzig Jahren kulturellen Wirkens des Verfassers zwischen beiden Ländern. Sie enthalten (jenseits der in diesem Themenbereich üblichen anekdotischen und autobiographischen Narration) den Konzeptualisierungsversuch einer Sozialgeschichte der deutsch-französischen Kulturbeziehungen im 20. Jahrhundert. Sie sollen beitragen zu einer rückblickenden Bewertung und gegenwartszentrierten Aussicht auf die Bedeutung des soziokulturellen Geflechts zwischen beiden Nationen im aktuellen Zeitalter der Transnationalisierung. Der Verfasser ist sich bewußt, daß diese Diskussion im Falle Deutschland-Frankreich erst am Anfang steht und auf dem Sockel der hier mitgeteilten Erkenntnisse weitergeführt werden muß. Der Verfasser ist vielen Institutionen und Personen zu Dank verpflichtet, mit denen er jahrzehntelang zusammenarbeiten konnte und die sein Forschungsinteresse mit Rat und Tat begleitet haben. Von den Institutionen seien stellvertretend genannt der DAAD und seine Pariser Zweigstelle, das Heinrich-Heine-Haus in der Cité Internationale de l’Université de Paris, das Generalsekretariat des DFJW, das Deutsch-Französische Institut in Ludwigsburg und das Institut d’Allemand d’Asnières. Von den Persönlichkeiten seien nur die genannt, die bereits nicht mehr leben: Pierre Bertaux, Robert Picht und Michel Trebitsch. Bei der Textherstellung für dieses Buch haben sich mehrere Mitarbeiter große Verdienste erworben. Marie-Therese Mävers hat die elektronische Erfassung und Formatierung der Texte vorbildlich gemeistert. Johannes Hocke war immer dann zur Stelle, wenn ich mit meinen Fähigkeiten zur computergestützten Datenverarbeitung an meine Grenzen stieß. Ihnen sei gebührender Dank bezeugt. Schließlich sei all den Verlagen gedankt, die ihre Einwilligung für den überarbeiteten Wiederabdruck der bei ihnen erschienenen Texte gegeben haben. Kassel, den 15. Juli 2010 Hans Manfred Bock <?page no="9"?> 9 I. Pariser Orte deutsch-französischer Begegnung im Zeichen von kultureller Repräsentation, Penetration und Mediation „Wissenschaft und Künste, die man als Erbgut zu besitzen und im vaterländischen Schreine gesichert glaubt, wandern aus, man weiß nicht durch welche Türen, nur die Ladenhüter bleiben einem liegen.“ 1 Dies Aperçu des namhaften Romanisten der Vor- und Zwischenkriegszeit Karl Vossler kann als Zeugnis eines Verständnisses von transnationalem Kulturaustausch gelesen werden, das heute seltsam veraltet erscheint. An die Stelle der dort implizierten geisteswissenschaftlichen Vorstellung von einer geheimnisvollen Diffusion der Spitzenprodukte nationalen Kulturschaffens über die Grenzen hinaus tritt heute eher die sozialwissenschaftliche Frage nach den benennbaren Trägern („Türen“) des grenzüberschreitenden Kulturaustausches und nach den Möglichkeiten seiner politischen Steuerung. War zu Zeiten Vosslers das Interesse an der ausländischen Kulturproduktion und deren Aneignung vor allem eine Angelegenheit befähigter Individuen, so ist sie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem verständigungspoltischen Imperativ kollektiven Lernens geworden. In Entsprechung zu diesem Wandel der Trägerschaft transnationalen Kulturaustausches entwickelte sich die Auswärtige Kulturpolitik seit dem Ersten Weltkrieg von unsicheren Anfängen zu einem anerkannten Aktionsbereich der Außenpolitik. Dieser Vorgang der Umstrukturierung im transnationalen Kulturaustausch zeichnet sich mit besonderer Deutlichkeit ab in den deutsch-französischen Beziehungen des 20. Jahrhunderts. Nachdem vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg in den Beziehungen zwischen beiden Nationen den kulturellen Gegensätzlichkeiten von beiden Seiten eine hohe Bedeutung zugeschrieben wurde, 2 begannen erst Mitte der 1920er Jahre gesellschaftliche und politische Initiativen damit, den wechselseitigen nationalen Abgrenzungsdiskurs zu überwinden. Da dieser hoffnungsvolle Anlauf der Locarno-Ära in den dreißiger Jahren erst einmal unterbrochen und nach dem Zweiten Weltkrieg auf einem neuen Terrain (und mit neuen Mitteln und Zielen) wieder aufgenommen wurde, sind die Verläufe und Konstellationen der deutsch-französischen Kulturbeziehun- 1 Als Buch-Motto zitiert in Reinhart Meyer-Kalkus: Die akademische Mobilität zwischen Frankreich und Deutschland (1925-1992), Bonn 1994. 2 Cf. zur Genese in Deutschland Barbara Beßlich: Wege in den „Kulturkrieg“. Zivilisationskritik in Deutschland 1890-1914, Darmstadt 2000; Michael Jeismann: Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792-1918, Stuttgart 1992. Zu den Inhalten cf. auch die Literaturangaben in Kapitel VIII, Anm. 4. <?page no="10"?> 10 gen im Vergleich mit anderen Beispielen bilateraler Kultur- und Gesellschaftskontakte besonders vielgestaltig bzw. mehrschichtig und eben darum von hervorragendem, paradigmatischen Interesse. Dies Interesse wird politisch-rhetorisch regelmäßig beschworen, es wurde jedoch von der Forschung bislang ausschließlich in monographischen Fallstudien, nicht jedoch in der Langfristperspektive und in seiner Komplexität nachvollziehbar gemacht. Eben diesem Zweck soll das vorliegende Buch dienen. 1. Konzeptuelle Rahmung In den bisherigen Forschungsbeiträgen zur Geschichte der deutschfranzösischen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen im 20. Jahrhundert, deren Zahl seit den 1990er Jahren erfreulich zugenommen hat, 3 sind drei Mängel konstatierbar: Es fehlen epochenübergreifende Studien, die einen diachronischen Vergleich der bilateralen Verständigungs- und Begegnungskonzeptionen zwischen beiden Nationen ermöglichen. So ist z.B. der tiefgreifende Wandel der gesellschaftlichen Akteursbasis und ihrer Zielsetzungen im Vergleich der Zwischenkriegsperiode und der Nachkriegsjahrzehnte kaum jemals thematisiert worden. Bei allen Unterschieden zwischen den individualistisch-elitär geprägten Austausch-Konzeptionen der Jahre 1919 bis 1939 und den auf Breitenwirkung zielenden organisierten Bestrebungen in der Zeitspanne seit Ende des Zweiten Weltkrieges deckt ein diachronischer Vergleich auch Kontinuitätsmomente und (gelegentlich verwirrende) Überlagerungen beider Muster transnationaler Interaktion auf. Die kollektiven Akteure, die in der Nachkriegszeit den soziokulturellen Austausch zwischen Deutschland und Frankreich gestalten, haben die legitimatorische Chance, die eine Aufarbeitung ihrer historischen Vorläufer birgt, erst spät ergriffen 4 und deshalb die Langzeitperspektive (nicht zuletzt aus Ressourcenmangel) weitgehend vernachlässigt. Eine zweite Unzulänglichkeit der wissenschaftlichen Erforschung der deutsch-französischen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen im 20. Jahrhundert besteht im Mangel an selbstkritischer Reflexion über die Wertmaßstäbe, mit denen die Forscher in Deutschland und Frankreich sich den soziokulturellen Austauschphänomenen nähern. Zwar gibt es keine eindeutige nationalkulturelle Lesart dieses Teils der Geschichte der bilateralen Beziehungen. Aber zumal in der Geschichtsforschung beider Länder gibt es unterschiedliche 3 Cf. die bibliographischen Überblicke in Deutsch-Französisches Institut, Institut für Auslandbeziehungen (ed.): Deutsch-französische Kulturbeziehungen seit 1945. Auswahlbibliographie 1991-2000, Stuttart 2001 und Hans Manfred Bock (ed.): Projekt deutschfranzösischer Verständigung. Die Rolle der Zivilgesellschaft am Beispiel des Deutsch- Französischen Instituts in Ludwigsburg, Opladen 1998, p. 381-461. 4 Dazu Margarete Mehdorn: Französische Kultur in der Bundesrepublik Deutschland. Politische Konzepte und zivilgesellschaftliche Initiativen 1945-1970, Köln 2009, Vorwort. <?page no="11"?> 11 Wert- und Schwerpunktsetzungen z.B. in der Einschätzung der Gesellschafts- und Kulturbeziehungen der Zwischenkriegszeit: In Frankreich, wo den kulturellen Dimensionen in den internationalen Beziehungen generell ein größeres Interesse entgegengebracht wird, 5 gibt es eine starke Neigung, den verständigungspolitischen Ertrag der Locarno-Ära vorwiegend als Wegbereitung für die Kollaboration im Vichy-Regime zu interpretieren. In Deutschland, wo die soziokulturelle Handlungsebene in den bilateralen Beziehungen insgesamt weniger Aufmerksamkeit in der Geschichtsforschung erfuhr, gibt es einen erkennbaren Trend zur Höherbewertung des Friedenssicherungs-Potentials der Locarno-Politik. 6 In dieser Frage lenken die je eigenen kollektiven Traumata des nationalen Geschichtsverlaufs noch immer die divergierende Blickrichtung und das wertende Urteil. 7 Als dritte problematische (weil unreflektierte) Verkürzung in der Darstellung der transnationalen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen findet man in den bisherigen Studien zum Thema eine Abkopplung der Untersuchung der nichtgouvernementalen Austausch-Akteure und -Strukturen von den Regierungs-Instrumentarien der Auswärtigen Kulturpolitik. Diese Abgrenzung ist schon deshalb problematisch, weil die zivilgesellschaftlichen Initiativen für den internationalen und transnationalen Kulturaustausch viel älter und breiter sind als das Dispositiv der Auswärtigen Kulturpolitik. Es fällt auf, daß in Frankreich wie in Deutschland die frühesten Monographien zur Auswärtigen Kulturpolitik einen juristischen Zuschnitt hatten und offensichtlich dem Zweck dienten, dem staatlichen Handeln im Verhältnis zur älteren und breiteren gesellschaftlichen Handlungsebene eine verstärkte Legitimation zu verschaffen. 8 Tatsächlich gab es jedoch (und die deutsch-französischen Kulturbeziehungen im 20. Jahrhundert sind ein Musterbeispiel dafür) von den Anfängen einer institutionalisierten Außenkulturpolitik an immer ein (oft spannungsreiches) Wechselverhältnis zwi- 5 Insbesondere in der Zeitschrift Relations Internationales ist das Interesse seit 1980 dokumentiert. 6 Aus der neuesten Literatur cf. Ralph Blessing: Der mögliche Frieden. Die Modernisierung der Außenpolitik und die deutsch-französischen Beziehungen 1923-1929, München 2008; cf. als älteres Beispiel für die französische Optik Rita Thalmann: „Du cercle de Sohlberg au Comité France-Allemagne, une évolution ambiguë de la coopération franco-allemande“, in: Hans Manfred Bock, Reinhard Meyer-Kalkus, Michael Trebitsch (ed.): Entre Locarno et Vichy. Les relations culturelles franco-allemandes dans les années 1930, Paris 1993, p. 67-86. 7 Zum Thema der Geschichtspolitik, auf die diese Divergenz weitgehend zurückzuführen ist, cf. neuerdings Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (ed.): Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, Bonn, Essen 2009. 8 Z.B. Manfred Abelein: Die Kulturpolitik des Deutschen Reiches und der Bundesrepublik Deutschland, Köln, Opladen 1969 und Albert Salon: L’Action culturelle de la France dans le monde, Paris 1983. <?page no="12"?> 12 schen diesen beiden Handlungsebenen, das schließlich der Etablierung der Auswärtigen Kulturpolitik als eigenes Politikfeld nicht abträglich war. 9 Die im vorliegenden Buch versammelten Studien versuchen, diesen Monita Rechnung zu tragen. Sie sind Teile eines größeren Forschungszusammenhanges, der aus rund fünfzigjähriger Tätigkeit des Verfassers im akademischen Austausch zwischen Deutschland und Frankreich entstand. Dieser aus den Anregungen und der Reflexion eigenen Tuns erwachsene Forschungsplan einer Sozialgeschichte der deutsch-französischen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen umfaßt einen biographischen, einen organisationsgeschichtlichen und einen topographischen Brennpunkt. Nach der Rekonstruktion der intellektuellen Biographie hervorragender Protagonisten deutsch-französischer Verständigung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts 10 und vor der Organisationsgeschichte der soziokulturellen bilateralen Vereinigungen in derselben Zeitspanne 11 wird die Fragestellung einer Topographie deutsch-französischer Begegnungsorte im Paris des 20. Jahrhunderts in den folgenden Fallstudien entfaltet. Es wird gefragt, an welchen Orten der Metropole vom Ersten Weltkrieg bis heute kulturelle Zentren deutsch-französischer Begegnung entstanden und von welchen Akteuren sie mit welchen Motiven bzw. Zielsetzungen ins Leben gerufen und in Betrieb gehalten wurden. Anders als bei den lebens- und organisationsgeschichtlichen Aspekten bedarf die topographische Fragestellung einer konzeptuellen Abklärung mit Bezug auf benachbarte Forschungsansätze. Sie berührt sich mit der kulturellen Hauptstadt-Forschung, mit der Kulturtransfer- und der spatial-turn-Debatte, sowie mit dem Studium der transnationalen Netzwerkbildung. Das Konzept der kulturellen Hauptstadt-Forschung rückt die Frage in den Mittelpunkt, auf welchen Wegen und mit welchen Mitteln und Ergebnissen die Hauptstädte im Prozeß der nationalen Identitätsbildung ihren umfassenden Repräsentationsanspruch durchgesetzt haben. 12 Gerade im Vergleich von Paris mit anderen (europäischen) Hauptstädten wird deutlich, daß im Falle der französischen Metropole der nationale Repräsentationsanspruch am weitestengehend verwirklich wurde. Er erstreckt sich nicht allein auf die politisch-administrative Zentralisierung und die Kumulation wirtschaftlicher Prozesse und Waren, sondern insbesondere auch auf die Produktion symbolischer Güter des kulturellen Lebens, die von den aristokratischen und (in der Dritten Republik) von den bürgerlichen Eliten 9 Zu dessen gegenwärtigen Formen institutionellen Handelns cf. Kurt-Jürgen Maaß (ed.): Kultur und Außenpolitik. Handbuch für Studium und Praxis, Baden-Baden 2005. 10 Hans Menfred Bock: Kulturelle Wegbereiter politischer Konfliktlösung. Mittler zwischen Deutschland und Frankreich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Tübingen 2005. 11 Geplant ist Hans Manfred Bock: Versöhnung oder Subversion? Verständigungsorganisationen zwischen Deutschland und Frankreich im 20. Jahrhundert. 12 Cf. z.B. Christophe Charle, Daniel Roche (ed.): Capitales culturelles. Capitales symboliques. Paris et les expériences européennes, Paris 2002. <?page no="13"?> 13 ermöglicht und genutzt wurden. Es entstand aus der Wechselwirkung von Politik und Gesellschaft mit der kulturellen Dominanz von Paris ein „magnétisme culturel à long terme“ 13 bzw. ein „narcissisme capital“ 14 der französischen Hauptstadt, der von fast allen Besuchern wahrgenommen wurde und der den deutschen Kulturvertretern nicht nur aus politischen Gründen, sondern als strukturelles Problem entgegentrat. Mit den nicht immer gleich sichtbaren Möglichkeiten und Wegen fremdkulturellen Kulturimports in Paris bzw. Frankreich befaßt sich hauptsächlich der Forschungsansatz der „Kulturtransfer“-Studien. Die konzeptuellen Erträge und materiellen Erkenntnisse dieses analytischen Zugangs zu den deutschfranzösischen Kulturbeziehungen sind überwiegend gewonnen worden in Fallstudien aus dem 18. und 19. Jahrhundert. 15 Auf das 20. Jahrhundert sind von diesen Kategorien der Erklärung des transnationalen Kulturaustauschs mindestens zwei übertragbar: Der kultursemantische Fragenkomplex der Einpassung und Umdeutung kultureller Objektivationen bei ihrer Übertragung von einem nationalkulturellen Kontext in einen anderen nationalen Traditionsbestand und das kultursoziologische Fragenraster nach den Vektoren dieser grenzüberschreitenden Vermittlungsvorgänge. 16 Vor allem diese zweite Fragestellung ist für die topographische Erkenntnisabsicht dieses Buches von Interesse. Als Konstituierungskern von Trägergruppen des Kulturtransfers zwischen Deutschland und Frankreich werden „réseaux de communication“ angenommen, die auf der Grundlage gemeinsamer Interessen der Beteiligten sich zusammenfinden. Diese „milieux matriciels“ seien die treibenden Kräfte für den Diskurs über den und in dem Austausch mit der Nationalkultur auf der anderen Seite: „Les idées, les livres, les comportements sont transmis par des individus, et plus encore par des groupes qui franchissent matériellement la frontière.“ 17 Diese von der Gesellschaftsbasis heraufwachsenden und agierenden Kommunikations-Netzwerke werden als „vorinstitutionelle“ Formen der Vergesellschaftung gesehen. 18 So wichtig diese soziale Verortung der Antriebskräfte des Kulturaustauschs ist, so ist doch zu fragen, ob im 20. Jahrhundert ihre „vorinstitutionelle“ Beschaffenheit allein noch imstande ist, um kulturelle Transfers und Verflechtungen zwischen beiden Nationen zu bewirken. Der 13 Christophe Charle, ibid., p. 437. 14 Christophe Prochasson: Paris 1900.Essai d’histoire culturelle, Paris 1999, p. 15-75. 15 Michel Espagne, Michael Werner (ed.): Transferts. Les relations interculturelles dans l’espace franco-allemand (XVIII e -XIX e siècle), Paris 1998; cf. auch dies.: „Transferts culturels franco-allemands“, in: Revue de Synthèse, 1988, Nr. 2, p. 187-286. 16 In den einschlägigen Monographien, die sich auf diesen Ansatz berufen, stehen vor allem Sprach- und Universitätslehrer, Buchdrucker und Buchhändler, Reisende und Gewerbebetreibende im Zentrum der Frage nach den Vektoren des Kulturaustauschs. 17 Michel Espagne: Les transferts culturels franco-allemands, Paris 1999, p. 27. 18 Espagne, Werner: Transferts culturels, loc. cit., p. 193. <?page no="14"?> 14 im 20. Jahrhundert allgemein konstatierte soziologische Zwang zur Organisierung der Interessen und zu ihrer institutionellen Vertretung hat auch die Wege des transnationalen Kulturaustauschs transformiert und eine angemessene Analyse der Transfervorgänge hat dieser Tatsache Rechnung zu tragen, indem sie die Rolle der Organisationen und Institutionen untersucht. Gerade weil die durch Organisationen und Institutionen herbeigeführten oder geförderten kulturellen Austauschbewegungen zwischen Deutschland und Frankreich im 20. Jahrhundert eine stetig wachsende Bedeutung erhielten, stellt sich auch unausweichlich die Frage nach den Orten, an denen diese in Erscheinung treten. In dem Maße, in dem die kulturellen Transaktionen nicht mehr vorwiegend durch individuelle, sondern durch organisierte Initiativen vermittelt werden, sind sie auf Sichtbarkeit und räumliche Präsenz im jeweiligen Aufnahmeland angewiesen. Hier zeichnet sich eine Anknüpfungsperspektive ab an die jüngst lebhaft geführte Diskussion um die Bedeutung des Raums für die Kultur-, Geistes- und Sozialwissenschaften. 19 Von den Fragestellungen, die inzwischen aus dem „spatial turn“ hervorgegangen sind und die alle nach der Bedeutung von Räumen und Orten für das Handeln und Verhalten der in ihnen sich bewegenden Menschen fragen, bietet die Kategorie der „Orte des Wissens“ („lieux de savoir“) die wohl zahlreichsten Anschlußmöglichkeiten für die Sozialgeschichte der deutsch-französischen Kulturbeziehungen im 20. Jahrhundert. Das inzwischen von Wirtschafts- und Stadtplanern, von Wissenschafts- und Bildungsexperten in Gebrauch genommene Konzept ist für die Erforschung der transnationalen Kulturbeziehungen bislang selten herangezogen worden. 20 Es ist jedoch in mehrfacher Bedeutung verwendbar und aufschlußreich für diesen bilateralen Beziehungsausschnitt, der lange Zeit rein metaphorisch als „Raum“ bezeichnet wurde, 21 wenn man diese Orte als Konkretisierung realer geschichtlicher Raumdimension auffaßt mit erkennbaren materiellen, sozialen und symbolischen Erscheinungsformen. Diese sind beschreibbar als Geschichte der Lokalisierung deutsch-französischer Begegnungsstätten in Paris vom provisorischen Hausrecht im Carnegie-Gebäude (173, Bd. Saint-Germain) und dem Institut d’études germaniques (5, rue de l’Ecole de médecine) bis zur Maison de l’Allemagne in der Cité Universitaire und zum Institut d’Allemand d’Asnières. Die soziale Erscheinungsform der „Orte des Wissens“ ist in Gestalt der vielfachen Interaktionsleistungen (Kontaktaufnahme, Informationsübertragung, Anschauungsfunktion) greifbar, die sich dort zwischen deutschen 19 Cf. dazu Jörg Döring, Tristan Thielmann (ed.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008 und Verena Dolle, Uta Helfrich (ed.): Zum spatial turn in der Romanistik, München 2009. 20 Z.B. Christian Jacob (ed.): Lieux de savoir. Espaces et communautés, Paris 2007. 21 Beispielsweise Jean Philippon: L’espace culturel franco-allemand. Réception de la littérature française en R.F.A. (1950-1975), Paris 1981. <?page no="15"?> 15 Kulturrepräsentanten und französischen Adressaten abspielen. Die symbolische Seite der Pariser „Orte des Wissens“ über Deutschland (die auch in der Baugeschichte eingeschrieben ist 22 ) erscheint eng verbunden mit der Institutionalisierung deutscher Kulturpräsenz in der Metropole. Während z.B. die Hilfsorganisationen der deutschen Kolonie oder die kommerziellen Stützpunkte des bilateralen Wirtschaftsaustauschs in Paris aus ihrer Zielsetzung heraus nicht gezwungen waren, die französische Bevölkerung auf ihre Adresse aufmerksam zu machen, war das anders bei den Einrichtungen, die eine ausdrücklich offiziell werbende Funktion erfüllen sollten wie z.B. die 1930 eröffnete Außenstelle des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) . 23 Die „Orte des Wissens“ über Deutschland in Paris, von denen die meisten nicht nur Vorträge und andere Kulturveranstaltungen offerierten, sondern auch Deutschland-spezifische Bibliotheken aufbauten, stellen Zentren verdichteter Interaktion mit der französischen Umwelt dar, die untereinander (vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg) in Beziehung stehen, Ansätze von Arbeitsteilung sowie funktionaler Verschränkung aufweisen und insofern als Netzwerk gesehen werden können. Dies inflationär gewordene „Netzwerk“-Konzept hat einen relativ präzisen Sinn in der vergleichenden und beziehungsgeschichtlichen Forschung zu den internationalen Hochschul- und Hochschullehrerkontakten gewonnen. 24 Da in der ersten Jahrhunderthälfte die Universitäten im Mittelpunkt des eigeninitiativen und des politischen Kulturaustauschs zwischen Deutschland und Frankreich standen und da in diesem Gesellschaftsausschnitt das Spannungsverhältnis zwischen übernationaler Wahrheitsverpflichtung und nationaler Identitätsstiftung besonders lebhaft empfunden und diskutiert wurde, sind die Studien zur transnationalen akademischen Netzwerkbildung prinzipiell von unbestreitbarem Interesse für die Geschichte der deutsch-französischen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen. Man hat die Ursachen und die zunehmende politische Bedeutung des transnationalen Hochschul-Austauschs in der Zeit des Hochnationalismus zusammenge- 22 Man kann eine zunehmende konzentrische Entfernung dieser Orte im Verhältnis zur Sorbonne und dem 5. Arrondissement von Paris feststellen. War das Institut d’études germaniques (5, rue de l’Ecole de médecine) noch fußläufig von der Sorbonne aus zu erreichen, so befindet sich das Institut d’Allemand d’Asnières am Ende des nördlichen Metronetzes. 23 Cf. dazu Béatrice Pellissier: „L’antenne parisienne du DAAD à travers les archives de l’Auswärtiges Amt de Bonn jusqu’en 1939“, in: Hans Manfred Bock, Reinhart Meyer- Kalkus, Michel Trebitsch (ed.): Entre Locarno et Vichy. Les relations culturelles francoallemandes dans les années 1930, Paris 1993, p. 271-285. 24 Cf. Christophe Charle, Jürgen Schriewer, Peter Wagner (ed.): Transnational Intellectual Networks. Forms of Academic Knowledge and the Search for Cultural Identities, Frankfurt/ Main 2004; thematisch über den universitären Bereich hinausgehend Berthold Unfried, Jürgen Mittag, Marcel van der Linden (ed.): Transnationale Netzwerke im 20. Jahrhundert. Historische Erkundungen zu Ideen und Praktiken, Individuen und Organisationen, Wien 2008. <?page no="16"?> 16 faßt: Jedes nationale Universitätssystem sei entstanden als ein wirksamer Wächter über die Unversehrtheit und Besonderheit seiner Nationalkultur, während im Gegensatz zu diesen Erwartungen die wachsende Intensität des geistigen Austauschs und die Internationalisierung des Wissens im 20. Jahrhundert die Vervielfältigung gelehrter Netzwerke erzwungen und die Notwendigkeit herbeigeführt habe, ausländische Innovationen zu nutzen oder zu imitieren und die hervorragende Qualität des eigenen nationalen Systems unter Beweis zu stellen durch die Öffnung der eigenen Institutionen für ausländische Wissenschaftler und Studenten. 25 Dieser in der Regel anfangs spontan und individuell entstehende Kontakt zwischen Fachvertretern beider Länder wurde also zunehmend politisch geduldet und schließlich ausdrücklich gefördert. Obwohl Mitte der 1920er Jahre die Ausschließung deutscher Wissenschaftler von internationalen Kongressen aufgehoben wurde, blieben die bilateralen Austauschvorgänge (Professoren, Lektoren, Studenten) in der ganzen Zwischenkriegszeit sehr begrenzt. Fallstudien zu den einzelnen Wissenschaftsdisziplinen zeigen ein geringes Interesse an grenzüberschreitenden Kontakten bei den Vertretern der Naturwissenschaften und eine vergleichsweise höhere Begegnungsfrequenz in den Humanwissenschaften. 26 Eine tragfähige Netzwerkbildung im universitären Bereich ist erst seit den 1950er Jahren nachweisbar. In den Nachkriegsjahrzehnten entstanden vor allem jedoch neben den akademischen vielgestaltige andere transnationale Gesellschafts-Netzwerke zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich, die auf gemeinsamen sozioprofessionellen, religiösen, kommunalpolitischen u.a. Interessen basierten und Bestandteile eines neu gefaßten Kulturbegriffs wurden. 27 Damit vergrößert sich noch die heuristische Reichweite des Netzwerk-Begriffs über den universitären Bereich hinaus. Dies Konzept bedarf ebenso der weiterführenden Ausarbeitung und Anwendung auf die deutsch-französischen Kulturbeziehungen im 20. Jahrhundert wie die (in der vorausgegangenen Skizze umrissenen) Fragestellungen der kulturellen Hauptstadt-, der Kulturtransfer- und der „Orte des Wissens“- Forschungsansätze. Die Befragung der heuristischen Tauglichkeit und Tragfähigkeit der Konzepte, die explizit oder implizit den monographischen Studien zu den deutschfranzösischen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen zugrunde liegen, hat noch kaum begonnen. Sie ist aber die Voraussetzung für die Differenzierung der analytischen Kategorien, für die Generierung neuer Themenfelder 25 Charle, Schriewer, Wagner (ed.), op. cit, p. 11. 26 Cf. dazu Brigitte Schroeder-Gudehus: „La science ignore-t-elle vraiment les frontières? Les relations franco-allemandes dans le domaine des sciences“ in Bock, Meyer- Kalkus, Trebitsch, op. cit., p. 393-403. Ergänzend: Dies.: Les Scientifiques et la paix. La communauté scientifique internationale au cours des années vingt, Montréal 1978. 27 Dazu vor allem Kapitel IX des vorliegenden Buches. <?page no="17"?> 17 und für die kohärentere Strukturierung bereits bearbeiteter Einzelaspekte der kulturellen Austauschbeziehungen zwischen beiden Nationen. 2. Diachronischer Verlauf Die im folgenden vorgelegten Studien sind aus unterschiedlichen Anlässen entstanden und ihre Überarbeitung bezog sich bewußt nicht auf die Tilgung von Spuren ihres Entstehungszusammenhangs. Sie werden zusammengeführt durch drei Thesen, die ihren Ursprung gleichermaßen in der methodologischen Reflexion und in der praktischen Arbeit in den deutschfranzösischen Kulturbeziehungen haben. Die erste These bezieht sich auf die Langzeitentwicklung dieses Beziehungsgeflechts im 20. Jahrhundert. In dieser Perspektive zeichnet sich deutlich eine Entwicklungslinie ab von einem dominanten Muster des individuellen Austauschs von nationalen Elitenvertretern in der Zwischenkriegszeit zu einem alternativen Muster des organisierten gesellschaftlichen Gruppenaustauschs in den Nachkriegsjahrzehnten. Die zweite These besagt, daß die transnationalen Kulturbeziehungen zwischen Deutschland und Frankreich zu jeder Zeit und in jeder Form politische Implikationen hatten und Reaktionen im Ausgangswie im Zielland hervorriefen, sowie daß die politische Steuerung dieser Beziehungen langfristig zunahm in dem Maße, wie die Finanzierung der Austauschmaßnahmen aus öffentlichen Mitteln erfolgte. Die dritte These bezieht sich auf den politischen Gestaltungswillen, der in der Wechselwirkung der staatlichen Administration mit den soziokulturellen Trägern der Austausch- und Begegnungsaktivitäten mit Frankreich erkennbar wird. Dieser Gestaltungswille wurde von den Interessen und den operativen Zielen der drei kontrastreichen politischen Regime in Deutschland diktiert und ließ den gesellschaftlichen Akteuren ein ungleiches Maß an Initiative. In der Weimarer Republik, der Periode der frühesten institutionellen Experimente mit einer Auswärtigen Kulturpolitik im demokratischen Rahmen 28 , stand besonders im Verhältnis zu Frankreich der Wille zur nationalen Repräsentation bei den gesellschaftlichen und den politischadministrativen Kräften im Mittelpunkt. Es wurden mit dem Eintritt in das Internationale Institut für geistige Zusammenarbeit (1927) und mit der Gründung der Deutschen Akademisch-Pädagogischen Vermittlungsstelle in Frankreich (1930) erste Schritte zur Institutionalisierung der Auswärtigen Kulturbeziehungen unternommen und der Reise- und Besucherverkehr deutscher Intellektueller und Wissenschaftler erhielt u.a. mit der Eröffnung des Car- 28 Dazu den historischen Anriß, der sehr kompetent und rigoros institutionengeschichtlich angelegt ist, von Kurt Düwell: „Zwischen Propaganda und Friedenspolitik. Geschichte der Auswärtigen Kulturpolitik im 20. Jahrhundert“, in: Kurt-Jürgen Maaß (ed.): op. cit., p. 59-62. Cf. auch ders.: Deutschlands Auswärtige Kulturpolitik 1918-1932. Grundlinien und Dokumente, Köln, Wie 1976. <?page no="18"?> 18 negie-Hauses (1924) und des Institut d’études germaniques (1930) eine Zeit lang eine feste Anlauf- und Empfangsadresse. 29 Zu den sich in der Locarno-Ära (nicht ohne Schwierigkeiten und Verzögerungen) konstituierenden Begegnungsorten gehörte der Grundsatz der Anerkennung der Nationalkultur der anderen Seite, der in dem außenkulturpolitischen Regulativ der Gegenseitigkeit festgeschrieben wurde: Der Einrichtung der Akademischen Vermittlungsstelle in Paris entsprach die Eröffnung eines französischen Akademikerhauses in Berlin, das Pariser Institut d’études germaniques fand Ende 1930 sein Gegenstück in der Etablierung eines Deutsch-Französischen Instituts in Köln. 30 Der forcierte nationale Repräsentationsanspruch dieser frühen (administrativen wie auch gesellschaftlichen) Ansätze des deutschen Kulturaustauschs mit Frankreich war bedingt durch mehrere starke Politikmotive: Als Kriegsverlierer forderte man von den Siegermächten eine prinzipielle Anerkennung als gleichrangige Kultur- und Wissenschaftsmacht, also die Nichtdiskriminierung; als durch den Krieg gerade in den kulturellen Fundamenten tief erschüttertes politisches Gemeinwesen forderte man einen Freiraum zur Neudefinition der politischen Kultur der Deutschen; und als „Kultur-Nation“, die das Instrumentarium der Auswärtigen Kulturpolitik im Vergleich zu Frankreich erst spät für sich entdeckt hatte, 31 aktivierte man gerade deren Möglichkeiten der offensiven nationalen Selbstdarstellung. Der nationale Repräsentationsgedanke in der Weimarer Auswärtigen Kulturpolitik, die von der 1920 ins Leben gerufenen Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes und dem preußischen Kultusministerium maßgeblich geformt wurde, 32 bot konservativem Festhalten an überkommenen Vorstellungen vom Wesen der Deutschen und der historischen Bestimmung ihres Staates ebenso ein Dach wie den moderneren 29 Gemäß Jacques Hillairet: Dictionnaire historique des rues de Paris, Paris 1963, p. 413 residierte die Carnegie-Stiftung ab 1923 in dem 1682 erbauten Palais, 173, Bd. Saint- Germain. 30 Dazu umfassend Katja Marmetschke: „Deutschlandbzw. Frankreichforschung beiderseits des Rheins in der Zwischenkriegszeit. Die Universitäten Frankfurt/ Main, Köln und Paris“, in: Ulrich Pfeil: Deutsch-französische Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen im 20. Jahrhundert. Ein institutionengeschichtlicher Ansatz, München 2007, p. 73- 101. 31 Das gilt für die institutionalisierten Formen des Kulturaustauschs und ist ein Topos, der in der Weimarer Republik regelmäßig angeführt wurde zur Rechtfertigung verstärkter nationaler Selbstdarstellung im Ausland. Das trifft nicht zu für das individuelle Auslandsinteresse, das im Kaiserreich u.a. über zahlreiche Kulturzeitschriften genährt wurde. Cf. dazu Michel Grunewald, Hans Manfred Bock (ed.): Le discours européen dans les revues allemandes (1871-1914). Der Europa-Dskurs in den deutschen Zeitschriften (1871-1914), Bern 1996. 32 Zu der wesentlich von Carl Heinrich Becker geprägten preußischen Kulturpoltik cf. Guido Müller (ed.): Internationale Wissenschaft und nationale Bildung. Ausgewählte Schriften, Köln 1997; ders.: Weltpolitische Bildung und akademische Reform. Carl Heinrich Beckers Wissenschafts- und Hochschulpolitik 1908-1930, Köln 1991. <?page no="19"?> 19 liberal-demokratisch fundierten Ideen, die den Kulturaustausch als Instrument der Friedenssicherung definierten. Wenn das nationale Repräsentationsmodell Auswärtiger Kulturpolitik in der Weimarer Republik den zahlreichen zivilgesellschaftlichen Initiativen der Kontakt- und Kenntnisvermittlung zwischen Deutschland und Frankreich freie Entfaltungschancen ließ und sich öfters sogar auf deren Wissen und Dienste stützte, änderte sich dies fundamental mit dem von den Nationalsozialisten durchgesetzten Penetrations-Modell Auswärtiger Kulturpolitik in den deutsch-französischen Beziehungen. Gemäß dieser Konzeption von Auslands-Kulturarbeit wurden die Frankreich-Kontakte nicht eingestellt, sondern sie wurden auf eine neue organisatorische und ideologische Basis gestellt. Sie dienten anfangs (bis 1936) der Werbung um Anerkennung und Zustimmung zum NS-Regime in Frankreich, dann zunehmend als Offensivwaffe gegen die Republik und schließlich (ab 1940) als aggressives Instrument der geistigen Unterwerfung und Durchdringung der Nationalkultur des besetzten Landes. In dieser zunehmend gewaltsamen Praxis der transnationalen Kulturbeziehungen wurde stufenweise die Penetrationsabsicht offengelegt, die im Imperialismus des spätem 19. Jahrhunderts vorgeherrscht hatte und die auf die Zerstörung der Fremdkultur gerichtet war. Allerdings setzte das nationalsozialistische Deutschland zu diesem atavistischen Zweck alle modernen organisatorischen und institutionellen Mittel ein, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Arsenal Auswärtiger Kulturpolitik erprobt worden waren. In der ersten Stufe dieser Penetrationsstrategie zerstörten die Nationalsozialisten (1933 bis 1936) alle dem Geist von Locarno entsprungenen Vektoren der Verständigung mit Frankreich und zwangen deren Protagonisten ins Exil. 33 Ab 1936 bauten sie mit der Deutsch-Französischen-Gesellschaft / Comité France-Allemagne eine eigene, politisch-ideologisch eng geführte Organisation des gesellschaftlichen Gruppenaustausches auf und eröffneten 1937 in Paris das Goethe-Haus als neuen Begegnungsort neben der DAAD- Zweigstelle, die seit 1937 in ihren kulturpolitischen Kompetenzen eingeschränkt und unter die verstärkte Kontrolle des Auswärtigen Amtes gestellt wurde. 34 Auf der letzten Stufe dieser Penetrationsstrategie schließlich bündelte Deutschland fast alle Institutionen und Instrumentarien im 1940 gegründeten Deutschen Institut in Paris, das mit seinen verschiedenen Abteilungen und Außenstellen in anderen französischen Städten zum größten außenkulturpolitischen Dispositiv des NS-Staates in den besetzten Ländern 33 Cf. dazu in diesem Buch Kapitel VI. 34 Volkhard Laitenbeger: „Organisations- und Strukturprobleme der auswärtigen Kulturpolitik und des akademischen Austauschs in den zwanziger und dreißiger Jahren“, in: Kurt Düwell, Werner Link (ed.): Deutsche auswärtige Kulturpolitik seit 1871, Köln 1981, p. 72-96; cf. auch Volkhard Laitenberger: Akademischer Austausch und auswärtige Kulturpolitik. Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) 1923-1945, Göttingen 1976, p. 81-146. <?page no="20"?> 20 wurde. 35 Es trug langfristig mit seiner Hegemonie- und Kollaborationspolitik, mit seinem Insistieren auf der Überlegenheit der germanisch-deutschen Kultur und deren Einfluß auf die französische Nationalkultur zur anhaltenden Diskreditierung der deutschen Kulturofferten in Frankreich bei. Während der Kriegsjahre war in dieser Konzeption das Regulativ demokratischer Auswärtiger Kulturpolitik, die Gegenseitigkeit, aufgehoben. Das Penetrationsmodell wurde flankiert von der Propagandaaktion großen Maßstabes der „Aktion Ritterbusch“ und (teilweise in Verbindung mit dieser „Kriegsunterstützung durch die Geisteswissenschaften“ 36 ) durch eine kompakte antifranzösische Publikationsserie, die der Direktor des Deutschen Instituts unter Pseudonym koordinierte. Ein drittes Modell deutscher Kulturpolitik in Frankreich, das anfangs mehr von versöhnungsorientierten Gesellschaftsgruppen als von institutionellen Kräften der Politik gestaltet wurde, entstand im Laufe der 1950er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland in enger Verbindung mit gleichgerichteten Kräften in Frankreich. Es ist charakterisierbar als Konzeption umfassender soziokultureller Mediation zwischen beiden Nationen, die eine Neudefinition des Kulturbegriffs einschloß und zur Grundlage der teilweisen Transnationalisierung beider Gesellschafts- und Politiksysteme in der Gegenwart wurde. 37 Das Mediations-Modell entstand in der Praxis der Jugend- und Sport-Abteilung der französischen Besatzungsverwaltung in Deutschland und in den frühesten gesellschaftlichen Verständigungsorganisationen beider Länder unter maßgeblichem Einfluß personalistischer bzw. linkskatholischer Denktraditionen. 38 In Abgrenzung gegen die elitäre und individualistische Ausrichtung der organisatorischen und institutionellen Vektoren des Kulturaustauschs beider Nationen in der Zwischenkriegszeit erweiterten die Protagonisten eines Neuanfangs in den soziokul- 35 Cf. Frank-Rutger Hausmann: „Auch im Krieg schweigen die Musen nicht.“ Die Deutschen Wissenschaftlichen Institute im Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2001, p. 100-131; Eckard Michels: Das Deutsche Institut in Paris 1940-1944. Ein Beitrag zu den deutschfranzösischen Kulturbeziehungen und zur auswärtigen Kulturpolitik des Dritten Reiches, Stuttgart 1993. 36 Frank-Rutger Hausmann: Deutsche Geisteswissenschaft im Zweiten Weltkrieg. Die „Aktion Ritterbusch“ (1940-1945), Dresden 1998. 37 Cf. dazu meinen Synthese-Versuch: „Transnationalisierung als zeitdiagnostisches Kennwort und zeitgeschichtliches Konzept für die deutsch-französischen Beziehungen“, in: Corine Defrance, Michael Kißener, Pia Nordblom (ed.): Zivilgesellschaftliche Annäherungen. Wege der Verständigung zwischen Deutschen und Franzosen, Tübingen 2010. 38 Cf. Martin Strickmann: L’Allemagne nouvelle contre l’Allemagne éternelle. Die französischn Intellektuellen und die deutsch-französische Verständigung 1944-1950, Frankfurt/ Main 2004; cf. auch Hans Manfred Bock: „Das Deutsch-Französische Institut in der Geschichte des zivilgesellschaftlichen Austausches zwischen Deutschland und Frankreich“, in: Ders. (ed.): Projekt deutsch-französische Verständigung, op. cit., p. 56- 101. <?page no="21"?> 21 turellen Beziehungen die Zahl der potentiellen Akteure und das Feld ihrer Versöhnungs- und Verständigungstätigkeit weit über den akademischintellektuellen Bereich hinaus. Ansatzpunkt transnationaler Kommunikation sollten künftig geschaffen werden in vielen lebensweltlichen Teilbereichen, Gruppen und Vereinen, die im grenzüberschreitenden Verkehr imstande waren, einander wechselseitig kennen und schätzen zu lernen. Neben den im ersten Nachkriegsjahrzehnt sich neu formierenden Deutsch- Französischen Gesellschaften waren es vor allem die in dieser Zeitspanne zahlreich lokal bzw. regional sich neu konstituierenden, bilateralen oder multilateralen Auslandsgesellschaften, die in der Bundesrepublik Deutschland die Schrittmacherrolle für die Anerkennung der zivilgesellschaftlichen Meditations-Strategie ausübten. Besonders für die deutsch-französische Beziehungsachse fiel dem Deutsch-Französischen Institut in Ludwigsburg und seinem Pariser Interaktionspartner Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle die Funktion eines praktischen Koordinators und Ideengenerators zu. 39 Die Wirksamkeit der bilateral tätigen Auslandsgesellschaften und der Deutsch-Französischen Gesellschaften wurde seit den 1950er Jahren ergänzt durch die (von der Schweiz ausgehende) Städtpartnerschafts-Bewegung, die zur breitenwirksamsten soziokulturellen Agentur in den deutsch-französischen Nachkriegsbeziehungen wurde. 40 Die drei Gravitationszentren deutsch-französischer Kontaktpflege und Versöhnungsarbeit (von denen zwei originäre Schöpfungen der Nachkriegszeit waren) hatten in den fünfziger Jahren im Verhältnis zur politischen Administration einen bestimmenderen Einfluß auf die Gestaltung der bilateralen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen, als dies jemals vorher der Fall gewesen war. Sie gewannen vorübergehend eine solche Bedeutung vor allem aus zwei Gründen: Diese Bestrebungen lagen ganz auf der Linie der von Bundeskanzler Adenauer gesetzten Prioritäten der Verbesserung des bilateralen Verhältnisses der Bundesrepublik zu Frankreich. Adenauer hatte als Kölner Oberbürgermeister in der Weimarer Republik selbst Erfahrungen gemacht mit den Wirkungsmöglichkeiten gesellschaftlicher Akteure in diesen Beziehungen. 41 Andererseits waren die aus Privatinitiativen entstandenen Frankreichkontakte früher da als die ab 1951 allmählich erst 39 Ibid., p. 101-120. 40 Als neuere Studien aus einer größeren Zahl von einschlägigen Untersuchungen cf. Ingo Bautz: Die Auslandsbeziehungen der deutschen Kommunen im Rahmen der europäischen Kommunalbewegung in den 1950er und 1960er Jahren, Diss. Siegen 2002 und Antoine Vion: La construction des enjeux internationaux dans le gouvernement des villes françaises, Thèse Rennes I, 2001. 41 Hans Manfred Bock, Katja Marmetsche: „Gesellschaftsverflechtung zwischen Deutschland und Frankreich. Transnationale Beziehungen, Gesellschaft und Jugend in Konrad Adenauers Frankreichpolitik“, in: Klaus Schwabe (ed.): Konrad Adenauer und Frankreich 1949-1963. Stand und Perspektiven der Forschung zu den deutschfranzösischen Beziehungen in Politik, Wirtschaft und Kultur, Bonn 2005, p. 163-189. <?page no="22"?> 22 wieder aufgebaute Kulturdiplomatie der Bundesrepublik. Unter diesen Umständen war die Gestaltungs- und Leitungsfunktion der gouvernementalen Instanzen zu dieser Zeit noch nicht voll ausgebildet. Die Implementierungsschwierigkeiten des Deutsch-Französischen Kulturabkommens vom Oktober 1954 sind nicht zuletzt auch in diesem Zusammenhang zu sehen. Die frühesten Projekte der Neugründung kultureller Begegnungsorte in Paris waren in den 1950er Jahren maßgeblich getragen von gesellschaftlichen Netzwerken aus dem universitären Bereich und knüpften an entsprechende Planungen aus der Locarno-Ära der Weimarer Republik zumindest indirekt an: Dies war der Fall beim Deutschen Haus in der Cité Universitaire (November 1956), das in seiner Frühphase auch auf die aktive Unterstützung durch die Austauschorganisationen Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle und Deutsch-Französisches Institut in Ludwigsburg zählen konnte, und bei der Gründung der Deutschen Historischen Forschungsstelle in Paris (November 1958), des späteren Deutschen Historischen Instituts Paris. 42 Die neu entstandenen transnationalen Austauschorganisationen, deren außenkulturpolitische Vorstellungen richtungweisend bzw. repräsentativ für die Mediations-Strategie der Nachkriegs-Kulturbeziehungen wurden, vermochten nicht, aus eigenen Kräften Pariser Begegnungsorte aufzubauen, waren aber mit Rat und Tat beteiligt, als es darum ging, nach dem Deutsch-Französischen Vertrag vom 22. Januar 1963 eine Reihe der in dessen Gefolge neu geschaffenen soziokulturellen Anlaufstellen in Paris auf den Weg zu bringen. Das war namentlich so in der Gründung des Deutsch-Französischen Jugendwerks und der Eröffnung der Pariser Zweigstelle des Deutschen Akademischen Auslandsdienstes. 43 Das Goethe- Institut, das auf dem Grundstück des vormaligen Goethe-Hauses in der Avenue d’Iéna erst im Oktober 1965 als Neubau eröffnet wurde, war bis dahin in seiner Nebenstelle im Quartier latin (rue Condé) seit 1963 mit einem Programm hervorgetreten, das dem Mediations-Modell wesentlich entsprach, während die programmatische Inspiration des Gesamtinstituts offenbar noch zwischen dem älteren außenkulturpolitischen Repräsentations-Gedanken und der neuen Konzeption der nationalkulturellen Vermittlung schwankte. 44 Die in den ersten anderthalb Jahrzehnten der Nach- 42 Zu diesem inzwischen relativ besterforschten Pariser Begegnungsort cf. u.a. Rainer Babel, Rolf Große (ed.): Das Deutsche Historische Institut Paris. L’Institut historique allemand. 1958-2008, Ostfildern 2008; Ulrich Pfeil (ed.): Das Deutsche Historische Institut Paris und seine Gründungsväter. Ein personengeschichtlicher Ansatz, München 2007; Ulrich Pfeil: „Das Deutsche Historische Institut Paris. Eine Neugründung ‚sur base universitaire’“, in: Ders. (ed.): Deutsch-französische Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen, op. cit., p. 281-308. 43 Dazu auch ibid., p. 197-222: Ulrich Pfeil: „‚Dynamische, expansive Austauschpolitik auf allen akademischen Gebieten’. Die DAAD-Außenstelle in Paris (1963-1972)“. 44 Ekkehard Michels: „Vom Deutschen Institut zum Goethe-Institut“, in: Ulrich Pfeil (ed.): Deutsch-Französische Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen, op. cit., p. 181-196; <?page no="23"?> 23 kriegszeit sich von der gesellschaftlichen Basis her aufbauende Konzeption umfassenden Gruppenaustauschs zwischen beiden Nationen mit dem Ziel der Stabilisierung der politischen Beziehungen zwischen ihnen wurde auch dann nicht aufgegeben, als im Übergang zu den 1960er Jahren das Instrumentarium der bundesrepublikanischen Kulturdiplomatie effektiver gestaltet und professionalisiert wurde. 45 Im Gegenteil: Seit der sozialliberalen Koalition wurde ab 1969 zumindest der Kerngedanke der Mediations- Konzeption für die Auswärtige Kulturpolitik festgeschrieben. In den von Ralf Dahrendorf und Hans-Georg Stelzer formulierten „Leitsätzen für Auswärtige Kulturpolitik“ wurde programmatisch die Erweiterung des Kulturbegriffs gefordert, die seit den 1950er Jahren zur Konsensgrundlage der aktivsten privaten Auslands-Mittlerorganisationen geworden war. In ihrer Version hieß das: „Kultur ist heute nicht mehr ein Privileg elitärer Gruppen, sondern ein Angebot an alle. Sie ist ein Teil des dynamischen Prozesses der Veränderung unserer Gesellschaft, der den Weg zu internationaler Zusammenarbeit aller gesellschaftlichen Gruppen vorzeichnet. Das bedeutet eine beträchtliche Ausdehnung und weitere Differenzierung unserer Kulturarbeit im Ausland. Die Pflege kultureller Beziehungen im Sinne der bisherigen Konzeption bleibt auch in der Zukunft ein wesentliches Element unserer Auswärtigen Kulturpolitik. Bisher hat die Auswärtige Kulturpolitik sich vornehmlich auf die Förderung der Beziehungen zum Ausland im akademischen und künstlerischen Bereich, auf die Verbreitung der deutschen Sprache und die Unterstützung von deutschen Schulen im Ausland erstreckt. Diese Aufgaben bleiben wichtig: Mittel und Formen müssen jedoch einer veränderten Welt angepaßt werden.“ 46 Als Fazit dieses chronologischen Überblicks ist festzuhalten: Bedingt durch die internationalen und bilateralen Machtkonstellationen entstanden in Paris seit dem Ersten Weltkrieg symbolische Begegnungsorte, in deren Aktivitäten in der Regel ein jeweils regimespezifischer außenkulturpolitischer Gestaltungswille und zivilgesellschaftliche Initiativen zusammenwirkten. 3. Synchronischer Kontext In Ergänzung zur konzeptuellen Einpassung des Begriffs der soziokulturellen Begegnungsorte und ergänzend zur diachronischen Skizze ihrer Entders.: „Vom Glück der verspäteten Arbeitsaufnahme. Die Anfänge des Goethe- Instituts in Paris“, in: Lendemains. Etudes comparées sur la France, 2001, Nr. 103/ 104, p. 97-107. 45 Cf. dazu Ulrike Stoll: Kultur als Beruf. Dieter Sattler (1909-1968) in München, Rom und Bonn, Paderborn 2005, p. 315-416. 46 Auswärtiges Amt: Die Auswärtige Politik der Bundesrepublik Deutschland, Köln 1972, p. 7-82; cf. dazu auch Kurt Düwell: Zwischen Progaganda und Friedenspolitik, loc. cit., p. 73sq. <?page no="24"?> 24 wicklung mag als Hinführung zu den einzelnen Fallstudien dieses Bandes der synchronischen Frage nach ihren Konstituierungskontexten sowie den forschungsstrategischen Anschlußmöglichkeiten und Desideraten nachgegangen werden. Dabei soll die Aufmerksamkeit insbesondere auf das Zusammenwirken dieser institutionalisierten Akteure jeweils im Rahmen der drei außenkulturpolitischen Zielsetzung gerichtet werden, die ihre Handlungsmöglichkeiten in der Regel beeinflußten, aber nicht determinierten. Je nach diesen Rahmenbedingungen ging von den deutsch-französischen Orten der Begegnung eine größere oder geringere Eigendynamik aus. Diese wurden gestiftet von universitären und intellektuellen Kräften, die sich während der Nachkriegsjahre nach 1918 in Frankreich selbst für die Wiederaufnahme der geistigen Kontakte mit Deutschland einsetzten, und von mehr oder minder namhaften Wissenschaftlern und Schriftstellern aus Deutschland, die auf Einladung aus Paris oder auf eigene Initiative den Weg in die französische Hauptstadt beschritten. Ihr Auftreten dort war zu Beginn der Locarno-Ära in beiden Ländern noch heftig umstritten, war aber nach einem halben Jahrzehnt schon weitgehend zur Routine geworden. Gerade die kontroverse Beurteilung der Auftritte deutscher Kulturrepräsentanten in Paris trug bisweilen mehr zu deren Öffentlichkeitswirkung bei als die Vorträge, die von ihnen vor begrenztem Publikum gehalten wurden. Neben den Hörsälen der Sorbonne entstanden in der Pariser Öffentlichkeit allmählich und anfangs noch wenig sichtbar Begegnungsstätten, habituelle Treffpunkte und Informations-Umschlagsplätze, an denen deutsche Intellektuelle bzw. Künstler und ein Publikum zusammenkamen, das sich aus interessierten Franzosen, aber auch aus Angehörigen der deutschen Kolonie und anderer fremdnationaler Gruppen in der französischen Metropole zusammensetzte. 3.1. Kulturaustausch der Eliten in der Zwischenkriegszeit Ein frühes Beispiel für die Entstehung eines deutsch-französischen Begegnungsortes in Paris ist die 1924 erfolgte Gründung eines Groupe d’information internationale an der Eliteschule Ecole Normale supérieure (ENS) durch Studenten, die sich in Opposition zur Vätergeneration vom dominanten Nachkriegs-Nationalismus distanzierten und die lebendige Verbindung mit den Repräsentanten der Kultur anderer Nationen, und zwar einschließlich derer aus Deutschland, suchten. 47 Zwar ist es richtig, daß die Namensgebung der Gruppe nicht nur Camouflage für ein französischdeutsches Verständigungsunternehmen war, sondern daß diese auch Ver- 47 Dazu erstmals eingehender Anne Kwaschik: Auf der Suche nach der deutschen Identität. Der Kulturhistoriker und Essayist Robert Minder, Göttingen 2008, p. 39-47. <?page no="25"?> 25 treter anderer Nationen zum Gespräch einlud. 48 Aber auch in den späten 1920er Jahren trugen viele der in Paris wirkenden Organisationen (z.B. die Amitiés internationales) das Epithet „international“ in ihrem Firmenschild, obwohl sie ihre Arbeit (dem Gewicht des deutsch-französischen politischen Kardinalproblems entsprechend) hauptsächlich den französischen Beziehungen zu Deutschland widmeten. Die bis 1933 existierende Groupe d’information internationale in der rue d’Ulm umfaßte im Durchschnitt nicht mehr als ein gutes Dutzend ENS-Studenten. Darunter befanden sich jedoch viele junge Intellektuelle, die teilweise bis zu ihrem Tod in der Résistance, teilweise bis an ihr Lebensende im späten 20. Jahrhundert einen zentralen Platz in den Kulturbeziehungen zu Deutschland einnahmen: Robert Minder, Georges Friedmann, Henri Jourdan, Raymond Aron, Pierre Brossolette, Jean Prévost, Vladimir Jankélévitch, Jean Cavaillès u.a. Diese Gruppe hatte die praktische Unterstützung durch die Hochschulgermanisten Henri Lichtenberger, Charles Andler und Lucien Herr (Bibliothekar an der ENS) und suchte die geistige Protektion von Romain Rolland. Sie lud nachweislich zu Lesungen und Diskussionen ein: Emil Ludwig, Thomas Mann, Heinrich Mann, Hugo von Hofmannsthal, Kurt Tucholsky, Walter Mehring, Ernst Robert Curtius und Arnold Bergsträsser. Wie der Sitz der Groupe d’information internationale lagen auch die anderen frühen Anlaufstellen deutsch-französischen Besucherverkehrs in Paris im Weichbild der Sorbonne. So siedelte sich die westeuropäische Niederlassung des USamerikanischen Carnegie Endowment for International Peace am Boulevard Saint-Germain (Nr. 173) an, eine Adresse, die nicht weit von der Sorbonne und nahe bei einer Reihe von Ministerien des Faubourg Saint-Germain gelegen war. Dieser Treffpunkt deutscher Kulturrepräsentanten mit französischen und anderen Mitgliedern des europäischen Beraterstabes der Carnegie-Stiftung ist nahezu vergessen, obwohl er in den 1920er Jahren eine rege Tätigkeit entwickelte. Er war Tagungsort der Ratsmitglieder, die zweimal im Jahre zusammenkamen, und Veranstaltungsort für eigene friedenspolitische Unternehmungen wie für die Vorträge, die von der französischen Sektion des Europäischen Kulturbundes (Union Intellectuelle Française) in die Wege geleitet wurden. Diese anfänglich liberal-konservative Vereinigung, die in Paris 1924 parallel zu den deutschen, österreichischen u.a. Sektionen ins Leben gerufen wurde, hatte bis 1925 bei den monatlichen Ausspracheabenden im Carnegie-Haus bereits als Gäste empfangen: Rainer Maria Rilke, Hugo von Hofmannsthal, Annette Kolb, Henri Lichtenberger, Paul Valéry und Paul Langevin. 49 Das Carnegie Endowment, an dessen Spitze der vormalige republikanische Präsidentschaftskandidat, 48 Ibid., p. 42. 49 Guido Müller: Europäische Gesellschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg. Das Deutsch-Französische Studienkomitee und der Europäische Kulturbund, München 2005, p. 352. <?page no="26"?> 26 Präsident der Columbia-Universität und Friedensnobelpreis-Empfänger (1931) Nicholas Murray Butler stand, 50 führte überdies profilierte Persönlichkeiten zusammen. So waren im europäischen Ausschuß u.a. vertreten: Graf Carlo Sforza, Gilbert Murray, Alfred Spender, A. G. Gardiner, Henri Lichtenberger, André Honnorat, Moritz Julius Bonn und Alfred von Prittwitz-Gaffron. 51 Während die Aktivitäten der Carnegie-Friedensstiftung schon von den Zeitgenossen mit Skepsis betrachtet wurden (weil mit enormem Geldaufwand wenig greifbare Ergebnisse der Friedenssicherung erreicht wurden), 52 knüpften sich gerade unter den deutschen und französischen Ratsmitgliedern (Bonn und Prittwitz-Gaffron sowie Lichtenberger und Honnorat) freundlich-konstruktive Bande. Sie wurden z.B. 1931 bei der Erkundungsreise von Lichtenberger und Honnorat nach Berlin, die Klarheit schaffen sollte über die Möglichkeiten des Baues eines deutschen Hauses in der Cité Universitaire, ins Spiel gebracht. 53 Wenn dieses spektakuläre Projekt dann auch nicht zur Reife kam, so wurde vermittels der Zusammenarbeit zwischen Lichtenberger und Honnorat (beide politisch Raymond Poincaré nahestehend) die Gründung des Institut d’études germaniques gefördert und ein kleines Kontingent deutscher Französischlehrer in die Cité Universitaire aufgenommen. 54 Ein anderer Pariser Ort der Aufnahme deutscher Vortragsredner mit intellektueller Reputation war das Domizil der Union pour la vérité, einer republikanischen Intellektuellenvereinigung, in der Rue Visconti im 6. Arrondissement von Paris. 55 Dort trafen sich in der langen Geschichte dieser Vereinigung (die von 1892 bis 1939 reichte) unter der Leitung des Philosophen Paul Desjardins französische Wissenschaftler und Schriftsteller, um über relevante Fragen des öffentlichen Gemeinwesens und des geistigen Lebens zu diskutieren, und diese Fragen schlossen die französisch-deutschen Beziehungen ein. In drei großen Deutschland-Debatten zwischen 1912 und 1932 wurden in der Rue Visconti die politisch-intellektuellen Gegensätze zwischen beiden Nationen unabhängig von den diplomatischen Konjunkturen im vorpolitischen 50 Cf. Michael Rosenthal: Nicholas Miraculous. The Amazing Career of the Redoutable Dr. Nicholas Murray Butler, New York 2006. 51 Moritz Julius Bonn: So macht man Geschichte. Bilanz eines Lebens, München o.J. (1953), p. 295. 52 So zeichnet Bonn in seinen Memoiren (ibid., p. 295sq.) eine sehr ironische Skizze der Ratssitzungen in Paris, hebt aber die Qualität der Ratsmitglieder hervor. 53 Cf. dazu Kapitel V dieses Buches. 54 Dazu unten Kapitel V. 55 Cf. neuerdings François Beilecke: Französische Intellektuelle und die Dritte Republik. Das Beispiel einer Intellektuellenassoziation 1892-1939, Frankfurt/ Main 2003; François Beilecke, Hans Manfred Bock (ed.): „Vernunftethik als gesellschaftliche Begründung der Republik. Die Intellektuellenvereinigung Union pour la vérité in der Dritten Republik“, in: Lendemains. Etudes comparées sur la France, 1995, Nr. 78/ 79, p. 79-171; Rudolf Prinz zur Lippe: Die Union pour la vérité zur französischen Deutschlandpolitik 1918, Diss. Phil. Heidelberg 1964. <?page no="27"?> 27 Raum zu lösen versucht. 56 Von französischer Seite nahmen an diesen Diskussionsrunden alle namhaften Deutschland-Experten teil und von deutscher Seite waren Wissenschaftler und Journalisten daran beteiligt. Man kam gerade in der Veranstaltungs-Sequenz von 1931/ 32 nicht zu einer gemeinsamen Perspektive, aber der Treffpunkt Rue Visconti war zu der Zeit bereits zu einem Forum französisch-deutscher Gespräche geworden. Dort trugen zwischen 1922 und 1933 u.a. vor: Thomas Mann, Richard Coudenhove-Kalergi, Alfred Weber, Benno Reifenberg, Richard Rohden, Arthur Rosenberg, Gottfried Salomon u.a. Paul Desjardins hatte die deutschfranzösischen Dialogansätze 1922 unter das Motto gestellt: „D’abord: savoir; puis, peu à peu, comprendre; enfin: se résoudre.“ 57 Ein Motto, das in der Tat auch den späteren zivilgesellschaftlichen Konfliktlösungsversuchen im 20. Jahrhundert unausgesprochen zugrunde lag und das die Gespräche mit Deutschen bestimmte, die zu den Dekaden in Pontigny eingeladen wurden. Diese zwischen 1910 und 1939 von Paul Desjardins und André Gide in einer ehemaligen Zisterzienser-Abtei ausgerichteten europäischen Sommerakademien im Département Yonne standen im engen kommunikativen und organisatorischen Zusammenhang mit der Pariser Union pour la vérité und versammelten eine noch größere Zahl deutscher Teilnehmer zu themenzentrierten gemeinsamen Gesprächen. 58 Es entsprach der republikanisch-vernuftgläubigen Fundierung der Desjardinschen Diskussionsforen, daß in ihnen nach 1933 aus Deutschland nur mehr Verfolgte des nationalsozialistischen Regimes auftraten. In der Entstehung der hier skizzierten französisch-deutschen Kommunikationszentren der Jahre 1924 bis 1933 ging die Initiative von der französischen Seite aus und erfolgte ohne Absprache mit den Vertretern der politischen Administration des Landes. Im Vergleich zu ihnen traten andere bilaterale Begegnungsorte erst später hervor, und zwar gerade weil an ihrer Einrichtung die politische Verwaltung beteiligt war und sie einer vertraglichen Grundlage bedurften. Dies 56 Zur Topographie notiert Prinz zur Lippe (op. cit., p. 30): „Das Zusammentreffen vieler großer Name hatte in Paris gar nichts so Außergewöhnliches an sich und läßt keinesfalls auf einen besonderen Ehrgeiz des Leiters der Gespräche schließen, zumal die meisten von Desjardins herangezogen wurden, noch bevor sie zu dem späteren Ruhm gekommen waren. Dem entsprach auch vollkommen die Unscheinbarkeit der rue Visconti auf dem linken Seineufer, in der die Union ihren Sitz hatte. Die Räume selbst waren großzügig, aber ganz abgelegen. Der Versammlungsort hatte den Vorteil vollkommener Zurückgezogenheit. Und zugleich lag er doch in der Nähe von Saint-Germain-des-Prés, wo sich damals noch die Welt des vornehmen ‚Faubourg’ und die geistig-künstlerische des Quartier Latin trafen.“ 57 Hans Manfred Bock: „Europa als republikanisches Projekt. Die Libres Entretiens in der rue Visconti/ Paris und die Décades de Pontigny als Orte französisch-deutscher Debatte und Begegnung“, in: Lendemains. Etudes comparées sur la France, 1995, Nr. 78/ 79, p. 130sqq, Zitat p. 132. 58 Cf. dazu als Standardwerk François Chaubet: Paul Desjardins et les décades de Pontigny, Paris 2000. <?page no="28"?> 28 war der Fall bei der Errichtung des Internationalen Instituts für geistige Zusammenarbeit in Paris, bei der Eröffnung der Deutschen Akademisch- Pädagogischen Vermittlungsstelle und des Institut d’études germaniques. Das Internationale Institut für geistige Zusammenarbeit wurde im Januar 1926 nach längerer Vorbereitungszeit auf Initiative des Völkerbundes im Pariser Palais Royal eröffnet. 59 Nachdem von deutscher Seite die Mitarbeit im IIGZ anfangs durchaus umstritten war, wurde mit tatkräftiger Unterstützung des preußischen Kultusministers Carl Heinrich Becker der Experte für Erwachsenenbildung Werner Picht ab 1927 zu einem der vier Generalsekretäre dieses Instituts ernannt. Die deutsche kulturpolitische Vertretung in einer multilateral angelegten Institution wurde weniger eine Attraktion für eilige Durchreisende als ein Experimentierfeld und ein Testfall für Mitarbeiter der politischen Administration. 60 Der erste Direktor des IIGZ war von 1926 bis 1931 der französische Italianist Julien Luchaire, der über seine Frau (Antonina Vallentin), eine enge persönliche und politische Vertraute von Gustav Stresemann, 61 vielfältige Beziehungen nach Deutschland unterhielt. 62 Punktuell sind auch Querverbindungen führender Mitarbeiter des IIGZ zum Europa-Zentrum des Carnegie-Endowment in Paris belegbar. 63 Es fehlen hier aber noch Einzelstudien, um die Ausstrahlung der IIGZ-Tätigkeit auf die deutsche Außenkulturpolitik in der späten Weimarer Republik begründeter beurteilen zu können. 64 Anders als Albert Einstein oder auch sein Stellvertreter Hugo Andreas Krüß (der Direktor der Berliner Staatsbibliothek), die an der Arbeit der Genfer Völkerbund- Sektion für geistige Zusammenarbeit im Rhythmus ihrer Tagungen teilnahmen, waren Picht und seine Kollegin Margarete Rothbarth als ständige Beamte in Paris gleichsam in einer intellektuellen Frontposition intensiv in die Arbeit des IIGZ im Bereich des akademischen Austauschs und anderer Bereiche kultureller Zusammenarbeit zwischen den Völkerbund-Nationen 59 Jean-Jacques Renoliet: „La genèse de l’Institut international de coopération intellectuelle“, in: Relations Internationales, 1992, Nr. 72, p. 387-398; Werner Scholz: „Frankreichs Rolle bei der Schaffung der Völkerbundkommission für internationale kulturelle Zusammenarbeit 1919-1922)“, in: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte, 1994, 21/ 3, p. 145-158. 60 Einzelheiten dazu in Margarete Rothbarth: Geistige Zusammenarbeit im Rahmen des Völkerbundes, Münster/ Westfalen 1931. 61 Cf. unter ihren zahlreichen Publikationen Antonina Vallentin: Stresemann. Vom Werden einer Staatsidee, Münster/ Westfalen 1930. 62 Dazu die biographische Studie Laurent Broche: „Julien Luchaire, itineraire d’un Français faussement ‚moyen’ pendant la tourmente“, http: / / publications.univprovence. fr/ ddb/ document.php? id=83. 63 Z.B. in der Person des Briten Gilbert Murray. 64 Daß der Preußische Kulturminister Carl Heinrich Becker in der Besetzung dieser Stelle eine ausschlaggebende Rolle spielte, wird in seiner Korrespondenz mit Werner Picht und Erich von Prittwitz-Gaffron (Geheimes Staatsarchiv, Preußischer Kulturbesitz) deutlich. <?page no="29"?> 29 einbezogen. Die Beziehungen zwischen der deutschen Regierung und dem IIGZ wurden hergestellt über den Direktor der Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes (Hans Freytag). 65 Die Nationalsozialisten setzen diesem frühen Experiment in internationaler kultureller Zusammenarbeit mit dem Austritt aus dem Völkerbund im Oktober 1933 ein Ende. Im Falle eines anderen Pariser Gravitationszentrums akademisch-intellektuellen Besucherverkehrs aus Deutschland, nämlich dem Institut d’études germaniques, das etappenweise von 1928 bis 1930 gegründet wurde, liegen mehr Kenntnisse über seine Entstehung vor. 66 In seiner Gründungsgeschichte wirkten ein hochschulpolitisches und ein verständigungspolitisches Motiv zusammen. Hochschulpolitisch wurde in der Sorbonne ab 1920 die Schaffung von Instituten gefordert, die der Effektivitätssteigerung von Lehre und Forschung dienlich sein sollten. Nachdem im Bereich der neueren Fremdsprachen bereits Institute für slawische, skandinavische und spanische Studien errichtet worden waren, wurden die Hochschulgermanisten 1928 ihrerseits tätig mit der Einrichtung eines provisorischen Institut d’études germaniques, das von einer Société d’études germaniques getragen wurde. Nach der Auslagerung der fremdsprachlichen Disziplinen in das ehemalige Gebäude der Ecole des arts décoratifs, 5, Rue de l’Ecole de médecine, (das sich in unmittelbarer Nähe der Sorbonne befindet) erhielt das IEG bessere Raumkapazitäten und wurde am 15. Dezember 1930 feierlich eingeweiht. Mit der Anwesenheit des deutschen Botschafters bei dieser Feier wurde das offizielle deutsche Interesse an dieser Institutsgründung demonstriert. In der Auswahl der Festredner spiegelte sich die intendierte Einbindung des germanistischen Instituts in die breitere gesellschaftliche rapprochement- Bewegung der Locarno-Ära: neben Henri Lichtenberger, dem allgegenwärtigen Mittler in den deutsch-französischen Beziehungen dieser Jahre und Direktor der IEG 67 , sprachen Vertreter des Mayrisch-Komitees sowie des gerade nach Straßburg verlegten Centre d’études germaniques. 68 André Honnorat verlas die Rede des erkrankten Repräsentanten der politischen Klasse Raymond Poincaré. Durch die Verlegung des CEG von Mainz nach Straßburg und die sich anbahnende Mitarbeit eines Teils seiner Deutschlandexperten am Pariser Institut wurde die civilisation-Komponente in den 65 Margarete Rothbarth, op. cit., p. 64. 66 Zur Genese des Instituts cf. Katja Marmetschke: „Deutschlandbzw. Frankreichforschung beiderseits des Rheins in der Zwischenkriegszeit: Die Universitäten Frankfurt a.M., Köln und Paris“, in: Ulrich Pfeil: Deutsch-französische Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen, op. cit., p. 73-102. 67 Cf. sein Portrait in Hans Manfred Bock: Kulturelle Wegbereiter, op. cit., p. 217-232. 68 Dazu eingehend Corine Defrance: Sentinelle ou pont sur le Rhin? Le Centre d’Etudes Germaniques, Paris 2008, p. 22-82; dies.: „Le Centre d’études germaniques dans l’entre-deux-guerres“, in: Ulrich Pfeil: Deutsch-französische Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen, op. cit., p. 103-119. <?page no="30"?> 30 Deutschlandstudien der französischen Hochschulgermanistik gestärkt 69 und das IEG wurde der universitäre Mittelpunkt kultureller und politischer Deutschland-Analysen, die teils von französischen, teils von deutschen Wissenschaftlern und Schriftstellern vorgetragen wurden. 70 Nach 1933 hatte der Soziologe Gottfried Salomon aus Frankfurt/ Main, einer der langjährigsten Interaktionspartner von Henri Lichtenberger, als Hitler- Flüchtling eine Gastdozentur am IEG inne. 71 Das dritte Zentrum deutscher Kulturvertretung in Paris, das unter der Regie der politischen Administration zustande kam, wurde im selben Jahr errichtet wie das IEG. Anfang 1930 wurde eine Pariser Außenstelle des DAAD eröffnet, die anfangs als Deutsche Akademisch-Pädagogische Vermittlungsstelle in Erscheinung trat und ab Anfang 1931 nach dem Umzug in die 26, Passage d’Enfer (14. Arrondissement), unter dem Namen Zweigstelle des Deutschen Akademischen Austauschdienstes geführt wurde. Diese Dachorganisation war durch das Wirken eines Mitglieds des kulturpolitischen Kreises um den Preußischen Kultusminister Carl Heinrich Becker errichtet worden durch die Zentralisierung mehrerer Austausch- und Auslandsorganisationen in verschiedenen Ländern des Reiches. 72 Der vom Gründer des DAAD (Adolf Morsbach) nach Paris entsandte erste Zweigstellenleiter Hans Göttling setzte dort seinen Ehrgeiz darein, die bis dahin spontan (und in seinen Augen wildwüchsig) entstandenen soziokulturellen Verständigungsorganisationen deutscher Provenienz in Frankreich einem einheitlichen politischen Willen zu unterstellen. 73 Angesichts von nicht weniger als 53 deutsch-französischen Vereinen, die er in einer Bestandsaufnahme von Anfang der 1930er Jahre registrierte, 74 konnte ihm dies nicht gelingen. Andererseits erhielt er bereits zu Ostern 1930 von französischer Seite die explizite Anerkennung seiner Zweigstelle als deutsche akademische Vertretung in Paris, der entsprechende politische Verhandlungen vorausgegangen waren. Das Office national des universités et écoles françaises (ONUEF), das 1910 als internationale Austauschinstitution für die akademische Jugend geschaffen worden war und lange Zeit bis 1928/ 29 die Wiederaufnahme von Austauschmaß- 69 Dazu ibid., p. 74sq. 70 Beispiele in Kapitel IV dieses Bandes. 71 Cf. die Belege in Christoph Henning: „‚Der übernationale Gedanke der geistigen Einheit’. Gottfried Salomon (-Delatour), der vergessene Soziologe der Verständigung“, in: Amalia Barboza, Christoph Henning (ed.): Deutsch-jüdische Wissenschaftsschicksale, Bielefeld 2006, p. 48-100. 72 Als Überblick Volkhard Laitenberger: „Der DAAD von seinen Anfängen bis 1945“, in: Peter Alter (ed.): Der DAAD in der Zeit. Geschichte, Gegenwart und zukünftige Aufgaben, Bonn 2000, p. 20-48. 73 Béatrice Pellissier: „L’antenne parisienne du DAAD“, loc. cit., p. 274. 74 Cf. ibid., p. 275. <?page no="31"?> 31 nahmen mit Deutschland kategorisch abgelehnt hatte, 75 lenkte nun erst ein auf Druck aus dem Quai d’Orsay und begann seine Zusammenarbeit mit dem DAAD, die sich dann über den Zweiten Weltkrieg hinaus fortsetzen sollte. 76 Die Pariser DAAD-Zweigstelle war bestrebt, die Besetzung der deutschen Lektorenstellen in Frankreich unter ihre Kontrolle zu bringen und den Schulassistentensowie den Schüleraustausch zu koordinieren. Unter Göttlings Leitung gelang ihr schon ab 1932/ 33, die Lektorenvermittlung (die zuvor unter den Universitäten in Deutschland und Frankreich verhandelt wurde) zu ihrem Monopol zu machen. Die mutmaßliche Zahl der deutschen Lektoren in Frankreich bewegte sich auf einem niedrigen Niveau zwischen 12 und 19 jährlich. 77 In den ersten Jahren gelang es dem Zweigstellenleiter, bekannte französische Schriftsteller und Gelehrte für Vorträge in seiner Dienststelle zu gewinnen, die auch an anderen Stellen der bilateralen Begegnungsaktivitäten auftraten; so u.a. César Chabrun, Henri Lichtenberger, André Siegfried und Paul Valéry. 78 Die von Göttling verrichtete Arbeit der politischen Überformung der verschiedenen Varianten kultureller Kooperation zwischen Franzosen und Deutschen diente den Nationalsozialisten dann als Sockel für ihre weitergehende Unterwerfung der Privatinitiativen in diesem Bereich. Der erste Pariser Zweigstellenleiter des DAAD in Paris, der zu den Jungkonservativen gehörte, wurde nach der NS-Machtübernahme im Kontext des „Röhm-Putsches“ nach dem 30. Juni 1934 abberufen. Die Vorkämpfer aktiver Austausch- und Begegnungsaktivitäten zwischen Deutschland und Frankreich waren in der Weimarer Republik eine Minderheit, deren Wirkungen und Teilerfolge lange Zeit unterschätzt wurden. In den Augen der Nationalsozialisten stellten sie einen verhaßten Teil des Weimarer „Systems“ dar und spätestens seit 1930 schleusten sie ihre Agenten z.B. in die Deutsch-Französische Gesellschaft ein. 79 Der offensive Nationalismus, der grade auch die Außenkulturpolitik dieser Periode durchsetzte, wurde für einige der bildungs- und wirtschaftsbürgerlichen Aktivisten zur Brücke zum Nationalsozialismus. Nach bisherigem Kenntnisstand waren diese Kräfte anfangs jedoch die Ausnahme und nicht die Regel. Einen solchen ostentativen Übergang zum neuen Regime, der mit der Denunzierung der für mehr oder minder „sentimental“ erklärten demokratischen Verständigungsbewegung einherging, kann man bei André 75 Bis zu einer umfassenden Monographie zum ONUEF cf. Johann Chapoutot: „Das Office National des Universités et Ecoles Françaises (ONUEF) und Deutschland. Von der Ablehnung zur Bewunderung (1919-1939)“, in: Hans Manfred Bock (ed.): Französische Kultur im Berlin der Weimarer Republik, Tübingen 2005, p. 133-140. 76 Dazu Kapitel XII in diesem Band. 77 Cf. Pellissier, loc. cit., p. 276 und Volkhard Laitenberger: Akademischer Austausch und Auswärtige Kulturpolitik 1923-1945, Göttingen 1976, p. 279sq. 78 Pelissier, loc. cit., p. 272. 79 Cf. die Belege in Bock: „Die Deutsch-Französische Gesellschaft“, loc. cit., p. 95. <?page no="32"?> 32 Germain oder auch bei Otto Abetz feststellen. 80 Von Seiten der Nationalsozialisten standen in den ersten Jahren der Praxis ihrer Penetrationsstrategie die Versuche im Vordergrund, die erprobten soziokulturellen Kommunikationskanäle nach Frankreich sich dienlich zu machen. 81 Dabei setzten sie nicht auf die elitären Trägerschichten, die dem Geschehen in den 1920er Jahren sein Gesicht gegeben hatten, sondern auf die sehr viel breiteren Bevölkerungsteile, die in der Jugend- und in der Kriegsveteranenbewegung organisiert waren. 82 Der stärker charismatisch als intellektuell wirksame Manipulator, der diese Zusammenführung ungleicher Großgruppen zustande brachte, war Otto Abetz. 83 Ab Juli 1934 Frankreich- Referent der Dienststelle Ribbentrop, warb der vormalige Mitbegründer des Sohlbergkreises 84 bei seinen zahlreichen deutschen und französischen Freunden für die Gründung einer neuen bilateralen Begegnungsstruktur. Auch hier muß darauf hingewiesen werden, daß der Sohlbergkreis keineswegs der Prototyp der deutsch-französischen Dialogansätze der akademischen Jugend war. Im selben Zeitabschnitt trafen sich überwiegend deutsche und französische Studierende bei den Internationalen Hochschulwochen in Davos, die von einem führenden Repräsentanten der Weimarer Deutsch-Französischen Gesellschaft (Gottfried Salomon) angeregt und geleitet wurden und einen nachhaltigen Eindruck gerade bei den französischen Studenten hinterließen. 85 Die Treffen in der Schweiz endeten 1932 aufgrund finanzieller und politischer Schwierigkeiten. Die im Sohlbergkreis geknüpften deutsch-französischen Bande zwischen Jugendlichen wurden zur Keimzelle der nationalsozialistischen Deutsch-Französischen Gesellschaft und ihrer Pariser Partnerorganisation Comité France-Allemagne (CFA), die Ende 1935 gegründet wurden. Die nach Hunderttausenden von Mitgliedern zählenden Kriegsveteranenverbände in beiden Ländern waren die bevorzugten Adressaten der von Abetz und seinen Freunden lancierten Initiative, da sie ein mächtiger Faktor in der öffentlichen Meinung (insbe- 80 Cf. André Germain: Der Weg der Verständigung. Die politische Lage in Frankreich und ihre Auswirkung auf Deutschland, Berlin 1935. 81 Cf. die Darstellung in Dieter Tiemann: Deutsch-französische Jugendbeziehungen der Zwischenkriegszeit, op. cit. p. 308-354. 82 Cf. Corinna Franz: Fernand de Brinon und die deutsch-französischen Beziehugen 1918- 1945, München 2000, p. 149sq.; Claire Moreau Trichet: Henri Pichot et l’Allemagne de 1930 à 1945, Bern, Berlin 2004, p. 97 sq. 83 Barbara Lambauer: Otto Abetz et les Français ou l’envers de la collaboration, Paris 2001, bes. p. 45-119; Roland Ray: Annäherung an Frankreich im Dienste Hitlers? Otto Abetz und die deutsche Frankreichpolitik 1930-1942, München 2000, bes. p. 72-155. 84 Dieter Tiemann: Deutsch-französische Jugendbeziehungen der Zwischenkriegszeit, op. cit. p. 112-135. 85 Jean-François Sirinelli: Génération intellectuelle. Khâgneux et Normaliens dans l’entredeux-guerres, Paris 1988, p. 541sq. <?page no="33"?> 33 sondere Frankreichs) waren. 86 Zudem stand bei ihnen das Motiv der Friedenssicherung an oberster Stelle und die ehemaligen deutschen und französischen Frontkämpfer unterhielten seit 1925 über die Vermittlung der Conférence internationale des associations de mutilés et anciens combattants (CI- AMAC) wechselseitig respektvolle bis freundschaftliche Kontakte. 87 Aus der prekären Verbindung von antirepublikanischen Jugendrepräsentanten und pazifistischen Kriegsveteranenverbänden entstand ein neues Begegnungszentrum, das in Paris im bürgerlichen 8. Arrondissement seinen Sitz hatte. Ab Frühjahr 1937 war der ständige Sitz des CFA in 15, Rue de Vézelay. Da allen Anzeichen nach die Ressourcen, die Mitgliederzahl und die innere Kohärenz des CFA gering waren, 88 dürfte dieser Begegnungsort (der erste der nicht auf der rive gauche gelegen war! ) verhältnismäßig marginal geblieben sein. Ganz anders als die Schwestergesellschaft der Deutsch- Französischen Gesellschaft der Weimarer Jahre, die Ligue d’études germaniques, 89 verfügte die CFA über kein eigenes Publikationsorgan. Sie berichtete über ihre Tätigkeit in den Deutsch-Französischen Monatsheften, die zweisprachig im Karlsruher Verlag des Sohlbergkreises erschienen. 90 Auch in den Austausch- und Begegnungsvorgängen, die von der DFG/ CFA veranstaltet wurden, war der deutsche Teil der Organisation die treibende Kraft. Diese Reiseveranstaltungen wurden nunmehr fast ausschließlich in politisch genehmen, beruflichen Großgruppen aus Deutschland und mit der Absicht durchgeführt, die französischen Gäste von der positiven Qualität der nationalsozialistischen Umwälzung des Landes zu überzeugen. 91 Der 86 Zum Gesamtphänomen das Standardwerk Antoine Prost: Les Anciens Combattans et La Société Française, Paris 1977, 3 Bde. 87 Zur wenig erschlossenen Rolle der deutschen Frontkämpfervereinigungen cf. neuerdings Christian Weiß: „‚Soldaten des Friedens’ Die pazifistischen Veteranen und Kriegsopfer des ‚Reichsbundes’ und ihre Kontakte zu den französischen anciens combattants 1919-1933“, in: Wolfgang Hardtwig (ed.): Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918-1939, Göttingen 2005, p. 183-204. Zu Paul Distelbarth, einem der exponiertestens Repräsentanten des „Reichsbundes“ der Zwischenkriegszeit, auch zusammenfassend meine Studie: „Paul H. Distelbarth. Ein Anwalt alternativer Frankreich-Sicht und Frankreich-Politik in Deutschland“, in: Hans Manfred Bock (ed.): Paul H. Distelbarth. Das andere Frankreich. Aufsätze zur Gesellschaft, Kultur und Politik Frankreichs und zu den deutsch-französischen Beziehungen 1932-1953, Bern, Berlin 1997, p. 3-97. 88 In Erwartung einer umfassenderen Studie dazu Barbara Lambauer, op. cit., p. 95sq; Corinna Franz, op. cit., p. 149-213; Roland Ray, op. cit., p. 156-189. 89 Sie gab das Organ „Se connaître“ heraus. 90 Barbara Unteutsch: Vom Sohlbergkreis zur Gruppe ‚Collaboration’. Ein Beitrag zur Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen anhand der Cahiers Franco-Allemands/ Deutsch-Französische Monatshefte 1931-1944, Münster 1990. 91 Zur Inhaltsanalyse cf. Michel Grunewald: „Le ‚couple France-Allemagne’ vu par les nazis. L’idéologie du ‚rapprochement franco-allemand’ dans les ‚Deutsch-Französische Monatshefte/ Cahiers franco-allemands (1934-1939)“ in: Bock, Meyer-Kalkus, Trebitsch (ed.): Entre Locarno et Vichy, op. cit., p. 131-146, <?page no="34"?> 34 Höhepunkt dieses kollektiven politischen Reiseverkehrs wurde in den Jahren 1936-1938 erreicht, und zwar vor allem im Zusammenhang mit der Olympiade 1936 in Berlin und der Weltausstellung in Paris im Jahre 1937. 92 Die DFG/ CFA stellte sich als rein gesellschaftlicher Zweckverband der Völkerversöhnung und Friedenswahrung dar: Ihre Aufgabe sei „die Schaffung und Pflege der freundschaftlichen Beziehungen zwischen den führenden Persönlichkeiten und den verschiedenen Gliederungen des öffentlichen Lebens beider Länder. “93 Dies konnte von vielen französischen CFA- Repräsentanten durchaus für bare Münze genommen werden, die der Überzeugung waren, daß die grenzüberschreitenden Gesellschaftskontakte zwischen Deutschen und Franzosen ein Palliativ oder gar ein Korrektiv für die außenpolitischen Konflikte zu sein vermochten. 94 Die deutschen DFG- Vertreter hingegen konnten kaum einen Zweifel haben darüber, daß ihre Organisation fest im Griff der NSDAP war, deren Massenorganisationen mit zehntausenden von Mitgliedern korporativ in die vorgebliche Verständigungsorganisation eingegliedert wurden, die so faktisch eine Propagandaorganisation wurde. Da die Intellektuellen in den DFG/ CFA-Austauschbewegungen eine beiläufige Rolle spielten, traten dort die kulturindustriellen und massenkulturellen Bereiche wie Sport und Musik bzw. berufsständische Traditionen, regionale Brauchtums- und nationale Volkstums-Bestände in den Vordergrund der Programmgestaltung. Die Pflegestätten hochkulturellen Schaffens und Austauschs in Paris entwickelten sich in den Vorkriegsjahren des nationalsozialistischen Regimes ebenso im Zeichen der Penetrationsstrategie wie die populärkulturellen Begegnungsstrukturen. Als neuer Faktor kam dort allerdings hinzu, daß gleich mehrere parteiamtliche und politisch-administrative Institutionen sich den außenkulturpolitischen Raum in der französischen Metropole streitig machten. 95 Im Mittelpunkt dieser Machtkämpfe stand die DAAD-Zweigstelle. Sie geriet in den verstärkten Einfluß des Auswärtigen Amtes und in die zusätzliche Finanzierungskompetenz des Reichskultur-, des Innen- und des Propaganda-Ministeriums. Mit der Übernahme der Institutsleitung durch Karl Epting Ende 1934 steigerte die DAAD-Vertretung in Paris ihre werbende Propagandatätigkeit für das „Dritte Reich“ und ihre Vortragsangebote wurden überwiegend von Apologeten des Nationalsozialismus und deren radikal antirepublikanischen Gefolgsleuten in Frankreich gestaltet. Epting verband in seinem Wirken als Direktor der Zweigstelle bis 1939 seine subversive Arbeit gegen die Republik mit einem hohen Maß von Professionalität in Bezug auf die verschiedenen Aktionsbereiche auswärti- 92 Cf. dazu auch Kap. VIII dieses Buches. 93 Zitiert nach Barbara Unteutsch, op. cit., p. 127. 94 Zu dieser Wahrnehmung cf. Claire Moreau Trichet, op. cit. p. 47-96. 95 Volkhard Laitenberger: „Der DAAD von seinen Anfängen bis 1945“, in: Peter Alter (ed.): Der DAAD in der Zeit, op. cit. Bd. 1, p. 33sq. <?page no="35"?> 35 ger Kulturpolitik. 96 Als einzige neue Kultureinrichtung des „Dritten Reiches“ im Paris der letzten Vorkriegsjahre entstand neben der DAAD- Zweigstelle (in der 26, Passage d’Enfer) das Goethe-Haus in der 16, Avenue d’Iéna (16. Arrondissement). Dies Projekt, das in den Goethe-Feiern des Jahres 1932 seine Anfänge hatte und das dem damaligen deutschen Botschafter in Paris am Herzen lag, 97 war als Stipendiatenhaus für deutsche Kulturschaffende konzipiert. Es entsprach insofern dem französischen Akademikerhaus, das 1930 in Berlin eröffnet worden war. Durch die Schenkung des Gebäudes in der Avenue d’Iéna im Jahre 1935 seitens eines Deutsch-Amerikaners ermöglicht, konnte das Goethe-Haus erst am 19.11.1937 eingeweiht werden. 98 Unter der Leitung von Thankmar von Münchhausen spielte diese Institution in den knapp zwei Jahren ihrer Existenz in erster Linie als Wohnstätte und Förderer deutscher Kulturschaffender sowie als Treffpunkt mit französischen Wissenschaftlern, Schriftstellern und Künstlern eine Rolle. 99 Sie war eng verbunden mit dem Auswärtigen Amt, wies keine erkennbaren funktionalen Verbindungen mit der DAAD- Zweigstelle auf und wurde gelegentlich von NS-Funktionären argwöhnisch beurteilt. 100 Diese offiziellen Kultureinrichtungen des nationalsozialistischen Deutschland (DAAD und Goethe-Haus) standen in schroffer Frontstellung gegen die zahlreichen Exilanten, die ab 1933 vom Hitler-Regime zum Verlassen ihres Landes gezwungen wurden und sich anfangs überwiegend in Paris eine Zuflucht suchten. Die aus der Not geborenen Exilanten- Organisationen, meist berufliche Hilfs- und politische Solidaritäts-Einrichtungen, versuchten, ihre Kräfte gegenüber dem Aufnahmeland und ihrem Herkunftsland zu bündeln und durch asylpolitische, bündnispolitische und kulturpolitische Zusammenschlüsse zu potenzieren. 101 Die vielfältigen Initiativen des deutschen Exils in Frankreich der Jahre 1933 bis 1939 (inzwischen nicht zuletzt dank der Forschungsanstrengungen französischer Germanisten eines der bestuntersuchten Felder der deutsch-französischen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen) können exemplarisch anhand eini- 96 Cf. dazu seine komplexe Programmskizze für das Deutsche Institut in Paris in Frank- Rutger Hausmann: „Das Deutsche Institut in Paris (1940-1944)“, in: Ulrich Pfeil: Deutsch-französische Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen im 20. Jahrhhundert, München 2007, p. 128. 97 Eckard Michels: Das Deutsche Institut in Paris 1940-1944, Stuttgart 1993, p. 28sq. 98 Cf. dazu auch das Zeugnis von Paul Distelbarth in Kap. VII dieses Buches. Er gibt als Datum der Eröffnung den 17. Juli 1937 an. 99 Es fehlen bislang verläßliche Dokumente zur Tätigkeit des Goethe-Hauses, um die sich besonders Eckard Michels bemüht hat. 100 Cf. Eckard Michels, op. cit., p. 29 sq. 101 Zu der hier gewählten Perspektive auf das deutsche Exil in Paris cf. Anne Saint- Sauveur-Henn (ed.): Fluchtziel Paris. Die deutschsprachige Emigration 1933-1940, Berlin 2002. Ergänzende neuere Literatur in Kapitel VI dieses Buches. <?page no="36"?> 36 ger Brennpunkte dieser Sammlungsversuche in Paris vorgestellt werden. Nachdem die anfängliche Hilfsbereitschaft für die deutschen Hitler- Flüchtlinge in Frankreich mit deren ansteigender Zahl und infolge der wirtschaftskonjunkturellen Krise im Aufnahmeland abnahm, schlossen sich im Herbst 1935 15 Hilfsorganisationen zur Fédération des Emigrés d’Allemagne en France (FEAF) zusammen, u.a. um dem gemeinsamen asylpolitischen Interesse Nachdruck zu verleihen. Von den vielen persönlichen, politischen und gesellschaftlichen Kontakten, die in den Weimarer Jahren besonders zwischen französischen und deutschen Elitenangehörigen hatten geknüpft werden können, wurde in dieser Konstellation u.a. die Tätigkeit von Pierre Viénot, dem Mitbegründer des Deutsch-Französischen- Studienkomitees (Mayrisch-Komitee) 102 , von unmittelbar praktischer Bedeutung. Er hatte in der Locarno-Ära in Berlin die meisten politischen und intellektuellen Repräsentanten der Republik kennengelernt und ab Beginn der 1930er Jahre als sozialistischer Abgeordneter eine politische Karriere in Frankreich begonnen. 103 Sie führte ihn in der Volksfront-Regierung 1936 als Sous-Secrétaire d’Etat im Quai d’Orsay in eine politische Machtstellung, die er unter Wahrung der französischen Interessen zugunsten der deutschen Exilanten einzusetzen versuchte. Er war maßgeblich beteiligt an der Einrichtung des Comité Consultatif, das über den Flüchtlingsstatus der deutschen Exilanten zu befinden hatte und in dem die Fédération des Emigrés d’Allemagne en France Sitz und Stimme hatte. 104 Seit Mitte der 1920er Jahre in die Mittlerfunktion zwischen Deutschland und Frankreich eingeübt, die die luxemburgische Industriellen-Familie Mayrisch pflegte, 105 übernahm Viénots Frau Andrée Viénot-Mayrisch die Auswahl der französischen Mitglieder der Überprüfungskommission 106 und trug damit zu einem bemerkenswerten Werk transnationaler Solidarität bei. Neben dem überlebenswichtigen Kampf um das Asylrecht war das gemeinsame Handeln der nach tausenden zählenden Hitler-Flüchtlinge in Paris 107 bestimmt durch die Bestrebungen zur Herstellung politischer Einheit in der Volksfront-Bewegung und durch kulturpolitische Aktivitäten im Aufnahmewie im Herkunftsland. Aufgrund ihrer Kontakte zur 1932 gegründeten Associa- 102 Hans Manfred Bock: „Emile Mayrisch und die Anfänge des Deutsch-Französischen Studienkomitees“ in: Galerie. Revue culturelle et pédagogique, Luxemburg, 1992, p. 560- 585. 103 Cf. Gaby Sonnabend: Pierre Viénot (1847-1944). Ein Intellektueller in der Politik, München 2005., p. 293-366. 104 Ibid., p. 339 sq. 105 Cf. dazu meine Studie: „Der Colpacher Kreis als unsichtbares Netzwerk der Eliten zwischen Luxemburg und Deutschland in der Zwischenkriegszeit“, in: Galerie. Revue culturelle et pédagogique, Luxemburg, 1992, p. 333-388. 106 So Ursula Langkau-Alex: Deutsche Volksfront 1932-1939. Zwischen Berlin, Paris, Prag und Moskau, Berlin 2005, Bd. 2, p. 265. 107 Cf. dazu unten Kap. VI. <?page no="37"?> 37 tion des Ecrivains et Artistes Révolutionnaires (AEAR) und anderen antifaschistischen Gruppen standen eine Reihe von Protagonisten des deutschen Exils schon früh in Verbindung mit den Versuchen, ein politisches Bündnis von Kommunisten, Sozialdemokraten und (links-) bürgerlichen Intellektuellen in einer Volksfront herbeizuführen. Dieser politische Sammlungsversuch der deutschen Exilanten nahm in der Lutetia-Bewegung ab August 1935 konkretere Gestalt an, scheiterte jedoch an seinen übermächtigen inneren Widersprüchen Ende Oktober 1937. 108 Im Vergleich mit dem Repräsentationsanspruch der FEAF und des vorbereitenden Ausschusses der Deutschen Volksfront (Lutetia-Kreis) war allem Anschein nach die Zusammenfassung der deutschen Hitler-Gegner in Paris in kulturpolitischen Organisationen der wirksamere Teil ihrer Opposition. Diese relativ starke Präsenz des deutschen Exils in Paris war fundiert durch das emphatische Bekenntnis zur Aufklärung und zu den Zielsetzungen der Revolution von 1789, die in Hitler-Deutschland verachtet und vernichtet wurden, und durch den Anspruch, das „andere“, das bessere Deutschland zu verkörpern. 109 Ein Anspruch, der von den deutschen Exil-Gruppen in anderen europäischen und amerikanischen Städten durchaus anerkannt wurde. In die französische und (so zumindest die Hoffnung) in die deutsche Öffentlichkeit hinein reichten die kulturellen Exil-Initiativen in Gestalt mehrerer Pariser Organisationen. Sie entstanden in der Regel in der Reaktion auf kulturzerstörerische Großmanifestationen im NS-Deutschland. So z.B. der Schutzverband Deutscher Schriftsteller (SDS) in Paris, der von Oktober 1933 bis Oktober 1939 eine dominante Rolle im Gesellschafts- und Kulturleben des Pariser Exils spielte. Er konstituierte sich in Reaktion auf die Bücherverbrennungen in Deutschland am 10. Mai 1933 und hatte etwa 150 Mitglieder. 110 Noch im Frühjahr 1938 wurde in Paris der Freie Künstlerbund gegründet als Gegenmaßnahme gegen die Münchner NS-Ausstellung „Entartete Kunst“ vom Juli 1937. 111 Die am ersten Jahrestag der Bücherverbrennung, am 10. Mai 1934, eröffnete Deutsche Freiheits-Bibliothek, die unter der Leitung von Alfred Kantorowicz, dem Präsidium von Heinrich Mann und in enger Zusammenarbeit mit dem SDS am 65, Boulevard Arago 108 Ursula Langkau-Alex, op. cit., Bd. 2, p. 487sq. Cf. auch Willi Jasper: Hotel Lutetia. Ein deutsches Exil in Paris, München, Wien 1994. 109 Albrecht Betz: Exil und Engagement. Deutsche Schriftsteller im Frankreich der dreißiger Jahre, München 1986. 110 Dieter Schiller: „Der Pariser Schutzverband deutscher Schriftsteller (société allemande des gens de lettre, siège Paris). Eine antifaschistische Kulturorganisation im Exil“, in: Exilforschung. Bd. 6: Vertreibung der Wissenschaften und andere Themen, München 1988, p. 174-190. 111 Hélène Roussel: „Die emigrierten deutschen Künstler in Frankreich und der Freie Künstlerbund“, in: Exilforschung. Bd. 2, München 1984., p. 172-211. <?page no="38"?> 38 (15. Arrondissement) existierte, 112 wurde zum Emblem und bekanntesten Begegnungsort der deutschen Hitlergegner in Paris. Die prekären Lebensumstände der Exilanten, aber auch der chronische Ressourcenmangel der Exil-Organisationen erschwerten die dauerhafte Konstituierung von Begegnungsorten. Selbst ihre Versammlungsorte wechselten oft und waren typischerweise auf die halböffentlichen Lokalitäten von Cafés und Hotels angewiesen. 113 Nach dem Zerfall der Volksfront-Bewegung im Herbst 1937 wurden die kulturellen Exil-Vereinigungen, die den politischen Polarisierungsprozeß (nicht ganz unbeschadet) überlebt hatten, zu den handlungsfähigsten Akteuren des deutschen Exils in Paris. Gemäß der oft zitierten Einschätzung des Zeitzeugen Bruno Frei aus dem Jahre 1938 hatte sich „das Kulturinteresse als stärkstes Band der sonst vielfach der Zersplitterung verfallenen Emigration erwiesen.“ 114 Überschattet von der abermaligen Kriegsdrohung, die zu verhindern das oberste Ziel der allermeisten deutsch-französischen Verständigungsversuche und Begegnungsorte seit den 1920er Jahren gewesen war, kam 1939 eine Organisationsgründung zustande, in der sich ein breites Spektrum (teilweise namhafter) deutscher Exilanten mit ihren (teilweise prominenten) französischen Freunden zusammenfanden in einer binationalen Deutsch-Französischen Union / Union Franco-Allemande. Sie bekannte sich zur Anerkennung der Freiheits- und Menschenrechte sowie zur „gemeinsamen Basis der humanistischen Traditionen der abendländischen Welt“ und bekundete den Willen, „mit allen geeigneten Mitteln der Annäherung und Zusammenarbeit aller wahren Repräsentanten des geistigen und politischen Lebens beider Länder zu dienen“. 115 Zu den Unterzeichnern dieses Aufrufs vom April 1939 gehörte u.a. der Herausgeber der nonkonformistischen Zeitschrift „Esprit“ Emmanuel Mounier, der maßgeblich zur Neufundierung der französischdeutschen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen nach 1945 beitrug. Mit Kriegsbeginn im September 1939 veranlaßte die französische Regierung umfassende Internierungsmaßnahmen gegen die deutschen Exilanten und trug damit zu einer sehr ambivalenten rückblickenden Bewertung des französischen Exils durch die Hitler-Flüchtlinge bei. 116 112 Dieter Schiller: „Die Deutsche Freiheitsbibliothek in Paris“, in: Exilforschung. Bd. 4 München, p. 203-219; cf. auch Wolfgang Gruner: „Ein Schicksal, das ich mit vielen anderen geteilt habe“. Alfred Kantorowicz, sein Leben und seine Zeit 1899-1935, Kassel 2005, p. 249sq. 113 Cf. dazu auch Willi Jasper, op. cit., p. 67sq. 114 Zitiert nach Dieter Schiller: „Der Pariser Schutzverband“, loc. cit., p. 186. 115 Aufruf der Deutsch-Französischern Union in: Die Zukunft, 1939, April-Heft. 116 Jacques Grandjonc, Theresia Grundtner (ed.): Zone der Ungewißheit. Exil und Internierung in Südfrankreich 1933-1944, Reinbek 1993. Zu der inzwischen mehrfach untersuchten deutschen Exil-Kolonie in Sanary-sur-Mer cf. zuletzt Ulrike Voswinckel, Frank Berninger (ed.): Exil am Mittelmeer. Deutsche Schriftsteller in Südfrankreich, München 2005. <?page no="39"?> 39 Mit Kriegsbeginn wurde in der offiziellen deutschen Kulturpolitik im Bezug auf Frankreich aller Zweideutigkeit ein Ende bereitet. Bereits während der drôle de guerre, der Phase des deutsch-französischen Sitzkrieges, lancierte der letzte DAAD-Direktor der Zwischenkriegszeit, Karl Epting, von Berlin aus ein umfassendes antifranzösischen Propagandawerk, das den Titel „Frankreich gegen die Zivilisation“ trug und das offensichtlich der verächtlichen Herabstufung des Landes im nationalsozialistischen Europa dienen sollte. 117 Er qualifizierte sich damit für die führende kulturpolitische Rolle im besetzten Paris, wohin er im September 1940 zurückkehrte. Die nationalsozialistische Penetrationsstrategie bediente sich im besetzten Paris seit Juni 1940 neben der Propagandaabteilung und einer Reihe von sekundären kulturellen Überwachungsstellen 118 vor allem des Deutschen-Instituts (DI), das Anfang September 1940 in der 57, rue Saint- Dominique (7. Arrondissement) eröffnet wurde. Diese neue Institution wurde von Epting geleitet und sie war einer Erfindung des Auswärtigen Amtes für die kulturellen Außenbeziehungen im Kriege. 119 Generell kennzeichnete deren institutionelle Entwicklung in der Kriegskonstellation ein Zwang zur Zusammenfassung der arbeitsteilig ausgegliederten Aktionsbereiche; andererseits dauerten die außenkulturpolitischen Kompetenzrivalitäten zwischen Auswärtigem Amt, Reichspropagandaministerium und Reichserziehungsministerium in den Kriegsjahren an. 120 Als prägnante Formulierung der politisch-propagandistischen Funktionalisierung der Auswärtigen Kulturpolitik im Kriege gilt die Zielbestimmung für die 1940 in 15 europäischen Ländern gegründeten Deutschen Wissenschaftlichen Institute (DWI). Diese sollten „dem bewußten Einsatz der Geisteskräfte des deutschen Volkes zur Beeinflussung der geistigen Schichten anderer Völker und darüber hinaus zur Erringung der geistigen Führung in Europa“ dienen. 121 Unter den 15 DWI in den verbündeten, neutralen oder besetzten Ländern nahm das Deutsche Institut in Paris eine Sonderstellung ein in Bezug auf seine Ausstattung, seine umtriebigen Aktivitäten und sein Netz von Zweigstellen in Frankreich. 122 Neben Karl Epting war Karl Heinz Bremer, ein ebenso intelligenter wie fanatischer Nationalsozialist und vorma- 117 Cf. Frank-Rutger Hausmann: „Deutsche Geisteswissenschft“ im Zweiten Weltrkieg, op. cit., p. 285sq. 118 Cf. dazu Frank-Rutger Hausmann: „Auch im Krieg…“, op. cit. und Eckard Michels: Das Deutsche Institut, op. cit. 119 Ergänzend dazu Stephanie Corcy: La vie culturelle sous l’occupation, Paris 2005; Philippe Burrin: La France à l’heure allemande 1940-1944, Paris 1995, p. 329 sq. 120 Cf. Volkhard Laitenberger: „Der DAAD von seinen Anfängen“, loc. cit., p. 44 sq. 121 Zitat ibid., p. 45. Die Formulierung stammte von Fritz von Twardowski, der damit die Auffassung der Institutsleiter zusammenfaßte. 122 Zusammenfassend dazu Frank-Rutger Hausmann: „Das Deutsche Institut in Paris“, in: Pfeil (ed.): Deutsch-französische Kultur-und Wissenschaftsbeziehungen, op. cit., p. 123- 136. <?page no="40"?> 40 liger Lektor an der Ecole Normale Supérieure, 123 der spiritus rector der Institution, in der die Funktionen der Kulturabteilung der Botschaft, der DAAD-Zweigstelle und des Goethe-Hauses zusammengeführt wurden. Bremer machte von Anfang an klar, daß es bei den Aktivitäten des DI um eine positiv werbende Darstellung des nationalsozialistischen Deutschland ging, die das kritische Bild des NS-Regimes, das von den deutschen Exilanten und einigen französischen Deutschlandexperten gezeichnet wurde, verdrängen sollte. 124 In den rund vier Jahren seiner Existenz übernahm das DI die Funktion der kulturpolitischen Werbung, während die dem Militär unterstellten Propagandastaffeln die Rolle der kulturpolitischen Repression durchführten. Dieser kalkulierte Dualismus der NS-Kulturpolitik im besetzten Frankreich, der nach 1945 für viele ehemalige Mitarbeiter des DI als Alibi diente, 125 war in der praktischen Wirklichkeit nicht umzusetzen: Beide Institutionen wirkten zusammen in der Praxis der Literatur-Verbote („Liste Otto“ 126 ), der Schulbuchzensur, der antisemitischen Hochschulrelegationen und der Überwachung des französischen Kulturexports. 127 In seiner werbenden Funktion leistete das bei weitem bestausgestattete DI quantitativ naturgemäß mehr als alle älteren Begegnungsorte in Paris. Von ihnen unterschied es sich radikal durch seinen nationalsozialistischen Bekehrungs- und Hegemonialwillen, der an die Stelle der vermeintlichen kulturellen Vorherrschaft Frankreichs in Europa treten sollte. Zu den organisatorischen Leistungen des Pariser DI, 128 die von dieser Prämisse geleitet wurden, gehörte der Aufbau und der Unterhalt einer schließlich rund 30.000 Bände umfassenden Bibliothek, die in dem großzügigen Bauwerk aus dem 18. Jahrhundert in der Rue Saint-Dominique 129 zugänglich war. In den ersten drei Jahren der Institutstätigkeit wurden dem französischen Publikum 109 Vorträge angeboten, die zur Hälfte etwa das zeitgenössische Deutschland und seine Vorgeschichte zum Thema hatten. Es trugen dort vor u.a. die Publizisten Friedrich Sieburg, Anton Zischka, Erich Edwin Dwinger, Georg Britting und Ina Seidel; von den namhaften Wissenschaft- 123 Frank-Rutger Hausmann: „Karl Heinz Bremer et Henry de Montherlant“, in: Lendemains, 2000, Nr. 100, p. 97-121. 124 Ein ergänzungs- und diskussionsbedürftiger Versuch, die Frankreich-Perzeption im Dritten Reich zu thematisieren in Wolfgang Geiger: L’image de la France dans l’Allemagne nazie 1933-1945, Rennes 1999, dort bezieht sich Kapitel 1 auf die Jahre 1933-1940. 125 Dazu überzeugend Eckard Michels: Das Deutsche Institut in Paris, op. cit., p. 120sq. Cf. dazu als Dokument Gerhard Heller: In einem besetzten Land. NS-Kulturpolitik in Frankreich. Erinnerungen 1940-1944, Hamburg 1982. 126 Gérard Loiseaux: La littérature de la défaite et de la collaboration, Paris 1996. 127 Eckard Michels, op. cit., p. 257. 128 Zu deren kritischer Diskussion cf. ibid., p. 188sq. und Frank-Rutger Hausmann: „Auch im Krieg“, op.cit., p. 56sq. 129 Das Gebäude (von 1774-1777) war ab 1937 in Eigentum der polnischen Botschaft gewesen. Jacques Hillairet, op. cit., Bd. 2, p. 404. <?page no="41"?> 41 lern hielten Vorträge am DI u.a.: Friedrich Grimm, Carl Schmitt, Karl- Heinz Pfeffer, Eugen Fischer, Erich Rothacker und Hans-Georg Gadamer. 130 Dem Nachweis der mangelnden kulturellen Öffnung Frankreichs im Verhältnis zu Deutschland diente die Erstellung einer Bibliographie der Buchübersetzungen aus dem Deutschen ins Französische bis zu Beginn des Zweiten Weltkrieges, an der das DI maßgeblich beteiligt war. 131 In das Bild des vom DI erhobenen Anspruchs, ein Partner und Helfer bei der Erneuerung und zeitgemäßen Verjüngung der französischen Kultur zu sein, paßte schließlich auch, daß es seine Programme und seine Zeitschrift („Deutschland/ Frankreich“) 132 weit öffnete für die Mitarbeit der exponiertesten intellektuellen Kollaborateure von der französischen Seite, 133 die größtenteils bereits in den Vorkriegsjahren auf der Grundlage eines aggressiven Antirepublikanismus mit den Leitern des DAAD verkehrt hatten. 134 Nach der Schließung des DI im Monat der Befreiung von Paris (August 1944) sollte es zehn Jahre dauern, bis die Entscheidung für die Errichtung des ersten gesellschaftlich verankerten deutschen Kulturinstituts getroffen wurde und nahezu zwanzig Jahre, bis die Gründung gouvernemental vereinbarter deutscher Kultureinrichtungen in Paris ermöglicht wurde. 3.2. Gruppenaustausch und erweiterter Kulturbegriff in der Nachkriegszeit Da von den verantwortlichen Akteuren der deutschen Kulturpolitik im Frankreich der späten 1930er und der frühen 1940er Jahre nach Kriegsende eine kritische Aufarbeitung ihres Handelns nicht geleistet wurde, kamen von dieser Seite mehr Rechtfertigungen als Neuanfänge. 135 Obwohl auch von der zuständigen akademischen Elite, den Hochschul-Romanisten, viele Wissenschaftler am „Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften“ teilgenommen hatten, 136 unterblieb auch von deren Seite eine selbstkritische Revision ihres politischen Engagements. Stattdessen folgten die meisten Nachkriegs- 130 Frank-Rutger Hausmann: „Vom Strudel der Ereignisse verschlungen“, op. cit., p. 547sq. 131 Veröffentlicht in Verbindung mit Kurt Wais, dem Tübinger Romanisten, unter dem Titel Liselotte Bihl, Karl Epting: Bibliographie französischer Übersetzungen aus dem Deutschen 1487-1944. Bibliographie de traductions françaises d’auteurs de langue allemande, Tübingen 1987, 2. Bde. 132 Cf. dazu Eckard Michels: Das Deutsche Institut in Paris, op. cit., p. 239sq. 133 Cf. Albrecht Betz: „‚Strahlungen’? Das deutsche Kulturinstitut in Paris (1940-1944),“ in: Richard Faber, Christine Holste (ed.): Kreise, Gruppen, Bünde. Zur Soziologie moderner Intellektuellenassoziation, Würzburg 2000, p. 252-302. 134 Als Dokument dazu Karl Epting: Frankreich im Widerspruch, Hamburg 1942. 135 Hans Manfred Bock: „Tradition und Topik des populären Frankreich-Klischees“, loc. cit., p. 493sq. 136 Zur romanistischen Vergangenheitsbewältigung cf. Frank-Rutger Hausmann: „Vom Strudel der Ereignisse verschlungen“, op. cit., p. 617sq. <?page no="42"?> 42 Romanisten dem Votum einer ihrer Autoritäten, Ernst Robert Curtius, der nunmehr jedes verständigungspolitische Bestreben ablehnte. Zu den Standardargumenten der deutschen Romanisten gehörte, daß der erste Schritt von der französischen Besatzungsmacht erfolgen müsse. In deren deutschlandpolitischer Strategie gab es in den ersten fünf Nachkriegsjahren eine Option, die auf die enge Kontrolle und Repression des kulturellen Lebens im besetzten Deutschland zielte, und eine andere Handlungsperspektive, die den eigenverantwortlichen Wiederaufbau der Kultur zu fördern bereit war. 137 Mit Hilfe der politischen Rückwirkungen des Kaltes Krieges und der beginnenden westeuropäischen Integration, sowie in der Folge der Deutschlandpolitik von Robert Schuman, die eine Kontrolle West-Deutschlands durch Integration intendierte, konnte sich die zweite kulturpolitische Option innerhalb und außerhalb der Besatzungsverwaltung durchsetzen. Innerhalb dieses Verwaltungsapparates war es die Kulturabteilung im allgemeinen (repräsentiert durch ihren Direktor Raymond Schmittlein 138 ) und die Unterabteilung „Sports et Jeunesse“ im besonderen (und dort namentlich Jean-Charles Moreau, Joseph Rovan u.a.), die auf die konstruktiven, demokratischen Kräfte kultureller Erneuerung von der gesellschaftlichen Basis des besetzten Landes her setzten. 139 Außerhalb dieses Aktionsbereichs in Deutschland selbst ergriffen 1948 in Paris linkskatholische Intellektuelle um Emmanuel Mounier die Initiative für die Errichtung einer ersten Informations- und Austauschorganisation mit Deutschland, die den Namen Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle erhielt und ein Bulletin mit dem Titel „Allemagne“ herausgab. 140 Die vom katholischen Militärgeistlichen Jean Du Rivau schon vorher ins Leben gerufene Verständigungsorganisation, die 1948 als Bureau International de Liaison et de Documentation in die Öffentlichkeit trat, veröffentlichte das Periodikum „Documents“, das im katholischen und universitären Bereich über die Entwick- 137 Dazu die differenzierte Darstellung von Dietmar Hüser: „Frankreich, Deutschland und die französische Öffentlichkeit 1944-1950. Innenpolitische Aspekte deutschlandpolitischer Maximalpositionen“, in: Stefan Martens (ed.): Vom „Erbfeind“ zum „Erneuerer“. Aspekte und Motive der französischen Deutschlandpoltik nach dem Zweiten Weltkrieg, Sigmaringen 1993, p. 19-64. 138 Cf. Corine Defrance: „Raymond Schmittlein (1904-1974). Ein Kulturmittler zwischen Deutschland und Frankreich? “, in: François Beilecke, Katja Marmetschke (ed.): Der Intellektuelle und der Mandarin, Kassel 2005, p. 481-502. 139 Cf. Jaqueline Plum: Französische Kulturpolitik in Deutschland 1945-1955, Wiesbaden 2007; Stefan Zauner: Erziehung und Kulturmission. Frankreichs Bildungspolitik in Deutschland 1945-1949, München 1994. 140 Carla Albrecht: „Das Comité français d’échanges avec l'Allemagne nouvelle als Wegbereiter des Deutsch-Französischen Jugendwerks“, in: Lendemains 2002, Nr. 107/ 108, p. 177-189; Martin Strickmann: L’Allemage nouvelle contre l’Allemagne éternelle. Die französischen Intellektuellen und die deutsch-französische Verständigung 1944-1950, Bern, Berlin 2004. <?page no="43"?> 43 lung Deutschlands informieren sollte. 141 Die deutschen Partnerorganisationen, über die private Einzel- oder Gruppen-Austauschbewegungen eingeleitet wurden, waren das Deutsch-Französische Institut in Ludwigsburg und die Gesellschaft für übernationale Zusammenarbeit in Köln. 142 Im Übergang zu den 1950er Jahren nahm die Zahl von dergleichen bilateralen oder multilateralen Auslandsorganisationen in beiden Ländern beständig zu. 143 Im bilateralen Interaktionsbereich trat an ihre Seite ein alter und ein neuer Typus von Austauschvehikeln: die sich wiedergründenden Deutsch- Französischen Gesellschaften und ihre französischen Partnerorganisationen sowie die deutsch-französischen Gemeindepartnerschaften, die sich schon Ende der fünfziger Jahre als erfolgreichste neue Formel im beiderseitigen Gesellschaftsverkehr erwiesen. 144 Dies mehrschichtige neue Beziehungsgeflecht wurde durch die Deutschland- und Europa-Politik der Regierungen Adenauer und Schuman begünstigt und stieß nach der politischen Lösung der Saarkrise ab 1957 auch in den Gesellschaften beider Länder auf weiter wachsendes Interesse. Der so entstandene wechselseitige Kommunikations-, Informations- und Begegnungsraum wurde (im historischen Vergleich) zum relativ breiten Gesellschaftssockel, auf dem das Mediations- Modell konzipiert und artikuliert wurde. Es wurde in allen wesentlichen Charakteristika formuliert auf einer Tagung der internationalen Austauschorganisationen Mitte Mai 1955 in Marly-le-Roi, auf der die Sprecher des Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle und des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg den Ton angaben. Ihr Konsens bezog sich auf die notwendige Professionalisierung der Austauscharbeit, auf deren Breitenwirkung vermittels Zusammenführung gleichartiger Berufsgruppen und auf die „Erweiterung des Kulturbegriffs“, der nicht mehr nur auf die Hochkultur, sondern auf möglichst viele Ausschnitte der sozialen Wirklichkeit in beiden Ländern bezogen sein sollte. Auf dieser und den Nachfolgekonferenzen des Arbeitskreises der privaten Institutionen für internationale Begegnung und Bildungsarbeit, der Dachorganisation der Auslandsvereinigungen in der Bundesrepublik, waren Repräsentanten der deutschen und der französischen Kulturbürokratie zugegen, 141 Henri Ménudier: „La Revue française des questions allemandes: Documents 1945- 1949,“ in: Franz Knipping (ed.): Frankreichs Kulturpolitik in Deutschland 1945-1950, Tübingen 1987, p. 349-387. 142 Hans Manfred Bock (ed.). Projekt deutsch-französische Verständigung. Die Rolle der Zivilgesellschaft am Beispiel des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg, Opladen 1998. 143 Cf. im vorliegenden Buch das Kap. IX. 144 Dazu jetzt umfassend Margarete Mehdorn: Französische Kultur in der Bundesrepublik Deutschland, op. cit.; zu den Gemeindepartnerschaften neuerdings Ingo Bautz: Die Auslandsbeziehungen der deutschen Kommunen im Rahmen der europäischen Kommunalbewegung in den 1950er und 60er Jahren, Siegen 2002 (Internetpublikation) sowie Antoine Vion: La constitution des enjeux internationaux dans le gouvernement des villes françaises, Rennes 1 2001. <?page no="44"?> 44 ohne auf deren Gang und die Beschlußfassung Einfluß zu nehmen. 145 Dieses einvernehmliche Verhältnis zwischen den spontan konstituierten Auslandsgesellschaften und der staatlichen Kulturverwaltung ermöglichte zu Beginn der 1960er Jahre die Verbindung beider außenkulturpolitischen Handlungsebenen in den politischen Verträgen des Jahres 1963, im Elysée- Vertrag vom Januar und im Abkommen über die Schaffung des Deutsch- Französischen Jugendwerkes (DFJW) vom Juli des Jahres. In Paris hatte sich vor diesem Datum der Weichenstellung für die Wiederaufnahme der institutionellen Kulturpolitik auf der soziokulturellen Ebene im Laufe der fünfziger Jahre bereits neue Begegnungsstätten konstituiert, die im universitäten Umfeld angesiedelt waren. Bundeskanzler Adenauer, der von der Notwendigkeit deutsch-französischer Gesellschaftsverbindungen im weitesten Sinne und Umfang überzeugt war, hatte mit Bedacht als ersten paradiplomatischen Vertreter des Bundesrepublik in Frankreich den politisch unbelasteten und kultivierten Publizisten Wilhelm Hausenstein von 1950 bis 1955 nach Paris entsandt. Dieser erreichte dort auf schwierigem Posten erste, bescheidene Erfolge mit vertrauensbildenden Maßnahmen im soziokulturellen Bereich. 146 Zu diesen Erfolgen zählte er auch den Beschluß, nach fast dreißigjähriger Vorgeschichte ein Deutsches Haus in der Cité Internationale de l’Université de Paris zu errichten, der in seiner Amtszeit von französischer und von deutscher Seite 1954 gefaßt und mit der Grundsteinlegung realisiert wurde. Im selben Jahre kam das erste Kulturabkommen zwischen Deutschland und Frankreich zustande. Es wurde auf gouvernementaler Ebene verhandelt und am 23.10.1954 unterzeichnet, die auf seiner Grundlage geschaffenen Organe waren jedoch erst drei Jahre später arbeitsfähig. 147 Für die erfolgreichen kulturellen Institutionsgründungen im Paris der fünfziger Jahre war es typisch, daß sie von der zivilgesellschaftlichen Ebene her konzipiert und verwirklicht wurden und daß die offiziellen Politikvertreter diese zwar unterstützten, sich aber in deren Gestaltung ganz zurückhielten. Dies war der Fall bei der Initiative für den Bau eines deutschen Hauses in der Cité Universitaire ebenso wie bei der Initiative für die Errichtung einer historischen Forschungsstelle in Paris. Das vorbereitende Gremium für das erste Projekt war die Stiftung Deutsches Haus in der Cité Universitaire, die im September 1953 von den Rektoren der Universitäten Frankfurt/ Main, Mainz, Heidelberg und Tübingen gegründet wurde und der Vertreter des Bundesaußensowie des 145 Cf. unten Kap. IX. 146 Laurence Blanc: Wilhelm Hausenstein (1882-1957). Un médiateur culturel et politique entre l’Allemagne et la France, Paris 1997; Peter Matthias Reuss: Die Mission Hausenstein (1950-1955). Ein Beitrag zur Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg, Sinzheim 1995. 147 Ulrich Lappenküper: „‚Sprachlose Freundschaft’? Zur Genese des deutschfranzösischen Kulturabkommens vom 23. Okrober 1954“, in: Lendemains, 1996, Nr. 84, p. 67-82. <?page no="45"?> 45 Bundes-Innenministeriums und des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft angehörten. 148 Im Laufe des Jahres 1966 übernahm der Deutsche Akademische Austauschdienst die Trägerschaft für die Maison de l’Allemagne, nachdem die Stiftung und der Verein der Freunde des Deutschen Hauses (das bisherige Aufsichtsorgan) sich aufgelöst hatten. Im Beispiel der historischen Forschungsstelle in Paris wurde das Vorhaben tatkräftig vertreten von einer Wissenschaftlichen Kommission zur Erforschung des Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen, die an der Mainzer Universität ins Leben gerufen wurde. 149 Auch dieses Projekt war unter anderen politischen Prämissen schon früher erörtert worden. 150 Seine Verwirklichung im März 1958 in der Form der Deutschen Historischen Forschungsstelle (DHFS) in der 5, Rue du Havre, wurde finanziell aktiv gefördert durch das Bundeskanzleramt und durch das Bundes-Innenministerium. Diese institutionelle Förderung der erst einmal privatrechtlich konstituierten DHFS wurde schließlich im Juli 1962 zur Grundlage für ihre Umwandlung in eine Bundesanstalt des Bundesministeriums für wissenschaftliche Forschung, die fortan den Namen Deutsches Historisches Institut Paris (DHIP) trug. 151 Die in den beiden frühen Gründungen von Kultureinrichtungen der Bundesrepublik in Paris feststellbare Entwicklung führte also von privatrechtlicher Selbstkontrolle zur Aufsicht und Förderung durch öffentliche Institutionen. Diesem Gang der Entwicklung folgten auch die in den 1960er Jahren neu geschaffenen oder ausgebauten Kultureinrichtungen der Bundesrepublik in Paris. In der langfristigen Perspektive gesehen erscheinen diese deutschen kulturellen Neugründungen in Paris ab den 1950er Jahren vor allem gekennzeichnet durch ihre institutionelle Stabilität und Dauerhaftigkeit. Blieben die meisten Einrichtungen dieser Art in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eher politisch konstellationsgebundene Konstruktionen mit geringer Lebenszeit, so ermöglichte die anhaltende politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich in der zweiten Hälfte desselben Jahrhunderts trotz fortdauernder nationaler Unterschiedlichkeiten und Interessendivergenzen eine kontinuierliche und kumulative Etablierung kultureller Begegnungsorte in Paris. Die dort in den späten vierziger Jahren und während der fünfziger Jahre ins Leben gerufenen Verständigungsorganisationen und Kulturzentren wurden durch die von De Gaulle und Adenauer tatkräftig inszenierte Verständigungs- und Europa-Politik nicht nur nicht in Frage gestellt, sondern 148 Näheres dazu unten Kap. X. 149 Ulrich Pfeil: Vorgeschichte und Gründung des Deutschen Historischen Instituts Paris. Darstellung und Dokumentation, Ostfildern 2007, p. 77sq. 150 Cf. ibid., p. 25sq. und p. 47sq. 151 Dazu detailliert Ulrich Pfeil: „Gründung und Aufbau des Instituts (1958-1968)“, in: Rainer Babel, Rolf Große (ed.): Das Deutsche Historische Institut Paris. L’Institut Historique Allemand 1958-2008, Ostfildern 2008, p. 1-84. <?page no="46"?> 46 durch einen Schub von soziokulturellen Neugründungen in der ersten Hälfte der 1960er Jahre ergänzt und ermutigt. 152 Vor allem die Errichtung des Deutsch-Französischen Jugendwerks (DFJW) aufgrund des Deutsch- Französischen Vertrages vom 23.1.1963 und der Vereinbarung vom 5.7.1963 zwischen beiden Regierungen bedeutete einen dauerhaft wirksamen Impuls für die Stabilisierung der älteren und teilweise auch der neu entstehenden Begegnungsforen. Die Besonderheit des DFJW in der Geschichte der bilateralen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen bestand darin, daß diese neuartige Institution nicht nur über mehr Mittel verfügte als alle anderen Kultureinrichtungen zwischen beiden Ländern, sondern daß die Konzeption eines „erweiterten Kulturbegriffs“ in ihr bestimmend und beispielgebend wurde. 153 Zu den Eigenarten des DFJW gehörte es auch, daß es nicht selbst in erster Linie ein Begegnungsort sein wollte, sondern seine Aufgabe darin sah, die Tätigkeit bereits existierender deutschfranzösischer Kommunikationszentren zu fördern und die Entstehung neuer Stätten und Formen der transnationalen Jugendkontakte anzuregen. Insofern war es nur folgenrichtig, daß diese Einrichtung in Paris erst einmal über keinen deutlichen räumlichen Fixpunkt verfügte und dann (ab 1974) nur über ein ständiges Büro (153, Rue Casimir-Delavigne, 6. Arrondissement), während das Generalsekretariat gleichzeitig nach Bad Honnef verlegt wurde. Immerhin trug diese geringe Sichtbarkeit der Institution in Paris dazu bei, daß sie in der französischen Öffentlichkeit eher als deutsche Einrichtung wahrgenommen wurde. Das DFJW konnte nach einigen Anlaufschwierigkeiten die Rolle des Förderers und Anregers neuer Organisations- und Handlungsformen transnationalen Verkehrs nicht zuletzt deswegen ausüben, weil seine Statuten den zivilgesellschaftlichen Akteuren eine Mehrheit in seinem Aufsichtsorgan, dem Kuratorium, einräumten 154 und damit (bis zur DFJW-Reform von 2006) eine beträchtliche Gestaltungsmöglichkeit. 155 Das DFJW, das ab 1984 seinen Pariser Sitz in der 51, Rue de l’Amiral Mouchez (13. Arrondissement) hat, war in den folgenden Jahrzehnten imstande, sich in einer Abfolge von größeren und kleineren 152 Unter dem Eindruck dieser Neugründungen beschloss das Grosser-Komitee (Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle) 1967, seine Tätigkeit einzustellen. Cf., Alfred Grosser: Mein Deutschland, Hamburg 1993, p. 124sq. 153 Zu dieser Institution sui generis cf. Hans Manfred Bock, Corine Defrance, Gilbert Krebs, Ulrich Pfeil (ed.): Les Jeunes dans les relations transnationales. L’Office francoallemand pour la Jeunesse 1963-2008, Paris 2008; Hans Menfred Bock (ed.): Deutschfranzösische Begegnung und europäischer Bürgersinn. Studien zum Deutsch-Französischen Jugendwerk 1963-2003, Opladen 2003; Henri Ménudier: L’Office franco-allemand pour la jeunesse, Paris 1988. 154 „Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Französischen Republik vom 5. Juli 1963“ in: Adolf Kimmel, Pierre Jardin (ed.): Die deutsch-französischen Beziehungen seit 1963, Opladen 2002, p. 483sq; cf. dort Abschnitt III, Art. 6. 155 Cf. Bock/ Defrance/ Krebs/ Pfeil, op. cit., p. 60 sq. <?page no="47"?> 47 Reformen dem Gang der europäischen und bilateralen Beziehungen produktiv anzupassen. Vor diesem Hintergrund erscheint die politischparlamentarisch eingeleitete Strukturreform des DFJW, die 2006 in Kraft trat, nicht zwingend. 156 Die bilateralen Handlungsfelder, in die die binational aufgebaute Institution fördernd und anregend hineinwirkte, erweiterten bzw. erneuerten sich fortlaufend. Da gemäß der Leitvorstellung des „erweiterten Kulturbegriffs“ diese Aktionsfelder nicht mehr vorrangig auf die Kunst und Wissenschaft eingegrenzt sein sollten, wurden sie ausgedehnt u.a. auf den Berufs-, Behinderten-, Regional-, Schul-, Sport- und den trilateralen Austausch, sowie auf die in allen diesen Bereichen sich stellenden Aufgaben des praxisnahen Sprachenlernens und der Kenntnis der Technik interkultureller Kommunikation. 157 Insbesondere in den transversalen Aufgabenstellungen (Intensivierung der sprachlichen und der interkulturell-kommunikativen Kompetenzen) wurde das Jugendwerk zunehmend selbst initiativ gemäß der organisatorischen Direktive „aktiver Subsidiarität“. 158 Eine historisch neue Dimension zeichnete sich ab in den Aktivitäten des DFJW, als das Kuratorium 1976 beschloß, bis zu 5% der Ressourcen für trilaterale Programme aufzuwenden. Dergleichen Programme wurden auch außerhalb der EG-Staaten in den 1980er Jahren durchgeführt in Südwest-Europa, in den 1990er Jahren in Mittel- und Ost- Europa und ab der Jahrhundertwende in den Balkan-Staaten, indem man zivilgesellschaftliche Multiplikatoren in diesen Ländern einbezog und an den deutsch-französischen Erfahrungen teilhaben ließ, die der bilateralen Annäherung dienlich gewesen waren. Diese Erfahrungen gingen auch ein in die multilateralen Jugendprogramme, die die EG in den späten 1980er Jahren aufzulegen begann. 159 Das Verhältnis der DFJW- und der EG- Programme wurden fortan dergestalt geregelt, daß die Europäische Gemeinschaft (bzw. Union) die Finanzierung der multinationalen Programme und derjenigen, von denen Deutschland und Frankreich ausgeschlossen sind, übernahm, und das DFJW die bi- und trinationalen Programme finanziert. Historisch neu ist in diesen Handlungsfeldern des DFJW (Drittländer und Europa), daß die beiden Partner gemeinsame Entscheidungs- und Durchführungsfähigkeiten gegenüber Dritten entwickeln müssen, während bei allen älteren Programmen die beiderseitige Kooperationsbe- 156 Zur institutionellen Reform von 2006 cf. Max Claudet, Sabine Kuntz: „‚Das schönste Kind des Elysée-Vertrages’… fit für die Zukunft. Neues Abkommen zum Deutsch- Französischen Jugendwerk“, in: Dokumente, 2005, Heft 2, p. 69-78 und Bock/ Defrance/ Krebs/ Pfeil, op. cit., p. 202-211. 157 Betreffend den Beitrag des DFJW zum Studium der interkulturellen Kommunikation cf. Gilbert Krebs in: ibid., p. 411-449 und Andreas Thimmel: Pädagogik der internationalen Jugendarbeit, Schwalbach Ts 2001, p. 169-199. 158 Cf. Bock/ Defrance/ Krebs/ Pfeil, op. cit., p. 182sq. 159 Dazu Carla Albrecht-Hengerer „Les échanges trilatéraux. L’OFAJ comme médiateur dans le contexte international“, in: Bock/ Defrance/ Krebs/ Pfeil, op. cit., p. 255-268. <?page no="48"?> 48 reitschaft im Mittelpunkt stand. Die Schwierigkeiten und Reibungsverluste, die in der internen Zusammenarbeit nationaler Repräsentanten in einer binational angelegten Institution unvermeidlich entstehen, 160 ist ein bislang wenig thematisierter Aspekt des DFJW. Die Originalität dieser Institution, die sich fortgesetzt neu erfinden muß und in deren zukünftigen Programmen das gemeinsame Handeln gegenüber und mit Dritten eine noch zunehmende Rolle spielen wird, liegt in ihrer Binationalität und in ihrer Eigenart als anregende, fördernde und beratende Superstruktur, mit der nahezu alle anderen bilateralen Austauschorganisationen und Begegnungsorte im Rahmen ihrer Programm- und Veranstaltungs-Planung des öfteren in Verbindung traten. Das traf ab den 1960er Jahren weniger zu auf das Deutsche Historische Institut in Paris und das dortige Goethe-Institut, die eng verbunden waren mit dem Bundesministerium für Forschung bzw. dem Auswärtigen Amt. Aber alle anderen soziokulturellen Repräsentationsstrukturen der Bundesrepublik in Paris, die ab den 1960er Jahren gegründet wurden, erhielten über längere Zeit oder fallweise die finanzielle Unterstützung des DFJW für die Planung und Durchführung ihrer Programme. Da die meisten dieser Pariser Nachkriegs-Begegnungsforen, die (teilweise erstmals) in den entsprechenden Kapiteln dieses Buches porträtiert werden, kann sich ihre Darstellung auf die Skizze ihres Entstehungs- und Funktionszusammenhanges beschränken. Seit ihrer Umgestaltung von einer privatrechtlichen in eine öffentlichrechtliche Anstalt im Jahre 1964 entwickelte sich die Deutsch-Historische Forschungsstelle nach dem Gesetz, nach dem sie angetreten war: Unter dem Namen Deutsches Historisches Institut Paris füllte sie (mit kontinuierlich wachsender Akzeptanz durch die französischen Historiker und mit zunehmender Effizienz) die Mittler-Funktion aus, die auch in anderen gesellschaftlichen Teilbereichen zwischen Frankreich und Deutschland die Regel geworden war: „Die DHFS bzw. das DHIP konnte sich in den ersten zehn Jahren nach der Gründung als außeruniversitäre Forschungsstelle erste wissenschaftliche Sporen erwerben, auch wenn es aufgrund der […] inneren Probleme nicht jene wissenschaftliche Aktivität hatte entwickeln können, wie es sich die Gründungsväter gewünscht hatten. Dafür hatte es als kulturelle Mittlerinstitution förderlich auf die bilaterale Transparenz auf dem Felde des Wissenschaftstransfers gewirkt und als wissenschaftliche Begegnungsstätte zur Herausbildung einer transnationalen Öffentlichkeit beigetragen. Die Kontakte zu den französischen Kollegen wurden nach und nach ausgebaut, so daß nach einer Phase des Kennenlernens nun die 160 Die Diskrepanz zwischen der Bedeutung der unterschiedlichen sozialisatorischen bzw. lebensweltlichen Orientierungen der deutschen und der französischen Mitarbeiter im DFJW und deren Mangel an selbstreflektorischen Anstrengungen dazu ist im Alltagsgeschäft der Institution nicht zu übersehen. <?page no="49"?> 49 Grundlagen für erste Kooperationsprojekte gelegt waren.“ 161 Ähnlich wie bei den anderen deutschen Kulturinstitutionen in Paris (z.B. dem Deutschland-Haus in der Cité Universitaire und der DAAD-Zweigstelle) mußten sich die Direktoren dieser Einrichtungen die Anerkennung und das Vertrauen ihrer französischen Ansprechpartner erst verdienen. Das erforderte Empathievermögen und die Fähigkeit, wissenschaftliche Projekte und kulturelle Begegnungsformen zu (er-)finden, die für beide Seiten vorteilhaft waren. Das bedingte auch die lange Verweildauer der Direktoren in ihrem Amt: Im Falle des DHIP stand Karl Ferdinand Werner von 1968 bis 1989 und Werner Paravicini von 1993 bis 2007 an der Spitze der Institution. Das Institut zog 1971 aus den beengten Verhältnissen in der 5, Rue du Havre aus, blieb aber auf der rive droite, wo es bis 1994 ein eigenes Gebäude im 16. Arrondissement (9, Rue Maspéro) erhielt, bevor es im zentralen Marais eine repräsentative Bleibe fand (Hôtel Duret de Chevry, 8 Rue du Parc Royal, 3. Arrondissement). Die Interaktionsformen mit der Pariser Öffentlichkeit reichten von zahlreichen Kolloquien und dem sich jährlich rituell wiederkehrenden Festvortrag zu Beginn des französischen Universitätsjahres im Oktober über breite Publikationsplattformen (mit dem Flaggschiff der „Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte“ ab 1973) bis zur aktuell etwa 100.000 Bände umfassenden Bibliothek, die sich von der Handbibliothek in der Rue du Havre zur Forschungsbibliothek im Hôtel Duret de Chevry fortentwickelte. 162 Es kann als Zeichen der zivilgesellschaftlichen, akademischen Akzeptanz des Instituts gelten, daß sich 1993 eine Gesellschaft der Freunde des Deutschen Historischen Instituts Paris / Société des amis de l’Institut historique allemand de Paris bildete, die etwa gleichgewichtig aus deutschen und französischen Mitgliedern bzw. Funktionsträgern bestehen sollte und deren Aufgaben darin bestehen: „[…] das DHI auch der Nichtfachwelt bekanntzumachen und als deutsch-französische Begegnungsstätte von Geist, Kultur und Wirtschaft zu gestalten, Mäzenatentum aus der Wirtschaft zu erschließen, Wirtschaftsarchive der Unternehmen zugänglich zu machen.“ 163 Ähnlich wie das DHIP war die andere Pioniergründung der 1950er Jahre, das Deutsche Haus in der CIUP, eine außeruniversitäre Einrichtung, die aber „sur base universitaire“ aufgebaut war 164 und damit anfangs (und solange das französische Mißtrauen 161 Ulrich Pfeil: „Gründung und Aufbau“, loc. cit., p. 65. 162 Mareike König: „Die Bibliothek. La bibliothèque“, in: Rainer Babel, Rolf Große, op. cit., p. 197-218. 163 Anke Paravicini: „Geschichte der ‚Gesellschaft der Freunde des Deutschen Historischen Instituts Paris’. Histoire de la ‚Société des amis de l’Institut historique allemand de Paris’“, in: Ibid., p. 219-233, Zitat p. 221. 164 Ulrich Pfeil: „Das Deutsche Historische Institut Paris. Eine Neugründung ‚sur base universitaire’“, in: Ders. (ed.): Deutsch-französische Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen, op. cit., p. 281-308; die Formulierung „sur base universitaire“ muß als Absiche- <?page no="50"?> 50 gegenüber solchen Initiativen von deutscher Seite noch stark war) die Gewähr dafür zu bieten schien, nicht primär einem politischen Propagandazweck zu dienen. Im Falle des Deutschen Hauses stand der wissenschaftsdisziplinäre Kommunikationszweck nicht am Anfang seiner Tätigkeit, sondern er kam im Laufe seiner frühen Entwicklung zu der Hauptaufgabe der Beherbergung und Betreuung von Studierenden nachträglich hinzu in dem Maße, wie ein vielfältiges Kulturprogramm zum Markenzeichen der deutschen Vertretung in der Studentenstadt am Boulevard Jourdan wurde. 165 In der Gestaltung der richtungweisenden Vortragszyklen der Maison de l’Allemagne spielten die Heidelberger Germanisten und die Pariser Hochschulgermanisten eine ähnlich prägende Rolle wie die Mainzer Geschichtswissenschaftler und eine Reihe ihrer Pariser Kollegen für die Zweckbestimmung des DHIP. 166 Für die literatur- und sozialwissenschaftliche Akzentuierung des Kulturprogramms des Deutschen Hauses in der CIUP bot der besondere historische Zuschnitt der französischen Hochschulgermanistik mit ihren Schwerpunkten Spracherwerb, Literatur- und Landeswissenschaften (civilisation allemande) zahlreiche Anknüpfungspunkte. Daß eine pragmatische und begrenzte Aufgabenstellung (das historische Fachgespräch im Falle des DHIP, die Betreuung deutscher Studierender im Falle des Deutschen Hauses) zum Ausgangspunkt der Entstehung von umfassender tätigen Kultureinrichtungen in Paris wurde, hatte das Goethe-Institut mit den älteren deutschen Gründungen gemeinsam. Personell und konzeptionell in der Kontinuität der Deutschen Akademie stehend, 167 hatte der 1951 in München gegründete eingetragene Verein Goethe- Institut erst ab 1958 vom Auswärtigen Amt die Aufgabe übertragen bekommen, neben seiner Hauptaufgabe der deutschen Sprachvermittlung an Erwachsene im Ausland auch die Leitung der Kulturinstitute im Ausland zu übernehmen. Nachdem die Bundesrepublik 1958 das von Frankreich requirierte Gebäude in der Avenue d’Iéna, Sitz des Goethe-Hauses in den späten 1930er Jahren, zurückerhalten hatte und nachdem der Deutsch- Französische Kulturrat 1957 seit seiner ersten Sitzung das Thema eines deutschen Kulturinstituts in Paris auf die Tagesordnung gesetzt hatte, kam es 1960 zur Eröffnung einer interimistischen Zweigstelle des Goethe- Instituts in der Rue Condé / Ecke Rue Vaugirard (6. Arrondissement), während der Neubau und definitive Standort des Instituts in der Avenue rung gegen eine politische Instrumentalisierung des Instituts aufgefasst werden, die von französischer Seite geltend gemacht wurde. 165 Cf. Kap. X dieses Buches. 166 Darauf weist hin ein Brief von Peter Wapnewski an Hans Steffen, den ersten Direktor der Maison de l’Allemagne, beide Heidelberger und Verbindungsleute zum dortigen Hochschul-Germanisten Paul Böckmann; cf. dazu unten Kap. X. 167 Eckard Mchels: Von der Deutschen Akademie zum Goethe-Institut. Sprach- und auswärtige Kulturpolitik 1923-1960, München 2005. <?page no="51"?> 51 d’Iéna erst im Oktober 1965 seine Tore öffnete. 168 Die Auslands-Lektorate des Goethe-Instituts hatten bis an die Schwelle der 1960er Jahre ihre zentrale Funktion in der Vermittlung der deutschen Sprache gehabt. 169 Die Münchener Zentrale des Goethe-Instituts stelle sich 1961 der neuen kulturpolitischen Funktionszuweisung mit der Gründung einer Programmabteilung, die die Richtlinien für die Kulturarbeit im Ausland erstellen sollte. Die Zusammenarbeit des Pariser Goethe-Instituts mit dem Deutschen Haus in der Cité Universitaire hatte bereits 1960 begonnen, indem die Sprachlehrinstitution regelmäßige Deutsch-Kurse in der Maison de l’Allemagne anbot. Die Beziehungen zwischen beiden Einrichtungen blieben kooperativ, solange nicht die administrative Unterordnung des Hauses am Boulevard Jourdan unter das offizielle Centre Culturel, als das das Goethe-Institut angesehen wurde, zur Diskussion stand. 170 Ab Mitte der sechziger Jahre setzte sich schließlich auch in der Münchener Zentrale der Sprachlehr- und Kulturorganisation - nicht ohne Konflikte mit dem Auswärtigen Amt - die Leitidee durch, daß im Kulturprogramm der Goethe-Institute die gegenwarts- und problembezogene Thematik an die Stelle der traditionellen nationalkulturellen Transfergüter treten sollte. 171 Das hieß, daß das Repräsentationsmodell der Auswärtigen Kulturpolitik durch das Mediationsprinzip ersetzt werden sollte, das in den 1950er Jahren vor allem von den privaten Kulturorganisationen formuliert und praktiziert worden war. Die älteren, vor 1963 bereits etablierten Pariser Begegnungsorte mit deutschen Kulturrepräsentanten hatten einen pragmatischen universitären Kern (das historische Fachgespräch, die Beherbergung und Betreuung von Studenten und die Vermittlung deutscher Sprachkenntnisse), sie wiesen aber prinzipiell über den engeren akademischen Rahmen hinaus. Von dem starken jugendpolitischen Programmanteil des Elysée-Vertrages vom Januar 1963 und von der Errichtung des Deutsch-Französischen Jugendwerkes im Juli 1963 begünstigt, entstanden jedoch auch im engeren universitären Raum neue Begegnungsorte zwischen Deutschen und Franzosen in Paris. Da diese neuartigen akademischen Einrichtungen mitten im Transformationsvorgang der tertiären Bildungssysteme beider Länder von der Elitenzur Massen-Universität während der 1960er Jahre ins Leben gerufen wurden, erhielten sie von Anfang an eine neue Funktionsbestimmung im Vergleich mit dem akademischen Austausch in der Zwischenkriegszeit. Die Ende 1963 in der 15, Rue de Verneuil eröffnete Pariser Zweigstelle des DAAD wurde ebenso im Zeichen der außenkulturpolitischen Konzeption 168 Eckard Michels: „Vom Glück der verspäteten Arbeitsaufnahme. Die Anfänge des Goethe-Institus in Paris“, in: Lendemains, 2001, Nr. 103/ 104, p. 97-107. 169 Dazu Eckard Michels: „Keine Stunde Null: Vorgeschichte und Anfänge des Goethe- Instituts“, in: Murnau, Manila, Minsk. 50 Jahre Goethe-Institut, München 2001, p. 13-23. 170 Cf. Kap. X in diesem Band. 171 Eckard Michels: „Vom Glück der verspäteten Arbeitsaufnahme“, loc. cit., p. 104sq. <?page no="52"?> 52 der Mediationsfunktion gegründet wie die 1969 neu errichtete germanistische Lehr- und Studienstätte in der nördlichen Banlieue von Paris, das Institut d’Allemand d’Asnières. Auch im Falle der Neugründung einer DAAD-Vertretung in der französischen Hauptstadt erfolgte die Eröffnung ähnlich spät wie diejenige des Goethe-Instituts und erst lange nach der Errichtung von Zweigstellen in anderen Weltstädten. 172 Der Gründungsdirektor der Pariser Vertretung des DAAD, Hansgerd Schulte (der später viele Jahre lang Präsident des DAAD wurde) war einer der wenigen Nachkriegs-Romanisten, der mit Erfolg die Ecole Normale Supérieure in Paris absolviert hatte und bikulturell sozialisiert war. Bei der Einführung und Ausgestaltung des DAAD-Büros im universitären und intellektuellen Leben von Paris halfen Alfred Grosser und andere Mitglieder des Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle, die noch vorhandenen Vorbehalte und Zweifel gegenüber der historisch aus den dreißiger Jahren belasteten Institutionen aufzuheben. Das DAAD-Büro in der Rue der Verneuil, im 7. Arrondissement bequem erreichbar für Professoren und beratungswillige Studierende, wurde im Laufe der 1960er Jahre nicht nur zu einer viel besuchten Auskunftsstelle zum deutschen Universitätsleben, sondern auch zu einem Ort wissenschaftlicher Diskussion und Geselligkeit. Insofern war seine Funktion nicht auf die traditionelle Vermittlung und Betreuung von Deutsch-Lektoren in Frankreich begrenzt, sondern viel komplexer geworden durch vielgestaltige Kommunikationsangebote an das französische Universitätsmilieu. Im Gegensatz zur Praxis ihrer Vorgängerinstitutionen in den dreißiger Jahren beruhte die Tätigkeit des Pariser DAAD seit seiner Gründungsphase in den 1960er Jahren auf dem Grundsatz, daß die in Frankreich vorfindlichen Gruppen- und Individual- Interessen zum Ausgangspunkt der Interaktion genommen werden sollten. Zur Fundierung dieser nachfrageorientierten Kommunikationsstrategie fertigte Robert Picht, Pariser Lektor und Mitarbeiter der DAAD-Zweigstelle der ersten Stunde, unter der Leitung von Pierre Bourdieu (einem der Teilnehmer an den Gesprächen in der Rue de Verneuil) seine Dissertation an zur Motivation, die französische Germanistik-Studierende zur Wahl ihres Studienfachs bewogen hatte. 173 In der Logik der Leitidee des außenkulturpolitischen Mediations-Modells, den anderen bei seinen Interessen abzuholen, lag auch die aktive Beteiligung der Zweigstelle an der Neuformulierung des Programms der „civilisation allemande“ im Rahmen der französischen Hochschul-Germanistik. 172 Cf. dazu Peter Alter (ed.): Der DAAD in der Zeit. Geschichte, Gegenwart und zukünftige Aufgaben. Vierzehn Essays, Bonn 2000, Bd. 1, p. 164-195; die Londoner Außenstelle wurde 1952, diejenige in Kairo 1960 eröffnet. 173 Robert Picht: „Französische Germanistikstudenten“, in: Hannelore Gerstein, Robert Picht (ed.): Stipendiaten aus Frankreich. Französische Germanistikstudenten, Bonn 1974, p. 135-172. <?page no="53"?> 53 Die Diskussion um die Aktualisierung einer älteren Tradition der französischen Germanistik, der „civilisation allemande“ (die mit dem Namen Charles Andler, Henri Lichtenberger und Edmond Vermeil verbunden war), begann mit der Reform Fouchet in den frühen 1960er Jahren. Es waren vor allem der bei den Germanisten habilitierte Alfred Grosser und der rund 20 Jahre ältere Hölderlin-Forscher Pierre Bertaux, die zur Wiederbelebung des landeswissenschaftlichen Zweiges in der Hochschul-Germanistik im Rahmen der bildungspolitischen Zielsetzungen der Fouchet- Reform beitrugen. In dem Bestreben, die beginnende Expansion des Hochschulzugangs und den wachsenden gesellschaftlichen Bedarf an kompetenten Mittlern zwischen beiden Ländern für eine inhaltliche Reform des Germanistik-Studiums zu nutzen, waren sich beide Protagonisten der „civilisation allemande“ einig, obwohl ihr lebensgeschichtlicher Hintergrund überaus verschieden war. 174 Zeitgleich mit der Fouchet-Reform und mit der beginnenden Expansion des Hochschulsystems veränderten sich auch die räumlichen Bedingungen des Germanistik-Studiums in Paris. Mit Beginn des Studienjahres 1964/ 65 wurde die germanistische Abteilung der Sorbonne von der Rue de l’Ecole de médecine in den Südflügel des Grand Palais, des Monumentalbaus der Weltausstellung von 1900, verlagert, 175 wo ein Vielfaches an Nutzfläche zur Verfügung stand. 176 Der in den sechziger Jahren lebhafte Zustrom zum Germanistik-Studium in Paris und die begrenzte Zahl von Deutschlehrer-Stellen in Frankreich förderte das Nachdenken über Berufsfindungs-Möglichkeiten außerhalb der Lehrberufe. In eben dieser Umbruchsituation wurde die Diskussion über die Landeswissenschaften angefacht, die über die Sprachbeherrschung und die Literaturkenntnis hinaus die Absolventen für Funktionen befähigen sollten, die in der kulturellen, administrativen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit beider Nationen gebraucht wurden. Der jüngere Wortführer in dieser Diskussion, Alfred Grosser, brachte den Erfahrungsvorrat aus der Arbeit in den Verständigungsorganisationen der Nachkriegszeit ein und der ältere Protagonist, Pierre Bertaux, schöpfte aus einer langen germanistischen (Familien-) Tradition, die weit in die zwanziger Jahre zurückreichte. 177 Pierre Bertaux war nach rund 20 Jahren politischer Tätigkeit Ende de fünfziger Jahre zur Germanistik zurückgekehrt und 1964 an die Sorbonne beru- 174 Cf. Alfred Grossev: Mein Deutschland, op. cit.; Pierre Bertaux: Mémoires interrompus, Paris-Asnières 2000. 175 Mitteilung von Gilbert Krebs (Paris) vom 3.4.2010. 176 Die Germanistik-Abteilung der Universität IV, zu der das Institut d’études germaniques später gehörte, begann ihren abermaligen Umzug an den Boulevard Malesherbes im Jahre 1999. 177 Hans Manfred Bock: „Connaître l’Allemagne - Enseigner l’Allemagne. Quelques origines biographqiues de la conception des études germaniques de Pierre Bertaux“, in: Lendemains, 1999, Nr. 95/ 96, p. 164-168. <?page no="54"?> 54 fen worden. 178 Im Grand Palais organisatorisch verantwortlich für den Premier Cycle (die beiden ersten Studienjahre), war er von der Notwendigkeit überzeugt, die Studiengangskomponente der „civilisation allemande“ auch im Hauptstudium auszubauen und damit der Deutschland- Forschung eine zusätzliche bildungspolitische Legitimation zu verleihen. In diesen Bestrebungen erhielten die beiden Studiengang-Reformer die Unterstützung der Pariser Zweigstelle des DAAD, die ihrerseits mit diesem Engagement eine willkommene Gelegenheit für den Nachweis ihrer Nützlichkeit und für ihre Profilbildung erhielt. Unter diesen günstigen Auspizien begann das Institut d’Allemand d’Asnières zur rentrée 1969 seine Lehrtätigkeit und sein Angebot wurde trotz seiner peripheren Lage von Anfang an von den Studierenden der Germanistik gut angenommen. Die Tradition des Institut d’études germaniques wurde dann infolge der Neugliederung der Pariser Universität auf mehrere der ausgegliederten 13 Universitäten verteilt. Das Institut d’Allemand d’Asnières wurde der Université de Paris 3 (Sorbonne nouvelle) zugeordnet und die Germanistik des Grand Palais, die sich auf die Herkunft aus dem 1930 gegründeten Institut beruft und zum Jahreswechsel 1999/ 2000 in den Gebäudekomplex 108, Boulevard Malesherbes (Paris 8 e ) umzog, wurde Bestandteil von Paris 4 (Paris Sorbonne). Die Sichtbarkeit der germanistischen Lehr- und Forschungsstätten in Paris wurde durch diese administrativen Neu- und Umverteilungsvorgänge nicht gerade erhöht. Unter diesen Bedingungen der parzellierten und auf pragmatische Ausbildungsziele hin zentrierten Universitätsstrukturen in Paris sind diese germanistischen Institute nicht mehr in dem Maße primäre Foren für das akademische Gipfelgespräch, wie das in der Zwischen- und frühen Nachkriegszeit der Fall war. Allerdings war der Trend, prestigeträchtige Kulturveranstaltungen von den Universitäten in die Pariser Kulturinstitute (Heinrich-Heine-Haus, Goethe-Institut, Deutsches Historisches Institut) zu transferieren schon längerfristig in den Nachkriegsjahrzehnten angelegt. Ein hervorragendes Beispiel für die Auslagerung forschungsintensiver Arbeitsgruppen aus dem unübersichtlich gewordenen Raum der Hochschul-Germanistik und für ihre Ansiedlung in zentraleren Institutionen ist die 1982 von dem Germanisten und Philosophen Gérard Raulet gegründete Groupe de recherche sur la culture de Weimar. Sie hat als eingetragener Verein Gastrecht in der Maison des Scienes de l’Homme (Bd. Raspail) und ist über die Jahrzehnte zu einem pluridisziplinären Treffpunkt einschlägig arbeitender Forscher aus Frankreich, Deutschland, Österreich und anderen Ländern geworden. Im übrigen sind die germanistischen Institute nach wie vor für die Studierenden unentbehrliche Erfahrungsräume für die Kenntnis und den Umgang mit der Kultur des Nachbarlandes geblieben. 178 Neben der Autobiographie (Mémoires interrompus, op. cit.) cf. zu den Lebensstationen Hangerd Schulte: „Pierre Bertaux 1907-1986. Une esquisse biographique“, in: Pierre Bertaux, op. cit., p. 273-280. <?page no="55"?> 55 Da die in den ersten 20 Nachkriegsjahren neu entstandenen Pariser Begegnungsorte zwischen Deutschen und Franzosen auf Dauer koexistieren, waren in den späteren Jahrzehnten die Möglichkeiten für weitere (an sich wünschenswerte) Neugründungen begrenzt. Voraussetzungen für die Mittlerfunktion der existierenden Begegnungsorte sind die relative Stabilität der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Nationen, aber auch die Lern- und Entwicklungsfähigkeiten dieser Institutionen selbst. Zwei Herausforderungen an diese institutionelle Verarbeitungskapazität waren z.B. die Gründung eines Pariser Kulturinstituts der DDR im Dezember 1983 und die deutsche Vereinigung 1989/ 90. Im ersten Fall handelte es sich um eine andauernde Infragestellung durch die kulturellen Aktivitäten der DDR, die mit ihrem Anspruch die besseren Traditionen deutschen Kulturschaffens zu vertreten, bei Teilen der Pariser Intelligenz auf ein positives Echo stieß. 179 Seit dem Abschluß eines Kulturabkommens Frankreichs mit der DDR am 16.7.1980 und insbesondere seit der Eröffnung des DDR-Kulturzentrums (117, Boulevard Saint-Germain) wurde aus der latenten Herausforderung eine institutionelle Konkurrenz. Dies umso mehr, weil die DDR mit dem Garnier-Bau aus dem Jahre 1879 am Boulevard Saint-Germain in unmittelbarer Nähe der Sorbonne präsent war, während gerade die westdeutschen Einrichtungen der Kulturrepräsentanz tendenziell an die Pariser Peripherie rückten. 180 In der kurzen Geschichte des DDR-Kulturzentrums, das im Oktober 1990 seine Tätigkeit beendete, wirkten der chronische Devisenmangel der DDR, das zunehmend unsichere geschichtspolitische Programmprofil des Zentrums und die Übermacht der kulturellen Repräsentationsstrukturen der Bundesrepublik Deutschland zusammen und verhinderten seine Stabilisierung. 181 Die im DDR- Kulturzentrum gehegte Hoffnung einer Fusion mit dem Pariser Goethe- Institut zerschlug sich und die Erbmasse der Zentrums-Ausstattung wurde teilweise auf die vorhandenen deutschen Kultureinrichtungen verteilt. In den Turbulenzen der deutschen Vereinigung der Jahre 1989/ 90 reagierte vor allem das Deutsch-Französische Jugendwerk spontan und konstruktiv, indem es - trotz erheblicher Ängste vor den Folgen der deutschen Entwicklung in Frankreich - bereits Mitte Dezember 1989 beschloß, künftig 50% der Plätze in seinen Austauschprogrammen für ostdeutsche Jugendliche zur Verfügung zu halten. 182 Das war eine vorauseilende, aber zukunftswei- 179 Cf. dazu grundlegend Ulrich Pfeil: Die „anderen“ deutsch-französischen Beziehungen. Die DDR und Frankreich 1949-1990, Köln 2004, p. 464-497. 180 Mit den Ausnahmen des Deutschen Historischen Instituts Paris und des Deutschen Forums für Kunstgeschichte, die beide im 2. Arrondissement gelegen sind. 181 Ulrich Pfeil: „Die Rückkehr der gesamtdeutschen Kulturnation. Das DDR-Kulturzentrum in Paris“, in: Lendemains, 2001, Nr. 103/ 104, p. 108-131. 182 Ulrich Pfeil: „L’intégration des nouveaux Länder dans les structures et les programmes de l’OFAJ“, in: Bock/ Defrance/ Krebs/ Pfeil, op. cit., p. 149-165. Zu den frühen <?page no="56"?> 56 sende Entscheidung, da die bürokratischen, visa- und devisenpolitischen Voraussetzungen für die Integration der DDR-Jugend erst noch durchgeführt werden mussten und deren Beteiligung an den DFJW-Aktivitäten praktisch dann nicht vor 1991 erfolgte. Die Entwicklung der gesellschaftlichen Organisationen für den breitenwirksamen Kulturaustausch zwischen Frankreich und der DDR, der 1958 gegründeten Echanges franco-allemands (EFA), verlief anders. Hier führte nach dem Ende der DDR das politische Schlüsselwort des „Antifaschismus“, auf das sich die EFA-Repräsentanten beriefen, 183 zur Blockierung der Beitrittsverhandlungen zur Vereinigung der Deutsch-Französischen Gesellschaften in Deutschland und Frankreich, für die dieser Begriff ein in der DDR politisch diskreditiertes Reizwort darstellte. 184 Die EFA existierte weiter, aber es wurden auch in den neuen Bundesländern parallel zu ihr neue Deutsch-Französische Gesellschaften ins Leben gerufen. Seit den 1980er Jahren verband sich die Entwicklung des deutschfranzösischen Interaktionsnetzes auf soziokultureller Ebene zunehmend stärker mit der neuen Dynamik der europäischen Integration und es geriet unter den wachsenden Druck der ökonomischen Globalisierung. Die in den 1990er Jahren sich ausbreitende Rede von der „Normalisierung“ der deutsch-französischen Beziehungen und von ihrer Beispielhaftigkeit für andere bilaterale Verhältnisse kann auch als Indikator für die sich abzeichnende Relativierung des deutsch-französischen Bilateralismus interpretiert werden. Vor dem Hintergrund des Endes des Kalten Krieges, der deutschen Vereinigung, der Europäisierung und der sozioökonomischen Globalisierung wurde von französischer wie von deutscher Seite nicht allein die Rangordnung in der politischen Motivhierarchie der Auswärtigen Kulturpolitik neu definiert, sondern auch die für sie zur Verfügung gestellten Ressourcen knapper. So erfolgten erste Schließungen von deutschen Kulturinstituten in Frankreich (Goethe-Institut Marseille) und von französischen Kultureinrichtungen in Deutschland. 185 Einen interessanten Versuch, Reaktionen der DDR auf die Gründung des DFJW cf. auch ders.: Die „anderen“ deutsch-französischen Beziehungen, op. cit., p. 375-381. 183 Hélène Yèche: „Les Echanges Franco-Allemands et le rapprochement avec ‚l’Autre Allemagne’ (depuis 1958)“ in: Corine Defrance, Michael Kißener, Pia Nordblom (ed.): Wege der Verständigung zwischen Deutschen und Franzosen nach 1945. Zivilgesellschaftliche Annäherungen, Tübingen 2010, p. 119-113, und Ulrich Pfeil: Die „anderen“ deutschfranzösischen Beziehungen, op. cit., p. 269sq. 184 Beate Gödde-Baumanns: „Bürgerschaftliche Basis der Annäherung: Die Deutsch- Französischen Gesellschaften. Einblicke in ihre Praxis“, in: Defrance/ Kißener/ Nordblom, op. cit., p. 145; zum Begriff des Antifaschismus als Brücke zwischen DDR und Frankreich cf. auch eingehend Ulrich Pfeil: Die „anderen“ deutsch-französischen Beziehungen, op. cit., p. 174-232. 185 Jacques-Pierre Goujon: „Une réforme du réseau culturel en Allemagne: Pour quoi faire? “, in: Allemagne d’aujourdhui, 2002, Nr. 162, p. 169-171; Henri Ménudier: „La <?page no="57"?> 57 unter diesen Umständen die regional längerfristig erprobte Eigendynamik deutscher Institute in Frankreich auch zur materiellen Grundlage ihrer Existenz zu machen, stellt die 1997 errichtete Fédération des Maisons Franco- Allemandes dar. Die fünf unter diesem Dach zusammengeschlossenen Institutionen, zu denen das Heinrich-Heine-Haus in Paris gehört, arbeiten mit den etablierten Trägerorganisationen des bilateralen Kulturaustauschs zusammen, streben aber eine verstärkte Kooperation mit den französischen (und anderen europäischen) Einrichtungen des soziokulturellen Lebens ihrer Region an. 186 Sie haben sich in diesem Rahmen u.a. aktiv eingeschaltet in die Werbung für das Erlernen der deutschen Sprache in Frankreich, dessen Rückgang seit den 1990er Jahren eines der großen Probleme des kulturellen Verkehrs zwischen beiden Ländern geworden ist. Ebenso wurden seit den 1980er Jahren andere Agenturen aktiven Kulturverkehrs neu geschaffen, die bestimmt sind, durch Bündelung vorhandener Kräfte offensichtliche Defizite zu beheben. 1982 wurde durch Regierungsbeschluß das Centre d’information et de recherche sur l’Allemagne contemporaine (CIRAC) gegründet, dessen Vorsitz Alfred Grosser übernahm und das ein funktionales Äquivalent zum Deutsch-Französischen Institut in Ludwigsburg werden sollte. 187 Anfänglich im 8. Arrondissement (9, rue de Téhéran) angesiedelt, fand dies Zentrum für Deutschlandforschung mit dem Statut eines eingetragenen Vereins ab August 2001 seinen Sitz an der Peripherie des Pariser Raumes, an der Universität Cergy-Pontoise (33, Boulevard du Port). Unter der Leitung des langjährigen Gastmitarbeiters am Ludwigsburger DFI René Lasserre wirkte dies Zentrum vorzugsweise durch Publikationen und Kolloquien über das Gegenwarts-Deutschland, besonders aber mit dem CIRAC-Forum, einer Nachrichtenbörse zu den deutschen Kulturveranstaltungen in Paris. 188 Aufgrund der Initiative des DAAD und des französischen Bildungsministeriums entstand mit vergleichbarer Zielsetzung der Förderung des Studiums über das gegenwärtige Deutschland im November 2001 das Centre interdisciplinaire d’études et de recherches sur l’Allemagne (CIERA). Es gruppiert insgesamt 11 universitäre Einrichtungen des Pariser und des Lyoneser Raumes (darunter das CIRAC) mit der Zielsetzung, die sozial- und kulturwissenschaftliche Arbeit über Deutschland zu fördern, und setzt in seinem Programm einen besonderen Akzent auf wissenschaftstheoretische Fragen des Forschungs-Designs. Sein Büro beréforme des réseaux culturels. Les Instituts français en Allemagne. Les réformes de 2001 et 2002“, in: Documents, 2001, p. 4-24. 186 Gerrit Fischer: „Mobile Strukturen - Regionales Handeln“, in: Lendemains, 2001, Nr. 103/ 104, p. 137-146. 187 Réné Lasserre: „Le CIRAC. Dix ans d’études et de recherches au service de la coopération franco-allemande“, in: Henri Ménudier (ed.): Le couple franco-allemand en Europe, Asnières 1993, p. 307-313. 188 Cf. auch René Lasserre: „Recherches et publications du CIRAC“ in: Revue d’Allemagne, 1989, p. 39-48. <?page no="58"?> 58 findet sich in der Maison des Sciences de l’Homme am Boulevard Raspail. Beide neueren Deutschlandforschungs-Verbünde in Paris gingen aus sogenannten „Kultur-Gripfeln“ (in Frankfurt 1981 und in Weimar 1997) hervor und versuchen mit wenig zusätzlichem institutionellen Aufwand die Synergieeffekte vorhander Strukturen der akademischen Zusammenarbeit und des universitären Austauschs zu nutzen. Mit ihrem Informations-, Anregungs- und Förderungs-Angebot fügen sich diese Agenturen bilateraler Kenntnis- und Kontaktvermittlung bruchlos ein in das Mediations-Modell auswärtiger Kulturpolitik, das in den Nachkriegsjahrzehnten in den deutsch-französischen Beziehungen vorherrschte. Sie sind jedoch anders als die früheren Begegnungsorte mehr Vermittlungs-Instanzen als Treffpunkte eines Besucherpublikums. Die Ursachen für diesen Gestaltwandel der außenkulturpolitischen Institute im Übergang zum neuen Jahrhundert sind in dem ungleich einfacher gewordenen verkehrs- und nachrichtentechnischen Zugang zum Nachbarland zu suchen. Auch die Ursachen für die Verlagerung vieler entsprechender Etablissements vom Quartier latin an die Peripherie sind in diesen kommunikationstechnischen Veränderungen zu finden. Eine Ausnahme von dieser Regel unter den Neugründungen soziokultureller Zentren in Paris stellt das 2006 eröffnete Deutsche Forum für Kunstgeschichte/ Centre allemand d’histoire de l’art dar. Das auf Initiative des Berliner Kunsthistorikers Thomas W. Gaethgens und mit tätiger Hilfe französischer Kollegen ab 1997 errichtete Institut war nicht zuletzt deshalb schnell erfolgreich, weil traditionell seit dem späten 19. Jahrhundert das Interesse an der modernen französichen Kunst in Deutschland ebenso groß war wie das französische Interesse an der deutschen Musik. 189 Im fachdisziplinären Zuschnitt ähnlich angelegt wie das Deutsche Historische Institut (und wie dieses anfangs dem Bundesministerium für Bildung und Forschung angegliedert) fand das jüngste Glied in der Kette deutscher Kulturzentren eine zentrrale Unterkunft in der 10, Place des Victoires im 2. Arrondissement. Es soll der vergleichenden Erforschung der Kunst und der Kunstgeschichte dienen und ist mit dem Institut national de l’histoire de l’art eng verbunden. Die Organisation von internationalen Kolloquien, hauseigenen Forschungsseminaren sowie Stipendien und Publikationsreihen, vor allem aber die Unterhaltung einer Fachbibliothek weisen das kunsthistorische Forum aus als einen Begegnungsort deutscher Kulturvertretung im umfassenden und ursprünglichen Sinne. 190 Wenn die Gründung von Orten des kulturellen Austauschs zwischen Deutschen und Franzosen in Paris seit den 1980er Jahren also seltener ge- 189 Julia Drost: „Von der Notwendigkeit staatlicher Förderung wissenschaftlichen Austauschs. Das Deutsche Forum für Kunstgeschichte in Paris“, in: Lendemains, 2005, Nr. 119/ 120, p. 133-140. 190 U.a. veröffentlicht das DFK drei Publikationsreihen: Passagen/ Passages, Passerelles und Monographies. <?page no="59"?> 59 worden ist und die wenigen Neugründungen teilweise neue Formen aufweisen, so hängt das nicht nur mit den politischen Veränderungen und ökonomsichen Krisen in dieser Zeitspanne zusammen. Im Kontext der Europäisierung und Globalisierung kommt den Autausch- und Begegnungsstrukturen des deutsch-französischen Bilateralismus vielmehr eine neue Bedeutung zu. Von Trägern der Versöhnung und Verständigung zwischen maßgeblichen Teilen der Gesellschaft beider Nationen sind sie inszwischen zu Vektoren der Transnationalisierung geworden, die eine vielgestaltige Durchbrechung (nicht Aufhebung! ) der Trennfunktionen nationaler Grenzen bewirken. 191 Dieser Transnationalisierungsprozeß hat alle europäischen und außereuropäischen Staaten und Gesellschaften erfaßt und sprengt das Gehege des deutsch-französischen Bilateralismus. Der reichhaltige Erfahrungsvorrat, dessen Kumulation in diesem politischen Schutzraum der deutsch-französischen Gesellschaftsverflechtung auf institutioneller, organisatorischer und individueller Ebene ermöglicht wurde, enthält viele Interaktions- und Problemlösungsmuster, die im aktuellen Ein- und Umschmelzungsvorgang nationaler Grenzen und Identitäten richtungsweisend sein können. In den deutsch-französischen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen darf das Bemühen um die Grundlegung transnationaler Kompetenz indessen nicht aufhören, sondern muß intensiv fortgeführt werden, wenn es nicht eine (per saldo positive) Episode der europäischen Geschichte werden soll. 192 191 Zu diesem komplexen und hochaktuellen Thema cf. Hans Manfred Bock: „Transnationalisierung als zeitdiagnostisches Kennwort und zeitgeschichtliches Konzept für die deutsch-französischen Beziehungen“, in: Defrance/ Kißener/ Nordblom, op. cit., p. 349-377. 192 Cf. dazu meinen Beitrag: „Transnationale Kompetenz. Theoretische und praktische Implikationen eines Leitbegriffs landeswissenschaftlicher Studien“, in: Hans-Jürgen Lüsebrink, Jérôme Vaillant (ed.): „Civilisation allemande“/ „Landeskunde Frankreichs“. Bilanz und Perspektive in Lehre und Forschung, Tübingen 2010, i.E. <?page no="61"?> 61 II. Bußgang zu den „Zivilisationsliteraten“? Zu Thomas Manns Paris-Aufenthalt im Januar 1926 Als ein „Abenteuer ersten Ranges“ bezeichnete Thomas Mann die acht Tage, die er vom 20. bis 29. Januar 1926 in Paris verbrachte. 1 Es war sein erster Aufenthalt in der französischen Hauptstadt seit 1911. 2 Er schrieb das „Diarium“ dieses Paris-Besuchs bald nach der Rückkehr nach Deutschland und veröffentlichte eine Kurzfassung davon in der Neuen Rundschau, der Hauszeitschrift des Fischer-Verlags, bevor der ausführlichere Text als Buch erschien. 3 Erst wenn man dieses Büchlein nicht nur als Gelegenheitsschrift 1 Thomas Mann: Pariser Rechenschaft, in: Thomas Mann: Autobiographisches (= Das essayistische Werk in acht Bänden), Frankfurt/ Main 1968, p. 107-174. Im folgenden wird bei Zitaten aus dieser Schrift jeweils die Seitenzahl dieser Ausgabe der Pariser Rechenschaft angegeben. 2 Er erwähnt diese Reise in der Pariser Rechenschaft (p. 112), die vor 15 Jahren stattgefunden haben soll. Über diese erste Paris-Reise ist viel gerätselt worden. Fest steht lediglich, daß sie zwischen 1908 und 1912 stattgefunden hat. Peter de Mendelssohn (Der Zauberer. Das Leben des deutschen Schriftstellers Thomas Mann. Erster Teil 1875- 1918, Frankfurt/ Main 1975, p. 764-769) widmet dieser „verschwundenen Reise“ einen ganzen Abschnitt. Cf. auch Ernest Bisdorff: Thomas Mann und Frankreich, Luxemburg 1980, p. 9-11. Es kann hier nicht der Anspruch erhoben werden, dies Rätsel zu lösen. Aber eine bislang noch gar nicht in Erwägung gezogene Hypothese besteht darin, daß der Schulfreund von Thomas Mann, der Kunsthistoriker und Frankreich- Publizist Otto Grautoff, an der Organisation dieser Reise beteiligt war. Zu den sehr engen Beziehungen zwischen beiden Lübeckern cf. Peter de Mendelssohn (ed.): Thomas Mann. Briefe an Otto Grautoff 1894-1901 und Ida Boy-Ed, Frankfurt/ Main 1975. De Mendelssohn war offenbar wenig informiert über Otto Grautoff. In seinem Abschnitt über die „verschwundene Reise“ erwähnt er lediglich, daß „sogar Grautoff sich dorthin aufgemacht habe“ (p. 764). Tatsache ist, daß Otto Grautoff seit 1904 seinen Lebensmittelpunkt nach Paris verlegt und sich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg als Kunst- und Literatur-Experte für Frankreich in Deutschland einen Namen gemacht hatte. Cf. zu seiner Vita meine Studie Hans Manfred Bock: Kulturelle Wegbereiter politischer Konfliktlösung. Mittler zwischen Deutschland und Frankreich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (= éditions lendemains 2), Tübingen 2005, p. 41-59. Grautoff unterhielt vor 1914 auf der Ile Saint-Louis in Paris eine Art deutsch-französischen Salon, wo Thomas Mann die in den Betrachtungen eines Unpolitischen erwähnten „französischen Literaten“ getroffen haben könnte, mit denen er über Nietzsche diskutiert hatte. Cf. zu dieser Erwähnung de Mendelssohn, Der Zauberer, p. 768. Zu Grautoffs Vorkriegsaktivitäten cf. auch Ina Belitz: Befreundung mit dem Fremden. Die Deutsch- Französische Gesellschaft in den deutsch-französischen Kultur- und Gesellschaftsbeziehungen der Locarno-Ära, Frankfurt/ Main 1997, p. 18-59. 3 Cf. Thomas Mann: „Pariser Rechenschaft“, in: Die Neue Rundschau, 1926, p. 449-463 und p. 557-589. Thomas Mann: Pariser Rechenschaft, Berlin 1926. Zur Rolle der Hauszeitschrift des Fischer-Verlages in den deutsch-französischen Beziehungen cf. Michel <?page no="62"?> 62 liest, sondern im Zusammenhang der Zeit-, der deutsch-französischen Beziehungs-, und der Intellektuellen-Geschichte, sowie im Kontext der Werk- und der Lebensgeschichte Thomas Manns, so erschließen sich seine mehrfachen Bedeutungsdimensionen. Seine Pariser Rechenschaft ist insofern ein besonders geeignetes Studienobjekt für den pluridisziplinären Zugang zur Literatur, den sich die französische Germanistik seit den siebziger Jahren aufs Panier geschrieben hat. Die folgende Interpretation versucht, die genaue kulturhistorische Lektüre der Pariser Rechenschaft zu verbinden mit historisch-sozialwissenschaftlichen Fragestellungen. 4 Der von Thomas Mann gewiß nicht unbedacht gewählte Titel enthält einen Hinweis auf die mehrfachen Bezüge, in denen diese Schrift stand. „Rechenschaft“ war zumindest doppeldeutig. Der Begriff bedeutete - auf das Lesepublikum in Frankreich und Deutschland bezogen - die Absicht, anderen gegenüber eine Rechtfertigung vorzulegen; er bedeutete im selbstreflexiven Sinne aber auch, sich selbst klar zu werden über seinen Standpunkt zu Frankreich, sich selbst Rechenschaft zu legen. In beiden Verständnisvarianten verweist der Titel Pariser Rechenschaft auf seine Weltkriegsschrift Betrachtungen eines Unpolitischen, in der er (gemäß seiner Absicht, seinen „Gedankendienst mit der Waffe“ zu leisten 5 ) Frankreich als Land der „Zivilisation“ und des „Zivilisationsliteraten“ als Gegensatz und Feindbild für Deutschland, das Land der „Kultur“ und der „Künstler“, aufgebaut hatte. Auf keine andere seiner Veröffentlichungen nahm Thomas Mann so oft Bezug in seinem Bericht von 1926 wie auf die Betrachtungen eines Unpolitischen. War die Pariser Rechenschaft also - wie Thomas Manns Kritiker aus der national-konservativen Rechten bald mutmaßten - eine Abbitte für die Betrachtungen von 1918, war die Paris-Reise selbst ein Bußgang ins Land der „Zivilisationsliteraten“? Die Antwort auf diese Frage soll entsprechend dem sozial- und kulturwissenschaftlichen Prämissen pluridisziplinärer Literaturinterpretation in mehreren Anläufen gegeben werden. 6 Grunewald: „Deutsche Intellektuelle als Vorläufer des ‚Geistes von Locarno’. Die ‚Neue Rundschau’ und Frankreich zwischen 1919 und 1925“, in: Recherches germaniques, 1988, p. 67-88. 4 Cf. zu den methodischen Prämissen Hans Manfred Bock: „Germanistik und historische Sozialwissenschaften. Plädoyer für ein produktives Komplementärverhältnis“, in: Colette Cortès, Gilbert Krebs (ed.): Le territoire du germaniste. Actes du 30e Congrès de l’AGES, Nantes 1997, p. 53-62. 5 Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen (= Das essayistische Werk in acht Bänden, Bd. 1), Frankfurt/ Main 1968, p. 7. 6 Als neueste, rein literaturwissenschaftliche Studie cf. Heide Eilert: „Das lichtschleudernde, reklameflammende Paris. Thomas Manns ‚Pariser Rechenschaft’ im Kontext zeitgenössischer Großstadtwahrnehmung“, in: Gerhard R. Kaiser, Erika Tunner (ed.): Paris? Paris! Bilder der französischen Metropole in der nicht-fiktionalen deutsch-sprachigen Prosa zwischen Hermann Bahr und Joseph Roth, (= Jenaer Germanistische Forschungen N.F., Bd. 11), Heidelberg 2002, p. 293-307. <?page no="63"?> 63 1. Politische Konstellation: Schwelle zur Locarno-Ära Als Thomas Mann mit seiner Frau Katia in Paris weilte, lag die Paraphierung der Locarno-Verträge (Oktober 1925) nur eben drei Monate zurück. Die lange Phase der aktiven Kriegshandlungen (1914-1918) und die ebenso lange Phase des „Kalten Krieges“ (1919-1924) zwischen beiden Nationen hatten zuerst zu einem Höhepunkt nationaler Abgrenzungspropaganda und anschließend zu einem Tiefpunkt direkter gesellschaftlicher Kontakte zwischen den Bürgern beider Staaten geführt. Der junge Pierre Viénot, der am 21.1.1926 das Ehepaar Mann zu den Sehenswürdigkeiten von Paris führte (S. 162ff), brachte bei seinem ersten Nachkriegsaufenthalt in Deutschland die aus diesem mentalen Zustand resultierende Einstellung auf die Kurzformel: „On nous a tant représenté l’Allemand avec une torche à la main qu’on le rencontre avec surprise porteur d’un simple parapluie.“ 7 Erst ab 1924 wurden in beiden Nationen politisch und gesellschaftlich die Weichen neu gestellt für den Fortgang ihrer Beziehungen. Nach dem Tiefstpunkt der deutsch-französischen Beziehungen während der französisch-belgischen Besetzung des Ruhrgebiets (Januar-September 1923) war eine politische Situation erreicht, in der weder die intransigente Durchsetzung des Versailler Vertrages (für die in Deutschland Poincaré die Symbolgestalt wurde) noch seine totale Ablehnung weiterführten. Durch die Vermittlung der angelsächsischen Staaten wurde der Dawes-Plan beschlossen, der das Wirtschaftsleben in Deutschland mithilfe vor allem USamerikanischen Kapitals wieder kräftigen sollte, und auf der Londoner Konferenz (Juli-August 1924) wurde der Abzug der Besatzungstruppen aus dem Ruhrgebiet und der Abbau der seit 1918 in den linksrheinischen Gebieten errichteten französischen Verwaltungsstrukturen vereinbart. Damit war Bewegung in die diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Nationen gekommen, die im Oktober 1925 zu den Locarno-Verträgen fühte. Diese brachten neben der schon eingeleiteten Neuregelung der Reparations- und Räumungsprobleme, dem Hauptanliegen der deutschen Öffentlichkeit und dem harten Kern ihres Revisionsverlangens, die Zusicherung der Unverletzbarkeit der Westgrenzen des Deutschen Reiches als Konzession an das französische Sicherheitsbedürfnis und die Vereinbarung des Beitritts Deutschlands zum Völkerbund. 8 Thomas Mann war mit einem der unmittelbaren Ergebnisse dieser Politik, die ab 1925 von Aristide Briand und Gustav Stresemann geführt wurde, konfrontiert, wenn er notierte, Mainz sei „soeben von den Okkupationstruppen geräumt“ und die Stadt- 7 Pierre Viénots Brief an Maréchal Lyautey vom 18.9.1922, in: Archives Nationales, AP 311. 8 Cf. dazu Peter Krüger: Die Außenpolitik der Republik von Weimar, Darmstadt 1985, p. 207-301, und Raymond Poidevin, Jacques Bariéty: Les relations franco-allemandes 1815- 1975, Paris 1977, p. 258-280. <?page no="64"?> 64 halle habe „statt der Trikolore die rotgelbe Karnevalsflagge gehißt“ (p. 110). Innenpolitisch wurde die Entspannungspolitik in den deutschfranzösischen Beziehungen begünstigt durch die beginnende wirtschaftliche Stabilisierung nach der im Oktober 1923 durchgeführten Währungsreform (Ausgabe der Rentenmark) in Deutschland. In Frankreich ging aus den Parlamentswahlen vom Mai 1924 die Linke als Sieger hervor, deren Einstellung zum Versailler Vertrag und zu dessen bisheriger Umsetzung prinzipiell kritisch war. Thomas Manns unmittelbare Einbeziehung in die öffentlichen Diskussionen dieser Phase der diplomatischen Umstrukturierung zwischen den Konferenzen von London und Locarno erfolgte durch einen größeren Aufsatz, den er auf Bitten der Herausgeberin der Europe nouvelle, Louise Weiss (1893-1983), speziell für das französische Publikum verfaßte. Die französische Publizistin hatte die Zeitschrift, die seit 1918 als Periodikum diplomatisch-politischen und literarisch-kulturellen Zuschnitts erschien, in den Dienst Edouard Herriots gestellt und je länger je mehr der Politik Aristide Briands gewidmet. Sie war im Dezember 1924 nach Berlin gefahren und hatte dort u.a. Gustav Stresemann interviewt und Materialien für eine Deutschland-Nummer gesammelt, die am 14. März 1925 erschien. 9 In diesem Deutschland-Heft der Europe nouvelle, in dem Originalbeiträge u.a. von Gustav Stresemann, Hugo Preuss, Paul Loebe, Erich Koch, Rudolf Breitscheid, Moritz-Julius Bonn und Julius Bab in Übersetzung abgedruckt wurden, diente der Text von Thomas Mann als Eröffnungsbeitrag. Die Herausgeberin erklärte in ihren Einleitungsbemerkungen, es gehe darum, der französischen Öffentlichkeit ein sachliches Urteil über das gegenwärtige Deutschland zu ermöglichen, indem Repräsentanten des politischen und geistigen Lebens jenseits des Rheins zu Worte kämen, „dont l’autorité est indiscutablement reconnue par leurs compatriotes“. 10 In einem redaktionellen Vorspann wurde Thomas Mann vorgestellt als neubekehrter Republikanhänger: „La guerre a secoué profondément la forte personnalité de Thomas Mann, qui n’a pas hésité à exposer au public les crises qu’elle avait suscitées chez lui; homme de droite pendant les hostilités, Thomas Mann s’est rallié depuis lors, avec élan, à la république allemande.“ 11 Das war zumindest eine kühne Vermutung, die durch die Argumentation seines umfangreichen Beitrags zum Thema „L’esprit de l’Allemagne et son avenir entre la mystique slave et la latinité occidentale“ 12 nicht zwingend nahegelegt wurde. 9 Cf. dazu Célia Bertin: Louise Weiss, Paris 1999, p. 184. 10 L’Europe nouvelle vom 14. März 1925, Sp. 328. 11 Ibid., Sp. 332. 12 Ibid., Sp. 332-337. Thomas Mann hatte in dem Beitrag Passagen aus seinem Essay Goethe und Tolstoi eingearbeitet. <?page no="65"?> 65 Thomas Mann konstatierte den Zusammenbruch des liberal-humanistischen Modells in Europa, die Abwendung von der durch dies Modell legitimierten parlamentarischen Demokratie und den Aufstieg der (faschistischen sowie bolschewistischen) Diktaturen und eines neuen Nationalismus. Die für die Leser der Europe nouvelle wesentlichen Fragen 13 beantwortete er in einem keineswegs eindeutigen Sinne. Er machte klar, daß er in Poincaré einen Vertreter des abgelebten bürgerlich-nationalistisch-parlamentarischen Modells sah, „puisqu’en lui s’incarne politiquement la France classique et bourgeoise, l’idée d’une domination promise à la civilisation latine“. 14 Nicht von diesem Frankreich Poincarés erwartete er die Möglichkeit eines konstruktiven Dialogs zwischen Deutschen und Franzosen, der mit dem Ziel einer europäischen Gemeinschaft geführt werden könnte, sondern von dem anderen Frankreich, dem „socialisme de France, étranger, lui, à l’humanisme bourgeois“. 15 „Car c’est un fait qu’en France tradition nationaliste et admiration de la culture humaniste vont de pair, en ce sens que toutes deux se fondent sur cette conviction que la civilisation latine, dépositaire des intérêts éternels de l’humanité, mérite une absolue prééminence et a mission de dominer l’univers; tandis que l’esprit de communauté européenne et le désir, si réservé soit-il, d’une entente avec l’Allemagne sont plutôt le fait d’une France dont la culture n’est plus authentiquement latine, d’une France néo-révolutionnaire et ‚communiste’.“ 16 Es ist offensichtlich, daß der Autor hier der Regierung des Cartel des gauches eine Reverenz erwies, als deren Vorkämpferin ihm die Herausgeberin der Europe nouvelle bekannt war. Die politische Botschaft, die in seinen teilweise nationalcharakterologischen Überlegungen 17 transportiert wurde und in der er in keiner Weise von seinen intellektuellen Ziehvätern Schopenhauer, Wagner und Nietzsche abrückte, war: Ja, die Deutschen sind auf dem Weg zur Demokratie, aber nicht einer Demokratie überlebter Art, sondern einer neuartigen, vertieften Form derselben, für die Friedrich Nietzsche die Stichworte gegeben habe: „Mais la Démocratie n’est que l’appellation plus moderne, le nom politique d’un concept plus ancien, hérité du classicisme, celui d’humanité, concept suprême, qui réunit sous sa voûte les deux mon- 13 Als solche hatte die Herausgeberin in ihrem Präsentationstext genannt: „L’Allemagne est-elle une démocratie? L’influence de la Prusse domine-t-elle? Accepte-t-elle l’armée de métier ? Penche-t-elle vers la Russie ? Veut-elle rétablir des rapports économiques avec la France ? “ 14 Thomas Mann in: L’Europe nouvelle vom 14. März 1925, Sp. 334. 15 L’Europe nouvelle 14.3.1925, Sp. 335. 16 L’Europe nouvelle 14.3.1925, Sp. 334; „communiste“ ist hier im politischmetaphorischen Sinne gemeint und soll das andere Frankreich, das Poincaré ablehnt, bezeichnen. 17 Zur Entwicklung seiner Vorstellungen von Deutschland und dem deutschen Nationalcharakter immer noch lesenswert Kurt Sontheimer: Thomas Mann und die Deutschen, München 1961. <?page no="66"?> 66 des de l’antiquité et du christianisme. C’est au génie prophétique de Nietzsche que nous devons un aspect rajeuni, religieusement plus profond de cette synthèse.“ 18 Thomas Manns implizite Antworten, die in diesem für das französische Publikum bestimmten Ausführungen enthalten waren, blieben zweideutig: Verständigung und Dialog zwischen beiden Nationen ja, aber einstweilen nur mit dem „neorevolutionären“, nicht mit dem „lateinischen“ Frankreich; Entwicklung Deutschlands zur Demokratie ja, aber nur im Sinne einer Gemeinschaftsform jenseits des liberal-demokratischen Institutionenarrangements. 2. Bilaterale Situation: Kulturaustausch jenseits von Nationalismus und Internationalismus Der Beitrag in Louise Weiss’ Europe nouvelle war der erste direkt an eine französische Leserschaft adressierte Text Thomas Manns, der dort über das aktuelle Deutschland Auskunft gab und der zu seinem Ruf in Frankreich als Repräsentant deutschen Geistes wesentlich beitrug. Zu den aktuellen deutsch-französischen Beziehungen der Nachkriegsjahre hatte der Autor der Buddenbrooks bereits 1922 das Wort ergriffen. Er reagierte mit seinem Aufsatz über „Das Problem der deutsch-französischen Beziehungen“ 19 auf einen öffentlichen Dialog zwischen Ernst Robert Curtius und André Gide über den Stand des geistigen Austauschs zwischen beiden Nationen. In dieser Debatte zeichnete sich ein Konsens der drei anerkannten kulturellen Wortführer ab, der gegen die (in den ersten Nachkriegsjahren vom pazifistisch-internationalistischen Diskurs geprägte) vorherrschende Diskussion über das deutsch-französische Problem gerichtet war. 20 Im Rahmen dieser pazifistischen Begegnungsaktivitäten waren 1921 Albert Einstein und 1924 Fritz von Unruh nach Paris gereist 21 als illustre und unverdächtige Blockadebrecher im „Kalten Krieg“ zwischen beiden Ländern. Der Konsens, der sich in der Debatte Curtius-Gide-Thomas Mann über die deutsch-französischen Kulturbeziehungen herstellte, bestand darin, einen neuen Baugrund für den wünschenswerten bilateralen Brückenschlag auszumachen und diesen zu suchen auf dem Terrain zwischen Internationalismus und Nationalismus. Erklärter Gegner und Sinnbild des 18 L’Europe nouvelle, 14.3.1925, Sp. 335sq. 19 Zuerst erschienen in Der Neue Merkur, 1922, Heft 10, p. 649sqq. 20 Cf. dazu Claude Foucart: „Ernst Robert Curtius et André Gide. Les débuts d’une amitié (1920-1923)“, in: Revue de Littérature Comparée, 1984, p. 314-339. 21 Cf. dazu die Studien Michel Biezunski: Einstein à Paris, Saint-Denis 1991, und Ferenc Szász: „Der einzelne muß in sich den Geist des Krieges töten. Über Fritz von Unruhs ‚Flügel der Nike’“, in: Gerhard R. Kaiser, Erika Tunner (ed.): Paris? Paris! , op. cit., p. 253-291. Zu den Reisen zwischen beiden Hauptstädten cf. auch meine Studie in diesem Buch: „Reisen zwischen Berlin und Paris in der Zwischenkriegszeit“. <?page no="67"?> 67 Internationalismus war den drei Kritikern die Gruppe Clarté, die von Henri Barbusse im Mai 1919 ins Leben gerufen worden war und 1922 den Anschluß an die Kommunistische Internationale vollzogen hatte. Eine nicht minder entschiedene Absage richteten sie an den dominanten Nationalismus in beiden Ländern, der für den Abbruch der lebendigen Kommunikation über den Rhein hinweg verantwortlich gemacht wurde. In Curtius’ Überlegungen gefielen Thomas Mann vor allem dessen heftige Ausfälle gegen die dem Internationalismus zugrunde liegende Aufklärungs- Philosophie, die dem bürgerlichen Pazifismus in der Tat eigen war. Für Curtius (und für Mann) waren diese philosophischen Grundlagen die „letzte, ärmlichste Form des modernen Bourgeois-Geistes“, die „extreme, völlig blutleer gewordene Schematisierung der Aufklärungsideologien des 18. und 19. Jahrhunderts“. 22 Manns Zustimmung zu den Reflexionen von Curtius und Gide beruhte weniger auf einer Übereinstimmung mit deren konkreten Anleitungen zur kulturellen Verständigungsarbeit (die ohnehin kaum angedeutet wurden), sondern auf dem Eindruck der Bestätigung zentraler Vorstellungen, die er in den Betrachtungen eines Unpolitischen formuliert hatte. Zu seiner Streitschrift von 1918 führte er aus: „Es war, sage ich, eine ‚Stimme’, die nein sagte zu einer europäischen Verständigung, welche nur um den Preis des Opfers aller Tiefen und Höhen der Seele zu erkaufen wäre, nur durch die Annahme der Doktrinen eines fauchenden, die Nation bespeienden Pazifismus; eine Stimme, die, als die Meinungen sich polarisiert hatten, die verderbliche Falschheit dieser Polarisation, der Alternative von Nationalismus und Internationalismus, tief und quälend empfand, die aus Haß gegen die verlebte und schönrednerische Bourgeois-Ideologie des Internationalismus das, was des Geistes ist im Nationalismus, dialektisch aufzeigte und sich darum als eines ‚Völkischen’ hündische Stimme mußte schmähen lassen, die aber im tiefsten wußte, daß es deutscherseits nicht einmal gelte, ‚eine neue Position zu erfinden’, sondern nur eine alte, gute zu behaupten: die nationale Position eines Kosmopolitismus, der die organische Art, das geistige Europa zu denken, bewahrt [...].“ 23 Es ging Thomas Mann darum, soviel von seinen kulturphilosophischen Thesen aus den Betrachtungen in eine neue historische Konstellation der deutsch-französischen Beziehungen hinüberzuretten, wie dies vor seinen Zeitgenossen irgend plausibel zu vertreten war. Das gelang in dem Aufsatz 22 Cf. dazu auch Hans Manfred Bock: „Die Politik des ‚Unpolitischen’. Ernst Robert Curtius in der Weimarer Republik“, in: ders., Kulturelle Wegbereiter, op. cit., p. 61-122, bes. p. 80sq. In fast wörtlicher Anverwandlung redet Mann von „letzten, ärmlichsten Formen der Bourgeois-Ideologie des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, blutleeren Schematisierungen...“ Thomas Mann: „Das Problem“, loc. cit., p. 178. 23 Thomas Mann: „Das Problem der deutsch-französischen Beziehungen“, in: ders.: Von Deutscher Republik. Politische Schriften und Reden in Deutschland, Frankfurt/ Main 1984, p. 174. <?page no="68"?> 68 weniger überzeugend durch den Hinweis auf eine in der Schrift von 1918 enthaltene positive Würdigung Paul Claudels 24 als durch die Abwehr eines in Le Temps veröffentlichten Artikels, in dem er schlicht als Feind der Demokratie porträtiert worden war aufgrund seiner Betrachtungen. 25 Der französische Literaturkritiker, der kein Hehl daraus machte, daß er die ganze deutsche Gegenwartsliteratur für unbedeutend hielt, warnte im Mai 1922: „Il est inquiétant de voir M. Thomas Mann glorifier la guerre, rejeter en même temps comme inférieures et démodées toutes les institutions qui peuvent restituer à son pays la confiance du monde, et nous dire: ‘En parlant ainsi, j’ai conscience d’être l’interprète de l’âme nationale ! ’.“ 26 Thomas Mann hatte leichtes Spiel nachzuweisen, daß der Journalist sein Weltkriegsbuch nur aus zweiter Hand kannte. 27 Er drehte den Spieß um, indem er - unter Berufung auf die „kosmopolitische“ Position der Curtius-Gide- Debatte - seinen Kontrahenten als „anstößigen Mann“ bezeichnete, der die deutsch-französischen Beziehungen störe. „Herr Mille“ sei Teil des deutsch-französischen Problems, das es zu lösen gelte, indem er sich selbstgerecht identifiziere mit dem französischen Nationalismus, mit jenem offiziellen Frankreich, „von dem Herr Mille mit Stolz erklärt, daß es dank einer zweitausendjährigen Durchdringung mit helleno-lateinischer Kultur ‚solidement rationaliste et classique’ geblieben sei“. 28 Seine, Thomas Manns, Antipathie gegen dieses Frankreich habe „mit eigentlicher Franzosenfresserei nicht viel zu tun“. 29 Die in der Curtius-Gide-Thomas-Mann-Debatte 1921/ 1922 beschworene „kosmopolitische“ Position jenseits von Nationalismus und Internationalismus als Baugrund für den deutsch-französischen Brückenschlag blieb in den zwanziger Jahren durchaus präsent im Umkreis der bilateralen bürgerlichen Verständigungsorganisationen 30 , wurde jedoch von den Wortführern in der Diskussion über die deutsch-französischen Kulturbeziehungen von 1921/ 1922 in unterschiedlicher Weise fortgeschrieben. Während Curtius z. Bsp. sich unter dem Einfluß der romantischen Staatsphilosophie Adam Müllers zunehmend stärker darauf konzentrierte, vom Nachbarland die Beweise für die politisch-kulturelle Beweglichkeit des „rationalistischklassischen“ Frankreichs einzufordern, die für die gemeinsame Gesprächs- 24 Thomas Mann: „Das Problem“, loc. cit., p. 179. 25 Pierre Mille: „Un romancier allemand contre la démocratie“, in: Le Temps vom 14. Mai 1922. 26 Pierre Mille: „Un romancier allemand“, loc. cit. 27 Und zwar durch eine Rezension des Buches in der Revue de Genève, die Thomas Manns Übersetzerin Geneviève Maury veröffentlicht hatte; die Debatte über Manns Kriegsschrift wurde in Le Temps noch fortgeführt aufgrund einer Zuschrift von Geneviève Maury an die Zeitung. 28 Thomas Mann: „Das Problem“, loc. cit., p. 179. 29 Ders., ibid. 30 Cf. dazu die folgende Studie in diesem Band: „Europa als konkrete Utopie? “. <?page no="69"?> 69 grundlage mit Deutschland jenseits von Nationalismus und Internationalismus die Vorbedingung darstellte, 31 blieb Thomas Mann in seiner Einstellung zu Frankreich ungleich geschmeidiger und konzilianter. Den tagespolitischen und konjunkturellen Veränderungen der bilateralen Beziehungen stärker zugewandt als Curtius und von seinem Ehrgeiz getrieben „Mundstück seiner Nation“ 32 zu sein, reagierte Thomas Mann nicht ausschließlich oder überwiegend fordernd, sondern mindestens ebenso stark rezipierend auf die politisch-kulturellen Manifestationen des Nachbarlandes. Während Curtius sich in teilweise heftige Streitgespräche mit französischen Germanisten wie Edmond Vermeil und Félix Bertaux stürzte, 33 stellte Thomas Mann die Verbindungen z. Bsp. zu Bertaux, einem seiner literarischen Fürsprecher in Frankreich seit der Vorkriegszeit, wieder her. 34 Wenn Curtius sich im Laufe der zwanziger Jahre im Rahmen der Kulturkunde-Bewegung immer stärker festlegte auf das didaktische Prinzip, in Frankreich sei alles anders als in Deutschland, versuchte Mann zumindest, französische Denk- und Formangebote einzupassen in seine eigene literarische Tätigkeit. Folgerichtig erklärte Curtius zu Beginn der dreißiger Jahre demonstrativ seine Abkehr von Frankreich, während Thomas Mann seine Beziehungen ins Nachbarland eher intensivierte. 35 In diesem Zusammenhang trug er sich 1933/ 34 mit dem Gedanken, ein Buch des Unmuts als Gegenstück zu den Betrachtungen eines Unpolitischen zu schreiben, das diese gleichsam zurücknehmen sollte. 36 Er ließ ebenso wenig ab von der nationalpädagogischen Wirkungsabsicht wie Curtius. Er lehnte es jedoch im Gegensatz zu ihm ab, eine prinzipielle Andersartigkeit zwischen den Kulturen beider Nationen anzunehmen. In der Rezension einer Anthologie von Félix Bertaux schrieb er 1931: „Weder Deutsche noch Franzosen sollten so töricht sein, sich von der populären Völkerpsychologie irgendeine simpel profilierte Charakterrolle aufschwätzen zu lassen und zu glauben, der eine müsse ewig Vernunft, der andere Dynamik und Chaos mimen. Die Völker werden einan- 31 So prägnant ausgeführt in Ernst Robert Curtius: Die literarischen Wegbereiter des neuen Frankreich, Potsdam 1919. 32 Thomas Mann: „Das Problem“, loc. cit., p. 176. 33 Cf. dazu die Studien Katja Marmetschke: „Vernunft oder Intuition? Der Streit zwischen Edmond Vermeil und Ernst Robert Curtius in der Revue de Genève“, in: Lendemains. Etudes comparées sur la France. Vergleichende Frankreichforschung, 2001, 103/ 104, p. 42-55, und Hans Manfred Bock: „‚Ich verzichte Herr Curtius, ich verzichte! ’ Félix und Pierre Bertaux im Streitgespräch mit Ernst Robert Curtius (1925-1928)“, in: Passerelles et passeurs. Hommages à Gilbert Krebs et Hansgerd Schulte, Asnières 2002, p. 29-54. 34 Cf. Biruta Cap (ed.): Thomas Mann - Félix Bertaux. Correspondance 1923-1948, Bern/ New York 1993. 35 Cf. dazu meine Studie: „Die Politik des ‚Unpolitischen’“, loc. cit., 36 Cf. dazu Peter de Mendelssohn: Der Zauberer, op. cit., Band 2, p. 120sq. <?page no="70"?> 70 der desto besser verstehen, je unvoreingenommener von ihrem Ruf sie ihren menschlichen Reichtum kultivieren.“ 37 3. Kulturelle Verständigungsinitiativen: Schrittmacher für „geistige Demobilisierung“ Die Phase der diplomatischen Neuordnung der Verhältnisse zwischen der französischen Republik und dem Deutschen Reich zwischen 1924 und 1926, an deren Ende Thomas Manns Paris-Besuch fiel, war auch die Geburtsstunde für neuartige gesellschaftliche Verständigungsinitiativen. In den vorausgegangenen Nachkriegsjahren waren die Versuche organisierter Gruppen, mit dem Lande des Feindes von gestern wieder einen friedlichen Kontakt aufzunehmen, am dichtesten gewesen im soziokulturellen Feld des Pazifismus. Dies ist paradigmatisch aufzeigbar am Beispiel der Ligue des droits de l’homme und des Bundes neues Vaterland bzw. der aus ihm hervorgegangenen Deutschen Liga für Menschenrechte. 38 Louise Weiss konstatierte im Deutschland-Heft ihrer Zeitschrift 1925, was man in Frankreich an Persönlichkeiten in Deutschland kenne, sei begrenzt auf die Extreme: auf den Chef der Obersten Heeresleitung im Krieg Ludendorff einerseits und auf den Repräsentanten des deutschen Pazifismus Hellmut von Gerlach andererseits. 39 Neben diese vielgestaltigen pazifistischen Initiativen, mit deren Vertretern Thomas Mann während seines Paris-Aufenthaltes nur beiläufig in Kontakt kam, 40 traten in den Jahren 1924/ 25 neue Organisationen auf, die den Pazifismus explizit ablehnten und die den deutschfranzösischen Dialog auf einer anderen geistigen Grundlage wieder in Gang bringen wollten. Die bei weitem wichtigsten Vereinigungen, die dem „Geist von Locarno“ zur Breitenwirkung verhelfen wollten, waren das Deutsch-Französische Studienkomitee / Comité franco-allemand d’Information et de Documentation und die Deutsch-Französische Gesellschaft (DFG), der in 37 Thomas Mann: „Jungfranzösische Anthologie“, in: Deutsch-Französische Rundschau, 1931, p. 19. 38 Cf. dazu das Themenheft: „Demokratie, Menschenrechte, Völkerverständigung. Die Ligue des Droits de l’Homme und die deutsch-französischen Beziehungen von der Jahrhundertwende bis zum Zweiten Weltkrieg“, in: Lendemains, 1998, 89, p. 7-102. 39 L’Europe nouvelle vom 14. März 1925, Sp. 332. 40 So traf er beim Diner am 24. Januar im privaten Rahmen Victor Basch, „der irgendein hervorragendes Amt in der Liga für Menschenrechte bekleidet“ (p. 148); Victor Basch (1863-1944), Sorbonne-Professor und zentraler Mittler zwischen der französischen und der deutschen Liga für Menschenrechte, für den deutschen Dichter „ein unterhaltsamer Mann“ (p. 148), vermochte nicht, Thomas Manns eingehenderes Interesse zu wecken. Cf. zur Persönlichkeit Françoise Basch u. a.: Victor Basch 1863-1944, un intellectuel cosmopolite, Paris 2000. <?page no="71"?> 71 Frankreich eine Ligue d’études germaniques (LEG) entsprach. 41 Es waren eindeutig diese Vereinigungen, deren Vertreter und Kommunikationsnetze die Aufnahme Thomas Manns in Paris im Januar 1926 zum größten Teil gestalteten. Die Deutsch-Französische Gesellschaft (DFG) war das Werk des Jugendfreundes von Thomas Mann, Otto Grautoff (1876-1937), 42 der ähnlich wie sein ehemaliger Schulfreund während der ersten Nachkriegsjahre in Frankreich als „pangermaniste“ galt, dort jedoch bereits ab Anfang der zwanziger Jahre wieder einen weiten Bekanntenkreis aufbaute. 43 Seit 1924 betrieb Grautoff das Projekt einer deutsch-französischen Zeitschriftengründung, aus dem später, 1927/ 28, die Vereinigung der DFG und deren Periodikum Deutsch-Französische Rundschau hervorgingen. 44 Die französischen Partnereinrichtungen waren die LEG, die überwiegend in den Universitätsstädten, aber nicht in Paris wirkte, und die Revue d’Allemagne, die in Paris gestaltet wurde, aber kein Organ der LEG war. Die DFG und die LEG, die beide jeweils über 2000 Mitglieder zählten, waren im wesentlichen bildungsbürgerliche Vereinigungen, deren erklärtes Ziel es war, umfassend über das Nachbarland zu informieren und den intellektuellen Dialog zu fördern. Grautoff hatte 1925 auf einer vom Auswärtigen Amt finanzierten Reise weitläufige Kontakte zu den französischen Universitäts-Germanisten hergestellt 45 und öffentlich auf seine Tätigkeit aufmerksam gemacht durch die Publizierung eines Briefs des amtierenden Erziehungsministers Anatole de Monzie, in dem dieser seine feste Absicht bekundete, den Boykott deutscher Wissenschaftler bei internationalen Kongressen zu beenden. 46 Die Beziehungen zwischen Thomas Mann und Otto Grautoff hatten sich schon vor dem Weltkrieg gelockert, waren aber nie ganz abgebrochen. Grautoff hatte die Betrachtungen eines Unpolitischen als Orientierungshilfe für die 41 Cf. zu diesen Organisationen neuerdings die Monographien Guido Müller: Europäische Gesellschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg. Das Deutsch-Französische Studienkomitee und der Europäische Kulturbund, München 2005, und Ina Belitz: Befreundung mit dem Fremden, op. cit. 42 Er verdiente eine eigene Biographie; zum bisherigen Kenntnisstand zu Grautoff cf. Ina Belitz: Befreundung mit dem Fremden, op. cit., p. 18-59 und Hans Manfred Bock: Kulturelle Wegbereiter, op. cit., p. 41-59. 43 Cf. dazu auch seine Frankreichbücher Otto Grautoff: Zur Psychologie Frankreichs, Berlin 1922; ders.: Die Maske und das Gesicht Frankreichs in Denken, Kunst und Dichtung, Stuttgart 1923; ders.: Das gegenwärtige Frankreich. Deutungen und Materialien, Halberstadt 1926. 44 Cf. dazu Béatrice Pellisier: Un dialogue franco-allemand de l’entre-deux-guerres: la Deutsch-Französische Rundschau et la Revue d’Allemagne, Diss. Paris IV 1991/ 92. 45 Cf. dazu Otto Grautoff: „Die Germanistik in Frankreich“, in: ders.: Das gegenwärtige Frankreich, op. cit., p. 175-187. 46 Cf. Grautoff : Das gegenwärtige Frankreich, p. 204sqq. <?page no="72"?> 72 Nachkriegsjahre begeistert aufgenommen 47 und Thomas Mann notierte am 4.4.1919 in seinem Tagebuch wohlgefällig dessen „Begeisterung“. 48 Anfang 1925 berichtete der Frankreich-Publizist Grautoff Mann von seiner bevorstehenden Rundreise durch Frankreich und bot dem alten Schulfreund an, sich dort dafür zu verwenden, daß er zu einer Vortragsreise eingeladen werde. 49 Da die Universitäts-Germanisten in Paris und den anderen französischen Hochschulstandorten die direkte Zielgruppe der Grautoffschen Werbungskampagne für die Organisierung der bilateralen Kulturbeziehungen waren und da er nachweislich erfolgreich war in diesem Bemühen, kann es als sicher gelten, daß er maßgeblich beitrug zu der Einladung seines Freundes durch die Carnegie-Stiftung, deren Pariser Vorsitzender Henri Lichtenberger war. Es war vor allem der Personenkreis um Lichtenberger, der an der von Grautoff betriebenen Vorbereitung der doppelten deutschfranzösischen Zeitschriftengründung beteiligt war und der Thomas Manns Paris-Aufenthalt begleitete und betreute. Allen voran der Sorbonne- Germanist Henri Lichtenberger (1864-1941) selbst, der in der Vorkriegszeit mit autoritativen Monographien zu Richard Wagner und Friedrich Nietzsche hervorgetreten war und der sich seit dem Ersten Weltkrieg überwiegend der „geistigen Demobilisierung“ zwischen Deutschland und Frankreich widmete. 50 Dies war ihm vor allem deshalb möglich, weil er die Leitung der westeuropäischen Abteilung der US-amerikanischen Carnegie- Stiftung Anfang der zwanziger Jahre übertragen bekam, die ihm einen erheblichen Wirkungsradius eröffnete. 51 Lichtenberger hatte bereits 1922 im Auftrag der Stiftung eine Erkundungsfahrt nach Deutschland gemacht und den Eindruck mitgebracht, daß der direkte Kontakt zwischen Deutschen und Franzosen immer schwieriger werde; die Friedens- und Versöhnungsappelle könnten sich dort am ehesten stützen „sur le petit groupe d’hommes courageux et résolus qui ont condamné du fond du cœur les errements de l’impérialisme pangermaniste et militariste et qui travaillent vaillamment à faire surgir du chaos de l’après-guerre une Allemagne nouvelle, démocratique et pacifique, régénérée spirituellement, disposée à réparer loyalement dans la mesure du possible les ruines matérielles causées par l’ancien régime et prête à coopérer avec les démocraties occidenta- 47 Cf. Grautoff : Zur Psychologie Frankreichs, op. cit., p. 10sq. 48 Thomas Mann: Tagebücher 1918-1921, Frankfurt/ Main 1979, Eintragung vom 4.4.1919, p. 185. 49 Die Briefe von Thomas Mann. Regesten und Register, Bd. 1. Die Briefe von 1899 bis 1933, Frankfurt/ Main 1976, p. 399. 50 Cf. dazu meine Darstellung in Hans Manfred Bock: „Henri Lichtenberger. Begründer der französischen Germanistik und Mittler zwischen Frankreich und Deutschland“, in: ders.: Kulturelle Wegbereiter, op. cit., bes. p. 222-227. 51 Zur Tätigkeit der Dotation Carnegie in Paris cf. deren Selbstdarstellung: Le Centre Européen de la Division des Relations Internationales et de l’Education. Fondation, Administration, Activité, Paris 1928. <?page no="73"?> 73 les à la restauration matérielle et morale de l’Europe.“ 52 Der Sorbonne- Germanist war also durchaus mit dem pazifistischen Milieu verbunden, dem Thomas Manns Gunst nicht galt; er war jedoch zugleich Nietzsche- und Wagner-Kenner, was ihm die Sympathie und Anerkennung Thomas Manns sicherte. Lichtenberger berief sich in seiner Rede am 20. Januar im Hause der Carnegie-Stiftung auf „unseren gemeinsamen Meister Nietzsche“ und wurde von Thomas Mann mit dieser Formulierung anerkennend zitiert in der Pariser Rechenschaft (S. 115). Andererseits erschien der weltgewandte „Causeur“ dem deutschen Schriftsteller als Repräsentant der „Alten Welt“; man finde in seiner Persönlichkeit den Habitus wieder, den die „humanistische Zivilisation des Westens“ verleihe, „und weiß dabei, daß es eine todgeweihte Welt ist, schon tot eigentlich, im Begriffe, von östlich-proletarischen Wogen verschlungen und begraben zu werden“ (S. 113). Er milderte sein Urteil ironisch ab: „Am Ende hieße es nicht der Weltgeschichte in die Speichen fallen, wenn man zugäbe, daß es immerhin irgendwie ein bißchen schade darum ist“ (S. 113). Der allgegenwärtige Germanist und Verständigungspolitiker wurde in den folgenden Jahren Redaktionsmitglied in beiden Zeitschriften (Deutsch-Französische Rundschau sowie Revue d’Allemagne), Ehrenvorsitzender der Ligue d’études germaniques und Direktor des 1930 eröffneten Institut d’études germaniques. Lichtenbergers engster Mitarbeiter und „Lieblingsschüler“ (S. 123), Maurice Boucher (1885-1977), zählte nicht nur zu den Laudatoren Thomas Manns, sondern diente ihm auch z. Bsp. bei seinem Besuch in der Union pour la vérité am 21. Januar in der rue Visconti als Übersetzer. Boucher, der damals Deutschlehrer am Lycée Louis-le-Grand, einer Pariser Eliteschule, war, hatte zuvor in Berlin und Düsseldorf in politischen Diensten gestanden als Mitglied der Militärkommission und des Pressedienstes während der Ruhrbesetzung; er war als Musikkenner und Lyrik-Autor an die Öffentlichkeit getreten. 53 Ihm wurde 1927 die redaktionelle Leitung der Revue d’Allemagne übertragen, die aus dem Grautoff-Projekt entstanden war und in deren Direktorium auch Thomas Mann figurierte. Boucher habilitierte sich über den Schelling-Schüler K.W.F. Solger sowie über den zeitgenössischen Autor Graf Keyserling und erhielt dann 1936 eine Professur an der Sorbonne. Thomas Mann widmete der Ansprache, die der „wackere, junge Mann“ in der Carnegie-Stiftung hielt, besonders ausführliche Passagen in der Pariser Rechenschaft (S. 125-129). Er schloß sich dessen Überlegungen zu den französisch-deutschen Kulturbeziehungen und zur Ästhetik der modernen Literatur vorbehaltlos an: „Nie ist mir ähnlich nach dem Munde 52 La Conciliation et la Dotation Carnegie. Assemblée Générale du 6 juillet 1923, La Flèche 1923, p. 116. 53 Zu seinen biographischen Daten cf. Olivier Agard: „Maurice Boucher“, in: Christoph König (ed): Internationales Germanistenlexikon 1800-1950, Berlin 2003, p. 247sq. <?page no="74"?> 74 geredet worden“ (S. 127). Er hatte den - wohl nicht unbegründeten - Eindruck, daß sich hier jemand auf dem prominenten Podium seine „kritischen Sporen der Moralisten“ (S. 128) verdienen wollte. Der dritte Redner in der Carnegie-Veranstaltung mit Thomas Mann am 21.1.1926 war Félix Bertaux (1881-1948), der den Tod in Venedig übersetzt hatte. Auch er gehörte im weiteren Sinne zu den französischen Intellektuellen, die maßgeblich an der Gründung der Revue d’Allemagne beteiligt waren, und er stand mit den Pariser Hochschulgermanisten in fortgesetztem Kontakt. Er hatte seine Absicht, sich für die Germanistik zu habilitieren, im Ersten Weltkrieg fallen gelassen und hatte - als Deutschlehrer am Lycée Janson-de-Sailly und an der Ecole normale supérieure de Saint- Cloud tätig - sich einen Namen gemacht durch seine Berichterstattung über die deutsche Gegenwartsliteratur in der Nouvelle Revue Française. 54 Mit Heinrich Mann seit 1923 in zunehmend freundschaftlicher Beziehung stehend, 55 hatte er im Sommer 1925 bei einer Österreich- und Deutschlandreise auch Thomas Mann in seiner Münchner Wohnung gemeinsam mit seinem Sohn Pierre besucht. Dieses Treffen und die Artikel, die er seit 1914 über Thomas Mann veröffentlicht hatte, waren die Grundlage für seine Laudatio, die er am 21.1.1926 in der Carnegie-Stiftung hielt, und für seine Gegeneinladung an Thomas Mann in sein Haus in Sèvres, der dieser am 24. Januar (S. 142) Folge leistete. Bertaux’ Verhältnis zu Thomas Mann erreichte nie den Grad an freundschaftlicher Verbundenheit, wie sie in seiner lebenslangen Beziehung zu Heinrich Mann vorherrschte; aber spätestens seit Thomas Manns Appell an die Vernunft vom Oktober 1930 sah er in ihm den geistigen Wortführer des anderen, des besseren Deutschland, das es gegen Hitler zu unterstützen galt. Thomas Mann erfaßte in seiner Pariser Rechenschaft sehr fein den Unterschied zwischen den beiden Begrüßungsrednern Boucher und Bertaux, wenn er bei dem ersten feststellte, daß er am meisten am „klassischen Frankreich“ hing (S. 132), während er von Bertaux’ Rede die Ausführungen über „deutschen Republikanismus“ (S. 125) hervorhob. Boucher hatte seine Ansprache ausgefeilt und vorgelesen, Bertaux hingegen plauderte drauf los: „Er plauderte frei, geübt und fließend. Seine heitere Häßlichkeit wird noch anziehender beim Sprechen durch sein Lächeln, dies französische Lächeln einer geisterhellten Bonhommie...“ (S. 124). Im Zusammenhang mit diesen drei Pionieren gemäßigt republikanischer Verständigungsbemühungen mit Deutschland muß auch Edmond Jaloux (1878-1949) genannt werden, der mit den drei Germanisten ab 54 Zu seinem Wirken cf. Hans Manfred Bock: „‚Réapprendre l’Allemagne’. Félix Bertaux als Freund André Gides und der zeitgenössischen deutschen Literatur“, in: ders.: Kulturelle Wegbereiter, op. cit., p. 309-332. 55 Cf. dazu Wolfgang Klein (ed.): Heinrich Mann - Félix Bertaux. Briefwechsel 1922-1948, Frankfurt/ Main 2002. <?page no="75"?> 75 1927/ 28 dann Mitglied der Redaktionskomitees der beiden deutschfranzösischen Monatsschriften wurde. Der Literaturkritiker südfranzösischer Herkunft, der als Beamter des französischen Außenministeriums gearbeitet hatte, war ein eindringlicher Kenner der deutschen Literatur und veröffentlichte 1927 ein Buch über Rilke; er war Kritiker der Nouvelles littéraires seit 1922 und directeur littéraire bei Grasset seit 1924. Er hatte nicht die Gelegenheit, Thomas Mann öffentlich zu würdigen, war aber mit ihm in Charles du Bos’ Wohnung auf der Ile Saint-Louis zum Tee eingeladen am 22. Januar. Jaloux hatte zur französischen Ausgabe des Tonio Kröger ein Vorwort geschrieben und den Tod in Venedig besprochen. Die Begegnung mit dem deutschen Schriftsteller veranlaßte diesen zu der Portraitskizze: „Er könnte Deutscher sein mit seiner Rundbrille und seinem eher blonden als dunklen Schnurrbärtchen, ist aber Südfranzose. Schlicht, ernst, nachdenklich, fast gestenlos, mehr gemütvoll als sprühend erschien er mir bei wiederholten Begegnungen als Typus des französischen Intellektuellen, den als Windbeutel vorzustellen niemand guttut“ (S. 135). Wenn Lichtenberger, Boucher, Bertaux und auch Jaloux also unzweifelhaft zu demselben (Anfang 1926 noch in der Entstehung begriffenen) französisch-deutschen Verständigungskreis gehörten, der in den folgenden Jahren konkrete organisatorische und publizistische Formen annahm, so waren auch die meisten anderen Gesprächspartner, die mit ihren Beiträgen zur Gestaltung von Thomas Manns Pariser Woche beitrugen, mit den neu entstehenden Verständigungsorganisationen eng verbunden. Charles du Bos (1882-1939), der dritte Vortragsredner der Nachmittagsveranstaltung vom 21. Januar im Carnegie-Gebäude am Boulevard Saint-Germain, trat auf als Leiter der Union Intellectuelle Française (S. 123). Du Bos, der Literaturkritiker und Freund Gides, hatte das Berlin der Vorkriegszeit kennengelernt und dort auch einen Vortrag Thomas Manns gehört. Er war der Vorsitzende der französischen Sektion des Europäischen Kulturbundes, der sich hinter dem Namen Union Intellectuelle Française verbarg. Diese Union war also Bestandteil des europäischen Netzwerks konservativrevolutionärer Intellektueller, das von dem österreichischen Aristokraten Anton Prinz Rohan ab 1922 geschaffen worden war. Die französische Sektion des Europäischen Kulturbundes war 1924 in Paris gegründet worden und zählte Anfang 1926 etwa 90 Mitglieder. Nach einem Bericht ihres Vorsitzenden du Bos auf der Mailänder Tagung des Europäischen Kulturbundes von 1925 hatte die Gruppe eine lebhafte Tätigkeit entfaltet: Bei den monatlichen Ausspracheabenden, die im Hause der Carnegie-Stiftung stattfanden, waren u. a. aufgetreten: Rainer Maria Rilke, Hugo von Hofmannsthal, Annette Kolb, Henri Lichtenberger, Paul Valéry und Paul Langevin. 56 Der Kulturbund, der die hochangesehene Zeitschrift Europäische 56 Guido Müller: Europäische Gesellschaftsbeziehungen, op. cit., p. 352. <?page no="76"?> 76 Revue 57 herausgab, wandelte sich nach 1933 vom antisozialistischen und antiliberalen Intellektuellen-Verband zum Schrittmacher des Nationalsozialismus. 58 Auch im Falle du Bos’, der im Kreise der Nouvelle Revue Française aufgrund seiner Neigung zum Katholizismus von sich reden machte, fügte Thomas Mann eigene Beobachtungen und ihm offenbar zugetragene Beurteilungen zusammen, wenn er ihn in der Pariser Rechenschaft charakterisierte: „Seine Rede hat etwas Gehobenes, Musikalisch-Pathetisches, etwas fast Priesterliches. Ich glaube, daß dieser Mann fromm ist, zum geistigen Katholizismus neigt“ (S. 129). Im Rahmen des Europäischen Kulturbundes spielten die deutsch-französischen Themen und Kontakte eine herausragende Rolle bis an die Schwelle der dreißiger Jahre. Der Bund war mit der Europäischen Revue in dieser frühesten Phase die zentrale jungkonservative, kulturkritische Plattform des intellektuellen Austauschs. Aus dem Text der Pariser Rechenschaft geht nicht hervor, ob Thomas Mann der Zusammenhang zwischen Union Intellectuelle Française und Europäischem Kulturbund bewußt war. Den Gründer des demokratischen Gegenstücks zu Rohans Europa-Vereinigung, den Grafen Coudenhove-Kalergi, traf der deutsche Gast in Paris in den acht Tagen seines Aufenthaltes gleich zweimal. Zuerst in der Union pour la vérité, wo der Repräsentant der Paneuropa-Bewegung direkt vor ihm am 21. Januar empfangen worden war, und dann zu einem gemeinsamen Theaterbesuch am 22. Januar. Thomas Mann war zu dieser Zeit von der „Fehlerlosigkeit“ der Paneuropa-Idee „nicht überzeugt“ (S. 135). Er zeigte sich hingegen beeindruckt von der Intensität, mit der Coudenhove-Kalergi seine Botschaft vortrug: „Er kam von Amerika, von England, hatte überall seine Gedanken mit starkem moralischen Erfolg vertreten und eben hier eine eingehende Unterredung mit Briand gehabt, der ihm sehr aufmerksam zugehört hatte. Er äußerte die Zuversicht, daß alles auf dem Marsche sei und in zwei Jahren seine Vision verwirklicht sein werde. Schließlich, was sollte einem imponieren, wenn nicht dieser vorwegnehmende und nobel-demokratische Spitzentyp einer neuen Gesellschaft, der, von Natur gewohnt, in Erdteilen zu denken, es auf eigene Faust unternimmt, die Welt nach den Einsichten seiner Vernunft zu formen“ (S. 136). Einer der Begleiter Thomas Manns in Paris, der aufgrund seines geringen Alters nicht rednerisch, sondern vor allem organisatorischen hervortrat, war Pierre Viénot (1897-1944). Von ihm weiß Thomas Mann in der Pariser Rechenschaft zu berichten, er sei „Schriftsteller und 57 Cf. Ina Ulrike Paul: „Konservative Milieus und die ‚Europäische Revue’“, in: Michel Grunewald, Uwe Puschner (ed.): Le milieu intellectuel conservateur en Allemagne, sa presse et ses réseaux (1890-1960). Das konservative Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke, Bern 2003, p. 509-555. 58 Cf. dazu Hans Manfred Bock: „‚Das Junge Europa’, das ‚Andere Europa’ und das ‚Europa der weißen Rasse’. Diskurstypen in der ‚Europäischen Revue’ von 1925 bis 1939“, in: Michel Grunewald (ed.): Le discours européen dans les revues allemandes 1933- 1939. Der Europadiskurs in den deutschen Zeitschriften 1933-1939, Bern 1999, p. 311-351. <?page no="77"?> 77 Diplomat (er wird zur Botschaft in Berlin abgehen, wie ich höre, und man las kürzlich von ihm in der Revue de Genève einen Aufsatz voll kluger Beobachtungen: République Allemande et Allemagne nationale. Übrigens erhielt er einen gefährlichen Halsschuß im Kriege)“ (S. 131). Auch hier hielt sich der angesehene Paris-Besucher an halb richtige, halb irrtümliche Informationen, die er in Gesprächen aufgenommen hatte. Viénot ging im Laufe des Jahres 1926 nicht an die französische Botschaft in Berlin und war auch kein akkreditierter Diplomat, sondern er war vom luxemburgischen Großindustriellen Emile Mayrisch mit der Konzipierung einer französischdeutschen Verständigungsorganisation beauftragt, die kurz vor der Gründung stand und im Mai 1926 sich unter dem Namen Comité francoallemand d’information et de documentation (Mayrisch-Komitee) konstituierte. Als dessen Vertreter und Büroleiter ging der junge französische Intellektuelle im Oktober 1926 nach Berlin. 59 Seine Kontakte zu Thomas Mann setzten sich fort bis in die dreißiger Jahre, teilweise vermittelt durch dessen Sohn Golo Mann. Thomas Mann kannte und schätzte Viénots großen Buch-Essay Incertitudes allemandes, in dem dieser seine langjährige Deutschland-Erfahrung bilanzierte. 60 4. Konjunktur der Begegnungen: „Deutsche Woche“ 1926 in Paris Die deutsch-französische und europäische Offenheit bzw. Empfänglichkeit, die Thomas Mann in Gestalt der hier dargestellten Pariser Persönlichkeiten, Organisationen und Institutionen entgegentrat, war eine Art Insel des guten Willens in einem Meer von Mißtrauen und Ablehnung, die zu Beginn der Locarno-Ära mit Bezug auf Deutschland gerade in der Pariser Öffentlichkeit noch dominierten. Das wird deutlich, wenn man sich die Dramaturgie und die Topographie seines Paris-Besuchs genauer ansieht. Die politische Konstellation der Jahre 1924/ 25 hatte eine mentale Barriere hinweggeräumt, die rund zehn Jahre lang die direkte Begegnung zwischen den Kulturrepräsentanten beider Nationen nahezu unmöglich machte. Ab 1925 kam eine sprunghaft ansteigende Zahl von deutschen Journalisten und Schriftstellern wieder nach Paris und mit einer kurzen Zeitverzögerung übte auch Berlin eine wachsende Anziehungskraft aus auf 59 Cf. Gaby Sonnabend: Pierre Viénot (1897-1944). Ein Intellektueller in der Politik, München 2005, p. 149-180. 60 Pierre Viénot: Incertitudes allemandes. La crise de la civilisation bourgeoise, Paris 1930; cf. zu Thomas Manns Wertschätzung des Buches auch Ernest Bisdorf: Thomas Mann und Frankreich, op. cit., p. 120. <?page no="78"?> 78 eine beträchtliche Zahl ihrer französischen Kollegen. 61 Im Zeichen dieser neuen deutsch-französischen Begegnungsfreudigkeit stand auch Thomas Manns Paris-Aufenthalt. Der deutsche Besucherverkehr in Paris war im Januar 1926 so gedrängt, daß Kurt Tucholsky - der seinerseits seit Mai 1925 in der französischen Hauptstadt lebte und arbeitete - in einem Weltbühnen- Artikel ironisch von einer „Deutschen Woche“ in Paris redete. 62 Allem Anschein nach war zu Beginn der Locarno-Ära bereits die soziokulturelle Dynamik in den bilateralen Beziehungen prompter und lebhafter als dies die diplomatischen Aktivitäten zwischen beiden Nationen waren. Selbst bei einem Befürworter der Locarno-Politik, als der der deutsche Botschafter in Paris, Leopold von Hoesch, bekannt war, bestanden Vorbehalte gegenüber einer allzu lebhaften Ausdehnung der kulturellen Begegnungsinitiativen in der französischen Hauptstadt. In seinem Bericht, den er am 6.2.1926 an das Auswärtige Amt schickte, redete auch von Hoesch mit einem leicht ironischen Unterton von einer „geistigen Zusammenarbeits-Woche“. 63 Diese sei durch ein ungewolltes Zusammentreffen mehrerer kultureller Ereignisse in Paris zustande gekommen. Gemäß seiner Darstellung hatte am Anfang dieser Veranstaltungssequenz am 14.1.1926 ein öffentlicher „humanitärer Vortrag“ der „deutschen Reichsangehörigen“ Elisabeth Rotten gestanden; dieser sei durch „Mitglieder der ‚Action Française’ gestört worden“, „was zu einem bewegten Handgemenge zwischen Zuhörern und Protestlern geführt“ habe. 64 Elisabeth Rotten (1882-1964) war eine profilierte Reformpädagogin und Friedensaktivistin, die in der pazifistischen Deutschen Liga für Menschenrechte und in der Deutschen Liga für Völkerbund engagiert war. Sie gehörte also den pazifistischen Verständigungskreisen der ersten Nachkriegsjahre an und war u. a. als Mitdirektorin des Bureau International d’Education in Genf zum Vortrag nach Paris eingeladen worden. 65 Die Störung ihres Vortrages durch die rechtsradikale Action Française, die sich der Locarno- Politik vehement widersetzte, erregte große Aufmerksamkeit in der französischen und in der deutschen Öffentlichkeit. 61 Cf. dazu Hans Manfred Bock, Gilbert Krebs (ed.): Echanges culturels et relations diplomatiques. Présences françaises à Berlin au temps de la République de Weimar, Paris 2004, passim. 62 Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe, Bd. 8: Texte 1926. Ed. Gisela Enzmann-Kraiker, Christa Wetzel, Reinbek bei Hamburg 2004, p. 91-96. 63 „‚Geistige Zusammenarbeit. Alfred Kerr und Thomas Mann in Paris“, in: Geheimes Staatsarchiv. Preußischer Kulturbesitz. I HA Rep. 76 Kultusministerium Vc. Deutsch- Französische Beziehungen 1925-1929. Bericht vom 25. Februar 1926. 64 „Geistige Zusammenarbeit“. Bericht von Hoesch, p. 3. 65 Cf. Dietmar Haubfleisch: Elisabeth Rotten (1882-1964) - eine (fast) vergessene Reformpädagogin, in: Inge Hansen-Schaberg (ed.): „Etwas erzählen“. Die lebensgeschichtliche Dimension in der Pädagogik, Baltmannsweiler 1997, p. 114-131. <?page no="79"?> 79 Dies war der Grund dafür, daß der am 16.1.1926 als öffentlicher Vortrag in der Sorbonne vorgesehene Auftritt des weithin bekannten deutschen Literaturkritikers Alfred Kerr (1867-1948) in einen kleinen Saal verlegt und nicht öffentlich angekündigt wurde. Er fand dann vor rund 80 bis 100 Zuhörern statt. Um diplomatische Verwicklungen zu vermeiden, war Botschafter von Hoesch vom Quai d’Orsay gebeten worden, der Veranstaltung fernzubleiben. Von Hoesch kommentierte diese doppelt ungewöhnliche Lesung eines deutschen Kulturrepräsentanten: „Von den Veranstaltern wurde er [der Vortrag], vielleicht nicht ganz zu Unrecht, deshalb als ein Erfolg bezeichnet, weil er, abgesehen von einer wissenschaftlichen Kundgebung Einsteins, das erste öffentliche Auftreten eines Deutschen in der Sorbonne seit dem Kriege darstellte. Bei der geringen Anzahl der Zuhörer war aber selbstverständlich die Möglichkeit der Einwirkung auf das französische Publikum so gut wie ausgeschaltet.“ 66 Zur Vorgeschichte des Paris-Besuchs von Alfred Kerr enthält der Botschafter-Bericht aufschlußreiche Hinweise. Der Besuch Kerrs war in die Wege geleitet worden durch den Berliner Theater- und Literaturagenten Joseph Chapiro 67 und er war zustande gekommen als Gegenbesuch zu einem Berlin-Aufenthalt von Firmin Gémier, dem damaligen Direktor des Odéon-Theaters, dessen Bekanntschaft Thomas Mann dann in Paris machte. Die Austauschaktion war von Chapiro ohne Unterrichtung der „amtlichen Stellen“ terminiert und durchgeführt worden, wie der deutsche Botschafter in Paris pikiert anmerkte. So ergab sich fast eine Überschneidung mit der feierlichen Eröffnung des Institut International de Coopération Intellectuelle, einer von Frankreich finanzierten Nebenorganisation des Völkerbundes und Vorläuferorganisation der UNESCO, 68 die ebenfalls am Nachmittag des 16.1.1926 stattfand. Thomas Mann wurde dort am 25.1.1926 zu einem Tee-Empfang geladen (S. 151f). Das Besuchs-Programm Kerrs setzte sich am 19.1.1926 fort mit einem offiziellen Frühstück im Cercle Républicain und einem Vortrag des Gastes in der Salle des Sociétés Savantes. Am Tag darauf (20.1.26) trafen schließlich Alfred Kerr und Thomas Mann, die einander nicht eben hold waren, bei dem Empfang in der Deutschen Botschaft zusammen, den diese zu Ehren der beiden deutschen Kulturvertreter gab, obwohl zumindest die Paris- Reise Kerrs ohne ihr Wissen und Zutun geplant worden war. In der wertenden Bilanz von Botschafter Hoesch wurde der Besuch Thomas Manns entschieden höher eingestuft als derjenige Kerrs. Es ist in seinem Bericht über die „geistige Festwoche“ in Paris nicht zu übersehen, daß er trotz aller Achtung vor Thomas Mann es gleichwohl für politisch- 66 „Geistige Zusammenarbeit“. Bericht von Hoesch, p. 3. 67 Cf. dazu neuerdings seine Kurzbiographie in H. D. Tschörtner (ed.): Joseph Chapiro - Gerhart Hauptmann. Briefwechsel 1920-1936, Göttingen 2006, p. 7-18. 68 Cf. dazu Jean-Jacques Renoliet: L’UNESCO oubliée. La Société des Nations et la coopération intellectuelle (1919-1946), Paris 1999. <?page no="80"?> 80 strategisch angemessen hielt, dergleichen deutsche Kulturmanifestationen erst einmal nicht fortzusetzen: „Es scheint mir, daß wir nach dieser ‚geistigen Festwoche’ nun für eine Zeit lang uns etwas passiv verhalten sollten, damit wir nicht in den Ruf des pushing kommen. Wir könnten meiner Ansicht nach jetzt einmal abwarten, was die Franzosen tun, um ihrerseits die Verbindung mit Deutschland weiter zu pflegen. […] Was vom Standpunkt unserer allgemeinen Interessen jedenfalls nicht geschehen dürfte, wäre, daß wir demnächst wieder eine deutsche Geisteskoryphäe nach Paris entsenden und diese dann erneut in der Salle des Sociétés Savantes oder einem ähnlichen, mehr oder weniger schmutzigen Versammlungslokal pazifistischer Organisationen vor den nie rastenden alten Friedenskämpen Buisson und Aulard und deren Gefolgschaft ihr Licht leuchten lassen müßte.“ 69 Der diplomatische Albtraum von Hoeschs war es, daß der „Oberimpresario“ Chapiro demnächst Gerhart Hauptmann zu einer Paris-Reise anstiften könnte. Das Gerücht, daß die französische Regierung beabsichtigte, den preußischen Kultusminister Carl Heinrich Becker offiziell einzuladen (der seinerseits sich im Jahr zuvor in Berlin mit dem französischen Unterrichtsminister Anatole de Monzie getroffen hatte 70 ) erwies sich in der Folgezeit als nicht zutreffend. Becker kam 1931 als Privatmann und auf Einladung seiner Freunde Pierre Viénot und Pierre Bertaux zum ersten Mal seit dem Kriege wieder nach Paris. Aber auch ohne das Einverständnis der Botschaft und der Diplomatie setzte sich die kulturelle Begegnungskonjunktur deutscher Paris-Reisender fort. Schon Ende März 1926 trat Emil Ludwig, der auch in Frankreich bekannte biographische Erfolgsschriftsteller, in Henri Lichtenbergers Vortragsreihe in der Sorbonne auf. 71 Kurz darauf trug der Kölner Hochschullehrer Hans Driesch, eingeführt durch Maurice Boucher, im Carnegie-Institut vor über seine Philosophie. 72 Die Frage, auf welchen Wegen Thomas Mann nach Paris eingeladen wurde, läßt sich aus dem Botschaftsbericht nicht eindeutig beantworten. Die Gleichzeitigkeit seines Besuchs und des Aufenthalts von Alfred Kerr war mit Sicherheit eine von der bilateralen Reisekonjunktur bedingte Koinzidenz. Anläßlich mehrerer kürzerer Zusammentreffen Manns mit 69 „Geistige Zusammenarbeit“. Bericht von Hoesch, p. 8. Die angesprochenen Persönlichkeiten, Integrationsgestalten des republikanisch-pazifistischen Lagers, waren der Erziehungswissenschaftler Ferdinand Buisson (1841-1932) und der Historiker Alphonse Aulard (1849-1928). 70 Cf. dazu Katja Marmetschke: „Ein Wendepunkt für die deutsch-französische Verständigung? Das Treffen zwischen dem preußischen Kultusminister C. H. Becker und dem französischen Erziehungsminister Anatole de Monzie im September 1925 in Berlin“, in: Hans Manfred Bock (ed.): Französische Kultur im Berlin der Weimarer Republik. Kultureller Austausch und diplomatische Beziehungen, Tübingen 2005, p. 37-52. 71 Cf. dazu auch Kurt Tucholsky: „Emil Ludwig in Paris“, in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 8, p. 173-175. 72 August Gallinger: Reiseeindrücke im heutigen Frankreich, München o. J. (1926), p. 9. <?page no="81"?> 81 Joseph Chapiro (1893-1962) in Paris porträtierte er den umtriebigen Literatur- und Theatermann, um den sich viele Legenden rankten, 73 in der Pariser Rechenschaft auf die folgende Weise: „Wir frühstückten im Café ‚Palais d’Orsay’ mit Chapiro, dem kosmopolitischen Publizisten und Gesprächspartner Hauptmanns - russisch-jüdisch-französisch - , der pariserisch spricht mit slawischem Akzent und deutsch mit französischem, schwarzäugig, sanft und graziös, mit dem weichen Mittlerethos des Mischlings, betriebsam, opferbereit: auf eigenste Kosten war er von Berlin gekommen, weil er bei diesen deutschen Veranstaltungen, von denen er eine wohl selbst in die Wege geleitet, nicht glaubte fehlen zu sollen“ (S. 134). Da Chapiro unzweifelhaft die Kerr-Veranstaltungen in die Wege geleitet hatte, kann man ausschließen, daß er mit Thomas Manns Paris-Reise in Verbindung stand. Es spricht alles für die Vermutung, daß dessen Einladung von Otto Grautoff vorbereitet und von Henri Lichtenberger im Namen der Carnegie-Stiftung ausgesprochen wurde. 74 Zu Thomas Manns Bereitschaft, die Einladung anzunehmen, mochte wohl auch der Umstand beigetragen haben, daß sein Bruder Heinrich im Mai 1925 bereits eine Pionier- und Mittlerrolle für die Wiederanbahnung kulturellen Austauschs zwischen Deutschland und Frankreich gespielt hatte, indem er entsprechende Anregungen des amtierenden französischen Erziehungsministers an den preußischen Kultusminister Carl Heinrich Becker übermittelt hatte. 75 Eine solche Rolle des Schriftstellers als „avant-diplomate“ (Anatole de Monzie) fügte sich bestens ein in Thomas Manns Selbstverständnis als geistiger Repräsentant der deutschen Nation, eine Rolle, die er während der acht Tage in Paris virtuos darstellte. Seine öffentlichen Auftritte in der Hauptstadt wurden in ihrem organisatorischen Ablauf stark beeinflußt von den Präzedenzfällen der Störung der Vorträge von Elisabeth Rotten und Alfred Kerr. Von Hoesch berichtete, der Vortrag Kerrs in der Société Savante habe im „gleichen Zeichen der Nervosität“ gestanden wie der vorausgegangene Auftritt am 16.1.26 in der Sorbonne: „Nur dreimal gesiebte Zuhörer gelangten in den wenig dekorativen und auch wenig sauberen Vortragssaal. Ein starkes Polizeiaufgebot bewachte die Türen.“ 76 Zu Beginn der Lesung Kerrs gab es einen Zwischenfall, als anscheinend ausländische Studenten (nach Thomas Mann war es „serbische Jugend“, S. 112) ihn unterbrachen, indem sie auf Kerrs Kriegsgedichte hinwiesen. Der Botschafter maß dieser Störung keine größere Bedeutung bei, aber die Verantwortlichen der Pariser Carnegie- Stiftung nahmen diesen zweiten kommunikativen Störfall zum Anlaß, um 73 Cf. dazu z.B. Peter de Mendelssohn: S. Fischer und sein Verlag, Frankfurt/ Main 1970, p. 1237. 74 Cf. dazu oben die Belege in Abschnitt 3 der vorliegenden Studie. 75 Cf. dazu Katja Marmetschke: „Ein Wendepunkt“, loc. cit., p. 34sq. 76 „Geistige Zusammenarbeit“. Bericht von Hoesch, p. 4. <?page no="82"?> 82 „den Vortrag des Herrn Thomas Mann mit den größten Vorsichtsmaßregeln“ 77 zu umgeben. Das Direktorium des Carnegie-Instituts beschloß am Vorabend des für den 20.1.26 angesetzten Vortrags von Thomas Mann, keine Einladungen zu versenden und der Presse den Zutritt zu verwehren. Insbesondere die letztere Maßnahme schuf öffentlichen Unmut. Mann registrierte in der Pariser Rechenschaft bei seiner Ankunft im Carnegie-Sitz: „Wartende Menschen am Eingang, Kontrolle, Anzeichen einer gewissen Spannung. […] Botschaftsrat R[ieth] sondierte das Terrain. ‚Nicht wahr also, der Botschafter kann kommen? ’ - Unbedenklich! Die Kontrolle war scharf gewesen und blieb es bis zum letzten Augenblick. Man hatte sich gegen jede Störung gesichert“(S. 113). In der Dramaturgie der frühen deutschen Kulturmanifestationen der Locarno-Ära im Paris des Jahres 1926 spiegelten sich zweifellos noch sehr deutlich die Unsicherheiten und Anfeindungen, die mit dem beginnenden Übergang vom kollektiven Abgrenzungsdiskurs gegen Deutschland zum Versuch einer unvoreingenommeneren Sichtweise des Feindes von gestern einhergingen. In der Rechts- Presse in Deutschland wurden diese feindseligen Störversuche deutscher Redner in Paris durchgängig als Beweise für die ungebrochene Ablehnung jeglicher Verständigungsofferte von deutscher Seite durch die Franzosen gewertet und instrumentalisiert für die eigene Ablehnung solcher vorpolitischer Annäherungsversuche. Aber auch besonnenere Beobachter dieser Wiederanbahnung kultureller Kontakte zu Frankreich blieben skeptisch hinsichtlich ihrer unmittelbaren Ergebnisse für die Entspannung in den deutsch-französischen Beziehungen. Ein Beispiel dafür sind die Kommentare der „Deutschen Woche“ in Paris, die von dem Münchener Philosophen August Gallinger und von dem Schriftsteller Kurt Tucholsky verfaßt wurden. August Gallinger (1871-1959) hatte im Frühjahr des Jahres 1926 eine Frankreichreise unternommen, über die er in den Münchner Neusten Nachrichten berichtete und die er zu einer Broschüre zusammenfaßte. 78 Dort schrieb er über den Vortrag seines Kollegen Hans Driesch und über den Auftritt von Thomas Mann in der Carnegie-Stiftung, indem er den Finger auf deren geringe Publizität beim französischen Publikum legte. Zu Drieschs Referat, das er selbst gehört hatte, merkte er an: „Ob Emil Ludwig und Alfred Kerr in erster Linie dazu berufen sind, deutsches Geistesleben im Ausland zu repräsentieren, bezweifle ich ernsthaft. Die nächsten Griffe waren gut. Thomas Mann und Hans Driesch folgten und nun möchte man gerne auch Oswald Spengler hören. Über das Auftreten Alfred Kerrs und Thomas Manns bin ich genau unterrichtet, Hans Driesch habe ich selbst gehört. […] Er hätte […] kaum nötig gehabt, Französisch zu sprechen, denn mindestens die Hälfte der in einem mäßig großen Zimmer des Hauses der Carnegie-Stiftung versammelten etwa 40 bis 50 Hörer waren Deutsche, 77 „Geistige Zusammenarbeit“. Bericht von Hoesch, p. 5. 78 August Gallinger: Reiseeindrücke im heutigen Frankreich, op. cit. <?page no="83"?> 83 darunter der sympathische Botschafter von Hoesch, dann die Gruppe der deutschen Journalisten, der Prinz Rohan u. a., ein weiteres Viertel setzte sich aus in Paris lebenden Schweizern, Holländern, Russen usw. zusammen, dazu kamen ungefähr zehn Franzosen. Freilich Franzosen von Rang, aber gleichzeitig Männer, die wie z. B. Henri Lichtenberger für den Verständigungsgedanken nicht mehr gewonnen zu werden brauchen und die selbst im Kriege den tollen Zirkeltanz hysterischen Hasses nicht mitgemacht haben. […] Ungefähr der gleiche Kreis fand sich, wie ich von einem deutschen Teilnehmer weiß, bei Thomas Mann zusammen. […] Die Camelots du roi hatten gedroht, sie würden, wenn Thomas Mann spräche, das Gebäude stürmen. Daraufhin wurden vorsichtige Maßregeln getroffen, nur persönlich Eingeladene zugelassen, darunter nicht einmal die Presse, und das Datum der Veranstaltung nicht öffentlich bekannt gegeben. Man darf sich also nicht vorstellen, daß Thomas Mann etwa, wie man nach manchen Berichten glauben konnte, vor einer großen Zuhörerschaft öffentlich gesprochen hätte. Nur ein kleiner Kreis sorgfältig ausgewählter und geheim verständigter Menschen, dessen Zusammensetzung ich eben erwähnt habe, hörte ihn.“ 79 Auch Kurt Tucholskys Weltbühnen-Glosse zur „Deutschen Woche“ in Paris hob auf den exklusiven Charakter der Vorträge von Kerr und Mann ab. Tucholsky, der zeitweilig zum Vorstand der Deutschen Liga für Menschenrechte gehörte, hielt dergleichen Veranstaltungen für „pseudopazifistisch“, 80 weil sie nicht die Verantwortlichkeit der Militärs und der Wirtschaft für Krieg und Frieden zwischen den Völkern ansprächen: „Die Kernfrage ist überhaupt nicht, ob uns gelingt, die französische und die deutsche Lebensauffassung einander nahe zu bringen, was schwer, beinahe unmöglich ist - es handelt sich darum Kriege zu vermeiden. Und die werden so nicht vermieden. - Reden deutscher Schriftsteller in Paris; Ausstellungen französischer Bilder in Berlin; Gastspiel Max Reinhardts in Paris; Entsendung intellektueller Deputationen in beide Länder -: alles das bewirkt doch nichts. Es erweitert vielleicht den Horizont einzelner Leute, es stärkt das Wissen von der Weltlage - aber es wird nicht ein Schuß weniger abgefeuert werden, wenn die Vaterländer rufen.“ 81 Er wies wie Gallinger auf die strengen Kontrollen des Publikums hin und erweiterte dessen Darstellung um die Beobachtung, daß die Jugend dort nicht vertreten gewesen sei und daß nicht der Vortragssaal, sondern der Salon in Paris der Ort interkultureller Begegnung sei. Sein Monitum war, daß Aktivitäten wie die von Kerr und Mann zwar ehrenwert seien, aber nicht in die breiteren Kreise der Bevölkerung beider Länder durchdrängen. Anders als in der antifranzösischen Ablehnung kultureller Vermittlungsversuche zwischen 79 August Gallinger: Reiseeindrücke im heutigen Frankreich, p. 9. 80 Kurt Tucholsky: Deutsche Woche in Paris, loc. cit., p. 94. 81 Ibid., p. 93. <?page no="84"?> 84 Deutschland und Frankreich durch die einflußreiche Rechtspresse im Deutschen Reich wurden dergleichen Bemühungen von Autoren wie Gallinger und Tucholsky nicht prinzipiell verurteilt, sondern hinsichtlich ihrer verständigungs- und friedenspolitischen Wirkungsmöglichkeiten kritisch beurteilt. In der kritischen, wenngleich anerkennenden Beurteilung der „Deutschen Woche“ in Paris gingen beide Publizisten weiter als Botschafter von Hoesch. Dieser (von Kurt Tucholsky durchaus respektvoll dargestellte 82 ) diplomatische Repräsentant verleugnete keineswegs den begrenzten Wirkungsradius der Auftritte von Kerr und Mann, allerdings tat er dies ohne erkennbares Bedauern ihrer fehlenden Tiefenwirkung auf das französische Publikum (das bei Gallinger und Tucholsky das Urteil bestimmte). Von Hoesch ließ in seiner Auswertung der Pariser Veranstaltungen seine Präferenz für den Habitus und die Argumentation Thomas Manns im Vergleich mit Alfred Kerr deutlich erkennen, da das nuanciert nationale Bekenntnis bei dem Autor des Zauberberg klarer ausfiel als bei dem Literaturkritiker: „Bei der Bewertung der besprochenen Veranstaltungen ist zunächst festzustellen, daß das Auftreten Thomas Manns an Bedeutung und Wirkung weitaus die Kundgebungen Alfred Kerrs übertraf. Dies lag nicht nur an dem großen Unterschied in der Bedeutung der beiden Persönlichkeiten, sondern auch an der Art dessen, was sie zu bieten hatten. Thomas Mann gab ein in stilistischer Vollendung und eindrucksvollem Vortrag dargebotenes Bild des gegenwärtigen Deutschland, mit einem Bekenntnis zur Demokratie, aber voll stolzer Wahrung der deutschen Eigenart und des deutschen Rechts. Alfred Kerr sprach interessant und geistvoll über das deutsche Theater. Einen großen Teil seiner Vorträge nahmen aber seine Beweisführungen ein, daß er stets Frankreich geliebt habe, daß er immer ein Pazifist und stets ein überzeugter Demokrat gewesen sei, mit einem Wort, daß er sich immer ‚brav’ benommen habe. Im Dienste dieser Beweisführung las er lange Stücken aus seinen Schriften und Kritiken vor, verbrämt mit Ausführungen, die dem deutschen Zuhörer nicht immer sehr erfreulich klangen. - Im Ganzen genommen, kann man die Ergebnisse der ‚Woche’ als den Umständen nach zufriedenstellend bezeichnen. Unsere ‚Geistesvertreter’ haben interessiert, auf einen gewissen Kreis von Personen zweifellos anregend gewirkt und sich auch Sympathien erworben. Die Persönlichkeit Thomas Manns hat unbedingt Eindruck gemacht. In die Tiefe ist die Wirkung kaum gegangen. Im übrigen haben wir erkennen müssen - wenn wir davon noch nicht überzeugt waren -, daß der Mut der französischen ‚Geistesvertreter’, der bei Unterhaltungen im stillen Käm- 82 Er schrieb (p. 92): „Herr v. Hoesch ist ein außerordentlich liebenswürdiger Herr, dessen gewandte Propaganda durch Literatur dem polternden Auftreten einiger seiner Kollegen in Süd-Amerika vorzuziehen ist.“ <?page no="85"?> 85 merlein oft riesengroß erscheint, recht klein wird, wenn es sich darum handelt, ihn vor der Öffentlichkeit zu bestätigen.“ 83 Es war kennzeichnend für den Ablauf und die Wahrnehmung der „Deutschen Woche“ in Paris, daß alle Beteiligten den Eindruck hatten, daß hier eine Schwelle überschritten wurde. Die allenthalben registrierte „Nervosität“, mit der die Vorträge von und für Thomas Mann und Alfred Kerr einhergingen, hing zusammen mit den Unwägbarkeiten dieses Schrittes ins Neuland der bilateralen Beziehungen, des Überschreitens des wechselseitigen nationalen Abgrenzungsdiskurses und des tastenden Eintretens in einen transnationalen Dialog, in dem das übergreifend Gemeinsame mit dem nationalkulturell Besonderen eine Verbindung eingehen sollte. Die sich abzeichnende und erhoffte neue Qualität der deutsch-französischen Beziehungen formulierte jeder der Beteiligten gemäß seinem Temperament und Metier. Der Diplomat von Hoesch hob in seinem Bericht an das Auswärtige Amt hervor, daß bei dem Empfang im Palais Beauharnais am Abend des 20.1.26 erstmals seit dem Krieg drei aktive Minister und der Generalsekretär des Quai d’Orsay mit ihren Gemahlinnen einer Einladung der deutschen Botschaft Folge geleistet hatten. Die beiden Kritiker der „Deutschen Woche“ in Paris (Gallinger und Tucholsky) monierten nicht, daß man in die falsche Richtung ging mit den neuen Kulturmanifestationen, sondern daß man den falschen (elitären) Weg gewählt habe und daß man in der eingeschlagenen Richtung nicht weit genug gegangen sei. Thomas Mann selbst schließlich rechtfertigte seinen in der Pariser Rechenschaft vorgelegten Reisebericht rückblickend damit, daß dieser Aufenthalt als Markierungspunkt („un jalon“) in der Geschichte beider Völker gelten könne und deshalb eine detaillierte publizistische Dokumentierung verdient habe: „Parce que j’ai eu la conviction absolue que tout cela ne m’appartenait pas, que l’opinion publique de mon pays avait sur ces souvenirs un droit direct, et que je ne pouvais mieux reconnaître l’acceuil qui m’a été fait à Paris qu’en ne gardant pas tout cela pour moi, en égoïste, mais en apportant aux miens un témoignage aussi expressif que possible. Parce que j’ai eu le sentiment que l’on pouvait regarder ces souvenirs personnels comme un jalon dans l’histoire des relations de deux grands peuples, sur l’accord desquels, comme je l’ai dit, à Paris, dans ma conférence, ,repose la paix, l’unité et la paix de l’Europe’.“ 84 83 „Geistige Zusammenarbeit“. Bericht von Hoesch, p. 7. 84 Brief Thomas Manns an die Redaktion von L’Esprit International vom 3. November 1926, in: L’Esprit International, 1927, Nr. 1, p. 64sq. <?page no="86"?> 86 5. Diskursive Konfiguration: Europa als Ergebnis „der primitivsten Vernunft und der baren Notwendigkeit“ oder „gereifter Sittlichkeit“? Das Bewußtsein, daß sein Paris-Besuch im Zusammenhang stand mit einer Epochen-Schwelle der deutsch-französischen Beziehungen, formulierte Thomas Mann noch deutlicher im Eingangsteil seiner Ansprache in der Carnegie-Stiftung am Abend des 20.1.1926. Seine „freundliche Aufnahme“ in Paris (eine Höflichkeitsformel, die über die Turbulenzen um seinen Besuch großzügig hinwegsah) sei „kein Zufall“, sondern vielmehr Resultat einer „Sänftigung und Sittigung des allgemeinen Gemütszustandes, eines wieder heitern Geselligerwerdens der Völker, kurz einer veränderten Atmosphäre, die jene Fühlungnahme, jenen Austausch erlaubt, nach dem es die Völker nach den Ereignissen des letzten Jahrzehnts mehr als jemals verlangt.“ 85 Der Text seiner Carnegie-Rede und die Texte der „Huldigungen“ (von Hoesch) seiner Gastgeber an Thomas Mann (die bislang niemals in ihrem vollem Wortlaut, sondern immer nur durch die Zusammenfassung in der Pariser Rechenschaft zur Kenntnis genommen wurden 86 ) enthalten einen interessanten Inventarisierungsversuch der Argumente, die von den verständigungsbereiten Intellektuellen dieses bürgerlichen Milieus zu Beginn der Locarno-Ära ins Feld geführt wurden. Es ging dabei um drei Themenkreise: die Bewältigung der eigenen Rolle in der geistigen Kriegsführung der Jahre 1914 bis 1918, die Beschwörung der deutsch-französischen Austausch- und Verbindungsmöglichkeiten und die Begründung eines übernationalen Europa, das weder nationalistisch noch internationalistisch sein sollte. Da bei den beiden Veranstaltungen im Carnegie-Haus, 85 Der früheste Abdruck der (von Henri Lichtenberger besorgten) Übersetzung der Carnegie-Rede von Thomas Mann erfolgte im Februar 1926 in: La Revue Rhénane. Rheinische Blätter, 1926, p. 6-11. Begleitet von dem Brief an die Redaktion von L’Esprit International, die ab 1927 als Organ der Dotation Carnegie pour la paix internationale in Paris herausgegeben wurde, erschien die französische Übersetzung dann in deren erstem Heft: L’Esprit International, 1927, Nr. 1, p. 65-76. Die deutsche Originalfassung wurde erst 1974 veröffentlicht in Bd. 13 der Gesammelten Werke in dreizehn Bänden, Frankfurt/ Main 1974. Zitat hier nach dem Abdruck in der Revue Rhénane, 1926, p. 222sq. 86 Sie wurden an verstreuten Stellen zuerst veröffentlicht. Henri Lichtenberger: „Réception de Thomas Mann à la Dotation Carnegie“, in: La Revue Rhénane, 1926, Nr. 5, p. 4- 5. Maurice Bouchers Rede wurde im vollen Wortlaut abgedruckt im Thomas-Mann- Heft der Revue d’Allemagne, 1929, p. 604-616; dort erschien auch die „Adresse“ von Charles du Bos an Thomas Mann: Revue d’Allemagne, 1929, p. 599-604; die vollständigere Version der Rede von du Bos erschien in Charles du Bos: Approximations. 3 e série, Paris 1929; eine recht gute deutsche Übersetzung der Rede von du Bos erschien schon 1926 in der Europäischen Revue, 1926, p. 31-39: „An Thomas Mann.“ Die Rede von Félix Bertaux blieb bislang unveröffentlicht und konnte hier nicht einbezogen werden in die Darstellung; ihr Manuskript befindet sich im Thomas-Mann-Archiv in Zürich. <?page no="87"?> 87 der Begrüßungs-Ansprache im Namen der Stiftung durch Henri Lichtenberger und dem Festvortrag von Thomas Mann am 20. Januar sowie den Grußadressen von Félix Bertaux, Maurice Boucher und Charles du Bos im Namen der Union Intellectuelle Française am 21. Januar, Literatur- Produzenten und -Kritiker unter sich waren, standen die Reden im Zeichen einer gehobenen Rhetorik, in der die literarisch-symbolische Bezugnahme die begrifflich-definitorische Ausdrucksweise weitgehend überlagerte. Daß diese Redeweise auch geeignet war, die allzu strittigen deutsch-französischen Probleme der Tagespolitik gar nicht erst ansprechen zu müssen, deutet Thomas Mann in der Pariser Rechenschaft an, wenn er berichtet: Die französischen Zeitungen stimmten in der Feststellung überein, daß die Ankündigung des Berliner Tageblatts, er „würde bei dieser Gelegenheit eine gründliche Revision des Vertrages von Versailles veranstalten“ nicht bestätigt worden sei; sie stellten erleichtert fest, daß er sich „auf anderer Ebene gehalten“ habe (S. 121). Da der französische „pangermaniste“-Vorwurf an Thomas Mann 87 all seine Kontakt- und Bezugnahmen zu Frankreich seit 1918 begleitete, standen auch bei seinem Paris-Besuch vom Januar 1926 die Betrachtungen eines Unpolitischen, die ihm diesen Vorwurf eingebracht hatten, jederzeit direkt oder indirekt im Hintergrund aller Begegnungen. Hier wurde also die Rolle der Intellektuellen im Ersten Weltkrieg verhandelt, deren Diskussion als Vorbedingung für ernstgemeinte Verständigungsbemühungen unausweichlich war. Thomas Mann war sich bewußt, daß er in dieser Frage nach zwei Seiten hin Anstoß erregen konnte: Distanzierte er sich allzu emphatisch von seiner Weltkriegs-Schrift, so wurde er von Teilen der deutschen Presse der „skandalösen Kniebeugen“ bezichtigt, die er „vor den Franzosen vollführt hätte“ (S. 115). Identifizierte er sich allzu ostentativ mit den Betrachtungen eines Unpolitischen, so nährte er die in der französischen Öffentlichkeit weit verbreitete Vorstellung, daß er seinen nationalistischen Überzeugungen der Weltkriegsjahre nicht abgeschworen habe. Der Gastredner in der Carnegie-Stiftung löste dies Dilemma auf, indem er einerseits die „Kriegsideologie“ Deutschlands der Kritik unterzog und indem er andererseits den Gedanken einführte, daß „der ganze Komplex abendländischer Erlebnis- und Denkmöglichkeiten [...] allezeit in allen Nationen gegenwärtig“ sei und daß er „allezeit nicht nur wirksam [sei] zwischen ihnen, sondern auch innerhalb jeder einzelnen von ihnen“. 88 Damit versuchte er die in der Weltkriegs-Propaganda in extremster Vereinfachung in 87 Cf. dazu z.B. Ernest Seillière: Les pangermanistes d’après-guerre, Paris 1924, p. 7-30: Thomas Mann. 88 Hier zitiert nach Thomas Mann: „Die geistigen Tendenzen im heutigen Deutschland“, in: Thomas Mann: Von deutscher Republik. Politische Schriften und Reden in Deutschland. Nachwort von Hanno Helbing (= Gesammelte Werke in Einzelbänden), Frankfurt/ Main 1984, p. 228. <?page no="88"?> 88 Umlauf gebrachten Formeln Deutschland = Kultur, Frankreich = Zivilisation (wie er sie selbst gebraucht hatte) oder Deutschland = Romantik, Frankreich = Klassizismus (wie sie z. Bsp. Otto Grautoff benutzte) aus dem Verkehr zu ziehen, indem er ihre exklusive nationalkulturelle Prägekraft in Frage stellte. Mit der Kritik an der deutschen „Kriegsideologie“, an der er selbst teilgehabt hatte, ging Thomas Mann eindeutig einen Schritt weiter als er dies noch in seinem Beitrag in der Europe nouvelle vom Vorjahr getan hatte. Zugleich hielt er fest an der Idee, daß Nietzsche die Patenschaft für die im Werden begriffene Demokratie in Deutschland zukommen könne und müsse, weil er im kritischen Ringen mit Wagner zum Überwinder einer todessüchtigen Romantik und zum „Seher und Führer in eine neue Menschenzukunft“ 89 geworden sei. Mit diesen Argumenten einer prinzipiellen westeuropäischen Geistesverwandtschaft zwischen Deutschland und Frankreich sowie der eigenständigen nationalen und demokratischen Neugestaltung Deutschlands verband Thomas Mann in seiner Ansprache das Leitmotiv der „Sympathie“, in deren Zeichen sich das Verhältnis beider Nationen zueinander künftig auf dieser Grundlage entfalten könnte. In den französischen Redebeitragen der beiden Thomas-Mann-Veranstaltungen wurde das Thema der Verwicklung in die Weltkriegspropaganda aufgenommen, jedoch auch entschärft durch die Hinweise auf die Wandlung des prominenten Gastes zum Anhänger der Republik. Zu dieser wohlwollenden Deutung des geistigen Werdegangs von Thomas Mann - die ja auch Louise Weiss in ihrem Einleitungstext in der Europe nouvelle vertrat 90 - hatten vor allem dessen Rede Von Deutscher Republik (1922) und sein gerade erschienener Roman Der Zauberberg (1924) beigetragen. Auszüge aus seiner Geburtstagsrede für Gerhart Hauptmann von 1922 waren bereits 1925 in Übersetzung von der Union pour la vérité veröffentlicht worden 91 und Thomas Mann hatte z. Bsp. in seiner Korrespondenz mit Félix Bertaux auf diese Rede Von Deutscher Republik nachdrücklich hingewiesen als Nachweis für seine Abwendung von den Betrachtungen eines Unpolitischen. 92 Auf eben diese drei Schriften Thomas Manns bezog sich Henri Lichtenberger in seiner Begrüßungsrede am 20. Januar am Boulevard Saint-Germain. Er verwies auf die Betrachtungen als Beispiel für die bisweilen harsche Kritik Thomas Manns an der „Allemagne nouvelle“; die Frankreich-Kritik der Weltkriegsschrift sprach er diskreter Weise nicht an. Ihm ging es in erster Linie um die Wandlung des deutschen Schriftstellers, als 89 Thomas Mann: „Die geistigen Tendenzen“, loc. cit., p. 233. 90 Cf. oben Abschnitt 1 der vorliegenden Studie. 91 Diese Broschüre wurde Thomas Mann überreicht bei seinem Besuch in der rue Visconti (cf. Pariser Rechenschaft, p. 123). Correspondance de l’Union pour la vérité, Mai 1925: Quelques voix d’outre-Rhin. Pages de Ernst Robert Curtius, Thomas Mann, Comte Hermann Keyserling. Auszüge aus Thomas Manns Rede dort p. 22-40; die Auszüge wurden von Robert Minder übersetzt. 92 Cf. Biruta Cap (ed.): Thomas Mann - Félix Bertaux, op. cit., p. 2, Brief vom 1.3.1923. <?page no="89"?> 89 deren Belege ihm die Rede von 1922 und der Zauberberg dienten: „Pourtant, vous avez constaté, d’autre part, avec une entière franchise, que vous étiez contaminé vous-même par l’esprit ‚occidental’, que vous ne pouviez pas vous figer dans une attitude d’intransigeante protestation contre l’occidentalisme, que vous vous refusiez à proclamer comme d’autres le déclin de l’Occident et la foncière imperméabilité des cultures jumelles les unes à l’égard des autres. A l’exemple de votre maître Nietzsche, vous avez senti qu’il fallait ‚dépasser’ le romantisme, ‚surmonter’ cette mystique nostalgie de la mort qu’il implique ; vous avez fait effort sur vous pour vous affranchir de pessimisme, pour vous élever à un héroïsme plus beau et plus noble que celui de la force épanouie, à l’héroïsme du faible, qui rejette comme désertion l’attirance de la mort, qui veut le triomphe de l’esprit sur la nature, de la volonté sur l’abdication, de l’activité créatrice sur la lassitude.“ 93 In dieser Überwindung einer lebensverneinenden Romantikauffassung und in seiner Hinwendung zum optimistischen Universalismus und zu Europa nähere er sich bestimmten Grundtendenzen des französischen Geistes an : „[…] en votre personnalité se fondent, dans une harmonieuse synthèse, l’Allemagne ancienne et nouvelle, l’Allemagne ancienne orientée vers le Nord ou l’Est, l’Allemagne romantique avec sa nostalgie religieuse et son intime pessimisme, avec sa solide probité bourgeoise, son sens de l’ hiérarchie et de la discipline, ses vertus guerrières, sa ferveur nationale, et l’Allemagne nouvelle de tendances plus ‚occidentales’, avec son optimisme foncier, sa robuste vitalité, son démocratisme et son rationalisme, son internationalisme et son pacifisme.“ 94 Kurzum: Thomas Mann sei zugleich Deutscher und Europäer. Der dergestalt Angesprochene ging in seiner Zusammenfassung der Rede Lichtenbergers in der Pariser Rechenschaft nicht auf diese Passagen ein (S. 114ff.); möglicherweise weil er sich damit doch etwas zu weitgehend vereinnahmt sah für das „Westlertum“. Maurice Boucher ließ sich in seiner Laudatio auf Thomas Mann am folgenden Tage stärker als Lichtenberger ein auf die überwundenen Weltkriegspositionen. Er historisierte gleichsam die Betrachtungen eines Unpolitischen und gestand seinerseits ein, daß er zur Zeit ihrer Niederschrift seinen „Gedankendienst mit der Waffe“ (Thomas Mann) hinter der Front geleistet habe in der Form von „conférences morales“: „Vous avez écrit vos Betrachtungen à une époque où il fallait, de part et d’autre, trouver des armes jusque dans la philosophie.“ 95 Boucher versuchte nachzuweisen, daß das, was im Kriege als „Kultur“ und „Zivilisation“ gegeneinander ins Feld geführt wurde, inhaltlich weitestgehend identisch sei. Und Thomas Mann folgte ihm hier bereitwillig (S. 127). Ein eher beiläufig formuliertes Aperçu zu den Betrachtungen gefiel Thomas Mann so gut, daß er es wortreich paraphra- 93 Henri Lichtenberger, in: Revue Rhénane, Februar 1926, p. 4. 94 Ibid. 95 Maurice Boucher, in: Revue d’Allemagne, 1929, p. 613. <?page no="90"?> 90 sierte. Boucher sagte: „Si nous n’avions pas lu vos Considérations d’un homme étranger à la politique, nous comprendrions peut-être moins bien votre Montagne enchantée.“ 96 Das Echo Thomas Manns war : „Ich höre Sie hinzufügen, daß man in Frankreich die Betrachtungen eines Unpolitischen besser versteht, seit man den Zauberberg kennt“; er sei glücklich bei der Vorstellung, daß die Völker einander verstehen müßten, wenn ihre Künstler sich so gut zu verständigen vermochten. Interessant ist in dieser Nachbemerkung das aufschlußreiche Mißverständnis, daß Thomas Mann die Betrachtungen im Lichte des Zauberberg gelesen haben wollte und nicht - wie Boucher dies umgekehrt nahegelegt hatte - den Zauberberg im Lichte der Betrachtungen. Im übrigen war der „Lieblingsschüler“ Lichtenbergers, der viel kluge Überlegungen anstellte über das Verhältnis von Dichter und Sprache sowie über die Werkästhetik Thomas Manns, mit seinem Meister von der Wandlung des zu ehrenden Gastes überzeugt: „En dépit de vos maîtres Schopenhauer et Wagner, en dépit de ce que vous appelez votre‚sympathie pour la mort’, vous croyez qu’il reste en nous des ardeurs saines, des vertus efficaces. La vie, vous semble-t-il, peut s’ordonner mieux, se mieux construire, solide sur la terre et fortement close, pour abriter une humanité plus attentive à elle-même.“ 97 Vergleichsweise am weitschweifigsten war die Grußadresse von Charles du Bos an Thomas Mann am 21. Januar. In seinen von vielen Assoziationen durchzogenen Überlegungen zentrierte sich die Gedankenführung auf die Wandlung Thomas Manns, für die er sich auf dessen Rede von 1922 Von Deutscher Republik berief. Du Bos holte nach Vergleichen mit Gustave Flaubert und Paul Valéry (der gemäß Thomas Mann sich unter den Zuhörern befunden hatte 98 ) aus zu einer ausgedehnten Vergleichsstudie zwischen der Entwicklung des deutschen Schriftstellers und dem geistigen Lebensweg von Maurice Barrès. Zu dieser (im zeitgenössischen Deutschland eher auf Verwunderung stoßenden) Parallelisierung der intellektuellen Lebensentwürfe von Mann und Barrès fühlte sich der Sekretär der französischen Sektion des Europäischen Kulturbundes autorisiert durch die Bezugnahme auf Maurice Barrès, die Thomas Mann im Schlussteil seiner Rede Von Deutscher Republik vorgenommen hatte. Mann bezeichnete den französischen Zeitgenossen dort als „Beispiel“, nicht jedoch als nationales „Vorbild“ für die Wandlung, die „Metamorphose“ eines Geistes, „an deren Anfang die Sympathie mit dem Tode, an deren Ende der Entschluß zum Lebensdienst“ stehe. 99 Vorbild könne er nicht sein, da er für den französischen „Nationalismus“ stehe, während die deutsche „Metamorphose“ die „Humanität“ als Zielbestim- 96 Maurice Boucher, in: Revue d’Allemagne, 1929, p. 609. 97 Ibid., p. 611. 98 Thomas Mann: Pariser Rechenschaft, p. 129: „Es hieß, daß Paul Valéry, de l’Académie Française, sich unter den Zuhörern befunden habe. Nun, laut hat er nicht protestiert.“ 99 Thomas Mann: „Von deutscher Republik“, in: ders.: Von deutscher Republik, p. 158. <?page no="91"?> 91 mung haben müsse. Nach du Bos’ Verständnis des Lebensentwurfes des (1923 verstorbenen) Barrès war auch dieser durch den „romantischen Ästhetizismus“ hindurchgegangen, um sich danach der neuen „Ausbildung des Menschheitsgedankens“ zu verschreiben. Er, du Bos, lehne wie Thomas Mann die Worte all jener ab, „die über das Problem des Lebens sich äußern, ohne im Zauberberg des romantischen Ästhetizismus die Sündenjahre abgedient zu haben, von denen Sie sprachen; denn ich halte nicht viel von einer Menschheitsidee, die keine Abgründe gesehen, aus denen sie emporsteigen konnte, und die nicht aus diesem Emporsteigen, aus diesem Hinaufwachsen aus schwindelnder Tiefe erst ihr geheimstes Glück geschöpft hat. Das ist es, was mir Barrès so teuer macht und was mich beim Durchdenken der von Ihnen gegebenen Analyse […] in ihr die wahre Erklärung sehen läßt, die letzte Erklärung dessen, was in Barrès Werdegang manchen noch unbefriedigend erscheinen will, was aber Barrès im Begriff war zu Ende zu führen und vollends zur Lösung zu bringen, als ein vorzeitiger Tod ihn dahinraffte.“ 100 Thomas Mann ging in seiner Zusammenfassung der Ansprache von du Bos in der Pariser Rechenschaft nicht ein auf die ihm angetragene Wahlverwandtschaft mit Barrès, griff jedoch bereitwillig die Argumentation seines Lobredners unter dem Gesichtspunkt auf, „daß der deutsche Nationalismus […] mit all seiner ‚chthonischen’ Religiosität, seiner Veneration von Nacht, Tod, Boden, Geschichte, Volk durchaus nichts spezifisch Deutsches ist, sondern so europäisch, so ‚international’ wie nur irgendein lichtfreundlicherer Gegenwille“ (S. 129f.). Zu den expliziten Voraussetzungen des literarischen Gipfelgesprächs im Pariser Carnegie-Haus gehörte es, daß man von dem illustren Gast aus Deutschland keine Preisgabe seiner nationalen Identitätsmerkmale erwartete, sondern Auskünfte über das gegenwärtige kollektive Nationalbewußtsein und dessen Eignung für den neu zu fundamentierenden französisch-deutschen Dialog. Thomas Mann hatte diese Prämisse seinem Vortrag vom 20. Januar über Die geistigen Tendenzen des heutigen Deutschland ganz bewußt zugrundegelegt: „Ich bin bei der Abfassung meiner Ansprache von der Voraussetzung ausgegangen, daß es zwecklos sei, nach Paris zu fahren, um den Franzosen ihre eigenen Ideen zu entwickeln, daß sie vielmehr neugierig auf Deutsches seien“ (S. 116). Seine Metapher von der „Sympathie“, die in den deutsch-französischen Beziehungen nie ganz abwesend und nunmehr zur Überlebensnotwendigkeit für Europa geworden sei, wurde von allen französischen Rednern aufgegriffen. Thomas Mann hatte dem Begriff eine philosophische und politische Dimension mitgegeben: „Sympathie, das ‚mieux se connaître’, Kameradschaft zwischen den Völkern, ihre gegenseitige Bewunderung, das durchdringende und alles leitende Gefühl alter und neuer Schicksalsgemeinschaft: was jederzeit das natürlichste gewesen wäre, ist heute das notwendigste ge- 100 Charles du Bos: „An Thomas Mann“, in: Europäische Revue, 1926, p. 37. <?page no="92"?> 92 worden, denn nur dies ist, wodurch unser edler, aber gesunkener und beschädigter Erdteil sich wieder erheben und genesen kann.“ 101 Daß das Vertrauen in Frankreich zur demokratischen Lernfähigkeit der Deutschen berechtigt sei, versicherte er wie immer mit der Maßgabe, daß man dort die Demokratie „wiedererobern“ und aus eigenen Traditionen ableiten müsse: „Unterdessen kann man sagen, daß in Deutschland jeden Tag die Idee der ‚Demokratie’ an Boden gewinnt, wenn man darunter die Einsicht verstehen will, daß die Fühlung des deutschen Denkens mit dem westeuropäischen niemals in dem Grade, wie geschehen, hätte verloren gehen dürfen“; es gehe um die „Wiederannäherung des deutschen Gedankens an den mit bestimmten religiösen und ideologischen Elementen unseres Kulturkreises unlöslich verbundenen westeuropäischen, also um die antik-christliche Humanitätsidee“. 102 Andererseits versäumte der Redner nicht, darauf hinzuweisen, daß man sich den Prozeß „der Rückeroberung der demokratischen Idee in Deutschland“ nicht allzu leicht vorstellen dürfe. Henri Lichtenberger formulierte in seiner Eröffnungsrede für die beiden Thomas-Mann-Abende im Carnegie-Haus eine Devise für die deutschfranzösischen Beziehungen, die vom Laureaten dankbar aufgenommen wurde. Der französische Germanist und Verständigungspolitiker hatte gesagt: « C’est chez moi, en tous cas, une conviction profonde qu’une coopération confiante et sûre ne peut se nouer entre la France et l’Allemagne que si chacun des deux peuples comprend et admet le droit de l’autre à exister, tel qu’il est, avec des traits spécifiques et son individualité propre. Les discordes et la méfiance ne cesseront pas si l’Allemand romantique et nationaliste garde au fond du cœur un secret mépris et une antipathie incoercible pour le Français démocratique, et si le Français à son tour s’obstine à tenir la culture spécifiquement allemande pour une survivance de barbarie. Nous ne parviendrons pas à une paix véritable, tant que chacun prétendra convertir l’autre ou lui arracher un aveu d’indignité.“ 103 Lichtenberger stellte die tiefreichenden nationalkulturellen Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich nicht in Frage, er wollte aber in diesen Divergenzen keine Ursache sehen für einen schicksalhaften Antagonismus zwischen beiden Ländern, da sie zugleich eben auch beide Anteil hätten an einem „large fonds commun“, der gewährleistete, „que les mêmes éléments mélangés selon des proportions différentes ont amené, sans doute, une différenciation, mais que, si l’on va au fond des choses, rien de ce qui est allemand n’est complètement étranger au Français et, réciproquement, rien de ce qui est français n’est complètement étranger à 101 Thomas Mann: „Die geistigen Tendenzen des heutigen Deutschland“, loc. cit., p. 235. 102 Ibid., p. 231. 103 Henri Lichtenberger: „Réception de Thomas Mann à la Dotation Carnégie“, in: Revue Rhénane, Februar 1926, p. 4. <?page no="93"?> 93 l’Allemand“. 104 Thomas Mann, der die zuletzt formulierte Überzeugung von den westeuropäischen Gemeinsamkeiten beider Nationen ja zum tragenden Argument seines anschließenden Vortrags gemacht hatte, ging in der Nachbetrachtung der Pariser Rechenschaft vor allem auf die konkretere politische Botschaft in den Ausführungen des Sorbonne-Germanisten ein. Er vermochte dort, eine „neue Stufe der Weisheit und der Resignation für das französische Denken“ zu erkennen: „Es sei seine tiefe Überzeugung, erklärte Lichtenberger, daß eine vertrauensvolle und sichere Zusammenarbeit Frankreich und Deutschland nur dann verbinden könne, wenn jedes der beiden Völker das Recht des anderen verstehe und zulasse, ‚à exister tel qu’il est’, nach seiner eigenen Fasson selig zu werden, wenn also jedes auf den Anspruch verzichte, das andere zu bekehren oder ihm das Geständnis seiner Minderwertigkeit zu entreißen. Gut, das war der Verzicht auf den Vorherrschaftsgedanken der ‚lateinischen Zivilisation’, mit welchem der Franzose gewisse Bemühungen des Deutschen bedankte, ‚sich über das, was an seinem natürlichen Romantismus ausschließlich und gefährlich erscheinen könnte, bis zu einem Universalismus zu erheben, in welchem der deutsche und der französische Gedanke sich ohne Schwierigkeiten begegnen können’.“ Die vor allem im Dialog zwischen Lichtenberger und Thomas Mann artikulierten Argumente für die Neubegründung der bilateralen Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich verzichteten zu keinem Augenblick auf die Prämisse der (historisch gewordenen und politisch für unverzichtbar gehaltenen) nationalen Identität. Beide Autoren versuchten jedoch den nationalidentitären Diskurs zu öffnen durch die Benennung und Beschwörung der kulturellen „Gemeinsamkeiten beider Nationen“, die gleichermaßen das vertiefte wechselseitige Verstehen und die praktische Zusammenarbeit ermöglichen sollten. Anders als die Themen des intellektuellen Beitrags zur Kriegspropaganda und der kulturellen Verbindungsmöglichkeiten zwischen Deutschland und Frankreich blieb der dritte große Themenblock der „Deutschen Woche“ in Paris, die übernationale Perspektive, die sich mit dem Kernbegriff „Europa“ verband, vergleichsweise unausgearbeitet. Dies ist umso bemerkenswerter, weil gerade die französischen Wortführer in dem kulturellen Großereignis im Carnegie-Haus als Repräsentanten der frühen Europa-Bewegungen (nämlich des Europäischen Kulturbundes) in Erscheinung traten. Hier wird man zu berücksichtigen haben, daß der Europa-Begriff zu Beginn der Locarno-Ära einen geringeren Stellenwert in der Öffentlichkeit hatte als am Ende der Locarno-Jahre. Außerdem war die Lösung der deutsch-französischen Probleme die unumgängliche Voraussetzung für das Reden über Europa. Bei genauerem Hinsehen finden sich die eher impliziten Europabezüge aber auch durchaus in den Ansprachen aus Anlaß des Paris-Besuchs von Thomas Mann. Dieser hatte in den Eröff- 104 Henri Lichtenberger, in: Revue Rhénane, Februar 1926, p. 5. <?page no="94"?> 94 nungsteilen seines Vortrags bereits die Europa-Perspektive direkt angesprochen. Nach den vergangenen zehn Jahren der Kriegs- und Nachkriegszeit hatte er den Eindruck, daß das Interesse an wechselseitigen Kenntnissen und Kontakten nunmehr merklich gewachsen sei: „In der Tat haben die wüsten Ereignisse das Verlangen nach Austausch und gegenseitiger Kenntnisnahme, die Neugier - trotz aller Gehässigkeit und Entfremdung - eher gesteigert als verringert. Jemand, dem es darauf ankäme, den Dingen vor allem ihre gute Seite abzugewinnen, könnte sagen, daß der übertrieben raue Kontakt, in den der Krieg die europäischen Nationen gezwungen hat, einen großen Schritt vorwärts auf dem Wege bedeute, der zu einer relativen Einigung des Erdteils führt. Wir Europäer haben wenig Ursache, uns der Art und Haltung zu rühmen, in der wir auf diesem Wege vorwärtsgeschritten oder getaumelt sind, und wir haben auch jetzt wenig Ursache, uns der Anstrengungen zu rühmen, die in dieser Hinsicht, - und mit wachsendem Erfolg, gemacht werden. Sie sind kein Ergebnis gereifter Sittlichkeit, sondern ein solches der primitivsten Vernunft und der baren Notwendigkeit, da allzu offenbar geworden ist, daß Europa als Ganzes steht oder fällt: dies ist es, was heute den Tendenzen der Verständigung, des Ausgleichs und des Friedens über die immer noch reichlich vorhandenen Leidenschaften ein wachsendes Übergewicht verleiht. - Es ist klar, daß ich bei alledem in erster Linie an die beiden großen kontinentalen Völker denke, deren Verhältnis für den Gesamtzustand Europas entscheidend ist.“ 105 In der Symbolsprache, der sich der Redner bediente, wurde hier deutlich gemacht, daß er die Mitte der zwanziger Jahre sich abzeichnenden politischen und wirtschaftlichen Konfliktlösungen zwischen den europäischen Nationen vorwiegend als ein schlichtes pragmatisches Gebot des Überlebens ansah und nicht schon als ein Ergebnis selbstbewussten Handelns und Wollens. Europa formte sich unter dem Zwang der ökonomischen und politischen Verhältnisse, nicht jedoch, weil seine Völker dessen Einheit willentlich anstrebten. Es war einstweilen ein Produkt „der primitivsten Vernunft und der baren Notwendigkeit“, nicht aber bereits ein Resultat „gereifter Sittlichkeit“. Thomas Manns Vorredner am 20.1.1926, Henri Lichtenberger, hatte den Schriftsteller eingeführt als „kosmopolitischen“ Europäer: „Vous êtes à la fois Allemand jusqu’au tréfonds de votre être, et Européen.“ 106 Der Sorbonne-Germanist formulierte bei anderer Gelegenheit seine Vorstellung von dergestalt wünschenswertem Europäertum: Der wahrhaft gebildete Europäer sei derjenige, der, ohne sein Herkunftsland zu verleugnen, imstande sei, einige der großen Geistesrepräsen- 105 Thomas Mann: „Die geistigen Tendenzen“, loc. cit., p. 223. 106 Henri Lichtenberger: „Réception de Thomas Mann à la Dotation Carnégie“, loc. cit., p. 5. <?page no="95"?> 95 tanten anderer Nationen umfassend zu verstehen. 107 Dies war die gleichsam positiv gewendete Folgerung aus dem Grundsatz, einen Weg zwischen Nationalismus und Internationalismus zu finden, dem sich Thomas Mann ja angeschlossen hatte. Lichtenbergers These, daß gegenwärtig (Anfang 1926) ein „immense désir de paix et de conciliation“, eine „immense volonté de coopération européenne“ die französische Öffentlichkeit durchziehe, kommentierte der deutsche Gast in der Pariser Rechenschaft nicht. Ein charakteristisches Merkmal dieser positiv gewendeten Europa-Konzeption der Synthese von nationaler Selbstbehauptung und transnationaler Empfänglichkeit, nämlich ihre elitistische Prämisse, daß dies Europäertum eine Sache der Gebildeten war, wurde auch in der Ansprache von Charles du Bos am 21.1.1926 deutlich herausgestellt: „[…] solange in unseren beiden Ländern, wie überhaupt in Europa, ein Kreis von Menschen bestehen wird, in denen der Sinn für echten Wert lebendig ist und lebendig bleibt, haben wir nicht das Recht, daran zu verzweifeln, daß - ich wiederhole Ihre gestrigen Worte - ‚unser edler, aber gesunkener und beschädigter Erdteil sich wieder erheben und genesen kann’.“ 108 Immerhin ließ diese Konzeption in Thomas Manns öffentlichem Nachdenken eine Umakzentuierung zu, die auf politische Breitenwirksamkeit hin zielte. Hatte er 1926 noch Zweifel an der „Fehlerlosigkeit“ der Paneuropa-Idee bekundet, so stellte er seine Bedenken 1930 zurück und trat als Redner für Paneuropa auf. 109 In seiner Gegenüberstellung eines von der wirtschaftlichen Sachlogik erzwungenen Europa mit einem von den Menschen „sittlich“ gewollten Europa, die er in seiner Carnegie-Rede skizzierte, war dieser Weg in die politische Arena als Möglichkeit angelegt. 107 Cf. Henri Lichtenberger: „Was ist Weltbürgertum? “, in: Henri Lichtenberger, James Shotwell, Max Scheler: Ausgleich als Aufgabe und Schicksal, Berlin 1929, und ders.: „L’esprit international“, in: Revue de Genève, 1928, p. 491sqq. 108 Charles du Bos: „An Thomas Mann“, loc. cit., p. 35. 109 Cf. Thomas Mann: „Die Bäume im Garten. Rede für Pan-Europa“, in: ders.: Von deutscher Republik, op. cit., p. 285-293. <?page no="97"?> 97 III. Europa als konkrete Utopie? Zum intellektuellen Umfeld der deutschen Vertretung im Internationalen Institut für geistige Zusammenarbeit in Paris 1927-1933 Im Verhältnis zu mehr als einem halben Jahrhundert institutioneller Integrationsgeschichte Europas erscheint die kurze Zeitspanne der Locarno- Ära (1925-1930) unbedeutend, zumal in ihr im Beginn die Europa-Pläne noch einen überaus spekulativ-utopischen Charakter hatten. Andererseits trat in dieser kurzen Phase die traditionsreiche Europa-Idee in einen neuen Aggregatzustand ein, insofern sie sich verband mit sozialen Bewegungen, die sich ihre Förderung aufs Panier geschrieben hatten. Die auf der diplomatischen Ebene aussichtsreich erscheinende Lösung des europäischen Kardinalkonflikts zwischen Frankreich und Deutschland, die sich nach den Locarno-Verträgen (Oktober 1925) abzeichnete, verband sich teilweise mit neuen Entwürfen für die Einigung Europas, von denen das Briandsche Memorandum für eine europäische Union vom Mai 1930 nur das prominenteste Beispiel darstellt. 1 Die historische Forschung über die Europa-Idee hat neuerdings versucht, dieser Metamorphose des Europa-Denkens von der spekulativen zur konkreten Utopie Rechnung zu tragen, indem sie neben die älteren ideengeschichtlich akzentuierten Analysen und Dokumentationen zur Genese der europäischen Denkens im 20. Jahrhundert in wachsendem Umfang Studien zur Sozialgeschichte des Europa-Gedankens stellt. 2 An diese Perspektive sollen die folgenden Überlegungen anknüpfen, indem sie vor allem der Frage nachgehen, welche Gedanken- und Motivverbindungen in den Entwürfen der frühen Europa-Bewegungen der späten zwanziger Jahre enthalten waren, die in der neofunktionalistisch konzipierten Realgeschichte der europäischen Integration von 1952 bis heute verloren gingen und warum sie eliminiert wurden. Dies soll an drei Fallbeispielen von Intellektuellen dargestellt und erörtert werden, die in der Locarno-Ära übereinstimmend eine Position jenseits von Internationalismus und Nationalismus einnahmen und deren eingehendes Nachdenken über eine sinnvolle Synthese zwischen nationaler und europäischer Identität in diesen Jahren nachweislich in den frühen Europa-Bewegungen auf- 1 Cf. Antoine Fleury u.a. (ed..): Le Plan Briand d'Union fédérale européenne, Bern/ Berlin 1998. 2 Cf. René Girault, Gérard Bossuat (ed.): Europe brisée, Europe retrouvée. Nouvelles réflexions sur l'unité européenne au XXe siècle, Paris 1994; Gérard Bossuat (ed.): Inventer l’Europe. Histoire nouvelle des groupes d'influence et des acteurs de l'unite européenne, Brüssel 2003. <?page no="98"?> 98 genommen wurde. Diese erst neuerdings wieder sichtbar werdenden Bewegungen entstanden gegen Mitte der zwanziger Jahre und erfuhren zunehmendes öffentliches Interesse in den Locarno-Jahren, verloren jedoch ab 1930 ihre Anziehungskraft und blieben elitär begrenzte Zeitphänomene. Bei allen unterschiedlichen Wegen, die von den Protagonisten europäischen Einigungswillens eingeschlagen wurden, war ihnen doch die Selbstverortung gemeinsam, die sie in Abgrenzung zum Internationalismus und zum Nationalismus vornahmen. Es waren genuin bürgerliche (Gedanken-) Bewegungen, die Stellung bezogen gegen den Internationalismus und den Pazifismus (wie er namentlich in Deutschland in der Arbeiterbewegung und bei den republikanischen Kräften vertreten wurde) sowie gegen den Nationalismus, der von ihnen in seiner paroxystischen Form als wesentliche Ursache bzw. Ausgeburt des Ersten Weltkrieges verurteilt wurde. Diese politische und kulturelle Standortbestimmung wurde unter dem direkten oder indirekten Eindruck der europäischen Untergangsszenarien formuliert, wie sie in Deutschland Oswald Spengler oder in Frankreich Albert Demangeon und Henri Massis entfaltet hatten. 3 Im deutschfranzösischen Dialog war diese Art, Europa zu denken, schon in den frühen zwanziger Jahren von Intellektuellen präzise formuliert worden, die dann im Umfeld der frühen Europa-Bewegungen der späten zwanziger Jahre auftauchten, ohne dort eine praktisch-organisatorische Rolle zu spielen. Ein beweiskräftiges Beispiel dafür befindet sich im Briefwechsel zwischen Ernst Robert Curtius und André Gide. Der deutsche Romanist und Literaturkritiker schrieb 1921: „Ich glaube, dass die besten Geister beider Nationen sich finden werden auf der Basis, die Sie andeuteten und die auch mir (wie Ihnen mein Aufsatz aus dem Neuen Merkur hat zeigen können) vorschwebt: eine kosmopolitische (nicht internationalistische) europäische Gesinnung auf dem Fundament eines unbefangenen und unverzerrten nationalen (nicht nationalistischen) Gefühls. Ich glaube, dass ein solches Ziel bei uns z. B. von Thomas Mann (um nur einen ganz unbestrittenen führenden Geist Ihrer Generation zu nennen) aufrichtig begrüßt werden würde.“ 4 Diese Thematik hat einen doppelten Bezug zu dem Adressaten der vorliegenden Festschrift. Zum einen war der Autor der zitierten transnationalen Verständigungskonzeption der Großonkel von Robert Picht, dessen Großvater die Schwester des deutschen Romanisten geheiratet hatte. 5 Eben dieser Werner Picht, Schriftsteller und u. a. Leiter der Hochschul-Sektion 3 Cf. zusammenfassend Paul Michael Lützeler: Die Schriftsteller und Europa, München 1992, p. 272sqq. 4 Herbert und Jane Dieckmann (ed.): Deutsch-französische Gespräche 1920-1950, Frankfurt/ Main 1980, p. 30 (Brief vom 12.7.1921). Dieselbe Formulierung in seinem Brief an Aline Mayrisch vom selben Tag (ebenda, p. 32). 5 Cf. dazu die Reverenz an den Ahnen Robert Picht: Ernst Robert Curtius. Doppelkurseinheit Fernuniversität Hagen, Hagen 1986. <?page no="99"?> 99 im Internationalen Institut für geistige Zusammenarbeit in Paris während der Locarno-Ära, befasste sich nicht nur mit genau dieser Fragestellung, sondern übte als deutsch-französischer Mittler, europäischer Grenzgänger und Erwachsenenbildner auch Funktionen aus, die sich in der beruflichen Vita von Robert Picht wiederfinden. Zum anderen glaubt der Verfasser dieser Notizen aufgrund rund dreißigjähriger (gelegentlich intensiver) Zusammenarbeit mit Robert Picht in Paris und Ludwigsburg behaupten zu dürfen, dass die von seinem Großonkel formulierte Zieldefinition transnationalen Handelns ihn seit seinen frühesten selbständigen Arbeiten für den Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) in Paris seit den sechziger Jahren jederzeit im affirmativen oder im kritischen Sinne begleitet hat. Im mittleren Zeitabschnitt der Weimarer Republik zwischen den Locarno-Verträgen und dem Beginn der Weltwirtschaftskrise (der zugleich eine Phase der relativen ökonomischen Stabilisierung war), hatten die Motive und Gedanken zur internationalen Verständigung und zur europäischen Einigung eine erste Hochkonjunktur im 20. Jahrhundert. Ökonomische Stabilisierung und diplomatische Ermutigung wirkten zusammen und gaben der Hoffnung auf eine konstruktive europäische Konfliktlösung Nahrung insbesondere in den Kreisen der bürgerlichen Intellektuellen, die unter dem doppelten indirekten und direkten Eindruck der Arbeiterbewegung und der Jugendbewegung standen und auf der Suche waren nach einem neuen geistigen Fundament für das neuartige staatliche Gemeinwesen. Europa war ab 1925 in dem Maße zum „Modethema“ geworden, dass es in Deutschland einen Anti-Diskurs verursachte. „Die Europa-Idee als Modethema provozierte den Widerspruch der kritischen Geister.“ 6 Sowohl das Für als auch das Wider in der öffentlichen Debatte über transnationale Verständigung und europäische Einheit trugen zur Allgegenwart des Europa-Themas bei. Bei den Befürwortern dieser Zielvorstellung sind in der Locarno-Ära zwei intellektuelle Frontstellungen feststellbar, die nicht nur durch unterschiedliche Wertvorstellungen diktiert waren, sondern auch konkrete zeitgeschichtliche Anlässe hatten. In den frühen Jahren der Weimarer Republik war die antinationalistische und kriegskritische Argumentation überwiegend von Vertretern eines universalistisch fundierten Pazifismus vorgetragen worden. 7 Gegen diesen für abstrakt und individualistisch erklärten Internationalismus setzten die „kosmopolitischen“ Kritiker der Locarno-Ära ihre Europa-Konzeption, in der nationale und übernationale Loyalitäten der Individuen miteinander vermittelt werden sollten. In der Spätphase der Weimarer Republik gerieten eben diese Protagonisten in eine Defensivstellung gegenüber dem im Jahre 1930 massiv in Deutschland 6 Paul Michael Lützeler, op. cit., p. 344. 7 Cf. zum Sachverhalt z.B. Ilde Gorguet: Les mouvements pacifistes et la réconciliation franco-allemande dans les années vingt (1919-1933), Paris 2000. <?page no="100"?> 100 einsetzenden Neonationalismus. 8 Ihm hielten sie bildungsfernen Irrationalismus und eine völlige Überschätzung des Integrationspotentials der Nation unter den obwaltenden ökonomischen und kulturellen Zeitumständen vor. In ihrer Argumentation findet sich also eine aggressive Frontstellung gegen den (pazifistischen) Internationalismus der frühen und eine vehemente Abgrenzung gegen den (von einer neuen Generation getragenen) Neonationalismus der späten Weimarer Jahre. 1. Thomas Manns Weg zu Paneuropa Genau diese „kosmopolitischen“ Motive bilden sich paradigmatisch ab in den europapolitischen Stellungnahmen Thomas Manns in dem Zeitabschnitt der Locarno-Jahre. Er stimmte z. B. ein in die Internationalismus- Kritik Ernst Robert Curtius’, wenn er in seinem Aufsatz über „Das Problem der deutsch französischen Beziehungen“ (1922) ausführte, dessen geistiges Fundament sei dem Denken der Deutschen nicht assimilierbar: „Das Aufgehen des Geistes im gesellschaftlichen Leben, der Sphäre des Internationalen, bedeutet seine Domestikation, auf deutsch seine Versklavung. Denkformen werden ihm da aufgezwungen - fremd dem lebendigen Werteempfinden, das er in sich trägt, letzte, ärmlichste Formen der Bourgeois-Ideologie des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, blutleere Schematisierungen, nichtsnutzige Alternativen gegen die - und das ist eine Art von Verständigung - französischer Geist heute gemeinsam mit deutschem protestiert.“ 9 Am Ausgang der Locarno-Ära bezog Thomas Mann mit ebenso großer Entschiedenheit Stellung gegen den Neonationalismus, wenn er in seinem „Appell an die Vernunft“ (Oktober 1930) von diesem sagte, er sei „ein irrationalistischer, den Lebensbegriff in den Mittelpunkt des Denkens stellender Rückschlag, der die allein lebensspendenden Kräfte des Unbewussten, Dynamischen, Dunkelschöpferischen auf den Schild hob, den Geist, unter dem man schlechthin das Intellektuelle verstand, als lebensmörderisch verpönte...“. 10 Von diesem irrationalistischen Trend das bürgerlich-kosmopolitische Denken abhebend und dieses als bessere Alternative anpreisend folgerte er: „Von dieser Naturreligiosität, die ihrem Wesen nach zum Orgiastischen, zur bacchantischen Ausschweifung neigt, ist viel eingegangen in den Neonationalismus unserer Tage, der eine neue 8 Cf. z.B. Stefan Breuer: Anatomie der konservativen Revolution, Darmstadt 1993. 9 Thomas Mann: Von deutscher Republik. Politische Schriften und Reden in Deutschland, Frankfurt/ Main 1984, p. 178sq., Mann übernahm hier wortwörtlich die Formulierungen von Curtius: „Deutsch-französische Kulturprobleme“, in: Der Neue Merkur, 1921, p. 145sqq. (auch in ders.: Literarische Wegbereiter des neuen Frankreich, Potsdam 1919, p. 309sqq). Curtius hatte 1920 in München die persönliche Bekanntschaft mit Thomas Mann gemacht. 10 Thomas Mann, loc. cit., p. 301. <?page no="101"?> 101 Stufe gegen den bürgerlichen, durch stark kosmopolitische und humanitäre Einschläge doch ganz anders ausgewogenen Nationalismus des neunzehnten Jahrhunderts darstellt. Er unterscheidet sich von diesem eben durch seinen orgiastisch naturkultischen, radikal humanitätsfeindlichen, rauschhaft dynamistischen, unbedingt ausgelassenen Charakter.“ 11 Der Verfasser des Zauberberg formulierte anlässlich seines ersten Nachkriegsbesuchs in Paris im Januar 1926 mit der ihm sehr eigenen Kunst, die Quintessenz aus dem vorherrschenden verständigungs- und europapolitischen Gegenwartsdiskurs herauszufiltern, die Programmformel der „kosmopolitischen“ Europa-Konzeption: der Weg zu einer „relativen Einigung des Erdteils“ sei nunmehr beschritten, aber: „Wir Europäer haben wenig Ursache, uns der Art und Haltung zu rühmen, die in dieser Hinsicht, - und mit wachsendem Erfolg - gemacht werden. Sie sind kein Ergebnis gereifter Sittlichkeit, sondern ein solches der primitivsten Vernunft und der baren Notwendigkeit, da allzu offenbar geworden ist, dass Europa als Ganzes steht oder fällt: dies ist es, was heute den Tendenzen der Verständigung, des Ausgleichs und des Friedens über immer noch reichlich vorhandenen Leidenschaften ein wachsendes Übergewicht verleiht.“ 12 Mit anderen Worten: Es galt außer dem ökonomischen Zwang zur Einigkeit Europas, die Aufgabe „gereifter Sittlichkeit“ der Europäer, also die Entwicklung ihres Denkens, Fühlens und Wollens, aufzugreifen und weiterzuführen. Thomas Mann selbst fand in diesen Jahren erst allmählich seine Marschrichtung in dieser Frage. Zur Zeit seines Paris-Besuchs war er noch nicht von der „Fehlerlosigkeit“ der Paneuropa-Bewegung des Grafen Coudenhove-Kalergi überzeugt. 13 Bald darauf trat er jedoch 1926 in das Ehrenkomitee der Paneuropäischen Union ein und er pries den Gründer dieser Organisation: „In Ihnen persönlich ehre ich einen Beauftragten des Zeitwillens, der unermüdlich, unter Einsatz seiner ganzen geistigen Existenz mit großer sammelnder und ordnender Kraft, kluger Beweglichkeit und klarster Leidenschaft das Lebensnotwenige propagiert. Ich glaube, dass Sie siegen werden.“ 14 Im Mai 1930 trat er schließlich als Festredner auf dem Paneuropa-Kongreß in Berlin auf mit der Rede „Europa als Kulturgemeinschaft“; dort ehrte er Stresemann als „Deutschen und Europäer“ und bekannte: „Europa, das ist eine gesellschaftliche und rationale Idee, es ist die Zukunft, es ist das väterliche Prinzip, es ist Geist.“ 15 11 Ibid. 12 Thomas Mann: „Die geistigen Tendenzen des heutigen Deutschland“, in ders.: Von deutscher Republik, op. cit., p. 223. 13 Cf. dazu auch meine Studie: „Bußgang zu den ‚Zivilisationsliteraten’? Zu Thomas Manns Paris-Aufenthalt im Januar 1926“im vorliegenden Band. 14 Thomas Mann in: Paneuropa, 1926, p. 73. 15 Paneuropa, 1930, p. 239-247. Der Text wurde unter dem Titel „Die Bäume im Garten. Rede für Paneuropa“ veröffentlicht in Thomas Mann: Von deutscher Republik, op. cit., p. 285-293. <?page no="102"?> 102 Thomas Mann durchschritt also in den zwanziger Jahren alle Stationen vom nationalistischen Manifest seiner „Betrachtungen eines Unpolitischen“ (1918) (das ihn in Frankreich als „pangermaniste“ in Verruf gebracht hatte), über sein rhetorisches Bekenntnis zur Republik in seiner Geburtstagsrede auf Gerhart Hauptmann 1922 bis hin zu seinem öffentlichen Eintreten für die Paneuropa-Bewegung ab dem Jahre 1926. Bei seiner in dieser Entwicklung hoch bedeutsamen Paris-Reise Anfang 1926 begegneten ihm fast alle Organisationsformen, die während der Locarno-Jahre in der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit beanspruchten. 16 Er war eingeladen von der westeuropäischen Sektion der Carnegie-Stiftung, die in Paris ihren europäischen Brückenkopf unterhielt in Gestalt eines prächtigen Hauses am Boulevard Saint-Germain. Da die Carnegie-Stiftung in ihrem Programm für Völkerverständigung vorzugsweise pazifistische Initiativen förderte, kam er durch diesen Veranstaltungsort auch in Berührung mit Repräsentanten des pazifistischen Internationalismus. 17 Nicht sie gaben seinem Paris-Besuch jedoch das charakteristische Gepräge, sondern die Organisationen und Institutionen der internationalen Verständigungs- und Europa-Bewegung. Einer der vier französischen Begrüßungsredner, die Thomas Mann im Carnegie-Haus willkommen hießen, war Charles du Bos. Der sehr bekannte Literaturkritiker und Freund Gides war Vorsitzender der 1924 in Paris gegründeten Union Intellectuelle Française, die monatliche Veranstaltungen im Carnegie-Haus abhielt. Sie war der französische Zweig des Europäischen Kulturbundes, der von dem österreichischen Aristokraten Anton Prinz Rohan seit 1922 ins Leben gerufen worden war und als Europa- Organisation über ein länderübergreifendes Verbindungsnetz verfügte. 18 Den Gründer der Paneuropa-Union, den Grafen Richard Coudenhove- Kalergi, traf Thomas Mann gleich zweimal während seiner Pariser Woche im Januar 1926. Coudenhove berichtete ihm von einem Gespräch mit Aristide Briand, den er gerade aufgesucht hatte, und er gab ihm buchstäblich die Klinke in die Hand im Sitz der Union pour la vérité, einer einflussreichen Intellektuellenassoziation, 19 vor der beide nacheinander vortrugen. Einen dritten Ort, an dem sich die kulturellen Bemühungen um die 16 Als neueren (unzulänglichen) Versuch, das Panorama der Organisationsformen dieser Jahre zu beschreiben cf. Oliver Burgard: Das gemeinsame Europa. Von der politischen Utopie zum außenpolitischen Programm, Frankfurt/ Main 2000. 17 In Ermangelung neuer Studien cf. das Porträt der westeuropäischen Abteilung der Carnegie-Stiftung im Schlusskapitel von Adolf Wild: Baron d’Estournelles de Constant (1856-1924). Das Wirken eines Friedensnobelpreisträgers für die deutsch-französische Verständigung und europäische Einigung, Hamburg 1973. 18 Dazu erstmals umfassend Guido Müller: Europäische Gesellschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg. Das Deutsch-Französische Studienkomitee und der Europäische Kulturbund, München 2005, p. 309-436. 19 Cf. dazu François Beilecke: Französische Intellektuelle in der Dritten Republik. Das Beispiel einer Intellektuellenassoziation 1892-1939, Frankfurt/ Main 2003. <?page no="103"?> 103 zwischenstaatliche Verständigung und transnationale Kommunikation verdichteten, lernte der deutsche Dichter kennen in Gestalt des Internationalen Instituts für geistige Zusammenarbeit, das gerade wenige Wochen vorher eröffnet worden war. Das mit dem Völkerbund verbundene Institut im Palais Royal, das überwiegend von Frankreich finanziert wurde, hatte keine explizite europäische Zweckbestimmung, diente jedoch auch als Versuchsfeld europäischer Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten, zu denen ab 1926 dann auch Deutschland zählte. 20 Das Institut im Palais Royal gab einen Empfang zu Ehren Thomas Manns am 25. Januar 1926. Über die Paneuropa-Union hinaus, die am weitesten in die Öffentlichkeit hinein wirkte, 21 waren es Europa-Organisationen wie die hier zu Beginn der Locarno-Ära in Erscheinung tretenden Europa-Vereine (wie der Europäische Kulturbund, der Europäische Zollverein u.a. 22 ), die der Idee der europäischen Einigung gleichsam einen Körper verliehen und aus der Gesellschaft heraus an die Politik heranführten. In diesem Zusammenhang sind auch die intellektuellen Protagonisten zu sehen, die in den späten zwanziger Jahren eine „kosmopolitische“ Europa-Auffassung jenseits von Internationalismus und Nationalismus vertraten und im Folgenden porträtiert werden sollen. 2. Ernst Robert Curtius’ halber Weg zum Europäischen Kulturbund Die in der Curtius-Gide-Thomas Mann-Debatte der Jahre 1921/ 1922 über die deutsch-französischen Kulturprobleme sich abzeichnende gemeinsame Problemsicht war nicht von Dauer. Spätestens seit Curtius’ Kritik an Thomas Manns „Zauberberg“ 23 löste sich der geistige Gleichklang auf und Thomas Manns zunehmende Annäherung an die Republik, zu der auch seine tätige Sympathie mit der Paneuropa-Bewegung gehörte, vertiefte sich bereits im Laufe der Weimarer Republik. Aber auch die intellektuelle Entwicklung von Ernst Robert Curtius, die im Vergleich seiner beiden kulturpolitischen Schriften „Der Syndikalismus der Geistesarbeiter in Frankreich“ (1921) und „Deutscher Geist in Gefahr“ (1932) zu Tage tritt, 24 20 Cf. dazu jetzt Jean-Jacques Renoliet: L'UNESCO oubliée. La Société des Nations et la coopération intellectuelle (1919-1946), Paris 1999. 21 Cf. dazu neuerdings Anita Ziegerhofer-Prettenthaler: Botschafter Europas. Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi und die Paneuropa-Bewegung in den zwanziger und dreißiger Jahren, Wien 2004. 22 Cf. Carl H. Pegg: Evolution of the European Idea, 1914-1932, Chapel Hill, London 1983. 23 Ernst Robert Curtius: „Thomas Manns Zauberberg“, in ders.: Goethe, Thomas Mann und Italien. Beiträge in der „Luxemburger Zeitung" (1922-1925), Bonn 1988, p. 125sqq. 24 Aus der Fülle der Literatur über Curtius cf. Arnold Rothe: „Ernst Robert Curtius in Heidelberg. Versuch einer Spurensicherung“, in: ders. und Walter Berschin (ed.): <?page no="104"?> 104 divergierte zunehmend im Vergleich mit Thomas Mann. Wenn der Autor der frankreichfeindlichen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ sich allmählich, aber fortschreitend der westlichen Demokratie-Auffassung annäherte, ging der Autor des für Frankreich werbenden Erfolgsbuches „Literarische Wegbereiter des neuen Frankreich“ eher den umgekehrten Weg, indem er 1932 schließlich erklärte: „Heute gibt es in Frankreich keine fruchtbare Bewegung, die uns mitreißen könnte.“ 25 Das ephemere Einverständnis zwischen Curtius und Thomas Mann zerfiel, während das von ihm formulierte Ziel einer „kosmopolitischen“ Europa-Konzeption von anderen Intellektuellen weiterverfolgt und in praktische Arbeitsbereiche übertragen wurde. Dazu gehörte sein etwa gleichaltriger Schwager Werner Picht und der zehn Jahre jüngere Arnold Bergsträsser, die eng mit der Heidelberger Universität verbunden waren. Für die praktischen Wirkungsmöglichkeiten dieser Intellektuellen waren ein politischer Konstellationsfaktor und eine geistige Affinität förderlich. Der in der politischen Konstellation angelegte Faktor war, dass alle drei Europa-Protagonisten in einem vertrauensvollen Arbeitszusammenhang standen mit Carl Heinrich Becker, der in den zwanziger Jahren die meiste Zeit Preußischer Kultusminister war. 26 Das gemeinsame geistige Band der drei „kosmopolitischen“ Vordenker untereinander, aber auch in ihrem Verhältnis zu Carl Heinrich Becker, war die Aufnahme von Reformmotiven aus der Jugendbewegung und eine positive Wertschätzung geistesaristokratischer Impulse, die vom George-Kreis ausgingen. Der durch seine „Wegbereiter“-Schrift über die französische Gegenwartsliteratur in den frühen zwanziger Jahren zu öffentlichem Ansehen sowie zu einer Romanistik-Professur in Marburg/ Lahn und ab 1924 in Heidelberg gelangende Ernst Robert Curtius war in der kulturpolitischen Strategie von Kultusminister Becker vorgesehen als Schrittmacher für die auslandswissenschaftliche Reform der neusprachlichen Lehrstühle. 27 Diese Reform gehörte zu einem langgehegten Projekt des parteilosen Orientalisten Becker und sollte nach Kriegsende „eine gediegene staatswissenschaftliche Bildung in bezug auf das Ausland“ zum Ziel haben. 28 Curtius hatte Ernst Robert Curtius. Werk, Wirkung, Zukunftsperspektiven, Heidelberg 1989; Christine Jacquemart de Gemeaux: Ernst Robert Curtius (1886-1956). Origines et cheminement d’un esprit européen, Bern 1998; Hans Manfred Bock: „Die Politik des ‚Unpolitischen’. Ernst Robert Curtius’ Ort im politisch-intellektuellen Leben und in den deutschfranzösischen Beziehungen der Weimarer Republik“, in: ders.: Kulturelle Wegbereiter politischer Konfliktlösung. Mittler zwischen Deutschland und Frankreich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Tübingen 2005, p. 61-122. 25 Ernst Robert Curtius: Deutscher Geist in Gefahr, Berlin 1932, p. 47. 26 Cf. Guido Müller: Weltpolitische Bildung und akademische Reform. C.H. Beckers Wissenschafts- und Hochschulpolitik 1908-1930, Köln 1991. 27 Cf. Hans Manfred Bock: „Die Politik des ‚Unpolitischen’“, loc. cit., p. 93sqq. 28 Carl Heinrich Becker: „Die Denkschrift des Preußischen Kultusministeriums über die Förderung der Auslandsstudien“, in: Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, <?page no="105"?> 105 seit 1917 höchstes Interesse für dies Projekt bekundet und Becker schrieb ihm 1926, er habe seinerseits mit Curtius „als mit einem geistigen Stützpunkt“ in diesem Zusammenhang jederzeit gerechnet. 29 Die institutionelle Einfügung kultur- und staatswissenschaftlicher Elemente in den Lehr- und Forschungs-Plan der Romanistik gelang dann schließlich im Laufe der Weimarer Republik nur in schwachen Ansätzen. Aber ein großer Teil der wissenschaftlichen und publizistischen Bemühungen Curtius’ in den zwanziger Jahren ist nur zu verstehen aus dem Zusammenhang dieses kulturpolitischen Projekts. Er wurde mit seinen zahlreichen Beiträgen zur „Kulturkunde“, die durch die Richertsche Reform der neusprachlichen Fächer in Preußen zu einem kulturpolitischen Großprojekt aufwuchs, 30 zu einem einflussreichen Vertreter der fremdsprachendidaktischen Konzeption, derzufolge die lernende Befassung mit einer fremden Kultur im wesentlichen dazu dienen sollte, die eigene nationale Kultur tiefer zu erfassen. Bezogen auf Deutschland und Frankreich bedeutete das, ihre Kulturen als antithetisch zu erkennen gemäß dem methodischen Grundsatz: „In Frankreich ist alles ganz anders“. 31 Mit diesen Thesen, in denen nationalpädagogische und „auslandswissenschaftliche“ Wirkungsabsichten sich unauflösbar verbanden, wurde Curtius u. a. der prominenteste Stichwortgeber für die Deutsch-Französische Gesellschaft, die in ihrer Monatsschrift zwischen 1928 und 1933 ein Austragungsort der „Kulturkunde“-Debatte war. 32 In dieser bilateralen Verständigungsorganisation wurde neben der „kulturkundlichen“ vor allem eine europapolitische Diskussion geführt, in der der Europäische Zollverein stark vertreten war durch den Generalsekretär Edgar Stern-Rubarth, einen Vertrauten Gustav Stresemanns. 33 In der in der Deutsch-Französischen Rundschau vielstimmig geführten Europa- Kunst und Technik, 1917, Sp. 522. Zum Zusammenhang cf. meine Studie: „Auslandswissenschaften als politischer Auftrag und als politische Notwendigkeit. Zur Geschichte der Institutionalisierung von Auslandsstudien in Deutschland“, in: Joachim Schild (ed.): Länderforschung, Ländervergleich und Europäische Integration, Ludwigsburg 1991, p. 34-49. 29 Cf. Groupe de Recherche sur la République de Weimar (ed.): E. R. Curtius - C. H. Becker. Briefe 1910-1933, Paris o. J. Brief vom 24.2.1926. 30 Cf. Gerhard Bott: Deutsche Frankreichkunde 1900-1933. Das Selbstverständnis der Romanistik und ihr bildungspolitischer Auftrag, Rheinfelden 1982. 31 Ernst Robert Curtius: „Frankreichkunde“, in: Deutsch-Französische Rundschau, 1928, p. 25. 32 Cf. die Monographie Ina Belitz: Befreundung mit dem Fremden. Die Deutsch-Französische Gesellschaft in den deutsch-französischen Kultur- und Gesellschaftsbeziehungen der Locarno- Ära, Frankfurt/ Main 1997. 33 Zu derem Gründer in Deutschland cf. Hans Manfred Bock: „Stresemanns publizistischer Prätorianer. Zum frankreich- und europapolitischen Wirken von Edgar Stern- Rubarth in der Weimarer Republik“, in: Ingo Kolboom u.a. (ed.): Zeitgeschichten aus Deutschland, Frankreich, Europa und der Welt. Lothar Albert zu Ehren, Lage 2008, p. 67- 88. <?page no="106"?> 106 Diskussion 34 zeichnete sich eine deutliche Neigung zur Paneuropa- Bewegung ab, die Curtius’ Gunst nicht hatte. Er war (wie mehrere Heidelberger Professoren und Publizisten 35 ) ein Förderer bzw. Mitglied in zwei Europa-Organisationen jungkonservativen Zuschnitts, die beide in der Locarno-Ära gegründet wurden und die gemeinsam hatten, dass sie vorzugsweise im soziokulturellen Bereich wirksam waren: Das Deutsch- Französische Studienkomitee (auch Mayrisch-Komitee genannt) und der Europäische Kulturbund. Curtius stand seit den frühen zwanziger Jahren in geistigem Austausch mit dem informellen Kreis europäischer Intellektueller, der sich um das Schlößchen der Luxemburger Industriellen-Familie Mayrisch in Colpach herausgebildet hatte. Von diesem „petit noyau de la future Erope“ nahm die Gründung des Deutsch-Französischen Studienkomitees ihren Ausgang, 36 in dem seit 1926 eine limitierte Anzahl von Repräsentanten aus der Industrie- und Bankenwelt, der Politik und der Kultur Deutschlands und Frankreichs sich trafen, um über Themen gemeinsamen Interesses zu diskutieren. Diese Organisation war als Forum bilateraler und europäischer Elitenverständigung konzipiert gemäß den Ideen, die der junge französische Intellektuelle Pierre Viénot als Gründungsdokument formuliert hatte. 37 Viénot, der 1924 bei Curtius in Heidelberg eingeladen war und später die Tochter der Mayrisch-Familie heiratete, war bis 1930 die treibende Kraft im Organisationsleben des Studienkomitees. Ernst Robert Curtius war (gemeinsam mit Arnold Bergsträsser) Mitglied dieser elitären Vereinigung, obwohl sein geistesaristokratischer Habitus ihm jegliche Tätigkeit in Organisationen zur Qual machte. Nach seiner Überzeugung galt es, sich an die wenigen Menschen zu halten, die „zählten“, an die schöpferische Elite in Wirtschaft, Staat und Kultur. 38 Diese habituellen Merkmale des Heidelberger Romanisten erklären auch weitgehend seine Haltung zum Europäischen Kulturbund, der von Anton Prinz Rohan als Alternativ- und Konkurrenz-Bewegung zu Paneuropa ins Leben gerufen worden war. In der deutschen Sektion dieser Europa-Organisation, die 34 Cf. dazu den Ausschnitt in meinem Beitrag: „Weimarer Intellektuelle und das Projekt deutsch-französischer Gesellschaftsverflechtung“, in: Rüdiger Hohls, Hannes Siegrist (ed.): Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Wiesbaden 2005, p. 422-427. 35 Cf. Eberhard Demm: Von der Weimarer Republik zur Bundesrepublik. Der politische Weg Alfred Webers 1920-1958, Düsseldorf 1999, p. 153sqq. 36 Cf. dazu die Monographie Guido Müller: Europäische Gesellschaftsbeziehungen, op. cit., p. 81-308. Cf. dazu nunmehr auch meine Studie: „Der Colpacher Kreis als unsichtbares Netzwerk der Eliten zwischen Luxemburg und Deutschland in der Zwischenkriegszeit“ in: Galerie. Revue culturelle et pédagogique, Luxembourg 2007, Nr. 3, p. 333- 388. 37 Cf. Gaby Sonnabend: Pierre Viénot (1897-1944). Ein Intellektueller in der Politik, München 2005, p. 109sqq. 38 Hans Manfred Bock: „Die Politik des ‚Unpolitischen’“, loc., cit., p. 93sqq. <?page no="107"?> 107 1926 gegründet wurde und anfangs ihren Mittelpunkt in Heidelberg hatte, trat er nicht in den Vordergrund. Ähnlich wie im Falle der Deutsch- Französischen Gesellschaft, in deren Rundschau er durch seine Beiträge zur „Kulturkunde“ Frankreichs allgegenwärtig war, hielt er sich auch beim Europäischen Kulturbund praktisch-organisatorisch zurück, trug jedoch durch seine Beiträge in dessen Monatsschrift Europäische Revue maßgeblich bei zur Gestaltung des dort intendierten kulturellen Gipfelgesprächs der europäischen Geister. 39 Seinen Vortrag zur „Europäischen Kultur in Gefahr“ auf dem 8. Kongreß des Kulturbundes 1932 in Zürich sagte er wegen Krankheit ab. Sichtbarer und demonstrativer als Curtius stellten sich seine engsten Mitarbeiter in den Dienst des Deutsch-Französischen Studienkomitees und des Europäischen Kulturbundes. So z. B. Arnold Bergsträsser, Max Clauss und Joachim Moras, die zeitweilig organisatorische und redaktionelle Aufgaben in einer der oder in beiden Bewegungen übernahmen. 40 Sie durchmaßen den Weg ganz, den Curtius nur halb durchschritten hatte. Der Heidelberger Romanist hatte für seine „kosmopolitische“ Europa- Vorrstellung, die er in der Diskussion mit Gide und Thomas Mann 1921/ 22 umrissen hatte, einen historischen Kronzeugen gefunden im Werk des politischen Romantikers Adam Müller. Er fand dort - wie er 1922 an Carl Schmitt schrieb - : „Eine schöpferische universalistische Kritik, ein Einordnen deutschen Geistesbesitzes in europäische Humanität und Tradition. [...] Ein Versuch, zu einer Selbsterfassung des deutschen Wesens zu gelangen“. 41 Nach rund zehn Jahren, in denen Curtius bei den europäischen Gesprächen in Pontigny und Colpach und in heftigen Streitgesprächen mit französischen Germanisten den „deutschen Geistesbesitz“ offensiv zur Geltung zu bringen versucht hatte, 42 begann er, sich (und dann auch anderen) das praktische Scheitern seines nationalpädagogischen Programms jenseits von Nationalismus und Internationalismus einzugestehen. Er schrieb z. B. 1931 an André Gide er sei „terriblement las de ces questions de psychologie nationale et même de ces nationalités tellement encombran- 39 Cf. meine Studie: „Das ‚Junge Europa’, das ‚Andere Europa’ und das ‚Europa der Weißen Rasse’. Diskurstypen in der Europäischen Revue 1925-1939“, in: Michel Grunewald (ed.): Le discours européen dans les revues allemandes (1933-1939), Bern 1999, p. 311-351. 40 Cf. Guido Müller: „Der Publizist Max Clauss. Die Heidelberger Sozialwissenschaften und der Europäische Kulturbund (1924/ 5-1933)“, in: Reinhard Blomert u.a. (ed.): Heidelberger Sozial- und Staatswissenschaften. Das Institut für Sozial- und Staatswissenschaften zwischen 1918 und 1958, Marburg/ Lahn 1997, p. 369-409. 41 Rolf Nagel: „Briefe von E.R. Curtius an Carl Schmitt (1921/ 22)“, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen, 1981, p. 11. 42 Cf. dazu Katja Marmetschke: „Vernunft oder Intuition? Der Streit zwischen Edmond Vermeil und Ernst Robert Curtius in der Revue de Genève“, in: Lendemains, 2001, Nr. 103/ 104, sowie meine Darstellung: „‚Ich verzichte, Herr Curtius, ich verzichte! ’ Félix und Pierre Bertaux im Streitgespräch mit Ernst Robert Curtius“, in: Hans Manfred Bock: Kulturelle Wegbereiter, op. cit, p. 391-410. <?page no="108"?> 108 tes“. 43 Im Zuge derselben Anwandlung von Resignation und Rückzug aus der Öffentlichkeit bilanzierte er in einem Aufsatz „Geistige Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich“: „Nach mehr als einem Jahrzehnt der Diskussion über Verständigung ist so gut wie nichts erreicht worden“. 44 Wenn man weitermache, so allein aus dem Gefühl der politischen Selbstverpflichtung, aber ohne große Hoffnung. Die Ursachen für das entmutigende Ergebnis suchte er in erster Linie im Immobilismus Frankreichs, auf dessen europataugliche Erneuerung er in seinem „Wegbereiter“-Buch gesetzt hatte. Das war gewiss nur die halbe Wahrheit, denn von französischer Seite konnte man nicht ohne Berechtigung hinweisen auf den revisionistischen Pferdefuß in der von Curtius vertretenen Konzeption. Offensichtlich war sein national- und europapolitisches Lernprogramm aber vor allem durch das lärmvolle Auftreten des Neonationalismus seit 1930 in Deutschland obsolet geworden, dessen Traditions- und Bildungsfeindlichkeit er in seinem Buch „Deutscher Geist in Gefahr“ von 1932 anprangerte. 3. Werner Pichts Weg durch die internationalen Kulturinstitutionen In diesen Kontext der Bilanzen der verständigungs- und europapolitischen Hoffnungen und Bestrebungen der Locarno-Ära, die zu Beginn der dreißiger Jahre vorgelegt wurden, gehören auch zwei Schriften, welche von Autoren veröffentlicht wurden, die einen großen Teil der Wertvorstellungen aus dem Becker-Kreis mit Curtius gemeinsam hatten und die mit dem preußischen Kultusminister ebenfalls fortgesetzten Brief- und Gesprächskontakt pflegten. Diese Autoren waren Arnold Bergsträsser und Werner Picht, die Titel ihrer Schriften waren „Sinn und Grenzen der Verständigung zwischen Nationen“ (1930) bzw. „Jenseits von Pazifismus und Internationalismus“ (1932). 45 Beide Autoren hatten Staatswissenschaften bei Alfred Weber studiert; der eine, Bergsträsser, war 1924 bis 1928 Assistent bei Weber und habilitierte sich bei ihm, der andere, Picht, hatte schon vor dem Weltkrieg in Heidelberg promoviert. Alfred Weber war seit der Gründung des Europäischen Kulturbundes Vizepräsident der deutschen Sektion dieser Europa-Bewegung und er pflegte freundschaftlichen Um- 43 Herbert und Jane Dieckmann (ed.): Deutsch-französische Gespräche, op. cit., p. 112. 44 Ernst Robert Curtius: „Geistige Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich“, in: Inter Nationes, 1931, p. 10. 45 Erschienen bei Duncker und Humblot, München, bzw. Verlag Georg D.W. Callwey, München. <?page no="109"?> 109 gang mit seinem Heidelberger Kollegen Ernst Robert Curtius. 46 1927 hielt er auf dem Kulturbund-Kongress in Wien den Leitvortrag „Das zeitgenössische Deutschland und seine Aufgabe in Europa“. Dort schrieb er der kommenden Jugend eine Motivation zu, die grosso modo auch auf seine jüngeren Mitarbeiter zutraf: Diese seien „Idealisten ganz ohne Pathos, Realisten aus dem Bewußtsein der Erdverbundenheit und doch frei vom Nur- Technischen des einseitigen Realismus, national bis in die Knochen und doch bewußt hinausstrebend aus der bisherigen Enge“. Sie sollten eine „neue Noblesse zwischen den Völkern“ herbeiführen. 47 Elemente dieser Qualitätszuschreibung findet man tatsächlich im Leben und Denken von Arnold Bergsträsser und Werner Picht in diesen Jahren, und zwar insbesondere in ihrer Tätigkeit im Bereich des internationalen Akademiker- Austauschs, in dem beide eine Pionierrolle spielten. 48 In diesem Tätigkeitsfeld verbanden sich Carl Heinrich Beckers Ideen zur allgemeinen Volksbildung und zur besonderen Auslandsbildung und sie waren die Grundlage für das „realistische“ praktische Wirken der beiden Alfred-Weber-Schüler im Sinne einer Synthese von National- und Europa-Bewusstsein. In Arnold Bergsträssers Sozialisation waren wirksam die Erfahrung der Jugendbewegung und des Weltkrieges sowie die Verehrung Stefan Georges und die Auffassung von „existentieller Wissenschaft“, wie sie von seinem Lehrer Alfred Weber vertreten wurde. 49 Der so entstandene intellektuelle Habitus wurde von Bergsträsser mit Emphase zum Ausdruck gebracht auf dem 3. Kongress des Europäischen Kulturbundes in Wien, wo er ausführte: Kein anderer Weg als „der des gegenwärtigen geistigen Austrags des Nationalen in seiner ganzen Fülle und Schwere“ könne zur europäischen Einigung führen. Für ihn war „Europa zur Realität zuerst durch den Krieg“ geworden und die „Idee der Nation [war] vielleicht die am tiefsten europäische aller Ideen Europas“; sie schien ihm geeignet, „die gestalthafte Einheit unseres abendländischen Kontinents sich herausbilden zu lassen“. 50 Bergsträsser war eng befreundet mit Pierre Viénot, dem Architekten des Deutsch-Französischen Studienkomitees und Mitglied des 46 Reinhard Blomert: Intellektuelle im Aufbruch. Karl Mannheim, Alfred Weber, Norbert Elias und die Heidelberger Sozialwissenschaften der Zwischenkriegszeit, München 1999, p. 280sqq. 47 Zitiert nach Guido Müller: Europäische Gesellschaftsbeziehungen, op. cit., p. 375. 48 Cf. Volkhard Laitenberger: „Der DAAD von seinen Anfängen bis 1945“, in: Peter Alter (ed.): Der DAAD in seiner Zeit. Geschichte und zukünftige Aufgaben. Vierzehn Essays, Bd. 1, Bonn 2000, p. 22sq. 49 Horst Schmitt: „Existentielle Wissenschaft und Synopse. Zum Wissenschafts- und Methodenbegriff des ‚jungen’ Arnold Bergsträsser (1923-1936)“, in: Politische Vierteljahresschrift, 1989, p. 466-481, ders.: „Ein ‚typischer Heidelberger im Guten wie im Gefährlichen’. Arnold Bergsträsser und die Ruperto Carola 1923-1936“, in: Reinhard Blomert: Heidelberger Sozial- und Staatswissenschaften, op. cit., p. 167-196. 50 Zitiert nach Guido Müller: Europäische Gesellschaftsbeziehungen, op. cit., p. 378. <?page no="110"?> 110 Europäischen Kulturbundes, und er führte seinen französischen Freund mit einem enthusiastischen Brief beim Preußischen Kultusminister ein. 51 Er baute unter der Aufsicht Alfred Webers 52 in Heidelberg ab Mai 1924 die Staatswissenschaftliche Austauschstelle beim Institut für Sozial- und Staatswissenschaften auf, die im November 1924 hauptamtlich von Werner Picht übernommen wurde. Über die Anfang 1925 erfolgende Umbenennung dieser Einrichtung in Akademischer Austauschdienst e.V. und dessen Transfer nach Berlin am 1. Oktober 1925 wurde sie zur Keimzelle des Akademischen Austauschdienstes auf Reichsebene, der zum Jahresbeginn 1931 gegründet wurde. Vor diesem Erfahrungshintergrund verfasste Bergsträsser seine Bilanzschrift von 1930 über „Sinn und Grenzen der Verständigung zwischen Nationen“, die von einem führenden Mitglied der Deutsch-Französischen Gesellschaft gelegentlich als eine Art Programmschrift seiner Verständigungsorganisation bezeichnet wurde. 53 Die Abhandlung Bergsträssers war im Stil eines wissenschaftlichen Essays verfasst und systematisch angelegt: Die Vorstellungen zur transnationalen Verständigung wurden zusammengefasst und erörtert für die Bereiche der Politik, der Wirtschaft und der Kultur. Die durch diese Interaktionsfelder hindurchlaufende Argumentation war basiert auf der Zurückweisung der pazifistisch-internationalistischen Verständigungsphilosophie 54 und der prinzipiellen Anerkennung der Verständigungsidee als „neue Form zwischenstaatlicher Politik nach dem Kriege“ unter der Voraussetzung, dass sie Mittel bleibe und nicht Selbstzweck werde. In der Paneuropa-Bewegung, im proletarischen Internationalismus und im Pazifismus kritisierte er genau diese Hypostasierung des Verständigungsgedankens, der in einer rationalistischen und abstrakten Denkweise wurzele. Diese verkenne die im Irrationalen liegende Integrationskraft des Nationalen, die einstweilen noch ungebrochen sei und realistischer Weise in die Gegenwartsdiagnose einbezogen werden müsse: „Das Nationale hat seine selbstverständliche Bedeutung nicht allein wegen der unangetastet nationalstaatlich gebliebenen Ordnung der modernen Staatenwelt bewahrt. Im Irrationalen wurzelnd wirkt es als Erhalter jener Kräfte, aus denen der abendländischen Welt ihr höchstes Gut erwachsen ist, aus denen ihre Größe stammt.“ 55 Im ökonomischen Bereich, den er am Beispiel der internationalen Handelsverträge, der Kartellbildungen und des Kapitaltransfers 51 Korrespondenz Carl Heinrich Becker im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin. 52 Eberhard Demm: Von der Weimarer Republik, op. cit., p. 124sqq. 53 Alexander Gutfeld: „Sinn und Grenzen der Verständigung zwischen Nationen. Anläßlich eines Buches von Arnold Bergsträsser“, in: Deutsch-Französische Rundschau, 1930, p. 381. 54 Arnold Bergsträsser: Sinn und Grenzen, op. cit., bes. p. 23sqq. mit Bezug auf die Ligue des droits de l’homme. 55 Ibid., p. 91. <?page no="111"?> 111 darstellte, schien Bergsträsser die Gefahr gering, dass der Verständigungsgedanke dem nationalen Gedanken übergeordnet würde. Im kulturellen Leben hingegen schien ihm diese Gefahr am größten. Hier vertrat er fast wörtlich die „kosmopolitische“ Europa-Auffassung Curtius’, wenn er die gelingende „kulturelle Begegnung“ zwischen Spitzenvertretern der nationalen Kulturen so beschrieb: „Es tritt jene Berührung ein, die in Goethes Sinne eine weltbürgerliche ist und nichts anderes besagt, als dass die höchsten Gebilde nationalen Ursprungs zugleich gültig werden für die ganze abendländische Welt. Aber auch dies geschieht nur vermöge einer Unbeugsamkeit des geistigen Wuchses, der auch die Berührung mit dem Fremden den Gesetzen der eigenen Erfüllung unterworfen bleibt.“ 56 Genau diese Einschränkung der „Unbeugsamkeit“ des nationalen „geistigen Wuchses“ war dem Heidelberger Sozialwissenschaftler dann auch das oberste Kriterium für den internationalen Akademiker-Austausch. Dessen interpersonales Gelingen („Verstehen“) höher einschätzend als die institutionellen Bemühungen um seine Ermöglichung, paraphrasierte er die Kernidee der „kulturkundlichen“ Nationalpädagogik, wie sie Curtius vertrat: „Sie [die kulturelle Auseinandersetzung] stellt an denjenigen, der eine fremde Kultur zu verstehen unternimmt, die Forderung, in diesem Vorgang der Begegnung den Reiz des Fremden ganz zu empfinden und von ihm zu lernen, ohne sich aber daran zu verlieren, und die weitere Forderung, den eigentlichen Gewinn dieser Begegnung in der stärkeren Erfüllung des eigenen Wesens zu suchen, dessen Kräfte durch eine allzu leichte Annahme ursprünglich fremder Elemente an der Entfaltung gehemmt werden.“ 57 Diese vollkommene Übereinstimmung in den kulturkundlichen Grundsätzen lag dem gemeinsamen Frankreich-Werk von Curtius und Bergsträsser 58 zugrunde, an dem sie gemeinsam seit 1926 arbeiteten und von dem Curtius in der Korrespondenz mit Gide sagte, es sei vor allem als didaktische Unternehmung aufzufassen. 59 Während Curtius sich zu Beginn der dreißiger Jahre von der tumultuarischen Öffentlichkeit abzuwenden begann und die „kosmopolitische" Europa-Konzeption politikfern in der Topos-Forschung auf seinem ureigensten literaturwissenschaftlichen Felde weiterbearbeitete, stürzte sich Bergsträsser in das politische Getümmel dieser letzten Jahre der Weimarer Republik 60 und spielte hochschulpolitisch in der Heidelberger „Affäre Gumbel" eine Rolle, die ebenso von seinem 56 Ibid., p. 90. 57 Ibid., p. 75. 58 Emst Robert Curtius: Die französische Kultur. Eine Einführung, Berlin/ Leipzig 1930; Arnold Bergsträsser: Staat und Wirtschaft Frankreichs, Berlin/ Leipzig 1930. 59 Herbert und Jane Dieckmann (ed.): Deutsch-französische Gespräche, op. cit., p. 112, Brief vom 8.2.1931. 60 Cf. Reinhard Blomert: Intellektuelle im Aufbruch, op. cit., p. 301sqq. <?page no="112"?> 112 nationalen Empfinden wie von seiner Aversion gegen den Pazifismus bestimmt wurde. 61 Werner Picht war nicht nur Augen- und Ohrenzeuge der verständigungs- und europapolitischen Bewegungen und Denkansätze der Locarno- Ära, sondern er war selbst einer ihrer Protagonisten. Seine Sozialisation war teilweise von denselben Umständen und Erfahrungen geprägt (bürgerliches Elternhaus, Heidelberger Universität, Weltkrieg, preußisches Kultusministerium, internationaler akademischer Austausch, George- Verehrung und Kulturpolitik) wie die von Bergsträsser; teilweise waren dort aber Motive wirksam, die als sehr spezifisch gelten müssen und seinem Denken und Handeln ein eigenes Profil gaben. Dazu gehörten insbesondere seine spezifische Kompetenz und sein besonderes Interesse für die Volksbildung und seine England-Erfahrungen, die beide im Zusammenhang mit seiner Doktorarbeit entstanden waren. 62 Dazu gehörte aber auch ein ausgeprägtes religiöses Interesse, das nicht zuletzt aufgrund der Freundschaft seiner Frau mit Albert Schweitzer geweckt wurde. 63 Nach Kriegsende wurde Picht Referent im preußischen Kultusministerium, wo 1919 ein Referat für Volksbildung eingerichtet wurde. Er verfasste dort mehrere Denkschriften zu Problemen der Volkshochschule und der Erwachsenenbildung. 64 Er gehörte zum Hohenrodter Bund, der sich ab 1923 zusammenschloss als sogenannte „neue Richtung“ in der Erwachsenenbildungs-Bewegung, die im Gegensatz zu den entsprechenden Vorkriegsbemühungen nicht mehr vorrangig versuchte, die ungebildeten Massen an die bürgerliche Kultur heranzuführen, sondern in der Krisensituation nach 1918 die Priorität auf deren sozial- und nationalpädagogische Integration legte. 65 Nachdem der schreibfreudige Bildungspolitiker 1923 ein Buch über das Gegenwarts-England veröffentlicht hatte, 66 wurde er Ende 1924 mit der Leitung der Heidelberger Akademischen Austauschstelle beauftragt, die er dann in ihrem neuen Sitz im Berliner Stadtschloss weiterhin leitete, bis er 1927 an das Institut International de Coopération Intellectuelle in Paris berufen wurde. 61 Cf. dazu Christian Jansen: Emil Julius Gumbel. Porträt eines Zivilisten, Heidelberg 1991, Klaus-Dieter Krohn: „Der Fall Bergsträsser in Amerika“, in: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, 1986, p. 254-275. 62 Werner Picht: Toynbee Hall und die Englische Settlement-Bewegung. Ein Beitrag zur Geschichte der Sozialen Bewegung in England, Tübingen 1913. 63 Er widmete ihm sein letztes großes Buch: Werner Picht: Albert Schweitzer. Wesen und Bedeutung, Hamburg 1960. 64 Werner Picht: Die deutsche Volkshochschule der Zukunft. Eine Denkschrift, Leipzig 1919; ders.: Universitätsausdehnung und Volkshochschul-Bewegung in England, Tübingen 1919; ders., Eugen Rosenstock: Im Kampf um die Erwachsenenbildung, Leipzig 1926. 65 Zur Geschichte des Hohenrodter Bundes s. Werner Picht: Das Schicksal der Volksbildung in Deutschland, Braunschweig 1950, bes. p. 53sqq.; das Buch ist seinem Mitstreiter Eugen Rosenstock (-Huessy) gewidmet. 66 Werner Picht: England nach dem Kriege. Reisebetrachtungen, Kempten 1923. <?page no="113"?> 113 Picht verstand seine Rolle auf diesem neuen internationalen Parkett allen Anzeichen nach ganz gemäß den Grundsätzen der „kosmopolitischen“ Europa-Idee jenseits von Internationalismus und Nationalismus; er spielte sie auch mit dem Gestus des „Realisten“, der mit zu hochfliegenden Deklarationen und Zielen nichts im Sinne haben wollte. Das wird sehr deutlich in dem ersten Bericht, den er im November 1927 aus Paris an Kultusminister Becker nach Berlin sandte. Dort geht er von der prinzipiellen Anerkennung der Verständigungsidee aus: „Es wird von der Voraussetzung ausgegangen, dass das heutige Maß des Kontakts zwischen Deutschland und Frankreich, der gegenseitigen Kenntnis, Anerkennung und Zusammenarbeit im nationalen wie übernationalen Interesse eine Steigerung erfahren müsse, und dass dazu in gewissen Grenzen auch die objektiven Voraussetzungen gegeben seien, ein Kräfteeinsatz im Sinne deutsch-französischer Verständigung also nicht aussichtslos sei.“ 67 Der Leiter der Hochschulabteilung im Palais Royal konstatiert aber, die Zeit der großen, von einzelnen Intellektuellen vollführten Versöhnungsgesten aus der Pionierzeit der ersten Nachkriegsjahre sei vorbei und er bezieht sich dabei namentlich auf die Paris-Besuche von Thomas Mann, Fritz von Unruh, Alfred Kerr und anderen: „Die Wiederholung der versöhnenden Worte, ob sie nun gut oder schlecht gesagt worden sind, wäre heute wirkungslos. Der Intellektuelle - ob als Professor oder Dichter - hat als Ideologe nicht mehr das Wort.“ 68 Auf dieser Ebene sei das Mögliche getan worden und an der Zeit sei nun - in der Locarno-Ära - die Verständigungsarbeit auf der Grundlage der „Interessensolidarität“ beider Nationen. Die Beispiele, die Werner Picht anführt, gleichen einer Bestandsaufnahme der damals zustande gekommenen Verständigungsagenturen (die hier bereits in ihrer bilateralen oder europäischen Version dargestellt wurden). Er zählt auf: „Die Industriellenkonferenz, der Kongress der Fachgelehrten, das Studium von Deutschen in Frankreich und umgekehrt, die nüchterne gegenseitige Orientierungsarbeit (Entgiftung der Presse), die gegenseitige Vorführung lebendiger und repräsentativer Kulturleistungen, mit einem Wort die Begegnungen in Werk und Wirklichkeit sind heute die einzig aussichtsreichen Gelegenheiten zur Entwicklung der deutsch-französischen Beziehungen. Sie sollten auf jede Weise gefördert werden.“ 69 Er wollte als Voraussetzung allerdings zwei kulturpolitische Prinzipien gewahrt sehen: das Prinzip der Gegenseitigkeit des Austauschs und den Grundsatz der Anerkennung der nationalen Würde Deutschlands von französischer Seite. 67 Werner Picht: „Das Ergebnis meiner bisherigen Erfahrungen in Paris unter dem Gesichtspunkt deutscher kulturpolitischer Wirkungsmöglichkeit“, Ms. 11 p. adressiert an den Herrn Staatsminister Prof. Dr. C.H. Becker, Kultusministerium Berlin, in: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz; den Hinweis auf dies Dokument verdanke ich Frau Katja Marmetschke, Kassel. Zitat hier p. 1. 68 Ibid., p. 2. 69 Ibid., p. 3. <?page no="114"?> 114 Nach seinen Eindrücken im ersten halben Jahr seiner Pariser Tätigkeit erfüllte das Internationale Institut für geistige Zusammenarbeit 70 sehr wohl diese Bedingungen der Gleichberechtigung der dort vertretenen Nationen und es stellte überdies einen Ort der sachlichen Zusammenarbeit dar: Es basierte „in der Tat auf dem Bestreben, Angehörige verschiedener Nationen in sachlicher Arbeit zu vereinigen. Wenn zwei sich auf diesem Boden begegnen, wissen sie, dass gemeinsame Interessen ihres geistigen Berufs sie zusammengeführt haben. Damit ist eine gesunde Luft gegeben und ein Wirkungsradius bis weit in [das] nationalistische Lager hinein.“ 71 Pichts Kritik an dem Institut bezog sich darauf, dass das für die Institution konstitutive Neutralitätsgebot sich in der Praxis lähmend auswirke: „Diese Neutralität nun sucht man zu sichern durch das Opfer nicht nur jeder kulturpolitischen Ideologie, sondern jeder Ideologie überhaupt, ja jedes eigenen Gedankens. Darin liegt die Schwäche des Instituts.“ 72 Auch die Kontrolle seiner Aktivitäten durch die zuständigen Genfer Völkerbund-Kommissionen minderte nach seinen ersten Eindrücken die Wirksamkeit der Instituts- Arbeit. Es war also eine durchaus immanente und keine grundsätzliche Kritik, die der deutsche Vertreter im IIGZ (der Vorläuferorganisation der UNESCO) da an seinen Dienstherren in Berlin mitteilte. Er bekräftigt diese positive Würdigung: „Ich halte daher die Zukunft des Instituts für keineswegs aussichtslos. In Teilleistungen ist es schon heute fraglos nützlich. Aber auch abgesehen von seinem Programm, ja in gewissem Sinne trotz dessen, ist es ein Mitelpunkt für Einflüsse und Einflussmöglichkeiten, weshalb eine konsquente Beteiligung Deutschlands im vollen Umfange der Beteiligung anderer Staaten (nationales Komitee, Subventionierung) geboten erscheint.“ 73 Während Curtius zu Beginn der dreißiger Jahre auch diese institutionellen Verständigungsbemühungen abtat mit dem Diktum, dort entständen „Dissertationen“, aber keine „Aktionen“ 74 und auch Bergsträsser mit Bezug auf das IIGZ den Vorbehalt anmeldete, dass dort die Auswahl der Programm-Teilnehmer zu diffus sei, 75 hielt Picht auch 1932 noch an dem Glauben an die positiven verständigungspolitischen Möglichkeiten seiner Institution fest. Er hielt namentlich Curtius’ These, dass in dieser 70 Zu dessen Arbeit cf. auch die Skizze von Pichts deutscher Kollegin am IIGZ Margarethe Rothbarth: „Institut für geistige Zusammenarbeit“, in: Europäische Revue, 1928, p. 485-487 und Gertrud Bäumer: Europäische Kulturpolitik, Berlin 1926, p. 40-51. 71 Werner Picht: „Das Ergebnis meiner bisherigen Erfahrungen“, op. cit., p. 4. 72 Ibid., p. 5. 73 Ibid., p. 11. 74 Ernst Robert Curtius: „Geistige Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich“, in: Inter Nationes. Zeitschrift für die kulturellen Beziehungen Deutschlands zum Ausland, 1931, Nr. 1, p. 10-12. 75 Arnold Bergsträsser: Sinn und Grenzen, op. cit., p. 70. <?page no="115"?> 115 Hinsicht so gut wie nichts erreicht worden sei, für „doch wohl zu skeptisch.“ 76 Nach rund fünf Jahren Tätigkeit im Pariser IIGZ veröffentlichte Werner Picht seine Bilanzierungsschrift zur Entwicklung der bilateralen und europäischen Verständigungsbewegung der Locarno-Ära, in der er die doppelte Frontstellung gegen Pazifismus bzw. Internationalismus und Nationalismus in den Titel stellte. Der als Beitrag zur Zeitdiagnose angelegte Buchessay, der im Dezember 1932 von Friedrich Sieburg in der Frankfurter Zeitung rezensiert wurde, bezog sich explizit auf Curtius’ und Bergsträssers Bilanzen der Locarno-Ära und war mit begrifflichen und bildsprachlichen Anleihen bei Max Scheler und den Autoren des George-Kreises angereichert. Die gesamte Argumentation des Buches stand unter dem Eindruck des „Jung-Nationalismus“, dem ein ganzes Kapitel gewidmet wurde und dessen Kritik ohne Einlassung auf die „Ebene des Parteienkampfes“ und ohne Rekurs auf „alle Ismen“ 77 unternommen werden sollte. Picht versuchte nachzuweisen, dass der Neonationalismus nach Art des „Tat“-Kreises jeglicher soziologischen und geistesgeschichtlichen Grundlage entbehrte und entsprechend substanzlos war. Wie bei Curtius war hier die Grundlage der Kritik die „Geist“- und Traditionslosigkeit des Neonationalismus, der die nationale Idee gleichsam naiv und voraussetzungslos zu erneuern vorgab. Einen solchen Rückfall in den naiven Nationalismus konnte es gemäß Picht nicht geben: „Mit dem Verschwinden des Bourgeois, mit der Überwindung der ,wesensmäßig’ mit dem Nationalismus zusammengehörigen Erscheinungen des ökonomischen Individualismus und des kapitalistischen Geistes (Scheler) hat auch die Sterbestunde des Nationalismus geschlagen, da damit wesentliche seiner Voraussetzungen entfallen. - Man wird das Vaterland, dieses teuerste Erbe des nationalistischen Zeitalters, nicht weniger lieben. Die Nation wird auf absehbare Zeit der Nenner der politischen und wirtschaftlichen, ja weitgehend auch der kulturellen Kräfte bleiben. Aber die auf längere Sicht trotz täuschender aktueller Gegenbewegungen mit Sicherheit zu erwartende Schwerpunktverschiebung zu Ungunsten des nationalen Gedankens wird eine dauernde sein.“ 78 Angesichts dieser neuen Lage der Nachkriegszeit erschien es dem deutschen Vertreter im IIGZ die Hauptaufgabe der Intellektuellen und der Politiker, eine „Renaissance des Nationalgefühls“ auf der geistigen Höhe dieser soziologischen Erkenntnisse einzuleiten. Es werde „skeptischer“ sein, „von geminderter innerer Tragfähigkeit, weniger imstande, die Forderung letzten Einsatzes zu rechtfertigen, und sich als Daseins- und Selbstzweck auszugeben“ im Vergleich mit dem klassischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts. Das so beschaffene Nationalgefühl mache die zu lösende 76 Werner Picht: Jenseits von Pazifismus und Internationalismus, op. cit., p. 70. 77 Ibid., p. 9 und p. 194. 78 Ibid., p. 44sq. <?page no="116"?> 116 Aufgabe nicht leichter, müsse aber redlicher Weise akzeptiert werden: „Dass dies Erbe ein so problematisches ist, dass dieser Nachkriegstrieb geknickt ist, ist unsere Schwäche und bezeichnet die Schwierigkeit der Aufgabe, die es zu lösen gilt: die Schaffung einer Synthese von National- und Weltgefühl, von Patriotismus und Weltgewissen. - Hierbei aber kommt der auf der geistigen Ebene als notwendig erkannten Entwicklung der Zwang der aktuellsten politischen Notwendigkeit entgegen: nur wenn innerhalb der kurzen noch gewährten Frist dem sacro egoismo des Nationalismus die Gloriole vom Haupt gerissen wird, wenn die Erkenntnis für das politische Handeln Gewicht erhält, dass in der heutigen Welt eine bedingungslose Verfolgung der vermeinten eigenen Interessen selbstmörderisch ist, das heißt wenn sich nationale und übernationale Gesichtspunkte zur Harmonie verbinden und man auch im Völkerleben das Ich und das Du als Teile einer erhabenen Einheit begreifen lernt, die ihr Existenzrecht hat und ihren Eigenwert aus ihrem Verhältnis zu jenem übergeordneten Ganzen ableiten - nur dann ist eine Überwindung der politischen Krise der Gegenwart denkbar.“ 79 Picht nannte diese Variante des „kosmopolitischen" Denkens gerne einen „welthaltigen Patriotismus“. Er war die Basis seiner Kritik am Neonationalismus. In der Diskussion des Pazifismus bediente sich der Autor der meisten kritischen Argumente, die auch bei Thomas Mann, Curtius und Bergsträsser herangezogen wurden (Rationalismus, Abstraktheit, Universalismus), erweiterte dieses Repertoir jedoch um einige Beobachtungen aus der eigenen Wahrnehmung. So beispielsweise die festgestellte Tatsache, dass der Pazifismus mittlerweile zum beliebigen Rechtfertigungsargument von Politikern geworden sei und dass sein Vertrauen in die Wirksamkeit von Aufklärung das erstrebte Ziel der Friedenssicherung nicht zu gewährleisten vermochte: Die Konsequenz sei „die Flut der Kongresse, Vorträge, Flugschriften, die den Weg der Friedensbewegung bezeichnen, die Bemühung, Einfluß auf die Schule zu erringen und, last not least, der ganze Komplex der Bestrebungen, die man unter dem Begriff des ‚Kulturpazifismus’ (Scheler) zusammenfassen kann und die sich von einem Zusammenschluß der Intelligenzen, einer kulturellen Berührung mit potentiellen Feindvölkern eine Sicherung des Friedens versprechen.“ 80 Auf diese Weise sei (namentlich durch das Völkerbundsinstitut für geistige Zusammenarbeit) viel erreicht worden, was „man sich aus dem internationalen Geistesleben nicht mehr wegdenken möchte“, 81 aber es wäre eine Illusion zu glauben, dass man damit über eine wirksame Waffe gegen den Krieg verfüge. Unter anderem deswegen, weil es unrealistisch sei zu verkennen, dass die Opferbereitschaft der jungen Geisteselite immer wieder zur Be- 79 Ibid., p. 54sq. 80 Ibid., p. 139. 81 Ibid. <?page no="117"?> 117 währung in der Gefahr für Leib und Leben dränge: „Und immer wieder werden die adligen Instinkte eine neue Jugend dazu treiben, ihr Leben in die Schanze zu schlagen in der geheimen Sehnsucht nach der Weihe des Opfers. Ein Pazifismus, der diesen Trieb nicht versteht und einbezieht, wird nie die Besten gewinnen, denen ,Sicherheit’, ,Wohlsein’, ja ,Glück’ als Preis ihres Einsatzes stets nur Gegenstand der Verachtung sein kann. Einer solchen Haltung gegenüber versagen die pazifistischen Moral- und Gesittungsargumente.“ 82 Picht entwickelte diese Überlegungen Ende der dreißiger Jahre weiter zu seiner zeitdiagnostischen These, dass der „soldatische Mensch“ die Erfüllung der Identitätssuche der Deutschen sei 83 : „Im soldatischen Menschen hat der Deutsche zu sich heimgefunden.“ 84 Andererseits vertrat er 1932 in der Auseinandersetzung mit dem Pazifismus ansatzweise eine christliche Gegenposition, wenn er folgende Perspektive andeutete: „Der Weg über ihn hinaus führt für den wirklichkeitsgebundenen, für den der Schöpfungsgesetze bewussten Geist nicht zur Menschheit, sondern zum Menschen. Der heilige Pakt des Ewigen Friedens bedarf so vieler Unterschriften, als es Menschen gibt. Er wird unterzeichnet, wo immer zwei Mensehen sich als Brüder erkennen und so das Millennium in unserer Mitte verwirklichen.“ 85 Ging Werner Picht mit dieser religiösen Orientierung einen teilweise anderen Weg als die Vertreter des „kosmopolitischen“ Denkens in seinem Bekanntenkreis, so folgte er in den Überlegungen zum interkulturellen Lernen ganz eindeutig den einschlägigen Thesen von Arnold Bergsträsser. Mit ausdrücklichem Bezug auf dessen „Verständigungs“-Schrift 86 schloss er sich seinen Ausführungen über „Verstehen“ und „Verständigung“ an; insbesondere aber war auch für ihn die kulturelitäre Prämisse ausschlaggebend, dass nur diejenigen den Aufgaben der interkulturellen Kommunikation gewachsen waren, die bereits nationalkulturell gefestigt waren und nicht Gefahr liefen, sich an die Fremdkultur zu verlieren: „Außer [der] Gabe des intuitiven Schauens aber setzt das Verstehen einer fremden Nation eine innere Haltung voraus, die nicht weniger selten ist: die Bereitschaft, sich in das Erlebnis, um das es hier geht, hineinzugeben, sich zu riskieren. Dazu muss zunächst einmal etwas da sein, das sich riskieren lässt. Die Naturen ohne eigene Substanz, ohne Verwurzelung in einem mütterlichen Boden, die gerade infolge ihrer Wesenslosigkeit leicht und ohne Hemmung sich in fremde Formen einfließen 82 Ibid., p. 144. 83 Werner Picht: Der soldatische Mensch, Berlin 1940; er grenzte diesen neuen Zivilisationstypus ab gegen die Figur des „Kriegers“ und des „Kämpfers“; cf. dazu Werner Picht: Die Wandlungen des Kämpfers, Berlin 1938. 84 Werner Picht: Der soldatische Mensch, op. cit., p. 66. 85 Werner Picht: Jenseits von Pazifismus und Internationalismus, op. cit., p. 57; Cf. dazu auch Werner Picht: Die Frucht des Leidens, Berlin 1920. 86 Werner Picht: Jenseits von Pazifismus und Internationalismus, op. cit., p. 197. <?page no="118"?> 118 lassen können, die Erfühler und Anempfinder ohne Standort und Heimat haben wohl gelegentlich das Inventar unserer psychologischen Kenntnisse erweitert, aber noch nie Wesentliches zur Überbrückung der Grenzen geleistet. Denn der Preis, ohne den es auch hier nicht abgeht: das Opfer ist ihnen versagt. Sie haben ja nichts auf den Scheiterhaufen zu legen.“ 87 Zur Bewältigung dieser Aufgabe bedürfe es derer, „die für die anderen das vollbringen, wessen die Masse nicht fähig ist. Damit ist die Rolle der Mittler inter nationes bezeichnet, der Einzelnen, um die allein es sich hier handeln kann. Denn das dürfte sich aus dem bisher Gesagten von selbst ergeben: diese Aufgabe taugt nur für wenige.“ 88 Man muss annehmen, dass diese „geistesaristokratische“ Grundhaltung die praktische Arbeit Werner Pichts in Paris bestimmte. Er gab darüber öffentlich Rechenschaft in dem Berliner Organ für akademischen Austausch „Inter Nationes“, das u.a. von C.H. Becker herausgegeben wurde und wo auch E.R. Curtius seinen Bilanzartikel über „Geistige Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich“ veröffentlicht hatte. In dem Aufsatz ließ Picht eine gewisse Irritation darüber durchklingen, dass die Arbeit seiner Institution in der größeren Öffentlichkeit nicht angemessen gewürdigt wurde. Man halte dem IIGZ vor, es stehe als bürokratische Einrichtung „neben der Zeit und neben dem Leben“: „der geistigen Krise müsse mit anderen als mit bürokratischen und organisatorischen Methoden entgegengewirkt werden.“ 89 Picht verteidigte Ende 1931 sein Institut gegen diese Vorwürfe, indem er anhand der fünf Sekretariate 90 nachzuweisen versuchte, dass deren Programme zwar organisatorischer Natur seien, „was aber nicht hindert, darauf bedacht zu sein, dass auf diesem Wege dem Leben, das ja seine Gehäuse und Kanäle braucht, gedient wird.“ 91 Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme und dem Rückzug aus dem Völkerbund nutzte Picht die „dem neuen Regime verdankte Arbeitslosigkeit“, um die Geschichte der Volksbildungsbewegung zu schreiben, deren Verbreitung verboten wurde. 92 Sein Buch und diejenigen von René König, Sabine Lepsius u.a., die im Berliner 87 Ibid., p. 21. 88 Ibid., p. 23. 89 Wemer Picht: „Völkerbund und Universität“, in: Inter Nationes, 1931, Heft 4, p. 95. 90 Es waren (in der Reihenfolge ihrer Bedeutung) das Sekretariat für die Institute für Politikwissenschaft, für die nationalen Universitätsbüros, für die Komitees internationaler studentischen Organisationen, für die Institutionen zur Unterstützung ausländischer Studenten und für das Komitee für intemationalen Schülerbriefwechsel. Cf. ibid., p. 95sq. 91 Ibid. 92 Werner Picht: Das Schicksal der Volksbildung in Deutschland, op. cit., p. 9. <?page no="119"?> 119 Verlag Die Runde 93 erschienen, galten den nationalsozialistischen Zensoren 1936 für unerwünscht, da „vom Standpunkt der NSDAP abzulehnen“. 94 Die hier im Europa-Diskurs der Locarno-Ära anhand einiger Intellektuellen-Biographien nachgewiesenen Reflexionen zum Verhältnis von nationaler und übernationaler Identität, die aufeinander Bezug nahmen, aber in unterschiedliche Handlungs- und Verhaltensmuster einmündeten, sind historische Zeugnisse, die als solche Beachtung verdienen. Sie waren auf intellektuellengeschichtlichen Grundlagen entstanden (Jugendbewegung und George-Kult), die von heute aus gesehen schwierig nachvollziehbar sind und keinen Anspruch mehr auf Gültigkeit erheben können. Sie waren politisch an die Konstellation der Weimarer Republik und der in ihr möglichen praktischen Kultur- und Bildungspolitik gebunden und wurden mit ihr obsolet. Dies umso mehr, weil der Gebrauch und Mißbrauch, den der Nationalsozialismus von den Ordnungsbegriffen Nation und Europa ab 1933 machte, aus der heutigen Perspektive sich zwischen die Vorstellungen von einem „kosmopolitischen“ Nationalbewußtsein und die gegenwärtige Europa-Diskussion schiebt. Für das aktuelle Nachdenken über den Fortgang der europäischen Integration ist gleichwohl von Interesse die in der Locarno-Ära präzise formulierte Frage des Verhältnisses zwischen nationaler und übernationaler Identität. Diese Frage ist von zeitübergreifender Aktualität, bedarf allerdings der Übertragung in die gegenwärtige politische Konstellation und der Neuformulierung gemäß den Kategorien und Standards des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes. Mit größter Wahrscheinlichkeit wird Robert Picht in den vorausgegangen Fallbeispielen viele Fragen wiederkennen, die sich ihm in ähnlicher Form (aber in anderer politischer Wirkungsabsicht) in seiner Tätigkeit als zwischennationaler Mittler stellten. Er widmete - wie sein Großvater -„beste Jahre seines Lebens für die geistige Grenzüberschreitung“, 95 wurde aber in einer politischen Konstellation sozialisiert, in der die Hypostasierung des Nationalen durch die herostratische Politik der Nationalsozialisten und die deutsche Teilung in die politische Randständigkeit abgedrängt wurde. Dieser Sozialisationshintergrund war uns gemeinsam, als wir uns in Paris als DAAD-Lektoren Ende der sechziger Jahre kennenlernten. In der gemeinsamen Arbeit für ein „Deutschlandkunde“-Programm (später in Ludwigsburg für ein frankreichbezogenes Lernprogramm) 96 traten viele 93 Der Verlag versammelte in seinem Programm Anhänger des George-Kreises und der bündischen Jugendbewegung. Cf. dazu Rainer Kolk: Literarische Gruppenbildung. Am Beispiel des George-Kreises 1980-1945, Tübingen 1998, p. 495sq. 94 Bericht der Parteiamtlichen Prüfungskommission zum Schutze des NS-Schrifttums, zitiert in Rainer Kolk, op. cit., p. 495. 95 Werner Picht: Jenseits von Pazifismus und Internationalismus, op. cit., p. 184. 96 Cf. Robert Picht (ed.): Deutschlandstudien 1. Kommentierte Bibliographie. Deutschland nach 1945, Bonn o.J. (1971); ders.: Deutschlandstudien II. Fallstudien und didaktische Versuche, Bonn 1975, ders.: Perspektiven der Frankreichkunde. Ansätze zu einer interdiszipli- <?page no="120"?> 120 der in dieser historischen Studie evozierten grundsätzlichen und technischen Fragen interkulturellen akademischen Austauschs an uns heran, und zwar nicht zuletzt diejenige des Verhältnisses zwischen nationaler und europäischer Identität. Die deutsch-französische Frage stand immer noch im Vordergrund europäischer Einigungsbemühungen, wenngleich nicht mehr im Mittelpunkt der internationalen Konflikte, der durch den Kalten Krieg markiert wurde. Wir stellten seit den frühen siebziger Jahlen das Ziel der „transnationalen Kommunikationsfähigkeit“ auf, das eine Fusion nationaler und übernationaler Loyalitäten und Identitäten zu ermöglichen versprach und das in vielen Projekten erprobt und handhabbar gemacht werden sollte. Prinzipiell traten in diesem Zusammenhang an die Stelle der Geisteswissenschaften (die in der Zwischenkriegszeit die Leitfragen stellten) die Sozialwissenschaften (und seit den achtziger Jahren die Kulturwissenschaften). Die Nation stellte sich nicht mehr als ontologisch vorgegebene, sondern zunehmend als historisch bedingte, vorgestellte Wirklichkeit dar. An die Stelle kulturelitärer Exklusivität trat die Zielsetzung der Breitenwirkung transnationaler Lernpogramme vermittels gesellschaftlicher Multiplikatoren. Robert Picht konnte dann all diese (und andere) Baustellen zur Förderung europäischer Teilöffentlichkeiten voranbringen, und zwar im bilateralen Zusammenhang mit dem Deutsch-Französischen Institut in Ludwigsburg und im europäischen Zusammenhang mit seiner Tätigkeit am Europa-Kolleg in Brügge. Das übergeordnete Ziel solcher Bemühungen muss heute sein, den sozioökonomischen Integrationsprozess Europas, der irreversibel ist, durch einen soziokulturellen Lernprozess zu flankieren und zu korrigiern da, wo das institutionelle Europa offensichtlich bürgerfremde Formen annimmt. Mit den Worten eines der Vordenker von Europa als konkrete Utopie aus der Locarno-Ära heißt das Ziel immer noch: über das Resultat der „primitivsten Vernunft und der baren Notwendigkeit“ hinaus zu einem europäischen Zusammenschluss als „Ergebnis gereifter Sittlichkeit“ zu gelangen. när orientierten Romanistik, Tübingen 1974, ders.: Perspektiven der Frankreichkunde 2. Arbeitsansätze für Forschung und Unterricht, Tübingen 1978. <?page no="121"?> 121 IV. Berlin-Paris, Paris-Berlin. Zur Topographie zivilgesellschaftlicher Begegnung in der Locarno-Ära 1925-1930 1. Gesellschafts- und Kulturbeziehungen zwischen Deutschland und Frankreich und Orte zivilgesellschaftlicher Begegnung In der Erforschung der deutsch-französischen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen des zwanzigsten Jahrhunderts, die erst in den vergangenen zwanzig Jahren in methodisch reflektierter Form eingesetzt hat, 1 kann man drei wesentliche Dimensionen unterscheiden. Mit der Auf- und Übernahme kultureller Hervorbringungen der einen Nation in der anderen befaßt sich die Rezeptions-Forschung, in der die literatur- und kunstwissenschaftlichen Disziplinen die längsten Traditionen aufweisen. Mit der kollektiven Wahrnehmung der einen Nation durch die andere, die sich in Bildern, Klischees oder Verhaltenserwartungen konkretisiert, befaßt sich die Perzeptions-Forschung, in der sozialpsychologische und kulturwissenschaftliche Fragestellungen eine Leitfunktion haben. Mit den Voraussetzungen und Formen der wechselseitigen Begegnung zwischen Franzosen und Deutschen, in der in irgendeiner Form ein ideeller Austausch stattfindet, hat schließlich die Transaktions-Forschung ein Arbeitsfeld, das der sozialgeschichtlichen und politisch-soziologischen Anleitung bedarf. Im Rahmen dieser dritten Dimension der Gesellschafts- und Kulturbeziehungen ist es von Interesse, der Frage nachzugehen, wer in den deutschfranzösischen Beziehungs-Aktivitäten wen wann wo und aus welchem Anlaß traf und welche Rolle dabei die Hauptstädte beider Nationen in der Zwischenkriegszeit spielten. Von heute aus gesehen ist gerade die Periode zwischen den beiden Weltkriegen besonders aufschlußreich für die Strukturen, die über eine längere Zeit in den soziokulturellen Interaktionsbereichen zwischen Deutschland und Frankreich Form annahmen. Die beiden Zwischenkriegs-Jahrzehnte stellen eine Art Übergangsphase dar im langfristig erkennbaren Institutionalisierungs-Prozeß der soziokulturellen Beziehungen, an dessen Anfang die private und punktuelle Kontaktnahme 1 Cf. dazu Heike Arend: „Gleichzeitigkeit des Unvereinbaren. Verständigungskonzepte und kulturelle Begegnungen in den deutsch-französischen Beziehungen der Zwischenkriegszeit“, in: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte, Sigmaringen 1994, Bd 20/ 3, p. 131-149. <?page no="122"?> 122 zwischen Künstlern und Intellektuellen beider Länder steht und an dessen Ende man die staatlich geförderte Gründung von kulturellen Institutionen findet. Für die Anfänge der heute geläufigen und bekannten Formen der Institutionalisierung der Kulturbeziehungen zwischen Deutschland und Frankreich sind Mitte der 1990er Jahre drei Dissertationen erschienen, die verdeutlichen, daß in der Kriegs- und Besatzungs-Periode der vierziger Jahre erst der entscheidende Schritt gleichsam zur partiellen Verstaatlichung der Gesellschafts- und Kulturbeziehungen vollzogen wurde. 2 Charakteristisch ist es für diese tendenzielle „Verstaatlichung“, daß mit der Gründung von Instituten der kulturellen Begegnung ein räumliches Beziehungsnetz entsteht, innerhalb dessen sich der transnationale Austausch verdichtet. Es entsteht eine Topographie der soziokulturellen Begegnung. Man könnte annehmen, daß eine solche Topographie, ein transnationales Kommunikationsnetz mit (relativ) festen Adressen, gleichsam naturwüchsig in den Hauptstädten, den Orten der diplomatischen Außenvertretung beider Nationen, entsteht. Diese Annahme ist jedoch keineswegs generell zwingend. Gerade in den Zwischenkriegs-Jahrzehnten war es noch die Regel, daß Institutionalisierungs-Ansätze im soziokulturellen Bereich zwischen Deutschland und Frankreich aus zivilgesellschaftlichen Initiativen hervorgingen und nicht aus staatlichen Planungsüberlegungen. 3 Das diplomatische Milieu in Berlin und Paris diente in dieser Zeit eher als Resonanzboden denn als tonangebende Initiativkraft in den Gesellschafts- und Kulturbeziehungen zwischen beiden Nationen. 4 Ungleich wichtiger als das diplomatische Umfeld war für die Konstituierung früher Ansätze einer Topographie metropolitanen Austauschs das in den Hauptstädten akkumulierte kulturelle Kapital beider Nationen (Hochschulen, Bibliotheken, Archive, Museen, Theater, Konzertsäle usw.) und die damit verbundene Verdichtung des intellektuellen und künstlerischen Lebens. Die zivilgesellschaftlichen Initiativen für die Herstellung von kontinuierlichen deutsch-französischen Austauschbeziehungen waren nicht gebunden an die Hauptstädte beider Nationen, aber sie fanden dort ihren kulturellen Nährboden und ihren diplomatischen Resonanzboden. 2 Eckhard Michels: Das Deutsche Institut in Paris 1940-1944, Stuttgart 1993, Corine Defrance: La politique culturelle de la France sur la rive gauche du Rhin 1945-1955, Strasbourg 1994. Stefan Zauner: Erziehung und Kulturmission. Frankreichs Bildungspolitik in Deutschland 1945-1949, München 1994. 3 Cf. dazu Hans Manfred Bock: „Zwischen Locarno und Vichy. Die deutschfranzösischen Kulturbeziehungen der dreißiger Jahre als Forschungsfeld“, in: Ders., Reinhart Meyer-Kalkus, Michel Trebitsch (ed.): Entre Locarno et Vichy. Les relations culturelles franco-allemandes dans les années 1930, Paris 1993, p. 25-61. 4 Cf. dazu Hans Manfred Bock (ed.): Französische Kultur im Berlin der Weimarer Republik, Tübingen 2005. Mit der Ausnahme des früh in staatliche Regie übernommenen Universitäts-Austauschs. Cf. dazu als Überblick Reinhart Meyer-Kalkus: Die akademische Mobilität zwischen Deutschland und Frankreich (1925-1992), Bonn 1994, p. 35sqq. <?page no="123"?> 123 Wenn die Institutionalisierung der Gesellschafts- und Kulturbeziehungen zwischen Deutschland und Frankreich in staatlicher Regie oder vermittels öffentlicher Subventionen erst eine deutlich ausgeprägte Erscheinung der Nachkriegszeit ist, so stellt sich die Frage, auf der Grundlage welcher Ressourcen die Ansätze einer Topographie deutsch-französischer Begegnung in der Zwischenkriegszeit entstehen konnten. Neben der staatlichen Finanzierung, die auch bereits praktiziert wurde, spielten zwei andere Ressourcen-Grundlagen eine erheblich bedeutendere Rolle als heute. Zum einen gab es die zivilgesellschaftlichen Initiativen zur Verbesserung der deutsch-französischen Beziehungen, die getragen wurden durch vereinsförmige Organisationen und durch die Eigenleistungen ihrer Mitglieder. Diese Fundierung war die zerbrechlichste, denn sie war abhängig von den Unwägbarkeiten der Mitgliederwerbung und sie brauchte regelmäßig die Stabilisierung durch punktuelle Subsidien aus der Industrie bzw. von den Banken und aus den Außenministerien. Zum anderen gab es nichtgouvernementale Initiativen mit dem Ziel des Dialogs zwischen Deutschland und Frankreich, die direkt aus dem Bereich der Großindustrie und der Banken heraus lanciert wurden. Sie setzten auf die entscheidende Rolle der Eliten in beiden Ländern und kooptierten Vertreter aus den Universitäten als Gesprächspartner. Obwohl die finanziellen Ressourcen hier ein weniger zentrales Problem waren als bei den deutsch-französischen Mitgliederorganisationen, blieben auch diese Kommunikationsnetze nicht unberührt von den ökonomischen und politischen Konjunkturen. Man kann in der metropolitanen Begegnung zwischen Berlin und Paris in den Zwischenkriegsjahren alle drei Grundformen gesellschaftlich-kultureller Kommunikation (zivilgesellschaftliche, elitär-kooptative und staatliche Initiativen) erkennen. Gemäß diesen politisch-soziologischen Kategorien soll im folgenden erstmals versucht werden, einen Grundriß der Topographie deutsch-französischer Begegnung in Berlin und Paris zwischen 1925 und 1933 zu zeichnen, der für vielfache Ergänzungen und vielfältige Detaillierungen offen ist. Das vorrangige Interesse gilt in der folgenden Darstellung den zivilgesellschaftlichen Begegnungen in den Metropolen, die als eigene Dimension bislang am wenigsten beachtet wurden. Die elitär-kooptativen und gouvernementalen Orte der Begegnung, die vergleichsweise besser untersucht wurden, werden nur in dem Maße in die Darstellung einbezogen, wie sich ihre Veranstaltungen mit den zivilgesellschaftlichen Initiativen berührten. Die zeitliche Eingrenzung der Studie auf die Locarno-Periode scheint aus zwei Gründen gerechtfertigt. Zum einen ermöglichte die historische diplomatische Weichenstellung vom Oktober 1925 gerade im soziokulturellen Bereich der deutsch-französischen Beziehungen eine Dynamik, die bereits vorhandene Kontakte verstärkte oder die Entstehung neuer Begegnungs-Initiativen förderte; diese Dynamik hielt nachweislich über <?page no="124"?> 124 das Ende des diplomatischen Verständigungsversuchs in den Jahren 1929/ 30 hinaus an. 5 Zum anderen erlaubt die chronologische Begrenzung der Darstellung auf die Jahre 1925 bis 1933 eine eingehende Bestandsaufnahme und Diskussion der Eigenart und Vielfalt der deutsch-französischen Begegnungs-Aktivitäten in den Hauptstädten beider Nationen, die bei einem umfassenderen zeitlichen Ausgreifen flacher ausfallen müßte. Die gesellschaftlich-kulturellen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich, die in den Jahren 1914 bis 1924 im Zeichen feindseliger Abgrenzung standen und gegen Null tendierten, erreichten in den Jahren 1925 bis 1933 eine Breite und Tiefe, die das teilweise Fortwirken der dort erprobten Initiativen und das Fortdauern der entsprechenden Interaktionsformen über das Ende der Weimarer Republik hinaus ermöglichte. 6 Nach der Erörterung der sinnvollen zeitlichen Eingrenzung des Themas ist ein Blick auf die kulturräumlichen Voraussetzungen der beiden Metropolen Paris und Berlin, in denen sich die kulturellen Austauschbeziehungen in den Jahren 1925 bis 1933 verdichteten, geboten. Die Anziehungskraft der „historischen“ Hauptstadt Paris auf die Deutschen und der „improvisierten“ Reichshauptstadt Berlin 7 auf die Franzosen war notorisch ungleich. Das hatte zur Folge, daß vor Beginn des Ersten Weltkriegs - nach schwierig zu verifizierenden Zahlenangaben - in Paris etwa 100.000 Deutsche sich längerfristig aufhielten, 8 während die französische Kolonie in Berlin nur etwa 500 Personen umfaßte. Durch die Einwirkungen der Kriegs- und Nachkriegsjahre dezimierte sich allerdings die Präsenz deutscher Staatsangehöriger in der französischen Hauptstadt und gemäß Zeitzeugenberichten formierte sich erst gegen Mitte der zwanziger Jahre die deutsche Kolonie in Paris wieder allmählich. Andererseits gewann Berlin in den zwanziger Jahren aufgrund seiner anhaltenden Expansion und kulturellen Vitalität einen eigenen Hauptstadt-Mythos und zog in wachsendem Maße französische Künstler und Intellektuelle zumindest zu Kurzbesuchen an. 9 Trotz diesen Faktoren einer quantitativen Angleichung der 5 Cf. zum Ende des diplomatischen Locarno Robert W. Mühle: Frankreich und Hitler 1933-1935, Paderborn 1995, und vor allem Franz Knipping: Deutschland, Frankreich und das Ende der Locarno-Ära 1928-1931, München 1987. 6 Dies wird durch zahlreiche Fallstudien belegt in: Bock, Meyer-Kalkus, Trebitsch (ed.), op. cit. 7 Cf. dazu die Beiträge von Cécile Chombard-Gaudin, Françoise Rioux und Christophe Charle in: Gerhard Brunn, Jürgen Reulecke (ed.): Metropolis Berlin. Berlin als deutsche Hauptstadt im Vergleich europäischer Hauptstädte 1870-1939, Bonn/ Berlin 1992. Cf. auch Pierre-Paul Sagave: Berlin-Paris 1871. Reichshauptstadt und Hauptstadt der Welt, Frankfurt/ Main 1971. 8 So Deutsch-Französische Rundschau, Jg. 1931, p. 798: „Schüleraustausch mit Frankreich“. Die Deutsch-Französische Rundschau wird im folgenden mit DFR abgekürzt zitiert. 9 Dies ist bislang der am besten untersuchte Aspekt der kulturellen Beziehungen zwischen Berlin und Paris in den Zwischenkriegs-Jahrzehnten. Cf. : Marc Thuret: „Voya- <?page no="125"?> 125 deutschen Präsenz in Paris und der französischen Präsenz in Berlin blieb deren Disparität auch in den Jahren der Weimarer Republik erhalten. Die Ungleichartigkeit des Hauptstadtcharakters von Paris und Berlin wurde in den zwanziger Jahren bei den französischen Besuchern der Reichshauptstadt zum Standardthema, während bei den deutschen Schriftstellern der explizite Vergleich beider Metropolen weit seltener war. Die Art, wie die Hauptstadt des Nachbarlandes von jungen Publizisten um 1930 gesehen wurde, wird exemplarisch greifbar in den folgenden Dokumentauszügen. Der Universitätslektor und kulturpolitische Mittler zwischen Deutschland und Frankreich, Henri Jourdan (1901-1994), brachte seine Beobachtungen zur Eigenart beider Metropolen in einem fiktiven Dialog auf den Nenner: „Paris a été d’emblée la capitale. Sa renommée mondiale, tous les étrangers qu’elle héberge ou qu’elle abrite ne l’empêchent pas de rester le cœur et le cerveau de la France. Elle rayonne d’un centre intérieur. Berlin capte les ondes et les rayons du monde entier, elle n’en fait une substance qui lui soit propre. Paris a quelque chose de la plante. Berlin est une Centrale téléphonique. - Ainsi, pour parler allemand, Berlin est devenue une Weltstadt avant d’être une Hauptstadt? - Parfaitement. Et si vous partez de là, vous vous expliquez sans trop de peine bien des petits phénomènes quotidiens.“ 10 Alfred Wolfenstein (1888-1945), der expressionistische Schriftsteller und Herausgeber einer Paris-Anthologie, die er mit Hilfe von Philippe Soupault, Jean Paulhan, Adrienne Monnier und Hélène Kra zusammentrug, 11 bündelte seine vergleichenden Eindrücke von beiden Hauptstädten zur selben Zeit in folgenden Formulierungen: „Freilich ist Berlin nicht die einzige starke Stadt Deutschlands, während sich Frankreich durch den einen dichten, alle Anstrengungen vereinfageurs français à Berlin 1918-1933“, in: Gilbert Krebs (ed.): Sept décennies de relations franco-allemandes 1918-1988. Hommage à Joseph Rovan, Paris/ Asnières 1989, p. 9-39. Edward Reichel: „A Berlin, à Berlin! Deutschlandreisen französischer Schriftsteller“, in: Bock, Meyer-Kalkus, Trebitsch (ed.): Entre Locarno et Vichy (op. cit.), Bd. 2, p. 661- 674. Dominique Bourel: „Berlin und der europäische Westen. Der Fall Berlin-Paris“, in: Wolfgang Ribbe, Jürgen Schmädecke (ed.): Berlin im Europa der Neuzeit. Ein Tagungsbericht, Berlin/ New York 1990, p. 249-257. Cécile Chombard-Gaudin: „Frankreich blickt auf Berlin 1900-1939“, in: Gerhard Brunn, Jürgen Reulecke (ed.), op. cit., p. 367-407. Im Gegensatz zu diesen Synthesen der Eindrücke französischer Berlin- Besucher versucht der vorliegende Aufsatz, weniger die Inhaltsanalysen von Reiseberichten, sondern die umfassenderen sozialgeschichtlichen Kommunikations- Strukturen zwischen beiden Metropolen ins Blickfeld zu rücken. 10 Henri Jourdan: „Puzzle Berlinois“, in: Revue d’Allemagne, Jg. 1930, p. 125. Die Revue d’Allemagne, wird im folgenden mit RdA zitiert. Jourdans Beitrag erschien im Rahmen eines vorzüglichen Berlin-Schwerpunktheftes der Zeitschrift. 11 Das von Wolfenstein herausgegebene Buch, ein typisches Dokument des „Locarno intellectuel“, wurde ergänzt durch eine Anthologie deutscher Schriftstellerporträts von Berlin: Herbert Günther (ed.): Hier schreibt Berlin, Berlin 1931; dort schrieben u.a. Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Wilhelm Hausenstein, H. E. Jacob, Erich Kästner, Heinrich Mann, Kurt Tucholsky und Arnold Zweig. <?page no="126"?> 126 chenden, eleganten Hebel Paris in der Welt durchsetzen läßt. Dafür behält Berlin mehr Bewegungsfreiheit für sich selbst. Da es, so schwer es ist, immer ein wenig in der Luft schwebt, kann es seinen Siedlungscharakter schneller wechseln; ein beunruhigendes und beschwingendes Schicksal. [...] Paris folgt trotz revolutionären Temperaments einer beständigen Form und Regel, die sich aber phantasievoll genug äußert. Umgekehrt stützt sich Berlin im unsicheren Bewußtsein seiner Neuerungslust auf übertriebene Ordnung. Die Ordnung wird desto häufiger durchbrochen von der Losgelassenheit seiner experimentellen und musikalischen Triebe. Berlin ist nicht so glücklich, aber voll arbeitsamer Hoffnung, und seine rastlos tastenden Schritte sind ebenso bedeutsam und reizvoll wie der leichte und geschlossene, noch immer lateinische Gang von Paris.“ 12 Das sich in Wolfensteins Beobachtungen anmeldende Bewußtsein der Ebenbürtigkeit von Berlin im Vergleich zu Paris wurde von den französischen Berlin-Kennern mit Erstaunen, aber ohne Widerspruch zur Kenntnis genommen. 13 2. Zivilgesellschaftliche Orte und Formen der deutschfranzösischen Begegnung in Berlin und Paris Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg waren die politischen, technischen und mentalen Voraussetzungen für Reisen und Begegnungen zwischen Deutschen und Franzosen in den Hauptstädten beider Nationen außerhalb des diplomatischen Verkehrs denkbar ungünstig. Es waren vorzugsweise die Protagonisten einer „geistigen Demobilisierung“ in den französischdeutschen Beziehungen, wie Henri Lichtenberger und Edmond Vermeil, die ab 1922 von Paris nach Berlin kamen, um dort die Bedingungen für die Wiederanknüpfung zivilgesellschaftlicher Verbindungen zu explorieren. 14 Umgekehrt waren es in erster Linie Repräsentanten des bürgerlichen Pazifismus wie Albert Einstein und Fritz von Unruh, die am frühesten wieder den Weg von Berlin nach Paris antraten und dort offene Türen fanden für die Wiederaufname wissenschaftlichen oder künstlerischen Austauschs. 15 Die innenpolitischen Veränderungen mit der Übernahme der Regierung durch das Cartel des gauches in Frankreich und die außenpolitischen Initiativen für die Regelung der Reparationsfrage, die über die Londoner Konferenz von Dezember 1924 zum Vertrag von Locarno im Herbst 1925 führten, waren entscheidende Voraussetzungen dafür, daß die Schleusen sich 12 Alfred Wolfenstein (ed.): Hier schreibt Paris: Ein Sammelwerk von heute, Berlin 1931, p. 330. 13 Cf. z.B. die Beiträge der Berlin-Nummer der Revue d’Allemagne von Anfang 1930. 14 Cf. als Dokument Henri Lichtenberger: Impressions de Berlin, Paris 1922. 15 Cf. dazu die Monographie von Michel Biezunski: Einstein à Paris, Saint-Denis 1991, und den expressionistisch stilisierten Bericht von Fritz von Unruh: Flügel der Nike, in: Ders.: Sämtliche Werke, Berlin 1970, Bd. 7, p. 11-277. <?page no="127"?> 127 öffneten, die bis dahin den Strom gesellschaftlich-kulturellen Transfers zwischen beiden Nationen zurückgehalten hatten. Mit bemerkenswerter Regelmäßigkeit findet man in fast allen soziokulturellen Interaktionsfeldern zwischen Frankreich und Deutschland die Jahre 1924/ 25 als Wendepunkt und Ausgangspunkt für die Anbahnung von neuen Begegnungsinitiativen wieder. So auch im Falle der deutsch-französischen Kontakte in und zwischen Berlin und Paris. Die hier einsetzende neue transnationale Beweglichkeit ermöglichte die Wiederbelebung und die Habitualisierung älterer, aber auch die Erfindung neuer zivilgesellschaftlicher Interaktionsfelder. Diesen Vorgang kann man in den Jahren des „geistigen Locarno“ in der Hauptstadt einer jeden der beiden Nationen im Detail beobachten. Als Vorarbeit und vorsortierte Informationsgrundlage für die Rekonstruktion dieser Interaktionsfelder zwischen den beiden Metropolen bieten sich die Veranstaltungs-Berichte an, die in den beiden wichtigsten deutsch-französischen Periodika der Locarno-Jahre erschienen, nämlich der „Deutschfranzösischen Rundschau“ und der „Revue d’Allemagne“ 16 . Die Sorgfalt, mit der in diesen Zeitschriften Buch geführt wurde über gesellschaftlichkulturelle Ereignisse deutscher Provenienz in Paris und französischer Herkunft in Berlin, ist zu erklären aus dem Zwang, dem die Wortführer in diesen Beziehungen ausgesetzt waren, über den Erfolg ihrer Initiativen öffentlich Rechenschaft zu legen und sichtbare Ergebnisse vorzulegen. Man kann also annehmen, daß die deutsch-französischen Veranstaltungsberichte beider Periodika von 1927 bis 1933 um Vollständigkeit bemüht waren, kann aber nicht ausschließen, daß die Chronisten der bilateralen Begegnung in den Hauptstädten nicht alle Ereignisse registrierten. 17 Wendet man sich der Auswertung dieser Chroniken soziokultureller Begegnung in den beiden Hauptstädten zu, so findet man im zivilgesellschaftlichen Bereich die größte Vielfalt der Interaktionsfelder, aber auch die stärksten Asymmetrien im Vergleich zwischen Paris und Berlin. Unterscheidet man zwischen bilateralen Interaktionsfeldern mit dem vorrangigen Ziel geselliger Unterhaltung und solchen, in denen die gesellschaftliche Verständigung im Vordergrund stand, so zeichnet sich im zivilgesellschaftlichen Bereich ein deutliches Übergewicht der ersten Gruppe in Paris und die Dominanz der zweiten Gruppe in Berlin ab. Die Interaktionsfelder der ersten Gruppe umfassen die Austauschvorgänge in der Musik, dem Film, dem Theater, den Bildenden Künsten und dem Sport. Diejenigen der zweiten Gruppe sind charakterisiert durch die Begegnungen in den Metropolen, in denen die öffentliche Diskussion von wirtschaftlichen, gesell- 16 Zur Geschichte und Inhaltsanalyse beider Zeitschriften cf. Béatrice Pellissier: Un dialogue franco-allemand de l’entre-deux-guerres: la Deutsch-französische Rundschau et la Revue d’Allemagne, Thèse de doctorat Paris IV, 1991/ 92, 659 p. 17 Die Chronik wurde mit der größten Regelmäßigkeit geführt in der DFR von Hella Koenigsberger, Siegfried Horn und Jacques Lobstein. <?page no="128"?> 128 schaftlichen und politischen Problemen gemeinsamen Interesses und das Kennenlernen der Denkweise der anderen Seite versucht wurde. 2.1. Kulturindustrielle Initiativen Musik Von den bilateralen Interaktionsfeldern, die primär gesellig unterhaltender Eigenart waren und die man heute mit dem weiten Begriff der Kulturindustrie zusammenfassen kann, war die Musik wie kein anderer Teilbereich ein privilegiertes kulturelles Transfergut aus Deutschland nach Paris. In den Pariser Konzertsälen waren in diesen Jahren Dirigenten und Interpreten aus Deutschland ständige Gäste. Die Konzerthäuser, die am häufigsten Vertreter des Musiklebens in Deutschland zu Gast hatten, waren die Concerts Pasdeloup, die Concerts Lamoureux, die Concerts Poulet, die Salle Gaveau und Salle Pleyel, das Théâtre des Champs Elysées, die Oper, die Opéra Comique und die Concerts Colonne. Die meisten dieser Häuser hatten ein eigenes Orchester, das von den Gastdirigenten aus Deutschland bei ihren Auftritten geleitet wurde. Das bei weitem gefragteste Ensemble war bei den Gästen aus Deutschland das Orchestre Symphonique de Paris. Allein Wilhelm Furtwängler kam meist mit dem Philharmonischen Orchester von Berlin nach Paris angereist. Von April 1929 bis April 1933 sind nicht weniger als 10 Konzerte Furtwänglers in Paris nachweisbar. Der Direktor der Berliner Philharmoniker wurde in Paris mit der größten Aufmerksamkeit bedacht. So gab z. B. die „Revue musicale“, die führende Musikzeitschrift in der französischen Hauptstadt, zu seinen Ehren am 1.5.1929 einen Empfang, bei dem außer dem deutschen Botschafter und dem österreichischen Gesandten auch Kriegsminister Painlevé anwesend war. Nach seiner Gastrolle als Dirigent von „Tristan und Isolde“ in der Großen Oper wurde Furtwängler im Juni 1932 wiederum ein großer Empfang von französischer Seite bereitet, der in diesem Fall von der Association française d’expansion et d’échanges artistiques ausgerichtet wurde. Nach dem prominenten Berliner Dirigenten waren in den Locarno-Jahren dessen Kollegen Bruno Walter (derzeit Berlin-Charlottenburg und Leipzig), Franz von Hösslin (Mannheim) und Karl Elmendorff (Bayreuth) regelmäßige Gäste an den Pulten Pariser Konzerthäuser. Otto Klemperer, Hermann Abendroth, Robert Denzler, Oscar Fried und Friedrich Munter gastierten dort gelegentlich. Unter den Musikinterpreten zeichnet sich ein fester Platz in der Gunst des Pariser Publikums bei Klaviervirtuosen und Sängerinnen ab, deren Namen in der Chronik der Musikveranstaltungen der französischen Hauptstadt über all die Jahre hin auftauchen. Der Pianist Wilhelm Backhaus trat zwischen 1928 und 1933 mindestens elfmal als Beethoven-Interpret in Paris <?page no="129"?> 129 auf. Walter Gieseking spielte bei seinen Klavierkonzerten in Paris zwischen 1928 und 1932 in verschiedenen Konzertsälen Stücke von Strauss, Lully, Beethoven und Weingartner. Auch in der Vokalmusik herrschte im deutschen Besucherverkehr in Paris das Virtuosenbzw. das Star-Prinzip zu dieser Zeit bereits vor. Es kamen gelegentlich zwar auch Chöre zu einem Gastvortrag an die Seine; so z. B. der Stuttgarter Arbeitersängerbund, der am 14.8.1930 im Gymnase Japy bei einer Jaurès-Feier auftrat, oder der Erfurter Motetten-Chor, der in der Salle Gaveau am 17.4.1930 vortrug. Aber die musikalische Szene wurde teilweise beherrscht von einigen Sängerinnen; besonders von Lotte Lehmann, Lotte Schöne und Elisabeth Schumann, die nach glänzenden Erstauftritten in Paris regelmäßig dorthin zurückkehrten und gefeiert wurden. So trat Lotte Lehmann (1888-1976), die von 1914 bis 1933 ein Engagement an der Wiener Staatsoper hatte und als Wagner- und Strauss-Interpretin bzw. als Liedsängerin brillierte, allein in den Jahren 1930/ 31 mehr als ein Dutzend mal in verschiedenen Pariser Konzertsälen auf. Sie erhielt im März 1931 das Kreuz der Légion d’Honneur vom französischen Staat verliehen. Angesichts der überaus massiven deutschen Repräsentanz in der Pariser Musikszene ist es nicht übertrieben, wenn ein französischer Beobachter derselben 1932 gelegentlich feststellte: „Nous n’en sommes plus à l’époque héroïque de l’après-guerre, où l’arrivée d’un artiste allemand prenait un retentissement non seulement artistique, mais moral et presque politique. Paris a fait son plein d’artistes et d’exécutants allemands, les a intégrés dans son personnel musical, et nous les ressert avec une admirable régularité. Soyons justes: les vedettes traversent le Rhin et lorsqu’un artiste allemand apparaît sur nos scènes, nous sommes sûrs d’avoir une exécution excellente et parfois magistrale.“ 18 Im Repertoire der deutschen musikalischen Tourneereisenden in Paris nahm Richard Wagner die alles überragende Spitzenstellung ein. Der ursprünglich elitäre „wagnérisme“ in Frankreich hatte sich seit der Jahrhundertwende gleichsam demokratisiert und Liebhaber in den breiteren Bevölkerungsschichten gefunden. 19 Diese solide Verwurzelung Wagners in der französischen Musikkultur hatte dort das Überdauern des Interesses an seinem Werk über den Ersten Weltkrieg hinweg bewirkt und war die Voraussetzung für die ungebrochene Nachfrage nach Wagner-Konzerten in Paris. Von den rund 110 Musik-Veranstaltungen in Paris von Mitte 1928 bis Mitte 1933 mit deutschen Interpreten, für die Angaben über die Programm-Inhalte existieren, 20 enthielten rund ein Drittel (nämlich 38) Kompositionen Richard Wagners. Einige Sänger der Bayreuther Festspiele waren in der Regel betei- 18 „La musique allemande à Paris pendant la saison 1931/ 32“, in: RdA, Jg. 1932, p. 635. 19 Cf. dazu Annette Fauser, Manuela Schwartz (ed.): Von Wagner zum Wagnérisme. Musik, Literatur, Kunst, Politik. Leipzig 1999. 20 Insgesamt sind in der Chronik der DFR in dieser Zeitspanne 198 Musik- Veranstaltungen deutscher Provenienz in Paris nachgewiesen. <?page no="130"?> 130 ligt bei den Wagner-Festivals, die fast jährlich in Paris stattfanden. Z. B. wurde vom 15.-30. Juni 1929 im Théâtre des Champs Elysées unter der Leitung des Bayreuther Dirigenten Franz von Hösslin und in Zusammenarbeit deutscher Interpreten mit dem Pariser Straram-Orchester der „Ring des Nibelungen“ aufgeführt. Die Veranstaltung galt als ein Höhepunkt der musikalischen Saison in der französischen Hauptstadt und wurde vom deutschen Botschafter von Hoesch flankiert durch eine Soirée, zu der zahlreiche Repräsentanten der Politik, der Diplomatie und der Pariser Gesellschaft erschienen. 21 Die „Tristan“-Aufführung in der Opéra, die 1930 unter der Leitung Karl Elmendorffs und mit der Beteiligung deutscher Wagner- Sänger stattfand, schien durch die mangelnde Abstimmung mit dem französischen Orchester beeinträchtigt, wurde aber enthusiastisch gefeiert. 22 Die Liebhaber der Musik Mozarts schlossen sich 1930 in Paris unter dem Vorsitz von Mme Homberg in einer „Société d’études mozartiennes“ zusammen, die ähnliche lebendige Kontakte zu den Salzburger Festspielen herzustellen bemüht war, wie sie die Wagner-Gemeinde in Paris zu Bayreuth herzustellen suchte. 23 Sie war stärker als die Veranstalter der Wagner-Konzerte daran interessiert, den Komponisten ihrer Verehrung von französischen Interpreten spielen zu lassen. Der intensive kulturelle Transfer zwischen Deutschland und Frankreich verlief in der Musik stärker als in anderen Austauschbereichen nur in einer Richtung. Alle zeitgenössischen Beobachter stimmten in der Feststellung überein, daß die französische Musik in Deutschland vom größeren Publikum kaum zur Kenntnis genommen wurde. Es fanden in den Jahren des „geistigen Locarno“ gelegentlich Konzerte französischer Instrumentalisten mit vorwiegend heimischem Repertoire in Berlin statt, die in der Regel vermittelt wurden durch die Association française d’expansion et d’échanges artistiques. 24 Die spontane Nachfrage nach französischer Musik war in Berlin jedoch nicht annähernd vergleichbar mit dem Interesse des Pariser Publikums am musikalischen Import aus Deutschland. Literatur und Theater Die Asymmetrie in den Austauschbeziehungen in und zwischen den beiden Hauptstädten fiel hingegen im Bereich der Literatur zugunsten der literarischen Produktion aus Frankreich aus, für die in Berlin die Aufnahmebereitschaft ungleich größer war als für die Musik des Nachbarlandes. Als ein zentraler Ort für die französische Literatur-Werbung und -Verbreitung existierte in Berlin bereits seit 1923 eine „Maison du livre français 21 Cf. Maurice Boucher: „Bayreuth à Paris“, in: DFR, Jg. 1929, p. 851sq. 22 Cf. „Les représentations wagnériennes à l’Opéra“, in: RdA, Jg. 1930, p. 653sq. 23 „La Société d’études mozartiennes“, in: RdA, Jg. 1931, p. 554sqq. 24 Cf. z. B.: „Das Krettly-Konzert in Berlin“, in: DFR, Jg. 1930, p. 58sqq.; „Französische Opern in Berlin“, in: DFR, Jg. 1929, p. 1056sq. <?page no="131"?> 131 moderne“ in der Friedensstraße, unweit der Tauentzienstraße. 25 Diese Buchhandlung war zugleich der Mittelpunkt gesellig-literarischer Gespräche, die zeitweilig im wöchentlichen Rhythmus stattfanden. Die „Maison du livre“ war Treffpunkt deutscher und französischer Literaturfreunde, aber auch Ort, an dem französische Schriftsteller vortrugen. Bis 1928 hatten dort folgende Autoren vor einem größeren, nicht nur akademischen Publikum gelesen und diskutiert: Tristan Bernard, André Germain, Philippe Soupault, Henri Lichtenberger, Lucien Boyer, Léon Pierre-Quint, Maurice Dekobra, Henri Hertz. 26 Einige dieser Vortragenden traten bei ihrem Berlin-Besuch auch als Referenten im Romanischen Institut der dortigen Universität auf. Dies wurde geleitet von Eduard Wechssler, der (nach seiner aktiven Beteiligung an der kulturellen Kriegspropaganda gegen Frankreich) Ende 1926 den neuen Geist von Locarno verstanden und sein Seminar für Repräsentanten des aktuellen Geisteslebens im Nachbarland geöffnet hatte. 27 Die etwa alle 14 Tage ab Dezember 1926 stattfindenden Vorträge in französischer Sprache wurden gefördert vom Preußischen Kultusminister Carl Heinrich Becker, der Ende 1925 erstmals den kulturpolitischen Dialog mit seinem damaligen Pariser Amtskollegen Anatole de Monzie wieder aufgenommen hatte. 28 Die französischen Vorträge zogen zwischen 400 und 500 Zuhörer an. 1926/ 27 referierten in dieser Veranstaltungsreihe u.a.: André Germain über die französisch-deutschen Geistesbeziehungen von Mme de Staël bis Romain Rolland, Henri Lichtenberger über „Goethe und Frankreich“, Jean Baruzi über Religionsfragen, François Porché über „Paul Valéry et la poésie pure“, Benjamin Crémieux über „De l’homme et de la vie dans la littérature française“, Georges Duhamel über „Le roman et la vie“ und Anatole de Monzie über „L’esprit de paix“. 29 Namentlich Georges Duhamel hatte einen außerordentlichen Publikums- Erfolg. Die Tradition dieser französischen Lesungen und Vorträge im Ro- 25 Cf. „Les clubs et le cosmopolitisme à Berlin“, in: RdA, Jg. 1927/ 28, p. 657sqq. Cf. dazu die Studie Corine Defrance: „Die ‚Maison du livre français’ in Berlin 1923-1933“, in: Hans Manfred Bock (ed.): Französische Kultur im Berlin der Weimarer Republik, op. cit., p. 157-172. 26 So ibid., p. 659. Cf. dazu die Monographie Susanne Paff: „Die französische Vortragsreihe Eduard Wechsslers am Romanisischen Semminar der Berliner Universität 1926- 1934“, in: Hans Manfred Bock (ed.): Französische Kultur im Berlin der Weimarer Republik, op. cit., p. 173-214. 27 Louis Freydaval: „Les conférences françaises de l’Institut des langues romanes de l’Université de Berlin“, in: RdA, Jg. 1928, p. 65sqq. Cf. dazu umfassend die Dissertation von Susanne Paff: Eduard Wechssler (1869-1949): Romanist im Dienst der deutschen Nation, Kassel 2010. 28 Cf. dazu die Dokumentation in: RdA, Jg. 1927, p. 375sqq. Cf. auch dazu Otto Grautoff: Das gegenwärtige Frankreich. Deutungen und Materialien, Halberstadt 1926, p. 204sqq.: „Die Wiederaufnahme der geistigen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich“. 29 So Louis Freydaval: „Les conférences françaises“, loc. cit., p. 66. <?page no="132"?> 132 manischen Seminar wurde bis in die dreißiger Jahre fortgesetzt. Im Mai 1930 sprach dort z. B. André Malraux über „Orient et Occident“ und der seinerzeit sehr bekannte Philosoph Léon Brunschvicg referierte im Juni 1930 über „Le rationalisme de l’ordre et le rationalisme du progrès“. 30 Henri Jourdan, der für die französischen Gäste Orientierungshilfe in Berlin gab, skizzierte 1930 diesen literarischen Besucherverkehr in seinem „Puzzle berlinois“: „J’aime à conduire dans des coins ignorés des Berlinois euxmêmes les écrivains français qui sont de passage. - Vous en voyez beaucoup? - Mais oui, ils se succèdent et ne se ressemblent guère, d’ailleurs. Les uns passent en trombe; invités par le romaniste de l’Université de Berlin, M. Wechssler, ils font une conférence, le lundi soir, devant les étudiants et des membres de la colonie française, restent quelque jours, et repartent bien vite. D’autres s’attardent et flânent. - J’en ai revu quelques-uns à leur retour de Berlin. Tous enchantés d’avoir découvert une ville nouvelle et naïvement étonnés de l’accueil qu’ils ont reçu.“ 31 Ähnlich wie Jourdan betätigte sich der junge Normalien Pierre Bertaux als literarischer Stadtführer in Berlin. Er war ab November 1927 als erster französischer Lektor seit dem Weltkrieg bei Eduard Wechssler unmittelbar in den Vortragszyklus am Romanischen Seminar einbezogen. Er belegt in den Briefen aus seinem Berliner Jahr 1927/ 28 ein großes Publikums-, aber ein geringeres Verleger- Interesse an der zeitgenössischen französischen Literatur in der Reichshauptstadt. Der Vortrag von Georges Duhamel zog gemäß Bertaux 600 Zuhörer an, eine von ihm vorbereitete Lesung André Gides hätte nach seinem Urteil das Auditorium maximum mit 1.200 Plätzen gefüllt 32 . Die französischen Lesungen im Berliner Romanischen Seminar fanden in Paris eine gewisse Entsprechung in den Vorträgen des „Institut d’études germaniques“, das dort Ende 1930 gegründet wurde (das aber aufgrund seines anderen Status an anderer Stelle dieser Übersicht dargestellt werden soll 33 ). Ein funktionelles Pendant zur „Maison du livre français“ kam in Paris in den Locarno-Jahren nicht zustande. Zwar gab es dort die legendäre Buchhandlung von Adrienne Monnier in der rue de l’Odéon, wo Rainer Maria Rilke, Bernhard Groethuysen, Walter Benjamin, Siegfried Kracauer, Alfred Wolfenstein und andere namhafte Schriftsteller aus Deutschland verkehr- 30 DFR, Jg. 1930, p. 525. 31 DFR, Jg. 1930, p. 131. 32 Pierre Bertaux: „Un étudiant français à Berlin (Hiver 1927-1928)“, in: Revue d’Allemagne, Jg. 1982, p. 343sq. Bertaux notierte am 18.11.1927, daß dem Repräsentanten des Mayrisch-Komitees in Berlin, Pierre Viénot, der Ansturm französischer Vortragsredner sogar zu groß schien: „Pierre Viénot trouve qu’il y a un peu beaucoup de conférenciers français à Berlin, deux ou trois par semaine: Georges Duhamel, François Porché, Anatole de Monzie, Champetier de Ribes, Benjamin Crémieux. On annonce Bernard Fay, Jacques Maritain. En France, pas de contrepartie...“. Ibid., p. 342. 33 Cf. dazu unten den Abschnitt über „Universität und Schule“ als Begegnungsbereich in und zwischen den beiden Hauptstädten. <?page no="133"?> 133 ten. 34 Die rue de l’Odéon war jedoch eher ein Treffpunkt internationaler Literatur-Repräsentanten als ein Ausgangspunkt für die Verteilung deutschsprachiger Literatur. Erst im April 1933 wurde in der rue Vignon unter dem Namen „Au pont de l’Europe“ in Gegenwart von Anatole de Monzie eine internationale Buchhandlung eröffnet, die deutschsprachige Literatur in ihrem Sortiment führte und u.a. von einem Buchhändler aus Deutschland geleitet wurde. 35 Die Theaterszene beider Hauptstädte war u.a. ein Versuchsgelände für den aktuellen Austausch der Literaturproduktion beider Länder. Auch hier zeigt sich eine große Aufnahmebereitschaft für französische Bühnenstücke im sehr lebhaften Berliner Theaterleben und ein zögerliches, aber doch auch wachsendes Interesse an der deutschen Theaterliteratur in Paris im Zeichen des „Locarno intellectuel“. René Lauret, ein bemerkenswerter Journalist und Deutschlandkenner, 36 faßte die traditionelle Asymmetrie der Theater-Rezeption zwischen beiden Nationen in der jüngeren Vergangenheit im Jahre 1928 so zusammen: „Immer nahmen die Deutschen das französische Theater willig auf. [...] Vor wie nach dem Krieg gibt es kaum einen bedeutenderen Autor, der nicht in Deutschland aufgeführt wird: Rostand, Bataille, Bernstein, de Flers, Tristan Bernard waren in Berlin wie in Paris bekannt. Heute spielt man auf deutschen Bühnen Raynal und Géraldy, Bourdet, Savoir und Verneuil. [...] Dagegen ist das deutsche Theater in Frankreich so gut wie unbekannt.“ 37 Lauret suchte die Erklärung für diese Diskrepanz in der unterschiedlichen Auffassung von der Funktion des Theaters bei den deutschen und den französischen Theater-Autoren und -Kritikern: In Deutschland gelte das Theater vorwiegend als gesellschaftskritische moralische Anstalt, in Frankreich überwiegend als Ort der vergnüglichen Zerstreuung. Indirekt bestärkten andere Beobachter des Pariser und des Berliner Theaterlebens diese These. Von deutscher Seite wurde z.B. in einer vergleichenden Studie kritisiert, daß vom Repertoire der Pariser Bühnen fast ausschließlich die marktgängigen Boulevardstücke nach Deutschland gelangten: „On représente de nouveau, comme avant la guerre, beaucoup de pièces françaises en Allemagne. Mais ce fait à lui même ne doit pas être interprété comme l’indice d’une forte et réciproque compréhension des deux cultures. D’une part, ce n’est une fois de plus qu’une littérature d’amusement, assez peu significative, que fournit le mar- 34 Cf. dazu Adrienne Monnier: Rue de l’Odéon, Paris 1960. 35 DFR, Jg. 1933, p. 335: „Eine deutsche Buchhandlung in Paris“. 36 René Lauret, der erste Leiter der Abteilung für Auswärtige Politik von Le Monde in der Nachkriegszeit, bewegte sich seit den zwanziger Jahren als Journalist zwischen Paris und Berlin und verdient eine eigene Darstellung seiner Mittlertätigkeit. 37 René Lauret: „Deutsches und französisches Theater“, in: DFR, Jg. 1928, p. 195. Cf. dazu neuerdings auch die detaillierete Studie Marc Thuret: „Französische Stücke auf Berliner Bühnen“, in: Hans Manfred Bock: Französische Kultur im Berlin der Weimarer Republik, op. cit., p. 251-284. <?page no="134"?> 134 ché parisien, et qui ne propose à la grande masse du public allemand que les vieux poncifs caricaturaux et les représentations plus ou moins déformées de la civilisation française. D’autre part, même celles d’entre les pièces jouées sur nos scènes durant ces derniers temps qui méritent d’être prises au sérieux, sont fait avant tout pour nous donner le sentiment que la différence, et je ne crains pas de dire: la déchirure qui sépare les deux grandes cultures du continent, ne s’est à coup sûr nullement atténuée.“ 38 Auch die regelmäßigen Theaterberichte aus Berlin, die die Romain- Rolland-Übersetzerin Erna Grautoff (1888-1949) in der „Revue d’Allemagne“ schrieb, waren durchzogen von dem gleichen kritischen Tenor, wenn dort von den Berliner Inszenierungen französischer Gegenwartsstücke die Rede war. Die in der Weimarer Republik im Zeichen des Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit entstandenen Stücke galten den deutschen Theaterexperten als ungleich moderner im Vergleich mit der durchschnittlichen Konfektionsware des Pariser Boulevard-Theaters. Von französischer Seite wurde vor allem das hohe Niveau der Inszenierungskunst und der Bühnentechnik des Berliner Theaterbetriebs anerkannt. 39 René Lauret wies 1928 darauf hin, daß gegenwärtig in Paris das „théâtre d’art“, vertreten von Regisseuren wie Gaston Baty, Louis Jouvet, Charles Dullin und Georges Pitoëff, inszenierungstechnisch an dies Niveau heranreiche, bühnentechnisch jedoch nicht zu vergleichen sei mit den großen Schauspielhäusern in Deutschland. 40 Tatsächlich wurden in den späten zwanziger Jahren an diesen Bühnen auch deutsche Stücke in Paris inszeniert. Von besonderer Öffentlichkeitswirksamkeit war die Uraufführung von Leonhard Franks „Karl und Anna“ in französischer Sprache im Théâtre de l’Avenue am 9. April 1929. Leonhard Frank, der als pazifistischer Autor in Frankreich mit Henri Barbusse und Georges Duhamel verglichen wurde, 41 hatte Jean-Richard Bloch für die französische Bearbeitung seines Theaterstücks und Gaston Baty für dessen Inszenierung gewinnen können. 42 Die Aufführung fand große Resonanz in der französischen Öffentlichkeit sowohl aufgrund ihrer dramaturgischen Qualität als auch wegen ihrer pazifistisch-europäischen Botschaft. 43 Franks Drama war fast gleichzeitig am Berliner Staatstheater uraufgeführt worden. Ein 1928 vorausgegangener Versuch des Theater-Austauschs zwischen Berlin und Paris war 38 Fritz Neumann: „Tribune libre. Une rencontre dramatique“, in: RdA, Jg. 1927, p. 77. Als umfassende Studie zur Aufführung französischer Stücke in Berlin cf. Marc Thuret: „Französische Stücke auf Berlins Bühnen“, loc. cit. 39 Cf. dazu u.a. die Skizze Pierre Bertaux: „Le théâtre de Piscator à Berlin“, in: RdA, Jg. 1927/ 28, p. 349sqq. 40 René Lauret, loc. cit., p. 205. 41 Cf. dazu das biographische Porträt in: RdA, Jg. 1928, p. 250sq. 42 Cf. Maurice Boucher: „Le théâtre allemand à Paris“, in: RdA, Jg. 1929, p. 465sqq. 43 Aufschußreich die Ausschnitte aus der Pariser Presse, zusammengestellt in: „‚Karl et Anna’ de Leonhard Frank et la presse parisienne“, in: RdA, Jg. 1929, p. 574sq. <?page no="135"?> 135 weniger ermutigend verlaufen. Henry Bernstein war mit seiner Schauspieltruppe vom „Gymnase“ nach Berlin gekommen und im Gegenzug kam Eugen Robert nach Paris, um dort Wedekinds „Erdgeist“ und Arthur Schnitzlers „Der einsame Weg“ aufzuführen. 44 Offenbar trug in diesem Versuch die Sprachbarriere, verbunden mit den divergierende Erwartungen des französischen und des deutschen Publikums an das Theater, dazu bei, daß diese Form des Austauschs die Ausnahme blieb. Die von Gaston Baty 1930 im Théâtre Montparnasse versuchte Inszenierung von Bert Brechts „Drei-Groschen-Oper“ war kein Erfolg. Der Kritiker der „Revue d’Allemagne“ hielt die Qualität des Textes für fragwürdig und Leonhard Franks „Karl und Anna“ für das bedeutendere Theaterereignis. 45 Der Erfolg der Pariser Aufführung von Leonhard Franks Stück im Frühjahr 1929 erzeugte eine gewisse Sogwirkung für den Transfer anderer Bühnenstücke aus Deutschland. Es wurde zwar gelegentlich in den folgenden Jahren noch Klage geführt über die „Autarkie“-Tendenzen des Pariser Theaterlebens, 46 die begründet war in der quantitativen Differenz des Austauschs. Aber in einem kleinen Disput, der sich über diese Klage entspann, konnte Anfang 1933 ein Beobachter des deutsch-französischen Theater-Transfers folgende Bilanz ziehen: „Hat vielleicht Deutschland besonderen Grund, sich über autarkische Tendenzen des Pariser Theaters zu beschweren? Elf deutsche Werke, von Dilettantenaufführungen Goethescher Dichtungen abgesehen, sind in der Spielzeit 1931/ 32 über Pariser Schauspielbühnen gezogen; eine vor und nach dem Kriege bisher - seit 1870 wenigstens - noch nie erreichte Zahl. Fünf deutsche Werke lieferte bisher die Spielzeit 1932/ 33, so diskutierbar ihre Auswahl auch gewesen sein mag. Es waren ‚Reigen’, ‚Wunder um Verdun’, ‚Cyankali’, ‚Kapriolen’ und - ‚Im weißen Röß’l’.“ 47 Trotz der qualitativen und quantitativen Unterschiede war ganz ohne Zweifel in den Jahren des „geistigen Locarno“ in der Literatur- und Theaterwelt der beiden Metropolen eine neue und höhere Stufe des Austauschs erreicht worden. Bildende Kunst Diese gesteigerte Intensität des zivilgesellschaftlichen Austauschs zwischen Paris und Berlin ist auch in anderen Bereichen der Kulturindustrie festzustellen (hier aus Platzgründen aber nicht in extenso zu belegen). So verdichteten sich z. B. die Aktivitäten in den Bereichen der Bildenden Kunst (Malerei und Plastik), des Films und des Sports. Auch in diesen Sektoren gab es charakteristische Asymmetrien in den Austauschstrukturen. Wäh- 44 Cf. „Le théâtre allemand à Paris“, in: RdA, Jg. 1928, p. 268sq. 45 RdA, Jg. 1930, p. 1029sqq.: „L’Opéra de quat’sous au Théâtre Montparnasse“. 46 Hans-Adalbert Freiherr von Maltzahn: „Irrtümer über das französische Theater“, in: RdA, Jg. 1933, p. 188. 47 Ibid., p. 191. <?page no="136"?> 136 rend die zeitgenössische französische Malerei und Bildhauerei vor und nach dem Weltkrieg in Deutschland stets großes Interesse fand, 48 war der Weg für die deutschen Künstler, ihre Werke in Paris vorzustellen, erheblich schwieriger zu beschreiten. In den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren änderte sich diese Schieflage zumindest um einige Grade. Von Ende 1928 bis Ende 1932 verzeichnet die Chronik der „Deutsch-Französischen Rundschau“ 27 Einzel- und Gruppenausstellungen von Künstlern aus Deutschland in den Pariser Galerien. Eine gewisse Spezialisierung für Exponate aus Deutschland zeigten die Galerien „Bonaparte“, „Jeanne Castel“ und „Zak“. In der Galerie Bonaparte stellten z. B. aus Hans Ganz (Gemälde und Zeichnungen) im Januar 1930, Lilly Steiner (Gemälde) im Mai 1930, Weingart (Gemälde) im Mai 1930, Fritz Wienand (Skulpturen) im Dezember 1931, und eine Ausstellung im Februar 1933 war alten deutschen Büchern und Zeichnungen gewidmet. In der Galerie Bonjean wurde in der zweiten Januar-Hälfte 1931 eine repräsentative Ausstellung der zeitgenössischen Malerei in Deutschland veranstaltet. Es wurden dort Werke gezeigt von Nolde, Kubin, Hofer, Barlach, Kokoschka, Klee, Otto Müller, Modersohn, Max Ernst, Xaver Fuhr und Dietz Edzard. 49 Die Galerie Georges Petit widmete im März 1931 eine Ausstellung dem Werk Oskar Kokoschkas, 50 und im selben Monat stellte die Galerie de la Renaissance eine Auswahl der Gemälde Max Beckmanns aus (von denen ein Bild vom französischen Staat angekauft wurde). Der „Deutsche Werkbund“ war in diesen Jahren bei mehreren Pariser Ausstellungen der „Arts décoratifs“ vertreten, und in der Bildhauerei zogen von den zeitgenössischen Künstlern besonders Arno Breker und Kurt Edzard die Aufmerksamkeit der französischen Kritiker seit 1931 auf sich. 51 Film Hinsichtlich der noch jungen Filmkunst war die Wertschätzung dieses neuen Mediums in den Jahren 1925 bis 1933 bei den Chronisten der deutsch-französischen Kulturbeziehungen unterschiedlich verteilt. Während in der „Deutsch-Französischen Rundschau“ der Film allein als Indus- 48 Dazu sind die zahlreichen Ausstellungsberichte (vor allem von Otto Grautoff) in der DFR aller Jahrgänge hinreichend Beleg. Zum künstlerischen und politischen Verhältnis deutscher und französischer Kunstschaffender in den 1920er Jahren cf. Alexandre Kostka: „Zwischen ‚feindlicher’ und ‚freundlicher’ Vermittlung. Deutsch-französische Kunstbeziehungen 1919-1937“ in: Hans Manfred Bock (ed.): Französische Kultur, op. cit., p. 229-250. 49 Cf. DFR, Jg. 1931, p. 265. Dem expressionistischen Porträtmaler Dietz Edzard wurde eine eigene Ausstellung gewidmet. Cf. RdA, Jg. 1931, p. 662sqq. 50 RdA, Jg. 1931, p. 460sqq.: „Kokoschka“. Die Ausstellung wurde gerühmt als „une des plus grandes (voire même la plus grande) manifestation artistique de l’année.“ (Ibid., p. 461). 51 Cf. z.B. „Les dessins d’Arno Breker, sculpteur“, in: RdA, Jg. 1931, p. 86sq. <?page no="137"?> 137 trieprodukt thematisiert wurde, veröffentlichte das französische Parallelorgan („Revue d’Allemagne“) regelmäßige Rezensionen der in Paris laufenden Importfilme aus Deutschland und nahm somit das neue Medium als künstlerische Ausdrucksform ernst. 52 Als im Sommer 1932 ein französischer Autor die Chronik der deutsch-französischen Begegnungsaktivitäten in Paris übernahm, berichtete er erstmals auch über die deutschen Filme, die in der französischen Hautpstadt gezeigt wurden. Er notierte dort (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) von August 1932 bis Mitte Mai 1933 nicht weniger als 37 Filmtitel aus deutscher (Ko-) Produktion, die teilweise in mehreren Pariser Filmtheatern liefen. Von diesen Kinosälen engagierten sich das „Cinéma de l’Etoile“, das „Studio des Ursulines“, „Studio Falguère“, „Cinéma des Agriculteurs“ und „Gaumont-Aubert“ im besonderen Maße für die Projektion von Filmen aus dem Nachbarland. Der größte Publikumserfolg aus dessen Produktion waren in den frühen dreißiger Jahren in Paris der Film „Mädchen in Uniform“ und die Verfilmung von Erich Kästners „Emil und die Detektive“. Der Internats-Film „Mädchen in Uniform“ wurde im September 1932 bereits zum 600. mal im Kino Marigny vorgeführt. Er wurde nicht in erster Linie wegen seiner Schilderung einer paramilitärischen preußischen Erziehungsanstalt, sondern aufgrund seiner subtilen Darstellungskunst von der Kritik gerühmt. 53 Bert Brecht wurde einem größeren Publikum in Paris zuerst bekannt durch Walter Pabsts Filmversion der Drei-Groschen-Oper, die in französischer Übersetzung 1932 mehrere Monate im „Studio des Ursulines“ lief. 54 Eine Gesamtbewertung der internationalen Filmproduktion, die ein französischer Experte Ende 1932 in Übereinstimmung mit vier anderen Pariser Filmkritikern vornahm, kam zu dem Schluß, daß in den letzten drei Jahren die besten Werke der Filmkunst aus Deutschland gekommen seien: 55 „De l’examen de tous ces films il ressort que les Allemands demeurent à l’avant-garde, avec les Russes, dans la montée presque infinie des réalisations cinématographiques. Ils sont en voie de passer maîtres dans l’emploi musical des sons et des mots“. 56 Der von 1926 bis Anfang der dreißiger Jahre angewachsene ökonomische Zwang zur deutsch-französischen Zusammenarbeit in der Filmindustrie war der materielle Hintergrund für den regel- 52 Die Chronik von Jacques Lobstein verzeichnet detailliert die Filme aus Deutschland, die in Pariser Kinos liefen. Auch gelegentliche Filmrezensionen bestätigen diese besondere künstlerische Wertschätzung des Kinofilms von der französischen Seite. So z. B. J. M. Aimot: „L’école allemande de cinéma“, in: RdA, Jg. 1927, p. 332sqq. Cf. dazu auch Francis Courtade: „Deutscher Expressionismus und französisches Kino“, in: Heike Hurst, Heiner Gassen (ed.): Kameradschaft-Querelle. Kino zwischen Deutschland und Frankreich, München 1991, p. 93sqq. 53 Cf. dazu: „Le cinéma allemand à Paris“, in: RdA, Jg. 1932, p. 643sqq. und p. 1021sq. 54 RdA, Jg. 1932, p. 354. 55 Maurice Coquelin: „L’art de l’écran en Allemagne“, in: RdA, Jg. 1932, p. 1076-1084. 56 Ibid., p. 1083. <?page no="138"?> 138 rechten Boom in den Austauschbeziehungen in diesem Bereich. Der Zwang war begründet in der Abwehr der Produkte des führenden Filmherstellers USA, und er nahm seit der Weltwirtschaftskrise von 1929 eher zu als ab. 57 Nach den Informationen eines Sachkenners wurden Ende der zwanziger Jahre ca. 100 Filme aus Deutschland nach Frankreich exportiert. 58 Die Berliner UFA unterhielt zu dieser Zeit unter dem Namen „Alliance Cinématographique Européenne“ (ACE) eine eigene Verleihfiliale in Paris (rue Volney). Um die Erfolgschancen der produzierten Filme in beiden Ländern zu steigern, engagierten die Herstellerfirmen gelegentlich gezielt Regisseure und Schauspieler aus Deutschland und Frankreich. Eine zum Schutz gegen die amerikanische Film-Hegemonie eingeführte gesetzliche Filmkontingentierung, die das Verhältnis zwischen produzierten und eingeführten Filmen im Interesse der heimischen Industrie regeln sollte, förderte indirekt die Tendenz zur technischen und künstlerischen Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich. Um einen Film in beiden Nationen kontingentfähig zu machen, waren 50% der Atelier- und Darstellerbeteiligung des betreffenden Landes erforderlich. Z. B. wurde die Verfilmung von Zolas „Nana“ mit deutschen Schauspielern in den Grunewalder Trianon-Ateliers unter der Regie von Jean Renoir im Auftrag der französischen Firma Braunberger hergestellt und wurde somit nicht als importierter Auslandsfilm angesehen. 59 Sport Auch im soziokulturellen Bereich des Massensports, in dem die bilateralen Beziehungen schon vor dem Ersten Weltkrieg in bescheidenem Umfang begonnen hatten, nahm die Begegnungsaktivität zwischen Deutschland und Frankreich ab Mitte der zwanziger Jahre einen neuen Aufschwung. Hier erlangten die Sportarten Fußball und Rugby eine hervorgehobene Bedeutung. Man konstatierte, daß in Deutschland wie in Frankreich der Sport nach dem Ersten Weltkrieg Gegenstand kollektiven Interesses in der Öffentlichkeit und damit zum Bestandteil der Alltagskultur geworden sei. 60 Bereits 1923 war Deutschland wieder in die „Union vélocipédique internationale“ aufgenommen worden, und die ersten Sportbegegnungen zwischen beiden Ländern hatten im Radfahren stattgefunden. Im Fußball fand die erste Begegnung von nationalem Interesse 1924 im Tennis-Club Borussia in Berlin statt, wo diese Mannschaft eine der besten Pariser Mannschaften, den „Club français“, schlug. Während die Leistungsfähigkeit des deut- 57 Egon Larsen: „Deutsch-französischer Filmhandel“, in: DFR, Jg. 1930, p. 572-579. 58 Ibid., p. 577. 59 Cf. dazu auch Rémy Pithon: „Cinéma français et cinéma allemand des années trente“, in: Bock, Meyer-Kalkus, Trebitsch (ed.): Entre Locarno et Vichy, op. cit., Bd. 2., p. 587sqq. 60 Cf. Marcel Berger: „Le sport en Allemagne“, in RdA, Jg. 1927/ 28, p. 343-355. <?page no="139"?> 139 schen Fußballs höher eingeschätzt wurde als die der französischen Seite, waren die Sportler aus Deutschland im Rugby, der besonders in Südfrankreich stark verbreitet war, die Eleven ihrer französischen Partner und diesen chronisch unterlegen. Eine Rugby-Auswahl aus Deutschland verlor im April 1927 im Stadion von Colombes mit 30 zu 3 Punkten, 61 im April 1929 hieß das Ergebnis am selben Ort 24 zu 0. 62 Im Rugby-Sport war man seit 1927 bemüht, mindestens einmal jährlich nationale Auswahl-Mannschaften gegeneinander spielen zu lassen. Für den Fußball wurden die Begegnungen zwischen Berlin und Paris seit 1924 zur Gewohnheit, und ein französischer Zeitzeuge bilanzierte 1928: „Le ‚Paris-Berlin’, qui prend le chemin de devenir une solennité annuelle, a consacré jusqu’à présent notre nette infériorité.“ 63 Im März 1931 fand im Pariser Stadion Colombes das erste Fußball-Länderspiel Deutschland-Frankreich statt, in dem die deutsche Mannschaft 0 zu 1 unterlag. 64 Das Rückspiel folgte im Berliner Grunewald- Stadion im März 1933 und endete unentschieden. 65 Beim Länderspiel in Paris waren unter den 45 000 Zuschauern rund 1500 deutsche Fußballfreunde, und zur Begegnung der Nationalmannschaften im Grunewald- Stadion waren 15 000 französische Fußballanhänger in drei Sonderzügen angereist. Nachdem 1929 noch die Sportentwicklung in Deutschland von französischen Beobachtern kritisch auf ihre militaristischen und nationalistischen Implikationen befragt worden war, 66 trugen gerade die Fußballspiele, die seitens der Spieler und der Zuschauer sehr fair verliefen, offenbar dazu bei, anfängliche Vorbehalte fallen zu lassen. Obwohl das Länderspiel in Berlin im März 1933 nicht mehr unter den Farben der Republik ablief, sondern unter der Hakenkreuzfahne und der Flagge Schwarz-weiß-rot stattfand, herrschte bei den französischen Sportfunktionären nunmehr die Überzeugung von der Wirkung des Sports als vertrauensbildender Maßnahme vor. 67 61 Ibid., p. 352. 62 Cf. auch ders. in: RdA, Jg. 1929, p. 566sqq.: „Rugby. Après la rencontre ‚France- Allemagne’“. 63 RdA, Jg. 1927/ 28, p. 350. 64 Gautier Everard: „Sport in Frankreich. I. Deutscher Sport in Paris“, in: DFR, Jg. 1931, p. 434sqq. 65 Korfiz Kneiser: „Zweites Fußfall-Länderspiel Deutschland-Frankreich“, in: DFR, Jg. 1933, p. 256sqq. 66 So besonders im Fortsetzungs-Artikel von Marcel Berger: „Le sport en Allemagne“, in: RdA, 1928, p. 457sqq. 67 Cf. RdA, Jg. 1933, p. 257. <?page no="140"?> 140 2.2. Verständigungspolitische Initiativen Verständigungspolitische Organisationen und Strategien Neben (und teilweise verbunden mit) den vielfältigen Ansätzen bilateralen Kulturtransfers, die in der Locarno-Ära aus der wachsenden kulturindustriellen Nachfrage in den Metropolen entstanden, bildete sich dort ein komplexes transnationales Kommunikationsnetz zwischen Deutschland und Frankreich heraus, das von gesellschaftlichen Akteuren getragen und primär durch den verständigungspolitischen Willen auf beiden Seiten zusammengehalten wurde. Dieses transnationale Kommunikationsnetz, das in seinen organisatorischen Umrissen erst in der jüngeren Forschung sichtbar gemacht wurde, 68 war besonders eng geknüpft in den Hauptstädten beider Nationen. Auch hier ist - wie in den kulturindustriellen Interaktionsfeldern - eine deutliche Asymmetrie der organisierten Begegnungsaktivitäten festzustellen. Während in Berlin seit 1928 die „Deutsch-Französische Gesellschaft“ (DFG) der Ausgangs- und Mittelpunkt verständigungspolitischer Initiativen im gesellschaftlichen Milieu des Bildungsbürgertums war, kam es in Paris in den Locarno-Jahren nicht zu einer vergleichbaren Zusammenfassung der gleichgerichteten gesellschaftlichen Kräfte. Zwar gab es ein organisatorisches Pendant zur DFG auf der französischen Seite mit der 1928 gegründeten „Ligue d’Etudes Germaniques“ (LEG), doch hatte diese Vereinigung ihren Rekrutierungsschwerpunkt in den Städten der Provinz und trat in Paris kaum in Erscheinung. 69 Der Gründer und Leiter der Berliner DFG, Otto Grautoff (1876-1937), beklagte diesen Sachverhalt öfter und führte ihn darauf zurück, daß die rechtsgerichtete Presse in der französischen Hauptstadt durch ihren antideutschen Tenor das Hervortreten einer französisch-deutschen Verständigungs- 68 Cf. dazu Hans Manfred Bock: „Die Deutsch-französische Gesellschaft 1926 bis 1934. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der deutsch-französischen Beziehungen“, in: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte, Bd. 17/ 3 (1991), p. 57-101 und ders.: „Die Ligue d’Etudes Germaniques von 1928 bis 1936. Ein unbekannter Aspekt der französisch-deutschen Gesellschaftsbeziehungen der Zwischenkriegszeit“, in: Lendemains. Etudes comparées sur la France. Vergleichende Franreichforschung, Jg. 1989, Nr. 53, p. 138- 149. Cf. umfassend auch Ina Belitz: Befreundung mit dem Fremden. Die Deutschfranzösische Gesellschaft in den deutsch-französischen Kultur- und Gesellschaftsbeziehungen der Locarno-Ära, Bern, Berlin 1997 und neuerdings Corine Defrance: Sentinelle ou pont sur le Rhin? Le Centre d’Etudes Germaniques, Paris 2008; Ulrich Pfeil (ed.): Deutschfranzösische Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen im 20. Jahrhundert, München 2007. 69 Cf. dazu auch Hans Manfred Bock: „Les associations de germanistes français. L’exemple de la Ligue d’Etudes Germaniques“, in: Michel Espagne, Michael Werner (ed.): Les études germaniques en France (1900-1970), Paris 1994, p. 155-169. <?page no="141"?> 141 Organisation praktisch unmöglich mache. 70 Das Fehlen einer solchen Organisation in Paris bedeutete jedoch keineswegs, daß es dort keine Orte französisch-deutscher Begegnung und Initiativen gesellschaftlicher Verständigung gegeben hätte. Allerdings verteilten sich diese Kommunikationszentren auf mehr Milieus als in Berlin, und sie waren teilweise Bestandteil europäischer oder internationalistischer Gruppierungen. Bevor im folgenden die Formen und Aktivitäten der deutsch-französischen Verständigungs-Gruppen in den beiden Metropolen skizziert werden, ist es sinnvoll, die Absicht und Strategie dieser zivilgesellschaftlichen Verständigungs-Initiativen zu verdeutlichen. Diese Intentionen werden sehr plastisch erkennbar in einer von der Berliner DFG im Jahre 1929 eingeleiteten Befragungsaktion zu den Verbesserungsmöglichkeiten der deutsch-französischen Beziehungen, auf die u.a. Edouard Herriot (Erziehungsminister), Paul Painlevé (Kriegsminister), Maurice Boucher (Direktor der Zeitschrift „Revue d’Allemagne“), der Publizist Wladimir d’Ormesson, der Münchner Professor August Gallinger, der Berliner Studienassessor Paul Hartig, Gustav Radbruch (Jurist und Reichsminister a.D.), Leo Spitzer (Romanist in Marburg) sowie die Schriftsteller Ernst Toller, Arnold Zweig (beide Berlin) und Stefan Zweig (Salzburg) antworteten. 71 Die gesellschaftliche Begegnung zwischen Deutschen und Franzosen und die durch sie ermöglichten Lernprozesse sollten nach Überzeugung aller Beteiligten die Beziehungen zwischen beiden Nationen von der Basis her, im vorpolitischen Bereich, stabilisieren und diese transnationalen Beziehungen ein Stück weit unabhängig machen von den politischen Krisen und Konjunkturen. Von den Antworten aus Frankreich waren die Überlegungen des Deutschlehrers und zeitweiligen Vorsitzenden der LEG, Christian Sénéchal, besonders eindrucksvoll und auf die Praxis hin reflektiert. Sénéchal, Freund Romain Rollands und Frankreich-Korrespondent des Neuphilologen-Organs „Die Neueren Sprachen“, hielt es für vorrangig, „die Bedingungen anzugeben, von denen das Gelingen des geplanten Austauschs abhängt.“ 72 Diese Bedingungen interkulturellen Lernens waren gemäß seinem Verständnis: „1. Germanisten, Historiker, Juristen, Gymnasialpädagogen usw. sollen der jüngeren Generation angehören, d.h denjenigen, welche die Zukunft zu gestalten haben. Vor allem sollen die Geister das Nachbarvolk kennenlernen, die noch keine feste Stellung genommen haben, die noch bildsam genug sind, um eventuell ihre Vorurteile fallen zu lassen. 2. Infolgedessen würde ein solcher Austausch besonders für Gymnasiasten, Seminaristen, Realschüler usw. in Betracht kommen. Auf der 70 Otto Grautoff: Franzosen sehen Deutsche. Begegnungen, Gespräche, Bekenntnisse, Leipzig 1931, p. 17. 71 „Deutsch-französischer Austausch. Antworten auf unsere Umfrage“, in: DFR, Jg. 1929, p. 516-536. 72 Ibid., p. 522. <?page no="142"?> 142 Universität führen die Studenten schon ein vereinzeltes Leben, das nicht geeignet ist, den Ausländer mit möglichst vielen Leuten in intime, tägliche Berührung zu bringen, und dauernde Freundschaften entstehen zu lassen. 3. Wir müssen uns hüten, daß die Regierungen eine vorherrschende Rolle in den Austauschorganisationen spielen. Im Gegenteil sollen vor allem unabhängige Vereine und private Personen für unseren Zweck gewonnen werden (z. B. die sogenannten Associations de Parents). 4. Alles muß sorgfältig und bis ins Einzelne vorbereitet werden, um Enttäuschungen zu vermeiden, die das ganze Unternehmen zum Scheitern bringen würden. Besser spät als zu früh! 5. Nicht nur zwischen Berlin und Paris soll der Austausch stattfinden; die Beziehungen werden an Stärke und Tiefe gewinnen, wenn die einzelnen Provinzen in jedem Lande sich für die Sache interessieren. In den Hauptstädten sind die Vertreter des Auslandes der Gefahr ausgesetzt, mitten im Strudel zu verschwinden und auch weniger die Individuen als die Gruppen kennenzulernen. Warum würden die verschiedenen Komitees, Vereine usw. einer Stadt sich nicht einigen, um zu den entsprechenden Ausschüssen einer anderen Stadt in Beziehung zu treten? So würde der Ausländer gleich bei seiner Ankunft einen schon bestehenden Kreis finden, der bereit wäre, ihn aufzunehmen. [...] Sonst bleibt wenigstens im Anfang der Ankömmling ganz isoliert oder verkehrt mit einem allzu engen Milieu. - Ich träume von - ‚Schwesterstädten’! “ 73 Es ist offensichtlich, daß diese Programmsätze zivilgesellschaftlicher Begegnung zwischen Deutschen und Franzosen aus dem Jahre 1929 eine Strategie skizzierten, die in der kurzen Zeitspanne des „geistigen Locarno“ nur in Ansätzen realisiert werden konnte und ihrer Zeit weit voraus war. 74 Publizistische Foren Eine im Rückblick geradezu gigantische Leistung der verständigungspolitischen Gruppen in Berlin und Paris war die parallele Herausgabe einer Deutschland-Revue in der französischen und einer Frankreich-Revue in der deutschen Hauptstadt („Revue d’Allemagne“, RdA, und „Deutsch- Französische Rundschau“, DFR) von 1927 bzw. 1928 bis 1933. 75 Während 73 Ibid., p. 522sq. Cf. dazu die Herleitung der Idee der Städtepartnerschaften (die erst in den späten fünfziger Jahren ihre heutige Bedeutung erlangten), in: Hans Manfred Bock: „Europa von unten. Zu den Ursprüngen und Anfängen der deutschfranzösischen Gemeindepartnerschaften“, in: Annette Jünemann, Emanuel Richter, Hartmut Ulrich (ed.): Gemeindepartnerschaften im Umbruch Europas, Frankfurt/ Main 1994, p. 13-35. 74 Cf. dazu die Dokumentation von Hans Manfred Bock: „Weimarer Intellektuelle und das Projekt deutsch-französischer Gesellschaftsverflechtung“, in: Rüdiger Hohls, Iris Schröder, Hannes Siegrist (ed.): Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Stuttgart 2005, p. 422-427. 75 Cf. zu ihrer Geschichte und Inhaltsanalyse die Pariser Dissertation von Béatrice Pellissier, op. cit. <?page no="143"?> 143 die DFR das Verbandsorgan der DFG war und diese ursprünglich sogar geplant wurde, um die Monatsschrift lebensfähig zu machen, war die RdA in Paris an keine der einzelnen dort existierenden Gruppen gebunden. Die Zeitschriften dienten nicht allein dazu, einander wechselseitig über Fragen der Kultur, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu informieren und die Probleme der deutsch-französischen Beziehungen (durchaus kontrovers) zu diskutieren, sondern sie waren nicht zuletzt ein integrierendes Band für die Konstituierung eines deutsch-französischen Milieus in den beiden Metropolen. Sie waren Veranstaltungskalender, Nachrichtenbörse und Publikations-Plattform für Vorträge, die in Paris oder Berlin gehalten worden waren. Die beiden deutsch-französischen Revuen führten klangvolle Namen in ihrem Herausgeber-Verzeichnis. Für die DFR zeichneten u.a. als Herausgeber Heinrich Eduard Jacob, Edgar Stern-Rubarth, Maurice Boucher, Edmond Jaloux und Henri Lichtenberger; für die RdA waren u.a. Félix Bertaux, Ernst-Robert Curtius, Jean Giraudoux, Otto Grautoff, Edmond Jaloux, Paul Langevin, Henri Lichtenberger, Thomas Mann und Jules Romains im Redaktionsausschuß vertreten. Tatsächlich jedoch stand die aktive Mitarbeit an der Pariser und an der Berliner Monatsschrift im umgekehrten Verhältnis zum Bekanntheitsgrad des Namens ihrer Herausgeber. Die Hauptlast der redaktionellen Arbeit trugen der Kunst- und Literatur-Kritiker Otto Grautoff 76 in Berlin und der Germanist Maurice Boucher (1885-1977) in Paris. Die von den Außenministerien in beiden Hauptstädten durch ein Förderungs-Abonnement gestützten Periodika erreichten hinsichtlich ihrer Themenbreite und der Kompetenz ihrer Autoren ein Niveau, das zuvor (und lange danach) im deutsch-französischen Zusammenhang nicht erreicht wurde. 77 Organisierte Reisen Neben diesen publizistischen Plattformen für den deutsch-französischen Dialog in den beiden Hauptstädten gab es im Maße ihrer (noch bescheidenen) Möglichkeiten seitens der verständigungspolitischen Organisationen Versuche, die Kenntnis des Nachbarlandes durch gut vorbereitete und kompetent geleitete Gruppenreisen für ihre Mitglieder zu fördern. Während die DFG von 1929 bis 1933 jährlich unter der Leitung ihres Gründers Otto Grautoff eine Paris-Reise durchführte, unternahm die LEG jährlich Deutschland-Reisen mit wechselndem Zielort, von denen allerdings 76 Zu dessen Biographie cf. meine Studie: „Transnationale Begegnung im Zeitalter des Nationalismus. Der Lebensweg Otto Grautoffs (1876-1937) zwischen Deutschland und Frankreich“, in: Gilbert Krebs (ed.): Sept décennies de relations franco-allemandes 1918-1988. Hommage à Joseph Rovan, Paris/ Asnières 1989, p. 67-79. Neuere Erkenntnisse in den Dissertationen von Béatrice Pellissier und Ina Belitz (op. cit.). 77 Eine Gesamtgeschichte der deutsch-französischen Zeitschriften-Gründungen, die dies Urteil zu prüfen hätte, ist noch zu schreiben. <?page no="144"?> 144 der Berlin-Reise im Jahre 1930 besondere Publizität zukam. Die erste der Frühjahrsfahrten der DFG führte 1929 z. B. eine Gruppe von 33 Teilnehmern aus Berlin und anderen deutschen Städten nach Paris, wo Grautoff und andere DFG-Repräsentanten ein dichtes Programm vorbereitet hatten. 78 Neben den kulturhistorischen Besichtigungen nahmen die Begegnungen mit Vertretern des außen- und des verständigungspolitischen Milieus einen großen Teil des Aufenthaltes in Anspruch. Die Reisegruppe wurde in der deutschen Botschaft empfangen und im Quai d’Orsay vom Leiter der Kulturabteilung begrüßt, der sie anschließend durch die Säle des Außenministeriums führte. Das verständigungspolitische Milieu trat den deutschen Besuchern in Gestalt der „Amitiés internationales“ entgegen, wo sie von Anatole de Monzie willkommen geheißen wurden und mit Henri Lichtenberger, Julien Benda, Edmond Jaloux und Jules Romains Bekanntschaft machten. Der Präsident der „Amitiés internationales“, der sozialistische Abgeordnete César Chabrun, der Vorsitzende der Académie Goncourt, Rosny jeune, der Leiter eines der großen Kriegsteilnehmer- Verbände, Oberst Picot, und Otto Grautoff beschworen in ihren Reden die Notwendigkeit des Friedens und der deutsch-französischen Versöhnung. Ein Teil der Reisegruppe aus Deutschland wurde in die Wohnung des „Revue d’Allemagne“-Herausgebers Maurice Boucher eingeladen, wo sie u.a. Henri Lichtenberger und Christian Sénéchal wiedertraf. Ein anderer Teil war zu Gast in einer Sitzung der französischen Sektion der Paneuropa- Union, die in den Räumen des Völkerbund-Instituts für geistige Zusammenarbeit im Palais Royal stattfand. In den Stationen dieses Begegnungs- Programms hatten die DFG-Gäste einen Teil der Topographie des französisch-deutschen Kommunikationsraums durchmessen. Die erste Gruppenreise der LEG führte diese nach Berlin und fiel gerade auf das Datum der Krisenwahlen zum Reichstag vom September 1930, 79 die der NSDAP zum Durchbruch verhalfen. Die Gruppe umfaßte viele Lehrer, aber auch Freiberufler und war mit 70 Teilnehmern doppelt so stark wie die DFG- Gruppe bei der Paris-Reise vom Vorjahr. Die DFR schrieb, es sei seit 1870 keine so große Gruppe französischer Intellektueller in die Reichshauptstadt gekommen. 80 Die Reiseteilnehmer wurden vom Präsidenten des Preußischen Landtages, dem Sozialdemokraten Friedrich Bartels, empfangen, der die Arbeit der LEG seit längerem kannte und schätzte. 81 Die französischen Gäste waren besonders beeindruckt von einem Besuch im Staatlichen Musikheim und von dessen musikpädagogischer Konzeption. Sie besichtigten 78 Cf. Max Fuchs: „Bericht über die Studienfahrt der DFG“, in: DFR, Jg. 1929, p. 586sqq. 79 Cf. dazu Antoine Ravizé: „Le voyage à Berlin de la LEG“, in: RdA, Jg. 1930, p. 1041sqq. 80 DFR, Jg. 1930, p. 750. 81 Namentlich der zeitweilige Vorsitzende der LEG Adrien Robinet de Cléry unterhielt fortgesetzte Kontakte zu den Beriner Sozialdemokraten. Cf. auch seinen Nachruf auf Friedrich Bartels in RdA, Jg. 1931, p. 1123-1127. <?page no="145"?> 145 die Elektrizitäts-Zentrale Bewag, die Borsig-Werke sowie den Ullstein- Verlag und hörten in der Hochschule für Politik am Schinkel-Platz einen Vortrag über die gegenwärtige Wirtschaftsentwicklung im Reich. Das Fazit vieler Einzelgespräche mit den Berlinern versuchte der Berichterstatter der LEG zusammenzufassen: „Nous nous trouvions en pleine période de fièvre électorale. Nous avons eu individuellement de nombreuses conversations particulières improvisées, dans la rue, en métro, au café, dans des réunions électorales auxquelles certains de nos membres ont pu assister: aucun de nous n’a rencontré aucune acrimonie, aucune allusion aux formules politiques qui cependant faisaient rage, aucune tentative pour rendre la France responsable de difficultés que cependant on ne cherchait pas à dissimuler. Certainement beaucoup de nos interlocuteurs occasionnels ont voté pour les nationalistes, et certainement aussi ces deux attitudes, que nous pourrions trouver contradictoires, étaient sincères chez eux: l’Allemagne n’a pas encore trouvé son équilibre, et les gestes parfois désordonnés qu’elle fait pour y parvenir peuvent inciter ses voisins à la prudence. Mais il semble que ces violents remous politiques n’arrivent pas jusqu’aux profondeurs du sentiment de communauté de culture, de parenté européenne entre elle et nous.“ 82 Das von der Berliner DFG ausgearbeitete Besuchsprogramm für die LEG-Gruppe orientierte sich allen Anzeichen nach stärker an den lebensweltlichen Interessen der Teilnehmer als am Ziel der Kontaktnahme mit Organisationen und Institutionen. Der eben erst begonnene Gruppen- Reiseverkehr unter republikanischen Vorzeichen zwischen Berlin und Paris endete im Jahre 1933. Universität und Schule Die Strategie zivilgesellschaftlicher Fundamentierung der deutsch-französischen Beziehungen verwies die verständigungspolitischen Gruppen beider Hauptstädte auf die Tätigkeit in allen pädagogischen Bereichen. In Berlin, wo rund 60% der Mitglieder der DFG lebten, waren die personellen Voraussetzungen ausreichend, um im akademischen Bereich eine eigene Studentenvereinigung zu gründen. Im Dezember 1929 konstituierte sich eine Studentengruppe der DFG, nachdem der Berlin-Besuch einer französischen Studenten-Delegation, der Mission Universitaire Catholique Française, den Anstoß dazu gegebe hatte. Man fixierte als Ziel des Zusammenschlusses „das Studium und die Vertiefung in die französischen Probleme der Gegenwart, Lebensformen des Volkes, des Akademikers im besonderen, politische Struktur, Verfassung, Recht.“ 83 Daneben sollten Fragen der 82 Antoine Ravizé, loc. cit., p. 1044. 83 DFR, Jg. 1930, p. 78: „Gründung einer Studentengruppe der DFG“. Zum Besuch der französischen Studentengruppe cf. auch Eugène Susini: „Die ‚Mission catholique universitaire française’ in Deutschland“, in: DFR, Jg. 1929, p. 975sq. <?page no="146"?> 146 Geschichte, Kunst und Literatur thematisiert werden. Die ersten Schritte der Berliner Studentengruppe wurden aktiv gestützt von Henri Jourdan und Otto Grautoff und die letzte Spur ihrer Tätigkeit ist datiert vom 27.2.1933; es war wiederum Jourdan, inzwischen Direktor des „Institut français“ in Berlin geworden, der bei dieser letzten Manifestation als Referent auftrat. 84 Angesichts der wachsenden materiellen Notlage vereinigte die DFG-Studentengruppe, an deren Diskussion gelegentlich der junge Raymond Aron teilnahm, 1932 ihre Ressourcen mit denen der Romanistischen Gemeinschaft der Universität Berlin, um auch künftig „das Zentrum deutscher und französischer Akademiker“ sein zu können. 85 Der studentische Sproß der Berliner DFG, an dessen Spitze bis 1932 ein Mitglied der Zentrums-Partei (Rudolf Junges) stand, blieb im größeren Zusammenhang der deutsch-französischen Jugendbeziehungen dieser späten Weimarer Jahre eine Randerscheinung, 86 gewann jedoch eine gewisse Bedeutung im lokalen Kontext des im Vergleich zu Paris weniger differenzierten transnationalen Kommunikationsraums von Berlin. Die Strategie der zivilgesellschaftlichen Stabilisierung der deutschfranzösischen Beziehungen - wie sie exemplarisch Christian Sénéchal dargelegt hatte - bevorzugte die jüngeren Altersstufen der Schüler als Zielgruppe. In diesem Feld des Schüler- und Jugendgruppen-Austauschs sowie des Schülerbriefwechsels leistete die Berliner DFG Beträchtliches. Bereits im Januar 1929 errichtete die DFG eine „Mittelstelle für Schülerbriefwechsel“ und seit September 1928 hatten einige Reform-Pädagogen in Zusammenarbeit mit der Verständigungsorganisation Grautoffs einen „Foyer scolaire franco-allemand“ eingerichtet. Im Sommer 1928 war erstmals eine Gruppe von 20 Berliner Schülern mit Unterstützung des städtischen Jugendamtes und unter Leitung des Studienrats Ernst Schwarz von der Kant-Schule der Einladung in eine internationale Ferien-Schule nach Boulogne gefolgt. 87 Ergänzt wurden diese pädagogischen Verständigungs- Initiativen durch eine „Mittelstelle für Schüleraustausch“, die allerdings nicht in Berlin, sondern zuerst in Heidelberg, dann in Stuttgart ihren Sitz hatte, von der Berliner DFG-Zentrale aber als Bestandteil des eigenen Organisationsnetzes angesehen wurde. 88 Die beiden „Mittelstellen“ für Schü- 84 Cf. DFR, Jg. 1933, p. 270. Henri Jourdan war ab Jahresbeginn 1933 Leiter des Institut français de Berlin geworden; für diese Funktion waren auch Maurice Boucher und Adrien Robinet de Cléry im Gespräch gewesen. Cf. Dominique Bosquelle: „L’Institut Français à Berlin dans les années trente“, in: Cahiers d’Etudes Germaniques, Jg. 1991, no 21, p. 222sq. 85 DFR, Jg. 1932, p. 762. 86 Cf. dazu umfassend Dieter Tiemann: Deutsch-französische Jugendbeziehungen der Zwischenkriegszeit, Bonn 1989, p. 85sqq. 87 Cf. ibid., p. 183. 88 Zur Zusammenarbeit des Berliner Reformpädagogen Siegfried Kawerau mit der dortigen DFG, cf. zusammenfassend ibid., p. 182. <?page no="147"?> 147 ler-Korrespondenz und -Austausch waren hervorgegangen aus der Arbeit der pazifistisch orientierten „Deutschen Liga für Menschenrechte“, expandierten jedoch erst in der Locarno-Ära in der Symbiose mit der DFG. Deren Repräsentant Grautoff bilanzierte 1932 die fünfjährige Tätigkeit der beiden reichsweit tätigen Vermittlungs-Einrichtungen für Schülerkontakte zwischen Deutschland und Frankreich: Es seien rund 15.000 Schüler-Korrespondenzen und 1.225 Schüler-Austausch-Vorgänge in jeder Richtung herbeigeführt worden. 89 Bei der Herstellung dieser Schülerkontakte war die französische Ligue d’Etudes Germaniques, in der besonders viele Lehrer organisiert waren, überaus hilfreich. Die pädagogischen Einrichtungen für die Förderung der deutsch-französischen Kontakte im engeren Berliner Raum, das „Foyer scolaire franco-allemand“ und die Schüler-Gruppenreisen, wurden gefördert durch die Zusammenarbeit mit dem städtischen Jugendamt auf der einen, mit dem Verein der Freunde des Neusprachlichen Gymnasiums, der Ende 1927 in Berlin gegründet worden war, auf der anderen Seite. 90 Das Foyer scolaire, das im Januar 1929 mit einer Lessing- Voltaire-Feier in den Räumen der Deutschen Gesellschaft in Berlin schwungvoll in Erscheinung getreten war, 91 erfreute sich der Gunst der französischen Botschaft. Die bis Anfang der dreißiger Jahre etwa monatlichen Treffen boten Gelegenheit zur französischen Konversation und zu Einladungen an die Berliner Schüler in Familien der französischen Kolonie der Stadt. 92 Die Repräsentanten des traditionsreichen Französischen Gymnasiums in Berlin beschworen hingegen überwiegend die französische Vergangenheit der Institution und hielten sich aus der aktuellen verständigungspolitischen Bewegung demonstrativ heraus. 93 Das Traditionsbewußtsein der sich auf die hugenottische Geschichte berufenden „französischen Kolonie“ von Berlin war überwiegend kirchlich geprägt. 94 Die 1928 begonnenen und von der Stadt Berlin geförderten Schülergruppenreisen zu den internationalen Sommer-Ferienlagern in Frankreich wurden bis 1932 fortgesetzt und nahmen an Umfang zu. Die Gruppenreisen wurden meist mit einem Aufenthalt in Paris verbunden. Im August 1929 wurden z. B. 50 Schüler Berliner Höherer Lehranstalten in Paris in der deutschen Botschaft und im Quai d’Orsay empfangen auf der Heimreise von einem Ferienlager am Meer. Im Sommer 1931 kamen 140 Schüler aus Berlin und 110 Schüle- 89 Cf. Otto Grautoff in den DFG-Akten des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes in Bonn Bd. VI, H 024 144. 90 DFR, Jg. 1928, p. 87. 91 DFR, Jg. 1929, p. 170. 92 So Ernst Schwarz: „La ville de Berlin et le rapprochement par l’école“, in: RdA, Jg. 1930, p. 155sqq. 93 Cf. dazu Werner Morhenn: „Das Staatliche Französische Gymnasium in Berlin“, in: DRF, Jg. 1929, p. 511-513. Ders.: „Le lycée français de Berlin“, in: RdA, Jg. 1930, p. 159- 162. 94 Cf. B. Fabre: „La ‚colonie française’ de Berlin“, in: RdA, 1931, p. 193-208. <?page no="148"?> 148 rinnen aus verschiedenen Städten des Reichs zum Ferienaufenthalt nach Frankreich. 95 Eine neue Komponente des deutsch-französischen Schulaustauschs wurde 1930 in Berlin eingeführt. Es sollten erstmals seit dem Weltkrieg 6 Schulassistenten aus Frankreich in den Schulen der Reichshauptstadt für ein Jahr unterrichten und 6 Berliner Lehrer sollten an Pariser Lehranstalten arbeiten. Die mit den drei Komponenten der deutschfranzösischen Schularbeit der Stadt Berlin (Foyer scolaire, Reisegruppen und Lehreraustausch) verbundenen Hoffnungen formulierte ein beteiligter Lehrer im Jahre 1930: „Il est sûr que l’œuvre de la ville de Berlin et de l’Etat français aura à la longue des effets qui contribueront fortement à l’amélioration, non seulement des relations scolaires mais aussi des relations générales entre la France et l’Allemagne.“ 96 Der Autor dieser zuversichtlichen Zeilen wurde 1933 unmittelbar nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten von einer NS-Stadträtin verdrängt 97 und die neu entstandenen schulischen Austausch-Ansätze wurde von den neuen Machthabern in staatliche Regie genommen. Im Gegensatz zu Berlin spielte in Paris die Schule als Ort zivilgesellschaftlicher Grundlage der deutsch-französischen Verständigung keine hervorragende Rolle. Es gab dort zeitweilig ein „Comité d’échanges scolaires franco-allemand“. In Frankreich war jedoch die Schule überwiegend in den Städten der Regionen außerhalb der Ile de France ein Ort punktueller französisch-deutscher Kontaktnahme. 98 In Paris konzentrierte sich hingegen die französisch-deutsche Interaktion im Erziehungssystem ganz auf die Universität. Diese Konzentration war bedingt durch die Tatsache, daß seit 1925 die Sorbonne wieder eine schnell wachsende Anziehungskraft auf Studierende aus Deutschland ausübte. 99 Deren frühester Zusammenschluß kam 1927 in Paris unter dem Etikett „Vereinigung deutscher Studierender“ zustande. Er trug Züge einer Selbsthilfe-Einrichtung, die ihn eher als Bestandteil der deutschen Kolonie denn als verständigungspolitische Gruppe ausweisen. 100 Die Vereinigung wurde nach der Gründung des staatlichen Austauschdienstes (Deutsche Akademisch-Pädagogische Vermittlungsstelle) in Paris 1930 aufgelöst. Von den zahlreichen Orten französisch-deutscher Begegnung und Debatte, die in den Locarno-Jahren in Paris entstanden, waren die lebendigsten im Bereich des akademischen Lebens das „Centre d’études franco-allemandes“ und das „Institut d’études germaniques“. Entfernt vergleichbar mit der DFG-Studentengruppe in Berlin, aber ungleich unternehmungsfreudiger und leistungsfähiger war das 95 DFR, Jg. 1931, p. 711. 96 Ernst Schwarz, loc. cit., p. 158. 97 Cf. Dieter Tiemann, op. cit., p. 158. 98 Cf. dazu die Tätigkeitsberichte aus den diversen Städten in RdA und meinen Überbick in: Les associations de germanistes français, loc. cit. 99 Cf. Dieter Tiemann, op. cit., p. 209sqq.: „Deutsche Studenten in Frankreich“. 100 Cf. DFR, Jg. 1928, p. 177. <?page no="149"?> 149 „Centre d’études franco-allemandes“ (CEFA) in Paris, 2 place de la Sorbonne. Es wurde im Februar 1929 eröffnet unter dem Namen „Cercle international“ und unter der Schirmherrschaft des Direktors der Völkerbund- Einrichtung „Institut international de Coopération intellectuelle“, Luchaire. Der Nestor der französischen Germanistik und Professor am Collège de France, Charles Andler (1866-1933), stellte die Neugründung in die Tradition der privaten Verständigungsversuche der Vorkriegszeit zwischen französischen und deutschen Studenten und versicherte ihr seine Sympathie. 101 Als Repräsentanten von Paris und Berlin hielten die Bibliotheks- Direktoren Roland Marcel und Krüss die Eröffnungsreden. Die Errichtung und Leitung des Begegnungszentrum im Herzen des Quartier latin war wesentlich das mäzenatische Werk von Mme Barrance, die für die Bereitstellung der Räume Sorge trug. Von einer politisch-inhaltlichen Einflußnahme des Institut international de Coopération intellectuelle auf die Arbeit des Zentrums sind in den Jahren 1929 bis 1933 keine Spuren zu finden. 102 Als „Cercle international“ ins Leben gerufen, wurde es schon während des Jahres 1929 geläufig als „Centre d’études franco-allemandes“ bezeichnet. Es sollten dort nach Möglichkeit mehrfach in der Woche deutsche und französische Studierende zusammenkommen, um ein bestimmtes Thema aus der Sicht der einen und der anderen Seite darzustellen und zu diskutieren, das keinen direkt politischen Charakter haben sollte. In den ersten Jahren nahmen - nach eigenen Angaben - im Schnitt 40 deutsche und die gleiche Zahl französischer Studenten an den Veranstaltungen des Zentrums teil. Einige Vortrags-Folgen wurden dem Ziel gerecht, eine Frage aus doppelter Sicht zu behandeln: „Der französische und der deutsche Student“, „Les impressions d’un étudiant français en Allemagne“ - „Eindrücke eines deutschen Studenten in Frankreich“, „Die politischen Parteien in Deutschland“ - „Les partis politiques en France“, „Die sozialen Versicherungen in Deutschland“ - „Les assurances sociales en France“ usw. 103 Die Vortrags- und Diskussions-Veranstaltungen, die gelegentlich durch musikalische Darbietungen ergänzt wurden, folgten dem universitären Jahresrhythmus in Paris; sie wurden nach der rentrée im November jeden Jahres eröffnet, folgten mit der größten Regelmäßigkeit in den Wintermonaten und wurden seltener in den Frühjahrs- und Examens-Monaten. Die letzte ermittelbare Saison-Eröffnung des CEFA erfolgte am 27. November 101 Brief von Charles Andler vom 11. Februar 1929, in: RdA, Jg. 1929, p. 388sq. 102 Einen solchen Einfluß vermutet Dieter Tiemann, op. cit., p. 219. Das CEFA existierte in jedem Fall länger als Tiemann annimmt. Im Bericht der deutschen Repräsentantin im Völkerbund-Institut für geistige Zusammenarbeit wird das Zentrum nicht erwähnt. Cf. Margarete Rothbarth: „Das Internationale Institut für geistige Zusammenarbeit“, in: DFR, Jg. 1929, p. 312-314. 103 DFR, Jg. 1930, p. 1050. <?page no="150"?> 150 1932. 104 In der Auswahl der Referenten, die an der place de la Sorbonne vortrugen, kann man eine recht sinnvolle Mischung von Einladungen an prominente Persönlichkeiten des französisch-deutschen Kommunikations- Milieus und von studentischer Eigenaktivität beobachten. Zu den Protagonisten des Dialogs zwischen beiden Nationen gehörten z. B. die folgenden Redner: Prof. Gottfried Salomon, Soziologe und führendes DFG-Mitglied in Frankfurt/ Main, der am 24. April 1929 sprach über „Neue Formen des Hochschulunterrichts in Deutschland“; der Psychologe und Gide- Übersetzer Hans Prinzhorn, der im Mai 1929 über „Kernprobleme der neueren Psychologie“ referierte; Jules Romains stellte sich am 2. Februar und sein Schriftsteller-Kollege Benjamin Crémieux am 9. März 1930 zu einer literarischen Plauderei ein; Theaterdirektor Gaston Baty kommentierte die „Entwicklung des zeitgenössischen Theaters in Deutschland und Frankreich“ am 2. April 1930; das Mitglied des „Deutsch-französischen Studienkomitees“, des wohl effizientesten elitär-kooptativen Verbindungsnetzes zwischen beiden Nation, 105 Régis de Vibraye sprach im CEFA über „Psychologische Voraussetzungen der Völkerverständigung“; der DFG- Gründer Otto Grautoff trug Ende Mai 1931 vor zur gegenwärtigen Situation in Deutschland; der Philosoph Paul Landsberg hielt im Dezember 1931 einen Vortrag über „Interpretationen der Lehre Nietzsches über die ewige Wiederkehr des Gleichen“ und Jean Schlumberger berichtete im Januar 1932 über die „Entstehung der Nouvelle Revue Française“; im März 1932 faßte dort der Literaturkritiker Maurice Martin du Gard seine Impressionen einer gerade abgeschlossenen Deutschlandreise zusammen. 106 Von Studenten aus beiden Ländern wurde der größte Teil der Diskussionen im CEFA gestaltet. Bei den studentischen Referaten dominierten Themen des unmittelbaren lebensweltlichen, des literarischen und politischen Interesses. In der Wintersaison 1929/ 30 wurden beispielsweise Referate gehalten und diskutiert über: „Psychologie der Jugend“, „Politische Parteien in Deutschland“, „Rainer Maria Rilke“, „Die Rechtstellung der französischen Frau“, „Hölderlin und die junge Generation der Gegenwart“, „Der neue deutsche Roman: Alfred Döblin“ und „Entwicklung der deutschen Literatur nach dem Expressionismus.“ 107 Da es keine Protokolle der Dikussionen gibt, ist es schwierig, sich ein zuverlässiges Bild von der Eigenart dieses Pariser Kommunikations-Zentrums zu machen. Alle verfügbaren Informa- 104 DFR, Jg. 1933. p. 73. Cf. auch Hella Koenigsberger: „Pariser Internationalismus“, in: DFR, Jg. 1933, p. 64 zur Wiedereröffnung des CEFA durch den Präsidenten M. Leroy, Conservateur de la Bibliothèque Nationale. 105 Zu dessen Gründung und Arbeitsweise cf. meine Studie: „Emile Mayrisch und die Anfänge des Deutsch-französischen Studienkomitees“, in: Galerie. Revue culturelle et pédagogique, Luxemburg, Jg. 1992, p. 560-585. 106 DFR, Jg. 1930, p. 1050: „Centre d’études franco-allemandes“. 107 Cf. auch Hella Koenigsberger: „Pariser Verständigungsarbeit“, in: DFR, Jg. 1932, p. 137sqq. <?page no="151"?> 151 tionen lassen aber darauf schließen, daß im CEFA mitten im Quartier latin sich für einige Jahre eine studentische Insel deutsch-französischer Öffentlichkeit bildete, die nicht von vornherein als Instrument nationaler Gruppen-Interessen konzipiert war. Dem akademischen Gipfelgespräch zwischen Frankreich und Deutschland diente gleichsam das „Institut d’études germaniques“ (IEG), das nach längerer Vorbereitung am 15. Dezember 1930 eröffnet wurde. Gründer und spiritus rector des Instituts in der rue de l’Ecole de Médecine war Henri Lichtenberger (1864-1941), neben Charles Andler der andere namhafte Begründer der französischen Hochschul-Germanistik. 108 Lichtenbergers Vorstellung von Germanistik umfaßte nicht allein die deutschsprachige Literatur, sondern alle Lebensbereiche des Nachbarlandes wie dessen Gesellschaft, Politik und Wirtschaft. Er war in Paris seit dem Weltkrieg der wohl aktivste akademische Vorkämpfer der Verständigung zwischen Frankreich und Deutschland geworden und verfügte als Repräsentant der westeuropäischen Sektion der Carnegie-Stiftung auch über die Mittel, seine verständigungspolitischen Ziele ein Stück weit praktisch zu verwirklichen. Aufgrund dieser pazifistisch motivierten Verständigungsarbeit war Henri Lichtenberger (im Gegensatz zur Rolle von Eduard Wechssler am Romanischen Institut der Berliner Universität) eine Zentralgestalt der Kulturbeziehungen zwischen beiden Nationen geworden. Die Gründung des Instituts stand im Zusammenhang mit dem Versuch der allgemeinen fachgruppenspezifischen Neustrukturierung der Sorbonne und mit dem Fehlen eines deutschen Hauses in der Cité Universitaire, die seit Mitte der zwanziger Jahre als Ort der Repräsentanz der studentischen Jugend zahlreicher Nationen expandierte. Der erste Entstehungszusammenhang war wirksam bei der Eröffnung des Institut germanique, die zu Beginn des Universitätsjahres 1927/ 28 vorgenommen wurde. 109 Der zweite Impuls war Ende 1930 maßgeblich für die Konstituierung des „Institut d’études germaniques“, dessen Direktions-Komitee der Gründer der Cité Universitaire, Senator André Honnorat, vorstand. Da aufgrund der dilatorischen Haltung der deutschen Diplomatie ein deutsches Haus in der Locarno-Ära nicht realisierbar war, 110 wurde das IEG neben dem privaten „Centre d’études 108 Zu seiner Rolle in der Konstituierung der französischen Hochschul-Germanistik cf. Hans Manfred Bock: „Henri Lichtenberger, père fondateur de la germanistique française et médiateur entre la France et l’Allemagne“, in: Michel Espagne, Michael Werner (ed.): Les études germaniques en France , op. cit., p. 155-169. 109 Ernest Tonnelat: „Das Institut germanique der Pariser Universität“, in: DFR, Jg. 1928, p. 813-819. 110 Cf. Dieter Tiemann, op. cit., p. 207sq. Cf. jetzt dazu ausführlich Hans Manfred Bock: „Der lange Weg zum Deutschland-Haus in der Cité universitaire in Paris“ im vorliegenden Band. Zum hochschulpolitischen Kontext der Gründung des IEG cf. jetzt auch Katja Marmetschke: „Deutschlandbzw. Frankreichforschung beiderseits des <?page no="152"?> 152 franco-allemandes“ die wichtigste Relaisstation nicht-gouvernementalen akademischen Austauschs zwischen Deutschland und Frankreich in Paris. 111 Die „Société d’études germaniques“ war der Zusammenschluß französischer Hochschullehrer, mit deren personeller Unterstützung das IEG unter Lichtenbergers praktischer Leitung während der dreißiger Jahre rechnen konnte. Nachdem anfänglich unter den ausländischen Bezugspersonen des „Institut germanique“ Repräsentanten aus Deutschland fehlten, begann es sich 1930 für deutsche Referenten zu öffnen. Nachweisbar sind vor Eröffnung des IEG mehrere Vorträge von Gastreferenten, die vom „Comité de l’Institut d’études germaniques“ eingeladen waren: Anfang Februar 1930 sprach der Intendant des Wiesbadener Staatstheaters Paul Bekker über „Richard Wagner und die heutige Zeit“, am 24. Mai 1930 referierte Emil Ludwig über „Historie und Dichtung“ und Ernst Robert Curtius hielt dort am 1. Dezember 1930 seinen Vortrag „Friedrich Schlegel und Frankreich“. Im Frühjahr 1931 trugen vor im IEG: der langjährige Ministerialdirektor im Reichsinnenministerium Arnold Brecht über „Das Reich und die Länder“, der Psychologe und Kulturwissenschaftler Willy Hellpach über „Deutschland nach 1918. Volk, Staat, Geist“ und am 11. Mai 1931 Thomas Mann über „Die Stellung Sigmund Freuds in der Geschichte des modernen Geistes“. 112 Das Jahr 1932 wurde in Paris mit zahlreichen Gedächtnisfeiern aus Anlaß des 100. Todestages von Goethe begangen, in denen angesichts des bedrohlichen Nationalsozialismus der andere, bessere Teil Deutschlands beschworen wurde und in deren Rahmen auch das IEG eine aktive Rolle spielte. Dessen Vortragsveranstaltungen wurden zu Beginn des Goethe-Jahres eingeleitet durch ein Referat des Hamburger Kulturphilosophen Paul Cassirer („Goethe und das 18. Jahrhundert“), fortgesetzt mit der Darlegung des Goethe-Forschers Hermann August Korff über „Freiheit und Gesetz bei Goethe“ und mit den Einsichten des Prager Germanisten Herbert Cysarz zum Thema „Weimar und Europa“. In Zusammenarbeit des IEG mit der DAAD-Zweigstelle führten deutsche und französische Studenten Ende Mai 1930 den ersten Teil des „Faust“ in der Originalsprache im „Foyer international des Etudiants“ (93, Bd. Saint Michel) auf. 113 Diese lebendige Theater-Erfahrung wiederholte man in der gleichen Konstellation mit Gerhart Hauptmanns „Hanneles Himmelfahrt“ Anfang März 1933. Das IEG blieb auch in den Jahren ab 1933 ein lebendi- Rheins“, in: Ulrich Pfeil (ed.): Deutsche und französische Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen, op. cit., p. 73-102. 111 Cf. die Dokumentation in DFR, Jg. 1931, p. 107sqq., dort die Eröffnungsrede Lichtenbergers. 112 Am 7. Mai 1932 wurde zu Ehren der gleichzeitig in Paris weilenden deutschen Kulturvertreter Willy Hellpach, Thomas Mann und Wilhelm Furtwängler ein Empfang in der deutschen Botschaft gegeben. 113 Cf. Hella Koenigsberger: „Deutsch-französische Wochen in Paris“, in: DFR, Jg. 1932, p. 513sqq. <?page no="153"?> 153 ges Forum der überwiegend distanziert-kritischen Diskussion des nationalsozialistischen Deutschland, das Defilee illustrer Redner aus Deutschland jedoch brach ab. Der universitäre Sektor der Topographie deutsch-französischer Treffpunkte in Paris wurde in den Jahren von Locarno ergänzt durch zwei Zentren, von denen das eine in erster Linie ein organisatorischer Zusammenschluß von verständigungspolitischen Studenten aus der Sohlberg- Bewegung ohne feste Adresse war, das andere eine private Unternehmung mit fester Adresse, aber ohne explizite verständigungspolitische Zielsetzung. Am 10. Mai 1930 konstituierte sich in den Räumen der briandistischen Zeitschrift „Europe Nouvelle“ am Quai d’Orsay der „Groupe universitaire franco-allemand“ (GUFA). In der Gründungsversammlung wurde auf die Inspiration der deutschen Jugendbewegung Bezug genommen und die Absicht bekundet, die wirtschaftliche Kooperation zwischen Frankreich und Deutschland um eine geistige und affektive Dimension zu ergänzen. 114 Diese Initiative entstand im Hinblick auf das deutschfranzösische Sohlberg-Treffen im Schwarzwald, das Ende Juli 1930 vorgesehen war und auf das in der Gründungsversammlung der GUFA hingewiesen wurde. Die hochgesteckten Erwartungen schienen sich allerdings nach dem Sohlberg-Treffen nicht zu erfüllen, und der GUFA wurde nicht zu dem Fixpunkt in der Pariser Begegnungs-Topographie, wie er an der place de la Sorbonne im Centre d’études franco-allemandes Gestalt gewonnen hatte. Als Treffpunkt für deutsch-französische Gespräche vergleichsweise stabiler war das von Colette Dupuy am 1. März 1932 eingeweihte „Foyer der deutsch-französischen Jugend“. 115 Hier war offenbar die gesellige Konversation der Hauptzweck der Veranstaltungen. Aber dort berichtete auch z. B. am 19. Dezember 1931 Prof. Kumleben über das Lebenswerk des Philosophen und ethischen Sozialisten Leonard Nelson und derselbe Redner referierte am 5. März 1932 über die Wirtschaftslage in Deutschland. Der aktive Kern der mit dem Sohlberg-Kreis verbundenen GUFA war 1932 zusammengeschrumpft auf ein „Comité d’études“, das sich „in ganz kleinem Kreis“ wöchentlich traf und derzeit geleitet wurde von Régis de Vibraye. 116 Da dieser auch zeitweilig als Pariser Vertreter des Mayrisch-Komitees wirkte, wird an diesem Beispiel erkennbar, daß die Grenzen zwischen den zivilgesellschaftlichen und den elitär-kooptativen Gruppen des deutsch-französischen Dialogs in den beiden Hauptstädten gelegentlich fließend waren. 114 DFR, Jg. 1930, p. 518. 115 Cf. dazu auch Dieter Tiemann, op. cit., p. 219. 116 Ab 1930 war das in Berlin von Pierre Viénot und in Paris von Gustav Krukenberg geleitete Büro des Mayrisch-Komitees aufgelöst worden, so daß nunmehr nur ein französischer Sekretär an der Spitze der Pariser Sektion des Deutsch-französischen Studienkomitees stand. <?page no="154"?> 154 Vereinigungen, Clubs und Salons Das Bild zivilgesellschaftlicher Austauschvorgänge zwischen Berlin und Paris in der Locarno-Ära bliebe unscharf ohne den Hinweis auf die der Öffentlichkeit zugewandten Aktivitäten der elitär-kooptativen Gruppen im Rahmen der deutsch-französischen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen. Anders als die zivilgesellschaftlichen Verständigungs-Organisationen vom Typus der DFG und der LEG existierten die elitär-kooptativen Gruppen in den weniger formalisierten gesellschaftlichen Aggregationsformen der Vereinigung, des Clubs oder des Salons. Gemeinsam war ihnen, daß sie weniger in konzentrischen Kreisen nach außen wirkend für die deutschfranzösische Verständigung zu werben beabsichtigten, sondern die transnationale Kommunikation in sich selbst ergänzenden inneren Zirkeln zu pflegen suchten. Diese primär nach innen gerichtete Wirkungsweise der elitär-kooptativen Gruppen definiert ein Beobachter des Mayrisch-Komitees in der folgenden Charakterisierung durchaus zutreffend: „Anliegen des Komitees, dem führende Männer der Wirtschaft sowie des politischen und geistigen Lebens, aber keine aktiven Politiker angehörten, war nicht so sehr Publizität, als vielmehr der unmittelbare Kontakt zwischen einflußreichen Persönlichkeiten beider Länder zur Klärung vermeidbarer Meinungsverschiedenheiten und zur Beseitigung von Mißverständnissen.“ 117 Am Begegnungs-Itinerar von Reisen „einflußreicher Persönlichkeiten“ in die Hauptstadt des Nachbarlandes werden diese eher verdeckten Beziehungen zwischen den beiden Metropolen in den Locarno-Jahren sichtbar. Als z. B. der ehemalige französische Erziehungsminister und amtierende Präsident der Cité Universitaire von Paris, Senator André Honnorat, Ende Februar und Anfang März 1931 in Begleitung von Henri Lichtenberger Berlin besuchte, wohnte er im „Französischen Akademikerhaus.“ 118 Dieses früheste „Institut français“ in Berlin war eine 1930 eröffnete gouvernementale Einrichtung, die französischen Stipendiaten die Möglichkeit postgradualer Studien eröffnete und dem als offizielle deutsche Institution in Paris die dort im Mai 1930 gegründete Zweigstelle des DAAD nur teilweise entsprach. 119 Empfangen und begleitet wurden die beiden Pariser Gäste in Berlin von Erich von Prittwitz-Gaffron, einem Bruder des damaligen deutschen Botschafters in den USA und Kuratoriums-Mitglied der 117 Oswalt von Nostitz: Muse und Weltkind. Das Leben meiner Mutter Helene von Nostitz, München 1991, p. 321. 118 Dies und das Folgende gemäß dem Bericht vom 10. März 1931 von Erich von Prittwitz-Gaffron an Botschafter von Hoesch in Paris, in: Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Botschaft Paris V, 4, c. 119 Cf. dazu Béatrice Pellissier: „L’antenne parisienne du DAAD à travers les archives de l’Auswärtiges Amt de Bonn jusqu’en 1939“, und: Dieter Tiemann: „Zweigstelle Paris des DAAD und Institut Français de Berlin“, in: Bock, Meyer-Kalkus, Trebitsch, op. cit., p. 273sqq. und p. 287sqq. <?page no="155"?> 155 Deutschen Hochschule für Politik am Berliner Schinkel-Platz. Von Prittwitz-Gaffron und der Nationalökonom Julius Bonn standen seit Jahren in Verbindung mit Honnorat und Lichtenberger aufgrund ihrer gemeinsamen Tätigkeit im Verwaltungsrat des Europäischen Zentrums der Carnegie- Stiftung. 120 Das Zentrum war der Abteilung „Internationale Beziehungen und Erziehung“ der amerikanischen Stiftung angegliedert und sollte wie diese der Kriegsursachen-Forschung und der Friedenspädagogik im weitesten Sinne dienen. Der zentralen Bedeutung des deutsch-französischen Konflikts in Europa trug die Gründung von Carnegie-Lehrstühlen Rechnung, die 1925 in Paris und 1927 in Berlin eingrichtet wurden. 121 Während die entsprechenden Vorträge der Lehrstuhl-Inhaber in Paris am Sitz der Stiftung (173, Bd. Saint-Germain) stattfanden, erhielten die Carnegie- Dozenten in Berlin Gastrecht in der Deutschen Hochschule für Politik, die 1920 nach dem älteren Pariser Vorbild gegründet worden war. Im ersten Jahr trugen dort vor u.a. Albert Thomas (Direktor des Internationalen Arbeitsamtes in Genf) und André Siegfried (Ecole libre des Sciences Politiques, Paris); der Germanist Edmond Vermeil und der Historiker Pierre Renouvin lasen dort 1930 bzw. 1931. 122 Honnorat und Lichtenberger wurden während ihres Berlin-Besuchs im März 1931 vom Ehrenvorsitzenden des Humboldt-Hauses empfangen. Dort war 1923 in Reaktion auf die in der Inflation ansteigende Ausländerfeindlichkeit ein „Deutsch-ausländischer Akademiker-Club“ gegründet worden als Ort transnationaler Kommunikation. Dieser Club, in dem André Germain als erster Franzose vorgetragen hatte, wurde von einem französischen Beobachter verglichen mit dem bunten Leben von Montparnasse: „J’y ai trouvé, à quelques pas du Kurfürstendamm, un peu de cet esprit cosmopolite et encyclopédique de Montparnasse, un peu de ce parfum éthéré qu’ont les idées lorsqu’elles n’appartiennent plus à un drapeau, à une officine, à une boutique.“ 123 Von Prittwitz-Gaffron versäumte es nicht, die beiden Pariser Kulturrepräsentanten dem Schrittmacher der Wiederaufnahme deutsch-französischer Kulturbeziehungen, Carl Heinrich Becker, vorzustellen, der kurz zuvor sein preußisches Ministeramt abgegeben hatte. Die Berliner DFG schließ- 120 Cf. dazu: La Dotation Carnegie pour la paix internationale (ed.): Le Centre européen de la Division des Relations Internationales et de l’Education. Fondation, administration, activité, Paris 1928, p. 17sqq. Moritz Julius Bonn war einer der deutschen Vortragsredner in der Carnegie-Zentrale am Bd. Saint Germain. 121 Cf. ibid., p. 43sqq. 122 Cf. Antonio Missiroli: Die Deutsche Hochschule für Politik, Sankt Augustin 1988, p. 209sq. Die Kontakte zwischen der Pariser und der Berliner Hochschule für Politik liefen auch über die gemeinsame Beratung im Rahmen eines Internationalen Ausschusses für Zusammenarbeit der Hochschulen für Politik, der im Oktober 1928 in Berlin und im Juni 1930 in Paris tagte. Einer der Gründer der Berliner Hochschule, Ernst Jaeckh, war bei beiden Tagungen aktiv beteiligt; er war auch Referent in der Pariser Carnegie-Stiftung. Zur Berliner Konferenz cf. auch DFR, Jg. 1928, p. 1042. 123 Louis Freydaval: „Les clubs et le cosmopolitisme à Berlin“, loc. cit., p. 657. <?page no="156"?> 156 lich ließ sich die Gelegenheit des illustren Besuchs aus Paris nicht nehmen, um Honnorat und Lichtenberger einzuladen, ihnen einen wertvolle Berlin- Bildband für das „Institut d’études germaniques“ zu überreichen und den Senator als Ehrenpräsidenten für die Deutsch-Französische Gesellschaft zu gewinnen. 124 Die überwiegend akademische Mission der beiden Vertreter der Pariser Universität brachte sie bei ihrer Berlin-Reise nicht in Kontakt mit zwei anderen Gravitationszentren französischen Besucher-Verkehrs in der Reichshauptstadt dieser Jahre, die eindeutig zum elitär-kooptativen Begegnungsmilieu gehörten. Der eine dieser beiden Treffpunkte war das Berliner Büro des „Deutsch-französischen Studienkomitees“ (Mayrisch- Komitee), das seit Oktober 1926 in der Matthäikirchstraße existierte und von Pierre Viénot geleitet wurde. 125 Viénot, der u.a. vom Komitee-Mitglied Henri Lichtenberger für die Berliner Tätigkeit empfohlen wurden war, entfaltete von 1926 bis 1930 eine umfassende Vermittlerfunktion: Er nahm sich der Journalisten und Geschäftsleute aus Frankreich an und brachte sie in Verbindung mit den richtigen deutschen Adressaten; er war gelegentlich Impresario für Schriftsteller und Künstler; 126 er vermittelte die frühesten Anfänge studentischer Frankreich-Reisen und war unentwegt als Vortragsredner unterwegs. Sein Berliner Büro, dem in Paris eine von einem deutschen Leiter administrierte Einrichtung entsprach, vereinigte Funktionen, die in der Nachkriegs-Entwicklung der deutsch-französischen Kulturbeziehungen von mehreren ausdifferenzierten Organisationen und Institutionen wahrgenommen wurden. Er agierte mit Unterstützung durch das Prestige von Spitzenvertretern der Industrie, der Banken und der Universitäten aus Deutschland und Frankreich, die im Mayrisch-Komitee versammelt waren, 127 und mit einer durchdachten Strategie der deutsch-französischen Verständigung, die vom Prinzip ausging, daß die Kenntnis des Selbstverständnisses der anderen Nationen die beste Garantie für Konfliktlösung und Friedenssicherung sei. Viénot war zur Übernahme seiner Berliner Tätigkeit angereist mit einem Empfehlungsschreiben von Hugo von Hof- 124 DFR, Jg. 1931, p. 362sq.: „Eine Stiftung für das Institut germanique“. 125 Zur Tätigkeit des Berliner Büros unter der Leitung Viénots cf. meine Darstellung in: „‚Connaître l’Allemagne et la reconnaître’. Zu Entstehung und Zusammenhang der Deutschland-Analyse von Pierre Viénot 1922 bis 1932“, in: Lendemains. Vergleichende Frankreichforschung, Jg. 1992, Nr. 66, bes. p. 35-41: Verständigungspolitische Vielzweck-Agentur, das Berliner Büro des Mayrisch-Komitees. Cf. auch die neuere Studie von Guido Müller: „Pierre Viénot und das Berliner Büro des Deutsch- Französischen Studienkomitees“, in: Hans Manfred Bock (ed.): Französische Kultur in Berlin, op. cit., p. 53-68. 126 Cf. zu seinem einschlägigen Berliner Briefwechsel mit André Gide: Hans Manfred Bock: „Pierre Viénot, der Deutschlandkenner im Freundeskreis um André Gide“, in: Hans T. Siepe, Raimund Theis (ed.): André Gide und Deutschland, Düsseldorf 1992, p. 194-207. 127 Cf. dazu die Liste der Gründungsmitglieder in meinem Aufsatz: „Emile Mayrisch und die Anfänge des Deutsch-französischen Studienkomitees“, loc. cit., p. 571sq. <?page no="157"?> 157 mannsthal und von Rainer Maria Rilke an den deutschen Sektionsleiter des Mayrisch-Komitees, Alfred von Nostitz-Wallwitz (1870-1953). 128 Von Nostitz-Wallwitz war zeitweilig auch der Sprecher des „Europäischen Kulturbundes“, der 1924 von dem österreichischen Aristokraten Anton Prinz Rohan gegründet worden war und im politisch-intellektuellen Bereich eine teilweise ähnliche Rolle der Anbahnung deutsch-französischer Gesellschafts- und Kulturbeziehungen spielte wie das Mayrisch-Komitee. Im Schnittpunkt beider elitär-kooptativer Verbindungslinien lag also der Berliner Salon, den von Nostitz-Wallwitz’ Ehefrau Helene, eine schriftstellerisch tätige Liebhaberin der Künste, in Berlin - zuerst in der Maaßenstraße in der Nähe des Lützowplatzes, dann in der Goethestraße/ Zehlendorf- West - in den zwanziger Jahren unterhielt. Helene von Nostitz hatte über ihre Familientradition und durch ihre Bekanntschaft mit Auguste Rodin 129 eine intime Beziehung zu Frankreich, die sie 1926 bei ihrer ersten Nachkriegsreise nach Paris erneuerte. 130 All diese Umstände vereint bewirkten, daß ihr Salon die erste Adresse der mondän-künstlerischen Begegnung in Berlin weilender Franzosen mit deutschen Schriftstellern, Musikern und Malern wurde. Dort waren André Germain und Paul Valéry zu Gast, aber auch junge, noch unbekannte Gäste aus Paris wie Pierre Viénot und Pierre Bertaux (die in Berlin eine lebenslange Freundschaft schlossen) waren Habitués im Salon Helene von Nostitz’. 131 Roland de Margerie, der Sohn des langjährigen französischen Botschafters in Berlin, und seine Ehefrau Jenny de Margerie gehörten zu den gern gesehenen Gästen im Hause Nostitz. Es ist kein Zufall, wenn einige dieser Kommunikationskanäle zwischen Berlin und Paris aus dem elitär-kooptativen Bereich auch bei dem Paris- Besuch Thomas Manns in der frühen Locarno-Ära, im Januar 1926, wieder erscheinen. 132 Zu seinem ersten Nachkriegs-Besuch in Paris war der prominente Schriftsteller eingeladen durch die Carnegie-Stiftung. Er referierte am 20. Januar 1926 in der westeuropäischen Zentrale der „Dotation Carnegie pour la Paix internationale“ am Boulevard Saint-Germain über „Les tendances spirituelles de l’Allemagne d’aujourd’hui“. 133 Eingeführt wurde er vor einem geladenen Publikum durch Henri Lichtenberger, der seine Rede auch übersetzte. Beim „großen Abend“ in der deutschen Botschaft (rue de Lille) traf er u.a. Anatole de Monzie, den Repräsentanten des französischen PEN-Clubs Benjamin Crémieux (die beide später in Berlin als Referenten auftraten), und den französischen Übersetzer des „Tod in Venedig“ und Freund seines Bruders Heinrich, den Germanisten Félix Ber- 128 Oswalt von Nostitz, op. cit., p. 321. 129 Cf. Helene von Nostitz: Rodin im Gesprächen und Briefen, Dresden 1927. 130 Cf. Oswalt von Nostitz, op. cit., p. 320. 131 Cf. Pierre Bertaux: „Un étudiant français à Berlin“, loc. cit., p. 341. 132 Cf. dazu Thomas Mann: „Pariser Rechenschaft“, in: Id.: Autobiographisches, Frankfurt/ Main 1968, p. 107-177. Dazu eingehender meine Studie im vorliegenden Buch. 133 Cf. La Dotation Carnegie pour la paix internationale (ed.), op. cit., p. 46. <?page no="158"?> 158 taux (dessen Sohn Pierre im Jahr darauf als „erster französischer Student“ nach Berlin ging). Tags darauf traf Thomas Mann, wiederum im Sitz der Carnegie-Stiftung, mit Henri Lichtenberger, Félix Bertaux, Maurice Boucher und Charles Du Bos zu einem Podiums-Gespräch zusammen, in dessen Mittelpunkt die Würdigung des literarischen Werkes des deutschen Dichters durch Reden von Boucher (des späteren Direktors der „Revue d’Allemagne“) und von Charles Du Bos stand. Du Bos hatte zu dieser Veranstaltung geladen als Pariser Repräsentant der „Fédération internationale des Unions intellectuelles“, der französischen Sektion von Rohans „Europäischem Kulturbund“. Diese exklusive Vereinigung, die am 5. November 1924 in Paris gegründet worden und deren zeitweiliger Leiter in Berlin Alfred von Nostitz-Wallwitz war, wies in besonders ausgeprägter Form die Merkmale elitär-kooptativer Wirkungsweise auf. Von 1924 bis 1932 hielt der „Europäische Kulturbund“ Jahrestagungen in verschiedenen Städten ab. Seine wichtigste Funktion war jedoch gerade im deutsch-französischen Zusammenhang die Ermöglichung der Begegnung zwischen Repräsentanten des Geisteslebens beider Nationen durch die Aufrechterhaltung informeller Kommunikationsnetze. Thomas Mann besuchte Charles Du Bos während seines Paris-Aufenthaltes, begleitet von seinem Schriftsteller- Kollegen und dem späteren Mitherausgeber der „Deutsch-französischen Rundschau“, Edmond Jaloux, in dessen Wohnung auf der Ile Saint Louis. Du Bos hatte dort früher schon Rainer Maria Rilke und andere deutsche Literaten empfangen und sein Wohnsitz wurde (nicht zuletzt aufgrund seiner Tätigkeit für die „Fédération des Unions intellectuelles“) zu einem Treffpunkt des europäischen Geisteslebens konservativ-katholischer Prägung. Ein entschieden republikanisches Profil wies die „Union pour la vérité“ auf, die Thomas Mann in der rue Visconti am 21. Januar 1926 aufsuchte. Er wurde dort von deren Gründer und Inspirator, dem Philosophen Paul Desjardins (1859-1940) begrüßt, der in den frühen Locarno-Jahren bemüht war, ausländische Intellektuelle in die regelmäßigen Gespräche der Vereinigung einzubeziehen. Die rue Visconti wurde ein Fixpunkt in der Pariser Kulturlandschaft für viele deutsche Besucher, zu denen u.a. Albert Schweitzer, Heinrich Mann und Alfred Weber gehörten. 134 Mit der „Union pour la vérité“ eng verbunden war Pierre Viénot, der Thomas Mann im Januar 1926 als Stadtführer diente und im Herbst dann das Büro des Mayrisch-Komitees in Berlin übernahm. Zum offiziellen Besuchs-Programm des wegen seiner „Betrachtungen eines Unpolitischen“ in der französi- 134 Cf. dazu François Beilecke: „Die Union pour l’Action morale und die Union pour la Vérité. Zur Entwicklung und Rolle einer republikanischen Intellektuellenvereinigung 1892-1939“, und Hans Manfred Bock: „Europa als republikanisches Projekt. Die Libres entretiens in der rue Visconti/ Paris und die Décades von Pontigny als Orte französisch-deutscher Debatte und Begegnung“, in: Lendemains. Vergleichende Frankreichforschung, Jg. 1995, Nr. 78/ 79, p. 89-121 und p. 122-156. <?page no="159"?> 159 schen Öffentlichkeit noch durchaus umstrittenen deutschen Autors gehörte ein Nachmittags-Empfang in der Völkerbund-Einrichtung „Institut international de Coopération intellectuelle“. Das im Palais Royal zu Beginn des Monats gerade eröffnete „Institut für geistige Zusammenarbeit“, in dessen Arbeit nach Beitritt Deutschlands zum Völkerbund auch deutsche Repräsentanten (Werner Picht, Margarete Rothbarth) mitwirkten, blieb eine gouvernementale Institution, die mehr in technischen Spezialbereichen als mit Blick auf die Öffentlichkeit tätig war. 135 Thomas Mann wurde schließlich noch im „Cercle littéraire international“ empfangen, der Pariser Niederlassung des PEN-Clubs, der sich seit seiner Gründung 1921 als eine Art literarische Parallelinstitution zum Völkerbund verstand. Der PEN-Club sollte später bisweilen auch in Berlin als Empfangskomitee für Schriftsteller aus Frankreich in Erscheinung treten. So z. B. als der pazifistische Romancier und Essayist Victor Margueritte erstmals im Mai 1932 Berlin besuchte und dort von Heinrich Mann im Namen des PEN-Clubs und von der Berliner DFG willkommen geheißen wurde. 136 Thomas Mann traf beim Pariser Empfang des PEN-Clubs am 26.1.1926 neben dessen Generalsekretär Benjamin Crémieux auch Edmond Jaloux, Jules Romains, François Mauriac und Félix Bertaux sowie Ivan und Claire Goll und Walter Hasenclever. Er unterhielt sich u.a. mit Louise Weiss, der engen Vertrauten von Aristide Briand und Gründerin der Zeitchrift „Europe Nouvelle“, in der er bereits vor seiner Paris-Reise veröffentlicht worden war. Die Vereinigungen und Clubs, die Thomas Mann in den knappen zehn Tagen seines Paris-Besuchs Anfang 1926 kennenlernte, waren nur ein Ausschnitt aus der bis in die frühen dreißiger Jahre immer noch wachsenden Zahl von Orten des französisch-deutschen Dialogs. Sie hatten alle gemeinsam, daß sich in ihrem Namen der explizite Bezug auf Deutschland nicht fand, daß dort aber unter dem Etikett „International“ oder „Europa“ entsprechend der außenpolitischen Konfliktlage in erster Linie von den deutsch-französische Beziehungen die Rede war. Einer der emsigen Chronisten dieser Debatten konstatierte Anfang 1933: „Die Überfülle der ‚Centres’, ‚Cercles’, ‚Clubs’, ‚Foyers internationaux’, die in Paris besteht und noch ständig wächst, macht es schwerer, einen Überblick über die deutsch-französische Verständigungsarbeit zu geben. Denn in jeder Organisation, die sich mit internationalen Fragen befaßt, steht nach wie vor - und jetzt vielleicht mehr denn je - das deutsch-französische Problem im Vordergrund.“ 137 Viele dieser Vereinigungen und Clubs in Paris sahen ihre 135 Cf. die Dokumentation von Margarete Rothbarth: Geistige Zusammenarbeit im Rahmen des Völkerbundes, Münster 1931. 136 Cf. Bericht und Dokumentation in DFR, Jg. 1931, p. 475-490; Joseph Chapiro: „Victor Margueritte in Berlin“ und den thematisch einschlägigen Beitrag im vorliegenden Buch. 137 Hella Koenigsberger: „Pariser Internationalismus“, in: DFR, Jg. 1933, p. 63. <?page no="160"?> 160 Hauptaufgabe darin, die Kontakte und die Diskussion mit überwiegend individuellen Ansprechpartnern in Deutschland (oder in anderen Nationen) durch die persönliche Begegnung in der französischen Metropole oder im Ausland aufrecht zu erhalten. Diese „associations“ waren prinzipiell kooptativ angelegt, indem sie sich an Gleichgesinnte wandten, nicht jedoch im exklusiven Sinne elitär, da gesellschaftliche oder kulturelle Schranken für den Beitritt zu ihnen keine Rolle spielten. Von den mehreren Dutzend Vereinigungen und Zirkeln dieser Art sollen abschließend einige skizziert werden, die in den französisch-deutschen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen der Locarno-Ära in Paris eine gewisse Rolle spielten. Im Umkreis des „Völkerbundes“ waren 1926 die „Amitiés internationales“ (AI) entstanden, in denen der vormalige Erziehungsminister Anatole de Monzie und der sozialistische Abgeordnete César Chabrun in den ersten Jahren ihrer Existenz eine führende Rolle spielten. Die AI sahen in der Kenntnisvermittlung und Verständigung zwischen den Nationen ihre Zielbestimmung und definierten als ihre unmittelbare Aufgabe, „[de] favoriser l’avènement d’un esprit de respect et de bienveillance mutuels entre les peuples.“ 138 Die AI hatten eine Sektion in Berlin, in der Persönlichkeiten aus dem Zentrum und den bürgerlichen Parteien der Mitte aktiv waren, und ein Teil der Berliner Vortragsredner der DFG war vermittelt worden durch diese Verbindungen (César Chabrun, Francis Delaisi, Jacques Kayser u.a.). Die praktische Arbeit der AI vor Ort in Paris bestand in der Organisation von Vorträgen, in der individuellen Vermittlung von Kontakten, sportlichen Aktivitäten und Wohnungen sowie in der Zusammenführung von Ausländern, die in der Metropole weilten. 139 Die AI, deren Sitz in der rue Lalo war, waren vielfach präsent in den französisch-deutschen Begegnungen in Paris. Z. B. stellte der Vorsitzende der AI am 2.11.1929 im „Deutschen Club“ von Paris die Ziele seiner Organisation dar; der auch in Frankreich bekannte Schriftsteller Emil Ludwig referierte am 26.3.1930 auf Einladung der AI über Goethe; im Anschluß daran arrangierten die AI einen Empfang zu Ehren des Autors und zu Ehren Bruno Walters, der im Théâtre Pigalle die „Fledermaus“ dirigiert hatte und anschließend einen Beethoven-Zyklus für die „Société des Concerts du Conservatoire“ dirigierte. Die französisch-deutschen Debatten nahmen zu Beginn der dreißiger Jahre im Pariser Veranstaltungsprogramm der AI noch deutlich zu. Beispielsweise vereinigte Anfang Oktober 1931 ein deutsch-französisches Bankett der AI unter dem Vorsitz von Anatole de Monzie die deutschen Gäste Rudolf Breitscheid, den außenpolitischen Sprecher der SPD- Reichstagsfraktion, den Berliner Rechtsanwalt Bruno Weil, General von Deimling und den Chefredakteur der „Vossischen Zeitung“ in Berlin Georg Bernhard. Eine ähnlich starke französisch-deutsche Ausrichtung wie 138 Cf. dazu auch die Darstellung in Ina Belitz, op. cit., p. 478sqq.; dort das Zitat. 139 So Ina Belitz, op. cit., p. 478sqq. <?page no="161"?> 161 die AI hatte das Anfang 1930 gegründete „Foyer de la nouvelle Europe“, das ab 1931 seinen Sitz in der rue Condé in Paris fand. Die Gründungsinitiative kam von einer Damen-Gruppe, zu der die Schriftstellerin Germaine Kellerson, die Ehefrau des AI-Vorsitzenden César Chabrun und diejenige des Direktors der „Revue d’Allemagne“ Maurice Boucher zählten. 140 In der Eröffnungs-Veranstaltung sprachen Edouard Herriot, Henri Lichtenberger, Emile Borel und Francis Delaisi ermutigende Worte für die Arbeit der Vereinigung und Germaine Kellerson umriß die selbstgesetzte Aufgabe des Foyers so: „C’est, en effet, dans une atmosphère de simplicité et de fraternelle cordialité que nous avons l’intention de grouper tous ceux qui en France et hors de France travaillent chaque jour à la clarté du même idéal et pour l’épanouissement de la même idée, tous ceux qui constituent, quelle que soit leur nationalité, ce qu’on pourrait appeler la grande famille spirituelle de l’Europe. Grouper, accueillir, aider, tel est en résumé notre programme.“ 141 Die Unterstützungs- und Diskussion-Aktivitäten im französisch-deutschen Zusammenhang des „Foyer de la nouvelle Europe“ sind bis Ende 1932 nachweisbar. Es wurde eine der Pariser Anlaufadressen bekannter deutscher Kulturvertreter in diesen Jahren. Einer der ersten deutschen Gäste war am 18. Januar 1930 der Berliner Stadtrat und Gymnasiallehrer Ernst Schwarz, der auf Einladung des Foyers in der Sorbonne über „Die moderne Schule“ referierte. Emil Ludwig wurde im Foyer im März 1930 unter dem Vorsitz von Paul Painlevé, dem ehemaligen Ministerpräsidenten und Kriegsminister, empfangen. Graf Hermann Keyserling sprach dort Anfang Juni 1930 zum Thema „Europa und Amerika“ und Thomas Mann hielt in der rue Condé am 7. Mai 1932 einen Vortrag über „Liberté et noblesse. Goethe und Schiller, Tolstoi und Dostojewski“, der kurz darauf mit einem Bankett honoriert wurde. Die Reisegruppe der DFG wurde im Mai 1932 vom Foyer anläßlich ihres Paris-Besuchs eingeladen und von Maurice Boucher begrüßt. Die verständigungspolitische Arbeit des Foyers wurde Ende November 1931 erweitert durch die Gründung eines Ausspracheforums mit dem Namen „Cercle européen“ und im selben Jahr durch den Aufbau einer Kindergruppe, des „Bon accueil des petits Européens.“ Als reine deutsch-französische Aussprache-Foren ohne gesellschaftliche Betreuungs- und Beratungsfunktion existierten in der Locarno-Ära in Paris eine Reihe von Clubs. Das älteste dieser Kommunikations-Zentren war der „Deutsche Club“, in dem die seit Mitte der zwanziger Jahre wieder rapide wachsende deutsche Kolonie in Paris sich einen Mittelpunkt geschaffen hatte. Da dieser Club (ebenso wie die in den Locarno-Jahren wieder aufblühenden deutschen Zeitungen in der französischen Hauptstadt) vorrangig der internationalen Information bzw. Diskussion und nicht der transna- 140 Cf. die Gründungsberichte in DFR, Jg. 1930, p. 135sq. und in RdA, Jg. 1930, p. 183-186. 141 RdA, Jg. 1930, p. 184. <?page no="162"?> 162 tionalen Kommunikation diente, kommt seine Tätigkeit hier nur unter dem Aspekt seiner Scharnierfunktion zur französischen Öffentlichkeit hin in Betracht. 142 Diese Funktion war allerdings nicht unbedeutend. Die Auswertung der DFR-Chronik ergibt ein buntes Gemisch von Veranstaltungen, in dem gesellige Anlässe (Weihnachtsabende, Maskenbälle u.a.) und musikalische Darbietungen ebenso enthalten sind wie Vorträge und Diskussionen von französischen oder deutschen Rednern zu Fragen der deutschfranzösischen Beziehungen bzw. anderen Themen gemeinsamen Interesses. Diskussions-Veranstaltungen der letztgenannten Art sind im „Deutschen Club“, der offenbar kein festes Domizil hatte, 143 von 1928 bis Januar 1933 nachweisbar. Französische Referenten waren dort im Jahre 1929 u.a. César Chabrun („Französisches Nationalbewußtsein und Parlamentsreform“, 6.4.29), Marc Sangnier („L’idée de paix et le peuple français“, 4.5.29), der Generalsekretär der „Amitiés internationales“ (2.11.29), die Pariser Rechtsanwältin Grumberg (über ihre Reise zum Internationalen Frauenkongreß in Berlin, 9.11.29) und Jean Luchaire („Die junge französische Generation und die Politik“, 21.12.29). Im Jahre 1930 trugen als Diskussionsredner aus Deutschland vor z. B.: Prof. Körner über „Victor Hugos Reise nach Deutschland“ (5.4.30); der Landtagsabgeordnete Markwald über „Probleme der Willensfreiheit“ (25.4.30); Dr. Röder/ Würzburg über „Parteien und Parteienstaat in Deutschland“ (23..30); Prof. Zout de Kreyer über ein „Weltfriedenskreuz“, das als Symbol der deutsch-französischen Verständigung an der Grenze beider Länder gebaut werden sollte (6.9.30); die Schauspielerin Frau Schmidt-André las am 29.11.30 aus Briefen Friedrichs des Großen an Voltaire; der amtierende Generalsekretär des Internationalen Gewerkschaftsbundes Johannes Sassenbach schließlich sprach am 27.12.30 zum Thema „Die Aktion des Internationalen Gewerkschaftsbundes für den Frieden.“ Anfang Juni 1931 stellte Otto Grautoff Ziel und Arbeit der Deutsch-Französischen Gesellschaft (DFG) in Deutschland im „Deutschen Club“ vor. Es gab auch in den folgenden Jahren eine deutliche Zentrierung der Diskussionen des Clubs auf verständigungs- und friedenspolitische Themen. Seit Mitte 1930 trat in den französisch-deutschen Debatten in Paris neben diesen Vortragsreihen des „Deutschen Clubs“ 142 Diese lohnende Aufgabe einer Untersuchung der deutschen Kolonie in Paris ist noch nicht angepackt worden. Ein Großteil ihres Innenlebens ist rekonstruierbar anhand der deutschsprachigen Zeitungen im Paris der zwanziger Jahre. Es wurden 1926 mehrere deutschsprachige Zeitungen in Paris neu gegründet: Die Pariser Fremdenzeitung (ab April 1926), die überwiegend touristischen Zwecken diente; die Pariser Deutsche Zeitung setzte ein Blatt gleichen Namens aus der Vorkriegszeit fort; und die in Straßburg gedruckte Neue Pariser Zeitung, die sich explizit auf den Geist von Locarno berief. Cf. dazu auch: „Zur Geschichte der Pariser deutschen Zeitungen“, in: Zeitungswissenschaft. Monatsschrift für internationale Zeitungsforschung, Jg. 1926, p. 185sq. 143 Im Jahre 1932 fanden die Veranstaltungen des „Deutschen Clubs“ öfter in den Räumen der Comtesse Brault statt. <?page no="163"?> 163 immer häufiger der „Club du Faubourg“ in Erscheinung. Henri Jourdan stellte Anfang 1930 diesen Club in seinen vergleichenden Betrachtungen zu Berlin und Paris als ein tyisches Phänomen der französischen Metropole dar, das in der Intensität der politisch-intellektuellen Debatte in Berlin kaum vorstellbar sei. 144 In der DFR-Chronik setzen besonders seit den Septemberwahlen von 1930 zum Reichstag die Berichte über die Deutschland- Debatten dieses Clubs ein. Anfang Oktober 1930 trat dort der später sehr bekannte Publizist Alfred Fabre-Luce in einer aufsehenerregenden Diskussion zur „Deutsch-französischen Verständigung“ als Hauptredner auf; er wurde zu der Zeit als „Vertreter Hitlers in Paris“ bezeichnet. 145 Die Deutschland-Debatte wurde im „Club du Faubourg“ in den folgenden Monaten fortgesetzt mit Veranstaltungen zur „Kriegsschuldfrage“ (8.12.30), zu deutschen antimilitaristischen Filmen (u.a. „Im Westen nichts neues“) am 27.12.30, mit einem Forum zum Friedensmanifest von 180 Intellektuellen (14.2.31) und einer vom Berliner Rechtsanwalt Dr. Bruno Weil eingeleiteten Diskussion „Deutschland-Frankreich“ (28.2.31). Bruno Weil war noch an drei weiteren Deutschland-Gesprächen im selben Club bis Ende des Jahres 1931 beteiligt. Die Themenwahl der Erörterung deutschfranzösischer Beziehungsprobleme folgte der Aktualität und schien die Kontroverse eher zu suchen als zu vermeiden. Anfang März 1932 war die Diskussion von Antonina Vallentins Stresemann-Biographie 146 der Einstieg in die Aussprache über die deutsch-französischen Probleme. Einige Wochen später gab ein österreichischer Schriftsteller im „Club du Faubourg“ ein Referat über „Hitler und die Juden“ und anschließend wurde gestritten über das Thema „Deutschland hat nicht entwaffnet, wohin geht Deutschland? “. Am 23. Januar 1933 sprach in dem lebendigen Gesprächs-Forum der Pressewart des Jungdeutschen Ordens 147 August Abel zur Frage „Will das deutsche Volk den Krieg oder den Frieden? “ und Comte Jean de Pange hielt das Koreferat. Die anhaltende Krise, in die die deutsch-französischen Beziehungen zuerst auf diplomatischer Ebene und dann seit Ende 1930 auch in der Öffentlichkeit eingetreten waren, brachte die Gründung von zusätzlichen Clubs mit sich, die eine gesellschaftliche Basis schaffen wollten für den Weg aus der Krise. So wurde z. B. noch am 8. November 1932 der „Club alsacien d’amitié franco-allemande, de collaboration interrégionale et internationale“ mit dem symbolischen Namen „Le Pont“ gegründet, 144 Henri Jourdan: „Puzzle Berlinois“, in: RdA, Jg. 1930, p. 131. 145 DFR, Jg. 1930, p. 961. 146 Antonina Vallentin: Stresemann. Vom Werden einer Staatsidee, Leipzig 1930. Die Autorin, eine enge Vertraute Stresemanns, war eine der Gönnerinnen von Pierre Bertaux in Berlin. (Cf. Golo Mann: Erinnerungen und Gedanken. Eine Jugend in Deutschland, Frankfurt/ Main 1991, S. 234.) Sie emigrierte nach 1933 nach Frankreich. 147 Der Jungdeutsche Orden, eine völkische Organisation, galt ab 1925 als Fürsprecher einer deutsch-französischen Bündnispolitik. Cf. dazu Dieter Tiemann: „Der Jungdeutsche Orden und Frankreich“, in: Francia, Sigmaringen 1985, Jg. 1984, p. 425-456. <?page no="164"?> 164 in dem bis Jahresende in mehreren Vorträgen die aktuelle Lage Deutschlands und der deutsch-französischen Beziehungen diskutiert wurden. Das in der zweiten Hälfte der Weimarer Republik eng geknüpfte Netz der zivilgesellschaftlichen Beziehungen zwischen Paris und Berlin wurde ab 1933 keineswegs sofort zerschlagen. Die zivilgesellschaftlichen Kontakte, seien sie kulturindustrieller oder verständigungspolitischer Beschaffenheit, folgten ja schon in den Jahren erneut wachsender diplomatischer Spannungen zwischen beiden Nationen (von 1930-1933) einem anderen Entwicklungsrhythmus als die staatlichen Beziehungen. Diese in der Locarno-Ära gewonnene Eigendynamik der zivilgesellschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Metropolen behauptete sich auch nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in Deutschland noch eine ganze Weile. Insbesondere die mit ökonomischen Interessen verbundene kulturindustrielle Begegnungsroutine lief weiter und vermittelte den Eindruck einer Normalität der Beziehungen, der in Frankreich bis 1936 und teilweise darüber hinaus die angemessene Einschätzung des politischen Charakters des neuen Regimes in Deutschland nicht gerade erleichterte. Eine Studie der Austauschbeziehungen zwischen Paris und Berlin in den Jahren 1933 bis 1939 müßte das Nebeneinander von eingespielten Begegnungsaktivitäten (die zunehmend Alibi-Charakter annahmen) und neuinszenierten deutsch-französischen Begegnungsformen unter nationalsozialistischer Regie zu klären versuchen. <?page no="165"?> 165 V. Der lange Weg zum Deutschland-Haus in der Cité Universitaire von Paris 1927-1956 Im Folgenden soll der erstmalige Versuch unternommen werden, die Ursprünge des deutschen Hauses zu erforschen, die Geschichte dieser Institution zu entdecken, die - nach dem Bilde der deutsch-französischen Beziehungen - eine komplizierte und wechselvolle Geschichte ist. Zu Beginn ein Zitat: „Ich bin vom deutschen Radio (Breslau) und einigen Zeitungen beauftragt, ausführlich über Pariser Studienverhältnisse zu berichten, wobei ich die Frage der ‚Cité Universitaire’ eingehendst behandeln werde. Ich erlaube mir, die Exzellenz höflichst um die Auskunft zu bitten, warum Deutschland als einziger großer Kulturstaat neben Italien an dem Werk der ‚Cité Universitaire’ nicht beteiligt ist, d.h. kein eigenes Haus besitzt und meines Wissens keines zu bauen beabsichtigt. Ich wage deshalb die Bitte an Sie zu richten, da ich bei Bearbeitung dieser Angelegenheit in Erfahrung gebracht habe, daß die Initiative zum Bau eines eigenen Hauses in den meisten Fällen von den Botschaftern und Gesandten der betreffenden Staaten ausgegangen ist. Ich erlaube mir hinzuzufügen, daß sich die Cité Universitaire offiziell zum Ziel gesetzt hat, der minderbemittelten und begabten Studenten-Jugend aller Länder zu helfen und sie untereinander in Berührung zu bringen - de mettre en contact les élites de leurs jeunes générations.“ 1 Mit diesen ebenso ehrerbietigen wie selbstbewußten Worten wandte sich am 14. September 1929 eine in Bordeaux weilende Breslauer Jura-Studentin an den deutschen Botschafter in Paris von Hoesch. Die Botschaft nahm diese Anfrage der deutschen Studentin, in der sich der deutsch-französische Verständigungs-Anspruch der Locarno-Ära mit deutlichem Nachdruck artikulierte, zum Anlaß, um die Gründe aufzulisten, die für das Fehlen eines deutschen Hauses in der vor vier Jahren eröffneten Cité Universitaire geltend zu machen seien. Im Antwortschreiben der deutschen Botschaft in Paris von Ende September 1929 hieß es, bisher habe sich keine Großmacht außer Frankreich selbst an der Cité Universitaire beteiligt; Deutschland vertrete insofern keine „Sonderpolitik“, wie die Briefschreiberin offenbar annehme. 2 Außerdem sei bisher die Initiative für den Bau der einzelnen nationalen Stiftungshäuser in der Cité Universitaire in der Regel von nicht-gouvernementaler Seite ergriffen worden: „Sie beruht fast durchgängig auf privaten Zuwendungen; die französischen Häuser hat 1 Brief vom 14. September 1929, Ottegebe Eggers an den deutschen Botschafter, in: Auswärtiges Amt, Botschaft Paris, Cité Universitaire, Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes V, 4, c (PA/ AA). 2 Brief der deutschen Botschaft an Fräulein Ottegebe Eggers vom 24. September 1929, in: ibid. <?page no="166"?> 166 Deutsch de la Meurthe gestiftet, das belgische Haus Biermans-Lapôtre, das argentinische Haus Bamberg, das japanische Haus Satsuma, das kanadische Haus Wilson, für zentrale Neubauten hat Rockefeller Mittel zur Verfügung gestellt.“ 3 Als drittes Argument für die Erklärung der deutschen Abwesenheit in der internationalen Studentenstadt am Boulevard Jourdan führte der zuständige Legationsrat der Botschaft an, es gäbe für potentielle private Mäzene wohl mehr sinvolle Objekte der akademischen Förderung in Deutschland und Paris, wo gegenwärtig (1929) ohnehin im Jahr schon „etwa 4 000 deutsche Studenten“ sich aufhielten. Als letzten Grund schließlich für die deutsche Nichtbeteiligung an der Cité Universitaire macht der deutsche Diplomat geltend, daß es die Aufgabe Frankreichs als Siegermacht sei, seinerseits mit der Initiative für die Errichtung eines Studienhauses in Deutschland voranzugehen, um die Voraussetzungen für die Verbesserung des Studiums französischer Studenten jenseits des Rheins zu schaffen: „Ein solches Studienhaus in Deutschland wäre umso nützlicher, als die Zahl der französischen Studierenden in Deutschland vorläufig noch erstaunlich gering ist.“ 4 Der hier etwas ausführlicher wiedergegebene Briefwechsel aus dem Jahr 1929 führt geradewegs ins Zentrum der Problematik und an den Anfang der Geschichte des kulturpolitschen Projekts Deutschland-Haus in der Cité Universitaire. Die Vorgeschichte dieses Projekts ist datierbar von 1927 bis 1956. Sie ist ein Spiegelbild der deutschfranzösischen Konflikt-Konstellation dieser zweieinhalb Jahrzehnte und ein Exempel für die Durchsetzungsfähigkeit einer zivilgesellschaftlichen Idee im Rahmen der auswärtigen Kulturpolitik. Die vielfältigen Initiativen für die Schaffung eines Deutschland-Hauses in der Pariser Cité Universitaire und die Widerstände, an denen sie scheiterten, sollen im folgenden Überblick dargestellt werden gemäß der poltischen Periodisierung der deutsch-französischen Beziehungen zwischen 1925 und 1955. 1. Eine verpaßte Gelegenheit: Die Initiative für ein deutsches Stiftungshaus während der Weimarer Republik Die Cité Universitaire wurde im Jahre 1925 eröffnet und trat somit fast gleichzeitg ins Leben wie der Vertrag von Locarno, der im Oktober desselben Jahres in Kraft trat. Der Locarno-Vertrag setzte in der Gesellschaft Frankreichs und Deutschlands noch mehr Energien frei für die Wiederaufname konstruktiver Beziehungen zwischen beiden Nationen als in der Diplomatie. Der „Geist von Locarno“ inspirierte also in der späten Weimarer Republik nahezu alle Initiativen und Projekte, die auf eine Verbesse- 3 Ibid., p. 1. 4 Ibid., p. 2. <?page no="167"?> 167 rung der deutsch-französischen Beziehungen gerade im soziokulturellen Bereich zielten. Er war auch die Grundlage für die Überlegungen, die vor 1933 über die Möglichkeit eines deutschen Stiftungshauses in der Cité Universitaire angestellt wurden. Das früheste bislang auffindbare Dokument, in dem diese Überlegungen belegt sind, stammt aus dem Jahre 1927. 5 Ein französischer Vertreter auf der Frankfurter Messe trat im August 1927 in Kontakt mit dem seit Juni 1925 tätigen Comité de direction de la Fondation nationale pour le développement de la Cité Universitaire de Paris, um dort die Möglichkeit für ein deutsches Studentenhaus zu erkunden. 6 Er war in Frankfurt vom Direktor der Messeleitung, der in Beziehung stand zur Rothschild-Familie, auf diese Möglichkeit hin befragt worden und hatte den Eindruck, daß diese Initiative mit der Reichsregierung abgestimmt war. In Vertretung des Cité-Gründers, des ehemaligen Erziehungsministers und amtierenden Senators André Honnorat (1868-1950) gab der Sekretär der Fondation nationale de la Cité Universitaire Ende August 1927 seine Einschätzung der Realisierungschancen für ein deutsches Haus in einer abwägenden und vorsichtigen Weise ab, die auch der Meinung des Vize-Präsidenten der Cité, David-Weill, entsprach: „J’ai dit que pour moi la création en question était désirable, et faisait partie du plan de rapprochement franco-allemand, mais qu'elle pouvait être considérée comme prématurée.“ 7 Der Sekretär der Cité Universitaire hielt es für angezeigt, die nächsten Parlamentswahlen abzuwarten, bevor man mit einer möglichen Zusage an die Öffentlichkeit trete; denn das Projekt eines deutschen Hauses werde in der öffentlichen Meinung Frankreichs sowohl auf lebhafte Zustimmung wie auf entschiedene Ablehnung stoßen. Seine Verhaltensempfehlung an den Mittelsmann aus Frankfurt war dilatorisch: »II est bien entendu que dans une question aussi haute il faut agir avec beaucoup de prudence et de discrétion.“ 8 Der Frankfurter Wirtschaftsrepräsentant Max Bamberger, der die Anfrage lanciert hatte, gab sich mit dieser Antwort zufrieden und kam im Oktober 1927 nach Paris, um zusätzliche Informationen über die Cité Universitaire zu erhalten und diese zum günstigen Zeitpunkt gegenüber den politischen Persönlichkeiten verfügbar zu haben. 9 Der politische Wille, das Projekt eines deutschen Stiftungshau- 5 Brief Jean Branet an den Rektor der Pariser Universität vom 25. August 1927, in: Archives Nationales, La Cité Universitaire 1917-1960 (AJ 16-7027 à 7044); diese Quelle wird im folgenden durch die Abkürzung AN/ CU kenntlich gemacht. 6 „M. Delacroix, au nom de M. Bamberger, président du Comité de la Foire, et paraît-il parent des Rothschild de Francfort, m’a demandé si la Fondation Nationale serait disposée à agréer le projet d’une fondation à la Cité d’une fondation pour les étudiants allemands.“ Ibid., p. 1. 7 Ibid., p. 1. 8 Ibid., p. 2. 9 Brief Delacroix an Jean Branet vom 29. September 1927, in: AN/ CU (74-050). <?page no="168"?> 168 ses in Paris voranzutreiben, fehlte offenbar in den folgenden Jahren von französischer wie von deutscher Seite. In dem Maße, wie die deutsch-französische Verständigungs-Bewegung in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre auch organisatorisch Gestalt annahm, wuchs allerdings der gute Wille der unmittelbar betroffenen privaten Akteure für die Errichtung einer Maison de l’Allemagne. Nichtgouvernementale Verständigungsorganisationen wie die Deutsch-Französische Gesellschaft, die Ende 1927 in Berlin gegründet worden war und bis 1930 in anderen Städten Filialen ins Leben rief, 10 oder die Ligue d’Etudes Germaniques, die sich im April 1928 in Frankreich konstituierte, 11 trugen in der Öffentlichkeit zur Verbesserung der Austauschbeziehungen zwischen beiden Nationen bei und nahmen sich gelegentlich auch des Themas der Cité Universitaire an. 12 Im Rahmen des Comité franco-allemand d'Information et de Documentation wurden ab Mai 1926 direkte Gespräche zwischen Spitzenvertretern der Wirtschaft aus Deutschland und Frankreich aufgrund der Vermittlung des luxemburgischen Industriellen Emile Mayrisch geführt. 13 Die institutionellen Ergebnisse des „geistigen Locarno“ in der Kulturpolitik waren die Gründung eines „Französischen Akademikerhauses“ in Berlin, das im Oktober 1930 eröffnet wurde, 14 und die Errichtung einer Außenstelle des Deutschen Akademischen Austauschdienstes in Paris Anfang 1930. 15 Diese beiden öffiziösen Institutionen universitärer Kulturpolitik im anderen Land sahen ihre Hauptaufgabe in der Betreuung 10 Cf. dazu Hans Manfred Bock: „Die Deutsch-Französische Gesellschaft 1926-1934. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der deutsch-französischen Beziehungen der Zwischenkriegszeit“, in: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte, Bd. 17/ 3 (1990), p. 57-101. Cf. auch Ina Belitz: Befreundung mit dem Fremden. Die Deutsch-Französische Gesellschaft in den deutsch-französischen Kultur- und Gesellschaftsbeziehungen der Locarno- Ära, Bern, Berlin 1997. 11 Cf. Hans Manfred Bock: „Les associations de germanistes français. L'exemple de la Ligue d’études germaniques“, in: Michel Espagne, Michael Werner (ed.): Les études germaniques en France (1900-1970), Paris 1994, p. 267-285. 12 Cf. z.B. J. G. Fevrier: „Die Cité universitaire in Paris“, in: Deutsch-französische Rundschau, 1930, p. 725-732. Roger Lauriant: : „La Cité Universitaire de Paris“, in: Deutschfranzösische Rundschau, 1932, p. 372-374. 13 Cf. Hans Manfred Bock: „Emile Mayrisch und die Anfänge des Deutschfranzösischen Studienkomitees“, in: Galerie. Revue culturelle et pédagogique, Luxembourg, 1992, no 4, p. 560-585. 14 Dominique Bosquelle: „L’Institut français de Berlin dans les années trente“, in: Cahiers d'études germaniques, 1991, no 21, p. 217-250. 15 Cf. dazu die beiden Aufsätze Beatrice Pellissier: „L’antenne parisienne du DAAD à travers les archives de l’Auswärtiges Amt de Bonn jusqu’en 1939“, und Dieter Tiemann: „Zweigstelle Paris des DAAD und Institut français de Berlin. Zwei Einrichtungen der auswärtigen Kulturpolitik mit jugendpolitischer Orientierung“, in: Hans Manfred Bock, Reinhart Meyer-Kalkus, Michel Trebitsch (ed.): Entre Locarno et Vichy. Les relations culturelles franco-allemandes dans les années 1930, Paris 1993, tome 1, p. 273- 285 bzw. p. 287-300. <?page no="169"?> 169 postgradualer Studierender. Das Französische Akademikerhaus gab einer begrenzten Zahl von Universitäts-Absolventen die Möglichkeit der Vorbereitung einer Qualifikationsarbeit in der Reichshauptstadt, die DAAD- Zweigstelle in Paris war mit der Vermittlung von deutschen Lektoren in Frankreich und (stärker als die Maison académique française in Berlin) mit Informationstätigkeiten befaßt. Der Lebenswelt deutscher Studenten in Paris stand vergleichsweise näher das im Februar 1929 durch private französische Initiative an der Place de la Sorbonne gegründete Centre d’études franco-allemandes, das bis 1933 ein Ausspracheforum für französische und deutsche Studierende darstellte. 16 Als Ort der Begegnung und Diskussion zwischen deutschen und französischen Kulturrepräsentanten, vor allem aber als Stätte seminaristischer Arbeit für französische Germanistik-Studenten wurde in Paris am Ende dieser Reihe von institutionellen Verwirklichungen im Zeichen von Locarno das Institut d’Etudes Germaniques im Dezember 1930 eingeweiht. Diese französische Institutsgründung, die unter der Leitung des Sorbonne- Germanisten Henri Lichtenberger 17 und in Anwesenheit des deutschen Botschafters sowie eines Vertreters des Comité franco-allemand d’Information et de Documentation stattfand, 18 übernahm in den folgenden Jahren in begrenztem Umfang die Aufnahme- und Betreuungs-Funktionen im akademischen Besucherverkehr aus Deutschland, die die Aufgabe eines Deutschland-Hauses in der Cité Universitaire hätte sein sollen. An der Spitze des Direktions-Komitees des Institut d’Etudes Germaniques in der rue de l’Ecole de Médecine stand der Gründer und Präsident der Cité Universitaire, André Honnorat. Er verlas anläßlich der Institutseröffnung die in der Presse vielbeachtete Rede des erkrankten früheren Regierungschefs Raymond Poincaré, dessen Parteifreund Honnorat war. Poincarés Redeentwurf endete mit einem Plädoyer für die vorurteilslose Begegnung zwischen Franzosen und Deutschen: „Mais, pour mettre un terme à ces dissentiments, pour établir la concorde entre des peuples auxquels leur intérêt économique lui-même interdit de rester divisés, pour les amener à reprendre, au profit de l’'humanite toute entière, une collaboration longtemps interrompue, et même plus simplement, pour donner à chacun d'entre eux une image fidèle de son voisin, pour substituer les réalites aux partis-pris et aux illusions, il est indispensable de renouer les traditions anciennes et de rouvrir entre des intelligences qui s'ignorent des communications regulières.“ 19 16 Cf. dazu auch Reinhart Meyer-Kalkus: Die akademische Mobilität zwischen Deutschland und Frankreich (1925-1992), Bonn 1994, p. 218sq. 17 Dieter Tiemann: Deutsch-französische Jugendbeziehungen der Zwischenkriegszeit, Bonn 1989, p. 218sq. 18 Zu seiner Gründung und Arbeit cf. meine Studie in diesem Buch: „Berlin-Paris, Paris- Berlin. Zur Topographie zivilgesellschaftlicher Begegnung in der Locarno-Ära“. 19 Text wiedergegeben in: Deutsch-französische Rundschau, 1931, p. 4sq, Zitat p. 14. <?page no="170"?> 170 Senator Honnorat war in den späten zwanziger Jahren - vermutlich im Sinne dieser Rede und unter dem Eindruck der sich verdichtenden Kommunikationsnetze zwischen Deutschland und Frankreich - zum nachdrücklichen Befürworter des Baues eines deutschen Hauses in der Cité Universitaire geworden. Sein aktives Engagement setzte allerdings gerade in dem Jahr 1930 ein, als in Deutschland die Folgen der Weltwirtschaftskrise spürbar wurden und eine neonationalistische Woge die politischen Voraussetzungen für die Realisierung des Projektes eines deutschen Hauses in der Cité Universitaire zusätzlich verschlechterten. Alle erhaltenen Dokumente zu den Bemühungen um eine institutionelle Repräsentanz Deutschlands in der Studentenstadt am Boulevard Jourdan lassen darauf schließen, daß die deutsche Botschaft in Paris ein solches Projekt ablehnte, daß aber das Interesse in der deutschen Gesellschaft an der Cité Universitaire im allgemeinen und an einem dortigen Deutschland-Haus im besonderen in den dreißiger Jahren lebendig blieb. Zu den Eröffnungsfeiern der einzelnen nationalen Stiftungen in der Expansionsphase des städtebaulichen Ensembles an der damaligen Peripherie von Paris (1925 bis 1932) wurde der deutsche Botschafter regelmäßig eingeladen, ließ sich jedoch mit fast ritueller Regelmäßigkeit wegen anderer Verpflichtungen entschuldigen. 20 Das allgemeinste Motiv, das hinter dieser ablehnenden Haltung stand, war die Auffassung, daß die Cité Universitaire vorrangig ein Instrument französischer Kulturpropaganda sei, für dessen Funktionieren Frankreich allein den Baugrund zur Verfügung stellte, sich aber die Errichtungs- und Betriebskosten von den anderen Nationen bezahlen lasse. Die spezifizierenden Gründe für die Ablehnung der deutschen Beteiligung an dem internationalen Projekt von André Honnorat, die z. B. in der Argumentation der Botschaft vom September 1929 eine Rolle spielten, waren im Vergleich mit diesem Grundmotiv austauschbar und Anfang der dreißiger Jahre größtenteils obsolet. Denn mit der Einrichtung des Französischen Akademikerhauses in Berlin im Herbst 1930 war eine der französischen Vorleistungen erbracht, und mit der Eröffnung der Stiftung der Vereinigten Staaten im April 1930 war eine der Großmächte in der Cité Universitaire vertreten. Auch das Desinteresse potentieller deutscher Mäzene konnte man in der Botschaft nicht mehr ernsthaft annehmen, nachdem der französische Handelsattaché in Berlin dort im November 1930 genau das Gegenteil glaubhaft demonstriert hatte. 21 Angesichts dieser nicht mehr stichhaltigen Gründe trat in der abweisenden Argumentation der Pariser Botschaft im Jahre 1930 das Thema der Weltwirtschaftskrise und ihrer verheerenden sozialen Konsequenzen in Deutschland in den Vordergrund. Die Stellung- 20 Mehrere Beispiele für diese Haltung finden sich in: PA/ AA, Cité Universitaire, vol. 1 (20. janv. 1928-19 dec. 1936). 21 Cf. dazu den Brief vom 28.11.1930, abgesandt vom Außenministerium in Berlin an die deutsche Botschaft in Paris. PA/ AA, Cité Universitaire, vol. 1. <?page no="171"?> 171 nahme eines Botschafts-Mitarbeiters zu den Bemühungen, eine Sammlung in interessierten Wirtschaftskreisen Deutschlands für eine deutsche Stiftung in der Cité Universitaire durchzuführen, pointierte das nun vorherrschende soziale Argument: „Die Mehrzahl der deutschen Studenten muß sich unter größten Entbehrungen durch ihr Hochschulstudium schlagen und hat dann noch nicht einmal die Hoffnung auf eine angemessene berufliche Tätigkeit vor Augen. Bei dieser beinahe verzweifelten Lage gewinnen die studentischen Wohlfahrtseinrichtungen in Deutschland (Studentenhäuser, Mittagstische und dergl.) außerordentlich an Bedeutung und die öffentliche Meinung verlangt ihre tatkräftige Förderung. Leider leiden diese Einrichtungen aber bei der finanziellen Lage des Staates und der Wirtschaftskrise selbst unter größtem Mangel. Man würde in vielen Kreisen kein Verständnis dafür haben, daß man unter diesen Umständen ein Projekt ausführte, das nicht zum wenigsten der französischen Kulturpropaganda zugute kommen und für das vom sozialen Gesichtspunkt aus kein dringender Bedarf vorliegen würde; denn es besteht wohl kein Zweifel, daß die deutschen Studierenden, die sich in Paris aufhalten, in der Regel Kreisen entstammen, die wirtschaftlich leistungsfähiger sind als der große Durchschnitt der deutschen Studenten.“ 22 Diese neu akzentuierte Abwehr-Argumentation der Pariser Botschaft war unmittelbar veranlaßt worden durch die Sondierungsversuche des französischen Handelsattachés in der Berliner Botschaft Lefeuvre, der seine vielfältigen Kontakte zu den deutschen Wirtschaftskreisen einsetzte, um deren Spendenwilligkeit für eine deutsche Repräsentation in der Cité Universitaire zu stimulieren. Lefeuvre stand mindestens seit Anfang 1930 in Verbindung mit dem Cité-Präsidenten André Honnorat, der ihm bei einem Treffen in Paris seinen Wunsch anvertraut hatte, eines Tages Deutschland im Besitz seines eigenen „pavillon à la Cité Universitaire“ 23 zu sehen. Er empfahl ihm, den Vize-Präsidenten der Internationalen Handelskammer in Berlin, Franz von Mendelssohn, bei dessen Besuch der Pariser Messe im Mai 1930 zu empfangen und ihn mit seinem Werk bekanntzumachen: „Au moment où la France va évacuer la Rhénanie et où elle se décide à fonder à Berlin un Institut de France pour abriter une dizaine d’étudiants français, je crois qu’il serait opportun d’attirer à nouveau l’attention des milieux allemands sur la grande Oeuvre à laquelle vous vous consacrez.“ 24 Obwohl Lefeuvre sein Sondierungsgespräch über das Projekt einer deutschen Stiftung in der deutschen Botschaft in Paris im November 1930 beendet hatte mit der Zusicherung, die Dinge erst einmal ruhen zu lassen, setzte er in Berlin seine Bestrebungen für die Verwirklichung der Idee eines 22 Ibid., p. 2 sq. 23 Brief vom 9. April 1930 an André Honnorat, Sénateur, in: Archives de la Maison Heinrich Heine (im Folgenden angezeigt mit dem Kürzel A/ MHH). 24 Ibid., p. 1sq. <?page no="172"?> 172 deutschen Hauses fort. Er schrieb dazu Ende November 1930 an André Honnorat, er werde in Kürze wissen, welche Spendensumme aus dem Milieu interessierter deutscher Wirtschaftsvertreter zusammenkomme. Denn es gäbe trotz der Krise ein deutsches Wirtschaftsinteresse an Frankreich: „Il y a un certain nombre d’industriels et de banquiers dont les affaires ont été relativement peu touchées par la crise, qui font de grosses affaires avec la France et qui désirent donner à leurs amis français un témoignage de sympathie.“ 25 Der französische Advokat eines deutschen Hauses in der Cité Universitaire hatte seinen Botschafter Pierre de Margerie in Berlin in Kenntnis gesetzt von seinen Aktivitäten. Er war im preußischen Unterrichtsministerium auf sehr positive Resonanz gestoßen und im Auswärtigen Amt auf einen Diplomaten, der die Cité Universitaire besichtigt hatte und von seiner Idee sehr angetan war; beide Ministerialbeamte hielten allerdings den Augenblick für ihre Realisierung angesichts der gegenwärtigen sozio-ökonomischen Notsituation in Deutschland nicht für günstig. 26 Es ist aus den erhaltenen Dokumenten nicht zu ermitteln, woran der Optimismus und der Elan dieses Anlaufs für die Errichtung einer Maison de l’Allemagne letztlich scheiterte. Mutmaßlich waren die Dauer der wirtschaftlichen und politischen Krise in Deutschland und die politischkonjunkturellen Bedenken der Ministerialbeamten ausschlaggebend dafür, daß das Projekt des Deutschland-Hauses abermals vertagt wurde. Nachdem also 1927 dieses Projekt noch an den politischen Opportunitätszweifeln in Frankreich scheiterte, stieß es 1930 - als es von französischer Seite begrüßt wurde - auf die Bedenken der deutschen Verantwortlichen, die den Plan eines deutschen Hauses in Paris angesichts der Wirtschaftskrise nicht für politisch durchsetzbar hielten. André Honnorats beharrliche Bemühungen um die Einbeziehung eines deutschen Beitrags in sein Lebenswerk der Cité Universitaire setzten sich fort bis zum Frühjahr 1931. In der zweifellos richtigen Einschätzung, daß auf der deutschen Seite die Haupthindernisse bei den politischen Entscheidungsträgern zu suchen waren, machte der Präsident der Cité Universitaire Ende Februar/ Anfang März 1931 einen einwöchigen Besuch in Berlin. Für die Vorbereitung und Durchführung dieses Besuchs in der Reichshauptstadt konnte Honnorat sich stützen auf eines der diskreten, aber durchaus wirksamen Kommunikationsnetze, die seit Mitte der zwanziger Jahre zwischen Deutschland und Frankreich geknüpft worden waren. 27 25 Brief Lefeuvre an André Honnorat, Senateur, vom 26. Nov. 1930, in: A/ MHH, p. 3. 26 Sein Gesprächspartner im Preußischen Kultusministerium war der Oberregierungsrat Leist und im Außenministerium der Wilhelmstraße in Berlin M. Freudenberg. 27 Cf. zu den Aktivitäten des Centre Carnegie in Paris: Le Centre européen de la Division des Relations Internationales et de l’Education. Fondation, administration, acitivité, Paris 1928. Cf. auch die Überblicks-Skizze zu diesen deutsch-französischen Netzwerken in meinem Aufsatz: „Berlin-Paris, Paris-Berlin. Zur Topographie zivilgesellschaftlicher <?page no="173"?> 173 Senator Honnorat war Mitglied des Verwaltungsrates des Europäischen Zentrums der amerikanischen Carnegie-Stiftung, das nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Ziel der Friedenserziehung und Kriegsursachenforschung gegründet worden war und seinen Hauptsitz in Paris hatte. Dort hatte er die Bekanntschaft der beiden deutschen Repräsentanten, des Wirtschaftsexperten Erich von Prittwitz-Gaffron und des Nationalökonomen Julius Bonn (beide Berlin), gemacht und mit deren Rat und Tat bereitete er den Berlin-Aufenthalt vor. Julius Bonn riet ihm, seinen Besuch so zu planen, daß er mit dem Vortrag des französischen Historikers Pierre Renouvin am Carnegie-Lehrstuhl der Berliner Hochschule für Politik zusammenfalle. 28 Erich von Prittwitz-Gaffron hielt die vorgesehenen Berliner Gespräche des Präsidenten der Cité Universitaire für überaus aussichtsreich. 29 Honnorat kam nach Aufenthalten in Stockholm und Kopenhagen, wo es um die Fertigstellung der im Bau befindlichen Stiftungshäuser beider Nationen in der Cité Universitaire ging, 30 Ende Februar 1931 nach Berlin, um in der Frage eines deutschen Beitrages weiterzukommen. Er wurde begleitet vom Direktor des Pariser Institut d’Etudes Germaniques, Henri Lichtenberger, der seit 1922 viele Male in der Reichshauptstadt gewesen war, und er wurde betreut durch von Prittwitz-Gaffron. Botschafter von Hoesch telegraphierte aus Paris folgendes Kurzporträt des Präsidenten der Cité Universitaire an das Auswärtige Amt in Berlin: „Senator Honnorat, 63 Jahre alt, angehört französischem Parlament seit 21 Jahren. Bis 1921 war er Abgeordneter, und zwar etwa von der politischen Färbung Maginots. Seit 1921 angehört er Senat als Mitglied der republikanischen Rechten, Union républicaine genannt, bei der auch Poincaré eingeschrieben ist. Er war Unterrichtsminister in den Kabinetten Millerand und Leygues 1920 bis 1921. - Honnorat ist mir gut bekannt und verkehrt auch in meinem Hause. Er ist ein (durchaus) 31 sympathischer, kenntnisreicher und arbeitssamer Mann mit erweitertem Blick und gemäßigten und verständigen Anschauungen. Ein besonderes Interesse bringt er kulturellen Fragen, und zwar insbesondere auf internationalem Gebiet, entgegen. Er war es auch, der im letzten Herbst in Vertretung von Poincaré bei der Einweihung des hiesigen Germanistischen Instituts präsidierte und die damals viel besprochene Begegnung in der Locarno-Ära“, besonders den Abschnitt: Zivilgesellschaftliche Orte und Formen der deutsch-französischen Begegnung in Berlin und Paris. 28 Brief Julius Bonn an André Honnorat vom 10. Januar 1932, p. 1, in: A/ MHH. Pierre Renouvin hielt dann allerdings seinen Vortrag am Carnegie-Lehrstuhl in Berlin am 23. Januar 1931, also vor der Ankunft von André Honnorat in der Reichshauptstadt, über das Thema „Les idées et les projets de l’Europe au XIXème siècle“. 29 Brief vom 16. November 1930, Erich von Prittwitz-Gaffron an André Honnorat, in: PA/ AA. 30 Die Maison des étudiants danois wurde am 25.1.1932, das Haus Schwedens am 1.11.1931 eingeweiht. 31 Eine einschränkende Formulierung, die in der Endfassung des Briefes wegfiel. <?page no="174"?> 174 letzte von Poincaré aufgesetzte Rede in dessen Namen verlas. - Seit mehreren Jahren hat Honnorat sozusagen sein gesamtes Wirken auf den Ausbau der Pariser Cité Universitaire, deren Wesen und Bedeutung aus unserer Berichterstattung bekannt ist, konzentriert. Er hat zwecks Werbung für die Cité Universitaire größere Reisen in der ganzen Welt unternommen, und ihm ist in ganz überwiegendem Maße die Entwicklung dieses Instituts zu verdanken, das er selbst als sein Kleinod und sein Lebenswerk ansieht. - Es ist wohl anzunehmen, daß die Reise Honnorats nach Berlin mit diesen seinen Hauptbestrebungen zusammenhängt. - Honnorat steht hier in größtem Ansehen. Seine oben skizzierten Sonderinteressen haben ihn aber in den vergangenen Jahren von besonderem Hervortreten auf politischem Gebiet abgehalten.“ 32 Der hier mitgeteilte Eindruck, daß Honnorat nicht (mehr) in der vordersten Linie der französischen Politik stand, mag in Berlin dazu beigetragen haben, daß er dort nicht die einflußreichen Persönlichkeiten traf, die er und sein Betreuer von Prittwitz-Gaffron sich als Gesprächspartner gewünscht hatten. Der Präsident der Cité Universitaire, der vor seiner Reise eine Unterredung mit Außenminister Aristide Briand hatte, traf Reichsfinanzminister Dietrich und Reichsbankpräsident Luther, nicht aber Außenminister Curtius (der auf einer Österreich-Reise war). 33 Er wurde im Humboldt-Haus, dem Zentrum akademischen Besucherverkehrs in Berlin, empfangen und war Gast der Deutsch-Französischen Gesellschaft sowie seiner beiden Berliner Kollegen aus der Carnegie-Stiftung. Der Germanist Henri Lichtenberger brillierte bei diesen Empfängen an seiner Seite mit „formvollendeten“ (so von Prittwitz-Gaffron) Vorträgen in deutscher Sprache. Honnorat wurde mit dem ehemaligen preußischen Erziehungsminister Carl Heinrich Becker 34 und dessen amtierenden Nachfolger Adolf Grimme bekanntgemacht. Vorbehaltlose Zustimmung fand er mit seiner werbenden Darstellung der Cité Universitaire beim Vorsitzenden des Verbandes Deutscher Hochschulen (Prof. Thillmann), der sich seinerseits bereit erklärte, „für diesen Gedanken in den Kreisen der deutschen Universitäten und Hochschulen“ 35 zu werben. Von Prittwitz-Gaffron, der dem prominenten Gast aus Paris am Beispiel des Collegium Hungaricum demonstrierte „wie hier in Berlin ein Haus für ausländische Studenten organisiert ist“, 36 war recht stolz auf den Eindruck, den dessen Besuch hinterließ: „Alles in allem glaube ich sagen zu können, daß die vornehme 32 Telegramm gezeichnet Hoesch, adressiert an das Auswärtige Amt in Berlin und datiert vom 20. Februar 1931. PA/ AA, Cité Universitaire, vol. 1. 33 Bericht über die Reise des Präsidenten der Cité Universitaire, André Honnorat, von Erich von Prittwitz-Gaffron an Botschafter von Hoesch in Paris vom 10. März 1931; PA/ AA, Cité Universitaire, 5 Seiten. 34 Ibid., p. 3. C. H. Becker war einer der Pioniere der Wiederaufnahme deutschfranzösischer Universitätsbeziehungen im Jahre 1925 gewesen. 35 Ibid., p. 4. 36 Ibid. <?page no="175"?> 175 und immer das Sachliche betonende Persönlichkeit Honnorats in allen Kreisen Berlins einen ausgezeichneten Eindruck hinterlassen hat und daß Herr Professor Bonn und ich uns ganz besonders darüber gefreut haben, daß diese anerkennenden Worte unserem französischen Kollegen in der Carnegie-Stiftung galten.“ 37 Von Prittwitz-Gaffron, der Bruder des damals in den USA amtierenden deutschen Botschafters, zeigte sich in seinem Bericht an Botschafter von Hoesch in Paris irritiert über die bürokratische Weise, in der Honnorats Besuch im Auswärtigen Amt aufgenommen wurde. Eine längere Synthese der Gespräche, die Senator Honnorat dort geführt hatte, aus der Feder eines Ministeralbeamten 38 , bestätigt einmal mehr, daß die gesellschaftliche Resonanz der Idee der Cité Universitaire in Deutschland weit stärker war als deren diplomatische Akzeptanz. Der Autor der „Aufzeichnung“ charakterisierte zunächst das internationale kulturpolitische Programm, das der Präsident vorgetragen hatte: „Er sieht seine große Lebensaufgabe darin, zur Wiedererweckung eines übernationalen Bildungsideals, eines neuen Humanismus beizutragen. Den Schlüssel hierfür findet er in den Universitäten, die fast in allen Ländern Gefahr liefen, spezialisierte Berufsschulen zu werden und ihre Aufgabe, Pflegestätten allgemeiner Bildung und humanistischen Geistes zu sein, immer mehr verleugneten. - Dieser großen Aufgabe will er bewußt seine Einzelunternehmungen, wie die Cité Universitaire in Paris, die mit Hilfe der Carnegie-Stiftung geschaffene große internationale Bibliothek im Schloß Vincennes und den internationalen Studentenaustausch dienstbar machen. - Es ist bezeichnend für die großangelegte französische Kulturpolitik, mit welcher Selbstverständlichkeit Senator Honnorat Paris als den Mittelpunkt dieser Bestrebungen ansieht. - Wiederholt ergab sich aus den Äußerungen von Herrn Honnorat, daß bei der Verfolgung seiner übernationalen Bildungsziele und dem Wunsch, ein gewisses geistiges Solidaritätsgefühl in Europa zu erwecken, starke Besorgnisse wegen der ‚sowjetrussischen Gefahr’ mitschwingen.“ 39 Der Berichterstatter erkannte als stärksten Beweggrund für den Besuch Honnorats dessen Interesse am Bau eines deutschen Hauses in der Cité: „Senator Honnorat schien sich klar zu sein - und es wurde ihm dies wiederholt mit aller Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht-, daß er für die Errichtung des von ihm lebhaft gewünschten deutschen Pavillons aus Deutschland selbst in absehbarer Zeit nicht auf ausreichende Stiftungen rechnen könne.“ 40 Der Senator kannte das soziale Argument von der deutschen Seite gegen den Bau hinlänglich und hoffte, es in den 37 Ibid. 38 Ibid, p. 3. „Aufzeichnung“ geschrieben in Berlin, am 11. März 1931, zum Besuch von André Honnorat; in: PA/ AA, Cité Universitaire, vol. 2, 7 Seiten. 39 Ibid., p. 1. 40 Ibid., p. 3. <?page no="176"?> 176 Berliner Gesprächen ins Wanken zu bringen mit dem Hinweis, möglicherweise einen finanziellen Grundstock für das Projekt aus US-amerikanischen Quellen zu erhalten. Seine Frage, ob man im Falle der Beibringung von 1 Million Reichsmark aus Privatmitteln Dritter deutscherseits bereit wäre, die gleiche Summe für die Errichtung einer Maison de l’Allemagne zuzulegen, wurde - so der Referent aus dem Auswärtigen Amt - „wenigstens für die nächsten Jahre mit aller Bestimmtheit verneint“. 41 Honnorat flankierte seine Anfrage mit dem Angebot, in verschiedenen Studentenheimen in Deutschland für jeweils 10.000 Reichsmark Zimmer zu stiften, die mit französischen Studenten belegt werden sollten. Namentlich München und Münster waren im Gespräch, aber die Entscheidung über dieses Angebot wurde verschoben. 42 Der deutsche Protokollant dieser Gespräche vermutete eher mißtrauisch: „Von deutschen Gegenleistungen sprach er in diesem Zusammenhang nicht. Er möchte jedoch offenbar mit diesen Mitteln das deutsche Interesse für seine Bestrebungen stärken und wohl besonders die bisher fehlende Zusammenarbeit mit den Unternehmungen der Cité Universitaire beleben.“ 43 Auch andere konkrete Vorschläge Honnorats für die Verbesserung der deutsch-französischen Kulturbeziehungen (gemischte deutsch-französische Gruppenreisen in beiden Ländern mit Carnegie-Unterstützung, Erweiterung des Französischen Akademikerhauses in Berlin, Vermehrung der Zahl der deutschen Lektorate in Frankreich) wurden allem Anschein nach im Auswärtigen Amt eher defensiv aufgenommen und als geschickte Versuche der Durchsetzung des kulturellen Hegemonie-Anspruchs Frankreichs in Europa gedeutet. Das Fazit der Bemühungen des Präsidenten der Fondation Nationale de la Cité Universitaire um die Einbeziehung Deutschlands in sein Werk, das dieser kurz vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland Ende 1932 zog, fiel recht mager aus. In einem Brief an seinen Mitstreiter in diesen Bemühungen, den französischen Handelsattaché in Berlin Lefeuvre, resümierte er die wenigen Erfolgserlebnisse, die zu verzeichnen waren. 44 Es waren 1931 fünfzehn Wohnplätze in der Cité Universitaire für deutsche Französischlehrer vier Wochen lang kostenlos zur Verfügung gestellt worden, die von der deutschen Botschaft, vom Pariser DAAD und vom Deutschen Neuphilologenverband ausgewählt wurden. 45 Eine franzö- 41 Ibid., p. 4. 42 Es wurde vorgesehen, die Diskussion dieses Projekts mit dem Direktor des DAAD Morsbach fortzusetzen anläßlich der Universitäts-Ferienkurse in Davos vom April 1931. Ibidem, p. 5. Genauere Auskünfte über die Universitäts-Treffen in Davos cf. Ina Belitz, op. cit., p. 488 sq. 43 „Aufzeichnung“, loc. cit., p. 5. 44 Brief von André Honnorat an Lefeuvre, datiert vom 15. November 1932; in: A/ MHH. 45 Es gibt auch einen Brief von Henri Lichtenberger (vom 9. Juli 1931), der Einzelheiten über die kostenlose Unterbringung von rund 15 Französischlehrern, die Paris besuchten, enthält. Cf. PA/ AA. Lichtenberger schrieb dort in seiner Eigenschaft als Direktor <?page no="177"?> 177 sische Stifterin hatte ein Zimmer in der Cité finanziert, dessen Bewohner durch das Institut d’Etudes Germaniques benannt wurde. Und schließlich war nun (Ende 1932) aus Deutschland durch Vermittlung Lefeuvres eine Spende von 50.000 Francs avisiert worden für die Finanzierung eines Zimmers in der Cité, das für einen Studenten aus Deutschland auf die Dauer jeweils eines Jahres als Unterkunft dienen sollte. In dem Musterbrief, den André Honnorat an den Stifter übermittelte, damit dieser ihn mit dem Scheck an den französischen Botschafter in Berlin schickte, hatte er u.a. vorgesehen, daß das Zimmer den Namen des Spenders tragen, daß sein Bewohner gemeinsam vom Pariser DAAD und vom Institut d’Etudes Germaniques vorgeschlagen werden und daß eine künftig zu gründende „Maison allemande“ in der Cité über den Gegenwert der Stiftungssumme verfügen sollte. 46 Die Akten geben keine Auskunft darüber, ob diese symbolische Verwirklichung deutscher Präsenz am Boulevard Jourdan zustande kam oder von den politischen Umwälzungen des Jahre 1933 in Deutschland zunichte gemacht wurde. 2. Eine zerstörte Hoffnung: Die Idee eines deutschen Hauses in der Cité Universitaire im „Dritten Reich“ Wenn der Präsident der Cité am Boulevard Jourdan Ende 1932 sich selbst über eine bescheidene Stiftungssumme von 50.000 Francs begeistert zeigte, so war das u.a. bedingt durch die Tatsache, daß 1932 die Expansionsphase der internationalen Studentenstadt unter den Einwirkungen der Wirtschaftskrise zu Ende ging. In den Protokollen der Verwaltungsrats- Sitzungen der Cité Universitaire heißt es dazu: „Nous avons dit que si nous avons pu réaliser en 1932 de décisifs et importants progrès, la crise avait cependant eu, pour nous, de graves et cruelles répercussions. C’est ainsi que certaines de nos Fondations étrangères auraient été contraintes de suspendre complètement leurs travaux si nous n’avions pu leur consentir des avances sur les crédits de l’Outillage National.“ 47 Dies sei namentlich der Fall gewesen für die griechische und die niederländische Stiftung. Die „rapports moraux“ des Verwaltungsrats der folgenden Jahre waren gezwungen, weitere Symptome der Stagnation festzustellen. 1934 hieß es dort z.B., man habe das Terrain der Cité Universitaire nicht erweitern können, es sei kein einziger Neubau eines nationalen Stiftungshauses eingedes Institut d’Etudes Germaniques: „Nous espérons, M. Honnorat et moi, que cette facilité donnée à des jeunes gens de séjourner à Paris pourra être une condition - si minime qu’elle soit - à cette œuvre de détente plus nécessaire que jamais à l’heure qu'il est.“ 46 Musterbrief, beigefügt dem Brief von André Honnorat vom 15. November 1932. 47 Rapport moral 1932 des Conseil d’administration de la Cité Universitaire, in: AN/ CU (AJ 16/ 7030, Dossier 2). <?page no="178"?> 178 weiht oder begonnen worden, ja man habe zwei dieser Häuser, die 1933 übergeben worden seien, nicht weiter ausbauen und ausstatten können. 48 Die Zahl der in der Cité untergebrachten Studenten schritt in diesen Jahren nicht weiter voran. Im Jahre 1930 waren dies 1559 Studierende gewesen, davon 652 ausländische Studenten der Stiftungsländer und insgesamt (französische (87) und ausländische (107) zusammengenommen) 194 Studentinnen. Die 1933 erreichte Zahl von rund 2.000 in der gesamten Cité Universitaire verfügbaren Zimmern blieb in den folgenden Stagnationsjahren gleich. Der Rapport moral von 1935 konstatierte einen Stillstand nach der fortschreitenden Progression der Gründungsperiode bis 1932 und versuchte diese Tatsache so zu erklären: „Le fait, qui n’a rien d’inquiétant, s’explique par plusieurs raisons. La dénatalité des années de guerre fait qu’actuellement, d’une façon générale, il y a moins d’étudiants. D’autre part, la crise économique qui prive nos Universités d’une partie importante de notre clientèle étrangère, ne permet plus à certaines familles françaises d’engager leurs enfants dans la voie des études d’enseignement supérieur.“ 49 Von den europäischen Ländern waren vor Beginn der Stagnation in der Entwicklung der Cité Universitaire die folgenden Nationen am Boulevard Jourdan vertreten: Belgien mit der Fondation Biermans-Lapôtre (eingeweiht im November 1927), Dänemark (Januar 1932), Griechenland (Dezember 1932), Schweden (November 1931) und die Schweiz (Juli 1933). Während der Krisenjahre bis Ende des Zweiten Weltkrieges kamen nur noch im Jahr der Pariser Weltausstellung von 1937 zwei europäische Stiftungshäuser hinzu: Das Collège franco-britannique und das Haus von Monaco. Im selben Jahr 1937 kam es auch in der Frage der Errichtung eines deutschen Hauses in der Cité Universitaire wieder zu einem neuen Anlauf, dessen Verwirklichungsaussichten von vornherein durch die Krise und die nationalsozialistische Herrschaft in Deutschland begrenzt waren. Diese abermalige Initiative für die Verwirklichung der Idee eines deutschen Hauses in der Cité Universitaire setzte einerseits in manchen Aspekten die früheren Versuche fort, die von gesellschaftlichen Akteuren getragen wurden; sie enthielt andererseits jedoch neuartige Züge, die durch die totalitäre Eigenart des nationalsozialistischen Herrschaftsregimes bedingt waren. Das zivilgesellschaftliche Interesse in Deutschland an der Pariser Cité Universitaire war - wie bereits mehrfach dargelegt - begründet in der Strategie der frankreichorientierten Exportindustrie. Es war aber auch verwurzelt im Informationsbedürfnis von Urbanisten, Kommunal- und Kulturpolitikern über den innovativen Charakter der Cité in städtebaulicher, sozial- und bildungspolitischer Hinsicht. Dieser Reigen von Besu- 48 Conseil d’administration de la Cité Universitaire: Rapport sur le fonctionnement de l’Etablissement 1935, in: AN/ CU, Dossier 2, p. 2. 49 Rapport moral de 1935 des Verwaltungsrats der Cité, in: AN/ CU (AJ 16/ 7030, dossier 2). <?page no="179"?> 179 chern, der in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre begann, setzte sich auch im „Dritten Reich“ fort. So interessierte sich der Leiter des Deutschen Instituts für Ausländer an der Berliner Universität, Prof. Georg Kartzke, der bereits in den zwanziger Jahren entsprechende Einrichtungen internationaler Verständigung unter der akademischen Jugend in den USA besichtigt hatte, lebhaft für die Cité Universitaire. Ein angelsächsischer Hochschullehrer, der in der Pariser Cité wohnte und im Berliner Hegel-Haus zu Gast war, wirkte im Sommer 1936 als Mittelsmann zwischen der französischen und der deutschen Institution. Er berichtete in Paris, daß man in Deutschland gar nicht wisse, daß deutsche Studenten trotz des Fehlens eines deutschen Hauses durchaus auch in den anderen Stiftungshäusern der Cité Universitaire aufgenommen werden könnten. 50 Die Verwaltung der Cité schickte daraufhin eine Dokumentation über ihre Einrichtungen an den Leiter des Berliner Instituts für Ausländer und bestätigte: „Bien qu’en principe la Cité accueille surtout des étudiants dont les pays y sont représentés par des fondations de maisons ou de chambres, nous sommes tout disposés, dans la limite de nos possibilités, à recevoir également ceux de vos compatriotes pouvant solliciter leur admission.“ 51 Es genüge für interessierte Studierende, in einer der Pariser universitären Institutionen eingeschrieben zu sein und durch die Botschaft oder den DAAD vorgeschlagen zu werden. Die Verwaltungsspitze der Cité wies bei der Gelegenheit darauf hin, daß dies bereits früher so praktiziert worden sei und daß man nun schon seit mehreren Jahren Gruppen von Gymnasial- und Realschullehrern, die vom Institut d’Etudes Germaniques eingeladen würden, aufnehme für die Dauer ihres Paris-Aufenthaltes. In einer eingehenden Diskussion über die deutsche Präsenz hieß es in der Verwaltungsrats- Sitzung vom 23. März 1938, gegenwärtig seien mindestens ein Dutzend Studenten aus Deutschland unter den Residenten der Cité. 52 Das Interesse an André Honnorats Studentenstadt wurde auch fortgeführt von der Organisation für die Pflege der deutsch-französischen Kontakte, die im Oktober 1935 in Berlin unter nationalsozialistischer Regie gegründet worden war und die mit der Deutsch-Französischen Gesellschaft der Locarno- Ära nur noch den Namen gemeinsam hatte. 53 Es war wiederum der unermüdliche französische Handelsattaché in Berlin, der den Wunsch des Vorsitzenden dieser Organisation, die Cité zu besuchen, im Oktober 1936 an deren Präsidenten herantrug. Er bat um dokumentarische Unterlagen zur Cité, da der Präsident der Deutsch-Französischen Gesellschaft, Achim von 50 Brief von Harry Edmonds an M. Coulet, vom 3. Juli 1936, in: A/ MHH. 51 Brief des Délégué Général de la Cité universitaire de Paris an Professor Georg Kartzke à Berlin (Datum nicht lesbar, aber von 1936), in: A/ MHH. 52 Protokoll der Sitzung vom 23. März 1938 des Conseil d’administration, in: AN/ CU, Dossier 2, p. 7. 53 Cf. meinen Aufsatz: „Die Deutsch-Französische Gesellschaft 1926-1934“, loc. cit., p. 97 sq. <?page no="180"?> 180 Arnim, der zugleich Rektor der Technischen Hochschule in Berlin war, sich selbst mit Absichten zum Bau eines internationalen Studentenhauses trage. Im November 1936 lud André Honnorat von Arnim zur Besichtigung der Cité Universitaire ein, an der auch Vertreter der französischen Partnerorganisation Comité France-Allemagne teilnahmen. Eine neue Qualität des deutschen Interesses an der Cité und an der Idee eines Deutschland- Hauses in derselben wurde im „Dritten Reich“ erreicht, als Mitte Oktober 1937 der Berliner Handelsattaché Lefeuvre - offenbar ohne André Honnorat vorab darüber zu informieren 54 - die Anlage am Boulevard Jourdan dem Architekten Hitlers, Albert Speer, und Hitlers Begleitarzt, Karl Brandt, vorführte. Speer, der 1937 den Pavillon des nationalsozialistischen Deutschland auf der Pariser Weltausstellung gebaut hatte, 55 zeigte sich beeindruckt von dem urbanistischen Ensemble und namentlich von der Maison Internationale sowie dem gerade vollendeten Collège francobritannique. Hitlers Architekt, der die Cité vorher nicht kannte, war offenbar spontan von der Idee überzeugt, dort ein deutsches Haus zu bauen. Er gab sich - nach Lefeuvres Darstellung - sicher, Hitler für das Projekt gewinnen zu können, und es wurden bereits Details eines möglichen Standorts 56 für die Maison de l’Allemagne und der Finanzierung durch die Reichsregierung (2 Millionen Francs) erörtert. Auch Lefeuvre, dessen Optimismus in dieser Frage seit sieben Jahren enttäuscht worden war, zeigte sich diesmal seiner Sache sehr sicher. 57 Diese Gewißheit bezog er offenbar aus dem neuartigen Umstand, daß nun nicht mehr - wie in der Weimarer Republik - gesellschaftliche Förderer im Spiel waren, sondern - in einem Regime, das spontane gesellschaftliche Initiativen nicht zuließ - diesmal die Förderung durch die Reichsregierung in Aussicht gestellt wurde. Eben dieser Umstand war es jedoch, der die Direktion der Cité Universitaire veranlaßte, nun ihrerseits dieses mögliche Angebot des nationalsozialistischen Deutschland abzulehnen. 54 Gemäß seinem Brief an André Honnorat vom 5. November 1937 hatte er Mitte Oktober 1937 den nationalsozialistischen Repräsentanten die Cité Universitaire gezeigt. Cf. A/ MHH. 55 Albert Speer erwähnt in seinen Memoiren diesen Besuch im Zusammenhang mit seinen Arbeiten anläßlich der Weltausstellung von Paris nicht. Cf. Albert Speer: Erinnerungen, Frankfurt/ Main 1969, p. 94 sq. 56 Lefeuvre berichtet in seinem Brief vom 5.11.1937, daß Speer „a manifesté le désir de construire un pavilIon allemand soit dans l’angle libre situé entre le Boulevard Jourdan et l’Avenue de la Porte d’Arcueil, soit sur la pelouse disponible derrière la maison des étudiants canadiens; il doit parler incessamment de ce projet au Chancelier et paraît convaincu de son succès.“ 57 Er schrieb in seinem Brief vom 5. November 1937 an Honnorat: „Plusieurs fois déjà je vous ai écrit que j’étais sur le point d’obtenir satisfaction, mais les événements n’ont pas répondu à mes espérances. Je crois cependant toucher au bout cette fois-ci et je me rejouirai grandement d’avoir pu réaliser ainsi un de vos plus chers désirs.“ <?page no="181"?> 181 Immerhin war der durch Speers Besuch verursachte abermalige Anlauf zur Verwirklichung der Idee eines deutschen Hauses am Boulevard Jourdan in der bisherigen Geschichte der Cité zum ersten Mal Anlaß für deren Verwaltungsrat, sich offiziell mit der Frage des deutschen Hauses zu befassen. André Honnorat nahm die Mitteilungen Lefeuvres als Grundlage für die Diskussion dieser Frage in der 52. Sitzung des Verwaltungsrats am 23. März 1938. Man widmete sich dem Thema „avec le plus grand intérêt“ und kam zu folgender Schlußfolgerung: „D’une part, pour des raisons facile à apercevoir, il serait préférable pour une création de cette nature d’envisager une initiative privée plutôt qu’une initiative gouvernementale. C’est l’idée qu’a toujours indiquée M. Honnorat dans ses conversations antérieures avec diverses personnalités. - D’autre part on peut se demander si, dans les circonstances présentes, une Oeuvre placée sous le symbole de la croix gammée ne pourrait pas donner lieu à des réactions fâcheuses de la part de certains étudiants de la Cité. Celle-ci accueille des étudiants allemands. Elle en a reçu un assez grand nombre cet été, elle en loge en ce moment une douzaine au moins. Jamais aucune friction ne s’est produite entre eux et leurs camarades. Mais si l’on doit souhaiter que leur nombre augmente et, par conséquent, qu’une Fondation soit faite pour eux à la Cité, encore faudrait-il être assuré que cette Fondation n’aura pas pour principal objectif de propager une doctrine contraire aux principes sur lesquels a éte édifiée l’oeuvre dont l’Université de Paris a confié la charge à la Fondation Nationale. - Dans ces conditions, le Conseil, tout en reconnaissant l’intérêt moral certain qu'il y aurait à avoir une Fondation allemande à la Cité, estime qu’on n’en peut envisager la réalisation que si elle doit avoir un caractère essentiellement objectif et qu’il y a lieu de faire part de ce sentiment à M. Lefeuvre. - Le conseil apprécie son initiative. A tous égards, il regrette de ne pouvoir l’accueillir que sous les réserves exposées plus haut. Mais il sera le premier à penser que c’est le devoir de la Fondation Nationale de mésurer les risques de l’entreprise. Car si ces risques venaient à se produire, ils aboutiraient à un résultat contraire à celui que l’on doit rechercher et créeraient une situation aussi délicate au gouvernement qu’à l’Université de Paris et à la Fondation Nationale.“ 58 Während also in den letzten Jahren der Weimarer Republik André Honnorat beharrlich bemüht war, sein Lebenswerk um ein deutsches Haus zu ergänzen, die deutsche Diplomatie jedoch aus diversen Gründen abgelehnt hatte, waren nun die Rollen gleichsam umgekehrt. Aus dem nationalsozialistischen Deutschland kamen Signale, die Interessen am Bau einer Maison de l’Allemagne erkennen ließen und vom Verwaltungsrat der Cité ernsthaft diskutiert wurden, die Ablehnung kam nun jedoch von der französischen Seite. Die Ursachen für die Ablehnung, wie sie im Beschluß des Verwal- 58 Protokoll der Sitzung vom 23. März 1938 des Conseil d’administration de la Cité Universitaire, in: AN/ CU Dossier 2, Zitat p. 6 sq. <?page no="182"?> 182 tungsrats von 1938 zum Ausdruck gebracht wurden, waren mehrschichtig. 59 Zuerst war ausschlaggebend, daß man die politische Polarisierung auf dem Campus durch nationalsozialistische Manifestationen vermeiden wollte, die in der Stagnationsphase der Cité weitreichende Konsequenzen mit sich gebracht hätte. Zum anderen war die rassistische Ideologie des Nationalsozialismus geradezu die praktizierte Negation der Idee der Zusammenführung der Nachwuchseliten aus den verschiedenen europäischen und außereuropäischen Ländern. Des weiteren konnten die Verantwortlichen der Fondation Nationale de la Cité Universitaire glaubwürdig darauf verweisen, daß ja trotz des Fehlens eines deutschen Hauses Studenten von jenseits des Rheins nicht ausgeschlossen waren als Residenten. André Honnorat hatte dies im Sommer 1936 dem Berliner Direktor des Deutschen Instituts für Ausländer, Kartzke, unmißverständlich mitgeteilt. Das zuerst genannte Argument der Ablehnung eines Studentenhauses unter nationalsozialistischer Regie, nämlich daß die Verwirklichung dieser Idee den nicht-gouvernementalen Kräften überlassen bleiben sollte, rangierte in der Rangstufung dieser Argumente sicherlich zuletzt. Denn im deutschen wie in anderen Fällen wäre selbst bei ausreichender privater Initiative ein solches Stiftungshaus nur mit der wohlwollenden Duldung durch das Außenministerium realisierbar gewesen. André Honnorat hatte schon 1936, kurz nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in die entmilitarisierte Zone im Rheinland, die Hoffnung auf die Möglichkeit einer deutschen Stiftung verabschiedet, indem er an den Handelsattaché der französischen Botschaft in Berlin schrieb: „Comme vous je regrette que les événements aient déjoué nos espérances. Et, comme vous, je veux croire qu’un jour viendra où elles pourront se réaliser. - Tout ce que je souhaite c’est qu’en attendant ce jour probablement lointain, nous puissons faire à l’Allemagne spirituelle la place qui lui revient dans une oeuvre comme la nôtre.“ 60 Wenn die Cité Universitaire im Sinne ihres Gründers und ihrer Förderer ein Beitrag zur gesellschaftlichen Grundlegung der Sicherung des Friedens war, so wurde diese Hoffnung mit Beginn des Zweiten Weltkrieges elementar erschüttert. Das geistige Deutschland, dem der Präsident der Cité einen ihm gebührenden Platz einräumen wollte, wurde verdrängt vom militärischen Deutschland, das unter der nationalsozialistischen Führung zur Gefahr wurde und zur Besatzungsmacht. Für die Cité Universitaire bedeuteten die Jahre der deutschen Besatzung von Paris den Tiefpunkt ihrer fünfzehnjährigen Geschichte, eine Phase des völligen Stillstandes ihrer Entwicklung und der teilweisen Verwüstung. Nach Kriegs- 59 Cf. auch den Interpretationsversuch in Frank Sereni: „La Cité Internationale Universitaire de Paris 1925-1950, de la Société des Nations à la construction de l’Europe“, in: Relations Internationales, 1992, p. 404 sq. 60 Brief von André Honnorat an Lefeuvre vom 28. October 1936, in: A/ MHH. <?page no="183"?> 183 beginn im September 1939 leerte sich der Campus. Er diente in den ersten Monaten des Jahres 1940 als Stützpunkt französischer Sanitätsdienste und im Mai als Unterkunft für die Flüchtlinge vor den deutschen Truppen aus Belgien, Luxemburg, den Niederlanden und Nordfrankreich. 61 Die erste Gruppe deutscher Soldaten richtete sich am 15. Juni 1940 in der Cité ein. Vom 17. bis 20. Juni nahmen größere Truppenteile Besitz von der Ecole d’Education Physique, der Maison des Provinces, der Maison de Monaco sowie dem Collège Franco-Britannique und den Häusern Belgiens und Argentiniens; im dänischen Haus wurde ein Offiziers-Kasino eingerichtet und weitere Stiftungshäuser (Indochina, Cuba, Griechenland und Armenien) wurden requiriert. 62 Die Cité Universitaire wurde zur Kaserne für deutsche Truppenteile, die mit Schildwachen die Ein- und Ausgänge bewachten und das französische Personal mit Hilfe von Passierscheinen kontrollierten. Mit dem Eintritt der USA in den Krieg wurde deren Stiftungshaus besetzt und 1942 waren lediglich noch die Häuser Schwedens und Japans außerhalb des deutschen Zugriffs. Da der Präsident der Cité und deren Generalsekretär sich nach dem Waffenstillstand in der nicht besetzten Zone Frankreichs aufhielten, war eine geregelte französische Verwaltung nicht mehr möglich. Durch den häufigen Wechsel der militärischen Einheiten, die mitsamt ihren Waffen und schwerem Gerät in der Cité in etwa zweimonatlichem Abstand einander ablösten, wurden die Inneneinrichtung der Stiftungshäuser und die Parkanlagen teilweise verwüstet. Zum Verhältnis zwischen den Besatzern und den französischen Repräsentanten der Cité hieß es im Rapport moral für das Jahr 1944: „Les rapports des autorités occupantes vis-à-vis de nous ont continué à être corrects. Mais la Gestapo a malheureusement étendu son activité sur notre personnel.“ 63 Die Besatzung der Cité durch die nationalsozialistisch geführten deutschen Truppen endete in der Woche vom 15. bis 23. August 1944. Sie wurde abgeschlossen durch bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Widerstands-Gruppen, die im Parc Montsouris Position bezogen hatten, und deutschen Soldaten, während deren das belgische Haus teilweise durch Granaten beschädigt wurde. Am 25. August 1944 rückte ein amerikanisches Militärkontingent in der Cité ein, die dann bis September 1945 den US-Truppen teilweise als Stationierungsbasis diente. 61 Cf. zu den hier zusammengefaßten Details den Verwaltungsbericht der Cité Universitaire: Rapport sur le fonctionnement de l’œuvre en 1940-1941, in: AN/ CU, Dossier 2, 15 Seiten. 62 Rapport moral pour l’année 1943, in: AN/ CU, Dossier 2. 63 Rapport moral pour l’année 1944, in: AN/ C, Dossier 1, p. 1. <?page no="184"?> 184 3. Die genutze Chance: Das Projekt einer Maison de l’Allemagne in den Nachkriegsjahren bis 1956 Nach der tiefen Zäsur der Besatzungsjahre 1940-1944 und nach den Jahren der Fremdnutzung wurde die Cité Universitaire relativ schnell wieder ihrer ursprünglichen Bestimmung zugeführt. Anfang Mai 1945 konnte der Verwaltungsrat der Fondation Nationale wieder zusammentreten. Die Gesamtanlage war im Jahre 1945 mit rund 6.600 Menschen, die dort untergebracht waren, noch extrem überbelegt. Eine erste Schätzung der Schäden aus der Besatzungszeit im selben Jahr ergab einen Bedarf an Instandsetzungskosten von 112 Millionen Francs allein für die Stiftungshäuser und deren Mobiliar. Im Universitätsjahr 1946/ 47 lebten in der Cité bereits wieder 1.123 ausländische und 2.029 französische Studierende und 1947 konnte sich der Verwaltungsrat bereits mit dem Projekt eines neuen Stiftungshauses (für Tunesien) befassen. 64 Die wichtigste Veränderung in der Direktion der Cité war in den ersten Nachkriegsjahren der Rücktritt von André Honnorat von seinem Präsidentenamt. In der Verwaltungsrats- Sitzung vom 26. Februar 1948 wurde der achtzigjährige Gründer der internationalen Studentenstadt in seiner Präsidialfunktion abgelöst von Raoul Dautry, der seit Juni 1947 Präsident der Europa-Bewegung Conseil français pour l’'Europe unie war. Honnorat nahm als Ehrenpräsident noch öfter an den Verwaltungsratssitzungen teil, bevor er Ende Juli 1950 starb. Die für die weitere Vorgeschichte der Maison de l’Allemagne wohl entscheidende Veränderung in der Verwaltungsspitze der Cité Universitaire folgte dann Ende 1951, als der in der Bundesrepublik Deutschland amtierende französische Hochkommissar André François-Poncet (1887-1978) sich bereit erklärte, die Nachfolge des im August 1951 verstorbenen Raoul Dautry als Präsident der Fondation Nationale anzutreten. Ihm war vom langjährigen Vizepräsidenten und Mitbegründer der Cité David-Weill dieses Amt angetragen worden, und er gab sein Einverständnis in einem Brief vom 13. November 1951. In der Sitzung des Verwaltungsrats am 29. November 1951 wurde André François-Poncet einstimmig zum Mitglied des Rats und zu dessen Präsidenten gewählt. 65 Der französische Hochkommissar in Deutschland hatte den Antritt seiner Präsidentschaft für den März oder April 1952 in Aussicht gestellt, vermutlich in der Erwartung, daß dann der Deutschland- und der EVG-Vertrag paraphiert seien und mit der Entlassung des westdeutschen Staates in die Unabhängigkeit die Auflösung der 64 Protokoll der Sitzung des Conseil d'administration vom 19. Mai 1947, in: AN/ CU, Dossier 1, p. 4 65 Protokoll des Conseil d’administration vom 29. November 1951, in: AN/ CU, Dossier 1. <?page no="185"?> 185 drei westalliierten Hochkommissariate erfolgen werde. 66 Obwohl dann dieser politische Zeitplan nicht eingehalten wurde, trat André François- Poncet dennoch sein Amt als Präsident der Cité Universitaire in der Rats-Sitzung vom 14. Januar 1952 an. François-Poncet hatte mit dem Gründer der Cité, André Honnorat, in den zwanziger Jahren die Zugehörigkeit zum Parti républicain démocrate et social, einer Partei der republikanischen Rechten, gemeinsam, mit seinem unmittelbaren Vorgänger Raoul Dautry seine aktive Mitgliedschaft in der liberal-konservativen Europa- Bewegung der Nachkriegszeit. Er galt vor und erst recht nach seiner Tätigkeit als Botschafter in Berlin von 1931 bis 1938 als einer der besten französischen Deutschlandkenner. 67 Der ehemalige Botschafter hatte in den Nachkriegsjahren den Weg in die französische Deutschlandpolitik zurückgefunden durch Außenminister Robert Schuman, der ihn im Dezember 1948 zu seinem persönlichen Berater in Deutschland-Fragen machte. François-Poncet wurde ab September 1949 als Hochkommissar der oberste Repräsentant Frankreichs in der gerade entstandenen Bundesrepublik Deutschland und er war einer der wirksamsten Akteure für die praktische Umsetzung der von Robert Schuman vertretenen Deutschlandpolitik. Ab 1948 zielte diese angesichts der als dominant empfundenen sowjetischen Bedrohung auf die Integration Deutschlands in ein westeuropäisches Wirtschafts-, Verteidigungs- und politisches Bündnis und beabsichtigte mit dieser Integration zugleich, in einer längeren Periode die Kontrolle über das unberechenbare Nachbarland zu behalten. Für den französischen Hochkommissar galt es, die integrationswilligen vernünftigen Deutschen gegen die nationalistischen gefährlichen Deutschen zu fördern und zu stärken, die „guten Europäer“ gegen die „Nationalisten“. Gemäß diesen Prinzipien einer Deutschland-Politik der „Kontrolle durch Integration“ förderte der französische Hochkommissar im Rahmen seiner (nicht unbedeutenden) Kompetenzen alle politischen und gesellschaftlichen Kräfte, die den geistigen Dialog und die praktische Zusammenarbeit zwischen Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland herbeiführen wollten. Aufgrund seiner lebensgeschichtlichen Erfahrungen setzte der Hochkommisar in seiner Förderungstätigkeit besondere Schwerpunkte in der Vermittlung von Kontakten zwischen den Industriellen und zwischen der studentischen 66 Nähere Einzelheiten über die Rolle von André François-Poncet als Hochkommissar in Deutschland: in Hans Manfred Bock: „Le Haut-Commissariat français organe de contrôle et organe exécutif dans la République Fédérale d’Allemagne 1949-1955“, in: Les rapports mensuels d’André François-Poncet, Haut-Commissaire français en Allemagne 1949-1955. Les débuts de la République Fédérale d’Allemagne, Paris 1996, tome 1, p. 13-77. 67 Cf. Hans Manfred Bock: „André François-Poncet und die Deutschen. Eine biographische Skizze“, in: Dokumente. Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog, 1988, no 5, p. 381-388. <?page no="186"?> 186 Jugend beider Länder. 68 Mit André François-Poncet übernahm Anfang 1952 ein Repräsentant des diplomatischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens in Frankreich die Leitung der Cité Universitaire, für den die Präsenz Westdeutschlands in der Cité in der Konstellation der frühen Vierten Republik noch vordringlicher erschien als für André Honnorat die deutsche Repräsentation in der späten Dritten Republik. Seine Auffassung von der neuen Aufgabe als Präsident der internationalen Studentenstadt, die er dann annähernd vier Jahre lang neben seiner diplomatischen Tätigkeit in Westdeutschland wahrnahm, explizierte François-Poncet in der ersten von ihm geleiteten Sitzung des Verwaltungsrats am 14. Januar 1952. Das Sitzungs-Protokoll faßt sein Bekenntnis zur Idee der Cité Universitaire zusammen: „Les raisons profondes qui l’ont conduit à accepter sa désignation en qualité de Président de la Cité Universitaire il peut les résumer ainsi: La conscience profonde qu’il a de l’intérêt que représente cette remarquable entreprise, unique en son genre, auquel s’attache le nom de la France et dont il a pu apprécier le rayonnement à l’étranger. - Le témoignage d’attachement qu’il entend apporter au souvenir des deux grands Français qui l’ont précédé à ce fauteuil, ainsi qu’aux autres Fondateurs qui sont près de lui et qui ont bien voulu l’associer à cette œuvre...“. 69 Nach seinem Verständnis oblag den Verantwortlichen der Cité folgende oberste Zielsetzung: „S’élevant au-dessus des soucis matériels, il leur reste une autre mission à remplir: Développer chez les résidents la curiosité mutuelle, la sympathie humaine, le respect des traditions diverses, extraire, mettre en valeur et cultiver ce sentiment supérieur de solidarité que doit faire naître la vie en communauté. En d’autres termes, tendre à réaliser, en quelque sorte, une ONU de la jeunesse, qui se présenterait comme un exemple, aux yeux des observateurs du dehors.“ 70 Der neue Präsident der Cité Universitaire François-Poncet, akademischer Schüler des Sorbonne-Germanisten und Mitstreiters von André Honnorat, Henri Lichtenberger, 71 kannte nicht nur die aktuellen Schwierigkeiten und die Nachkriegsbemühungen, sondern auch die Zwischenkriegsbestrebungen für den Bau eines deutschen Hauses in der Cité Universitaire. In den dreißiger Jahren war er zuerst mit dem Projekt in Berührung gekommen in seiner Eigenschaft als Direktoriumsmitglied des Institut d’Etudes Germaniques, das ja in Deutschlandfragen in enger Verbindung mit der Cité stand. In seiner Berliner Botschafter-Funktion war er dann 68 Cf. z.B. die Sammlung der Nachkriegsreden in Deutschland von André François- Poncet: Politische Reden und Aufsätze, Mainz, Berlin 1949. 69 Conseil d’administration de la Fondation Nationale de la Cité Universitaire, séance du 14 janv. 1952, in: AN/ CU, Dossier 1. 70 Ibid. 71 Cf. Hans Manfred Bock: „Henri Lichtenberger, père fondateur de la germanistique française et médiateur entre la France et l’Allemagne“, in: Michel Espagne, Michael Werner (ed.): Les études germaniques, op. cit., p. 155-169. <?page no="187"?> 187 unvermeidlich mit der Reaktualisierung der Idee einer Maison de l’Allemagne im „Dritten Reich“ befaßt. In den Nachkriegsjahren war die Idee in Frankreich nie ganz verloren gegangen, obwohl die deutschen Besatzungsjahre eine denkbar schwere Hypothek für dies Projekt bedeuteten. Nachweisbar sind Überlegungen zu den Möglichkeiten deutscher Repräsentation in der Cité am Boulevard Jourdan bereits im August/ September 1948. Der Generalsekretär der Division de l’Education publique der französischen Militärregierung in Baden-Baden, Albert Tanguy, korrespondierte zu dieser Zeit mit dem Sekretariat der Cité Universitaire über ein Projekt, das die Aufnahme deutscher Studierender als Stipendiaten ermöglichen sollte. 72 Tanguy hatte für den Leiter der Erziehungsabteilung in der Militärregierung der französischen Besatzungszone, Raymond Schmittlein, 73 einen entsprechenden Plan ausgearbeitet, der vom Sekretariat der Cité wärmstens befürwortet wurde und der dem damals amtierenden Präsidenten Raoul Dautry vorgelegt werden sollte. Man darf annehmen, daß die Einbeziehung deutscher Studenten in das Leben der Cité ihre internationale Offenheit fördern und insofern Teil der Strategie der Umerziehung zur Demokratie sein sollte. Auch wenn dieser Plan folgenlos blieb, so zeigt er doch die Lebendigkeit der Idee, daß Deutschland in der Cité vertreten sein müsse. Zu den nicht zur Ausführung gelangten Projekten der französischen Besatzungspolitik im weiteren Sinne gehörte auch der Versuch im Januar/ Februar 1950, ein eigenes Stiftungshaus für das Saarland in der Cité Universitaire vorzusehen. Diese Initiative stand politisch im Zusammenhang mit den gleichzeitigen Wirtschaftsabkommen zwischen der französischen Regierung und der Regierung des Saarlandes, die der Auftakt zu dem heftigen deutsch-französischen Dauerkonflikt über die Saar in den folgenden Jahren waren. Der Verwaltungsrat der Fondation Nationale befaßte sich am 8. Februar 1950 mit diesem Thema und formulierte als alternative Möglichkeiten, entweder einige Zimmer für saarländische Studenten in einem im Bau befindlichen Stiftungshaus einzuplanen oder einen eigenen französisch-saarländischen Bauplan ins Auge zu fassen. 74 Der Präsident der Cité sollte über dies Projekt mit dem französischen Hochkommissar im Saarland, Gilbert Grandval, in das Gespräch eintreten. Der Nachfolger von André Honnorat an der Verwaltungsspitze der Cité, Raoul Dautry, war spätestens seit 1951 von der Opportunität eines Cité-Hauses der Bundesrepublik Deutschland überzeugt. Ein Mitarbeiter von Dautry schrieb im Oktober 1951 an ein Münchener Mitglied der liberal-konser- 72 Brief des Sekretariats der Cité Universitaire an Albert Tanguy/ Baden-Baden vom 2. September 1948, in: A/ MHH. 73 Über die Rolle von Raymond Schmittlein in den Kulturbeziehungen zwischen Frankreich und Deutschland cf. Corine Defrance: La politique culturelle de la France sur la rive gauche du Rhin 1945-1955, Strasbourg 1994, p. 235-245. 74 Protokoll der Sitzung des Conseil d’administration de la Cité Universitaire vom 8. Februar 1950, p. 13, in: AN/ CU, Dossier 2. <?page no="188"?> 188 vativen Europabewegung: „M. Dautry, Président du Conseil Français du Mouvement Européen, qui est également Président de la Cité Universitaire de Paris, est entièrement favorable à la création d’une Maison Allemande. II est prêt à recevoir ceux d’entre vous (vous m’aviez dit que peut-être vous viendrez avec Herr Kiesinger) qui viendraient à Paris dans ce but, et à leur donner toutes les indications nécessaires. - Il pense également que le moment est tout à fait venu d’offrir des stages dans les Universités allemandes pour des étudiants français. II vient de s’en entretenir avec M. Sarrailh, Recteur de l’Université de Paris, et facilitera, là encore, les entrevues nécessaires.“ 75 In diesem frühen Zeugnis für die französische Akzeptanz eines Deutschland-Hauses in der Cité in den Nachkriegsjahren war es nunmehr die damals gesellschaftlich noch wirkungskräftige Bewegung für die westeuropäische Integration, die dem Projekt einer Maison de l’Allemagne eine neue Bedeutung und Aktualität verlieh. Sie blieb in Verbindung mit den deutschlandpolitischen Kontroll-Intentionen auch die gültige Legitimationsbasis für die Verwirklichung des Projekts in dessen unmittelbarer Vorbereitungsphase ab 1952. Begünstigt durch diese europapolitischen Impulse kam das Projekt Deutschland-Haus erstmals in der Nachkriegszeit wieder auf die Tagesordnung des Verwaltungsrats der Cité, als dieser am 25. April 1951 über Zukunftsperspektiven der Fondation Nationale debattierte. Es wurde mitgeteilt, daß gegenwärtig in Westdeutschland eine Vereinigung von Universitätsrektoren bemüht sei, die erforderliche Unterstützung für die Errichtung einer Maison de l’Allemagne Occidentale zusammenzubringen. Im selben Zusammenhang wurde auch die Konstituierung eines Gründungs-Komitees für den Bau eines italienischen Hauses in Aussicht gestellt. 76 Es gab nachweislich ab April 1951 auch schon Gespräche über technische Fragen wie den möglichen Standort eines deutschen Stiftungshauses in der Cité zwischen Paul Frank vom Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland und dem für die Verwaltung zuständigen Generalsekretär der Studentenstadt. 77 Im August 1951 war in dieser Korrespondenz die Rede von zwei Baugrundstücken, deren Auswahl davon abhing, ob man ein Gebäude mit 100 oder mit 150-200 Zimmern plane. 78 Paul Frank leitete die vom Generalsekretariat zur Verfügung 75 Brief G. Rebattet an J. Semler vom 18. October 1951, in: A/ MHH, p. 1. 76 Sitzungs-Protokoll des Conseil d'administration vom 25. April 1951, in: AN/ CU, Dossier 1, p. 9: „Perspectives d’avenir“. 77 Briefwechsel zwischen dem Sekretariat der Cité Universitaire und Paul Frank, vom deutschen Generalkonsulat, vom 7. April bis 10. August 1951, in: A/ MHH. 78 Der Sécrétaire Général administratif der Cité Universitaire schrieb am 2. August 1951 an die deutsche Botschaft: „J’ai l’honneur de vous prier de bien vouloir trouver cijoint: un plan d’ensemble de la Cité Universitare sur lequel j’ai indiqué en rouge l’emplacement qui pourrait vous être réservé, un plan à l’échelle de 1/ 1.000 de la zône Sud du domaine de la Cité sur lequel est indiqué, en rouge, sous le numero I l’emplacement pouvant être prévu pour une Maison de 100 chambres d’étudiants. <?page no="189"?> 189 gestellten Dokumente Mitte August weiter an den Tübinger Professor Walter Erbe, der mit den Vorbereitungsarbeiten für die Planung der Maison de l’Allemagne beauftragt war. Dies war also der Stand der materiellen Konkretisierung des Plans eines Studentenhauses der Bundesrepublik Deutschland zu dem Zeitpunkt, als nach dem plötzlichen Tod von Raoul Dautry der französische Hochkommissar in Deutschland am Jahresende 1951 die Leitung der Cité Universitaire übernahm. André François-Poncet hatte in seiner Funktion als Hochkommissar bereits Mitte 1951 seinem Engagement für den Bau eines deutschen Hauses am Boulevard Jourdan praktischen Nachdruck verliehen, indem er für dessen Errichtung eine halbe Million DM zur Verfügung stellte. 79 Dies war in der ganzen langen Vorgeschichte der Maison de l’Allemagne die weitestgehende Vorleistung von französischer Seite. Anders als nach dem Ersten Weltkrieg hatte man in Deutschland nach der totalen Niederlage von 1945, angesichts der politisch-moralischen Verurteilung durch die Weltöffentlichkeit, in der Situation der Teilung der Nation in zwei Staaten und angesichts der fortgesetzten Kontrolle des westdeutschen Staates durch die Alliierte Hohe Kommission wenig Anlaß und Neigung, ein solches kulturpolitisches Signal zu mißachten. Es war ein Angebot, im soziokulturellen Bereich wieder in die internationale Gemeinschaft des Westens aufgenommen zu werden. Für die französischen Initiatoren und Befürworter des deutschen Hauses in der Cité war der Zeitpunkt Anfang der fünfziger Jahre günstig. Und zwar nicht allein, weil sich diese Initiative bestens einfügte in die mit dem Schuman-Plan vom Mai 1950 lancierte ökonomische und mit dem EVG-Projekt angestrebte militärische Integration Westeuropas, sondern auch, weil die Cité Universitaire damals in ihre zweite Expansionsphase eintrat. Das illustriert die Liste der neuen Bauvorhaben, die der „Rapport moral“ von 1951 enthält, recht anschaulich: Ende Januar 1951 wurde die Schenkungsurkunde für die Maison norvégienne unterzeichnet, am 8. Februar die kambodschanische Schenkung vom Staatsrat gebilligt, am 13. März erfolgte die Unterzeichnung der Urkunde für die Errichtung des mexikanischen, am 3. April für den Bau des ägyptischen Hauses; am 7. Juni erhielt man die Baugenehmigung für das Marokko-Haus, am 13. Juni wurde der Grundstein gelegt für das Haus Mexikos und im Dezember traf die Baugenehmigung für den Pavillon Zellidja, einen Erweiterungsbau des marokkanischen Stiftungshauses, ein. 80 Die Zahl der Residenten in der Cité Universitaire nahm entsprechend L’emplacement figurant sous le no II pourrait encore convenir s’il s’agissait d’une Maison de 150 à 200 chambres d’étudiants.“ 79 Cf. Ulrich Lappenküper: „Wilhelm Hausenstein. Adenauers erster Missonschef in Paris“, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 1995, no. 4, p. 663. 80 Rapport moral sur l’anée 1951, vorgelegt vom Recteur Délégué Général, in: AN/ CU, Dossier 1. <?page no="190"?> 190 dieser expansiven Entwicklung im Übergang von den späten vierziger zu den frühen fünfziger Jahren zu. Ihre Gesamtzahl stieg von 3.152 im Jahre 1946/ 47 auf 3.226 im Universitätsjahr 1949/ 50. Dann zeichnete sich ein deutlicher quantitativer Sprung ab im Jahre 1951, während dessen 3.794 Residenten registriert wurden. Ihre Zahl stieg in der Folgezeit langsam weiter, und 1953 betrug sie 4.090. 81 Im Universitätsjahr 1949/ 50 beherbergte die Cité Studierende aus 67 Nationen, und zwar 1792 französischer und 1.434 ausländischer Herkunft. 1951 waren von 3.794 Residenten 2.319 französischer und 1.475 ausländischer Nationalität. Von Interesse ist im Zusammenhang der Vorgeschichte des Stiftungshauses der Bundesrepublik Deutschland die Präsenz deutscher Studierender am Boulevard Jourdan. Die Statistik des Verwaltungsrats der Cité Universitaire verzeichnet bereits im Jahr 1946/ 47 drei Studierende deutscher Nationalität. In den folgenden Jahren sind deutsche Residenten in der Ausländerstatistik nicht verzeichnet; 1950 sind dort 10, 1951: 27, 1953 und 1954 jeweils 34 Studierende deutscher Nationalität registriert. 82 Wie früher schon in der Geschichte der Cité Universitaire wirkte deren Anziehungskraft und die Mobilität der deutschen Studenten zusammen und ermöglichten die Anwesenheit einer wachsenden Gruppe von Jungakademikern aus der Bundesrepublik am Boulevard Jourdan, bevor diese dort über ein eigenes Stiftungshaus verfügen konnte. Im Verwaltungsrat der Cité Universitaire wurde seit der Wiederaufnahme des Diskussionsthemas „Deutsches Haus“ im April 1951 der Fortgang der langwierigen Vorbereitungsarbeiten in der Bundesrepublik zur Kenntnis gebracht und erörtert. In seiner Antrittsrede als Präsident der Cité Universitaire berichtete André François-Poncet im Januar 1952 über die Schwierigkeiten, welche die deutschen Initiatoren dieses kulturpolitischen Vorhabens zu überwinden hatten. 83 Diese Schwierigkeiten waren allem Anschein nach sowohl in administrativ-strukturellen Fragen (Kulturhoheit der Länder) als auch in politisch-konjunkturellen Problemen (Konflikt um die Rückgabe der deutschen wissenschaftlichen Institute in Italien 84 ) begründet. Neben der entschlossenen Förderung des Projekts durch den französischen Hochkommissar und Präsidenten der Fondation Nationale de la Cité Universitaire François-Poncet, der ab Anfang 1952 beide Funktionen in seiner Person vereinigte, war die Konstituierung eines handlungsfähigen Gremiums auf der deutschen Seite im Laufe desselben 81 Die Zahlen finden sich im Annex der Rapports moraux der Jahre 1951, 1953 und 1954 unter dem Titel: Répartition des étudiants étrangers et français, in: AN/ CU Dossier 1. 82 Ibid., und: Rapport moral, mai 1947: Statistique des étudiants étrangers de l’année 1946/ 47, in: AN/ CU, Dossier 1. 83 Sitzung vom 14. Januar 1952 des Conseil d’administration de la Cité Universitaire, in: AN/ CU, Dossier 1, p. 11: „Maison de l’Allemagne“. 84 Cf. Ulrich Lappenküper: „Ein Mittelpunkt deutscher Kulturarbeit. Das Deutsche Haus in der Cité Universitaire de Paris“, in: Ulrich Pfeil (ed.): Deutsch-französische Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen, op. cit., p. 267sq. <?page no="191"?> 191 Jahres die zweite wesentliche Voraussetzung für den Übergang von der Vorgeschichte der Maison de l’Allemagne zu deren Gründungsphase, die dann noch von 1952 bis 1956 dauerte. Im Vergleich zu den früheren Initiativen und Vorüberlegungen für die Errichtung einer solchen Institution seit 1927 spielten erstmals die Universitäten eine (an sich ja naheliegende) maßgebliche Rolle in der Konstituierung einer Trägervereinigung für die konkreten Planungsvorgänge. Eine Initiativgruppe, bestehend aus den Rektoren der Universitäten Tübingen, Mainz und Frankfurt, bildete den Kern für die am 10. September 1952 in Frankfurt/ Main erfolgende Gründung der „Stiftung Deutsches Haus in der Cité Universitaire in Paris.“ 85 Diese Vereinigung umfaßte außer der universitären Kerngruppe auch die Akteure, die in den früheren Versuchen zur Lancierung eines deutschen Stiftungshauses in der Cité die Schrittmacherrolle übernommen hatten, nämlich die Repräsentanten von Industrie und Handel sowie der öffentlichen Verwaltung. Mitglied der „Stiftung Deutsches Haus“ waren der Vorsitzende des Stifterverbandes der Deutschen Industrie und Beamte des Bundes-Innenministeriums sowie des seit März 1951 im Neuaufbau befindlichen Auswärtigen Amtes. Der von diesem Stiftungs-Gremium mit der Vorbereitung eines Architekten-Wettbewerbs für die Gestaltung des Gebäudes beauftragte Münchener Professor für Bauwesen, August Rucker, traf bereits Ende September 1952 zu Gesprächen mit der Verwaltung der Cité in Paris ein. 86 Der Verwaltungsrat der Cité wertete seinen Besuch in seiner Sitzung vom 8. Oktober 1952 positiv. 87 Der Bau eines deutschen Stiftungshauses, der im Laufe von 25 Jahren immer aufs Neue Befürworter in Deutschland und Frankreich gefunden hatte (die von durchaus unterschiedlichen Motiven geleitet wurden), stand an der Schwelle zu seiner Verwirklichung. Es liegt nahe, den Überblick über den langen Weg zum Deutschland- Haus in der Cité Universitaire, dessen Schaffung bereits 1929 mit großem Nachdruck von einer Breslauer Studentin beim deutschen Botschafter in Paris angemahnt worden war, zu beenden mit der Stellungnahme eines deutschen Residenten in der Cité, der 1953 Vizepräsident der Association Internationale des Résidents de la Cité Universitaire war und folgende Hoffnungen an das in der Vorbereitung befindliche Stiftungshaus knüpfte: „Im kommenden Jahr werden die deutschen Studenten vollberechtigte Bürger der einzigartigen Weltstadt Studentischer Jugend von Paris sein. 85 Zur Zusammensetzung des deutschen Komitees cf. ibid., p. 663. 86 Briefe vom 3. und 9. Oktober 1952 von August Rucker an das Sekretariat der Cité Universitaire in: A/ MHH. 87 Auf der Sitzung des Verwaltungsrats vom 8. Oktober 1952 wurde mitgeteilt unter dem Titel „Maison d’Allemagne“: „Le Comité allemand qui projette l’édification de cette fondation a délégué à Paris un architecte, M. le Professeur Rucker, pour recueillir les éléments d’information qui permettent de définir les bases d’un concours, entre architectes allemands, pour l’élaboration d’un avant projet.“ AN/ CU, Dossier 1. <?page no="192"?> 192 Die Cité Universitaire am Südrand der Stadt wird ein Deutsches Haus erhalten. Fast 5.000 Studenten aus 36 Ländern wohnen in den zahlreichen Pavillons, Fondations oder Collèges, erbaut von den verschiedensten Nationen der Welt. Seit der Auflösung der mittelalterlichen Collegien fehlte den deutschen Studenten an der Sorbonne ein Sammelpunkt. Die allmählich wachsende Cité Universitaire bot in der jüngsten Vergangenheit die Möglichkeit, die weit zurückreichende Tradition wieder aufleben zu lassen. Lange Jahre jedoch blieb es dem großen Nachbarvolk im Osten Frankreichs verwehrt, an dem edlen Werk der Cité Universitaire mitzuarbeiten. Von französischer Seite bedauerte man es sehr, und der Wunsch, hier abzuhelfen, blieb bei vielen wach. Die nunmehrige Verwirklichung des langgehegten Projekts ist in erster Linie dem glücklichen Umstande zu verdanken, daß in der Person von M. André François-Poncet die Präsidentschaft der Cité Universitaire und die höchste Vertretung Frankreichs in der Bundesrepublik vereinigt sind. Sein Angebot, die Hälfte der Baukosten zu tragen, wurde vor kurzem von der Bundesrepublik angenommen, und ein Kuratorium zur Errichtung des Deutschen Hauses in der Cité Universitaire wurde am 4. Mai in Frankfurt gebildet. Die deutsche Studentengruppe in Paris - zahlenmäßig gleich hinter den Amerikanern und Engländern stehend - besitzt bald ein ständiges Heim, welches zahlreiche deutsche und ausländische Studenten beherbergen wird, und wo sich ausländische Studenten mit ihren deutschen Kameraden treffen werden. Aufnahme und Treffpunkt, in dieser doppelseitigen Aufgabe liegt die Bedeutung des neuen Hauses, das den deutschen Studenten eine Gelegenheit bietet, aus der Abgeschlossenheit herauszutreten in wechselseitige Beziehungen zu ihren Kommilitonen aus aller Welt. Ein dauerhafter Beitrag zur deutschfranzösischen Verständigung wird hier geleistet. Was nützen alle übernationalen Organisationen, wenn es an Leuten mangelt, die in freundschaftlicher Zusammenarbeit den Vertragstexten zur Verwirklichung verhelfen. Das längere kameradschaftliche Zusammenleben im Deutsch-Französischen Collegium wird hierfür die beste Vorschule bilden.“ 88 88 Klaus Altmeyer: „Ein Neubau in Paris“, in: Deutsche Studentenzeitung, Juni 1952, p. 12. <?page no="193"?> 193 VI. Weimar in Paris. Zu einigen weniger bekannten Ursprüngen des deutschen Exils in Paris In der Erforschung der deutschen Exilanten der 1930er Jahre in Frankreich wird beharrlich eine Legende fortgeschrieben, die besagt, Paris sei der bevorzugte Ort dieses Exils geworden aufgrund seines im 19. Jahrhunderts erworbenen Rufes, der Ort des Exils in Europa schlechthin zu sein. So schrieb Gilbert Badia z.B. 1986, er habe anfänglich geglaubt, „que c’était à cause de la réputation d’hospitalité dont notre pays jouissait à l’étranger“, daß so viele Deutsche nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten in ihrem Land in Frankreich Zuflucht gesucht hätten. Er fährt fort: „La Révolution française n’avait-elle pas offert la citoyenneté française à monsieur Gilles, c’est-à-dire à Friedrich Schiller? Heine, Börne, Karl Marx y avaient été accueillis“. 1 Noch in einer neueren Veröffentlichung kann man zu den deutschen Exilanten und Hitlergegnern lesen: „Dès le 19 e siècle, Paris était devenu la terre d’asile pour beaucoup de gens venant de nombreuses nations, à savoir pour des Arméniens, des Polonais, des Russes, des Italiens, des Espagnols et des Allemands comme Heinrich Heine par exemple.“ 2 Es scheint also, als ob das Bild von Paris als gastfreundliche und vielversprechende Stadt genügt habe, um so viele Verfolgte des nationalsozialistischen Regimes anzuziehen. Aber schon Badia, der mit Jacques Grandjonc und Jean-Michel Palmier in den 1980er Jahren der Anreger zur Erforschung der Exilanten des Dritten Reichs in Frankreich war, meldete einen Zweifel an zu dieser Hypothese: „J’incline maintenant à croire que des raisons plus immédiates ont joué. Au lendemain de la Première Guerre Mondiale, toute une série de jeunes écrivains allemands, si l’on en croit Klaus Mann, voulaient savoir ce qui s’était passé à Paris en matière artistique, depuis 1914, et pour une grande partie de la jeune génération intellectuelle d’Allemagne ‚la France était restée ou était redevenue la Terre promise’.“ 3 Im Folgenden sollen diese „unmittelbaren Ursachen“ für die Wahl von Paris als Zufluchtsort der deutschen Flüchtlinge aus dem Dritten Reich zum Ausgangpunkt der Erklärung genommen werden. Wenn man also die Hypothese, Paris sei als gastfreundliche und befreiende Stadt wahrgenommen und deshalb als Ort des Exils gewählt worden, weniger spekulativ vertreten und in konkreterer Weise überprüfen will, so 1 Gilbert Badia: „La France découverte par les émigrés“, in: Revue d’Allemagne, 1986, p. 171. 2 Ibid. 3 Ibid. <?page no="194"?> 194 kann man sich auf die neueren pluridisziplinären Forschungsergebnisse zur Sozialgeschichte und Soziologie der deutsch-französischen Beziehungen dieses Zeitabschnitts stützen. Diese sind vor allem seit den 1990er Jahren zu Tage gefördert worden. Sie ermöglichen es, einige neue Aspekte hervortreten zu lassen in den reichen Erträgen der Studien zum deutschen Exil in Paris der Jahre 1933 bis 1939. Sie sind zugleich eine gute Grundlage für die Formulierung neuer Fragen und für die Erhellung weniger bekannter Aspekte des deutschen Exils in Paris. 1. Zum gesellschaftlichen Profil des deutschen Exils in Paris Einführend einige Basis-Informationen und -Daten zum deutschen Exil in Paris zwischen 1933 und 1939. Zu den Zahlen ist sogleich anzumerken, daß sie allenfalls annähernden Wert haben, da die statistischen Quellen zu den fraglichen Zusammenhängen spärlich sind. In vergleichender Perspektive scheint es, daß die Gesamtpopulation der deutschen Exilanten in Paris eine der größten war und nach derjenigen der Italiener (100.000 bis 120.000) und der Russen (die in den Zwischenkriegsjahren auf 45.000 geschätzt wird) rangierte. 4 Nach Barbara Vormeier, die vertiefte Studien über die genaue Zahl der deutschen Emigranten nach Frankreich in den Jahren 1933 bis 1939 durchgeführt hat, ist diese noch immer nicht genau ermittelbar; sie kann aber je nach den einzelnen Jahren veranschlagt werden auf einen Stand zwischen 25.000 und 40.000 Personen. 5 Gemäß einem Bericht des Völkerbundes waren im Dezember 1933 25.000 Menschen deutscher Herkunft nach Frankreich geflohen. Von ihnen hielten sich nur 6.000 bis 7.000 Personen in der Provinz auf, während die anderen - also zwischen 18.000 und 19.000 - sich in Paris niedergelassen hatten. Anderen, neueren Angaben zufolge fanden zwischen 1933 und 1939 insgesamt 100.000 Deutsche dort Zuflucht und im Jahresdurchschnitt lebten von ihnen 18.000 bis 23.000 nachweislich im Aufnahmeland. Unter 70.000 Ausländern, die von der Pariser Polizei-Präfektur im April 1938 als politische Flüchtlinge ermittelt wurden, befanden sich 10.000 Deutsche. 6 Es muß wiederholt werden: Die Zahlen geben nur eine globale Vorstellung vom quantitativen Verhältnis verschiedener nationaler Gruppen, die in Frankreich und besonders in Paris lebten im angegebenen Zeitabschnitt. 4 Anne Saint Sauveur-Henn: „Paris in den dreißiger Jahren. Mittelpunkt des europäischen Exils? “, in: Dies. (ed.): Fluchtziel Paris. Die deutschsprachige Emigration 1933-1940, Berlin 2002, p. 14-28. 5 Barbara Vormeier: „Frankreich“, in: Claus-Dieter Krohn e.a. (ed.): Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933-1940, Darmstadt 1998. 6 Ibid. <?page no="195"?> 195 Diese Feststellung gilt auch für die interne Zusammensetzung der deutschen Exilanten-Population. Der Begriff der Population wird hier im soziologischen Sinne verwendet, d.h. er bezeichnet eine Gruppe von Menschen, die besondere soziokulturelle Merkmale gemeinsam haben. Es gibt Versuche, den (oder die) kleinsten gemeinsamen Nenner für diese Population zu benennen, der (oder die) zwangsläufig abstrakt sein müssen. Angesichts der Unterschiedlichkeit der deutschen Exil-Gruppen gab Jean-Michel Palmier zu bedenken: „La plupart des exilés de 1933 ont peu de choses en commun sinon de quitter leur pays à cause du national-socialisme et de parler allemand. On trouve parmi eux aussi bien des militants politiques que des écrivains, des poètes, des acteurs, des peintres, des architectes, des cinéastes que des ouvriers.“ 7 Albrecht Betz hat nachzuweisen versucht, daß es auf ideologischer Ebene nur ein einziges Charakteristikum gab, das allen deutschen Exilanten gemeinsam war, nämlich den Willen, die Ideen der Revolution von 1789 zu verteidigen und aufrecht zu erhalten, die vom Nationalsozialismus fundamental in Frage gestellt wurden. 8 Die statistischen Daten, die es ermöglichen, die soziologische und ideologische Zusammensetzung des deutschen Exils in Frankreich genauer zu kennen, sind wiederum sehr spärlich. Es gibt nur kleine Stichproben, die einen kurzen Blick auf die gesellschaftliche und sozioprofessionelle Zusammensetzung dieser Population zulassen. Das von der Volksfront- Regierung 1936 ins Leben gerufene Comité Consultatif, das bis Ende 1937 tätig war, anerkannte für rund 6.500 Personen den Status eines „réfugié d’Allemagne“ und auf dieser Grundlage kann man einige Charakteristika feststellen. 9 Die größte Altersgruppe war die der 20 bis 60-Jährigen und unterteilte sich in folgender Weise: die 20 bis 30-jährigen Personen machten 24,6 % der Gesamtgruppe aus; die 30 bis 50-jährigen Flüchtlinge waren dort mit 55,7 % vertreten und die Gruppe der 50 bis 60-Jährigen stellten 10,7 %. 62,4 % der Gesamtpopulation waren Männer und 37,6 % Frauen. Gemäß dem Kriterium der sozioprofessionellen Zugehörigkeit in Deutschland stellte sich ihre Zusammensetzung wie folgt dar: 6 % waren Unternehmer gewesen, 12,7 % Angehörige der Freien Berufe, 31,1 % mittlere Angestellte, 16,1 % Arbeiter, 4 % Schüler höherer Schulen und 27,6 % Rentner oder Personen ohne Berufsangabe (vor allem Hausfrauen). Auf die Frage, warum sie Deutschland verlassen hatten, gaben 29 % „politische Gründe“ an und 65,3 % ihre rassistische Verfolgung bzw. „wirtschaftliche Gründe“. Eine neuere Studie, die sich auf 1.369 Hitler-Flüchtlinge bezieht, 7 Jean-Michel Palmier: Weimar en exil. Le destin de l’émigration intellectuelle antinazie en Europe et aux Etats-Unis, Paris 1990, p. 25. 8 Albrecht Betz: Exil und Engagement. Deutsche Schriftsteller im Frankreich der dreißiger Jahre, München 1986, p. 44. 9 Barbara Vormeier, loc. cit., p. 221. <?page no="196"?> 196 ermöglicht einen Eindruck von ihrem sozioprofessionellen Status. 10 Demzufolge waren 34,9 % der deutschen Exilanten Selbständige, 27 % waren Hausfrauen, 13 % Angestellte, 12,7 % Nicht-Erwerbstätige und 11,2 % hatten ein wechselndes oder prekäres Arbeitsverhältnis. Das ist dann auch schon annähernd alles, was man in Zahlen vom soziologischen Profil der deutschen Exilanten der 1930er Jahre in Frankreich weiß. Hier muß noch der chronologische Aspekt des Kommens und Gehens der deutschen Exilanten in Paris von 1933 bis 1939 angefügt werden. Ihr Zustrom wurde vor allem reguliert durch die rassistische und repressive Politik der Nationalsozialisten in Deutschland und durch die Immigrationspolitik Frankreichs. Diese beiden Aspekte sind Objekt zahlreicher Studien, deren Ergebnisse hier nicht alle zusammengefaßt werden können. 11 Es seien hier nur diejenigen Phasen mitgeteilt, die deutlich unterscheidbar und von den Forschern einmütig anerkannt sind. Demgemäß 12 gab es eine erste großzügige Aufnahme-Phase, die gleich nach den frühesten Ausweisungs- und Verfolgungsmaßnahmen gegen Oppositionelle durch die Nationalsozialisten 1933 begann. Der zweite Zeitabschnitt wurde schon durch die Wirtschaftskrise bestimmt, die in Frankreich ab 1934 ihre Rückwirkungen hinterließ und welche die Ausländer den Franzosen als Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt erscheinen ließ. Ein dritter chronologischer Abschnitt war die Volksfront-Regierung der Jahre 1936/ 37. Sie hob sich hervor durch eine Folge von konstruktiven politischen Entscheidungen über das Schicksal der Exilanten. In der vierten Phase schließlich, in den Jahren 1938 und 1939, herrschten restriktive Maßnahmen vor wie z.B. die Zurück- und Ausweisung sowie die Internierung der deutschen Flüchtlinge in Konzentrationslagern zu Beginn des Krieges. 13 Es gab zwei Höhepunkte der Internierungsmaßnahmen gegenüber den deutschen Exilanten. Der erste war im September 1939 und betraf vorwiegend Männer zwischen 17 und 65 Jahren; die Zahl deutscher, österreichischer und saarländischer Internierungen betrug Ende 1939 rund 22.000 Personen. Die zweite Spitze der Internierungsmaßnahmen wurde Mitte Mai 1940 erreicht, als die französischen Verantwortlichen reagierten auf die Besetzung Frankreichs durch die 10 Julia Franke: Paris - eine neue Heimat? Jüdische Emigranten aus Deutschland 1933-1939, Berlin 2000, p. 54. 11 Cf. z.B. Klaus Meyer: Keiner will sie haben. Die Exilpolitik in England, Frankreich und den USA zwsichen 1933 und 1945, Frankfrut/ Main 1998; Ralph Schor: Histoire de l’immigration en France, de la fin du XIX e siècle à nos jours, Paris 1996; Michel Livian: Le Parti socialiste et l’immigration, Paris 1982. 12 Cf. die Skizze bei Gilbert Badia: „Frankreichs Haltung gegenüber den deutschsprachigen Emigranten zwischen 1933 und 1940“ in: Anne Saint Sauveur-Henn (ed.): op. cit., p. 29-40. 13 Cf. dazu Jacques Grandjonc, Theresa Grundtner (ed.): Zone d’ombres 1933-1944. Exil et internement d’Allemands et d’Autrichiens dans le sud-est de la France, Aix-en-Provence 1990. <?page no="197"?> 197 Truppen des Dritten Reichs. Soweit in chronologischer Sicht einige Bedingungskontexte, denen die deutschen Exilanten während der sechs dramatischen Jahre ausgesetzt waren und die ihre starke Fluktuation verursachten. Mag man sich also begnügen mit der Feststellung einer Unterschiedlichkeit oder gar einer unentwirrbaren Heterogenität des deutschen Exils in Paris, die im Mangel an zuverlässigen statistischen Daten und in der außenbedingten Fluktuation der Exilanten begründet ist? Das ist wohl eine Schlüsselfrage des Themas. Um diesen Überblick zu den allgemeinen Merkmalen des deutschen Exils in Paris abzuschließen, sollen einige Antworten auf diese Frage wiedergegeben werden und anschließend soll die Eingangsfrage nach den praktisch unbekannten Ursprüngen desselben wieder aufgenommen werden. In der Literatur zum deutschen Exil hat man einige Begriffe eingeführt, die gleichermaßen geeignet sein sollen, um verschiedene Exilanten-Milieus bezüglich des Herkunftslandes und des Aufnahmelandes unterscheiden zu können. Dazu ein neueres Beispiel: Eine geschichtswissenschaftliche Dissertation, die 2000 in Deutschland erschien, schlägt vor zu unterscheiden zwischen einer Kategorie der politisch aktiven Exilanten, die von den Nationalsozialisten bedroht wurden aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu politischen Parteien, Verbänden oder Bewegungen, und einer Kategorie politisch passiver Exilanten, die Opfer der alltäglichen rassistischen Verfolgung in Hitler-Deutschland geworden waren. 14 Dieser konzeptionelle Vorschlag hat den Vorteil deutlich zu machen, daß beide Gruppen von Exilanten einen politischen Charakter hatten, während die ältere Unterscheidung zwischen politischen und jüdischen Exilanten als unzutreffend erscheint. Überdies wendet sich die Autorin dieser Studie einem Aspekt des deutschen Exils in Paris zu, der lange vernachlässigt wurde im Vergleich mit den (zumindest bei ihren Zeitgenossen) bekannten Intellektuellen und Politikern. Sie setzt sich das Ziel, die zweite Gruppenkategorie der „passiven politischen Flüchtlinge“, die meist Juden und anonym waren, genauer zu untersuchen, indem sie den Fragen nachgeht, woher sie (im geographischen und sozioprofessionellen Sinne) kamen und wie sie sich in Paris durchschlugen. 2. Ursprünge und Spaltungen des deutschen Exils in Frankreich Ohne den quantitativen und empirischen Anspruch der jungen Wissenschaftlerin aufzunehmen, soll im folgenden eine andere methodische Annäherung an dasselbe Thema versucht werden. Nämlich eine teilweise und nicht zu anspruchsvolle Erklärung eben jener zweiten Exilanten-Kategorie, die überwiegend anonym blieb, aber den größten Teil des deutschen Exils 14 Julia Franke, op. cit. p. 25. <?page no="198"?> 198 in Paris ausmachte. Es soll also weder von berühmten Schriftstellern und Künstlern die Rede sein, noch von den Spitzenwissenschaftlern oder den führenden Politikern. Ausgangs-Hypothese und Ausgangspunkt der Argumentation sind zugleich historisch und soziologisch. Sie wird gestützt durch die Forschungen der letzten zwanzig Jahre zu den soziokulturellen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich während der Zwischenkriegszeit, zu denen ich meinen Teil beigetragen habe. 15 Diese Forschungen haben nachgewiesen, daß sich spätestens seit der Locarno-Ära (also ab Mitte der 1920er Jahre) eine neue Infrastruktur herausgebildet hatte; diese wurde aufgebaut von einer Minderheit in den Eliten beider Länder und sie erwies sich als belastbarer als die diplomatischen Beziehungen in der zweiten Hälfte der Weimarer Republik. Diese soziokulturelle Infrastruktur zwischen beiden Nationen bestand aus bilateralen Vereinigungen, aus Periodika, die den deutsch-französischen Beziehungen gewidmet waren, aus organisierten Reisen, aus Kommunikationsnetzen und Netzen der Zusammenarbeit in verschiedenen Bereichen der Erwerbstätigkeit (z.B. Industriekartellen oder Film-Koproduktionen) ebenso wie aus individuellen Freundschafts-Verbindungen, die auf gemeinsamen künstlerischen, religiösen oder kulturellen Interessen beruhten. 16 Kurzum, man findet zwischen 1925 und dem Beginn der 1930er Jahre Ansätze eines deutsch-französischen Öffentlichkeitsraumes, der eine Angelegenheit von Minderheiten war, der jedoch real existierte und den man in Betracht ziehen muß, wenn man den Ursprüngen des Exils der Antihitler-Flüchtlinge nach 1933 in Frankreich nachgehen will. Da dieser Zusammenhang zwischen den Strukturen, die aus den kulturellen Beziehungen der Weimarer Republik hervorgegangen waren, und den Komponenten des deutschen Exils in Paris nach 1933 bislang niemals dargestellt wurde, sollen im folgenden einige Beispiele für die Beweiskräftigkeit dieser Vorgehensweise gegeben werden. Man kann dergleichen Beispiele in zwei Interaktionsbereichen vor 1933 finden. Der erste ist der Raum der deutsch-französischen Vereinsstrukturen, die den bilateralen Austausch fördern sollten, und der zweite ist der kulturelle Sektor, in dem die aktive beiderseitige Zusammenarbeit schon gewohnheitsmäßige und gut eingespielte Formen angenommen hatte. 17 Die folgende Darstellung im zweiten Teil meiner Ausfüh- 15 Cf. dazu den Überblick in Hans Manfred Bock: „Transnationale Kulturbeziehungen und Auswärtige Kulturpolitik. Die deutsch-französischen Institutionen als Beispiel“, in: Ulrich Pfeil (ed.): Deutsch-französische Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen im 20. Jahrhundert. Ein institutionengeschichtlicher Ansatz, München 2007, p. 9-30. 16 Zu den verschiedenen Niveaus der Interaktion in den transnationalen Kulturbeziehungen cf. auch meine Einleitung in Hans Manfred Bock, Reinhart Meyer-Kalkus, Michel Trebitsch (ed.): Entre Locarno et Vichy. Les relations culturelles franco-allemandes dans les années 1930, Paris 1993. 17 Cf. z.B. die Fallstudien in Hans Manfred Bock (ed.): Französische Kultur im Berlin der Weimarer Republik. Kultureller Austausch und diplomatische Beziehungen, Tübingen 2005. <?page no="199"?> 199 rungen begnügt sich mit dem erstgenannten Aspekt, dem der deutschfranzösischen Verständigungsorganisationen. Zuerst also ein Blick auf die vereinsförmigen Strukturen, die zwischen beiden Ländern am Ende der 1920er Jahre existierten. In diesen Vereinen entstanden anhaltende Kontakte und ein vertiefter Austausch zwischen Deutschen und Franzosen, die über das verhängnisvolle Jahr 1993 hinausreichten. Als Beispiel bietet sich an die Deutsche Liga für Menschenrechte, die kleine Schwester der französischen Ligue des droits de l’homme, die Pazifisten aller Gesellschaftsklassen zusammenführte und die 1922 als erster Verein den öffentlichen Dialog und die Verbindung mit Frankreich wieder aufnahm. 18 Das zweite Beispiel ist die Deutsch-Französische Gesellschaft. 19 Sie wurde Ende 1927 gegründet und ihre Mitglieder gehörten überwiegend zum Bildungsbürgertum; sie waren aus persönlichen oder beruflichen Gründen daran interessiert, Frankreich besser zu kennen, ohne deshalb vorbehaltlos frankophil zu sein. Ein drittes Beispiel aus dem Vereinswesen ist das Deutsch-Französische Studienkomitee/ Comité francoallemand d’information et de documentation, dessen Gründung 1925 durch den luxemburgischen Stahlindustriellen Emile Mayrisch in die Wege geleitet wurde; diese Organisation wandte sich vor allem an deutsche und französische Industrielle und Bankenvertreter, aber auch an Politiker (solange sie kein Mandat innehatten) und an die Vertreter der kulturellen Eliten. 20 Dies Komitee war also in erster Linie Repräsentant der Großindustrie beiderseits des Rheins. Es ist festzustellen, daß zwischen diesen drei Vereinigungen keine wechselseitige Zusammenarbeit innerhalb eines jeden der beiden Länder bestand, sondern eine latente Animosität, die ihre Ursache in den gesellschaftlichen und ideologischen Konflikten zwischen diesen drei Vektoren des deutsch-französischen Dialogs hatte. Es soll ein kurzes Porträt dieser drei Organisationen und eine Skizze ihre Bedeutung für das deutsche Exil in Paris versucht werden. Vergleichsweise gut bekannt ist heute das erste Beispiel bilateraler Vereinskontakte, nämlich dasjenige der Liga für Menschenrechte, die ab Beginn der 1920er Jahre bereits begonnen hatte, eine Brücke über den Abgrund zu schlagen, der sich zwischen Deutschland und Frankreich aufgetan hatte aufgrund des Ersten Weltkrieges und des Versailler Vertrages. Diese Organisation, die ab 1918 eine deutliche pazifistische Orientierung an den Tag legte, hatte gleichsam die Patenschaft übernommen für 18 Cf. dazu Sylvie Lorrain: Des pacifistes français et allemands pionniers de l’entente francoallemande 1870-1925, Paris 1999. 19 Cf. als Standardwerk dazu Ina Belitz: Befreundung mit dem Fremden. Die Deutsch- Französische Gesellschaft in den deutsch-französischen Kultur- und Gesellschaftsbeziehungen der Locarno-Ära, Frankfurt/ Main 1997. 20 Zu seiner Geschichte cf. die umfassende Studie Guido Müller: Europäische Gesellschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg. Das Deutsch-Französische Studienkomitee und der Europäische Kulturbund, München 2005. <?page no="200"?> 200 die deutsche Liga für Menschenrechte. Dieser Verein, der aus einem Zusammenschluß der Kräfte hervorging, die Gegner der deutschen Kriegszielpolitik waren und sich anfänglich als „Bund Neues Vaterland“ konstituierten, hatte im Januar 1922 beschlossen, den Namen „Liga für Menschenrechte“ anzunehmen und mit der entsprechenden französischen Liga in dauerhaften Kontakt zu treten. Die deutsche Liga für Menschenrechte war eine von rund einem Dutzend pazifistischen Vereinen und sie war quantitativ schwach. 21 Aber ihre Aktionen für die Demokratisierung der öffentlichen Verwaltung, der Armee und der Schulen hatten eine beträchtliche Wirkung im Laufe der Weimarer Republik, da sie bei vielen republikanischen Intellektuellen Unterstützung fanden. Die Wiederaufnahme der Beziehungen zu Frankreich stand im Mittelpunkt ihrer Bestrebungen bis Mitte der zwanziger Jahre. Danach war die wechselseitige Begegnung zwischen der französischen und der deutschen Liga anläßlich von Gruppenreisen in beiden Richtungen und gemeinsamen Presse-Aufrufen in beiden Ländern zu einer eingeübten Praxis geworden. Der Intellektuellenkreis um die „Weltbühne“, eine der wenigen Kulturzeitschriften mit hoher Auflage, schloß sich argumentativ weitgehend der deutschen Liga an; Kurt Tucholsky, einer der Leiter der Monatsschrift und Mitglied der deutschen Liga für Menschenrechte, lebte seit Mitte Mai 1925 als Korrespondent in Paris. Die gesamte Führungsgruppe der deutschen Liga unterhielt freundschaftliche Kontakte mit der französischen Liga, die jedoch von Konflikten nicht frei waren; 22 auf der französischen Seite war vor allem Victor Basch der unermüdliche Anbahner von Begegnungen mit Deutschland. 23 Die Mitglieder der deutschen Liga wurden in ihrem Heimatland von der nationalsozialistischen Mehrheit in der öffentlichen Meinung als Fünfte Kolonne Frankreichs denunziert. Die Pazifisten im allgemeinen und die Liga-Mitglieder im besonderen befanden sich auf den frühesten Ausweisungslisten, die von den Nationalsozialisten vorbereitet worden waren und die nach dem 30. Januar 1933 in die Tat umgesetzt wurden. Infolge des sofortigen Verbots ihrer Organisation eröffneten die ausgewiesenen Liga-Anhänger Büros in Paris, Straßburg und Prag, in denen die von den Nationalsozialisten bedrohten Pazifisten Anlaufstellen im Exil 21 Cf. Hans Manfred Bock: „Heimatlose Republikaner in der Weimarer Republik. Die Deutsche Liga für Menschenrechte (vormals Bund Neues Vaterland) in den deutschfranzösischen Beziehungen“, in: Lendemains. Etudes comparées sur la France. Vergleichende Frankreichsstudien, 1998, Nr. 90, p. 8-26. 22 Cf. die aufschlußreiche Studie Otmar Jung: „Unterschiedliche politische Kulturen. Der Redneraustausch zwischen französischen und deutschen Pazifisten 1924“, in: Detlef Lehnert (ed.): Politische Teilkulturen zwischen Integration und Polarisierung, Opladen 1990, p. 250-292. 23 Cf. dazu Françoise Basch e.a. (ed.): Victor Basch 1863-1944. Un intellectuel cosmopolite, Paris 2000, p. 103. <?page no="201"?> 201 fanden. 24 Ihr Pariser Büro entfaltete eine wirkungsvolle Tätigkeit, die von den französischen Liga-Mitgliedern unterstützt wurde. Hellmut von Gerlach, die Schlüsselgestalt der exilierten Pazifistenkreise in Paris, leitete die juristische und soziale Beratungsstelle für die deutschen Exilanten unter dem Schutzschirm der französischen Behörden. 25 Während der gesamten Dauer der sechs Jahre des deutschen Exils in Paris spielten die Pazifisten und Liga-Anhänger eine hervorragende Rolle, und zwar ebenso beim Gründungsversuch einer „Deutschen Volksfront“ wie bei der Konstituierung einer ephemeren „Union-franco-allemande“, die im April 1939 als binationale Organisation ins Leben gerufen wurde. 26 Aller Anschein spricht dafür, daß die ehemalige Deutsche Liga für Menschenrechte diese bemerkenswerte Rolle im deutschen Pariser Exil spielen konnte, weil sie relativ gut organisiert war und auf die Hilfe bzw. den aktiven Beistand der französischen Menschenrechts-Liga zählen konnte, die an eine bereits langjährige Kooperation vor 1933 anschließen konnte. Im Falle der deutschen Menschenrechts-Liga kann man also die Führungsrolle innerhalb des Pariser Exils und sogar den Lebensverlauf einiger ihrer mehr oder weniger anonymen Repräsentanten nachzeichnen. 27 Aber man ignoriert in aller Regel die vorausgegangene Zusammenarbeit beider Ligen in der Weimarer Republik, die die Grundlage für ihre wichtigen Exilaktivitäten war. Im Falle der beiden anderen bilateralen Vereinsgründungen wußte man hingegen lange Zeit so gut wie nichts. Bevor die Skizze der beiden wichtigsten Organisationen aus diesem Bereich in der Locarno- Ära unternommen wird, muß betont werden, daß sie beide dem Pazifismus und dem Internationalismus feindlich gegenüberstanden. Sie waren auf der Suche nach einer Synthese zwischen nationaler und europäischer Identität und sie rekrutierten ihre Mitglieder in den Schichten des mittleren und des Groß-Bürgertums. Die Deutsch-Französische-Gesellschaft (DFG) in Deutschland und die Ligue d’études germaniques (LEG) 28 wandten sich überwiegend an die Lehrer der Sekundarschulen und der Universitäten, welche die Sprache und das Gesellschaftsleben des jeweils anderen Landes studierten und unterrichteten. Wenn die Vereine sich also in soziologischer 24 Karl Holl: „Paris als Mittelpunkt für deutsche Pazifisten im Exil“, in: Anne Saint Sauveur-Henn (ed.), op. cit., p. 153. 25 Cf. dazu jetzt Christoph Koch (ed.): Vom Junker zum Bürger. Hellmut von Gerlach, Demokrat und Pazifist in Kaiserreich und Republik, München 2009. 26 Cf. dazu das monumentale Werk von Ursula Langkau-Alex: Deutsche Volksfront 1932- 1939. Zwischen Berlin, Paris, Prag und Moskau, Berlin 2004-2005, 3 Bde. 27 Z.B. Otmar Jung: Senatspräsident Freymuth. Richter, Sozialdemokrat und Pazifist, Frankfurt/ Main 1989. 28 Cf. zu dieser lange Zeit unbekannten Vereinigung Hans Manfred Bock: „Die Ligue d’Etudes Germaniques von 1928 bis 1936. Ein unbekannter Aspekt der französischen Gesellschaftsbeziehungen der Zwischenkriegszeit“, in: Lendemains. Etudes comparées sur la France. Vergleichende Frankreichforschung, 1989, Nr. 53, p. 138-149. <?page no="202"?> 202 Hinsicht ähnlich waren, so waren sie in beiden Ländern ideologisch überaus verschieden. Die Hauptsorge der DFG-Mitglieder war es, die nationale Identität Deutschlands zu verteidigen gegen die Siegermacht Frankreich, die ihre Werte den unterlegenden Nationen aufzuerlegen versuchte. Die Gesinnung der LEG-Mitglieder war republikanisch bzw. universalistisch und folglich offen für Anregungen aus anderen Ländern. Die beiden Vereine, die 1927 und 1928 gegründet wurden, hatten nicht viel Zeit, um ihre Potentiale zur Entfaltung zu bringen. Aber während der fünf Jahre ihrer Aktivität gelang es ihnen immerhin, in Deutschland rund 2.700 Mitglieder und in Frankreich zwischen 3.000 und 4.000 Mitglieder zu werben und zu mobilisieren. 29 Sie veröffentlichten hochwertige Monatsschriften, die von der Regierung (Außenministerium) des jeweiligen Landes subventioniert wurden, sie organisierten Gruppenreisen und Vortragstourneen in die andere Nation sowie Schüler- und Studentenaustausch-Aktivitäten 30 Die DFG geriet ab 1930 nach der Verschlechterung der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich und infolge der nationalistischen Springflut, die in Deutschland durch die Folgen der Weltwirtschaftskrise ausgelöst wurde, in Bedrängnis. Die Werbung neuer Mitglieder fiel dramatisch ab und die deutsch-französische Verständigungsvereinigung wurde von der nationalistischen Rechten als Vaterlandsverräter denunziert. 1933 war es schließlich kompromittierend geworden, für die deutsch-französische Verständigung gestritten zu haben, und es kam nach dem 30. Januar 1933 auf lokaler Ebene zur Verhaftung einiger führender Repräsentanten der DFG. Die Vorkämpfer der DFG, unter denen sich die Bürgermeister von Frankfurt, Köln, Stuttgart und Nürnberg befanden, gehörten politisch zum Umkreis der Sozialdemokratie, der liberalen Parteien und des katholischen Zentrum. In den Spitzelberichten an die Nationalsozialisten wurde die DFG dargestellt als „von Juden verpestet“ und von Internationalisten sowie vaterlandslosen Gesellen geprägt. Unter diesen Umständen wurde die DFG im Sommer 1933 aufgelöst und ihre führenden Mitglieder waren gezwungen, den Weg ins Exil anzutreten. Sie wählten alle (bis auf eine namenhafte Ausnahme) Paris als Ort des Exils. Dafür nur einige Beispiele: Der Gründer der DFG, Otto Grautoff (Berlin), der Jugendfreund Thomas Manns und Schwiegervater von Ernst Toller, verließ Deutschland im Juni 1933. 31 Die Schlüsselperson der DFG in Frankfurt/ Main, der Soziologe Gottfried Salomon, trat denselben Weg an nach 29 Diese Zahlen wurden ermittelt aufgrund der zeitgenössischen Quellen zu diesen Vereinigungen. 30 Cf. dazu Dieter Tiemann: Deutsch-französische Jugendbeziehungen der Zwischenkriegszeit, Bonn 1989. Cf. dazu auch das Kapitel „Reisen zwischen Berlin und Paris in der Zwischenkriegszeit“ im vorliegenden Buch. 31 Zu seiner Biographie cf. Hans Manfred Bock: Kulturelle Wegbereiter politischer Konfliktlösung. Mittler zwischen Deutschland und Frankreich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Tübingen 2005, p. 41-60. <?page no="203"?> 203 Paris. 32 Paul Distelbarth, ein konservativer Pazifist aus der Region um Stuttgart, der in der Folgezeit einer der erfolgreichsten Frankreich-Autoren in Deutschland war, wurde von einem Verhaftungsbefehl gegen ihn und der Beschlagnahmung seines Eigentums informiert, während er sich bei seinen Freunden aus dem Milieu der Anciens Combattans in Frankreich befand. Er blieb dort. 33 Die Ausnahme von der Regel blieb Edgar Stern- Rubarth, der ehemalige Chef des Reichspressedienstes und Freund Stresemanns. 34 Er war der einzige Protagonist der DFG, der aus persönlichen Gründen 1936 das Exil in London antrat. Die DFG-Exilanten schufen in Paris (anders als die Liga für Menschenrechte) keine Hilfsorganisationen, aber sie hielten Kontakt zueinander und sie hatten gemeinsame französische Freunde. Während der ersten Jahre des Pariser Exils dienten die Kommunikationsstrukturen der deutsch-französischen Verständigungsorganisationen des vorausgegangenen Zeitabschnitts (wie der DFG und der LEG) auch als Hilfs- und Aufnahme-Einrichtungen. Im Zentrum dieses Verbindungsnetzes stand eine Persönlichkeit, die überaus aktiv in den Austauschaktivitäten der 1920er Jahre gewesen und die im universitären Bereich in Paris sehr bekannt war. Dies war Henri Lichtenberger, der Germanist an der Sorbonne und Gründer des Institut d’études germaniques im Jahre 1930. 35 Er spielte eine wirksame Rolle in den französischen Bestrebungen, den aus Deutschland kommenden Exilanten zu helfen. Es ist ein ihn betreffendes Dokument des Auswärtigen Amt aus dem Jahre 1935 erhalten, in dem es heißt: „Nach 1933 zuerst starke Sympathien für das Emigrantenmilieu, seit kurzem eine objektive Einstellung und Interesse für den sozialen Fortschritt in Deutschland“. 36 Man kann also das Institut d’études germanistiques in der Pariser rue de l’Ecole de médecine als einen Stützpunkt der Kommunikation mit den akademischen deutschen Exilanten ansehen. Ein anderer Treffpunkt, an dem deutsche Schriftsteller mit ihren französischen Freunden vor allem während der ersten Jahre des Exils zusammenkamen, war das Haus von Félix Bertaux in Sèvres. Als Deutschland- Experte ausgewiesen durch seine Kritiken in der Nouvelle Revue française 32 Cf. Ina Belitz: „Grenzgänger zwischen Wissenschaften, Generationen und Nationen. Gottfried Salomon-Delatour in der Weimarer Republik“, in: Lendemains. Etudes comparées sur la France. Vergleichende Frankreichforschung, 1997, Nr. 87, p. 49-75. 33 Cf. dazu die Distelbarth-Studie im vorliegenden Band; cf. auch Paul H. Distelbarth: Das andere Frankreich. Aufsätze zur Gesellschaft, Kultur und Politik Frankreichs und der deutsch-französischen Beziehungen, Bern, Berlin 1997. 34 Cf. Hans Manfred Bock: „Stresemanns publizistischer Prätorianer. Zum frankreich- und europapolitschen Wirken von Edgar Stern-Rubarth in der Weimarer Republik“, in: Ingo Kolboom, Andreas Ruppert (ed.): Zeit-Geschichten aus Deutschland, Frankeich, Europa und der Welt. Lothar Albertin zu Ehren, Lage 2008, p. 67-88. 35 Cf. dazu die biographische Skizze in Hans Manfred Bock: Kulturelle Wegbereiter, op. cit., p. 217-232. 36 Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes. Pariser Botschaft 702 c, H 022416. <?page no="204"?> 204 und durch eine Geschichte der deutschen Gegenwartsliteratur, gehörte er zu den Gründern der Revue d’Allemagne und war mit Otto Grautoff und Thomas Mann deren Redaktionsmitglied bis zu ihrem Ende im Jahre 1933. 37 Aus Gesundheitsgründen war Félix Bertaux in den späten 1930er Jahren gezwungen, die Häufigkeit dieser Begegnungen in der „Source“ einzuschränken. Er und sein Sohn Pierre waren Mitglied in der Union pour la vérité, die von dem Philosophen Paul Desjardins ins Leben gerufen worden war und die in der rue Visconti (Paris 7 e ) ihren Sitz hatte. Diese Vereinigung hatte in den zwanziger Jahren eine hervorragende Rolle innegehabt in der Wiederanbahnung der kulturellen Beziehungen zwischen deutschen und französischen Intellektuellen. 38 Sie hatte in 1922 und 1930/ 31 zwei große Debatten geführt über die deutsch-französischen Beziehungen. Dazu hatte sie den größten Teil der französischen Deutschland-Experten und Repräsentanten Deutschlands eingeladen. Der Sitz der Union pour la vérité war schon vor 1933 ein deutsch-französischer Begegnungsort geworden; Coudenhove-Kalergi, Thomas Mann, Albert Schweitzer u.a. waren ihr Gast gewesen. Nach 1933 stellten sich pazifistische Exilanten, aber auch Repräsentanten der DFG zu ihren philosophisch-moralischen Diskussionen in der rue Visconti ein. Beispielsweise wurde dort der Autor der Deutsch- Französischen Rundschau Paul Distelbarth zu einem Vortrag eingeladen, der öfters als Zuhörer zugegen war. Er schrieb eine Porträtskizze der Union, die 1938 in einem Buch erschien und lange Zeit das einzige Dokument in deutscher Sprache über die Vereinigung war. 39 In der rue Visconti traf er namentlich Gottfried Salomon, den vormaligen DFG-Protagonisten aus Frankfurt, der 1933 nach Paris ins Exil gegangen war. Es ist nicht möglich, in diesem Zusammenhang nicht die Dekaden von Pontigny zu erwähnen 40 . Da diese Intellektuellentreffen von Paul Desjardins organisiert wurden in enger Zusammenarbeit mit der Union pour la vérité, nahmen auch viele deutsche Intellektuelle vor wie nach 1933 daran teil. Distelbarth z.B. wurde eingeladen, aktiv an den Kursen des „Anti- Babel“ mitzuwirken, die für Studenten aus verschiedenen europäischen Ländern veranstaltet wurden. 41 Nach 1933 wurden deutsche Exilanten wie Hans Mayer, Paul Landsberg und Martin Buber zu den Dekaden eingela- 37 Cf. ebenda, p. 309-332. Als Dokument seines Wirkens cf. Wolfgang Klein (ed.): Heinrich Mann - Félix Bertaux. Briefwechsel 1922-1948, Frankfurt/ Main 2002. 38 Cf. dazu umfassend François Beilecke: Französische Intellektuelle und die Dritte Republik. Das Beispiel einer Intellektuellenassoziation 1842-1939, Frankfurt/ Main 2003. 39 Paul Distelbarth: Neues Werden in Frankreich. Zeugnisse führender Franzosen, Stuttgart 1938, p. 136-154. 40 Cf. dazu François Chaubet: Paul Desjardins et les Décades de Pontigny, Villeneuve d’Ascq 2000. Cf. auch zu den deutschen Teilnehmern Klaus Große-Kracht: „Les intellectuels allemands à Pontigny“, in: S.I.E.C.L.E. Colloque de Cerisy. 100 ans de rencontres intellectuelles de Pontigny à Cerisy, Caen 2005, p. 107-116. 41 Cf. den Text zu Distelbarths Pariser Exil in diesem Buch. <?page no="205"?> 205 den. Nach ihrem Zeugnis wurden sie dort mit viel Sympathie und Solidarität willkommen geheißen. Hinsichtlich der Exilanten in Paris, die aus dem Kreis der DFG und des Bildungsbürgertums kamen, muß man ihre Treffpunkte und Begegungsorte mit dem französischen Umfeld in mehr oder weniger informellen Zirkeln wie dem Institut d’études germaniques, der Union pour la vérité, den Dekaden von Pontigny und dem Hause Bertaux in Sèvres suchen, die dem Individualismus dieser Exilanten-Kategorie am besten entsprachen. Als drittes und letztes Beispiel aus dem Bereich des grenzüberschreitenden Vereinswesens der Weimarer Jahre, das Mitte der zwanziger Jahre entstand und das teilweise seine Bemühungen um deutsch-französische Vermittlung über das Jahr 1933 hinaus fortsetzte, ist das Comité francoallemand d’information et de documentation von Interesse. Diese Vereinigung, von den Zeitgenossen geläufig Mayrisch-Komitee genannt, wurde 1925 gegründet. Es führte in erster Linie die Repräsentanten des Großbürgertums beider Länder zusammen, die aus dem Industrie- und Bankenbereich kamen. Das Komitee war von Emile Mayrisch als Parallelstruktur zum Internationalen Rohstahlkartell konzipiert, das zur selben Zeit gegründet wurde. 42 Die zentrale Zielsetzung des Mayrisch-Komitees war es, die Kenntnis zwischen den französischen und den deutschen Eliten zu verbessern und die offensichtlichsten Mißverständnisse in der öffentlichen Meinung beider Länder zu vermeiden. Der luxemburgische Industrielle hatte als tatkräftigen Architekten und Baumeister dieses Projekts den schwer Kriegsverletzten und ehemaligen persönlichen Mitarbeiter des Maréchal Lyautey in Marokko, Pierre Viénot, gefunden. 43 Das Komitee unterhielt ein Büro in Paris, das von einem Deutschen geleitet wurde, und eine Vertretung in Berlin, deren Leitung Viénot übernahm. Zum Zeitpunkt der Verschlechterung der deutsch-französischen Beziehungen im Jahre 1930 befand sich das Mayrisch-Komitee in der Krise, es setzte jedoch seine Arbeit fort. Die Nationalsozialisten wagten nicht, diese Einrichtung in Frage zu stellen, da sie ab 1934 einen modus vivendi mit der Industrie herzustellen suchten. Sie versuchten wiederholt, das deutsch-französische Studienkomitee als Arbeitgebersektion ihrer 1936 gegründeten Deutsch- Französischen Gesellschaft einzugliedern, aber das Mayrisch-Komitee wahrte seine Unabhängigkeit um den Preis des Zurücktretens in der Öffentlichkeit. Es existierte bis 1939. Als einzige bilaterale Organisation, die die Machteroberung der Nationalsozialisten überdauerte, wurde es schließlich zur schlicht pragmatischen Beobachtungsinstanz zwischen beiden Ländern. Seine ursprüngliche Mittlerfunktion wurde jedoch beibehalten 42 Dazu die wirtschaftshistorische Monographie Charles Barthel: Bras de fer. Les maîtres de forges luxembourgeois, entre les débuts difficiles de l’UEBL et le Locarno sidérurgique des cartels internationaux 1918-1929, Luxembourg 2006. 43 Guido Müller, op. cit., p. 113. <?page no="206"?> 206 durch Pierre Viénot und die Mayrisch-Familie, zu der der Architekt des Komitees nach seiner Heirat mit der Tochter der Mayrischs gehörte. Nach fünfjähriger Arbeit in Berlin hatte Viénot Anfang der 1930er Jahre den Weg in die Politik angetreten als sozialistischer Abgeordneter der Ardennen. 44 Sofort ab 1933 begann er, sich für seine in Deutschland verfolgten Freunde einzusetzen. Er war beispielsweise am gewagten Transfer der Finanzen Thomas Manns nach Paris und danach in die Schweiz maßgeblich beteiligt, indem er sich mit dem Einverständnis von Botschafter François-Poncet des diplomatischen Postweges bediente. Nach dem Zeugnis von Peter de Mendelssohn, dem Freund von Erika und Klaus Mann, verfuhr Viénot mit Hilfe seines Freundes Pierre Bertaux wiederholt auf diese Weise, und zwar indem er einen gewissen Prozentsatz der transferierten Summen für die bedürftigsten deutschen Exilanten in Paris zurückbehielt. 45 Er ließ den ehemaligen Mitgliedern der politischen Klasse der Weimarer Republik, die er in Berlin kennen und schätzen gelernt hatte, großzügige Hilfe zukommen. Beispielsweise stellte er dem ehemaligen Fraktionschef der Sozialdemokraten im Reichstag, Rudolf Breitscheid, zeitweilig 1933 seine Pariser Wohnung (rue Cognac-Jay) zur Verfügung. Nach seiner Ernennung zum Sous-secrétaire d’Etat im Rahmen der Volksfront-Regierung ergriff er 1936 die Initiative für die Schaffung eines „comité consulatif“, das über den Flüchtlingsstatus der deutschen Frankreich-Exilanten zu befinden hatte. 46 In diesem dann tatsächlich ins Leben gerufene Komitee saßen gemeinsam Vertreter mehrerer französischer Ministerien und Repräsentanten deutscher Hilfsorganisationen in Paris. An der Spitze der deutschen Gruppe stand der ehemalige Polizeipräsident von Berlin, Albert Grzesinski. In dem Komitee war u.a. die Deutsche Menschenrechtsliga vertreten. Diese in Europa einzigartige Einrichtung existierte bis Ende 1937 und sie erteilte rund 6.500 Deutschen den Status eines politischen Flüchtlings, der ihnen einen verlängerten legalen Aufenthalt in Frankreich erlaubte. Viénots Schwiegermutter, Aline Mayrisch de Saint-Hubert, half den deutschen Flüchtlingen in Frankreich materiell und bestand darauf, daß die Hilfe in der Öffentlichkeit nicht bekannt wurde. 47 Sie unterstützte die Zeitschrift „Maß und Wert“, die von 1937 bis 1939 von Thomas Mann und anderen in Zürich veröffentlicht wurde, mit einer Summe von jährlich 50.000 F. Die Motive, die Viénot (und seinen Kabinettschef Pierre Bertaux) zu ihrer Hilfstätigkeit veranlaßten, wurden in einem Text eines damaligen Mitarbeiters 44 Gaby Sonnabend: Pierre Viénot (1897-1944) Ein Intellektueller in der Politik, München 2005. 45 Peter de Mendelssohn: Der Zauberer. Das Leben des deutschen Schriftstellers Thomas Mann. Zweiter Teil, Frankfurt/ Main 1975. 46 Cf. Gaby Sonnabend, op. cit., p. 339sqq. 47 Dazu jetzt auch Hans Manfred Bock: „Der Colpacher Kreis als unsichtbares Netzwerk der Eliten zwischen Luxemburg und Deutschland in der Zwischenkriegszeit“, in: Galerie. Revue culturelle et pédagogique, Luxembourg 2007, Nr. 3, p. 373sqq. <?page no="207"?> 207 von Alexis Léger, dem Generalsekretär des Quai d’Orsay, im November 1939 wie folgt umrissen: „Qui à Paris ou à Londres a pardonné aux nazis d’avoir chassé du pouvoir puis de leur pays les Allemands de Weimar, avec qui tant de gens à Londres et à Paris avaient travaillé? Et la défaite des démocrates allemands était ressentie en Occident sur le plan de la camaraderie, sur le plan de l’idéologie, sur le plan personnel, puisque cette défaite était l’écroulement de la politique franco-britannique. Et combien de ces réfugiés ont investi les hommes et les bureaux politiques de France et Angleterre, poursuivant la lutte commencée et brisée en Allemagne, espérant reconquérir ce qu’ils avaient perdu, et trouvant des échos à l’étranger, ce qui ne s’explique pas moins. […] Il y avait là des démocrates, des catholiques, des juifs, des communistes, des socialistes, tous gens réunis moins par une doctrine commune que par une haine commune du nazisme qui leur est contraire et qui, les ayant vaincus, les a si durement traités. D’où ce mélange de rancune et de volonté de revanche partagé par tous ceux qui à Paris, à Berlin et à Londres avaient été frappés par la catastrophe, et la ressentaient presque également. Il est certain que les Allemands de l’opposition n’ont cessé de garder directement ou indirectement le contact avec les hommes politiques français (Blum, Viénot) et des services français (Comert). Il y avait des amitiés. Il n’était pas élégant de ‚laisser tomber’ dans le malheur des gens que l’on avait connus au pouvoir. On espérait se renseigner par eux sur l’Allemagne. On espérait aussi leur retour au pouvoir, se disant qu’en ce cas, les problèmes franco-allemands seraient tranchés sans douleur.“ 48 Ohne hier die Treffsicherheit dieser Motivanalyse diskutieren zu wollen, hat sie doch das Verdienst, einen weniger bekannten Aspekt der deutschen Exilexistenz hervorzuheben, indem sie den Akzent auf deren französische Gesprächspartner auf der Ebene der Entscheidungsträger und der politischen Administration legt. Zusammenfassend kann man sagen: Angesichts der zugleich umfangreichen und unzureichenden Informationen über Ursprung und Zusammensetzung des deutschen Exils in Paris von 1933 bis 1939 ist es nützlich und legitim, eine Beziehung zwischen den soziokulturellen Interaktionsstrukturen zwischen Deutschland und Frankreich aus den 1920er Jahren und der Wahl von Paris als bevorzugten Ort des Exils der Verfolgten des Nationalsozialismus nach 1933 herzustellen. Man vermag auf diese Weise, zu einer besseren Unterscheidung der internen Strukturen des deutschen Exils zu gelangen. Diese werden in der Regel definiert gemäß der politischen Zugehörigkeit (Kommunisten, Sozialisten, Liberale usw.) oder nach ihrer Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft. In der hier skizzierten Perspektive gelangt man gleichermaßen zu einer besseren Erkenntnis der 48 Raymond de Sainte-Suzanne: Une politique étrangère. Le Quai d’Orsay et Saint-John Perse à l’épreuve d’un regard, Paris 2000, p. 147sqq. <?page no="208"?> 208 Kommunikations-Formen und der Begegnungs-Orte der Exilanten mit den französischen Interaktionspartnern ihres Aufnahmelandes. <?page no="209"?> 209 VII. Das Pariser Exil des konservativen Pazifisten Paul Distelbarth 1933-1939 „Es war Sommer 1939. Bei einem kurzen Aufenthalt in Paris lud mich Monsieur Desjardins in sein Haus zu einer Abendgesellschaft ein. Ich hatte den Vorzug, bei dieser Gelegenheit Paul Distelbarth kennenzulernen, dessen zweibändiges Werk ‚Lebendiges Frankreich’ eines der tiefgründigsten deutschen Bücher über Frankreich ist, ja - in seiner Art ist es unvergleichbar. Paul Distelbarth war in seiner Eigenschaft als Vertreter des deutschen Frontkämpferverbandes durch dessen französische Entsprechung […] mit dem Frankreich der Provinz, der kleinen und mittelständischen Leute in engste Verbindung gekommen. Davon handelt dieses Buch. Im Äußeren wirkte er sehr deutsch mit seiner mächtigen Gestalt, aber es strahlte so viel Menschenliebe und so viel Aufrichtigkeit von ihm aus, daß mich die lebhafte Sympathie, mit der er überall empfangen worden ist, keinen Augenblick wunderte.“ 1 Dieses Portrait aus den Erinnerungen einer katholischen Pazifistin an die deutsch-französischen Begegnungen der Zwischenkriegszeit gilt einem Frankreich-Autor, der schon von den Zeitgenossen neben Friedrich Sieburg und Ernst Robert Curtius als maßgeblicher Schöpfer des deutschen Bildes von Frankreich angesehen wurde. 2 Sein Werk und sein Wirken wurde (im Gegensatz zu den beiden anderen Autoren) durch die politisch-ideologischen Grabenkämpfe des Kalten Krieges der Nachkriegszeit weitgehend verschüttet. 3 Seine Tätigkeit in Paris während der Jahre 1933 bis 1939 und seine unabhängige Stellung zwischen den beiden Lagern des deutschen politischen Exils und der diplomatischen Repräsentanz des Dritten Reichs in der französischen Metropole gibt der zeitgeschichtlichen Forschung bis heute Rätsel auf. 4 Nachdem seit Beginn der neunziger Jahre mehrfach auf 1 Klara Marie Fassbinder: Der versunkene Garten. Begegnungen mit dem geistigen Frankreich des Entre-deux-guerres 1919-1939, Heidelberg 1968, p. 173sq. 2 Matthias Schwabe (i.e. Karl Epting): „Zum Frankreichbild unserer Generation“, in: Die Tat 30 (1938/ 39) Bd. 1, p. 478-483. 3 Cf. dazu meine Studie: „Paul Distelbarth oder Die unterbrochene Revision des deutschen Frankreichbildes nach 1945“, in: Lendemains. Vergleichende Frankreichforschung, 18 (1993), Nr. 71/ 72, p. 60-63. 4 Antoine Prost: „Les Anciens Combattants français et l’Allemagne (1933-1938)“, in: La France et l’Allemagne 1932-1936, Paris 1980, p. 139 stellt Distelbarth als Schrittmacher der „Allemands francophiles“ dar, in deren Gefolge Otto Abetz das Vertrauen der französischen Partner habe erwerben können. An anderer Stelle seiner umfassenden Studie zu den Anciens Combattants charakterisiert Prost Distelbarth (dessen „France vivante“ er öfter als hellsichtige Analyse zitiert) zutreffender als „pacifiste, républi- <?page no="210"?> 210 die bemerkenswerten Qualitäten der Frankreich-Publizistik von Paul H. Distelbarth hingewiesen wurde 5 und nachdem ergiebige Archiv-Materialien aufgefunden und ausgewertet werden konnten, 6 ist es an der Zeit und möglich, die Tätigkeiten, Begegnungen und Eindrücke Distelbarths in den Pariser Jahren 1933-1939 darzustellen und zu diskutieren. Sie waren nicht nur der Erfahrungs-Hintergrund seiner beiden Frankreich-Bücher der späten dreißiger Jahre, 7 sonderen sie enthalten ein aufschlußreiches Kapitel deutsch-französischer Gesellschaftsbeziehungen dieser Zeit. 1. Deutsch-französische Verständigungsarbeit eines konservativen Pazifisten am Ende der Weimarer Republik Distelbarths gesellschaftliches Engagement in den deutsch-französischen Beziehungen begann lebensgeschichtlich spät, war aber politisch und biographisch fest verankert. Es entstand im Zusammenhang mit der Organisationsarbeit des „Reichsbundes der Kriegsbeschädigten, Kriegsteilnehmer und Kriegshinterbliebenen“, 8 einer 1917 aufgrund sozialdemokratischer Initiative gegründeten, in der Folgezeit offiziell überparteilichen Vereinicain“ und „ami de la France“. Antoine Prost: Les Anciens Combattants et la société française 1914-1939, Paris 1977, tome III, p. 90. 5 Cf. z.B. Gilbert Badia: „La France vue par Paul Distelbarth: un pays modèle“, in: Hans Manfred Bock, Reinhart Meyer-Kalkus, Michel Trebitsch (ed.): Entre Locarno et Vichy. Les relations culturelles franco-allemandes dans les années 1930, Paris 1993, tome I, p. 175-185; Margot Taureck: „‚Esprit’ und ‚Bonne volonté’ bei Friedrich Sieburg und Paul Distelbarth“, in: ibid., p. 181-202; Michael Nerlich: „Aufklärung und Republik. Zum deutsch-französischen Verhältnis, zur Frankreichforschung und zu Werner Krauss“, in: Lendemains 18 (1993) Nr. 69/ 70, p. 44sqq.; Hans Manfred Bock: „Paul Distelbarth und die deutsch-französische ‚Verständigung von unten’“ in: Dokumente. Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog 46 (1990) Heft 3, p. 219-225. 6 Die Spurensuche führte zu Ergebnissen im Familien-Archiv Distelbarth/ Rittelhof- Löwenstein; Redaktions-Archiv der Heilbronner Stimme, Literaturarchiv/ Marbach a. N.; Unternehmens-Archiv der Robert-Bosch-AG/ Stuttgart und in den Beständen „Bestrebungen zur Herbeiführung einer deutsch-französischen Verständigung“ der Deutschen Botschaft/ Paris im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes/ Bonn (künftig zitiert: PA/ AA). Herrn Frank Distelbarth sei an dieser Stelle herzlich gedankt für die Ermöglichung der Auswertung der Pariser „Erzählbriefe“ Paul Distelbarths an seine Familie in Rittelhof bei Heilbronn aus den Jahren 1933-1939. 7 Paul Distelbarth: Lebendiges Frankreich, Berlin 1936; ders.: France vivante. Texte français de l’auteur, Paris o. J. (1937); ders.: Neues Werden in Frankreich. Zeugnisse führender Franzosen, Stuttgart 1938. 8 Diesen Namen erhielt die Organisation auf dem 2. Reichsbundestag in Würzburg vom 11.-15. Mai 1920. Sie hieß zuvor „Reichsbund der Kriegsbeschädigten und ehemaligen Kriegsteilnehmer“. Cf. Reichsbund-Chronik. Daten und Fakten. 1917 bis 1933 und 1945 bis 1982, Bonn 1983. <?page no="211"?> 211 gung mit der primären Zielsetzung sozialpolitischer Interessenvertretung der Kriegsopfer. 9 Zur Teilnahme an den Aktivitäten des Reichsbundes war Distelbarth (1879-1963) gekommen als Kriegsteilnehmer, der zuletzt im Range eines Hauptmannes in Weißrußland eingesetzt und während der Kriegsjahre zum Pazifisten geworden war. 10 Der Pazifismus Distelbarths, das stärkste Motiv seines Handelns bis an sein Lebensende, blieb ohne organisatorische Einbindung und ideologische Überhöhung. Als Mann der Praxis, der lange Zeit dem Gewerbe als selbständiger Exportkaufmann in Böhmen und ab Beginn der zwanziger Jahre als Eigentümer eines Obst- und Weingutes in Württemberg nachging, 11 suchte er konkrete Handlungsperspektiven für seine pazifistische Grundüberzeugung. Im Rahmen des Reichsbundes boten sich ihm diese praktischen Umsetzungsmöglichkeiten, da ab Mitte der zwanziger Jahre die internationalen Kontakte der Kriegsopfervereinigung intensiviert wurden. Die wichtigsten dieser Auslandskontakte des Reichsbundes waren die zu den Verbänden der Anciens Combattants in Frankreich. Hier konnte Distelbarth seine Fähigkeit einbringen, die er aufgrund der traditionellen Verbindung seiner württembergischen Familie zu Frankreich und aufgrund eines längeren Paris- Aufenthalts im Jahre 1900 erworben hatte. 12 Im Zeichen der Politik von Locarno und gefördert durch die Außenpolitik des Cartel des gauches in Frankreich war bereits am 18./ 19. September 1925 in Genf die Gründung eines internationalen Verbandes erfolgt, der den Namen „Conférence internationale des associations de mutilés et anciens combattants“ (CIA- MAC) erhielt. 13 Von deutscher Seite wurde die Delegation auf dieser Konferenz geleitet vom Reichsbund-Vertreter Erich Roßmann (1884-1953), der 1924 bis 1933 sozialdemokratischer Abgeordneter des Wahlkreises Stuttgart war. Mit großer Wahrscheinlichkeit wurde Distelbarth durch die Vermittlung Roß- 9 Zur Stellung des Reichsbundes im Zusammenhang der Kriegsveteranen-Verbände nach dem Ersten Weltkrieg und zu seiner Zielsetzung cf. James M. Diehl: „Germany. Veteran’s politics under three flags“, in: Stephen R. Ward (ed.): The War Generation. Veterans of the First Wold War, Port Washington/ London 1975, p. 135-186. 10 Cf. dazu seine autobiographischen Aufzeichnungen, die ein langsames Heranreifen seiner pazifistischen Grundüberzeugung während der Kriegsjahre dokumentieren: Paul H. Distelbarth: Wacht im Osten. Frontoffizier im Ersten Weltkrieg. Der Kreishauptmann von Borissow, Heilbronn 1989. 11 Zur Gesamtbiographie cf. Frank Distelbarth: „Paul Distelbarth. Ein Publizist der Völkerverständigung“, in: 700 Jahre Stadt Löwenstein. 1287-1987, Löwenstein 1987, p. 495-502. 12 Zum Paris-Aufenthalt seines Vaters von 1864-1867 interessant dessen Autobiographie Paul Rudolf Distelbarth: Lebenserinnerungen, o.O. 1982. (Als Typoskript vervielfältigt). Dort heißt es (p. 7): „Bei den jungen Leuten in Stuttgart war es damals allgemein üblich, wenigstens 1 Jahr nach Paris zu gehen.“ 13 Cf. dazu Prost: Les Anciens Combattants et la société française, op. cit., tome I, p. 103sqq.: „Le dégel des rapports franco-allemands et la naissance de la CIAMAC“. <?page no="212"?> 212 manns in die internationale Verständigungsarbeit des Reichsbundes im Rahmen der CIAMAC eingeführt, 14 die nach dem Auftakt in Genf vom September 1925 im Jahre 1926 abermals in Genf, 1927 in Wien, 1928 in Berlin, 1929 in Warschau, 1930 in Paris, 1931 in Prag, 1932 in Wien und Anfang Januar 1933 in Berlin fortgesetzt wurde. 15 Nachdem Erich Roßmann bereits im Mai 1929 auf einer Tagung der „Union fédérale des associations de blessés, mutilés et anciens combattants“, der den Linksparteien nahestehenden Großorganisation der französischen Kriegsteilnehmer, 16 in Brest gesprochen hatte und anschließend bei einer Friedenskundgebung der französischen Kriegsopfer in der Pariser Sorbonne aufgetreten war, 17 trat Distelbarth ab 1931 seine Teilnahme an diesen deutsch-französischen Begegnungs-Aktivitäten an. 18 Die Intensität, mit der sich Distelbarth in den folgenden beiden Jahren der Begegnung und der Vermittlung zwischen den Kriegsopferverbänden (vorzugsweise der Union féderale (UF) auf der französischen und dem Reichsbund auf der deutschen Seite) widmen konnte, verdankte er vor allem der Tatsache, daß ihn der Stuttgarter Großindustrielle Robert Bosch 1932 unter Vertrag nahm. Er wurde Robert Boschs „Vertrauensmann in den deutsch-französischen Dingen.“ 19 Das Bosch-Unternehmen war seit 1899 mit seinen Produkten für Autoelektrik zuerst im Rahmen eines deutsch-englischen Gemeinschaftsunternehmens, ab April 1908 als „Société des Magnétos Bosch“ in Paris, seit Ende 1909 auch mit einer Filiale in Lyon vertreten. Nach dem Weltkrieg wurde zuerst wieder ein Vertriebsnetz des Unternehmens in Paris, Lyon, Lille und Bordeaux aufgebaut, ab 1930 eine große Produktionsanlage der Lavalette-Bosch-Werke im Norden von Paris eröffnet. 20 Robert Bosch hatte in Verbindung mit diesen industriellen Interessen seit Mitte der zwanziger Jahre die Pan-Europa-Bewegung des Grafen Coudenhove-Kalergi gefördert, war aber mit den Ergebnissen dieser Eliten-Kontaktnahmen allein zu Beginn der dreißiger Jahre nicht mehr zufrieden. Insofern interessierten ihn die breiteren deutsch-französischen 14 Cf. Erich Roßmann: Ein Leben für Sozialismus und Demokratie, Stuttgart und Tübingen 1946, p. 66sq. Der Autor schreibt, daß er Robert Bosch den Rat gegeben habe, Distelbarth als Leiter seines Frankreich-Sekretariats einzustellen. 15 Gemäß den Darstellungen in: Reichsbund-Chronik, op. cit., p. 21sqq. Zu den internationalen Treffen der CIAMAC cf. auch Léon Viala: Les relations internationales entre les associations de mutilés de guerre et d'anciens combattants, Paris o. J. (1929). 16 Cf. dazu die umfassende Darstellung bei Prost: Les Anciens Combattants, op. cit., tome 1, p. 115; dort zur Vorherrschaft der Union fédérale unter den großen Kriegsopfer-Verbänden. 17 Reichsbund-Chronik, op. cit., p. 23. 18 Cf. dazu seine Darstellung in: Distelbarth: Lebendiges Frankreich, op. cit., p. 271sqq.: „Erste Begegnung“. 19 Theodor Heuss: Robert Bosch. Leben und Leistung, München 1975, p. 431. 20 Cf. F. Seitz: „Bosch-Erzeugnisse in Frankreich“, in: Deutsch-Französische Rundschau, 1932, p. 265-274. <?page no="213"?> 213 Verbindungsnetze, die sich in den nach Hunderttausenden von Mitgliedern zählenden Kriegsopferorganisationen der Union fédérale und des Reichsbundes abzeichneten. Der Bosch-Biograph Theodor Heuss, der in den frühen dreißiger Jahren Distelbarth kennenlernte, faßte die Motive des Elektroindustriellen und seines Beauftragten für die Gesellschaftsbeziehungen nach Frankreich zusammen: Bosch habe alle „Ansätze, zwischen der deutschen und der französischen Nation wechselseitige Einsicht zu mehren“ gefördert. „So kam er auch zu Paul Distelbarth, dem württembergischen Kaufmann und Landwirt, der eine Art Gegenfigur zu dem Grafen Coudenhove wurde. Ohne Vereinigung, ohne große Formel ohne Kongreß und Publizistik, hatte Distelbarth begonnen, in Frankreich für die deutschen Besorgnisse, in Deutschland für die französischen Ängste Verständnis zu wecken; Anschluß hatte er dabei gewonnen bei den organisierten Gruppen der ehemaligen Kriegsteilnehmer. Sein einziger Auftraggeber war sein nationales, humanitäres und christliches Gewissen. Bosch stattete ihn, aufs stärkste beeindruckt von der beweglichen Intensität des Mannes, mit der Möglichkeit aus, diesen individuellen, fast privaten Versuch von den Tagessorgen freizuhalten. Da war nun freilich kein Einfluß auf Diplomaten zu erwarten, auch nicht auf Kapitalisten, die nach Anlagen strebten: Distelbarth suchte und fand den Kleinbürger der Provinzstadt, den Arbeiter, Bauern, mittleren Beamten. Es gab also auch den anderen Weg ‚von unten her’“. 21 Distelbarth wurde nach intensiver frankreichpolitischer Zusammenarbeit mit Robert Bosch im Jahre 1932 ab Anfang 1933 mit einem Büro und einem Zweijahresvertrag des Unternehmens ausgestattet. 22 Dieser gleichsam professionellen Mittler-Funktion zwischen beiden Ländern war die Resonanz vorausgegangen, die Distelbarth vermittels seiner Kontaktnahmen zu den französischen Anciens Combattants hervorgerufen hatte. In der Tat war - wie Distelbarth später betonte - Robert Bosch an ihn und nicht er an den Stuttgarter Industriellen herangetreten. Nach dem Banken- Krach vom Juni 1931 ohne verfügbare Geldmittel, hatte er seine erste Frankreich-Reise in verständigungspolitischer Mission nach dem Besuch und mit der materiellen Unterstützung des Marburger Theologie- Professors Martin Rade angetreten. Mit Martin Rade (1857-1940), dem pazifistisch engagierten evangelischen Christen, 23 verband Distelbarth während der dreißiger Jahre ein lebendiger geistiger Austausch, obwohl er keineswegs ein kirchengebundenes Christentum praktizierte. Bei einem Vortrag Distelbarths über seine Reise nach Dijon im Rotary-Club von 21 Heuss, op. cit., p. 362. 22 So seine Darstellung in einem Brief vom 27. Juli 1933 an Albert Seible. 23 Zu Rades pazifistischem Wirken seit der Vorkriegszeit cf. Johannes Rathje: Die Welt des freien Protestantismus. Dargestellt am Leben und Werk von Martin Rade, Stuttgart 1952 und Anne Christine Nagel: Martin Rade. Theologe und Politiker des Sozialen Liberalismus, Gütersloh 1996. <?page no="214"?> 214 Stuttgart, den er im Januar 1932 hielt, war unter seinen Zuhörern der Bietigheimer Linoleum-Fabrikant Friedrich Heilner, der führende Repräsentant der Stuttgarter Deutsch-Französischen Gesellschaft (DFG) war. 24 Er machte Robert Bosch auf Distelbarth aufmerksam und gewann den Frankreich-Referenten für die bald sehr rührige Mitarbeit in der DFG. Der Gründer und Vorsitzende der DFG schrieb bereits im Oktober 1932 an das Auswärtige Amt: „Unser Mitarbeiter Paul Distelbarth [...] hat sich in wenigen Monaten in allen französischen Kreisen glänzende Beziehungen verschafft unter Bauern, Arbeitern, Journalisten, Politikern und aktiven Ministern.“ 25 Daß der württembergische Kaufmann und Landwirt, der sich selbst gern als „kleiner Weinbauer“ bezeichnete, so schnell Zugang zu ganz unterschiedlichen Gesellschaftsgruppen in Frankreich gewann, verdankte er neben der Ausstrahlung seiner Persönlichkeit und dem Erfolg bei den Anciens Combattants der engen Zusammenarbeit mit Robert Bosch. Dieser führte ihn als Frankreich-Experten ein in die Führungs-Kreise der Industrie und in das diplomatische Milieu. Zumindest indirekt ebnete er ihm wohl auch den Weg zur Mitarbeit in einigen Presseorganen. Einen Einblick in diese Zusammenarbeit mit Robert Bosch gibt dessen Korrespondenz aus dem Jahre 1932. 26 In einem Brief vom 3. Juni 1932 an den Unternehmenschef der Gutehoffnungshütte in Oberhausen, Paul Reusch, berichtete der Stuttgarter Großindustrielle von seiner Bekanntschaft mit Paul Distelbarth. Ihm waren Distelbarths Berichte aus Frankreich eine Bestätigung für seine seit langem gefestigte Auffassung, daß in Frankreich generell gegenüber Deutschland „von Haß keine Rede sein könne“. 27 Reusch beharrte in einem Antwortschreiben vom 7. Juni 1932 auf seinem gegenteiligen Eindruck und er warnte davor, aus Distelbarths Berichten allgemeine Schlüsse zu ziehen; unter anderem empfahl er Distelbarth „auch einmal andere Wahlversammlungen als sozialistische zu besuchen.“ 28 Aus dem Briefwechsel geht hervor, daß Bosch bemüht war, Distelbarth ins direkte Gespräch zu bringen mit dem Vorstandsvorsitzenden der Gutehoffnungshütte und daß er ihm ein Empfehlungsschreiben für Außenminister Neu- 24 Cf. dazu auch meine Darstellung in: „Die Deutsch-Französische Gesellschaft 1926 bis 1934“, in: Francia 17/ 3 (1990) p. 72sq. 25 Otto Grautoff an das Auswärtige Amt am 25. Oktober 1932, in den PA/ AA Akten der Botschaft Paris, Deutsch-Französische Gesellschaft, Bd. Vl. 26 Briefwechsel Robert Bosch/ Paul Reusch im Unternehmensarchiv der Robert-Bosch- AG; FEG-Archiv, A 1a, RB. 27 Brief Robert Bosch an Paul Reusch vom 3. Juni 1932. Er fügte in einem Brief vom 8. Juni 1932 hinzu: „Soeben habe ich noch mit meinem Direktor Rassbach gesprochen, der sagte, schon im Jahre 1923, habe er bei einer Fahrt durch Frankreich mit einem deutschen Wagen nirgends irgendwelche Gehässigkeiten erfahren können, überall nur die Furcht vor einem zweiten Weltkrieg, die Furcht vor Deutschland.“ 28 Brief Paul Reusch an Robert Bosch vom 7. Juni 1932. <?page no="215"?> 215 rath geben wollte. Beide Begegnungen Distelbarths fanden in der Folgezeit statt. Robert Bosch wies Reuschs Insinuation zurück, daß sein Frankreich- Gewährsmann einseitigen sozialistischen Umgang pflege: „Distelbarth selber ist nicht Sozialist und die parteipolitischen Gliederungen in Frankreich sind ganz andere, als sie bei uns sind. Zu den Versammlungen, in denen Distelbarth spricht, laden die Maires ein. Es kann sich also nicht um sozialistische Versammlungen handeln.“ 29 Robert Bosch projizierte zu dieser Zeit seine Hoffnungen bezüglich eines konstruktiven politischen Neuanfangs in den deutsch-französischen Beziehungen auf den gerade ernannten neuen Reichs-Außenminister Konstantin Freiherr von Neurath, der sein württembergischer Landsmann war: „Ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, daß die offizielle Politik sich in irgendeiner Weise festgerannt hat und nicht zugeben will und kann, daß Verständigungsmöglichkeiten bestehen. Es ist gewiß nicht leicht, die Sache auseinanderzumachen, vielleicht hat aber der süddeutsche Neurath etwas mehr psychologisches Verständnis, als es den Norddeutschen meist eigen ist. [...] Meine Ansicht ist, daß wir uns mit Frankreich verständigen müssen und daß wir ohne Frankreich in Europa nicht durchkommen.“ 30 Der früheste bislang auffindbare Zeitungsartikel Distelbarths vom 9. Juni 1932 vertiefte diese Überlegungen zu den „psychologischen“ Dimensionen der deutsch-französischen Probleme. 31 Die Protektion seiner Verständigungsarbeit durch Robert Bosch erwies sich in der zweiten Jahreshälfte 1932 für Distelbarth als sehr wirksam. Das belegt ein Überblick über seine diversen Aktivitäten in dieser Zeit. Gegen Ende der Reparations-Konferenz von Lausanne wurde am 8. Juli 1932 eine Delegation deutscher und französischer Kriegsopfer-Verbände von den Regierungschefs beider Länder, von Papen und Herriot, empfangen, der auf der deutschen Seite Erich Roßmann und Paul Distelbarth, von der französischen Seite Henri Pichot (Präsident der CIAMAC) und Jean de Watteville (Generalsekretär der CIAMAC) angehörten. Der Bericht von diesem Empfang resümiert den Minimalkonsens, der sich derzeit in der Arbeit der CIAMAC herausgebildet hatte: „Die Herren Pichot und Roßmann haben zunächst die deutschen Minister von dem Wesen und der Organisation der Ciamac unterrichtet, die heute mehr als vier Millionen ehemaliger Kriegsteilnehmer der europäischen Länder umfaßt. Wiederholte Beschlüsse der Ciamac haben gefordert, daß der deutsch-französische Gegensatz, der die Ursache so vieler Kriege in Europa gewesen ist, endlich verschwinde und an seine Stelle eine enge Zusammenarbeit der europäischen Nationen und insbesondere der beiden benachbarten Völker trete. Denn nur diese Zu- 29 Brief vom 8. Juni 1932 an Paul Reusch. 30 Brief vom 10. Juni 1932 an Paul Reusch. 31 Paul Distelbarth: „Deutschland - Frankreich, das psychologische Problem“, in: Stuttgarter Tagblatt vom 9.Juni 1932. <?page no="216"?> 216 sammenarbeit kann den europäischen Frieden und die Wiederbelebung der Wirtschaft verbürgen. Herr Pichot hat hinzugefügt, daß die Regierungen und die Völker sich ein Beispiel an denen nehmen sollten, die sich vier Jahre lang in den Schützengräben gegenübergelegen haben und doch als erste den Mut fanden, den Geist der Feindseligkeit zu überwinden, vertrauensvolle Beziehungen wieder anzuknüpfen und ohne Groll miteinander zu arbeiten.“ 32 Ein Bericht Distelbarths von Ende Juli 1932 belegt seine vielfältigen Kontakte bei den Anciens Combattants, aber zunehmend auch bei den Vertretern der französischen Industrie. Er hatte bei einem erneuten Paris-Aufenthalt im Auftrage Boschs, Verbindungen zu Repräsentanten der Stahl- und der chemischen Industrie herzustellen versucht. Zu diesem Zweck wollte er insbesondere Pierre Viénot und Frank Rümelin als Vertreter des „Deutsch-französischen Studienkomitees“ (Mayrisch-Komitee) 33 aufsuchen, traf aber beide im Sommermonat Juli nicht in Paris an. Robert Bosch gehörte nicht dem seit 1926 existierenden Mayrisch-Komitee an, in dem ein Teil der französischen Großindustrie zeitweilig intensive Kontakte zu deutschen Industriellen unterhielt. 34 Das „Deutsch-Französische Studienkomitee“ war seit 1930 in eine Krise geraten und Boschs Pläne zielten möglicherweise auf dessen Reaktivierung. Auch erfuhr Distelbarth, daß das 1931 gegründete offizielle „Deutsch-französische Wirtschaftskomitee“, das nach dem Berlin-Besuch von Regierungschef Pierre Laval und Außenminister Aristide Briand gegründet worden war, 35 einen Teil der Kräfte band, die an der Zusammenarbeit mit Deutschland interessiert waren; sie schienen für Boschs Initiative nicht gewinnbar zu sein. Gleichwohl setzte dieser seine Verständigungs-Initiative auf breiter Front bis zum Jahresende 1932 fort. Er war zeitweilig im Gespräch als Retter der Deutsch- Französischen Gesellschaft, die unter dem doppelten Druck der Weltwirtschaftskrise und der Verschlechterung der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich ihrerseits in die Krise geraten war. 36 Noch im Dezember 1932 fuhr Robert Bosch, begleitet von Paul 32 Empfang von Kriegsteilnehmern durch Reichskanzler von Papen und Ministerpräsident Herriot, Ms. im Bosch-Archiv, Blatt 1. Cf. auch zu den Empfängen in Lausanne Roßmann, op. cit., p. 43sqq., und Distelbarth: Lebendiges Frankreich, op. cit., p. 203sqq. 33 Bericht Paul Distelbarth an Robert Bosch vom 25. Juli 1932, im Bosch-Archiv. 34 Cf. Hans Manfred Bock: „ Emile Mayrisch und die Anfänge des Deutsch-Französischen Studienkommitees“, in: Galerie. Revue culturelle et pédagogique, Luxembourg, 1992 n° 4, p. 560-585 und Guido Müller: Europäische Gesellschaftsbeziehungen nach dem ersten Weltkrieg, München 2005. 35 Cf. zu diesem Wirtschaftsausschuß, der noch einer genaueren Darstellung bedarf, André François Poncet: Botschafter in Berlin 1931-1938, Berlin, Mainz 1962, p. 31sqq. 36 Cf. dazu näheres in meinem Aufsatz: „Die Deutsch-Französische Gesellschaft“, loc. cit., p. 92sqq. <?page no="217"?> 217 Distelbarth, nach Paris, um dort Gespräche u.a. mit dem Vertreter des Mayrisch-Komitees, Frank Rümelin, zu führen. 37 Distelbarth war anhaltend optimistisch hinsichtlich der Möglichkeit, die deutsch-französischen Beziehungen zu verbessern, und er sah nach seinen ermutigenden Frankreich-Erfahrungen das Hauptproblem auf der deutschen Seite. Diese Sicht des deutsch-französischen Problems legte er in seinem Bericht an Robert Bosch vom 25. Juli 1932 dar: „Meine letzten Erfahrungen in Frankreich haben mich in der Auffassung bestärkt, daß das Schwergewicht einer Verständigungsarbeit jetzt nach Deutschland gelegt werden muß. In Frankreich wird man ohne Mühe die nötigen Männer gewinnen. In Frankreich ist die Idee, daß nur durch eine Zusammenarbeit von Deutschland und Frankreich die Lage in Europa gerettet werden kann, heute schon in allen Schichten der Bevölkerung verbreitet. Auch die Nationalisten bestreiten das nicht, sie behaupten nur, uns Deutschen dürfe man leider eben nicht trauen, sonst wäre die Sache schön und gut. Auch im offiziellen Frankreich tritt der Wandel deutlich zutage. Am 14. Juli habe ich in Gap gesprochen. An sich ist es schon außerordentlich, daß am Nationalfest, an dem sonst die Wogen des Patriotismus hochgehen, die Anciens Combattants eine große Friedenskundgebung veranstalten und dazu einen Deutschen als Redner einladen. (Auch in Gap haben gewisse Kreis erfolglos dagegen protestiert). Aber noch bemerkenswerter ist, daß an dem auf die Versammlung folgenden Bankett alle offiziellen Persönlichkeiten teilnahmen, der Präfekt (Regierungspräsident), Bürgermeister, Bischof und die Spitzen aller Behörden, und daß dabei der Präfekt eine schwungvolle Rede hielt, ‚pour saluer les grandes âmes’ (das war ich) qui viennent d’au-delà des frontières nous porter la parole de la paix’ usw. Immer wieder wird mir in Frankreich gesagt: Sie müssen nach Deutschland gehen und dort den Leuten sagen, wie wir gesinnt sind; denn in Deutschland weiß man es nicht. Natürlich sind auch in Frankreich noch viele Irrtümer und Mißverständnisse auszuräumen, aber die Hauptarbeit ist in Deutschland zu leisten und ich halte diese Arbeit für aussichtsreich.“ 38 Einen seiner Artikel über die „Friedenskartelle“ in Frankreich hatte zwar das Stuttgarter Tagblatt anscheinend aus politischen Gründen zurückgewiesen. 39 Distelbarth fand aber seit 1932 eine wirkungsvolle Tribüne für seine Frankreich-Berichte und -Reflexionen unter anderem im Publikationsorgan der Deutsch- Französischen Gesellschaft. 40 In einem dieser Aufsätze formulierte er erstmals seine Basisannahmen zu den Gesellschaftsbeziehungen zwischen 37 Cf. Theodor Heuss, op. cit., p. 427. 38 Bericht Paul Distelbarth an Robert Bosch vom 25. Juli 1932, loc. cit. Distelbarth beschreibt die Episode in Gap in: Lebendiges Frankreich, op. cit., p. 288sqq. 39 So Distelbarths Bericht an Robert Bosch vom 25. Juli 1932, p. 2. 40 Cf. Paul Distelbarth: „Der Abgrund zwischen Deutschland und Frankreich“, in: Deutsch-Französische Rundschau, 1932, p. .698-710; ders.: „Sind die Franzosen ein dekadentes Volk? “, in: ibid. 1933, p. 145-155, und öfter. <?page no="218"?> 218 Deutschland und Frankreich, an denen er sein Leben lang festhielt: „1. Die Unterschiede zwischen uns sind viel mehr eingebildet als wirklich. 2. Es gibt kein zweites Volk, dem sich die Franzosen so verwandt fühlen, wie das deutsche Volk.“ 41 Von diesen Voraussetzungen her stellte er prinzipiell das in Deutschland verbreitete und durch die kulturkundliche Nationalpädagogik geförderte Gegensatz-Denken im Verhältnis zu Frankreich in Frage, 42 ohne jedoch die Kategorien der nationalcharakterologischen Sichtweise ganz hinter sich zu lassen. 2. Zwischen politischem Exil und diplomatischer Repräsentanz des Dritten Reichs in Paris 1933-1939 Das kometenhafte Auftauchen Paul Distelbarths in den deutsch-französischen Gesellschaftsbeziehungen der Jahre 1931 bis 1933, in denen auf der diplomatischen Ebene die Konfliktanlässe sich häuften, verlief nicht ohne Anfeindungen. In Frankreich wurde er Ende 1932 in den Kreisen der politischen Rechten als „Agent des Herrn von Neurath“ verdächtigt, 43 aber insbesondere in Deutschland setzte er sich mit seiner emphatischen Sympathie-Werbung für Frankreich größeren Gefahren aus, als er selbst ahnte. In seinem Bericht an Robert Bosch hatte er Ende Juli 1932 noch geschrieben, er habe den Eindruck, daß „sogar in Hitlerkreisen“ die Auffassung anzutreffen sei, der deutsch-französische Friede sei ein Gebot des gesunden Menschenverstandes. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung suchte Joachim von Ribbentrop Anfang März 1933 das Gespräch mit Distelbarth, um ein Kontaktnetz nach Frankreich aufzubauen. 44 Das Gespräch blieb anscheinend ohne konkrete Ergebnisse. Um so stärker war die Überraschung Distelbarths, als er nach einem Vortrag vor Anciens Combattants in Paris am 4. April 1933 durch ein Schreiben des Reichsbundes erfuhr, daß die württembergische politische Polizei gegen ihn einen Haftbefehl wegen des Verdachts auf Landesverrat erwirkt hatte. Er beschloß, nicht nach Deutschland zurückzukehren, gleichzeitig aber mit Hilfe der deutschen Botschaft in Paris die Gegenstandslosigkeit der gegen ihn erhobenen Anschuldigungen (militärischer Geheimnisverrat an Frankreich) zu beweisen. Er schrieb in einem Brief Ende Juli 1933: „Niemand wird mir verübeln können, daß ich mich durch eine vorzeitige Rückkehr nicht freiwillig und 41 Distelbarth: „Der Abgrund“, loc. cit., p. 709. 42 Cf. dazu Hans Manfred Bock: „Tradition und Topik des populären Frankreich- Klischees in Deutschland von 1925 bis 1955“, in: Francia 14 (1987), p. 475sqq. 43 So Distelbarth in seinem Brief an Albert Seible vom 27. Juli 1933 (Familien-Archiv), p. 2. 44 Cf. Paul Distelbarth: „Die Frage der deutsch-französischen Verständigung“, in: ders., Franzosen und Deutsche. Bauern und Krieger, Calw 1947, p. 170. Dies Kapitel des Buches enthält einen Rückblick auf die Erfahrungen Distelbarths in den dreißiger Jahren. <?page no="219"?> 219 völlig unschuldig einer vielleicht monatelangen Untersuchungshaft aussetzen wollte, die mich zugleich aller Verteidigungsmöglichkeiten beraubt hätte.“ 45 Zu dieser Zeit waren die polizeilichen Untersuchungen gegen Distelbarth bereits ergebnislos abgeschlossen worden, aber er dachte dennoch nicht an eine endgültige Rückkehr auf sein Obstgut bei Heilbronn, sondern er sah sich mit Hilfe seiner französischen Freunde nach einer Erwerbsmöglichkeit in Frankreich um. Er stellte die Bedingung nicht Gefahr zu laufen, „als ‚Pazifist’ oder unter einem anderen Vorwande in Schutzhaft genommen“ zu werden und das Recht zu haben, wieder ins Ausland zurückkehren zu können. Diese Vorsicht war durchaus begründet, da z.B. sein Gönner und Mitstreiter an der Spitze des Reichsbundes, Erich Roßmann, am 10. Juni 1933 in Schutzhaft genommen und bis Ende Oktober im Konzentrationslager festgehalten wurde. 46 Am 19. Juni 1933 war der Zentrumspolitiker und ehemalige württembergische Staatspräsident Dr. Bolz mit der Begründung der „nationalen Unzuverlässigkeit“ verhaftet worden, u. a. aufgrund seiner Mitgliedschaft in der Deutsch-Französischen Gesellschaft. 47 In dieser schwierigen Lage sah sich Distelbarth von Robert Bosch im Stich gelassen, der sein Verhalten mißbilligte, und die Zusammenarbeit zwischen beiden endete mit dem Mißklang einer arbeitsrechtlichen Auseinandersetzung. 48 Distelbarths Situation in Paris gestaltete sich in den folgenden Jahren in der Weise, daß er mit der tätigen Hilfe seiner Freunde unter den Anciens Combattants und in Deutschland durch publizistische Tätigkeit seinen Lebensunterhalt bestreiten und überdies nach Deutschland ein- und ausreisen konnte, zumal er auf die streng kontingentierten Devisen aus dem Reich nicht angewiesen war. Stand anfangs noch die Sorge um die persönliche Sicherheit im Mittelpunkt der Begründung seines Exils in Frankreich, so festigte sich mit den wachsenden publizistischen Erfolgen in beiden Ländern Distelbarths Überzeugung, daß seine vielfältigen Beziehungen unverzichtbar seien als Element der Friedenssicherung im vorpolitischen 45 Brief vom 27. Juli 1933 an Albert Seible, p. 4. 46 Cf. dazu Erich Roßmann, op. cit., p. 43sqq. 47 Cf. dazu Hans Manfred Bock: „Deutsch-Französische Gesellschaft“, loc. cit., p. 94. 48 In einem Manuskript vom 13. September 1933 mit dem Titel „Geschichte meiner Beziehungen zu Herrn Dr. Ing. Robert Bosch, Stuttgart“ (Familien-Archiv Distelbarth) präzisiert Distelbarth, Bosch habe ihm mit Schreiben vom 25. April 1933 mitgeteilt, daß ein schwerwiegender Verdacht gegen ihn vorliege und daß er mit der sofortigen Kündigung seines Vertrages rechnen müsse, wenn er nicht umgehend nach Deutschland zurückkehre. Nach Darlegung seiner Gründe für das Verbleiben in Paris habe er keine Nachricht mehr erhalten bis zum 10. Juli 1933. In einem Brief mit diesem Datum teilte Bosch mit, er betrachte den Vertrag mit Wirkung von Anfang April 1933 für beendet, weil Distelbarth nicht zurückgekehrt sei und weil die Politische Polizei ihm, Robert Bosch, untersagt habe, Distelbart weiterhin im Dienste der Verständigungs-Bestrebungen mit Frankreich zu beschäftigen. Die arbeitsrechtliche Verhandlung fand am 15. September 1933 in Stuttgart statt. <?page no="220"?> 220 Bereich. Bereits nachdem er sich entschlossen hatte in Frankreich zu bleiben, bekundete er im Apri 1934 seinen Glauben an eine besondere Mission zwischen beiden Ländern: „Erstens, bleibe ich auf dem Laufenden und erfahre, was vorgeht. Aus den Zeitungen allein kann man das nicht erfahren. [...] Zweitens habe ich im Laufe der Zeit soviele wertvolle Beziehungen geknüpft, die ich aufgeben müßte, ohne die Gewißheit zu haben, sie einmal wieder anknüpfen zu können und die für die Versöhnung zwischen Deutschland und Frankreich vielleicht einmal sehr notwendig sein werden, daß es mir wie eine Pflicht erscheint, hier auszuhalten.“ 49 Besonders gegen Ende seiner Pariser Jahre, als die Haltbarkeit des Friedens immer fragwürdiger wurde, formulierte er mehrfach dieses Bewußtsein. Z.B. wenn er am 4. Juli 1939 schrieb, daß ihn bisweilen der Mut verlasse. „Aber andererseits fühle ich sehr deutlich, daß ich hier eine Pflicht zu erfüllen habe, indem ich als einziger Deutscher noch einen wirklichen und unmittelbaren Kontakt mit Frankreich, dem wirklichen Frankreich, aufrechterhalte. Wenn ich auch wegginge, wäre gar niemand mehr da, und ich komme doch auch mit ganz wichtigen Leuten zusammen, die auf das hören, was ich sage.“ Zu den Voraussetzungen für die Ausübung einer solchen Vermittler-Funktion zwischer Frankreich und Deutschland gehörte es nach Distelbarths Situations-Auffassung, daß er sich von den politischen Exilanten aus dem Dritten Reich in Paris demonstrativ fernhielt. Bereits in seinem Lagebericht vom 27. Juli 1933 schrieb er: „Ich habe hier sorgfältig jede Berührung mit den Emigranten vermieden, mit denen ich mich nicht identifiziere. Wo ich es kann, arbeite ich aller Verhetzung entgegen.“ 50 Einen noch schärferen Zug nahm diese Distanzierung an in einem seiner letzten Briefe aus Paris vom 4. August 1939, wo er schrieb: „Die Emigranten hoffen natürlich alle auf Krieg, mit Inbrunst, und daß Deutschland kaputt gehen soll.“ 51 Diese öfters beiläufig formulierte Distanzmarkierung zu den politischen Exilanten in seinen privaten Briefen vertrat er jedoch nicht in seinen Schriften. 52 Außerdem gehörten zu Distelbarths engsten Bekannten in den Pariser Jahren eine ganze Reihe von Emigranten, die wie sein lebenslanger Freund Hans Rothe (1894-1977) aus politischen Gründen oder wegen rassistischer Verfolgung (ein junger Neurologe namens Dr. Jacoby und der vormalige DFG-Aktivist 49 Brief Paul Distelbarth an Hilde Distelbarth (im folgenden abgekürzt PD an HD) vom 13. April 1932, p. 1. 50 Brief PD an Albert Seible vom 27. Juli 1933, p. 4. 51 Brief PD an HD vom 4. August 1939, p. 3. 52 Er erwähnt sie einmal in seinem rechtfertigendem Vorwort zur 2. Auflage von Lebendiges Frankreich. Dort schrieb er (p. 2): „Von Freimaurern, Juden und Emigranten ist deshalb nicht die Rede, weil sie schlechterdings nicht zu den lebendigen Kräften des französischen Volkes gerechnet werden können. Dann hätte man auch von den Einflüssen des fremden Geldes (des italienischen z.B., das mit Juden und Freimaurern nichts zu tun hat), der internationalen Rüstungsindustrie, des Generalstabes, der katholischen Kirche reden müssen.“ <?page no="221"?> 221 und Kaufmann aus Frankfurt Kahn-Freund) 53 Deutschland verlassen hatten und sich nach 1945 niemals wieder dort niederließen. Distelbarths Distanz zum politischen Exil war im wesentlichen strategisch bedingt. Eine Einbeziehung oder auch nur Zurechnung zu den deutschen politischen Emigranten hätte seine öffentliche Wirkung in beiden Ländern zunichte gemacht. Aber sie war auch nicht vereinbar mit seiner Auffassung von nationaler Loyalität und mit seiner Zielsetzung der Friedenssicherung um jeden Preis. Während seine Kontakte zu deutschen Emigranten in Paris also rein privater Natur blieben, gestalteten sich seine Beziehungen zu den diplomatischen Repräsentanten des Dritten Reichs in der französischen Hauptstadt in mehrschichtiger und wechselnder Weise. Distelbarth war ja durch Robert Bosch beim Auswärtigen Amt unter der Leitung von Neuraths eingeführt worden. Er berichtete, daß er 1932 „wiederholt Aufträge“ für von Neurath ausgeführt habe, ohne jedoch jemals dafür Geld entgegengenommen zu haben. 54 Vor diesem Hintergrund hatte er ein prinzipiell vertrauensvolles Verhältnis zur deutschen Botschaft in Paris und hielt sich im Zusammenhang mit seiner strafrechtlichen Verfolgung in Deutschland zu ihrer Verfügung. Die Ursache und die Beendigung dieser Verfolgung im nationalsozialistischen Deutschland war allerdings nicht beim Auswärtigen Amt zu suchen, sondern bei der NSDAP- Führung. Bei ihr intervenierte Anfang August 1933 der Kabinetts-Direktor von Regierungschef Edouard Daladier, Edouard Pfeiffer, zugunsten Distelbarths, als ein nationalsozialistischer Emissär zum Zwecke der Fühlungnahme mit Pariser Regierungsvertretern auftauchte. 55 Er erreichte die Zusagen, daß Distelbarths Fall unverzüglich abgeschlossen und sein beschlagnahmtes Vermögen wieder freigegeben werden sollte. Beides geschah allem Anschein nach von deutscher Seite bis Ende 1933. Distelbarth hielt sich um die Jahreswende 1933/ 1934 längere Zeit in Deutschland auf und blieb auch nach seinem Entschluß, weiterhin in Paris zu leben, in Kontakt mit dem Auswärtigen Amt in Berlin, wo er z.B. Ende Juni 1934 Gespräche führte. 56 Auch von Ribbentrop versuchte noch einmal im Juli 1934, das Gespräch vom Vorjahr mit Distelbarth wieder aufzunehmen, aber dieser blieb sehr skeptisch und schrieb an seine Familie: „Ich bin natürlich 53 Dr. Jacoby emigrierte 1934 in die USA, Richard Kahn-Freund nach England. 54 Brief PD vom 27. Juli 1933 an Albert Seible, p. 2. 55 So die Darstellung Edouard Pfeiffers gegenüber Distelbarth, wiedergegeben im Brief PD an HD vom 1. Oktober 1933, p. 2. Distelbarth gibt Pfeiffers Bericht so wieder: „Pfeiffer hätte diesem Herrn erwidert, solange in Deutschland alle die Männer verfolgt würden, die für die deutsch-französische Verständigung gearbeitet hätten, könne die französische Regierung an die Aufrichtigkeit solcher Annäherungsversuche nicht glauben. Er habe dann meinen Fall genannt und gesagt, alle maßgebenden Leute in Frankreich kennten meine Tätigkeit und wüßten, in welchem Geiste ich immer gearbeitet hätte ...“. 56 Brief PD an HD vom 1. Juli 1934. <?page no="222"?> 222 jederzeit bereit, meine Kenntnisse und Beziehungen wieder in den Dienst der deutsch-französischen Verständigung zu stellen, aber vorläufig glaube ich noch nicht daran, daß es dazu kommt.“ 57 Er traf den Chef der nationalsozialistischen Paralleldiplomatie dann tatsächlich nicht und begegnete ihm später, im Dezember 1934, nur noch einmal flüchtig auf dem Pariser Ostbahnhof. 58 Bei den Nationalsozialisten war der württembergische Publizist aufgrund seiner Tätigkeiten in der Weimarer Republik, aber wohl auch aufgrund der nachdrücklichen Fürsprache, die er von französischer Seite nach seiner Anklage vom April 1933 erhielt, vollends zur persona non grata geworden. Das zeigte sich in drastischer Weise im Laufe des Jahres 1935, während dessen die Bemühungen der „Dienststelle Ribbentrop“ um die Erneuerung der deutsch-französischen Gesellschaftsbeziehungen im Sinne des Nationalsozialismus 59 im Oktober zur Gründung einer neuen Deutsch-Französischen Gesellschaft führten. 60 Diese Neugründung stützte sich im Gegensatz zur bildungsbürgerlichen DFG der Weimarer Republik unter der Regie von Otto Abetz primär auf die Verbände der Jugend und der Kriegsopfer. Der Präsident des pazifistischen Kriegsopfer-Verbandes Union fédérale, Henri Pichot, spielte in diesen Vorbereitungsgesprächen eine führende Rolle. Er traf sich am 2. August 1934 mit dem Vorsitzenden der gleichgeschalteten deutschen Kriegsveteranenverbände 61 und wurde Ende Dezember 1934 von Hitler zu einem spektakulären Interview empfangen. 62 Henri Pichot war aus den Zeiten der CIAMAC-Aktivitäten mit Distelbarth bekannt; er besuchte ihn seit 1934 oft in seiner kleinen Pension in Belleville, im Osten von Paris, und aus der Bekanntschaft wurde eine dauerhafte Freundschaft. Pichot versuchte bei seinen Gesprächen mit den Nationalsozialisten, seinen Freund Distelbarth ins Spiel zu bringen. Diese Bemühungen blieben ebenso ergebnislos wie entsprechende Versuche des 57 Brief PD an HD vom 6. Juli 1934, p. 1. 58 Brief PD an HD vom 6. Dezember 1934, p. 1. Distelbarth sah Ribbentrop dann ein letztes Mal, als er in der Funktion des Lizenzträgers der Heilbronner Zeitung auf der Pressetribüne, der nationalsozialistische Außenminister auf der Anklagebank in den Nürnberger Prozessen saß. Cf. Paul Distelbarth: „Wiedersehen mit Joachim von Ribbentrop“, in: Heilbronner Stimme vom 13. Juni 1946. 59 Cf. dazu Alfred Kupfermann: „Le Bureau Ribbentrop et les campagnes pour le rapprochement franco-allemand 1934-1937“, in: Les relations franco-allemandes 1933- 1939, Paris 1976, p. 87-98. 60 Cf. ibid., p. 95sqq. und Hans Manfred Bock: „Deutsch-Französische Gesellschaft“, loc. cit., p. 97sqq. 61 Cf. den Bericht von Henri Pichot in: Notre Temps vom 1. Dezember 1934: „Les Anciens Combattants sont unanimement favorables aux contacts avec le Reich“. 62 Cf. Le Figaro vom 21. Dezember 1934: „Des Anciens Combattants français s'entretiennent avec Adolf Hitler“. Zu den vorausgegangenen Gesprächen von Vertretern der Union nationale des Combattants, der konservativen Konkurrenzorganisation der Union fédérale, cf. Antoine Prost: Les Anciens Combattants et l’Allemagne, op. cit., p. 138. <?page no="223"?> 223 Vertreters des Deutsch-Französischen Studienkomitees in Paris, Distelbarth als Vermittler für ein öffentliches Gespräch zwischen Pichot und dem Hitler-Stellvertreter Rudolf Hess einzuschalten. 63 Von Pichot erfuhr er nach dessen Rückkehr aus Berlin, die Frage des französischen Botschafters an den Leiter der „Nationalsozialistischen Kriegsopferversorgung“ (NSKOV), warum man sich denn nicht an Distelbarth wende, „der die französischen Fragen und insbesondere die Anciens Combattants genau kenne und nützlich sein könne“, sei ohne Antwort geblieben. 64 Die nationalsozialistische DFG wurde im Oktober 1935 in Berlin gegründet und Pichot übernahm eine führende Rolle in der französischen Parallelorganisation „Comité France-Allemagne“ (CFA). Distelbarth blieb ein außenstehender Kritiker der Organisationsgründung sowie ein skeptischer Beobachter des Engagements seines Freundes Pichot in der DFG/ CFA, das erst nach der antisemitischen Pogromwelle in Deutschland vom November 1938 endete. 65 Im Zusammenhang mit den deutsch-französischen Begegnungs-Aktivitäten der DFG/ CFA schrieb er im Juni 1936 an einen deutschen Freund im Exil: „Auf politischem Gebiet muß ich mich zurückhalten, da die Männer, die in Verständigung machen (und nichts zuwege bringen) Ribbentrop, Oberlindober, Arnim, in mir eine unlautere Konkurrenz sehen und nicht gut auf mich zu sprechen sind.“ 66 In Paris blieb Distelbarth bis Anfang 1939 in indirekter Verbindung mit dem diplomatischen Milieu durch den Sekretär des Deutsch-Französischen Studienkomitees, Frank Rümelin, dessen Bekanntschaft er schon in den Diensten Robert Boschs gemacht hatte und mit dem ihn die gemeinsame landsmannschaftliche Herkunft verband. 67 Eine engere Einbeziehung in das Umfeld der deutschen Botschaft in Paris erfolgte erst, nachdem Distelbarth durch sein Erfolgsbuch Lebendiges Frankreich und dessen französische Version France vivante 1936/ 1937 allbekannt wurde. So war er unter den geladenen Gästen bei der Eröffnung des „Goethe-Hauses“ am 17. Juli 1937 . 68 Durch die Fürsprache des Direktors dieser kulturellen Begegnungsstätte des nationalsozialistischen Deutschland in 63 Brief an den deutschen Botschafter in Paris vom 17. Dezember 1934, PA/ AA Deutsche Botschaft Paris, Akten Kriegsteilnehmer und Kriegsbeschädigte Bd. 1. 64 Brief PD an HD vom 10. Februar 1935. 65 Cf. Henri Pichot: „Pour être lu à Berlin“, in: L’Oeuvre vom 16. November 1938. Distelbarth schrieb zum Comité France-Allemagne (PD an HD vom 12. März 1936): „Der Commandant L’Hôpital hat den Vorsitz im Comité France-Allemagne niedergelegt und das ganze Comité, das nach meiner Meinung nicht lebensfähig ist, wackelt. Pichot ist noch die einzige Stütze.“ 66 Brief PD an Hans Rothe vom 14. Juni 1936 im Rothe-Nachlaß des Deutschen Literatur-Archivs Marbach a. N., Nr. 78.2587/ 2. 67 Dr. Frank Rümelin, der aus einer Heilbronner Bankiersfamilie stammte, hatte von 1932 bis Anfang 1939 die Funktion des Sekretärs des Deutsch-Französischen Studienkomitees in Paris inne; er ging 1939 in die USA und trat später in den Diplomatischen Dienst der Bundesrepublik Deutschland ein. 68 Brief PD an HD vom 19. Juli 1937. <?page no="224"?> 224 Paris erhielt er im Februar 1939 zum ersten und einzigen Mal eine finanzielle Zuwendung zur Förderung seiner Studien in Frankreich in der Höhe von 500 Mark. 69 Mit dem Goethe-Haus pflegte Distelbarth dann lebendigen Umgang, mit der älteren kulturpolitischen Einrichtung, der Zweigstelle des Deutschen Akademischen Austauschdienstes in Paris, 70 sind Beziehungen in seinen Pariser Briefen nicht nachweisbar. Man kann also zusammenfassend sagen, daß Distelbarth in seinen Pariser Jahren 1933-1939 mit den deutschen Exilanten nur punktuell und privat verbunden war, sich öffentlich aber vorsätzlich von ihnen fernhielt, um seine Verständigungsarbeit in beiden Ländern fortsetzen zu können. Zur diplomatischen Repräsentanz des Dritten Reichs in der französischen Hauptstadt stand er in marginalem Kontakt und war prinzipiell zur Zusammenarbeit bereit, die seinem Ziel der Friedenssicherung förderlich erschien. Er wurde jedoch von den Nationalsozialisten aus allen von ihnen unter der Regie Ribbentrops inszenierten Gesellschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und Frankreich ausgegrenzt und verdankte seine relative Unabhängigkeit und Bewegungsfreiheit zwischen beiden Ländern allein der massiven Protektion und Fürsprache seiner zahlreichen französischen Freunde unter den Anciens Combattants, die ihrerseits von den Akteuren der nationalsozialistischen Frankreichpolitik umworben wurden. Distelbarth war zwar ein politisch denkender und handelnder Mann, aber ihm widerstrebte jede Form der parteipolitischen Vereinnahmung oder Einbindung. Er schrieb in den Nachkriegsjahren in einem Brief an seinen Freund Hans Rothe in einer zutreffenden Selbstcharakterisierung: „Zeit meines Lebens war ich ein Außenseiter und ein Einzelgänger; das war, äußerlich, meine Schwäche, innerlich meine Stärke.“ 71 Im Rückblick meinte Distelbarth, er sei in den Jahren seines Exils in Frankreich eher von der Armee als von der Partei bedroht gewesen: „Die Armee ließ mich in Ruhe, nachdem ich meine Unschuld hatte beweisen können, und die Parteibonzen trauten sich nicht an mich heran, solange ich ihnen keinen Anlaß lieferte.“ 72 Entsprechend zurückhaltend im politischen Kommentar waren seine „Erzählbriefe“, die er aus Paris an seine Familie schickte und von denen er wußte, daß sie von der Zensur in Deutschland mitgelesen wurden. Aufschlußreicher als diese Briefe und seine Veröffentlichungen der dreißiger Jahre ist ein Dokument, das unveröffentlicht blieb und das er in den Jahren 1936/ 37 niederschrieb, um seiner Empörung über die nationalsozialistische 69 Brief PD an HD vom 8. Februar 1939. 70 Über das Goethe-Haus in Paris ist bislang wenig bekannt; zur DAAD-Zweigstelle Cf. Béatrice Pellissier: „ L’antenne parisienne du DAAD à travers les archives de l’Auswärtiges Amt de Bonn jusqu'en 1939“, in: Bock, Meyer-Kalkus, Trebitsch: Entre Locarno et Vichy, op. cit., p. 273-285, und: Dieter Tiemann: „Zweigstelle Paris des DAAD und Institut Français de Berlin“, in: Ibid., p. 287-300. 71 Brief PD an Hans Rothe vom 11. April 1948. 72 Brief PD an Hans Rothe vom 14. März 1949. <?page no="225"?> 225 Diktatur zum Ausdruck zu verhelfen. Es war eine „Komödie in vier Aufzügen und einem Nachspiel aus der Hitlerzeit“ mit dem Obertitel „Der Herr Kreisleiter“, in die der externe Beobachter des Dritten Reichs seine Gefühle und Urteile hineinprojizierte. Dort ließ er, eingefügt in eine zwischen Burleske und Groteske schwankende Handlung, den positiven Helden z.B. sagen: „So weit haben einen die gebracht: entweder verrecken oder lügen. Anders gehts nicht in Deutschland. Adolf Hitler hat aus den Deutschen ein Volk von Kriechern und Lügnern gemacht. Das ist der größte Vorwurf, den ich ihm mache.“ 73 Dieses Theaterstück, dem er unter all seinen belletristischen Versuchen bis Ende seines Lebens die größte Bedeutung zumaß, zeigt die Stärke, aber auch die Grenzen seiner politischen und mentalen Opposition zum Nationalsozialismus. Bei unzweideutiger Verurteilung der NS-Diktatur im Inneren des Dritten Reiches, klammerte er sich trotz allen Völkerrechts-Verletzungen und internationalen Provokationen Hitlers an die Hoffnung auf die Rettung des Friedens. Er lernte die außenpolitische Aggressivität in den mit den Nationalsozialisten verbündeten gesellschaftlichen Führungsschichten des Dritten Reiches kennen, 74 glaubte jedoch, daß ihre Gefährlichkeit durch die Festigkeit der Demokratien 75 und durch die Fortsetzung der vertrauensbildenden Gesellschaftskontakte zwischen Deutschland und Frankreich, die seit der Locarno-Ära geknüpft worden waren, gebannt werden könnte. In diesem Sinne faßte er seine publizistische Tätigkeit auf, mit der er seinen Lebensunterhalt während der Pariser Jahre bestritt. Er war beim deutschen Konsulat in Paris mit der Berufsbezeichnung „Schriftsteller“ eingetragen und war somit nicht Mitglied der „Vereinigung der Korrespondenten deutscher Zeitungen in Paris“, deren Mitglieder seit 1937 Nationalsozialisten sein mußten. 76 Distelbarth schrieb aber gleichwohl regel- 73 Paul Distelbarth: Der Herr Kreisleiter. Komödie in vier Aufzügen und einem Nachspiel aus der Hitlerzeit, Ms., 68 maschinenschriftliche Seiten; Zitat ebenda, p. 67 ; das Ms. befindet sich im Nachlaß Hans Rothe im Deutschen Literatur-Archiv Marbach a. N. Der positive Held des Stückes jubelt (Ms. p. 62 ), nachdem er die Grenze ins Elsaß illegal überschritten hatte: »Aus mit der Gestapo, die jeden verhaften und ins KZ schicken oder in Keller führen und einfach erschießen kann, und da kräht kein Hahn danach. Aus mit den scheißbraunen Uniformen, mit Hackenzusammenschlagen und Heil-- Hitler-Rufen! Aus mit SA-Dienst und Luftschutz und Blockwart, mit Spitzeln und Denunzianten! Jetzt sind wir frei! “ 74 Dazu im Rückblick drastische Beispiele in: Distelbarth: Die Frage der deutschfranzösischen Verständigung, loc. cit., z.B. p. 166 aus einem Gespräch mit Staatssekretär von Bülow. 75 So schrieb er z.B. am 11. Dezember 1936 an Hans Rothe: „Es freut mich, daß Sie zuversichtlich sind. Ich war sehr bedrückt in letzter Zeit, weil ich den Krieg für unvermeidlich hielt. Aber jetzt schöpfe ich wieder Hoffnung. Wenn England, Frankreich und Amerika zusammenhalten, werden die Krieger klein beigeben müssen.“ Rothe- Nachlaß im Deutschen Literatur-Archiv, Marbach a. N. 76 So Distelbarth in einem Brief an HD vom 25. November 1937. <?page no="226"?> 226 mäßig Frankreich-Berichte für einige große Zeitungen deutscher Sprache (Berliner Tageblatt, Bohemia in Prag, Basler Nachrichten) und über die deutsch-französischen Beziehungen in der Presse der Anciens Combattants, deren Periodika nach Hunderten zählten. 77 Aufschlußreich über die politisch-intellektuellen Aktivitäten des deutschen Publizisten in Paris sind seine Arbeitskontakte zu Kulturzeitschriften im Dritten Reich. In der von Martin Rade seit 1887 herausgegebenen „Christlichen Welt“ brachte Distelbarth ab 1932 eine neue Farbe in das Frankreich-Bild der evangelischen Presse, das grundiert war durch eine Verbindung von protestantischem Selbstbewußtsein und betontem Nationalbewußtsein. 78 In seinem Bericht über „Französische Wandlungen“ brach er im Juni 1932 eine Lanze für die Neubewertung der deutsch-französischen Beziehungen: „Ein neuer Glaube keimt jetzt im französischen Volk, dieser Glaube: Deutschland und Frankreich müssen sich zusammenschließen, vorher wird keine Ruhe; aber dann kann niemand mehr den Frieden stören.“ 79 Rade stand dauerhaft mit Distelbarth in persönlichem und intellektuellem Kontakt. Er war der politische Weggefährte Friedrich Naumanns vom Nationalsozialen Verein der Vorkriegsbis zur Deutschen Demokratischen Partei (DDP) der Nachkriegs-Zeit. In der Zeitschrift Naumanns „Die Hilfe“, die bis 1936 unter der redaktionellen Leitung von Theodor Heuss 80 erschien, schrieb Distelbarth bis 1939 die größte Zahl seiner aktuellen Frankreich-Analysen. 81 Neben diesen liberal-sozialen publizistischen Arbeitskontakten in Deutschland verbanden den pazifistischen Frankreich-Experten enge persönliche Beziehungen zu einer der markantesten Persönlichkeiten des intellektuellen 77 Cf. dazu Distelbarth: Lebendiges Frankreich, op. cit., p. 137sq. 78 Cf. dazu auch die Studie Rainer Lächele: „Frankreich und der französische Protestantismus in der Zeit der Weimarer Republik. Perspektiven protestantischer Publizistik in deutschen Kirchenzeitungen und Zeitschriften“, in: Revue d'Allemagne XXI (1989) p. 531-551; dort zu Distelbarth, p. 537. 79 Paul Distelbarth: „Französische Wandlungen“, in: Christliche Welt vom 11. Juni 1932. 80 Distelbarth besuchte Heuss einige Male bei seinen Berlin-Aufenthalten. Er schrieb gelegentlich (PD an HD vom 16. November 1934): „Gegenwärtig habe ich einen Artikel für die Hilfe in Arbeit. Da muß ich mir Mühe geben, weil Heuss sehr anspruchsvoll ist. Im allgemeinen mache ich ja keine Konzepte; aber in diesem Falle doch. Der Heussle korrigiert mir immer in meinen Artikeln herum, um sie zu ‚straffen’, wie er das nennt.“ Am 15. Januar 1937 schrieb er resigniert an seine Frau: „Theodor Heuss haben sie nun aus der ‚Hilfe’ auch hinausgedrückt. Sein Nachfolger ist ein Herr Axel Schmidt, ein Balte. Er schrieb und bat um weitere Mitarbeit.“ 81 Im Jahre 1934 unter dem Pseudonym Peter Barth, ab 1935 mit seinem richtigen Namen. Z.B.: „Frankreichs innere Entwicklung“, in: Die Hilfe, 1934, Nr. 10, p. 231sqq.; „Frankreichs politischer Weg“, in: ibid., Nr. 16, p. 369sqq.; „Frankreich nach dem Sturz Doumergues“, in: ibid., Nr. 23, p. 597sqq.; „Frankreich zwischen England und Italien“, in: Die Hilfe, 1935, Nr. 21, p. 488sqq.; „Frankreich nach den Wahlen“, in: Die Hilfe, 1936, Nr. 10, p. 227sqq.; „Rückblick in Frankreich“, in: ibid., Nr. 17, p. 395sqq. usw. Sein letzter Beitrag erschien 1940/ 41, also nach der Rückkehr aus Paris; cf. dazu unten Anm. 167. <?page no="227"?> 227 Konservatismus der Weimarer Republik, dem Gründer des „Deutschen Herrenklubs“, Heinrich von Gleichen (1882-1959). 82 Die Grundlage dieser Verbindung zu von Gleichen und seiner Zeitschrift „Der Ring. Konservative Wochenschrift“ war das Interesse an der deutsch-französischen Annäherung, das seit den mittleren Jahren der Weimarer Republik im „Deutschen Herrenklub“ unter maßgeblichem Einfluß von Papens und des Kali- Industriellen Arnold Rechberg entwickelt worden war. 83 Es war allerdings eine machtpolitische Konzeption der deutsch-französischen Annäherung, eine flexiblere Variante des Revisionismus unter Einschluß der militärischen Aufrüstung, die im „Deutschen Herrenklub“ vertreten wurde und die für den Pazifisten Distelbarth unannehmbar war. Es blieb deshalb die sehr persönliche Verbindung mit von Gleichen und es war nicht die Einbeziehung in den Deutsche Herrenklub, die den Pariser Exilanten zur Mitarbeit am „Ring“ veranlaßte. 84 Nachdem der elitäre, jungkonservative Klub und der „Ring“ sich nach dem 30. Januar 1933 anzupassen versucht hatten, wurde die Organisation bald schon von den Nationalsozialisten zerschlagen, 85 die Zeitschrift erhielt ein neues Gesicht als „Wirtschafts-Ring“ und veröffentlichte u. a. devote Artikel im Hofberichterstattungs-Stil über Hitlers Tun. Otto Abetz versuchte noch im März 1936, Distelbarth bei einer Begegnung in Paris auszufragen über seine Beziehungen zum „Herrenklub“; dieser schrieb dazu an seine Familie: „Ich habe doch gar keine, nur zu von Gleichen.“ 86 Außer dem gemeinsamen Wirken für die deutschfranzösische Annäherung mochten ihn mit Heinrich von Gleichen Elemente konservativen Denkens verbinden, die bisweilen in seinen Überlegungen in der Form einer organologischen Gesellschaftsauffassung dargelegt wurden. 87 82 Cf. dazu Yuii Ishida: Jungkonservative in der Weimarer Republik. Der Ring-Kreis 1928- 1933, Frankfurt/ Main 1988, bes. p. 51sqq. 83 Dazu eingehend ibid., p. 107sqq.: „Das außenpolitische Konzept: Das Plädoyer für die deutsch-französische Verständigung.“ 84 Die persönlichen Beziehungen Distelbarths zu von Gleichen dauerten bis über das Ende des Zweiten Weltkrieges hinaus; mündliche Auskunft der Familie Distelbarth/ Rittelhof. 85 Cf. dazu Ishida, op. cit., p. 255sqq. 86 Brief PD an HD vom 5. März 1936, p. 1. 87 So insbesondere in der Einleitung zu Distelbarth: Neues Werden in Frankreich, op. cit., p. 7-22. Der Autor übernahm Teile dieser Darlegung seiner Weltsicht in die erste Nachkriegsausgabe von Lebendiges Frankreich; Cf. ders. Lebendiges Frankreich, Stuttgart, Hamburg, Baden-Baden 1948, p. 15sqq. <?page no="228"?> 228 3. Die französische Gesellschaft im Spiegel der Kriegsopfer-Verbände Im letzten ausgesprochen programmatischen Artikel zu seiner Konzeption der deutsch-französischen Annäherung, den er im Dezember 1934 im „Ring“ veröffentlichte, 88 verdeutlichte Distelbarth noch einmal die Bedeutung, die er den Kontakten zwischen den mitgliederstarken Kriegsopferverbänden in Deutschland und Frankreich zuschrieb. Obwohl er inzwischen alle Beziehungen zu den, in der „Nationalsozialistischen Kriegsopferversorgung“ (NSKOV) gleichgeschalteten, deutschen Organisationen abgebrochen hatte, sah er in ihnen nach wie vor den wirkungsvollsten Hebel für die Herbeiführung deutsch-französischer „Versöhnung“. Diese hielt er nun prinzipiell für schwieriger als vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Er schrieb mit einem kritischen Blick auf die gescheiterte Verständigungs-Strategie der Eliten, die er ja aus der Nähe kennengelernt hatte: „Die Eliten können nicht von den Denkfolgen los, die ihnen ins Blut übergegangen sind: Civilisation, gloire, frontières naturelles, invasion auf der einen Seite; Erbfeind, Vernichtungswille, Richelieu, Napoleon, Versailles auf der anderen. Das Volk weiß von diesen Dingen nichts. Es will in Frieden seiner Arbeit nachgehen und etwas fürs Alter zurücklegen - in Deutschland genau wie in Frankreich.“ 89 Das Volk, einen Querschnitt der französischen Gesellschaft, sah Distelbarth repräsentiert in den Kreisen der Kriegsopfer-Verbände, von denen allein die ihm nahestehende Union fédérale im Jahre 1932 936.000 Mitglieder zählte. 90 Durch sie erschloß sich ihm das ländlich-kleinbürgerliche Frankreich der späten Dritten Republik, in dem er alle Tugenden, Nöte und Hoffnungen wiederfand, die er aus dem kleingewerblichen Mittelstandsmilieu in Deutschland kannte. Es war diese Art von gesellschaftlicher Wahlverwandtschaft, die Distelbarth nicht nur die Augen öffnete für Tiefenstrukturen der französischen Gesellschaft, die Beobachtern mit anderen Voraussetzungen verborgen blieben, sondern die ihm auch die Aufgeschlossenheit und Sympathie seiner französischen Gesprächspartner sicherte. Man wird den ungewöhnlichen Erfolg seines ersten Frankreich-Buches (Lebendiges Frankreich) von 1936 in Deutschland 91 zu einem guten Teil aus diesen besonderen Voraussetzungen Distelbarths zu erklären haben. Er beschrieb ein Frankreich, das nicht durch Hegemoni- 88 Paul Distelbarth: „Zur Frage der Versöhnung zwischen Deutschland und Frankreich“, in: Der Wirtschaftsring, 1934, p. 750sqq. Der Artikel wurde in der auflagenstarken Zeitung „Lu“ in Frankreich in Übersetzung nachgedruckt. 89 Ibid., p. 750. 90 Antoine Prost: Les Anciens Combattants français et l’Allemagne, loc. cit., p. 132. 91 Zur Entstehung und Rezeption des Buches cf. Hans Manfred Bock: „ Paul Distelbarths ‚Lebendiges Frankreich’. Dokument verdeckter Opposition und verständigungspolitischer Kontinuität im Dritten Reich“, in: Jahrbuch Exilforschung, Jg. 1994, p. 99-113. <?page no="229"?> 229 alwillen gefährlich, durch Kulturarroganz einschüchternd oder durch den demographischen Niedergang dekadent erschien, sondern ein Land, das bei aller offensichtlichen Verschiedenheit doch auch gleichartig und damit sympathisch war. Das Ausmaß und die Intensität, mit der Distelbarth in das Organisations- und Gesellschaftsleben der Anciens Combattants in Frankreich einbezogen wurde, wird erst durch seine „Erzählbriefe“ aus Paris erkennbar, obwohl er schon in Lebendiges Frankreich zahlreiche Beispiele dafür gab. Wichtig waren für seine Innenansicht des Frankreich der dreißiger Jahre gleichermaßen seine zahlreichen Vorträge, die er seit Ende 1931 in den verschiedensten Regionen der Provinz hielt, wie seine engen Kontakte mit dem Bureau national der Union fédérale in Paris, dem politischen Entscheidungszentrum der Organisation. Charakteristisch für die pazifistische Grundeinstellung der französischen Kriegsopferverbände war es, daß man bei öffentlichen Veranstaltungen oft einen Redner aus Deutschland zu Worte komme ließ. 92 Distelbarths zahlreiche Auftritte in den Provinzstädten wurden auf diese Weise ermöglicht. Er beschreibt gelegentlich, wie er durch eine Empfehlungs-Stafette von einer Ortsgruppe der Union fédérale (oder der Gemeinschaft der lokalen Verbände der Kriegsveteranen) zur nächsten vermittelt wurde. Meist wurde er bei diesen Vorträgen flankiert von Rednern der Kriegsteilnehmer, der Liga für Menschenrechte, des Parti radical, der SFIO oder der Gewerkschaften. 93 In Orléans z.B. trat er am 12. Februar 1933 gemeinsam mit Henri Pichot auf Einladung der „Association des Mutilés du Loiret“ und der „Ligue d'Etudes Germaniques“ auf; er kritisierte die Klischees vom statischen Frankreich und dynamischen Deutschland, wie sie Friedrich Sieburg vertrat, und plädierte für die Revision des Vertrags von Versailles sowie ein wechselseitiges Sicherheitsgarantie-Abkommen zwischen beiden Ländern. 94 Distelbarth, der auch in schwieriger finanzieller Situation seinen Beitrag zum Kyffhäuserbund zahlte, 95 hielt bei dergleichen Veranstaltungen mit seinem Habitus als Frontkämpfer und mit seinem Nationalbewußtsein nicht zurück, was in Verbindung mit seinem glaubwürdigen Friedenswillen durchaus von den französischen Zuhörern honoriert wurde. Er war Gast auf fast allen nationalen Jahreskongressen der Union fédérale, die ihm als „Querschnitt durch das ganze französische Volk“ 96 erschienen, und gelegentlich außerdem auf den Tagungen des Verbandes auf Département-Ebene. Er konnte selbst an Sitzungen des Conseil fédéral teilnehmen, den Versammlungen der Dele- 92 Cf. Prost: Les Anciens Combattants français et l’Allemagne , loc. cit., p. 139. 93 Cf. Distelbarth: Lebendiges Frankreich, op. cit., p. 145. 94 So ein Bericht in Se connaître. Organe bimestriel de la Ligue d'Etudes Germaniques, mars/ avril 1933, p. 63. Weitere Distelbarth betreffende Beispiele in Prost: Les Anciens Combattants et la société française, op. cit., tome III, p. 114. 95 Mündliche Auskunft der Familie Distelbarth, Rittelhof/ Löwenstein. 96 Distelbarth: Lebendiges Frankreich, op. cit., p. 188. <?page no="230"?> 230 gierten aus ganz Frankreich. Die Sitzung des Conseil fédéral vom 13. Januar 1935 , auf der Henri Pichot über die Unterredung mit Hitler berichtete, schilderte er in folgender Weise, die den offenen und herzlichen Umgang mit dem Führungskreis der größten Kriegsteilnehmer-Organisation in Frankreich spiegelt: „Ich ging gegen fünf Uhr hin, um Bekannte zu begrüßen, traf nicht nur solche aus Paris, sondern auch von Dijon, Gap, Moulins, Montluçon, Guéret, Toulouse, mit denen ich mich lebhaft unterhalten habe. Man hat immer wiede Freude an den Leuten, die sehr anhänglich sind, und erfährt eine große Menge interessanter Dinge. Das Hauptereignis war natürlich der Bericht Pichots über seinen Besuch bei Hitler, der sehr freundlich aufgenommen worden ist. Im ganzen war die Stimmung hoffnungsvoll. Man rechnet, daß etwas bei den Versöhnungsversuchen herauskommen wird.“ 97 Besonders beeindruckend am Organisationsleben der Union fédérale war für den deutschen teilnehmenden Beobachter die gesellige Form des Ablaufs ihrer Veranstaltungen, die regelmäßig mit üppigen Banketten verbunden wurden, 98 und die wenig formalisierte Gestalt ihrer regionalen und nationalen Strukturen, die mit einem Minimum von Verwaltungsapparat auskamen. 99 Diese Beobachtungen zur besonderen Eigenart des Organisationslebens der Anciens Combattants dienten Distelbarth als Modell für das Verständnis des Verhältnisses von Gesellschaft und Politik in Frankreich. Sie ermöglichten ihm eine subtile Erfassung der Wirkungsmechanismen der öffentlichen Meinung und des Notabeln-Systems der Dritten Republik: „Man sollte meinen, ein so lockeres Band zwischen einigen tausend Vereinen, von denen jeder unabhängig ist, durch keine straffe Disziplin gebunden, könne nicht fest sein. Aber das Gegenteil ist der Fall. Dieser große Bund ist von einem sehr starken und einheitlichen Geist erfüllt, eben jenem ‚esprit combattant’. Untereinander fühlen sich diese Männer ganz frei, aber der Geist ist es, der sie zusammenhält. Nur weil sie sich frei fühlen, können sie zusammenhalten, denn in Frankreich hat nichts Bestand, was auf Zwang beruht. Wir rühren hier an das Geheimnis des französischen Volkes: seine Stärke wie seine Schwäche liegen hier begründet.“ 100 Für den einfühlsamen Beobachter lag der Schlüssel zum Verständnis des Verhältnisses zwischen Gesellschaft und Politik in Frankreich dar- 97 Brief PD an HD vom 13 . Januar 1935, p. 1. 98 In den „Erzählbriefen“finden sich breite Schilderungen dieser Gepflogenheiten. Zu ihrer Funktion und Bedeutung cf. auch Prost: Les Anciens Combattants et la sociérté française, op. cit., tome VI, p. 190sqq. 99 Cf. dazu Distelbarth: Lebendiges Frankreich, op. cit., p. 186: „Die Verwaltung in Paris (der Union fédérale, H.M.B.) besitzt ein schönes, aber einfaches Haus mit Büro- und Sitzungsräumen; sie hat drei männliche Angestellte und einige Schreibfräuleins. Alle andere Arbeit wird ehrenamtlich geleistet. Nicht einmal der Präsident, immerhin einer der wichtigsten und einflußreichsten Männer von ganz Frankreich, hat ein Automobil.“ 100 Ibid., p. 187. <?page no="231"?> 231 in, daß die Individuen die Normen der liberalen Demokratie so stark verinnerlicht hatten, daß bei aller scheinbar chaotischen Vielfalt und Gegensätzlichkeit der gesellschaftlichen Gruppen der politische Zusammenhalt jederzeit gewahrt blieb. Die Überlegenheit dieser politischen Kultur beruhte, gemäß diesen Überlegungen, auf der „inneren Ordnung“, die der Mittel des Zwangs und der Disziplin entraten konnte, welche charakteristisch waren für eine nur „äußere Ordnung“. Für Distelbarth bemaß sich der Reifegrad einer Nation nach dem Stand der Durchsetzung der „inneren Ordnung“ gegen eine nur „äußere Ordnung“. Er hielt Deutschland unter diesem Gesichtspunkt für eine unreife Nation. In einem Aufsatz vom Sommer 1933 zu diesem Thema hielt er eine Angleichung an das französische Beispiel in Deutschland für nicht möglich aufgrund des kulturellen Eigengewichts der „Stämme“, wohl aber eine Annäherung durch das Einreißen der Klassenschranken, die in der Revolution von 1918/ 19 nicht beseitigt worden seien. In diesem Zusammenhang nahm er ausnahmsweise direkten Bezug auf die Nationalsozialisten: „Wenn es der nationalsozialistischen Bewegung gelänge, diese Aufgabe zu vollbringen, dann würde sie geschichtlich gerechtfertigt sein. Dann hätte sie aus dem deutschen Volk zwar keine Nation im französischen Sinne gemacht, aber eine wirkliche Volksgemeinschaft, in der grundsätzlich alle den gleichen Anteil an der Verantwortung und die gleiche Möglichkeit zur Arbeit für das Ganze haben.“ 101 Ähnlichen Modell-Charakter wie in innenpolitischen Belangen hatten für Distelbarth auch seine Erfahrungen in der Union féderale, die die großen Fragen der Außenpolitik betrafen. Die größte dieser Fragen, die Sicherung des Friedens, war die Grundlage für sein freundschaftliches Einverständnis mit den führenden Repräsentanten der Union fédérale. Namentlich mit Henri Pichot, der 1934 bis 1940 Nationaler Vorsitzender der UF war, 102 aber auch mit deren früherem Präsidenten Paul Randoux und seiner Familie stand Distelbarth in ständigem Kontakt und er ging fast wöchentlich zum Sitz des Sekretariats der UF in Paris. In seinen Briefen an die Familie in Deutschland gab er ein lebendiges Porträt von Pichot. 103 So schrieb er z.B. nach einem Abendessen mit ihm am 8. Feb- 101 Paul Distelbarth: „Können wir Deutschen eine Nation werden? “, in: Christliche Welt vom 17. Juni 1933, p. 560. 102 Henri Pichot war eindeutig die überragende Gestalt in der Spitze der Union fédérale. Er war deren Präsident in den Jahren 1921/ 22, 1923/ 24, 1929/ 31 und schließlich von 1934 bis 1940. Cf. Prost: Les Anciens Combattants et la société française, op. cit., tome IX, p. 88. 103 Prost: Les Anciens Combattants français et l’Allemagne, loc. cit., p. 138 berichtet von einem umfangreichen Manuskript aus dem Jahre 1944, in dem Henri Pichot seine Beziehungen und Erfahrungen mit Deutschland und den Deutschen festgehalten hat. Das Manuskript mit dem Titel „Et ce fut quand même la guerre“ ist bislang nicht <?page no="232"?> 232 ruar 1935: „Es war schön und hochinteressant, wir haben über alle Dinge gesprochen, die die Welt bewegen. Pichot erzählte von seinem Besuch bei Hitler; vor der Abreise war er bei Laval gewesen. Und sonst von seinen Berliner Eindrücken. Ein Mann ersten Ranges, der eines Tages Ministerpräsident werden könnte.“ 104 Pichot war, wie Distelbarth schrieb, in Berlin „persona gratissima“ und öfters zu Vorträgen in Deutschland unterwegs. Bei der Gelegenheit eines dieser Vorträge, der am 21. Juli 1936 in Heidelberg stattfand, lud Distelbarth seinen prominenten Freund ein zu einem Besuch auf seinem Obstgut bei Heilbronn. Die Eintragung des UF-Präsidenten im Gästebuch der Familie gibt einen Eindruck von den hochgestimmten Erwartungen, die dieser in seine Verständigungsarbeit im nationalsozialistischen Deutschland setzte: „Nous avons déjà beaucoup tenté et peut-être beaucoup fait, Paul Distelbarth et moi. Compagnons de bonne lutte et de bon combat, nous poursuivront. Au milieu d'une nature acceuillante, rien ne peut nous apparaître plus raisonnable et plus digne de notre effort que de vouloir, pour les nôtres et pour nos pays, créer de la vie et briser l’élan des oeuvres de mort.“ Diese dichotomischen Begriffe, mit denen das pazifistische Wirken zwischen Deutschland und Frankreich gedeutet wurde, 105 finden sich auch in Distelbarths Schriften. Auch er war überzeugt, daß es gelte, die Kräfte des Lebens und der Liebe gegen die Macht des Todes und des Krieges zu stärken. Diese Überzeugung veranlaßte ihn, dem rituellen Schwur von Verdun am 12./ 13. Juli 1936, zu dem die französischen Anciens Combattants u. a. 500 Veteranen aus Deutschland eingeladen hatten, eine hohe symbolische Bedeutung zuzuweisen und enthusiastisch in deutschsprachigen Zeitungen darüber zu berichten. 106 Der auf der Höhe von Douaumont, drei Monate nach dem Einmarsch von Hitlers Truppen in das entmilitarisierte Rheinland, geleistete Schwur, angesichts der Gräber nie wieder Krieg zuzulassen, schien ihm eine wirkungsmächtige übernationale Demonstration des Friedenswillens in der Gesellschaft, ohne den die Diplomatie sich schwer tun würde, den Weg der Verhandlungen dem Werkzeug der Gewalt vorzuziehen. Daß seine entsprechende Argumentation, an deren subjektiver Aufrichtigkeit kein Zweifel besteht, im Gespräch mit französischen Politikern eine objektiv beschwichtigende wieder zugänglich gewesen. Zu Pichot cf. Claire Moreau Trichet: Henri Pichot et l’Allemagne de 1930 à 1945, Bern 2004. 104 Brief PD an HD vom 10. Februar 1935, p .1. 105 Zur Diskursanalyse der Anciens Combattants unter Berücksichtigung der Themen des Todes und der Lebensfreude cf. sehr eindringlich Prost: Les Anciens Combattants, op. cit., tome III, p. 6-24. 106 Er schrieb drei Artikel über den „Tag von Verdun“ für die „Basler Nachrichten“, die „Bohemia“ und den „Ring“. (Brief PD an HD vom 31. Juli 1936). In den späteren Ausgaben von Lebendiges Frankreich fügte er ein Kapitel über die „Nachtwache von Verdun“ hinzu. Cf. Distelbarth, op. cit. (1948), p. 277sqq. <?page no="233"?> 233 und damit zur Fehleinschätzung Hitlers beitragende Wirkung haben konnte, zeigt sein Bericht über eine Unterredung, zu der ihn der für die Anciens Combattants zuständige Minister der Volksfront-Regierung im Juni 1936 gebeten hatte: „Etwa anderthalb Stunden saßen wir zusammen, aber zum Essen bin ich gar nicht gekommen, habe nur so einige Sachen hinuntergeschlungen, dafür die ganze Zeit geredet wie ein Buch: daß Deutschland keinen Krieg anfangen wird, daß das Volk in Deutschland den Frieden will und die Verständigung mit Frankreich, daß die Hitlerjugend gar nicht so ist, wie man in Frankreich denkt, und auch die Arbeitslager nicht und so weiter. Ob ich ihn überzeugt habe, weiß ich nicht.“ 107 Das zentrale Werk der Pariser Jahre Distelbarths, in das all seine Beobachtungen und Überlegungen eingingen und das seine Bekanntheit in Frankreich wie in Deutschland begründete, war das Buch Lebendiges Frankreich, das Ernst Rowohlt zum Jahresende 1935 auf den Markt brachte. 108 Der Autor faßte dieses erste Buch seines Lebens als ein Werk der gesellschaftlichen Friedenssicherung auf. Aus seinen Pariser Briefen wird erstmals deutlich, daß dies Werk in enger Kooperation und mit materieller Unterstützung durch die Union fédérale und namentlich durch Henri Pichot zustande kam. Er berichtete Pichot von seinem Buch-Projekt, das er seit 1934 vorbereitete und dessen Plan er ihm zuvor zugesandt hatte, bei einem Abendessen unter vier Augen am 8. Februar 1935. Pichot war sofort gewonnen für das Projekt und stellte die materielle Unterstützung durch die Union féderale in Aussicht: „Ich hatte ihm kürzlich den Plan meines Buches geschickt, der ihn lebhaft interessierte. Wir sprachen ausführlich darüber. Ein solches Buch gibt es noch nicht, aber es müßte es geben. [...] Ich müßte eben sechs Monate lang von allen Sorgen befreit daran arbeiten können. Das nötige Geld, meint er, müßte sich auftreiben lassen.“ 109 Diese Hilfszusage wurde in der Folgezeit eingehalten, wenngleich das spontane Anerbieten Pichots, die französische Version des Buches sprachlich zu betreuen, sich als unrealistisch erwies aufgrund seiner chronischen Arbeitsüberlastung. Zu den mit Pichot abgesprochenen Planungen gehörte es, gleichzeitig mit dem deutschen Text die französische Version des Buches zu verfassen, um so möglichst in beiden Ländern zugleich mit der Veröffentlichung den Friedenswillen zu stärken. Als nach Erscheinen von Lebendiges Frankreich am Jahresende 1935 die heftigste Kritik an dem pazifistischen und sympathiestiftenden Tenor des Frankreich-Buches wiederum 107 Brief PD an HD vom 27. Juni 1936, p. 1. 108 Zur Geschichte dieses Buches cf. Bock: „Paul Distelbarths Lebendiges Frankreich“, loc. cit. Es erschien mit dem Datum 1936 , wurde tatsächlich aber schon zum Weihnachtsgeschäft 1935 ausgeliefert. 109 Brief PD an HD vom 10. Februar 1935 , p. 2. <?page no="234"?> 234 von der NSDAP kam 110 und eine Neuauflage des in kürzester Zeit vergriffenen Bandes gefährdet erschien, war es neben der direkten Intervention des Verlegers Ernst Rowohlt bei der Parteizentrale in Berlin vor allem die Protektion durch Henri Pichot, die vier weitere Auflagen bis zum Kriegsbeginn 1939 ermöglichte. Pichot hatte durch seine Vorworte an die deutschen und an die französischen Leser dem Buch Distelbarths eine Kaution mitgegeben, die es den Nationalsozialisten praktisch unmöglich machte, dieses große Plädoyer für die deutsch-französische Verständigung zu unterdrücken. Der Autor von Lebendiges Frankreich, der anfangs noch Zweifel hatte, ob das Werk überhaupt im nationalsozialistischen Deutschland erscheinen könne, zählte auf die Wirksamkeit des Schutzes, den ihm der Name Henri Pichots gewährte. Als im Mai 1936 bereits eine Neuauflage des Buches fällig wurde, schrieb der Autor an seine Familie: „Rowohlt hat noch keinen Bescheid von der Parteiamtlichen Prüfungsstelle, wartet aber alle Tage darauf. Ich glaube nicht, daß die Leute das Buch verbieten können. Das gäbe einen zu großen Skandal und Pichot würde es sich auf alle Fälle nicht gefallen lassen, da er doch die Vorrede geschrieben hat.“ 111 Nicht minder wichtig als die materielle Unterstüzung durch die Union fédérale war für die französische Version des Buches die moralische Förderung des Projekts durch die Anciens Combattants. Die Gleichzeitigkeit der Veröffentlichung von Lebendiges Frankreich und France vivante war u. a. an der Schwierigkeit gescheitert, einen Verlag in Frankreich zu finden. Bei der Suche nach einer Publikationsmöglichkeit war das verzweigte Verbindungsnetz der Union fédérale eine entscheidende Hilfe für Distelbarth. Über diese Vermittlung trat er in Kontakt mit Politikern und Schriftstellern, die über die besten Einflußmöglichkeiten im Verlagswesen verfügten. Von ihnen konnte er namentlich den Diplomaten Henry de Jouvenel (1876- 1935) und den Romancier Georges Duhamel (1884-1966) für die Unterstützung seines Projekts gewinnen. Er brachte Teilübersetzungen von Lebendiges Frankreich mit Hilfe seiner Freunde von der Union fédérale im Laufe des Jahres 1936 in die Hände einflußreicher Kritiker. Auf diese Weise konnte schon vor der Veröffentlichung von France vivante (Anfang 1937) und parallel zur deutschen Erstausgabe eine höchst anerkennende Rezension von Distelbarths Kapitel über die französische Sprache 112 in der führenden Tageszeitung Le Temps erscheinen. Dort schrieb der Sprachkritiker „Lancelot“ in der ständigen Kolumne „Défense de la langue française“ u. a.: „J'ai rarement lu, même en français, sur cette matière qui nous devrait tenir au 110 So insbesondere in der vom Amt Rosenberg herausgegebenen Bücherkunde des Reichsstelle zur Förderung des Deutschen Schrifttums, 1936, p. 146. Cf. dazu auch meine Darstellung „Paul Distelbarths Lebendiges Frankreich“, loc. cit. 111 Brief PD an HD vom 25. Juli 1936, p. 2. 112 Cf. dazu das Kapitel in: Distelbarth: Lebendiges Frankreich, op. cit., p. 53sqq., bzw. ders.: France vivante, op. cit., p. 84sqq. <?page no="235"?> 235 coeur, quelque chose de plus pénétrant, qui témoigne d'une plus intelligente sympathie, et qui sente moins le pédant, le spécialiste, qui sente plus l'honnête homme.“ 113 Dergestalt in der französischen Öffentlichkeit vorbereitet, stieß die französische Ausgabe auf lebhafte Resonanz. Der Literaturkritker von Le Temps konnte so Ende April 1937 bereits die „célébrité mystérieuse“ des Buches in Frankreich feststellen und als ein Datum in der „histoire morale des peuples“ feiern. 114 Distelbarth hatte in seinem Erstlingswerk die Erfahrungen mit den pazifistischen Anciens Combattants in vielen Städten der Provinz und in Paris zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen genommen, die die außenpolitische Willensbildung der Dritten Republik in den dreißiger Jahren zu erklären versuchten. Den aufrichtigen Friedenswillen, den er im kleingewerblich-ländlichen Sozialmilieu der Union fédérale kennengelernt hatte, verallgemeinerte er zum Wesensmerkmal der französischen Außenpolitik. Diese war, nach seiner Erkenntnis, aufgrund des Sieges der Bürger und der Bauern über die Aristokratie in der Revolution von 1789 wesentlich von dem Interesse der Bauern am Erhalt des Friedens bestimmt: „Das französische Ideal ist das des Bauern, der in geduldiger Arbeit Morgen um Morgen urbar macht; der die Erde bezwingt und ihr Antlitz ganz verändert (was der Krieger nicht vermag); der den Soldaten haßt, weil der die Felder zerstampft und die Scheuern verbrennt, und zur Waffe nur greift, wenn es gilt, seinen Besitz zu verteidigen.“ 115 Dieser Deutung der aktuellen französischen Außenpolitik stellte Distelbarth zwar keine entsprechende Interpretation der gegenwärtigten Außenpolitik des Dritten Reiches gegenüber. Er ließ jedoch den Schluß zu, daß diese von entgegengesetzten Motiven bestimmt wurde, wenn er schrieb: „Das deutsche Ideal ist das des Kriegers, der sein Leben wagt, um zu gewinnen, für den wirklichen Wert nur hat, was im Kampfe unter Einsatz des Lebens erworben ist, den es mit Stolz erfüllt, wenn die Anderen ihn fürchten.“ 116 Dies war eine der Passagen von Lebendiges Frankreich, derentwegen das Buch von nationalsozialistischer Seite angegriffen wurde und die der Autor in den Neuauflagen zu streichen gezwungen war. Das „Amt Rosenberg“ hatte Distelbarths Überlegungen zur Rolle Frankreichs und Deutschlands in der internationalen Politik quittiert mit dem Urteil: „Es ist aber ein Skandal, daß Distelbarth Frankreich in den Himmel hebt und als das friedfertigste Volk der Welt 113 Lancelot: „Lumières qui viennent du Nord“, in: Le Temps vom 2./ 3. Januar 1936. Lancelot war das Pseudonym für Abel Hermant, Mitglied der Académie française. Ein weiterer Artikel über die deutsche Ausgabe erschien bereits vorher in derselben Tageszeitung. René Lauret: „Un Allemand écrit sur la France“, in: Le Temps vom 29. Dezember 1935. Der Artikel endete mit dem Urteil: „L’esprit dans lequel cet ouvrage a été écrit mérite tous les éloges.“ 114 André Thérive in: Le Temps vom 29. April 1937. 115 Distelbarth: Lebendiges Frankreich, op. cit., p. 209sq. 116 Ibid., p. 208. <?page no="236"?> 236 darstellt und umgekehrt dem deutschen Volk vorwirft, es hätte nur kriegerische Ideale und erstrebe eine Eroberung.“ 117 Das Urteil des „Amtes Rosenberg“ mündete in die Aufforderung, das Buch Distelbarths aus allen öffentlichen Bibliotheken in Deutschland zu entfernen. Der Autor von Lebendiges Frankreich hatte mit seiner Analyse des gesellschaftlich tief verwurzelten Pazifismus im Frankreich der dreißiger Jahre zweifellos eine zutreffende Beobachtung formuliert. 118 Seine Überinterpretation dieser Komponente der französischen Außenpolitik ist offensichtlich zurückzuführen auf seine pars-pro-toto-Perspektive, die den gesellschaftlichen Ausschnitt der Anciens Combattants für das Ganze der Gesellschaft setzte, und auf sein programmatisches Bestreben, die deutsche Öffentlichkeit davon zu überzeugen, daß die in ihr vorherrschende Vorstellung vom prinzipiellen Hegemonialwillen Frankreichs nicht begründet sei. Daß Distelbarth übrigens nicht zum Gefangenen seines eigenen dichotomischen Interpretationsrasters der französischen Außenpolitik wurde, belegt sein letzter Frankreich-Aufsatz in „Die Hilfe“ vom Frühjahr 1939. Dort schrieb er nach der gewaltsamen Errichtung des „Reichsprotektorats Böhmen und Mähren“ durch die Nationalsozialisten im März 1939: „Was aber am meisten auffällt, ist die unbedingte Sicherheit in der Haltung des Volkes gegenüber der Frage nach Krieg und Frieden. Jahrelang haben die Franzosen in einer fast kläglichen Angst vor dem Kriege gelebt und immer und überall Gespenster gesehen. Jetzt haben sie sich aufgerafft und diesem Zustand innerer Hilflosigkeit ein Ende gemacht. Diesen Umschwung hat die Besetzung Prags zustande gebracht. Sollte es jetzt zum Kriege kommen, so werden die Franzosen wie ein Mann den Tornister auf den Buckel und das Gewehr auf die Schulter nehmen. Darin darf man sich nicht täuschen.“ 119 Bei der Münchener Konferenz vom September 1938 sei die Neigung der französischen Bevölkerung, wegen der Sudetendeutschen in den Krieg zu ziehen, allgemein gering gewesen. Jetzt jedoch sei jedermann entschlossen und bereit, wegen Danzig loszuschlagen, wenn die Polen dies verlangten. Nunmehr handle es sich um eine grundsätzliche Frage und in Frankreich spiele „alles Grundsätzliche eine unvorstellbar große Rolle.“ 4. Die französische Kultur im Brennpunkt des intellektuellen Lebens von Paris Nach Habitus und Neigung war Paul H. Distelbarth in erster Linie verbunden mit dem kleinen und mittleren Bürgertum der Provinz des franzö- 117 Bücherkunde der Reichsstelle zur Förderung des Deutschen Schrifttums, 1936, p. 146. 118 Cf. dazu z.B. Maurice Vaìsse: „Le pacifisme français dans les années trente“, in: Relations internationales 53 (1988) p. 37-52. 119 Paul Distelbarth: „Il faut que ça change“, in: Die Hilfe, 1939, Heft 16, p. 295. <?page no="237"?> 237 sischen Gastlandes. Er nahm - zu Recht - für sein erstes Buch (Lebendiges Frankreich) in Anspruch, daß es im Unterschied zu vorangegangenen Deutungsversuchen des Nachbarlandes durch deutsche Autoren nicht von Paris aus, sondern von der Provinz her konzipiert und nicht von der Literatur her, sondern aus der lebendigen Begegnung geschöpft sei. Wenn es - gemäß Distelbarth - früher durchaus ausreichend gewesen war, Frankreich über die Salongespräche seiner Eliten in Paris kennengelernt zu haben, um das Land zu verstehen, so müsse dessen Erkenntnis gegenwärtig bei der Kenntnis der breiteren Volksschichten ansetzen. 120 Trotz diesen Argumenten, die eine Mischung von treffender Selbstcharakterisierung und eher irreführender Selbststilisierung darstellen, wäre es nicht gerechtfertigt, Distelbarth nur als Essayisten des kleinbürgerlich-provinziellen Frankreich der dreißiger Jahre zu sehen. Er lebte die meiste Zeit in Paris und war dort je länger, je mehr in die intellektuellen Zirkel und das politisch-geistige Leben der Metropole einbezogen. Auch hierzu geben die Pariser „Erzählbriefe“ an seine Familie erstmals genaueren Einblick und sie sind eine interessante Quelle für die deutsch-französischen Gesellschaftsbeziehungen der dreißiger Jahre. Das Ergebnis dieser metropolitanen Beziehungen und Begegnungen Distelbarths war sein zweites Frankreich-Buch Neues Werden in Frankreich, das 1938 erschien, aber weniger bekannt wurde als das Erstlingswerk. Die beständigsten Beziehungen Distelbarths in Paris blieben diejenigen zu seinen Freunden in der Zentrale der Union fédérale. Nach Erscheinen seines Buches in beiden Ländern (1936/ 37) weitete sich jedoch der Kreis seiner Kontakte in der Hauptstadt deutlich zum intellektuellen Leben hin aus. Er hatte als wißbegieriger Autodidakt und lernfreudiger Liebhaber der französischen Kultur schon seit 1933 in Paris viele Vorträge besucht und mit Hilfe der Anciens Combattants Verbindungen zu Schriftstellern und Publizisten herzustellen versucht. Nachdem sein erstes Frankreich-Buch vorlag und innerhalb des ersten Jahres nach Erscheinen über hundert Besprechungen erhielt, stellte Distelbarth nun mit wachsender Freude fest, daß er besonders in Frankreich Lob und Anerkennung erntete und als homme de lettres anerkannt wurde. Gerade weil er das Buch nicht aus literarischem Ehrgeiz, sondern aus einem praktischen pazifistischen Antrieb heraus geschrieben hatte, sorgte er sich mit besonderem Nachdruck um seine Verteilung an die maßgeblichen Adressen und trug seine Widmungsexemplare teilweise selbst dorthin. 121 Die Verbreitung der französischen Version, France vivante, wurde gefördert durch den Ankauf einer größeren 120 Cf. Distelbarth: Lebendiges Frankreich, op. cit., p. 258. 121 In Deutschland versuchte Ernst Rowohlt, das Buch mit Hilfe einer massiven Werbekampagne unangreifbar zu machen. Auf seine Initiative wurde je ein in Halbleder gebundenes Exemplar von Lebendiges Frankreich an Hitler, Goebbels, von Neurath und an den französischen Botschafter in Berlin gesandt. <?page no="238"?> 238 Zahl von Exemplaren durch die Union fédérale und von 200 Exemplaren durch den Quai d'Orsay. 122 Aufgrund dieser massiven Anerkennung wurde der Autor ab 1936/ 1937 immer öfter auch zur aktiven Teilnahme an den Diskussionen der intellektuellen Zirkel in Paris aufgefordert. Möglicherweise war es gerade sein besonderer Status, weder politischer Exilant noch Repräsentant des nationalsozialistischen Deutschland zu sein, der diese ungewöhnlich enge Einbeziehung in das intellektuelle Leben von Paris begünstigte. Am deutlichsten wird diese intime Verbindung mit der politisch-kulturellen Szene in Paris am Beispiel von Distelbarths Beziehungen zur Union pour la vérité. Diese informelle Vereinigung republikanischer intellektueller Honoratioren mit Sitz in der rue Visconti unweit des Quartier latin, die seit 1892 existierte, 123 hatte bei Thomas Mann Anfang 1926 den „Eindruck eines Konventikels, der Versammlung einer Gemeinde von sanften Verschwörern zum Guten“ erweckt. 124 Tatsächlich war die Union pour la vérité unter der langjährigen Leitung des Philosophen Paul Desjardins 125 zu einem Brennpunkt republikanischer Moral-Diskussion und Intellektualität in Paris geworden. Distelbarth machte die Bekanntschaft von Desjardins spätestens im Laufe des Jahres 1937. Im Sommer 1937 lud Desjardins Distelbarth nach Pontigny ein, wo er in Verbindung mit der Pariser Union in einem ehemaligen Kloster die europaweit bekannten „Dekaden von Pontigny“ abhielt. 126 Er hatte die Absicht, Distelbarth dort im Rahmen von internationalen Schulungskursen, an denen überwiegend skandinavische und angelsächsische Studenten teilnehmen sollten, als Redner über die französische Identität einzusetzen. Der deutsche Frankreich-Autor fühlte sich offensichtlich geehrt durch dieses Angebot, aber auch nicht ganz wohl angesichts der ungewohnten Aufgabe. Er schrieb Mitte Dezember 1937: 122 Eine ursprüngliche Zusage für den Ankauf von 500 Exemplaren wurde auf 200 reduziert; Brief PD an HD vom 19. Juli 1937; angekauft wurde nur der 1. Band, der mit seiner nationalen Identitätsbestimmung in Frankreich auf größeres Interesse stieß als der 2. Band mit seinen Skizzen aus dem gesellschaftlichen Alltagsleben. Später druckte der Alsatia-Verlag noch einmal 500 Exemplare vom 1. Band von France vivante. 123 Diese lange Zeit wissenschaftlich unbearbeitete Intellektuellen-Vereinigung ist nunmehr umfassend dargestellt in François Beilecke: Französische Intellektuelle und die Dritte Republik. Das Beispiel einer Intellektuellenassoziation 1892-1939, Frankfurt/ Main 2003, cf. auch Rudolf Prinz zur Lippe: Die „Union pour la verité“ zur französischen Deutschlandpolitik nach 1918, Diss. phil. Heidelberg 1964. 124 Thomas Mann: „Pariser Rechenschaft“, in ders.: Autobiographisches, Frankfurt/ Main 1968, p. 122. 125 Zu seiner Philosophie cf. Ekkehard Blattmann: Heinrich Mann und Paul Desjardins. Heinrich Manns Reise nach Pontigny anno 1923, Frankfurt/ Main 1985, p. 177sqq. 126 Zu deren Geschichte cf. François Chaubet: Paul Desjardins et les Décades de Pontigny, Villeneuve 2000. Cf. auch Anne Heurgon-Desjardins (dir.): Paul Desjardins et les Décades de Pontigny. Etudes, témoignages et documents inédits, Paris 1964. <?page no="239"?> 239 „Nach und nach kommt zu Tage, was man in Pontigny von mir erwartet: ich soll den jungen Leuten die Augen öffnen für die Eigenart des französischen Lebens: Architektur, Landschaft, Weinbau, Handwerk, Volk. Den besten Willen habe ich, aber mir ist nicht ganz klar, wie das praktisch vor sich gehen soll. Meine Hoffnung ist, daß am Anfang sehr wenige da sein werden.“ 127 Die Beziehungen Distelbarths zur Union pour la vérité waren dann bis zum Ende seiner Pariser Jahre im November 1939 eng und fruchtbar, aber nicht ohne Komplikationen. Er verehrte Paul Desjardins vorbehaltlos und verdankte ihm und den ständigen Mitarbeitern in der rue Visconti die meisten Kontakte zu den intellektuellen Zirkeln und Einzelpersönlichkeiten in Paris, die er für die Vorbereitung seines zweiten Frankreich-Buches (Neues Werden in Frankreich) brauchte. Seine aktive Mitarbeit in Pontigny und bei den „Entretiens“ in der Pariser „Union“ blieb jedoch eine Geschichte der geplatzten Termine. Der Sitz der Union pour la vérité in der rue Visconti wurde in den Jahren 1937 bis 1939 neben der Zentrale der Union fédérale zum zweiten Gravitationszentrum der Gesellschaftsbeziehungen des deutschen Frankreich-Publizisten in Paris. Er stattete ihr seine Dankesschuld ab, indem er das einzige authentische Porträt der Union pour la vérité zeichnete und in sein zweites Frankreich-Buch aufnahm. 128 Dort stellte er die Union dar als Musterbeispiel der liberalen räsonierenden Öffentlichkeit, deren Aufbau und Funktion ihn immer wieder faszinierten: „Das Prinzip jenes kleinen Kreises ist in Frankreich auf allen Stufen der Entwicklung durchgeführt bis zur Stufe höchster Geistigkeit: Eine Anzahl von Männern, in der Regel gewollt verschiedener Art und Bildung, sammelt sich, zumeist um eine ausgesprochene Persönlichkeit, einen Anreger, und kommt regelmäßig zusammen, um die brennenden Fragen der Menschheit zu diskutieren. Niemals handelt es sich darum, die Teilnehmer im Glauben an ein anerkanntes, hochheiliges Dogma zu bestärken, viel eher darum, die vorgefaßten, mitgebrachten Meinungen zu erschüttern, damit die Wahrheit, die sich dahinter verbirgt, zutage tritt. Manchmal werden aus solchen losen Vereinigungen eingetragene Vereine und größere Organisationen; aber das ist die Ausnahme, in der Regel bleibt das Band ein ganz lockeres. Wenn man glaubt, etwas Gültiges erkannt zu haben, das der Verbreitung wert ist, bemüht man sich, etwas Geld aufzutreiben und gibt eine Zeitschrift heraus. [...] Manche so entstandenen Zeitschriften gewinnen große Bedeutung, so auf literarischem Gebiet die ‚Nouvelle Revue Française’. [...] Das große Muster eines ‚Diskutierklubs’, dessen Diskussionen öffentlich stattfinden (den Fremden kaum bekannt), ist die 1892 von Paul Desjardins gegründete ‚Union pour la vérité’, die noch heute in voller Blüte steht und im Lauf der Jahrzehnte einen unvorstellbar großen Einfluß auf die ganze Welt von Professoren von Universitäten und höheren 127 Brief PD an HD vom 15. Dezember 1937, p. 1. 128 Cf. Distelbarth: Neues Werden in Frankreich, op. cit., p. 136-155. <?page no="240"?> 240 Schulen ausgeübt hat.“ 129 Der Band mit „Zeugnissen führender Franzosen“ enthielt dann Auszüge aus der Programmschrift von Desjardins und die Darstellung der Union in der rue Visconti. 130 Letztere wurde von Desjardins’ Nachfolger in der Leitung der Diskussions-Veranstaltungen der „Union“, Georges Guy-Grand, lebhaft begrüßt und in Übersetzung vollständig in deren Zeitschrift abgedruckt. Guy-Grand schrieb: „Nous ne prenons naturellement pas à notre compte quelques exagérations inspirées à l’auteur soit par la sympathie qu'il nous porte, soit par l’idée un peu particulière qu’il se fait de ce qui est ‚bien français’. Mais à défaut d’un historique complet de l’Association - que seul M. Paul Desjardins pourrait nous donner - les membres nouveaux de l’Union, et même les anciens, trouveront dans ces pages une évocation assez fidèle de notre vie et de notre esprit.“ 131 Distelbarths Respekt und Hochachtung vor Paul Desjardins stieg, je länger er ihn kannte. Seine Programmschrift „Le Devoir présent“ exzerpierte er zum größten Teil in der Bibliothèque nationale und übersetzte Passagen daraus für sein Buch. 132 Besonders aber die Persönlichkeit beeindruckte ihn. Es ist vielleicht mehr als Zufall, daß er Desjardins gelegentlich hinsichtlich seiner Erscheinung als rüstiger und intellektuell präsenter Greis mit seinem deutschen geistigen Mentor Martin Rade verglich. 133 Er notierte Ende Februar 1938: „In letzter Zeit habe ich eigentlich erst so recht erfahren, wer Herr Desjardins ist und was er für eine Rolle gespielt hat: nämlich derjenige lebende Mann, der die allermeisten berühmten Leute gekannt oder zu Schülern gehabt und den allergrößten Einfluß auf diese Leute ausgeübt hat.“ 134 Distelbarth ging seit 1937 mit großer Regelmäßigkeit zu den privaten Empfangs-Abenden Desjardins’ und zu den „Entretiens“ in der rue Visconti, den sonnabendlichen Diskussions-Sitzungen der Union pour la vérité. Es lag also nicht an mangelndem persönlichen und geistigen Einverständnis, wenn der Deutsche, der wohl in diesen Jahren die engsten Beziehungen zu Desjardins und der „Union“ unterhielt, 135 dort nicht die aktive Rolle spielte, die man ihm zugedacht hatte. Er schrieb später im Rückblick auf die Pariser Jahre, Desjardins habe ihn in seinen Kreis 129 Ibid., p. 37. 130 Ibid., p. 68-77. 131 „L’‚Union’ vue par un Allemand“, in: Correspondance de l’Union pour la vérité, 1939, no. 3-4, p. 69. Die Übersetzung des Textes von Distelbarth wurde überarbeitet von Edmond Vermeil. 132 Paul Desjardins: Le devoir présent, Paris 1892. 133 Brief PD an HD vom 9. September 1937, p. 2. 134 Brief PD an HD vom 24. Februar 1938, p. 1. 135 Von den Pariser Exilanten aus dem nationalsozialistischen Deutschland ist in den Jahrgängen der „Correspondance de l’Union“ von 1933 bis 1939 sonst nur Gottfried Salomon als Redner in der rue Visconti nachweisbar. Cf. Correspondance de l’Union pour la vérité, 1935, no. 9-10. <?page no="241"?> 241 „hineinziehen“ wollen, aber sein „ganzes Wesen“ habe sich dagegen gesträubt. 136 Es waren im wesentlichen drei Gründe, weshalb Distelbarth diese Barriere empfand. Zum ersten hatte er einen habituellen Vorbehalt gegen die reinen Intellektuellen, die Literatur und Ideen als Selbstzweck produzierten. Er schrieb einmal an seinen Freund Rothe: „Räumlich zu denken, überhaupt konkret, ist mir ein unabweisbares Lebensbedürfnis. Sonst ist mir einfach nicht wohl.“ 137 Dieser Grundsatz kam der Anschaulichkeit seiner Essays zugute, bedeutete jedoch andererseits eine Grenze gegen abstrakte Denkweise. Zweitens sträubte sich sein Eigensinn des Einzelgängers gegen die Funktionalisierung für fremdgesetzte Zwecke. Und schließlich war seine unabhängige Stellung zwischen dem politischen Exil und der nationalsozialistischen Diplomatie ein beständiger Balanceakt, der seinen Handlungsmöglichkeiten Schranken setzte; und zwar gerade angesichts der zunehmenden politisch-diplomatischen Spannungen in den Jahren 1938/ 1939. Alle diese Hinderungsgründe für eine stärkere Beteiligung an den Aktivitäten der Union pour la vérité finden sich wieder in den dokumentierbaren Fällen, in denen Distelbarth eine bereits weit gediehene Kooperationszusage dann doch zurückzog. Z.B. waren am Jahresende 1937 die Gespräche über seine Mitarbeit in Pontigny zu einer konkreten Vereinbarung gereift. Distelbarth sollte im Rahmen eines dreimonatigen internationalen Kurses „zur Einführung in europäisches Denken“ eine Woche lang zwanglose Gespräche führen über sein Buch, dessen französische Version die Teilnehmer vorher gelesen haben sollten. Mitte November 1937 kommentierte er diesen ehrenvollen Auftrag noch: „Das tue ich natürlich gerne, obwohl ich noch nicht sehe, wie das gehen wird. Aber man soll grundsätzlich sich solchen Aufgaben nicht entziehen.“ 138 Nach seinem ersten Kontakt mit dem „Antibabel“ genannten internationalen Kurs in Pontigny Ende Februar 1938 kam dann die heftige Abwehrreaktion, die er in der folgenden Weise zusammenfaßte (und die im Lichte der oben erörterten Motive interpretiert werden können): „Im ganzen kommt mir dieses ‚Antibabel’ vor als ein wirtschaftliches Unternehmen der Frau Desjardins’, um ihren Besitz nutzbar zu machen (vielleicht notwendig und an sich gerechtfertigt) und nun wird der Name des Mannes ausgenützt, um allerhand berühmte Leute, mit denen er befreundet ist, gratis als Attraktion zu bekommen, die über Sonntag kommen und dort Vorträge halten. Und so war wohl auch ich als Attraktion gedacht. Ich habe nicht den Eindruck, daß sich in Pontigny irgendwer wirklich für mein Buch interessiert (außer Herrn Desjardins selbst und mit Einschränkung); wichtig war die Kritik von Thérive im ‚Temps’ (ein wirkliches Ereignis, wie mir 136 Brief PD an Hans Rothe vom 13. Januar 1955 im Rothe-Nachlaß, Deutsches Literatur-Archiv, Marbach a. N. 137 Brief PD an Hans Rothe vom 14. Juli 1947, ibid. 138 Brief PD an HD vom 10. November 1937. <?page no="242"?> 242 neulich auch der Herr bei Plon sagte) und einen solchen Mann war man sich schuldig, auf der Speisekarte des Antibabel zu haben. Aber da mache ich nicht mit. Ich sage nicht, daß das Ganze umsonst ist. Für die Studenten, die aus Norwegen, Schweden, England usw. kommen, mag das alles ein Erlebnis und vielleicht von bleibendem Nutzen sein; aber ich habe dabei nichts zu suchen. Von den Intellektuellen in Frankreich habe ich nie etwas für die deutsch-französische Verständigung erwartet; aber jetzt, wie ich sie näher kennenlerne, bin ich noch viel skeptischer. Und was diese Leute für Vorstellungen haben! Für sie ist der verflossene Chefredakteur der ‚Vossischen Zeitung’, Georg Bernhard, dessen ganze Armseligkeit jeden Tag in seinem Pariser Tagblatt ans Licht kommt ‚ein großer Deutscher’! Wenn man das anhören muß, so läuft einem schon die Galle über. Dabei bekommt man nicht einmal das Fahrgeld ersetzt, sondern muß es sich als eine Ehre ansehen, überhaupt kommen zu dürfen. Aber nicht, daß es mir leid täte, diese Bekanntschaft gemacht zu haben - im Gegenteil. Auch diesmal wieder habe ich viel gelernt und erfahren, nur auf die Dauer ist das wohl nichts für mich: ich würde auch sehr bald Händel mit der gesamten Clique bekommen. Nicht mit dem Alten, der ein wirklich verehrungswürdiger Greis ist und, wie ich schon sagte, etwas Tragisches an sich hat.“ 139 In ähnlicher Weise verlief auch die aktive Mitarbeit Distelbarths bei den „Entretiens“ in der rue Visconti. Der Leiter der Gespräche, Georges Guy-Grand, hatte 1938 dem Publizisten angeboten, einen Diskussionsabend über seine beiden Frankreich-Bücher zu veranstalten; das war eine Einladung, die seit 1933 unter den deutschen Autoren nur dem Heidelberger Soziologen Alfred Weber zuteilgeworden war. 140 Distelbarth war sichtlich erfreut darüber. 141 In der zweiten Dezember-Woche 1938 ging er nach einigem Zögern zu einem „Entretien“, der den Thesen des französischen Germanisten Edmond Vermeil (1878-1964) über die „Révolution allemande“ der Nationalsozialisten gewidmet war. 142 Er faßte den Ablauf wie folgt zusammen: „Um dreiviertelfünf war dann der Vortrag von Prof. Vermeil über die deutschen ‚Revolutionäre’, wozu er Fichte, Hegel, dann Rathenau, Feder usw. bis Hitler rechnet. Er hat darüber ein Buch geschrieben mit Auszügen aus deren Schriften (ein bißchen wie ‚Neues Werden’). Zuerst hatte ich lange geschwankt, ob ich gehen sollte; aber Vermeil und Guy- 139 Brief PD an HD vom 2. März 1938. Bei der erwähnten Kritik von Thérive handelt es sich um die in Anm. 114 genannte Rezension in Le Temps. Zur abgewogeneren Darstellung Georg Bernhards cf. die Studie Walter F. Peterson: „ Das Dilemma linksliberaler deutscher Journalisten im Exil. Der Fall des Pariser Tageblatts“, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 32 (1984) p. 269-288. 140 Er referierte dort im März 1933 zum Thema „Y a-t-il faillite de l’économie mondiale? “. 141 So in einem Brief PD an HD vom 1. Dezember 1938. 142 Er hatte gerade veröffentlicht Edmond Vermeil: Doctrinaires de la Révolution allemande (1918-1938), Paris 1938. <?page no="243"?> 243 Grand hätten es sicher übelgenommen, wenn ich nicht gekommen wäre, nachdem ich ausdrücklich eingeladen worden war. Es war auch ganz sachlich, gar nicht emigrantenhaft, sogar die Emigranten sprachen ganz ruhig. Zum Schluß gab ich auch meinen Senf dazu, und Küssner, der da war, meinte, es sei nötig und gut gewesen. Guy-Grand benützte die Gelegenheit, mich vorzustellen, und anzukündigen, daß ich im Januar oder Februar einen Vortrag halten würde: Frankreich mit den Augen eines Deutschen gesehen, mit Diskussion. Das kann ganz interessant werden.“ 143 Angesichts der gespannten internationalen Situation zog Distelbarth dann seine Zusage am 10. Januar 1939 einstweilen wieder zurück. 144 Während also die aktive Mitarbeit Distelbarths in den Diskussionen der Union pour la vérité aus den genannten Gründen begrenzt blieb, war der Nutzen, den er aus den Begegnungen in der Vereinigung der Pariser Intellektuellen zog, beträchtlich. Man kann ohne Übertreibung sagen, daß sein zweites Frankreich-Buch ohne die beratende und vermittelnde Hilfe Desjardins’ und der Union nicht zustande gekommen wäre. Durch das Zusammenwirken der Empfehlungen seitens der Union und des Bekanntheitsgrades, zu dem ihm seine Bücher in Paris verholfen hatten, gewann er schnell Zugang zu sehr unterschiedlichen intellektuellen Milieus, von denen er den Eindruck hatte, daß dort die politische und gesellschaftliche Zukunft Frankreichs geistig vorbereitet werde. Den konkreten Anlaß zur eingehenderen Dokumentierung über diese Milieus, von denen ihm die meisten bislang fremd geblieben waren, hatte der deutsche Publizist in Paris erhalten, als der Stuttgarter Klett-Verlag nach dem Erfolg von Lebendiges Frankreich bei ihm Anfang November 1937 nachfragte, ob er einen „Sammelband zur deutsch-französischen Frage“ vorbereiten wolle. 145 Nach Beratung mit Frank Rümelin kam er zu folgendem Schluß, der einen Einblick gewährt in die politisch gesetzten Schranken bei der Planung einer solchen Publikation: „Dieser Klett möchte, daß ich einen Sammelband herausgebe, der eine Art Bestandsaufnahme der deutsch-französischen Beziehungen sein soll, wo also führende Männer von beiden Seiten sich zu dem Problem äußern. Ich gestehe, daß ich mir davon gar nichts verspreche. Denn diejenigen Franzosen, die wirklich maßgebend auf geistigem Gebiet sind: Duhamel, Jules Romains, André Gide, François Mauriac, würden, wenn überhaupt, so schreiben, daß es in Deutschland nicht gedruckt werden könnte. Und andere Leute haben keinen Wert. Und wer dürfte in Deutschland selbst ganz frei seine Meinung sagen? “. 146 Mehr versprach 143 Brief PD an HD 13. Dezember 1938. Distelbarth kannte des Referenten Buch über den württembergischen Katholizismus: Edmond Vermeil: Jean-Adam Moehler et l’Ecole catholique de Tubingue (1815-1840), Paris 1913. 144 Brief PD an HD vom 12. Januar 1939. 145 Bericht im Brief PD an HD vom 18. November 1937. 146 Brief PD an HD vom 25 . November 1937, p. 1. <?page no="244"?> 244 sich Distelbarth davon, ein Panorama des intellektuellen Lebens in Paris zu versuchen, das keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben sollte. Der Klett-Verlag war einverstanden und von November 1937 bis März 1938 führte er, immer wieder in der rue Visconti oder bei Desjardins Rat einholend, regelrechte Streifzüge durch die intellektuelle Landschaft von Paris, um dann das Buch während eines längeren Aufenthaltes im Sommer und Herbst 1938 in Rittelhof auszuarbeiten. Die Begegnungen während dieser Vorbereitungsphase von Neues Werden in Frankreich, die in den „Erzählbriefen“ registriert sind, geben Aufschluß über die Vielfalt der Milieus und die Themen in der intellektuellen Szene von Paris. 147 Bei den „Entretiens“ der Union lernte er z.B. Mitte November 1938 Marc Boegner, den Präsidenten der Vereinigung der französischen Protestanten, kennen, der über Fragen der ökumenischen Bewegung referierte und seinen deutschen Zuhörer eher enttäuschte. Für sein Kapitel über die Protestanten im zeitgenössischen Frankreich 148 ließ sich Distelbarth dann von Edmond Vermeil beraten, mit dem er seit 1935 in Verbindung stand. Vermeil hatte ihn nach Lebendiges Frankreich ermuntert, nun einen Band der gleichen Art über die deutschen „Stämme“ zu schreiben und Distelbarth hatte diese Idee eine Zeit lang verfolgt. Auch hatte der Sorbonne- Germanist in Aussicht gestellt, den Autor von Lebendiges Frankreich zu einer seiner Veranstaltungen zur deutschen Stammes-Geschichte heranzuziehen. Dies blieb - wie andere spontane Aufforderungen zur Mitarbeit durch Professoren und Verleger in Paris - eine Geste ohne Folgen. Distelbarth war gekränkt und hatte ihn längere Zeit nicht besucht. Er schrieb Ende Februar 1938: „Jetzt brauche ich Auskünfte von ihm über den französischen Protestantismus. Er gab mir auch eine Menge Adressen und Fingerzeige und ich soll noch Material von ihm bekommen. Er hat seine Doktorarbeit über den Katholizismus in Württemberg geschrieben. Er ist Hugenotte und mit allen möglichen Pastören verwandt und verschwägert.“ 149 Bei Desjardins’ Freitags-Tees lernte der informationsbeflissene Autor Ende November 1937 das Brüderpaar Baruzi kennen, von denen der eine, Jean Baruzi, Religionshistoriker am Collège de France war. Er besuchte dann nicht nur dessen Vorlesungen, sondern suchte beide öfter auf, um sich für seine Dokumentation über den Katholizismus in Frankreich in- 147 Das Buch verdient auch im Zusammenhang mit der Diskussion über den „esprit des années trente“, die in Frankreich recht lebhaft geführt wird, als authentisches Zeugnis mehr Beachtung als ihm bisher zuteil wurde. Cf. zur Diskussion der politischgeistigen Erneuerungs-Bewegungen im Frankreich der dreißiger Jahre das Standardwerk Jean-Louis Loubet del Bayle: Les non-conformistes des années 30 . Une tentative de renouvellement de la pensée politique française, Paris 1987. 148 Distelbarth: Neues Werden in Frankreich, op. cit., p. 365-391. 149 Brief PD an HD vom 24. Februar 1938, p. 2. Zu Vermeil cf. nun die umfassende Studie Katja Marmetschke: Feindbeobachtung und Verständigung. Der Germanist Edmond Vermeil (1878-1964) in den deutsch-französischen Beziehungen, Köln 2008. <?page no="245"?> 245 struieren zu lassen. 150 Er erhielt im März 1938 eine Audienz beim Erzbischof von Paris, Jean Cardinal Verdier, 151 den er so beschrieb in einem seiner Briefe: „Ein interessanter und hervorragender Mann ohne Zweifel. Im Äußeren ganz derb und bäuerlich und doch auch ganz ‚Kirchenfürst’, dabei sehr schlicht und geradezu herzlich. Er ging und suchte mir den Text des Vortrags, um den ich ihn gebeten hatte, und schenkte mir noch zwei andere Schriften. [...] Er sagte auch, was es für ein Segen wäre, wenn Deutschland und Frankreich sich endlich verständigten. Kein Wort gegen den Nationalsozialismus, in dem er offenbar kein Hindernis sieht. Das Letztere ist mir auch bei Jesuiten, Dominikanern und Karmelitern aufgefallen“. 152 Zu den Verbindungsleuten dieser Mönchsorden zur Öffentlichkeit hatte er bereits vorher fruchtbare Verbindungen hergestellt. 153 Auch die Dokumentation über die politisch-literarischen und politisch-ideologischen Zirkel in Paris wurden überwiegend über die rue Visconti oder Pontigny vermittelt. Jean Paulhan, den Direktor der „Nouvelle Revue Française“ (NRF), hatte Distelbarth in Pontigny kennengelernt. Ihn suchte er Ende Januar 1938 im Redaktionsgebäude der Zeitschrift auf, um Unterlagen über die Geschichte des NRF-Kreises zu erhalten. Paulhan gab ihm zu treuen Händen ein unveröffentlichtes Manuskript von Jacques Rivière über die Anfänge der NRF, das er übersetzte und in seinem Band abdruckte. 154 Er wurde zu einem Empfang in der Redaktion der NRF gebeten und beschrieb das Treiben dort in der ihm eigenen nüchternen Weise: „Auf der Nouvelle Revue Française herrscht nun unbeschränkt die Literatur. Eine Menge Leute waren da, die durcheinanderredeten, darunter der Philosoph Julien Benda, dann ein Kunstkritiker, Herr Lhôte mit seiner Frau. Die Namen der anderen habe ich nicht verstanden. Ich hatte Paulhan auch mein Buch gebracht, die NRF wird es nun besprechen. Hoffentlich gut, dann kann das gute Früchte haben. Ich denke ja, denn meinerseits werde ich ja natürlich in dem neuen Buch von der NRF reden, die in der Literaturwelt führend ist.“ 155 Im NRF-Verlag Gallimard konnte Distelbarth dann auch einen Grundstock an Material über die politisch-ideologische Gruppe „Ordre nouveau“ erhalten, eine einflußreiche Tendenz in der starken Erneuerungs-Strömung der „nonconformistes“ der dreißiger Jahre, die sich wie die Gruppierung um die Zeitschrift „Esprit“ weder links noch rechts positionierte und einen „Dritten Weg“ suchte. 156 Die führenden Persön- 150 Cf. Distelbarth: Neues Werden, op. cit., p. 271-364. 151 Cf. den Abdruck einer übersetzten Rede des Erzbischofs von Paris ibid, p. 186sqq. 152 Brief PD an HD vom 24. März 1938, p. 2. 153 Cf. dazu die Porträts in: Distelbarth: Neues Werden, op. cit., p. 295sqq. 154 Ibid., p. 158sqq. 155 Brief PD an HD vom 23. Januar 1938, p.2. 156 Zur Gruppe Esprit cf. den Text von Emmanuel Mounier in: Distelbarth: Neues Werden, op. cit., p. 183sqq. Cf. auch Thomas Keller: Deutsch-französische Dritte-Weg- Dskurse. Personalistische Intellektuellendebatten der Zwischenkriegszeit, München 2001. <?page no="246"?> 246 lichkeiten des NRF-Kreises hatte Distelbarth wiederum im Freitags-Salon bei Desjardins Ende November 1937 kennengelernt. Er beschrieb diese erste Begegnung in einer für seine Familie nachvollziehbaren Weise: „Dort waren hochinteressante Leute. Vor allem André Gide, ein anerkannter Literaturpapst, möchte man sagen (ohne schlechten Beigeschmack). Ein Idol für viele, Mitte sechzig. Seine Bekehrung zum Kommunismus hat vor einigen Jahren großes Aufsehen gemacht. Voriges Jahr war er wieder in Rußland und hat ein ziemlich ernüchterndes Buch über seine Erfahrungen geschrieben, das ‚sensationell’ war und in Rußland verboten wurde. Ich habe mich gut mit ihm unterhalten. Ein bekannter Romanschriftsteller Jean Schlumberger (aus der großen elsässischen Industriellenfamilie) war noch da, auch ein alter Herr schon, dann der Vater meines Bekannten Pierre Bertaux, Herr Félix Bertaux, Gymnasialprofessor, der eine sehr schmeichelhafte Plauderei über mein Buch im französischen Rundfunk gehalten hat. Und noch viele andere.“ 157 Die Clubs und Zeitschriften-Gruppen, die Distelbarth in Neues Werden porträtierte und deren Bekanntschaft nicht über die Union pour la vérité vermittelt wurde, waren fast ausnahmslos durch die Union fédérale in sein Blickfeld gekommen. So z.B. die Vereinigung „Droit à la vie“, deren Gründer Jacques Duboin den Freund Distelbarths Henri Pichot zum Mitstreiter hatte. 158 Die Union fédérale selbst, die für den Autor ja in erster Linie zu den Kräften der politisch-gesellschaftlichen Erneuerung zu zählen war, wurde in Neues Werden repräsentiert durch den Reform-Plan vom November 1934, der von Henri Pichot und der UF-Zentrale ausgearbeitet worden war. 159 Als Distelbarth nach Fertigstellung des dokumentarischen Bandes über die geistigen Kräfte im zeitgenössischen Frankreich im November 1938 nach längerem Aufenthalt in Rittelhof nach Paris zurückkam, begann für ihn die Drohung eines neuen Krieges immer deutlicher zu werden. Nach der Besetzung Prags durch die Nationalsozialisten wurden nicht nur seine Artikel illusionsloser, 160 sondern auch seine Briefe. Er schrieb beispielsweise am 18. März 1939: „Über die Politik will ich gar nichts sagen. Wir leben jetzt wahrhaft apokalyptische Zeiten. Jetzt gibt es nur noch Schicksal, an dem niemand mehr etwas ändern kann, Schicksal, das sich vollzieht.“ 161 Er machte noch einmal, mit einer Freifahrkarte der SNCF ausgestattet, ausgedehnte Reisen in Frankreich, erfuhr jedoch Ende April von französischen Freunden, daß bereits „zahlreiche Deutsche ausgewiesen und andere wegen Spionageverdacht verhaftet seien.“ Auf dem Pariser Ost-Bahnhof kon- 157 Brief PD an HD vom 25. November 1937, p. 2. Es handelt sich bei der erwähnten Publikation um André Gide: Retour de l’URSS, Paris 1936. 158 Cf. Distelbarth: Neues Werden, op. cit., p. 216sq. 159 Cf. ibid., p. 204sqq.: „La République des Combattants“. 160 Cf. den schon (Anm. 119) genannten Artikel in der „Hilfe“. 161 Brief PD an HD vom 18. März 1939, p. 2. <?page no="247"?> 247 statierte er selbst einen Betrieb, „als wenn schon Krieg wäre.“ 162 Er erklärte sich seine ungewöhnliche Situation damit, daß er nun auch für die Botschaft eine „Art letzte Rettung“ sei, „und daß es ihnen recht ist, wenn ich hier bekannt und angesehen bin.“ Er mutmaßte, daß der Leiter des Goethe- Hauses, Baron von Münchhausen, ihn „aus diesem Grund und im Auftrag“ protegiere. 163 Anfang Juli 1939 schrieb er zu seiner Situation in Frankreich: „Ich will noch sagen, daß die Leute, die ich so treffe, z.B. neulich der Schwede, Herr Backlund, die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, daß es das noch gibt, einen Deutschen, der ganz unangefochten in ganz Frankreich herumreist, noch dazu auf eine Freifahrkarte der französischen Eisenbahnen, der bald in Deutschland, bald in Frankreich ist, ohne daß jemand dabei etwas Besonderes findet. Und in der Tat ist es ja auch etwas Außerordentliches und es wäre ein Verlust, wenn das nicht mehr wäre.“ 164 Dieser Ausnahmezustand war nicht von Dauer. Der Krieg in Europa, dessen Wiederholung zu verhindern der Sinn seiner achtjährigen Verständigungsarbeit zwischen Deutschland und Frankreich gewesen war, wurde erklärt, als Distelbarth sich auf seinem Obstgut befand. Im Oktober 1939 wurde er nach Berlin gerufen, wo ihn der Stellvertreter von Goebbels dazu gewinnen wollte, über den Rundfunk zu den französischen Kriegsteilnehmern zu sprechen. 165 Der Pazifist Distelbarth lehnte diese Indienstnahme ab, und er verbrachte die Kriegsjahre politisch unbehelligt auf seinem württembergischen Besitz. Seine Frankreich-Bücher durften nach Kriegsbeginn in Deutschland allerdings nicht mehr neu aufgelegt werden, obwohl Ernst Rowohlt sich darum bemühte und die Nachfrage danach weiterhin stark war. 166 Er konnte dennoch einige Gelegenheitsarbeiten über Frankreich veröffentlichen, 167 und er wurde 1943 von der Fakultät für Auslandswissenschaften der Berliner Universität aufgefordert, den Beitrag 162 Brief PD an HD vom 27. April 1939, p. 2. 163 Brief PD an HD vom 18. März 1939. 164 Brief PD an HD vom 4. Juli 1939. 165 Paul Distelbarth: „Kurzer Lebenslauf. Autobiographische Skizze“, erstmals veröffentlicht in: Lendemains. Vergleichende Frankreichforschung 18 (1993) Nr. 71/ 72, p. 95sq. 166 Der Autor schrieb an Hans Rothe (undatierter Brief vom April 1941, im Nachlaß Rothe/ Deutsches Literatur-Archiv Marbach a. N.): „Für die deutsche Ausgabe sind die Aussichten besser geworden. Es besteht in Deutschland sehr große Nachfrage nach guter Frankreichliteratur, aber es gibt keine; den ‚Nachbar im Westen’ weist das Publikum mit Entrüstung zurück. Das verbessert meine Chancen.“ Bei dem angesprochenen Buch handelt es sich um Valentin J. Schuster: Der Nachbar im Westen, Berlin 1936, das eine popularisierende Darstellung Frankreichs im nationalsozialistischen Sinn enthielt. 167 Cf. Paul Distelbarth: „Ar Breitz, das Land ‚am Ende der Welt’“, in: Die Hilfe, 1940, Heft 20; 1941, Heft 5 und Heft 10. Paul Distelbarth: „Provincia Romana“, in: Werner Benndorf (ed.): Das Mittelmeerbuch, Leipzig 1940, p. 615-634. Zu dem Band trugen so unterschiedliche Essayisten bei wie Kasimir Edschmid, Ernst Wilhelm Eschmann, Friedrich Georg Jünger, Stefan Andres. <?page no="248"?> 248 über „französisches Volkstum“ für ein Nachschlagewerk über Frankreich zu schreiben, das dann nicht zustande kam. 168 In Frankreich wurde durch den Colmarer Verlag von Distelbarths France vivante die Initiative für eine Neuausgabe ergriffen. Der Autor war von der Initiative nicht begeistert, hatte aber auch keine Einwände. Er gab der Neuausgabe beider Bände, die in einem zusammengefaßt wurden, einen neuen Titel und ein aktuelles Nachwort. 169 Dort sprach er sich gegen eine korporatistische Neugestaltung Frankreichs aus und sah in einem übertriebenen Individualismus sowie in der Vergötzung des Geldes die Ursachen für die Niederlage des Landes. Dessen politischen Wiederaufbau erhoffte er von den breiten Volksmassen: „Dans la nouvelle France, le pouvoir devra donc, plus encore que dans celle qui s’est écroulée, s’appuyer sur les paysans, les ouvriers (qui en grande partie sont de mentalité paysanne), les artisans, les petits commerçants qui ensemble forment la masse du peuple français.“ 170 Distelbarth konnte im März/ April 1941 noch einmal für 14 Tage in das besetzte Paris fahren, und er setzte als nationalsozialistisch nicht belasteter Publizist seine deutsch-französische Verständigungsarbeit nach 1945 im zerstörten Deutschland fort. 171 Seine Arbeit im Paris der dreißiger Jahre erschien ihm schon kurz vor seiner Rückkehr nach Deutschland als ein abgeschlossenes Kapitel seines Lebens. Er schrieb Mitte August 1939 im letzten seiner „Erzählbriefe“ aus Paris: „So, und nun ist das vorbei; vielleicht eine ganze Epoche meines Lebens abgeschlossen. Wer kann das wissen? Jedenfalls eine der reichsten Zeiten meines ganzen Lebens.“ 172 168 Brief PD an Hans Rothe, undatiert von Mitte 1943, im Rothe-Nachlaß Deutsches Literatur-Archiv, Marbach a. N. 169 Paul Distelbarth: La Personne France, Paris 1942. Der Verlag schickte ein auf Bütten gedrucktes Exemplar an Maréchal Pétain. 170 Ibid., p. 470sq. 171 Cf. dazu Hans Manfred Bock: „‚Ich setze immer noch meine Hoffnung auf Frankreich.’ Paul Distelbarths publizistische und verständigungspolitische Arbeit nach dem Zweiten Weltkrieg“, in: Lendemains. Vergleichende Frankreichforschung, 18 (1993) Nr. 71/ 72, p. 64-89. 172 Brief PD an HD vom 10. August 1939. <?page no="249"?> 249 VIII. Reisen zwischen Paris und Berlin in der Zwischenkriegszeit Der im Folgenden gewählte Zugang zum Thema ist derjenige einer Sozial- und Kulturgeschichte des Reisens zwischen den Hauptstädten Deutschlands und Frankreichs in den Jahren der Zwischenkriegszeit. Zwar gibt es eine Reihe von Fallstudien, die einige mögliche Aspekte des Reisens zwischen Berlin und Paris zum Gegenstand haben; 1 es gibt hingegen wenige konzeptuelle Überlegungen, die geeignet wären, die Tauglichkeit der in den Fallstudien angewandten Konzepte zu klären. Deshalb soll in den folgenden Ausführungen ein Schwerpunkt auf die begrifflichen Kategorien gelegt werden im thematischen Zusammenhang mit zwei wichtigen Aspekten des Reisens zwischen beiden Hauptstädten, nämlich mit dem Wandel der soziologischen Eigenart der Reisen und mit den Veränderungen in der wechselseitigen Wahrnehmung der Metropolen durch die Reisenden, die über ihre Erfahrungen veröffentlichten. 1. Die gesellschaftlichen und politischen Merkmale der Reisen zwischen Berlin und Paris in den Zwischenkriegsjahren Um die Besonderheiten der Reisen zwischen den beiden Hauptstädten während der beiden Jahrzehnte zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg erkennbar zu machen, ist es sinnvoll, diese zuerst in einen größeren chronologischen Zusammenhang zu stellen; anschließend sollen verschiedene Konjunkturen unterschieden werden, die der Reisetätigkeit in beiden Richtungen förderlich oder hinderlich waren; und schließlich gilt es, einen gewissen Wandel der gesellschaftlichen Merkmale dieser Reisen zu erörtern, der verursacht wurde durch den deutlich erkennbaren Trend von der individuellen zur kollektiven Reise zwischen Berlin und Paris. Wenn zur Geschichte der Reisevorgänge zwischen Frankreich und Deutschland in den Jahren 1871 bis 1914 dank des Buches von Hélène Barbey-Say 2 umfassende Informationen vorliegen, so gibt es keine ähnlich 1 Cf. z.B. als neuere Veröffentlichungen Gerhard R. Kaiser, Erika Tunner (ed.): Paris? Paris! Bilder der französischen Metropole in der nichtfiktionalen deutschsprachigen Prosa zwischen Hermann Bahr und Joseph Roth, Heidelberg 2002; Hans Manfred Bock, Gilbert Krebs (ed.): Echanges culturels et relations diplomatiques. Presences françaises à Berlin au temps de la République de Weimar, Asnières 2004; Hans Manfred Bock, (ed.): Französische Kultur im Berlin der Weimarer Republik, Tübingen 2005. 2 Hélène Barbey-Say: Le voyage de France en Allemagne de 1871 à 1914, Nancy 1994. <?page no="250"?> 250 komplexe Studie für die Zwischenkriegsperiode. Hier ist auch die Frage zu stellen, ob die individuellen Voraussetzungen der Reisenden und die politischen Umstände, die den Reisen zwischen den beiden Hauptstädten zugrunde lagen, während dieser beiden Perioden der deutsch-französischen Beziehungen vergleichbar sind. Man kann nicht nachdrücklich genug hinweisen auf die Zäsur, die der Erste Weltkrieg, diese „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts und der deutsch-französischen Beziehungen, bedeutete für die individuellen und kollektiven Transaktionen zwischen beiden Nationen und ihren Hauptstädten. Sicherlich hatte die Niederlage von 1871 und die Annektierung von Elsaß-Lothringen in Frankreich tiefe kollektive Traumata hinterlassen, die von Zeit zu Zeit revanchistische Schübe verursachten. Aber gerade in der französischen Zivilgesellschaft versiegte das Interesse an Deutschland niemals ganz, das sich mit dem Gefühl der Furcht oder einer gewissen Bewunderung für die ökonomische und technische Modernisierung des wilhelminischen Deutschland verband, und der soziokulturelle Austausch wurde fortgesetzt trotz des Anscheins der Feindseligkeit. 3 Das besiegte Deutschland hingegen reagierte anders nach dem Ersten Weltkrieg. Eine zutiefst feindliche und unversöhnliche Einstellung bildete sich in der Zivilgesellschaft der Weimarer Republik aus unter der doppelten Einwirkung des unheilvollen Versailler Vertrags sowie vor allem der Ruhrgebiets-Besetzung und der Reparationszahlungen; nur Randgruppen konnten sich diesem allgegenwärtigen „Revisionismus“ entziehen. Überdies hatte die Kriegspropaganda der Jahre 1914 bis 1918, die von beiden Seiten unter dem Zeichen des Kampfes der „Kultur“ gegen die „Zivilisation“ geführt worden war, dauerhafte Spuren hinterlassen im kollektiven Verhalten und Denken beider Nationen. 4 Der Zeitabschnitt von 1914 bis 1924 war also gekennzeichnet durch die fast vollständige Unterbrechung der Reisen zwischen den beiden Hauptstädten. Und selbst im Jahrzehnt von 1925 bis 1935, während dessen die Reisetätigkeit in beiden Richtungen wieder aufzuleben begann, blieben das Misstrauen und ein mehr oder weniger aggressiver Nationalismus vorherrschend. Ab 1936 begann das Gespenst eines neuen Krieges die Geister zu beherrschen und die Reisefrequenz nicht politischen Charakters bewegte sich gegen null. Zusammenfassend kann man feststellen, daß die 20 3 Cf. dazu die klassische Darstellung Claude Digeon: La crise allemande de la pensée française 1870-1914, 2. Aufl. Paris 1992. 4 Aus der Fülle der neueren Studien cf. Christophe Prochasson, Anne Rasmussen: Au nom de la patrie. Les intellectuels et la Première Guerre mondiale. Paris 1996; Jean-Jacques Pollet,Anne-Marie Saint-Gille (ed.): Ecritures franco-allernandes de la Grande Guerre, Arras 1996; Kurt Flasch: Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg, Berlin 2000; Wolfgang J. Mommsen (ed.): Kultur und Kieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, München 1996; Martha Hanna: The Mobilization of Intellect. French Scholars und Writers during the Great War, London 1996. <?page no="251"?> 251 Jahre der Zwischenkriegszeit für die Transaktionen und Reisen zwischen Deutschland und Frankreich sehr viel ungünstiger waren und viel mehr von der Politik bestimmt wurden als die 45 vorausgehenden Jahre. Zum Abschluss dieser vergleichend-chronologischen Beobachtungen kann man anfügen, daß die Lektion, die von der ersten Polilikergeneration in West- Deutschland während der fünfziger Jahre aus den Zwischenkriegs- Erfahrungen abgeleitet wurde, hieß, daß alles getan werden müsse, um die Reisen und anderen direkten Begegnungsformen zwischen Deutschen und Franzosen zu erleichtern. 5 Wenn man den Blick im engeren Sinne auf die Reisen zwischen Frankreich und Deutschland richtet und dabei die politischen Bedingungen in den Vordergrund stellt, die in den Jahren 1919 bis 1939 die deutschfranzösischen Transaktionen beeinflusst haben, so kann man drei Perioden unterscheiden. Zuerst diejenige des „kalten Krieges“ zwischen beiden Nationen, die sich vom Waffenstillstandsabkommen bis zu den Verträgen von Locarno (Oktober 1925) erstreckt. 6 In dieser Konfliktperiode, die ihre Prägungen erhielt durch die französisch-belgische Besetzung des Ruhrgebiets 1923 und durch den Höhepunkt der Inflation in Deutschland im Jahre 1923, war es extrem schwierig, private Reisen zwischen beiden Ländern und beiden Hauptstädten durchzuführen. In Deutschland lösten vor allem die Auswirkungen der von Poincaré beschlossenen Ruhrbesetzung eine Welle von Frankreichfeindlichkeit aus. Die ersten Kontaktnahmen zwischen deutschen und französischen Intellektuellen, selbst wenn sie nicht direkt den politischen Zwängen unterworfen waren, erwiesen sich als schwierig. Beispielsweise lehnte der deutsche Hochschul-Romanist Ernst Robert Curtius, der 1922 zu den Dekaden von Pontigny eingeladen worden war, die Einladung für das Pontigny-Treffen von 1923 ab mit der Begründung, die Ruhrbesetzung verbiete ihm deren Annahme, und er wurde ersetzt durch Heinrich Mann. 7 Dieser stand einer pazifistischen Minderheit nahe, die zahlenmäßig schwach und organisatorisch fragmentiert war und die die Pionierrolle in der Wiederaufnahme des deutsch-französischen Dialogs übernahm. Zum Beispiel trat die „Deutsche Liga für Menschen- 5 Cf. dazu die Überlegungen und Belege in Hans Manfred Bock, Katja Marmetschke: „Gesellschaftsverflechtung zwischen Deutschland und Frankreich. Transnationale Beziehungen, Gesellschaft und Jugend in Konrad Adenauers Frankreichpolitik“, in: Klaus Schwabe (ed.): Konrad Adenauer und Frankreich 1949-1963, Bonn 2005, p. 163- 189. 6 Der Ausdruck findet sich in Jacques Bariéty, Raymond Poidevin: Les relations francoallemandes 1815-1975, Paris 1977, p. 240sqq. 7 Cf. Herbert Dieckmann, Jane Dieckmann (ed.): Deutsch-französische Gespräche 1920- 1950. La correspondance de Ernst Robert Curtius avec André Gide. Charles Du Bos et Valery Larbaud, Frankfurt/ M. 1980. Cf. auch zu Heinrich Mann: Ekkehard Blattmann: Heinrich Mann und Paul Desjardins. Heinrich Manns Reise nach Pontigny anno 1923, Frankfurt/ M./ Bern 1985. <?page no="252"?> 252 rechte“, die 1922 gegründet worden war, sehr früh in Kontakt mit ihrer großen Schwesterorganisation in Frankreich, der „Ligue des Droits de l’Homme“. Die Reisen, die von den Repräsentanten dieses pazifistischen Milieus zwischen Berlin, dem Zentrum der deutschen „Liga für Menschenrechte“, und Paris während der Jahre 1922 bis 1925 unternommen wurden, sind überaus aufschlussreich über all die Schwierigkeiten, denen solche Transaktionen ausgesetzt waren. Nach der ersten Reise einer Delegation der französischen Liga nach Berlin in 1922, die eher problemlos verlief, endete die Berlin-Reise von Victor Basch, Ferdinand Buisson u.a. von 1924 - also nach dem Ruhrkonflikt - in einem öffentlichen Eklat und die französischen Redner konnten schließlich nur unter dem Schutz der Berliner Polizei auftreten. Zu diesen Reisen der französischen Ligisten nach Berlin ist eine eingehende Studie vorgelegt worden. 8 Die zweite Periode der deutsch-französischen Beziehungen, die Locarno-Ära, beginnt auf der politischen Ebene durch den Dawes-Plan 1924 und endet an der Schwelle zu den dreißiger Jahren durch die Verschlechterung der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschund Frankreich sowie aufgrund der sozioökonomischen Krise in Deutschland in der Folge des Wall-Street-Börsenkrachs. Diese politisch von Briand und Stresemann symbolisierte Periode löste eine Welle der Hoffnung auf die Möglichkeit einer deutsch-französischen Verständigung aus und sie begünstigte ganz unmittelbar die Reisetätigkeit zwischen den beiden Hauptstädten. Der Umfang dieser soziokulturellen - und in gewissem Umfang auch sozioökonomischen - Bemühungen ist in den letzten zehn Jahren von der Forschung zu den deutsch-französischen Beziehungen aufgedeckt worden. Die direkten Folgen dieses „geistigen Locarno“ (wie Heinrich Mann es nannte, um der neuen Hoffnung einen Namen zu geben 9 ) sind um 1925 herum offensichtlich in Reaktionen der deutschen Intellektuellen: Es begann ein wahrer Ansturm von deutschen Schriftstellern und Journalisten auf die französische Hauptstadt, die besonders für die Republikaner unter ihnen einen Ort der Befreiung und eine Alternative zum bedrückenden System jener „Republik ohne Republikaner“ darstellte, als die der Staat und die Gesellschaft von Weimar erschien. 10 Aber auch in umgekehrter Richtung kamen mehr 8 Ottmar Jung: „Der Redneraustausch zwischen französischen und deutschen Pazifisten 1924“, in: Detlef Lehnert, Klaus Megerle (ed.): Politische Teilkulturen zwischen Integration und Polarisierung. Zur politischen Kultur der Weimarer Republik, Opladen 1990, p. 250-292. 9 Heinrich Mann: „Pour un Locarno intellectuel“, in: Revue d’Allemagne et des pays de langue allemande, 1928, p. 292-300. 10 Z.B. schrieb Joseph Roth, der als Korrespondent der Frankfurter Zeitung nach Paris geschickt wurde, an den Direktor dieser Zeitung am 16. Mai 1925: „[ ...] dieser Brief darf Sie nicht glauben lassen, ich wäre verrückt geworden vor Entzücken über Frankreich und Paris. [...] Es drängt mich, Ihnen persönlich zu sagen, daß Paris die Hauptstadt der Welt ist und daß Sie hierher kommen müssen. Wer nicht hier war, ist nur <?page no="253"?> 253 und mehr französische Intellektuelle nach Berlin, das als Stadt fortgeschrittener Modernität par excellence galt. 11 Ein für die Locarno-Ära noch typischeres Phänomen sind die deutsch-französischen Verständigungsorganisationen, die auf beiden Seiten des Rheins entstanden. Hier sind zu nennen das „Deutsch-Französische Studienkomitee“, das 1926 gegründet wurde, die „Deutsch-Französische Gesellschaft“ (DFG), die 1928 in Berlin ins Leben gerufen wurde, und die „Ligue d’études germaniques“ (LEG), die ebenfalls 1928 in Frankreich geschaffen wurde. Diese Vereinigungen waren aus privaten Initiativen im kulturellen, wirtschaftlichen oder erzieherischen Bereich entstanden und setzten sich zum Ziel, die Kenntnis des anderen Landes zu verbessern und individuelle oder kollektive Kontakte zwischen beiden Völkern herzustellen, um in den Einzelbereichen eine für beide Partner gewinnbringende Zusammenarbeit zu erreichen. Diese nicht pazifistischen Organisationen wandten sich vorzugsweise an die Eliten und entfalteten eine beträchtliche Anzahl von Austauschaktivitäten zwischen Deutschen und Franzosen. 12 Sie waren in gewissem Sinne die Antwort auf die totale Politisierung der deutsch-französischen Beziehungen, indem sie durch den Versuch organisatorischer Vermittlung das zu fördern unternahmen, was vor dem Ersten Weltkrieg auf individueller Basis spontan stattgefunden hatte: die Wiederaufnahme des Kontaktes und die Verbreitung von Kenntnissen mit Bezug auf die andere Nation. Die dritte Periode der deutsch-französischen Beziehungen, die von Beginn der dreißiger Jahre bis zur Auslösung des Zweiten Weltkrieges anzusetzen ist, ließ einen anderen Aspekt der fortschreitenden Politisierung aller Bereiche des Personenaustauschs zwischen beiden Nationen hervortreten. Nach der Verschlechterung der bilateralen diplomatischen Beziehungen am Ende der Weimarer Republik erweckte Hitler, der vernichtende Kritiker Frankreichs und extreme Revisionist, angesichts der Schwäche des Deutschen Reichs im Verhältnis zu Frankreich den Anschein, die Verständigungspolitik gegenüber diesem Land in den Jahren 1933 bis 1936 fortsetzen zu wollen. Um den Zweck dieser Politik des doppelten Spiels zu erreichen, zerstörten oder marginalisierten die Nationalein halber Mensch und überhaupt kein Europäer.“ Joseph Roth: Briefe 1911-1939. Ed. Hermann Kesten, Köln/ Berlin 1970, p. 45. 11 Pierre Viénot sagte zu Pierre Bertaux in den Gesprächen über seine Berliner Erfahrungen, er habe den Eindruck, daß sogar zu viele Franzosen zu einem flüchtigen Aufenthalt nach Berlin kamen. Cf. Pierre Bertaux: Un normalien à Berlin. Lettres fr ancoallemandes 1927-1933. Ed. Hans Manfred Bock, Gilbert Krebs, Hansgerd Schulte, Asnières 2001. 12 Ein historischer Abriss ihrer Geschichte in Hans Manfred Bock: „Das Deutsch- Französische Institut in der Geschichte des zivilgesellschaftlichen Austauschs zwischen Deutschland und Frankreich“, in: Hans Manfred Bock (ed.): Projekt deutschfanzösische Verständigung. Die Rolle der Zivilgesellschaft am Beispiel des Deutsch- Französischen Instituts in Ludwigsburg, Opladen 1998, p. 11-120. <?page no="254"?> 254 sozialisten die deutsch-französischen Mittlerorganisationen der vorausgegangenen Jahre und usurpierten zugleich den Namen einer dieser Vereinigungen, nämlich den der „Deutsch-Französischen Gesellschaft“. Mit der Hilfe ihrer Freunde in Frankreich bauten sie dort 1936 eine analoge Struktur auf mit dem Namen „Comité France-Allemagne“. Seit dieser Zeit liefen die Besuche und Reisen zwischen deutschen und französischen Gruppen fast ausschließlich über die Vermittlung durch diese beiden Organisationen ab. 13 Aber Hitler-Deutschland verfügte über noch andere Instrumente zur Kontrolle aller Transaktionen zwischen der deutschen und der französischen Gesellschaft; Instrumente, die von den Nationalsozialisten zwar nicht erfunden, aber von ihnen für die Kontrollzwecke vervollkommnet worden waren. Es handelte sich um die Visa-Erteilung und die Devisenkontrolle. Diese letztere Maßnahme war schon am Ende der Weimarer Republik eingeführt worden, um der Notsituation der Wirtschaft zu begegnen. Das Hitler-Regime radikalisierte diese Maßnahme im Jahre 1935 dergestalt, daß es für eine Privatperson praktisch unmöglich war, französische Francs zu erhalten; die privaten Reisenden waren also gezwungen, die erforderlichen finanziellen Mittel im Besuchsland, also in Frankreich, aufzutreiben. Das andere Kontrollinstrument für den Personenverkehr zwischen beiden Nationen war die Praxis der Visumspflicht. Diese war erst nach dem Ersten Weltkrieg eingeführt worden. Gemäß dem Zeugnis eines frankophilen Deutschen, der die Verkehrsvoraussetzungen zwischen beiden Ländern in der Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg kannte, genügte es vor 1914, eine Fahrkarte zu kaufen, um sich in das andere Land zu begeben. 14 (Hier ist anzumerken, daß diese restriktiven Maßnahmen zur Regelung des transnationalen Reiseverkehrs bislang nur unzulänglich untersucht worden sind). Während der dreißiger Jahre wurde also die touristische Individualreise, einer der ältesten Reisetypen, durch die Devisenkontrolle und den Visumszwang fortschreitend erschwert. Nunmehr zum letzten Aspekt der generellen Bemerkungen zu den soziologischen und politischen Bedingungen des Reisens zwischen Berlin und Paris. Wie schon angedeutet brachte die Veränderung dieser Bedingungen auch einen Wandel der Typologie der Auslands-Reise mit sich. Die Motive, die durch die Jahrhunderte hindurch beständig blieben und die Einzelpersonen dazu bewegten, ihr Herkunftsland vorübergehend zu ver- 13 Cf. Michel Grunewald: „Le couple France-Allemagne vu par les nazis. L’idéologie du rapprochement franco-allemand dans les Deutsch-Französische Monatshefte, Cahiers franco-allemands (1935-1939)“, in: Hans Manfred Bock, Reinhart Meyer-Kalkus, Michel Trebitsch (ed.): Entre Locarno et Vichy. Les relations culturelles franco-allemandes dans les années 1930, Paris 1993, p. 131-146. 14 Cf. dazu meine Studie: „Paul H. Distelbarth. Ein Anwalt alternativer Frankreich-Sicht und Frankreich-Politik in Deutschland“, in: Paul H. Distelbarth: Das andere Frankreich. Aufsätze zur Gesellschaft, Kultur und Politik Frankreichs und zu den deutsch-französischen Beziehungen 1932-1953, Bern/ Berlin 1997, p. 3-97. <?page no="255"?> 255 lassen, sind nach meiner Auffassung geistiger Art (die Neugier, den Anderen kennenzulernen), erzieherischer Art (das Bedürfnis, sich zu bilden und zu informieren), kommerziellen Zuschnitts (die Suche nach Profit) oder durch das Sicherheitsbedürfnis bedingt (im Falle der Verfolgung in ihrem Herkunftsland). Man kann eine Typologie der grenzüberschreitenden Reise auf der Grundlage dieser immer wiederkehrenden Motive aufstellen. Hélène Barbey-Say spricht z.B. in ihrer Typologie der Reise zwischen Frankreich und Deutschland vor 1914 von den Typen der touristischen Reise und der Studienreise, wobei letztere mehrere Unterkategorien umfasse: die literarische Reise, die universitäre Erkundungsreise, die Forschungsreise sowie die Geschäftsreise; als dritte große Kategorie führt sie an „Kongresse und Militärmissionen“. 15 Man kann diese Begriffe auch auf die Periode der Zwischenkriegszeit anwenden, allerdings mit anderen Akzentsetzungen. Es erscheint mir offensichtlich, daß die offiziellen oder gouvernementalen Auslandsmissionen, die in der dritten großen Kategorie zusammengefasst sind, einer anderen Logik folgen als die Tourismus- oder Studienreisen; andererseits ist es problematisch, die Geschäftsreisen unter dem Begriff der Studienreise zu subsumieren. Aber vor allem - und das scheint mir von übergeordneter Bedeutung für eine Typologie des Reisens zwischen Deutschland und Frankreich in der Zeitspanne 1919 bis 1939 - sind diese Begriffe bestens geeignet für die bilateralen Transaktionen der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, nicht jedoch für die Analyse der Reisetätigkeit in der Zwischenkriegszeit. Hier ist es unumgänglich, zumindest zwei ergänzende Reisetypen neu einzuführen, deren Entstehung aus dem irreversiblen Politisierungsprozess des deutsch-französischen Austauschs dieser Periode abgeleitet ist. Während die traditionellen Formen der Tourismus-, Studien- und Geschäftsreise vorwiegend individuelle Transaktionen darstellen, sind die neuen Reisetypen wesentlich kollektiv konzipiert, d.h. es sind Gruppenreisen, die in einem politischen Zusammenhang organisiert werden. Im Mittelpunkt der traditionellen Reise stand immer der Wille einer Person, ein symbolisches Kapital zu erwerben, das kultureller, gesellschaftlicher oder wirtschaftlicher Art sein konnte. Im Mittelpunkt dieser neuen Art der Reise steht eine politische Zwecksetzung, die von zivilgesellschaftlich verankerten Vereinigungen oder von gouvernementalen Akteuren definiert wird, wobei letztere sich öfters der gesellschaftlichen Vereinigungen bedienen, um ihren Willen zur Beherrschung oder zur Durchdringung der anderen Nation zu tarnen. Je nachdem, ob der eine oder der andere Akteur ausschlaggebend ist, kann man von Mittler- oder Legitimations-Reisen sprechen. Die Mittlerreise verfolgt den Zweck, das Zusammentreffen von Vertretern verschiedener gesellschaftlicher Bereiche beider Nationen zu ermöglichen, damit diese sich besser kennen lernen und damit sie in eine längere Kom- 15 Barbey-Say, op. cit., p. 105-208. <?page no="256"?> 256 munikationsbeziehung über die nationale Grenze hinweg eintreten. Die Legitimationsreise verfolgt das Ziel, Gruppen aus der anderen Nation (in der Regel aufgrund einer mehr oder weniger offiziellen Einladung) kommen zu lassen, oder Gruppen, die nach politischen Kriterien zusammengestellt wurden, in das andere Land zu schicken, um dort eine günstige Meinung zu schaffen und die Teilnehmer zum ideologischen Wettbewerb anzuhalten. Die mehr oder minder offiziellen Veranstalter dieser Legitimationsreisen bedienen sich in der Regel einer Strategie der indirekten Propaganda, die sich auf die Mittel der Überredung und der Verführung stützt. In der Geschichte des Reisens zwischen Deutschland und Frankreich bzw. zwischen Berlin und Paris scheint mir das Auftauchen dieses neuen Reise-Typus die wichtigste Erscheinung dieser Periode zu sein. Im Laufe dieser beiden Jahrzehnte ersetzte die kollektive Reise immer mehr die typischen Formen des individuellen Reisens. Man kann sich ein konkretes Beispiel für die politische Inspiration und die politischen Implikationen dieser kollektiven Reisen vor Augen führen, indem man sich auf die deutsch-französischen Verständigungsorganisationen bezieht, von denen im chronologischen Überblick schon die Rede war. Die „Deutsch-Französische Gesellschaft“ und die „Ligue d’études germaniques“ brachten einen beträchtlichen Teil ihres Organisationspotentials ein in die Veranstaltung von Gruppenreisen. Während die „Deutsch-Französische Gesellschaft“ ihre für ihre Mitglieder organisierten Reisen von 1928 bis 1932 ausschließlich mit dem Ziel Paris unternahm, begann die „Ligue d’études germaniques“ mit einer Reise nach Berlin und steuerte dann andere Städte in Deutschland als Ziel an. Das Eintreffen der LEG-Gruppe im Jahre 1929 wurde von der Presse der Reichshauptstadt wie folgt kommentiert: „Dies ist die größte Gruppe von französischen Intellektuellen in der deutschen Hauptstadt seit 1871 [...]“. 16 Die DFG unterhielt einen Schüleraustausch-Dienst, der alles in allem 1.250 Schülern die Aufnahme in einer Familie des Nachbarlandes ermöglichte. Ihr Studenten-Austauschdienst konnte „mehrere Hundert“ Studierende vermitteln. Nach dem Eindruck eines zeitgenössischen französischen Beobachters, der in Berlin lebte, hatte die DFG in der Hauptstadt bis zum Jahre 1930 ein Begegnungsmilieu geschaffen, „in dem sich die Elite und die aktiven Kräfte beider Nationen begegnen können, ein Milieu, das sich nicht mit oberflächlichen Erkundungen begnügt und das dennoch alle Elemente umfasst, die für das Verstehen des Nachbarvolkes erforderlich sind.“ 17 Die grenzüberschreitende Reisetätigkeit der deutsch-französischen Vereinigungen der Locarno-Ära sind ein Modell der Mittlerreisen. Die organisierte 16 Deutsch-Französische Rundschau (1930), p. 750. 17 Henri Jourdan: „L’activité de la Société franco-allemande à Berlin“, in: Revue d’Allemagne (1930), p. 150. <?page no="257"?> 257 Reisetätigkeit der Verbände des Dritten Reichs sind hingegen gekennzeichnet durch die typischen Merkmale der Legitimationsreise. Die Nationalsozialisten hatten sich den Namen der bilateralen Verständigungsorganisation aus der Weimarer Republik („Deutsch-Französische Gesellschaft“) unrechtmäßig angeeignet und zugleich deren soziologische Basis vollkommen ausgetauscht. An der Stelle des Bildungsbürgertums, das für die ursprüngliche DFG das Rekrutierungsfeld ihrer Mitglieder war, gründeten sie ihre Organisation auf den Einzugsbereich der Kriegsteilnehmer-Verbände und der oppositionellen Jugendgruppen, die sich weder der Linken noch der Rechten zugehörig fühlten. In der Reisetätigkeit dieses Organisationsfeldes der DFG/ CFA waren die Intellektuellen nicht gefragt und der grenzüberschreitende Austausch fand immer mehr statt zwischen den Berufsgruppen des Handwerks, der Landwirtschaft und der Industrie. 18 In Hitler-Deutschland waren diese Gruppen nicht auf einem gemeinsamen Interesse ihrer Mitglieder gegründet, sondern sie wurden durch willkürliche Zusammensetzung nach dem Kriterium ihrer politischen Loyalität zusammengehalten. Wenn diese Gruppen sich - soziologisch gesehen - also gleichsam demokratisierten durch die Einbeziehung von immer mehr Gesellschaftsschichten, die vorher keinen Kontakt mit dem Nachbarland hatten, so wurden sie nunmehr gelenkt und angetrieben durch den politischen Willen des Regimes, das diese Transaktionen nutzte, um sich eine gewisse internationale Legitimation zu schaffen. Die deutschen Gruppenreisen nach Paris aus Anlass der Weltausstellung von 1937 sind das beste Beispiel für diesen Reisetypus. Insgesamt erhielten rund 80.000 Reisende, die von den Nationalsozialisten ausgewählt worden waren, auf diese Weise die Erlaubnis zur Reise nach Paris. 19 Als Abschluss zu diesen Beobachtungen zum neuen Reise-Typus der Kollektiv-Reise sei darauf hingewiesen, daß mit dem Strukturwandel der deutsch-französischen Reise auch eine Veränderung des literarischen Genres des Reiseberichts verbunden war. Die angemessenen literarischen Formen des individuellen Reiseberichts waren der Essay, die Reportage oder der Roman. Die kollektive Reise fand hingegen ihre publizistische Ausdrucksform hauptsächlich in den Periodika, die von den deutsch-französischen Vereinigungen publiziert wurden, und zwar in der Form von Artikeln, die bilanzierend oder chronologisch angelegt waren. Der individuelle Reisebericht wandte sich an die Vorstellungstraft des Lesers, der kollektive Reisebericht machte die Bilanz der Erfolge (seltener der Misserfolge) auf, die hinsichtlich des erstrebten politischen Ziels zu verzeichnen waren. 18 Eine umfassende Chronologie dieser Art von Reisen findet sich in Deutsch-- Französische Monatshefte/ Cahiers franco-allemands, die von der nationalsozialistischen DFG veröffentlicht wurden zwischen 1934 und 1939. 19 Cf. Hans-Adolf Jacobsen: Nationalsozialistische Außenpolitik 1933-1938, Frankfurt/ M. 1968, p. 304. <?page no="258"?> 258 2. Die Wahrnehmung der Hauptstadt des Nachbarlandes in den Zwischenkriegsjahren Es liegt auf der Hand, daß die Reisenden zwischen Deutschland und Frankreich, die über ihre Erfahrungen in der anderen Hauptstadt schrieben und publizierten, keine objektive und überprüfbare Wahrheit erstrebten. Sie reisten an mit den Wahrnehmungsmusters, die ihnen die Gesellschaft ihres Herkunftslandes überliefert hatte, und in eben dieser Gesellschaft wollten sie Käufer und Leser für ihre Veröffentlichungen finden. Man findet eine sehr schöne Formulierung zur Entstehung der Wahrnehmungsmuster in den Reiseberichten im Vorwort von Jean Favier zum Buch von Hélène Barbey-Say über die Reisen zwischen Frankreich und Deutschland, die es wert ist zitiert zu werden: „Da der Reisende mit wachen Sinnen und gespitzten Ohren unterwegs ist, charakterisiert die Vielfalt sein Zeugnis, das er mitteilt. Selbst wenn er mit klar umrissenen Absichten losgefahren ist, so zeichnet er doch das auf, was seiner Neugier entspricht, das, was den Vorstellungen, die er sich gemacht hatte, nicht entspricht, das, was ihn beeindruckt, und das, was ihn enttäuscht. In den Urteilen, die er - und sei es auch implizit - formuliert, ist der Anteil seines persönlichen Empfindungsvermögens immer sehr groß, das von seinem eigenen kulturellen Erbe herrührt.“ Zwei ergänzende Bemerkungen seien zu dieser zutreffenden Beobachtung angefügt: Erstens gibt es Grenzen der Freiheit für die Autoren von Reiseberichten bei der Verfertigung eines Wahrnehmungsmusters, das sich auf die ausländische Hauptstadt bezieht. Diese Grenzen werden definiert durch das vorherrschende Bild, das im Zielland selbst existiert. Der ausländische Autor, der sich zu weit von diesem Selbstbild der Hauptstadt seines Besuchslandes entfernt, läuft Gefahr, sich lächerlich zu machen oder eine unfreiwillige Karikatur abzuliefern. Er wird also immer dazu neigen, sich die hausgemachten Bildelemente anzueignen, um sie mit seinen eigenen Urteilen und Beobachtungen zu kombinieren. Zweitens ist anzumerken zur Entstehung der Wahrnehmungsmuster: Diese sind immer sehr stark geprägt durch die Generationszugehörigkeit der Autoren, insbesondere durch ihre Hoffnungen, die sie sehr oft auf den Gegenstand ihrer Betrachtungen - in diesem Fall also auf die ausländische Hauptstadt - projizieren. Dieser Projektionsmechanismus gewährleistet die Entstehung des Interesses, das der Autor bei seinen Landsleuten für das Objekt seiner Betrachtungen wecken will. Nach diesen generellen Bemerkungen über die Entstehung von Wahrnehmungsmustern in den Reiseberichten gilt es, sich den Inhalten zuzuwenden, die erkennbar sind in den Berichten französischer Autoren über Berlin und deutscher Autoren über Paris in den Zwischenkriegsjahren. Die Grundstruktur dieser Diskurse ist die der Antithese. Diese antithetische Struktur ergibt sich ebenso aus dem politischen Antagonismus zwischen <?page no="259"?> 259 Deutschland und Frankreich während der Jahre 1919 bis 1939 wie aus der Kriegsideologie, die die deutsche „Kultur“ der französischen „Zivilisation“ gegenüberstellte und umgekehrt. Man findet ihre Spuren in der gesamten deutschen und französischen Literatur dieser Jahre, die dem Nachbarland gewidmet wurde; man kann dies Grundmuster detailliert nachweisen in der essayistischen deutschen Literatur über Frankreich. 20 Einer der allgegenwärtigen Gegensätze war der statische Charakter Frankreichs im Vergleich zum dynamischen Charakter Deutschlands. Andere Gegensatzpaare waren: Klassizismus contra Romantik, Alter contra Jugend, Logik contra Metaphysik und Geist contra Gefühl. Das Buch eines der Spitzenvertreter der deutschen Romanistik jener Zeit, des Direktors des Romanischen Seminars der Berliner Universität Eduard Wechssler, stellte ein anderes Gegensatzpaar in den Mittelpunkt der Argumentation: „Esprit“ und „Geist“. Sein 600 Seiten umfassendes Buch war durchgängig auf den Antithesen aufgebaut, die angeblich die französische Mentalität von derjenigen der Deutschen unterschieden. 21 Es wäre interessant herauszufinden, in welchem Maße diese antithetische Argumentation, die ebenso die französische Literatur über Deutschland durchzieht, sich auch im Diskurs über die beiden Hauptstädte wiederfindet. Zum Abschluß dieser konzeptuellen Überlegungen zur Sozialgeschichte des Reisens zwischen Frankreich und Deutschland und zu den Wahrnehmungsmustern, die von den Reisenden zwischen beiden Ländern in ihren Reiseberichten befördert wurden, sollen zur Veranschaulichung einige konkrete Beispiele skizziert werden. Diese Beispiele wurden ausgewählt nach Maßgabe der vorausgegangenen Betrachtungen. Zuerst sollen einige französische Publikationen über Berlin und anschließend deutsche Reiseberichte über Paris als Beispiele angeführt werden unter Berücksichtigung der vorab dargestellten chronologischen und systematischen Kategorien. Die Berichte der französischen pazifistischen Reisenden ins Nachkriegs- Deutschland sind gute Beispiele für den kollektiven Reisetypus mit Mittlerqualitäten. 22 Die 1922 und 1924 durchgeführten Gruppen-Reisen der 20 Hans Manfred Bock: „Tradition und Topik des populären Frankreich-Klischees in Deutschland von 1925 bis 1955“, in: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte 14 (1987), p. 475-508. 21 Eduard Wechssler: Esprit und Geist. Versuch einer Wesenskunde des Deutschen und des Franzosen, Bielefeld/ Leipzig 1927. 22 Cf beispielsweise Victor Basch, Théodore Ruyssen: „Notre voyage en Allemagne“, in: Cahiers des Droits de l’Hornme vom 26. August 1922; Victor Basch: „L’entente francoallemande“, in: Cahiers des Droits de l’Homme vom 30. November 1924. Zu diesen Reisen cf. auch die deutschen Reaktionen in Otto Lehmann-Rußbüldt: Die Brücke über den Abgrund. Bericht über den Besuch der „Französischen Liga für Menschenrechte“ in Berlin und im Ruhrgebiet, Berlin, o.J. (1922) und Franz von Puttkamener: Victor Basch in Potsdam, Berlin 1924. Eine interessante Quelle ist der Reisebericht des Repräsentanten der Westeuropäischen Abteilung der Carnegie-Stiftung, des französischen Hochschulgermanisten Henri Lichtenberger: Impression of Berlin in 1922. New York (1922), erschie- <?page no="260"?> 260 „Ligue des Droits de l’Homme“ nach Berlin liefen ab unter hoher politischer Spannung. In den von deutschen und französischen Pazifisten verfassten Berichten findet man ein hervortretendes Leitmotiv und eine dominierende Hoffnung: Nämlich, daß Deutschland sich im republikanischen Sinne umgestalte und daß diese Umwandlung die Sicherung des Friedens gewährleiste. Seitens der französischen Autoren stellt man einen etwas forcierten Optimismus hinsichtlich der Verwirklichung dieses Wunsches fest und wenig konkrete Beobachtungen zu den kulturellen, soziologischen und topographischen Gegebenheiten Berlins. Die Überzahl der französischen Bücher und Reportagen über Deutschland und seine Hauptstadt versuchten in diesen Jahren des „kalten Krieges“ zwischen beiden Ländern, auf zwei Kernfragen eine Antwort zu geben: Was waren die Verfassungsregeln, die Kräfte und die Chancen der jungen Republik von Weimar und würde diese imstande sein, die Reparationen zu bezahlen? 23 Dergleichen Fragen blieben auch in der Locarno-Ara auf der Tagesordnung, aber eine andere Geisteshaltung zeichnete sich in den Veröffentlichungen französischer Autoren ab, die immer zahlreicher nach Berlin kamen. Diese Autoren der jungen Generation (die um 1900 herum geboren waren) suchten nicht mehr vorrangig die versteckten Reichtümer der Weimarer Republik. Als Kritiker ihrer Väter-Generation stellten sie sich vielmehr Fragen zur Zukunft des öffentlichen und kulturellen Lebens Frankreichs und sie kamen nach Berlin, um dort Antworten zu finden auf ihre Selbstbefragung. 24 Diese jungen Publizisten reisten an auf eigene Kosten und auf eigenes Risiko und einige von ihnen blieben länger in der deutschen Hauptstadt als ihre Landsleute, die dorthin nur auf der Durchreise kamen. Ihre Reisen und Aufenthalte sind hervorragende Beispiele für die Kategorie des individuellen Reisetyps. Ihre bevorzugten literarischen Ausdrucksformen waren der Essay, der Roman oder der Brief. Pierre Viénot, der von 1927 bis 1931 in Berlin lebte, war wahrscheinlich der bedeutendste Protagonist für diese Erneuerung des individuellen Reisens. Deren Philosophie schrieb er in seinem Buch-Essay von 1931 mit dem Titel „Incertitudes allemandes“. 25 Die empathiegeleitete, aber keineswegs unkritische Annäherung dieser nen in der Publikationsserie „International Conciliation“ N° 177, die herausgegeben wurde von der American Association for International Conciliation. 23 Cf. dazu Marc Thuret: „Voyageurs français à Berlin 1918-1933“, in: Gilbert Krebs (ed.): Sept décennies de relations franco-allemandes 1918-1988. Hommage à Joseph Rovan, Asnières 1989, p. 17sqq. 24 Ein nuanciertes Porträt dieser Generation von französischen Deutschland-Reisenden ist nachgezeichnet worden von Jean-François Sirinelli: Génération intellectuelle. Khâgneux et Normaliens dans l’entre-deux guerres, Paris 1988. Bes. p. 208-344. 25 Pierre Viénot: Incertitudes allemandes. La crise de la civilisation bourgeoise en Allemagne, Paris 1931; Pierre Viénot: Ungewisses Deutschland. Zur Krise seiner bürgerlichen Kultur. Neu herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Hans Manfred Bock, Bonn 1999. <?page no="261"?> 261 Autoren an Berlin tritt auch deutlich hervor in den Briefen des jungen Pierre Bertaux, der 1927/ 28 in Berlin studierte und von sich behauptete, er sei der erste französische Student in Berlin seit dem Ersten Weltkrieg gewesen. Seine Briefe wurden unlängst veröffentlicht. 26 Für diese intimen Kenner Berlins bereitete sich dort, an der Schnittstelle der westlichen und der östlichen Kultureinflüsse und unter der doppelten Einwirkung der Jugendbewegung und der Arbeiterbewegung, die Zukunft der nachbürgerlichen Gesellschaftskultur vor. Diese Sicht teilten sie weitgehend mit ihrem älteren Freund Jean-Richard Bloch, der ein Porträt dieses Berlin in seinem Buch „Mitropa“ zeichnete. 27 Um diese jungen französischen Intellektuellen herum bewegten sich andere junge Schriftsteller aus Frankreich wie z.B. René Crevel, René Trintzius, Pierre Bost u.a. Auch sie waren fasziniert von den in die Zukunft weisenden Aspekten von Berlin und sie ließen es sich angelegen sein, in ihren Romanen diese Aspekte hervorzukehren, nicht ohne dabei gelegentlich in die Karikatur zu verfallen. Sie beschworen mit dem Blick auf Berlin eine Art Exotismus der Modernität, indem sie die Aufmerksamkeit lenkten auf Phänomene wie die Freikörperkultur, die Homosexualität, die Frauenemanzipation und das Sexualwissenschaftliche Institut des Magnus Hirschfeld. 28 Um eine ganz andere Faszination von Deutschland und von Berlin ging es in den Büchern und Artikeln der französischen Autoren, die Kritiker der Dritten Republik waren und Bewunderer des Dritten Reichs als Modell für die nationale Wiedergeburt in Frankreich. Diese Autoren wurden von den nationalsozialistischen Aktivisten der deutsch-französischen Begegnung umworben und ihre Publikationen wurden gerühmt in den „Deutsch- Französischen Monatsheften/ Cahiers franco-allemands“. 29 Der Blick, den sie auf Deutschland richteten, galt eher der Bewegung und den Ritualen der Nationalsozialisten als der Hauptstadt Berlin; sie ästhetisierten dieselben und stellten sie dar als Inspirationsquelle für den nationalen Wiederaufstieg des postdemokratischen Frankreich. Die „Gerbe des forces“ von Alphonse de Châteaubriant, die nahezu gleichzeitig in Paris (1937) und in Berlin (1938) erschien, kann als Beispiel gelten für diese Art von Literatur, 26 Bertaux, op. cit. 27 Cf. die Studie zu dieser Artikelserie, die zuerst in der Zeitschrift „Europe“ erschien: Wolfgang Asholt: „Une leçon d’européanisme. Le Berlin de Jean-Richard Bloch“, in: Hans Manfred Bock, Gilbert Krebs (ed.): Echanges culturels et relations diplomatiques, op. cit., p. 295-312. 28 Dieser Aspekt der Faszination französischer Berlin-Reisender wird dargestellt in Jürgen Ritte: „Sodome à Berlin? Les mœurs berlinoises vues à travers les yeux de voyageurs français (1920-1930)“, in: Echanges culturels et relations diplomatiques, op. cit., p. 333-348. 29 Dies Periodikum ist analysiert worden von Barbara Unteutsch: Vom Sohlbergkreis zur Gruppe „Collaboration“. Ein Beitrag zur Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen anhand der „Cahiers Franco-Allemands“/ “DeutschFranzösische Monatshefte“ 1931-1944, Münster 1990. <?page no="262"?> 262 in der die Großstadt nicht mehr als Träger der Zivilisationsentwicklung, sondern als Ursache für den Niedergang der nationalen Größe erschien. 30 Die Berichte über die Berlin- und Paris-Reisen in den Deutsch-französischen Monatsheften dienten als Beweis für eine vorgefertigte Sichtweise und nicht der Entdeckung neuer Aspekte der urbanen Kultur. Sie waren politische Instrumente und ihre Darstellungsweise glich einem Tätigkeitsbericht der an ihnen beteiligten organisierten Kräfte. Im Gegensatz zu den pazifistischen Reiseberichten schrieben diese Kollektiv-Reise-Berichte der Anhänger der nationalen Revolution in Frankreich die antithetische Struktur in ihrer Gedankenführung fort, ja, sie vertieften sie sogar. Um noch einen Blick auf die deutschen Veröffentlichungen zu den Reiseerfahrungen zu werfen, sollen im folgenden die selben Orientierungspunkte herangezogen werden wie im vorausgegangenen Überblick. Zu den Paris-Reisen deutscher Pazifisten ist die Informationsbasis relativ gut aufgrund einer Monographie über die Reise Albert Einsteins in die französische Hauptstadt im Jahre 1923 und aufgrund der Studien, die einer der großen Gestalten des deutschen Pazifismus, Hellmut von Gerlach, gewidmet wurden. 31 Das seltsamste Dokument dieser pazifistisch inspirierten Reisen ist der umfangreiche Band von Fritz von Unruh „Flügel der Nike“, der 1925 veröffentlicht wurde. 32 Der Aristokrat und ehemalige preußische Offizier von Unruh war während des Ersten Weltkrieges Pazifist geworden. Da er in Frankreich - wo Jacques Benoît-Méchin seine Dramen übersetzt hatte - einen recht guten Ruf genosss, wurde er bei seiner Ankunft in Paris 1924 von Vertretern der pazifistischen Bewegung und Intellektuellen, die dieser nahestanden, begrüßt. Er verfasste über diesen Aufenthalt einen tagebuchartigen Band, in dem er über seine Pariser Begegnungen mit so viel Indiskretionen, Klatschelementen sowie herabsetzenden und schlecht begründeten Urteilen berichtete, daß dies Buch sofort einen Skandal auslöste. Bei dieser Reise handelt es sich um ein Beispiel des Typs der individuellen Reise, deren Bericht in den Kreisen des organisierten Pazifismus schlecht aufgenommen wurde wegen seiner zahlreichen persönlichen und 30 Alphonse de Châteaubriant: La gerbe des forces. Paris 1937. Ders.: Geballte Kraft. Ein französischer Dichter erlebt das neue Deutschland, Karlsruhe 1938. Im Mittelpunkt des Interesses von de Châteaubriant steht nicht Berlin, sondern Bayreuth. Diese Interessenverlagerung entfernt sich von der Hauptstadt, um sich der Peripherie zuzuwenden, dem ‚pays réel’; die Abwendung findet sich in den meisten französischen Reiseberichten über Deutschland in den dreißiger Jahren. Cf. dazu auch Edward Reichel: „A Berlin! A Berlin! Deutschlandreisen französischer Schriftsteller“, in: Bock, Meyer,- Kalkus, Trebitsch (ed.): Entre Locarno et Vichy, op. cit., p. 661-674. 31 Michel Biezunski: Einstein à Paris, Saint-Denis 1991; Karl Holl, Adolf Wild (ed.): Ein Demokrat kommentiert Weimar. Die Berichte Hellmut von Gerlachs an die Carnegie- Fiedensstiftung in New York, Bremen 1973. 32 Fritz von Unruh: Flügel der Nike. Buch einer Reise, Frankfurt/ M. 1925. (Ders.: Sämtliche Werke, Berlin 1970, Bd. VII). <?page no="263"?> 263 politischen Anspielungen, die oft in einer exaltierten expressionistischen Sprache vermittelt wurden. Sehr viel diskreter war der Bericht, den Thomas Mann über seinen ersten Nachkriegs-Aufenthalt in Paris vom Januar 1926 verfasste. In seinem Text, der zuerst in der „Neuen Rundschau“ des Fischer-Verlags und dann als Buch unter dem Titel Pariser Rechenschaft erschien, 33 spiegelt sich der „Geist von Locarno“ in zweierlei Weise. Zum einen versuchte Thomas Mann von einem Ende bis zum anderen des Buches seine Haltung zu Frankreich darzulegen, um den frankreichfeindlichen Eindruck abzumildern, den seine Betrachtungen eines Unpolitischen hinterlassen hatten. 34 Zum anderen aber berichtete er vor allem von seinen Begegnungen mit den intellektuellen Protagonisten der deutsch-französischen Verständigung in Paris. Beispielsweise findet man in seinem Reisebericht Szenen und Überlegungen zur Charakterisierung des Deutsch-französischen Studienkomitees, zur Carnegie-Stiftung und zum gastfreundlichen Haus von Félix Bertaux, dem Übersetzer von Thomas und Heinrich Mann und Vater von Pierre Bertaux. Die antithetische Diskursanordnung, die sich in den meisten Dokumenten zum deutsch-französischen Dialog dieser Periode findet, verschwindet nicht ganz in der Pariser Rechenschaft; aber sie wird relativiert durch zahlreiche Beispiele für das kulturelle Geben und Nehmen zwischen Deutschland und Frankreich. Im Zusammenhang mit dem „geistigen Locarno“ muss das Erfolgsbuch über Frankreich von Friedrich Sieburg herangezogen werden. Sein Gott in Frankreich? , 1929 veröffentlicht und bis heute im Buchhandel, 35 ist das Ergebnis seines Paris-Aufenthaltes, den er dort seit 1925 als Korrespondent der Frankfurter Zeitung verbrachte. Er zeichnete dort das Bild eines liebenswerten und individualistischen Frankreich, das seinen Anschluss an die Modernität verpasst hatte. Für Sieburg - wie für viele andere deutsche Frankreich-Publizisten - bündelte Paris alle wesentlichen Züge Frankreichs. Er fällte also in seinem Paris-Kapitel dasselbe Urteil über die Hauptstadt wie über das ganze Land: Beide sind „fertig“ im doppelten Sinne des Wortes, d.h. sie sind „vervollkommnet“ und sie sind „erledigt“. Mit seinem herablassend zwiespältigen Urteil über Paris/ Frankreich hatte Sieburg mehr Erfolg bei seinem bürgerlichen Lesepublikum in Deutschland als die anderen Schriftsteller und Journalisten, die Mitte der zwanziger Jahre in großer Zahl nach Paris aufbrachen; hier 33 Thomas Mann: Pariser Rechenschaft, Berlin 1926. 34 Er wurde vor allem von den intellektuellen Rechten als Protagonist des „pangermanisme“ angesehen. Cf. z.B. Ernest Seillière: Les pangermanistes d’après-guerre, Paris 1924. 35 Friedrich Sieburg: Gott in Frankreich? Ein Versuch, Frankfurt/ M. 1929; kritisch zum Autor dieses Erfolgsbuches cf. Margot Taureck: Friedrich Sieburg in Frankreich, Heidelberg 1987 und mit apologetischer Grundhaltung Tilman Krause: Mit Frankreich gegen das deutsche Sonderbewusstsein. Friedrich Sieburgs Wege und Wandlungen in diesem Jahrhundert, Berlin 1993. <?page no="264"?> 264 sind stellvertretend die Namen von Joseph Roth, Walter Mehring, Walter Hasenclever und Kurt Tucholsky zu nennen? 36 Alle diese Publizisten hatten ein enthusiastischeres Urteil über die französische Hauptstadt, und zwar aus zwei Gründen: Sie waren entweder Anhänger der urbanen Lebensweise, deren höchste Vervollkommnung sie in Paris fanden, oder sie liebten Paris als den Inbegriff der republikanischen politischen Kultur. Die meisten dieser Schriftsteller waren 1933 gezwungen, ins Exil zu gehen, und ihren Platz nahmen Autoren mit nationalsozialistischer Überzeugung ein. 37 Die Literatur zu Frankreich und Paris, die im Zusammenhang mit den kollektiven Reisen in den Jahren 1933 bis 1939 entstand, war keine Literatur von Intellektuellen. Sie erschien in der Form von populären Reisebüchern, die von Arbeitern oder Journalisten verfasst wurden in einem ungeschliffenen Stil und in der Absicht der Rechtfertigung der „nationalen Revolution“ in Deutschland. 38 Alle diese Autoren widmeten Paris lange und anekdotenreiche Kapitel, in denen sie vor allem auf die erotischen Aspekte des Nachtlebens und auf die buntgewürfelte Zusammensetzung der Bevölkerung eingingen. Obwohl sie offensichtlich mit rassistischen Maßstäben urteilten, versicherten sie alle ihren guten Willen, an der verbesserten Kenntnis zwischen Franzosen und Deutschen mitzuwirken, für die von den Kriegsteilnehmern auf beiden Seiten des Rheins ein gutes Beispiel gegeben worden sei. Der erzählerische Duktus dieser Veröffentlichungen war allem Anschein nach den Reportage-Büchern nachgebildet, die unter der Weimarer Republik einen Höhepunkt der Popularität erlebten. Die in diesen Publikationen der dreißiger Jahre vorherrschende Ausdrucksweise war bar aller Anspielungen auf die Geschichte oder Kultur Frankreichs, mit denen die Artikel und Feuilletons der republikanischen Schriftsteller der zwanziger Jahre gespickt waren. Es waren Texte, die nur geringe kulturelle Voraussetzungen erforderten zum Lesen und Verstehen durch das große Publikum. Die Ausnahme von dieser Regel war die Veröffentlichung eines Essays, der von einem Schüler von Ernst Robert Curtius aus Anlass der Pariser Weltausstellung von 1937 geschrieben wurde und der das geistige Leben der französischen Hauptstadt thematisierte. 39 In 36 Ihre Artikel und Feuilletons zu Paris sind zusammengestellt und neu veröffentlicht in: Walter Hasenclever: Pariser Feuilletons 1924-1926, Mainz 1996 (Ders. Sämtliche Werke, Bd. III.I); Walter Mehring: Reportagen der Unterweltstädte. Berichte aus Berlin und Paris 1918 bis 1933, Oldenburg 2001. 37 Cf. Albrecht Betz: Exil und Engagement. Deutsche Schriftsteller im Frankreich der dreißiger Jahre, München 1986. 38 Z. B. Valentin J. Schuster: Der Nachbar im Westen, Berlin 1936; Hans Wendt: Frankreich heute und wir. Ein blau-weiß-rotes ABC, Berlin 1939; Roland Krug von Nidda: Marianne 39, Berlin 1939. 39 Gustav R. Hocke: Das geistige Paris 1937, Leipzig-Markkleeberg 1937; die Auflage dieser Broschüre erreichte 6.000 im Laufe des Jahres 1937. Eine monographische Studie wurde dem Entstehungskontext dieses Buches gewidmet, deren Autor den Aus- <?page no="265"?> 265 dieser Broschüre nahm der Verfasser eine etwas herablassende Beurteilung der zeitgenössischen kulturellen Produktion Frankreichs vor, die nach seiner Auffassung zu sehr in ihre nationalen Traditionen eingesponnen war. Aber zugleich konstatierte und billigte er das Wiedererwachen des Interesses der Intellektuellen 40 am Thema der nationalen Identität, indem er die Weltausstellungen in Paris von 1900 und von 1937 verglich. Dieser Buch-Essay von Gustav René Hocke trug alle stilistischen Merkmale der frankophilen deutschen Essays der zwanziger Jahre, machte aber deutliche Konzessionen an die vorherrschende Denkweise im nationalsozialistischen Deutschland auf der argumentativen Ebene. Er rühmte z.B. Paul Morand, der die Assimilation „gewisser semitisch-orientalischer oder balkanischarmenischer [...] Einflüsse“ durch die französische Kultur verurteilt und die Hinwendung zum bäuerlichen und bescheidenen Charakter von „France-La-Doulce“ gerühmt habe. 41 Der kleine Text von Hocke über Paris weckte gerade durch seinen intellektuellen Kontrast zur dominanten Populärliteratur über Frankreich im Hitler-Deutschland ein lebhaftes Interesse. Das populärste deutsche Buch über Frankreich wurde jedoch in den dreißiger Jahren von einem pazifistischen Konservativen veröffentlicht, der seit 1933 in einer Art Halbexil in Paris lebte und Paul Distelbarth hieß. 42 Er kam aus dem republiktreuen Flügel der Kriegsveteranenverbände und war beeinflusst von einem pazifistischen protestantischen Theologen (Martin Rade). Distelbarth veröffentlichte (mit Hilfe von Ernst Rowohlt) sein Buch Lebendiges Frankreich, das fast gleichzeitig (mit Hilfe des republikanischen Großverbandes der französischen Anciens Combattants) in Frankreich unter dem Titel France vivante erschien. 43 Das Buch hatte einen ungewöhnlichen Erfolg. Es erreichte bis 1939 fünf Auflagen und wurde erst beim Ausbruch des Zweiten Weltkrieges verboten. Im Widerspruch zum Deutschlandbild, das von den Nationalsozialisten verbreitet wurde, wollte Distelbarth nachweisen, daß das Nachbarland in keiner Weise eine dekadente Nation war, sondern eine Gesellschaft voller Dynamik und Friedfertigkeit. Diese nahmecharakter der Veröffentlichung im Vergleich mit der Populärliteratur über Frankreich nicht hinreichend darstellt: Johannes Graf: „Verbindung von französischer Tradition mit sachlicher Modernität. Gustav René Hocke berichtet über die Weltausstellung 1937 in Paris“, in: Peter J. Brenner (ed.) Reisekultur in Deutschland. Von der Weimarer Republik zum „Dritten Reich“, Tübingen 1997, p. 101-126. 40 Er bezieht sich namentlich auf Paul Morand. 41 Hocke, op. cit., p. 40. 42 Über die schwierige Situation dieses Autors zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und dem deutschen Exil in Frankreich cf. meine Studien: „Paul Distelbarths Lebendiges Frankreich. Ein Dokument verdeckter Opposition und verständigungspolitischer Kontinuität im Dritten Reich“, in: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 12: Aspekte der künstlerischen Inneren Emigration 1933-1945, München 1994, p. 99-113; cf. auch die Studie zu Distelbarth im vorliegenden Buch. 43 Paul Distelbarth: Lebendiges Frankreich, Berlin 1936; Paul Distelbarth: France vivante. Texte français de l’auteur, Paris 1937, 2 Bde. <?page no="266"?> 266 Eigenschaften Frankreichs durfte man allerdings nicht in Paris und seiner urbanen Kultur suchen, sondern in seinen Provinzen und bei den kleinen Leuten. Dementsprechend widmete der Autor nur ein Kapitel von 10 Seiten (von insgesamt 380) der französischen Hauptstadt. Diese hatte - gemäß seiner Argumentation - eine führende Rolle in der nationalen Geschichte gespielt, gegenwärtig jedoch hatte das Volk, der Nährboden aller Revolutionen, seit 1871 Paris verlassen, um in den Vorstädten bzw. in der Provinz zu leben: „So hat Paris seine vorherrschende Stellung eingebüßt, die es jahrhundertelang innehatte“. 44 Der Verfasser (der trotz dieser Feststellung auch ein bemerkenswertes Buch über das geistige Leben in Paris schrieb 45 ) ordnete sich mit dieser Argumentation also einer in Deutschland wie in Frankreich mächtigen Strömung zu, die die nationale Wiedergeburt durch die Rückkehr zum einfachen Leben und den entsprechenden Tugenden propagierte. Wenn er aufgrund seiner Frankophilie sich im Gegensatz zur nationalsozialistischen Frankeich-Sicht befand, so reihte er sich dennoch in die Tendenz ein, den Blick vom urbanen Leben der Metropolen abzuwenden und auf das regionale und ländliche Leben zu richten, das als Gewähr für die moralische Integrität der Nation galt. Es ist sinnvoll, die thematische Aufmerksamkeit über das Jahr 1939 auszuweiten, um den vorgelegten Überblick über die Reisen zwischen Berlin und Paris in der Zwischenkriegszeit abzurunden und die These vom soziologischen Wandel der deutsch-französischen Reise sowie der Erzählstruktur in den entsprechenden Reiseberichten zu bestätigen. Die Reisen, die 1941/ 42 von Gruppen französischer Intellektueller und Künstler auf Einladung des nationalsozialistischen Deutschland während der Zeit der Besatzung in Frankreich durchgeführt wurden und die unlängst viel Forschungsinteresse auf sich gezogen haben 46 , erscheinen gemäß den Ergebnissen der vorliegenden Studie als die direkte Fortführung einer bereits erprobten Praxis der kollektiven Reise zwischen den Hauptstädten beider Länder. Die kollektive Reise, die vor Hitlers Machtübernahme als Mittel zum besseren Verständnis zwischen beiden Völkern Eingang gefunden hatte in die bilaterale Austauschpraxis, veränderte im Laufe der dreißiger Jahre mehr und mehr ihre Funktion und wurde schließlich ein Instrument der Propaganda und der Penetration Frankreichs durch das totalitäre Regime in Deutschland. Die französischen Schriftsteller, Künstler, Musiker und Filmemacher, die während der Kriegsjahre gruppenweise 44 Distelbarth: Lebendiges Frankreich , op. cit., p. 266. 45 Paul Distelbarth: Neues Werden in Frankreich. Zeugnisse führender Franzosen, Stuttgart 1938. 46 Cf. François Dufay: Le voyage d’automne. Octobre 1941, des écrivains français en Allernagne. Récit, Paris 2000 und Frank Rutger Hausmann: „Dichte, Dichter, tage nicht! “ Die Europäische Schriftsteller-Vereinigung in Weimar 1941-1948, Frankfurt/ M. 2004. Bes. p. 143-186. <?page no="267"?> 267 und unter Leitung der deutschen Besatzungsmacht die Reise nach Berlin antraten, dienten - willentlich oder unwillentlich - einer anderen Zielsetzung als der Verständigung zwischen beiden Völkern. <?page no="269"?> 269 IX. Vom Elitenaustausch zur zivilgesellschaftlichen Gruppenbegegnung. Die Ursprünge des Deutsch-Französischen Jugendwerks Die neuartige Form der kulturellen Beziehungen zwischen Franzosen und Deutschen, die während der Jahre 1945-1949 in der französischen Besatzungszone vor allem von der Sektion Jeunesse et Sports der Kulturabteilung und von privaten Verständigungsgruppen in beiden Ländern geschaffen wurde, 1 wirkte nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland zwar nicht unmittelbar sichtbar, aber doch nachhaltig fort. Die Protagonisten der bilateralen Begegnung und Kommunikation hatten am Ende der militärischen Besatzungsperiode 1948/ 49 sich in mehreren Vereinigungen (Bureau international de liaison et de documentation (BILD), Gesellschaft für übernationale Zusammenarbeit (GÜZ), Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle und Deutsch-französisches Institut (DFI)) zusammengeschlossen; 2 andere Schrittmacher des soziokulturellen Austauschs setzten ihre Arbeit (mit knapper werdenden Mitteln 3 ) im Rahmen der Kulturabteilung des französischen Hochkommissariats bis 1955 fort. Zieht man die Tatsache in Betracht, daß zu Beginn der fünfziger Jahre die Bundesrepublik in Frankreich weder über eine Botschaft noch über eine institutionelle auswärtige Kulturpolitik verfügte, 4 so ist der hohe funktionale Stellenwert der Tätigkeit der nichtoffiziellen Organisationen in diesem Bereich erklärlich. Von einem Berufsdiplomaten und Gründungsmitglied des DFI in Ludwigsburg wurde z. B. die Bewertung der Arbeit dieser privaten Verständigungseinrichtungen im Auswärtigen Amt Anfang 1956 so charakterisiert: „Bei allen Sachkennern besteht Übereinstimmung, daß das deutsch-französische Institut in Ludwigsburg neben der Gesellschaft für 1 Cf. die Studie Stefan Zauner: Erziehung und Kulturmission. Frankreichs Bildungspolitik in Deutschland 1945-1949, München 1994; und den Überblick in Hans Manfred Bock (ed.): Projekt deutsch-französische Verständigung. Die Rolle der Zivilgesellschaft am Beispiel des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg, Opladen 1998, bes. p. 59-102. 2 Cf. ibid., p. 102sqq. 3 Dazu Corine Defrance: „Eléments d’une analyse de la politique culturelle française en Allemagne à travers son financement, 1945-1955“, in: Revue d’Allemagne, 1991, p. 499- 518. 4 Zur Rolle der „Mission Hausenstein“ cf. vor allem Peter Matthias Reuss: Die Mission Hausenstein (1950-1955). Ein Beitrag zur Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg, Sinzheim 1995 und Ulrich Lappenküper: „Wilhelm Hausenstein, Adenauers erster Missionschef in Paris“, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 1995, p. 635-678. <?page no="270"?> 270 Internationale Zusammenarbeit, die jetzt von Offenburg nach Köln übergesiedelt ist, eine überaus wertvolle Arbeit für die Pflege und Förderung der kulturellen Beziehungen in Frankreich getan hat.“ 5 Vormalige Vertreter der kulturellen Besatzungsverwaltung kehrten bis Mitte der fünfziger Jahre nach Frankreich zurück und setzten dort in der Ministerialbürokratie oder in den Bildungseinrichtungen ihre konzentrierten Bemühungen zugunsten des französisch-deutschen Austauschs und Dialogs fort. Beispiele für die erstgenannte Personengruppe sind Jean-Charles Moreau, ehemaliger Leiter des Bureau de la Jeunesse in der Kulturabteilung der französischen Militärregierung und später in der Direction Générale des Affaires Culturelles et Techniques im Außenministerium tätig; oder César Santelli, der aus dem Erziehungsministerium kommend 1949 eine kulturpolitische Mission des Quai d’Orsay in Deutschland übernommen hatte und dann als Inspecteur Général de l’Instruction Publique wieder in Paris tätig war; 6 Geneviève Carrez, langjährige Mitarbeiterin von Jean-Charles Moreau, war 1954 in das Sekundarschulwesen nach Besançon zurückgekehrt und baute dort eine sehr aktive internationale Verständigungsorganisation auf. 7 Sie ist ebenso wie Joseph Rovan ein Beispiel für die Übertragung des Verständigungsimpulses der ersten Nachkriegsjahre in die geduldige Kleinarbeit der institutionellen und privaten Austauschaktivitäten zwischen beiden Ländern in den fünfziger Jahren. Joseph Rovan, Verfolgter und Deportierter des Hitler-Regimes, stieß Mitte 1948 als Vertreter der Erwachsenenbildungs-Organisation Peuple et Culture zur Kulturabteilung der Militärregierung in Baden-Baden bzw. des Hochkommissariats in Mainz und kehrte 1954 in die gesellschaftliche Erziehungsarbeit zugunsten der Vertiefung der französisch-deutschen Beziehungen nach Paris zurück. 8 Nach der Gründung der Bundesrepublik bestand eine der Hauptaufgaben der französischen auswärtigen Kulturpolitik darin, auch über die ehemalige französische Besatzungszone hinaus eine institutionelle Basis für den Kulturaustausch und die Kulturwerbung im westdeutschen Staat zu schaffen. Dies erfolgte unter Hochkommissar François-Poncet vor allem vermittels des Aufbaus eines Netzes von Instituts Français und ähnlichen offiziellen Einrichtungen kultureller Präsenz Frankreichs in der Bundesre- 5 Brief Hanns-Erich Haack an Fritz Schenk vom 06.01.1956 im Archiv des Deutschfranzösischen Instituts in Ludwigsburg; mit der „Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit“ ist die GÜZ gemeint. 6 Cf. dazu Stefan Zauner, cf. op. cit., p. 312sqq. 7 Sie berichtete über die Entstehung dieser association, in: Die Bedeutung der privaten Initiative für die Deutsch-Französische Verständigung. Referate und Ergebnisse der Ludwigsburger Tagung 1957, o. O., o. J. (Ludwigsburg 1958), p. 34-38. 8 Cf. dazu jüngst Joseph Rovan: „Les associations de jeunes au service de l’entente franco-allemande“, in: Passerelles et passeurs. Hommages à Gilbert Krebs et Hansgerd Schulte, Asnières 2002, p. 289sqq. <?page no="271"?> 271 publik. 9 Für die deutsche Seite stand an der Schwelle zu den fünfziger Jahren auf der soziokulturellen Beziehungsebene zu Frankreich - nicht zuletzt mangels offizieller Akteure 10 - die Aufgabe auf der Tagesordnung, die organisatorischen Voraussetzungen für das Interesse an und die Kontaktnahme mit Frankreich auszubauen und zu stabilisieren. War es für Deutsche prinzipiell bis 1948/ 49 schwierig, aus eigenem Antrieb und nicht auf Einladung von der anderen Seite Kontakte nach Frankreich herzustellen, 11 so entstanden im Laufe der fünfziger Jahre neue gesellschaftliche Austauschstrukturen in der Bundesrepublik, die diese Hemmschwelle zu überwinden halfen. In der Regel (wenngleich nicht in jedem Einzelfall) aufgrund der Initiative von deutscher Seite wurden deutsch-französische Gemeinde-, Schul- und Universitätspartnerschaften und Deutsch-Französische Gesellschaften gegründet, 12 die an die Seite der älteren Verständigungs-Organistionen (Comité français d’échanges, BILD, GÜZ, DFI u.a.) traten. Das deutsch-französische Beziehungs- und Kommunikationsgeflecht verdichtete sich auf diese Weise vor allem von der gesellschaftlichen Basis her. 1. Politikfähigkeit der gesellschaftlichen Austauschstrukturen durch organisatorische Zusammenfassung Das Netz soziokultureller Mittlereinrichtungen zwischen der Bundesrepublik und Frankreich blieb in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre noch relativ weitmaschig geknüpft, was nicht zuletzt durch die Wiederbelebung feindseliger Vorstellungen im Laufe der EVG-Krise bedingt war. Nach den Pariser Verträgen und insbesondere nach der Lösung des Saar-Problems vervielfältigte sich sowohl die Zahl der verschiedenen Verständigungs- 9 Cf. (historisch und konzeptuell seltsam unzulänglich) als Überblick Victoria Znined- Brand: Deutsche und französische auswärtige Kulturpolitik. Eine vergleichende Analyse. Das Beispiel der Goethe-Institute in Frankreich sowie der Instituts und Centres Culturels Français in Deutschland seit 1945, Frankfurt/ Main 1999. 10 Institutionelle Akteure wie die Zweigstelle des DAAD in Paris und das Pariser Goethe-Institut nahmen erst 1963 ihre Arbeit auf; cf. dazu Eckard Michels: „Vom Glück der verspäteten Arbeitsaufnahme. Die Anfänge des Goethe-Instituts in Paris“, in: Lendemains, 2001, 103/ 104, p. 97-107, und meine Studie: „Der DAAD in den deutschfranzösischen Beziehungen“, in: Peter Alter (ed.): Der DAAD in der Zeit. Geschichte, Gegenwart und zukünftige Aufgaben. Vierzehn Essays, Bonn 2000, p. 196-219. 11 So z. B. die Erfahrung des frankophilen Publizisten Paul Distelbarth in den späten vierziger Jahren; cf. Paul H. Distelbarth: Das andere Frankreich. Aufsätze zur Gesellschaft, Kultur und Politik Frankreichs und zu den deutsch-französischen Beziehungen 1932- 1953, Bern, Berlin 1997, p. 76sqq. 12 Cf. dazu das Lendemains-Dossier: „Deutsch-französische Kulturbeziehungen 1949- 1955“, in: Lendemains, 1996, 84, p. 58-125. <?page no="272"?> 272 agenturen als auch das Volumen der Begegnungsprogramme deutlich. 13 In dieser Expansionsphase der sozial und kulturell engagierten privaten Mittlerorganisationen zeichnete sich an mehreren Stellen die Neigung ab, die lokal oder regional entstandenen Stützpunkte deutsch-französischen Verkehrs auf Bundesebene zusammenzufassen. Erkennbares Ziel dieser Föderierungstendenzen war es, die Entlastung der Basisorganisationen, die Vermehrung ihrer Gründungsinitiativen und vor allem eine gemeinsame Außenvertretung ihrer Ziele und Interessen zu erreichen. In der Mehrzahl der Föderierungsversuche privater Verständigungsorganisationen zwischen der Bundesrepublik und Frankreich kam der erste Anstoß zum Zusammenschluß von der deutschen Seite; in der Regel führten aber die erfolgreichen Bemühungen um die Bildung einer Dachorganisation in der Bundesrepublik dann auch zu Parallelgründungen in Frankreich. Beispiele dafür sind die Vereinigung Deutsch-Französischer Gesellschaften, der in Frankreich die Fédération des Associations Franco-Allemandes entsprach, 14 der Carolus-Magnus-Kreis, dem in Frankreich die Association des Anciens Lecteurs, Assistants et Boursiers Français en Allemagne an die Seite trat, 15 oder die Deutsch-Französische Rektorenkonferenz; 16 all diese übergreifenden Strukturen entstanden in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre. Als Föderierungsversuch privater Mittlerorganisationen in der Bundesrepublik, der sich in diesem Fall an einer bereits in Frankreich existierenden Dachorganisation mit gleicher Zielsetzung orientierte, ist der „Arbeitskreis der privaten Institutionen für internationale Begegnung und Bildungsarbeit“ anzusehen, der 1954 gegründet wurde. Er blieb eine diskret arbeitende Organisationsgründung und ist deshalb bislang völlig unbeachtet geblieben. Dieser Organisationsentwurf ist jedoch aus mehreren Gründen für das Verständnis der Eigenart soziokultureller Beziehungsstrukturen zwischen der Bundesrepublik und Frankreich an der Schwelle zu den sechziger Jahren und damit für die gesellschaftsgeschichtliche Entstehungsgrundlage des Deutsch-Französischen Jugendwerks (DFJW) von 13 Ergänzend der Überblick Hans Manfred Bock: „Kalter Krieg und ‚deutsche Gefahr‘. Politisch-gesellschaftliche Motive französischer Deutschland-Wahrnehmung und ihres Wandels in den fünfziger Jahren“, in: SOWI. Sozialwissenschaftliche Information, 1999, 1, p. 43-51. 14 Bernd Van Deenen: „Die Vereinigung Deutsch-Französischer Gesellschaften in Deutschland und Frankreich e. V. (VDFG). Versuch einer Standortbestimmung“, in: Klaus Otto Naß (ed.): Elsie Kühn-Leitz. Mut zur Menschlichkeit, Bonn 1994, p. 249sqq. 15 Cf. dazu Ulrich Barth: „Der Carolus-Magnus-Kreis und seine Funktion im deutschfranzösischen Assistentenaustausch“, in: Jürgen Olbert (ed.): Le colloque de Strasbourg 1977. Die erste Begegnung deutscher Französischlehrer und französischer Deutschlehrer, Frankfurt/ Main 1979, p. 189-192. 16 Cf. Corine Defrance: „Les relations universitaires franco-allemandes avant 1963. Impulsions institutionnelles et initiatives privées“, in: Lendemains. Etudes comparées sur la France. Vergleichende Frankreichforschung, Nr. 107/ 108, 2002, p. 202-219. <?page no="273"?> 273 großem Interesse. Der erste Grund für die nähere Betrachtung des Arbeitskreises der privaten Institutionen (APIIBB) 17 liegt in der Tatsache, daß die dort über mehrere Jahre verfolgten Versuche der Zusammenfassung aller im (west-) deutsch-französischen Kontext tätigen privaten Vereinigungen einen einzigartigen Einblick in das (bewegliche) Spektrum des gesellschaftlichen Verständigungsmilieus erlauben. Der zweite Anlaß für die monographische Befassung mit diesem vergessenen Föderierungsanlauf ist darin begründet, daß sich dort mit besonderer Klarheit eine neuartige Auffassung von internationalen Kulturbeziehungen abzeichnet, die gegen Ende der fünfziger Jahre offenbar weithin konsensfähig war und auf die Formel des „erweiterten Kulturbegriffs“ gebracht wurde. Drittens verdient dieser Arbeitskreis in der Geschichte der bilateralen Kulturbeziehungen eine eingehendere Analyse, weil in seinen Aktivitäten und Überlegungen das Desiderat der Zusammenführung von privaten Verständigungs-Organisationen und staatlichen Institutionen der auswärtigen Kulturpolitik dominant war und dort damit ein Strukturmerkmal vorgedacht wurde, das bei der Konzipierung des wichtigsten Steuerungsorgans des DFJW, seines Kuratoriums, ausschlaggebend werden sollte. Der APIIBB entstand unter maßgeblicher Beteiligung des internationalen Austausch-Experten Winfried Böll und des Leiters des DFI in Ludwigsburg, Fritz Schenk, im März 1954. Zwei Motive spielten bei seiner Gründung eine Rolle. Zuerst hatte der DFI-Direktor schon in der Gründungsphase des Instituts 1948/ 49 die Hoffnung gehegt, daß dieser in der amerikanischen Besatzungszone gelegene Ort deutsch-französischer Begegnung zur überregionalen Koordinationsstelle gleichgerichteter Unternehmungen werden könnte. 18 Alsdann entstand bei den privaten Austausch-Organisationen insbesondere seit der Annahme des Deutsch- Französischen Kulturabkommens vom Oktober 1954, das in Verbindung mit den Pariser Verträgen verabschiedet wurde, 19 der Eindruck, daß nunmehr der bilaterale Gesellschafts- und Kultur-Verkehr zwischen beiden Ländern überwiegend in staatliche Regie genommen werden sollte und daß sie auf diese Weise das weitgehende Monopol, das sie in diesem Be- 17 Die hier gewählte Abkürzung APIIBB war während der Existenz des Arbeitskreises nicht üblich und wird hier gebraucht, um die schwerfällige Namenswiederholung zu vermeiden. Das Archiv des Arbeitskreises befindet sich im DFI in Ludwigsburg. Den Hinweis und Zugang zu diesem 7 Aktenordner umfassenden Archivbestand verdanke ich dem früheren Leiter der Frankreich-Bibliothek beim DFI, Herrn Dieter Menyesch, und Frau Hannelore Braun vom DFI. 18 Cf. Hans Manfred Bock: „Das DFI in der Geschichte des zivilgesellschaftlichen Austauschs zwischen Deutschland und Frankreich“, in ders.: Projekt deutsch-französische Verständigung, op. cit., p. 96sqq. 19 Zur Entstehung des Abkommens cf. Ulrich Lappenküper: „‚Sprachlose Freundschaft‘? Zur Genese des deutsch-französischen Kulturabkommens vom 23. Oktober 1954“, in: Lendemains, 1996, 84, p. 67-82. <?page no="274"?> 274 reich seit den späten vierziger Jahren ausgeübt hatten, mitsamt den daran hängenden Subsidien verlieren könnten. Dem im Kulturabkommen von 23.10.1954 vorgesehenen „ständigen gemischten Ausschuß“ (Art. 16) war die Entscheidung über die Unterstützungswürdigkeit eines Teils der kulturellen Veranstaltungen übertragen worden (Art. 9) und die in Art. 3 benannten bevorzugten Austauschkategorien („Professoren, Gelehrte, Lektoren, Assistenten sowie verantwortliche Leiter kultureller Gruppen, die außerhalb der Hochschulen stehen“) 20 entsprachen nicht der Prioritätensetzung der seit längerem in der deutsch-französischen Austauschpraxis aktiven Vereinigungen. Die Besorgnis, durch das Regierungsabkommen trotz erfolgreicher Arbeit in den Handlungsmöglichkeiten zurückgesetzt und insgesamt zurückgestuft zu werden, war den meisten dieser Vereine gemeinsam. Da gerade die Konstituierung des deutsch-französischen Ständigen gemischten Ausschusses sich als sehr schwierig und seine Arbeit, die erst im März 1957 begann, sich als praktisch wenig verbindlich erwies, war schließlich das stärkste Motiv für die Bildung des Dachverbandes (APIIBB) bald schon hinfällig und dessen Arbeit erlahmte im Übergang zu den sechziger Jahren. Er bildete jedoch ein Forum für die Diskussion mit Vertretern der staatlichen auswärtigen Kulturpolitik, auf dem der Anspruch der Mitgestaltung der bilateralen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen durch die privaten Organisationen verhandelt werden konnte. Er nahm aber auch deren Interessen wahr durch fortgesetzte Lobbying-Tätigkeit bei den Bundestagsabgeordneten in Bonn und im Kontakt mit Repräsentanten der Ministerialbürokratie. Die Konstituierungsphase des Arbeitskreises reicht von März 1954 bis Mai 1957. Obwohl der Name des Dachverbandes allgemein auf „internationale Begegnung und Bildungsarbeit“ verweist, spielte die Verständigungsarbeit mit Frankreich von Anfang an die beispielgebende Rolle. Einer der ersten Vorsitzenden des Arbeitskreises, der Leiter des DFI in Ludwigsburg, berichtete im Rückblick, daß man bereits auf der ersten Tagung (Januar 1955) in Ludwigsburg am „Modell Deutschland - Frankreich [...] die verschiedenen Formen des Austausches“ zum Gegenstand der Beratungen gemacht habe. 21 Im Mai 1955 traf sich der Arbeitskreis mit den Verantwortlichen des Comité de coordination des associations d’échanges internationaux in Marly-le-Roi. Diese Einrichtung verfügte bereits über längere organisatorische und pädagogische Erfahrung im Bereich der internationalen Erwachsenen- und Jugendlichen-Austauscharbeit. Dies Comité mit Sitz in Paris umfaßte damals 15 Mitgliedsorganisationen, von denen einige noch 20 Cf. Horst Möller, Klaus Hildebrand (ed.): Die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich. Dokumente 1949-1963. Außenpolitik und Diplomatie, München 1997, p. 184sqq. 21 Die Bedeutung der privaten Initiative für die Deutsch-Französische Verständigung, op. cit., p. 2. <?page no="275"?> 275 heute existieren, viele jedoch aufgelöst sind. 22 Ein deutlicher Spezialisierungsschwerpunkt dieser Vereinigungen lag auf der Jugendarbeit: Education et Echanges, Vorsitzende M. Debré, Mlle Vianny; Accueil Familial des Jeunes Etrangers, Vors. Mme Devaud, Mme Dausset; Association Internationale des Etudiants en Sciences Economiques et Commerciales, Vors. M. Herscher, P. Rose; Entr’aide Universitaire Française, Vors. B. Dorival, Appia; Fédération Française des Maisons des Jeunes et de la Culture, Vors. A. Philippe, Leger; Jeunesse et Reconstruction, Vors. A. Rosier, E. Rossignol; Organisation Centrale des Camps et Activités de Jeunesse, Vors. M. Cayron, A. Guignand. 23 Von hervorragender Präsenz in den transnationalen Begegnungsvorgängen zwischen Erwachsenen und Intellektuellen waren unter den Mitgliedern des Comité de coordination des associations d’échanges internationaux das Centre d’échanges internationaux (Vors. R. Millot, H. Dufresne) im 3. Pariser Arrondissement und der Cercle Culturel de Royaumont, der prestigereiche Ort philosophischer und künstlerischer Debatten nördlich von Paris. Während all diese französischen Vereinigungen multilaterale Kontakt- und Austauscharbeit mit dem Ausland betrieben, gab es Mitte der fünfziger Jahre bereits eine stattliche Anzahl von Organisationen, die von Paris aus mit der bilateralen Anbahnung von Beziehungen zu der Bundesrepublik permanent oder gelegentlich befaßt waren. Die Erkundungsreise der Arbeitskreis-Vertreter nach Frankreich vom Mai 1955 diente auch der Kenntnis dieses bereits schwierig überschaubaren Fächers gesellschaftlich wirkender Einrichtungen. Sie diente insofern der Vorbereitung des großen Kongresses französischer und deutscher Vertreter von internationalen Erwachsenen- und Jugendbildungs- Vereinigungen, der im Mai 1957 in Ludwigsburg abgehalten wurde und der allem Anschein nach den Höhepunkt der Arbeitskreis-Aktivitäten darstellte. Nach dieser Tagung erst unternahm der Arbeitskreis den Schritt zu seiner juristischen Konstituierung als eingetragener Verein während eines Treffens in Bonn am 02.09.1957. Der Verein wurde ins Kölner Vereinsregister eingetragen. Die Satzung, die bei diesem Treffen der Vorsitzenden der Mitgliedsvereine angenommen wurde, enthielt die folgenden wesentlichen Maßgaben für den Arbeitskreis. Voraussetzungen für die Mitgliedschaft waren der private Charakter, die Gemeinnützigkeit und das Ziel der Völkerverständigung, die von der beitrittswilligen Organisation nachgewiesen werden mußten: „a) Sie muß privat sein, d. h. unabhängig und aus eigener Initiative handelnd; b) sie muß gemeinnützig im Sinne des Steuergesetzes sein 22 Zu den noch heute tätigen Vereinigungen gehört z. B. die Association internationale des étudiants en Sciences économiques et commerciales (AIESEC). 23 „Liste der französischen Organisationen. Mitglieder des ‚Comité de coordination des Associations d’Echanges Internationaux“, maschinenschriftliches Manuskript im Archiv des APIIBB. <?page no="276"?> 276 und [in] ihrer Zielsetzung dem § 12 der vom Bundesfinanzministerium herausgegebenen Richtlinien über besonders förderungswürdige Vereine entsprechen; c) ihre Aufgaben sollen demnach sein, internationale Begegnungen zu fördern, dahin zu wirken, daß sich die Völker untereinander besser verstehen lernen und eine tolerante und übernationale Gesinnung auf allen Gebieten des kulturellen Lebens entsteht.“ 24 Die Wirkungsweise des Arbeitskreises wurde wie folgt definiert: Er sollte „die Vorbereitung, Durchführung und Auswertung von Veranstaltungen auf dem Gebiet internationaler und übernationaler Kultur- und Bildungsarbeit bezwecken“. „Der Arbeitskreis dient dem Erfahrungsaustausch, der gegenseitigen Information und der Abgrenzung von Arbeitsgebieten. Darüber hinaus vertritt der Verband die gemeinsamen Interessen und die Meinung der Mitglieder in grundsätzlichen Fragen, die für die internationale Kultur- und Bildungsarbeit im weitesten Sinne von Bedeutung sind. Der Arbeitskreis setzt sich insbesondere die Sicherung und ausreichende materielle Förderung der Arbeit seiner Mitglieder unter Wahrung ihrer völligen Freiheit und Eigenverantwortlichkeit zum Ziel. Der Arbeitskreis fördert vor allem den Einzel- und Gruppenaustausch“. In diesen Formulierungen des Satzungstextes wurden die beiden Hauptmotive für den Zusammenschluß recht deutlich zum Ausdruck gebracht. Es galt jegliche politisch-administrative oder parteipolitische Instrumentalisierung der privaten Verständigungs-Organistionen zu verhindern und es wurde versucht, den Zugang zu den öffentlichen (Finanz-) Ressourcen zu sichern bzw. zu verbessern. Der Vorsitz des Arbeitskreises ging auf der Bonner Tagung vom DFI- Direktor über auf die Vorsitzenden von zwei anderen Mitgliedsorganisationen. Der neue Vorsitzende, Dr. Walther Karbe, war Mitarbeiter der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, der Politikberatungs-Institution in Bonn, und vertrat vermutlich den Europäischen Austauschdienst e. V. in Frankfurt / Main; sein Stellvertreter wurde Eitel-Victor Couchoud, der als Geschäftsführer der Gesellschaft für übernationale Zusammenarbeit (GÜZ) tätig war. Der Arbeitskreis hielt dann noch eine Reihe größerer Tagungen ab zu Fragen des internationalen Gesellschafts- und Kulturaustauschs in den späten fünfziger und während der sechziger Jahre. Er blieb in fortgesetztem lockeren Kontakt mit seinem Pendant auf der französischen Seite, dem Comité de coordination des associations d’échanges internationaux bis zu dessen Ende 1971. Er geriet seinerseits in organisatorische Existenznöte in den frühen siebziger Jahren, die in der nachlassenden Aktivität seiner Mitgliedsvereine begründet war, bestand jedoch - zuletzt ab Mitte der siebziger Jahre - mit schwindender Initiativkraft formal noch weiter bis zu seiner Streichung aus dem Vereinsregister im Jahre 2002. 25 24 Satzung des Arbeitskreises der privaten Institutionen für internationale Begegnung und Bildungsarbeit, maschinenschriftliches Manuskript im Archiv des APIIBB, 1, Abs. 6. 25 Archiv des APIIBB, Bd. 7. <?page no="277"?> 277 2. Privates Organisationsspektrum im deutschfranzösischen Austausch an der Schwelle zu den sechziger Jahren Der im Arbeitskreis unternommene Versuch, die privaten Mittlerorganisationen zu föderieren und politikfähig zu machen, war nicht zuletzt deshalb so stark auf die (west-)deutsch-französische Interaktion fixiert, weil sich im Laufe der fünfziger Jahre in diesem Ausschnitt der transnationalen Austauschbemühungen die meisten und dauerhaftesten Organisationszentren gebildet hatten. Nicht alle Vereinigungen in der Bundesrepublik und in Frankreich waren auf festem Fundament gebaut und verschwanden oder fusionierten schon bald nach ihrer Gründung wieder. Als soziologische Voraussetzungen für die Dauerhaftigkeit von Austausch-Organisationen können mindestens drei Umstände gelten. In der Regel ist die Stabilität eines solchen Organisationsrahmens sehr eng an das unerschütterliche Engagement von Einzelpersonen mit ausgeprägtem Kommunikationstalent und entsprechender Integrationsbegabung geknüpft, die oft aus ihrer Mittlertätigkeit eine Lebensaufgabe machen. 26 Soziokulturelle Strukturen im internationalen Bereich ziehen erfahrungsgemäß nicht selten auch Personen an, die aus politischem Opportunismus oder primärem persönlichen Geltungsdrang aktiv werden; ihr Engagement ist eines auf Widerruf und die von ihnen getragenen Initiativen sind entsprechend ephemer. Ein zweiter Faktor für die Verstetigung von transnationalen Begegnungs-Einrichtungen ist zu sehen in ihrer Affinität zu größeren gesellschaftlichen Milieus oder Bewegungen (z. B. der Europa-Bewegung im Falle der deutschfranzösischen Vereine), die aufgrund teilidentitärer Bestrebungen ideelle und materielle Unterstützung gewährleisten. Die dritte Voraussetzung kontinuierlicher Verbandsarbeit ist schließlich die prinzipielle Anerkennung und Förderung durch die politisch Mächtigen und die politische Verwaltung, da gerade in den die nationalen Grenzen überschreitenden Gesellschaftsbeziehungen die außenpolitischen Optionen einer Regierung gestützt oder gestört werden können. Die hier skizzierten Rahmenbedingungen für die Stabilität und Kontinuität von transnational arbeitenden Vereinigungen finden sich allesamt bei den deutsch-französischen Organisationen wieder; das Wegfallen einer dieser Rahmenbedingungen kann den Zusammenbruch der betroffenen (in der Regel ohnehin personell und materiell zerbrechlichen) Struktur bedeuten. Die so vorgegebene Unbeständigkeit des international arbeitenden Organisationsspektrums vermag zu erklären, warum dasselbe bislang 26 Cf. dazu die Beobachtungen von Katja Marmetschke: „Mittlerpersönlichkeiten. Neuere biographische Arbeiten zur Mittlerfunktion zwischen Frankreich und Deutschland“, in: Lendemains, 2000, Nr. 98/ 99, p. 239-257. <?page no="278"?> 278 relativ wenig wissenschaftliches Interesse auf sich gezogen hat. 27 Anhand der im Arbeitskreis zusammengeschlossenen Vereine und ihrer französischen Partnergruppen kann man für die späten fünfziger Jahre eine Art Momentaufnahme des deutsch-französischen Organisationsspektrums vornehmen und eine Erhebung ihrer jugendpolitischen Tätigkeit versuchen. Von den neun Gründungsmitglieds-Vereinen des Arbeitskreises 28 waren das DFI und die GÜZ ganz auf Frankreich zentriert, die Deutsche Auslandsgesellschaft Lübeck und die Carl Duisberg-Gesellschaft für Nachwuchsförderung e. V. hatten Frankreich neben anderen westeuropäischen Ländern als Ziel ihrer Vermittlungsarbeit. Das Anfang der fünfziger Jahre gegründete Institut für Internationale Begegnung e. V. (Bonn), der 1952 ins Leben gerufene Europäische Austauschdienst e. V. (Frankfurt / Main) und der Bund für internationale Kulturarbeit e. V. (Reutlingen) wiesen gemäß ihrer Selbstdarstellung eine geringere Spezialisierung auf ein oder mehrere Zielländer auf. Nur zwei Vereine hatten eine prioritäre Ausrichtung auf die angelsächsischen Länder: Die Deutsch-Englische Austauschstelle (G.E.R.) e. V. (Bonn) und das Experiment. Vereinigung für praktisches Zusammenleben der Völker e. V. (Bonn), die deutsche Sektion des in den USA gegründeten und in rund 20 Ländern vertretenen Experiment in International Living. Alle Vereine befaßten sich mit der Vermittlung von Einzel- und Gruppenaustausch; einige versuchten auch, mit Zeitschriften über ihr Zielland Informationsarbeit zu leisten (GÜZ mit „Dokumente“, das DFI mit der Buchreihe „Deutschland - Frankreich. Ludwigsburger Beiträge zum Problem der deutsch-französischen Beziehungen“, die Lübecker Auslandsgesellschaft mit dem Periodikum „Ausblicke“). Vier der neun Vereine räumten der Jugendarbeit ausdrücklich Vorrang ein, zwei andere (Europäischer Austauschdienst und Lübecker Auslandsgesellschaft) warben nachdrücklich um die Beteiligung der Jugendlichen an ihren Programmen. Besonders explizit wurden die jugendpolitischen Programmteile bei der GÜZ dargestellt: „1. Internationaler Jugendaustausch in den Sparten: a) Einzelaustausch von Familie zu Familie, b) Unterbringung in einer Familie au pair oder als zahlender Gast, c) Praktikantenaustausch, d) Gruppenaustausch, e) Gruppenfahrten und Treffen. 2. [...] Arbeitstagungen und Studienreisen [...] für Studenten und Fachschüler“. 29 Sehr spezialisiert war das Jugendprogramm der Deutsch- Englischen Austauschstelle (G.E.R.), die u.a. vorsah: „2. die Vermittlung 27 Am ehesten fand hier die unmittelbar politiknahe Vereinigung DGAP Berücksichtigung, nicht jedoch die gesellschaftlich verankerten Organisationen. Cf. Daniel Eisermann: Außenpolitik und Strategiediskussion. Die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik 1955-1992, München 1999. 28 Deren Präsentation findet sich in der Broschüre: Arbeitskreis privater Institutionen für internationale Begegnung und Bildungsarbeit, o. O., o. J. (1957), 10 S.; sie wurde in der Folgezeit mehrfach aktualisiert. 29 Loc. cit., p. 1. <?page no="279"?> 279 deutscher Studenten in die Erntehilfelager des britischen Landwirtschaftsministeriums. Dabei werden die Studenten durch die englische Schwesterorganisation betreut und haben die Möglichkeit zur anschließenden Aufnahme in englische Familien (1954: 497 Studenten von 63 Hochschulen in 17 Lagern)“. 30 Bis 1957 kamen noch einige Austausch-Organisationen zum Arbeitskreis hinzu. Dazu gehörten ein Informationsbüro für internationale Begegnungen in Berlin und der Internationale Arbeitskreis Sonnenberg, der im Raum Braunschweig-Wolfenbüttel tätig war. Der zeitweilige Arbeitskreis- Vorsitzende Schenk ließ aufgrund seiner langfristigen Föderierungspläne der privaten Vereine auch die Organisationen registrieren, die außerhalb des Dachverbandes existierten. Als Parallel- und Konkurrenz-Gründung eines zusammenfassenden Dachverbandes gab es in diesem Feld vor allem die seit Februar 1956 vorbereitete und im Juni 1957 in die Öffentlichkeit tretende Vereinigung Deutsch-Französischer Gesellschaften (VDFG). Dieser Dachverband war von einer hessischen Industriellentochter aufgrund unmittelbarer privater Ermutigung durch Bundeskanzler Adenauer ins Leben gerufen worden. 31 Möglicherweise war es gerade diese enge Verbindung mit dem christdemokratischen Milieu, die eine deutliche Distanz der DFI-Leitung verursachte. Der Arbeitskreis sollte ja gemäß seinen Statuten parteipolitisch ungebunden agieren. Außerdem stellten die Deutsch-Französischen Gesellschaften einen Organisationstypus dar, der traditionsgemäß sich auf bildungsbürgerliche Kreise stützte, 32 die in der Strategie der Arbeitskreis-Organisationen nicht mehr die alleinige und auch nicht die erste Adresse sein sollten. Neben den 21 Deutsch-Französischen Gesellschaften, die im Juni 1957 in Wetzlar den Zusammenschluß herbeiführten, 33 gab es 7 „Vereinigungen und Gesellschaften, die sich in ihrer Arbeit nicht auf Frankreich beschränken, aber deutsch-französische Fragen doch stark berücksichtigen und dem Arbeitskreis nicht angehören“. 34 Dies waren der Carolus-Magnus-Kreis. Vereinigung ehemaliger Lektoren, Assistenten und Studenten in Frankreich (Sitz: Ludwigsburg, Vorsitz: Dr. R. Hoffmann), die Gesellschaft für Auslandskunde (Sitz: München, Vorsitz: Dr. Lenz), das Auslandsinstitut der Stadt Dortmund (Vorsitz: Stephan Albring), die Internationale Bürgermeisterunion für deutsch-französische 30 Loc. cit., p. 6. 31 Elsie Kühn-Leitz: „So fing es an. Gründung und Zusammenschluß Deutsch- Französischer Gesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg“, in: Klaus Otto Naß (ed.): Elsie Kühn-Leitz. Mut zur Menschlichkeit, Bonn 1994, p. 399. 32 Für die Zwischenkriegszeit cf. dazu Ina Belitz: Befreundung mit dem Fremden. Die Deutsch-Französische Gesellschaft in den deutsch-französischen Kultur- und Gesellschaftsbeziehungen der Locarno-Ära, Frankfurt/ Main, Bern 1997. 33 Cf. Klaus Otto Naß (ed.), op. cit., p. 388sqq. 34 Liste der privaten zwischenstaatlichen deutsch-französischen Vereinigungen im Bundesgebiet, Archiv des APIIBB, Ordner 1, 6 maschinenschriftl. Manuskriptseiten; hier p. 1. <?page no="280"?> 280 Verständigung und europäische Zusammenarbeit, 35 die Deutsch-französische Juristenvereinigung (Sitz: Dietz/ Lahn, Vorsitz: Dr. C. Roediger, Bundesverfassungsrichter), die Deutsch-Französische Gemeindepartnerschaft (Sitz: Ettlingen, Vorsitz: Dr. A. Bran) und der Bayerische Jugendring (Sitz: München, Vorsitz: Fortunat Weigel). Das Spektrum dieser Organisationen, die dem Arbeitskreis nahestanden, trägt keineswegs die Merkmale zufälliger Bekanntschaften; sie wurden prinzipiell von den Arbeitskreis- Initiatoren als wahlverwandte Bestrebungen und potentielle Mitglieder angesehen. Das Gesamtspektrum von 38 lokalen Vereinigungen, die 1957/ 58 in der VDFG und im Arbeitskreis zusammengefaßt waren bzw. diesen nahestanden, ist immerhin ein Beleg für die Breite der ausschließlich oder teilweise mit deutsch-französischen Kommunikationsfragen befaßten privaten Austauschorganisationen am Ende der fünfziger Jahre. 36 Auf der französischen Seite hatte sich zu dieser Zeit ebenfalls eine nicht unbeträchtliche Zahl von gesellschaftlichen Austauschorganisationen etabliert. Neben den 15 Mitglieds-Vereinen im Comité de coordination des associations d’échanges internationaux, mit dem die Arbeitskreis-Gründer im fortgesetzten Kontakt standen, traten in den Austauschprogrammen zwischen Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland weitere Vereinigungen mehr als nur sporadisch in Erscheinung. Von diesen 20 transnationalen Akteuren, die nicht dem Comité de coordination angehörten, stand allen voran das Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle (Vorsitz: Jean Schlumberger und Edmond Vermeil, Generalsekretär: Alfred Grosser) in privilegierter Beziehung zum DFI in Ludwigsburg. 37 Vier weitere Büros dieser Art konzentrierten ihre Tätigkeit auf den bilateralen Austausch: Das Comité d’études allemandes (Vors.: Roger Millot, Generalskr.: Mlle Weydert, Sitz: Paris), das Comité français d’accueil et d’échanges avec l’Allemagne (Vors.: Général Bethouard, Genelskr.: Delobel, Sitz: Paris), ein Bureau de liaison franco-allemand (Vors.: M. J. Bassot, Geleraldelegierter: Roland Muesser, Sitz: Paris) und schließlich das Bureau franco-allemand de liaison et de documentation (Vors.: J. J. Baumgartner, Sitz: Lyon). Alle anderen associations betreuten prinzipiell den organisierten internationalen Austausch mit mehreren Ländern; sie waren zumeist 35 Diese Organisation, die eine föderalistische Europa-Konzeption vertrat und ihren Sitz in Stuttgart hatte, war die engste Anbindung des Arbeitskreises (dort besonders des DFI Ludwigsburg) an die Europa-Bewegung und an die Bewegung der Städtepartnerschaften. 36 Bemerkenswert ist, daß diese Organisationsriege nicht erst nach der „heilsamen Krise“ der EVG, also nach 1954, entstand, sondern sich während der ganzen fünfziger Jahre aufgebaut hatte. Die deutsch-französischen Gemeindepartnerschaften, von denen es Ende der fünfziger Jahre rund 100 gab, sind als lokale Ansatzpunkte der Verständigungsarbeit noch hinzuzuzählen. 37 Cf. dazu meine Studie: „Das DFI in der Geschichte des zivilgesellschaftlichen Austausches“, in: Projekt deutsch-französische Verständigung, op. cit., p. 83sqq. <?page no="281"?> 281 für diesen Zweck geschaffene Einrichtungen von Bildungs-, Interessenverbands- und Freizeit-Organisationen. Zur ersten dieser drei Kategorien gehörten die folgenden Büros: Cité-Club Universitaire (Vors.: J. Gilibert, Generalskr.: Bastard, Sitz: Paris), die Association franc-comtoise de culture (Vors.: Risset, Sekr.: Geneviève Carrez, Sitz: Besançon), die Ligue française de l’enseignement. Office central des œuvres laïques à l’étranger (Vors.: A. Bayet, P. O. Lapie, Sitz: Paris) und das Centre d’entraînement aux méthodes d’éducation active (Vors.: M. Kergomard, Generaldel.: Laborde, Sitz: Paris). Zur Kategorie der Auslandskontakt-Organe von großen Interessenverbänden zählten im französisch-deutschen Bereich: Der Conseil français des mouvements de jeunesse (Vors.: Castagnet, Genralsekr.: Paul Rendu, Sitz: Paris), das Comité national d’action jeune du Mouvement européen (Vors.: André Philip, Generalskr.: J. Eugène, Sitz: Paris), der Conseil des communes d’Europe (Vors.: Gaston Defferre, Sekr.: Bareth, Sitz: Paris), die Union internationale des maires (Vors.: Alain Poher, Sekr.: R. Lafosse, Sitz: Paris) und die beiden Gewerkschaften Confédération française des travailleurs chrétiens (CFTC) und Confédération générale du travail - Force ouvrière (CGT-FO), beide mit Sitz in Paris. Als Freizeitorganisationen wirkten an der Schwelle zu den sechziger Jahren mit Bezug auf die Bundesrepublik in Frankreich: Das Office du tourisme universitaire (Vors.: Mlle Aviét, Sitz: Paris), die katholische Union française des colonies de vacances (Generalsekr.: Stassinet, Sitz: Paris), das Comité protestant des colonies de vacances (Vors.: Pasteur Lesnebach, Generalsekr.: Walter, Sitz: Paris) und die Union nationale des centres de montagne (Vors.: Tulbin, Generalsekr.: Franco, Sitz: Paris). Die Summe der Mitglieds-Vereine des Pariser Comité de coordination des associations d’échanges internationaux und der sonstigen Austauschstrukturen, die hier im französisch-deutschen Raum nachgewiesen wurden, ergibt fast die selbe Zahl (35) wie die Addition der für die Bundesrepublik belegten bilateralen Begegnungs-Initiativen (dort nämlich 38). Der offensichtlichste Unterschied in der Organisationsform dieser Verständigungs-Komitees bestand darin, daß sie in Deutschland lokal oder regional wirkten, in Frankreich hingegen fast ausnahmslos auf der Ebene in Paris ansässiger Zentralorganisationen existierten. Von den 35 Vereinigungen in Frankreich hatten 6 zum Comité de coordination des associations d’échanges internationaux gehörende Mitglieder einen eindeutig jugendpolitischen Schwerpunkt; von den übrigen 20 Vereinigungen enthielten 8 in ihrem Namen einen Hinweis auf die Jugendlichen als primäre Adressatengruppe. Die große Tagung im Mai 1957, zu der vom Arbeitskreis nach Ludwigsburg eingeladen wurde, war die umfassendste Begegnung all dieser privaten Austauschvereine in der Bundesrepublik Deutschland und in Frankreich. Von deutscher Seite waren 31 Organisationen durch 43 Vertreter an der Konferenz beteiligt; aus Frankreich waren 33 Teilnehmer aus 25 <?page no="282"?> 282 Organisationen gekommen. Die französischen Delegierten gehörten fast ausnahmslos den Vereinen des Comité die coordination des associations d’échanges internationaux oder den 20 internationalen Austauschdiensten an, die zwischen Frankreich und der Bundesrepublik agierten. 38 Die deutschen Tagungsteilnehmer rekrutierten sich aus den Mitglieds-Vereinen des Arbeitskreises, zählten aber auch 3 Repräsentanten von Deutsch-Französischen Gesellschaften (aus Gießen, Heidelberg und Stuttgart) sowie von anderen Vereinigungen mit international pädagogischer Zielsetzung in ihren Reihen (darunter u.a. den Deutschen Volkshochschulverband). Die beiden zentralen Themen dieses deutsch-französischen Selbstverständigungsversuches der Austauschorganisationen waren zum ersten der Kulturbegriff, der gleichsam die Lernziele und die Methoden der organisierten internationalen Begegnungen bestimmen sollte. Zweitens stand die Klärung des Verhältnisses der privaten Austausch-Agenturen zu den institutionellen Trägern der auswärtigen Kulturpolitik auf der Tagesordnung. 3. Der „erweiterte Kulturbegriff“ als Konsensgrundlage der privaten Austauschorganisationen in der Bundesrepublik und in Frankreich In den Tagungsdebatten in Ludwigsburg wurde im Mai 1957 von deutschen wie von französischen Verbandsvertretern Bezug genommen auf einen im Vergleich zur Zwischenkriegszeit erweiterten Kulturbegriff, der nicht mehr nur auf die kulturellen Eliten und die Hervorbringungen der Hochkultur beider Länder eingeschränkt bleiben sollte, sondern breitere Kreise der Bevölkerung und weiter gefaßte Manifestationen kulturellen Schaffens einschließen sollte. Bemerkenswert ist es, daß diese in fast allen Redebeiträgen artikulierte Übereinkunft nicht erst hergestellt werden mußte, sondern bereits vorhanden war. Wenn diese Konzeption eines „erweiterten Kulturbegriffs“ überhaupt auf einen Ursprungsort zurückgeführt werden kann, dann weisen alle Spuren auf ihre Formulierung im personalistisch geprägten Umfeld um das Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle. Emmanuel Mounier hatte in seinem Programmtext für das Publikationsorgan der Vereinigung nachdrücklich darauf hingewiesen, daß der französisch-deutsche Verständigungs-Ansatz der Zwischenkriegszeit, der auf die vertiefte Kommunikation allein der Eliten zielte, keine zeitgemäße Strategie für die Neugestaltung bilateraler Beziehungen beider Völker mehr sein konnte. Seine Devise für die Zukunft dieser Beziehungen hieß u. a.: „Il faut mettre Français et Allemands en situation de réaliser des œuvres communes, depuis un camp d’écoliers jusqu’ à la 38 Deren umfassende Registrierung findet sich im Archiv des APIIBB, Ordner 1: Liste der französischen Organisationen, maschinenschriftl. Ms. 4 S. <?page no="283"?> 283 paix du monde“ [...]. „Mais nous soulignons que nous comptons avant tout sur la jeunesse allemande, quelles qu’aient été hier ses illusions, si elles ont été généreuses, car il s’agit avant tout d’avoir, dans le temps qui vient, le cœur hardi et pas trop de nostalgie.“ 39 Der Generalsekretär des von Mounier ins Leben gerufenen Comité umriß konkreter die Alternative zum unbrauchbar gewordenen Modell der französisch-deutschen Austausch- und Begegnungsbemühungen: „L’autre conception est celle de contacts en profondeur s’adressant aussi bien aux mouvements de jeunesse qu’aux écrivains et artistes, aux syndicats qu’aux universités. Une telle action peut être particulièrement utile si elle s’exerce sur ce qu’on appelle en Allemagne ‚la jeune génération‘, c’est-à-dire les jeunes gens entre 18 et 30 ans environ.“ [...] „Il semble bien qu’il nous soit possible d’aligner dans les secteurs les plus divers de la vie sociale, intellectuelle et spirituelle, des personnalités ou des groupes susceptibles d’apporter à leurs interlocuteurs allemands non seulement un élargissement de leurs perspectives mais bien souvent des techniques d’action mises au point pendant les quinze dernières années et par suite ignorées d’eux. Les participants français ont, de leur côté, beaucoup à apprendre eux aussi de ces rencontres.“ 40 Die hier erkennbare Vorstellung von transnationalem Austausch - die, wie Grosser zutreffend in seinem Artikel erwähnt, in der kulturellen Arbeit der französischen Besatzungsverwaltung eine große Rolle spielte - umfaßte folgende Leitgedanken: Träger der bilateralen Begegnung sollten Gruppen und Personen aus verschiedenen gesellschaftlichen Tätigkeitsbereichen sein, die in der Diskussion gemeinsamer lebensweltlicher Probleme und Hoffnungen einander ohne großes Pathos näher kommen konnten. An die Stelle der nationalen „Kulturpropaganda“ im jeweils anderen Land, die ein möglichst scharf umrissenes Bild der eigenen und der fremden Identität zu zeichnen suchte, sollte vermittels der privat organisierten Austauschbewegungen ein inter- und übernationaler Erfahrungsraum eröffnet werden, in dem mehr die Gemeinsamkeiten als die Unterschiede in den Vordergrund traten. Entsprechend der Diversifizierung der sozialen Trägergruppen in der französisch-deutschen Begegnung sollten nicht mehr die kanonisierten Inhalte der nationalen Kultur im Mittelpunkt des grenzüberschreitenden Dialogs stehen, sondern möglichst zahlreiche Realitätsausschnitte des nationalen Lebens in einem Land den Partnern im anderen Land vermittelt werden. Gerade dieser letztgenannte Aspekt des „erweiterten Kulturbegriffs“ wurde im Laufe der fünfziger Jahre zum festen Bestandteil der Selbstdarstellung der wortführenden Verständigungsorganisationen in Frankreich und in der Bundesrepublik (Grosser-Komitee, BILD, GÜZ, DFI). 39 Emmanuel Mounier: „Présentation“, in: Allemagne. Bulletin d’information du Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle, 1949, Nr. 1. 40 Alfred Grosser: „Rencontres et échanges“, in: Allemagne, 1949, Nr. 2. <?page no="284"?> 284 Die Diffusion und Festigung der Konzeption des „erweiterten Kulturbegriffs“ kann man exakt nachvollziehen anhand der beiden Konferenzen der deutschen und der französischen Austauschorganisationen von 1955 und 1957. Eine hervorragende Rolle für die Verbreitung und Adaption dieser Konzeption in der Bundesrepublik Deutschland kam dem Leiter des DFI, Fritz Schenk, zu, der seit 1948 im fortgesetzten Gespräch mit dem Grosser-Komitee stand; die frühen Austausch-Programme des DFI, z. B. der Praktikanten-Austausch mit Frankreich, standen ganz im Zeichen des „erweiterten Kulturbegriffs“. In einer Vorstellung der Ziele des Arbeitskreises privater Institutionen vor Bundestagsabgeordneten vom März 1956 stellte Schenk die Besonderheit seiner Tätigkeit wie folgt dar. Man erstrebe „eine Steigerung des Austauschs und der Begegnung mit Angehörigen anderer Völker“: „Hierbei ist unter Austausch nicht nur an Schüleraustausch gedacht, sondern auch an Erwachsenenaustausch, an geistigen Austausch, an das Gespräch zwischen Deutschen und Ausländern. Die von den Mitgliedern bisher geleistete Arbeit statistisch zu erfassen, ist gerade deshalb außerordentlich schwierig, weil für uns Austausch ein solch umfassender Begriff ist.“ 41 Zur Tätigkeit der Mitgliedsvereine im Arbeitskreis führte er näher aus: „Es ist nicht nur eine kulturelle Arbeit, sondern auch eine politische und eine erzieherische. Wenn wir durch unsere Organisationen jungen Menschen einen kürzeren oder längeren Aufenthalt als Schüler, Lehrling oder Praktikant vermitteln, helfen wir ihm bei der Gestaltung seiner Lehr- und Wanderjahre, leisten wir einen Beitrag zu seiner Erziehung, fördern wir bei ihm Verständnis für die Lebensweise anderer Völker. - Wenn wir Ausländer nach Deutschland führen, im Austausch, in einer Studiengruppe, zu einem Treffen (von Lehrern, Schriftstellern, Ingenieuren, Bauern, Journalisten, Politikern usw.), sie zu einem Vortrag über ihr Land und dessen Probleme einladen, darunter Ausländer, die noch nie in Deutschland waren, so leisten wir einen politischen Beitrag und einen Beitrag zur Stärkung des europäischen Bewußtseins [...]. Als private Einrichtungen sind wir nicht ‚gelenkt‘. Wir kommen in ausländische Familien, zu denen eine Gesandtschaft keine Verbindungen hat; wir laden Ausländer zu Vortrags- und Studienreisen ein, die einer ‚offiziellen‘ Einladung nie Folge leisten würden. Zu uns können sie kommen, denn wir sind freie, unabhängige Tribünen, auf denen sie sich frei äußern können.“ 42 In einem namentlich nicht gekennzeichneten Leitsätze-Entwurf des Arbeitskreises zur internationalen Kulturarbeit von Mitte der fünfziger Jahre wird die Nähe der internationalen Austausch-Konzeption des Arbeitskreises zu den französischen Programmsätzen und deren Einpassung in die westdeutschen Gegebenheiten gleichermaßen deutlich. Dort hieß es: „Das Gegenbild der hier umrissenen pädagogischen Orientierung wäre: a) die nicht auf Einsicht, 41 Rede-Ms. im Archiv des APIIBB, Ordner 2, hier p. 5sqq. 42 Ibid, p. 6sqq. <?page no="285"?> 285 sondern auf Gefolgschaft abzielende Massenorganisation, b) eine rein schöngeistige, den Zeugnissen der überlieferten Kultur, den Problemen esoterischer Zirkel und schwärmerischer Anhänger gewidmete ‚Kultur‘arbeit im engsten Sinne, c) eine auf die Kreise der ‚guten Gesellschaft‘ beschränkte oder bevorzugt dorthin tendierende Auswahl der Teilnehmer, d) der auf ‚Wirkung‘ und ‚Schlagzeilen‘ orientierte Kulturbetrieb, e) das planlose Allerlei, das mehr interessante Unterhaltung aus dem Bereich internationaler Kulturarbeit als Konfrontierung mit unangenehmen Wahrheiten, spannungsgeladenen Auseinandersetzungen und komplizierten Tatsachen bietet.“ 43 Während der gemeinsamen Tagung des Arbeitskreises mit den französischen internationalen Austauschorganisationen Mitte Mai 1955 in Marlyle-Roi hielten Alfred Grosser und Fritz Schenk die Einleitungsreferate. Grosser konstatierte im gemeinsamen Arbeitsbereich einen erhöhten Rechtfertigungsbedarf der privaten Organisationen im Verhältnis zur staatlichen auswärtigen Kulturpolitik. Diesem Druck könne man nachkommen, indem man die bisherige Rolle als „Avantgarde“ und „Experimentatoren“ konsequent weiterführe und erfindungsreich erneuere. Dabei solle die Direktive unverändert der „erweiterte Kulturbegriff“ sein, der in der Sache vom Tagungsprotokoll so zusammengefaßt wird: „Die technisch und thematisch gut vorbereitete Studienreise und das Gespräch zwischen gleichen Berufsgruppen sei heute die geeignetste Form einer internationalen Begegnung. Zur Zeit sei es notwendiger, sich über die sozialen Fragen des anderen Landes zu informieren als über Goethe oder Voltaire. - Außerdem würden Begegnungen von Leuten, die an der gleichen Sache mehr oder weniger beruflich interessiert seien, das Gespräch erleichtern und vor allem im Konkreten halten. Jedenfalls bliebe der privaten Initiative noch ein weites Feld und manches könne dort getan werden, was den offiziellen Stellen nicht ohne weiteres möglich sei. Wichtig sei vor allem die Intensivierung, weniger die Zahl der Auslandsaufenthalte.“ 44 Fritz Schenk schloß sich dem ausdrücklich an und bezeugte die ermutigende Zusammenarbeit mit dem Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle; er bedauerte allerdings, daß die Arbeit der privaten Austauschorganisationen in der französischen Provinz noch nicht Fuß gefaßt habe. Er resümierte beim Folgetreffen der französischen und deutschen Verständigungs-Initiativen im Mai 1957 in Ludwigsburg den gemeinsamen Konsens über die Art und Weise des transnationalen Austauschs prägnant: „Ehe diese Verträge [deutsch-französisches Handels- und Kulturabkommen, HMB] zustande kamen, hatten eine Reihe privater Organisationen in Deutschland und Frankreich mit Erfolg damit begonnen, Begegnungen zwischen Franzosen 43 „Leitsätze“, maschinenschriftl. Ms. im Archiv des APIIBB, Ordner 2, 6 S., hier p. 2. 44 Bericht über unsere Tagung mit den Mitgliedern des Comité de coordination des associations d’échanges internationaux, Archiv des APIIBB, maschinenschriftl. Ms. 8 S., hier p. 3sqq. <?page no="286"?> 286 und Deutschen herbeizuführen, die es zwischen den beiden Kriegen nicht gab. Es waren lebendige, freie Begegnungen, zum großen Teil auf beruflicher Basis, die weit über die früheren Formen des rein akademischen Austausches hinausgingen.“ 45 „Der Begriff ‚kultureller Austausch‘ hat sich erweitert. Man hat damit begonnen, Austausch und Begegnung einen neuen Inhalt zu geben, sie nicht auf Literatur und Sprache, sondern auf alle Gebiete auszudehnen. Dazu gehört auch die Politik, die Wirtschaft und das Soziale. Wir sind uns mit vielen französischen Freunden darin einig, daß die Aufgabe des Austausches sein muß, den Franzosen die deutsche und den Deutschen die französische Wirklichkeit näher zu bringen, sie aus Illusionen zu lösen und Vorurteile und Mißtrauen - die immer noch existieren - zu beseitigen.“ 46 In der gemeinsam verabschiedeten Entschließung der deutschen und französischen Vereine der internationalen Erwachsenen- und Jugendbildung hieß es ganz in dem von Schenk geltend gemachten Sinne zum „erweiterten Kulturbegriff“: „Die Bildung neuer, übernationaler Gruppen und Ordnungen zielt nicht nur auf die politische Struktur im großen, sondern klammert durch vielfältige persönliche und sachliche Beziehungen die gesellschaftlichen Pyramiden der Völker von der Basis zur Spitze aneinander. - Es ergibt sich aus dieser Aufgabenstellung, daß die Begrenzung oder Schwerpunktbildung in der Förderung des internationalen Austauschs durch fast ausschließliche Berücksichtigung der ‚repräsentativen‘ Kultur, der Kunst, der Wissenschaft und der klassischen, vorzugsweise akademischen Bildungseinrichtungen nicht ausreicht. - Die vielfältigen Bemühungen müssen vor allen Dingen den für die öffentliche Meinungsbildung wichtigen Schlüsselgruppen in allen Berufen, Bildungsschichten und Altersklassen zugute kommen. Die notwendige Schwerpunktbildung muß die in jahrelanger Arbeit und Erfahrung bewährten Methoden und Institutionen berücksichtigen.“ 47 Wenn der „erweiterte Kulturbegriff“ in den internationalen bzw. deutsch-französischen Austauschbeziehungen auf der Ludwigsburger Konferenz 1957 allgemein als Prämisse akzeptiert und von privaten wie von staatlichen Vertretern zugrunde gelegt wurde, so zeichnet sich hier eine wichtige Vorbereitungsstufe ab für den Prozeß der Ausarbeitung und Konkretisierung der Modalitäten soziokultureller Zusammenarbeit im Deutsch-französischen Vertrag und im Abkommen zur Gründung des DFJW im Jahre 1963. Übrigens waren zwei maßgebliche Autoren der Konzeption des „erweiterten Kulturbegriffs“ aus der französischen Besatzungsverwaltung, die inzwischen in staatliche Tätigkeitsfelder integriert waren, auf der Frühjahrstagung des Arbeitskreises in Ludwigsburg vertreten: Jean-Charles Moreau referierte dort als Vertreter der Direction Générale des Affaires Cultrelles et Techni- 45 Die Bedeutung der privaten Initiative, loc. cit., p. 2. 46 Loc. cit., p. 4. 47 Loc. cit., p. 74. <?page no="287"?> 287 ques des französischen Außenministeriums und Geneviève Carrez, seine mehrjährige Mitarbeiterin im Bureau de la Jeunesse in Baden-Baden bzw. in Mainz hielt dort als Vorsitzende eines Comité d’échanges internationaux der Association Franc-Comtoise de Culture in Besançon einen besonders beeindruckenden Vortrag zu den Konstituierungs- und Arbeitsbedingungen privater Verständigungsorganisationen. Mit den Methoden und Mitteln des bilateralen Austauschs (auf die hier nicht näher eingegangen werden kann) befaßten sich drei Arbeitsgruppen der deutsch-französischen Tagung mit deutlicher Schwerpunktbildung auf dem jugendpolitischen Bereich internationaler Pädagogik. Es wurden „Fachausschüsse“ gebildet für die methodischen Probleme der Begegnung von Erwachsenen, von Jugendlichen und des Familienaustauschs. 4. Funktionale Verschränkung zwischen privaten Austauschorganisationen und staatlichen Verwaltungstrukturen Der nachhaltige Konsens der Tagungsteilnehmer in der Frage der Neudefinition des Kulturbegriffs im internationalen Austausch, d.h. dessen Ausweitung auf Bereiche jenseits der Hochkultur und auf Trägergruppen jenseits der akademischen Schichten, ist ein prominentes Beispiel für die programmatische Festlegung im Feld der auswärtigen Kulturpolitik an der Schwelle zu den sechziger Jahren, die in der gouvernementalen Entscheidungssphäre in Deutschland wie in Frankreich nicht nur bekannt war, sondern dort auch explizite Fürsprecher hatte. Eine andere zentrale Strukturfrage auswärtiger Kulturpolitik und organisierter internationaler Begegnung stand thematisch im Mittelpunkt der deutsch-französischen Konferenz vom April 1957, nämlich das Verhältnis der privaten Austauschorganisationen zu den staatlichen Repräsentanten in diesem Politikfeld. Die Debatte über dies Verhältnis war aus zwei Gründen Ende der fünfziger Jahre unumgänglich geworden. Zum einen bedeutete die gesellschaftliche Ausweitung der bilateralen Kulturbeziehungen im Zeichen der Versöhnung und Verständigung für die staatlichen Akteure der auswärtigen Kulturpolitik eine funktionale Überlastung, d.h. insbesondere ein Ressourcenproblem. Zum anderen hatten die Protagonisten der privaten bilateralen Begegnungsorganisationen seit Verabschiedung des Deutsch-französischen Kulturabkommens vom Oktober 1954 die Befürchtung, daß ihre Rolle nunmehr zugunsten der gouvernementalen Einrichtungen (z. B. der Gemischten Kulturkommission) herabgestuft würde. Beide Motive, notorischer Ressourcenmangel auf der einen und Statusängste auf der anderen Seite, setzten dies Thema Ende der fünfziger Jahre auf die Tagesordnung. Die Frühjahrskonferenz 1957 des deutschen und des französischen Ar- <?page no="288"?> 288 beitskreises für internationalen Austausch zeigte, daß beide Seiten aus ihren je spezifischen Gründen den Umstand akzeptierten, gegenseitig aufeinander angewiesen zu sein. Die in den Referaten vorherrschenden Stichwörter waren in diesem Zusammenhang „Zusammenarbeit“, „Interdependenz“ und „Einklang“. Dazu einige Beispiele. Der Vorsitzende des Deutschen Volkshochschul- und Privatschulverbandes Hellmut Becker entwickelte seine These von der „verwalteten Schule“ und forderte mit Blick auf den interkulturellen Austausch: „Wir müssen allgemein durchsetzen, daß die Hergabe von Geld nicht verbunden sein darf mit der Bestimmung im einzelnen der Verwendung im kulturellen Bereich. Und zwar ist dem Staat hier eine besondere Verantwortung zugewachsen durch die Konzentration der Finanzkraft, die er ja heute bei sich vorgenommen hat, und diese Verantwortung bedeutet, wie ich es einmal ausgedrückt habe, daß er die Freiheit selber finanzieren muß.“ Es gehe nachgerade unter diesen Umständen nicht mehr an, daß der Staat „in einer dirigistischen Weise anzuordnen hat, daß, wer zahlt, auch bestimmt, was geschieht.“ 48 Dieser Sorge um die Unabhängigkeit der privaten Vereine in der internationalen Kulturarbeit trotz staatlicher Alimentierung entsprach bei den Sprechern der associations in Frankreich die nachdrückliche Forderung nach Dezentralisierung ihrer interkulturellen Bildungsarbeit. Der Besorgnis der Verständigungsinitiativen auf der deutschen Seite, von den staatlichen Einrichtungen an den „goldenen Zügel“ gelegt zu werden, stand auf französischer Seite die Besorgnis gegenüber, durch die zentralstaatliche „tutelle“ erdrückt bzw. paralysiert zu werden. Gemäß den Ausführungen von Geneviève Carrez sollte das Verhältnis zwischen privaten und staatlichen Stellen in der internationalen Kulturarbeit sich komplementär gestalten. In ihrem zugleich präzisen und anschaulichen Referat setzte sie ganz auf die Eigendynamik dessen, was wir heute Zivilgesellschaft nennen, anerkannte jedoch die Notwendigkeit der Regelsetzung und Regelüberwachung durch den Staat. „Un organisme privé se trouve bien placé pour mettre en branle les forces vives d’une ville, d’une région: mouvements de Jeunesse, associations de culture, comités divers, œuvres sociales, groupements professionnels, milieux du commerce et de l‘industrie, bref tout cet univers que l’on appelle le secteur privé.“ 49 Andererseits war es Aufgabe der öffentlichen Gewalten, die Rahmenbedingungen für diese Austauschbewegungen auszuhandeln und sicherzustellen: „Les dispositions légales concernant le franchissement des frontières, l’obtention des devises, les contrats de travail, l’équivalence des diplômes, les échanges de fonctionnaires, et, que sais-je encore, ne pourront être pri- 48 Loc. cit., p. 13. 49 Loc. cit., p. 29. <?page no="289"?> 289 ses que par les instances nationales et internationales habilitées à légiférer dans ces domaines.“ 50 Diesen Vorstellungen von „der Bedeutung der privaten Initiative für die deutsch-französische Verständigung“ kamen die auf der Tagung vertretenen Akteure der staatlichen Kulturpolitik zwar nicht in allen konkreten Forderungen, aber doch im Prinzip bereitwillig entgegen. Jean-Charles Moreau, der als Vertreter des Quai d’Orsay in Ludwigsburg referierte, sah im Ablauf der Tagung selbst einen Beweis für die sinnvolle Arbeitsteilung zwischen privaten und öffentlichen Akteuren in der internationalen Kulturpolitik: „[...] notre réunion ici même aujourd’hui prouve surabondamment que la coexistence et la coopération de l’Etat et des groupes privés sont possibles, existent et sont même fécondes. C’est, en effet, cette coopération seulement - ceci est hors de doute - qui a permis l’effort tout à fait exceptionnel entrepris dès la fin de la guerre pour organiser cette confrontation d’idées, de préoccupations, de méthodes, d’expériences qui a caractérisé la reprise des relations franco-allemandes et a constitué en outre une expérimentation de nouvelles formes d’échanges culturels particulièrement poussée.“ 51 César Santelli, seit 1945 Leiter der Deutschlandabteilung im französischen Erziehungsministerium und in Ludwigsburg in seiner Eigenschaft als Inspecteur Général de l’Instruction Publique auftretend, gab ein nicht unkritisches, aber befürwortendes Votum ab zur Gestaltung des Verhältnisses Staat - Privatinitiative in der auswärtigen Kulturpolitik. Er wies - wie Hellmut Becker - auf das Problem der Transparenz öffentlicher und privater Geldgeber für die internationalen Austauschbemühungen hin: hier seien die Quellen der öffentlichen Hand klar durchschaubar, diejenigen privater Herkunft hingegen öfters trübe. Gleichwohl: „[...] je crois qu’il est indispensable que l’initiative privée et l’Etat laissent tomber leurs préjugés [...] et essaient quand même de construire ensemble l’œuvre que nous voulons construire.“ 52 Der leichte Vorbehalt, der bei Santelli hörbar wird, fehlte ganz bei den deutschen Vertretern des gouvernementalen Sektors. Der Vorsitzende des deutsch-französischen Gemischten Kulturausschusses (welcher gerade seine konstituierende Sitzung hinter sich hatte), der Universitäts-Romanist Gerhard Hess, plädierte für Toleranz und Vertrauen zwischen den beiden Gestaltungsebenen der internationalen Kommunikation, der privaten und der staatlichen Initiative; er wiederholte seine These, die er bereits im deutsch-französischen Kulturkomitee formuliert hatte, daß die transnationale Kommunikation im Gegensatz zur Zwischenkriegszeit nicht mehr eine beliebige Angelegenheit akademischer Eliten, sondern eine Existenzfrage für alle Bevölkerungsschichten geworden sei. Das Argument der Ressourcenknappheit der staatlichen Stellen in 50 Loc. cit., p. 32. 51 Loc. cit., p. 53. 52 Loc. cit., p. 62. <?page no="290"?> 290 diesem Bereich wurde vor allem von Gerhard Neumann, dem Leiter des Deutschen Pädagogischen Austauschdienstes bei der KMK ins Feld geführt. Aus den Erfahrungen im bilateralen Lehrer- und Schüleraustausch leitete er die Feststellung ab: „Die Bewältigung dieser Aufgabe ist dem Staate allein nicht möglich. Und damit komme ich zu der Bedeutung der privaten Austauschinstitutionen und der Zusammenarbeit zwischen ihnen und dem Staat. Wir sind nicht nur angewiesen auf das dauernde korrigierende Element der Erfahrungen der einzelnen Lehrer oder Schüler, sondern ebenso stark auf die Mitarbeit der privaten Organisationen. Wenigstens gilt das für die Bundesrepublik. Wir haben weder im Pädagogischen Austauschdienst noch in den einzelnen Kultusministerien genug Fachkräfte, um all die notwendigen Beziehungen anzubahnen und zu pflegen. So haben wir schon in mehreren Fällen mit größtem Erfolg Zuflucht genommen zu der Mitarbeit mit den bestehenden privaten Organisationen.“ 53 Der in den hier belegten Stellungnahmen dokumentierte gute Wille zur Zusammenarbeit zwischen den privaten Verständigungs-Initiativen und den Vertretern staatlicher Strukturen mußte in Deutschland stärker als in Frankreich erst eingeübt werden. In der Bundesrepublik vollzog sich die Kontaktnahme zwischen den Repräsentanten der privaten Austauscheinrichtungen und der parlamentarischen bzw. ministeriellen Ebene in Bonn in zweifacher Weise. Zum einen traten die einzelnen Organisationen individuell und fallweise an Abgeordnete oder Ministerialbeamte heran, um ihre öffentlichen Dienstleistungsqualitäten und ihre Gemeinnützigkeit darzustellen. So wendete sich z.B. der Geschäftsführer der GÜZ, Josef Winkelheide, im Juni 1963 mit einem umfassenden Memorandum an den Fraktionsvorsitzenden der SPD, Fritz Erler. Er strich dort die jugendpolitischen Erfahrungen seines Verbandes heraus, die sich bereits über 15 Jahre erstreckten, und warb damit offensichtlich um die Berücksichtigung desselben in den laufenden Entscheidungen zur Besetzung derjenigen Kuratoriumsplätze des DFJW, die aus dem Verbandsbereich rekrutiert werden sollten. 54 Noch beständiger als diese formellen oder informellen Versuche, sich als Einzelverband bei den politischen Entscheidungsträgern in Erinnerung zu bringen, waren die entsprechenden Interventionen des Dachverbandes Arbeitskreis privater Institutionen. Dieser unterhielt in den fünfziger Jahren ein Büro in Bonn, dessen laufende Geschäfte (d.h. die Interes- 53 Loc. cit., p. 69. 54 Gemäß dem „Abkommen zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Französischen Republik über die Errichtung des deutschfranzösischen Jugendwerks“, vom 05.07.1963, Artikel 6, sollten von den je 10 Mitgliedern des Kuratoriums 4 Vertreter der öffentlichen Verwaltungen und 6 „namhafte Persönlichkeiten und Leiter von Organisationen der freien Jugendarbeit“ sein. Cf. Horst Möller, Klaus Hildebrand (ed.): Die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich. Dokumente 1949-1963, op. cit., Bd. 1, p. 989. Cf. die auszugsweise Wiedergabe des Memorandums der GÜZ in ibid., Bd. 3, p. 1001-1008. <?page no="291"?> 291 senwahrung und die gemeinsame Repräsentation der Mitgliedsvereine) vom führenden Mitarbeiter der Carl-Duisberg-Gesellschaft, Winfried Böll, wahrgenommen wurden. 55 Die teilweise mehrfach wiedergewählten Mitglieder des „Dreier-Ausschusses“, des Leitungsgremiums des Arbeitskreises, setzten ihren Ehrgeiz darein, werbende Aussprachen mit den Vertretern der Bundestagsfraktionen zu organisieren und direkte Förderungszusagen von Ministerialbeamten zu erreichen. Sie konnten es als Erfolg ihrer Bemühungen verbuchen, daß gerade bei den beiden größeren Konferenzen französischer und deutscher Austausch-Vereinigungen von Mai 1955 und Mai 1957 eine nicht unbeträchtliche Zahl von Politik-Vertretern anwesend war. Zum Beispiel traten bei der Tagung in Marly-le-Roi von französischer Seite der damalige Senator (und später erste Premierminister de Gaulles) Michel Debré sowie Vertreter des Quai d’Orsay (J. Ch. Moreau), der Education Nationale (Gilette) und des Ministère du Travail (M. Mondon) auf sowie die Kulturreferenten der beiden Botschaften. 56 Während der Anschlußtagung in Ludwigsburg erweiterte sich dieser Kreis politischer Repräsentanz noch einmal. Aus der deutschen Politik nahmen teil die Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes und des Bundesinnenministeriums, Vertreter der Kultusministerien in Stuttgart und Mainz, der Pädagogische Austauschdienst der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder und der Deutsch-Französische Kulturausschuß; aus Frankreich waren angereist zwei Vertreter des Erziehungsministeriums, ein Beamter des Außenministeriums und ein weiterer des Office National des Universités et Ecoles Françaises (ONUEF). 57 Während über dergleichen internationale Konferenzen privater und offizieller Austauschexperten die wechselseitige Kenntnis im nationalen wie im transnationalen Rahmen also 1963 längst etabliert war und man wußte, was man voneinander zu halten hatte, stellte sich die bereits ansatzweise praktizierte funktionale Verschränkung beider Ebenen aufgrund des Elysée-Vertrages vom Januar 1963 nicht umstandslos und konfliktfrei her. Denn wenn auch die verständigungspolitischen Prinzipien des „erweiterten Kulturbegriffs“ und des synergetischen Zusammenwirkens privater und öffentlicher Akteure ganz offensichtlich in den institutionellen Bauplan des DFJW eingingen, wie er in dem Abkommen über die Schaffung des DFJW vom 5. Juli 1963 umrissen wurde, 58 so hatte sich die staatlichinstitutionelle Politik mit dem Vertrag vom 22.01.1963 und dem Abkommen vom 05.07.1963 nunmehr des Terrains angenommen, das bislang 55 Die Adresse der „Verbindungsstelle“ war Bonn, Noeggerathstraße 35. 56 Bericht über unsere Tagung mit den Mitgliedern des Comité de coordination des associations d’échanges internationaux, op. cit. 57 Die Bedeutung der privaten Initiative für die Deutsch-Französische Verständigung, op. cit. 58 Cf. „Abkommen zwischen der Bundesregierung Deutschland und der Regierung der Französischen Republik über die Errichtung des deutsch-französischen Jugendwerks“, in: Möller, Hildebrand, op. cit., p. 988sqq. <?page no="292"?> 292 weitgehend unbehelligt von den privaten Austauschorganisationen besetzt war. Auf deutscher wie auf französischer Seite rief diese neue Situation und Kräftekonstellation - im Prinzip ähnlich wie angesichts des deutschfranzösischen Kulturabkommens vom Oktober 1954 - Reaktionen der Besorgnis hervor. Diese Reaktionen waren generell begründet in dem Eindruck, daß es sich bei der Schaffung des DFJW um eine politische Kopfgeburt handelte, der eine Tendenz zur Substituierung und Eliminierung der Pionierorganisationen im Bereich des deutsch-französischen Austauschs mitgegeben war. Die Besorgnis wurde akut in den Monaten Juli bis Oktober 1963, als die zuständigen Ministerien in beiden Ländern sich anschickten, die Kandidaten für die Besetzung der (mehrheitlich von gesellschaftlichen Organisationen zu stellenden 59 ) Kuratoriumsmitglieder zu benennen. Beide Dachorganisationen, der Arbeitskreis in der Bundesrepublik und das Comité de coordination des associations d’échanges internationaux legten in dieser Zeit Bilanzen vor über ihre langjährigen Erfahrungen in der bilateralen Austauscharbeit. 60 Sie erfuhren zuerst einmal eine Enttäuschung, da ihre Mitgliedsvereine bei der erstmaligen Besetzung der Kuratoriumsposten nicht berücksichtigt wurden. Der Konflikt blieb in der Öffentlichkeit nicht unbemerkt. In Le Monde schrieb Jacques Nobécourt am 14.10.1963 im Zusammenhang mit der Ernennung des ersten Kuratoriums des DFJW: „On relèvera une absence très regrettable: celle d’un des pionniers des échanges franco-allemands universitaires et politiques. Depuis quinze ans, en effet, les résultats acquis en ce domaine ont posé les jalons les plus solides et préparé le terrain sur lequel peut s’édifier le nouvel office. Il eût donc été pleinement justifié que le Dr. Fritz Schenk, directeur de l’Institut franco-allemand de Ludwigsburg, ou son homologue français, le professeur Alfred Grosser, secrétaire général du comité d’échanges avec l’Allemagne nouvelle, figurassent parmi les membres du conseil d’administration.“ 61 Die Ursache für die anfängliche Nichteinbeziehung der Protagonisten der privaten Austauschorganisationen lag wohl vor allem darin, daß die für die neue Austausch-Institution DFJW zuständigen Ministerien, das Bundesministerium für Familie und Jugend und das Secrétariat d’Etat à la jeunesse et aux sports, erst einmal die jeweils sechs Vertreter aus dem Verbandsbereich gemäß der in ihnen dominanten politischen Logik auswählten. Wahrscheinlich traf DFI-Direktor Schenk den Kern dieser Logik recht genau, als er in der Vorstandssitzung seines Instituts am 18.11.1963 59 Cf. ibid., p. 989. 60 Cf. Les Associations du Comité de Coordination et l’Office Franco-Allemand de la Jeunesse, gedruckter Text (6 Seiten) ohne bibliographische Herkunftsangabe im Pressearchiv des DFJW (Berlin) 1. Halbjahr 1963, und: Zwanzig Jahre deutsch-französisches Institut Ludwigsburg. Gegründet 1948. Rechenschaftsbericht, o. O., o. J. (1963), cf. dort zum Arbeitskreis, p. 60. 61 Jacques Nobécourt: „L’Office franco-allemand pour la jeunesse va prochainement entrer en fonction“, in: Le Monde, 14.10.1963. <?page no="293"?> 293 ausführte, er sei mit seiner Kandidatur für das DFJW-Kuratorium das Opfer „parteipolitischen und konfessionellen Proporzes“ geworden, obwohl er die Unterstützung des Auswärtigen Amtes und des Bundesinnenministeriums gehabt habe. 62 Sowohl das französische Comité de coordination als auch der deutsche Arbeitskreis der Austauschorganisationen bzw. ihre Mitgliedsvereine erwiesen sich indes bald schon als unverzichtbar, da die ersten Förderungsmaßnahmen des DFJW aufgrund unzureichender konzeptioneller und organisatorischer Fundierung umgehend zum Gegenstand öffentlicher Kritik wurden. 63 Die Lösung des Ende 1963 für alle Beteiligten lähmenden Konflikts brachte schließlich wieder eine gemeinsame Konferenz der Mitgliedsorganisationen des Kölner Arbeitskreises und des Pariser Comité de coordination, die im Januar 1964 in Haus Lerbach bei Bergisch Gladbach abgehalten wurde. Hier wurden von den rund 65 teilnehmenden privaten Austauschvereinigungen in der Diskussion mit dem ersten Generalsekretär des DFJW, François Altmayer, und anderen leitenden Mitarbeitern der neuen Institution für Jugendaustausch die Richtlinien für deren Arbeit gemeinsam und konstruktiv diskutiert. Die funktionale Verschränkung zwischen den freien Trägerorganisationen und den institutionellen Sachwaltern des deutsch-französischen Jugendaustauschs festigte sich ab 1964 im Rahmen des DFJW zunehmend. Alle Anzeichen im Schriftverkehr des Arbeitskreises weisen darauf hin. Zum Beispiel gab der stellvertretende Direktor der deutschen Abteilung des DFJW auf einer Expertentagung zu Fragen des deutsch-französischen Einzelaustauschs im Oktober 1965 der inzwischen habitualisierten Wertschätzung der privaten Organisationen durch seine Institution in folgender Weise Ausdruck: „In seiner Antwort hebt Herr Jülich hervor, daß das DFJW bewußt die Zusammenarbeit mit den privaten Austauschorganisationen gesucht habe, um deren Erfahrungen auswerten und so auf dem Vorhandenen aufbauen zu können. Er unterstreicht, daß das DFJW Vertrauen in die seriöse Arbeit dieser Organisationen setze. So sei er der Meinung, daß die einzelnen Vereinigungen innerhalb der in gemeinsamer Arbeit erstellten und vom DFJW befürworteten Richtlinien so weit wie eben möglich selbst entscheiden sollten.“ 64 Etwa gleichzeitig stellte der stellvertretende Leiter des Arbeitskreises auf dessen Jahrestagung im Oktober 1965 fest, „daß sich die Zusammenarbeit zwischen dem Arbeitskreis und dem DFJW gut eingespielt 62 Protokoll der Vorstandssitzung des DFI vom 18.11.1963, maschinenschriftl. Ms. im Archiv des DFI, p. 2. 63 Cf. z.B. die aufgestaute Kritik zusammenfassend: „Jugendwerk mit Kinderkrankheiten. Deutsch-französisches Austauschprogramm mit Geld allein nicht anzukurbeln“, in: Rhein-Neckar-Zeitung, 06.03.1964 und „Geburtswehen eines Jugendwerkes. Das deutsch-französische Austauschprogramm soll nicht in Massentourismus ausarten“, in: Süddeutsche Zeitung, 15.01.1964. 64 Ergebnisprotokoll der Sitzung über Deutsch-Französischen Einzelaustausch am 7. Oktober 1965 in den Räumen von Inter Nationes, Bonn, in: Archiv des APIIBB, Ordner 4, p. 1. <?page no="294"?> 294 habe. Er erinnert insbesondere an die Tagung der deutschen und französischen privaten Austauschorganisationen im Januar 1964 in Haus Lerbach, die auf die besondere Initiative des Arbeitskreises zustande gekommen sei. Die dort verfaßten Empfehlungen über den deutsch-französischen Austausch sind beim DFJW gut aufgenommen worden. Man habe dort manches in den Richtlinien verwandt. Bei vielen weiteren Besprechungen in der Folgezeit habe man die Erfahrungen bei der Austauscharbeit verwenden können in Form von Vorschlägen an das DFJW.“ 65 65 Protokoll der Mitgliederversammlung des Arbeitskreises der privaten Institutionen [...] am 27. Oktober 1965, in: Archiv des APIIBB, Ordner 4, 5 Seiten maschinenschriftl. Ms., hier p. 2. <?page no="295"?> 295 X. Versöhnung und Verständigung. Die Maison de l’Allemagne in der Cité Universitaire de Paris 1956-1972 Obwohl die Bundesrepublik Deutschland das erste internationale Kulturabkommen bereits 1954 mit Frankreich vereinbarte, 1 dauerte es noch bis in die erste Hälfte der sechziger Jahre, bis in Paris die Trägerinstitutionen des bilateralen Kulturaustauschs sich etablieren konnten. Die Ausnahmen stellten die Maison de l’Allemagne in der Cité Universitaire (CU) und die Deutsche Historische Forschungsstelle (DHFS) in Paris dar, die im November 1956 bzw. im November 1958 ihre Tätigkeit (von der großen Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet) aufnahmen. 2 Gemeinsam war beiden Neugründungen, daß sie im universitären Bereich aus bereits recht vielfältigen und lebendigen (wenngleich auch noch nicht breit gestreuten) Kontakten zwischen deutschen und französischen Hochschullehrern entstanden und daß sie mehr eine punktuelle Kooperation im akademischen Bereich fördern als eine offensive Selbstdarstellung der Bundesrepublik Deutschland in der größeren Öffentlichkeit anstreben sollten. Diese vergleichsweise diskret anlaufenden und arbeitenden institutionellen Neugründungen auswärtiger Kulturpolitik sind eindrucksvolle Beispiele für die Eigenart dieses Politikfeldes in der Ära Adenauer. Dieser Bereich außenpolitischen Handelns blieb gerade in Frankreich 3 aufgrund der Kriegs- und Besatzungsjahre gekennzeichnet durch große Zurückhaltung auf der gouvernementalen Ebene, obwohl für den ersten Bundeskanzler der kulturelle neben dem diplomatischen und wirtschaftlichen Interaktionsmodus zwischen beiden Ländern hohe Priorität hatte. 4 In der Folge der Zurückhaltung der offiziellen Akteure in der auswärtigen Kulturpolitik der fünfziger Jahre kam den privaten Initiativen der Begegnung zwischen 1 Cf. Ulrich Lappenküper: „‚Sprachlose Freundschaft’? Zur Genese des deutschfranzösischen Kulturabkommens vom 23. Oktober 1954“, in: Lendemains, Etudes comparées sur la France, 1996, Nr. 84, p. 67-82. 2 Cf. dazu die einschlägigen Beiträge von Ulrich Lappenküper und Ulrich Pfeil in Ulrich Pfeil (ed.): Deutsch-französische Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen im 20. Jahrhundert, München 2007, p. 257-280 und 281-308. 3 Zur Tätigkeit des nationalsozialistischen Kulturinstituts in Paris cf. Eckard Michels: Das Deutsche Institut in Paris 1940-1944, Stuttgart 1993. 4 Cf. dazu Corine Defrance: „‚Es kann gar nicht genug Kulturaustausch geben’. Adenauer und die deutsch-französischen Kulturbeziehungen 1944-1963“, in: Klaus Schwabe (ed.): Konrad Adenauer und Frankreich, Bonn 2005, p. 137-162; und Hans Manfred Bock, Katja Marmetschke: „Gesellschaftsverflechtung zwischen Deutschland und Frankreich. Transnationale Beziehungen, Gesellschaft und Jugend in Konrad Adenauers Frankreichpolitik“, in: ibid., p. 163-189. <?page no="296"?> 296 beiden Nationen eine ungewöhnlich hohe Bedeutung zu. Dies gilt sowohl für die Rolle der privaten Austauschorganisationen 5 als auch für die Tätigkeit einzelner Persönlichkeiten, die in ihrem Lebensentwurf die Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich als übergeordnetes Ziel ansahen. Diese Akteurskonstellation in den kulturpolitischen Beziehungen zu Frankreich änderte sich erst seit Ende der Ära Adenauer, als dieses Politikfeld seit Anfang der sechziger Jahre generell Gegenstand stärkerer administrativer Koordinierung und konzeptioneller Planung zu werden begann. 6 Zum deutschen Haus in der Cité Universitaire, das 2006 sein fünfzigjähriges Bestehen feierte, ist bisher die lange Vorgeschichte besser erforscht als seine Entwicklung, Tätigkeit und Wirkung während der fünfzig Jahre seiner Existenz. 7 Alfred Grosser, der die Entwicklung der Institution am Boulevard Jourdan in dieser Zeitspanne eines halben Jahrhunderts aus nächster Nähe begleitete, hält sie für eine der lebendigsten, der Gegenwart zugewandten Einrichtungen deutscher Kulturvermittlung im gegenwärtigen Paris. 8 Die anlässlich der 50-Jahr-Feier anlaufende wissenschaftliche Befassung mit diesem Kulturzentrum, das ursprünglich erst einmal vor allem ein Studentenheim sein sollte, kann sich auf ein vergleichsweise reichhaltiges und ansatzweise geordnetes Archiv des Hauses stützen, bedarf jedoch der ergänzenden Dokumenten-Sammlung und -Erschließung. Der Erschließung dieses archivalischen Materials kommt der Sachverhalt zugute, daß gegenwärtig sich ein breiteres öffentliches Interesse an Fragen der auswärtigen Kulturpolitik abzeichnet 9 und daß es inzwischen auch nicht an konzeptuellen Ansätzen für die sinnvolle Interpretation der Zeugnisse kultureller Repräsentations- und Begegnungs-Aktivitäten zwischen Deutschen und Franzosen fehlt. 10 Der hier vorgelegte erste Versuch zur darstellenden Analyse der Maison de l’Allemagne, die seit 1973 den Na- 5 Cf. dazu die breit gefächerten Belege in Hans Manfred Bock (ed.): Projekt deutschfranzösische Verständigung. Die Rolle der Zivilgesellschaft am Beispiel des Deutschfranzösischen Instituts in Ludwigsburg, Opladen 1998 und ders. (ed.): Deutschfranzösische Begegnung und europäischer Bürgersinn. Studien zum Deutsch-Französischen Jugendwerk 1963-2003, Opladen 2003. 6 Cf. neuerdings Ulrike Stoll: Kulturpolitik als Beruf. Dieter Sattler (1906-1968) in München, Rom und Bonn, Paderborn 2005, p. 315sq. 7 Cf. Martin Raether (ed.): 1956-1996. Maison Heinrich Heine Paris. Quarante ans de présence culturelle, Bonn, Paris 1998, p. 24-157. 8 Alfred Grosser: Mein Deutschland, Hamburg 1993, p. 106. 9 Cf. z.B. Kurt-Jürgen Maaß (ed.): Kultur und Außenpolitik. Handbuch für Studium und Praxis, Baden-Baden 2005; Johannes Paulmann (ed.): Auswärtige Repräsentationen. Deutsche Kulturdiplomatie nach 1945, Köln 2005. 10 Dazu Hans Manfred Bock: „Transnationale Kulturbeziehungen und Auswärtige Kulturpolitik. Die deutsch-französischen Institutionen als Beispiel“, in: Ulrich Pfeil (ed.): Deutsch-französische Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen im 20. Jahrhundert, München 2007, p. 9-30. <?page no="297"?> 297 men Heinrich-Heine-Haus trägt, konzentriert sich auf die Implementierungsphase der Institution von 1956 bis 1972, also auf die Jahre, in denen eine fast dreißig Jahre lang gehegte Wunschvorstellung deutscher Studierender und Politiker (unterschiedlichster Couleur 11 ) in die Wirklichkeit trat und in der Praxis ihre institutionelle Bestimmung finden mußte. 1. Zusammenspiel gouvernementaler und gesellschaftlicher Akteure vor der Eröffnung der Maison de l’Allemagne In der ganzen Vorgeschichte des Projekts eines deutschen Hauses in der Cité Universitaire gab es seit 1927 zwei Handlungsebenen für dessen Verwirklichung: Einerseits kamen die artikuliertesten Bedarfsanmeldungen für eine solche Einrichtung aus dem Bereich der Wirtschaft und der Studentenschaft in Deutschland; andererseits gab es ein politisch-institutionelles Interesse an der Vertretung Deutschlands in der Cité Universitaire, das aber in Deutschland und Frankreich in seltsamer Weise asynchron angemeldet wurde; d. h. es war im einen Land vorhanden immer dann, wenn es im anderen Land verneint wurde. 12 Dieses Interaktionsmuster der zwei Handlungsebenen setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg prinzipiell fort. Allerdings mit der Maßgabe, daß von französischer Seite ab 1949 das Interesse an der Vertretung des jungen westdeutschen Staates in der Cité Universitaire nachdrücklich und dauerhaft war, 13 während in der entstehenden Bundesrepublik Deutschland es einer langwierigen und komplizierten Abstimmung zwischen der gouvernementalen und der gesellschaftlichen Akteursebene bedurfte, bevor das Projekt des Deutschen Hauses am Boulevard Jourdan konkrete Gestalt annahm mit der Grundsteinlegung am 19.6.1954. Im universitären Gesellschaftsbereich wurde der Bedarf an einem akademischen Haus in Paris von Seiten der Studierenden und von Seiten der Hochschulrektoren schon seit den späten vierziger Jahren geltend gemacht. Die Pariser Sorbonne hatte für die Studierenden und Lehrenden aus Deutschland durch den Krieg nichts an Attraktivität eingebüßt, wenngleich 11 In der späten Weimarer Republik scheiterten die entsprechenden Vorschläge an der revisionistischen Weigerung deutscher Politiker, in den späten dreißiger Jahren an der Weigerung französischer Politiker, dem Hakenkreuz in die CU Einlaß zu gewähren. 12 Cf. dazu „Der lange Weg zum Deutschland-Haus in der Cité Universitaire in Paris. Ein sozio-kulturelles Projekt im deutsch-französischen Spannungsfeld 1927-1956“ in diesem Buch das Kapitel V. 13 Cf. dazu vor allem Ulrich Lappenküper: „Ein ‚Mittelpunkt deutscher Kulturarbeit’. Das Deutsche Haus in der Cité Universitaire de Paris 1950-1956“, in: Ulrich Pfeil (ed.): Deutsch-französische Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen, op. cit. <?page no="298"?> 298 die administrativen, logistischen und auch atmosphärischen Voraussetzungen in diesen ersten Nachkriegsjahren für einen solchen Paris-Aufenthalt sehr schwierig waren. 14 Das Interesse der Studierenden aus Deutschland bildet sich eindrucksvoll ab in der Progression der deutschen Studenten, die trotz aller Schwierigkeiten einen Weg zur Aufnahme in die Cité Universitaire (CU) fanden, bevor der Grundstein für eine Maison de l’Allemagne gelegt wurde. Die Annalen der Verwaltung der Cité Universitaire verzeichnen für das Studienjahr 1946/ 47 bereits drei Studenten deutscher Nationalität (unter insgesamt 3.152 Residenten in der CU); 15 Ende 1950 stieg ihre Zahl auf 10, 1951 auf 27, 1953 auf 34, 1954 auf 42 und am Ende der fünfziger Jahre war ihre Gruppe u.a. aufgrund der Aufnahmekapazität der Maison de l’Allemagne das stärkste nationale Kontingent nach den USA. Die Hochschullehrer-Kontakte zur Cité Universitaire begannen ebenfalls sporadisch und verdichteten sich zu Beginn der fünfziger Jahre. Interessant ist für diesen akademischen Interaktionsbereich, daß zumindest einige der romanistischen Hochschullehrer in der jungen Bundesrepublik Deutschland die lange Vorgeschichte eines deutschen Hauses in der Studentenstadt am Boulevard Jourdan aus der Zwischenkriegszeit in frischer Erinnerung hatten. So schrieb z.B. der Tübinger Romanist Kurt Wais (1907- 1994) an den Leiter der gerade eröffneten Maison de l’Allemagne, er freue sich, daß dies Projekt nach jahrzehntelangen Bemühungen nun verwirklicht sei. 16 Nicht die deutschen Romanisten waren allerdings die Schrittmacher für die Kontaktnahme mit den Verantwortlichen der CU, sondern hochschul- und sozialpolitisch aktive Universitätslehrer verschiedener Fachrichtungen und die Westdeutsche Rektorenkonferenz (WRK). Der liberale Rechtswissenschaftler und Rektor der Universität Tübingen von 1948 bis 1951 Walter Erbe (1909-1967), der zugleich auch die westdeutschen Universitäten bei der UNESCO vertrat, hatte bereits 1948 positiv verlaufende Gespräche mit dem Generalsekretär der CU geführt. 17 Aus dem selben jugendpolitischen Antrieb heraus nahm der zwischen 1947 und 1951 amtierende Kultusminister von Württemberg-Baden, Theodor Bäuerle (1882-1956), Ende 1950 den direkten Kontakt auf mit der CU, nachdem dort im Juni 1950 deutsche Vertreter auf einer Tagung ermutigende Signale 14 Als Augenzeugenberichte über diese frühen Studenten- und Hochschulrektoren- Kontakte zu Paris cf. z. Bsp. Jürgen von Stackelberg, in: Martin Raether (ed.): Maison Heinrich Heine, op. cit., p. 188, und Helmut Coing: „Les relations entre les universités françaises et allemandes pendant les années 50“, in: Klaus Manfrass (ed.): Paris-Bonn, Sigmaringen 1984, p. 84-89. 15 Archives Nationales. La Cité Universitaire 1917-1960. AJ 116-7027 sq. 16 Brief Kurt Wais an Hans Steffen vom 28.11.1956, in: Archiv Heinrich-Heine-Haus (Archiv HHH), Diverse Schriftstücke Hans Steffen. 17 Er erwähnt diese Kontakte in seiner Rede aus Anlaß der Eröffnung der Maison de l’Allemagne am 23.11.1956. <?page no="299"?> 299 erhalten hatten. 18 Bäuerle gewann in Paris u. a. Wilhelm Hausenstein für die Idee eines deutschen Hauses auf dem Campus am Boulevard Jourdan, der Anfang Juli 1950 zum ersten diplomatischen Vertreter der Bundesrepublik in Paris im Status eines Generalkonsuls ernannt worden war. 19 Auf Initiative der Westdeutschen Rektorenkonferenz wurde schließlich Ende 1950 eine Sonderkommission gebildet, die mit den Verhandlungen über das Projekt beauftragt wurde und deren Vorsitz Walter Erbe hatte. Neben dem Rektor der Tübinger Universität gehörten dieser Kommission die Rektoren von Frankfurt/ Main und Mainz an. Von einem Teilnehmer an der Tagung über studentisches Wohnen vom Juni 1950, dem Göttinger Professor Erich Boehringer (1897-1971), wurde im März 1951 ein erstes Aide-Mémoire ausgearbeitet über das zukünftige deutsche Haus. 20 In Wechselwirkung mit dieser Handlungsebene agierten die Vertreter des politisch-administrativen Bereichs, um die zentralen Fragen des Standorts, der Finanzierung und der architektonischen Gestaltung der Maison de l’Allemagne zu klären. Die sichtbarsten Vertreter der politischen Entscheidungsebene waren in diesem Zusammenhang der deutsche Generalkonsul (seit Juli 1953 Botschafter) in Paris, Wilhelm Hausenstein, und der französische Hochkommissar André François-Poncet. Hausenstein bezeichnete das Projekt rückblickend als eines der „amtlichen Hauptanliegen“ seiner diplomatischen Mission in der französischen Hauptstadt: „Wenn das deutsche Haus heute steht, so nicht am wenigsten deshalb, weil ich als deutscher Partner François-Poncets, der allerdings ebenfalls äußerst bemüht und tätig war, in meiner Pariser Zeit alles getan habe, um dieses Unternehmen in Gang zu bringen, das immer zu meinen aufs Entschiedenste betriebenen amtlichen Hauptanliegen gehörte.“ 21 In den praktischen Belangen, die im Zusammenhang standen mit dem Projekt in der CU, war Hausensteins Mitarbeiter Paul Frank längere Zeit der deutsche Verhandlungsführer. Im Vergleich zu François-Poncet war Hausensteins diplomatische Initiativkraft eindeutig geringer, da er als diplomatischer Seiteneinsteiger über wenig Rückhalt bei den Berufsdiplomaten in Bonn verfügte und da er sich auf dem Pariser Terrain mit äußerster Behutsamkeit bewe- 18 Cf. den Bericht eines Tagungs-Teilnehmers Erich Boehringer: „Cité Universitaire“, in: Deutsche Universitäts-Zeitung, 1950, Nr. 15, p. 8-10. 19 Zur Biographie und Pariser Mission Hausenstein cf. Laurence Blanc: Wilhelm Hausenstein (1882-1957). Un médiateur culturel et politique entre l’Allemagne et la France, Paris 1997; Ulrich Lappenküper: „Wilhelm Hausenstein. Adenauers erster Missionschef in Paris“, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 1995, p. 635-678; Peter Matthias Reuss: Die Mission Hausenstein (1950-1955). Ein Beitrag zur Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg, Sinzheim 1995. 20 Der Archäologe Erich Boehringer war Mitbegründer und zeitweiliger Leiter der Akademischen Burse an der Universität Göttingen. 21 Brief Hausenstein an Annette Kolb vom 19.11.1956, in: Helmut Rennert (ed.): Wilhelm Hausenstein. Ausgewählte Briefe 1904-1957, Oldenburg 1999, p. 363. <?page no="300"?> 300 gen mußte. 22 Der französische Hochkommissar hingegen war nicht nur ein einflußreicher Deutschland-Experte und der höchste Vertreter der französischen Deutschlandpolitik in Bonn, sondern er wurde am 29.11.1951 außerdem zum Präsidenten der CU-Stiftung gewählt, nachdem der amtierende Leiter der Studentenstadt im August 1951 plötzlich gestorben war. André François-Poncet (1887-1978) 23 hatte bereits Mitte 1951 seinem Interesse an dem Deutschland-Haus in der CU tatkräftig Ausdruck verliehen durch die Gewährung einer halben Million DM, d. h. von rund einem Viertel der 2 Millionen DM, die für die Verwirklichung des Projekts veranschlagt wurden. Diese in Aussicht gestellte Subvention brachte die schwierige Prozedur der vielfach zusammengesetzten Finanzierung auf der deutschen Seite in Schwung. François-Poncet, der in seiner politischen und administrativen Tätigkeit seit den zwanziger Jahren der Jugendpolitik mit unterschiedlichen Prämissen immer einen hohen Stellenwert eingeräumt hatte, gab seiner Auffassung von der Verantwortung der Cité Universitaire in dieser Frage wie folgt Ausdruck: „S’élevant au-dessus des soucis matériels, il leur reste [aux responsables de la Cité] une autre mission à remplir: Développer chez les résidents la curiosité mutuelle, la sympathie humaine, le respect des traditions diverses, extraire, mettre en valeur et cultiver ce sentiment supérieur de solidarité que doit faire naître la vie en communauté. En d’autres termes, tendre à réaliser, en quelque sorte, une ONU de la jeunesse, qui se présenterait comme un exemple aux yeux des observateurs du dehors.“ 24 Aufgrund seiner doppelten Funktion als Hochkommissar in der Bundesrepublik und als Präsident der CU vermochte François-Poncet, bis zur Eröffnung der Maison de l’Allemagne am 23.11.1956 die Doppelrolle des Gönners und Mahners an die Adresse der deutschen Politik auszuüben. Für den weitaus aktiveren Part, den die französische Seite in diesen langwierigen Vorbereitungen des deutschen Hauses in der CU auf der politischen Ebene spielte, waren mehrere Motive ausschlaggebend, die auch François-Poncets Handeln bestimmten. Zum einen waren die führenden Vertreter der Stiftung Cité Universitaire, und zwar Raoul Dautry (1880-1951) 25 mehr noch als André François-Poncet, Protagonisten der Europa-Bewegung der Nachkriegsjahre und in diesem Kontext Förderer der Begegnung der akademischen Jugend der europäischen Länder. 26 Vor al- 22 Cf. dazu seine Darstellung in Wilhelm Hausenstein: Pariser Erinnerungen. Aus fünf Jahren diplomatischen Dienstes 1950-1955, München 1961. 23 Zu seiner Biographie cf. Hans Manfred Bock: Kulturelle Wegbereiter politischer Konfliktlösung. Mittler zwischen Deutschland und Frankreich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Tübingen 2005, p. 233-247. 24 Archives Nationales. La Cité Universitaire 1917-1960, AJ 16/ 7031. 25 Cf. Rémi Baudou : Raoul Dautry 1880-1951. Le technocrate de la République, Paris 1992. 26 So z.B. das im wesentlichen von François-Poncet vorbereitete europäische Jugendtreffen auf der Loreley im Jahre 1951; dazu Jacqueline Plum: „Das Europäische Jugend- <?page no="301"?> 301 lem aber fügten sich diese Bestrebungen nahtlos ein in die seit Mai 1950 mit dem Schuman-Plan lancierte Politik der westeuropäischen Integration (EGKS, EVG), für deren künftige Gestaltung international gebildete und handlungsfähige Nachwuchs-Administratoren gebraucht wurden. Ein im Falle François-Poncets nachweisbares deutschlandpolitisches Motiv für die Förderung des Projekts in der CU bestand in der Absicht, ausgewählten jungen Deutschen eine Möglichkeit zu gewähren, Frankreich von innen kennenzulernen. Durch die entsprechenden Stipendien der französischen Regierung sollten zukünftige Ansprechpartner und Fürsprecher in der Bundesrepublik gewonnen werden. 27 Das von François-Poncet in seiner Antrittsrede am 14.2.1952 im Verwaltungsrat der CU formulierte offizielle Ziel internationaler Jugendsozialisation war also nur ein Motiv in einem größeren Bündel von politischen Zielsetzungen, an denen sich die französischen Förderer eines deutschen Hauses am Boulevard Jourdan orientierten. Nach der zeitweiligen Blockierung im Fortgang des Projekts 1951/ 52 durch den politisch-diplomatischen Konflikt um die Rückgabe der italienischen Kulturinstitute an die Bundesrepublik, die von französischer Seite verzögert wurde, 28 gab es zwei wichtige Etappen der weiteren Konkretisierung des Vorhabens. In beiden Fällen wurde eine Form der institutionellen Verklammerung der beiden Handlungsebenen gefunden, die zuvor überwiegend parallel agiert hatten. Die erste dieser Etappen war die Gründung der Stiftung Deutsches Haus in der Cité Universitaire in Paris, die am 10.9.1952 in der Universität Frankfurt/ Main stattfand. An dieser Stiftungs- Gründung waren beteiligt die Universitätsrektoren von Heidelberg, Mainz und Tübingen sowie Vertreter des Bundesinnenministeriums, des Auswärtigen Amtes und des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft, des 1949 neu gegründeten Bundesverbandes der Wirtschaft für Wissenschaftsförderung. 29 Die zweite Etappe war die Schaffung der Vereinigung Freunde des Deutschen Hauses in der Cité Universitaire in Paris e. V., die wiederum in Frankfurt am 7.4.1956 vorgenommen wurde; sie wurde am 31.10.1956 beim Amtsgericht Bonn als eingetragener Verein registriert. Dieser Verein wurde nach Eröffnung des deutschen Hauses im November 1956 die federführende administrative Aufsichtsinstanz, in deren Kuratorium vertreten waren u.a.: das Auswärtige Amt, die Ständige Konferenz der Kultusminister, der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, die Pariser Botschaft der Bundesrepublik Deutschland, das Bundesinnenministerium, der Deutsche treffen auf der Loreley im Sommer 1951. Ein jugendpolitischer Einigungsversuch“, in: Lendemains, 2002, Nr. 107/ 108, p. 190-201. 27 So wurden regelmäßig vom Ministère des Affaires Etrangères, Direction des Relations Culturelles Stipendien für „Etudes spéciales“ ausgeschrieben; 1957/ 58 bewarben sich 20 Kandidaten aus der Bundesrepublik Deutschland. Liste im Archiv des HHH, datiert vom 12. Juli 1957. 28 Dazu Ulrich Lappenküper: „Ein Mittelpunkt deutscher Kulturarbeit“, loc. cit. 29 Ibid. <?page no="302"?> 302 Akademische Austauschdienst und der Verband Deutscher Studentenschaften. 30 Die tatsächliche Hauptfunktion der Stiftung Deutsches Haus in der Cité Universitaire war die Vorbereitung und die Bauträgerschaft für die Errichtung des Gebäudes; die faktische Hauptaufgabe des Vereins Freunde des Deutschen Hauses in der Cité Universitaire in Paris war die „ideelle und materielle Unterstützung des deutschen Studentenwohnheimes in der Cité Universitaire“, 31 d.h. insbesondere die Auswahl und Anstellung seines Direktors sowie dessen Beratung und Aufsicht. Aufgrund der engen personellen und funktionalen Verflechtungen der Stiftung und des Vereins wurde auf der Kuratoriumssitzung der Freunde am 6.4.1965 beschlossen, daß nunmehr der Vorstand des Vereins auch Vorstand der Stiftung sein sollte. 32 Zur zentralen Persönlichkeit an der Spitze der Stiftung und des Vereins war zu diesem Zeitpunkt der Münchner Professor für Bauingenieurwesen und Vizerektor der TH München August Rucker (1900-1978) geworden. Er hatte in seiner Berufsvita für die Jahre 1926 bis 1937 ein Architekturstudium und rund 8 Jahre Tätigkeit als Architekt in Paris aufzuweisen und von ihm stammten auch die ersten Entwürfe für den Bau des deutschen Hauses. Die Sonderkommission der Westdeutschen Rektorenkonferenz hatte Rucker 1951 mit einer ersten Skizze für das Projekt beauftragt und der ursprünglich der CSU angehörende Bauexperte, der von 1954 bis 1957 dann auch parteiloser Kultusminister in Bayern wurde, übernahm die Verhandlungen mit den Vertretern der Cité Universitaire und des deutschen Generalkonsulats bzw. der deutschen Botschaft. So wurde von Rucker die Überreichung der Schenkungsurkunde des deutschen Hauses an die Universität Paris am 19.12.1953 vorgenommen, mit der sich die Bonner Stiftung verpflichtete, auf dem Grund und Boden der Cité ein deutsches Studentenhaus zu errichten, dessen Kosten auf etwa 200 Millionen FF (cirka 2 Millionen DM) eingeschätzt wurden, und die Summe von 6 Millionen FF als Reservefonds zu hinterlegen. In der Sprache der Schenkungsurkunde, die der Referenztext für alle späteren Abänderungs- und Ergänzungsplanungen blieb, hieß das: „[Monsieur Rucker], au nom de la Fondation qu’il représente, a, par les présentes, déclaré prendre l’engagement envers l’Université de Paris de faire édifier dans l’enceinte de la Cité Universitaire de Paris, une Maison d’étudiants de cent chambres environ, la pourvoir de tout le mobilier et du matériel nécessaire à son fonctionnement, ladite Maison, le mobilier et le matériel destinés à devenir la propriété de l’Université 30 Satzungen der Vereinigung Freunde des Deutschen Hauses in der Cité Universitaire in Paris e.V., § 8. 31 Ibid, § 1. 32 Protokoll der Sitzung vom 6. April 1965 der Vereinigung Freunde des Deutschen Hauses in der Cité Universitaire, p. 2. <?page no="303"?> 303 de Paris, et de constituer au profit de cette Maison un fonds de roulement et un fonds de réserve […].“ 33 Die oberste Zweckbestimmung der Stiftung Deutsches Haus war es, privatwirtschaftliche und öffentliche Geldgeber für das Projekt zu finden und Werbung zu betreiben für die Bereitstellung finanzieller oder sächlicher Ressourcen. Diesem Zweck dienten z. Bsp. zwei Broschüren von 1954, in denen die Entwicklung der Idee der Studentenwohnheime in Europa und in den USA dargestellt wurde und in der alle in der Stiftung Deutsches Haus vertretene Mitstreiter für dies Projekt ihre Argumente für dessen Förderung zusammenfaßten und um Spendenbeiträge baten. 34 Die Leitidee der Studentenwohnheim-Bewegung, in der auch einige der Stiftungsmitglieder tätig waren, wurde im Prospekt zu einer diesem Thema gewidmeten Ausstellung im Münchner Amerika-Haus wie folgt zusammengefaßt: „Mit der Entwicklung der Universität, die allmählich zu einer allgemeinen Institution für Lehre und Forschung geworden ist, hat sich auch die ursprüngliche, lebendige Gemeinschaft [von Lernenden und Lehrenden, H.M.B.] gewandelt und in eine nur mehr geistig-wissenschaftliche Gemeinschaft umgebildet. Neben der wissenschaftlichen Ausbildung drohte damit die persönliche Bildung und Erziehung, die schließlich zu den Hauptaufgaben der Universität gehört, vernachlässigt zu werden. Es mußte daher eine neue Möglichkeit gefunden werden, die alte, echte Gemeinschaft wieder lebendig werden zu lassen. Mit den Colleges und Studentenheimen ist dieses Gegengewicht gegen die persönliche Entfremdung reiner Lehr- und Forschungsstätten geschaffen worden. In England und Amerika hat das studentische Gemeinschaftsleben in den zum Teil weltbekannten Colleges seine Form gefunden; in den europäischen Ländern sind es die einzelnen Studentenhäuser oder größeren Wohnheimkomplexe bis zur Größe der Cité Universitaire in Paris. Vor allem in der Deutschen Bundesrepublik sind in den Jahren nach dem Krieg mit Hilfe der McCloy-Stiftung zahlreiche Studentenwohnheime entstanden. Fast überall sind weitere neue Wohnheimbauten geplant. Der internationale Studentenaustausch, den besonders auch die Studentenheime pflegen, hat ihrem Grundgedanken der bildenden Gemeinschaft noch einen anderen hinzugefügt: den der friedlichen Gemeinsamkeit mit den Studenten aller freien Nationen.“ 35 Die Werbebroschüre zur Verwirklichung des Deutschen Hauses in der CU 33 Donation par la Fondation de la Maison de l’Allemagne à l’Université de Paris. 19. Dezember 1953. M. Burthe, notaire à Paris, p. 1. 34 Paris. Cité Universitaire, o. O. o. J. mit Texten des Vorsitzenden der Stiftung Deutsches Haus in der Cité Universitaire, des Architekten der Maison de l’Allemagne, des Délégué général de la Cité Universitaire de Paris, des Bundespräsidenten, des Bundeskanzlers, des französischen Hochkommissars, der Präsidenten der WRK und der KMK sowie des Vorsitzenden des Verbandes Deutscher Studentenschaften. 35 Von der Burse zum Hochhaus. Studentenwohnheime in Europa und Amerika, o. O. o. J., nicht paginiert, p. 2. <?page no="304"?> 304 enthielt ad-hoc verfaßte Texte von Bundeskanzler Adenauer, Bundespräsident Heuss und Hochkommissar François-Poncet. Rucker brachte als Vorsitzender der Stiftung Deutsches Haus den Spendenappell auf den Punkt: „Es ist hohe Zeit, deutschem Geistesleben und deutschem studentischen Streben in Paris Sammel- und Heimstätte zu geben. Lesen Sie die folgenden Seiten, Sie werden finden, daß sich höchstgestellte und maßgebliche Persönlichkeiten für die Sache einsetzen.“ 36 Bemerkenswert ist an diesem Aufruf, daß der Stiftungsvorsitzende das Vorhaben nicht allein als studentisches Wohnheim auffaßte, sondern auch als „Sammel- und Heimstätte“ „deutschen Geisteslebens“. Daß die Stiftung als privatrechtliche Vereinigung agieren und in Erscheinung treten sollte, kam auch in ihrer Zusammensetzung zum Ausdruck. Nachdem auf ihrer Gründungssitzung am 10.9.1952 noch das Auswärtige Amt und das Bundesinnenministerium vertreten waren, beschloß man dort, nur die Universitätsvertreter (WRK, KMK und VDS) und den Stifterverband der Deutschen Wissenschaft als Gründungsmitglieder in Aktion treten zu lassen. 37 Im Kuratorium der Stiftung, das sich am 4.5.1953. konstituierte, waren neben den Mitgliedern noch Repräsentanten des DAAD zugegen. Auf dieser Sitzung wurde August Rucker zum Vorsitzenden sowie Richard Merton (Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft) und Rudolf Salat (Leiter der Kulturabteilung im Auswärtigen Amt) als Stellvertreter gewählt. Einen Einblick in die Tätigkeit der Stiftung gibt ein Brief Ruckers an den Generaldelegierten der Cité Universitaire, André Marchaud, in dem er diesem dankte für seinen Beitrag zur Werbungsbroschüre für das Deutsche Haus. Er berichtete dort von den Bemühungen, die Presse und das Radio für das Projekt zu interessieren, um zusätzliche Unterstützung zu erhalten: „Nous nous efforcerons de trouver le plus grand soutien possible auprès de l’industrie et de l’administration de l’Allemagne occidentale; mais, de par l’importance de ce projet, nous devons et pouvons aussi prétendre, auprès des emplois compétents du Bund et des Länder, à une aide possible de ce côté.“ 38 Neben der Funktion des Spenden-Einwerbens, in der die wirksame Vermittlertätigkeit des Stifterverbandes der Deutschen Wissenschaft ausschlaggebend war, oblag der Stiftung Deutsches Haus die Bauträgerschaft für die Maison de l’Allemagne. Bei der Grundsteinlegung für dessen Bau am 19.6.1954 standen die offiziellen Politikvertreter, François-Poncet und Hausenstein, im Vordergrund. Der Hochkommissar hob in seiner Ansprache jedoch namentlich die Rolle der Stiftung und ihres Vorsitzenden hervor: „Nous serions ingrats si nous n’adressions pas, en même temps, nos remerciements à M. Rucker, recteur de l’Ecole Supérieure Technique de Munich, qui a su bien administrer l’héritage que lui avait légué l’éminent 36 Paris. Cité Universitaire, op. cit. 37 Ulrich Lappenküper: „Ein Mittelpunkt deutscher Kulturarbeit“, loc. cit. 38 Brief vom 19.3.1954 von Rucker an André Marchaud, im Archiv des HHH. <?page no="305"?> 305 M. Erbe, ancien recteur de l’Université de Tübingen. C’est de lui que le Comité créé pour réunir les fonds nécessaires à la construction d’une Maison allemande à la Cité Universitaire de Paris a reçu l’impulsion décisive, dont nous voyons aujourd’hui le résultat.“ 39 Nach der Grundsteinlegung traten für die Stiftung und ihren Vorsitzenden neue Gesprächs- und Verhandlungspartner in den Vordergrund in Gestalt der beiden Architekten, Johannes Krahn und Paul Maître, sowie der Bundesbaudirektion, der französische Bauaufsichtsbehörden und des Bundesrechnungshofs. Die Bauzeit für die Maison de l’Allemagne war in der Schenkungsurkunde vom Dezember 1953 auf 2 Jahre angesetzt worden, dauerte jedoch fast ein Jahr länger. Die Wahl des Grundstücks für den Bau des Hauses, die seine Form und Bautechnik maßgeblich beeinflußte, war bereits 1951 getroffen worden. Auch hier waren die Zögerlichkeiten und finanziellen Bedenken von deutscher Seite ausschlaggebend gewesen für die Entscheidung zugunsten des Baugrundes am südlichen Ende des Parks der Cité Universitaire, wo das Gebäude dann tatsächlich errichtet wurde. Die vom Délégué général der Studentenstadt angebotene Möglichkeit, einen Baugrund in der nördlichen ersten Reihe der Cité, direkt am Boulevard Jourdan, mit einem 200-Zimmer-Haus zu bebauen, war schon 1951 vom WRK- Sonderausschuß abgelehnt worden. Da man maximal einen 100-Zimmer- Bau für ein finanziell realistisches Ziel hielt, fiel die Entscheidung für das tiefe und schmale Grundstück neben dem geplanten Kambodscha-Haus. 40 Mit dieser Entscheidung schuf man Tatsachen, die nach der Eröffnung immer wieder zu Problemen und Debatten um deren Lösung führten: Das Haus erwies sich als unterdimensioniert für die wachsende Zahl deutscher Studierender in Paris und vor dem Hintergrund der zunehmenden Wirtschaftsmacht der Bundesrepublik Deutschland; und der Bau des Boulevard Périphérique, der in zehn Metern Entfernung vom Haus verläuft, verursachte kaum zu bewältigende Lärmbeeinträchtigungen seiner Bewohner. Die Schwierigkeiten, die sich vor Baubeginn abzeichneten, beschrieb der deutsche Architekt 41 so: „Das Gelände, auf dem das Gebäude errichtet wurde, weist viele unterirdische Steinbrüche auf, die zunächst mit hohen Kosten abzumauern und zu sichern waren. Die Gebäudelasten wurden aus diesem Grunde nur auf einzelne Punkte verteilt. Der hohe Wohnbau wurde auf Stützen gestellt, während alle anderen Teile des Objekts auf Boden- 39 Texte de l’allocution prononcée par M. André François-Poncet à l’occasion de la pose de la première pierre de la Maison de l’Allemagne à la Cité Universitaire de Paris, le 19 juin 1954, Ms im Archiv HHH, 3. 40 Das Haus war als Stiftung der kambodschanischen Regierung am 24. Oktober 1950 urkundlich vereinbart worden und wurde dann am 24. Oktober 1957 eröffnet. Cf. Bertrand Lemoine: La Cité Internationale Universitaire de Paris, Paris 1990, p. 65. 41 Zur Biographie des Architekten Johannes Krahn cf. Martin Raether: „L’architecte de la Maison Heinrich Heine“, in ders. (ed.): Maison Heinrich Heine Paris: Quarante ans de présence culturelle, Bonn, Paris 1998, p. 323-331. <?page no="306"?> 306 höhe angelegt wurden.“ 42 Der vierstöckige Wohntrakt wurde aus Stahlbeton gefertigt und die nicht verglasten Außenflächen mit Natursteinen verkleidet; die Wände der erdgeschossigen Teile des Gebäudes wurden aus Bruchsteinen errichtet. Die Innenausstattung kam fast ausschließlich aus der Bundesrepublik Deutschland, was für die in Paris in Kontrakt genommenen Handwerker Probleme bei der Montage und bei den spätereren Reparaturen hervorrief. Die architektonische Zielvorstellung für die Maison de l’Allemagne faßte Krahn zusammen: „Das Zusammenspiel von Stahlbeton-Konstruktion, Naturstein- und großen Stahlfensterwänden soll die dem Organismus des Projekts innewohnende Ordnung verdeutlichen. Es wurde versucht, diese Ordnung trotz der Grundstücksgröße und der durch den Baugrund vorgegebenen Schwierigkeiten in lockerer, fast heiterer Weise zu gestalten; sie mag dabei helfen, die jungen Menschen, die dort wohnen, zu bilden und ihnen eine Heimstätte zu bieten, die sie lieben und in der sie sich wohlfühlen.“ 43 Der Bauplan der beiden Architekten lag im Januar 1954 vor, die Baugenehmigung wurde am 29.9.1954 erteilt. 2. Einübung in die Praxis einer kulturellen Mehrzweck- Institution Noch bevor die Eröffnung der Maison de l’Allemagne mit einem feierlichen Zeremoniell am 23. November 1956 vorgenommen werden konnte, mußte für deren Arbeitsfähigkeit ein neues institutionelles Gefüge hergestellt werden, das gleichermaßen den Statuten der Cité Universitaire und der außenkulturpolitischen Zweckbestimmung des Deutschen Hauses entsprach. Dem erstgenannten statutarischen Imperativ kam man durch die Errichtung und Besetzung eines Conseil d’administration, der zweiten Funktionsvoraussetzung durch die Gründung des Trägervereins Freunde des Deutschen Hauses in der Cité Universitaire nach. Diese beiden institutionellen Gründungsakte waren jedoch keineswegs nur formal-rechtlicher Natur. Von ihrem Vollzug, besonders von der Art und Weise ihrer personellen bzw. institutionellen Zusammensetzung, hing wesentlich der Weg ab, den die Neugründung beschreiten würde. Deshalb bedarf das deutschfranzösische Interaktionsgeflecht vor Ort in Paris einer eingehenderen Darstellung und Analyse. Es war bestimmend für das innere Leben der Maison de l’Allemagne, für die praktische Ausfüllung der aus einem politischen Willen entstandenen Struktur mit erst einmal inhaltlich nicht genauer definierter Wirkungsabsicht und Funktionsbestimmung. 42 Cf. „Deutsches Haus in der Cité Universitaire in Paris“, in: Die Bauverwaltung, 1957, p. 450. 43 Johannes Krahn in der (nicht paginierten) Werbebroschüre für das deutsche Haus, erschienen in München 1954. <?page no="307"?> 307 Die Notwendigkeit der Errichtung eines Verwaltungsrates (conseil d’administration) für das Deutsche Haus und auch dessen formale Zusammensetzung waren in der Schenkungsurkunde vom 19.12.1953 geregelt. Diese ausdrückliche Regelung der Konstituierung und Mitgliederstruktur eines eigenen Verwaltungsrates galt (und gilt) traditionell nur für die sogenannten „maisons non rattachées“ in der CU. Nur sie haben einen unabhängigen conseil d’administration, der gemäß den règlements généraux der CU mit der Festlegung der Hausordnung, dem Vorschlagsrecht für die Ernennung der Direktoren, der Bestimmung der Aufnahme- und Ausschluß-Bedingungen für die Residenten, mit der Festsetzung der Gebührensätze und der Haushaltsüberwachung beauftragt sind. 44 Die „maisons rattachées“ sind prinzipiell dem Verwaltungsrat der CU direkt unterstellt, der namentlich die Haushaltskontrolle und das Vorschlagsrecht für die Ernennung der Direktoren in eigener Regie ausübt. Die Schenkungsurkunde für die Maison de l’Allemagne sah in Art. 6 einen Verwaltungsrat mit mindestens 10 Mitgliedern vor, der paritätisch aus deutschen und französischen Repräsentanten zusammengesetzt sein sollte. Ex-officio- Mitglieder sollten sein: der Chef der diplomatischen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Paris, der Leiter (recteur) der Académie de Paris, der Präsident der Fondation Nationale de la Cité Universitaire und der Generaldelegierte der CU. Als ernannte zeitweilige Mitglieder wurden aufgeführt vier Vertreter der „Colonie allemande“ in Frankreich, die vom deutschen Generalkonsul bzw. Botschafter vorgeschlagen werden, und zwei Persönlichkeiten aus Frankreich, die vom Verwaltungsrat der CU benannt werden sollten; diese ausgewählten Mitglieder wurden auf sechs Jahre ernannt und bedurften der Bestätigung durch den Recteur de l’Académie de Paris. Die Auswahl der kooptierten Mitglieder des ersten Verwaltungsrates des Deutschen Hauses lief bereits 1954 an. Die Ergebnisse dieses Auswahlverfahrens spiegelten teils ein Bemühen um Repräsentativität der Mandatsträger, teils aber auch die politischen Präferenzen der beteiligten Entscheidungsträger wider. Die vier Repräsentanten der „deutschen Kolonie” in Frankreich, die von Botschafter Hausenstein ins Spiel gebracht wurden, waren allesamt gute Kenner der deutsch-französischen Kommunikationskanäle in Paris und Vertreter verschiedener Berufsfelder, in denen sich der Austausch mit ihren französischen Kollegen verdichtete. Zwei der vier Mitglieder des Verwaltungsrates waren Verfolgte des Nazi-Regimes. Paulus Lenz-Médoc (1903-1987) kam aus der katholischen Friedensbewegung, war in den dreißiger Jahren nach Frankreich emigriert und hatte sich der französischen Résistance angeschlossen. Er war einer der ersten Lektoren für die deutsche Sprache im Nachkriegs-Paris. Hausenstein berichtet, daß er sich gelegentlich in Lenz-Médocs Lehrveranstaltungen einlud und dort 44 Art. 21, Abs. 1 der règlements généraux der Cité Universitaire. <?page no="308"?> 308 die Hoffnung nährte, daß von der kulturellen Ebene her ein „Klima für die Lösung politischer Probleme“ entstehe. 45 Der andere Hitler-Exilant im ersten Verwaltungsrat der Maison de l’Allemagne war Richard Möhring (1894-1974), der promovierte Jurist, der unter seinem Schriftstellernamen Peter Gan bekannter war. 46 Er war 1938 vor den Nationalsozialisten nach Paris geflohen, wo er bis 1942 lebte und wohin er von 1946-1958 zurückkehrte. Er kannte Hausenstein von der gemeinsamen publizistischen Tätigkeit für die Frankfurter Zeitung und war neben seinen belletristischen Arbeiten als Übersetzer (u. a. von Marguerite Yourcenar und Jean Schlumberger) hervorgetreten. Der dritte Vertreter der „deutschen Kolonie“ im Verwaltungsrat war Ernst Gerhard Paulus, der in den fünfziger Jahren als Auslandskorrespondent für die „Süddeutsche Zeitung“, die „Frankfurter Neue Presse“ und die „Rheinische Post“ in Paris arbeitete. Der Journalist hatte die Ernennung Wilhelm Hausensteins zum deutschen Generalkonsul in Paris in der „Süddeutschen“ Mitte 1950 gewürdigt mit dem Urteil, es sei auch in Paris bekannt, „daß kaum eine geeignetere Persönlichkeit gefunden werden konnte als Dr. Hausenstein, um die geistigen Bindungen zwischen Deutschland und Frankreich enger zu knüpfen.“ 47 Seine berufsspezifische Kompetenz wurde zur wirtschaftlichen Seite hin ergänzt durch die Mitarbeit von Gerhard Riedberg (1900-1988) im Verwaltungsrat des Deutschen Hauses. Riedberg war in der Zwischenkriegszeit seit 1925 deutscher Vertreter bei der Internationalen Handelskammer in Paris gewesen 48 und hatte (gemeinsam mit Richard Merton, dem Präsidenten des für die Gründungsgeschichte der Maison de l’Allemagne so wichtigen Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft) auch dem Verwaltungsrat der Deutschen Vereinigung zur Förderung der Wirtschaftsbeziehungen zu Frankreich angehört. 49 Die Zusammensetzung des conseil d’administration des Deutschen Hauses war in dessen Anfängen weit wichtiger aufgrund ihrer symbolischen Bedeutung, vermittels derer demonstriert werden mußte, daß es Vertreter eines sich neu formenden Deutschland und nicht des untergegangenen nationalsozialistischen Deutschland waren, die über die Geschicke der ersten kulturellen Nachkriegsgründung dieses Landes in Paris mitentscheiden sollten. Sie war weniger wichtig aufgrund ihrer tatsächli- 45 Wilhelm Hausenstein, op. cit., p. 203. 46 Cf. dazu Friedhelm Kemp (ed.): Peter Gan. Ausgewählte Gedichte, Göttingen 1994. 47 Peter Matthias Reus, op. cit., p. 116. 48 Cf. Gerhard Riedberg: „Die Gründung der offiziellen Deutsch-Französischen Industrie- und Handelskammer. Ein Beitrag zu ihrer Geschichte“, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, 1982, p. 107-118. 49 Cf. Andreas Wilkens: „Verständigung von Wirtschaft zu Wirtschaft. Interessenausgleich zwischen deutscher und französischer Industrie“, in: ders. (ed.): Die deutsch-französischen Wirtschaftsbeziehungen 1945-1960, Sigmaringen 1997, p. 189-223. Als Dokument cf. Horst Möller, Klaus Hildebrand (ed.): Die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich. Dokumente 1949-1963. Bd. 2. Wirtschaft, München 1997, p. 958-960. <?page no="309"?> 309 chen administrativen Kontrollfunktion, denn - soweit bisher feststellbar ist - wurde der Verwaltungsrat in den ersten anderthalb Jahrzehnten des Hauses mit zunehmend längeren Intervallen einberufen. Der erste Leiter des Hauses schrieb im November 1969 an die Pariser Botschaft: „Unser Conseil hat seit vielen Jahren nicht getagt.“ 50 Die beiden kooptierten Verwaltungsrat-Mitglieder von der französischen Seite wurden allem Anschein nach ebenso sorgfältig ausgewählt wie die vier deutschen Vertreter, und zwar aus den selben politisch-symbolischen Gründen. Hier galt es jeden Verdacht kollaborationistischer Verbindung auszuschließen. Dieser Verdacht war ganz ausgeschlossen bei der Persönlichkeit des Hochschulgermanisten Comte Robert d’Harcourt (1881- 1965), der einer alten adligen Familie entstammte und als ein politisch konservativer Katholik galt. 51 Er war seit den dreißiger Jahren gegen den Nationalsozialismus und in den frühen vierziger Jahren gegen das Vichy- Regime publizistisch angetreten und war akademischer Schüler von Henri Lichtenberger. Als „Lieblingsschüler“ dieses Gründers der modernen Hochschulgermanistik in Frankreich hatte Thomas Mann Mitte der zwanziger Jahre Maurice Boucher (1885-1977) 52 , den anderen französischen Vertreter im Verwaltungsrat des Deutschen Hauses, kennengelernt. 53 Boucher war seit 1936 Sorbonne-Germanist und hatte 1942-1944 das Institut d’Etudes Germaniques geleitet und an Tagungen des Eptingschen Deutschen Instituts teilgenommen. Nach der Befreiung kurzfristig seines Amtes an der Sorbonne enthoben, lehrte er dort bis 1955. Er setzte sich nach 1945 früh wieder für die französisch-deutschen Beziehungen ein; er erhielt 1953 die Ehrendoktorwürde der Freien Universität Berlin und setzte große Hoffnungen auf das deutsch-französische Kulturabkommen vom August 1954. 54 Während Robert d’Harcourt allem Anschein nach seinen Verwaltungspflichten keine große Bedeutung zumaß, war Maurice Boucher einer der am stärksten präsenten französischen Teilnehmer in den Programmen der Maison de l’Allemagne dieser frühen Jahre. Wenn der erste Direktor des Hauses, Hans Steffen, im Rückblick berichtet, daß in seiner Amtszeit viele Dinge einfacher und unbürokratischer zu lösen waren als in späteren Zeiten, 55 so gilt dies wohl auch für die Beziehungen zum conseil 50 Brief von Hans Steffen vom 9.1.1969 an Herrn Lergenmüller, Pariser Botschaft der Bundesrepublik Deutschland, im Archiv HHH. 51 Michel Lemercier: „Germanisme et Résistance: Robert d’Harcourt et le nationalsocialisme de 1930 à 1940“, in : Etudes gaulliennes, 1985, p. 55-68. 52 Cf. den Eintrag zu Maurice Boucher in: Christoph König (ed.): Internationales Germanistenlexikon 1800-1950, Berlin, New York, p. 247-248. 53 Thomas Mann: „Pariser Rechenschaft“, in ders.: Autobiographisches. Das essayistische Werk in acht Bänden, Frankfurt/ Main 1968, p. 123. 54 Cf. Maurice Boucher: Vom Geist des Deutsch-Französischen Kulturabkommens, Bonn o.J. (1956). 55 Hans Steffen in Martin Raether (ed.): Quarante ans de présence culturelle, op. cit., p. 160. <?page no="310"?> 310 d’administration. Es gibt in den wenigen Protokollen seiner Sitzungen Spuren von persönlichen Spannungen (und auch den wohl vorzeitigen Rücktritt von Lenz-Médoc), doch diese hinterließen keine tiefen Spuren, da das Verhältnis zur Verwaltung der CU ohne größere Mißhelligkeiten blieb. Um so wichtiger war die Einübung des administrativen Verkehrs des Direktors des Hauses mit der Trägerorganisation von der deutschen Seite, in der die zivilgesellschaftlichen Charakteristika in den ersten zehn Jahren vorherrschten. Die im September 1952 gegründete Stiftung Deutsches Haus in der Cité Universitaire hatte mit der Eröffnung des Wohnheims eigentlich ihren Zweck erfüllt und hätte aufgelöst werden können. Wenn das nicht umgehend geschah, so war das durch zwei Umstände bestimmt: Zum einen zögerte sich die Überprüfung der Abrechnungsunterlagen durch den Bundesrechnungshof und das Auswärtige Amt über annähernd zehn Jahre hin und die Stiftung konnte sich solange aus ihrer Rolle als Bauträger nicht verabschieden. Zum anderen gab es auch einen inhaltlichen Grund für die Hinauszögerung des Auflösungsbeschlusses, der darin bestand, daß schon bald nach Eröffnung der Maison de l’Allemagne die Pläne für eine eventuelle Erweiterung des Studentenhauses Konjunktur hatten. Die Stiftung erhielt damit eine neue Aufgabe und Daseinsberechtigung. Auf der Traktandenliste der Kuratoriumsversammlungen der Freunde des Deutschen Hauses wurde das Thema der Auflösung der Stiftung immer wieder im Zusammenhang mit ihrer Entlastung durch den Bundesrechnungshof aufgerufen. Die entsprechenden Unterlagen für die Überprüfung der Einnahmen und Ausgaben waren am 22. September 1958 an die Bundesbaudirektion übergeben worden. In der Sitzung vom 11. November 1961 berichtete der Vorsitzende des Freundes-Kreises, August Rucker, die Stiftung habe immer noch nicht aufgelöst werden können: „Nach einer Mitteilung des Auswärtigen Amtes vom 2.10. scheint der Bundesrechnungshof inzwischen die Prüfung der Verwendungsnachweise abgeschlossen zu haben, wobei sich noch einige Fragen ergeben, die am 30.10. beantwortet wurden.“ 56 Man ging davon aus, daß die Auflösung während der Kuratoriums-Jahressitzung 1962 vollzogen werden konnte. Es dauerte dann aber noch fünf Jahre, bis die Stiftung tatsächlich aufgelöst wurde. Es ist anzunehmen, daß diese Verzögerungen vor allem deshalb eintraten, weil bei der Abrechnung des deutsch-französischen Gemeinschaftsprojekts die haushaltstechnischen Praktiken unterschiedlich waren und kompatibel gemacht werden mußten. Da seitens des Auswärtigen Amtes schließlich ab März 1964 keine Stellungnahmen zu den Abrechnungsunterlagen mehr erfolgten, faßte die Kuratoriumssitzung und Mitgliederversammlung der Freunde des Deutschen Hauses am 15. März 1966 den Beschluß zur Auflö- 56 Kurzprotokoll der Kuratoriumssitzung und Mitgliederversammlung des Vereins der „Freunde des Deutschen Hauses in der Cité Universitaire in Paris“ am 11.11.1961, Ms. im Archiv des HHH, p. 1. <?page no="311"?> 311 sung der Stiftung: „Die Stiftung wird infolge Erfüllung des Stiftungszwecks aufgelöst. […] Das Restvermögen in Höhe von 151,23 DM wird satzungsgemäß dem Deutschen Akademischen Austauschdienst übertragen, der gebeten wird, es dem Deutschen Haus für seine Kulturarbeit zur Verfügung zu stellen.“ 57 Diesem Beschluß war unmittelbar vorausgegangen die Mitteilung Prof. Ruckers, daß mit einem „Erweiterungsbau des Deutschen Hauses in absehbarer Zeit nicht gerechnet werden kann.“ 58 Diese Perspektive einer Ausweitung der Aufnahmekapazität des Studenten- und Kulturhauses der Bundesrepublik Deutschland in der CU war erstmals in der Kuratoriumssitzung von 1961 angesprochen worden. Rucker wurde mit der Sondierung der Verwirklichungsmöglichkeiten beauftragt und berichtete im Dezember 1962 darüber: Er hielt den Anbau eines Gebäudes mit 90-100 Zimmern für wünschenswert, der rund 4 Millionen DM kosten würde. Die Finanzierung sollte sichergestellt werden mit Mitteln der Volkswagenstiftung, der Länder und des Bundes. Dr. Nord vom Stifterverband der Deutschen Wissenschaft befürwortete das Projekt und bot seine Hilfe an für die Gespräche mit potentiellen Geldgebern aus der Wirtschaft. Gemäß Rucker war die Klärung der Erweiterungsfrage deshalb dringend, weil auf dem allein möglichen Anbaugelände inzwischen der Grundstein für das persische Haus (das heutige Avincenna-Haus) gelegt worden war. Widerspruch kam vom Vertreter der Botschaft im Kuratorium, der zu bedenken gab, daß gegenwärtig (1962) noch einige Bauvorhaben geplant seien, die aus dem Kulturetat des Auswärtigen Amtes bezahlt werden mußten und deren erfolgreicher Abschluß vordringlicher sei als der Anbau des Deutschen Hauses. Trotz diesen Bedenken faßte das Kuratorium einstimmig die Entschließung zugunsten des Erweiterungsbaues. Der Generalsekretär der KMK plädierte dafür „wieder unmittelbar an den Bundeskanzler und an die Ministerpräsidenten heranzutreten.“ 59 Aufgrund der Haushaltsprobleme infolge der ersten Rezession in der Bundesrepublik, die sich Mitte der sechziger Jahre bemerkbar machte, aber auch aufgrund der Baumaßnahmen im Goethe-Institut in Paris, die erst im Herbst 1965 abgeschlossen wurden, blieben die überaus eifrig betriebenen Bemühungen um die räumliche Kapazitätserweiterung der Maison de l’Allmagne in den frühen sechziger Jahren ohne Folgen. Da diese Versuche in der weiteren Geschichte dieser Institution zu einem rekurrierenden Phänomen wurden, seien gleichwohl die Pläne und Argumente erwähnt, die in dieser Zeit für die Vergrößerung angeführt wurden. Mitte 1963 konstatierte der Direktor des 57 Ergebnisprotokoll der Kuratoriumssitzung und Mitgliederversammlung 1966 am 15.3.1966 in Bonn, Ms. Archiv HHH, 2. 58 Ibid., p. 1. 59 Kurzprotokoll der Kuratoriumssitzung des Vereins „Freunde des Deutschen Hauses in der Cité Universitaire in Paris“ am 7.12. 1962 in Bonn, Ms. Archiv HHH, 5. <?page no="312"?> 312 Deutschen Hauses, gegenwärtig seien rund 1.300 Studierende aus Deutschland in der Pariser Universität eingeschrieben; das sei der prozentual höchste Anteil, der noch vor den USA (1.200 Studierende) liege. 60 Neben der Anbau-Variante gebe es neuerdings eine Alternativversion, die vorsehe, jenseits des Boulevards (Périphérique? ) in etwa 1,5 km Entfernung ein zweites Haus zu errichten. Direktor Steffen lehnte diese Möglichkeit entschieden ab, da sie mit dem vorhandenen Personal administrativ nicht zu bewältigen sei, und er plädierte für einen Erweiterungsbau. Die zuständigen französischen Stellen seien in dieser Frage gegenwärtig etwas zurückhaltender: „Indessen hat man mir noch unlängst versichert, daß sie Mittel und Wege für die Erlaubnis zur Erweiterung fänden, wenn von deutscher Seite aus Klarheit (wie soll der Bau aussehen) und Entschlossenheit bestünde. Es würde Aufgabe der beiden Architekten sein, die Erlaubnis der verschiedenen französischen Stellen einzuholen: die Fondation Nationale selbst stünde dem Vorhaben günstig gegenüber.“ 61 Im Jahr darauf, im Mai 1964, schien die Finanzierung gesichert, die Wahl des in Betracht kommenden Grundstücks war indessen noch unentschieden. Rucker hatte vom gerade gegründeten Deutsch-Französischen Jugendwerk (DFJW), das aufgrund seines vergleichsweise üppigen Jahresbudgets von 40 Millionen DM zu dieser Zeit so viel Geld hatte wie nie mehr danach, 62 einen Zuschuß von 4 Millionen DM zugesichert bekommen. Für das laufende Jahr 1964 sollte für vorbereitende Arbeiten eine Summe von 85.000 DM zur Verfügung gestellt werden. Es sollte geprüft werden, ob die Stiftung Deutsches Haus wiederum als Bauträger heranzuziehen sei. 63 Noch im April 1965 wurde die Neubaufrage während der Kuratoriumssitzung der Freunde des Deutschen Hauses gestreift, indem die Frage diskutiert wurde, ob der Verein oder die Stiftung Bauträger für das Projekt sein sollte, bevor auf der Jahressitzung der Freunde des Deutschen Hauses im März 1966 das (vorläufige) Ende der weit gediehenen Planungen verkündet wurde. In den bislang auffindbaren Dokumenten findet sich kein Hinweis darauf, ob das recht unvermittelte Scheitern des Erweiterungsbaus eine der Ursachen für das Ende des Vereins der Freunde des Deutschen Hauses war. Bevor der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) im Laufe des Jahres 1966 die Trägerschaft für die Maison de l’Allemagne übernahm, war diese Vereinigung der Freunde, die den Status eines eingetragenen Vereins (e.V.) mit Sitz in Bonn hatte, die wichtigste Verbindungsstelle zur 60 Bericht des Leiters des Deutschen Hauses vom 6.6.1963, Ms. Archiv HHH, p. 1. 61 Ibid., p. 1. 62 Cf. zur Gründungssituation Hans Manfred Bock: „Komplizierung der politischen Beziehungen und Konsolidierung des DFJW in den sechziger Jahren“, in: ders. (ed.): Deutsch-französische Begegnung und europäischer Bürgersinn. Studien zum Deutsch- Französischen Jugendwerk 1963-2003, Opladen 2003, p. 61 sq. 63 Protokoll der Sitzung des Kuratoriums sowie der Mitgliederversammlung der „Freunde des Deutschen Hauses in der Cité Universitaire“ am 29.5.1964, Ms. Archiv HHH, p. 5 sq. <?page no="313"?> 313 deutschen Politik. So wie der conseil d’administration die Integration des Hauses in die Cité Universitaire gewährleistete, so verband der Verein der Freunde dasselbe mit den Entscheidungsstrukturen der auswärtigen Kulturpolitik der Bundesrepublik Deutschland, die sich in den fünfziger Jahren noch in weitem Umfang auf privatrechtliche Vereinigungen stützte. 64 Der Verein hatte seinen ständigen Verwaltungssitz in München (Veterinärstraße), wo Dr. Eugen Hintermann als Geschäftsführer fungierte, der über die dortigen Universitätsstrukturen mit dem Vorsitzenden, Prof. August Rucker, verbunden war. Seine mindestens einmal im Jahr stattfindenden Kuratoriums- und Mitgliederversammlungen hielt er am Sitz des Generalsekretariats der KMK in Bonn ab. Die Mittel für die Arbeit des gemeinnützigen Vereins wurden vom Auswärtigen Amt angewiesen. Anders als beim CU-internen Verwaltungsrat spielten bei der Zusammensetzung des Kuratoriums des Vereins der Freunde die Gesichtspunkte der politischen Symbolik keine ausschlaggebende Rolle. Es waren vielmehr Aspekte der Zusammenführung der gesellschaftlichen und gouvernementalen Organisationen bzw. Institutionen, die dem Kuratorium sein Gepräge gaben und die Autorität verliehen, die zur Förderung der Arbeit der Maison de l’Allemagne erforderlich war. Ziel der Vereinigung der Freunde war „die ideelle und materielle Unterstützung des deutschen Studentenwohnheimes in der Cité Universitaire in Paris und damit der Förderung der deutschfranzösischen Freundschaft“. 65 Mitgliederbeiträge der natürlichen oder juristischen Personen, die dem Verein beitreten konnten, sollten in der Regel die Form von Förderungsbeiträgen und Spenden annehmen (§ 4, II). Dem auf drei Jahre gewählten Vorstand oblagen die laufende Geschäftsführung des Vereins und seine gerichtliche oder außergerichtliche Vertretung. Vorstandsvorsitzender war vom Anfang bis zum Ende der Vereinigung Professor Rucker, der ja auch schon an der Spitze der 1952 gegründeten Stiftung stand. Seit 1961 wurde Rucker im Vorstand flankiert von Ministerialdirektor Dieter Sattler (1906-1968) als Stellvertreter und Prof. Hellmut Georg Isele (1902-1987) als Schatzmeister. Sattler war einer der Architekten einer neu konzipierten Kulturpolitik im Auswärtigen Amt; er war Mitte 1959 zum Leiter der Kulturabteilung im Außenministerium ernannt worden. 66 Prof. Isele war (wie Rucker) bereits an der Konstituierung der Stiftung für das Deutsche Haus beteiligt gewesen; er war Handels-, Arbeits- und Sozialrechtler und zeitweilig Rektor der Universität Mainz. Damit war ein Vertreter der öffentlichen Verwaltung und ein Hochschulvertreter in die Außenbeziehungen des Vereins einbezogen. 64 Zur analogen Entwicklung in der Frühgeschichte des DFJW cf. das entsprechende Kapitel in: Hans Manfred Bock (ed.): Deutsch-französische Begegnung, op. cit. 65 Satzung der Vereinigung der Freunde des Deutschen Hauses in der Cité Universitaire in Paris e.V., loc. cit., § 1. 66 Cf. Ulrike Stoll: Kulturpolitik als Beruf, op. cit., p. 315-333. <?page no="314"?> 314 Mindestens ebenso wichtig für die tatkräftige Wahrnehmung der Interessen des Vereins war die Zusammensetzung seines Kuratoriums. Gemäß seiner Satzung (§ 8, I) waren ständige Mitglieder: zwei Vertreter des Auswärtigen Amtes, von denen einer der jeweilige amtierende Botschafter in Paris sein mußte; je ein Repräsentant des Bundesinnenministeriums, der Ständigen Konferenz der Kultusminister (KMK), der Westdeutschen Rektorenkonferenz (WRK), des Stifterverbandes der Deutschen Wissenschaft, des Verbandes Deutscher Studentenschaften und des Deutschen Akademischen Austauschdienstes. Das Gremium konnte weitere Mitglieder kooptieren; so wurde Prof. Erbe z. Bsp. 1961 und 1963 zum Kuratoriumsmitglied gewählt und an die Stelle des wegen Arbeitsüberlastung zurückgetretenen Romanisten Prof. Gerhard Hess wurde der zukünftige Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft Julius Speer hinzugewählt. 67 Die wichtigsten Aufgaben des Kuratoriums waren die Verabschiedung des Haushaltsplanes der Maison de l’Allemagne, die Unterstützung des Vorstandes bei der Beibringung der erforderlichen Mittel für den Verein, die Präsentation von Vorschlägen für die Vorstandswahl an die Adresse der Mitgliederversammlung des Vereins und die Ermittlung von Kandidaten für die Besetzung der Direktorenstelle am Deutschen Haus an die Adresse der zuständigen Pariser Stellen (§ 8, III). Wenngleich das Auswärtige Amt in diesem Gefüge einen hervorgehobenen Platz einnahm, so war es doch offensichtlich, daß es dort bestenfalls primus inter pares war. Die Praxis und die Erfahrungen in der Leitung des Deutschen Hauses in der CU waren letztlich ausschlaggebend für die relative Bedeutung dieser beteiligten Institutionen und Organisationen. Diese Frage spitzte sich gegen Mitte der sechziger Jahre zu im Zusammenhang mit den Betriebskosten für das Studentenheim und Kulturzentrum der Bundesrepublik am Boulevard Jourdan. Die zusammengesetzte Finanzierung bestand von Anfang an aus drei Komponenten: den Mieteinnahmen von den Residenten, einem Zuschuß des Auswärtigen Amtes (insbesondere für das Gehalt des Direktors und das Kulturprogramm) und einem Zuschuß der Bundesländer, aus dem vor allem die Tutorenstellen bezahlt wurden, die für das Innenleben des Hauses eine tragende Funktion hatten (und haben). Während die Zuweisungen der Länder überwiegend pünktlich und vollständig überwiesen wurden, gaben die Zuweisungen durch das Auswärtige Amt aufgrund teilweise erheblicher Verspätungen immer wieder Anlaß zur Klage des Direktors, aber auch des Vorstandes der Freunde, deren Angestellter der Leiter des Hauses war. Die finanziellen Nöte der Institution nahmen gelegentlich solche Dimensionen an, daß Dr. Steffen, der erste Direktor des Hauses, ankündigte, er werde nunmehr die Hilfe der Cité Universitaire erbitten müssen, um dessen Funktionsfä- 67 Protokoll der Sitzung des Kuratoriums […] am 29.5.1964, loc. cit., p. 6 sq. <?page no="315"?> 315 higkeit aufrecht zu erhalten. 68 Anfang 1960 gab der Kuratoriumsvertreter des Auswärtigen Amtes zur Kenntnis, daß die Mittel seines Ministeriums der Maison de l’Allemagne nunmehr direkt über die deutsche Botschaft in Paris zugeleitet würden auf Wunsch des Bundesfinanzhofes. Dies warf die Frage auf, ob denn dann überhaupt noch eine Existenzberechtigung für den Verein der Freunde bestehe, oder „ob er nicht besser aufgelöst und das Kuratorium in einen beratenden Ausschuß des Auswärtigen Amtes verwandelt“ werden solle. Das Kuratorium lehnte indes eine „überstürzte Auflösung“ ab. Diese Option blieb auch in den folgenden Jahren aktuell. Im Jahre 1965 war das deutsche Außenministerium am 7.6.1965 vom Kuratorium gebeten worden, einer Verwaltungsvereinbarung mit dem Verein Freunde des Deutschen Hauses zuzustimmen: „Hierin sollte sich das Auswärtige Amt verpflichten, den Verein durch Zuschüsse in Höhe der jeweiligen Differenz zwischen den Mieteinnahmen und den für die Bewirtschaftung des Hauses anfallenden Personal- und Sachkosten, insbesondere auch der für die Besoldung des Leiters des Deutschen Hauses erforderlichen Mittel, zu unterstützen, da die bisherige Gewährung von freiwilligen zweckgebundenen Zuschüssen durch den Bund keine ausreichende Sicherung für den Leiter des Deutschen Hauses und die verantwortlichen Organe des Vereins darstelle.“ 69 Für das laufende Jahr 1966 wurde eine Lösung dieser Frage dergestalt vorgeschlagen, daß beim Verein eine Betriebsmittelreserve in der Höhe der Jahresbezüge des Direktors gebildet werden sollte. Als auch dieser Ausweg mit haushaltstechnischen und juristischen Argumenten verworfen wurde, schlug der Leiter der Kulturabteilung im Auswärtigen Amt, Dieter Sattler, vor: die Ausfallbürgschaft beim Stifterverband der Deutschen Wissenschaft zu beantragen (dessen Vertreter im Kuratorium sich dazu bereit erklärt hatte), den Verein „zur Erfüllung der ideellen Aufgaben bestehen zu lassen“ und einen anderen Verwaltungsträger für das Deutsche Haus zu suchen. Nach intensiver Aussprache schlug der Vereinsvorsitzende Rucker vor, zuerst mit „den in Frage kommenden Stellen, insbesondere mit dem Stifterverband, mit dem Deutschen Akademischen Austauschdienst und eventuell mit dem Goethe-Institut“ zu verhandeln und erst dann zu beschließen, ob der Freunde-Verein „zur Erfüllung des ideellen Zwecks“ weiter bestehen solle. Der Vorschlag wurde angenommen und die Gespräche mit dem DAAD, die 1966 geführt wurden, besiegelten das Ende des Vereins und die Übertragung seiner Funktion auf die neue Trägerorganisation. Der Jahresbericht des Leiters des Deutschen Hauses begann im Mai 1967 mit den Feststellungen: „Inzwischen ist das Deutsche Haus vom DAAD übernommen worden. Die Art und Weise der Zusammenarbeit mit dem DAAD wird im einzelnen noch 68 Cf. Bericht des Leiters des Deutschen Hauses 1965, MS. Archiv HHH, p. 4 sq. 69 Protokoll der Kuratoriumssitzung der „Freunde des Deutschen Hauses“ am 15.3.1966 in Bonn, Ms. Archiv HHH, p. 4. <?page no="316"?> 316 abgesprochen und geübt werden müssen. Die bisherigen Erfahrungen sind sehr erfreulich.“ 70 3. Einsetzung des Direktors und Zusammenarbeit mit anderen deutschen Kulturinstitutionen Nach der Konstituierung des hauseigenen Verwaltungsrates, der für die Akzeptanz in der Pariser Kulturszene sehr wichtig war, und nach der Gründung des Vereins der Freunde des Deutschen Hauses, der als Trägerorganisation halb zivilgesellschaftlichen und halb offiziellen Charakter hatte, waren die Benennung des ersten Leiters der Maison de l’Allemagne und die Aufgabenabgrenzung zu den anderen deutschen Kulturinstitutionen in Paris, die fast alle in den zehn Jahren nach der Gründung der Institution am Boulevard Jourdan ins Leben gerufen wurden, zwei weitere Bewährungsproben in der Frühphase des Hauses. Es fehlte für keine der wenigen Funktionsstellen, die dort vorgesehen waren, an Kandidaten. 71 So hatte schon einer der frühesten Initiatoren für den Bau des Hauses, Erich Boehringer, „recht unverhohlen“ sein Interesse an dieser Tätigkeit bekundet. 72 Als die Besetzung der Direktorenstelle dann aktuell wurde, hatten sich allem Anschein nach besonders an der Universität Heidelberg einige kulturpolitisch interessierte Hochschulangehörige eingehendere Gedanken gemacht über die möglichen Funktionen einer solchen Gründung in der Cité Universitaire. Aus einem Gratulationsschreiben des damaligen Heidelberger Assistenten der Germanistik und Lehrstuhlvertreters in Tübingen Peter Wapnewski an Dr. Hans Steffen ist zu schließen, daß er längerfristig mit Planungen für das deutsche Haus befaßt war. Er schreibt dort, er habe „wohl zwei Dutzend Denkschriften über das Projekt verfaßt und von der Zahl der Putzfrauen bis zum Repräsentationsfonds des Direktors in alles hineinschnüffeln müssen“. 73 Wapnewski war wie der im März 1956 vom Kuratorium der Freunde des Deutschen Hauses ausgewählte erste Direktor der Institution, Hans Steffen, ein Schüler des Heidelberger Germanisten Paul Böckmann (1899-1987). Hans Steffen, 1926 in Ludwigshafen geboren, gehörte zur Flakhelfer-Generation 74 und war noch im März 1945 70 Bericht des Leiters des Deutschen Hauses 1967, Ms. Archiv HHH, p. 1. 71 In diesem Zusammenhang hatte der Geschäftsführer des Vereins der „Freunde des Deutschen Hauses“ Hintermann bereits 1955/ 56 eine umfangreiche Korrespondenz führen müssen. 72 Cf. Ulrich Lappenküper: „Ein ‚Mittelpunkt deutscher Kulturarbeit’“, loc. cit. 73 Brief Peter Wapnewski an Hans Steffen vom 22.12.1956, Ms. Archiv HHH, p. 2; Wapnewski erwähnt diese Episode seiner akademischen Vita in seinen Memoiren nicht; cf. Peter Wapnewski: Mit dem anderen Auge. Erinnerungen 1922-1959, Berlin 2005. 74 Cf. dazu generell die soziologische Analyse Heinz Bude: Deutsche Karrieren. Lebenskonstruktionen sozialer Aufsteiger der Flakhelfer-Generation, Frankfurt/ Main 1987. <?page no="317"?> 317 in den Kampf an der Westfront geschickt worden. Er wurde umgehend zum Gefangenen gemacht und verbrachte die Jahre von März 1945 bis September 1948 in Kriegsgefangenschaft. 75 Von September 1945 bis September 1948 war er in Frankreich interniert und trat dort als Redakteur einer Lagerzeitung und rééducateur intellektuell hervor. Ab Mai 1949 studierte er in Heidelberg Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft. Den Winter 1950 verbrachte er zur Vorbereitung einer komparatistischen Arbeit zu Lessing und Voltaire in Paris. Nach Staatsexamen und Promotion 76 (1954) wurde er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Schiller Nationalmuseum in Marbach/ Neckar. Auf Empfehlung seines Lehrers Paul Böckmann und durch die direkte Vermittlung von Claude David (1913-1999), einem der späteren führenden Germanisten der Sorbonne, den er in Marbach kennengelernt hatte, 77 wurde Steffen ab Oktober 1955 Lektor an der Ecole Normale Supérieure (ENS). In dieser Funktion wurde er von der Kulturabteilung der deutschen Botschaft in Paris zur Bewerbung aufgefordert für die ausgeschriebene Direktorenstelle an der Maison de l’Allemagne. Der biographische Werdegang des ersten Direktors des Deutschen Hauses ist nicht zuletzt deshalb von allgemeiner Bedeutung, weil er aus diesen Zeit- und Lebensumständen die Motive schöpfte für die (in vielen Aspekten prägende) Gestaltung der Maison de l’Allemagne in den folgenden 16 Jahren seiner Tätigkeit. Es war hauptsächlich seine Absicht, aus der deutschen Kulturtradition die Aspekte vorzustellen, die durch den Nationalsozialismus nicht kompromittiert waren, und möglichst umfassend Informationen anzubieten zur gegenwärtigen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland. Diese Intention wurde besonders in der Weichenstellung für das Kulturprogramm und die Bibliothek des Hauses materiell greifbar (auf die noch zurückzukommen sein wird 78 ). Rückblikkend charakterisiert Hans Steffen die Rahmenbedingungen für seine Arbeit als Leiter des Deutschen Hauses im allgemeinen so: „Hinsichtlich der Gestaltung meiner Tätigkeit war ich sozusagen völlig frei, allerdings trug ich auch alle Risiken.“ 79 Die inhaltliche Ausgestaltung seiner Direktorenrolle ist nicht zu trennen von seinem Sozialisationshintergrund, der im Zeichen der Kriegserfahrung und der dreieinhalbjährigen Gefangenschaft stand. Er zog für sich daraus die Konsequenz: „Wenn über die ‚Cité Universitaire et Internationale’ gesprochen und geschrieben wird, wird immer auch von der Idee der Völkerverständigung gesprochen, die sich mit der Cité ver- 75 Die folgenden biographischen Angaben folgen den Mitteilungen von Hans Steffen an den Verfasser in einem Brief vom 5.10.2006. 76 Cf. aus dem Themenbereich seiner Dissertation: Hans Steffen: Sprachkritik und Sprachhaltung bei Molière und Lessing, in: Worte und Werte. Festschrift für Bruno Markwardt, Berlin 1960. 77 Brief Hans Steffen an den Verfasser vom 5.10.2006, p. 2. 78 Cf. dazu Abschnitt 5 dieser Studie. 79 Brief Hans Steffen an den Verfasser vom 5.10.2006, p. 2. <?page no="318"?> 318 bindet. Eben diese Idee wollte ich, wenigstens was mein Land betrifft, verwirklichen. Denn Völkerverständigung setzt Kenntnis der Völker und ihrer Kulturen voraus. […] Ich wollte mehr sein als nur ein Herbergsvater. Die Kulturarbeit wertete das Haus, wertete aber auch meine Funktion auf. Sie war mit gehöriger Mehrarbeit verbunden, aber sie erleichterte auch meine Arbeit gegenüber den Studenten: Ich hatte mehr zu tun, als nur Studenten zu verwalten.“ 80 Der Gestaltungsspielraum für den Leiter des Deutschen Hauses, des ersten kulturellen Instituts der Bundesrepublik Deutschland in Paris, wurde je länger je mehr abgesteckt durch die Gründung anderer Kultur- Einrichtungen in der französischen Hauptstadt. Dies waren die Deutsche Historische Forschungsstelle (1958), die Zweigstelle des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (1963), 81 die Errichtung einer Dépendance des Deutsch-Französischen Jugendwerkes (1963) und vor allem die Lancierung eines Goethe-Institutes (von April 1962 bis Oktober 1965 82 ). In den Protokollen der Jahresversammlungen der Freunde des Deutschen Hauses und in den Berichten des Direktors sind die zahlreichsten Kommentare auf das Goethe-Institut bezogen, das im April 1962 seine Sprachkurse und im Oktober 1965 sein vollständiges Kulturprogramm aufnahm. Dr. Steffen sprach in seinem Jahresbericht für 1963/ 64 die sich abzeichnende Aufgabenteilung zwischen seinem Haus und dem Goethe-Institut in der folgenden Weise an: „Die Kulturarbeit wurde auch in diesem Jahr, wie mir scheint, positiv durchgeführt. Überschneidungen oder gar eine Konkurrenz mit dem vorzüglich geführten Goethe-Institut bestehen nicht. Das Publikum des Deutschen Hauses, das sich aus Deutschlehrern und an Deutschland interessierten jungen Intellektuellen zusammensetzt, ist zum großen Teil von dem des Goethe-Instituts verschieden.“ 83 Bereits im Jahresbericht vom November 1961 wird auf die Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut hingewiesen: „Die Deutschkurse, vom Goethe-Institut veranstaltet, wurden verdoppelt, an 4 Tagen in der Woche finden jeweils 3 Sprachkurse statt.“ 84 Trotz dieser praktischen Kooperation vor Ort stellte sich über kurz oder lang die Frage der institutionellen Über- oder Unterordnung zwischen beiden Kultureinrichtungen, von denen das Goethe- 80 Ibid., p. 3. 81 Cf. dazu Ulrich Pfeil: „Die Pariser DAAD-Außenstelle in der ‚Ära Schulte’ (1967- 1972)“, in: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte, Bd. 32/ 3 (2005), p. 51- 74. 82 Im April begannen die Sprachkurse des Pariser Goethe-Instituts, die Eröffnung seines definitiven Sitzes in Paris erfolgte im Oktober 1965. Cf. Eckard Michels: „Vom Glück der verspäteten Arbeitsaufnahme. Die Anfänge des Goethe-Instituts in Paris“, in: Lendemains. Etudes comparées sur la France, 2001, Nr. 103/ 104, p. 97-107. 83 Bericht des Leiters des Deutschen Hauses zum Verwendungsnachweis 1963/ 64, Ms. Archiv HHH, p. 2. 84 Bericht des Leiters des Deutschen Hauses (11.11.1961), Ms. Archiv HHH, p. 3. <?page no="319"?> 319 Institut den offiziellen Namen „Centre culturel“ trug. Als 1965 bekannt wurde, daß die Kulturmittel des Hauses künftig über das Centre culturel in der Avenue d’Iéna ausgezahlt werden sollten, reagierte der Direktor: „Sollte damit eine Beeinträchtigung in der Programmgestaltung verbunden sein - was ich persönlich nicht vermute - ergäbe sich die Frage, ob es sinnvoll ist, die kulturellen Bemühungen von hier aus fortzusetzen.“ 85 In der Kuratoriumssitzung der Freunde vom 15.3.1966 wurde diese Frage diskutiert und Steffen insistierte, daß „eine Festlegung über die Kompetenzen des Deutschen Kulturinstituts in Paris hinsichtlich des Zuschusses für kulturelle Veranstaltungen im Deutschen Haus erforderlich“ sei: „Ein Weisungsrecht dürfte daraus nicht entstehen.“ 86 Das Auswärtige Amt begründete die zur Frage stehende Praxis mit haushaltsrechtlichen Gründen und mit dem Wunsch einer stärkeren „Koordinierung der kulturellen Veranstaltungen beider Einrichtungen“. Es schlug eine Vereinbarung zwischen beiden Institutionen vor. Im Jahresbericht vom 25.5.1967 schrieb Steffen dann, die Zusammenarbeit namentlich mit dem Goethe-Institut müsse als besonders gut gelten. Eine lebhafte Interaktion mit der im November 1958 eröffneten Deutschen Historischen Forschungsstelle, die dem Bundes-Wissenschaftsministerium angegliedert war, ist für das Wohn- und Kulturzentrum am Boulevard Jourdan nicht zu belegen. Dies gilt auch für das Deutsch-Französische Jugendwerk (DFJW), für das andere Jugendgruppen als die Studenten im Mittelpunkt des Interesses standen. 87 Die DHFS wurde gelegentlich als positiver Präzedenzfall angeführt für die Regelung der Besoldungsfrage für den Leiter der Maison de l’Allemagne. 88 Der DAAD war ab 1956 als Gesamtinstitution mit der Genese des Projekts Deutsches Haus eng verbunden gewesen als Gründungs- und dann als Kuratoriumsmitglied des Vereins Freunde des Deutschen Hauses in der Cité Universitaire. Als ab 1961 feststand, daß eine Zweigstelle des DAAD in Paris gegründet werden sollte, wurde Hans Steffen unmittelbar in die Suche nach einem Kandidaten für die Besetzung der Stelle eines Zweigstellenleiters einbezogen. Der Hauptgeschäftsführer der DAAD-Zentrale in Bonn schrieb am 28.11.1961 an Steffen, ob er aus seiner Kenntnis der deutschen Studenten in der Cité Universitaire jemanden empfehlen könne: „Notwendig ist ein abgeschlossenes Studium, zweckmäßig wohl eine Promotion, sehr gute französische Sprachkenntnisse und eigene Erfahrun- 85 Bericht des Leiters des Deutschen Hauses vom 4.3.1966, Ms. Archiv HHH, p. 2. 86 Ergebnisprotokoll der Kuratoriumssitzung und Mitgliederversammlung 1966 am 15.3.1966 in Bonn, Ms. Archiv HHH, p. 3. 87 Cf. dazu Corine Defrance: „Der Universitätsaustausch in den Begegnungsprogrammen des DFJW 1963 bis 2003“, in: Hans Manfred Bock (ed.): Deutsch-französische Begegnung und europäischer Bürgersinn, op. cit., p. 219 sq. 88 Cf. Protokoll der Kuratoriumssitzung der Freunde des Deutschen Hauses am 6.4.1965, Ms. Archiv HHH, p. 3. <?page no="320"?> 320 gen an französischen Hochschulen und im Umgang mit Franzosen.“ 89 Der DAAD entschied sich dann mit der Wahl von Hansgerd Schulte für einen Kandidaten, der bereits vor Ort in Paris tätig war und der einen deutschfranzösischen Sozialisationshintergrund besaß. 90 Im März 1966 zählte der DAAD neben dem Goethe-Institut und dem Stifterverband der Deutschen Wissenschaft zu den Unterredungspartnern für die Ablösung der Freunde des Deutschen Hauses durch einen neuen Verwaltungsträger. Nach der gleitenden Übernahme des Hauses in den DAAD bilanzierte dessen Leiter Mitte 1968 die relative Bedeutung der Institutionen, die seine erfolgreiche Tätigkeit förderten: Diese sei nicht möglich „ohne die tatkräftige Hilfe und das Verständnis deutscher Behörden und Stellen, allen voran die Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes, die Kultusministerkonferenz der Länder, der Stifterverband und natürlich der DAAD, dem das Haus verwaltungsmäßig mehr oder weniger zugeteilt worden ist.“ 91 Als Vorzüge des neuen Verwaltungsdaches führte er an: „Ohne die moralische Hilfe und das freundschaftliche Wohlwollen der ‚Freunde des Deutschen Hauses’ in irgendeiner Weise schmälern zu wollen, wird man doch sagen dürfen, daß die Betreuung und die verwaltungsmäßige Zusammenarbeit durch bzw. mit dem DAAD ungleich wirksamer ist. Nicht nur sind die Interessen und die Ziele des DAAD und des Deutschen Hauses insofern identisch als es beide mit Studenten zu tun haben, sondern die Notwendigkeiten und Möglichkeiten des Haushalts werden vom DAAD besser übersehen und können entsprechend besser verwirklicht werden.“ 92 Mit einer anderen Art von Kulturinstituten, denjenigen des anderen Deutschland, der DDR, war das Deutsche Haus konfrontiert durch das Interesse, das in universitären Kreisen in Paris diesen Einrichtungen entgegengebracht wurde. Der Direktor des Hauses in der CU sah in ihnen die „Gegenkräfte“, d.h. eine ernstzunehmende Konkurrenz und die Urheber eines alternativen Urteils über die Bundesrepublik Deutschland. Er meinte damit die Echanges franco-allemands (5 bis, Bd. Bonne Nouvelle), die auch unter den inoffiziellen Namen Bureau de voyages avec l’Allemagne de l’Est und Maison de l’Allemagne de l’Est bekannt waren, und die am 6.10.1962 eingeweihte sowjetrussische Librairie du Globe (2, rue de Buci). Die der DDR dienlichen Echanges franco-allemands veranstalteten Vorträge, verteilten Zeitungsmaterial und Stipendien, deren Vergabe vor allem von dem Pariser Germanisten Pierre Grappin geleitet wurde. Nach Steffens Einschätzung ging von diesem Bureau, „eine nicht unwirksame Propagan- 89 Brief Hubertus Scheibe vom 28.11.1961 an Dr. Hans Steffen; der Verfasser des Briefes war damals Generalsekretär des DAAD in Bonn, Ms. Archiv HHH, 1. 90 Cf. die Studie von Ulrich Pfeil: „Der Pariser DAAD“, loc. cit., und Hans Manfred Bock: „Der DAAD in den deutsch-französischen Beziehungen“ im vorliegenden Buch. 91 Bericht des Leiters des Deutschen Hauses vom 16.5.1968, Ms. Archiv HHH, p. 2. 92 Ibid., p. 2sq. <?page no="321"?> 321 da auf die französischen Germanistik-Studenten aus, die ja einen Hauptteil unseres Publikums ausmachen.“ 93 In der zentral gelegenen Librairie du Globe konnten sie Bücher und Schallplatten zu herabgesetzten Preisen erwerben, insbesondere auch Klassiker der Gegenwartsliteratur aus Ostdeutschland und aus der Sowjetunion. Dem habe die Bundesrepublik nichts entgegenzusetzen: „Bücher aus der Bundesrepublik sind in Frankreich ca. 25 % teurer als in der Bundesrepublik selbst (Zoll und ein Art Luxusbzw. Umsatzsteuer).“ 94 Man müsse dem indirekten Einfluß der DDR entgegenarbeiten durch „Propaganda und Ankündigung“ der eigenen Veranstaltungen und durch deren „Qualität und Originalität“. Ende 1961 führte er dazu aus: „Aber ich bin sicher, daß unsere Kulturarbeit nach einer Anerkennung der DDR mit ungeahnten Schwierigkeiten konfrontiert werden wird. Die Auffassung, daß vor allem die unterentwickelten Länder kulturpolitisch durchdrungen werden sollen und insofern nur beschränktere Mittel für die Kulturarbeit in Frankreich zur Verfügung stehen, könnte sich sehr negativ auswirken. Die vielversprechende deutsch-französische Freundschaft wird sicher offiziell gefördert, doch ist der Zustand, daß sich die französische Bevölkerung und die Bevölkerung der Bundesrepublik kennt und schätzt, noch lange nicht erreicht und das Interesse an der Bundesrepublik ist in weiten Kreisen noch gering, bzw. fehlt hier die Information.“ 95 Die Hinweise auf die konkurrierende Kulturarbeit der DDR in Paris, die insbesondere im intellektuellen Umfeld der französischen Kommunistischen Partei wirksam war, dienten dem Leiter des deutschen Hauses im Kalten Krieg dieser Jahre gleichermaßen als Argumentationswie als Legitimationshilfe beim Auswärtigen Amt für die Bereitstellung von Mitteln für die Ausstrahlung seiner Institution. 96 In seiner Auffassung ging es allem Anschein nach eher um ein indirektes Gegenwirken gegen den Einfluß der Fürsprecher der DDR in Paris, das sich der Mittel der Attraktivität und Qualität des hauseigenen Kulturprogramms bediente, als um eine direkte Gegenpropaganda. In den Leitlinien für die Aufnahme von Residenten in das deutsche Haus vom November 1957 wurden (§ 9) „Sonderregelungen für deutsche Studenten aus der Ostzone und Auslandsdeutsche“ vorgesehen. Ergänzt wurde das Spektrum deutschsprachiger Kultureinrichtungen in Paris durch das 1962 eröffnete Institut Autrichien, das an die Arbeit des älteren Centre Culturel Autrichien (rue Rossini) anknüpfte. Das österreichische Institut (30, Bd. des Invalides, Paris 7 e ) bot Sprachkurse, einen Hochschullehrer- und Studentenaustausch, einen Informationsdienst 93 Bericht des Leiters des Deutschen Hauses vom 6.6.1963, Ms. Archiv HHH, p. 3. 94 Ibid. 95 Bericht des Leiters des Deutschen Hauses vom 11.11.1961, Ms. Archiv HHH, p. 1. 96 Zur Rolle des Kalten Krieges für die Kulturpolitik der Bundesrepublik Deutschland im Paris dieser Periode cf. auch Ulrich Pfeil: „Die Pariser DAAD-Außenstelle in der ‚Ära Schulte’“, loc. cit., p. 67 sq. <?page no="322"?> 322 und kulturelle Veranstaltungen an. Spuren von mehr als gelegentlicher Zusammenarbeit mit der Maison de l’Allemagne gibt es nicht. 4. Einbeziehung der Residenten in die Gestaltung des Innenlebens und Schritte zur werbenden Außendarstellung des deutschen Hauses Mit der faktischen Aufnahme der Tätigkeit des Direktors, die bereits vor dessen offizieller Ernennung ab April 1956 begann, 97 startete die Interaktion des Deutschen Hauses nach innen und nach außen. Diese Handlungsfähigkeit wurde getragen von einer minimalen Personalinfrastruktur. Dem Leiter des Hauses wurde eine Sekretärin zur Seite gestellt und die Bibliothek wurde anfangs durch halbjährig wechselnde Bibliotheksschülerinnen geleitet. Im Laufe des Jahres 1956 waren bereits zahlreiche Anfragen von Interessenten für die Sekretariatsstelle bei den Freunden des Deutschen Hauses eingetroffen. Den Zuschlag erhielt schließlich die Übersetzerin und Politik-Studentin Margarethe Rosenbauer (geb. 1933), die schon 18 Monate in der Cité Universitaire gelebt hatte und später in Marburg/ Lahn mit einer Arbeit über die Ecole libre des Sciences politiques promovierte. Sie trat ihre Tätigkeit Mitte Februar 1957 an. Die Arbeitsfähigkeit des neu gegründeten Hauses wurde nach innen durch ein Tutorensystem konsolidiert, das aus Mitteln der Bundesländer zur Deckung der Betriebskosten finanziert wurde und das sich aufgrund seiner Bewährung zu einer tragenden Struktur der Maison de l’Allemagne bzw. des Heinrich-Heine- Hauses entwickelte. Nach außen waren in dieser Frühphase die Aktivitäten des Carolus-Magnus-Kreises, Vereinigung ehemaliger Lektoren, Assistenten und Studenten in Frankreich e.V. 98 eine wichtige Erweiterung des Handlungspotentials. Mit Hilfe der Kulturabteilung der deutschen Botschaft und mit Zustimmung des Direktors des Hauses unterhielt der Carolus-Magnus-Kreis seit 1956 (und bis weit in die sechziger Jahre hinein) ein Büro in der Maison de l’Allemagne, dessen Funktionen so umrissen wurden: „Deutsche, die nach Paris gingen, waren bisher allein auf das Deutsche Konsulat oder die Botschaft angewiesen, die durch ihre vielseitigen Aufgaben nur beschränkt Auskünfte zu den Möglichkeiten und Schwierigkeiten des Studiums geben konnten. Man braucht nur die Komplikationen bei der Einschreibung zu erwähnen. Auch Franzosen, die ein Deutschland- 97 Gemäß der Korrespondenz von Hans Steffen mit der Botschaft und dem Auswärtigen Amt. 98 Cf. dazu Ulrich Barth: „Der Carolus-Magnus-Kreis und seine Funktion im deutschfranzösischen Assistentenaustausch“, in: Jürgen Olbert (ed.): Le Colloque de Strasbourg 1977. Die erste Begegnung deutscher Französischlehrer und französischer Deutschlehrer, Frankfurt/ Main 1979, p. 189-192. <?page no="323"?> 323 studium planen, finden nun wie die Deutschen in Paris in der Maison Allemande die Möglichkeit, sich aus erster Quelle zu informierten. Ein besonderes Anliegen des Carolus-Magnus-Kreises ist es, in den beiden letzten Fällen mit seiner Schwesterorganisation in Frankreich, der ALFA, Abhilfe zu schaffen, da gefaßte Pläne eines Auslandsstudiums oft aus Unsicherheit und mangelnder Hilfe wieder aufgegeben werden.“ 99 Nach einem Treffen in Heidelberg Ende 1956 traten die beiden Organisationen (CMK und AL- FA) am 9.1.1957 erstmals auch mit einem kulturellen Aussprache- Programm im Deutschen Haus in Erscheinung. 100 Eine weitere Form der aktivierenden Einbeziehung der Bewohner in die Gestaltung des Innenlebens des Hauses war die Wahl eines Comité des résidents, die jeweils zu Beginn eines neuen Universitätsjahres vorgenommen wurde. Diesem Komitee oblag die Planung und Durchführung von kulturellen und sportlichen Veranstaltungen wie der Weihnachtsfeier, einem Karnevalsfest, einer größeren Gruppenreise sowie von Tanzabenden, Konzerten und Ausstellungen. In die Regie der Tutoren fiel auch die Organisierung von Arbeitsgruppen und Vorträgen mit anschließender Diskussion. In der ersten Entwicklungsphase des Deutschen Hauses war der von ihnen ausgerichtete Vortragszyklus „L’évolution de la France depuis 1945“, der 1964 durchgeführt wurde und allen Cité-Bewohnern zugänglich war, ein Höhepunkt. 101 Die Vorträge wurden jeweils von mehr als 200 Zuhörern besucht, die ausnahmslos prominente französische Redner kennenlernten: den Politologen Maurice Duverger („Institutionen“), den Generalsekretär der gaullistischen Partei Jacques Baumel („Europäische und atlantische Politik“), den Atomstrategen General Gallois („Force de frappe“), den späteren Premierminister Raymond Barre („Wirtschaft“) und den Minister für internationale Zusammenarbeit Raymond Triboulet („Entkolonialisierung und Zusammenarbeit“). Nicht alle Unternehmungen im Tutorenprogramm waren so spektakulär besetzt wie dieser Zyklus. Aber es gab auch noch andere Vortragsreihen in diesem Rahmen, die einführen sollten in die Probleme und Sichtweisen des Gastlandes. Die strukturelle Einbeziehung der Residenten über das Tutorenprogramm, über das Wirken des Carolus-Magnus-Kreises sowie über das Comité des résidents prägte also von Anfang an das Verhältnis zwischen der Leitung des deutschen Hauses und seinen Bewohnern. 99 „Deutsches Haus in der Cité Universitaire de Paris“, in: Carolus-Magnus-Kreis. Mitteilungsblatt, Nr. 6, 1957, p. 7. 100 ALFA war die Abkürzung für Association des anciens lecteurs, assistants et boursiers français en Allemagne. Im Archiv des HHH befinden sich einige Akten zur Tätigkeit der beiden Organisationen, die auch im Deutsch-Französischen Institut in Ludwigsburg Gastrecht genossen. 101 Cf. dazu auch Henri Ménudier: „La Maison de l’Allemagne à la Cité Universitaire de Paris“, in: Allemagne. Bulletin d’information du Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle, 1965, Nr. 90, p. 2. <?page no="324"?> 324 Rückblickend charakterisierte der erste Direktor des Wohn- und Kulturzentrums dies Verhältnis als weitgehend problemlos und „patriarchalisch“ bis etwa Mitte der sechziger Jahre: „En suivant les idées d’aujourd’hui ou plutôt celles de 68, on qualifierait mon attitude de paternaliste.“ 102 Zu dieser prinzipiell liberalen und einvernehmlichen Beziehung trug der geringe Altersunterschied zwischen dem ersten Leiter und den Residenten ebenso bei wie die letztlich integrierend wirkende Aktivierung der Hausbewohner. Das deutsche Haus blieb auf diese Weise lange Zeit von den politischen Manifestationen, die aus der aktuellen Weltpolitik in die Cité Universitaire hineinwirkten, unbeeinflusst. Hans Steffen berichtete 1958 gleichwohl von den Cité-internen Akteuren, die ihm als Urheber wachsender Politisierung der Studentenstadt erschienen und auf die er mit seiner Strategie der studentischen Mitbeteiligung zu reagieren versuchte: „Die allgemeine Studentenvertretung der Cité, die, wie es scheint, zum Teil kommunistisch gelenkt ist, versucht, den administrativen Charakter der Cité mit Hilfe von Demonstrationen, Streiks etc. zu verändern. Vor allem scheint eines der Ziele, die Zusammenarbeit zwischen Hausleitung und Studentenschaft zu erschweren. Mit aus diesem Grunde habe ich im Hause eine Zulassungskommission gebildet, deren Entscheidungen ich natürlich nicht übergehen kann. Weiterhin bemühe ich mich, bedürftigen und würdigen Studenten mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, sodaß ich trotz dieser bedenklichen Störungen von außen deren Vertrauen weiterhin besitze.“ 103 Diese Zulassungskommission mit Beteiligung der Residenten war - so die retrospektive Beurteilung Steffens - nicht ohne Risiko: „Rien que la mise en place d’une commission estudiantine compétente pour l’admission constituait déjà un motif quasi suffisant pour me renvoyer.“ 104 Er merkt hier ergänzend an, daß diese partizipative Struktur ihn gegen Widerspruch von außen, u.a. auch vonseiten der Botschaft, immunisierte. Der so zustande gekommene interne Interaktionsmodus wurde ernsthaft erst Mitte der sechziger Jahre in Frage gestellt. Die wohl älteste Version der „Bedingungen zur Aufnahme in das Deutsche Haus in der Cité Universitaire/ Paris“, die vom November 1957 datiert ist, 105 umriß die Grundregeln für die Auswahl der Bewerber: Generell waren Bewerber zugelassen, die als Studenten mindestens drei Semester erfolgreich studiert hatten, die als Kunststudenten ein persönliches Empfehlungsschreiben ihres Lehrers beibringen konnten, die als Assistenten an einem lycée tätig waren, oder Jungakademiker, die ein Forschungsprojekt vorbereiteten oder im Hochschulbereich wissenschaftlich arbeiteten. Der Anteil der (durch den Quai d’Orsay ausgewählten) Stipendiaten der fran- 102 Martin Raether (ed.), op. cit., p. 162. 103 Brief Hans Steffen an Professor Richter vom 4.1.1958, 1 sq. 104 Martin Raether (ed.), op. cit., p. 163. 105 Ms. mit diesem Titel im Archiv HHH. <?page no="325"?> 325 zösischen Regierung sollte 20 % nicht überschreiten. Der Qualitätssicherung der deutschen Residenten diente die Maßgabe (§ 6), daß Angehörige der Studienstiftung des Deutschen Volkes und der Villingst-Stiftung begünstigt wurden. Überdies bestanden Vorzugsbedingungen für den DAAD, die Hochschulabteilung des Bundesinnenministeriums und den Deutschen Stifterverband. Jedoch sollte der Gesamtanteil dieser Stiftungen und Organisationen 50 % der Residenten nicht überschreiten. Die wichtigste Regel für die Zusammensetzung der Bewohner der einzelnen Cité- Häuser stand nicht in dem Text, der ihre Auswahl regelte, sondern war Bestandteil des für alle Häuser geltenden Regelwerks. Sie legte fest, daß mindestens 30 % der Residenten eines Hauses einer anderen Nation angehören sollten als derjenigen, die dieses Haus gestiftet hatte und leitete. Diese Direktive des „brassage“ zwischen den Nationen wurde später (1973) auf 50 % erhöht. Sie sollte nicht allein die Akzeptanz und Kenntnis anderer Kulturen fördern, sondern auch vermeiden helfen, daß sich innerhalb der verschiedenen Häuser ungehemmt die politischen Konflikte und Konfrontationen entfalteten, die im Herkunftsland dieser Institutionen vorherrschend waren. Entsprechend der Zahl der nicht deutschen Bewohner der Maison de l’Allemagne wurden dem Leiter des Hauses Zimmer zur Verfügung gestellt, die für die Residenten deutscher Staatsangehörigkeit in den anderen Häusern der Cité Universitaire bestimmt waren. Gelegentlich wurde Kritik geübt von Bonner Beamten, die die Zahl von schließlich 50 % nicht deutscher Belegungen für zu hoch hielten. Dieser immanente Trend des brassage war jedoch nicht umkehrbar und aufgrund der überwiegend positiven Erfahrungen offenbar auch nicht erwünscht. Die Auswahl der Bewohner des deutschen Hauses, die letztlich in der Entscheidungsgewalt des Direktors lag, zeigte in den ersten Jahren der Existenz des Hauses einige Besonderheiten, die sich in den sechziger Jahren bereits abschwächten. In der Versammlung des conseil d’administration vom Oktober 1957 berichtete Hans Steffen, seit der Eröffnung des Hauses hätten über 400 schriftliche Absagen erteilt werden müssen. 106 Bei den angenommenen Bewerbern habe er auf eine etwa gleichmäßige Verteilung auf die Wissenschaftsdisziplinen (6 bis 8 pro Fach) Obacht gegeben; vertreten seien Politische Wissenschaft, Recht, Medizin, Mathematik, deutsche Philologie, Ökonomie, Musik und Bildende Künste, Architektur, französische Philologie, Geschichte und Philosophie. Als Bewerberkategorien, die er für ungeeignet hielt für die Zulassung, nannte er die au-pair- Mädchen und die studentischen Verbindungen in Deutschland. Im Jahresbericht 1959 hob er als Besonderheit der Zusammensetzung des deutschen Hauses hervor, daß gegenwärtig mehr als ein Drittel der Residenten aus Deutschland bereits die Promotion oder das Staatsexamen hinter sich hatte 106 Procès-verbal. Conseil d’administration de la Maison de l’Allemagne. Deuxième séance 28 octobre 1957, p. 4. <?page no="326"?> 326 und mit genau umrissenen Projekten nach Paris gekommen sei. 107 Zu diesen jungen Forschern zählte auch Gilbert Ziebura, der damals seine Habilitationsschrift über Léon Blum vorbereitete 108 und längere Zeit in der Maison de l’Allemagne wohnte. Ein Blick auf die Dossiers der aufgenommenen Bewerber zeigt, daß deren Alter in den sechziger Jahren sich im Durchschnitt verringerte. In der Sitzung des Verwaltungsrates vom Oktober 1957 teilte Hans Steffen mit, daß er sich bemühte, den Kontakt zu den gesellschaftlichen Gruppen in Paris auszubauen, die als Gesprächsbzw. Kooperationspartner für die Hausbewohner bzw. für die Gestaltung des Kulturprogramms in Betracht kamen. Er nannte namentlich das Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle, das Institut d’études germaniques, das Institut d’études politiques, den Carolus-Magnus-Kreis und die Association des anciens lecteurs, assistants et boursiers français en Allemagne. 109 In der Tat war der konstruktive Kontakt zu den zivilgesellschaftlichen Gruppen in Paris, die sich die französisch-deutsche Versöhnung und Verständigung zum Ziel gesetzt hatten, 110 ein entscheidend wichtiger Schritt für die Intensivierung der Kommunikation im Hause und mit dem soziokulturellen Umfeld in der CU und in Paris. In diesem Entstehungsprozeß eines transnationalen Netzwerks in Paris wirkten noch weit mehr Gruppen, Organisationen und Institutionen zusammen, als der erste Direktor des Hauses in der Verwaltungsrats-Sitzung angeführt hatte. Von ihnen war das Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle, das Grosser- Komitee, der Akteur, der am unmittelbarsten auf dem akademischen Wirkungsfeld arbeitete, in dem das deutsche Haus angesiedelt war. Seit 1948 für die kritische Wiederannäherung an Deutschland tätig, hatte das Grosser-Komitee im universitären Rahmen bereits eine doppelte Tradition ausgebildet. Zum einen durch die einbis zweimaligen Großveranstaltungen in der Maison Internationale der CU, in denen französische und deutsche Studierende die Möglichkeit des Kennenlernens erhielten, und zum anderen durch die Vortragsreihe der Conversations franco-allemandes, die in der 107 Bericht des Leiters des Deutschen Hauses in der Cité Universitaire in Paris, undatiert, Ms. Archiv HHH, p. 5. 108 Cf. dazu auch (ohne Bezug auf das Deutsche Haus) Gilbert Ziebura: „Anfänge deutsch-französischer Begegnungen 1947-1951“, in : Frankreich-Jahrbuch 2003, Wiesbaden 2004, 153-165. Zur Rolle Zieburas für die sozialwissenschaftliche Frankreich- Forschung in der Bundesrepublik cf. Adolf Kimmel: „Gilbert Ziebura. Seine Bedeutung für die deutsche sozialwissenschaftliche Frankreichforschung und seine Rolle in den zivilgesellschaftlichen deutsch-französischen Beziehungen“, in: François Beilecke, Katja Marmetschke (ed.): Der Intellektuelle und der Mandarin, Kassel 2005, p. 461-479. 109 Procès-verbal. Conseil d’administration de la Maison de l’Allemagne, loc. cit., p. 6. 110 Cf. dazu den Darstellungs-Versuch Martin Strickmann: L’Allemagne nouvelle contre l’Allemagne éternelle. Die französischen Intellektuellen und die deutsch-französische Verständigung 1944-1950, Frankfurt/ Main 2004. <?page no="327"?> 327 Sorbonne stattfanden und einem größeren Publikum offenstanden. 111 Bei den meist im Dezember stattfindenden Studententreffen in der Maison Internationale kamen zwischen 200 und 400 Studierende beider Länder zusammen, bei denen von französischer Seite HEC- und Germanistik- Studenten am zahlreichsten beteiligt waren. Am 3.12.1954 richteten z. Bsp. der CU-Präsident André François-Poncet, der Sorbonne-Germanist Maurice Boucher, ein Vertreter des Office National des Universités et des Ecoles Françaises und der Kulturattaché der deutschen Botschaft das Wort an die versammelten 400 Studierenden. 112 Die Conversations franco-allemandes, die im Dezember 1951 begannen und bis Ende 1958 fortgesetzt wurden, führten französische und deutsche Intellektuelle in der Sorbonne zusammen, die in vergleichender Absicht debattierten zu einem Thema ihrer gemeinsamen Kompetenz. Nach der Eröffnung des deutschen Hauses in der CU hatte Generalsekretär Alfred Grosser im Publikationsorgan des Komitees darüber nachgedacht, ob dieses nach Inbetriebnahme des Wohn- und Kulturzentrums am Boulevard Jourdan und im Hinblick auf die baldige Etablierung eines Goethe-Instituts in Paris noch eine Daseinsberechtigung habe. „Peu à peu […], les contacts se sont ‚normalisés’ et le Comité n’a plus eu à assumer des tâches en quelque sorte intérimaires. La naissance de la Maison de l’Allemagne à la Cité Universitaire et l’ouverture prochaine d’un Institut Goethe pourraient nous dispenser d’organiser bien des réunions ou des conférences dont nous nous étions chargés précédemment.“ 113 Daraufhin schrieb Dr. Steffen einen langen Brief an den Generalsekretär, in dem er seine Bestürzung über die dort eröffnete Möglichkeit einer Beendigung der Komitee-Arbeit artikulierte und eine noch engere Zusammenarbeit vorschlug, die eine Aufgabenverteilung zwischen dem deutschen Haus, dem Grosser-Komitee und dem künftigen Goethe-Institut nicht ausschließen sollte: „Ich selbst, als Leiter des Deutschen Hauses, verfolge die gleichen Ziele wie das Comité und bin, wie Sie ja selbst am besten wissen sollten, immer wieder auf Ihre Unterstützung angewiesen.“ 114 Alfred Grosser bezog sich in der Vorstandssitzung des Komitees im April 1958 auf diese und zahlreiche andere Zuschriften und bewirkte, daß die Krise im zehnten Jahr der Vermittlertätigkeit des Vereins überwunden wurde. Im Dezember 1958 richtete das Grosser-Komitee in Verbindung mit dem Carolus- Magnus-Kreis, der Association des anciens lecteurs, assistants et boursiers français en Allemagne und der Maison de l’Allemagne wieder das traditi- 111 Cf. dazu vor allem Carla Albrecht: Das Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle und seine Zeitschrift „Allemagne“ in den deutsch-französischen Intellektuellen- Beziehungen von 1948-1967, Magisterarbeit Kassel, 2001. 112 Allemagne. Bulletin d’information 1954/ 55, Nr. 34, p. 2. 113 Alfred Grosser: „De la nécessité à l’inutilité“, in : Allemagne, 1958, Nr. 53, p. 1. 114 Brief von Hans Steffen an Alfred Grosser vom 28.3.1958, Ms. in Archiv HHH, 1. <?page no="328"?> 328 onelle Treffen deutscher und französischer Studierender aus. Steffen erhielt auch weiterhin die Unterstützung des Grosser-Komitees, das seine Arbeit bis 1967 fortsetzte. Er verfügte über die Mitgliederliste der Vereinigung, vermittels derer er die Verbindung mit ihren einzelnen Anhängern auf direktem Wege herstellen konnte. Auch die wichtigste Partnerorganisation des Grosser-Komitees auf deutscher Seite, das Deutsch-Französische Institut in Ludwigsburg, 115 stellte ihr Wissen und ihre Erfahrung in den Dienst der Maison de l’Allemagne. Ihr Direktor, Dr. Fritz Schenk, nahm in den ersten Jahren regelmäßig an den Kuratoriumssitzungen der Freunde des Deutschen Hauses teil. Er stellte dem Direktor des Hauses die Listen derjenigen Organisationen und französischen Referenten zur Verfügung, mit denen das Ludwigsburger Institut seit 1948 gut zusammengearbeitet hatte. Darunter befanden sich Pariser Organisationen wie die Union Européenne des Fédéralistes, das Centre d’Etudes de Politique Etrangère, die Deutsch- Französische Handelskammer, das Centre des Jeunes Patrons, die Force Ouvrière CGT und das Bureau des Elèves des Hautes Etudes Commerciales. Als potentielle Referenten wurden empfohlen u. a. die Universitätsprofessoren: Raymond Aron, Maurice Boucher, Maurice Colleville, Jacques Chapsal, Robert Minder, Jean-Baptiste Duroselle und André Siegfried sowie die Journalisten und Schriftsteller: Renée Lang, Jean Schlumberger, Gabriel Marcel, Joseph Breitbach, Pierre Emmanuel und Jean Schwoebel. 116 Der Werbung für die Veranstaltungen des deutschen Hauses dienten diverse Adressen-Listen, die der Leiter auf direktem Wege oder über bürokratische Umwege erlangte. Zur ersten Kategorie gehörte die Liste der Deutsch-Assistenten, die im Pariser Raum an den lycées tätig waren; 1957/ 58 waren dort 34 Assistenten angestellt. Zur selben Kategorie zählten auch die akkreditierten deutschen Journalisten in Paris, deren Liste 1957 31 Adressen umfaßte. 117 Zur zweiten Kategorie gehörte das Verzeichnis aller in Frankreich aktiven Deutsch-Lehrer, deren Daten erst nach aufwendigeren Recherchen und mit Hilfe der Education Nationale, des Erziehungsministeriums, in Erfahrung gebracht werden konnten. 118 In den ersten zehn Jahren entstand also in dem und um das Deutsche Haus ein Kommunikations- und Interaktionsfeld, das die Grundlage für seine nachweislich wachsende Anerkennung durch die Cité und durch das 115 Cf. dazu Hans Manfred Bock (ed.): Projekt deutsch-französische Verständigung, op. cit. 116 Enthalten in der Korrespondenz Hans Steffen - Fritz Schenk im Archiv des HHH. Dort auch Hinweise auf die temporäre Tätigkeit einer Sekretariats-Mitarbeiterin des DFI in der Maison de l’Allemagne Anfang 1957. 117 Archiv HHH: Deutsche Assistenten in Paris 1957/ 58 und In Paris akkreditierte deutsche Journalisten. Stand vom 15. Mai 1957, 4 und 3 Ms.-S. 118 Für diese Informationen hatte die Kulturabteilung der Deutschen Botschaft in Paris eine Summe von 800 DM zur Verfügung gestellt, die zur Durchführung der entsprechenden Recherchen durch das Deutsche Haus dienten. Cf. dazu Bericht des Leiters des Deutschen Hauses vom 11.11.1961, loc. cit., p. 2. <?page no="329"?> 329 französische Publikum, das an Deutschland interessiert war, bildete. Die wichtigsten institutionellen Veränderungen in diesem Feld waren die 1966/ 67 schrittweise erfolgende Überführung des Hauses in die Trägerschaft des DAAD und die mit der Studentenrevolte 1968 beginnende Infragestellung seiner bisherigen Funktionsweise. Gehörte es zur Gründungsphilosophie der Cité Universitaire, die religiösen und die politischen Konflikte nach Möglichkeit aus ihren Mauern zu verbannen, 119 so setzte ab 1968 ein Politisierungsprozeß ein, aus dem sie nach rund fünf Jahren verändert und erneuert hervorging. Der erste Leiter des Deutschen Hauses hatte diese Möglichkeit niemals ganz ausgeschlossen, wurde aber dann durch die Heftigkeit und Plötzlichkeit des Politisierungsvorgangs doch überrascht. Für das Deutsche Haus bedeuteten diese Reformen vor allem ein Ende des sehr persönlichen, „patriarchalischen“ Leitungsmodells 120 und die Generalisierung bzw. die Formalisierung der partizipativen Elemente in der Verwaltung der Institution (die hier nicht im einzelnen dargestellt werden können 121 ). Das sichtbare symbolische Ergebnis dieser langen Phase der Infragestellungen und Konflikte war die Umbenennung der Maison de l’Allemagne, die ab 15.12.1973 offiziell den Namen Heinrich- Heine-Haus erhielt. 122 Ihr Gründungsdirektor, Hans Steffen, verließ gegen Ende dieser bewegten Entwicklungsphase seine Pariser Stellung im September 1972, um eine Germanistik-Professur an der Universität Groningen anzutreten. Nach seinen Wunschvorstellungen hätte das Haus nach den Geschwistern Scholl benannt werden sollen. 123 Während sich nach seinem Weggang in administrativer Hinsicht vieles änderte, so blieb das Kulturprogramm, dessen starke Gewichtung Resultat seines andauernden Bemühens war, ein bleibendes Merkmal des deutschen Hauses in der Cité Universitaire. 5. Anziehungs- und Ausstrahlungsfunktion des Kulturprogramms Es gibt viele Anhaltspunkte für die Annahme, daß seit der Vorbereitungsperiode der Maison de l’Allemagne die Vorstellung bei allen Fürsprechern des Projekts sehr ausgeprägt war, daß die erste Kultureinrichtung der Bundesrepublik Deutschland in Paris nicht nur ein Wohnheim, sondern 119 Cf. dazu auch Bertrand Lemoine, op. cit., p. 27 sq. 120 Cf. Hans Steffen in: Martin Raether (ed.), op. cit., p. 163 sq. 121 Zu diesen Jahren des Umbruchs cf. bisher die Dokumentation in ib., p. 237-251 und die Darstellung Joachim Umlauf: „Düsseldorf-Paris…wie Heinrich-Heine-Universität und Heinrich-Heine-Haus zu ihrem Namen kamen“, in: Passerelles et passeurs. Hommages à Gilbert Krebs et Hansgerd Schulte. Asnières 2002, p. 375-400. 122 Gemäß einem Rundbrief vom 19.11.1973 von Hermann Harder, im Archiv HHH. 123 Brief Hans Steffen vom 5.10.2006 an den Verfasser, p. 4. <?page no="330"?> 330 auch ein Kulturzentrum sein sollte. Allerdings war auch offensichtlich, daß der junge westdeutsche Staat kulturelle Repräsentanz nicht in der Form offensiver nationaler Selbstdarstellung praktizieren konnte, sondern daß er statt dessen auf die Ausübung der Repräsentationsaufgabe durch kreative Vertreter des soziokulturellen Feldes verwiesen war, die in Paris überhaupt erst die Bedingungen für die Möglichkeit positiven Interesses an der deutschen Kultur wieder herbeiführen mußten. Es gab mit Sicherheit keinen Meisterplan für die praktische Ausgestaltung des deutschen Hauses in der Cité Universitaire zu einem Kulturzentrum, obwohl die Universität Heidelberg allem Anschein nach eine gewisse Vordenkerrolle in der Gründungsperiode einnahm. 124 Dort war der Romanist Gerhard Hess (1907- 1983) seit Kriegsende als Hochschullehrer, Rektor und zeitweiliger Präsident der WRK tätig und übernahm eine wichtige Rolle nicht zuletzt in den deutsch-französischen Universitätsbeziehungen; er gehörte bis 1960 dem Kuratorium der Vereinigung der Freunde des Deutschen Hauses in der Cité Universitaire an. An ihn wandte sich dann auch der erste Leiter der Maison de l’Allemagne Hans Steffen, der ja - wie Peter Wapnewski es formulierte - aus „der selben akademischen Ecke“ kam und wie er selbst Böckmann- Schüler war, 125 Anfang Oktober 1956 mit einem längeren Brief, in dem er den Stand seiner Planungen für das „Kulturprogramm“ des Hauses umriß. Im Hinblick auf die Eröffnung desselben führte er aus: „Damit ist hier in Paris eine erste Möglichkeit geschaffen, die kulturelle Verständigung der beiden Länder zu pflegen und auszubauen. Selbstverständlich muß diese kulturelle Arbeit im vorbildlichen Sinne und mit dem nötigen Feingefühl durchgeführt werden: nicht Propaganda oder Kulturpolitik, gegenseitige Wertungen und Übersteigerungen dürfen sich hier ausbreiten, sondern zweckfreie und von gutem Willen geleitete Darbietungen sollen die geistigen Beziehungen der beiden Länder fördern.“ 126 Er wollte noch kein ausgearbeitetes Programm für die kulturellen Aktivitäten des Hauses vorlegen, da er die „praktischen Möglichkeiten“ zur Richtschnur seines Handels zu machen beabsichtigte. Er skizzierte gleichwohl die beiden wichtigsten Bausteine des Kulturprogramms: Vortragsreihen und Bibliotheksausbau. „Vorträge von Franzosen und Deutschen sollen gehalten werden, ‚Gespräche’ monatlich stattfinden, nach Möglichkeit wollen wir jährlich 1-3 Hausmusikabende veranstalten, usw. - Darüber hinaus bauen wir unsere Bibliothek aus: sie umfaßt heute schon rund 3.000 Bände. […] Neben allgemeinen repräsentativen Werken der deutschen und der französischen Geschichte, Politik, Literatur und Kunst, neben deutschen und französischen Texten, 124 Dies wird durch den (in Anm. 73 zitierten) Brief von Peter Wapnewski an Hans Steffen vom 22.12.1956 bestätigt. 125 Ibid., p. 1. 126 Hans Steffen an Gerhard Hess, Brief vom 3.10.1956 im Archiv HHH, p. 1. <?page no="331"?> 331 Literatur über die Beziehungen der beiden Länder, Musik- und Kunstgeschichte, soll vor allem die moderne deutsche Literatur gepflegt werden. […] Wir besitzen weiterhin einen Leseraum, in dem rund 50 verschiedene deutsche und eine Auswahl französischer Zeitschriften ausgelegt werden.“ 127 Ziel dieses Briefes an den damaligen Präsidenten der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) war es, deren wohlwollende Unterstützung zu gewinnen für die Konkretisierung des „Kulturprogramms“: „Vielleicht kann die Deutsche Forschungsgemeinschaft eigene Vorschläge und Möglichkeiten für das ‚Kulturprogramm’ des Deutschen Hauses unterbreiten - die Programmgestaltung günstig beeinflussen, auf verschiedene Stiftungen aufmerksam machen, einen Modus für eine eventuelle Zusammenarbeit finden, usw.? “. 128 In der Tat wurden dann die Bauelemente Kulturprogramm und Bibliothek die tragenden Pfeiler für die kulturellen Aktivitäten der Maison de l’Allemagne, während deren Komponenten beweglich blieben und vor allem durch die Nachfrage des (französischen) Publikums, die Verfügbarkeit der (deutschen) Wissenschaftler und Künstler sowie die Höhe der finanziellen Mittel bestimmt wurden. Die programmatischen Grundstrukturen der Bibliothek und ein Sockelbestand an Büchern existierten bereits, als der Gründungsdirektor am 1.9.1956 seinen Dienst antrat. Aus den Protokollen der Kuratoriumssitzungen des Vereins der Freunde des Deutschen Hauses läßt sich ableiten, daß diese ersten Schritte für den Aufbau der Bibliothek unter maßgeblicher Beteiligung des Münchener Leiters der Studentenbibliothek Dr. Goebel gemacht wurden, der wahrscheinlich auf Veranlassung seines Münchener Kollegen August Rucker, des Kuratoriums-Vorsitzenden der Freunde, dort tätig geworden war. Bei der Eröffnungszeremonie am 23.11.1956 konnte bereits ein Katalog der Bibliothek des Deutschen Hauses in der Cité Universitaire vorgelegt werden, 129 deren Zweckbestimmung wie folgt formuliert wurde: „Die Bibliothek des Deutschen Hauses in der Cité Universitaire in Paris soll die Begegnungen, die sich dort zwischen den Studierenden vieler Länder anbahnen, über die Grenzen der Sprachen und Nationen hinweg befruchten und vertiefen. Es ist die Aufgabe dieser Bibliothek, die Kultur Deutschlands darzustellen. Daneben bietet sie den jungen Deutschen, die in Paris studieren können, Zugänge zur französischen und europäischen Geisteswelt.“ 130 Diese doppelte Zielgruppe der Bibliotheksnutzer wurde auch von Steffen programmatisch vertreten: „Benutzer der 127 Ibid., p. 1 sq. 128 Ibid., p. 2. 129 Cf. Martin-Behaim-Gesellschaft (ed.): Katalog der Bibliothek des Deutschen Hauses in der Cité Universitaire, o. O. o. J. (1956). 130 Zitiert in Hermann Harder: „Das Heinrich-Heine-Haus in der Pariser Cité Universitaire“, in: Kurt Schleucher (ed.): Brücken über Breitengrade. Die Martin-Behaim- Gesellschaft und ihre Kulturbeziehungen zum Ausland, Darmstadt 1977, p. 129-135; Zitat dort p. 134. <?page no="332"?> 332 Bibliothek werden nicht nur die Bewohner des Deutschen Hauses sein, sondern auch Professoren für Deutsch an höheren Schulen und eine bestimmte Anzahl französischer Studenten.“ 131 Die Errichtung einer Bibliothek gehörte keineswegs zur Standardausstattung der älteren (und der späteren) Häuser in der Cité Universitaire, sondern bedeutete im Falle der Maison de l’Allemagne ein Signal für das beabsichtigte Eigengewicht des kulturellen Angebots an interne und externe Nutzer. Eine vergleichbare Leihbibliothek gab es zur Zeit der Gründung des deutschen Hauses in der CU nur in der Maison Internationale (Zentralbibliothek der CU), im spanischen, japanischen und mexikanischen Haus. 132 Die personelle Ausstattung der Bibliothek war anfangs behelfsmäßig. In den ersten Jahren war eine Bibliothekarschülerin aus Stuttgart jeweils für ein halbes Jahr zuständig für die dort anfallenden Arbeiten. Der Direktor des Hauses kritisierte diese Praxis: „Das hat seine Nachteile, da der relativ häufige Wechsel der Katalogisierung etc. nicht förderlich ist.“ 133 Sein Wunsch nach Einstellung einer Vollzeit-Bibliothekarin wurde erst 1964 mit Mitteln der Deutschen Botschaft erfüllt. Die Auswahl und Anschaffung der Bücher und Zeitschriften wurde von Anfang an aus Mitteln des Auswärtigen Amtes und durch Vermittlung der Martin-Behaim-Gesellschaft getätigt, die aus privater Initiative 1951 in Darmstadt gegründet worden war und die das Ziel verfolgte, deutschsprachige Schulen und Bildungseinrichtungen im Ausland weltweit mit Büchern, Zeitschriften und anderen kulturellen Hilfsmitteln zu versorgen. 134 Kurt Schleucher (1914-2001), der Gründer und Präsident der Martin-Behaim-Gesellschaft, nahm in der Gründungsphase des deutschen Hauses öfters an den Kuratoriumssitzungen des Vereins der Freunde teil. Die von ihm geleitete Gesellschaft (die 2004 aufgelöst wurde) stand im fortgesetzten Kontakt auch mit den nachfolgenden Direktoren des Hauses und wurde Anfang der achtziger Jahre von Inter Nationes als Hauptlieferant der neuen Titel für die Haus-Bibliothek abgelöst. 135 Die Schwerpunktsetzung in der Bestellungspolitik des deutschen Hauses umriß dessen Leiter Ende 1957: „Unsere Bibliothek versucht vor allem die moderne Zeit (Geschichte, Wirtschaftsgeschichte, Sozialgeschichte, Literatur, Kunst und Musik) in ihren Beständen zu berücksichtigen.“ 136 Die Ausleihfrequenz der Bibliothek galt Mitte der siebziger Jahre als eine der höchsten in der CU, 131 Hans Steffen Brief an Gerhard Hess vom 3.10.1956, p. 2. 132 Cf. dazu Hedwig Sastre: Die Bibliothek des Heinrich-Heine-Hauses. Aufgaben und Funktionen der deutschen Stiftung in der Cité Internationale Universitaire de Paris, Ms. 2005, p. 11 sq. 133 Bericht des Leiters des Deutschen Hauses vom 11.11.1961, p. 3. 134 Cf. dazu Ekkehard Wiest: „Anfang und Entwicklung“, in: Kurt Schleucher, op. cit., p. 13-30. 135 Hermann Harder an Kurt Schleucher vom 1.2.1984 im Archiv HHH (Akte Martin- Behaim-Gesellschaft). 136 Hans Steffen Brief an Inter Nationes vom 7.11.1957, im Archiv HHH. <?page no="333"?> 333 der Buchbestand hatte sich 1976 auf rund 12.000 Bände erhöht. 137 Bereits 1960 berichtete der Direktor, die Bibliothek werde gut besucht; man habe 274 hausfremde Ausleiher und 78 hausinterne Nutzer registriert und damit eine Steigerung von 30 % erreicht. 138 Die erfolgreiche Arbeit und die Berechtigung der Existenz dieser Einrichtung wurde niemals in Frage gestellt, die Notwendigkeit der arbeitsteiligen Koordinierung mit anderen deutschsprachigen Büchersammlungen in Paris wurde schon früh anerkannt: „Andererseits wird es sich bald als wichtig herausstellen, sämtliche (kleinere und größere) deutschen Bibliotheken in Paris zentral zu lenken (Zentralkatalog, Leihverkehr innerhalb der Bibliotheken) um zu verhüten, daß bestimmt Bücher zu oft angeschafft werden, bzw. zu erreichen, daß bestimmte Bücher nur an bestimmter Stelle angeschafft werden.“ 139 Wenn die Bedeutung der Bibliothek, insbesondere die Schwerpunktsetzung in ihrer Buchanschaffung, nicht unterschätzt werden sollte, so waren die temporären Publikumsangebote (Vorträge, Theateraufführungen, Filmprojektionen, Lesungen, Konzerte und Ausstellungen) zweifellos doch der sichtbarere Teil der Kulturaktivitäten des deutschen Hauses und damit prägend für seine Anziehungs- und Ausstrahlungskraft in der Pariser Öffentlichkeit. In diesem Programmsegment der Außenwirkung des Kulturzentrums sind auf längere Sicht, aber auch schon in seiner Gründungsphase, die meisten Verschiebungen und Veränderungen seiner Bestandteile festzustellen. Während z. Bsp. unter der Leitung Steffens anfangs noch (durchaus erfolgreiche) deutsche Theateraufführungen (u.a. Büchners Leonce und Lena 140 ) Bestandteil des Kulturangebots waren, traten diese Darbietungen in ihrer Häufigkeit zurück. Von Anfang an sehr gut besucht waren die Filmprojektionen, die von einem Tutor betreut und durch Leihgaben aus Deutschland ermöglicht wurden. 141 Eine gewisse Leitfunktion erhielten im Kulturprogramm schon in den sechziger Jahren die thematisch gruppierten Vortragsreihen, die auch in den Rechenschaftsberichten des Instituts- Direktors eine hervorgehobene Stellung einnahmen. Da die Planungen in Heidelberg vor allem in den Händen der Germanisten lagen und da der erste Direktor des Hauses selbst Germanist und Komparatist war, ist es nicht überraschend, daß die Vortragsreihen einen geisteswissenschaftlichen Zuschnitt erhielten. Allerdings waren die Referenten von Anfang an 137 Ekkehard Wiest, loc. cit., p. 18. 138 Bericht des Leiters des Deutschen Hauses zum Verwendungsnachweis 1960, loc. cit., p. 1. 139 Bericht des Leiters des Deutschen Hauses vom 11.11.1961, p. 3. 140 Die von Wolfram Mehring geleitete Inszenierung des Stückes hatte einen großen Publikumserfolg; sie wurde im Dezember 1957 zuerst aufgeführt und dann bis 1964 mehrer Male wiederholt. 141 Steffen monierte allerdings öfters die Versandpraxis und die Qualität der Filme, die in seinem Haus projiziert werden sollten; cf. Bericht des Leiters des Deutschen Hauses vom 6.6.1963, p. 3. <?page no="334"?> 334 nicht nur Germanisten, sondern es gab im Laufe der sechziger Jahre immer wieder auch Sozialwissenschaftler (Soziologen und Politologen), die als Einzelvortragende oder im Rahmen der thematisch definierten Vortragsreihen in der Maison de l’Allemagne auftraten. Die gesellschaftspolitischen Themen standen eindeutig im Mittelpunkt der „Conversations francoallemandes“, die vom Grosser-Komitee von 1951 bis 1958 an der Sorbonne ausgerichtet worden waren. 142 Da diese Folge der Conversations des Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle mit der 15. Diskussionsrunde im Jahre 1958 abbrach, lag es nahe, die dort verhandelten Probleme der Politik und Gesellschaft beider Länder im Rahmen der Maison de l’Allemagne fortzusetzten. Diese Verbindung zwischen beiden deutschfranzösischen Foren läßt sich nachweisen am Beispiel des Paris-Besuchs im Jahre 1957 von Hellmut Becker, des Sohns des preußischen Kultusministers in der Weimarer Republik, der in seiner Eigenschaft als Präsident des Deutschen Volkshochschul-Verbandes und als Protagonist der Förderung gesellschaftlicher Beziehungen zwischen beiden Ländern in den fünfziger Jahren in Erscheinung trat. Im Rahmen der 14. „Conversation francoallemande“ diskutierte er 1957 Fragen der „Réforme de l’enseignement et culture populaire“ in der Sorbonne und führte im Anschluß daran am 21.11.1957 eine Podiumsdiskussion mit Alfred Grosser in der Maison de l’Allemagne über das Thema „Bildung in der industriellen Gesellschaft“. 143 Im Laufe der sechziger Jahre folgten dann führende Soziologen und Politologen der Einladung zu einem Vortrag im deutschen Haus, sei es im Zusammenhang mit einer Themensequenz, sei es als Vortragsredner zu einem Einzelthema ihrer Wahl. Von den Soziologen sind hier zu nennen: Helmut Plessner (1960), Helmut Schelsky (1960), Arnold Gehlen (1962), Theodor W. Adorno (1965), Erwin K. Scheuch (1968), Hans Paul Bahrdt (1969), René König (1969), Alphons Silbermann (1970) und Walter Rüegg (1971). Von den Repräsentanten der jungen Politikwissenschaft in der Bundesrepublik traten in der Gründungsphase der Maison de l’Allemagne dort als Redner und Diskutanten auf: Theodor Eschenburg (1960, 1968), Thomas Ellwein (1968), Kurt Sontheimer (1969), Wolfgang Abendroth (1970) und Gilbert Ziebura (1970). 144 Ein Ausdruck der wachsenden Politisierung der CU-Öffentlichkeit war es ganz ohne Zweifel, daß die vorletzte Vortragsreihe, die Hans Steffen organisierte, dem Thema „Soziologen analysieren die deutsche Nachkriegsgesellschaft“ gewidmet war. Die Veranstaltungsreihe begann im Oktober 1968 und wurde in zwangloser Folge bis März 1970 fortgesetzt. Ihre fachliche Betreuung lag bei dem damaligen 142 Cf. Carla Albrecht, op. cit., p. 43-45. 143 Korrespondenz zwischen Hans Steffen, Alfred Grosser und Hellmut Becker im Archiv des HHH. 144 Cf. dazu auch die chronologische Auflistung der Vorträge in Martin Raether, op. cit., p. 275-281. <?page no="335"?> 335 Jung-Politologen (und Ziebura-Schüler) Hartmut Elsenhans. Hans Steffen bemerkte zu den insgesamt 17 Vorträgen anläßlich ihrer Drucklegung: „Die Vorträge wurden in Paris und Straßburg vor einem durch die Maiereignisse des Jahres 1968 sensibilisierten studentischen Publikum gehalten. Doch waren die Debatten und die Gespräche, die sich daran anschlossen, sachlich und für beide Teile fruchtbar.“ 145 Wenn der Direktor des Hauses in der (weitgehend erhaltenen) Einladungskorrespondenz mit den Vortragsrednern 146 auch darauf hinwies, daß sich die Zahl der Zuhörer manchmal um die 30 und darunter bewegte, gab es doch je nach Thema und Redner auch Veranstaltungen, die die räumliche Kapazität der Maison de l’Allemagne überstiegen. Z. Bsp. wurde der Vortrag von Wolfgang Abendroth am 20.2.1970 zum Systemvergleich „BRD-DDR“ 147 von weit mehr als 150 Interessierten gehört und die anschließende Diskussion war durchaus kontrovers. 148 Eine andere Vortragssequenz der Jahre 1969/ 71 war (ebenso wie die zur bundesdeutschen Gesellschaftsentwicklung) von der Aktualität ihres Themas bestimmt. Zum Thema „Bildung und Gesellschaft“ sprachen wiederum Soziologen und Erziehungswissenschaftler zum laufenden Umgestaltungsprozeß der Humboldtschen Universität in Deutschland. Unter den Referenten befanden sich Walter Rüegg, der Frankfurter Soziologe, Oskar Anweiler, der komparatistische Erziehungswissenschaftler aus Bochum, sowie der Tübinger Religionsphilosoph und Zukunftsforscher Georg Picht. 149 Mit dieser sieben Vorträge umfassenden Reihe zum „Bildungsbegriff von Humboldt bis zur Gegenwart“ erprobte das Deutsche Haus eine Form der Kooperation mit einer universitären Einrichtung der gerade neu gegliederten Pariser Universität, die künftig sich bewähren sollte. Die Vortragsreihe wurde gemeinsam mit dem neu gegründeten Institut d’Allemand d’Asnières (Universität Paris III) durchgeführt, das seinerseits ein Produkt angewandter Bildungsreform darstellte. 150 Die frühesten thematisch verklammerten Vortragszyklen im deutschen Haus waren (anders als diese beiden aktualitätsdiktierten Beispiele) von einem dominanten literatur- und kulturwissenschaftlichen Darstellungs- 145 Hans Steffen (ed.): Die Gesellschaft in der Bundesrepublik. Analysen, Göttingen 1970 und 1971, 2 Bde, Vorwort. 146 Die Aktenordner mit dieser Korrespondenz im Zusammenhang des Kulturprogramms nehmen neben den Akten zu den Residenten den größten Teil des Bestandes des HHH-Archivs ein. 147 Der Verfasser der vorliegenden Studie, damals Lektor an der Sorbonne, hatte die Gelegenheit, seinen Doktorvater Abendroth und dessen Frau bei deren erstem (und einzigen) Paris-Aufenthalt zu begleiten. 148 Abdruck seines Vortrages in Hans Steffen (ed.): Die Gesellschaft der Bundesrepublik, op. cit., Bd. 2, p. 105-129. 149 Cf. Hans Steffen (ed.): Bildung und Gesellschaft, Göttingen 1972. 150 So Hans Steffen in einem Brief an Hartmut von Hentig vom 27.5.1970, im Archiv HHH; cf. auch das Kapitel zur Gründung des Institut d’Allemand d’Asnières in diesem Buch. <?page no="336"?> 336 willen und Kommunikationsinteresse geleitet. So insbesondere die erste, 1961/ 62 stattfindende Abfolge von germanistischen Vorlesungen bekannter Fachvertreter aus der Bundesrepublik zum Thema „Formkräfte der deutschen Dichtung vom Barock bis zur Gegenwart“. 151 Die Wahl dieser vom Barock bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts reichenden Themenspanne war ganz offensichtlich begründet in einer doppelten Wirkungsabsicht. Zum einen hoffte der einladende Leiter des Hauses, daß „geistiger Anspruch und kulturelle Aufklärungsarbeit im Ausland sich nicht ausschließen“; 152 zum anderen vermittelten die Vorträge einen Eindruck von den Themen- und Methoden-Schwerpunkten der literaturwissenschaftlichen Germanistik in der Bundesrepublik. Unter den 14 Referenten im deutschen Haus befanden sich u. a. F.W. Wentzlaff-Eggebert, Richard Alewyn, Friedrich Beissner, Friedrich Sengle, Paul Böckmann, Wolfgang Preisendanz, Wilhelm Emrich, Benno von Wiese, Karl Ludwig Schneider und Claude David. Claude David, der ab 1957 einen Lehrstuhl an der Sorbonne innehatte und über „Stefan George und der Jugendstil“ sprach, war für Hans Steffen die wichtigste Verbindungspersönlichkeit zur französischen Hochschulgermanistik geworden und wurde später für längere Zeit in den siebziger Jahren Mitglied des conseil d’administration des Heinrich-Heine- Hauses. In den folgenden zehn Jahren bis 1972 fanden dann noch fünf weitere Vortragszyklen statt, 153 bei denen einige der Teilnehmer von 1961/ 62 noch einmal oder mehrere Male als Referenten auftraten und somit eine Art Kerngruppe des literaturbzw. kulturwissenschaftlichen Anteils im Kulturprogramm dieser Periode konstituierten: Claude David, Paul Böckmann, Hans Steffen, Karl Ludwig Schneider, Wilhelm Emrich, Wolfgang Preisendanz, Benno von Wiese und Eberhard Lämmert. Ergänzt wurde diese germanistische Kerngruppe um hervorragende Sachkenner des abzuhandelnden Themenfeldes. So wurden z.B. für die Erschließung der Felder „Aspekte der Modernität“ und „Nietzsche. Werk und Wirkung“ besonders zahlreiche Vortragende ad-hoc gebeten: Als Sachkenner kamen an den Boulevard Jourdan „Vertreter der Geistes- und Naturwissenschaften, der Philosophie und Kunst“, 154 um über die Aspekte von „Modernität“ 151 Hans Steffen (ed.): Formkräfte der deutschen Dichtung vom Barock bis zur Gegenwart, Göttingen 1963 (2. Auflage 1967). 152 Ibid., Vorwort. 153 Cf. dazu jeweils von Hans Steffen herausgegeben: Aspekte der Modernität, Göttingen 1965; Der deutsche Expressionismus. Formen und Gestalten, Göttingen 1965; Die deutsche Romantik. Poetik, Formen und Motive, Göttingen 1967; Das deutsche Lustspiel, Göttingen 1968 und 1969, 2 Bde.; Nietzsche. Werk und Wirkung, Göttingen 1974. 154 Die naturwissenschaftlichen Beiträge, die hier erwähnt werden, blieben seltene Ausnahmen, obwohl deren Vertreter im Hause durchaus präsent waren. Cf. dazu die hausinterne Publikation (gleichsam ein Probelauf für die späteren Vortragszyklen): Deutsches Haus in der Cité Universitaire von Paris. Wissenschaftliches Colloquium 1959/ 60, Stuttgart o. J. (1961); dort auch zwei naturwissenschaftliche Beiträge. <?page no="337"?> 337 zu reflektieren. U.a. Arnold Gehlen, Hans-Georg Gadamer, Werner Hoffmann, Theodor W. Adorno und Hans Robert Jauß (für den dies der Auftakt weiterer Auftritte im Heinrich-Heine-Haus wurde 155 ). 156 Zum Nietzsche- Thema sprachen zwei französische Referenten (Raymond Polin und Alfred Guth), da - gemäß Steffen - „vor allem in Frankreich Nietzsche [...] wieder diskutiert“ wurde, und u a. Karl Löwith sowie Beda Allemann als Experten aus Deutschland. 157 Da in Ergänzung zu diesen Vortragszyklen je länger, je mehr auch anerkannte Kritiker und Kulturwissenschaftler für Einzelvorträge gewonnen werden konnten, hatte die Maison de l’Allemagne zu Beginn der siebziger Jahre ein gefestigtes Image als Kulturzentrum erworben. Aus den Reihen der literatur- und kulturwissenschaftlichen Intellektuellen aus der Bundesrepublik trugen in diesen Jahren zu diesem Reputationsgewinn bei u.a. Carl Georg Heise, Werner Haftmann, Otto Friedrich Bollnow, Karl Kerényi, Marcel Reich-Ranicki, Siegfried Melchinger, Hans Mayer und Heinz Ludwig Arnold. Lesungen aus literarischen Werken blieben in der hier skizzierten frühesten Version des Kulturprogramms eher die Ausnahme. 158 Die nur ganz seltenen Absagen von Wissenschaftlern und Kritikern, die ins deutsche Haus eingeladen wurden, 159 sind ein Beleg dafür, daß die Bereitschaft der bundesrepublikanischen deutsche Intellektuellen zum Vortragen in Paris und zur Begegnung mit dem dortigen Publikum immens verbreitet war und über alles hinausging, was im vorausgegangenen Verlauf des 20. Jahrhunderts (selbst in der Locarno-Ära 160 ) an entsprechenden kulturellen Begegnungsaktivitäten stattgefunden hatte. Dazu mag auch beigetragen haben, daß die Maison de l’Allemagne eben kein offizielles Kulturpropaganda-Instrument darstellte (was namentlich den restaurationskritischen Geistern in der Bundesrepublik die Annahme der Einladung erleichterte), und die Tatsache, daß der Gründungsdirektor des Hauses für die Referenten der Vortragszyklen einen Anschlussvortrag in Straßburg arrangierte und die Publikation ihrer Vorträge in einem renommierten Verlag in der Bundesrepublik, 161 beides Maßnahmen, die den Au- 155 So nahm er u.a. mit Marc Fumaroli teil an dem Kolloquium „Esthétique de la réception et communication littéraire“ (18.1.1979). 156 Hans Steffen (ed.): Aspekte der Modernität, op. cit. 157 Hans Steffen (ed.): Nietzsche, op. cit.; dort Guth: „Nietzsches ‚Neue Barbaren’“, und Polin: „Nietzsche und der Staat oder Die Politik eines Einsamen“; Löwith: „Nietzsches Vollendung des Atheismus“; Allemann: „Nietzsche und die Dichtung“. 158 So gab es in den Anfangsjahren Lesungen von Ernst Schnabel (27.3.1957) und Rezitationsabende mit Texten von Rilke (3.3.1958) E.T.A. Hoffmann (10.3.1958) sowie Goethe (25.5.1960). Erst in den siebziger Jahren fanden dann unter der Leitung von Hermann Harder öfters Dichterlesungen im Heinrich-Heine-Haus statt: Uwe Johnson (22.4.1974), Max von der Grün (29.5.1974) usw. 159 Bei den Ablehnungen waren meist technische oder terminliche Gründe ausschlaggebend. 160 Cf. hierzu die Studie zu Thomas Manns Paris-Besuch 1926 in diesem Band. 161 Die Bände erschienen alle in der Kleinen Vandenhoeck-Reihe in Göttingen. <?page no="338"?> 338 toren eine gewisse Nachhaltigkeit im kulturellen Feld zwischen beiden Ländern in Aussicht stellte. <?page no="339"?> 339 XI. Universitätsrevolte und Reform des französischen Germanistikstudiums. Erinnerung und Dokumentation zur Gründung des Institut d’Allemand d’Asnières 1968-1972 Wenn eine universitäre Einrichtung in Paris, in der jährlich rund 1.000 junge Franzosen Deutschland und seine Sprache, sowie über den Lauf der Jahre mehr als 500 deutsche Romanisten das Französische und die deutschfranzösischen Beziehungen studierten, dreißig Jahre alt wird, so ist das ein bemerkenswertes Datum in der Entwicklung der deutsch-französischen Hochschulbeziehungen der Nachkriegszeit. Das Institut d’Allemand d’Asnières an der nördlichen Peripherie von Paris wurde 1968/ 69 von Pierre Bertaux als Zentrum einer Reformkonzeption des französischen Germanistikstudiums gegründet. Obwohl das Institut also im selben Jahr ins Leben gerufen wurde, in dem mit der Loi Edgar Faure das französische Universitätssystem in einen Prozeß der Expansion und Neustrukturierung eintrat, der bis heute andauert, blieb es als selbständige Einheit der Lehre und Forschung im Rahmen der Universität Paris III (Sorbonne Nouvelle) erhalten. Auch - und gerade - für den Fall, daß die Identität des Institut d’Allemand d’Asnières (IAA) einmal im institutionellen Ein- und Umschmelzungsvorgang der permanenten Hochschulreform aufgelöst werden sollte, mag im Folgenden auf der Grundlage eigener Erinnerung und Dokumentation des Verfassers versucht werden, die Gründungssituation und das Gründungsprogramm des IAA zu umreißen. 1. Die lange Genese der Reformidee für die französische Germanistik der sechziger Jahre Die Institutsgründung war die letzte öffentliche Realisierung im taten- und ideenreichen Leben von Pierre Bertaux (1907-1986). Sie war lebensgeschichtlich gesehen von zwei dauerhaften Motiven inspiriert: dem gleichsam existentiellen Interesse an Deutschland und dem Willen zum politischkulturellen Wirken. Bertaux hat sein durch Familientradition gewecktes Interesse an Deutschland oft selbst dargestellt: Es gab eine über Generationen reichende Abfolge von Germanisten, die von seinem Großonkel Félix <?page no="340"?> 340 Piquet über seinen Vater Félix Bertaux bis zu ihm verlief. 1 Die deutschfranzösischen Beziehungen waren für ihn eine „Familienangelegenheit“ im doppelten Sinne: Seine Familie wählt man nicht aus, man ist in sie hineingeboren. Über seinen Vater, Félix Bertaux, 2 kam er früh in Kontakt mit führenden Repräsentanten der zeitgenössischen französischen Literatur und des kulturellen Lebens im Deutschland der Weimarer Republik. Der Vater war neben seinem Lehrberuf der Experte der Nouvelle Revue Française (NRF) für die deutsche Literatur, der in fortgesetztem Austausch und Gespräch mit André Gide auf der einen, mit Thomas und Heinrich Mann auf der anderen Seite stand. 3 Pierre Bertaux studierte als Schüler der Elitehochschule Ecole Normale Supérieure (ENS) zwischen 1926 und 1930, also in der produktiven Locarno-Ära der französisch-deutschen Zwischenkriegsbeziehungen, Germanistik bei den beiden Gründervätern der modernen Hochschul-Germanistik, Charles Andler und Henri Lichtenberger. 4 Er lernte dort eine Auffassung der Etudes germaniques kennen, in der neben (oder verbunden mit) der Forschung und Lehre zur Sprache und Literatur Deutschlands der Arbeit über die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Realitäten dieser Nation eine hervorragende Bedeutung zugemessen wurde. Bertaux’ „Familienbeziehung“ zu Deutschland wurde noch enger geknüpft durch Berlin-Aufenthalte im Winter 1927/ 28 und 1928/ 29, während derer er die Tätigkeit eines Lektors am Romanischen Seminar der Universität übernahm. 5 Der neunzehnjährige Normalien, der als der „erste französische Student“ in Berlin seit 1914 angesehen wurde und der mit zahlreichen Empfehlungen aus dem Bekanntenkreis seines Vaters angereist war, 1 Cf. Pierre Bertaux: „Cent ans de germanisme dans l’Université française“, in: Revue d’Allemagne, Jg. 1972, n° 3, p. 592-599. Pierre Bertaux: Zwischen Deutschland und Frankreich, Marburg/ Lahn 1985. 2 Zu Félix Bertaux meine Studie: „‚Réapprendre l’Allemagne’. Félix Bertaux als Freund André Gides und der zeitgenösisschen deutschen Literatur“, in: Hans Manfred Bock: Kulturelle Wegbereiter politischer Konfliktlösung. Mittler zwischen Deutschland und Frankreich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Tübingen 2005, p. 309-332. Cf. auch Chryssoula Kambas: „La famille Bertaux“, in: Michel Espagne, Michael Werner (ed.): Les études germaniques en France (1900-1970), Paris 1994, p. 205-222. 3 Cf. Claude Foucart (ed.): André Gide. Correspondance avec Felix Bertaux 1911-1948, Lyon 1995. Biruta Cap (ed.): Thomas Mann - Félix Bertaux. Correspondance 1923-1948, New York, San Francisco 1993. 4 Cf. Hans Manfred Bock: „Henri Lichtenberger, père fondateur de la germanistique française et médiateur entre la France et l’Allemagne“, in: Michel Espagne, Michael Werner (ed.): Les études germaniques en France, op. cit., p. 155-169. 5 Cf. seine tagebuchartigen Briefauszüge aus dieser Zeit in Pierre Bertaux: „Un étudiant français à Berlin (Hiver 1927-28)“, in: Revue d’Allemagne, Jg. 1982, 337-349. Die mehrfach in deutscher Übersetzung nachgedruckten Texte wurden vollständig veröffentlicht in: Pierre Bertaux: Un normalien à Berlin. Lettres franco-allemandes 1927-1933. Editées, annotées et commentées par Hans Manfred Bock, Gilbert Krebs et Hansgerd Schulte, Asnières 2001. <?page no="341"?> 341 sammelte in der Reichshauptstadt Kenntnisse, Erfahrungen und Bekanntschaften, von denen viele nachweislich sein Leben lang vorhielten. In dieser privilegierten und prägenden Auslandserfahrung des Adoleszenten wurzelte eine der Leitideen seiner späteren Germanistik-Reform. Nämlich die Vorstellung, daß ein möglichst früher und kompakter Deutschland- Aufenthalt für die französischen Germanistikstudenten die beste Voraussetzung für das Erlernen der Sprache und die Kenntnis des Landes darstelle. Nach seiner agrégation-Prüfung im Jahre 1930 absolvierte der junge Germanist seinen Wehrdienst in Paris und konzentrierte sich in den folgenden Jahren als Stipendiat der Fondation Thiers auf seine Thèse d'Etat über Friedrich Hölderlin. Das Interesse an Hölderlin hatte sich für Bertaux in seiner Berliner Zeit gefestigt unter dem Einfluß der lebensphilosophischen Neubewertung und Wiederentdeckung des Dichters, die durch Dilthey und von Hellingrath vor dem Ersten Weltkrieg eingeleitet worden war. 6 André Gide hatte den jungen Normalien in seinem Interesse an dem deutschen Dichter bekräftigt und ihm während eines Berlin-Besuchs im Januar 1928 die Hellingrathsche Hölderlin-Ausgabe geschenkt. Die lange und ernsthafte Befassung Bertaux’ mit Hölderlin, die nach Ausweis seiner Briefe für ihn ein Weg zur Selbstfindung wurde, mündete 1935 in seine Habilitationsschrift, die im Jahr darauf unter dem Titel „Hölderlin. Essai de biographie intérieure“ erschien. In seiner Lebensplanung war der berufliche Kompetenznachweis als Germanist bereits seit seinen Berliner Jahren niemals die einzige Entwicklungsperspektive. Die andere Perspektive der Selbstverwirklichung, die der junge Bertaux niemals ganz ausschloß, der er sich aber nicht ohne vorherige solide Berufsausbildung verschreiben wollte, war die Politik. Hier wurde für ihn das gelebte Beispiel und die Protektion seines zehn Jahre älteren Landsmanns Pierre Viénot lebensbestimmend, den er in Berlin kennengelernt hatte. 7 Viénot leitete während der Locarno-Ära eine einzigartige französisch-deutsche Verständigungsorganisation, die versuchte, Spitzenvertreter von Wirtschaft, Politik und Kultur beider Nationen zu regelmäßigen Aussprachen zusammenzubringen. 8 Mit Viénot, dem Büroleiter dieses Deutsch-Französischen Studienkomitees, schloß Bertaux in Berlin eine dauerhafte Freundschaft. Als Wahlkampfhelfer Viénots sammelte er ab 1931 erste Erfahrungen im politi- 6 Cf. dazu Henning Bothe: „Ein Zeichen sind wir, deutungslos“. Die Rezeption Hölderlins von ihren Anfängen bis zu Stefan George, Stuttgart 1992. 7 Zur intellektuellen Biographie Viénots in dieser Periode cf. Gaby Sonnabend: Pierre Viénot (1887-1994). Ein Intellektueller in der Politik, München 2005, p. 109-230. Cf. auch Hans Manfred Bock: „‚Connaitre l’Allemagne et la reconnaître’. Zu Entstehung und Zusammenhang der Deutschland-Analyse von Pierre Viénot 1922 bis 1932“, in: Lendemains, Jg. 1992, Nr. 66, p. 27-48. 8 Cf. dazu umfassend Guido Müller: Europäische Gesellschaftsbeziehungen nach dem Ersten Welrkrieg. Das Deutsch-Französische Studienkomitee und der Europäische Kulturbund, München 2005. <?page no="342"?> 342 schen Geschäft in einem Ardennen-Wahlkreis und er spielte 1932 vorübergehend mit dem Gedanken, selbst als Kandidat für die Parlamentswahlen in einem Wahlkreis anzutreten. Die hier erkennbare Polarität zwischen Wissenschaft und Politik in Bertaux’ Lebensentwurf war eine Voraussetzung für sein späteres wiederholtes Umsteigen von einem Tätigkeitsfeld auf das andere. Ausschlaggebender jedoch waren für diese Pendelbewegungen die politischen Zeitläufte, in die der noch nicht dreißigjährige Normalien und habilitierte Germanist hineingezogen wurde. Als die innenpolitische Krise Frankreichs 1936 zur Bildung der Volksfront-Regierung führte und deren Chef Léon Blum das Staatssekretariat im Außenministerium Pierre Viénot übertrug, holte dieser seinen Freund Pierre Bertaux an die Spitze seines persönlichen Mitarbeiterstabes (cabinet ministériel). Nach dem krankheitsbedingten Ausscheiden Viénots aus der Regierungsmannschaft trat Bertaux 1937 aufgrund der Empfehlung durch seinen Freund in das cabinet ministériel des Erziehungsministers Jean Zay ein und war dort mit der Verantwortung für den Hochschulbereich beauftragt. Mitte 1938 übernahm er seine erste Professur in Germanistik in Toulouse. Wie sein Freund Viénot war er entschiedener Gegner der appeasement-Politik Daladiers. Bertaux nutzte seine Veranstaltungen, um - zum Entsetzen seiner Kollegen - durch die kritische Lektüre von Hitlers „Mein Kampf“ auf die Kriegsgefahr hinzuweisen, die vom Nationalsozialismus ausging. 9 Nachdem der Krieg dann begonnen hatte, wurde Bertaux gegen Ende der „drôle de guerre“ wiederum von Viénot in die Deutschland-Abteilung des Informations-Ministeriums gerufen, die u.a. die Aufgabe hatte, deutschsprachige Radiosendungen gegen den Nationalsozialismus im deutschen Hinterland zu verbreiten. Bertaux, dessen väterliches Haus in Sèvres ein Treffpunkt der deutschen Exilanten seit 1933 war, 10 konnte für seine Tätigkeit im Informationsministerium auf die Mitarbeit deutscher Publizisten und Hitler-Gegner zurückgreifen. Er setzte seinen Kampf gegen den Nationalsozialismus nach dem Waffenstillstand vom 17. Juni 1940 fort, indem er ab Jahresende 1940 Kontakt mit den französischen Widerstandskräften in London aufnahm und ab 1941 unter hohem Risiko eines der ersten Widerstandsnetze in Frankreich in seiner Universitätsstadt aufbaute. 11 Vom Vichy-Regime Ende 1941 bis Ende 1943 ins Gefängnis geworfen, wurde er von August 1944 bis April 1946 Commissaire de la République in der Region Toulouse. Bertaux kehrte nach weiteren Stationen in der Politik (chef de cabinet im Ministerium der Travaux 9 Cf. dazu die Fragment gebliebene Autobiographie Pierre Bertaux: Mémoires interrompus, Asnières 2000. 10 Cf. dazu das Zeugnis von Golo Mann, den seit 1927 eine lebenslange Freundschaft mit Pierre Bertaux verband, in Golo Mann: Erinnerungen und Gedanken. Lehrjahre in Frankreich, Frankfurt/ Main 1999, p. 80. 11 Cf. Pierre Bertaux: La Libération de Toulouse, Paris 1973, p. 9sq. Cf. dazu ausführlicher Pierre Bertaux: Mémoires interrompus, op. cit., Kap. IV. <?page no="343"?> 343 publics, Direktor der Sûreté Nationale, Senator des französischen Sudan) 12 und in der Privatindustrie erst 1958 wieder in die Universität zurück. Seine Tätigkeit als Germanistik-Professor, zuerst in Lille und dann ab 1964 in Paris, wurde durch die fast zwei Jahrzehnte außeruniversitärer Erfahrungen und durch die Reflexion darüber in ihrer entschiedenen Orientierung auf politisch-praktische Wirkungsabsicht bestärkt. 2. Die Konkretisierung der Reformkonzeption für die Hochschul-Germanistik in Frankreich in den sechziger Jahren Während der Kriegs- und Nachkriegsjahre hatte Pierre Bertaux als handelnder und reflektierender Zeitgenosse die tiefste Krise der französischdeutschen Beziehungen durchschritten. Viele seiner engsten Freunde waren direkt oder indirekt Opfer des deutschen Besatzungsregimes in Frankreich geworden. Dazu gehörte auch sein Freund Pierre Viénot, der als Botschafter der Provisorischen Regierung De Gaulles 1944 in London starb. 13 Unter dem doppelten Aspekt des Handelns und Erleidens erschien Bertaux einem amerikanischen Publizisten Anfang der fünfziger Jahre ein Stück weit ein typischer Vertreter seines Landes zu sein. Er zählte ihn zu den „Menschen, die sowohl gehandelt haben als auch Objekt des Handelns anderer waren; sie stehen unter der hohen Politik und über dem instinktiven Leben ihrer Mitbürger.“ 14 Im Gegensatz zu den meisten seiner Mitbürger hatte Bertaux (ebenso wie Viénot) vor allem in den Locarno-Jahren die prägende persönliche Erfahrung dessen gemacht, was unter den Voraussetzungen politischen Macht- und Interessenausgleichs an produktiven Möglichkeiten wechselseitigen Austauschs und Lernens zwischen Frankreich und Deutschland gegeben war. Der Beginn seiner Hochschullehrer-Tätigkeit an der Sorbonne im Jahre 1964 koinzidierte mit den ersten greifbaren Auswirkungen der in der Ära De Gaulle - Adenauer (1958-1963) vereinbarten bilateralen Vorzugsbeziehungen zwischen beiden Ländern. Für die Entwicklung der Reform- Germanistik in Paris war unter diesen praktischen Ergebnissen der staatlichen Vereinbarungen von besonderer Wichtigkeit: Die Gründung des 12 Den politischen Bertaux der frühen fünfziger Jahre porträtiert (recht subjektiv) Nicolaus Sombart: Pariser Lehrjahre 1951-1954. Leçons de Sociologie, Hamburg 1994, p. 73- 100. 13 Zum gemeinsamen Weg Bertaux’ und Viénots in der Politik cf. auch Hans Manfred Bock: „Der Weg Pierre Viénots von Lyautey zu de Gaulle. Biographische Stationen eines nonkonformistischen Intellektuellen“, in: Galerie. Revue culturelle et pédagogique, Luxembourg, Jg. 1997, p. 105-145. 14 Theodore H. White: Glut in der Asche, Europa in unserer Zeit. Frankfurt/ Main 1954, p. 120. <?page no="344"?> 344 Deutsch-Französischen Jugendwerks (DFJW) und die Eröffnung einer Zweigstelle des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) in Paris. Das DFJW, das aufgrund des Kapitels IIc (Education et Jeunesse) des Deutsch- Französischen Vertrages vom 22. Januar 1963 gegründet worden war und ab 1964 über funktionsfähige Organisationsstrukturen verfügte, war der prädestinierte Ansprechpartner für die Planung eines systematischen Austauschprogramms französischer Germanistik-Studenten nach Deutschland und deutscher Romanistik-Studenten nach Frankreich. 15 In der konzeptionellen Vorbereitung und politischen Durchsetzung entsprechender Programme kam es zur Zusammenarbeit mit Alfred Grosser, dem Germanisten am Pariser Institut d'Etudes Politiques, der seit 15 Jahren im Rahmen des Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle zahlreiche praktische Erfahrungen im akademischen Austausch zwischen Deutschen und Franzosen gesammelt hatte. 16 Als neue institutionelle Struktur universitären Austauschs wurde Ende 1963 die Pariser Zweigstelle des DAAD wiedergegründet. Sie wurde unter der Leitung des deutschen Romanisten und Absolventen der Ecole Normale Supérieure Hansgerd Schulte, in der Nähe des Quartier latin in der rue de Verneuil gelegen, in wenigen Jahren zu einem attraktiven Treffpunkt französischer und deutscher Universitätsvertreter. 17 Sie diente auch als Diskussions-Plattform für die von Bertaux vertretene Reformkonzeption für das französische Germanistikstudium. Dies nicht zuletzt deshalb, weil die in dieser Reformkonzeption geforderte konsequente Hinführung der französischen Studenten auf die Kenntnis der aktuellen Strukturen und Probleme der deutschsprachigen Länder vorerst einmal ohne die bereitwillige Mitarbeit der (zum größten Teil durch den DAAD an französische Universitäten vermittelten) Lektoren aus Deutschland nicht durchführbar war. Ein interessantes Dokument vom Frühjahr 1968 belegt diese Konstellation der in der Germanistikreform tätigen Kräfte und den inhaltlichen Konsens, der sich bei ihnen abzeichnete. Das Datum des „Berichts über das Lektorentreffen in der Pariser Zweigstelle des DAAD vom 7. - 9. April 1968“ 18 belegt auch, daß die Reformüberlegungen nicht erst in Reaktion auf die Mai-Revolte von 1968 in Gang kamen, sondern daß sie schon vorher weit gediehen waren. Der Berichterstatter resümierte die Ergebnisse der Fouchet-Reform von 1965-1966 und ihre curricularen sowie inhaltlichen 15 Cf. zur Gründung und Entwicklung des DFJW: Hans Manfred Bock, Corine Defrance, Gilbert Krebs, Ulrich Pfeil (ed.): Les jeunes dans le relations transnationales. L’Office franco-allemand pour la jeunesse 1963-2008, Paris 2008; Hans Manfred Bock (ed.): Deutsch-französische Begegnung und europäischer Bürgersinn. Studien zum Deutsch- Französischen Jugendwerk 1963-2003, Opladen 2003. Henri Ménudier: Das Deutsch- Französische Jugendwerk: Ein exemplarischer Beitrag zur Einheit Europas, Stuttgart 1991. 16 Cf. Alfred Grosser: Mein Deutschland, Hamburg 1993, p. 66sq. 17 Cf. dazu die einschlägige Studie im vorliegenden Buch (Kap. XII). 18 Archiv des DAAD, Bestand Außenstelle Paris. <?page no="345"?> 345 Rückwirkungen auf das Germanistikstudium in Frankreich: „Die Hochschulreform hat auch inhaltlich das Germanistikstudium neugegliedert. Im 1 er cycle liegt das Schwergewicht auf der Deutschlandkunde eng verbunden mit der Vervollkommnung in der deutschen Sprache. Die Literaturwissenschaft im eigentlichen Sinne setzt erst im 2 ème cycle ein. Die Forschungsvorhaben im 3 ème cycle können ebenso gut deutschlandkundlich wie literarisch orientiert sein. Erstmalig bildet also die in Frankreich als Civilisation allemande bezeichnete Deutschlandkunde einen der Hauptschwerpunkte der germanistischen Ausbildung.“ 19 Als „zwei der profiliertesten Vertreter der französischen Deutschlandkunde“ hatte der Zweigstellenleiter Pierre Bertaux und Alfred Grosser in die rue de Verneuil eingeladen. Die Zusammenfassung ihrer Überlegungen vor den DAAD- Lektoren enthält die Leitideen der curricularen Umsetzung der Germanistik-Reform. Gebeten, ihre „Konzeptionen zu diesem neuen und noch ungewohnten Themenkreis einmal grundsätzlich darzulegen“, plädierten beide Redner für die bewußte Akzeptierung einer kulturellen und politischen Rolle durch die Lektoren und appellierten an sie, eine aktive Funktion in der begonnenen Reform der Hochschul-Germanistik zu übernehmen: „Im Vortrag von Herrn Professor Bertaux wurde deutlich, daß die Germanistik und in ihrem Rahmen die Deutschlandkunde nicht wie in der bisherigen französischen Universitätstradition als eine an der Vergangenheit orientierte historische Wissenschaft angesehen wird, sondern das Schwergewicht auf der Kenntnis des heutigen Deutschland und sogar der möglichen zukünftigen Entwicklung liegen solle. Deutschlandkunde sei zugleich eine Einführung in die Probleme der modernen Welt am deutschen Beispiel; hierbei sei nicht nur die Bundesrepublik, sondern ebenso die SBZ, Österreich und die Schweiz, also der gesamte deutsche Sprachraum, zu berücksichtigen. Thema der Deutschlandkunde sei die politische, wirtschaftliche, und soziologische Entwicklung in diesem Bereich. Notwendigerweise erhält die französische Germanistik dadurch einen ausgesprochenen politischen Charakter. Herr Professor Bertaux unterstrich ausdrücklich die entscheidende Funktion der Lektoren im Rahmen dieser neuen Themenstellung.“ 20 Die beiden letztgenannten Aspekte wurden von Alfred Grosser breiter entfaltet: „Herr Professor Grosser hob die politische Funktion des Deutschlandkunde-Unterrichts der Lektoren hervor. Er betonte, daß die Lektoren, ob sie es wollten oder nicht, im Ausland als Vertreter Deutschlands angesehen werden und sie zu diesem Mandat zu stehen haben. Selbstverständlich hätten die Lektoren das Recht auf ihre eigene Meinung, sie müßten aber in der Lage sein, die offiziellen Stellungnahmen der Regie- 19 Bericht über das Lektorentreffen in der Pariser Zweigstelle des DAAD vom 8.-9. April 1968, Ms. 2sq. 20 Ibid., p. 2. <?page no="346"?> 346 rung und der politischen Parteien objektiv darzustellen und zu begründen. Dabei sei jedoch der Eindruck, es werde durch die Lektoren politische Propaganda betrieben, unter allen Umständen zu vermeiden, nicht zuletzt wegen des strengen Neutralitätsprinzips der französischen Hochschulen. Der Vortrag von Herrn Professor Grosser endete in einer offenen Frage: Sind die Lektoren hinreichend auf ihre Aufgabe in der Deutschlandkunde vorbereitet? “ 21 Die Reaktion der anwesenden Lektoren war gleichsam eine Antwort auf diese Frage. Der Protokollant notierte dazu: „Es zeichnete sich eine gewisse Ratlosigkeit [ab], die darauf zurückzuführen ist, daß die meisten Lektoren durch ihre rein literaturwissenschaftliche Vorbildung gegenüber den politischen und wirtschaftlichen Fragen des zeitgenössischen Deutschland eine gewisse Unsicherheit an den Tag legen.“ 22 So richtig diese Erklärung der „gewissen Ratlosigkeit“ der deutschen Jungakademiker durch ihre unzulängliche Ausbildung für den erstrebten „deutschlandkundlichen“ Zweck war, so kann sie dennoch nicht für ausreichend gelten. Denn hier stießen zwei unterschiedliche Politikbegriffe aufeinander. Der restringierte Politikbegriff der deutschen Universitätstradition, in dessen Verständnis politische Themen und Wirkungsabsichten in der Ausbildung von Kennern fremder Nationalkulturen mit parteilicher Indoktrination und Polemik gleichgesetzt wurden, auf der einen Seite. Auf der anderen Seite die in der französischen Tradition wurzelnde Auffassung von Politik, der zufolge alles auf die „Cité“, das öffentlich-rechtlich verfaßte Gemeinwesen, gerichtete Handeln, also auch die Ausbildung von Deutschland-Kennern, selbstverständlich politisch ist und als Politikum diskutiert werden muß. 23 Die curriculare Neuorientierung und die politische Finalität der Germanistik-Reform an den französischen Hochschulen war also bereits Gegenstand öffentlicher Erörterung, bevor die Universitätsrevolte im Mai 1968 vergleichsweise unvermittelt und heftig das Land erschütterte. 24 Wenn es nicht des Anstoßes der Mai-Revolte bedurfte für die Germanistik- Reform, so fanden ihre Themen und Ziele im Übergang von 1968 zu 1969 doch gesteigerte Resonanz im Zusammenhang mit dem von ihr verursachten politischen Innovationsbedarf im allgemeinen und der beginnenden Neustrukturierung der französischen Universitäten durch die Loi Edgar Faure im besonderen. Die praktische Umsetzung der neuen Germanistik- 21 Ibid., p. 3. 22 Ibid., p. 3. 23 Dieser Gegensatz ist bis heute kaum abgeschwächt und erschwert alle Versuche, zwischen Vertretern der deutschen Hochschul-Romanistik und Repräsentanten der französischen Hochschul-Germanistik in einen fruchtbaren Dialog über die gesellschaftliche Zielbestimmung der jeweiligen Disziplin einzutreten. 24 Zur historisch-soziologischen Analyse des Mai 1968 in Frankreich und Deutschland cf. u.a. Ingrid Gilcher-Holtey (ed.): 1968. Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1998. <?page no="347"?> 347 Konzeption vollzog sich 1968/ 69 in Paris in mehreren Ansätzen, von denen viele bis in die Gegenwart hinein wirksam sind. Der chronologisch früheste Ansatz des Reformunternehmens trug lange Zeit den Namen seines Initiators, das „programme Bertaux“. Diese Reformidee bestand darin, im Rahmen des neuen Germanistik-Curriculums Studierenden des 1 er cycle ein Semester Gaststudium an einer ausgewählten Universität der Bundesrepublik zu ermöglichen. Bertaux umriß das Verfahren und die Zielsetzung dieser neuen Studienkomponente gelegentlich so: „Mettant à profit un concours de circonstances favorables, nous avons institué en 1967 un système, que je crois unique d’échange d’étudiants entre universités françaises et universités allemandes. Des bourses allouées généreusement par l’Office franco-allemand pour la Jeunesse nous permettent d'envoyer de deux à trois cents étudiants germanistes français passer un semestre, généralement le troisième, dans une dizaine d’Universités allemandes qui organisent pour eux un programme spécial à haut rendement. Nos étudiants en reviennent familiarisés avec un pays qu’ils ne considèrent plus tout à fait comme ‚étranger’, mais comme une seconde patrie où la plupart s’empressent de retourner par leurs propres moyens. Nous voyons ainsi se former sous nos yeux une génération de jeunes Européens.“ 25 Nachdem das Programm im ersten Jahr nur für die Pariser Studenten ausgelegt war, wurden 1968 acht weitere französische Universitäten einbezogen und im Übergang zu den siebziger Jahren nahmen fast alle germanistischen Abteilungen nach Maßgabe ihrer im ersten Studien-Zyklus eingeschriebenen Studierenden teil. Dieser als erster französisch-deutscher Integrierter Studiengang betrachtete Versuch 26 erwies sich als Erfolg. Sein potentieller Teilnehmerkreis wurde auch auf neue Studiengänge ausgedehnt, die deutschlandorientierte Inhalte enthielten, und wurde 1985 in Programme d’Etudes Allemandes (PEA) umbenannt. In den ersten 25 Jahren konnten dank dieser Neuerung nicht weniger als 4.500 junge Französinnen und Franzosen in Deutschland studieren, 27 von denen nachweislich überdurchschnittlich viele Absolventen in die Lehrberufe Eingang fanden. Die Erfolgsgeschichte des programme Bertaux und der außenkulturpolitische Grundsatz der Wechselseitigkeit hatten zur Folge, daß ab 1969/ 70 auch erstmals ein Stipendienprogramm für Romanistikstudenten ab drittem Semester in der Regie des DFJW und des DAAD angeboten wurde. Diese Stipendiaten nahmen an den Veranstaltungen der Lettres modernes im zweiten Jahr des 1 er cycle teil. Das Institut d’Allemand d’Asnières wurde seit seiner Gründung der Pariser Stützpunkt des deutschen Romanisten- 25 Pierre Bertaux: „Cent ans de germanisme dans l’Université française“, loc. cit., p. 597. 26 So Reinhart Meyer-Kalkus: Die akademische Mobilität zwischen Deutschland und Frankreich (1925-1992), Bonn 1994, p. 131sq. 27 Cf. den geschichtlichen Abriß dieses Austauschprogramms, ibid., p. 133sq. <?page no="348"?> 348 Programms, in dem sie teilweise in kombinierten Veranstaltungen mit französischen Germanistikstudenten Fragen der deutsch-französischen Beziehungen bearbeiteten. Im IAA und in acht anderen französischen Universitäten (Clermont-Ferrand, Lille III, Lyon II, Nantes, Poitiers, Rennes II, Toulouse und Tours) konnten bis Mitte der neunziger Jahre rund 3500 Romanistik-Studenten die Möglichkeit der zeitweiligen Integration in das französische Universitätsleben nutzen. 28 Neben dem stipendiengestützten Austauschprogramm für die Fremdsprachenstudenten zwischen beiden Ländern war das Engagement der DAAD-Zweigstelle in Paris eine andere Antriebskraft für die Konkretisierung der Germanistikreform in den sechziger Jahren. Zum Rollenverständnis der wiedergegründeten Pariser Außenstelle gehörte es, da tätig zu werden, wo von den französischen Universitäten begründete Bedarfsanmeldungen vorlagen. 29 Dieser Bedarf wurde gerade in dem Teil des neuen germanistischen Hochschulcurriculums geltend gemacht, wo die personelle Kompetenz in den Germanistik-Abteilungen der Hochschulen noch nicht stark genug ausgebildet war, nämlich in der civilisation allemande . Da - wie die Diskussion vom April 1968 im Büro des DAAD gezeigt hatte - die zeitgeschichtliche, politologische, soziologische und ökonomische Fachkompetenz auch bei den deutschen Lektoren keineswegs selbstverständlich war, ergriff die Pariser Zweigstelle die Initiative für deren Grundlegung. Das institutionell von ihr getragene Projekt „Deutschlandstudien“ sollte dem festgestellten Mangel Abhilfe schaffen durch die Bereitstellung von bibliographischen und didaktisch aufbereiteten Materialien, die Gegenstand offener Diskussion zwischen allen Dozenten der civilisation allemande werden sollten. 30 In der Reformphase bis Mitte der siebziger Jahre waren diese DAAD-Materialien, die in zahlreichen Arbeitstreffen auf ihre Brauchbarkeit hin überprüft wurden, zumindest in Lektorenkreisen ein praktisches Vehikel der curricularen Erneuerung der französischen Germanistik. Die Leitidee der Deutschlandstudien wurde vom damaligen Zweigstellenleiter (und späteren Präsidenten) des DAAD, Hansgerd Schulte, so zusammengefaßt: „Die Bemühungen um eine Erneuerung dieses Faches auf interdisziplinärer sozialwissenschaftlicher Grundlage sind das Ergebnis 28 Ibid., p. 141sq. 29 Cf. dazu die Belege für diese bedarfsorientierte Politik des Pariser DAAD in der Studie zur DAAD-Zweigstelle im vorliegenden Band. 30 Cf. dazu besonders DAAD (ed.): Deutschlandstudien I. Kommentierte Bibliographie. Deutschland nach 1945. Zusammengestellt von Robert Picht, Bonn o.J. (1970). DAAD (ed.): Deutschlandstudien II. Fallstudien und didaktische Versuche. Zusammengestellt von Robert Picht, Bonn 1975. DAAD (ed.): Didaktisch-methodische Materialien zum Deutschlandkundeunterricht der Lektoren an französischen Hochschulen. Ausgewählte Bibliographie. Zusammengestellt von der Zweigstelle des DAAD in Paris, Paris 1969. DAAD (ed.): Didaktisch-methodische Materialien zum Deutschlandkundeunterricht der Lektoren an französischen Hochschulen. Erfahrungsberichte, Paris o.J. (1969). <?page no="349"?> 349 intensiver internationaler Kooperation in Germanistik und Sozialwissenschaften, die seit 1968, ausgehend von der Zusammenarbeit zwischen französischen Germanisten und der Pariser DAAD-Zweigstelle, zu neuen Ansätzen in Großbritannien und den USA und in der Funktionsbestimmung des Deutschunterrichts in den Entwicklungsländern geführt hat. - Die Tätigkeit des DAAD in diesem Bereich geht von der Überzeugung aus, daß allein eine der Vielfalt der Standpunkte und Perspektiven umfassende, wissenschaftlich fundierte und damit notwendig auch kritische Information geeignet ist, ein angemessenes Bild der deutschen Entwicklung zu geben. Wir verzichten deshalb bewußt auf die Erstellung eines Lehrbuchs zur Deutschlandkunde - und damit eines abgeschlossenen und dogmatischen ‚Deutschlandbildes’ -, sondern legen ein Arbeitsinstrument vor, das primär der thematischen und bibliographischen Orientierungshilfe zur eigenen Weiterarbeit dienen soll.“ 31 Diese nicht dogmatische, sondern responsive Strategie der Pflege auswärtiger Kulturbeziehungen war geeignet, nicht nur zur Konturierung der neuen Germanistik-Konzeption in Frankreich beizutragen, sondern in anderen Ländern zur Anwendung zu kommen. In Frankreich versuchte man, mit den Deutschlandstudien gleichermaßen den praktischen Erfordernissen der deutschen Lektoren entgegenzukommen und auch an erkennbare und generalisierbare Motivationen französischer Germanistikstudenten anzuknüpfen. 32 Die politische Zielsetzung des neuen Germanistikstudiums, qualifizierte Sachkenner für die in allen Bereichen dichter werdende Interaktion zwischen Frankreich und Deutschland in Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur, in Handel und Verkehr auszubilden, war letztlich ohne parallele Anstrengungen von seiten der deutschen Romanisten nicht zu legitimieren und zu realisieren. Die Gelegenheit, solche Reformimpulse in die deutsche Diskussion einzubringen, ergriff Robert Picht, der in Paris die DAAD-Deutschlandstudien koordiniert hatte, nach seiner Übernahme der Leitung des Deutsch-Französischen Instituts (DFI) in Ludwigsburg. 33 Die Reformdebatte in der deutschen Romanistik hatte Anfang der siebziger Jahre einen institutionellen Ort in der „Konferenz der romanischen Seminare“ , 34 und es ergab sich eine (eher kurzfristige) Zusammenarbeit zwischen beiden Einrichtungen mit dem Ziel einer hoch- 31 Ibid. 32 Dazu fertigte Robert Picht unter der Leitung von Pierre Bourdieu eine Dissertation an, deren Ergebnisse eingingen in Robert Picht: „Französische Germanistikstudenten“, in: Hannelore Gerstein, Robert Picht: Stipendiaten aus Frankreich. Französische Germanistikstudenten, Bonn 1974, p. 135-179. 33 Cf. dazu Robert Picht: „L’étude de la civilisation: une dimension nouvelle de la coopération“, in: Documents, 1973, p. 101sq. Zur interkulturellen Tätigkeit von Robert Picht cf. auch Hans Manfred Bock: „Europäische Kulturpolitik als gesellschaftliche Praxis (Robert Picht 1937-2008)“ in: Lendemains. Etudes comparées sur la Frrance. Vergleichende Frankreichforschung, 2008, Nr. 132, p. 156-159. 34 Cf. dazu Udo Figge: „Was ist die KRS? “, in: Lendemains, 1975, 1, p. 23-29. <?page no="350"?> 350 schul-curricularen Erneuerung der Französischlehrer-Ausbildung. Nachdem auf dem Heidelberger Romanistentag 1973 von Robert Picht und mir erstmals in einer Plenarsitzung für die Erweiterung des Themen- und Fragenkanons der Romanistik um eine landeswissenschaftliche Komponente plädiert worden war, 35 kam in den folgenden Jahren eine durchaus lebendige Debatte über diese Reformperspektiven zustande. 36 Auch die Bemühungen um die Bereitstellung bibliographischer und didaktischer Materialien für die hochschulpraktische Umsetzung der landeswissenschaftlichen Reformidee wurden mit tatkräftiger Hilfe des Deutsch-Französischen Instituts fortgesetzt. 37 Aus Gründen, die bislang niemals öffentlich diskutiert worden sind, 38 zerbrach im Übergang zu den achtziger Jahren diese Reformallianz. Die sozialwissenschaftliche Frankreichforschung etablierte und professionalisierte sich um das Zentrum des DFI in Ludwigsburg und in der Hochschulromanistik wurden nur sporadisch landeswissenschaftliche Lehrstühle eingerichtet. Die zeitweilig gleichlaufende Reformbewegung in der französischen Germanistik und in der deutschen Romanistik divergierte. In der französischen Hochschulgermanistik festigten sich - ganz im Gegensatz zur Entwicklung der Romanistik in der Bundesrepublik - die Vorstellungen zu einer neuen Zweckbestimmung für das Studium der Nachbar-Nation. Dafür maßgeblich waren mehrere Faktoren. Z.B. die seit 1974 erfolgende Einführung neuartiger Fremdsprachenstudiengänge in der Form der „Langues Etrangères Appliquées (LEA)“. Wichtige, langfristig wirksame Antriebe für die Reform der französischen Germanistik kamen aber auch von der 1967 gegründeten Association des Germanistes de l’'Enseignement Supérieur (AGES). Diese germanistische Hochschullehrervereinigung wurde in den siebziger Jahren zum ausschlaggebenden Diskussionsforum für die Neubestimmung der Studieninhalte in den germanisti- 35 Cf. dazu den Abdruck meines Vortrags in: Robert Picht (ed.): Perspektiven der Frankreichkunde. Ansätze zu einer interdisziplinär orientierten Romanistik, Tübingen 1974, p. 13-23: „Zur Neudefinition landeskundlichen Erkenntnisinteresses“; im selben Band (p. 3-13) auch der klassische Programmaufsatz Alfred Grosser: „Versagen die Mittler? Was Deutschland und Frankreich voneinander wissen.“ 36 Cf. dazu den Abriß von Roland Höhne: „Die kulturwissenschaftliche Herausforderung der Landeswissenschaften“, in: Grenzgänge, 1996, p. 71-86. Ders.: „Die romanistischen Landeswissenschaften. Das ungeliebte Kind der deutschen Romanistik“, in: Stefan Fisch, Florence Gauzy (ed.): Lernen und Lehren in Deutschland und Frankreich. Apprendre et enseigner en Allemagne et en France, Stuttgart 2007, p. 223-235. 37 Dazu der Band René Lasserre (ed.): La France contemporaine. Guide bibliographique et thématique, Tübingen 1978. Dem wissenschaftlichen Beirat für die Vorbereitung des stattlichen Bandes (743 Seiten) gehörten an: Pierre Bertaux, Alfred Grosser, Pierre Bourdieu, Eberhard Jäckel, Wolfgang Hartke und Hans Manfred Bock. 38 Cf. dazu Wolfgang Asholt: „Rolle und gegenwärtige Situation der Landeswissenschaft in der Romanistik“, in: Wolfgang Asholt, Heinz Thoma (ed.): Frankreich. Ein unverstandener Nachbar, Bonn 1990, p. 17-43. <?page no="351"?> 351 schen Studiengängen. Die Jahreskongresse der AGES blieben überwiegend literaturgeschichtlichen Themen vorbehalten, 39 jedoch war bereits 1970 das Generalthema des AGES-Kongresses in Nantes: „L’enseignement de la civilisation dans les études supérieures d’allemand“. Die inhaltlichen und methodischen Fragen, die durch die Einfügung der civilisation allemande in das Germanistikstudium schon seit mehreren Jahren aufgeworfen worden waren, wurden hier erstmals umfassend erörtert und die AGES-Kongresse versammeln bis heute die Lehrenden dieser Studienkomponente in parallel laufenden Treffen. Der durchaus kontroversen, aber doch niemals marginalisierten Diskussion über die civilisation allemande in der AGES ist es nicht zuletzt zuzuschreiben, daß diese Spezialisierung im Karrieremuster der jüngeren Hochschulgermanisten zur Selbstverständlichkeit wurde. Pierre Grappin (1915-1997) und Robert Minder (1902-1980), die beiden ersten Vorsitzenden der AGES, 40 förderten die Reformkonzeption der Hochschul-Germanistik und ihr Generationsgenosse Pierre Bertaux praktizierte sie durch die Gründung eines eigenen Instituts, des Institut d’Allemand d’Asnières (IAA). 3. Die Gründung des Institut d'Allemand d’Asnières Ein entscheidender Schritt für die langfristige Durchsetzung der Germanistik-Reform war zweifellos die Gründung eines dieser Reformkonzeption gewidmeten neuen Instituts, das 1969 aus der Teilung des Institut d’Études Germaniques der Sorbonne hervorging. Das im Dezember 1930 unter bestimmender Mitwirkung von Henri Lichtenberger ins Leben gerufene Institut d’Études Germaniques 41 war vom Ort seiner Gründung (rue de l’École de Médecine) in einen Flügel des Weltausstellungsgebäudes Grand Palais verlegt worden. Nach der in Frankreich in den frühen sechziger Jahren eher als in der Bundesrepublik einsetzenden Expansion des tertiären Bildungssystems zählte diese Germanistik-Abteilung der Sorbonne am Ende dieses Jahrzehnts 2.400 Studierende. 42 Die Reformpolitik und die schnelle Expansion der Studentenzahlen begünstigten am Ende der sechziger Jahre 39 Cf. dazu den ersten Überblick in: „Trente ans d’AGES. Quelques aperçus“, in: Colette Cortès, Gilbert Krebs (ed.): Le territoire du germaniste. Situations et explorations, Asnières 1998, p. 319-330. 40 Cf. ibid. deren Kurzporträts, p. 331sq. Cf. auch Pierre Grappin: L’île aux peupliers. De la Résistance à Mai 1968. Souvenirs du Doyen de Nanterre, Nancy 1993. 41 Zu dessen Aktivitäten und Veranstaltungen cf. Katja Marmetschke: „Deutschlandbzw. Frankreichforschung beiderseits des Rheins in der Zwischenkriegszeit. Die Universitäten Frankfurt/ Main, Köln und Paris“, in: Ulrich Pfeil (ed.): Deutsch-französische Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen im 20. Jahrhundert. Ein institutionengeschichtlicher Ansatz, München 2007, p. 73sq. 42 Die Zahlenangabe bei Pierre Bertaux: „La révolution nécessaire des études germaniques“, in: Documents, 1970, Nr. 2, p. 38. <?page no="352"?> 352 ei