eBooks

Rätoromanisch

Eine Einführung in das Bündnerromanische

0408
2010
978-3-8233-7556-2
978-3-8233-6556-3
Gunter Narr Verlag 
Ricarda Liver

Dieses bewährte Studienbuch richtet sich an Leser, die sich über das Rätoromanische Graubündens, seine sprachliche Erscheinungsform, seine heutige Verbreitung und soziolinguistische Stellung, seine Geschichte und über den Stand der Forschung zu all diesen Themen informieren möchten. Das Buch stellt eine kritische Synthese der bisherigenStudien zum Bündnerromanischen dar, erweitert durch Resultate eigener Forschung. Die Neuauflage aktualisiert die Informationen zur Situation des Bündnerromanischen und zu Ergebnissen der Forschung aufgrund der im letzten Jahrzehnt erschienenen Literatur.

<?page no="0"?> narr studienbücher Ricarda Liver Rätoromanisch Eine Einführung in das Bündnerromanische 2. Auflage <?page no="1"?> narr studienbücher <?page no="3"?> Ricarda Liver Rätoromanisch Eine Einführung in das Bündnerromanische 2., überarbeitete und erweiterte Auflage <?page no="4"?> 2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2010 1. Auflage 1999 Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. © 2010 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / narr-studienbuecher.de E-Mail: info@narr.de Satz: Informationsdesign D. Fratzke, Kirchentellinsfurt Druck: Gulde, Tübingen Printed in Germany ISSN 0941-8105 ISBN 978-3-8233-6556-3 Ricarda Liver ist emeritierte Professorin für Romanische Philologie an der Universität Bern. <?page no="5"?> Dank Bei der Vorbereitung dieses Buches haben mir Freunde und Kollegen mit Gesprächen, Ratschlägen und Auskünften geholfen. Ihnen allen möchte ich an dieser Stelle herzlich danken, vor allem Alexi Decurtins, Felix Giger, Matthias Grünert, Heinrich Schmid (†), Hans Stricker und Peter Wunderli. Christine Blättler und Marc Matter danke ich für ihre Hilfe beim Lesen der Korrekturen, Brigitte Feuz und Andrea Müller für Unterstützung und vielfache Pannenhilfe bei der Arbeit am Computer. Schließlich geht mein Dank an den Gunter Narr Verlag, vor allem an Herrn Gunter Narr und Herrn Joachim Schwarz, für die angenehme Zusammenarbeit. Bern, im April 1999 Ricarda Liver Zur 2. Auflage Seit dem Erscheinen dieses Studienbuches sind gut 10 Jahre vergangen. Da es zu den Zielsetzungen dieser Einführung gehört, einen Überblick über die aktuelle Sprachsituation und über den Forschungsstand zu vermitteln, musste die 2. Auflage der inzwischen veränderten Situation Rechnung tragen. Die Aktualisierungen betreffen einerseits die soziolinguistische Situation (Ergebnisse der Volkszählung von 2000, heutiger Stellenwert der Einheitssprache Rumantsch Grischun), andererseits die neuen Beiträge der linguistischen Forschung. Sie wurden in Text und Bibliographie eingearbeitet. Für mannigfache Hilfe bei der Überarbeitung des Buches schulde ich vielen Freunden und Kollegen Dank, vor allem Eva Delz, Wolfgang Eichenhofer, Matthias Grünert, Andrea Müller, Clà Riatsch, Guiu Sobiela-Caanitz, Hans Stricker, Peter Wunderli. Ein herzlicher Dank geht auch an den Verlag, an Herrn und Frau Gunter und Sonja Narr und an Frau Mareike Reichelt, die die Herstellung der 2. Auflage betreute. Lützelflüh, im Januar 2010 Ricarda Liver <?page no="7"?> Inhalt Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 0. Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 0.1 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 0.2 Abgrenzung des Gegenstandes und Themenvorschau . . . . . . . . . . 13 1. Der Begriff „Rätoromanisch“ und die „questione ladina“ . . . . . 15 2. Die Forschung zum Bündnerromanischen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.0 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.1 Bibliographien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2.2 Forschungsüberblicke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.3 Gesamtdarstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 2.4 Beschreibung von Teilbereichen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 2.4.1 Phonetik/ Phonologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 2.4.2 Morphosyntax . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2.4.3 Lexik und Etymologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2.4.4 Onomastik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2.5 Soziolinguistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2.6 Sprachgeschichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 2.6.0 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 2.6.1 Externe Sprachgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 2.6.2 Die bündnerromanischen Regionalschriftsprachen . . . . . . . . 39 2.6.3 Sprachnormierung und Standardisierung. Die überregionale Schriftsprache Rumantsch Grischun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 2.7 Lücken und Desiderata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 3. Das Bündnerromanische heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 3.0 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 3.1 Die innere Gliederung des Bündnerromanischen . . . . . . . . . . . . . . 43 <?page no="8"?> 8 3.1.1 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 3.1.2 Die Verklammerung der fünf Dialektgebiete . . . . . . . . . . . . . 46 3.1.3 Sprachproben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 3.1.3.1 Sursilvan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 3.1.3.2 Sutsilvan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 3.1.3.3 Surmiran . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 3.1.3.4 Puter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 3.1.3.5 Vallader . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 3.2 Die soziolinguistische Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 3.3 Die neue Schriftsprache Rumantsch Grischun . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 4. Geschichte des Bündnerromanischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 4.0 Vorbemerkung: externe und interne Sprachgeschichte. . . . . . . . . . 75 4.1 Eckdaten der bündnerromanischen Sprachgeschichte . . . . . . . . . . 76 4.2 Das Bündnerromanische im Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 4.2.1 Quellenlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 4.2.2 Zeugnisse für mittelalterliches Bündnerromanisch . . . . . . . . 86 4.2.2.1 Die Würzburger Federprobe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 4.2.2.2 Die Einsiedler Interlinearversion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 4.2.2.3 Zeugenaussage aus einem Münstertaler Urbar 1389 . 91 4.2.3 Der Beitrag der Onomastik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 4.3 Die Entstehung der bündnerromanischen Schriftsprachen . . . . . . 93 4.3.1 Engadin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 4.3.1.1 Die Anfänge der engadinischen Schriftsprache im 16. Jh.: Wichtigste Texte, kulturelle Voraussetzungen, sprachgeschichtliche Fragestellungen . . . . . . . . . . . . 93 4.3.1.2 Untersuchung einzelner Probleme in den Anfängen der engadinischen Schriftsprache. . . . . . . . . . . . . . . . 96 4.3.1.2.1 Gian Travers, La chianzun dalla guerra dagl Chiaste da Müs (1527). . . . . . . . . . . . . . 96 4.3.1.2.2 Vorliterarische Sprachtraditionen: Rechtssprache und Kirchensprache. . . . . . . 103 4.3.1.2.3 Die älteste Prosa. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 4.3.1.3 Schluß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 4.3.2 Surselva und Sutselva . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 4.3.2.1 Die Anfänge einer protestantischen und einer katholischen Schrifttradition . . . . . . . . 115 <?page no="9"?> 9 4.3.2.2 Konfessionelle Polemik. . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 4.3.2.3 Erbauungsliteratur und Kirchenlieder . . . . . . 122 4.3.2.4 Politische Lieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 4.3.2.5 Schluß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 4.4 Weitere Entwicklungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 5. Synchronische Beschreibung des Surselvischen. . . . . . . . . . . . . . . 129 5.0 Vorbemerkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 5.1 Phonetik/ Phonologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 5.2 Morphosyntax, Syntax . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 5.2.1 Nominalsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 5.2.1.1 Substantive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 5.2.1.2 Adjektive und Partizipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 5.2.1.3 Personalbasierte Nominaldeiktika: Demonstrativa, Possessiva, Personalia, Reflexiva. . . . . . . . . . . . . . . . . 136 5.2.2 Verbalsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 5.2.2.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 5.2.2.2 Die Endung -el der 1. Ps.sg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 5.2.2.3 Alternanzen im Verbalstamm des Präsens . . . . . . . . . 142 5.2.2.4 Imperativ. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 5.2.2.5 Perfekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 5.2.2.6 Futurum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 5.2.2.7 Besonderheiten im surselvischen Verbalsystem. . . . . 144 5.2.3 Syntaktische Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 5.2.3.1 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 5.2.3.2 Inversion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 5.2.3.3 Nicht-Kongruenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 5.2.3.4 Negation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 5.3 Lexik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 5.3.1 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 5.3.2 Ortsadverbien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 5.3.3 Wortfeldanalysen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 5.3.4 Translationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 5.3.4.1 Abstraktes Substantiv als Elativ . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 5.3.4.2 Ortsadverbien als Präposition. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 <?page no="10"?> 10 6. Besonderheiten anderer Varietäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 6.1 Vorbemerkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 6.2 „Verhärtete Diphthonge“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 6.3 Das durch die Präposition a eingeleitete direkte Objekt im Engadinischen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 6.4 Klitische Subjektspronomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 7. Das Bündnerromanische in der Romania . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 7.1 Vorbemerkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 7.2 Zugehörigkeit zur Galloromania . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 7.3 Die Randlage des Bündnerromanischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 7.4 Auswirkungen des Sprachkontakts mit dem Deutschen . . . . . . . . . 176 7.5 Schluß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 <?page no="11"?> Abkürzungsverzeichnis API = Alphabet phonétique international br./ BR = bündnerromanisch/ das Bündnerromanische C = Mittelbünden (Grischun central) dl./ DL = dolomitenladinisch/ das Dolomitenladinische E = Engadin eng. = engadinisch f./ F = friulanisch (friaulisch)/ das Friulanische HS = Hauptsatz IPA = International Phonetic Alphabet mod. = modern NS = Nebensatz put. = puter (oberengadinisch) RB = Romanischbünden RG = Rumantsch Grischun rtr. = rätoromanisch S = Surselva surm. = surmiran (surmeirisch) surs. = sursilvan (surselvisch) suts. = sutsilvan (sutselvisch) vall. = vallader (unterengadinisch) vlat. = vulgärlateinisch Siglen für Wörterbücher, Atlanten und Zeitschriften finden sich in der Bibliographie. Es sind mit wenigen Ausnahmen die in der Zeitschrift Vox Romanica verwendeten Abkürzungen. <?page no="13"?> 0. Einleitung 0.1 Vorbemerkung Dieses Studienbuch richtet sich an Leser, die sich über das Rätoromanische Graubündens, seine sprachliche Erscheinungsform, seine heutige Verbreitung und soziolinguistische Stellung, seine Geschichte und den Stand der Forschung zu all diesen Themen informieren möchten. Gedacht ist in erster Linie an Studierende der Romanistik und an Linguisten, die sich in anderen Gebieten der Romania besser auskennen, aber auch an Leser verschiedenster Provenienz, die einen Zugang suchen zu einem vertieften Studium des Rätoromanischen. Es gibt mehr oder weniger wissenschaftliche Darstellungen zum Thema „Land, Sprache und Volk der Rätoromanen“ (B ILLIGMEIER 1983, C ATRINA 1983), es gibt praktische Einführungen in die verschiedenen Varietäten des Bündnerromanischen, es gibt Gesamtdarstellungen des Rätoromanischen Graubündens und der damit verwandten Sprachen der Dolomiten und des Friauls (von A SCOLI 1873 über G ARTNER 1910 zu H AIMANN / B ENINCÀ 1992), und es gibt eine große Zahl von Monographien und Aufsätzen zu einzelnen Mundarten und bestimmten Problemen. Im Lexikon der Romanistischen Linguistik (LRL II,2 und III) sind die wichtigsten Themenkreise auf dem Stand der heutigen Forschung dargestellt. Eine Synthese dieser vielfältigen Forschungsbeiträge, die einem nicht spezialisierten Leser den Einstieg in die Rätoromanistik erleichtert, ist jedoch immer noch ein Desideratum. Das vorliegende Studienbuch möchte diese Lücke für den Bereich des Bündnerromanischen schließen. 0.2 Abgrenzung des Gegenstandes und Themenvorschau Der Titel dieses Studienbuchs enthält den Begriff „Rätoromanisch“, eine Sprachbezeichnung, die in der Fachwelt, je nach wissenschaftlicher Position, unterschiedlich gehandhabt wird. Wir werden im Kapitel 1 näher auf die Frage der Terminologie und die damit verbundenen Kontroversen eingehen. Der Untertitel macht klar, daß in der vorliegenden Einführung einzig vom Rätoromanischen Graubündens, dem Bündnerromanischen, die Rede sein wird. Im folgenden skizzieren wir kurz den Inhalt der sieben Kapitel, in die das Studienbuch sich gliedert. <?page no="14"?> 14 Das 1. Kapitel diskutiert, wie angedeutet, Fragen, die mit der wissenschaftsgeschichtlich interessanten Auseinandersetzung verbunden sind, die man als „questione ladina“ zu bezeichnen pflegt. Kapitel 2 gibt einen Abriß der Forschungsgeschichte zum Bündnerromanischen, eine Art „bibliografia ragionata“, die, auf der Folie des Bestehenden, die Lücken und Desiderata erkennen läßt. Das 3. Kapitel umreißt den Stand des Bündnerromanischen heute. In einem ersten Teil, der die innere Gliederung der Bündnerromania darstellt, werden die fünf Hauptvarietäten („Idiome“) global charakterisiert und anhand von kommentierten Textproben illustriert; ein zweiter Teil ist mit der soziolinguistischen Situation befaßt, und in einem dritten wird die neue Einheitssprache Rumantsch Grischun beschrieben. Kapitel 4 befaßt sich mit der Geschichte des Bündnerromanischen. Von der Romanisierung über die Situation im Mittelalter zur Entstehung der rätoromanischen Schriftsprachen im 16. und 17. Jahrhundert und die neuere Zeit bis hin zur Gegenwart wird die Geschichte des Bündnerromanischen in groben Zügen nachgezeichnet. Das 5. Kapitel versucht, eine konzise Beschreibung des Surselvischen in synchronischer Sicht zu geben. Das Surselvische ist die sprecherreichste bündnerromanische Varietät und in mancher Hinsicht linguistisch besonders originell. Im 6. Kapitel wird auf Besonderheiten anderer bündnerromanischer Varietäten eingegangen. Das 7. Kapitel schließlich beschreibt die Stellung des Bündnerromanischen in der Romania. Es versteht sich von selbst, daß bei der Fülle der hier angeschnittenen Themen immer wieder Entscheide getroffen werden müssen, was behandelt und was weggelassen werden soll. Die Dimensionen eines Studienbuchs setzen hier deutliche Grenzen. Ich bin mir bewußt, daß diese Entscheide weitgehend subjektiv sind und durchaus auch anders hätten gefällt werden können. Oft habe ich mich bei der Auswahl von Phänomenen, auf die näher eingegangen wird, von den Erfahrungen im Unterricht leiten lassen: Was dem Lernenden an einer Sprache als besonders bemerkenswert erscheint, ist wohl auch in kontrastiver Sicht charakteristisch für die betreffende Sprache. Auch in einer anderen Hinsicht ist das vorliegende Buch von den persönlichen Forschungsinteressen der Autorin geprägt. Ich habe es mir nicht nehmen lassen, bei der Darstellung von so viel Stoff, den zum größten Teil andere erarbeitet haben, auf eine Thematik ausführlicher einzugehen, mit der ich mich in eigenen Arbeiten wiederholt beschäftigt habe: die Entstehung der bündnerromanischen Schriftsprachen im 16. und 17. Jahrhundert (letzter Teil des 4. Kapitels). <?page no="15"?> 1. Der Begriff „Rätoromanisch“ und die „questione ladina“ Fragt man in der Schweiz jemanden, was „rätoromanisch“ bedeute, ist die Antwort nicht zweifelhaft: Für den Durchschnittsschweizer ist das Rätoroma nische die Sprache derjenigen Bündner (Einwohner des Kantons Graubünden), die nicht deutsch und nicht italienisch, sondern rätoromanisch sprechen. Man denkt an die Surselva (Bündner Oberland) und an das Engadin, wo das Rätoromanische noch fest verwurzelt ist, allenfalls an mittelbündnerische Gebiete wie Oberhalbstein und Albulatal (Surmeir) oder Schams. Dasselbe Verständnis von „rätoromanisch“ haben die bündnerischen Rätoromanen selbst: Für sie steht außer Frage, daß sie eine eigene Sprache sprechen, die sie von deutsch- oder italienischsprachigen Bündnern unterscheidet. Viel weniger Konsens herrscht über die Definition des Begriffs „rätoromanisch“ auf der Ebene der wissenschaftlichen Beschreibung von Sprachgebieten, denen diese Bezeichnung zukommen soll (oder eben nicht). In den romanistischen Handbüchern von Gröbers Grundriß bis zum LRL sowie in speziellen Publikationen zu einschlägigen Themen spiegeln sich die gegensätzlichen Positionen in bezug auf die Frage, die der sogenannten „questione ladina“ zugrunde liegt. Ganz summarisch auf den Punkt gebracht, lassen sich die Extrempositionen wie folgt umschreiben: 1) Es gibt eine linguistisch begründbare Einheit der „rätoromanischen“ (oder „ladinischen“) Sprachgebiete Bündnerromanisch, Dolomitenladinisch und Friulanisch, eine „unità ladina“. Daher ist auch eine gemeinsame Bezeichnung („rätoromanisch“ oder „ladinisch“) für das Gesamtgebiet gerechtfertigt. 2) Eine solche Einheit ist ein bloßes Konstrukt der Sprachwissenschaft. Selbst wenn sie auf linguistischer Basis bewiesen werden könnte, findet sie keine Stütze in der soziolinguistisch-historischen Realität der betroffenen Gebiete. Der Sinn einer gemeinsamen terminologischen Etikette für diese Gebiete ist deshalb zweifelhaft. Ich möchte gleich vorweg festhalten, daß ich mich zur zweiten Position bekenne. Obschon eine Darstellung, die sich auf das Bündnerromanische beschränkt, sich eigentlich einer Stellungnahme zu der skizzierten Kontroverse enthalten könnte (die Zugehörigkeit des Bündnerromanischen zum „Rätoromanischen“ ist unumstritten, unabhängig davon, ob man unter <?page no="16"?> 16 „rätoromanisch“ einzig Bündnerromanisch oder Bündnerromanisch + Dolomitenladinisch oder Bündnerromanisch + Dolomitenladinisch + Friulanisch verstehen will), scheint es mir wichtig, die Fragestellung, die Argumente und die möglichen Antworten, die mit der „questione ladina“ verbunden sind, an dieser Stelle zu referieren. Eine Diskussion dieser Problematik ist unumgänglich, weil sowohl wissenschaftliche als auch divulgative Literatur den Terminus „rätoromanisch“ oft unreflektiert verwendet. Die Geschichte der „questione ladina“ beginnt mit den Saggi ladini, der ersten großräumigen Dialektstudie der Romanistik. Graziadio Isaia Ascoli (1829- 1907) publizierte seine Untersuchung der romanischen Dialekte vom Oberalppaß (Westgrenze der bündnerischen Surselva) durch ganz Romanischbünden (Sutselva, Surmeir, Engadin und Münstertal) und weiter nach Osten durch das Dolomitenladinische und das Friulanische bis an den Golf von Triest im ersten Band seiner Zeitschrift Archivio glottologico italiano (A SCOLI 1873). Er ging davon aus, daß die Dialekte des beschriebenen Gebiets Fragmente einer früher zusammenhängenden linguistischen Zone seien, verbunden durch eine Anzahl bestimmter gemeinsamer Züge („stretti fra di loro per vincoli di affinità peculiare“), und daß ihnen deshalb eine gemeinsame Benennung zukomme: „la denominazione generica di favella ladina, o dialetti ladini“ 1 . Diese Auffassung machte sich auch der Österreicher Theodor Gartner (1843-1925) zu eigen, der 1883 seine Rätoromanische Grammatik und 1910 das Handbuch der rätoromanischen Sprache und Literatur veröffentlichte. Der Ausstrahlung dieser Werke ist es zweifellos zuzuschreiben, daß in der Folge und bis heute die Bezeichnung „rätoromanisch“ von vielen (Wissenschaftlern und Laien) als Oberbegriff für die drei Sprachgebiete Bündnerromanisch, Dolomitenladinisch und Friulanisch verwendet wird. Gartner war nicht der erste, der den Terminus „rätoromanisch“ auf die fraglichen Mundarten anwendete. Die Studie von Alexi Decurtins, „Das Rätoromanische und die Sprachforschung“ 2 , die sich mit der Frühgeschichte der rätoromanistischen Forschung beschäftigt, nennt verschiedene Vorläufer. Es soll an dieser Stelle auch nicht auf die Adäquatheit (resp. Nicht-Adäquatheit) des Terminus „rätoromanisch“ für die Gesamtheit der betroffenen Dialektgebiete eingegangen werden 3 . Festzuhalten bleibt, daß mit den Arbeiten von Ascoli und Gartner ein Konzept in der romanistischen Diskussion etabliert war, das nicht unbestritten bleiben sollte. Dieses Konzept, das in der Folge als „unità ladina“ bezeichnet wird, ist vor allem von italienischer Seite her in Frage gestellt worden. Hauptexponent der kritischen Gegenposition ist Carlo Battisti (1882-1977), der selbst aus einem „ladinischen“ Sprachgebiet, der Valle di Non (Trentino), stammte. 1 A SCOLI 1873: 1. 2 D ECURTINS 1965. 3 Dazu unten p. 26ss. <?page no="17"?> 17 Battisti verwendete sein linguistisches Engagement über Jahrzehnte hinweg auf die Bekämpfung der ascolianisch-gartnerschen These einer „unità ladina“. Er zeigte in zahlreichen Studien 4 , daß einerseits die Gemeinsamkeiten der drei Gebiete Bündnerromanisch, Dolomitenladinisch und Friulanisch sich auf wenige Züge beschränken, und daß andererseits die Verbindungen der „ladinischen“ Dialekte mit den südlich angrenzenden norditalienischen (lombardischen und venetischen) Varietäten größer sind als von den Verfechtern der „unità ladina“ angenommen. Eine ähnliche Position vertrat der Tessiner Dialektologe Carlo Salvioni (1858-1920). Die unterschiedlichen Auffassungen von „Ascolianern“ und „Battistianern“ hätten wohl nie zu einer so heftigen und polemisch geführten Kontroverse Anlaß gegeben, wenn nicht politisch-ideologische Gesichtspunkte in die dialektologisch-typologische Diskussion hineingetragen worden wären. Ascoli lagen solche Aspekte denkbar fern. Aber sowohl Battisti wie auch Salvioni sympathisierten mit dem Ideengut des italienischen Irredentismus, jener nationalistischen Strömung, die sowohl die ladinischen Dolomitentäler als auch das rätoromanische Gebiet Graubündens (und das Tessin! ) unter dem linguistisch argumentierenden Vorwand, es handle sich hier um Ausläufer des norditalienischen Dialektgebiets, für die „italianità“ und damit (mehr oder weniger explizit) für den italienischen Staat beanspruchte 5 . An diesem Punkt liegt wohl der Ursprung aller Schiefheiten und Mißverständnisse, die mit der „questione ladina“ verbunden sind: Auf beiden Seiten focht man mit linguistisch-dialektologischen Argumenten an einer Front, an der es um ganz andere Dinge ging als um die Abgrenzung von Dialektgebieten. Zur Debatte stand vielmehr die Eigenständigkeit von Sprachgruppen nicht in linguistischer, sondern in soziolinguistisch-historischer Hinsicht, und damit der Anspruch dieser Sprachgruppen, eine eigene „Sprache“ zu besitzen. Die Bündner Romanen und mit ihnen die schweizerischen Linguisten, die sich mit Rätoromanisch befaßten (Robert von Planta, Jakob Jud, Chasper Pult), reagierten auf die Äußerungen von italienischer Seite mit Empörung und entschiedener Abwehr, dies umso mehr, als nicht nur die rätoromanischen Dialekte für italienisch erklärt wurden, sondern die Bündner Romanen aufgefordert wurden, das Italienische als Dach- und Schriftsprache zu verwenden. Die Wissenschaftler untermauerten den spontanen Protest der Bündner Romanen mit linguistischen und historischen Argumenten für die Eigenständigkeit des Bündnerromanischen und dessen Abgrenzung vom Italienischen. 4 Aus den Jahren 1908-1970 (cf. P ELLEGRINI 1991: 57s.). 5 Zu den Auswirkungen des Irredentismus auf Südtirol und die Südschweiz cf. B ROSI 1935 und H UBER 1953, ferner D ECURTINS 1965: 302 mit N 133. Sprechend ist der Titel Il „ladino“ al bivio. Le valli della morente italianità einer Publikation von Giovanni del Vecchio aus dem Jahr 1912 (V ECCHIO 1960). <?page no="18"?> 18 Die Frage nach der Berechtigung der Annahme einer „rätoromanischen“ oder „ladinischen“ Einheit im Sinne Gartners und Ascolis stand bei dieser Auseinandersetzung durchaus im Hintergrund. In der Folge ergab sich jedoch in der Forschung immer deutlicher eine Scheidung der Positionen in „Ascolianer“ und „Battistianer“, Befürworter einer „rätoromanischen Einheit“ und Gegner oder Skeptiker. Die meisten Anhänger der These einer rätoromanischen Einheit finden sich unter Schweizern, Deutschen und Österreichern. Neben Robert von Planta (1864-1937) und Jakob Jud (1882-1952), denen wohl die meisten damals aktiven Schweizer Romanisten folgten, sind v.a. der Österreicher Heinrich Kuen (1899-1990) 6 und die Deutschen Gerhard Rohlfs (1892- 1986) 7 und E.Th. Elwert (1906-1997) 8 zu erwähnen. Italienischerseits ist der Hauptexponent der Gegenposition im Sinne von Carlo Battisti Giovan Battista Pellegrini (*1921), der sich in jahrzehntelanger Arbeit immer wieder um die Widerlegung der Auffassung von Gartner und Ascoli bemüht hat. Seine letzte, zusammenfassende Äußerung zum Problem findet sich in einer Studie von 1991, La genesi del retoromanzo (o ladino), die überraschenderweise die Terminologie der Gegner in den Titel aufnimmt 9 . Zu den „Ascolianern“ zählt sich heute Hans Goebl, Romanist in Salzburg 10 , während Johannes Kramer und der Schweizer Max Pfister eine Position vertreten, die derjenigen der „Battistianer“ näher steht. Auch John Haiman und Paola Benincà gehören zu den Vertretern dieser Auffassung 11 . Die meisten Forscher sind sich durchaus bewußt, daß die „questione ladina“ durch die Vermengung von inner- und außerlinguistischen Gesichtspunkten einerseits, von linguistischer und politisch-ideologischer Position andererseits belastet ist. Dennoch ist eine endgültige Klärung der verwirrten Situation bis heute nicht erfolgt. Konsequenz dieser nie definitiv bereinigten Konflikte ist eine bedenkliche Praxis in wissenschaftlichen und divulgativen Standardwerken, die dafür verantwortlich sind, daß gewisse diskussionswürdige Begriffe und Konzepte unreflektiert dem Bewußtsein eines breiten Publikums weitergegeben werden, das den Aussagen der angeblichen Autoritäten ausgeliefert ist und als wissenschaftlich erhärtete Fakten rezipiert, was in Tat und Wahrheit höchst kontrovers ist. Ich beziehe mich hier auf die Darstellung des Begriffs „rätoromanisch“ in gewissen romanistischen Handbüchern und in Lexika sowie auf Werke divulgativen Charakters, die sich mit der Sprachsituation der Bündner Romanen befassen. 6 Cf. K UEN 1968. 7 Cf. R OHLFS 1975. 8 E LWERT 1977. 9 P ELLEGRINI 1991. 10 Zu seiner Dialektometrie cf. unten p. 24ss. 11 H AIMAN / B ENINCÀ 1992. <?page no="19"?> 19 Wer z.B. das neue Schweizer Lexikon 12 konsultiert, aber auch Darstellungen, die sich an ein weiteres Publikum richten wie etwa C ATRINA 1983, Die viersprachige Schweiz von 1982 13 oder die informative Broschüre Retorumantsch. Facts & Figures 14 , wird ohne jegliche Infragestellung davon unterrichtet, daß es eine „rätoromanische Sprache“ gebe, die in die drei Untergruppen Bündnerromanisch, Dolomitenladinisch und Friulanisch zerfalle 15 . Dieselbe Konzeption findet man auch in verschiedenen romanistischen Handbüchern, so bei Lausberg 16 , Vidos 17 , Rohlfs 18 . Bourciez spricht von einer „langue rhétique (aussi appelée ladine ou rhéto-romane)“, welche einem „mode linguistique unique“ angehöre, und präzisiert: „point de vue d’ailleurs discuté“ 19 . Eine differenzierte Darstellung des Problems findet sich in den Origini delle lingue neolatine von Carlo Tagliavini. Tagliavini stellt zwar die drei Blöcke Bündnerromanisch, Dolomitenladinisch und Friulanisch unter den Oberbegriff „ladino“, betont jedoch die Seltenheit von Zügen, die diesen Sprachgebieten ausschließlich gemeinsam sind, einerseits, und die häufigen Verbindungen mit oberitalienischen Nachbardialekten andererseits 20 . Der Vorschlag von Pierre Bec, die Bezeichnung rhéto-roman oder ladin duch rhéto-frioulan zu ersetzen 21 , vermochte sich ebensowenig durchzusetzen wie Gamillschegs Alpenromanisch 22 . Immerhin nimmt Giuseppe Francescato, der die Sonderstellung des Friulanischen innerhalb des „Rätoromanischen“ (zu Recht) immer wieder betont hat, den Terminus in der Form Rheto-Frioulian wieder auf 23 . 12 Schweizer Lexikon 1991-1993. 13 S CHLAEPFER 1982. 14 Ed. L IA R UMANTSCHA , Chur 1996. Die Broschüre ist auf rätoromanisch (Rumantsch Grischun), deutsch, französisch, italienisch und englisch erhältlich. Die Gegenposition wird zwar erwähnt, aber in allzu vereinfachender Weise zurückgewiesen (p. 13). Differenzierter die 2. Auflage von 2004, p. 14. 15 C ATRINA 1983: 262 Karte: „Die Rätoromanen in Graubünden und Italien“. S CHLAEPFER 1982: 255s. In der Neuausgabe des Werkes (S CHLAEPFER / B ICKEL 2000: 211s.) wird diese Aussage korrigiert. 16 L AUSBERG 1969: 55-57. 17 V IDOS 1975: 350. Vidos erklärt die „questione ladina“ für endgültig erledigt, und zwar im Sinne der ascolianischen „unità ladina“. Nützlich sind die Literaturangaben zur „questione ladina“ p. 352 N64s. 18 R OHLFS 1952 und 1975. Cf. die Karte „Die rätoromanische Sprache vom Engadin bis Friaul“ (R OHLFS 1975: XV). Die verschiedenen Positionen der Sprachwissenschaft zum Thema werden hier immerhin referiert. 19 B OURCIEZ 1967: 605. 20 T AGLIAVINI 1982: 377-87, bes. 383. 21 B EC 1971: 312. Obschon dem Vorschlag die zutreffende Auffassung zugrunde liegt, dem Friu lanischen gebühre eine Sonderstellung innerhalb des sog. Rätoromanischen, ist die Prägung als Wortbildung unglücklich. F RANCESCATO 1982 übernimmt sie jedoch in seinem Überblick in Trends in Romance Linguistics and Philology in der englischen Version Rhaeto- Friulian. 22 G AMILLSCHEG 1961. 23 F RANCESCATO 1982. <?page no="20"?> 20 Das Lexikon der Romanistischen Linguistik (1988-2005) behandelt in Band III „Die einzelnen romanischen Sprachen und Sprachgebiete von der Renaissance bis zur Gegenwart“ 24 . Hier werden Friaulisch (Friulanisch), Ladinisch (Dolomitenladinisch) und Bündnerromanisch gesondert dargestellt, eine durchaus vernünftige Lösung. Ebenso wird in Band II,2, „Die einzelnen romanischen Sprachen und Sprachgebiete vom Mittelalter bis zur Renaissance“ 25 , verfahren. Allerdings muß ein Leser, der mit der Problematik der „questione ladina“ nicht vertraut ist, nach der Lektüre von Artikel 224 in Band III, der die Areallinguistik des Ladinischen behandelt, ziemlich verwirrt sein: In einem ersten Teil (224a), überschrieben „Problemi generali“, stellt der amerikanische Romanist Edward F. Tuttle das Ladinische, ganz im Sinne von Battisti, Salvioni und Pellegrini, in den Rahmen einer cisalpinen Romanität: „Retoromanzo (,ladino‘) come superstite del retoromanzo o cisalpino storico“ (737) 26 . Der zweite Teil des Artikels (224b), aus der Feder von Hans Goebl, behandelt „Synchronische und geotypische Aspekte“ (742-56). Goebl ist, wie schon gesagt, ein Verfechter der „unità ladina“, freilich unter ganz anderen methodologischen Voraussetzungen als seine Vorgänger. Seine Dialektometrie 27 ist ein technisch raffiniertes induktives Verfahren, das aufgrund von Bestandesaufnahmen von sprachlichen Merkmalen im Raum und deren quantitativer Verrechnung einen „Geotyp“, im konkreten Fall einen „rätoromanischen Geotyp“, erstellt. Der Geotyp ist ein methodisches Konstrukt, sozusagen ein virtueller Idealtyp, dem die einzelnen Dialekte je nach Anzahl der belegten Merkmale unterschiedlich nahe kommen 28 . Goebl betont, daß sein Gesichtspunkt ein rein innerlinguistischer und synchronischer sei 29 . Dem Leser des LRL bleibt es überlassen, sich aus diesen beiden ungleichen Hälften (man könnte nicht einmal behaupten, daß sie komplementär seien) ein eigenes Urteil zu bilden 30 . Dieses besonders auffällige Beispiel ist symptomatisch für die Gesamtsituation: Der Nicht-Spezialist sieht sich mit einer Fülle von widersprüchlichen, mehr oder weniger begründeten Positionen der Forschung konfrontiert, und der Laie, der auf die Auskunft von Lexika angewiesen ist, bekommt plakative Pauschallösungen vorgesetzt. 24 LRL III, 1989. 25 LRL II,2, 1995. 26 Der Artikel enthält übrigens verschiedene Ungenauigkeiten. So wird verschiedentlich / c/ , das Resultat der Palatalisierung von / k/ vor / a/ , als / t ʃ / transkribiert. Daß das Surselvische als „tschalover“ oder „tschontscha“ bezeichnet wird, zeugt auch nicht gerade von Vertrautheit mit der Materie. 27 Cf. G OEBL 1984, 1986, K REFELD 1994. Cf. auch unten p. 24ss. 28 Cf. K REFELD 1994: 263. 29 G OEBL 1989: 744, G OEBL 1990: 236s. 30 Zudem findet er auch an anderen Stellen des LRL Äußerungen zur „questione ladina“, so III: 720s. (H EILMANN / P LANGG ). <?page no="21"?> 21 Selbstverständlich sind in der Diskussion um die „questione ladina“ der letzten Jahre auch klärende Voten zu verzeichnen 31 . Dennoch scheint es mir notwendig, an dieser Stelle ein paar grundsätzliche Überlegungen anzustellen. Die „questione ladina“ ist gelegentlich als obsolet bezeichnet worden 32 . Daß sie heute nicht mehr „virulent“ ist, sondern vor einer sachbezogenen Forschung in den Teilgebieten Bündnerromanisch, Dolomitenladinisch und Friulanisch in den Hintergrund getreten ist, halten H OLTUS / K RAMER 1986: 2s. zu Recht fest. Es läßt sich aber nicht wegdiskutieren, daß die gegensätzlichen Positionen nach wie vor bestehen (cf. das oben zu Art. 224 in LRL III Gesagte) und daß die Polemik, trotz entgegengesetzten Beteuerungen der Polemisierenden, immer noch nicht zur Ruhe gekommen ist 33 . Drei zentrale Problemkreise, denen der Schluß dieses einleitenden Kapitels gewidmet sein soll, zeichnen sich in der gesamten Diskussion um die „questione ladina“ ab: 1) die Scheidung resp. Vermengung linguistischer und extralinguistischer Argumentation, 2) die Problematik linguistischer Typologie, 3) das Problem der Terminologie. 1) Die Scheidung resp. Vermengung linguistischer und außerlinguistischer Argumentation Alle Fragestellungen innerhalb der „questione ladina“, die mit dem Status des Rätoromanischen (wie man diesen Begriff auch immer definieren mag) als „Sprache“ (im Gegensatz zu „Dialekt“) befaßt sind, betreffen nicht Innersondern Außerlinguistisches. Ob ein gewisses Dialektgebiet als Teilgebiet eines größeren Sprachgebiets oder als Territorium einer eigenen „Sprache“ eingestuft wird, ist nicht von innerlinguistischen, sondern von - im weitesten Sinne - historischen Faktoren abhängig. Zwei benachbarte Dialektgebiete, die von rein linguistischer Warte aus große Affinität aufweisen, können zwei verschiedenen „Sprachen“ (im Sinne von Coserius „historischer Sprache“ 34 ) angehören, wenn sie sich in je verschiedenem historischem Kontext, mit verschiedenen politischen und kulturellen Schicksalen, zu Einheiten entwickelt haben, die von den Sprechern als solche empfunden werden. Die in dergestalt 31 Dazu würde ich einige Äußerungen von H. Goebl zählen, so z.B. G OEBL 1984, referiert und kritisch analysiert bei H OLTUS / K RAMER 1986: 10ss. 32 So von V IDOS 1968: 350. 33 Goebl und Pellegrini pflegen sich gegenseitig nicht (oder äußerst selten) zu zitieren. Dafür fehlt es bei beiden nicht an Sticheleien gegen das andere Lager (G OEBL 1990: 217 „Battisti und Konsorten“, P ELLEGRINI 1991: 45 „chi è ormai l’arbitro per qualsiasi questione relativa al ,retoromanzo‘“; cf. auch den unmittelbar folgenden Passus), trotz Erklärungen wie „bisogna … affrontare qualsiasi discussione senza un briciolo di passionalità“ (P ELLEGRINI 1991: 1). 34 Cf. C OSERIU 1988: 280. <?page no="22"?> 22 „geeinten“ Gebieten gesprochene Sprache wird dann von den Sprechern als Identifikationsfaktor verstanden: sie haben ein „eigenes Sprachbewußtsein“. Umgekehrt kann ein Gebiet, das in seinem Innern markante linguistische Divergenzen aufweist, verschiedene Dialekte mit beträchtlichem Abstand, aufgrund seiner geschichtlichen Entwicklung zu einer politisch-kulturellen Einheit werden, die das Entstehen eines gemeinsamen Sprachbewußtseins ermöglicht. Auf unseren Fall angewendet: Für die Frage, ob das Bündnerromanische ein italienischer Dialekt sei oder eine eigene romanische Sprache (so die Fragestellung, die in der ersten Jahrhunderthälfte die Gemüter erhitzte), ist nicht der größere oder kleinere Abstand zwischen bündnerromanischen und alpinlombardischen Dialekten ausschlaggebend. Entscheidend ist vielmehr das Selbstverständnis der Bündner Romanen, das auf der historisch-kulturellen Eigenentwicklung Graubündens beruht. Daß auf der (geographisch gesehen) horizontalen Ebene zwischen den drei Sprachgebieten Bündnerromanisch, Dolomitenladinisch und Friulanisch keinerlei historische, politische und kulturelle Gemeinsamkeit und dementsprechend auch kein gemeinsames Selbstverständnis besteht, braucht wohl nicht eigens bewiesen zu werden. Hans Goebl hat die Vermengung von linguistischen und außerlinguistischen Gesichtspunkten in seinen Beiträgen zur „questione ladina“ verschiedentlich kritisiert 35 . Daß die Verteidiger der bündnerromanischen Unabhängigkeit, allen voran Robert v. Planta und Jakob Jud, diese heute selbstverständliche methodische Scheidung nicht explizit vollzogen haben, obschon sie ihnen wahrscheinlich intuitiv einsichtig war 36 , läßt ihre Argumentation aus heutiger Sicht als reichlich inkohärent und wenig überzeugend erscheinen 37 . 2) Die Problematik linguistischer Typologie Während die Frage nach dem soziolinguistischen Status der Gebiete, die in der „questione ladina“ zur Debatte stehen, leicht dahingehend zu beantworten ist, daß von einer übergreifenden „rätoromanischen“ oder „ladinischen“ 35 G OEBL 1984: 208ss. Cf. auch L IVER 1987: 54s. 36 Cf. Jud 1917: 141ss. zum Verhältnis zwischen wissenschaftlich festgestellter Mundartgruppe und Literatursprache eines Landes. 37 J UD 1917 beginnt seine Widerlegung der Thesen Salvionis (S ALVIONI 1917) mit der Diskussion des keltischen Substrats im Bereich der Ortsnamen, das laut Salvioni die Rätoromania mit der Lombardei verbinden sollte. Die Zurückweisung dieser These beruht auf der Aussage, daß keltische Ortsnamen in Graubünden weitgehend fehlen. Der Schluß, daß „nach der Eroberung des Landes durch die Römer die alteinheimische Bevölkerung (das wären die Räter! R.L.) sich eben bis heute zum großen Teil unverfälscht erhalten hat“ (134), wird durch keinerlei positive Argumente gestützt. In der Folge (135-41) werden punktuelle linguistische Fakten zur Widerlegung der Auffassung Salvionis diskutiert. <?page no="23"?> 23 Einheit keine Rede sein kann, liegen die Dinge auf rein linguistisch-dialektologischer Ebene komplizierter. Ist es gerechtfertigt, aus dialektologischer Sicht von einem rätoromanischen (ladinischen) Typus zu sprechen? Die Antwort auf diese Frage hängt von den methodischen Voraussetzungen einerseits und von der Interpretation der Daten (der als relevant betrachteten Sprachzüge) andererseits ab. Dabei ist nach dem Verständnis des Begriffs „Typologie“ zu fragen. Ascoli definiert die „unità ladina“, die nach Goebl nicht „Einheitlichkeit“ (eine Qualität), sondern „Einheit“ (eine Sache, Gruppe, Klasse) bedeutet 38 , als einen Typus, der durch eine spezifische Kombination gewisser Merkmale konstituiert wird: Ma il distintivo necessario del determinato tipo sta appunto nella simultanea presenza o nella particolar combinazione di quei caratteri 39 . Es stellt sich die Frage nach der Auswahl der Merkmale. Wieviele Merkmale braucht es, um einen Typus zu definieren, und worin besteht die „particolar combinazione“? Gibt es eine Hierarchisierung dieser Merkmale (signifikantere und weniger signifikante)? Durchgeht man die Beiträge der Forschung, die sich für eine „unità ladina“ im Sinne Ascolis stark machen, ergibt sich in älterer Zeit (vor dem Auftreten der Dialektometrie) ein ziemlich beschränktes Inventar von Zügen, die als typologisch relevant angesehen werden. Die Kriterienlisten der einzelnen Forscher divergieren im übrigen beträchtlich. Allen gemeinsam sind nur gerade drei Züge, die das Rätoromanische/ Ladinische als eine in sich zusammenhängende und vom benachbarten oberitalienischen Gebiet abgrenzbare Gruppe kennzeichnen: 1. Erhaltung des auslautenden - S 2. Erhaltung der Nexus von Konsonant + L ( KL , GL , PL , BL , FL ) 3. Palatalisierung von K , G vor A40 . Der Gesichtspunkt bei der Auswahl dieser Kriterien ist ganz klar ein historischer: Die Züge 1 und 2 betreffen ein konservatives Verhalten der untersuchten Dialekte, welche an Lautverhältnissen des Lateinischen festhalten, die in andern romanischen Sprachgebieten verändert worden sind. Zug 3 betrifft eine Innovation gegenüber dem Lautstand des Lateinischen. Verbleibt man auf dieser Ebene der sprachhistorischen Argumentation, auf der sich auch Ascoli bewegte 41 , kommt man nicht um die Schlußfolgerung herum, daß „das Rätoromanische“ eine Randzone im Sinne von Matteo Bartolis „norme areali“ 42 darstellt, welche ältere Sprachzustände bewahrt, im 38 G OEBL 1990: 223ss. 39 A SCOLI 1876: 387. 40 Cf. L ANG 1982: 214. 41 „La continuità della zona ladina più non sussiste“ (A SCOLI 1873: 1). 42 Cf. V ARVARO 1980: 227ss. <?page no="24"?> 24 Gegensatz zu Gebieten der „inneren Romania“. Die Randzonentheorie kann für die Züge 1 (Erhaltung von - S ) und 2 (Erhaltung der konsonantischen Nexus mit L ) in Anspruch genommen werden 43 . Zug 3 (Palatalisierung von K , G vor A ) ist schwieriger zu beurteilen, weil Herkunft und Alter des Sprachwandels im fraglichen Gebiet umstritten sind 44 . Für alle drei Züge lassen sich historische Verbindungen zwischen dem „rätoromanischen“ und dem südlich angrenzenden oberitalienischen Dialektgebiet herstellen in dem Sinne, daß die betreffenden Erscheinungen, die heute das „Rätoromanische“ charakterisieren, in früherer Zeit auch für die oberitalienischen Nachbargebiete nachweisbar sind, während das heutige Erscheinungsbild dieser ursprünglich galloitalienischen Dialektgebiete durch Einflüsse aus dem Süden, die eine zunehmende Toskanisierung bewirkten, verändert worden ist. Diese Sicht der Dinge wurde und wird von den „Battistianern“ vertreten, heute in erster Linie von G.B. Pellegrini 45 , aber auch von J. Kramer 46 , E.F. Tuttle 47 , Haiman/ Benincà 48 und anderen. Tuttle stellt im oben (p. 20) zitierten Artikel des LRL den einschlägigen Abschnitt unter den Titel „Retoromanzo (o ,ladino‘) come superstite del romanzo cisalpino storico“, eine Formel, die den „battistianischen“ Ansatz prägnant zusammenfaßt. Ähnlich hatte schon W. v. Wartburg die Einheit der rätoromanischen Mundarten eine „negativ-passive“ genannt 49 . Auf einer ganz anderen Ebene als der bisher dargestellte Ansatz, der auf sprachhistorischer Basis operiert, liegt die von Hans Goebl praktizierte Dialektometrie. Goebl, der sich selbst als Ascolianer bezeichnet, hat verschiedentlich betont, daß seine Methode der Dialektometrie eine exklusiv synchronische und innerlinguistische sei 50 . Sie ist induktiver Natur (es wird von sprachlichen Fakten, die im AIS belegt sind, ausgegangen) und sie basiert auf einem numerisch-statistischen Verfahren. Ziel der Dialektometrie ist die Herausarbeitung von sogenannten Geotypen, d.h. räumlich definierten sprachlichen Einheiten, die eine bestimmte Zahl von Merkmalen gemeinsam haben. „Gemeinsam haben“ bedeutet nicht, daß alle Merkmale in allen für den jeweiligen Geotyp berücksichtigten Gebieten gegenwärtig wären. Vielmehr ist der Geotyp, nach Goebl, ein „typologisch relevantes Konstrukt“, das „erkenntnistheoretisch auf einem höheren Niveau liegt als die die Daten- 43 Die Erhaltung von - S ist natürlich für die ganze Westromania charakteristisch. Innerhalb des norditalienisch-alpinen Raums muß sie als Archaismus gewertet werden. 44 Cf. P ELLEGRINI 1991: 35, der der Ansicht von S CHMID 1956 und 1980 zustimmt, wonach der Wandel sich von der Poebene aus nach Norden verbreitet hätte. Cf. unten p. 168. 45 Cf. P ELLEGRINI 1991. 46 Z.B. K RAMER 1971. 47 T UTTLE 1989. 48 H AIMAN / B ENINCÀ 1992. 49 W ARTBURG 1950: 149: „So könnte man die Einheit der rätoromanischen Mundarten eher als eine negativ-passive bezeichnen“. 50 Z.B. G OEBL 1989: 744. <?page no="25"?> 25 bank konstituierenden N Objekte (d.h. die betreffenden Dialekte, R.L.) und p Merkmale (die berücksichtigten Sprachzüge, R.L.)“ 51 . Goebl arbeitet mit einer Auswahl von Merkmalen, die er als für den Geotyp konstitutiv betrachtet. In G OEBL 1989 sind es 18 Merkmale, in G OEBL 1990 deren 80. Die Präsenz dieser Merkmale in den untersuchten Dialektgebieten wird kartographisch anschaulich sichtbar gemacht. Es zeigt sich auf diesen Karten, daß die verschiedenen Ortsmundarten in bezug auf einzelne oder kombinierte Merkmale einem „rätoromanischen Idealtyp“ mehr oder weniger nahe kommen: Man erkennt deutlich die allgemeine Abnahme des Grades der Rätizität von West nach Ost sowie das interferentiell gestufte Abfallen der Rätizität - besser wohl: der „Rätoromanität“ - zwischen den drei Blöcken (Graubünden, Tirol-Trentino-Veneto, Friaul) einerseits und nach Süden hin andererseits. 52 Es stellt sich die Frage, ob die Resultate der Dialektometrie die These von der „unità ladina“ im Sinne Ascolis zu stützen oder gar zu beweisen vermögen. Hans Goebl ist davon überzeugt 53 . Andererseits fällt auf, daß sich die Vertreter der entgegengesetzten Position überhaupt nicht mit der Dialektometrie auseinandergesetzt haben 54 . Umso wertvoller ist der Diskussionsbeitrag von Thomas Krefeld in Ladinia 18, „Der surselvische Wortschatz, die questione ladina - und die quantitative Arealtypologie“ 55 . Krefeld anerkennt durchaus den heuristischen Wert der Dialektometrie, meldet jedoch gravierende Kritik an der Relevanz der Methode für eine typologische Abgrenzung des „Rätoromanischen“ an. Seine Einwände sind knapp zusammengefaßt die folgenden: 1. Die Dialektometrie versteht sich als eine Methode, die auf synchronisch erfaßten Daten beruht. Es ist aber nicht zu übersehen, daß die einzelnen Merkmale historisch definiert sind („Erhaltung von …“, „Palatalisierung von …“ etc.). Im Bereich des Lexikons wird von der Etymologie ausgegangen. 2. Die Daten der Dialektometrie sind nach substantiellen (materiellen), nicht nach funktionalen Kriterien ausgewählt. Es wird nur das Vorkommen eines Merkmals, nicht aber dessen systematischer Status registriert. 3. Im „Geotyp“ der Dialektometrie werden primäre Raumstrukturen zu sekundären übergreifenden Arealen verrechnet. Die diatopische Variation (z.B. zwischen Surselvisch und Engadinisch, Engadinisch und Dolomitenladinisch etc.) wird zugunsten eines quantitativ fundierten Konstrukts verwischt. Fazit dieser Kritik: der Geotyp der Dialektometrie ist aus linguistischer Sicht ein Hybrid. Eine auf dieser Basis definierte „unità ladina“ ist ein Konstrukt 51 G OEBL 1990: 221. 52 G OEBL 1989: 746. 53 „Quod erat tandem ad oculos demonstrandum“ (G OEBL 1990: 238). 54 Cf. K REFELD 1994: 263. 55 K REFELD 1994. <?page no="26"?> 26 sui generis, das zwar durchaus seinen Erkenntniswert auf der Ebene der Areallinguistik hat, dessen Nützlichkeit auf typologischer Ebene aber fraglich erscheint 56 . Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß weder die Kriterienlisten der älteren, historisch ausgerichteten Dialektologie noch die Konstrukte der Dialektometrie den Anspruch erheben können, eine typologisch relevante Einheit der rätoromanischen oder ladinischen Dialekte zu definieren. Mit „typologisch relevant“ ist gemeint, daß nicht einzelne (gleichgültig, wie zahlreiche) Merkmale auf der Ebene der materiellen Sprachbeschreibung als konstitutiv für den Typus erachtet werden, sondern vielmehr strukturelle und funktionale Verfahren, die auf einer höheren Abstraktionsebene liegen 57 . An dieser Stelle muß schließlich die Frage gestellt werden, ob die Typologie überhaupt für die Abgrenzung von „Sprachen“ relevant sein könne 58 . 3) Das Problem der Terminologie Die bisherigen Ausführungen haben zu zeigen versucht, daß es weder vom innerlinguistischen noch vom soziolinguistischen Standpunkt aus ein Bedürfnis oder eine Rechtfertigung gibt für eine gemeinsame Bezeichnung der drei Sprachgebiete Bündnerromanisch, Dolomitenladinisch und Friulanisch. Andererseits läßt sich nicht wegdiskutieren, daß der Terminus „rätoromanisch“ (resp. rhéto-roman, retoromanzo, Rhaeto-Romance 59 etc.) sich seit Gartner im wissenschaftlichen und von da aus auch im allgemeinsprachlichen Gebrauch 60 etabliert hat. Eine über hundertjährige Tradition läßt sich 56 In einer neueren Stellungnahme stellt Krefeld die „questione ladina“ in einen größeren wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhang (K REFELD 2003). 57 Cf. W UNDERLI 1989c: 314: „Damit ein Ansatz die Bezeichnung typologisch verdient, muß er definitionsgemäß über Daten mit Konstruktcharakter operieren, die auf einer Abstraktionsebene jenseits des Systems liegen“. Bei Goebl liegen nicht die verarbeiteten Daten, sondern erst deren (rein rechnerisch hergestellte) Synthesen auf einer höheren Abstraktionsebene. 58 Auch der in Band 7 des LRL enthaltene Artikel von A. M. Kristol zur „Historischen Klassifikation des Rätoromanischen“ (K RISTOL 1998) vermag nichts an der hier vertretenen Sicht zu ändern. Man vermißt dort einen Hinweis auf die grundsätzliche Irrelevanz rein linguistischer Gegebenheiten für die Abgrenzung von Sprachen (im Sinn von historischen Sprachen). Man vermißt auch eine kritische Position gegenüber den deutschsprachigen Romanisten, die die „unità ladina“ verteidigen, während „Salvioni, Battisti und ihre Schüler“ als „weitgehend von unwissenschaftlichen, sentimentalen oder politischen Argumenten getragen“ charakterisiert werden (941). Der Schluß des Artikels, der den dialektometrischen Untersuchungen Goebls den Nachweis der „typologischen Originalität des Rätoromanischen in bezug auf den norditalienischen Raum“ zugesteht (946), ist zumindest schwach begründet. Die Kritik von K REFELD 1994 war dem Autor zur Zeit der Redaktion wohl noch nicht zugänglich. 59 Das unetymologische h im Französischen und Englischen ist ein ebenso überflüssiger Zopf wie dasjenige der Rhätischen Bahn! 60 Diese Aussage gilt in erster Linie für das deutsche Sprachgebiet. Sie ist allerdings dahingehend zu relativieren, daß nur ein sehr kleiner Teil der Deutsch Sprechenden überhaupt je mit dieser Thematik konfrontiert ist. <?page no="27"?> 27 nicht ohne weiteres aus der Welt schaffen, auch nicht mit guten Argumenten. So bleibt denn jedem Forscher, der sich mit dem Gebiet befaßt, die Verpflichtung, seine eigene Terminologie klar zu definieren und konsequent anzuwenden 61 . Im folgenden wird „rätoromanisch“ synonym zu „bündnerromanisch“ verwendet, d.h. auf die innerhalb des schweizerischen Kantons Graubünden gesprochenen romanischen (nicht italienischen) Dialekte beschränkt 62 . Wenn von allen drei Sprachgruppen die Rede ist, die Ascoli als „ladino“, Gartner als „rätoromanisch“ bezeichnet, wird von „bündnerromanisch, dolomitenladinisch und friulanisch“ gesprochen. Diese zugegebenermaßen etwas umständliche Sprachregelung ist die Konsequenz der oben dargelegten Zweifel an der Berechtigung einer übergreifenden Benennung. Der Terminus „rätoromanisch“ hat eine lange Geschichte, die weit über Gartner, der ihm zum Durchbruch verholfen hat, zurückgeht. Alexi Decurtins hat sie in der Studie „Das Rätoromanische und die Sprachforschung“ anschaulich geschildert 63 . Im Verlaufe dieser Geschichte (wie das auch heute noch der Fall ist) wurde der Bestandteil „räto-“ in verschiedener Weise verstanden: teils als „vom Volk der alten Räter abstammend“, teils als „zur römischen Provinz Raetia gehörig“. Beide Interpretationen, dies sei nebenbei bemerkt, eignen sich natürlich schlecht für eine auch die Dolomiten und vor allem das Friaul einschließende Bezeichnung 64 . E.Th. Elwert macht darauf aufmerksam, daß in der alten Eidgenossenschaft der Begriff „Alt Fry Raetien“ für den späteren Kanton Graubünden geläufig war, daher „rätisch“ ursprünglich soviel wie „bündnerisch“ bedeute 65 . Von da stammt nach Elwert die Bezeichnung „rätoromanisch“ für die romanische Sprache Graubündens 66 . 61 Dies die Empfehlung von H OLTUS / K RAMER 1986: 3, die eine im wesentlichen mit dem oben Dargelegten übereinstimmende Position vertreten. 62 Streng genommen ist auch der geläufige Terminus „bündnerromanisch“ unexakt, insofern als in Graubünden nicht nur rätoromanische, sondern auch alpinlombardische Dialekte (im Bergell, Puschlav, Misox und Calancatal) gesprochen werden. 63 D ECURTINS 1965. 64 Das Friaul gehörte nie zu Rätien. Die Westgrenze der Provinz Raetia dürfte mitten durch das dolomitenladinischen Gebiet verlaufen sein. Mit diesem Argument lehnte schon Ascoli die gartnersche Terminologie ab, in einer überdimensionierten Fußnote der „Annotazioni sistematiche al Barlaam e Giosafat soprasilvano“ (A SCOLI 1880-83: 563ss.), in der er in subtiler Polemik, die sich vordergründig vornehm gibt, seiner Frustration über eine ungenügende Würdigung der „Saggi ladini“ seitens Gartners Ausdruck verleiht. Cf. G AZDARU 1962. 65 E LWERT 1977: 106. 66 E LWERT 1977: 106 meint, die Bezeichnung „Alt Fry Rätien“ sei eine humanistische Erfindung („il termine Alt Fry Rätien è indubbiamente di origine umanistica o preumanistica“). Richtig ist wohl, dass die Humanisten dem Namen Raetia, der seit der Römerzeit für das spätere Graubünden galt (nach dem Untergang Westroms: Raetia Curiensis), zu neuem Leben verhalfen. Cf. P IETH 1945: 1. <?page no="28"?> 28 Für das heutige Verständnis des Terminus ist diese historische Erklärung kaum mehr relevant. Für die Anhänger der „unità ladina“ bezeichnet er die Gesamtheit der alpinromanischen Dialektgruppe, die das Bündnerromanische, das Dolomitenladinische und das Friulanische umfaßt. Für die Vertreter einer abweichenden Sichtweise (es ist die hier zugrundeliegende) bezeichnet „rätoromanisch“ einzig die Dialekte Romanischbündens (ausschließlich der alpinlombardischen Dialekte der Bündner Südtäler). Diese Verwendung von „rätoromanisch“ entspricht zugleich dem „profanen“ (nichtwissenschaftlichen, umgangssprachlichen) Gebrauch in der Schweiz 67 . 67 Für eine abweichende Sicht der Dinge cf. K RISTOL 1998: 938-40. <?page no="29"?> 2. Die Forschung zum Bündnerromanischen 2.0 Vorbemerkung Die folgenden Hinweise auf die bisherige Forschung zum Bündnerromanischen sollen dem Leser den Einstieg in diesen Teilbereich der Romanistik erleichtern. Es wird keineswegs eine vollständige Bibliographie angestrebt. Im Rahmen einer nach Problembereichen gegliederten Übersicht über die Forschung zum Bündnerromanischen wird in erster Linie auf Arbeiten hingewiesen, die Wesentliches zum jeweiligen Forschungsgegenstand beitragen. Detailliertere Angaben sind in den folgenden Kapiteln zu finden, die einzelnen Problembereichen gewidmet sind. Die hier angeführten neuesten Darstellungen, die die Ergebnisse der Forschung zu gewissen Fragestellungen synthetisieren, können als Ausgangspunkt zu weiteren Studien dienen. Auf dem Hintergrund der bestehenden Forschung zeichnen sich Lücken und Desiderata ab, Gebiete und Probleme, die noch auf eine vertiefte Behandlung warten. Eine Vorbemerkung: Die Forschung zum Bündnerromanischen der letzten ca. 100 Jahre spiegelt den Gang der allgemein romanistischen (und überhaupt der linguistischen) Forschung mit einer zeitlichen Verzögerung, die man als provinzielle Verspätung verstehen mag. Wie in der Forschung zu den übrigen romanischen Sprachen haben sich auch in der Forschung zum Bündnerromanischen die Perspektiven und die Schwerpunkte im Laufe der Zeit verändert. Die Forschung zum Rätoromanischen, die wir aus heutiger Sicht als wissenschaftlich bezeichnen können, beginnt mit Ascoli und Gartner 1 . Entsprechend der Ausrichtung der damaligen Linguistik auf eine diachronisch bestimmte Sprachbeschreibung (die romanischen Sprachen als moderne Fortsetzer des Vulgärlateins) stellen Ascoli und Gartner die rätoromanischen Dialekte als Abkömmlinge einer alpinen Latinität dar, die weitgehend durch die Bewahrung eines archaischen Sprachzustands charakterisiert ist. Verbunden mit der diachronisch geprägten Sprachkonzeption ist in jener Zeit eine besonders hohe Bewertung von Zügen, die Archaizität bezeugen. Diese Haltung bestimmt die Forschung Jakob Juds und seiner Schüler, die in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts (und z.T. darüber hinaus) zahlreiche 1 Diese Aussage ist wohl etwas zu pauschal. Sicher kann man auch früheren Arbeiten zum Rätoromanischen die Wissenschaftlichkeit nicht durchweg absprechen (cf. D ECURTINS 1965); aber Ascoli und Gartner sind zweifellos die wichtigsten Autoren der Frühphase der rätoromanischen Studien. <?page no="30"?> 30 wichtige Arbeiten zum Bündnerromanischen hervorgebracht hat, und sie läßt sich bis in Publikationen neuerer Zeit verfolgen 2 . Die Hochschätzung von Alteinheimischem geht natürlich mit der Sorge um das bevorstehende Verschwinden von Dialekten einher, die zu jener Zeit einen wesentlichen Anstoß zur Entstehung großangelegter sprachgeographischer Werke gab, so des ALF, des AIS, des Glossaire des patois de la Suisse romande und des Dicziunari rumantsch grischun. In der Einleitung zum ersten Band des DRG liest man: Entsprechend der Natur des Werkes nimmt die Behandlung des einheimischen a l t e r e r b t e n W o r t g u t e s weitaus den breitesten Raum ein; doch mußten auch zahlreiche junge interromanische oder italienische L e h n w ö r t e r, die im schriftlichen und nicht selten auch im mündlichen Ausdruck Wurzel faßten, behandelt werden (DRG 1: 11). Von den Germanismen, die im Bündnerromanischen eine viele größere Rolle spielen als die „interromanischen oder italienischen Lehnwörter“, ist hier bezeichnenderweise nicht die Rede 3 . Die Arbeiten zum Bündnerromanischen, die von Jakob Jud angeregt wurden, bewegen sich allesamt innerhalb eines Wissenschaftsparadigmas, das wesentlich der im 19. Jahrhundert begründeten historischen Sprachwissenschaft verpflichtet ist. Strukturalistische Gesichtspunkte tauchen in der Forschung zum Bündnerromanischen seit den 50er Jahren gelegentlich auf 4 , und soziolinguistische Untersuchungen werden, nach dem ersten Anstoß durch die Dissertation von Uriel Weinreich 1952, in den späten 70er und den 80er Jahren häufiger 5 . 2.1 Bibliographien Einen guten Zugang zu neueren Forschungen zum Bündnerromanischen geben die beiden ersten Bände der Publikationsreihe Romanica Raetica (Bd. 1 und 2) mit dem Titel Studis romontschs 1950-1977 6 . Der Untertitel macht klar, daß nicht nur linguistische und literarische Arbeiten, die Romanischbünden betreffen, berücksichtigt sind: „Bibliographisches Handbuch zur bündnerromanischen Sprache und Literatur, zur rätisch-bündnerischen 2 Cf. z.B. den Beitrag von F. Lutz in S CHLAEPFER 1982, vor allem 256ss. 3 Das DRG hat seine Praxis betreffend Aufnahme von (auch neueren) Germanismen seit seinen Anfängen deutlich geändert. In den letzten Bänden ist die puristische Haltung der Gründerzeit einer objektiven Darstellung der Gegenwartssprache gewichen. 4 Z.B. bei L ÜDTKE 1955, K RAMER 1972, T EKAV ˇ CIC ´ 1972/ 73, 1974. 5 Cf. K RISTOL 1989. 6 Vol. 1 D ECURTINS et al. (ed.) 1977, vol. 2 S TRICKER (ed.) 1978. <?page no="31"?> 31 Geschichte, Heimatkunde und Volkskultur mit Ausblicken auf benachbarte Gebiete“ 7 . Die Rätoromanische Bibliographie von Maria Iliescu und Heidi Siller-Runggaldier von 1985 beschränkt sich dagegen auf die sprachwissenschaftliche Forschung 8 . Andererseits umfaßt sie Studien nicht nur zum Bündnerromanischen, sondern auch zum Dolomitenladinischen und zum Friulanischen. Eine Fortsetzung, welche die Jahre 1986-1997 umfaßt, ist 1998 erschienen 9 . Zum Bündnerromanischen erscheint jährlich in den Annalas da la societad retorumantscha (ASRR) eine detaillierte Bibliographie, die, wie die Studis romontschs von 1977/ 78, neben der Linguistik auch Literatur, Geschichte, Kulturgeschichte und Volkskunde berücksichtigt. Ferner führt die Zeitschrift Vox Romanica in ihrer Chronik eine Abteilung „Neue Publikationen und laufende Arbeiten zum Bündnerromanischen“. 2.2 Forschungsüberblicke In Band 3 der Serie Trends in Romance Linguistics and Philology, erschienen 1982, zeichnet G. Francescato ein Bild der Forschung zum Bündnerromanischen, Dolomitenladinischen und Friulanischen unter dem Titel „Rhaeto- Friulian“ 10 . In einer Übersicht so breiter Ausrichtung vermißt der Spezialist eines Teilgebiets gezwungenermaßen eine vertiefte Behandlung des eigenen Forschungsgegenstandes 11 . Alexi Decurtins erweitert zwei Jahre später den auf das Bündnerromanische bezogenen Teil des Überblicks von Francescato in seinem Beitrag „Die Erforschung des Bündnerromanischen“, der die Zeit von 1950-1983 umfaßt (D ECURTINS 1984). L IVER 1987 ergänzt diesen Forschungsbericht durch eine Aktualisierung, die gewisse Themenbereiche (Romanisierung, Stellung des Bündnerromanischen in der Romania) in den Vordergrund stellt und auf Desiderata in der bündnerromanischen Forschung (so eine umfassende Sprachgeschichte) hinweist. Seit 1986 veröffentlichen G. Holtus und J. Kramer periodisch Forschungsberichte zum „Rätoromanischen“. Bis heute sind deren sieben erschienen 12 . 7 Anderer Natur ist die Bibliografia retoromontscha, ed. L IGIA R OMONTSCHA , welche die in romanischer Sprache gedruckten Werke von 1552 bis 1952 verzeichnet: vol. 1, 1938: 1552-1930, vol. 2, 1956: 1931-1952. 8 „In die Bibliographie aufgenommen wurden nur Arbeiten, die streng sprachwissenschaftlich ausgerichtet sind und auf sprachliche Probleme ausschließlich des Rätoromanischen Bezug nehmen“ (I LIESCU / S ILLER 1985: 5). 9 S ILLER -R UNGGALDIER / V IDESOTT 1998. 10 F RANCESCATO 1982. 11 Zudem irritieren Fehlschreibungen von bündnerischen Namen in Text und Bibliographie, ein verbreiteter Mißstand in fremdsprachlichen Publikationen! 12 H OLTUS / K RAMER 1986, 1987, 1991, 1994, 1997, 2002, 2005. <?page no="32"?> 32 2.3 Gesamtdarstellungen Es gibt bis heute keine befriedigende Gesamtdarstellung des Bündnerromanischen. Ascolis „Saggi ladini“ (A SCOLI 1873) beschränken sich auf die (historische) Phonetik. Die oft als „Annotazioni soprasilvane“ zitierten Erweiterungen der „Saggi ladini“ auf Morphologisches und Lexikalisches, die Ascoli 1880-83 im 7. Band des Archivio glottologico unter dem Titel „Annotazioni sistematiche al Barlaam e Giosafat soprasilvano. Saggio di morfologia e lessicologia soprasilvana“ publizierte, befassen sich nur mit dem Surselvischen. Umfassender sind die Darstellungen Theodor Gartners, immer im Rahmen des Gesamträtoromanischen (G ARTNER 1882, 1904-06, 1910). Diese immer noch wertvollen Arbeiten, die freilich die Syntax völlig vernachläßigen (dazu unten p. 33ss.), sind inzwischen immerhin ungefähr hundert Jahre alt. Das Buch von John Haiman und Paola Benincà, The Rhaeto-Romance Languages, 1992 erschienen, ist der Versuch einer neuen Gesamtdarstellung auf dem Stand heutiger Forschung. Leider erfüllt es den Anspruch, die Arbeiten von Gartner zu ersetzen, nur beschränkt 13 . 2.4 Beschreibung von Teilbereichen 2.4.1 Phonetik/ Phonologie Die Lautlehre ist der bisher am eingehendsten behandelte Bereich der Sprachbeschreibung des Bündnerromanischen. Aus der Schule von Jakob Jud sind zahlreiche Monographien hervorgegangen, die den Lautstand einzelner Dialekte in einer sprachhistorischen Optik darstellen, die letztlich auf einer junggrammatischen Sprachkonzeption beruht. Dementsprechend wird nach den romanischen Resultaten der einzelnen lateinischen Laute gefragt. Diese Laute haben zwar weitgehend den Status von Phonemen, jedoch wird die Unterscheidung „phonetisch/ phonologisch“ in diesen Arbeiten noch nicht problematisiert. Als Klassiker unter den Monographien dieser Art können u.a. L UTTA 1923 (Bergün), S CHORTA 1938 (Müstair), G RISCH 1939 (Surmeir) gelten. Aus der Jud- Schule stammt auch P RADER -S CHUCANY 1970, Romanisch Bünden als selbständige Sprachlandschaft, eine Untersuchung, die neben der Phonetik/ Phonologie auch die Morphologie miteinbezieht 14 . 13 Cf. die Rezensionen von J. K RAMER (ZRPh. 111, 1995: 326-32) und R. L IVER (VRom. 54, 1995: 272-76). 14 Der Titel des Buches ist insofern irreführend, als hier nicht das Bündnerromanische in seiner Gesamtheit untersucht wird, sondern vielmehr das Surselvische als bündnerromanische „Kernzone“ dem alpinlombardischen Dialekt der Leventina gegenübergestellt wird. <?page no="33"?> 33 Neben diesen immer noch unentbehrlichen Arbeiten, die traditionellen Methoden verpflichtet sind, gibt es einige Versuche, die Phonologie des Bündnerromanischen in strukturalistischer Sichtweise zu untersuchen. Dazu gehören L ÜDTKE 1954/ 55, L ÜDTKE 1959 für das gesamte Bündnerromanische, K RAMER 1972 für das Surselvische 15 . Auch die Arbeiten von Theodor Ebneter zum Bündnerromanischen sind hier zu nennen 16 . Die Untersuchung von Wolfgang Eichenhofer, Diachronie des betonten Vokalismus im Bündnerromanischen seit dem Vulgärlatein (E ICHENHOFER 1989), bedient sich dagegen einer traditionellen Arbeitsweise 17 . Derselbe Autor hat 1999 eine umfassende Darstellung der historischen Lautlehre des Bündnerromanischen vorgelegt 18 . Wichtige, äußerst sorgfältig fundierte Beiträge zur (vorwiegend) historischen Phonetik/ Phonologie des Bündnerromanischen sind die Arbeiten von Heinrich Schmid, v.a. S CHMID 1956 und S CHMID 1985a. 2.4.2 Morphosyntax Die ältere Forschung pflegte die Teilbereiche Morphologie und Syntax gesondert zu behandeln. Heute ist es üblich (mindestens in den vom europäischen Strukturalismus geprägten Studien), der engen Verbindung von Form und Funktion durch den Begriff Morphosyntax Rechnung zu tragen. Wenn wir hier morphologische und syntaktische Arbeiten zum Bündnerromanischen unter dem Titel „Morphosyntax“ zusammen behandeln, so geschieht das einerseits in Anbetracht der erwähnten Wechselwirkung von Form und Funktion, andererseits aufgrund der Tatsache, daß manche Arbeiten, die sich als „morphologisch“ verstehen, relevant sind für Syntaktisches, und umgekehrt. Die Syntax gilt als das Stiefkind der bündnerromanischen Forschung. Tatsächlich ist dieser Bereich der Sprachbeschreibung im Vergleich zu den Studien zu Phonetik/ Phonologie einerseits und Lexik/ Etymologie andererseits noch wenig umfangreich. Die Schuld an dieser Situation wird oft Theodor Gartner in die Schuhe geschoben, weil er in seiner Rätoromanischen Grammatik erklärt hatte, eine Untersuchung der Syntax (wie auch der Wortbildung) der rätoromanischen Mundarten lohne sich nicht, da keine bedeutende Literatur vorliege, und da zudem die rätoromanische Syntax weitgehend durch Einflüsse des Italienischen und des Deutschen bestimmt sei 19 . Helmut Stimm, der zu den (nicht eben zahlreichen) Forschern gehört, die das Defizit an syntaktischen Studien zum Bündnerromanischen abzubauen begannen, weist jedoch in einem Beitrag von 1987 auf eine ganz andere Äußerung Gartners hin, die ein Interesse an der Syntax der gesprochenen Sprache formuliert: 15 Cf. ferner D ECURTINS 1984: 266. 16 Cf. E BNETER 1993. 17 Cf. die Rezension von Kramer, ZRPh. 112 (1996): 201-03 (K RAMER 1996a). 18 Cf. auch E ICHENHOFER 2009. 19 G ARTNER 1883: VII. <?page no="34"?> 34 „Die Syntax der gesprochenen Mundarten ist, wiewohl sie theoretisch interessanter wäre als die einer Litteratursprache, noch nicht viel erforscht worden“ 20 . Auskünfte zu Morphosyntaktischem sind in erster Linie in Grammatiken und Gesamtdarstellungen zu erwarten. Wie in der Rätoromanischen Grammatik von Gartner (1883) wird auch in den meisten praktischen Grammatiken und Schulgrammatiken die Syntax gegenüber der Morphologie vernachläßigt 21 . Eine Wende hin zu vermehrter Beachtung syntaktischer Phänomene läßt sich in A RQUINT 1964 und G ANZONI 1977 feststellen. Auch die ausführliche Grammatica sursilvana von Arnold Spescha (S PESCHA 1989), deren reiches Beispielmaterial besonders willkommen ist, räumt der Syntax einen angemessenen Platz ein. Haiman und Benincà betrachten das Syntaxkapitel ihrer Darstellung als den innovativsten Teil des Buches 22 . Von den älteren Arbeiten, die sich auf die Morphologie beschränken, sind vor allem D ECURTINS 1958 und M OURIN 1964 hervorzuheben. Decurtins liefert eine sorgfältige sprachhistorische Analyse der unregelmäßigen Verben des Bündnerromanischen. Mourin behandelt im Rahmen der Introduction à la morphologie comparée des langues romanes die Morphologie des Altsurselvischen und Altengadinischen (sowie des Dolomitenladinischen). T EKAV ˇ CI ´ C 1972/ 73 und 1974 ist die erste morphosyntaktische Beschreibung einer bündnerromanischen Varietät, des Surselvischen. Verschiedene Autoren haben sich in den letzten Jahrzehnten der vernachläßigten Syntax angenommen: A RQUINT 1979, Zur Syntax des Partizipiums der Vergangenheit im Bündnerromanischen mit Ausblicken auf die Romania. Peter Linders Grammatische Untersuchungen zur Charakteristik des Rätoromanischen in Graubünden (L INDER 1987) behandeln die Morphosyntax des Personalpronomens und des nominalen Syntagmas. Verschiedene Arbeiten zur Syntax vor allem des Surselvischen (teils auch des Engadinischen), und zwar mit besonderem Interesse für die gesprochene Sprache, verdanken wir Helmut Stimm 23 . Theodor Ebneter befaßte sich, nebst kleineren Arbeiten zur Syntax und Morphosyntax des Bündnerromanischen 24 , in einer gewichtigen Studie mit der Syntax des bündnerromanischen Futurs 25 . Die 1994 erschienene umfangreiche Syntax des gesprochenen Rätoromanischen desselben Autors (E BNETER 1994) hält leider nicht, was der Titel verspricht: Es handelt sich eher 20 G ARTNER 1904-06: 635, bei S TIMM 1987a: 95. 21 Cf. D ECURTINS et al. 1977: 17s., IL IESCU / S ILLER 1985: 45, 51, 54, 57, 59s. L IVER 1991 behandelt im syntaktischen Teil (85-98) nur ausgewählte Phänomene, die für den Lernenden besonders wichtig sind. 22 H AIMAN / B ENINCÀ 1992: 8. Cf. die Kritik von L IVER 1995c. 23 S TIMM 1973, 1976, 1986, 1987a, 1987b. 24 E BNETER 1993, Teil II. 25 E BNETER 1973. <?page no="35"?> 35 um eine geordnete Beispielsammlung als um eine eigentliche Darstellung der bündnerromanischen Syntax 26 . Einen gewichtigen Beitrag zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der bündnerromanischen Morphosyntax stellt die 2003 erschienene Dissertation von Matthias Grünert dar: Modussyntax im Surselvischen. Die Arbeit, die den Gebrauch von Tempus und Modus im surselvischen Verbalsystem (cf. unten p. 142ss.) in synchronischer und diachronischer Sicht untersucht, zeichnet sich durch sorgfältige Dokumentation und deren differenzierte Auswertung aus; die Resultate werden auf dem Hintergrund neuerer Forschung geprüft. 2.4.3 Lexik und Etymologie Ähnlich wie im Bereich Phonetik/ Phonologie lassen sich die Arbeiten zur Beschreibung des bündnerromanischen Wortschatzes in ältere, vorwiegend historisch ausgerichtete, und neuere, synchronisch konzipierte Studien einteilen. Der Artikel 227 des 3. Bandes des LRL, der die Lexik des Bündnerromanischen behandelt (L IVER 1989), informiert über die (damalige, aber heute nicht wesentlich veränderte) Forschungslage. Er enthält zudem Ansätze zu einer bisher nur schwach vertretenen synchronischen Beschreibung des bündnerromanischen Wortschatzes, die aufgrund von Wortfeldanalysen semantische Kategorien in die Untersuchung einbezieht. Die ältere Forschung interessierte sich in erster Linie für diejenigen Teile des bündnerromanischen Wortschatzes, die eine alte Latinität/ Romanität bewahren. Ein Klassiker dieser Ausrichtung ist Juds Aufsatz „Zur Geschichte der bündnerromanischen Kirchensprache“ (J UD 1919). Die onomasiologische Forschungsrichtung, wie sie in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts gepflegt wurde, hat eine Reihe von Arbeiten nach dem Muster „Die Bezeichnungen für x (eine Sache) in y (einem Dialekt, einer Sprache)“ hervorgebracht 27 . Die Tatsache, daß das Bündnerromanische seit dem Mittelalter in stetem intensivem Kontakt mit dem Deutschen stand, was sich unter anderem im Bereich der Rechtssprache auswirkte, wurde von der Forschung schon früh zur Kenntnis genommen (P ULT 1912, T UOR 1927). D ECURTINS 1993: I: 172-91 knüpft an diese Tradition an. Die Ausgabe der Rechtsquellen des Kantons Graubünden (S CHORTA / L IVER 1980-85) stellt eine reiche Materialbasis für weitere Studien auf 26 Cf. die sehr kritische Rezension von P OPOVICI 1995. Der Rückstand der syntaktischen Forschung gegenüber der Beschreibung anderer Teilbereiche des Bündnerromanischen spiegelt sich auch im Artikel „Grammatik“ in LRL III, den Stimm und Linder verfaßt haben. Möglicherweise handelt es sich um ein Mißverständnis zwischen Herausgebern und Autoren. Während die entsprechenden Artikel für das Friulanische (Benincà) und das Dolomitenladinische (Plangg) jeweils einen Teil der Syntax widmen, fehlt dieser Aspekt beim Bündnerromanischen ganz. Ein knapper bibliographischer Hinweis ist ein Zusatz der Herausgeber. 27 Cf. D ECURTINS et al. (ed.) 1977: 22ss. <?page no="36"?> 36 diesem Sektor dar. In einen weiterreichenden Zusammenhang stellt den bündnerromanischen Wortschatz S CHMID 1993 28 . In neuerer Zeit erfreut sich die Neologismenforschung einer gewissen Beliebtheit (cf. L IVER 1989: 802). Grundlage aller lexikologischen Studien sind natürlich, neben spezifischen Erhebungen zu einzelnen Themen, in erster Linie die Wörterbücher. Über die bündnerromanische Lexikographie orientieren D AZZI / G ROSS 1989. Als wichtige Ergänzung ist hier das Erscheinen des Handwörterbuchs des Rätoromanischen (HR, ed. B ERNARDI et al. 1994) nachzutragen. Neben den sogenannten praktischen Wörterbüchern zu den einzelnen Idiomen und dem monumentalen Dicziunari rumantsch grischun (DRG, cf. D AZZI / G ROSS 1989: 906ss.), das heute auf die Mitte des Alphabets zusteuert 29 , stellt das HR eine Synthese der bündnerromanischen Lexikographie dar. Der Untertitel lautet: „Wortschatz aller Schriftsprachen, einschließlich Rumantsch Grischun, mit Angaben zur Verbreitung und Herkunft“. Dieses Werk in drei Bänden, das ursprünglich als ein knappes etymologisches Wörterbuch konzipiert war, liefert ausser der Darstellung eines recht weit abgesteckten Grundwortschatzes aller bündnerromanischen Idiome und dessen etymologischer Erklärung in seinem detaillierten Indexteil (vol. 3) ein willkommenes Instrument für lexikologische und lexematische Studien 30 . 2001 hat Alexi Decurtins sein umfangreiches Niev vocabulari romontsch sursilvan-tudestg vorgelegt (D ECURTINS 2001). Gegenüber älteren Wörterbüchern zeichnet es sich nicht nur durch die Fülle der lexikalischen Informationen aus, die auch eine reiche Phraseologie beinhalten, sondern auch durch Hinweise auf andere bündnerromanische Varietäten und weitere benachbarte Spachen. Zudem wird jedem Artikel ein Etymologievorschlag beigefügt, außer in Fällen evidenter Germanismen. Das Wörterbuch unterscheidet sich von seinen Vorgängern auch durch eine weniger puristische Haltung: Germanismen, die im Sprachgebrauch Fuß gefaßt haben, werden nicht ausgeschlossen. Der Autor ist inzwischen mit einer Neubearbeitung des schon vergriffenen Wörterbuchs beschäftigt. Das Lexicon romontsch cumparativ wird der Einbettung des Bündnerromanischen in die sprachliche Nachbarschaft vermehrte Aufmerksamkeit schenken. Für den Wortschatz der Standardsprache Rumantsch Grischun existiert seit 1989 ein Langenscheidt-Wörterbuch (Rätoromanisch-Deutsch/ Deutsch-Rätoromanisch), dem 1993 das umfangreiche Pledari grond folgte 31 . Die Lexematik (Wortbildung) gehört im übrigen zu den bisher noch wenig bearbeiteten Bereichen der Sprachbeschreibung des Bündnerromanischen. In 28 Der Aufsatz „Romanischbünden zwischen Nord- und Südeuropa“ findet sich im A. Decurtins gewidmeten Bd. 106 der ASRR. Zu weiteren lexikologischen Arbeiten in diesem Band cf. H OLTUS / K RAMER 1997. 29 Stand März 1999: vol. 10, fasc. 133, K - LÀ . 30 Cf. die Rezension von L IVER 1995d: 276-79. 31 Schon 1985 war das Pledari rumantsch grischun-tudestg/ tudestg rumantsch grischun erschienen (ed. L IA R UMANTSCHA , Mustér). Das Pledari grond steht auch online zur Verfügung. <?page no="37"?> 37 den Artikeln 226 (S TIMM / L INDER 1989: 779-84) und 227 (L IVER 1989: 795-99) des 3. Bandes des LRL wird die Forschungslage beschrieben und eine Skizze von möglichen Wortbildungsbeschreibungen entworfen 32 . 2.4.4 Onomastik Graubünden gehört, wie Hans Stricker im Artikel „Onomastik“ im LRL III festhält, zu den namenkundlich am besten erforschten Räumen der Romania (S TRICKER 1989: 804). Dieses Urteil gründet vor allem auf dem monumentalen Rätischen Namenbuch (RN), konzipiert und begründet von Robert v. Planta, bearbeitet von Andrea Schorta (Ortsnamen) und Konrad Huber (Personennamen) 33 . Das RN behandelt nicht nur die rätoromanischen, sondern auch die deutschen und die italienischen Namen des Kantons Graubünden. Neben und nach dem RN entstanden eine Reihe von onomastischen Studien, die ihren Untersuchungsraum sinnvollerweise oft auch auf die „Rätoromania submersa“ (Sarganserland, St. Galler Rheintal, Liechtenstein, südliches Vorarlberg, Oberinntal, Vintschgau, Oberetschtal) ausdehnten 34 . An erster Stelle sind hier die Arbeiten von Hans Stricker zu nennen 35 , unter dessen Leitung auch das inzwischen abgeschlossene Liechtensteiner Namenbuch (FLNB) entstanden ist 36 . V INZENZ 1983 behandelt Die romanischen Orts- und Flurnamen von Sevelen. In sprachhistorischer und siedlungsgeschichtlicher Sicht verdient auch T OMA - SCHETT 1991 (Orts- und Flurnamen der Gemeinde Trun) Beachtung 37 . Cf. auch den Überblick bei D AHMEN 1990, ferner die einschlägigen Abschnitte in den Forschungsberichten von Holtus und Kramer (H OLTUS / K RAMER 1994: 110; 2002: 30ss.; 2005: 45ss.). Das in der 1. Auflage dieses Buches angekündigte Projekt St. Galler Namenbuch ist ins Stocken geraten. Auf guten Wegen ist einzig das von H. Stricker betreute Werdenberger Namenbuch, von dem bisher 6 Flurnamenkarten mit Begleitheft erschienen sind (Verlag Werdenberger Namenbuch, Buchs 2003- 2008). Über weitere Projekte schweizerischer Ortsnamenforschung gibt www. ortsnamen.ch Auskunft. 2.5 Soziolinguistik Die noch nicht sehr zahlreichen soziolinguistischen Studien zum Bündnerromanischen beschäftigen sich in den meisten Fällen mit dem deutsch-roma- 32 Cf. auch L IVER 1993b. Demnächst wird ein neuer Beitrag zur Wortbildung erscheinen: F. L UTZ , Die Nominalsyntagmen im Bündnerromanischen. 33 Vol. 1 = P LANTA / S CHORTA 1939 ( 2 1979), vol. 2 = S CHORTA 1964, vol. 3 = H UBER 1986. 34 Cf. S TRICKER 1989: 804. 35 Cf. die Bibliographie bei S TRICKER 1989: 812. 36 Dazu E ICHENHOFER 2007. 37 Cf. die Rezension von K RAMER 1996b. <?page no="38"?> 38 nischen Sprachkontakt und der damit verbundenen Situation der Zweisprachigkeit. Andres M. Kristol, der den Artikel „Soziolinguistik“ im 3. Band des LRL verfaßt hat (K RISTOL 1989), spricht in bezug auf die Sprachsituation der Bündnerromanen von „einer Art doppelter Diglossie“ (816): Jeder erwachsene Bündnerromane ist heute zweisprachig (romanisch-deutsch), und innerhalb jeder dieser beiden Sprachen verfügt er über zwei Varietäten, nämlich seine Ortsmundart und die Regionalschriftsprache im Rätoromanischen, Schweizerdeutsch und Hochdeutsch im Deutschen. Mit der Zweisprachigkeit der Bündnerromanen beschäftigt sich als erster C ATHOMAS 1977. Einen soziolinguistisch hochinteressanten Fall, nämlich die (ursprünglich) siebensprachige Dorfgemeinschaft von Bivio, untersucht K RISTOL 1984. Sprachkontakt mit dem Deutschen und Sprachwechsel vom Rätoromanischen zum Deutschen sind zentrale Themen in den Arbeiten von Clau Solèr und Theodor Ebneter zum Heinzenberger und Domleschger Romanischen (S OLÈR / E BNETER 1983 und 1988). Auch weitere Arbeiten von Solèr (S OLÈR 1983, 1990) sind mit dieser Thematik befaßt. Weniger soziolinguistisch als vielmehr kultursoziologisch ist die Ausrichtung des dicken Bandes Land und Volk der Rätoromanen des amerikanischen Soziologen Robert H. Billigmeier (B ILLIGMEIER 1983; englische Originalausgabe B ILLIGMEIER 1979). Das in Details oft unsorgfältige Buch, das sich im Untertitel als „Eine Kultur- und Sprachgeschichte“ definiert, enthält viel wertvolle Information zur externen Sprachgeschichte des Bündnerromanischen (cf. unten p. 39). Eine willkommende Bestandesaufnahme und Verarbeitung der bisherigen Arbeiten zur soziolinguistischen und sprachpolitischen Situation des Bündnerromanischen stellt das Kapitel „Das Rätoromanische in der Schweiz“ im Handbuch der mitteleuropäischen Sprachminderheiten (H INDERLING et al. 1996: 335-84) dar. Es stammt aus der Feder von Erwin Diekmann, der sich auf zahlreiche eigene Untersuchungen stützen kann. Auf aktuellerem Stand sind die Auswertungen der Volkszählungen von 1990 und 2000 durch Jean- Jacques Furer (F URER 1996, 2005, 2007). Soziolinguistische Studien sind für die praktische Sprachplanung im Zusammenhang mit der Propagierung des Rumantsch Grischun, der neuen überregionalen Schriftsprache (dazu unten p. 68ss.), ein Bedürfnis. Über laufende Projekte berichten C ATHOMAS 1995 UND 1997, C ARIGIET 1995, C ARIGIET / C ATHOMAS 1996. Mit ihrer umfangreichen Dissertation Von der Mumma Romontscha zum Retortenbaby Rumantsch Grischun (C ORAY 2008) hat Renata Coray einen gewichtigen Beitrag zur Beschreibung und Bewertung der soziolinguistischen Situation in Graubünden geleistet. Die sorgfältig dokumentierte Untersuchung isoliert aus dem rätoromanischen Sprachendiskurs die Ideologien, die den jeweiligen Positionen zugrundeliegen und zu entsprechenden „Sprachmythen“ führen. Dass die Einheitssprache Rumantsch Grischun geringe <?page no="39"?> 39 Chancen hat, in der bündnerromanischen Identität eine bedeutsame Rolle zu spielen, ist eine der Konklusionen der Untersuchung. 2.6 Sprachgeschichte 2.6.0 Vorbemerkung In den Abschnitten, die die Beschreibung von Teilbereichen des Bündnerromanischen betreffen (2.4.1-2.4.4), war verschiedentlich die Rede von Arbeiten, die einzelne Probleme des Rätoromanischen in meist traditioneller sprachhistorischer Sicht behandeln. Im folgenden geht es nicht nur um die Fakten einer internen Sprachgeschichte, sondern (nebst diesem Thema) auch um die externe Geschichte des Bündnerromanischen 38 . Damit sind nicht nur die politischen, sozialen und kulturellen Umstände gemeint, die Entstehung, Entwicklung und Veränderung der Sprache durch die Zeit hindurch bedingen. Hierher gehört auch das Thema der Schriftsprachlichkeit, die Herausbildung der verschiedenen Schriftnormen bis hin zur neuen Einheitssprache Rumantsch Grischun. 2.6.1 Externe Sprachgeschichte Zwei Artikel des LRL orientieren über die externe Sprachgeschichte des Bündnerromanischen: L IVER 1995 (Art. 125 in LRL II,2: 68-81, bes. 68-70) für die Frühzeit (Romanisierung, Mittelalter), H OLTUS 1989 (Art. 231 in LRL III: 854-71) für die Zeit von der Renaissance bis zur Gegenwart. Weitere Informationen liefern B ILLIGMEIER 1983 (cf. oben p. 33) und D EPLAZES 1991. 2.6.2 Die bündnerromanischen Regionalschriftsprachen Einen guten Überblick über die Herausbildung der verschiedenen Schrifttraditionen im rätoromanischen Graubünden gibt D ARMS 1989 (Art. 230 in LRL III: 827-53). Eine umfassende Geschichte der bündnerromanischen Schriftsprachen, die auch sprachinterne Aspekte wie die konkrete sprachliche und stilistische Beschaffenheit der einzelnen Schriftsprachen und deren Veränderungen in der Zeit darstellte, bleibt noch zu schreiben. Einzelne Untersuchungen zu den Frühphasen der engadinischen und surselvischen Schrifttradition leisten eine gewisse Vorarbeit, so etwa H EINIMANN 1975 und 1976, L IVER 1969a, 1972, 1976. Das meiste bleibt aber noch zu tun. So wäre etwa das älteste Beispiel engadinischer Dichtung, die Chianzun da la guerra dagl Chiasté da Müs von Gian Travers (1528 verfaßt, aber erst in Hss. 38 Zur schwierigen Abgenzung zwischen „interner“ und „externer“ Sprachgeschichte cf. unten p. 75. <?page no="40"?> 40 aus dem 17. Jh. überliefert), auf seine Abhängigkeit von andersprachiger, deutscher oder italienischer, volksepischer Tradition zu untersuchen. Auch die Prosa von Bifrun, Chiampel und Gallicius verdankt wohl ihren komplizierten, elaborierten Duktus der Anlehnung an anderssprachige Modelle. Auch eine Untersuchung der Sprache der Bibelübersetzungen in den verschiedenen Regionen und Jahrhunderten würde sich lohnen. Schließlich wäre, nachdem jetzt die Edition der bündnerischen Rechtsquellen vorliegt (S CHORTA / L IVER 1980-85), nach der Rolle der rechtssprachlichen Tradition bei der Herausbildung der engadinischen Schriftsprache zu fragen. 2.6.3 Sprachnormierung und Standardisierung. Die überregionale Schriftsprache Rumantsch Grischun Von der Normen- und Standardbildung, die sich aus dem Lauf der Sprachgeschichte von selbst ergibt (nach Coseriu: norma normal, die Gebrauchsnorm), läßt sich die Normierung und Standardisierung unterscheiden, die bewußt, intentional und präskriptiv betrieben wird (nach Coseriu: norma correcta, die präskriptive Norm). Graubünden kannte zwar nie eine Akademie, die eine ideale Sprachform hätte vertreten können, aber es fehlt dennoch nicht an Versuchen, der regionalen Zersplitterung und Uneinheitlichkeit des Bündnerromanischen durch Vorschläge für eine einheitliche Schriftsprache entgegenzuwirken. D ECURTINS 1993: 341-63 beschreibt die älteren Anläufe zur Schaffung einer bündnerromanischen Einheitssprache: die reichlich unausgewogenen Vorschläge des originellen aufklärerischen Disentiser Paters Placidus a Spescha (1752-1833), die gescheiterten Bestrebungen des Emsers Gion Antoni Bühler (1825-1897), der ein Romonsch fusionau propagierte, und schließlich den (ebenfalls erfolglosen) Vorschlag von Leza Uffer (1912-1982), das auf einem von regionalen Auffälligkeiten befreiten Surmiran beruhende Interrumantsch als Einheitsprache zu verwenden. Cf. zu Bühler und Uffer auch (weniger prägnant und für den linguistischen Aspekt weniger ergiebig) B ILLIGMEIER 1983: 295-305. Die Diskussion über Schriftnormen für das Bündnerromanische seit der Mitte des 19. Jahrhunderts analysiert G RÜNERT 2005. Seit 1982 läuft eine neue, voraussichtlich erfolgreichere Etappe in der Geschichte der Bemühungen um eine bündnerromanische Einheitssprache. Das vom Zürcher Romanisten Heinrich Schmid erarbeitete und von einem Team der Lia Rumantscha weiterentwickelte Rumantsch Grischun, eine überregionale Schriftsprache für Romanischbünden, empfiehlt sich durch seine methodisch konsequente Struktur und durch die leichte Verständlichkeit für alle Bündnerromanen (cf. unten p. 64-68). Cf. S CHMID 1982, 1985b, D ARMS 1989: 850s. Zur Akzeptanz des Rumantsch Grischun in der Bevölkerung cf. D IEKMANN 1991. <?page no="41"?> 41 Eine Einschätzung der aktuellen Sizuation, die dem Rumantsch Grischun wesentlich distanzierter gegenübersteht, bei C ORAY 2008 (cf. oben p. 38s.). 2.7 Lücken und Desiderata In den vorstehenden Hinweisen auf die bisherige Forschung zum Bündnerromanischen wurde verschiedentlich auf Gebiete und Probleme hingewiesen, die noch zu wenig oder überhaupt nicht bearbeitet sind. Am Schluß dieses Überblicks sei zusammenfassend festgehalten, daß noch sehr vieles offensteht. Eine umfassende Beschreibung des heutigen Bündnerromanischen auf dem Stand der aktuellen Forschung steht noch aus. Ganze Bereiche sind entweder mangelhaft (so Syntax und Wortbildung) oder überhaupt nicht bearbeitet (Semantik, Intonation). Eine Sprachgeschichte des Bündnerromanischen, die einerseits die externen Faktoren, andererseits die sprachinternen Veränderungen des schriftlich dokumentierten Bündnerromanischen darstellen würde, wäre ein lohnendes Unterfangen. Es ist zu erwarten, daß in Zukunft auch soziolinguistische Studien, die über die bisher vorherrschende Bilinguismusforschung hinausgehen, in größerer Zahl entstehen werden. <?page no="43"?> 3. Das Bündnerromanische heute 3.0 Vorbemerkung Dieses Kapitel möchte die wichtigsten Informationen zur heutigen Situation des Bündnerromanischen vermitteln. Wie ist das Bündnerromanische dialektal gegliedert, von wievielen Sprechern wird es gesprochen, in welchen Situationen kommt es im mündlichen und im schriftlichen Gebrauch zur Anwendung? Ein erster Abschnitt (3.1) befaßt sich mit der inneren Gliederung des Bündnerromanischen, den fünf sogenannten „Idiomen“, die jeweils ein bestimmtes Dialektgebiet vertreten. Anhand von kommentierten Sprachproben werden die dialektalen Eigenheiten der verschiedenen Sprachregionen kurz charakterisiert. In einem zweiten Teil (3.2) wird die soziolinguistische Situation, die durch deutsch-romanischen Bilinguismus gekennzeichnet ist, skizziert. Der dritte Abschnitt (3.3) beschreibt die neue Einheitssprache Rumantsch Grischun, die Prinzipien, auf denen sie aufgebaut ist, und die bisherigen Erfahrungen mit ihrer Verbreitung und praktischen Anwendung. 3.1 Die innere Gliederung des Bündnerromanischen 3.1.1 Vorbemerkung Das Dialektgebiet des Bündnerromanischen ist in sich sehr stark gegliedert. Auf kleinem Raum treten markante linguistische Unterschiede zutage, die die gegenseitige Verständigung zwischen Sprechern v.a. der voneinander entfernten Regionen erheblich erschweren. Die Gründe für diese extreme dialektale Vielfalt liegen einerseits in der topographischen, andererseits in der historisch-kulturellen Situation Graubündens. Topographisch ist das Bergland Graubünden, das zuweilen als „Land der 150 Täler“ bezeichnet wird, außerordentlich stark gekammert. Die einzelnen Regionen sind vielfach durch schwer überwindbare Hindernisse wie Bergketten und Schluchten voneinander getrennt. Diesen Verhältnissen, die Sonderentwicklungen der einzelnen Kleinräume begünstigen, hätte die Ausstrahlung eines kulturellen und politischen Zentrums entgegenwirken können. Aber die Hauptstadt Chur, der diese Rolle hätte zufallen können, war seit dem Mittelalter zusehends deutschem Einfluß ausgesetzt. Im 15. Jahrhundert vollzog sie den endgültigen Sprachwechsel zum Deutschen 1 . So fehlte in Romanischbünden ein Zentrum, das eine Ausgleichsfunktion hätte 1 Cf. P LANTA 1931: 102 (ed. K ATTENBUSCH 1987). <?page no="44"?> 44 wahrnehmen können oder gar das Entstehen einer einheitlichen Schriftsprache ermöglicht hätte. Heute stellt das Bündnerromanische ein in zahlreiche Ortsdialekte aufgesplittertes, in sich stark variierendes und territorial vielfach unterbrochenes Kontinuum dar. Verschiedene Schriftnormen überdachen fünf Sprachlandschaften, die dialektal unterschiedliche (wenn auch miteinander verklammerte) Untergruppen bilden: Surselvisch, Sutselvisch, Surmiran, Puter und Vallader. Diese fünf Einheiten werden in Graubünden geläufig als „Idiome“ bezeichnet 2 . Auf ihren Status als Schriftsprachen wird weiter unten zurückzukommen sein (cf. p. 93ss.). Hier sollen zunächst einmal ihre geographische Situierung beschrieben, ihre Benennungen erläutert und ihre sprachlichen Charakteristiken kurz dargestellt werden. Dabei bewegen wir uns von Westen nach Osten. Als surselvisch (sursilvan) bezeichnet man die rätoromanischen Dialekte des Vorderrheintals (vom Oberalppaß bis zum Zusammenfluß des Vorderrheins mit dem Hinterrhein bei Reichenau) und seiner Seitentäler. Regionen innerhalb der Surselva, die sich auch sprachlich sehr deutlich voneinander unterscheiden, sind Tavetsch (Tujetsch) und Medels (Val Medel) in der obersten Surselva, die Cadi (< CASA DEI ) mit dem Zentrum Disentis (romanisch Mustèr < MONASTERIUM ), die Foppa (dt. Grueb) mit dem Zentrum Ilanz (rtr. Glion), das Lugnez (rtr. Lumnezia, südliches Seitental, das bei Ilanz ins Vorderrheintal mündet). Im Einzugsgebiet des Hinterrheins (zwischen Andeer und Rhäzüns) sind die auf wenige Relikte zusammengeschrumpften sutselvischen Dialekte (sutsilvan) angesiedelt. Am vitalsten ist das sutselvische Rätoromanisch noch im Schams (Val Schons, Zentrum Andeer), während es im Domleschg (Tumgliasca) und am Heinzenberg (Muntogna) am Aussterben ist. Als surmeirisch (surmiran) gelten die Mundarten des Oberhalbsteins (Sursés) und des Albulatals (Sutsés). Das Engadinerromanische, von den Einheimischen (rumantsch) ladin genannt, zerfällt in Oberengadinisch (puter) und Unterengadinisch (vallader). Die Grenze zwischen Ober- und Unterengadin verläuft knapp westlich von Zernez, dem obersten Dorf des Unterengadins. Nahe verwandt mit dem Vallader ist das Rätoromanische des Münstertals (Val Müstair), das auch jauer heißt. Die Benennungsmotive für die Namen der Sprachregionen sind teils durch topographische Verhältnisse gegeben, teils handelt es sich um Übernamen aus der Sicht der Nachbarn. Surselva und Sutselva entsprechen den auch anderswo in der Schweiz geläufigen Namen Obwalden und Nidwalden 3 . Der 2 Im folgenden verwenden wir diesen Terminus auch ohne Anführungszeichen. 3 Lat. SILVA hat sich im Bündnerromanischen nur in Toponymen erhalten. Als Appellativum für ,Wald‘ herrscht in ganz Graubünden der Germanismus surs. uaul, eng. god. Cf. DRG 7: 602ss. <?page no="45"?> 45 Wald, der hier namengebend war, ist der Flimser Wald. Ähnlich erklären sich die Namen Surmeir, Sursés und Sutsés. In Surmeir steckt MURUS ( SUPRA MURUM ), womit der Felsriegel in der Schynschlucht zwischen Thusis und Tiefenkastel gemeint ist. In Sursés, Sutsés ist das zweite Element ein Reflex von lat. SAXUM . Das (etymologisch) pleonastische Toponym Crap Sès 4 bezeichnet den Fels am Eingang des Oberhalbsteins (südlich von Tiefenkastel). Vallader ist eine Ableitung von val ,Tal‘, bezeichnet also den Dialekt des Tals. Neben diesen topographisch motivierten Namen gehören die Bezeichnungen puter und jauer in den Bereich der Übernamen. Puter wird allgemein als Ableitung von put ,Brei‘ interpretiert, also etwa ils puters ,die Breifresser‘ 5 . Die Münstertaler verdanken die Bezeichnung ihrer Sprache als jauer der lokalen Form des Personalpronomens der 1. Person jau ,ich‘, die sich auffällig von untereng. eu abhebt 6 . Die fünf „Idiome“, die jeweils auch eine eigene Schrifttradition entwikkelt haben, unterscheiden sich hinsichtlich Sprecherzahl, Vitalität und kulturellen Gewichts markant. Surselvisch und Vallader sind zweifellos die beiden stärksten Varietäten. Auf dem dritten Platz folgt das Surmiran, wobei zu präzisieren ist, daß die Romanität des Oberhalbsteins (Sursés) deutlich intakter ist als die des Albulatals (Sutsés). Das Puter, das eine bedeutende schriftsprachliche Tradition aufweist, ist heute im praktischen Sprachleben empfindlich geschwächt. Noch schlimmer steht es um das Sutselvische, das nur noch im Schams (v.a. in den Dörfern am Schamser Berg) eine gewisse Vitalität aufweist, im Domleschg jedoch sichtlich schrumpft und am Heinzenberg nur noch in kümmerlichen Relikten dem Aussterben widersteht. Genaueres zu den Sprecherzahlen in den einzelnen Regionen findet sich in den Kommentaren zu den beiden letzten Volkszählungen (1990 und 2000) 7 und vor allem in der detaillierten Studie Das Funktionieren der Dreisprachigkeit im Kanton Graubünden (G RÜNERT et al. 2008). In den Volkszählungen von 1990 und 2000 wurde nicht mehr, wie es früher üblich war, nach der Muttersprache gefragt, sondern einerseits nach der am besten beherrschten Sprache (G RÜNERT et al. 2008: Hauptsprache), andererseits nach der im Privatleben und im Beruf gesprochenen Sprache (G RÜNERT et al. 2008: Umgangssprache). Diese Differenzierungen tragen zwar der Komplexität der Verhältnisse Rechnung, machen jedoch die Aussagen über effektive Sprecherzahlen des Rätoromnischen schwierig. Wie auch immer die Resultate gedeutet werden, der Rückgang des Rätoromanischen, wie er seit 1860 in den Volkszählungen dokumentiert ist (cf. unten p. 83), setzt sich auch in neuerer Zeit fort. Als Richtwerte für die aktuelle Präsenz des Rätoromanischen in Graubünden mögen die 4 Crap, ein vorrömisches Wort, ist im Bündnerromanischen das normale Appellativum für ,Stein‘. Cf. DRG 7: 602ss. 5 Cf. D ECURTINS 1993/ I: 301. HR s.v. 6 Cf. D ECURTINS 1993/ I: 299s. DRG 5: 725. 7 F URER 1996 und 2005. Cf. auch F URER 2007. <?page no="46"?> 46 Resultate der Volkszählung von 2000 gelten, wie sie G RÜNERT et al. 2008: 25s. darstellen. Bei einer Wohnbevölkerung von 187.058 Personen geben 127.755 Deutsch als Hauptsprache an (68,3%), 27.038 Rätoromanisch (14,5%), 19.106 Italienisch (10,2%). Als Umgangssprache deklarieren 150.860 (85,0%) Deutsch, 38.403 (21,6%) Rätoromanisch und 41.865 (23,6%) Italienisch. 3.1.2 Die Verklammerung der fünf Dialektgebiete Die Unterteilung des Bündnerromanischen in die fünf beschriebenen Varietäten beruht einerseits auf sprachlichen, andererseits auf historischen Gemeinsamkeiten respektive Unterschieden. In dialektologischer Hinsicht erweist sich das Bündnerromanische von der obersten Surselva im Nordwesten bis hin zum Münstertal im Südosten als ein differenziertes Kontinuum, in dem benachbarte, zum Teil aber auch getrennte Teilgebiete durch gemeinsame Züge verbunden sind. Wie man die inneren Grenzlinien im Ganzen dieses Kontinuums legt, hängt von der Auswahl der Unterscheidungskriterien ab. Bedenkt man die Komplexität der sprachlichen Wirklichkeit, ist es ganz klar, daß es keine eindeutigen, einzig richtigen Lösungen geben kann. Heinrich Schmid hat sich in zwei Studien mit der inneren Gliederung des Bündnerromanischen befaßt 8 . Er schreibt: Jede Grenzziehung und Gruppierung wird daher bis zu einem gewissen Grade willkürlich bleiben und Kriterien, die ihr nicht ins Konzept passen, beiseiteschieben. Das bedeutet aber, dass jede sprachliche Unterteilung die Realität zumindest ein wenig verfälscht und dass ihr gleichsam als Schatten die Möglichkeit einer komplementären, abweichenden Einteilung oder Klassifizierung anhaftet, welche sich nun ihrerseits auf die in den Hintergrund gedrängten Merkmale stützen kann (S CHMID 1976: 16). Das große bündnerromanische Wörterbuch Dicziunari rumantsch grischun (DRG) hat sich für eine Unterteilung in drei Blöcke entschieden: dem Surselvischen im Westen (S) steht das Engadinische im Osten (E) gegenüber. Das Mittelbündnerische (Grischun central = C), bestehend aus Sutsilvan und Surmiran, bildet eine Übergangszone, eine Art Brücke. Es gibt sprachliche Züge, aufgrund derer eine Grobeinteilung in ein westliches, rheinisches (S + C) und ein östliches Bündnerromanisch im Einzugsgebiet von Inn und Etsch (Engadin und Münstertal, = E) als gerechtfertigt erscheint. So kennt etwa das Engadin gerundete Palatale (/ y/ und / ø / ), die in den übrigen Gebieten fast völlig fehlen 9 : S fem C fem E füm ,Rauch‘ (< FUMU ) gievgia gievgia gövgia ,Donnerstag‘ (< JOVIA ) iert iert üert ,Garten‘ (< HORTU ). 8 S CHMID 1976, S CHMID 1985a. 9 Cf. S CHMID 1976: 9s. <?page no="47"?> 47 Im syntaktischen Bereich ist die Einleitung des persönlichen Objekts durch die Präposition a (wie im Spanischen; cf. unten p. 160s.) auf das Engadin beschränkt. Auch in der Lexik gehen S und C oft zusammen, während E abweicht: S gie C ea, gea E schi ,ja‘ entscheiver antschever cumanzar, -er ,anfangen‘ tat tat non (put.), babsegner (vall.) ,Großvater‘. Das Mittelbündnerische geht jedoch oft auch mit dem Engadinischen zusammen und unterscheidet sich vom Surselvischen. In den genannten Studien zeigt Heinrich Schmid eindrücklich, wie komplex die Verklammerung der verschiedenen bündnerromanischen Sprachräume ist. Aus seinen Ausführungen wird deutlich, daß je nach der Auswahl der Abgrenzungskriterien die Trennlinien verschieden verlaufen. Ein aus konventioneller Sicht überraschendes Resultat der Untersuchungen von Schmid ist die Betonung der Sprachgrenze zwischen Ober- und Unterengadin, welche ein östliches Bündnerromanisch (Unterengadin und Münstertal) von allen übrigen Gebieten abtrennt. Im folgenden wird versucht, anhand von kommentierten Textbeispielen aus den fünf Schriftidiomen eine Vorstellung von der sprachlichen Eigenart der entsprechenden Dialektgebiete zu vermitteln. 3.1.3 Sprachproben Die ausgewählten Textstücke und die begleitenden Kommentare sollen einen ersten Eindruck von Gemeinsamkeiten und Verschiedenheiten zwischen den fünf bündnerromanischen „Idiomen“ vermitteln. Wir beschränken uns dabei auf eine vorwiegend synchronisch ausgerichtete Kommentierung der lautlichen, morphosyntaktischen, syntaktischen und lexikalischen Besonderheiten der Texte, die jeweils ein bestimmtes Dialektgebiet repräsentieren. Gelegentlich wird auf diachronisch Relevantes hingewiesen. Natürlich kommen in einem kurzen Textstück nie alle sprachlichen Phänomene vor, die für eine einigermaßen adäquate, geschweige denn für eine erschöpfende Beschreibung der jeweiligen Varietät relevant sind. In den Kapiteln 5 und 6 werden in einer systematischen Darstellung diejenigen wichtigen Züge ergänzt, die hier nicht zur Sprache kommen. 3.1.3.1 Sursilvan Gion Deplazes, Paun casa (D EPLAZES 1994: 214) 1 A Tumvi tucca ei amiez quei ruasseivel avonmiezdi ella jamna d’ensemen sco da fiastas ed ils murters ramplunan neu dil plaun da Cabis- <?page no="48"?> 48 tgaun. Tras ils curtgins e sut la pumera flurenta neuadora vegn in til da nozzas. Igl ei il Duri cun la cambrera e sia spusa Lucrezia cul cam- 5 brer, ella tut en alv, il tschupi sin las nialas ed in matg neglas enta maun. Ei suondan ils hosps, il bab Bistgaun Curtgic, marcants ed agradsi sco in coniv, zuppond la dolur d’in bab che sa ch’il fegl vegn ussa a bandunar la casa paterna; a pèr cun el tila la Serafina, la comba graslutta cun fatscha che tut tarlischa e sedrova da star sidretg. Cu la feglia 10 marida, gudognan ins in fegl. Lu suonda il Pieder Fluretg, maghers e secs, cun ina schuiala onz pli aulta che l’autra. A pèr cun el vegn la Barla dils Curtgics cun siu nas git e ses egls da musteila. Ils cavels ein sefatgs bravamein grischs e la fatscha di ch’ella vegnessi ussa gleiti bugen tatta. Tgi che vesa quels quater a suandond ils spusai, quel vess 15 tertgau che quella pèra audi ensemen da vegl enneu! Lu suondan ils hosps, amitgs e parents; maneivel dalla baselgia stat glieud da Tumvi dretg e seniester, admira la spusa e quenta ora la buna partida. Quels han bi rir viers igl avegnir. Cura ch’ins sa mo seser en ina casa gest rugalada pon ins maneivel far nozzas e purtar l’asta dil baldachin, e 20 sch’ei fuss mintga di prozessiun. Übersetzung In Tumvi läuten an diesem stillen Vormittag mitten in der Woche alle Glokken 10 wie an einem Feiertag, und die Böllerschüsse dröhnen vom Plaun da Cabistgaun her. Durch die Baumgärten, unter den blühenden Bäumen, kommt ein Hochzeitszug daher. Es ist Duri mit der Brautjungfer und seine Braut Lucrezia mit dem Brautführer, sie ganz in weiß, den Kranz auf den Locken und einen Strauß weißer Nelken in der Hand. Es folgen die Gäste, der Vater Bistgaun Curtgic, mit markanten Zügen und aufrecht wie eine Tanne 11 . Er verbirgt den Schmerz eines Vaters, der weiß, daß der Sohn jetzt das Elternhaus verlassen wird. Im Gleichschritt mit ihm kommt Serafina daher, mit ihren rundlichen Beinen; ihr Gesicht strahlt und und sie gibt sich alle Mühe, aufrecht zu gehen. Wenn die Tochter heiratet, gewinnt man einen Sohn dazu. Dann folgt Pieder Fluretg, mager und dürr, die eine Schulter etwas höher als die andere. Mit ihm kommt die Barla dils Curtgics mit ihrer spitzen Nase und ihren Wieselaugen. Ihre Haare sind schon ziemlich grau geworden und ihr Gesicht verrät, daß sie nun recht bald Großmutter werden möchte. Wer diese vier hinter den Brautleuten hergehen sieht, der müßte denken, daß das Paar seit langer Zeit zusammengehöre. Dann folgen die Gäste, Freunde und Verwandte. Um die Kirche herum stehen links und rechts Leute von 10 Tuccar d’ensemen bedeutet wörtlich ,zusammenläuten‘. Wenn alle Glocken läuten, versammelt sich die Dorfgemeinschaft. 11 Coniv ist wörtlich ,Hanfstengel‘. <?page no="49"?> 49 Tumvi, bewundern die Braut und kommentieren die gute Partie. Die können getrost der Zukunft entgegensehen. Wenn man nur so in ein eben renoviertes Haus reinsitzen kann, mag man wohl Hochzeit feiern und die Baldachinstange tragen, selbst wenn jeden Tag Prozession wäre. Transkription 12 1 ɐ tum vi tυkɐ εi ɐ miəts kwεi ruɐ sεivəl ɐvonmiəts di εlɐ jamnɐ d εn sε mən ʃkɔ dɐ fjaʃtɐs ed ils mur tεs rɐm plunɐn nεw dəl plεwn dɐ kɐbiʃ - cεwn. tras ils kur cins e zυt lɐ pu mεrɐ flu rεntɐ nεwɐ dɔrɐ ve in til dɐ nɔtsɐs. iʎ εi il du ri kun lɐ kɐm brεrɐ e siɐ ʃpuzɐ lu krεtsjɐ kul kɐm - 5 brε, εlɐ tut εn alf, il tʃu pi sin lɐs njalɐs ed in mac nε lɐs εntɐ mεwn. εi swɔndɐn ils hɔʃps, il bap biʃ cεwn kur cik, mɐr kants ed ɐ rat - si ʃkɔ in kɔnif, tsu pont lɐ dɔ lur d in bap ke sa k il feʎ ve υsɐ ɐ bɐndu na lɐ kazɐ pɐ tεrnɐ ; ɐ pεr kun εl tilɐ lɐ sεrɐ finɐ, lɐ kɔmbɐ ras - lυtɐ kun fatʃɐ ke tut tɐr li ɐ e sε drɔvɐ dɐ ʃta si drεc. ku lɐ feʎɐ 10 mɐ ridɐ, u dɔ ɐn ins in feʎ. lu swɔndɐ il piədər flu rec, ma ərs ε sεks, kun inɐ ui alɐ ɔnts pli awltɐ ke l awtrɐ. ɐ pεr kun εl ve lɐ bar lɐ dils kur ciks kun siw nas it e ses eʎs dɐ mu ʃtεilɐ. ils kɐ vεls εin sə - facs bravɐmεin riʃs e lɐ fatʃɐ di k εlɐ ve esi υsɐ lεiti bu - εn tatɐ. ci ke vεzɐ kwεls kwatər ɐ swɐn dɔnt ils ʃpu zai, kwεl vεs 15 ter caw ke kwelɐ pεrɐ awdi εn sεmən dɐ veʎ e nεw. lu swɔndɐn ils hɔʃps, a mics e pɐ rεns ; mɐ nεivəl dɐlɐ bɐ zεl ɐ ʃtat λ εwt dɐ tum vi drεc e sɐ niəʃtər, ɐt mirɐ lɐ ʃpuzɐ e kwentɐ ɔrɐ lɐ bunɐ pɐr tidɐ. kwεls an bi ri viərs i λ ɐve i. kurɐ k ins sa mɔ sεzər εn inɐ kazɐ eʃt ru ɐ ladɐ pɔn ins mɐ nεivəl fa nɔtsɐs e pur ta l aʃtɐ dɐl bɐldu kin, e 20 ʃ εi fυs mincɐ di prɔtse sjun. Kommentar Phonetik/ Phonologie. Schrift und Aussprache Das Surselvische, dessen Phonemsystem in Kapitel 5 (p. 129ss.) beschrieben wird, kennt keine palatal gerundeten Vokale (ü, ö in normaler Schrift, / y/ , / ø / in phonetischer Umschrift). Es teilt diese Situation mit den übrigen rheinischen Dialektgebieten (Sutselvisch und Surmiran); die Mundarten des Enga- 12 Wir verwenden die phonetische Transkription des internationalen phonetischen Alphabets (API oder IPA). In Übereinstimmung mit den bisherigen Studien, die dieses System auf das Rätoromanische anwenden (z.B. H AIMAN / B ENINICÀ 1992), geben wir mit [c] die mediopalatale Affrikata wieder, wie sie in tgaun, tgi etc. erscheint, mit [ ] ihre stimmhafte Ensprechung (git, baselgia). - Wir sind uns bewußt, daß eine phonetische Transkription literarischer Texte des Bündnerromanischen problematisch ist. Wir orientieren uns an den jeweiligen Lokalmundarten der Autoren. Die Notierungen des DRG und Auskünfte einheimischer Sprecher bestimmen unsere Lösungen, die dem Leser einen annähernden Eindruck der phonetischen Gestalt der fünf beschriebenen Idiome vermitteln sollen. <?page no="50"?> 50 dins und des Münstertals dagegen weisen diese Vokale auf, was ihnen eine völlig andere Lautgestalt gibt. Diphthonge begegnen in allen bündnerromanischen Idiomen; im Surselvischen sind sie besonders zahlreich. In unserem Text kommen die folgenden fallenden Diphthonge vor: [ai] spusai (14) [aw] aulta (11), autra (11), tertgau (15), audi (15) [ ε i] quei (1), ruasseivel (1), ei (4), musteila (12), gleiti (13), maneivel (16, 19) [ ε w] neu (2), plaun (2), Cabistgaun (2-3) 13 [i ə ] amiez (1), avonmiezdi (1), Pieder (10), seniester (17), viers (18). Zwei weitere fallende Diphthonge sind charakteristisch für das Surselvische: [ I w] siu nas ,ihre Nase‘ (12), ferner (nicht in unserem Text) Diu ,Gott‘, -iu Endung des Part. Perf. der Verben der 2.-4. Konjugation, z.B. temiu von temer ,fürchten‘, vendiu von vender ,verkaufen‘, udiu von udir ,hören‘ [u ə ] nuot ,nichts‘, tuorna ,kehrt zurück‘. Steigende Diphthonge in unserem Text sind: [ja] fiastas (2), nialas (5), schuiala (11) [ju] processiun (20) [w ɔ ] suondan (6, 15), suonda (10). Der Triphthong [j ε w] liegt in glieud (16) vor. Unter den unbetonten Vokalen weisen [i] und [u] die geschlossene Qualität der entsprechenden betonten Vokale auf: [i] coniv (7), sidretg (9), vegnessi (13), gleiti (13), audi (15) [u] murters (2), curtgins (3), pumera flurenta (3), tschupi (5), bandunar (8), gudognan (10), musteila (12), rugalada (18-19). Dagegen sind unbetontes a und e stark abgeschwächt in Richtung eines zentralisierten [ ə ]. Die phonetische Transkription mit [ ɐ ] oder [ ə ] richtet sich im allgemeinen nach der Graphie ([ ɐ ] für <a>, [ ə ] für <e>), wobei die phonetischen Unterschiede minim sind. Als zentralisiertes [ ɐ ] werden in gewissen Teilen der Surselva auch vortoniges o (etwa in dolur; cf. DRG 5: 343) und i, vor allem im Artikel (il [ ɐ l], dil [d ɐ l]; cf. DRG 8: 188), gesprochen. Im Konsonantismus unterscheidet sich das Surselvische nicht markant von den übrigen bündnerromanischen Idiomen. Im ganzen Bündnerromanischen steht neben der stimmlosen präpalatalen Affrikata [t ʃ ] (Graphie <tsch>: tschupi 5, fatscha 9, 13) eine ebenfalls stimmlose, mediopalatale Affrikata [c] (Graphie <tg>: Cabistgaun 2-3, curtgins 3, matg 5, Bistgaun Curtgic 6, sidretg 9, Curtgics 12, sefatgs 12-13, tertgau 15, amitgs 16, dretg 17, mintga 20). 13 <au> vor <n> wird als [ ε u] ausgesprochen. <?page no="51"?> 51 Vorkonsonantisches s wird als [ ʃ ] realisiert, wenn der folgende Konsonant stimmlos ist (auch dies in ganz Romanischbünden): sco [ ʃ k ɔ ] (2), entsprechend in Cabistgaun (2-3), spusa (4) etc. 14 Formen und Funktionen Nomen - Der Plural wird auf -s gebildet (fiastas 2, curtgins 3, nozzas 4 etc.), außer bei den schwachen Partizipien, wo er auf -i ausgeht (ils spusai 14). Cf. unten p. 135. - Das Surselvische (wie auch das übrige Bündnerromanische) kennt einen Kollektiv auf -a, der syntaktisch wie ein f.sg. behandelt wird (la pumera flurenta 3). Cf. unten p. 134. - Das maskuline Adjektiv hat in prädikativer Verwendung eine eigene, durch -s markierte Form (marcants 6, maghers e secs 10-11). Cf. unten p. 134s. Diese morphosyntaktische Besonderheit ist auf das Surselvische beschränkt. Pronomen - Subjektspronomina sind obligatorisch: el, ella, els, ellas (für els, ellas auch genusindifferentes ei). Keine Beispiele im Text. Daneben unpersönlich/ areferentielles ei (vor Konsonant) bzw. igl (vor Vokal) ,es‘. Als dummypronoun in unserem Text: Ei suondan ils hosps (6) Igl ei il Duri (4) sch’ei fuss mintga di prozessiun (20). - Unpersönliches ,man‘ ist surs. ins: Cu la feglia marida, gudognan ins in fegl (9-10). - Das Reflexivpronomen se ist im Surselvischen auf alle Personen generalisiert und proklitisch an die Verbalform agglutiniert (cf. unten p. 140). In unserem Text: Ils cavels ein sefatgs…grischs (12-13). Possessivum Das Possessivum steht im Surselvischen (wie im Französischen, anders als im Italienischen) ohne Artikel: cun siu nas git (12). 14 Vor stimmhaftem Konsonant [ ]: sbagl, sgurdin. Nasale (m, n) und Liquide (l, r) wirken wie stimmlose Konsonanten: snueivel [ ʃ nu' ε iv ə l], sruinar [ ʃ rui'na]. <?page no="52"?> 52 Demonstrativum Das Demonstrativum in Artikelfunktion (cf. unten p. 136s.) ist in unserem Text vertreten mit quei ruasseivel avonmiezdi (1) quella pèra (15) und als Pronomen mit Quels han bi rir (17-18). Verb Futur: Das Futurum wird im Surselvischen (wie auch im Sutselvischen, entgegen den übrigen br. Idiomen) durch eine Periphrase mit vegnir + a + Infinitiv ausgedrückt (cf. unten p. 142): il fegl vegn uss a bandunar la casa paterna (7-8). Konjunktiv: Der surselvische Konjunktiv ist gekennzeichnet durch das Vorherrschen eines i-Lautes, der in den meisten Personen den Konjunktiv vom Indikativ unterscheidet (cf. unten p. 143ss.). In unserem Text: quel vess tertgau che quella pèra audi ensemen da vegl enneu (14-15). Es fällt auf, daß in einem Nebensatz, der von einem Hauptsatz in der Vergangenheit abhängt, ein Konjunktiv Präsens steht. Tatsächlich ist im heutigen Surselvischen der Konjunktiv, der ursprünglich ein Konjunktiv Präsens war, der Konjunktiv tout court, ein atemporaler Modus der Abhängigkeit (cf. L IVER 1993a: 121s.; unten p. 145). Konditional: Der Konditional ist im Surselvischen (wie auch im übrigen BR) eine (letztlich auf den lat. Konjunktiv Plusquamperfekt zurückgehende) Form auf -ss (cf. unten p. 144s.). In unserem Text: quel vess tertgau (14-15) e sch’ei fuss mintga di processiun (20). Von den Besonderheiten des surs. Verbalsystems, die in Kap. 5 beschrieben werden, illustriert der Text die Form des „indirekten Konditionals“ (cf. unten p. 144ss.). Neben der beschriebenen Form des Konditionals kennt das Surselvische ein zweites Paradigma auf -assi (1. Konj.), -essi (2.-4. Konj.), das vor allem in indirekter Rede gebraucht wird: la fatscha di ch’ella vegnessi ussa gleiti bugen tatta (13-14). Wäre der gleiche Satz unabhängig, würde die Verbalform lauten: ella vegness. Die indirekte Rede wird im Surselvischen (wie im Deutschen, aber anders als in den übrigen romanischen Sprachen) mit dem Konjunktiv ausgedrückt: el di ch’el seigi malsauns ,er sagt, er sei krank‘. Das Paradigma auf -ssi kommt dort zur Anwendung, wo eine Konditionalform in syntaktische Abhängigkeit gerät. <?page no="53"?> 53 Syntax und Wortfolge Inversion: Ein wichtiges Kennzeichen surselvischer (und weitgehend überhaupt bündnerromanischer 15 ) Wortfolge ist die Inversion. Wie im Deutschen und im Altfranzösischen wird nach vorangehendem Adverb, adverbialer Bestimmung oder Nebensatz die normale Wortfolge SV zur Folge VS invertiert: A Tumvi tucca ei…d’ensemen (1-2) Tras ils curtgins…vegn in til da nozzas (3-4) a pèr cun el tila la Serafina (8) Cu la feglia marida, gudognan ins in fegl (9-10) Lu suonda il Pieder Fluretg (10), etc. Syntaktisch auffällige Wendung: veser + a + Gerundium Tgi che vesa quels quater a suandond (14). A suandond ist Äquivalent eines Infinitivs suandar, enthält aber darüber hinaus ein Element des „Progressiven“ (wie engl. I see him coming), das die Handlung in ihrem Ablauf beschreibt 16 . Wortschatz, Wortbildung Wir heben einige Fakten hervor, die zur Charakterisierung des surselvischen Wortschatzes beitragen. Diachronischer Gesichtspunkt: Gewisse Lexeme charakterisieren das Surselvische als archaisch und originell, insofern als sie eine alte, anderswo nicht erhaltene Latinität bezeugen und/ oder die Randzonenlage (Gemeinsamkeit mit anderen Randgebieten der Romania) des Bündnerromanischen belegen. - alv ,weiß‘ (5). Lat. ALBUS ist in den Sprachen der „inneren Romania“ durch den Germanismus blank ersetzt worden: it. bianco, fr. blanc, sp. blanco. ALBUS lebt außer im BR in anderen Randzonen der Romania weiter: port. alvo, rum. alb. - baselgia ,Kirche‘ (16). Lat. BASILICA , das in der Spätantike mit EC ( C ) LESIA , ebenfalls einem Lehnwort aus dem Griechischen, in Konkurrenz stand. J UD 1919 und A EBISCHER 1968 geben unterschiedliche sprachhistorische Interpretationen. Wiederum teilt das BR die Erhaltung von BASILICA mit einer anderen Randzone, Rumänien: rum. biserica˘. Cf. K AISER / L IVER 1985. - bugen ,gern‘ (13-14). Ein Gerundium * VOJENDO zu vlat. VOLERE ist nach DRG 7: 1001 die wahrscheinliche Basis für dieses Adverb, das außer im BR auch im Bergell und im DL vorkommt (gegenüber it. volentieri, fr. volontiers). 15 Ausnahmen: Surmiran, gelegentlich Engadinisch. 16 Die Klassifizierung dieser syntaktischen Wendung als „gerundi en funcziun d’in cumplement adverbial tier igl object“ bei S PESCHA 1989: 659 scheint mir wenig treffend. <?page no="54"?> 54 - tarlischar ,leuchten‘ (9). Ein Parasynthetikum, abgeleitet von glisch < LUCEM mit dem Präfix tar - < TRANS und dem Verbalsuffix - ARE . Die Bildung scheint auf S + C beschränkt zu sein (HR 898s.). Vergleichbar ist poit. trelutter ,luire, briller‘ (FEW 5: 478). - zuppar ,verbergen, verstecken‘ (7). Nach HR 1017 Abl. von vorröm. *tsuppo ,kleiner Tümpel, Hanfröste‘. Das Verb ist auch in Oberitalien belegt: com. zopàs ,sich verstecken‘. - tatta ,Großmutter‘ (14). F. von tat ,Großvater‘, das nach HR 902 auf TATTAM ,Vater‘ zurückgeht. Cf. REW 8596 tata, DRG 2: 222s. basat, ferner die schwdt. Formen att, ätti, tatti (Schwd. Id. 1: 583ss.). Germanismen: Der Kontakt mit dem Deutschen, dem das BR seit dem frühen Mittelalter ausgesetzt war (cf. unten p. 78ss., 176ss.), führte zu einem hohen Anteil von Entlehnungen germanischer Wörter in verschiedenen Zeiten. In unserem Text: - negla ,Nelke‘ (5). Lehnwort aus schwdt. Nägeli mit Anpassung an die br. Blumennamen, die f. Geschlecht aufweisen (HR 525). - gleiti ,bald, rasch‘ (13). Aus schwdt. gleitig gleicher Bedeutung entlehnt (HR 370). - glieud ,Leute‘ (16). Alter Germanismus, der nach seiner Lautgestalt auf ahd. LIUT ( I ) zurückgehen muß (D ECURTINS 1993/ I: 184 und DRG 7: 417). - gudignar ,gewinnen, erwerben‘ (10). Nach DRG 7: 900 nicht direkt aus dem Germanischen, sondern aus einer benachbarten romanischen Sprache, am ehesten it. guadagnare < anfrk. * WAIDANJAN ,auf die Weide führen‘. Synchronischer Gesichtspunkt: Charakteristisch für das BR (und andere alpine Sprachen) ist die differenzierte Verwendung von Ortsadverbien, die die Situierung des Sprechenden in der konkreten topographischen Situation garantieren (cf. unten p. 151s., 156s.). - Kombinierte Ortsadverbien: neuadora ,daher‘, wörtl.: ,hierhin und heraus‘ (3). Die kombinierten Ortsadverbien des Surselvischen können in der Übersetzung nur frei wiedergegeben werden. Die Komponenten von neuadora sind neu ,hierhin‘, die Konjunktion e (in der Form ad mit Bindekonsonant vor Vokal) und ora ,hinaus, heraus‘. - Verb + Adverb. Die Kombination Verb + Adverb, wobei das Adverb der Semantik des Verbs eine zusätzliche Komponente hinzufügt, ist im BR äußerst verbreitet (cf. unten p. 180). In unserem Text: quintar ora ,kommentieren‘ (17), wörtl. ,auszählen, ausrechnen‘. Entsprechende Verb + Adverb- Kombinationen des Deutschen stützen in vielen Fällen (so auch hier) die romanische Ausdrucksweise. - Gebrauch von Modalverben. Der semantische Bereich, den im Deutschen die Modalverben können und mögen abdecken, ist im Surselvischen in die Verben saver und puder aufgegliedert, wobei saver sowohl ,können‘ im Sinne <?page no="55"?> 55 von ,die Möglichkeit haben‘ als auch ,die Fähigkeit haben‘, ,etw. beherrschen‘ bedeutet, puder dagegen ,Kraft oder Lust zu etw. haben‘ (cf. L IVER 1989: 794s.). In unserem Text: Cura ch’ins sa mo seser en ina casa gest rugalada pon ins maneivel far nozzas (18-19), wo sa ,die Möglichkeit haben‘, po ,mögen‘ im Sinne von ,sich zu etw. verstehen‘ bedeutet. Wortbildung: Zwei Formen in unserem Text können als Wortbildungsprodukte gelten, die unter synchronischem Gesichtspunkt „durchsichtig“, d.h. für den Sprecher analysierbar, sind. - avonmiezdi ,Vormittag‘ 1. Cf. suentermiezdi ,Nachmittag‘, wie fr. après-midi, das zeigt, daß Komposita dieses Typs nicht nur im Deutschen, sondern auch in romanischen Sprachen vorkommen. - graslutta ,rundlich, dicklich‘ (8-9). Das Suffix -ut/ utta mit diminutiver Bedeutung (cf. it. -otto/ -otta) ist im BR nicht besonders produktiv, kann aber im Surselvischen immerhin anhand von Paaren wie maun/ manutta, sabi/ sabiut, cavagl/ cavallut, sadiala/ sadlutta als modifizierendes Suffix identifiziert werden. Im Fall von graslut scheint (etymologisch gesehen) eine doppelte Dimunutivbildung vorzuliegen: -lmuß auf eine Ableitung mit - ELLU zurückgehen. 3.1.3.2 Sutsilvan Curo Mani, Igl mastral da la gaglegna (M ANI 1956: 16) 1 Igl gi sessur e sto dumeingia, a jou sunt ieu a prieadi. Igl sear parditgànt â pardagieu sur da vardad a manzegna suainter la savunda breaf aglis Tessalonics: „Tuts quels vignan truos, c’ ân betga cartieu alla verdad, mo ân gieu plascher ve da la malgisteia“. Ad el â mano or cun pleds flama- 5 giànts, ear cun tascher quieu setg’ign gir manzegnas, a tgi c’ ancanuschi la vardad a gitgi betg or ella, segi mender c’ egn tgàn ca laschi passar sperasvei ils laders e giappi betg. Quels pleds curdavan sco fridas gio pigl mieus tgieu; jou ve stuvieu prendar or igl fazalet a schiantar igl frunt, ad igl mi pareva ca tut la baselgiada vardi sen me. Las faneastras ân an- 10 tschiat a saltar a cun ellas igl antiar bietg, ad egna tschiera mi stgirantava la vazida… Übersetzung Der Tag darauf war Sonntag, und ich ging zur Kirche (wörtl.: zur Predigt). Der Herr Pfarrer predigte über Wahrheit und Lüge nach dem 2. Thessalonicherbrief: „All die werden gerichtet, die nicht an die Wahrheit geglaubt haben, sondern sich am Unrecht gefreut haben“. Und er führte mit flammenden Worten aus, man könne auch mit Schweigen lügen, und wer die Wahrheit <?page no="56"?> 56 kenne und sie nicht sage, sei schlimmer als ein Hund, der die Diebe vorbeigehen lasse und nicht belle. Diese Worte fielen wie Schläge auf mein Haupt herab; ich mußte das Taschentuch hervornehmen und die Stirn trocknen, und es schien mir, die ganze in der Kirche versammelte Gemeinde schaue auf mich. Die Fenster begannen zu tanzen und mit ihnen der ganze Bau, und ein Nebel verdunkelte mir die Sicht. Transkription 1 i λ i sε sur ε ʃto du mεn ɐ, ɐ jau sunt iɐ ɐ priɐdi. iʎ sεɐr pɐrdi cant a pɐrdɐ iɐ zur dɐ vɐr dat ɐ mɐn tse ɐ swaintər lɐ sɐ vυndɐ brεɐf ɐ λ is tesɐ lɔniks : tυts kwεls vi ɐn tru os, k an becɐ kɐr tiɐ ɐlɐ vɐr dat, mo an iɐ plɐ er ve dɐ lɐ mal i ʃtεjɐ. ɐd el a mɐ no or kun plets flamɐ - 5 ɔnts, eɐr kun ta er kwiɐ sec i ir mɐn tse ɐs, ɐ ci k ɐŋkɐ nυʃi lɐ vɐr dat ɐ ici bec ɔr εlɐ, sε i mεndər k e caŋ kɐ laʃi pɐ sar ʃpεrɐz vεi iʎs ladərs ɐ api bec. kwεls plets kur davɐn ʃkɔ fridɐs ɔpi λ miəs ciɐ. jau ve ʃtu viɐ prendɐr or i λ fatsɐ lεt ɐ ʃiɐn tar i λ frυnt, ɐd i λ mi pɐ revɐ kɐ tut lɐ bɐzεl adɐ vardi sen mε. lɐs fɐ nεɐʃtrɐs an ɐn - 10 tʃiət ɐ sɐl tar ɐ kun εlɐs i λ ɐn tiər bjec, ɐd e ɐ tʃi εrɐ mi ʃcirɐn - tavɐ lɐ vɐ zidɐ. Kommentar Phonetik/ Phonologie. Schrift und Aussprache Zum Sutselvischen gehören die rätoromanischen Dialekte von Schams, Domleschg, Heinzenberg, Trin und Domat/ Ems, die v.a. im lautlichen Bereich markant voneinander abweichen. In der Mitte unseres Jahrhunderts wurde eine Schriftnorm für das Sutselvische entwickelt, die unter sogenannten „Deckmantel-Graphien“ eine einheitliche, weitgehend an historischen Schreibungen orientierte Orthographie für das Gesamtgebiet einführte (cf. D ARMS 1989: 846 und 848ss., M ANI 1977: XIIss.). Große Abweichungen zwischen Graphie und tatsächlicher Aussprache kennzeichnen diese Regelung. Unser Mustertext repräsentiert das Schamser Romanische. Der Autor Curo Mani stammt aus Andeer, Aufnahmenpunkt C 62 des DRG. Die Transkription des Textes orientiert sich an den Angaben dieses Wörterbuchs. - Die Graphie <ieu> steht für die Vokalkombination [i: ɐ ]: pardagieu [p ɐ rd ɐ iɐ ] 2, cartieu [k ɐ r ti: ɐ ] 3, gieu [ ia] 4 etc. Abweichungen vom Surselvischen: - Dem steigenden Diphthong [ja] von S entspricht im Sutselvischen ein fallender Diphthong [ εɐ ]: S finiastras [fi nja ʃ tr ɐ s] vs. C faneastras [f ɐ n εɐʃ tr ɐ s]. - Der fallende Diphthong [ εɐ ] kann auch dem surs. Monophthong [ ε ] entsprechen: S brev [br ε f] vs. C breav [br εɐ f]. <?page no="57"?> 57 - Im Sutselvischen entspricht ein Diphthong [ ε j] dem Monophthong [i] in S: S malgiustia [mal u ʃ ti ɐ ] vs. C malgisteia [mal i ʃ t ε j ɐ ], S sperasvi [ ʃ per ɐ sz vi] vs. C sperasvei [ ʃ per ɐ z v ε i]. Formen und Funktionen - Wie im Surselvischen und im Surmeirischen, anders als im Engadinischen, ist das Erzähltempus im Sutselvischen das Perfekt. Präteritumsformen, die noch im Altsurselvischen belegt sind, fehlen in der heutigen Sprache von S und C ganz. - Die auffälligsten morphologischen Unterschiede zwischen Surselvisch und Sutselvisch liegen im Bereich der Personalpronomina. Während das Surselvische nur noch eine einzige Serie von nachgestellten Pronomen kennt (cf. unten p. 138s.), unterscheidet das Sutselvische wie das Surmiran und das Engadinische zwischen einer proklitischen, unbetonten und einer nachgestellten, betonten Serie. In unserem Text: igl mi pareva (9) egna tschiera mi stgirantava la vazida (10-11). - Das Possessivum (gio pigl mieus tgieu, 7-8) ist im Sutselvischen, wie im Italienischen, in der Regel mit dem Artikel verbunden (so auch im Surmiran). In S und E fehlt der Artikel, wie im Französischen. - Das Sutselvische hat einen Dativartikel, der sporadisch auch im Surselvischen vorkommt, im übrigen BR jedoch fehlt: la savunda breaf aglis Tessalonics (2-3). Cf. DRG 7: 402s. - Auffällig ist die Konjunktivform setgi von saver: ear cun tascher quieu setg’ign gir manzegnas (5). Syntax und Wortfolge In diesem Bereich ergeben sich keine Unterschiede zum Surselvischen. Wortschatz, Wortbildung Diachronischer Gesichtspunkt: Alte Latinität wird im Verb antschever ,beginnen‘ < INCIPERE (cf. antschiat 9-10) fortgesetzt. S entscheiver, Surm. antschever gehören derselben Wortschicht an, während eng. cumanzar, cumanzer wie ital. cominciare, fr. commencer die Neuerung * COMINITIARE der inneren Romania aufweisen. In den Bereich „materia romana e spirito tedesco“ 17 gehört das Verb truar ,richten, verurteilen‘, das wohl ein lat. * TROPARE ,finden‘ nach dem Vorbild von dt. ,Recht finden‘ darstellt. Zu den alten Rechtsausdrücken nach deutschem Vorbild cf. unten p. 179s. Ein alter Germanismus ist ebenfalls bietg ,Gebäude‘ (10). Cf. surs. baghetg, DRG 2: 40. 17 Zu dieser berühmten, von Ascoli geprägten Formel cf. unten p. 179. <?page no="58"?> 58 Neuere deutsche Einflüsse dürften in tascher quieu ,stillschweigen‘ (5), prender or ,hervornehmen‘ (8) und manar or ,ausführen‘ (4) vorliegen. Cf. aber zum Problem der Kombination Verb + Ortsadverb auch unten p. 180. Wortbildung - In malgisteia ,Ungerechtigkeit‘ (4) liegt das auch im Surselvischen geläufige privative Präfix malvor. Cf. L IVER 1989: 798. - Das Suffix -ada < - ATA , das in den meisten Fällen eine Verbalhandlung in ihrem Ablauf charakterisiert, tritt zuweilen auch zu Nomina, so hier baselgiada ,in der Kirche versammelte Gemeinde‘ (9). In diesem Falle hat es kollektive Bedeutung. - Das Verbalsuffix -entar mit kausativer Bedeutung ist im BR äußerst produktiv. Im Falle von stgirantar ,verdunkeln‘ (10-11) ist der Zusammenhang mit stgir ,dunkel‘ für den Sprecher sicher transparent, während bei schiantar ,trocknen‘ (8) die Verbindung zu schetg ,trocken‘ weniger offensichtlich ist. Cf. L IVER 1991: 82. 3.1.3.3 Surmiran Margarita Uffer, Metropola - „all’italiana“ (U FFER 1995: 43s.) 1 Ia stansch aint cò. Sch’ia vess en po savia eir a pe! Quegl na saro betg pi gliunsch tgi da Lantsch anfign Brinzouls. Glez veva fatg en’eda a pe. Ma lò è migldr’aria. Brinzouls! Mancumal, glez è sto a Brinzouls, cur tgi sun en de passada tras la vischnanca avant blers blers onns. Tot tgi era nia or 5 sen la sava a vurdar. A vurdar en’estra a passar tras vischnanca. Pertge a Brinzouls na nivigl betg igls esters, e strousch ensatgi no da Sursés. I na schevan navot, betg en pled, i vurdavan angal, cun la bucca averta. Ed or segls pros eran las vatgas tgi tgitavan, er ellas, se per me, smarvagle das. 10 Ia sun aloura stada leda dad eir or pigl mond, a star an en martgea, noua tgi te post eir per las veias sainza tgi la glioud varda se per te scu se per ena raritad. Noua tgi nign na tigna tga per te, noua tgi te ist libra d’at smuantar. Übersetzung Ich ersticke da drinnen 18 . Wenn ich doch ein Stück zu Fuß gehen könnte! Das wird nicht weiter sein als von Lenz nach Brienz 19 . Das hatte ich einmal zu Fuß gemacht. Aber dort ist die Luft besser. Brienz! Tatsächlich, das war 18 Die Szene spielt in der Untergrundbahn von Mailand. 19 Lantsch (dt. Lenz) und Brinzouls (dt. Brienz) sind zwei Ortschaften im Bereich des Albulatals. Um die Ironie des Passus zu verstehen, muß man wissen, daß das Albulatal in unmittelbarer Nähe des Oberhalbsteins liegt, aus dem die Autorin stammt. <?page no="59"?> 59 in Brienz, wo ich vor vielen, vielen Jahren einmal durch das Dorf ging. Alle Leute waren an die Haustür gekommen, um zu schauen. Um zu schauen, wie eine Fremde durch das Dorf ging. Denn nach Brienz kamen die Fremden nicht, und kaum jemand aus dem Oberhalbstein. Sie sagten nichts, kein Wort, sie schauten nur mit offenem Munde. Und draußen auf der Weide waren die Kühe, und auch sie guckten erstaunt auf mich. Ich war dann froh, in die Welt hinaus zu gehen und in einer Stadt zu leben, wo man umhergehen kann, ohne daß die Leute einen anstarren wie ein Weltwunder. Wo keiner für einen haushaltet, wo man Bewegungsfreiheit hat. Transkription 1 iɐ ʃtanʃ aint kɔ. ʃ iɐ vεs em po sɐ viɐ eir ɐ pε. kεʎ nɐ sɐ rɔ bec pi λ untʃ ci dɐ lantʃ ɐn fi brin tsɔuls. ʎεts vevɐ fac en εdɐ ɐ pε. mɐ lo ε mi λ dr arjɐ. brin tsɔuls. maŋkcu mal, λ εts ε ʃto a brin tsɔuls, kur ci suŋ en de pɐ sadɐ tras lɐ viʃ naŋkɐ ɐ vant blers blers ɔns. tot ci erɐ niɐ or sen 5 lɐ savɐ ɐ vur dar. ɐ vur dar en εstrɐ ɐ pa sar tras viʃ naŋkɐ. pεr ce ɐ brin tsɔuls nɐ nivi λ bec i λ s εstərs, ε ʃtrouʃ εnsɐ ci no dɐ sur ses. i nɐ evɐn nɐ vot, bec en plet, i vur davɐn ɐŋ al, kun lɐ bυkɐ ɐ vεrtɐ. εd or se λ s pros erɐn lɐs vacɐs ci ci tavɐn, er εlɐs, se pεr me, ʃmɐrvɐ λ e dɐs. 10 iɐ suŋ ɐ lowrɐ ʃtadɐ ledɐ dɐd eir or pi λ mont, ɐ ʃtar ɐn en mɐr ceɐ, nɔwɐ ci te pɔʃt εir pər lɐs vejɐs saintsɐ ci lɐ λ ɔut vardɐ se pεr te ʃku se pεr enɐ rari tat. nowɐ ci ni nɐ ti ɐ ca pεr tε, nowɐ ci te iʃt librɐ d ɐt ʃmuɐn tar. Kommentar Phonetik/ Phonologie, Schrift und Aussprache Das Surmiran hat eine Brückenfunktion zwischen dem rheinischen und dem engadinischen Bündnerromanischen. Wie die Sur- und die Sutselva kennt es keine palatal gerundeten Vokale (/ y/ und / ø/ ). Gewisse Abweichungen vom Sursilvan, die wir für das Sutsilvan registriert haben, gelten auch für das Surmiran: - Dem steigenden Diphthong [ja] des Surselvischen entspricht im Sutsilvan wie im Surmiran ein fallender Diphthong (suts. [ εɐ ], surm. [ eɐ ]): surs. biars [bjars] vs. surm. blers [ble ɐ rs]. - Wir haben gesehen, daß das Sutselvische mehr Diphthonge aufweist als das Surselvische. Noch mehr Diphthonge hat das Surmiran: surs. via vs. suts./ surm. veia surs./ suts. ir vs. surm. eir surs./ suts. al(l)ura vs. surm. aloura etc. <?page no="60"?> 60 - Die Vokalkombination [i ɐ ] verbindet die ganze mittlere Zone von Sutselva, Surmeir und Oberengadin. Während sie im Sutsilvan und im Puter durch die archaisierende Graphie <ieu> wiedergegeben wird, schreibt das Surmiran in Übereinstimmung mit der Lautung <ia>: savia (1), p.p. von saveir, nia (4), p.p. von neir. - Im Konsonantismus weist Surmeir mehr Palatalisierungen auf als die rheinischen Dialekte (dort wiederum das Sutselvische mehr als das Surselvische): vatga [’vac ɐ ] (9) vs. surs. vacca [’vak ɐ ] tga [ca] (12) vs. surs. casa [kaz ɐ ] 20 gliunsch [ ʎ un ʃ ] (2) vs. surs. lunsch [lun ʃ ] igls [i ʎ s] (6) vs. surs. ils [ils]. - Charakteristisch für viele Mundarten des Oberhalbsteins sind die sogenannten verhärteten Diphthonge, d.h. eine Folge von Vokal + [k] anstelle eines fallenden Diphthongs. In der Schriftform des Surmiran findet diese phonetische Besonderheit keinen Niederschlag. Cf. in unserem Text strousch (6), was in der lokalen Aussprache von Savognin [ ʃ trok ʃ ] lauten würde, glioud (11) [ ʎ okt]. Dazu unten p. 159s. Formen und Funktionen - Das Futurum ist im Surmiran synthetisch (saro 1) wie im Engadin, während Sur- und Sutsilvan ein periphrastisches Futurum haben (cf. oben p. 52). - Pronomina: Wie alle übrigen br. Idiome mit Ausnahme des Surselvischen (cf. unten p. 138s.) kennt das Surmiran zwei Serien von Personalpronomina, die eine für die prädikativen, die andere für die nicht-prädikativen Funktionen (traditionell: betont/ unbetont). Unser Text weist nur Besipiele für nicht-prädikative Verwendung auf. Das (obligatorische) unbetonte Subjektspronomen ist vertreten durch Ia stansch (1) und I na schevan navot,… i vurdavan angal (6-7), wo i die umgangssprachlich geläufige genusindifferente Form des Pronomens der 3. Ps. Pl. darstellt (neben genusdifferenzierendem els, ellas). Das (nicht-prädikative) Reflexivpronomen liegt vor in te ist libra d’ at smuantar (12-13). - Demonstrativum: Margarita Uffer schreibt quegl, wo die offizielle Orthographie chegl lauten würde: Quegl na saro betg pi gliunsch tgi da Lantsch anfign Brinzouls (1-2). Chegl ist die „neutrale“, besser: areferentielle Form des Pronomens chel, chella, das die Sprecherposition repräsentiert (gegenüber tschel, tschella für die Position nicht beim Sprecher). In der Folge wird quegl wieder aufgenommen durch glez, die areferentielle Form von lez, lezza, einem Demonstrativum, dessen genaue Funktion im System der Demonstrativa noch zu bestimmen bleibt. Vieles deutet darauf hin, daß lez primär Anaphorikum ist, also textinterne und nicht lokaldeiktische Funk- 20 Zum Problem der Palatalisierung von K vor A im Surselvischen cf. unten p. 168. <?page no="61"?> 61 tion hat. So in unserem Text: Glez veva fatg en’eda a pe (2) ,eben das (das vorher Erwähnte) hatte ich einmal zu Fuß gemacht‘ (so auch glez è sto a Brinzouls 3). Cf. unten p. 136s. Syntax Drei Stellen verlangen nach einem Kommentar: 1. Tot tgi era nia or sen la sava (4-5). In der Kombination tot + Relativum tgi leitet tgi nicht einen (untergeordneten) Relativsatz ein; vielmehr ist tot tgi era inhaltlich ein Äquivalent von tots eran. Die Konstruktion ist auch im Surselvischen geläufig (cf. S PESCHA 1989: 377). 2. A vurdar en’estra a passar (5). Der durch die Präposition a eingeführte Infinitiv betont die Handlung in ihrem Ablauf (cf. oben p. 53 zu surs. veser + a + Gerundium). 3. Pertge a Brinzouls na nivigl betg ils esters (5-6). Zwei Phänomene sind hier auffällig: die grammatische Inkongruenz zwischen Prädikat und Subjekt und die Verwendung eines Dummy-Pronomens. Wörtlich wäre die deutsche Wiedergabe: ,denn nach B. kam es nicht die Fremden‘. S TIMM 1976 behandelt analoge Konstruktionen im Surselvischen. Wortschatz - Für das Surmiran charakteristisch ist das ausschließlich hier verwendete angal ,nur‘ (7). Cf. DRG 1: 277. - Vurdar (5) ,sehen, schauen‘ teilt das Surmiran mit dem Sutsilvan. Eng. guardar (-er) gehört derselben ursprünglich germanischen Wortschicht an, während surs. mirar eine lateinische Basis fortsetzt. - Das Verb tgitar ,schauen‘ (9; offizielle Graphie: tgittar) ist in ganz Romanischbünden außer in der Surselva verbreitet. Cf. HR 955. 3.1.3.4 Puter Reto Caratsch, Il commissari da la cravatta verda (C ARATSCH 1983: 123) 1 Cuspetta ch’illa vita da Möckli vo tuot insü scu la rauna chi s’arampcha fin som sa s-cheletta per annunzcher bell’ora! Daspö ch’el es achaso in vschinauncha - que stu fer dudesch ans, hehej cu cha’l temp as fo svelt our da la sdratscha! - che prunas da cumplimaints per il pulit 5 mataratscher chi renda il sön dals Marvennigners pü dutsch e lam! Ed ils set Möcklins giuvens, cumbain cha lur tschüfs culur glin faun ün pô spicca, nun haune piglio pè e risch aint il terratsch engiadinais? E Möckli senior, hihi, nu sflüja’l sül champ litterari alchüns successins ch’ün pudess dafatta numner success, hoho? Sa poesia „Meditaziuns 10 d’ün bouf il di da Bümaun“, squitscheda cun bellas lettras nairas aint illa giazetta da la val, nun ho’la fat furora in vschinauncha e perfin <?page no="62"?> 62 utrô? Ma uossa s’evra l’üsch da l’ufficina e tschuncha muorz il discursin cha’l mataratscher fo be da per se. Ün Taliaunet d’aspet vaira proble- 15 matic as sfuolsch’aint. Schum e dalum tira’l oura da sa buscha tschinch s-charnütschs da palperi plain stichieus e’ls sbüerla vers il misteraun. „Zücher“, clama’l cun ün tun ün pô roch ed agito, „zücher da prüma qualited. Ün franc per tschinch kilos. Schi u na? “ Übersetzung Wirklich, im Leben von Möckli geht alles aufwärts wie der Frosch, der zuoberst auf sein Leiterchen klettert, um das schöne Wetter anzuzeigen. Seit er sich im Dorf niedergelassen hat - das ist nun wohl zwölf Jahre her, ja, wie schnell die Zeit sich wegstiehlt! 21 -, was für eine Menge von Komplimenten für den tüchtigen Tapezierer, der den Schlaf der Marvenner süßer und sanfter macht! Und die sieben kleinen Möcklis, haben die etwa nicht Wurzel geschlagen im Engadiner Boden, wenn auch ihre Flachsköpfe ein wenig auffallen? Und Möckli Senior, ha, erntet er etwa nicht ein paar bescheidene Erfolge auf literarischem Gebiet, die man ruhig richtige Erfolge 22 nennen könnte, was? Hat sein Gedicht „Meditationen eines Ochsen am Neujahrstag“, das schwarz auf weiß in der Lokalzeitung erschienen war, etwa nicht Furore gemacht im Dorf und sogar darüber hinaus? Aber jetzt öffnet sich die Tür der Werkstatt und das kleine Selbstgespräch des Tapezierers wird jäh unterbrochen. Ein kleiner Italiener von höchst zweifelhaftem Aussehen drängt sich herein. Schwups holt er aus seinem Rucksack fünf vollgestopfte Papiertüten heraus und schubst sie auf den Handwerker zu. „Zucker“, ruft er in einem etwas heiseren und nervösen Ton, „erstklassiger Zucker. Einen Franken für fünf Kilo. Ja oder nein? “ Transkription 1 ku ʃpεtɐ c ilɐ vitɐ dɐ m œ kli vɔ tuət in sy ʃku lɐ rεmɐ ci s ɐ ramp cɐ fin som sɐ ʃce lεtɐ pər ɐnunts cer bεl ɔrɐ. dɐ ʃpø c el es ɐcɐ zo in v i nε cɐ - kwe ʃtu fer dudɐʃ ans, he hej, ku cɐ l temp ɐs fɔ vεlt ɔr dɐ lɐ dratʃɐ. - ce prunɐs dɐ kumpli mεnts pər il pu lit 5 matɐrɐ tʃer ci rendɐ il s ø n dɐls mɐrvε ni ərs py dutʃ e lam. ed ils sεt m œ kli s uvəns, kum bain cɐ lur tʃyfs ku lur λ in fεm ym po ʃpikɐ, nun εmɐ pi λ o pε e riʃ aint il tε ratʃ en ɐdi nεs ? e m œ kli seniɔr, hi hi, nu ʃflyjɐ l syl camp litε rari ɐl cyns suksε sins c yn pu dεs dɐ fatɐ num ner suk sεs, ho ho ? sɐ poe ziɐ meditɐ tsjums 21 Die idiomatische Wendung as fer our da la sdratscha entspricht dt. sich aus dem Staube machen. Die wörtliche Bedeutung von sdratscha ist ,Lumpen‘. 22 Das Spiel zwischen Diminutiv und Basiswort (successin - success) ist auf deutsch kaum wiederzugeben. <?page no="63"?> 63 10 dyn bɔf il di dɐ by mεm, ʃkwi tʃedɐ kun bεlɐs lεtrɐs nεrɐs εnt ilɐ ɐ tsεtɐ dɐ lɐ val, nun ɔ lɐ fat fu rorɐ in v i nε cɐ e pər fin u tro ? ma uɔsɐ z evrɐ l yʃ dɐ l ufi tsinɐ e tʃuncɐ muɔrts il diʃkur zi cɐ l matɐrɐ tʃer fo be dɐ pεr sε. yn ta λ ε met d ɐ ʃpεt vεrɐ prɔble - 15 matik ɐs ʃful εnt. υm e dɐlυm tirɐ l ɔrɐ dɐ sɐ bu ɐ tʃinc ʃcɐr nytʃs dɐ pɐl peri plε ʃtɐ ciɐs e ls byərlɐ vεrs il miʃtə rεm. tsycər, klamɐ l kun yn tum ym po roc ed a i to, tsycər dɐ prymɐ kali tet. yn fra k pər tʃinc kilos. ʃi u na ? Kommentar Phonetik/ Phonologie. Schrift und Aussprache - Der Laut, der das Puter am auffälligsten von allen übrigen br. Idiomen unterscheidet, ist das geschlossene [e], das in Kontexten erscheint, wo die anderen Sprachgebiete [a] aufweisen, so in den Infinitiven und in den weiblichen Formen des Part. perf. der - ARE -Konjugation und in anderen Fällen, wo lat. A in offener Silbe zugrundeliegt. In unserem Text: annunzcher (2), numner (9), squitscheda (10), qualited (18). - Mit dem Unterengadin (Vallader) gemeinsam hat das Puter dagegen die palatal gerundeten Laute [y] und [ø], welche in den rheinischen Dialekten fehlen: daspö (2), sön (5), pü (5), tschüfs (6), ün (7), sflüja (8) etc. - Die Vokalkombination [i ɐ ], der wir schon im Sutsilvan und Surmiran begegnet sind, setzt sich auch im Puter (aber nicht mehr im Vallader) fort: stichieus [ ʃ t ɐ ci ɐ s] (16). - Die Graphie <ieu> ist historisch (cf. oben zum Sutselvischen p. 56 und zum Surmiran p. 60), genau wie <aun> für eine Lautung, die heute [ ε : m] gesprochen wird: rauna [ r ε : m ɐ ] (1), faun [f ε m] (6), misteraun [mi ʃ t ə r ε : m ] (15). - Im Konsonantismus fallen die sehr häufigen Palatallaute auf. K vor A palatalisiert im Puter wie auch im Vallader sowohl in der Tonsilbe als auch in der unbetonten Silbe, während in anderen Teilen Romanischbündens die Palatalisierung teils auf die Tonsilbe beschränkt ist, teils überhaupt ausbleibt (so weitgehend in der Surselva). Cf. L IVER 1995: 77s. - Für den Sprachlernenden schwierig sind Kombinationen von Konsonanten wie <s-ch>, gesprochen [ ʃ c] oder <z-ch>, realisiert als [tsc]. In unserem Text: s-cheletta (2), annunzcher (2), s-charnütschs (16). Formen und Funktionen Personalpronomen Im Bereich der Personalpronomen gehen Sutsilvan, Surmiran und das gesamte Engadinische insofern zusammen, als sie eine prädikative von einer nichtprädikativen Serie unterscheiden, während das Sursilvan eine Sonderstellung einnimmt. Cf. oben p. 57. <?page no="64"?> 64 In unserem Text begegnen in syntaktischer Inversion die folgenden enklitischen Subjektspronomina: haune (für haun els) 7, sflüja’l (für sflüja el) 8, ho’la (für ho ella) 11, tira’l (für tira el) 15, clama’l (für clama el) 17. Cf. L INDER 1987: 47-95. Proklitisch verkürzt ist das nicht-prädikative Objektspronomen ’ls (für als): e ’ls sbüerla (16). Reflexivum Die Opposition zwischen prädikativem und nicht-prädikativem Reflexivum (se vs. as, ’s) wird durch die folgenden Beispiele illustriert: la rauna chi s’arampcha (1), uossa s’evra l’üsch (12), ün Taliaunet… as sfuolsch’aint (15), be da per se (14). Zu den Formen des ganzen Paradigams cf. G ANZONI 1977: 67. Possessivum Das Possessivum wird in E und S (wie im Französischen, nicht wie im Italienischen) ohne Artikel gebraucht. In unserem Text: sa s-chaletta (2), lur tschüfs (6), sa poesia (9), sa buscha (15). Zu C cf. oben p. 57. Syntax und Wortfolge Die Gesetze der Inversion sind dieselben wie oben p. 53s. für das Sursilvan beschrieben. Wortschatz und Wortbildung Diachronischer Gesichtspunkt: - cuspetta ,sieh mal‘ (1). Nach DRG 4: 607 Entlehnung der it. Interjektion cospetto mit Angleichung an Ausdrücke wie uossa spetta! spetta cha! - furora ,Furore‘ (11). Ebenfalls eine Entlehnung aus dem It. (fare furore) mit Angleichung an die lautlichen Verhältnisse des Bündnerromanischen. Cf. DRG 6: 786s. - prunas ,massenhaft‘ (4). Die Herkunft dieses Worttyps, der im Surs./ Suts. in der Form pluna, im Surm. als plunga ,Beige‘, ploma ,Menge, Beige‘ erscheint, ist nicht geklärt. Cf. HR 606s. - tschüf ,Schopf‘ (6). Wie it. ciuffo ,Schopf‘ und vall. tschüffer ,packen‘ zu einer onomat. Wurzel. Cf. HR 950 und 952. - sflüjer ,ernten‘ (8). Vall. sfrüar. Parasynthetikum zu früja ,Frucht‘ zu einem lat. * FRUGA mit Liquidwechsel fr > fl. Cf. DRG 6: 616. - s-charnütsch ,Tüte‘ (16). Das auch im Bündnerdeutschen in der Form Schgarnutz geläufige Wort ist nach HR 709 eine Entlehnung aus dem Tirolischen. Nach Schw. Id. 8: 1301s. ist die bündnerdeutsche Form aus dem Rtr. entlehnt. Der Worttypus ist im ganzen BR, vom Tavetsch bis ins Münstertal, vertreten. Es wäre zu untersuchen, ob wirklich in ganz Graubünden eine Entlehnung aus dem Tirolischen anzunehmen ist, oder ob ev. ein ursprüng- <?page no="65"?> 65 lich rätoromanisches Wort sich im ganzen Gebiet (inkl. Tirol) ausgebreitet hat. - tschuncher muorz ,abbrechen‘ (13). Das Verb, das im Vallader tschunker, im Puter tschuncher (3. Konjugation) lautet (und im Surm. und Suts. in verschiedenen Ableitungen vertreten ist), geht auf eine Basis zurück, die auch dem it. cionco, cioncare zugrundeliegt (DEI 951). Aus dem Kontext läßt sich erschließen, daß tschuncher muorz ,völlig, jäh abbrechen‘ bedeuten muß. Die Wörterbücher geben keine Belege für muorz, aber aus dem noch unbearbeiteten Material des DRG geht hervor, daß muors im Vallader sporadisch in der Bedeutung ,ganz, völlig‘ belegt ist, und zwar vor allem in Verbindung mit den Verben tschunker (gio), rumper (gio) und taschair. Belege aus Tschlin (E 10), Vnà (E 14) und Sent (E 15). Ob dieser Worttypus mit dem in Mittelbünden, v.a. in Domat (C 92) verbreiteten Adverb und Elativpräfix murz, wohl zu dt. mords-, identisch ist, muß künftige Forschung erst prüfen (cf. Eichenhofer 1999: 431 mit N 1). - schum e dalum ,schwups‘ (15). Das nirgends belegte schum scheint eine semantische Verstärkung von dalum ,sofort‘, einem auf E und C beschränkten Worttypus (cf. DRG 5: 43), zu sein. Es könnte sich um eine spielerische Schöpfung von Reto Caratsch handeln. Synchronischer Gesichtspunkt: Oben p. 54s. wurde auf den Gebrauch der Modalverben saver und puder im Surselvischen hingewiesen. Im Engadinischen ist die Verwendung von savair und pudair weitgehend parallel zu derjenigen der entsprechenden it. Verben. In unserem Text: ch’ün pudess dafatta numner success (9). Wortbildung Das Diminutivprogramm auf -in ist im Engadinischen durchaus vital und produktiv, d.h., daß spontan von einem beliebigen Substantiv ein Diminutiv auf -in abgeleitet werden kann. In unserem Text: successins (8), discursin (12). 3.1.3.5 Vallader Cla Biert, Il descendent (B IERT 1981: 58ss.) 1 Intant guardaiv’eu intuorn scha’l serpaischem cumpariss dad alch varts; mo el nu gniva, e davo cha meis bap as vaiva miss a chantar amo ün’otra chanzun, schi ma pazienza giaiva planet al main. Mo cun chantar l’ultim vers ha tendschü via meis bap il man vers il pissun da la peidra, 5 planin planin. Lura s’haja dudi alch sfuschignöz. „El vain, el vain! “ „Tascha chamön! “ Eu staiva be musc, cun murlas, guardond co cha la bes-chetta misteriusa chatschaiva il cheuin plat suot il müs-chel da la peidra nan, co ch’el- <?page no="66"?> 66 10 la cuccaiva cun quels öglins furbers, glüschaints, sco glüminas, co ch’ella as struozchaiva lom lomin vi pel pissun, adüna plü e plü innan, per fladunar lura vi da la daintuna platta dal man da meis bap, dozond minchatant il cheu par tadlar, e co cha ella, a la fin, s’ha plachada aintimmez la palma gruoglia, ninond cul cheu. Ella inclegiaiva, schi schi, el- 15 la inclegiaiva! Übersetzung Unterdessen schaute ich umher, ob die Eidechse irgendwo zum Vorschein käme. Aber sie kam nicht, und nachdem mein Vater begonnen hatte, noch ein weiteres Lied zu singen, ging meine Geduld langsam zu Ende. Aber während er den letzten Vers sang, streckte mein Vater ganz sachte die Hand gegen das verdorrte Gras an den Steinen aus. Da hörte man etwas rascheln. „Sie kommt, sie kommt! “ „Schweig still! “ Ich blieb ganz still, mit großen Augen, und sah zu, wie das geheimnisvolle Tierchen den kleinen flachen Kopf unter dem Moos der Steine hervorstreckte, wie es aus schlauen Äuglein guckte, die wie Lämpchen glühten, wie es ganz sachte durch das dürre Gras kroch, immer näher und näher, um dann an den großen, ausgestreckten Fingern meines Vaters zu schnuppern, wobei es ab und zu den Kopf hob, um zu horchen, und wie es sich schließlich mitten auf der rauhen Handfläche niederließ und mit dem Kopf hin und her nickte. Es verstand (das Lied), wirklich, es verstand es! Transkription 1 in tant wɐr daiv ε in tworn ʃɐ l sər pai əm kumpɐ ris dɐd alc varts ; mɔ εl nu ivɐ, ɐ dɐ vo cɐ mεis bap ɐs vaivɐ mis ɐ cɐn tar ɐ mo yn o tra cɐn tsun, ʃi mɐ pɐ tsjentsɐ aivɐ plɐ net ɐl main. mɔ kun cɐn tar l ultim vεrs a ten d y viɐ mεis bap ɐl man vεrs ɐl pi sun dɐ lɐ peidrɐ, 5 plɐ nin plɐ nin. lurɐ z ajɐ du di alc ʃfuʃi øts. ɐl vain, ɐl vain! tazɐ cɐ møn! ε ʃtaivɐ be muʃk, kun murlɐs, wɐr dɔnt kɔ cɐ lɐ beʃ cεtɐ miʃtə rju zɐ cɐ tʃaivɐ ɐl cε in plat zwot ɐl myʃcəl dɐ lɐ pεidrɐ nan, kɔ c ε - 10 lɐ ku kaivɐ kun kwεls ø λ ins furbərs, λ y aints, sko λ y minɐs, kɔ c ε lɐ ɐs ʃtruots caivɐ lɔm lɔ min vi pəl pi sun, ɐ dynɐ ply ɐ ply i nan, pər flɐdu nar lurɐ vi dɐ lɐ dain tunɐ platɐ dɐl man dɐ mεis bap, do tsɔnt mincɐ tant ɐl cε pər tɐ dlar, ɐ ko cɐ εlɐ, ɐ lɐ fin, z a plɐ cadɐ aint i mεts lɐ palmɐ rwo λ ɐ, ni nɔnt kul cε. εlɐ iŋkle aivɐ, ʃi ʃi, ε - 15 lɐ iŋkle aivɐ! <?page no="67"?> 67 Kommentar Phonetik/ Phonologie. Schrift und Aussprache Mit dem Puter teilt das Vallader die gerundeten Palatale [y] und [ø], während es betontes A in offener Silbe als [a] bewahrt wie alle übrigen Idiome außer dem Puter: ün (2), tendschü (4), sfuschignöz (5), chamön (7), chantar (2, 3), fladunar (12) etc. Der Diphthong, der graphisch als <uo> notiert wird (intuorn 1, gruoglia 14), variiert in der Aussprache diatopisch sehr stark. Während im Puter ein fallender Diphthong gesprochen wird [’u ə ], wird im Vallader der entsprechende Laut mehrheitlich als steigender Diphthong realisiert [u o]. Für das Adverb intuorn gibt P EER 1962 Betonung auf dem [o] an. DRG 9: 646 s. intuorn gibt für das ganze Unterengadin (E 1-2) [in tworn], für das Münstertal (E 3) [in tw ɔ rn], während das Oberengadin (E 4-5) einen fallenden Diphthong aufweist [in tu ə rn], [in tu ɐ rn]. Allerdings gibt es auch im Vallader Ausnahmen mit fallendem Diphthong: Ramosch (E 13), Ardez (E 21) [in tu ɐ rn]; ebenso im Münstertal: Santa Maria (E 34) [in tu ɔ rn], [in tu ɐ rn]. Die Graphie des Vallader ist gesamthaft der Aussprache näher als die des Puter. Extreme Abweichungen wie Puter <aun> für [ ε : m] fehlen hier. Dennoch stellt auch die unterengadinische Schriftsprache (wie die aller br. Idiome) eine Kompromißnorm dar, die in gewissen Graphemen eine Vielzahl von lokal verschiedenen lautlichen Realisierungen vereinheitlicht, so etwa in der Graphie <eu> des Personalpronomens der 1. Person, das in den verschiedenen Ortsdialekten als [ ε : ], [ ε w], [j ε ], [j ɐ ], [jow], [jaw] gesprochen wird (cf. DRG 5: 725). Formen und Funktionen - Reflexivum: Das Reflexivum stimmt im Vallader (wie in den übrigen br. Idiomen mit Ausnahme des Sursilvan; cf. oben p. 51) weitgehend mit dem Personalpronomen überein (cf. A RQUINT 1964: 43). Für die 3. Person lautet die nicht-prädikative Form as, vor Vokal s’: meis bap as vaiva miss a chantar (2), ella as struozchaiva (10-11), s’haja dudi (5), ella… s’ha plachada (13). - Enklitische Personalpronomen: Dazu ausführlich L INDER 1987: 47-95. In unserem Text: lura s’haja dudi (5), wo haja eine Inversionsform von ha mit enklitischem -a (areferentielles Pronomen, ,man‘) und einem Übergangslaut j nach vokalisch auslautender Verbform darstellt. Bei persönlichem Subjekt hätte man ha’l, ha’la (A RQUINT 1964: 12). - Form auf -ss: Im Beispiel Intant guardaiv’eu intuorn scha’l serpaischem cumpariss dad alch varts (1) ist die Form auf -ss, die in erster Linie einen Konditional, nur noch vereinzelt einen Konjunktiv Imperfekt ausdrückt, durch die Konjunktion scha ,ob‘, die einen indirekten Fragesatz einleitet, bedingt. Cf. L IVER 1991: 59s. und unten p. 144ss. <?page no="68"?> 68 Syntax und Wortfolge - Hauptsatzeinleitendes schi nach vorangehendem Nebensatz findet sich in ganz Romanischbünden, wie im übrigen auch in mittelalterlichen Sprachen (lat. sic, ait. sí, afr. si etc.) und im Deutschen (so). In unserem Text: davo cha meis bap as vaiva miss a chantar…, schi ma pazienza giaiva planet al main (2-3). - Die oben für das Sursilvan formulierte Inversionsregel (cf. p. 53s.) wird im Vallader zwar auch weitgehend, aber weniger strikte angewendet. Das eben zitierte Beispiel (schi ma pazienza giaiva planet al main, 3) weist keine Inversion auf. Dagegen: cun chantar… ha tendschü via meis bap il man (3-4); Intant guardaiv’eu (1). Wortschatz und Wortbildung - serpaischem ,Eidechse‘ (1) ist eine Ableitung von serp ,Schlange‘. Dieser Worttypus findet sich im Engadin neben häufigerem lütscherna (< LUCERNAM ,Leuchte‘). Surs. luschard geht wie fr. lézard auf LACERTUM , LACERTAM ,Eidechse‘ zurück, wobei in luschard wie in ital. lucertola, oberital. lüscherda der Stamm von LUCEM ,Licht‘ für -uverantwortlich sein dürfte. Cf. AIS III: 449. - pissun ,dürres Gras, das unter dem Schnee hervorkommt‘ (4). Der Typus ist in E und C verbreitet, in S nur sporadisch bezeugt. Zugrunde liegt lat. PASSUM ,welk, verdorrt‘. Abl. mit dem Suffix - ONEM . Cf. HR 594. - chamön (7), nur im Ausdruck taschair chamön ,still schweigen‘, der (mit regionalen lautlichen Varianten) in E und C geläufig ist. Wie cumbien in surs. schar cumbien ,in Ruhe lassen‘ ist chamön (Vaz cumien) eine Zusammensetzung aus lat. CUM und BONUM . Cf. DRG 3: 235s. - musc (8), in offizieller Graphie muosch, ,leise, sachte‘, hier: ,still‘ (cf. mut e muosch ,mäuschenstill‘). Der Worttypus setzt sich im benachbarten oberital. Gebiet fort. Cf. HR 503. - furber ,schlau‘ (10), von ital. furbo mit einer unbetonten Endung -er, die sonst in Lehnwörtern aus dem Deutschen auftritt (cf. chazzer < dt. Kezzer, fegher < schwdt. Feger). - struozchar ,schleppen, schleifen‘ (11). Das auf E und einen Teil des Surmeir begrenzte Wort ist aus tirol. strûzn ,schleppen, mühsam arbeiten‘ entlehnt und mit der Endung -char an die einheimische Sprache assimiliert worden. Cf. HR 858s. Wortbildung Cla Biert macht ausgiebig von den Möglichkeiten vitaler Wortbildung Gebrauch. Diminutivsuffixe -in, -ina und -et, -etta: planin planin (5), lom lomin (11) in elativischer Doppelung, cheuin (9), öglins (10), glüminas (10), planet (3), bes-chetta (8). Augmentatives -un in daintuna (12), zum Kollektiv dainta. <?page no="69"?> 69 Das Suffix -öz, das zu Verbalstämmen tritt, hat oft eine pejorative Nüance (chantöz ,Singsang‘). Nicht so hier, wo das mit „Geraschel“ etwas frei übersetzte sfuschignöz (5) zu sfuschignar ,hastig hindurchschlüpfen‘ lediglich das Resultat der Handlung ausdrückt. Cf. L IVER 1991: 79-81. 3.2 Die soziolinguistische Situation Wie schon im obigen Forschungsüberblick (p. 37s.) hervorgehoben, ist das zentrale Faktum in der soziolinguistischen Situation des Bündnerromanischen die generelle romanisch-deutsche Zweisprachigkeit. Während vor fünfzig Jahren das Cliché des bärtigen, strümpfestrickenden Alphirten, der nur rätoromanisch spricht und versteht, noch da und dort Realität sein mochte, gibt es heute keine erwachsenen Rätoromanen mehr, die nicht über eine bilinguale Sprachkompetenz verfügten. Die massive Präsenz des Deutschen im Alltag der Rätoromanen ist ein Faktum, das man bedauern mag, aber weder wegdiskutieren noch aufheben kann. Diese Präsenz manifestiert sich in verschiedenen Bereichen: im direkten Kontakt mit deutschsprachigen Bündnern, die nicht romanisch sprechen und verstehen, in der Schule, in großen Teilen der Arbeitswelt, in den Massenmedien. Romanisch-deutsche Zweisprachigkeit ist jedoch eine vereinfachende Formel, unter der sich eine in Wirklichkeit weit kompliziertere Sprachsituation verbirgt. Wer die Verhältnisse in der deutschen Schweiz kennt, weiß, daß hier eine Diglossiesituation herrscht, in der das Standarddeutsch (hier Hochdeutsch oder Schriftdeutsch genannt) die H-Varietät, die schweizerdeutschen (alemannischen) Dialekte die L-Varietät darstellen. Mit dieser Situation sieht sich jeder Rätoromane seit seiner Kindheit konfrontiert: mit dem Schweizerdeutschen im direkten Kontakt mit Deutschschweizern, mit dem Hochdeutschen in der Schule und durch die Massenmedien. Aber auch innerhalb des Rätoromanischen besteht eine Art Diglossiesituation, insofern, als jeder Bündnerromane seinen Ortsdialekt spricht, aber in der Schule und in allen schriftlichen Belangen mit der übergreifenden regionalen Schriftnorm zu tun hat. K RISTOL 1989: 816 spricht deshalb von „einer Art doppelter Diglossie“. Mit zunehmender Verbreitung der überregionalen Schriftsprache Rumantsch grischun (cf. unten 3.3) wird zu diesem komplizierten Varietätengefüge noch eine weitere Facette hinzugefügt. Die Autoren, die sich bisher mit soziolinguistischen Fragestellungen in bezug auf das Bündnerromanische befaßt haben (besonders K RISTOL 1989 und D IEKMANN 1996), betonen, daß eine befriedigende Erfassung der komplizierten Situation mangels detaillierter Vorarbeiten zur Zeit nicht möglich ist. So Diekmann, dessen Beitrag von 1996 die umfassendste Darstellung der Situation und der einschlägigen Forschung darstellt: <?page no="70"?> 70 Eine voll befriedigende Beschreibung der bündnerromanischen Diglossieverhältnisse, ebenso wie eine schlüssige Gesamtdarstellung der soziolinguistischen Situation in Romanischbünden sind derzeit jedoch kaum möglich, da es an entsprechenden Studien zur Klärung einer ganzen Reihe von Detailfragen fehlt (D IEKMANN 1996: 339). Erst weitere Untersuchungen in der Art von S OLÈR 1983 und D IEKMANN 1983 würden generelle Aussagen über die Relation von Sprachhandlungen und kommunikativen Situationen erlauben. Sprachlich relevante schichtspezifische Unterschiede sind im bündnerromanischen Bereich bisher nicht ausgemacht worden (K RISTOL 1989: 813). Es wäre zum Beispiel zu untersuchen, inwiefern bewußtes Sprachverhalten von traditionsbewußten Rätoromanen einerseits, unkritische Verwendung von Germanismen andererseits mit dem Grad der Bildung und dem sozialen Status korrelieren. Auch die „außerordentlich kleinräumige Sprachloyalität der Bündnerromanen“ (K RISTOL 1989: 814) dürfte mit zunehmendem Bildungsstand erweitert erscheinen. Sicher trägt auch die größere Mobilität der modernen Gesellschaft und die Verfügbarkeit weltweiter Kommunikation durch die Massenmedien zu einer Veränderung der Mentalität bei, die auch den Bündnerromanen zusehends eine großräumigere Verständigung als wünschenswert erscheinen läßt. Diese Entwicklung, die sich heute für den Beobachter abzeichnet, wenn sie auch bisher nicht wissenschaftlich dokumentiert ist, könnte eine Chance für die neue Schriftsprache Rumantsch Grischun sein. Zur Verwendung des Rätoromanischen in der Schule, in Verwaltung und Politik und zu den Ergebnissen der Volkszählungen von 1990 und 2000 cf. G RÜNERT et al. 2008 (oben p. 45s.). 3.3 Die neue Schriftsprache Rumantsch Grischun Seit 1982 läuft in Graubünden der Versuch, die überregionale Einheitssprache Rumantsch Grischun in die rätoromanische Sprachpraxis einzuführen und darin zu verankern. Versuche, die extreme sprachliche Zersplitterung des Bündnerromanischen, die natürlich die Stabilität der im Rückgang begriffenen Kleinsprache beeinträchtigt, durch eine einheitliche Schriftsprache zu überwinden, waren in der Vergangenheit verschiedentlich unternommen worden, scheiterten jedoch allesamt an den Mängeln der jeweiligen Entwürfe sowie an der fehlenden Bereitschaft der Sprachträger, sich auf Experimente einzulassen. Alexi Decurtins analysiert diese Versuche in seinem Beitrag „Die Bestrebungen zur schriftsprachlichen Vereinheitlichung der bündnerromanischen Idiome“ (D ECURTINS 1993/ I: 342-63): die Ideen des originellen aufklärerischen Benediktinerpaters Placidus a Spescha (1752-1833), das Romonsch fusionau des <?page no="71"?> 71 Mittelschullehrers Gion Antoni Bühler (1815-1897) und schließlich, in den 60er Jahren dieses Jahrhunderts, das surmiran-basierte Interrumantsch von Leza Uffer (1912-1982). Diekmann (1996: 372) betont zu Recht, daß das Rumantsch Grischun 1982 aus einer veränderten, günstigeren Ausgangslage heraus lanciert werden konnte. Einerseits ist das linguistische Konzept des Rumantsch Grischun, erarbeitet vom Zürcher Romanisten Heinrich Schmid, ungleich geschickter, konsequenter und ausgewogener als alle vorherigen Entwürfe. Andererseits (und das ist wohl von ausschlaggebender Bedeutung, wie Schmid selbst festhält 23 ) ist heute die sozioökonomische Situation und damit die Einstellung vieler Rätoromanen zu ihrer Sprache eine ganz andere als in früheren Zeiten. Im folgenden soll das Konzept, das dem Rumantsch Grischun zugrunde liegt, kurz skizziert werden. Ausführliche Darstellungen finden sich bei S CHMID 1985b und 1989, D IEKMANN 1992, D ARMS 1994. Eines muß vorausgeschickt werden: Das Vorgehen von Heinrich Schmid bei der „Konstruktion“ des Rumantsch Grischun war ein durchaus pragmatisches, das der speziellen Situation Romanischbündens Rechnung trägt. Es galt, eine Form zu finden, die den ausgeprägten Partikularismus der Rätoromanen, ihre „kleinräumige Sprachloyalität“ (cf. oben p. 70) möglichst respektiert, d.h. den einzelnen Sprachgruppen möglichst wenig Abweichungen von ihren angestammten Sprachgewohnheiten zumutet. Das bedeutet, daß in jedem Fall der größte gemeinsame Nenner gesucht wird und dort, wo kein solcher besteht, eine Lösung vorgeschlagen wird, die möglichst wenig Leute vor den Kopf stößt. Der Sprachwissenschaftler Schmid hätte an sich einen anderen Weg bevorzugt: Das bei weitem sympathischste Verfahren hätte im Prinzip darin bestanden, einem der bereits ausgebildeten Schriftidiome die Funktion einer übergeordneten Brükkensprache zuzuweisen (S CHMID 1985b: 181). Aber die realistische Beurteilung der vorgegebenen sprachpsychologischen Situation und die negativen Erfahrungen mit dem Interrumantsch von Leza Uffer ließen es als erfolgversprechender erscheinen, eine Kompromißsprache zu erarbeiten, die auf dem Prinzip des größten gemeinsamen Nenners beruht. Konkret bedeutet das, daß dort, wo die drei wichtigsten Schriftidiome Sursilvan, Surmiran und Vallader übereinstimmen, die entsprechende Form gewählt wurde: S Sm. V RG clav clav clav clav ,Schlüssel‘. 23 „Zu glauben, das Problem sei ein rein linguistisches, würde einer Verkennung der Realitäten gleichkommen. Es sind nicht so sehr sprachliche wie psychologische, gesellschaftliche und politische Momente, die im weiteren den Ausschlag geben werden“ (S CHMID 1985b: 201). <?page no="72"?> 72 Wo zwei der drei Hauptidiome übereinstimmen, das dritte abweicht, wurde nach dem Mehrheitsprinzip verfahren: S Sm. V RG fil feil fil fil ,Faden‘ tschiel tschiel tschel tschiel ,Himmel‘ siat set set set ,sieben‘. Oft ist es die „Brückensprache“ Surmiran, die bei Abweichungen von rheinischen und engadinischen Formen den Ausschlag gibt: S Sm. V RG cor cor cour cor ,Herz‘. S CHMID (1985b: 183) bemerkt, daß man zu analogen Koinéformen auch dann gelangt wäre, wenn man das Surmiran als Ausgangsform gewählt und dann jene Sondermerkmale ausgemerzt hätte, die sowohl dem Engadin als auch der Surselva fehlen. Das Prinzip, die größte gemeinsame Übereinstimmung herauszuarbeiten, führt zur Elimination aller auf ein bestimmtes Teilgebiet beschränkten Merkmale. So verschwinden aus dem Rumantsch Grischun die gerundeten Palatalvokale [y] und [ø], die das Engadinische charakterisieren (cf. oben p. 63 und S CHMID 1985b: 189-91), aber auch der fallende Diphthong [ I w] und der steigende Diphthong [ja], die dem Sursilvan eigen sind (cf. oben p. 48): S Sm. V RG in en ün in ,ein‘ (unbestimmter Artikel) egl îgl ögl egl ,Auge‘ vendiu vendia vendü vendi ,gekauft‘ 24 fiasta festa festa festa ,Fest‘. Auf dem Gebiet der Morphologie geht die Auswahl des Rumantsch Grischun in dieselbe Richtung: „Aberrante“ Sonderentwicklungen resp. Konservativismen einzelner Sprachgebiete wie z.B. das prädikative -s und der i-Plural der schwachen Partizipien im Surselvischen (cf. oben p. 51, unten p. 134s.) oder das mit der Präposition a eingeleitete persönliche Objekt des Ladin (cf. unten p. 160s.) scheiden aus 25 . Neben dem Prinzip der größten Verbreitung spielt hier auch das Kriterium der Einfachheit und Transparenz eine entscheidende Rolle. Die Normierung geht in Richtung Regularisierung. Das bedeutet, daß 24 Zum Part. Perf. cf. S CHMID 1985: 194-96. Während im Fall des Partizips auf -i die mittelbündnerischen [i: ɐ ]-Laute eliminiert werden, können sie in einem Sonderfall in Erscheinung treten: in den Wörtern Dieu, fieu, lieu, für die eine spezielle Lösung getroffen wurde (cf. S CHMID 1989; 60s.), ist eine Realisierung durch [i: ɐ ], jedenfalls in den Gebieten, die diese Vokalkombination kennen, wahrscheinlich. 25 Cf. S CHMID 1989: 68. <?page no="73"?> 73 z.B. die im Surselvischen massiv präsenten Vokalalternanzen in der Nominalflexion (Substantiv und Adjektiv) verschwinden: S Sm. V RG sg./ pl. iert/ orts iert/ ierts üert/ üerts iert/ ierts ,Garten‘ m./ f. cotschen/ cotschen/ cotschen/ tgietschen/ cotschna cotschna cotschna cotschna ,rot‘ 26 . Im Bereich der Lexik stellen sich erwartungsgemäß viele Probleme, die von Fall zu Fall gelöst werden müssen. Schmid kommentiert einige davon (S CHMID 1985b: 198s.), wobei einmal mehr die pragmatische Haltung, die auf größtmögliche Akzeptanz der neuen Schriftsprache bedacht ist, zum Ausdruck kommt. Die Strategie der „Architekten“ des Rumantsch Grischun, zu denen außer Heinrich Schmid die Mitarbeiter des Post da linguistica applitgada der Lia rumantscha gehören (cf. Retorumantsch: Facts & Figures 1996: 56), besteht weitgehend in der Verbreitung einer Norm, die im wesentlichen den beschriebenen Prinzipien folgt, an heiklen Stellen jedoch (v.a. in syntaktischen und lexikalisch-semantischen Problemfällen 27 ) Flexibilität (d.h. die Zulassung verschiedener Varianten) einer rigorosen Normierung vorzieht 28 . Eine nicht zu unterschätzende Schwierigkeit bei der Erarbeitung der Normen für das Rumantsch Grischun stellte die Orthographie dar. Wer sich an den erbitterten Streit erinnert, der in den 60er Jahren in der Surselva um die Schreibung von de resp. da (einheitliches <da> versus Unterscheidung in <de> und <da>; cf. D ARMS 1989: 847s.) ausgefochten wurde, wird Verständnis aufbringen für die Kompromißlösung des Rumantsch Grischun in der graphischen Wiedergabe der mediopalatalem Affrikata [c]: <ch> am Wortanfang, <tg> im Inlaut und Auslaut, also chaval, chasa, chomma, aber spetgar, notg, latg. Einmal mehr wurde eine rationalere Lösung (e i n Graphem für e i n 26 In der Verbalflexion bleiben Alternanzen erhalten, wenn sie gesamtbündnerromanisch sind. Cf. S CHMID 1989: 73. 27 Cf. etwa das Problem der Personalpronomina und lexikalische Problemfälle (S CHMID 1985b: 196s. resp. 198s.). 28 Wenn man bedenkt, daß die fünf bündnerromanischen Idiome je eigene Sprachsysteme mit entsprechenden einzelsprachlich definierten Oppositionen darstellen, ist es klar, daß in vielen Fällen eine „Harmonisierung“ der Verhältnisse nicht möglich ist, es sei denn, man entscheide sich für die Lösung einer bestimmten Sprachregion. Wo mit Rücksicht auf regionale Empfindlichkeiten auf einen solchen Entscheid verzichtet wird, können unklare Verhältnisse entstehen. Das ist z.B. im Fall der Demonstrativa gegeben, wo die deutlich divergierenden Systeme der einzelnen Idiome (cf. W UNDERLI 1987) sich im Rumantsch grischun überlagern, ohne daß neue Oppositionsverhältnisse definiert würden. Cf. L IA R UMANTSCHA (ed.) 1993: 603 (Pledari grond). <?page no="74"?> 74 Phonem) einem Kompromiß geopfert, der auf die vertrauten Sprachgewohnheiten der Bündnerromanen Rücksicht nimmt (cf. S CHMID 1989: 52s.). Die neue Dachsprache, so wie sie heute vorliegt, erfüllt die Forderungen, die ihre Initianten an sie stellen: sie ist für jeden Romanen ohne aufwendige Lernprozesse unmittelbar verständlich, und die Abweichungen von den einzelnen Idiomen sind gering. Zur Illustration möge ein Inseratentext auf Surmiran und auf Rumantsch Grischun dienen: Sm. RG Igl cumegn da… tschertga Il cumin da… tschertga 1 mussadra da scoligna ina mussadra da scolina Annunztgas èn d’inoltrar Annunzias èn d’inoltrar anfignen igls 25 da mars 82 enfin ils 25 da mars 82 (aus S CHMID 1989: 73). In der Zwischenzeit hat sich Rumantsch Grischun in manchen Bereichen der bündnerromanischen Schriftlichkeit etabliert, so in der eidgenössischen und kantonalen Verwaltung, in der seit 1997 erscheinenden Tageszeitung La Quotidiana (wo neben Artikeln in Rumantsch Grischun auch die angestammten Idiome zu Worte kommen), in geringerem Masse in der Literatur (cf. C ORAY 2008: 170ss.). Seit dem Schuljahr 2007/ 08 haben 23 Pioniergemeinden aus Mittelbünden und dem Münstertal Rumantsch Grischun als Schulsprache ab der 1. Primarklasse eingeführt, 2008/ 09 folgten 11 weitere Gemeinden, insbesondere aus dem Einzugsgebiet von Ilanz. Diese Tatsachen, die eine zunehmende Verbreitung des Rumantsch Grischun belegen, können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Einheitssprache nach wie vor heftig umstritten ist, vor allem als Schulsprache, wo sie die traditionellen Idiome zu verdrängen droht. Die in den Umfragen zur Akzeptanz des Rumantsch Grischun ermittelten positiven Resultate von Diekmann (D IEKMANN 1988, 1991, 19969) müssen insofern relativiert werden, als die Auskunftspersonen zu einem großen Teile Intellektuelle und Angehörige sozial höherer Schichten sind, die dem Rumantsch Grischun a priori positiver gegenüberstehen (dazu C ORAY 2008: 473ss.). C ORAY 2008 setzt sich intensiv mit der Geschichte des Rumantsch Grischun (132-222) und mit den ideologischen Diskursen der Befürworter und Gegner der Einheitssprache (382-553) auseinander. Ihre eigene, letztlich skeptische Position gründet vor allem auf der Berücksichtigung der Grössenverhältnisse des Bündnerromanischen, das heute völlig in den Kulturraum des Deutschen eingebunden ist (p. 518, 575). Eine ähnliche Haltung vertritt Clau Solèr, der den der traditionellen rätoromanischen Sprachpflege zuwiderlaufenden Vorschlag macht, „auf die aussichtslose Konkurrenz mit dem Deutschen in dessen Kernkompetenzen als Wirtschafts-, Verwaltungs- und übergreifende Kommunikationssprache“ zu verzichten (S OLÈR 2008: 143). <?page no="75"?> 4. Geschichte des Bündnerromanischen 4.0 Vorbemerkung: Externe und interne Sprachgeschichte Wie andere methodische Konstrukte hat die heute gängige Scheidung in externe und interne Sprachgeschichte ihre Berechtigung in einer didaktisch aufbereiteten Darstellung von komplexen historischen Prozessen. Man kann einerseits die „äußeren“, d.h. die politischen, kulturellen, sozialen Faktoren und deren Einfluß auf die Entstehung und Entwicklung einer Sprache festmachen. Man kann andererseits die Veränderungen beschreiben, die die betreffende Sprache im Laufe der Zeit in ihrem System (in allen Teilbereichen) erfährt. Auf dem Hintergrund einer Theorie des Sprachwandels, wie sie Rudi Keller (K ELLER 1990) vertritt, wird jedoch eine Unterscheidung in „externe“ und „interne“ Anstöße zum Sprachwandel hinfällig. Man könnte sagen, daß in der Praxis die externen Faktoren diejenigen Bedingungen von Sprachwandelphänomenen sind, die sich aus der Distanz noch bestimmen lassen (z.B. die Entlehnung eines Wortes aus einer anderen Sprache auf einem noch nachvollziehbaren Weg), während die als „intern“ bezeichneten Faktoren, die Sprachwandel bewirken, sich mehrheitlich unserer Beobachtung entziehen. Kellers Beispiel des Wandels von indogermanisch p zu germanisch f ist sprechend: die konkreten Modalitäten, d.h. die Maximen der ersten Sprecher, die den Wandel anbahnten, und die Motivation der folgenden, die ihm zum Erfolg verhalfen, sind für uns nicht mehr eruierbar. Diese Tatsache macht den betreffenden Sprachwandel nicht zu einem grundsätzlich anderen, als es etwa der berühmte Fall der Zentralisierung von [aw] auf Martha’s Vineyard ist, den Labov beobachtet und beschrieben hat (C HERUBIM 1975: 305-32). Sprachgeschichte ist immer die Geschichte der Rückwirkung von sozialen Faktoren (im weitesten Sinn) auf das Sprachverhalten einer bestimmten Gemeinschaft. Wir möchten deshalb dieses Kapitel, das einige Marksteine in der Geschichte des Bündnerromanischen beschreibt 1 , nicht künstlich in einen „externen“ und einen „internen“ Teil spalten. Die unter 4.1 angeführten Fakten stellen den folgenden, auf bestimmte Epochen und generelle Fragestellungen bezogenen Abschnitten (4.2-4.4) einen chronologischen Rahmen voran. 1 Für eine ausführliche und einigermaßen vollständige Sprachgeschichte fehlen bisher noch weitgehend die Vorarbeiten. Sie würde im übrigen den Rahmen dieser Einführung sprengen. <?page no="76"?> 76 4.1 Eckdaten der bündnerromanischen Sprachgeschichte 15 v. Chr.: Eroberung Rätiens durch die Römer Im Jahre 1985 wurde in Graubünden „2000 Jahre Rätoromanisch“ gefeiert. Man bezog sich dabei auf die Eroberung der alpinen Gebiete, die später die Provinz Rätien bilden sollten, im Jahr 15 v. Chr. durch Drusus und Tiberius (den späteren Kaiser), die Stiefsöhne des Kaisers Augustus. Wenn es auch ziemlich approximativ ist, das Jahr 15 v. Chr. als „Geburtsjahr des Rätoromanischen“ zu bezeichnen, so mag man immerhin zugestehen, daß mit den politischen Ereignissen dieses Jahres die Voraussetzung für das Entstehen jenes Zweiges des Vulgärlateins geschaffen wurde, der im Laufe späterer Entwicklungen zu der neulateinischen Sprache werden sollte, die wir heute rätoromanisch nennen. Über die sprachlichen Verhältnisse, die in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung im heutigen Graubünden herrschten, wissen wir sehr wenig, viel zu wenig, um über Art und Weise, Intensität und zeitlichen Verlauf der Romanisierung verläßliche Aussagen machen zu können. In der Forschung stehen sich widersprüchliche Aussagen gegenüber: Die einen behaupten, Rätien sei früh und gründlich romanisiert worden 2 . Andere Forscher vertreten die Ansicht, eine in den ersten Jahrhunderten nur oberflächliche Romanisierung sei erst durch den Zustrom von romanisierten Kelten, die vor den Einfällen der Germanen im 4./ 5. Jh. von Norden her in die rätischen Alpen flüchteten, beschleunigt und vollendet worden 3 . Zwingende Argumente für die eine oder die andere These sind bisher nicht beigebracht worden. Die Spärlichkeit lateinischer Inschriften in Graubünden (im Gegensatz zum wenig vorher von den Römern eroberten Wallis) spricht eher für eine späte Romanisierung 4 . 2 So P LANTA 1872: 219s., P ULT 1927: 161, H ILTY 1985: 15, D EGEN 1987: 21. 3 Cf. S TÄHELIN 1931: 317ss., S CHORTA 1959: 48s., S TRICKER 1981: 15. 4 W ALSER 1994 plädiert in seinem Beitrag „Der Gang der Romanisierung in einigen Tälern der Zentralalpen“ (49-72) für eine späte (spätantik-frühmittelalterliche) Romanisierung Graubündens. Er zeigt, daß das Aostatal und das Wallis früh (das Aostatal schon bald nach der Eroberung, das Wallis jedenfalls im 3. Jahrhundert n. Chr.) romanisiert wurden, während für Graubünden die spärliche Quellenlage (keine Meilensteine, fast keine Inschriften) vermuten läßt, daß die Romanisierung dort jedenfalls nicht tiefgreifend war. Den für eine gründliche Romanisierung günstigen Zeitpunkt sieht Walser im 6. Jahrhundert gegeben, als Rätien eine beträchtliche politische und wirtschaftliche Selbständigkeit besaß. Der Autor spricht sich allerdings nicht darüber aus, wie er sich die Romanisierung konkret vorstellt: von Süden her, durch die noch andauernden Kontakte mit Italien, oder von Norden durch romanisierte Kelten, wie S TAEHELIN 1931 will? Eine neue Prüfung der Frage führt Gerold Hilty zum Schluss, die Romanisierung Rätiens sei früh, jedenfalls vor der Mitte der 4. Jahrhunderts erfolgt (H ILTY 2008: 224). Das sprachliche Hauptargument, wonach die Prädikativmarkierung durch ein Morphem -s, wie sie heute noch im Surselvischen besteht (cf. unten 134s.), nur in einer sehr frühen Phase des Protoromanischen produktiv gewesen wäre, überzeugt allerdings nicht. Es handelt sich ja nicht um eine Neuerung, sondern um eine teilweise Erhaltung älterer lateinischer Verhältnisse. <?page no="77"?> 77 Auch unsere Kenntnisse über die sprachlichen Verhältnisse, die die Römer bei der Eroberung Rätiens im Alpenraum vorfanden, sind mehr als bescheiden. Es herrscht Konsens darüber, daß verschiedene Völkerschaften in den Alpen zusammenlebten; Kelten und Räter scheinen die wichtigsten davon gewesen zu sein. Während die Kelten der indogermanischen Sprachfamilie angehörten, ist die Einordnung der Räter umstritten. Heute überwiegt die Ansicht, die Räter seien nicht-indogermanisch 5 . Von den Tälern des heutigen Graubünden scheint jedoch nur gerade das Unterengadin dem rätischen Gebiet angehört zu haben, dessen Zentrum im Südtirol und in den benachbarten oberitalienischen Gebieten bis hin gegen Verona lag 6 . Für die Geschichte des Rätoromanischen ist die Sprachsituation im Alpenraum zur Zeit der Romanisierung nur im Bereich der Toponomastik und in einem kleinen Teil des Appellativwortschatzes von Bedeutung. Sowohl das DRG als auch das RN verzichten in ihren historischen Deutungen im allgemeinen auf eine Zuordnung vorrömischer Etyma zu den einzelnen, meist sehr fragmentarisch bekannten Substratsprachen. Die Sprachregelung lautet „vorrömisch“, wobei von Fall zu Fall vorliegende Hypothesen über spezifischere Zuordnungen referiert werden. Festzuhalten bleibt, daß Graubünden mindestens seit der jüngeren Steinzeit (zw. 4500 und 1800 v. Chr.) ziemlich dicht besiedelt war 7 . Bemerkenswert ist die Tatsache, daß der größte Teil der bündnerischen Dorfnamen vorrömischen Ursprungs ist 8 . Die (nicht sehr zahlreichen) Elemente des bündnerromanischen Appellativwortschatzes, die vorrömisches Wortgut fortsetzen, gehören vorwiegend dem Bereich der Ausdrücke für Geländeformen, Fauna, Flora und Alpwirtschaft an 9 . 1.-5. Jahrhundert: Rätien unter römischer und ostgotischer Herrschaft In den fünf Jahrhunderten römischer Herrschaft scheint sich die Romanität in Graubünden durchgesetzt und gefestigt zu haben. 284 wird die Provinz Raetia in Raetia I (mit Chur als Hauptstadt) und Raetia II (mit Augsburg als Hauptstadt) geteilt. Nach dem Untergang des weströmischen Reiches (476) gerät Rätien wie Italien unter die Herrschaft der Ostgoten (493-537). In dieser Zeit durchlief Rätien, wenn auch die Kontakte zu Italien nie ganz abbrachen, eine Periode relativer Selbständigkeit, die auch die Sonderentwicklung der einheimischen Sprache begünstigte (C LAVADETSCHER 1979: 159, 165). Aber auch die Kontakte zum germanischen Norden, die für die weitere Geschichte des Bündnerromanischen bestimmend werden sollten, setzen schon in römischer Zeit ein. Die ersten Alemanneneinfälle erfolgen um die Mitte des 4. Jh.s. 5 Cf. R ISCH 1970, 1984, H UBSCHMID 1986. 6 D EPLAZES 1993: 10ss. 7 Cf. D EPLAZES 1993: 1ss., Lit. p. 9. 8 Cf. S CHORTA 1964: XL, S CHORTA 1988: 34-36. 9 Cf. L IVER 1989: 800s. <?page no="78"?> 78 Als nach dem Tod Theoderichs d. Gr. (526) die Ostgoten durch den Krieg mit Ostrom in Bedrängnis geraten waren, trat ihr König Vitiges, wahrscheinlich um 537, Rätien 10 an den Frankenkönig Theodebert ab, um diesen als Bundesgenossen zu gewinnen. Ca. Mitte 6. bis Mitte 9. Jh.: Rätien unter fränkischer Herrschaft Unter der Herrschaft der merowingischen Franken genoß Rätien, das schon zur Zeit der ostgotischen Herrschaft ziemlich selbständig gewesen war, eine weitgehende politische Selbstbestimmung. Im churrätisch-fränkischen Kirchenstaat lag die weltliche und die geistliche Macht oft bei ein und demselben Herrscher, der sowohl das Amt des Praeses Raetiae als auch dasjenige des Bischofs von Chur in Personalunion innehatte. 451 ist erstmals ein Bischof von Chur mit Namen Asinio bezeugt 11 . Die adlige Familie der Viktoriden, im Vorderrheintal beheimatet, übte während ca. 200 Jahren große Macht in Rätien aus. Diese für die rätoromanische Sprache günstige Situation ändert sich mit dem Tod von Bischof Tello, dem letzten Viktoriden (um 765). Karl d. Große ergreift die Gelegenheit, Rätien straffer seinem Reich einzugliedern. An die Stelle des früheren einheimischen Praeses setzt er einen deutschen Grafen. Mit diesem kommen Gefolgsleute deutscher Herkunft und Sprache ins Land, die fortan die Oberschicht bilden. Neben der Umorientierung im politischen Bereich wird auch die kirchliche Organisation neu geregelt: Im Vertrag von Verdun (843) wird Rätien dem ostfränkischen Reich Ludwigs d. Deutschen zugeteilt. Das Bistum Chur, das bisher dem Erzbistum Mailand angehört hatte, wird neu der Erzdiözese Mainz eingegliedert. Germanisierung Rätiens auf verschiedenen Wegen Die Auswirkung der Veränderungen in der politischen und kirchlichen Organisation Churrätiens auf den Verlauf der Sprachgeschichte war folgenschwer: Die soziale Oberschicht, Trägerin der rätoromanischen Kultur und somit potentielle Begründerin einer rätoromanischen Schriftsprache, wurde zusehends germanisiert. Auf dem Churer Bischofsstuhl saßen seit der Mitte des 9. Jahrhunderts fast ausschließlich deutsche Geistliche. Chur war schon im Mittelalter kein rätoromanisches Kulturzentrum mehr, obschon die Umgangssprache in der Hauptstadt bis ins 15. Jh. rätoromanisch blieb 12 . 10 Es ist nunmehr nur noch das Gebiet der Raetia I. Die Römer hatten die Raetia II schon ca. 452 unter dem Druck der Germanen aufgegeben. 11 Cf. D EPLAZES 1993: 22ss. mit Lit. 12 Im Jahre 1464 zerstörte ein Großbrand Chur fast völlig. Für den Wiederaufbau kamen deutschsprachige Handwerker nach Chur, die sich in der Folge dort niederließen und die Mehrheitsverhältnisse zugunsten des Deutschen zum Kippen brachten. Cf. P LANTA 1931: 115. B ÜHLER 1995: 200ss. <?page no="79"?> 79 Neben der Beeinträchtigung einer günstigen Entwicklung des Rätoromanischen durch die vermehrte Präsenz des Germanischen in den Führungsschichten Churrätiens wurde das rätoromanische Sprachgebiet seit der Spätantike auch von außen her durch das Deutsche bedrängt und zurückgedrängt: Ende 5. Jh. sind erste Alemannensiedlungen im (heute st. gallischen) Rheintal zwischen dem Hirschensprung und dem Bodensee bezeugt, im 7. Jh. Auseinandersetzungen zwischen heidnischen Alemannen und christlichen Romanen im Bodenseegebiet 13 . Das sukzessive Vordringen der Alemannen durch das Rheintal aufwärts führte in Unterrätien zu einer langen Phase der Zweisprachigkeit, die erst im 12. Jh. mit dem Sprachwechsel zum Deutschen endete. Die Namenforschung erlaubt es, die Phasen der Germanisierung des Rheintals nördlich von Chur genauer zu verfolgen 14 . Seit dem Ende des 13. Jh.s erhält das germanische Element in Graubünden eine weitere Verstärkung: Auf die Einladung einheimischer Feudalherren bildeten sich vielerorts Walserkolonien, Siedlungen von ausgewanderten Oberwalliser Bauern, die in Graubünden, Unterrätien und z.T. am Südrand der Alpen neue Lebensräume suchten 15 . Wenn auch die Walser zunächst mit den klimatisch rauheren unbesiedelten Höhen Vorlieb nehmen mußten, so vermochten sie sich doch dank der Privilegien, die ihnen ihre neuen Herren als Entgelt für Siedlungstätigkeit und Waffendienst zugestanden, und wohl auch dank ihrer tüchtigen und unternehmerischen Natur mit der Zeit auf tiefer gelegene, vorher von Romanen besiedelte Gebiete auszudehnen. So wandelten sich seit dem 14. Jh. (in ca. 100 Jahren) Davos, das Schanfigg (mit Arosa) und das Prättigau (mit Klosters, Seewis etc.) von romanischen zu walserischen Territorien (S TRICKER 1986). Den komplizierten und kleinräumig fortschreitenden Vorgang der Germanisierung, der in Graubünden sowohl durch die Alemannen als auch durch die Walser vorangetrieben wurde, schildert anschaulich E RNI 1984. Der Freistaat der drei Bünde Seit dem 10. Jh. gehörte das ursprüngliche Rätien zum deutschen Reich. Wie schon zu früheren Zeiten konnte sich Rätien eine gewisse Unabhängigkeit und Eigenständigkeit innerhalb größerer politischer Verbände bewahren. Der Bischof von Chur wurde zum wichtigsten Grundherrn in Oberrätien. Um die Mitte des 14. Jh.s stand er als Reichsfürst mit sämtlichen Hoheitsrechten auf dem Gipfel seiner Macht. Neben ihm spielten weltliche Feudalgeschlechter, so die Freiherren von Tarasp, Vaz, Sax-Misox, Rhäzuns und Belmont, eine wichtige Rolle. 13 S TRICKER 1981: 17ss., H ILTY 1986, H ILTY 2001. 14 Cf. S ONDEREGGER 1979, S TRICKER 1981, v.a. 35ss. 15 Cf. Z INSLI 1968. Zu Unterrätien S TRICKER 1981: 25s. <?page no="80"?> 80 Neben und innerhalb dieser feudalistischen Strukturen entstanden aber zusehends auch demokratische Kräfte in Graubünden, die schließlich wesentlich an der Begründung des Freistaates der drei Bünde beteiligt sein sollten. Von der rechtlichen Sonderstellung der Walser war schon die Rede. Aber auch die Romanen hatten demokratische Organisationsformen der Selbstverwaltung entwickelt, die ständische Unterschiede ausglichen, so die Markgenossenschaften, die Gemeinden der „Freien“, v.a. am Schamserberg und in Laax (P IETH 1945: 60ss.), und die Gerichtsgemeinden (P IETH 1945: 67s.). Ende 14./ Anfang 15. Jh. schloßen sich Bauern und einheimische Adlige gegen die Herrschaft der großen Lehensherren, vor allem des Bischofs von Chur, und gegen die Ansprüche des Reichs in den drei Bünden Gotteshausbund (1367), Grauer oder Oberer Bund (1424) und Zehngerichtenbund (1436) zusammen, die sich in der Folge auch untereinander verbündeten. Das Jahr 1471 gilt als Datum ihrer Vereinigung zum Freistaat der drei Bünde (cf. P IETH 1945: 84s.). Zum Gotteshausbund gehörten außer der Gegend um Chur das Domleschg, das Albulatal, das Oberhalbstein, das Ober- und Unterengadin und das Münstertal, seit 1408 auch das italienischsprachige Puschlav. Der Obere oder Graue Bund umfaßte im wesentlichen das Bündner Oberland (Vorderrheintal mit Seitentälern), Safien, Heinzenberg, Schams und Rheinwald, seit 1480 auch die italienischsprachigen Täler Misox und Calanca. Der Zehngerichtenbund vereinigte die Gerichtsgemeinden im Einzugsgebiet von Landwasser, Landquart und Plessur, dazu nördlich von Chur Malans und Maienfeld. Hauptort war Davos. Die sprachliche Situation in Graubünden im 15. Jh. ist kurz zusammengefaßt die folgende: Auf der Ebene der Mündlichkeit herrschte im größten Teil des Landes das Rätoromanische, allerdings konkurrenziert und zurückgedrängt durch das Deutsche im nördlichen Rheintal und in der Hauptstadt Chur sowie in den von den Walsern besiedelten Gebieten 16 . Auf der Ebene des schriftlichen Gebrauchs löste das Deutsche das Latein als Sprache des Rechts und der Verwaltung ab 17 . In den italienischsprachigen Südtälern wie auch im Oberengadin blieb die Notariatssprache bis in die Neuzeit hinein lateinisch (P IETH 1945: 530). Offizielle Verhandlungs- und Amtssprache des Freistaates der drei Bünde war von Anfang an das Deutsche, obschon jeder der drei Bünde mehrsprachig war 18 . 16 Zur Germanisierung des Schanfiggs zwischen dem 14. und dem 16. Jh. cf. S TRICKER 1986. 17 Literarische Erzeugnisse aus dem mittelalterlichen Graubünden sind nicht gerade zahlreich. E RNI 1984: 218-31 druckt einige Zeugnisse für mittelalterliche Gedichte und Urkunden in deutscher Sprache ab. 18 Cf. P IETH 1945: 531. Der Gotteshausbund war von Anfang an dreisprachig (mit dem Bergell als italienischsprachigem Teil, ab 1408 auch mit dem Puschlav), der Graue Bund wurde es 1480 durch die Aufnahme von Misox und Calanca. Im Zehngerichtenbund herrschte anfänglich romanisch-deutsche Zweisprachigkeit, die im 16. Jh. der deutschen Einsprachigkeit weichen sollte. Cf. oben N16. Cf. auch C LAVADETSCHER 1994. <?page no="81"?> 81 Reformation und Gegenreformation Die politische und soziale Entwicklung Graubündens in der Frühzeit des Freistaates der drei Bünde stärkte ein bündnerisches Selbstbewußtsein, das sich bei den Romanen zwar nicht ausschließlich, aber durchaus auch als rätoromanisches Selbstbewußtsein manifestierte. Es brauchte einen weiteren Anstoß, um dieses neue Bewußtsein in sprachgestalterische Aktivität umzusetzen: Die Reformation sollte den Impuls geben, dank dem sich aus spärlichen früheren Ansätzen im Engadin des 16. Jahrhunderts die erste bündnerromanische Schriftsprache entwickelte. Die Reformation begann sich in Graubünden seit den Zwanziger Jahren des 16. Jh.s auszubreiten. 1523 wurde Johannes Comander (1484-1557), der in Basel mit Zwingli studiert hatte und Zeit seines Lebens enge Kontakte mit den Zürcher Reformatoren unterhielt, als Pfarrer nach St. Martin in Chur berufen 19 . Am Zustandekommen der 1. Ilanzer Artikel (1524), welche eine innere Reform der Kirche anstrebten, war Comander noch nicht wesentlich beteiligt, wohl aber an den 2. Ilanzer Artikeln von 1526. In der Disputation vom 7./ 8. Januar vertrat er an der Seite von Philipp Gallicius die reformierte Position. Resultate der Ilanzer Beschlüsse von 1526 waren eine Beschneidung der Rechte der katholischen Kirche und die Unterstellung der Klöster unter staatliche Aufsicht. Die Reformation breitete sich in der Folge, wenn auch zunächst langsam, in großen Teilen Graubündens aus. Charakteristisch für die bündnerischen Verhältnisse ist die Tatsache, daß der Konfessionswechsel nicht durch Regierungserlaß von oben bestimmt wurde, sondern daß sich jede einzelne Gemeinde für oder gegen die Reformation entschied. Im Engadin setzte sich der neue Glaube gegen anfänglich heftigen Widerstand fast gänzlich durch (nur Tarasp ist heute noch katholisch). Bis zur Mitte des Jahrhunderts war das Unterengadin reformiert geworden, kurz darauf (seit 1552, als Johann Travers zum reformierten Glauben übertrat) begann sich die Reformation auch im Oberengadin auszubreiten. Die Glaubensdisputationen, die 1537 und 1544 in Susch stattfanden, waren öffentlich und wurden in rätoromanischer Sprache geführt 20 . Die Anfänge des engadinischen Schrifttums stehen in engem Zusammenhang mit diesen Ereignissen 21 . Auch die Entstehung der ersten Schriftwerke in rheinischem Rätoromanisch (Sutsilvan und Sursilvan) am Anfang des 17. Jh.s war durch die religiösen Ereignisse der Zeit motiviert. Auf erste reformierte Schriften folgten bald Entgegnungen von katholischer Seite. Die Gegenreformation verfolgte 19 Cf. die Kurzbiographie von Comander, der eigentlich Hans Dorfmann hieß, von W. Jenni (J ENNI 1970). Eine zweibändige Biographie von Comander desselben Autors ist 1969 in Zürich erschienen. 20 Cf. P IETH 1945: 147ss. 21 Cf. unten 4.3.1. <?page no="82"?> 82 ihre Ziele in Graubünden, v.a. in der Surselva und in Mittelbünden, mit Hilfe italienischer Kapuziner, die in der Geschichte der rätoromanischen Literatur und Sprache eine wichtige Rolle spielten 22 . Vom 17. Jh. bis zur Französischen Revolution Die sogenannten „Bündner Wirren“, die politische Verwicklung der drei Bünde in die Auseinandersetzungen zwischen den europäischen Mächten während des Dreißigjährigen Krieges, waren nicht dazu angetan, die religiöse und kulturelle Zersplitterung Graubündens zu vermindern. Vielmehr festigten sich die Gegensätze zwischen den Regionen, die seit den Anfängen des rätoromanischen Schrifttums eine einheitliche Entwickung verunmöglicht hatten. Bis in die Gegenwart macht sich der konfessionelle Gegensatz zwischen dem protestantischen Engadin und der (mehrheitlich) katholischen Surselva bemerkbar. Die Literatur, die im 17. Jh. auf rätoromanisch produziert wurde, diente vorwiegend der religiösen Erbauung und der Polemik zwischen den Konfessionen. Auf der Ebene der Mündlichkeit sind im 17. und 18. Jh., rein territorial gesehen, keine einschneidenden Veränderungen zu verzeichnen. In einer Gesellschaft, die wesentlich durch in sich geschlossene bäuerliche Dorfgemeinschaften geprägt war, innerhalb derer aristokratische Familien (die Planta, Salis, Tscharner usw.) eine wirtschaftlich und kulturell dominierende Stellung innehatten, verfügte das im mündlichen Gebrauch vorherrschende Rätoromanische gegenüber dem Deutschen und anderen europäischen Großsprachen über ein wesentlich geringeres Prestige 23 . Das geringe kulturelle Prestige des Rätoromanischen kommt in den Lehrplänen der Reformschulen zum Ausdruck, die in der 2. Hälfte des 18. Jh.s in Graubünden die Grundsätze moderner Pädagogik umsetzten, die in Deutschland entwickelt worden waren und etwa im halleschen Pädagogium von A. H. Francke praktiziert wurden. Obschon Martin Planta, der Begründer des Seminars von Haldenstein, ein gebürtiger Romane aus dem Engadin war, und obschon der Unterricht in der Muttersprache zu den Postulaten der Reformschulen gehörte, ist von einem Fach Rätoromanisch in den vorwiegend von deutschsprachigen Schülern oberer Schichten besuchten Schulen von Haldenstein, Marschlins und Reichenau keine Rede 24 . Diese stillschweigende Herabstufung des Rätoromanischen auf die Ebene einer nur mündlich verwendbaren Sprache ist sicher mit ein Faktor für die späte Bewußtwerdung rätoromanischen Selbstgefühls. 22 Cf. unten 4.3.2. 23 Cf. B ILLIGMEIER 1983: 117-30. 24 Zu den Reformschulen in Graubünden P IETH 1945: 275-83. Zu Martin Planta S CHMID 1970: 290-302. <?page no="83"?> 83 Graubünden in der schweizerischen Eidgenossenschaft Nach den stürmischen Zeiten, die unmittelbar auf die Französische Revolution folgten, in denen Graubünden von österreichischen Truppen besetzt war, verlor Graubünden seine jahrhundertealte staatliche Unabhängigkeit (und damit auch seine Untertanenlande in Norditalien) und wurde als „Kanton Rätien“ in die Helvetische Republik eingegliedert. 1803 wurde es als 15. Kanton (nunmehr als „Graubünden“) in die Schweizerische Eidgenossenschaft aufgenommen. Die neue politische Situation führte zu einer weiteren Verstärkung des Prestiges der deutschen Sprache. Im Verkehr mit den deutschsprachigen Miteidgenossen war die Beherrschung des Deutschen, in seiner schriftlichen wie in seiner mündlichen Form (Schweizerdeutsch), eine Notwendigkeit. Zuwanderung von Deutschsprachigen und Abwanderung von Rätoromanen verschieben die Gewichte zusehends zu Ungunsten des Romanischen. Während in der 1. Hälfte des 19. Jh.s noch die Mehrheit der Bevölkerung rätoromanisch war, weist die Volkszählung von 1860 erstmals eine deutschsprachige Mehrheit auf 25 . Von da an ist der Rückgang des Rätoromanischen kontinuierlich 26 . Vor allem in Mittelbünden (Schams, Domleschg, Heinzenberg) ist der Schwund eklatant. Die Verluste auf der Ebene der Mündlichkeit gehen mit einer Geringschätzung der einheimischen Sprache einher, die sich u.a. im (fast) völligen Verzicht auf einen rätoromanischen Schulunterricht ausdrückt 27 . Auf der andern Seite zeichnen sich im 19. Jh. gewisse Entwicklungen ab, die als Anzeichen eines neu erwachenden Selbstbewußtseins der Rätoromanen gewertet werden können, eine Bewußtwerdung des Eigenwertes romanischer Sprache und Kultur. Während im Freistaat der drei Bünde wie erwähnt (oben p. 80) das Deutsche die einzige offizielle Sprache war, nahm der neue Kanton Graubünden dem Romanischen und dem Italienischen gegenüber von Anfang an eine wohlwollendere Haltung ein, die einer grundsätzlichen Gleichstellung der drei Sprachen in offiziellen Belangen gleichkam. Die Kantonsverfassungen von 1880 und 1892 brachten dann die formelle Gewährleistung der drei Sprachen als Landessprachen 28 . Daß 1938, in der Folge der Ereignisse, die im 1. Kapitel zur Sprache gekommen sind (oben p. 17s.), das Rätoromanische durch eine Volksabstimmung mit überwältigendem Mehr zur 4. Landessprache der Schweiz wurde, 25 Cf. B ILLIGMEIER 1983: 131-49. K RISTOL 1989: 816-23. 26 Cf. außer der oben N18 zitierten Literatur W UNDERLI 1966. 27 Cf. B ILLIGMEIER 1983: 156ss., 163. Heute ist die einzige Schule im sutselvischen Gebiet, in der noch rätoromanisch unterrichtet wird (in den ersten drei Klassen), diejenige von Donat am Schamserberg. 28 P IETH 1945: 531s. <?page no="84"?> 84 vermochte zwar den generellen Rückgang der Sprache nicht aufzuhalten, bedeutete jedoch moralische Unterstützung und Prestigegewinn für die rätoromanische Schweiz 29 . Für das Schicksal einer gefährdeten Minderheitssprache ist die Schule von entscheidender Bedeutung. Auch auf diesem Gebiet brachte das 19. Jh. Verbesserungen für das Rätoromanische. Seit den Dreißiger und Vierziger Jahren erschienen die ersten rätoromanischen Schulbücher. Nachdem zunächst deutsche Schulbücher einfach übersetzt wurden, wehrten sich gegen Ende des Jahrhunderts surselvische Pädagogen und Politiker mit Erfolg gegen diese Praxis, indem sie einen der einheimischen Kultur angepaßten Stoff verlangten 30 . In der Schulordnung von 1859 wurde festgelegt, daß die Grundschule in den rätoromanischen und italienischen Teilen des Kantons in der jeweiligen Muttersprache erfolgen solle, mit einem Angebot an Deutschunterricht „soweit tunlich“. Auch in den höheren Schulen beginnt der Unterricht in rätoromanischer Sprache Fuß zu fassen. 1860 wird Rätoromanisch als Fach am Lehrerseminar eingeführt, seit 1914 ist es für alle romanischen Kantonsschüler obligatorisch. Eine Errungenschaft neuerer Zeit ist die Anerkennung von Rätoromanisch als Maturitätsfach (1983). Seit dem Schuljahr 1999/ 2000 bietet die Kantonsschule Chur eine zweisprachige deutsch-rätoromanische Maturität an. In der 2. Hälfte des 19. Jh.s macht sich bei Intellektuellen und Schriftstellern eine neue Wertschätzung des Rätoromanischen bemerkbar. Diese Bewegung, die oft etwas zu euphorisch mit dem Etikett „Rätoromanische Renaissance“ versehen wird 31 , ist wohl wesentlich als eine Reaktion auf den unübersehbaren Schwund der rätoromanischen Substanz zu werten. Positiv schlägt sich diese Reaktion in der Gründung verschiedener Vereinigungen zur Pflege der rätoromanischen Sprache und in einer beachtlichen schriftstellerischen Produktion nieder, die nicht länger, wie in früheren Zeiten, vorwiegend religiösen Zielen dient. Eine ausführliche und kritische Darstellung der rätoromanischen Sprachbewegung gibt R IATSCH 1998. Hier mögen einige Daten und Namen genügen. 1863 erster Anlauf zur Gründung der Società Retorumantscha, 1885 erfolgreich. Diese gesamtbündnerromanische Vereinigung gibt seit 1886 das Jahrbuch Annalas da la Società retorumantscha (ASRR) heraus, seit 1939 das große Wörterbuch Dicziunari rumantsch grischun (DRG). Es folgen die Gründungen verschiedener regionaler Vereinigungen: 1896 Romania (katholisches Vorderrheintal) 1904 Uniun dals Grischs (Engadin und Münstertal) 29 Cf. B AUR 1996: 92-98. 30 Cf. D EPLAZES 1990: 1-7. M ETZ 1992: 391-402. 31 Eine satirische Reaktion auf die rätoromanische Sprachbewegung ist La Renaschentscha dals Patagons von Reto Caratsch (1949). Cf. R IATSCH 1998: 176-98. <?page no="85"?> 85 1921 Renania (protestantisches Vorder- und Hinterrheintal) 1921 Uniung rumantscha da Surmeir (Oberhalbstein und Albulatal). 1919 war als Dachorganisation für alle regionalen Verbände die Lia Rumantscha/ Ligia Romontscha gegründet worden. Die schriftstellerische Produktion in den verschiedenen bündnerromanischen Idiomen, die in der 2. Hälfte des 19. Jh.s reichlicher zu fließen beginnt und bis heute andauert, kann hier nicht im Einzelnen beschrieben werden 32 . Als wichtige Figuren in der rätoromanischen Sprachbewegung des ausgehenden 19. und frühen 20. Jh.s seien nur der Surselver Giacun Hasper Muoth (1844-1906) und der Engadiner Peider Lansel (1863-1943) hervorgehoben. Muoths „Stai si, defenda, Romontsch, tiu vegl lungatg“ 33 und Lansels Devise „Ni Talians, ni Tudais-chs, Rumantschs vulains restar“ 34 gelten noch heute als Parolen im Überlebenskampf der bündnerischen Rätoromanen. 4.2 Das Bündnerromanische im Mittelalter 4.2.1 Quellenlage Die oben (p. 78) skizzierte politische und kirchliche Umorientierung Rätiens auf den germanischen Norden hin im 8./ 9. Jh. hatte zur Folge, daß von nun an die kulturell tonangebenden Schichten weitgehend deutscher Sprache waren. Dieser Situation ist es wohl in erster Linie zuzuschreiben, daß nur äußerst spärliche Zeugnisse für einen schriftlichen Gebrauch des Rätoromanischen im Mittelalter auf uns gekommen sind. Allerdings muß in diesem Zusammenhang gesagt werden, daß auch lateinisch oder deutsch abgefaßte Zeugnisse für kulturelle Aktivitäten im mittelalterlichen Rätien nicht gerade zahlreich sind 35 . Daß die Urkundensprache bis ins 13. Jh. ausschließlich lateinisch war, stellt keine Besonderheit Graubündens dar 36 . Natürlich hat man versucht, aus lateinischen Urkunden und Inschriften des rätischen Mittelalters Informationen über die Beschaffenheit des mittelalterlichen Rätoromanischen zu gewinnen. Die Ergebnisse dieser Bemühun- 32 Cf. B EZZOLA 1979: 331ss., R IATSCH / W ALTHER 1993. 33 D EPLAZES 1990: 147. 34 P EER 1970: 366. 35 Einen Überblick über „Das rätische Schrifttum von Tello bis Campell“ gibt M ÜLLER 1971b: 88-94. Lateinische Hymnen und Sequenzen über die Klosterheiligen von Disentis, Placidus und Sigisbert, aus dem 9.-11. Jh. bei M ÜLLER 1942: 254-60. Zum deutsch dichtenden Minnesänger Heinrich von Sax (13. Jh.) cf. E RNI 1984: 218-21. Ein mittelhochdeutsches „Spiel vom Streit zwischen Herbst und Mai“ ibid. 222-26. 36 Die erste deutsch redigierte Urkunde ist ein Schutzbrief, den der Bischof von Chur und zwei Bündner Adlige 1278 den Luzernern ausstellten. Cf. E RNI 1984: 221s. <?page no="86"?> 86 gen, deren wichtigste die Untersuchung von Robert v. Planta aus den Jahren 1920-25 ist 37 , sind jedoch bescheiden. Die sprachlichen Phänomene, die sprechsprachliche Gewohnheiten durchscheinen lassen, sind zum größten Teil allgemein „vulgärlateinische“ Züge, die nicht als spezifisch rätoromanisch gelten können 38 . Einige wenige (genau: drei) kurze Zeugnisse für eine schriftliche Verwendung der Volkssprache im mittelalterlichen Rätien geben etwas mehr Aufschluß über das Rätoromanische im Mittelalter 39 . Das Textmaterial ist aber viel zu fragmentarisch und zu interpretationsbedürftig, als daß es wirklich ein Bild von der mittelalterlichen Volkssprache vermitteln könnte. 4.2.2 Zeugnisse für mittelalterliches Bündnerromanisch 4.2.2.1 Die Würzburger Federprobe Der älteste der drei Texte stammt aus dem 10. oder 11. Jh. Es ist die sogenannte Würzburger Federprobe, eine Schreiberglosse am Rand eines Codex, der Ciceros De officiis enthält; der Codex ist mit einiger Wahrscheinlichkeit in St. Gallen entstanden und im 12. Jh. nach Würzburg gelangt 40 . Zwei Bibelzitate in (fast) korrektem Latein umrahmen den vulgärsprachlichen Satz, dessen Zuweisung zu einer Sprache, die man Protorätoromanisch nennen mag, möglich wenn auch nicht zwingend ist: ho est deus meus deus meus ut quid dereliquisti me? Diderros ne habe diege muscha g g In principio erat uerbum… Francesco Sabatini stellt in seinem Aufsatz „Tra latino tardo e origini romanze“ die Würzburger Federprobe in die Tradition der Schreiberglossen, in die auch das viel berühmtere Indovinello veronese gehört (S ABATINI 1963/ 64). Nachdem frühere Interpreten den Satz übersetzt hatten: „D. hat nicht zehn Fliegen“, mit der Deutung „D. ist ein armer Teufel“ oder „D. hat gar keine Lust“, schlägt Sabatini vor, ne nicht als Negation, sondern als Äquivalent von lat. INDE aufzufassen; ne ,davon‘ würde sich dann auf die Schreibertätigkeit 37 P LANTA 1920-25. Der Titel „Die Sprache der rätoromanischen Urkunden des 8.-10. Jh.s“ ist irreführend, da es sich um lateinische Urkunden handelt. 38 Was D ECURTINS 1993/ I: 97 an der viktoridischen Grabinschrift aus dem Anfang des 8. Jh.s an Abweichungen vom klassischen Latein festmacht ( I > E , Synkope unbetonter Vokale, Sonorisierung von intervokalischen Okklusiven, Zusammenfall von - V mit - B -, Zerfall des Kasussystems) sind durchweg Züge, die sich im gesamten (westlichen) Imperium finden. Cf. H ERMANN 1990. P ULT 1927 beschäftigt sich u.a. mit der Auswertung des sogenannten Vocabularius (sic) Sancti Galli aus dem 8. Jh. im Hinblick auf den Wortschatz einer Frühstufe des Rätoromanischen. 39 Texte und Kommentar bei L IVER 1991: 99-102. Cf. auch L IVER 1995a: 71-79. 40 B ISCHOFF / M ÜLLER 1954: 143-46. <?page no="87"?> 87 beziehen, die Diderros nur einen armseligen Gewinn einbringt: „D. ne ha (ne ricava) dieci mosche“ 41 . 4.2.2.2 Die Einsiedler Interlinearversion Etwas ergiebiger für die Geschichte des Bündnerromanischen als die Würzburger Federprobe ist die Einsiedler Interlinearversion, die Übersetzung des Anfangs einer pseudoaugustinischen Predigt in einem Einsiedler Codex aus dem 8. oder 9. Jh. Die Interlinearübersetzung dürfte aus dem späten 11. Jh. stammen. Es scheint, daß sich hier ein Geistlicher die volkssprachliche Version einer Predigt zurechtzulegen versuchte. Offensichtlich bereitete ihm sein Unterfangen große Mühe; umständliche Wendungen, Auslassungen und schließlich der Abbruch der Übersetzung nach 14 Zeilen sprechen eine deutliche Sprache. Obschon der Text kurz und an verschiedenen Stellen unklar ist, erlaubt er doch wichtige Einblicke in den Sprachzustand eines mittelalterlichen Rätoromanisch wahrscheinlich rheinischen Typs 42 . Im folgenden wird nicht ein vollständiger Kommentar zum Text gegeben, der auch nach langen Bemühungen verschiedener Interpreten nicht in allen Punkten klar ist 43 . Der lateinische Text der folgenden Synopse stammt aus R UGGIERI 1949: 54s., der rätoromanische aus Liver 1993: 189s. Die Zeilennumerierung folgt dem Original im Einsiedler Codex 199. (1) Satis nos oportit timere tres causas, afunda nos des time tres causas, (2) karissimi fratres, per quas tottus kare frares, per aquilla tut i lo mundus perit: seulo perdudo. (3) hoc est gula et cupiditas et superaquil is: gurdus et qu il hom o mo bia, quia dipote sille et arcullus, ki fai di- (4) abulus per istas tres causas abolus (oder: diabulus) per aquillas Adam pritres causas ille primaris homo (5) mum hominem circumuenit cannao, si plaida ille diauolus: dicens: „In quacumque „in quali die quo (6) die commederitis de ligno hoc uo manducado de quil lin a[ue]s, aperientur osi uene (oder: uen e) su auirtu fos ouli“. (7) culi uestri“. Nos autem semper nus timimo semper aquillas tres timeamus istas tres periuras causas 41 S ABATINI 1963/ 64: 153 N4. Zur Tradition der Schreiberglossen auch L IVER 1994. Zu den einzelnen Formen und Lautungen des Textes L IVER 1995a: 71. Neuere Überlegungen zum Text L IVER 2002: 256ss. 42 Die Zugehörigkeit der Einsiedler Interlinearversion zum rheinischen Bündnerromanischen wird einerseits wegen der Herkunft des Codex (wahrscheinlich aus dem Kloster Pfäfers; cf. L IVER 1969b: 210), andererseits aufgrund sprachlicher Züge (v.a. wegen sipse 13, = surs. sez ,selbst‘; cf. eng. svess) angenommen. 43 Eine Diskussion älterer Interpretationen liefert L IVER 1969b. Text und Kommentar auch bei L IVER 1991, ausführlicher Kommentar L IVER 1995a: 71-75. Deutsche Übersetzung bei L IVER 1969b: 213. Daran lehnt sich die Übersetzung in Rumantsch Grischun bei D EPLAZES 1993: 50 an. <?page no="88"?> 88 (8) causas pessimas, ne sicut Adam sicu ueni Adam perdudus in inferno int inferno (9) damnatus est, ne nos damnemur. ne no ueniamo si perdudi. Teneaprendamus (10) mus abstinentia contra gula, ieiunia contra quilla curda, largita- (11) te contra cupiditate, humilitate prendamus umilan[tia] contra contra (12) superbia, nam hos (lies: hoc) contenia, aquill a sauir e, sciamus quia christiani ki nos a christiani ueni- (13) dicimur, angelum Christi [mo n]ominai. angeli dei aquilla custodem habemus, sicut ueni nos wardadura, siqu il (14) ipse Saluator dicit: „Amen sipse saluator dis: „ueridade dico uobis, quod angeli eodico uos aquil: illi angeli […]“ (15) rum semper uident faciem patris mei qui in caelis est […]“ Im lautlichen Bereich stehen wir vor Schwierigkeiten, wie sie auch andere romanische Texte der Frühzeit (z.B. die Straßburger Eide) aufweisen: die graphische Notierung gibt die effektive Lautung nur sehr unvollkommen wieder. Vor allem dort, wo neue Phoneme entstanden waren (z.B. Palatallaute wie [y], [c], [t ʃ ], [d ]), bleibt die Graphie oft auf dem Stand der früheren Lautung stehen. Ist <k> in kare (2), <c> in causas (4) als [k] oder als [c] zu deuten? Wir wissen es nicht, und die Unsicherheit ist umso größer, als die Geschichte von K vor A im rheinischen Bündnerromanischen noch keineswegs geklärt ist 44 . Repräsentiert eine Schreibung <u> 45 ein velares [u] oder ein palatales [y]? In unserem Text sicher beides, je nach Kontext. Velares [u] liegt in afunda (1), tut (2), gurdus (3), arcullus (3), curda (10) vor; dagegen dürfte sich unter <u> in den folgenden Beispielen palatalisiertes (aber noch nicht, wie im modernen Surselvischen, zu [i] entrundetes) [y] verbergen: perdudo (2), su (6), periuras (7), perdudus (8), perdudi (9), ieiunia (10), wardadura (13). Die Beispiele der ersten Reihe, wo <u> [u] bedeutet, dokumentieren zudem den für das Bündnerromanische charakteristischen Wandel von vlat. [o] zu [u], z.B. - OSU > -us. Diphthonge, die aus vlat. [e] und [ ε ] direkt entstanden sind, werden graphisch nicht wiedergegeben: tres (1), surs. treis, timimo (7), surs. temein/ temeien 46 , auirtu (6), surs. aviert, inferno (8), surs. uffiern. Dagegen hält der Text sekundäre Diphthonge auch graphisch fest: plaida (5) < PLACITAT , nominai (13) < NOMINATI47 . 44 Cf. L IVER 1995a: 77s. und unten p. 168. 45 Das Graphem <u> dient überdies auch der Wiedergabe des Konsonanten [v]: uene (6), auirtu (6) etc. 46 Unsicher, ob ein Indikativ oder ein Konjunktiv (wie im lateinischen Vorbild) vorliegt. 47 Ob im letzteren Fall wirklich schon ein Diphthong vorliegt wie in der Entsprechung des modernen Surselvischen, numnai, oder ob die Lautfolge a + i als hiatisch aufzufassen ist, bleibt unsicher. Cf. die folg. Bemerkungen zu den unbetonten Endvokalen. <?page no="89"?> 89 Die unbetonten Auslautvokale außer - A fallen im Galloitalienischen wie im Galloromanischen. Unser Text dokumentiert eine Phase der Sprachentwicklung, in der dieser Schwund mindestens angebahnt ist. Neben zahlreichen Fällen von (mindestens graphischer) Erhaltung der Endvokale weist die Einsiedler Interlinearversion viele Beispiele für Schwund auf, so tut (2), aquil (3), gurdus (3), arcullus (3), sauir (12) etc. Es ist anzunehmen, daß diese Zeugnisse eher den effektiven Sprachgebrauch spiegeln als die Schreibungen mit erhaltenem Endvokal 48 . Zur Morphosyntax. Die Einsiedler Interlinearversion dokumentiert den auf dem Obliquus basierenden westromanischen Plural auf -s, der heute im Bündnerromanischen dominiert: tres causas (1 und 4), tres periuras causas (7); aber sie enthält auch Beispiele für die Erhaltung von Nominativformen im Singular wie im Plural. Eine altromanische Zweikasusflexion, wie wir sie aus dem mittelalterlichen Nord- und Südfranzösischen kennen, ist auch für das Rätoromanische des Mittelalters höchst wahrscheinlich. Verschiedene Indizien, die das heutige Rätoromanische (v.a. das Surselvische) liefert, sprechen dafür 49 . Obschon die Einsiedler Interlinearversion in ihrer Kürze nicht alle möglichen Funktionen belegt (Obliquus Plural von m. und Nom. Pl. von f. Substantiven fehlen), enthält sie doch verschiedene Belege für die Erhaltung von Nominativformen. Nominativ resp. Vokativ ist kare frares (2), Nominativ fos ouli (6), eventuell auch illi angeli (14), wo der Text abbricht. Besonders aufschlußreich ist die Flexion des Perfektpartizips. Sie entspricht weitgehend der noch heute im Surselvischen gängigen Praxis, wonach das m. Partizip im Singular auf -s, im Plural auf -i lautet, mit dem Unterschied, daß heute keine Kasusopposition mehr besteht 50 : perdudus (8), mod. perdius, perdudi (9), mod. perdi, perdudo (2), mod. perdiu 51 , [n]ominai (13), mod. numnai, manducado (6), mod. magliau (unpersönlich), auirtu (6), mod. aviert (unpersönlich). In der Wendung fai … cannao (= FACIT INGANNATUM ) ist cannao Obliquus; im modernen Surselvisch ist -s beim prädikativen Partizip/ Adjektiv generalisiert, unabhängig von der syntaktischen Funktion. In der Interpretation der Verbalformen ist vieles unsicher. Deutlich erkennbar ist jedoch die Wiedergabe von lateinisch synthetischen Formen durch romanische Periphrasen: drei Passivformen (aperientur - uene su auirtu 6, damnemur - ueniamo … perdudi 9, dicimur - ueni [mo n]ominai 12/ 13), eventuell (wenn die vorgeschlagene Konjektur 52 richtig ist) ein Passé composé, das ein lateinisches Futurum exactum übersetzt (commederitis - manducado a[ue]s, 5). 48 Cf. L IVER 1986: 400-402. 49 Cf. L IVER 1995a: 78ss. 50 Cf. unten p. 135. 51 Wenn die Annahme von Suchier, lo seulo sei eine neutrale Form, richtig ist, kann perdudo als die entsprechende neutrale Form des Partizips interpretiert werden. Cf. L IVER 1969b: 218. 52 L IVER 1969b: 227. <?page no="90"?> 90 Die grammatisch inkongruente Konstruktion in si uene (oder: uen e) su auirtu fos ouli (6), wo das Prädikat, ein unpersönlicher Ausdruck (modern surs.: schi vegn [ei] si aviert ,so wird aufgetan‘), nicht mit dem Subjekt im Plural (fos ouli) übereinstimmt, ist im Bündnerromanischen sehr verbreitet 53 . Die Unsicherheiten in der Herstellung des Textes lassen keine gültigen Aussagen über den Status des Artikels in der Einsiedler Interlinearversion zu. Je nach Lesung (quil oder qu il) liegt in Zeile 3 (qu il hom) und 14 (siqu il sipse saluator) ein Artikel oder ein Demonstrativum vor. Aber auch in Fällen, wo die Lautgestalt im rätoromanischen Text einem lateinischen Demonstrativum entspricht (ille diauolus 5, illi angeli 14), könnte durchaus ein romanischer Artikel vorliegen. Am Gebrauch der Demonstrativa fällt auf, daß der Übersetzer quil, aquil zur Wiedergabe von lateinisch HIC und ISTE verwendet, ein Usus, der dem des heutigen Surselvischen entspricht: quei, quel ist das (unmarkierte) Demonstrativum, das sowohl für den Bereich des Sprechers als auch für den des Angesprochenen und Besprochenen gilt 54 . Lexikalisches: Die Beurteilung des Wortschatzes der Einsiedler Interlinearversion wird wie die der übrigen Sprachebenen von unseren dürftigen Kenntnissen des mittelalterlichen Bündnerromanischen beeinträchtigt. Drei Kategorien von Wortmaterial lassen sich (mit Vorbehalt) unterscheiden: 1) Latinismen 2) Mittelalterliche Romanismen, die im modernen Bündnerromanischen keine Fortsetzung finden 3) Für das Bündnerromanische charakteristische Lexeme, die im modernen Bündnerromanischen (z.T. nur in Teilen davon) weiterleben. Zu 1) ist sicher der Ausdruck ille primaris homo (4) zu rechnen 55 , wahrscheinlich auch angeli dei (13). Ein semantischer Latinismus ist lin (5) für lignum in der Bedeutung ,Baum‘, eine spezifisch christenlateinische Verwendung 56 . Zu 2) gehören lo seulo (2) 57 , gurdus (3) 58 , arcullus (3) 59 , manducado (6) 60 , curda (10) 61 . Auch wardudura (13) ,Hut, Bewachung‘ könnte hierher gerechnet werden, da die modern-surselvische Entsprechung urdadira eine völlig abweichende Bedeutung hat (,Aussehen‘). 53 Cf. S TIMM 1976: 41-54 und unten p. 148s. 54 Zum Demonstrativum in der Einsiedler Interlinearversion L IVER 1993c: 181-86. 55 Cf. L IVER 1969b: 224s. 56 Cf. L IVER 1991: 101 N16. 57 Cf. L IVER 1969b: 218. 58 Cf. L IVER 1969b: 219. 59 Cf. L IVER 1969b: 222. 60 Cf. L IVER 1969b: 228. 61 Cf. L IVER 1969b: 219. <?page no="91"?> 91 Beispiele für 3) sind afunda (1) ,ziemlich, sehr‘, das in surs. avunda, eng. avuonda weiterlebt 62 , des < DECET (1) ,es geziemt sich‘ 63 , plaida < PLACITAT (5) ,spricht‘ 64 . Als „Kronzeuge“ für die Zugehörigkeit des Textes zum rheinischen Bündnerromanischen wird von verschiedenen Interpreten das Identitätspronomen sipse (surs. sez) gewertet: siqu il sipse saluator dis (14). Wenn auch das Engadin heute svess < SIBI IPSI für ,selbst‘ hat, ist es doch nicht zwingend, anzunehmen, daß diese Verteilung auch für das Mittelalter galt. Zum Schluß sei festgehalten, daß der lateinische Text, von dem der Übersetzer ausging, selbst zahlreiche Vulgarismen aufweist, die einer späten, von der Umgangssprache beeinflußten Latinität angehören: tres causas (1 und 7/ 8), tottus mundus (2), teneamus abstinentia … (9/ 10). 4.2.2.3 Zeugenaussage aus einem Münstertaler Urbar 1389 Ähnlich wie im Fall der Placiti Campani, die zu den ältesten Zeugnissen des Italienischen gehören, erklären in diesem Dokument, dem einzigen Zeugnis für mittelalterliches Engadinisch (resp. Münstertalisch), einheimische Zeugen in der Volkssprache, wie weit sich die Weiderechte des Klosters Müstair erstrecken: quod pascua in Faldera totaliter his tribus mensibus, videlicet Junii, Julii et Augusti integraliter pertineat ad mansus dicti claustri in Faldera: et hoc tali modo declarando et in volgari exponendo, ut eo melius intelligatur: „Intro e kk in sum la vall de Favergatscha et intro e kk eintt la vall de Vafergatscha; la e vcin (lies: vein 65 ) faitt una puntt chun dis punt alta e chun dis eintt feder Vinayr“ (nach S CHWITZER 1891: 249, zit. bei L IVER 1991: 102). Übersetzung des vulgärsprachlichen Textes: „Bis zuoberst in die Val F. und bis hinein in die Val F.: dort wird (wörtl.: es wird dort) eine Brücke gebaut, die man punt alta nennt, und wo es eintt feder Vinayr heißt“. Die Diskrepanz zwischen graphischer Notierung und tatsächlicher Aussprache, die wir in der Einsiedler Interlinearversion beobachtet haben, findet sich auch hier wieder. Der gerundete Palatal [ ø ] wird mit Hilfe des deutschen Graphems <o e > wiedergegeben; für den Laut [y] dagegen bleibt die palatale Qualität unbezeichnet (cf. sum [sum], puntt [punt], genau wie chun [cyn], moderne Schreibung ch’ün). Deutsche Schreibgewohnheiten könnten auch an der inkonsequenten Verwendung von <f> und <v> schuld sein, die beide sowohl [f] wie auch [v] bezeichnen: Favergatscha, Vafergatscha (gesprochen: [fav ɐ r’ at ʃɐ ], feder Vinayr (gesprochen: [‘ved ə r vi’nair]), vielleicht auch an der Wiedergabe von [ai] durch <ei>: eintt (modern eng. aint), vein (modern eng. vain). Der stimmhafte Palatal [ ] wird durch das Graphem <g> nicht 62 Cf. L IVER 1969b: 214. 63 Cf. L IVER 1969b: 214. 64 Cf. L IVER 1969b: 225s. 65 Cf. L IVER 1995a: 75. <?page no="92"?> 92 eigens bezeichnet (Favergatscha, Vafergatscha); dagegen erfährt die stimmlose Affrikata [c] eine eigene graphische Notierung durch <ch>, wie noch in der heutigen Sprache (chun = modern ch’ün). Die Schreibung faitt dürfte eine alte Palatalisierung des Nexus - KT - ([fac]) festhalten, die heute im Partizip fat wieder rückgängig gemacht ist 66 . Syntaktisch findet sich auch hier eine inkongruente Konstruktion, vergleichbar mit der in der Einsiedler Interlinearversion besprochenen (cf. oben p. 90): la e vein faitt una puntt. Ungewöhnlich für rätoromanischen Sprachgebrauch ist die Voranstellung des Adjektivs im Flurnamen feder Vinayr. In allen Beispielen für Determinierung durch veder, die RN II: 363 verzeichnet, ist das Adjektiv nachgestellt. Deutscher Einfluß ist deshalb nicht auszuschließen. Lexikalisch bemerkenswert ist die Präposition intro e kk ,bis‘; sie enthält wie surs. entocca, entochen lateinisch INTER HOC und bezeugt, daß dieser auch in anderen romanischen Sprachen des Mittelalters belegte Typus (cf. afr. entrues que, ait. introque che ,während‘, introcque ,inzwischen‘) auch im vorliterarischen Engadinischen lebendig war. Später wurde er hier von fin cha, das von Italien her eindrang, überdeckt 67 . 4.2.3 Der Beitrag der Onomastik Die Ergebnisse der Interpretation der spärlichen schriftlichen Zeugnisse für mittelalterliches Bündnerromanisch werden ergänzt durch die Resultate der historischen Namenforschung. Sie liegen vor allem im Bereich der Lautgeschichte und der historischen Lexik, aber auch der Wortbildung und (in geringerem Maße) der Morphosyntax. S TRICKER 1981 und 1989 enthalten Illustrationen zu Ergebnissen der Ortsnamenforschung in den einzelnen Bereichen. Besondere Beachtung schenkt Stricker in seinen Arbeiten zum Namengut Unterrätiens der Sprachkontaktsituation, die sich in den Ortsnamen spiegelt. So läßt Anfangsbetonung in ursprünglich romanischen Ortsnamen auf germanischen Einfluß schließen, etwa in Bregenz (lat. B RIGANTIUM ), Konstanz (lat. C ONSTANTIA ), aber auch im sehr viel später germanisierten Churer Rheintal: Pfäfers (rtr. Favéras). Deutsche Wortbildungselemente an romanischen Namen, Phänomene der Ablenkung und Analogie, Namenübersetzungen, deutsch-romanische Doppelnamen und volksetymologische Neuinterpretationen von ursprünglich romanischen Ortsnamen sind nur einige der Spuren des Jahrhunderte währenden Sprachkontakts in Unterrätien, der mit dem Sieg des Deutschen beendet worden ist 68 . 66 Cf. S CHORTA 1938: 93s. 67 Cf. L IVER 1995a: 76. 68 Cf. S TRICKER 1981: 35-48. <?page no="93"?> 93 Die Erforschung der Personennamen, der mit dem Abschluß des 3. Bandes des Rätischen Namenbuchs (H UBER 1986) ein grundlegendes Standardwerk zur Verfügung steht, ist vor allem für die Kulturgeschichte des rätoromanischen Raumes von Bedeutung. Die Einleitung zu RN III: 9-34 stellt eine knappe, aber informationsdichte Skizze der Geschichte der (rätoromanischen, deutschen und italienischen) Personennamen Graubündens dar 69 . 4.3 Die Entstehung der bündnerromanischen Schriftsprachen 4.3.1 Engadin 4.3.1.1 Die Anfänge der engadinischen Schriftsprache im 16. Jh.: Wichtigste Texte, kulturelle Voraussetzungen, sprachgeschichtliche Fragestellungen Im 16. Jh. entfaltet sich im Engadin ein Schrifttum in rätoromanischer Sprache, das man, angesichts der mehr als kärglichen Zeugnisse für den schriftlichen Gebrauch des Rätoromanischen im Mittelalter, als erstaunlich reich und elaboriert bezeichnen muß. Der erste bekannte Text ist die nur in Handschriften aus dem 17. und 18. Jh. überlieferte Chianzun dalla guerra dagl Chiaste da Müs, ein Kleinepos mit zeitgeschichtlichem Inhalt, das Gian Travers (1483-1563), aus dem oberengadinischen Zuoz stammend, im Jahre 1527 in seinem heimischen Oberengadinisch (Puter) verfaßte 70 . Derselbe Travers, ein hochangesehener und umfassend gebildeter Staatsmann (Kanzler und Hofmeister des Bischofs von Chur, 13mal Landammann des Gerichts Oberengadin, von 1523-27 Statthalter im Veltlin), übersetzte auch verschiedene biblische Dramen ins Rätoromanische, so (aus nicht bekannter Vorlage) die Histoargia da Joseph, die er 1534 mit der Zuozer Jugend zur Aufführung brachte 71 . 1542 wurde ein weiteres von Travers übersetztes Stück in Zuoz gespielt, die Histoargia dalg filg pertz. Während des ganzen 16. Jh.s spielte man im Engadin Theaterstücke, meist mit biblischen Stoffen (Hiob, Susanna, Der reiche Mann und der arme Lazarus, Die drei Jünglinge im Feuerofen), oft mit religiös-erbaulichem Inhalt wie das Spiel von den Zehn Lebensaltern, teils mit weltlichem Charakter wie die melodramatische Histoargia dauart la mur dalg chiaualyr Valentin et Eaglantina… Einige dieser Dramen sind im Text überliefert, von andern kennen wir nur den Titel 72 . 69 Zu den Personennamen Unterrätiens cf. S TRICKER 1989: 811. 70 S CHORTA / G ANTENBEIN 1942, kritische Ausgabe in ASRR 56: 7-60. 71 Die Chianzun da Joseph von 1542 reduziert das Drama auf eine Wechselrede zwischen Joseph und Potiphars Weib. Beide Texte in D ECURTINS 1900 (Rätoromanische Chrestomathie Bd. 5). Zur Biographie von Travers cf. W IESER 1970. 72 Cf. L IVER 1969a: 26-29. B EZZOLA 1979: 162-82. D EPLAZES 1993: 58-63. <?page no="94"?> 94 Die zweite wichtige Figur in den Anfängen des engadinischen Schrifttums ist Giachem Bifrun (1506-1572). Wie Travers stammte auch Bifrun aus einer angesehenen Oberengadiner Familie (aus Samaden). Nach Studien in Zürich und Paris kehrte er in die Heimat zurück, wo er als Jurist wirkte und wichtige Ämter bekleidete. Nachdem er 1552 einen Katechismus (Üna cuorta et christiauna fuorma da intraguider la giuventüna…) und eine Art Fibel für den Elementarunterricht (La Taefla, die auch das Vaterunser, das Credo und einige Gebete enthielt) auf romanisch veröffentlicht hatte 73 , ließ er 1560 seine oberengadinische Übersetzung des Neuen Testaments, L’g Nuof Sainc Testamaint da nos Signer Jesu Christ, „auf eigene Kosten“ drucken 74 . Dieses Werk ist der bedeutendste Markstein in den Anfängen der engadinischen Schriftsprache. Zwei Jahre nach der Bibelübersetzung Bifruns, 1562, erschien als erstes gedrucktes Werk in der Sprache des Unterengadins Ün cudesch da Psalms von Durich Chiampel (1510-1582) 75 . Chiampel gehört wie sein Lehrer Philipp Gallicius zu den bedeutendsten Reformatoren des Engadins. Über seinen intellektuellen Werdegang weiß man wenig, außer daß er von Philipp Gallicius (1504-1566), mit dem er verschwägert war, in Latein, Griechisch und Theologie unterrichtet wurde. Sicher führte er seine Studien auch auswärts fort, ob in Zürich, ist unsicher. Jedenfalls unterhielt er später freundschaftliche Beziehungen zu Bullingers Schwiegersohn Josias Simmler, der ihn zur Abfassung seiner Werke in lateinischer Sprache (Raetiae Alpestris Topographica Descriptio und Historia totius Raetiae 76 ) anregte. Chiampel verfügte wie Travers und Bifrun über eine ansehnliche humanistische Bildung. In den Liedern des Cudesch da Psalms, die zum größten Teil freie rätoromanische Nachdichtungen von deutschen Kirchenliedern sind, zu einem kleineren Teil aber auch original romanische Lieder, machte Chiampel das Rätoromanische erstmals zum literarischen Ausdruck der religiösen Inhalte und Gefühle der Zeit 77 . Die beachtliche Entfaltung eines Schrifttums in engadinischer Sprache im 16. Jh., nach einer mittelalterlichen Periode, in der (fast) keine Zeugnisse für eine Verschriftung der Volkssprache existieren, wirft die Frage nach den historischen und kulturellen Voraussetzungen für diese neue Situation auf. Zwei Stichwörter stehen im Vordergrund: Reformation und Humanismus. Die beiden Faktoren gehören eng zusammen: die Reformatoren des Engadins 73 Beide Schriften sind nur in späteren Ausgaben vollständig überliefert. Cf. B EZZOLA 1979: 195s. D EPLAZES 1993: 77s. 74 Cf. B EZZOLA 1979: 196. Wo das Werk 1560 gedruckt wurde, ob im Engadin oder in Basel, ist unsicher. Die 2. Auflage erschien 1607 in Poschiavo. Neue Ausgabe G ARTNER 1913. Zur Biographie von Bifrun cf. G AUDENZ 1970. 75 Gedruckt in Basel, „a cuost da Durich Chiampel da Susch“. Cf. B EZZOLA 1979: 199-202. D EPLAZES 1993: 85-90. 76 Cf. D EPLAZES 1993: 67s. 77 Zur Biographie von Chiampel cf. B LANKE 1970. <?page no="95"?> 95 waren allesamt humanistisch gebildet. Sie beherrschten die alten Sprachen Latein und Griechisch (wohl auch Hebräisch) und verschiedene Sprachen der Gegenwart (Deutsch, Italienisch, Französisch). Die Reformation brauchte die romanische Volkssprache als Medium ihrer religiösen Anliegen. Sie verhalf dem Rätoromanischen zu einem neuen Prestige, indem sie es zum schriftsprachlichen Träger ihrer Ideen machte. Die rätoromanische Volkssprache ihrerseits verhalf der Reformation zum Durchbruch. Als weiterer Faktor (neben Reformation und Humanismus), der die Entstehung bündnerromanischer Schriftsprachen begünstigte, ist ein gewachsenes politisches Selbstbewußtsein der Angehörigen der drei Bünde zu nennen. Es wäre zwar unangemessen, dieses Selbstbewußtsein als Ausdruck einer gemeinsamen bündnerischen Identität zu bezeichnen; zu verschieden sind die einzelnen Regionen in politischer, sprachlicher und (seit dem 16. Jh.) religiöser Hinsicht. Aber ein gewisser Stolz auf die bündnerische Unabhängigkeit und Volkssouveränität, die sich im Laufe der Geschichte des Dreibündenstaates gefestigt hat, läßt sich da und dort fassen. So heißt es in Travers’ Lied vom Müsserkrieg: Uscheia â Clavenna et in Vutlina d’inminchia lia, S’araspet üna bella Grischunia, (157-58) „ein stolzes Bündner Heer“, wie DRG 7: 831 übersetzt 78 . Daß sich die regionale Identität mit der jeweiligen sprachlichen verband, liegt auf der Hand. So versteht sich seit der Reformation das Engadin als protestantisch und romanisch (ladin), die Surselva (vorwiegend) als katholisch und romanisch (sursilvan) 79 . Wie sich die geschilderten kulturhistorischen Voraussetzungen auf die konkrete Ausgestaltung der jungen Schriftsprache im Engadin auswirkten, soll im folgenden anhand einiger kurzer Analysen untersucht werden. Dabei stehen zwei Fragestellungen im Vordergrund: - Lassen sich in den engadinischen Texten des 16. Jh.s ältere einheimische Sprachtraditionen (mündliche oder nicht dokumentierte schriftliche) erkennen? In Frage kommen v.a. die Bereiche der Predigtsprache und der Rechtssprache, aber auch der von Volkslied und volkstümlicher politischer Dichtung. - Das Modell anderer, im schriftlichen Gebrauch ausgebildeter Sprachen ist zweifellos vielerorts gegenwärtig. Wo lassen sich entsprechende Einflüsse fassen und wie werden sie im Engadinischen des 16. Jh.s umgesetzt? 78 Zum Namen Grischun cf. DRG 7: 831s. (A. Decurtins). 79 Cf. B ILLIGMEIER 1983: 88. <?page no="96"?> 96 4.3.1.2 Untersuchung einzelner Probleme in den Anfängen der engadinischen Schriftsprache 4.3.1.2.1 Gian Travers, La chianzun dalla guerra dagl Chiaste da Müs (1527) Am Anfang der bündnerromanischen Literatur steht ein Werk, das nicht von den religiösen Auseinandersetzungen der Zeit ausgelöst ist, die im späteren 16. Jh. das engadinische Schrittum reichlicher zum Fließen bringen sollten. Die Chianzun dalla guerra dagl Chiaste da Müs (im folgenden als Chianzun da Müs zitiert) ist ein zeitgeschichtlich-politisches Gedicht, in dem Gian Travers 80 in paarweise gereimten Versen (meist 11-Silber, aber auch 8-, 9- und 10-Silber) Ereignisse darstellt, die sich in jüngster Vergangenheit abgespielt hatten und in denen der Autor selbst eine wichtige Rolle spielte. Es geht um den sogenannten „1. Müsserkrieg“, eine Auseinandersetzung zwischen den Bündnern und einem Gefolgsmann des Herzogs von Mailand, Gian Giacomo de’ Medici, genannt „Il Medeghin“, der von seiner Burg in Musso am oberen Comersee aus als eine Art Raubritter im Stil des Don Rodrigo aus Manzonis Promessi sposi agierte. Die Herrschaft der Bündner über das Veltlin, Chiavenna und die „drei Pleven“ 81 war zu der Zeit noch keineswegs gesichert. Der Herzog von Mailand Francesco Sforza („Il Moro“) versuchte, mit Hilfe des „Medeghin“ diese Gebiete zurückzugewinnen. Im Zuge dieser Auseinandersetzungen nahm der Schloßherr von Musso eine Delegation von Bündner Unterhändlern gefangen, die beim Herzog von Mailand über den Frieden verhandeln sollten. Unter ihnen befand sich auch Gian Travers. Diese Ereignisse, die zunächst rein lokale Bedeutung zu haben scheinen, müssen auf dem Hintergrund der Stellung Graubündens im Widerstreit der damaligen europäischen Großmächte Frankreich, Österreich und Spanien gesehen werden, einer Situation, die auf lange Frist zu den „Bündner Wirren“ im 17. Jh. führen sollte 82 . Auch die religiösen Umwälzungen der Zeit spielen im Müsserkrieg insofern eine Rolle, als die katholischen Orte der alten Eidgenossenschaft eine Unterstützung der Bündner von deren Rückkehr zum alten Glauben abhängig machten 83 . Von den religiösen Verhältnissen der Zeit ist in der Chianzun da Müs nicht die Rede. Auf die internationalen Verflechtungen Graubündens nimmt Travers jedoch da und dort Bezug 84 . Sie bilden für ihn den selbstverständlichen Hintergrund für die Ereignisse, die in seiner Darstellung im Mittelpunkt stehen. Travers will in erster Linie die Auseinandersetzungen zwischen den Bündnern und dem Medeghin in den Jahren 1525/ 26 beschreiben. Am Anfang steht die erfolgreiche Abwehr eines Angriffs des Medicäers im Veltlin 80 Cf. oben p. 93. 81 Sorico, Domaso und Gravedona am oberen Comersee. Cf. P IETH 1945: 127s. 82 P IETH 1945: 192ss. 83 P IETH 1945: 128 84 V. 9ss., 28, 161ss., 677ss. <?page no="97"?> 97 (Travers selbst befehligte dabei die Bündner). Den größten Teil der Erzählung nimmt jedoch die Schilderung der erfolglosen Gesandtschaft der Bündner beim Herzog von Mailand und ihre Gefangennahme durch den Herrn von Musso bei der Rückkehr auf dem Comersee ein, bis hin zur Freilassung der Gefangenen nach einem halben Jahr, gegen Bezahlung eines beträchtlichen Lösegeldes. Über die Motivation, die Travers zu seiner Dichtung veranlaßte, unterrichtet der Autor selbst den Leser, allerdings erst gegen Ende der Chianzun: Nun bastaiva d’lur espra praschun, Chia gnivan d’a ls lur cunter radschun, Inculpos cun dir uscheia, Ch’els s’haveßen â tuotta via Sainza prudenschia aridschieu A’ nun havair la pradschun guinchieu, In que têmp sur la puntaglia, Aint in l’g Cummöen d’Bragaglia, Fat füt ’na svargugnusa chianzun, Da quels pouvers chi eiran in praschun, Quel maister zuond fick ho fallô, Ch’argumaint d’Bregalia ho pigliô 85 . Aus diesen Versen wird klar, daß Travers mit seiner Chianzun auf Vorwürfe antworten wollte, die offenbar im Volk und wohl auch in Kreisen von Politikern gegen ihn und seine Mitgefangenen erhoben wurden. Vom bergellischen Spottlied, der in V. 625 erwähnten „svargugnusa chianzun“, ist leider keine Spur mehr vorhanden. Der literarische Charakter der Chianzun da Müs, des ersten größeren Werkes in rätoromanischer Sprache, erklärt sich weitgehend aus der speziellen Situation, die zu ihrem Entstehen führte. Travers wendet sich an das Volk und an dessen Führer. Das mag der Hauptgrund für die Wahl der einheimischen Volkssprache sein, deren sich der humanistisch gebildete Autor hier bedient. Dieses Publikum bestimmt auch den stilistischen Tenor der Chianzun, die frisch und ungekünstelt wirkt. Dennoch ist das kleine Epos von Travers auch in literarische Traditionen eingebettet, die einerseits über das rätoromanische Gebiet hinausweisen, andererseits auch innerhalb desselben in Ansätzen erfaßt werden können. 85 V. 617-28. Übersetzung: „Nicht genug mit ihrer bitteren Gefangenschaft, denn sie wurden von den eigenen Landsleuten zu Unrecht beschuldigt, indem diese sagten, sie hätten sich jedenfalls unvorsichtig verhalten, daß sie die Gefangenschaft nicht vermieden hätten. Zu jener Zeit wurde oberhalb von Puntaglia (? ) im Gericht Bergell ein schändliches Lied gedichtet über jene Unglücklichen, die im Gefängnis waren. Jener Meister, der im Bergell diesen Stoff aufgegriffen hat (? ), hat sich schwer verfehlt“. - Ein Ortsname Puntaglia ist im RN nicht verzeichnet und (nach Auskunft von Ortskundigen) heute im Bergell nicht mehr bekannt. <?page no="98"?> 98 Die Erwähnung der „svargugnusa chianzun“ aus dem Bergell weist darauf hin, daß mindestens mündlich, vielleicht aber auch schriftlich Lieder kursierten, die aktuelle Geschehnisse zum Inhalt hatten 86 . Aus der Historia Raetica von Chiampel erfahren wir von älteren, mündlich überlieferten Liedern, die historische Ereignisse einer noch in der Erinnerung lebendigen Vergangenheit gestalteten. So berichtet Chiampel im 39. Kapitel, wo er die Streitigkeiten zwischen Engadinern und Tirolern vom Jahr 1475 beschreibt, von einem Lied („cantilena quaedam“), das er selbst von seinen Vorfahren singen gehört habe („quam ab iisdem majoribus nostris cantitari audivimus“) 87 . Die 12 Verse aus diesem Lied, die Chiampel überliefert, sind das älteste Zeugnis für diese Tradition rätoromanischer Lieder, das wir kennen 88 . Wie ein weiteres Fragment eines historischen Volksliedes, das ebenfalls Chiampel überliefert 89 , ist es in einer einfachen Sprache und in etwas holprigen, ungleich langen Versen abgefaßt: Quell da Schlander e d’ Unuder a chiavalg, Haun dritzad queus ün mal cussalg. … „E ha ho par daschdrür la val d’ Ingiadina Che nun chiaunta giall ne gialgina.“ 90 … „Marti-Joan diss: Mütscha, mütscha, tü Bart Gualgelm, la vita t’ cuosta, schilt ed helm; Diss el, sch’ la mia vita dess a mai custar, Voelg eug hunur e laud chiattar. ’lg pigliaa la vita, doet in ’lg chiamp fadiff da soart, Ch’ l’ ha undesch glids ruott aunt la moart, etc.“ … „La bandêra da Halla quaa bain fuo Tzuond schdrammada da metz ingiuo.“ 91 86 Daß Travers V. 627 von einem „maister“ spricht, der das Lied verfaßt hatte, legt die Vermutung nahe, es habe eine schriftliche Version vorgelegen. 87 P LATTNER 1887: 562. 88 Cf. B EZZOLA 1979: 156. 89 P LATTNER 1887: 597, zu einem Feldzug der Bündner nach Bormio und ins Veltlin im Jahre 1487. 90 Eine auffällige Parallele aus dem Roland occitan zeigt, daß das scheinbar volkstümliche Lied in einer alten epischen Tradition steht: Aras venc Karle, intret en Ronsasvals, mot trobet mortz cavalliers e cavals, e non hi cantet ni gallina ni gals, ni hi manget palafren ni cavals… Cf. M ANDACH 1997: 377. L IVER 2000: 257s. 91 P LATTNER 1887: 562ss. Die folgende Übersetzung ist in einigen Punkten zweifelhaft, trotz der lateinischen Periphrase des Textes bei Chiampel und der Übersetzung einzelner Stellen im DRG. „Der von Schlanders und der von Nauders, die haben eigens (sorgfältig, mit List; cf. L IVER 1997b) einen bösen Plan ausgeheckt. Das Tal Engadin soll zerstört werden (so DRG 7: 145; E ha ho bleibt unerklärt), so daß darin weder Hahn noch Henne mehr krähen. - Marti Johann sagte: ,Flieh, flieh, du Bart Guglielm, es kostet dich das Leben, Schild und Helm.‘ <?page no="99"?> 99 Bestimmt knüpft Travers mit der Chianzun da Müs an diese einheimische Tradition an. Es erscheint aber auch wahrscheinlich, daß er zusätzlich einer literarisch elaborierteren Tradition historischer Epen in anderen Sprachen (am nächsten liegen das Italienische und das Deutsche) verpflichtet ist. Die Chianzun weist Elemente auf, die diese Vermutung stützen. Allein sein Umfang hebt das Gedicht von den kürzeren volkstümlichen Liedern, die für eine mündliche Wiedergabe konzipiert sind, deutlich ab. Zudem enthält es Elemente einer epischen Technik, die über das hinausgehen, was die erwähnten einheimischen historischen Volkslieder aufweisen. Dazu gehören die deutliche Markierung von Eingang und Schluß: V. 1-4 stellen ein Proömium, V. 691-704 eine conclusio dar. Die Chianzun beginnt mit dem Anruf Gottes und der Bitte, er möge dem Autor bei seinem Vorhaben beistehen. Der rhetorische Topos von Anfang, Mitte und Ende 92 weist darauf hin, daß Travers den Anspruch erhebt, mit seinem Gedicht ein kohärentes Ganzes zu schaffen: Dalg tschiel et terra omnipotaint Dieu Dom gratzchia da cumplir lg’ perpöest mieu Da te scodünn oura dêss gnir cumazeda p(er) havair bun metz et meildra glivreda (1-4) 93 . In den vier folgenden Versen umreißt er den Gegenstand seines Gedichts und beteuert (auch dies ein Topos epischer Dichtung) seine Absicht, sich streng an die historische Wahrheit halten zu wollen: Avaunt me he eau piglio da quinter Quaunt la guerra ans ho duos ans do da fer A la praisa dalg Chiaste da Claven(n)a vöelg cumanzer Et saitza dubbi la pura vardaet üser (5-8) 94 . Der Schluß der Chianzun ist deutlich als conclusio gestaltet: Et per nun ir our d’giüst imsüra Vöelg m’arsalver sun la schrittüra Usche craj ad havair complieu, Er sagte: ,(Und) wenn es mich mein Leben kosten soll, so will ich Ehre und Ruhm erlangen.‘ Er nahm ihm das Leben (und) stürzte sich so in das feindliche Heer, daß er elf Glieder (Reihen) durchbrach, bevor er (selbst) den Tod fand.“ „Da wurde die Fahne von Hall völlig von oben bis unten zerrissen.“ 92 Cf. TPMA 1: 140 s. ANFANG. Besonders häufig ist die Formel bei Guittone d’Arezzo. 93 S CHORTA -G ANTENBEIN 1942: 17. „Allmächtiger Gott des Himmels und der Erde, gib mir Gnade, mein Vorhaben auszuführen. Bei Dir muß jegliches Werk seinen Anfang nehmen, um eine gute Mitte und ein besseres Ende zu haben“. 94 S CHORTA / G ANTENBEIN 1942: 17. „Ich habe mir vorgenommen zu erzählen, wie sehr uns der Krieg zwei Jahre lang zu schaffen gemacht hat. Bei der Einnahme der Burg von Chiavenna will ich beginnen und mich ohne Zweifel an die reine Wahrheit halten“. Der Wahrheitsanspruch wird z.B. in der Obsidione di Padua von 1509 betont (M EDIN 1892: 12). Hier auch die Ankündigung der historischen Erzählung mit der Angabe von Anfangs- und Endpunkt der zu berichtenden Ereignisse (13). <?page no="100"?> 100 Que ch’impromis, eau he hagieu, In quinter las chiosas paßedas, Da duos anns ino cumzedas (sic! ) (Pag. 40) Cun pitschna destrezza do chiavalg, Haves h’gieu bsöeng d’meilder cusailg, Pür m’he intramis cun ardimaint, Per der â meis vschins alegramaint" Et per nun ster otius, Craiem que tuots, eau s’di da prûs, Cun quaist ho fin l’historia mia, Ch’ludo saia Dieu, et la Mam(m)a sia (691-704) 95 . Travers markiert den Schluß seines Gedichts mit einer Reihe von rhetorischen Topoi, die in epischer Dichtung lateinisch-romanischer Tradition geläufig sind. Die Ankündigung, er komme nun zum Schluß, um das „rechte Maß“ nicht zu überschreiten (V. 691-92), reiht sich einerseits in die traditionellen brevitas-Formeln, andererseits in die ebenso geläufigen Beteuerungen, man wolle die Geduld der Leser/ Hörer nicht überstrapazieren, ein 96 . Die Verse 697-700 enthalten eine Bescheidenheitsfloskel, die sonst eher im Exordium untergebracht wird 97 ; auch V. 701, „Et per nun ster otius“, von Curtius als Exordialtopos („Trägheit ist zu meiden“) ausgewiesen 98 , ist hier ein Bestandteil der conclusio. Im Laufe der Erzählung schaltet sich der Autor verschiedentlich ein, um mit eigener Stimme seine Vorstellungen von Recht und Unrecht und seine Ansichten zum Verhältnis zwischen Volk und Politikern zum Ausdruck zu bringen. Sentenzhaft formuliert Travers: Da fortüna d’pöevel sa guarda scodün, Chi s’inchiappa, ho fat mel ad inminchün (115-16) 99 . 95 S CHORTA -G ANTENBEIN 1942: 59s. „Und um das rechte Maß nicht zu überschreiten, will ich in meiner Schrift innehalten. So glaube ich erfüllt zu haben, was ich versprochen hatte, (nämlich) die Ereignisse der Vergangenheit zu erzählen, die vor zwei Jahren begonnen hatten. Mit geringem Geschick habe ich mir Mühe gegeben; ich hätte jedoch bessere Einsicht nötig gehabt. Immerhin habe ich mich mit Eifer darangemacht, um meinen Mitbürgern Freude zu bereiten und um nicht müßig zu bleiben. Glaubt mir das alle, ich sage es euch aufrichtig. Damit ist meine Geschichte zu Ende. Gelobt sei Gott und seine Mutter! “ Zu Einzelheiten dieser Übersetzung, vor allem zu do chiavalg (697), cf. L IVER 1997b. 96 Cf. C URTIUS 1954: 479ss. 97 C URTIUS 1954: 93ss. 98 Curtius 1954: 98s. 99 S CHORTA -G ANTENBEIN 1942: 24. Die Stelle wird DRG 6: 793 s. furtüna und DRG 8: 496 s. inchapper zitiert und je etwas verschieden übersetzt. DRG 6: 793 „vor der (wechselhaften) Gunst des Volkes hüte sich ein jeder; wer sich da verstrickt, der hat jedem zuleide getan“. - Weitere auktoriale Interventionen V. 333s., 343-50, 615s. <?page no="101"?> 101 Die ausführlichste auktoriale Intervention, in einigen Manuskripten mit „NB“ als solche gekennzeichnet, erlaubt sich Travers gegen Ende des Gedichts, unmittelbar nach der erwähnten Stelle über das im Bergell kursierende Spottlied. Es sind ganze 20 Verse (629-48), die nochmals das Thema des Undanks aufnehmen, mit dem derjenige rechnen muß, der sich für das Gemeinwohl einsetzt. Trotz der resignierten Feststellung, daß „heutzutage“ das Unrecht nicht bestraft und das Gute nicht belohnt werde, fordert Travers dazu auf, unbeirrt in Besonnenheit und Treue dem Vaterland zu dienen. Wer so handelt, braucht sich vor niemandem zu fürchten und darf sicher sein, daß Gott ihn nicht verläßt: Pero scodün des saimper amêr, La prudêntia, et me abandunêr, Et â sia Patria, in vardet, Servir cun tuotta fideiltaedt, ün chi tel ais, nun ho pissêr, D’havair ne d’fant ne d’Chiavalêr, Et schia giô vain pruvò d’Fortuna Sch’el cêrt chia Dieu nun l’abanduna (641-48) 100 . Angesichts all dieser Elemente epischer Technik, die die Chianzun da Müs vom kunstlosen Stil der erwähnten historischen Volkslieder unterscheiden, stellt sich die Frage nach möglichen Vorbildern, die Travers in anderssprachigen Literaturen finden konnte. Zwei Bereiche bieten sich an: der italienische und der deutsche. Wir beschränken uns auf einige Andeutungen 101 . Zunächst muß festgehalten werden, daß Travers bestimmt nicht eine rätoromanische Nachahmung irgendeines anderssprachigen Vorbilds anstrebte; er hatte sein aktuelles Thema, das es ihn zu gestalten drängte. Aber es ist sicher, daß er Kenntnis hatte von vergleichbaren Dichtwerken, und es ist wahrscheinlich, daß es italienische und deutsche waren. Man ist wohl zunächst geneigt, eine nähere Anlehnung ans Italienische anzunehmen. Die Verse der Chianzun sind vorwiegend Elfsilber (wenn auch zum Teil holprig und oft kürzer), entsprechen also dem endecasillabo, der seit Dante, dann bei Ariost und Tasso und deren Nachahmern der epische Vers par excellence ist. Untersucht man jedoch italienische Kurzepen historisch-politischen Inhalts 100 S CHORTA -G ANTENBEIN 1942: 56s. Die folgende Übersetzung lehnt sich zum Teil an DRG 6: 87 (für V. 645s.) und DRG 6: 793 (für V. 647s.) an. „Dennoch soll jedermann stets die Besonnenheit lieben und nie von ihr ablassen und seinem Vaterland wahrhaftig und in aller Treue dienen. Wer so ist, braucht keine Furcht zu haben, weder vor Kriegsknecht noch vor Reiter, und wenngleich er von Fortuna geprüft wird, ist er gewiß, daß Gott ihn nicht verläßt“. Fortuna V. 647 darf nicht mit „Schicksal“ übersetzt werden (so DRG 6: 793): der Reim mit abanduna zeigt, daß Travers hier bewußt die lateinische Form wählt, um Fortuna als personifizierte heidnische Gottheit dem christlichen Gott entgegensetzen zu können. 101 Cf. L IVER 2000: 256ss. <?page no="102"?> 102 des 16. Jh.s, die als Vorbildtexte für Travers in Frage kommen könnten 102 , so fällt als wesentlicher Unterschied gleich ins Auge, daß diese Gedichte, wenn auch mit bescheidenem Erfolg, den großen Vorbildern der italienischen epischen Tradition nacheifern. Die Elfsilber sind zu Stanzen geordnet, und der rhetorische Aufwand geht weit über das hinaus, was wir bei Travers beobachten. Viel eher als an italienische Kurzepen dürfte Travers an zeitgenössische deutschsprachige Dichtungen angeknüpft haben, die aktuelle kriegerische und politische Themen zum Inhalt haben. Unter den Historischen Volksliedern der Deutschen vom 13. bis 16. Jahrhundert, die R. v. Liliencron herausgegeben hat (L ILIENCRON 1865-69), finden sich neben Liedern in Strophenform auch viele „Reden“ oder „Sprüche“, was der Terminus technicus für Kurzepen in paarweise gereimten Achtsilbern ist. Auch diese Gedichte erlauben sich Abweichungen in der Länge der Verse, und sie enthalten oft episch strukturierende Elemente, wie wir sie in der Chianzun da Müs antreffen: Anrufung Gottes und der Maria 103 , Bescheidenheitsfloskel 104 , Ankündigung des Schlußes, „um das Publikum nicht zu verdrießen“ 105 usw. Auch der erwähnte Topos von Anfang, Mitte und Ende findet sich in einem Exordium mit Anrufung Gottes, wie bei Travers 106 . Auktoriale Interventionen sind häufig, oft in Form von sentenzhaften Betrachtungen, und sprichwörtliche Redensarten werden mit Vorliebe verwendet 107 . Alles in allem ist die Verwandtschaft zwischen diesen „Sprüchen“ oder „Reden“ und Travers’ Chianzun unübersehbar. Daß er in seiner Studienzeit in Deutschland mit dieser Dichtung in Berührung gekommen war, ist eine naheliegende Vermutung. Weiterhin scheint mir, daß die Stilhöhe der Chianzun (wie auch die der vorher genannten älteren einheimischen politischen Lieder) derjenigen mancher dieser deutschen Kurzepen entspricht, während sie sich von der der italienischen Gedichte deutlich unterscheidet: Die Dichtung von Travers ist, wie die deutschen „Sprüche“, in einer mittleren Stillage angesiedelt, die sowohl Volkstümliches (Sprichwörter, Redensarten) als auch gelegentlich Elemente aufweist, die eine höhere Bildung verraten 108 . 102 Z.B. La obsidione di Padua von 1509 (ed. M EDIN 1892) oder die Lamenti storici dei secoli XIV, XV e XVI (ed. M EDIN / F RATI 1887-90). 103 Nr. 228 (1502): 1-6. 104 Nr. 233 (1504): 5-14. 105 Nr. 250 (1507): Str. 19; cf. Chianzun da Müs V. 691s. 106 Nr. 343 (1520): 12s. „daß ich anfang, mittel und end/ in meinem dicht also volbring“. 107 Eine Parallele besteht zwischen Nr. 228 (1502): 116 „sie werden nicht allewegen tanzen nach euer pfeifen“ und Chianzun da Müs V. 166: „Schia vullaivan ballêr zieva sia danza“. 108 Für Travers sei das oben N100 zitierte Beispiel von V. 647 genannt, wo Fortuna die klassische Schicksalsgöttin meint, für die „Reden“ Nr. 370 (1525), wo der Dichter gegen Dr. Eck polemisiert und höhnisch bemerkt: „denn er hats in Boeci gelesen“ (V. 289). <?page no="103"?> 103 4.3.1.2.2 Vorliterarische Sprachtraditionen: Rechtssprache und Kirchensprache Die Autoren, die als Begründer der ladinischen Schriftsprache gelten, bewegen sich in der neuen Schriftlichkeit mit erstaunlicher Gewandtheit. Vor allem Bifrun und Chiampel verfügen über einen reichen Wortschatz, auch im Bereich abstrakter Begriffe, und über die Fähigkeit, ihre Gedanken in elaborierten und komplex strukturierten Perioden auszudrücken. Die Vermutung liegt nahe, daß die humanistische Bildung, die Bifrun und Chiampel genossen hatten, ihnen die lateinische, aber auch zeitgenössische volkssprachliche Prosa (vor allem italienische und deutsche) als Vorbild für ihr eigenes sprachgestalterisches Wirken empfahl. Dazu soll im folgenden Abschnitt (4.3.1.2.3) mehr gesagt werden. Daneben ist festzuhalten, daß die plötzliche Blüte engadinischen Schrifttums im 16. Jh. zweifellos auch ältere Wurzeln hat. Wenn auch ein neues politisches Selbstbewußtsein, Humanismus und Reformation als entscheidende auslösende Faktoren feststehen, so wäre es doch falsch, die engadinische Schriftlichkeit des 16. Jh.s als eine creatio ex nihilo zu betrachten. Neben der gesprochenen Alltagssprache, die das Fundament der neuen Schriftlichkeit bildet, haben mit Sicherheit auch bestimmte Sprachtraditionen, die weiter zurückreichen, eine bedeutende Rolle gespielt. Sowohl im Bereich des Rechts als auch in dem der Kirche und des Glaubens hatten sich Terminologien und Sprachformen für die jeweils spezifischen Inhalte entwikkelt, auf die die Autoren des ältesten engadinischen Schrifttums zurückgreifen konnten. Die engadinischen Rechtsquellen (Dorfordnungen, Zivil- und Kriminalstatuten), deren älteste dem 15., die meisten jedoch dem 16. und 17. Jh. angehören, sind zunächst fast ausschließlich lateinisch abgefaßt (deutsch sind die Münstertaler Statuten von 1427 und 1592) 109 . Erst zu Anfang des 17. Jh.s, also zu einer Zeit, in der die engadinischen Schriftsprachen schon seit Jahrzehnten praktiziert wurden, tauchen die ersten rätoromanischen Fassungen auf. Es besteht jedoch kein Zweifel, daß eine einheimische rechtssprachliche Tradition im Engadin weiter zurückreicht. Man darf annehmen, daß Gerichtsverhandlungen in der Volkssprache geführt wurden, wenn auch Protokolle und Urkunden lateinisch redigiert wurden. Wichtig ist der explizite Hinweis, daß 1508, als das Oberengadiner Strafgesetz im Unterengadin übernommen und bei dieser Gelegenheit ins Deutsche (! ) übersetzt wurde, eine (leider verlorene) rätoromanische Fassung zuhanden des Volkes erstellt wurde, nach Schorta „wohl das älteste nachweisbare romanische Sprachdenkmal des Engadins“ 110 . 109 Cf. S CHORTA 1965 und 1969, S CHORTA / L IVER 1980-85. 110 S CHORTA / L IVER 1985: 15. Das oben (p. 96) zur Chanzun da Bart Guglielm Gesagte relativiert diese Aussage. <?page no="104"?> 104 Neben der Tradition der Rechtssprache reicht auch die der Kirchensprache in vorliterarische Zeit zurück. In beiden Bereichen dürfte neben dem mündlichen Gebrauch auch eine gewisse schriftliche Praxis bestanden haben, freilich eine so dürftige und sporadische, daß sie uns nicht überliefert ist. Ein altes Zeugnis für eine solche Praxis stellt die Einsiedler Interlinearversion dar, von der oben (p. 87-91) die Rede war. Auf ältere kirchensprachliche Sprachgewohnheiten greifen Bifrun, Chiampel und spätere Autoren geistlichen Schifttums vielfach zurück 111 . Ohne eine solche Tradition wäre es, wie Darms zu Recht betont 112 , nicht möglich gewesen, daß die Glaubensdisputation von Susch aus dem Jahre 1537 auf romanisch geführt wurde. Chiampel berichtet im 58. Kapitel seiner Historia Raetica ausführlich über dieses für den Fortgang der Reformation im Engadin so wichtige Ereignis 113 . Wenn man dort liest, wie eingehend, subtil und gelehrt an diesem Streitgespräch kontroverse Glaubensfragen diskutiert wurden, kann man nicht daran zweifeln, daß die engadinischen Geistlichen ein adäquates sprachliches Instrumentarium in ihrer Muttersprache zur Verfügung hatten. Es ist überliefert, daß ein zahlreiches einheimisches Publikum die öffentliche Disputation, in der zuletzt die Reformierten den Sieg davontrugen, mit Spannung verfolgte. Das bedeutet, daß nicht nur Gelehrte, sondern auch Laien mit dieser Kirchensprache, mindestens passiv, vertraut waren. Das ganze Ereignis illustriert eindrücklich die geistige Regsamkeit, die das Engadin des 16. Jh.s kennzeichnet: eine Voraussetzung für das Entstehen der Schriftsprache. Es ist immer noch ein Desiderat der Forschung, die Spuren der vorliterarischen Sprachtraditionen, der juristischen wie der kirchlichen, in den Werken der frühen engadinischen Autoren aufzudecken. Erste Sondierungen haben ergeben, daß vor allem im Bereich des Abstraktwortschatzes, aber auch in Phraseologie und Syntax vieles auf die ältere Rechts- und Kirchensprache zurückzuführen ist 114 . Zur Illustration seien hier einige Beispiele herausgegriffen. Heinimann nennt im zitierten Aufsatz unter anderem appruvamaint ,Versuchung‘, arüflijnscha ,Reue, Buße‘, sumaglia ,Gleichnis‘, spendrêr ,erlösen‘ und spendrischun ,Erlösung‘ als traditionell kirchensprachliche Ausdrücke, die Bifrun aus älterer Tradition übernahm (H EINIMANN 1987: 95ss.). Ein Zeugnis spezifisch theologischer Tradition ist auch fiüra (< FIGURA ) in der Bedeutung ,Vorform, Präfiguration‘, dessen Lautgestalt einheimische Entwicklung dokumentiert (wie gloergia < GLORIA ). Bifrun verwendet fiüra in dieser gelehrt-technischen Bedeutung, die der mittelalterlichen Bibelexegese entstammt: 111 H EINIMANN 1987: 95ss. Cf. auch L IVER 1972: 20ss. 112 D ARMS 1989: 829. 113 P LATTNER 1890: 224-75. 114 Cf. oben N111. <?page no="105"?> 105 Adam, quael chi era üna fiüra da quèl chi daiua gnir „Adam, welcher ist ein Bild des, der kommen sollte“, Rom. 5,14 115 . Bifrun, der seinen Lesern ungewöhnliche Ausdrücke in Anmerkungen (annotatiuns) zu erklären pflegt, hält eine Erläuterung nicht für nötig. Dieselbe Verwendung von fiüra findet sich bei Lüci Papa, der 1613 das Buch Sirach (Ecclesiasticus) als ersten Teil des Alten Testaments unter dem Titel La Sabgienscha ins Oberengadinische übersetzte 116 . Chiampel hat fgüra, immer in der spezifisch „typologischen“ Bedeutung von kirchenlat. figura 117 . Von besonderem Interesse ist ferner das Verb spendrar, -er ,erlösen‘ mit seinen Ableitungen. Es ist deshalb beachtenswert, weil sich darin die rechtssprachliche Tradition mit der kirchensprachlichen verbindet. Spendrar ist in den alten Rechtsquellen gut belegt; es bedeutet ,ein Pfand auslösen‘ und bezeichnet eine Rechtshandlung, die auf das Pfänden, pendrar, folgt. Gepfändet wurden z.B. Tiere, die auf fremden Grundstücken grasten. Diese Aufgabe oblag einem Fluraufseher, dem pendrader. Wer sein Vieh wieder herauslösen wollte, übte die spendrada, spendranza oder spendraschun aus, die Auslösung oder das sog. Zugrecht 118 . Auf diese im Sprachgebrauch der Zeit verankerte und im bäuerlichen Leben wohlbekannte Rechtsterminologie stützt sich Bifrun, wenn er in seiner Übersetzung des Neuen Testaments ,erlösen‘ mit spendrêr, ,Erlösung‘ mit spendrischun oder spendreda wiedergibt 119 . Auf den ersten Blick könnte überraschen, daß bei Bifrun spendreder für Christus als Erlöser nicht vorkommt, obschon dieser Terminus bis heute geläufig ist. Bifrun braucht dafür durchweg salvêder. Der Grund ist der, daß Bifrun, der seinem Vorbildtext, dem Neuen Testament des Erasmus, sehr getreu folgt 120 , mit spendrêr und dessen Ableitungen nur redimere, redemptio übersetzt, während er salvare, servare 121 mit salvêr wiedergibt 122 . Redemptor kommt im ganzen lateinischen Neuen Testament nur an einer einzigen Stelle vor, nämlich Apostelgeschichte 7,35, wo es auf Moses bezogen heißt: 115 Die Übersetzung stammt aus der Lutherbibel. 116 Lüci Papa war wahrscheinlich ein Enkel Bifruns. Cf. zu seiner Übersetzung L IVER 1972, zu fiüra p. 21s. 117 Cf. DRG 6: 294 s. figüra. 118 Belege im Romanischen Glossar des 4. Bandes von S CHORTA / L IVER 1985. 119 D ECURTINS 1993/ I: 180s. vermutet eine frühe, schon rätolateinische Prägung nach deutschem Vorbild. 120 Cf. H EINIMANN 1987: 86ss. 121 Erasmus hat das christenlateinische salvare der Vulgata, gemäß seinem humanistischen Sprachideal, durch servare ersetzt. Entsprechend heißt bei ihm der salvator der christlichen Tradition servator. Cf. z.B. Luc. 2,11. 122 Tatsächlich sind ja die beiden Prädikate, die Christus als den Heilsbringer der Menschheit charakterisieren, nicht synonym: salvator/ servator zielt auf die Rettung, die zum Heil führt, während der rechtssprachliche Terminus redemptor bildlich den Loskauf von der Sünde und damit von der Verdammnis bezeichnet. Die Unterscheidung ist im Griechischen vorgegeben: σωτη ´ ρ vs. λυτρωτη ´ ς. <?page no="106"?> 106 Hunc Moysen … hunc Deus principem et redemptorem misit cum manu angeli (Vulgata) Diesen Mose … den sandte Gott als einen Obersten und Erlöser durch die Hand des Engels (deutsch nach Luther). Tatsächlich übersetzt hier Bifrun redemptor (so bei Erasmus wie in der Vulgata) mit spendreder 123 . Ebenfalls in der Tradition der Rechtssprache verwurzelt ist ein syntaktisches Verfahren, das Bifrun und seine Zeitgenossen mit Vorliebe anwenden: die Gerundialkonstruktion. Schon Travers macht ausgiebig Gebrauch davon (23 von den 704 Versen der Chianzun da Müs sind durch ein Gerundium eingeleitet). Bifrun weicht von der Syntax des Erasmus im allgemeinen nur geringfügig ab. Eine Ausnahme stellen die häufigen Gerundialkonstruktionen dar, die oft kürzere Nebensätze (mit cum, ubi, dum eingeleitete Temporalsätze, Kausalsätze) der lateinischen Vorlage ersetzen: Et aunchia gniand nò schi l’g dstratscho l’g dimuni (Luc. 9,42. Erasmus: Cum adhuc autem accederet, laniauit eum daemonium). (ün’ arait) quaela siand plaina, schi l’haun è tratta ad ariua (Mt. 13,48. Erasmus: [uerriculum] quod cum impletum fuisset, subduxerunt in littus). Im sog. Cudesch vegl da las Chartas da Schlarina, einer oberengadinischen Übersetzung, die ein gewisser Balthasar Toutsch von Zernez im Jahre 1584 von älteren lateinischen Urkunden anfertigte 124 , ist eine wahre Inflation von Gerundialkonstruktionen zu beobachten. Meistens geben sie Ablativus absolutus-Konstruktionen des Lateins wieder. Als Beispiel ein Passus aus der romanischen Version einer Urkunde, die Bifrun selbst im Jahre 1554 als Notar auf lateinisch verfaßt und unterzeichnet hatte: Las quaelas chioses et bgierras plü da quella soart da las surdittas trais parts, siand dittas, et siand inclittas lur cufessiuns insemmel fattas et hauiand tuttas chioses cun madüra diligentzchia cusidero la suranumneda drachiüra hauiand lg prüm hagieu cusailg Et hauiand clamo in agiüd ilg num dalg signer Iesu Christi, dalg quael tut giüsts iüdicis uignen, ho iüdichio chi saia licit ad aquels da Bund cun lur mualgia, siand alueda üna granda maela ora: da lur alp da schasaer 125 . Die Vermutung liegt nahe, daß für den massiven Anteil an Gerundialkonstruktionen in Texten dieser Art die italienische Kanzleisprache als Vorbild gewirkt hat 126 . 123 Das Lemma spendreder fehlt bei F ERMIN 1954. Auch salvêr und salveder sucht man vergeblich in dieser ziemlich unzuverläßigen Studie. 124 P LANTA -S AMEDAN 1937 und 1938. 125 „Nachdem diese und viele weitere Dinge dieser Art von den obgenannten drei Parteien gesagt worden waren, und nachdem ihre gemeinsamen Aussagen zur Kenntnis genommen worden waren, und nach Berücksichtigung aller Umstände mit reiflicher Sorgfalt, beschloß das obgenannte Gericht, das zuvor getagt hatte und den Namen von Jesus Christus angerufen hatte, von dem alle gerechten Urteile kommen, daß die Leute von Bund, wenn ein großes Unwetter aufgekommen sei, von ihrer Alp weichen dürften“ (P LANTA -S AMEDAN 1937: 80). 126 Cf. auch die Konjunktion siand cha, die it. essendo che entspricht. Dazu L IVER 1969a: 74s. <?page no="107"?> 107 Zur Interaktion zwischen Latein und Volkssprache, die in den frühen Rechtsquellen zum Ausdruck kommt, sagt Andrea Schorta: „Ein den Linguisten besonders fesselndes Merkmal des Spätlateins der Notare an den Quellen des Inns ist seine enge Verflechtung mit dem seit den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts allmählich zur Schriftsprache aufsteigenden Volksidiom, das im Neuen Testament von Jachiam Bifrun bereits wie eine in langem Reifeprozeß gewachsene, höheren Anforderungen genügende Sprache wirkt“ 127 . 4.3.1.2.3 Die älteste Prosa Die älteste engadinische Prosa macht tatsächlich, wie das Zitat am Schluß des letzten Abschnitts betont, nicht den Eindruck einer eben erst aus der Taufe gehobenen Schriftsprache, die noch tastend und unbeholfen um ihren Ausdruck ringt. Sowohl die übersetzte wie auch die originale Prosa 128 weist einen reichen Wortschatz, auch im Bereich abstrakter Begriffe, auf, und der syntaktische Duktus ist meistens geschmeidig und differenziert, zum Teil sogar extrem komplex und elaboriert. In den Beispielen originaler Prosa, den verschiedenen Vorreden zu den ersten bedeutenden Publikationen in rätoromanischer Sprache, dem Nuof Sainc Testamaint Bifruns (1560) und dem Cudesch da Psalms von Chiampel (1562), wird der Übergang des Rätoromanischen zur Schriftlichkeit verschiedentlich thematisiert und diskutiert. Man betont das Wagnis, das die Verschriftlichung einer bisher weitgehend auf den mündlichen Gebrauch beschränkten Sprache darstellt, und man benennt die Schwierigkeiten, die diesem Unterfangen entgegenstehen, aber man begründet auch die Notwendigkeit des mutigen Schrittes und beruft sich selbstbewußt auf die kulturellen Voraussetzungen, die einen solchen Schritt ermöglichen und rechtfertigen. Bevor wir die Prosa von Bifrun, Chiampel und Gallicius in ihrer sprachlichen Gestaltung beschreiben, wenden wir uns zunächst diesen metalinguistischen Äußerungen zu. Alle Autoren betonen die Neuheit der Tatsache, daß Rätoromanisch jetzt geschrieben werde, dem verbreiteten Vorurteil zum Trotz, diese Sprache könne man überhaupt nicht schreiben 129 . Der Kronzeuge für eine solche Auffassung ist der aus Glarus stammende Geschichtsschreiber und Chronist 127 S CHORTA / L IVER 1985: 399. Der Ausdruck „Spätlatein“ für die Sprache der Notare des 16. Jh.s ist eher ungewöhnlich. 128 Den Aussagen dieses Abschnitts liegt die Analyse der folgenden Texte zugrunde. Übersetzte Prosa: Bifrun, NT. Bifrun, Vorwort des Erasmus zum NT. Chiampel, Vorwort des Johannes Zwick zum Nüw gsangbüchle. Originale Prosa: Vorwort des Gallicius zu Bifrun, NT und zu Chiampel, Cudesch da Psalms. Vorwort von Bifrun zum NT (Alla christiauna giuventüna d’Agnedina), Vorwort von Chiampel zum Cudesch da Psalms (…a lg Christiaun legiadur). Alle Texte in U LRICH 1906 und G ARTNER 1913. 129 Belege bei L IVER 1969a: 31. <?page no="108"?> 108 Ägidius Tschudi (1505-1572), der in seinem Werk Die vralt warhafftig Alpisch Rhetia von 1538 erklärte: Die Rhetijsch spraach ist nit gericht, das man die schryben konne, dan all brief und geschrifften in jrm lande, sind von alter har in Latin, vnd yetz mehrteils zu tütsch gestelt. Die Einwohner seien durch die nothwendige rauhe Arbeit aller Grammatic, schrybens vnnd redens art entwonet, und so zur verboserung der spraach komen 130 . Von der 1537 verfaßten Chianzun da Müs von Travers hatte Tschudi offenbar keine Kenntnis. Gallicius erwähnt sie aber in seinem Vorwort zu Chiampels Cudesch da Psalms 131 . Die Autoren der neuen engadinischen Schriftsprache widerlegen das Vorurteil durch ihr konkretes Tun. Sie sind sich jedoch durchaus bewußt, daß sie auf dem Weg von einer gesprochenen Sprache zu einer Schriftsprache noch am Anfang stehen. Bifrun, der sich am ausführlichsten mit der Problematik der neuen Schriftlichkeit auseinandersetzt, begegnet dem Vorwurf, das Rätoromanische sei „strêt & amanchianthûs“ (beschränkt und mangelhaft), mit einer überzeugenden Argumentation: Trotz seiner „Beschränktheit“, die er nicht abstreitet, sei das Rätoromanische durchaus in der Lage, eine andere Sprache verständlich wiederzugeben. Übersetzung, fährt Bifrun fort, sei immer problematisch, wegen der Inkongruenz der verschiedenen Sprachen 132 . Daß jedoch gerade das Übersetzen ein vorzügliches Mittel ist, Sprachen in der Frühphase der Schriftlichkeit in ihren Ausdrucksmöglichkeiten zu erweitern, ist bekannt 133 . Bifrun scheint sich dieser Tatsache auch bewußt zu sein, wenn er empfiehlt, sich beim Schreiben des Rätoromanischen ans Latein anzulehnen, von dem das Romanische ja abstamme 134 . Von besonderer Bedeutung sind die Stellen, in denen das Selbstbewußtsein der altengadinischen Autoren zum Ausdruck kommt. Neben den obligaten Bescheidenheitsfloskeln rhetorischer Tradition 135 finden sich verschiedentlich Hinweise auf die intellektuelle Begabung der Engadiner und auf die Schönheit der ladinischen Sprache. Sowohl Gallicius wie auch Chiampel sprechen von einem Intelligenzpotential der Engadiner, von „guten Köpfen“, die für höhere Aufgaben geeignet seien. So beginnt Gallicius sein Vorwort zu Bifruns Übersetzung des Neuen Testaments mit dem Satz: 130 Nach B OEHMER 1885: 109. Die kursiv gesetzten Teile sind verbindender Text Boehmers. 131 U LRICH 1906: XVIII,27-35. 132 G ARTNER 1913: 14,15-23. 133 Ein Musterbeispiel ist die Schaffung einer lateinischen philosophischen Sprache nach griechischem Vorbild durch Cicero; aber auch die volgarizzamenti in den Anfängen der italienischen Schriftlichkeit sind in diesem Zusammenhang zu nennen. 134 G ARTNER 1913: 14,11-13. Zur „Degenerationsthese“ (Romanisch als korruptes Latein), die Chiampel in seinen lateinischen Werken vertritt, cf. L IVER 1969a: 33s. 135 G ARTNER 1913: 15,15-24 (Bifrun), U LRICH 1906: XIX,10-XX,17 (Chiampel). <?page no="109"?> 109 Cunbain che la nossa terra d’Agnedina es sü l’g laer ün’hôta terra & suluédgia, schi s’ho ella impercho saimper achiateda cun lieud humaungia, & cun scheruellas, tiers tuot ufficis & bellas chioses, adêstras 136 . Auch Chiampel attestiert dem Engadin „blearas bunas suttilgas tscharwellas“ 137 . Das schönste Zeugnis für die neue Einschätzung der Muttersprache stammt jedoch von Gallicius, der im Ladinischen nicht nur eine funktionstüchtige, sondern auch eine aesthetischen Kriterien genügende Sprache sieht: Parchè ch’ell cun quaist seis scriwer (Ausgabe: seriwer) haa miss laa brickia pür ilg mainung d’ la scrittüra da lg Prophet, moa eir pardütt chia lg noass languack, chi uain tngüd groasser, haa eir la sia gratzg’ èd amur, uschè bain schkoa eir qual auter 138 . Das Selbstbewußtsein, das aus den zitierten Äußerungen spricht, ist eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen des Unternehmens, das gemeinhin als Bauernsprache eingeschätzte Ladin zu einer Schriftsprache zu machen. Natürlich betonen die Autoren auch gebührend ihr reformatorisches Anliegen als die eigentliche Triebfeder ihres Tuns: dem Volk das Wort Gottes in seiner eigenen Sprache zugänglich zu machen 139 . Wie Luther und die Zürcher Reformatoren haben die Engadiner einen Bildungshintergrund humanistischer Prägung, der sie einerseits befähigt, die in anderen Sprachen vorliegenden religiösen Inhalte ihrem Publikum zu vermitteln, der sich andererseits aber auch niederschlägt in der Art und Weise, wie sie ihre eigene Muttersprache gestalten. Davon soll im folgenden die Rede sein. Ein Thema für sich, dem wir hier nicht nachgehen können, wäre die graphische Umsetzung der gesprochenen Sprache, ein nicht unwichtiger Aspekt in der Herausbildung einer Schriftsprache 140 . Wir konzentrieren uns 136 G ARTNER 1913: 3,5-8. Die Übersetzung ist an zwei Stellen problematisch: der Ausdruck sü l’g laer, wörtlich ,über der Luft‘, ist anderswo nicht bezeugt (cf. DRG 1: 143 s.v. ajer). Das Adjektiv humaungia, das Gallicius einem anderen Adjektiv, suluédgia, entgegensetzt, dürfte soviel wie ,zivilisiert‘ bedeuten. Vorschlag: „Obschon unser Engadiner Land ein in luftiger Höhe gelegenes, wildes Hochland ist, haben sich darin immer zivilisierte Leute befunden, mit geistigen Fähigkeiten (wörtlich: Gehirnen) ausgerüstet, die sie zu allen Ämtern und Künsten befähigten“. Mit bellas chioses dürften, im Gegensatz zu den Aufgaben für die Öffentlichkeit (uffecis), die künstlerischen Betätigungen gemeint sein. 137 U LRICH 1906: XX,35, „viele gute scharfsinnige Köpfe“. Cf. auch Gallicius, Vorwort zu Chiampel: „la noassa terra, la quala hagia eir tscharwellas è lgieut chi sapgian“ (unser Land, das auch gute Köpfe und gelehrte Leute habe), U LRICH 1906: XIX,54s. 138 U LRICH 1906: XIX,42-46. Die genaue Bedeutung der Doppelung gratzg’ èd amur ist nicht ohne weiteres klar, da Belege für amur in einer entsprechenden Verwendung fehlen. Vorschlag: „Denn er hat mit dieser seiner schriftstellerischen Tätigkeit nicht nur die Bedeutung der Schrift des Propheten vermittelt, sondern bewiesen, daß unsere Sprache, die als grob gilt, auch ihre Anmut und Attraktivität hat, so gut wie irgend eine andere auch“. 139 G ARTNER 1913: 16,18-20. U LRICH 1906: XXI,48-79. 140 D ARMS 1989: 829-32 entwirft eine Skizze für die noch zu leistende Aufarbeitung dieser Problematik. <?page no="110"?> 110 auf einen andern Bereich, der für die Bewertung einer jungen Schriftsprache besonders aussagekräftig ist: die syntaktische Gestaltung der Rede, wie sie in der Konstruktion des einfachen Satzes und in derjenigen komplexer Perioden zum Ausdruck kommt. Allein die Tatsache, daß die Prosa der ersten engadinischen Autoren überhaupt komplexe Perioden aufweist, ist bemerkenswert. Die Subordination, die eine Hierarchisierung der in einer Satzkonstruktion ausgedrückten Inhalte erstellt, ist ein Charakteristikum konzeptioneller Schriftlichkeit. Die folgende Aussage Wolfgang Raibles, die in einem allgemeineren Kontext steht, trifft auch auf die Anfänge der engadinischen Prosa zu: „Generell gilt freilich, daß ein Diskurs in dem Maße integriert wird, in dem er vom Produzenten vorkonzipiert und reflektiert wurde…; daß mit dem zunehmenden Grad an konzeptioneller Schriftlichkeit der Grad an Integrativität zunimmt, daß ein hohes Maß an Integrativität jedoch die Verständlichkeit nicht unbedingt fördert“ (R AIBLE 1992: 221). Daß die engadinische Schriftsprache schon im 16. Jahrhundert über ein umfangreiches und differenziertes Inventar von subordinierenden Konjunktionen verfügt, ist ein Hinweis darauf, daß „Integrativität“ (Raible) hier von Anfang an zum Sprachcharakter gehört 141 . Die Übersetzung aus dem Lateinischen, die Bifrun im Neuen Testament und im Vorwort des Erasmus unternommen hat, ist (außer natürlich im Lexikalischen) gerade auch im Bereich der Satzsyntax eine Herausforderung. Bifrun, der sich im allgemeinen sehr eng (oft zu eng) an sein Vorbild hält, entwickelt gewisse Strategien für die Umsetzung spezifisch lateinischer Konstruktionen (Akkusativ mit Infinitiv, Participium coniunctum, Ablativus absolutus) ins Romanische. Vom Ersatz lateinischer Ablativus absolutus- Konstruktionen durch Gerundialkonstruktionen war schon oben (p. 106) die Rede. Das Participium coniunctum verwandelt Bifrun meist in einen Relativsatz, den AcI in einen Objektsatz oder gar einen unabhängigen Satz 142 . So beginnt das Vorwort des Erasmus 143 : AQUE chi tiers Mattheum dijsth l’g Quod apud Matthaeum Dominus signer & nos maister Iesus Christus, ac praeceptor noster Jesus Christus aque es appussaiuel, che scodüna murloquitur, id aequum esse arbitror, taela persuna paissa che saia dit à si: ut quisque mortalium sibi dictum GNI tiers mè tuot aquels chi isches afputet: Venite ad me omnes qui lafadios & chiargiôs, et eau uoelg arfêr boratis & onorati estis, & ego reuus. (G ARTNER 1913: 5,4-8) ficiam vos. (E RASMUS , Praef.) 141 Cf. L IVER 1969a. 142 Zu gelegentlich allzu wörtlichen Übersetzungen, die das Verständnis beeinträchtigen, cf. L IVER 1969a: 19s. 143 In den folgenden Beispielen werden der Text von Bifrun (links) und der des Ersamus (rechts) in Synopse wiedergegeben. Ersamus ist nach E RASMUS 1962 zitiert. Die verschiedenen Vorreden, die der Übersetzung des Neuen Testaments vorangehen, sind nicht paginiert. Das von Bifrun übersetzte Vorwort ist betitelt: Desiderii Erasmi Roterodami praefatio tertiae editionis Novi Testamenti an. M.D.XXIV. <?page no="111"?> 111 In der Wortstellung erlaubt sich Bifrun, zum Vorteil des romanischen Textes, oft deutliche Abweichungen vom Vorbildtext. Im folgenden Beispiel, wo er auch in lexikalischer Hinsicht eigene Wege geht 144 , verzichtet Bifrun auf die Tmesis des lateinischen Textes (ingens est sarcina), eine Figur, die sonst, wie wir noch sehen werden, von den altengadinischen Autoren durchaus praktiziert wird: La bramma da gnir sün hunuors Ingens est sarcina ambitio, es ün grad fasth, ad asgundêr l’g grave jugum servire libidini. strashuorden es ün grêf giuf. (E RASMUS , Praef.) (G ARTNER 1913: 5,18s.) Die romanische Version der folgenden Passage aus Erasmus, die eine komplexe Periode einschließt, illustriert Stärken und Schwächen von Bifruns Übersetzung, der man zugute halten muß, daß sie eine absolute Pionierleistung ist: Aquel ho el três da plü guisas astijns, Hunc per varias afflictiotrês la crusth aduzo a la gloergia da nes, per crucem evexit ad l’immortalitaed. In talla che in a-[X] immortalitatis gloriam, ut quaist d’mîz, che nus tres la santitaed nos interim per innocende la uitta n’s paissen à qui üna schertiam vitae meditemur hic ta inmortalitaed: cun la chiaritaed, immortalitatem quandam, aque chi sto uia à nus, merit-d bain per charitatem, benemeuia à tuots, & êr uia als mêls: três la rentes, quod in nobis est, pacijntia, cuportiand leedam-g cun de omnibus, etiam impiis, la sprauza de la premgia chi uain à per patientiam tolerantes n’s gnîr, tuot aquè chi n’s astainta alacriter spe futuri praeparmur da Christo: & in aquella guisa mii, quicquid ob Christum attemprant nos fats, che nus treian infligitur, sic undique aint er l’s mels, à l’amur d’üna uitta temperantes actiones nodelg eu-geli: ne che saia ad alchüni stras, ut malos etiam pelliünqualchiosa, quael chi s’possa cun ceamus ad amorem evangeuardaet blasmer in nus: tuot aque che licae vitae, neque cuinus faschein: tuot aque che nus inquam sit, quod probabilidürain: tuot aque che nus faflain, nus ter in nobis possit calumfasthen par chiaschun de la gloergia niari, quicquid agimus, da dieu. (G ARTNER 1913: 8,6-19) 145 quicquid loquimur, ad Christi gloriam referentes. (E RASMUS , Praef.) 144 Die Periphrase bramma da gnir sün hunuors für ambitio ist eine gelungene Lösung im Dienste der Verständlichkeit. Man fragt sich, warum Bifrun seinem Leser die Übersetzung von ambitio durch ambitiun nicht zumuten mochte. Möglicherweise war der Begriff für ihn rechtssprachlich belastet: mit ambitio bezeichnen die lateinischen Rechtsquellen das Delikt der Amtserschleichung. Cf. S CHORTA / L IVER 1985: 402. 145 Aquel (Erasmus: Hunc) am Anfang der Periode bezieht sich auf Christus. Mit el ist sinngemäß Gott gemeint, aber syntaktisch besteht eine Unstimmigkeit insofern, als das vorangehende Beziehungssyntagma la diuina buntaed lautet. <?page no="112"?> 112 Man lasse sich von der Interpunktion nicht irreführen: Bifrun bildet die komplizierte Satzkonstruktion der erasmischen Periode so genau wie möglich nach. Diese Periode beginnt mit dem Hauptsatz (Hunc…evexit ad immortalitatis gloriam), dem ein weit ausgebauter Finalsatz mit zahlreichen Erweiterungen folgt. Kern des Finalsatzes ist ut…meditemur; an dieses Verb angeschlossen folgen drei hierarchisch gleichwertige Participia coniuncta (benemerentes, tolerantes, temperantes). Das erste wird von einem asyndetischen Einschub begleitet (quod in nobis est), das zweite hat als Objekt einen verallgemeinernden Relativsatz (quicquid ob Christum infligitur); das dritte wird, ganz nach dem klassischen Prinzip der wachsenden Glieder, seinerseits in eine Konsekutivperiode eingebettet (sic … temperantes …, ut … pelliceamus). Mit neque cuiquam sit beginnt ein neuer, dem ersten Aussagesatz beigeordneter Hauptsatz im optativen Konjunktiv. Das abschließende Participium coniunctum referentes, dessen Objekt die beiden parallelen verallgemeindernden Relativsätze bilden, hat kausale Bedeutung. Bifrun versucht die komplexe Periode in seiner Übersetzung nachzubilden. Das gelingt ihm über ca. zwei Drittel auch relativ gut, dank der eindeutig finalen Konjunktion in talla che 146 und der Möglichkeit, lateinische Participia coniuncta durch Gerundialkonstruktionen wiederzugeben 147 . Die pleonastische Wiederaufnahme der Konjunktion che nach Einschub oder Erweiterung ruft die Unterodnung in Erinnerung (In talla che in aquaist d’miz, che nus … n’s paissen) 148 . Im letzten Teil scheint Bifrun die Konstruktion zu entgleiten: den kausalen Charakter des letzten Partizips drückt er nicht aus; der Konjunktiv nus fasthen hängt in der Luft und kann höchstens, als ein Adhortativus, an ne che saia angeschlossen werden. Chiampel schickt seinen Psalmen die Übersetzung der „Vorred zu beschirm vnnd erhaltung des ordentlichen Kirchengesangs. Durch Joannem Zwick“ voraus, die das Nüw gsangbüchle, seinen Vorbildtext, eröffnet. Die Übersetzung aus dem Deutschen scheint dem romanischen Autor größere Freiheiten und mehr Natürlichkeit des Ausdrucks zu gestatten, als das beim Latein als Ausgangssprache der Fall ist. Das dürfte weniger an der Sprache als solcher und ihrer spezifischen Struktur als vielmehr an der Einstellung des Übersetzers zu ihr liegen. Während Bifrun durch seine Einschätzung des Lateins als Ursprungssprache des Romanischen und damit als Vorbild für dieses (cf. oben p. 108) oft in einer freien, der neuen Volkssprache gemäßen Umsetzung gehemmt ist, wählt Chiampel viel unbekümmerter Übersetzungen, die ausdrucksseitig vom Ausgangstext abweichen, aber durch ihre Ver- 146 Cf. L IVER 1969a: 82s. 147 Attemprant statt attemprand ist wohl von der lateinischen Vorlage beeinflußt. Die Alternanz -d/ -t beim Gerundium findet sich auch im modernen Surselvischen, wo gewisse Gerundialformen in präpositionaler Funktion auf -t lauten. Cf. S PESCHA 1989: 663. 148 Die Wiederholung von cha nach einem Einschub ist auch im modernen Engadinischen geläufig. Cf. DRG 3: 134s. <?page no="113"?> 113 wurzelung im einheimischen Sprachgebrauch das Gemeinte umso treffender wiedergeben. Chiampel ersetzt z.B. nominale Fügungen des deutschen Textes durch verbale, ein Adjektiv durch einen Relativsatz: Vorred zu beschirm vnnd erhaltung des ordentlichen Kirchengesangs Ilg Pream fat a dafender èd a mantngair ilg chiantar da la baselgia, chi dwainta cun drett uorden (U LRICH 1906: XXIV,1s.). Mit gutem Stilgefühl übersetzt Chiampel do er sy mit wunder vnnd krafft erlößt hatt durch cur ell ls hawett mürawlgusamaingk cun sia uirtüd spandrat (U LRICH 1906: XXV,41s.). Die in ladinischer Sprachtradition verwurzelte Gerundialkonstruktion (cf. oben p. 106) gibt einen deutschen Kausalsatz wieder: so wir mer dan auß einer gfencknuß erlößt sind siand nuo spandrads plü choa our d’üna praschun (U LRICH 1906: XXV,44). Glossierende Doppelungen, wie sie in den Übersetzungen in noch junge Schriftsprachen öfters auftreten 149 , finden sich auch bei Chiampel: cun dretta discretziun u datzawrauntza steht für mit rechtem vnderscheid bei Zwick (U LRICH 1906: XXIV,6) 150 , üna libra frya chiaussa (ibid. XXIV,24s.) für ein frey ding. Freier als in den Übersetzungen bewegen sich die engadinischen Autoren natürlich in ihrer spontanen Prosa. Aber auch dort verzichten sie keineswegs auf komplexe syntaktische Strukturen. Im Gegenteil, vor allem die Anfangsperioden der verschiedenen Vorreden werden mit rhetorischem Ornatus versehen, der humanistische Bildung erkennen läßt. Ein beliebtes Verfahren bei Exordien konzeptioneller Schriftlichkeit ist der Beginn mit einem ausführlichen Konzessivsatz 151 . Mit dem oben (p. 109) zitierten Konzessivsatz beginnt das Vorwort von Gallicius zu Bifrun, mit einer analogen Konstruktion dasjenige von Bifrun selbst („Alla christiauna giuuentüna d’Agnedina“, G ARTNER 1913: 13). Einen wahren Exzeß syntaktischer Weitschweifigkeit erlaubt sich Chiampel im Vorwort zu seinem Cudesch da Psalms: Cumbain, chiarisschem amych, chick chi uainsch quaist noass cudesch a lèr, ch’eug nhag quaista lawur awaunt bain intzaquaunt anns tngida impart fatta, numa par mia bragiadella, ud eir par amur dad alchiüns spetzials amychs: è tzuond brichia cun prapoest da wlair quai intzacura daar a la stampa a lasschar a la lgüm schquitschar oura, lg pustütt a lg muond chia hussa da noass tèmp ais, in lg qual 149 Cf. S EGRE 1974: 62s. 150 Eine entsprechende Doppelung findet sich auch im Cudesch vegl da las Chartas da Schlarina von 1584 (P LANTA -S AMEDAN 1937-38): zavrauntza u discretiun. Cf. DRG 5: 284. 151 Cf. S ERIANNI 1993: 473 N43. <?page no="114"?> 114 sun taunta alatrada lgieut, chi haun lasschad èd iminchiady lasschan oura in iminchia languack, taunt alatrad cudeschs, è saingchias bellas lawuors, intaunter ils quaus eug poasss bain racunguosscher, ch’eug nun saia da metter, nè da ngyr schmaad auter choa schkoa Saul ngywa quidawaunt schmaad intaunter ils profets, schi bain aunt ch’eug dess ngyr numbrat intaunter ils nunalatrads, taunt schkoa Corydus: è siand chi sun lhura lascuntra intaunter queaus chi ssaun pauckett, taunts uschè plains d’inuilldgia, chi nun saun swess faar inguotta chi uala, e quai ch’auters faun, nun ssaunai auter choa dritzar oura è schdangar, èd uschè als pagiar èd ingratzgiar, par la fadigia è pisser chi uain miss par lur nütz è salüdt. Moa cumbain (dyg eug) ch’eug nun eira tzuond inguotta sün senn, par las chiaschuns huossa dittas, da lasschar quaist yr oura a lgüm, schi m’hag eug improa lasschar (lies: lasschad) uoaluer è müdar giuo da quell senn: è nhag uschè wlgüd quaist faar stampar, èd in quella guisa eir eug qualchiaussa, dawoa la mia flaiwla statta, purtar in lg taimpel da Deis ilg Sènnger, proa seis saingk saruetzi a seis laud èd hunur, sch’eug nun poass aur èd argient, u peidras pra(r)tziusas, giawer pells d’chiawra, siand chia è stueiwa eir quellas hawair proa lg taimpel da Salomon (U LRICH 1906: XIXs.). 152 Die Wiederaufnahme der Konjunktion cumbain chia mit dem auktorialen dyg eug gegen den Schluß ist ein implizites Eingeständnis, daß die Periode aus den Fugen geraten ist 153 . Es geht jedoch hier weniger darum, die Resultate der stilistischen Ambitionen der altengadinischen Autoren im einzelnen zu werten, als vielmehr um die Tatsache, daß solche Ambitionen vorhanden waren. Dazu gehören, auf der Ebene der Strukturierung der Gedankenführung mit syntaktischen Mitteln, die häufigen Antithesen vom Typus „nicht 152 Übersetzung: „Obschon, liebster Leser, der du dieses mein Buch lesen wirst, ich diese Arbeit schon vor einigen Jahren zum Teil fertiggestellt hatte, nur für meine Hausgenossen und auch einigen nahen Freunden zuliebe, und überhaupt nicht in der Absicht, dieses irgendwann in Druck zu geben und gedruckt zu verbreiten, vor allem in einer Welt, wie sie heutzutage ist, wo es soviele gelehrte Leute gibt, die täglich in allen Sprachen soviele gelehrte Bücher und fromme schöne Arbeiten publizieren und publiziert haben, unter die ich, wie ich zugeben muß, nicht gezählt werden darf, und nicht anders einzuschätzen bin als ehemals Saul unter den Propheten, daß ich vielmehr zu den Ungebildeten gezählt werden muß, genau so wie Corydus; und da es dagegen unter denen, die nur wenig wissen, soviele Neidische gibt, die selbst nichts Brauchbares zu machen verstehen, aber nichts Besseres wissen, als das, was andere tun, herabzuwürdigen und zu verachten und ihnen die Mühe und Sorgfalt, die für ihren Nutzen und zu ihrem Wohl aufgewendet wird, so vergelten und danken. Aber obschon ich (sage ich), aus den genannten Gründen, keineswegs im Sinne hatte, dies zu veröffentlichen, habe ich mich doch bewegen und umstimmen lassen: und ich habe mich entschlossen, dies drucken zu lassen, und so auch, nach meinem bescheidenen Vermögen, etwas in den Tempel des Herrn zu tragen, zu seinem heiligen Dienst und ihm zu Lob und Ehre, wenn es nicht Gold, Silber und Edelsteine sein können, so doch wenigstens Ziegenhäute, da es auch solche braucht im Tempel Salomons“. - Chiampel mutet seinem Publikum gelehrte Anspielungen zu, so den Bezug auf ein Sprichwort, das Ersamus in seinen Adagia anführt: „Inter indoctos etiam Corydus sonat“ (unter den Ungelehrten hat auch C. eine Stimme; cf. R.A.B. M YNORS 1991, Collected Works of Erasmus. Adages II I 1 to II VI 100: 124s.), oder den Verweis auf 2. Moses 25,4 (35,26) wo von Ziegenhaar (nicht Ziegenfell) als Gabe im Tempel Salomons die Rede ist. 153 Auch die lateinische Prosa Chiampels (in der Topographica Descriptio und in der Historia Raetica) leidet unter exzessiver Kompliziertheit und damit an mangelnder Transparenz. <?page no="115"?> 115 nur … sondern auch“: brichia pür .... moa eir bei Chiampel, brichia sullettamang … dimperse er bei Bifrun 154 . Eher aus dem Bereich des Ornatus stammen die gut vertretenen synonymischen oder bedeutungsähnlichen Doppelungen. Einige Beispiele aus dem Vorwort von Gallicius zu Chiampel (U LRICH 1906: XVIIIs.): choa eir quell dee crair e s’impissar „wie auch der glauben und denken soll“ (7) chia ls plaeds tuots s’cumbütten è s’raspuondan, schkoa è dee esser èd auda in üna tngyn ouwra „daß die Wörter alle zusammen passen und sich entsprechen, wie es sein muß und sich gehört in einem solchen Werk“ (19-21) la sia gratzg’ èd amur „ihre Anmut und Attraktivität“ (45s.; cf. oben p. 109). Besonders auffällig, weil vom Gebrauch der gesprochenen Sprache kraß abweichend, ist die syntaktische Sperrung (Tmesis), für die Gallicius eine Vorliebe hat: lg saimper deng da ngyr cun hunur numnad huom ser Ioan Trauers da Zuotz „Herr Johann Travers von Zuoz, der es verdient, immer mit Ehrerbietung genannt zu werden“ (U LRICH 1906: XVIII,30s.) lg huneist, alatrad èd in la Scrittüra sainchia bain affundad Sar Durich Chiampel „der ehrenhafte, gelehrte und in der Heiligen Schrift wohlbewanderte Herr Durich Chiampel“ (U LRICH 1906: XVIII,36s.). 4.3.1.3 Schluß Die Anfänge der engadinischen Schriftlichkeit haben zwar da und dort in der Forschung Beachtung gefunden, aber eine umfassende Darstellung steht noch aus. Sie müßte die sprachlichen und die kulturhistorischen Gegebenheiten und die Zusammenhänge zwischen den beiden Bereichen untersuchen. Aus den obigen Skizzen wird klar, daß der Übergang zur Schriftlichkeit im Engadin unter ganz besonderen Bedingungen stattgefunden hat. Die Reformation mit ihrem Anspruch, die evangelische Botschaft an die Gläubigen in ihrer Muttersprache heranzutragen, steht als auslösender Faktor fest. Der hohe Bildungsstand der geistigen Elite und deren Vertrautheit mit anderen Schriftkulturen, vornehmlich der deutschen, der lateinischen und der italienischen, erklärt den relativ hohen Grad an Elaboriertheit, der die ersten Werke in ladinischer Sprache kennzeichnet. Ältere Schrifttraditionen, die nur indirekt faßbar sind, haben den Durchbruch der engadinischen Schriftlichkeit im 16. Jahrhundert vorbereitet. 4.3.2 Surselva und Sutselva 4.3.2.1 Die Anfänge einer protestantischen und einer katholischen Schrifttradition Im rheinischen Gebiet setzt die schriftsprachliche Tradition etwa ein halbes Jahrhundert später ein als im Engadin. Es ist anzunehmen, dass auch hier, 154 U LRICH 1906: XXI,50ss., G ARTNER 1913: 13,7s. und öfters. <?page no="116"?> 116 wie im Engadin, ältere Traditionen bestanden haben. Indirekt bezeugt die Nachricht, dass der Bündnisvertrag von 1549 zwischen dem Grauen Bund und dem König von Frankreich ausser ins Deutsche auch ins Rätoromanische übersetzt wurde, dass das Surselvische schon im 16. Jahrhundert geschrieben wurde 155 . Eine direkte Quelle für surselvische Schriftlichkeit schon im 16. Jahrhundert ist das von Martin Bundi (B UNDI 1998) auf den Spuren von G.C. Muoth (1890) kommentierte Fragment des Litgun da Sagogn, vorausgesetzt, dass die dort vorgeschlagene Datierung des Textes richtig ist. Bundi möchte dieses „product da litteratura humoristica“, einen scherzhaften Kommentar zu einem in Sagogn (untere Surselva) geübten Brauch, auf das Jahr 1571 festlegen. Am Kirchweihfest wurde ein übergrosser Knödel (litgun; cf. DRG 11: 226) verspeist, und die Knabenschaft, die das Fest organisierte, trug mit witzigen Reden zur Unterhaltung bei. Wenn der von Muoth überlieferte Text tatsächlich dem 16. Jahrhundert angehört, kann man für die Surselva jener Zeit Verhältnisse annehmen, die mit denen des Engadins durchaus vergleichbar sind. Was im Laufe des 17. Jh.s in surselvischer und sutselvischer Sprache geschrieben wird, steht fast ausschließlich im Dienste der konfessionellen Auseinandersetzung zwischen dem sich festigenden Protestantismus und dem Katholizismus, der sich im Zuge der Gegenreformation bemüht, verlorene Positionen zurückzuerobern. Vieles ist Erbauungsliteratur in der einen oder der anderen Konfession, anderes der Reflex polemischer Konfrontation. Die folgenden Ausführungen können nicht mehr sein als eine Skizze; für eine vertiefte Darstellung der Anfänge der surselvischen Schriftsprache fehlen bisher die Grundlagen 156 . Einige der frühesten Druckwerke im rheinischen Bereich bedienen sich sprachlicher Varietäten, die dem Sutselvischen angehören. Trotz diesen sporadischen Manifestationen eines schriftlichen Gebrauchs des Sutselvischen im 17. Jh. entsteht eine eigentliche sutselvische Schriftsprache erst im 20. Jh. 157 . Dagegen ist eine kontinuierliche surselvische Schrifttradition, die allerdings seit ihren Anfängen in eine katholische und eine protestantische Ausprägung mit jeweils unterschiedlichen sprachlichen Zügen zerfällt, seit dem 17. Jh. faßbar. Das erste gedruckte Werk im rheinischen Bereich ist der protestantische Katechismus von Daniel Bonifaci (ca. 1574-1639), 1601 in Lindau erschie- 155 Cf. D ECURTINS 1993/ I: 155s. Die Dokumente sind leider verloren. 156 Eine gute, informative Materialbasis liefert D EPLAZES 1988. Eine sprachgeschichtliche Auswertung der Quellen steht aber trotz G ADOLA 1950-58, M ÜLLER 1960, D ECURTINS 1993/ I: 146-66 bisher noch aus. 157 S CHORTA 1934 vertritt die Auffassung, das Sutselvische hätte die Schriftsprache des gesamten rheinischen Gebiets werden können, wenn die beiden Gabriel (s.u.) in diesem Idiom statt auf surselvisch geschrieben hätten. Cf. dazu unten N201 (p. 127). <?page no="117"?> 117 nen: Curt mussameint dels principals punctgs della Christianevla Religiun …, eine Übersetzung des deutschen Katechismus von J. Pontisella 158 . Bonifaci stammte aus Fürstenau im Domleschg, wo er als Lehrer wirkte. Die Sprache des Curt mussameint ist denn auch sutselvisch geprägt, wobei die Schreibung gewisse Einflüsse der ladinischen Tradition erkennen läßt 159 . Am Anfang der surselvischen Schrifttradition steht ein Werk, für dessen Beliebtheit die zahlreichen Neuauflagen und Übersetzungen bis ins 19. Jh. sprechen 160 : Ilg Vêr Sulaz da pievel giuvan von Steffan Gabriel, 1611 in Basel erschienen. Es handelt sich um ein Buch religiöser Unterweisung und Erbauung, das nebst einer Glaubenslehre und einem kurzen Katechismus Psalmen in Versform und andere geistliche Lieder enthält 161 . Steffan Gabriel war, wie viele seiner Kollegen im Amt eines protestantischen Pfarrers in der Surselva, ein gebürtiger Engadiner. Das Engadin versorgte zu jener Zeit ganz Graubünden mit evangelischen Pfarrern. Diese Tatsache wirkte sich auch auf die Schriftsprache der protestantischen Surselva aus. Wir gehen hier nicht auf Einzelheiten der Verschriftlichung des Surselvischen in den frühesten Druckwerken ein. D ARMS 1989 und ausführlicher C AVIEZEL 1993 behandeln das Thema eingehend. Wichtig ist die Feststellung, daß die surselvische Schriftsprache seit ihren Anfängen in einer katholischen und einer protestantischen Variante auftritt, eine Situation, die sich bis in die 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts erhalten sollte. Begründer der protestantischen surselvischen Schriftnorm ist der Engadiner Steffan Gabriel, während der erste Exponent einer katholischen Schriftnorm der gebürtige Lombarde Gion Antoni Calvenzano ist. Calvenzano hatte schon 1611, im gleichen Jahr, in dem Gabriels Vêr Sulaz erschienen war, einen katholischen Katechismus in einer sutselvischen Version in Mailand veröffentlicht: Curt Mossament et Introvidament De Quellas Causas, las qualas scadin fidevel Christan è culpantz da saver 162 . Die Sprache ist im wesentlichen sutselvisch geprägt, aber voll von Italianismen in orthographischer und morphologischer Hinsicht 163 . 1615 publiziert Calvenzano, unterdessen Pfarrer im Lugnez, eine neue Version seines Katechismus, diesmal auf surselvisch und weitgehend frei von Italianismen: In Cuort Muossament… Dieses Werk steht am Anfang der katholischen surselvischen Schrifttradition 164 . Ein Meilenstein in der Geschichte der surselvischen Schriftsprache ist die Übersetzung des Neuen Testaments durch Luci Gabriel, den Sohn von Steffan 158 Cf. D EPLAZES 1993: 93-95. 159 Cf. D ARMS 1989: 832s. 160 Cf. B UNDI 1964: 54. 161 Cf. D EPLAZES 1993: 95-100. 162 Cf. D ECURTINS 1888: 9ss. 163 Cf. D ARMS 1989: 833. 164 Cf. D ARMS 1989: 833s., D EPLAZES 1993: 103ss. <?page no="118"?> 118 Gabriel, im Jahre 1648. Sprachlich und orthographisch steht Luci Gabriel ganz in der von seinem Vater begründeten Tradition, welche die protestantische surselvische Schriftsprache für mehr als zwei Jahrhunderte prägen sollte 165 . Ein paar Verse aus der Weihnachtsgeschichte mögen den Charakter der Sprache von Luci Gabriel illustrieren: Mo i daventà da quei temps, ch ei mà or ün cummondament d’ilg Imperadur Augustus, ch’ei duess vangir faig talgia sur tut ilg Mund. 2 Questa fò l’amprimma talgia, ca vangit fachia cur Cirenius era Guvernadur da la Siria. 3 A tuts mavan par sa laschar talgiar, scadin enten sieu marcau. 4 Mo Joseph mà er si da Galilea, d’ilg marcau da Nazaret, enten Judea, ent ilg marcau da David, ca ven numnaus Bethlehem: parchei ch’el era da la casa, a da la schlatta da David: 5 Par sa laschar talgiar, cun Maria sia spusa, la quala era purtonza. 6 Mo i daventà cur els fovan lou, ch’ilg temps vangit cumplaneus ch’ella duveva parturir. 7 Ad ella parturè sieu filg ilg amparmer nascheu, ad ilg faschà enten peaz, ad ilg mettet enten ün pursepi: parquei ch’ilg era bucca lieuc par els enten l’ustaria. 8 Ad ilg era pasturs sin quei antschiess, ca manevan ora s’ilg feld, a vilgiavan la noig sur lur triep. A mire ilg Aungel d’ilg Senger stet sur els, a la gliergia d’ilg Senger det clarezia anturn els: ad els tumenan cun ünna gronda temma. 10 Mo ilg Aungel schet ad els, Bucca tumeias: parchei mire jou lasch a saver à vus ünna gronda latezia, ca ven ad esser à tut ilg pievel (Luc. 2,1-10) 166 . Die Graphie weist einige Züge auf, die (wie schon bei Steffan Gabriel) an die engadinische Tradition (v.a. Chiampel) anknüpfen: - Der unbestimmte Artikel ist ün, ünna. - [ λ ] wird durch <lg>, [ ] durch <ng> transkribiert: talgia (2), vangir (1). - [c] wird im Inlaut durch <ch> oder <chi> wiedergegeben: parchei (4), fachia (2); im Auslaut ist die Graphie <ig>: noig (8). Sprachliche Züge, die das Neue Testament Luci Gabriels vom heutigen Surselvischen unterscheiden, finden sich auf allen Ebenen. Der Vergleich der zitierten Verse mit einer surselvischen Version von 1954 167 läßt, abgesehen von stark abweichenden Lösungen in der Übersetzung, die folgenden Unterschiede erkennen. Lexik: talgia, talgiar (L.G.), registraziun, registrar (1954); purtonza (L.G.), en spronza (1954); antschiess (L.G.), cuntrada (1954), triep (L.G.), muntanera (1954). Morphosyntax: Luci Gabriel verwendet als Erzähltempus das synthetische Perfekt, während die heutige Sprache nur noch das zusammengesetzte 165 Cf. D EPLAZES 1988: 20-22, C AVIEZEL 1993: 16s. 166 Nach D EPLAZES 1988: 21. 167 Cf. L IVER 1991: 144ss. <?page no="119"?> 119 Perfekt (Passé composé) kennt: i daventà (L.G.), eis ei daventau (1954), els tumenan (L.G.), els han pegliau ina gronda tema (1954), ilg Aungel schet (L.G.), gl’aunghel ha getg (1954) u.ö. - Die alte Sprache der Surselva kennt, wie die übrigen bündnerromanischen Dialekte und das Italienische und Französische, eine Serie von nicht-prädikativen (unbetonten) Pesonalpronomina, die in der heutigen Sprache fehlt (cf. unten p. 138s.): ella … ilg faschà enten peaz, ad ilg mettet enten ün pursepi (L.G.), ella … ha fischau el e mess en in pursepen (1954). Während Vater und Sohn Gabriel eine protestantisch-surselvische Schriftnorm begründen, die in manchen Zügen archaisch ist, schreibt der Lugnezer Balzar Alig (1625-1677), der auf katholischer Seite als erster biblische Texte in der einheimischen Volkssprache redigiert, ein modernes Surselvisch, das der damals gesprochenen Volkssprache nähersteht. Der in Vrin tätige Pfarrer ließ 1672 in Prag seine Passiun de nies Segner Jesu Christi pridora dels quater evangelischs â mess giu ent ramonsch della part sura drucken. Noch wichtiger für die Sprachgeschichte sind die zwei Jahre später in Chur erschienenen Epistolas ad Evangelis sin tuttas domeingias, a firaus, a gijs della quareisma, wo Alig wörtliche Übersetzungen von Bibeltexten liefert 168 . Daß er das Neue Testament von Luci Gabriel benutzt hat, zeigt der Vergleich klar. Dennoch weicht sein Text oft von dem Gabriels ab, und zwar in Richtung der zeitgenössischen gesprochenen Sprache. Die Passage aus Lukas 2, die wir oben in der Version von Luci Gabriel zitiert haben, lautet bei Alig: Enten gletz temps: ei sei iu ora in comond digl Imperadur Augusto, che tut igl mond doves vegnir scris giu. A quella prima descriptiun ei daventada digl Cirino Guvernatur da la Syria: a tuts maven, per mintgin se dar lou enten siu marcau. Ei aber era Ioseph ius si della Gallilea ora digl marcau da Nazareth, enten Iudeam igl marcau da David, che se numnava Bethlehem: perquei chel era della Casa, a schlateina de David, per confessar, ù schar schezigiar cun Maria sia donna, che era portonza. Ei aber daventau fertont ch’ei eran lau, ch’ilgs gis een impleni chella parturir 169 , ad ha parturiu igl siu Figl amparmer naschiu, ad anfaschau enten peaz, a mess & 170 enten in pursepi: perquei ch’igl era bucca liug per els enten l’ustaria. Ad eran Pasturs enten quei atschies (oder quella tiarra) ca vigliaven, a partgiraven la noig lur triep (oder nursas). A preing mire igl Aungel d’igls Segnier stet spèr els, a la clarezgia da Deus tarlischava enturn els: ad els fig tumevan. A igl Aungel ha gig ad els, bucca tumeias: pertgei pernei mir iou fetsch a vus dasaver gronda letezgia, ca vên ad esser a tut igl pievel. 171 Alig ersetzt die Präteritalformen Gabriels fast durchweg durch das zusammengesetzte Perfekt: ei ma or (L.G.), ei sei iu ora (B.A.), Questa fo l’amprimma talgia, ca vangit fachia (L.G.), A quella prima descriptiun ei daventada (B.A.), u.ö. Einzig stet (9) behält Alig bei. 168 Cf. D EPLAZES 1988: 24ss. 169 Wohl zu ergänzen: chella dueva parturir. 170 Wohl zu korrigieren: el. 171 Nach D EPLAZES 1988: 25s. <?page no="120"?> 120 Näher bei der gesprochenen Sprache dürften auch die folgenden Abweichungen Aligs von der Version Gabriels sein: da quei temps (L.G.), enten glez temps (B.A.), duess vegnir faig talgia (L.G.), doves vegnir scris giu (B.A.), mire (L.G.), preing mire, pernei mir (B.A.). Gegenüber Germanismen ist Alig deutlich weniger zurückhaltend als Gabriel, wo sie freilich auch gelegentlich vorkommen: ora s’igl feld. Alig verwendet das auch heute in der gesprochenen Sprache geläufige aber, wo Gabriel mo hat, ferner oder bei glossierenden Übersetzungen wie atschies (oder quella tiarra), lur triep (oder nursas). Überraschend (vom Standpunkt der späteren Praxis der katholischen Schriftsprache her) ist die Verwendung von Deus in abhängiger Funktion bei Alig an einer Stelle, wo Gabriel ilg Senger hat, ein Gebrauch, der eher der protestantischen als der katholischen Norm entspricht 172 . 4.3.2.2 Konfessionelle Polemik 1612, kurz nach dem Erscheinen des Vêr sulaz von Steffan Gabriel, publiziert der schon erwähnte G. A. Calvenzano die Bref apologetica, eine Übersetzung der lateinischen Epistola apologetica (1609) des zum Katholizismus konvertierten Oberengadiners Friedrich von Salis (Samedan). Calvenzano schreibt hier in einer surselvisch-sutselvischen Mischsprache. Die Konversion dieses Angehörigen eines angesehenen Oberengadiner Geschlechts löste eine ausführliche Diskussion über Glaubensfragen in lateinischer und rätoromanischer Sprache aus, an der auch Steffan Gabriel maßgeblich beteiligt war 173 . Für die damalige Sprachsituation ist von Interesse, daß der gebürtige Unterengadiner Gabriel, der wie erwähnt der Begründer der surselvischen Schrifttradition ist, einen Brief im Namen von Friedrichs Vater Johann von Salis auf oberengadinisch schreibt 174 . Die Auseinandersetzung zwischen den Konfessionen, die auch eine politische Dimension hatte 175 , inspiriert zwei Publikationen, die die jeweilige Position in harter Polemik und unter Anwendung einer kämpferischen Rhetorik verfechten. 1618 erscheint in Lyon eine gegen Steffan Gabriels Vêr sulaz gerichtete Schrift mit dem vielsagenden Titel Anatomia dil sulaz. Der Autor ist Adam Nauli, ein katholischer Geistlicher aus dem Domleschg. Er zerpflückt die Thesen Gabriels Stück für Stück, versucht ihn wenn immer möglich der Inkonsequenz zu überführen und mit den eigenen Waffen, v.a. mit der Berufung auf die Bibel, zu schlagen. 172 Zum Sonderfall Dieus/ Diu (katholisch) vs. Deis (protestantisch) cf. L IVER 1997a. 173 Cf. B UNDI 1964: 57-65, D EPLAZES 1988: 3-7. 174 D EPLAZES 1988: 5s. 175 Die Protestanten gehörten mehrheitlich der französisch-venezianischen, die Katholiken der spanisch-österreichischen Partei an. Cf. P IETH 1945: 192-232. <?page no="121"?> 121 Die Sprache ist sutselvisch geprägt. Stilistisch verrät sie einerseits eine klassische Bildung des Autors (komplex strukturierte Perioden, relativer Anschluß, Accusativus cum infinitivo) 176 , andererseits schöpft Nauli aus der lebendigen Sprache, indem er anschauliche Bilder und Redensarten einsetzt. Im folgenden Beispiel widerlegt Nauli Gabriels Auffassung, es gebe kein Fegefeuer. [p. 97] MINISTER. fol. 28. Eisi da mai nigin pargatieri, entil qual nus stuuein far giu noss puccaus? La S. Scrittira mussa che seigig na mai dus logs il tschiel & il vffiern. Matt. 7. V. 17. EXAMEN 24. Or d’in mal & fauls antecede˜t vean adinna egna faulsa consequenzia: ti hâs si sura fagg la tia cõclusioun che nus haigian nagotta d’andirar per noss pugiaus: la qual chiausa vai ieu schon mussau non esser la verdad: & la trâs gîs che na segig egn purgatieri: aber tutt egna sco la conseque˜zia eis, vschi eara la proua che tei prens or da soing. Matt. 7. il qual na gi auter che quest: largia ei la [p. 98] porta, & spaziusa ei la veia che meina alla perdizioun, & blears vann eint per quella: streggia ei la porta, & veia che meina tier la vitta & paugs ean quels che la cattan. & cun tutt metts puschpei tiers il text ina scrotta da tia doctrina per nott che tei posses catschar vi nauau˜t la marcanzeia siont che tei gîs (gl’ei mai dus logs, il tschiel & il paruis) nu ei pia enten il text da tutt la soinghia scrittira che gigig gl’ei mai dus logs? ner quest vocabul (.mai.) trâs il qual il pieuel certameng pò quittar che seigig vschia? & cuntutt ei maniuel trêr il pieuel per il nâs, numnadameng faschent crêr las tias inuentiouns & proprias chimeras 177 . Auf die Anatomia antwortet Steffan Gabriel 1625 mit einem Werk, dem er den Titel „Glaubenswaage“ gibt: Ünna stadera da pasar qual seig vera cardienscha 178 . Gabriels Widerlegung der Anwürfe des Dr. Nauli ist auch nicht eben arm an handfester Polemik. Daneben finden sich Passagen, in denen ein gemäßigter argumentativer Ton vorherrscht, aufgelockert durch eine anschauliche Metaphorik, wie im folgenden Abschnitt: 176 Über den Bildungsgang von Adam Nauli ist nichts bekannt. Cf. D EPLAZES 1988: 8. 177 D ECURTINS 1888: 30. Übersetzung: „Diener (am Wort Gottes) fol. 28. Gibt es also kein Fegefeuer, in dem wir unsere Sünden abbüßen müssen? - Die Hl. Schrift zeigt, daß es nur zwei Orte gibt, den Himmel und die Hölle. Matt. 7. V. 17. Examen 24. Aus einer schlechten und falschen Prämisse kommt immer eine falsche Folgerung: du bist oben zu deinem Schluß gekommen, daß wir nichts um unserer Sünden willen erleiden müßten, was ich schon als unrichtig erwiesen habe. Und dadurch sagst du, daß es kein Fegefeuer gebe. Aber gleich wie die Folgerung ist, so ist auch der Beweis, den du aus Mt. 7 nimmst, der nichts anderes sagt als: ,weit ist die Türe und breit ist der Weg, der ins Verderben führt, und viele gehen durch diese ein: eng ist die Tür und der Weg, der zum Leben führt, und wenige sind es, die es erlangen.‘ Und so legst du dem Text wieder einen Flick aus deiner Lehre auf, damit du die Ware weiterleiten kannst (cf. DRG 3: 471), da du sagst: es gibt nur zwei Orte, den Himmel und das Paradies (hier unterläuft Nauli offensichtlich ein Fehler: parvis statt vffiern). Wo gibt es also im Text der ganzen Hl. Schrift [eine Stelle,] die sagt, es gebe nur zwei Orte? Oder [wo ist] dieses Wort ,nur‘, aufgrund dessen die Leute mit Sicherheit annehmen können, daß es so sei? Und überhaupt ist es leicht, das Volk an der Nase herumzuführen, indem du es dazu bringst, an deine Erfindungen und eigenen Chimären zu glauben“. 178 Ich halte mich hier an D ECURTINS 1888: 53, woraus in der Folge zitiert wird. Der Titel des Werkes wird bei B UNDI 1964: 99, B EZZOLA 1979: 243, D EPLAZES 1988: 11 und in der Bibliographie DRG 5: XXIX je verschieden zitiert. <?page no="122"?> 122 O mes chars Grischuns, arvit ils elgs, lg’ei bucca da far par rauba, ner par autras caussas d’ilg Mund, mo par vies perpetten salid, cuntut figeit vies faic sagir: Saveits vus buc, ca nies Senger ha gic; Cur l’ün tschiec meina l’auter, schi crodan els amadus en ün fussau? Mat. 15. Cur vus preneits ent daners, schi paseits vus quels a mireits, ch’els seien bucca memma lefs, bucca fauls. Ah paseit po er la doctrina da vies perpetten salid; gurdeit po ca quella seic bucca memma leva, bucca faulsa. Paseit po quella cun ünna drechia, gista stadera, la quala vus angonnic bucca. Nu’ afflein nus ünna tala sagira stadera? La Bibla ei quella stadera; La Cardienscha, ils Diesch Commondaments, ilg Bab Nos ean quella stadera. Quei ca po star ent sin [p. 312] quella duvein nus prender si: quei ca po sin quella bucca star ent, duvein nus, tont sco leva, mala, faulsa muneida frir navent (D ECURTINS 1888: 54) 179 . 4.3.2.3 Erbauungsliteratur und Kirchenlieder Die reiche Literatur, die im 17 Jh., auf katholischer wie auf protestantischer Seite, im Einzugsgebiet des Rheins wie in dem des Inns, aus dem Bestreben entstand, die Gläubigen zu erbauen und im Glauben zu stärken, braucht in diesem Zusammenhang nicht im einzelnen dargestellt zu werden 180 . Zwei Aspekte sind für die Anfänge der Schriftsprache in der Surselva von Bedeutung: In dieser Epoche spielen einerseits die mit einer gegenreformatorischen Mission beauftragten Kapuziner italienischer Herkunft eine hervorragende Rolle, andererseits die Benediktiner des Klosters Disentis. Von G. A. Calvenzano war schon die Rede. Nachhaltiger als dessen Katechismen wirkten auf die surselvische Schrifttradition die Werke eines anderen italienischen Kapuziners: Zacharia da Salò, geboren in der Nähe von Brescia, wirkte viele Jahre, zuerst in seiner Jugend, dann nach einem Unterbruch bis zu seinem Tod (1705), in Graubünden, am längsten in Cumbel im Lugnez. Sein Hauptwerk, eine Art Kirchen- und Heiligengeschichte mit dem Titel La glisch sin il candelier invidada ist die Übersetzung ins Surselvische eines umfangreichen Buches, das er 1679 auf italienisch in Venedig publiziert hatte 181 . Die Sprache ist weitgehend an der Varietät des Lugnez ausgerichtet. Der Autor bekennt jedoch selbst, daß er angesichts der großen Varietät der Sprache von Ort zu Ort oft unsicher war, welche Form er wählen sollte 182 . 179 Übersetzung: „O meine lieben Bündner, öffnet die Augen, es geht nicht um Güter noch um andere weltliche Dinge, sondern um euer ewiges Heil. Verschafft euch also Sicherheit. Wißt ihr nicht, daß unser Herr gesagt hat: Wenn ein Blinder einen andern Blinden führt, so fallen sie beide in eine Grube? Mat. 15. Wenn ihr Geld einnehmt, so wägt ihr es und schaut, daß es nicht zu leicht, nicht falsch sei. Ach, wägt doch auch die Lehre eures ewigen Heils. Achtet darauf, daß diese nicht zu leicht, nicht falsch sei. Wägt sie doch mit einer richtigen, gerechten Waage, die euch nicht täuscht. Wo finden wir eine solche sichere Waage? Die Bibel ist diese Waage; der Glaube, die zehn Gebote, das Unser Vater sind diese Waage. Was auf ihr zu verbleiben vermag, sollen wir in uns aufnehmen, was auf ihr nicht zu bleiben vermag, sollen wir wegwerfen wie leichte, schlechte, falsche Münze“. 180 Cf. D EPLAZES 1988: 27ss. Bibliographische Hinweise p. 32. Zum Inhalt ausführlich M ÜLLER 1951: 7-10. 181 Dazu und zu anderen Schriften von Zacharia da Salò cf. D EPLAZES 1988: 27-32. 182 Cf. D EPLAZES 1988: 31. <?page no="123"?> 123 Die Germanismen im folgenden Textbeispiel (lists, tagliar entuorn 183 ) spiegeln mit Sicherheit den Sprachgebrauch der Zeit, während die häufigen Italianismen (facciend, vegnidi, far qualche contrast, vegnennen en veglia) die Herkunft des Autors und die Wirkung des ursprünglich italienischen Textes verraten. Bein savens mava S. Sigisbert or’ de siu desiert per la vallada entuorn predigont il S. Evangeli, facciend grondas miraclas, & informont quei Pievel enten la S. Cardienscha, e vita Christiauna. Denter autra eis ei ina gada deventau, che S. Sigisbert ei vegnius tier ina gronda rimnada de Pagauns, ch’eran vegnidi ensemel per far ina Fiasta à gli fauls Dieus Apollo, il qual els veneraven, & havevan fermau la Figura de quel vid’ in grond, e griess Salisch; Et havend il Soing urbiu de quels l’audienza, she ha el alla [p. 304a] liunga ad els dau d’entellir ils lists & inganaments digl Demuni, la vanadat della Idolatria, è la fleivladat de tuts ils fauls Dieus, quals els adoravan, con se porscher, & emprometter, ch’el voless far tagliar entuorn quei salisch senza che lur Dieus Appollo gli podess far qualche contrast; A qual pierta, e domonda ils Pagauns vegnennen en veglia, credend che gl’Appollo vegness podèr biar de pli che Soing Sigisbert (D ECURTINS 1888: 92) 184 . Deutsche Schreibgewohnheiten dürften auch die gelegentliche (inkonsequente) Großschreibung von Substantiven, manchmal auch von auch Adjektiven, bewirkt haben. Unter den zahlreichen Erbauungsbüchern der Zeit beschäftigen sich viele mit der Angst des Menschen vor dem Tod und mit dem Umgang mit der Todesfurcht 185 . Ein Beispiel aus der protestantischen Literatur zu diesem Thema ist das umfangreiche Werk von Andrea Nicka, der als Pfarrer in Versam wirkte: Cunfiert da l’olma cartenta ancunter la temma da la mort, wahrscheinlich eine Übersetzung aus dem Deutschen 186 , die 1692 in Zürich gedruckt wurde. Das folgende Textbeispiel zeigt, daß am Ende des 17. Jh.s eine flüssige, natürliche Sprache die Inhalte der religiösen Unterweisung wiederzugeben vermochte. Andrea Nicka, der wohl aus der Sutselva stammte 187 , schreibt eine surselvisch geprägte Sprache mit den in der Zeit üblichen lexikalischen Germanismen, aber einer durchaus romanischen Syntax. 183 Nach (schweizer)dt. umhauen ,fällen‘ gebildet. Cf. DRG 9: 651s., wo tagliar entuorn zwar fehlt, aber zahlreiche analoge Bildungen verzeichnet sind. 184 Übersetzung: „Oft verließ der hl. Sigisbert seine Einöde und predigte überall im Tal, tat große Wunder und unterwies dieses Volk im heiligen Glauben und im christlichen Leben. Unter anderem geschah es einmal, daß der hl. Sigisbert zu einer großen Ansammlung von Heiden kam, die zusammengekommen waren, um dem falschen Gott Apollo, den sie verehrten, ein Fest zu bereiten; und sie hatten das Bild des Gottes an einer großen, dicken Weide befestigt. Und als der Heilige von ihnen erwirkt hatte, daß sie ihn anhörten, machte er ihnen schließlich die Listen und Täuschungen des Teufels, die Nichtigkeit der Götzenverehrung und die Schwäche aller falschen Götter klar, welche sie anbeteten, und er anerbot sich und versprach, er wolle diese Weide fällen lassen, ohne daß ihr Gott Apollo ihm irgend etwas zuleide tun könne. Auf dieses Angebot und diese Anfrage hin bekamen die Heiden Lust, weil sie glaubten, daß Apollo viel mächtiger sein werde als der hl. Sigisbert“. 185 Cf. D EPLAZES 1988: 40-48. 186 Die Vorlage ist allerdings nicht bekannt. 187 Zum Namen Nicca cf. RN III: 270. <?page no="124"?> 124 Nossa vitta ha bucca mai ünna curta dirada, mo ella varg’ er vi ca nus santin buc. Ei va cun nossa vitta sco cun ünn’ura, las rodas da la quala van adinna anturn, scha je nus managein ch’ilg zeiger stettig chiou. Ei va cun nossa vitta sco cun ünna plonta, la quala cresch’adinna, scha je ca nagin sent’ ilg muvantar da quella. Nus currin adinna senza niess saver tiers la fossa, nus valgeian ner dormigian, nus figeian viadi, ner ruvaseian, nus mangieian ner giageneian luvrian, ner seian luschents. Noss corps ean sumlgions ad ün pumer, ilg qual dus verms ruin adinna, parchei ch’ilg gi a la noig ruin adinna. Vus manageits bein, ca vus leias metter ils partrachiaments da la mort or d’ilg sen, a scha je vus amblidasses quella sch’ amblid’ ella vus zund buc. A pli ca vus fugits da quella, a pli ch’èlla curra suenter à vus (N ICKA 1692: 80s.) 188 . Neben den Erbauungsschriften in Prosa entstanden im 17. Jh. auch zahlreiche rätoromanische Kirchenlieder. Die im Engadin 1562 durch Durich Chiampel begründete Tradition (die freilich auch ältere Wurzeln hat), nahm in der Surselva Steffan Gabriel auf, der seinem Vêr sulaz eine Reihe von Psalmen und Liedern, meist Übersetzungen aus dem Deutschen oder aus Chiampel, beifügte 189 . Über die weiteren Entwicklungen des Kirchenliedes auf reformierter und katholischer Seite informiert D EPLAZES 1988: 61-80. Hier sei einzig auf die erstmals 1690 erschienene und in der Folge in weiteren 10 Auflagen immer wieder herausgegebene Consolaziun dell’ Olma devoziusa hingewiesen 190 . Die Liedersammlung, die Übersetzungen und Nachdichtungen vor allem lateinischer und deutscher Vorlagen, aber wohl auch einige original rätoromanische Texte enthält, übernimmt zum Teil Lieder aus älteren Sammlungen (Alig, da Salò) 191 . Andere Lieder sind Übersetzungen des ersten Herausgebers, des Benediktinerpaters Carli Decurtins aus dem Kloster Disentis. Eine große Vielfalt der Themen und ebenso der Formen der Verskunst charakterisiert die Sammlung. Vielfach weisen die Lieder der Consolaziun eine eingängige, plastische Sprache und einen mitreissenden Rhythmus auf, Eigenschaften, die zum großen Erfolg der Sammlung während 250 Jahren wesentlich beigetragen haben dürften 192 . Zur Illustration des barocken 188 Übersetzung: „Unser Leben hat nicht nur eine kurze Dauer, sondern es geht auch vorüber, ohne daß wir es merken. Es geht mit unserem Leben wie mit einer Uhr, deren Räder sich ständig bewegen, obschon wir glauben, der Zeiger stehe still. Es geht mit unserem Leben wie mit einer Pflanze, die ständig wächst, obschon niemand ihre Veränderung bemerkt. Wir laufen stets ohne es zu wissen auf das Grab zu, ob wir wachen oder schlafen, ob wir herumreisen oder ruhen, ob wir essen oder fasten, arbeiten oder müßig sind. Unsere Leiber gleichen einem Baum, an dem ständig zwei Würmer nagen, weil sie Tag und Nacht ständig nagen. Ihr glaubt wohl, daß ihr euch die Gedanken an den Tod aus dem Kopf schlagen wollt, und wenn ihr diesen auch vergessen würdet, so vergißt er euch doch keineswegs. Und je mehr ihr vor ihm flieht, umso mehr läuft er hinter euch her“. 189 Cf. B UNDI 1964: 43,51, D EPLAZES 1988: 68. 190 Kritische Ausgabe (Texte und Melodien) durch M AISSEN / S CHORTA 1945. 191 Cf. D EPLAZES 1988: 74-78. 192 Zur Übersetzung der Fronleichnamssequenz Lauda Sion des Thomas v. Aquin cf. L IVER 1976. Kommentar zu sprachlichen Eigenheiten des Altsurselvischen anhand eines Liedes aus der Consolaziun bei L IVER 1991: 107-10. <?page no="125"?> 125 Charakters dieser Dichtung mögen zwei Strophen eines Weihnachtsliedes mit ihren dramatischen Antithesen, expressiven Binnenreimen und einem markanten Rhythmuswechsel dienen: Ensemel la natira Divina compognar, Cun ina creatira Ei bein de smerviglar. O ovra tut possenta Che Dieus christgiaun daventa Pils lasters dils jasters, Suspira, endira, Patesche, surfresche In stand dolorus. Bein mervigliusa nova, Ault sur nies entelleig, Che dat solegl a plova Ensemel sot in teig. Las larmas cauldas bognan, Las strolas las compognan, Schendreschen, fritgeschen, Frestgenten, creschenten, Caliran, madiran In fiug merviglius (M AISSEN / S CHORTA 1945: 25) 193 . 4.3.2.4 Politische Lieder Politik und Religion waren in den bewegten Zeiten vor und während den Bündner Wirren eng verflochten. Steffan Gabriel scheute sich nicht, Anspielungen auf aktuelle politische Verhältnisse in seine geistlichen Lieder einzuflechten. So enthält der Psalm 31 im Vêr sulaz, der nach der Angabe des Autors schon 1604, nämlich anläßlich der Erbauung der Festung Fuentes im Veltlin entstanden war 194 , eine unverhüllte Anspielung auf die Spanier, die mit Teufeln gleichgesetzt werden: Cuntut scha gie il Mund fuss bein Da Spangiars a Dimunis plain, Ca Lessan nus strunglare, A tut ilg Mund 193 Übersetzung: „Daß sich die göttliche Natur mit einer Kreatur verbindet, ist wohl verwunderlich. O allmächtiges Werk, daß Gott Mensch wird, für die Sünden der Fremden seufzt, einen schmerzvollen Zustand aushält, erleidet, erträgt. - Eine gar wunderbare Neuheit, hoch über unserem Verstand, daß Sonne und Regen zusammen unter einem Dach sind. Die heißen Tränen netzen, die Strahlen begleiten sie, sie erzeugen, bringen hervor, erfrischen, lassen wachsen, erwärmen und entfachen ein wunderbares Feuer“. 194 „Questa Canzun ei fachia ent ilg On 1604, cur ilg Reg da Spania ha bagiau la Fortezia en Vutlina“ (zitiert nach G ABRIEL 1768: 95). <?page no="126"?> 126 Ancunter zunt, Lein nus buc zagegiare (G ABRIEL 1768: 96s.) 195 . Die Strophe erinnert sehr an Luthers „Und wenn die Welt voll Teufel wär…“ im Lied Ein feste Burg ist unser Gott, das schon Chiampel ins Romanische umgesetzt hatte 196 . Gabriel, der zweifellos Luther und Chiampel kannte, geht in seiner Aktualisierung über beide Vorlagen hinaus. Ohne religiösen Aufhänger stellt ein Gedicht von Luci Gabriel, dem Sohn von Steffan Gabriel, die neuere Bündnergeschichte dar, mit der Absicht, die Zeitgenossen zu Wachsamkeit und politischem Bewußtsein aufzurufen. Ilg Chiet d’ils Grischuns, zuerst 1621 auf deutsch unter dem Titel Pündtnerisch Hanengeschrey erschienen, im gleichen Jahr auch in einer italienischen Übersetzung 197 , ist eine surselvische Neubearbeitung und Erweiterung des deutschen Gedichts, 1665 von Luci Gabriel in Basel herausgegeben. Die Autorschaft Gabriels auch am deutschen und eventuell am italienischen Text ist nicht ausdrücklich bezeugt, aber mit großer Wahrscheinlichkeit gegeben 198 . Ferner ist auch eine ladinische Version überliefert, die erst 1904 von Caspar Decurtins nach einem Ms. des 17. Jh.s publiziert wurde 199 . Zwei Strophen aus dem surselvischen Chiet d’ils Grischuns mögen Ton und Sprache des Gedichts, das sich lange Zeit großer Beliebtheit erfreute, illustrieren: Iou vi á vus cantare Cantar d’ils Pardavons, Lur guerra si dumbrare, Ilg soung ch’els han er spons. Ilg losch Pivun quel ei sgulaus En terra d’ilg Steinbuke, Lou faig bear malruvaus (Str. 1). Oz pôs ti buc mitschare Cun tia faulsadad: Oz vi jou tei pagare, Pagar ti’ nauschadad: Oz vi jou tei schi tarschinar, Ch’ilg guault vên tras tieu sounge, Zunt cotschens davantar (Str. 20) 200 . 195 Übersetzung: „Wenn also auch die ganze Welt voll wäre von Spaniern und Teufeln, die uns erwürgen wollten, so wollen wir doch der ganzen Welt gegenüber gar nicht verzagen“. 196 „Scha lg muond eir plain d’ dimunis fuoß,/ Chi ns wleßen tzuond malgaare,/ Nun denn nuo tzuond brick esser tmuoß,/ Eir brick ans stramantare“ (U LRICH 1906: 123). Übersetzung: „Und wenn auch die Welt voller Teufel wäre, die uns gar fressen wollten, so sollen wir doch nicht verzagt sein und uns nicht ängstigen“. Cf. B EZZOLA 1979: 216ss., D EPLAZES 1993: 36s. 197 Cf. B EZZOLA 1979: 220. 198 Cf. B UNDI 1964: 22-26. 199 D ECURTINS 1904: 203-10. Cf. B EZZOLA 1979: 220ss. 200 D ECURTINS 1888: 70s. Die unetymologischen Endvokale bei oxytonen Wörtern am Versende (cantare, dumbrare, mitschare, sounge) finden sich häufig in frühen Texten, die zum Singen bestimmt waren. Gegen G IGER 1975 halte ich die Erscheinung nicht für eine innerromani- <?page no="127"?> 127 4.3.2.5 Schluß Die Anfänge der surselvischen Schrifttradition stehen ganz im Zeichen der konfessionellen Auseinandersetzungen in der Zeit der Gegenreformation. Die frühen Ansätze zu einer sutselvischen Schriftvariante, aus den gleichen Motiven entstanden, finden vorerst keine Fortsetzung. Grund dafür ist wohl das größere kulturelle Prestige der Surselva 201 . In der Surselva etablieren sich seit dem 17. Jh. eine protestantische und eine katholische Schrifttradition, die sich durch gewisse orthographische, aber auch morphologische Züge unterscheiden 202 . Innerhalb der katholischen Schrifttradition haben italienische Geistliche (vor allem Kapuziner) einen bedeutenden Einfluß. Gegen Ende des Jahrhunderts tritt das Kloster Disentis als Zentrum surselvischer Barockkultur auf den Plan. Die Zeugnisse für die surselvische Schriftlichkeit im 17. Jh., von denen hier einige Beispiele vorgestellt wurden, lassen einen noch wenig normierten Sprach- und Schriftgebrauch erkennen. Sie zeigen aber, daß die Autoren die einheimische Sprache (auch wenn diese zum Teil nicht ihre Muttersprache war) als Übersetzungssprache, als Instrument ideologischer Auseinandersetzung und als Ausdruck religiöser und politischer Inhalte in Prosa und Dichtung zu handhaben verstanden. sche Entwicklung, sondern für die Übernahme einer deutschen Singgewohnheit. - Übersetzung: „Ich will euch singen, singen von den Vorfahren, von ihrem Krieg erzählen, vom Blut, das sie auch vergossen haben. Der stolze Pfau, der ist ins Land des Steinbocks geflogen, dort hat er große Unruhe angerichtet. - Heute kannst du (gemeint ist der österreichische Pivun) nicht entkommen mit deiner Falschhheit. Heute will ich dir heimzahlen, dir deine Bosheit zurückzahlen. Heute will ich dich so behandeln, daß der Wald von deinem Blut ganz rot werden wird“. - Man wird sich fragen, wie das Emblem Pivun für die Österreicher zu erklären sei. Wahrscheinlich handelt es sich um eine ironische Umformung des Adlers, der in Anspielung auf die Eitelkeit und die Einbildung, die dem Feind unterschoben werden, zum Pfau wird. 201 Im oben (N157) zitierten Aufsatz von 1934 vertritt Andrea Schorta die Auffassung, die Sprache der Sutselva, wie sie in ihren ersten Zeugnissen zutage tritt, wäre prädestiniert gewesen, zur Schriftsprache des ganzen rheinischen Gebiets zu werden (S CHORTA 1934: 34s.). Daß dies nicht eingetreten ist, schreibt Schorta dem übermächtigen Einfluß der Werke der beiden Gabriel zu. Ich denke, daß hier (neben dem unbestreitbar bedeutenden Gewicht dieser individuellen Leistungen) auch die kulturelle Gesamtsituation in Rechnung gestellt werden muß: Das kulturelle Prestige der Surselva mit den Zentren Disentis und Ilanz war dem des ländlichen Mittelbünden zweifellos weit überlegen. 202 Zu den orthographischen Unterschieden, deren auffallendste prot. <gi> vs. kath. <di> (gi/ di, giavel/ diavel), <ch> vs. <tg> (drech/ dretg), <a>, <ad> vs. <e>, <ed>, <da> vs. <de> sind, cf. D ARMS 1989: 832-40. Zu den morphologischen Unterschieden gibt es bis jetzt keine Untersuchungen. Zur unterschiedlichen Verwendung von Präteritum und zusammengesetztem Perfekt cf. oben p. 118s., zu prot. Deis vs. kath. Dieus/ Diu oben N172. <?page no="128"?> 128 4.4 Weitere Entwicklungen Sowohl im Engadin als auch in der Surselva läuft die Tradition der Schriftlichkeit von den beschriebenen Anfängen kontinuierlich weiter bis in die Gegenwart. Das Schrifttum emanzipiert sich im 18./ 19. Jh. zusehends von der engen Bindung an religiöse Inhalte, die es im 16./ 17. Jh. bestimmt hatte 203 . In der Sutselva versiegt die im 17. Jh. angebahnte Schrifttradition in den folgenden Jahrhunderten fast gänzlich. Entweder bediente man sich der surselvischen Schriftsprache oder des Deutschen. Spärliche Zeugnisse wie gewisse Dorfstatuten 204 weisen eine surselvisch geprägte Sprache mit wenigen sutselvischen Zügen (z.B. Fehlen des prädikativen -s) auf. Erst im 20. Jh., nach dem allgemeinen Aufschwung, den die „rätoromanische Renaissance“ 205 gebracht hatte, begann man wieder in der einheimischen Sprache zu schreiben 206 . Vom Surmeir, dem Oberhalbstein (Sursès) und dem Albulatal, war bisher noch nicht die Rede. Diese geschlossen katholische Region wurde in der Zeit der Gegenreformation weitgehend von Kapuzinern italienischer Herkunft und von Geistlichen aus der Surselva kirchlich betreut. Erste Zeugnisse surmeirischer Schriftlichkeit (Katechismen und Akten von Hexenprozessen) treten zu Ende des 17. Jh.s auf 207 . D ECURTINS 1993/ I: 163ss. beschreibt die Schwierigkeiten der sprachlichen Identitätsfindung im Surmeir zwischen Italienisch, Surselvisch und einheimischer Sprache. Heute sind die fünf Schriftidiome, wie sie oben (3.1) beschrieben sind, fest etabliert. Neben und mit dem überregionalen Rumantsch Grischun (cf. oben 3.3) dienen sie dem schriftlichen Ausdruck in praktischen Belangen, Schule, Literatur und Presse. Seit 1997 erscheint die Tageszeitung La Quotidiana, in der alle fünf Schriftidiome sowie Rumantsch Grischun nebeneinander zu Wort kommen. 203 Zum engadinischen Schrifttum im 17. Jh. cf. L IVER 2007: 493ss., zu den weiteren Entwicklungen R IATSCH 2007. 204 Cf. D ECURTINS 1888: 342-46, 370-73, 800-07. 205 Cf. oben p. 84. 206 Cf. L ORINGETT 1965: 26ss. 207 D ECURTINS 1914. <?page no="129"?> 5. Synchronische Beschreibung des Surselvischen 5.0 Vorbemerkung Die folgende Skizze einer synchronischen Darstellung des Surselvischen beschränkt sich auf eine grobe Charakterisierung der Grundzüge von Phonetik/ Phonologie, Morphosyntax und Lexik eines der beiden prominentesten, sprecherreichsten und vitalsten Idiome des Bündnerromanischen. Wenn hier das Surselvische und nicht das Vallader als Beispiel für eine synchronische Beschreibung gewählt wird, geschieht dies aus zwei Gründen. Erstens sind die Vorarbeiten im Bereich des Surselvischen zahlreicher und ausgiebiger als in dem des Ladinischen. Zweitens weist das Surselvische in linguistischer (vor allem mophosyntaktischer) Hinsicht einige besonders originelle Züge auf, die in anderen bündnerromanischen Idiomen nicht oder nur teilweise auftreten. 5.1 Phonetik/ Phonologie Die Darstellung bei S PESCHA 1989: 50-56 sagt nichts aus darüber, ob ein bestimmter Laut Phonemstatus hat oder nur phonetische Variante eines Phonems ist. Diese Zurückhaltung ist auch verständlich, denn das Schriftsurselvische stellt ein Diasystem der surselvischen Dialekte dar, in dem zwar weitgehend die Sprache der Cadi (obere Surselva mit Hauptort Disentis/ Mustèr) bestimmend ist, aber in Einzelfällen zahlreiche Kompromisse zugunsten von Formen aus anderen Regionen getroffen werden 1 . Eine erklärt phonematische Beschreibung des Schriftsurselvischen versucht dagegen K RAMER 1972. H AIMAN / B ENINCÀ 1992: 29 übernehmen im wesentlichen 2 die Beschreibung Kramers, ohne jedoch problematische Fälle zu diskutieren. Kramer postuliert das folgende Vokalsystem: 3 a ε ɔ e υ i u 1 Beispiele bei S OLÈR 1994: 176. 2 Zu einer Abweichung cf. unten p. 130. 3 Kramer folgt in der Transkription dem AIS; wir schreiben um in die Notierung des API. <?page no="130"?> 130 Das würde bedeuten, daß wir es mit einem vierstufigen System zu tun hätten, in dem auf der palatalen Seite ein offenes und ein geschlossenes e unterschieden werden, während auf der velaren Seite nur ein o (phonetisch als [ ɔ] realisiert) vorkommt, dafür aber ein offenes und ein geschlossenes u. Die Beschreibung der palatalen Seite ist sicher korrekt. Minimalpaare, die die Opposition / ε / vs. / e/ illustrieren, sind etwa: pèr [p ε : r] ,Paar‘ vs. pér [pe: r] ,Birne‘ pèz [p ε ts] ,Brust‘ vs. péz [pets] ,(Berg)spitze‘ spert [ ʃ p ε rt] ,rasch‘ vs. spért [ ʃ pert] ,Geist‘ dètg [d ε c] ,gehörig‘ vs. detg [dec] ,gesagt‘. Auf der velaren Seite gibt es keine Opposition zwischen offenem und geschlossenem o. Phonetisch wird / o/ eher offen, als [ ɔ ], realisiert. Zu bezweifeln ist, daß zwischen / υ / und / u/ eine phonologisch relevante Opposition besteht. Das von Kramer (K RAMER 1972: 355) angeführte Minimalpaar kann nicht als solches gelten: dus [d υ s] ,freigebig‘ (ein Archaismus! ) unterscheidet sich von dus [du: s] ,zwei‘ nicht nur durch die größere Öffnung des Vokals, sondern auch durch dessen Quantität. In der Regel ist im Surselvischen langes [u] geschlossen, kurzes [ υ ] offen 4 . Auch im Hinblick auf [ ə ], dem H AIMAN / B ENINCÀ (1992: 29) Phonemstatus zuerkennen, ist Zurückhaltung angezeigt. Der Schwa-Laut findet sich (außer in gewissen dialektalen Realisierungen von Diphthongen; dazu unten) nur in unbetonter Stellung, und zwar als phonetische Realisierung eines Archiphonems / A/ , das die Phoneme / a/ , / ε / und / e/ neutralisiert, wie K RAMER 1972: 355 festhält. Die hier vertretene Sicht, daß das Vokalsystem des Surselvischen aus sechs Phonemen besteht, nämlich einem hinsichtlich der Opposition ⎡ palatal/ velar ⎤ indifferenten / a/ , drei palatalen (/ ε / , / e/ , / i/ ) und zwei velaren Phonemen (/ ɔ / , / u/ ), teilt auch S ALVI 1985: 388, der eine zwar knappe, aber korrekte Darstellung des Surselvischen gibt 5 . Das oben wiedergegebene Vokalsystem nach K RAMER 1972 muß demnach wie folgt modifiziert werden: a ε ɔ e i u Die surselvischen Vokale erscheinen in zahlreichen diphthongischen Kombinationen, die zum größten Teil fallende Diphthonge aufweisen. Die folgende Übersicht geht jeweils von der offiziellen Graphie aus und beschreibt die Standardaussprache und einige dialektale Abweichungen. 4 Cf. S PESCHA 1989: 58. Ausnahmen: cudisch ['k υ : di ʃ ] (DRG 4: 318s) ,Buch‘, ['d υ : di ʃ ] ‚zwölf‘. 5 Der Gesichtspunkt Salvis ist primär historisch, aber seine Darstellung ist auch für die synchronische Beschreibung des Surselvischen relevant. <?page no="131"?> 131 <ai> fai [faj] ,mach‘, dai [daj] ,gib‘, aissa [ ajs ɐ ] ,Brett‘. <au> aur [awr] ,Gold‘, caura [ kawr ɐ ] ,Ziege‘. In der Kombination <aun> wird <au> meist als [ ε w] ausgesprochen: paun [p ε wn] ,Brot‘, tgaun [c ε wn] ,Hund‘. Daneben finden sich in einzelnen Ortsmundarten die Varianten [aw] und [ ə w] (cf. DRG 3: 250 s.v. chan). <ei> bein [b ε in] ,gut‘ (Adv.), meisa [ m εj z ɐ ] ,Tisch‘, mei [m ε j] ,mich‘. Die Aussprache dieses Diphthongs variiert in den verschiedenen Lokalmundarten der Surselva sehr stark. Das erste Element schwankt zwischen [a] und [ ε ]/ [e]. Aber auch [ ə ] und [o] kommen vor. Cf. DRG 2: 58 s.v. bain. <eu> cheu [k ε w] ,hier‘, neu [n ε w] ,komm‘. Neben der Standardaussprache [ ε w] finden sich die Varianten [k ə w] (Mustér) und [kaw] (Lugnez). Cf. HR s. v. cheu. <ie> pievel [ pi ə v ə l] ,Volk‘, ier [i ə r] ,gestern‘. Cf. DRG 8: 36 s.v. her I. <iu> miur [m i wr] ,Maus‘, priu [pr i w] ,genommen‘, Diu [d i w] ,Gott‘. Cf. DRG 5: 225 s.v. Dieu. <ui> fitguir [fi cujr] ,Käsenapf‘, ruir [ruj] ,nagen‘. <uo> cuort [ku ɔ rt, ku ə rt]. Cf. DRG 4: 534 s.v. cuort III. Steigende Diphthonge entstehen aus der Kombination der Halbvokale [j] und [w] mit den Vokalen [a], [ ε ] und [u]: <ia> tiara [ tja: r ɐ ] ,Land‘, bia [bja: ] ,viel‘. Cf. DRG 2: 383 s.v. bler. <iu> acziun [ ɐ k tsjun] ,Handlung‘. <ue> quel [kw ε l] ,dieser‘. <ua> qual [kwal] ,welcher‘. Verschiedene Triphthonge bestehen aus einem Halbvokal ([j] resp. [w]) und einem folgenden Diphthong: <iau> cumiau [ku mjaw] ,Abschied‘, disgraziau [di ʃ gr ɐ tsjaw] ,unglücklich‘. <ieu> jeu [j ε u], Dieus [dj ε ws] ,Gott‘ (zu Abweichungen von der Standardaussprache cf. DRG 5: 725 s.v. eu und DRG 5: 225 s.v. dieu). <uau> uaul [wawl] ,Wald‘. Cf. DRG 7: 602. <uei> quei [kw ε i] ,dies, dieser‘, queida [ kw ε id ɐ ] ,Lust‘. Die konsonantischen Phoneme des Surselvischen beschreibt Kramer wie folgt 6 : okklusiv konstriktiv affrikat nasal liquid labial stimmlos p stimmhaft b m labiodental stimmlos f stimmhaft v dental stimmlos t s ts stimmhaft d z n 6 Wir übersetzen seine Klassifizierung auf deutsch und ersetzen seine Transkription durch diejenige des API. <?page no="132"?> 132 okklusiv konstriktiv affrikat nasal liquid präpalastimmlos ʃ t ʃ tal stimmhaft l,r mediopastimmlos c latal stimmhaft ʎ postpalastimmlos k tal stimmhaft g guttural stimmlos h / ts/ und / t ʃ / sind besser als Phonemkombinationen denn als eigene Phoneme zu bezeichnen, da sowohl / t/ als auch / s/ und / ʃ / als selbständige Phoneme vorkommen. Charakteristisch für das Surselvische sind die Mediopalatale / c/ und / / . / c/ steht in phonologischer Opposition zu / t ʃ / , wie die folgenden Minimalpaare, die durchaus wichtige sprachliche Einheiten betreffen, illustrieren: fatga [ fac ɐ ] ,gemacht‘ (p.p.f. von far) vs. fatscha [ fat ʃɐ ] ,Gesicht‘ matg [mac] ,Blumenstrauß‘ vs. matsch [mat ʃ ] ,Match‘ cametg [k ɐ mec] ,Blitz‘ vs. cametsch [k ɐ met ʃ ] ,schwül‘ tgei [c ε i] ,was, welcher, welche, welches‘ (Interrogativum) vs. tschei [t ʃε i] ,jener, jenes‘ (Demonstrativum) tgeu [c ε w] ,ruhig, still‘ vs. tscheu [t ʃε w] ,da, dort‘. Die stimmhafte Entsprechung von / c/ , / / , steht nicht in Opposition zu einem zu / t ʃ / symmetrischen Phonem: Es müßte / d / sein, das im Surselvischen nicht existiert. Eine phonologisch relevante Opposition besteht dagegen zwischen / / und / ʃ / . Sie kommt in lexikalisch und morphologisch wichtigen Unterscheidungen wie pischada [pi a: d ɐ ] ,Butter‘ vs. pischada [pi ʃ a: d ɐ ] ,Pissen‘ (Ableitung von pischar), purschala [pur al ɐ ] ,Jungfrau‘ vs. purschala [pur ʃ al ɐ ] ,weibliches Ferkel‘, nus schein [nus ε in] ,wir sagen‘ (von dir) vs. nus schein [nus ʃε in] ,wir lassen‘ (von laschar) zum Tragen. Abweichungen der phonetischen Realisierung von der graphischen Notierung ergeben sich bei Konsonanten im Auslaut und bei s vor Konsonant. Stimmhafte Konsonanten werden, entsprechend einer in galloromanischen und galloitalienischen Dialekten bekannten Regel, stimmlos, wenn sie in den Auslaut treten. Die Graphie des Surselvischen verschleiert die Situation. Entsprechend haben wir grev [gr ε : f] ,schwer‘ m. vs. greva [ gr ε : v ɐ ] f., neiv [n ε if] ,Schnee‘, bab [bap] ,Vater‘, glieud [ λ ε wt] ,Leute‘. <?page no="133"?> 133 Nach [n] und [l] werden [t], [d], [k], [g] im Auslaut nicht ausgesprochen: dent [d ε n] ,Zahn‘, grond [gr ɔ n] ,groß‘, cauld [kaul] ,warm‘, aunc [ ε un] ,noch‘, saung [s ε un] ,Blut‘. In den Infinitiven der 1., 2. und 4. Konjugation und in Substantiven auf -er schwindet das auslautende -r in der Aussprache: cantar [k ɐ n ta] ,singen‘, teme [t ɐ me] ,fürchten‘, murir [mu ri] ,sterben‘, nurser [nur s ε ] ,Schafhirt‘. Vorkonsonantisches [s] wird palatalisiert, vor stimmlosem Konsonant und vor Nasal und Liquid zu stimmlosem [ ʃ ], vor stimmhaftem Konsonant zu stimmhaftem [ ]: basta ['ba ʃ t ɐ ] ‚genug, es genügt‘, resca ['re ʃ k ɐ ] ‚Risiko‘, smiul [ ʃ m i ul] ‚Bisschen‘, snuezi [ ʃ nu'etsi] ‚Schrecken‘, slonda [' ʃ l ɔ nd ɐ ] ‚Schindel‘, sromar [ ʃ ro'ma] ‚entästen‘; sgarscheivel [ g ɐ r' ε iv ə l] ‚schrecklich‘, sbagl [ ba ʎ ] ‚Fehler‘. Cf. oben p. 51. 5.2 Morphosyntax, Syntax Im folgenden werden die charakteristischen Züge des Surselvischen kurz dargestellt, eher in der Form eines Profils als in der einer erschöpfenden Beschreibung. Referenzliteratur sind vor allem T ECAVC ˇ IC ´ 1981, S ALVI 1985, S PE - SCHA 1989, LRL 3 (1989), H AIMAN / B ENINCÀ 1992, nebst an ihrer Stelle zitierten Spezialstudien. 5.2.1 Nominalsystem 5.2.1.1 Substantive Das Surselvische kennt (wie üblich in den romanischen Sprachen) zwei Genera für die Substantive: m. und f. Die Pluralbildung erfolgt in der Regel durch die Anfügung eines Pluralmorphems -s an die Form des Singulars: il mir ,die Mauer‘ - ils mirs ,die Mauern‘ la casa ,das Haus‘ - las casas ,die Häuser‘. Während das f. diese Regel durchweg befolgt, weist das m. gewisse Abweichungen auf. Eine große Zahl von m. Substantiven verändern ihren Signifikanten im Plural nicht nur durch das Plural-s, sondern zusätzlich durch eine Modifikation des Tonvokals. Diese durch verschiedene lautliche Entwicklungen bedingten Alternanzen 7 (Analoges findet sich auch im Verbalsystem) führen zu einer großen morphologischen Variation, für die wir hier nur einige Beispiele geben 8 : 7 Die verschiedenen Resultate im Singular und im Plural erklären sich dadurch, daß der Singularform eine Basis auf - U zugrundeliegt, in der der Endvokal metaphonetisch auf den Tonvokal wirkte, während die Basis für den Plural, - OS , keine solche Wirkung hatte. 8 Systematisierungen der Pluralbildung mit Vokalalternanzen bei S PESCHA 1989: 249-51, L IVER 1991: 18s. <?page no="134"?> 134 iert [i ə rt] ,Garten‘ - orts [ ɔ rts] ,Gärten‘ iev [i ə f] ,Ei‘ - ovs [ ɔ fs] ,Eier‘ vierm [vi ə rm] ,Wurm‘ - viarms [vjarms] ,Würmer‘ utschi [u't ʃ i] ,Vogel‘ - utschals [u t ʃ als] ,Vögel‘. Eine Besonderheit des Surselvischen (und des Bündnerromanischen überhaupt) ist die Kollektivform auf -a, die in der Literatur vielfach als „kollektiver Plural“ bezeichnet wird 9 . Aus synchronischer Sicht ist es sicher abwegig, hier von einem Plural zu sprechen. Syntaktisch werden die Kollektive auf -a als f.sg. behandelt: la crappa ei dira ,die Steine sind/ das Gestein ist hart‘. Dagegen rechtfertigt sich die Annahme einer Kategorie „Kollektiv“ durch die Opposition, die zwischen dieser Form und dem m.sg. und m.pl. derselben lexikalischen Einheit besteht: il crap ,der Stein‘ - ils craps ,die Steine‘ - la crappa ,die Steine, das Gestein‘ il péz ,die Bergspitze‘ - ils pézs ,die Bergspitzen‘ - la pezza ,die Berge, das Gebirge‘ 10 . Eine Kollektivform läßt sich freilich nicht von allen Substantiven bilden; sie ist auf bestimmte semantische Kategorien wie Bezeichnungen von Körperteilen, Geländeformen, Pflanzen, natürlichen Stoffen (Stein, Holz) beschränkt. Insofern nimmt der Kollektiv eine Zwischenstellung ein zwischen einem frei verwendbaren grammatischen Verfahren (wie die Plural- oder Femininbildung) und einem Wortbildungsverfahren 11 . 5.2.1.2 Adjektive und Partizipien Komplexer als die Flexion des Substantivs ist diejenige des Adjektivs, zu dem auch die Perfektpartizipien gehören. Wie beim Substantiv läßt sich auch hier die f. Form als völlig regelmäßig und damit unproblematisch ausklammern. Bei einigen m. Adjektiven finden sich die vokalischen Alternanzen, die auch bei den Substantiven verbreitet sind, wieder. Zudem verändert sich die Form des m. Adjektivs generell je nach der syntaktischen Funktion: Das prädikativ verwendete Adjektiv unterscheidet sich formal vom attributiven. Fer- 9 So S PESCHA 1989: 253 („il plural collectiv“), H AIMAN / B ENINCÀ 1992: 119 („Collective plurals“). In seiner ausführlichen Diskussion des Problems gelangt W UNDERLI 1993a: 137-41 zum Schluß, daß es richtiger ist, die Kollektivformen als Singular einzustufen. 10 Weitere Beispiele bei S PESCHA 1989: 254. 11 Suffixbildungen mit kollektiver Bedeutung wie miraglia ,Gemäuer‘ (zu mir ,Mauer‘), cauramenta ,Ziegenschar‘ (zu caura ,Ziege‘) usw. gehören eindeutig in die Wortbildung, nicht zum Kollektiv. S PESCHA 1989: 254s. ordnet solche Bildungen unter „plural collectiv“ ein. <?page no="135"?> 135 ner kennt das Surselvische eine areferentielle (traditionell: neutrale) Form für den prädikativen Gebrauch, die sich formal von derjenigen des m. prädikativen Adjektivs unterscheidet. Und schließlich bilden die m. Perfektpartizipien auf -au und -iu den Plural nicht auf -s wie alle andern nominalen Elemente des Surselvischen, sondern auf -i. Illustrieren wir die genannten Phänomene der Reihe nach: - Vokalische (zum Teil auch konsonantische) Alternanzen: bien [bi ə n] - buns [buns] ,gut‘ 12 tgietschen [ ci ə t ʃə n] - cotschens [ k ɔ t ʃə ns] ,rot‘ schliet [ ʃ li ə t] - schliats [ ʃ ljats] ,schlecht‘ tschiec [t ʃ i ə k] - tschocs [t ʃɔ ks] ,blind‘. Die f. Formen dazu: buna, cotschna, schliata, tschocca 13 . - Attributiver vs. prädikativer Gebrauch: Die erstzitierte Form ist jeweils die attributive m.sg., die zweitzitierte die prädikative m.sg. Im Plural besteht keine entsprechende Unterscheidung. in bien carstgaun ,ein guter Mensch‘ - il carstgaun ei buns ,der Mensch ist gut‘ - buns carstgauns ,gute Menschen‘ - ils carstgauns ein buns ,die Menschen sind gut‘. - Areferentielle Form: Ausdrucksseitig identisch mit der attributiven Form des m.sg. ist eine prädikativ verwendete Form des Adjektivs, die sich nicht auf einen (m. oder f.) außersprachlichen Referenten bezieht 14 . quei / igl ei bien ,das/ es ist gut‘ (vs. referentiell: quel ei buns ,der ist gut‘). Ebenso beim Perfektpartizip: Quei ei stau l’emissiun per las dunnas ,Das war die Sendung für die Frauen‘ Igl ei succediu ina disgrazia ,Es ist ein Unglück geschehen‘ 15 . - i-Plural der Perfektpartizipien auf -au und -iu: Die regelmäßig (schwach) gebildeten Perfektpartizipien, die in der ersten Deklination auf -au (cantar - cantau - cantada), in der 2.-4. Deklination auf -iu lauten (temer - temiu - temida; vender - vendiu - vendida; ir - iu - ida), bilden den Plural m. auf -i: cantau - cantai, vendiu - vendi 16 . 12 Die erste Form ist m. attributiv und areferentiell, die zweite m. prädikativ. Cf. unten. 13 Weitere Beispiele L IVER 1991: 21. 14 Dazu ausführlich W UNDERLI 1993a: 134-63, wo die Ersetzung der traditionellen Definition als „neutral“ durch „areferentiell“ begründet wird. 15 Beispiele aus S PESCHA 1989: 273. 16 Zu einer historischen Interpretation dieser Besonderheit cf. L IVER 1986. <?page no="136"?> 136 5.2.1.3 Personalbasierte Nominaldeiktika: Demonstrativa, Possessiva, Personalia, Reflexiva - Demonstrativa: Das Surselvische kennt drei Demonstrativa, quel ,dieser‘, tschel ,jener‘ und lez ,der‘ 17 , wobei quel und tschel in einem lokaldeiktischen System stehen, innerhalb dessen quel den nicht-markierten Oppositionsterm mit dem Merkmal ⎡∅ Besprochener ⎤ , tschel den markierten Term mit dem Merkmal ⎡ +Besprochener ⎤ darstellt 18 . Die dritte Form, lez, ist diesem System vorgeschaltet; sie deckt den Bereich ab, den man für das Deutsche die „Der- Deixis“ genannt hat 19 . Beispiele für den pronominalen Gebrauch: A quel fidel jeu, a tschel buc ,diesem vertraue ich, jenem nicht‘ Ed il bab, tgei vegn lez a dir? ‚und der Vater, was wird der sagen? ‘ 20 . Das Demonstrativum quest steht außerhalb der lokaldeiktischen Opposition, die von quel und tschel abgedeckt wird. Es bezeichnet zwar Dinge und Situationen in Sprechernähe, aber nur in gewissen festen Kontexten oder sogar Formeln wie questa sera ,heute abend‘, questa stad ,diesen Sommer‘ usw. In freier Syntax findet es keine Verwendung. Die Demonstrativa quel, tschel und lez (nicht aber quest) weisen je nach Funktion verschiedene Formen auf, die in ihrer Distribution denjenigen des Adjektivs entsprechen. Wie das Adjektiv im m. eine attributive Form von einer prädikativen unterscheidet (in grond tgaun ,ein großer Hund‘ vs. il tgaun ei gronds ,der Hund ist groß‘), so weist das Demonstrativum je verschiedene Formen für den pränominalen Gebrauch (wo es mit dem Artikel kommutiert) und den pronominalen Gebrauch (Proform) auf: quei tgaun ,dieser Hund‘ vs. quel cheu/ leu ,dieser da/ dort‘ tschei di ,an jenem Tag‘ vs. tschel leu ,jener dort‘ gliez di ,an dem Tag‘ vs. ed il bab, tgei vegn lez a dir? ,und der Vater, was wird der sagen? ‘ Ferner besitzen die drei Deiktika quel, tschel und lez, auch wieder in Übereinstimmung mit dem Adjektiv, eine areferentielle (traditionell: neutrale) Form für den pronominalen Gebrauch, die ausdrucksseitig mit dem pränominalen m. identisch ist, also quei, tschei und gliez: 17 Wir geben als Typus jeweils die Form des m. Pronomens. 18 Cf. W UNDERLI 1987: 197. 19 Cf. B ÜHLER 1982: 87. Zum Surselvischen L IVER 1993c: 184. 20 Die Beispiele stammen aus S PESCHA 1989: 355s., wo das Beispielmaterial und die Beschreibung des Sprachgebrauchs sehr gut sind, die theoretische Durchdringung des Stoffs dagegen nicht befriedigt. <?page no="137"?> 137 quei e tschei ,dies und das/ jenes‘ (vs. quel e tschel ,dieser und jener‘) gliez lein nus lu mirar! ,das wollen wir dann sehen! ‘ - Possessiva: Das Possessivum, das die Relation eines „Objekts“ in bezug auf den Sprecher bestimmt, weist im Surselvischen zwei in Form und Funktion unterschiedene Paradigmen auf: ein pränominales, das mit dem Artikel kommutiert, und ein prädikatives. Wie im Fall des Adjektivs und des Demonstrativs unterscheiden sich nur die Formen des m., während die des f. in beiden Funktionen gleich sind: miu tgaun ,mein Hund‘ - il tgaun ei mes ,der Hund ist mein/ gehört mir‘ vies problem ,euer Problem‘ - quei problem ei vos ,dieses Problem ist das eurige/ das ist euer Problem‘ sia casa ,sein/ ihr Haus‘ - quella casa ei sia ,dieses Haus gehört ihm/ ihr‘ 21 . Beim prädikativ verwendeten Possessivum wird eine areferentielle (traditionell: neutrale) Form von der des m. und f. unterschieden: tut quei ei miu ,all das gehört mir/ ist mein‘ gegenüber il prau ei mes ,die Wiese gehört mir‘ la casa ei mia ,das Haus gehört mir‘. Wie im Französischen (mon chien), anders als im Italienischen (il mio cane), ist das pränominale Possessivum nicht vom Artikel begleitet; vielmehr kommutiert es mit diesem (wie auch mit dem Demonstrativartikel, der seinerseits mit dem Artikel kommutiert): il tgaun ,der Hund‘ - quei tgaun ,dieser Hund‘ - miu tgaun ,mein Hund‘ 22 . Substantiviert erscheint das Possessivum in Verbindung mit dem bestimmten Artikel: il miu ,der/ das meine‘, la mia ,die meine‘, ils mes ,die meinen‘ („Objekt“ m.), las mias ,die meinen‘ („Objekt“ f.) 23 . Eine formale Unterscheidung zwischen referentieller und areferentieller Form unterbleibt hier, entsprechend dem substantivischen Charakter, den das Possessivum in diesem Fall hat. 21 Zu den Formen cf. S PESCHA 1989: 346ss., L IVER 1991: 24s. Beide Darstellungen lassen jedoch einen Hinweis auf die areferentiellen Formen (s. das folgende) vermissen. 22 Eine Kombination mit dem unbestimmten Artikel oder mit dem Demonstrativartikel ist jedoch auch möglich, in Ausdrücken wie in miu amitg ,ein Freund von mir‘, quellas tias lingias ,diese deine Zeilen‘. In diesem Fall ist das Possessivum adjektivisch. 23 Paradigma und Gebrauch bei S PESCHA 1989: 350s. <?page no="138"?> 138 - Personalia: Die Personalia (traditionell: Personalpronomina) verweisen auf die Person des Kommunikationsaktes (Sprecher, Angesprochener, Besprochener), indem sie sie identifizieren. Für das Surselvische sind in diesem Bereich zwei fundamentale Tatsachen zu erwähnen: 1. Subjektspronomen sind obligatorisch 2. Es gibt keine formale Unterscheidung zwischen prädikativen und nicht prädikativen (betonten und unbetonten) Formen 24 . Im ersten Punkt stimmt das Surselvische (wie die übrigen bündnerromanischen Varietäten) mit dem Französischen überein und unterscheidet sich vom Italienischen. Im zweiten Punkt geht das Surselvische innerhalb des Bündnerromanischen (wie auch gegenüber dem Französischen und dem Italienischen) einen eigenen Weg 25 . Personalia in Subjektsfunktion: sg. pl. 1. Ps. jeu nus 2. Ps. ti vus 3. Ps. el/ ella/ ei(igl) els/ ellas/ ei Die erste und die zweite Person sind genusneutral. Die dritte unterscheidet das f. ella/ ellas vom m. el/ els. Die Form ei für die 3. Ps.sg. (igl vor folgendem Vokal) fungiert als „dummy-pronoun“ 26 : ei plova ,es regnet‘ igl ei tard ,es ist spät‘. Sie ist im gleichen Sinne areferentiell wie die traditionell als „neutral“ bezeichneten Formen des Adjektivs, des Demonstrativums und des Possessivums. Dagegen ist das pluralische ei (ei dian ,sie sagen, man sagt‘) referentiell, wenn es definite Personen vertritt, areferentiell, wenn es für ein indefinites Subjekt (,man‘) steht. Im ersten Fall neutralisiert es die Genusopposition von els/ ellas 27 . 24 Zum Sonderfall ei cf. unten. 25 Ob hier der Sprachkontakt mit dem (Schweizer-)Deutschen eine entscheidende Rolle gespielt hat, müßte untersucht werden. Die Hypothese ist naheliegend, aber vorderhand nicht erwiesen. Das ältere Surselvische kennt, wie die übrigen bündnerromanischen Varietäten, auch nicht-prädikative Formen von Personalia. Cf. M OURIN 1964: 69s. 26 Dazu ausführlich H AIMAN / B ENINCÀ 1992: 181-87. 27 Zur Frage, ob zwischen ei sg. und ei pl. Homonymie oder Polysemie herrsche, cf. W UNDERLI 1997. Er gelangt zum Schluß, daß Polysemie vorliegt. <?page no="139"?> 139 Indefinit ist auch ins ,man‘ mit dem Verb in der 3. Ps.sg.: Ins di ,man sagt‘ (gleichbedeutend mit pluralischem ei dian). Personalia in abhängiger Funktion: sg. pl. 1. Ps. mei nus 2. Ps. tei vus 3. Ps. el/ ella/ ei els/ ellas Diese Formen stehen als direktes Objekt nach dem Verb: el salida mei ,er grüßt mich‘ nus cartein ei ,wir glauben es‘ und nach Präpositionen: nus mein cun vus ,wir gehen mit euch‘ ins sa sefidar dad els/ ellas ,man kann sich auf sie (m./ f.) verlassen‘ 28 . Nach der Präposition a lauten die Pronomen der 1. und 2. Ps.sg. mi und ti: dai a mi tiu cudisch ,gib mir dein Buch‘. Alle andern Formen sind identisch mit den oben angeführten 29 . Enklitisch verkürzte Personalia (bei Inversion von Verb und Pronomen) spielen im Surselvischen eine geringere Rolle als in anderen bündnerromanischen Varietäten 30 . Geläufig ist die Reduktion von ei zu i: Eisi endretg (für: eis ei endretg)? ,Ist es recht? ‘ Tgei hani (für: han ei) detg? ,Was haben sie gesagt? ‘ Auch nus wird in gesprochener Sprache oft zu -s verkürzt oder durch -sa ersetzt: Ussa meins (für: mein nus) a letg ,Jetzt gehen wir zu Bett‘ Damaun savainsa (für: savein nus) co ei stat ,Morgen wissen wir, wie es steht‘. In der zweiten Person (sg. und pl.) wird das Pronomen bei Inversion oft ganz weggelassen: Tgei fas/ figeis cheu? ,Was machst du/ macht ihr da? ‘ 31 28 Das geschlechtsneutrale ei (pl.) ist in dieser Funktion nicht möglich. Es ist ausschließlich nicht-prädikativ und Subjekt. 29 Zu gelegentlichem (regionalem und literarischem) agli für die 3. Ps.sg. und weiteren Besonderheiten cf. S PESCHA 1989: 335. Cf. auch DRG 7: 403s. s. gli. 30 Cf. unten 6.4. Ausführlich dazu L INDER 1987. 31 Cf. S PESCHA 1989: 334. <?page no="140"?> 140 - Reflexiva (und weitere Generalisierungen): Das Surselvische hat das Reflexivum der 3. Person, se, für alle drei Personen (sg. und pl.) generalisiert. Daraus resultiert ein Paradigma, in dem se durchgehend die Reflexivität markiert, ohne Unterschied zwischen den Personen: jeu selavel ,ich wasche mich‘ ti selavas ,du wäschst dich‘ el/ ella selava ,er/ sie wäscht sich‘ nus selavein ,wir waschen uns‘ vus selaveis ,ihr wäscht euch‘ els/ ellas/ ei selavan ,sie waschen sich‘ 32 . Anders als im Fall der Personalpronomina kennt das Surselvische beim Reflexivum prädikative Formen, die sich von den nicht-prädikativen formal unterscheiden. Für die 3. Ps. ist die prädikative Form sei, für die 1. und 2. tritt die Form des Personalpronomens, mei/ nus, tei/ vus ein: El tegn la nova per sei ,er behält die Neuigkeit für sich‘ Jeu tegnel la nova per mei ,ich behalte die Neuigkeit für mich‘, etc. Diese Formen werden oft durch den Identifikator mez, tez, sez ,selbst‘ verstärkt, wobei sich mei zu me-, tei zu te-, sei zu sereduziert: Sche ti glorificheschas tetez, stun jeu mal per tei ,wenn du dich selbst verherrlichst, tut es mir leid für dich‘ Ella odiescha sesezza ,sie haßt sich selbst‘ Cun sesezs ein els buca schi rigurus ,mit sich selbst sind sie nicht so streng‘ 33 . Der Identifikator mez, tez, sez tritt auch zu den Subjektspronomina. Während er im Singular nach Personen differenziert ist jeu mez (mezza) ,ich selbst‘ ti tez (tezza) ,du selbst‘ el sez (ella sezza) ,er/ sie selbst‘, hat sich im Plural die Form der 3. Person (sez) auch auf die 1. und 2. Person ausgedehnt: nus sezs (sezzas) ,wir selbst‘ vus sezs (sezzas) ,ihr selbst‘ els sezs (ellas sezzas) ,sie selbst‘. 32 Zur Generalisierung von SE in verschiedenen romanischen Sprachen cf. W UNDERLI 1989a und W UNDERLI 1989b. 33 Beispiele aus S PESCHA 1989: 340s. <?page no="141"?> 141 In der gesprochenen Sprache schreitet die Generalisierung der Form der 3. Personen fort und dehnt sich auch auf die 2. und 3. Ps.sg. aus. Neben „korrektem“ Ti stos anflar tez la risposta ,du mußt die Antwort selbst finden‘ ist heute Ti stos anflar sez la risposta ,du mußt die Antwort selbst finden‘ durchaus geläufig 34 . Die Generalisierung der Form für die 3. Ps. auf alle drei Personen läßt sich auch in einem weiteren Fall beobachten. Hier wird in älterer Sprache das Possessivum nach den Personen flektiert, während im heutigen Gebrauch eine einheitlich fixierte Form siu vorherrscht. Für den Inhalt ,langsam‘ kennt das Surselvische eine adverbielle Fügung, die dem Adverb plaun ,langsam‘ ein Possessivum (in der areferentiellen Form; cf. oben p. 137) zugesellt, das einen Bezug auf die Personen des Kommunikationsakts herstellt: jeu mon plaunmiu ,ich gehe langsam‘ ti vas plauntiu ,du gehst langsam‘ el/ ella va plaunsiu ,er/ sie geht langsam‘ nus mein plaunnies ,wie gehen langsam‘ vus meis plaunvies ,ihr geht langsam‘ els/ ellas/ ei van plaunlur ,sie gehen langsam‘. In der heutigen Umgangssprache ist diese personale Differenzierung einer Einheitsform plaunsiu gewichen, in der die Form, die ursprünglich nur die 3. Ps.sg. bezeichnete, als personalindifferentes Adverb mit allen Personen verbunden wird: nus mein plaunsiu ,wir gehen langsam‘ etc. 5.2.2 Verbalsystem 5.2.2.1 Allgemeines Das surselvische Verbalsystem reiht sich insofern in die Verhältnisse ein, die in den Nachbarsprachen Italienisch und Französisch herrschen, als auch hier synthetische Paradigmata (Präsens, Imperfekt) neben periphrastischen (Perfekt, Plusquamperfekt und alle Tempora des Passivs) stehen. Wir greifen im folgenden einige Züge heraus, die das surselvische Verbalsystem charakterisieren. In den meisten der zu behandelnden Fälle unterschei- 34 S PESCHA 1989: 339, dem die Beispiele entnommen sind, bemerkt: „Il lungatg scret duess evitar quei diever“ (Die Schriftsprache sollte diesen Gebrauch vermeiden)! <?page no="142"?> 142 det sich das Surselvische von den genannten Nachbarsprachen, in einigen auch von den übrigen bündnerromanischen Varietäten. 5.2.2.2 Die Endung -el der 1. Ps.sg. Charakteristisch für das moderne Surselvische ist die Endung -el der 1. Ps. sg.: (cantar) jeu contel ,ich singe‘ (temer) jeu temel ,ich fürchte‘ (cuorer) jeu cuorel ,ich laufe‘ etc. Diese morphologische Neuerung (Neuerung in historischer Sicht) 35 ist heute bei allen regelmäßigen Verben normal, während sie bei den unregelmäßigen Verben meist fehlt: (esser) jeu sun ,ich bin‘ (saver) jeu sai ,ich weiß/ kann‘ (puder) jeu pos ,ich kann/ mag‘ (vuler) jeu vi ,ich will‘ etc. Allerdings breitet die Endung -el sich auch analogisch auf diese Verben aus, so daß jeu sundel, jeu saiel, jeu possel, jeu viel etc. nicht ungewöhnlich sind 36 . 5.2.2.3 Alternanzen im Verbalstamm des Präsens Wie bei den Nomina (cf. oben p. 133s.) sind auch bei den Verben Alternanzen im Vokalismus des Stamms verbreitet. Die Allomorphe verteilen sich auf stammbetonte Formen (1., 2. und 3. Ps.sg. und 3. Ps.pl.) und endungsbetonte Formen (1. und 2. Ps.pl.): (cantar) jeu contel ,ich singe‘ - nus cantein ,wir singen‘ (durmir) jeu dormel ,ich schlafe‘ - nus durmin ,wir schlafen‘ (udir) jeu audel ,ich höre‘ - nus udin ,wir hören‘ etc. Entsprechend im Konjunktiv: che jeu conti - che nus canteien che jeu dormi - che nus durmîen che jeu audi - che nus udîen. Die heutige Umgangssprache generalisiert jedoch weitgehend die stammbetonten Formen, so daß der Konjunktiv der 1. Ps.pl. von cantar meist che nus contien [ k ɔ nti ə n], der von durmir che nus dormien [ d ɔ rmi ə n] etc. lautet. 35 Für eine historische Erklärung cf. S TIMM / L INDER 1989: 770s. (LRL 3). 36 Cf. S PESCHA 1989: 460. <?page no="143"?> 143 Weitere Alternanzen entstehen durch die Metathese von r, mit oder ohne vokalische Alternanz: (duvrar) jeu drovel ,ich brauche‘ - nus duvrein ,wir brauchen‘ (bargir) jeu bragel ,ich weine‘ - nus bargin ,wir weinen‘ 37 . 5.2.2.4 Imperativ Während im Italienischen und im Französischen die Endung des Imperativs mit derjenigen der 2. Ps.pl. ind. übereinstimmt (cantate, chantez), unterscheidet das Surselvische (wie die übrigen br. Varietäten, aber auch das Dolomitenladinische und das Friulanische 38 ) die beiden Funktionen auch ausdrucksseitig: vus canteis ,ihr singt‘ - cantei! ,singt! ‘ vus figeis ,ihr macht‘ - figei! ,macht! ‘. 5.2.2.5 Perfekt Das heutige Surselvische kennt kein Vergangenheitstempus, das dem ital. passato remoto oder dem franz. passé simple entspricht. Wie die ital. und die franz. Umgangssprache drückt es die abgeschlossene Handlung in der Vergangenheit mit einem periphrastischen Paradigma aus, das aus dem konjugierten Verb im Präsens und dem Partizip der Vergangenheit besteht (entsprechend ital. passato prossimo und franz. passé composé). Dasselbe Paradigma wird auch für Handlungen in der Vergangenheit gebraucht, deren Wirkung noch in der Gegenwart fortdauert (Perfectum praesens): Avon trenta onns eis el emigraus ell’America ,Vor dreißig Jahren wanderte er nach Amerika aus‘ (Praeteritum). Has ti legiu quei cudisch? ,Hast du dieses Buch gelesen? ‘ (Perfectum praesens) 39 . 37 Für eine ausführliche Darstellung der Alternanzen im Verbalstamm cf. S PESCHA 1989: 471- 83. 38 Cf. T EKAVC ˇ IC ´ 1981: 273. 39 Aus der Darstellung von S PESCHA 1989: 610-12 wird dieser Sachverhalt nicht klar; p. 610 wird das perfect einzig als perfectum praesens charakterisiert. P. 611s. dagegen, wo es in Opposition zum Imperfekt dargestellt wird (Inzidenzschema), geht es um Verwendungen des Perfekts als Tempus der abgeschlossenen Handlung in der Vergangenheit (= ital. passato remoto, franz. passé simple). - Das Altsurselvische besaß (wie heute noch das Ladin) synthetische Präteritalformen (cf. oben p. 118s.). Die Geschichte dieses Aspekts des Verbalsystems ist bis heute nicht geschrieben. Es stellt sich die Frage, ob die genannten Präteritalformen je in der gesprochenen Sprache geläufig waren oder ob sie lediglich ein Import (aus Italien? ) auf der Ebene der Literatursprache waren. <?page no="144"?> 144 5.2.2.6 Futurum Das Surselvische hat ein periphrastisches Futurum, das aus der Kombination einer konjugierten Form des Verbs (ve)gnir im Präsens, der Präposition a(d) und dem Infinitiv des betroffenen Verbs besteht: jeu vegnel a far ,ich werde machen‘ els vegnan a dir ,sie werden sagen‘ etc. Wie in anderen (romanischen und germanischen) Sprachen kann das Futurum, neben seiner rein temporalen Funktion, auch eine Hypothese ausdrücken: quei vegn bein ad esser aschia ,das wird wohl so sein‘ 40 . 5.2.2.7 Besonderheiten im surselvischen Verbalsystem Das Surselvische besitzt zwei Verbalparadigmen, die ein Unikum in der Morphologie der bündnerromanischen Dialekte und, soweit ich sehe, der romanischen Sprachen überhaupt sind. Die beiden Paradigmen, gekennzeichnet durch ein Morphem / i/ , das auch den Konjunktiv charakterisiert, schließen sich an den Konditional und an den Indikativ Imperfekt an; sie stellen jeweils eine syntaktisch abhängige Variante dieser Formen dar. Der Konditional des Surselvischen lautet auf -ass (1. Konjugation) resp. -ess (2.-4. Konjugation): jeu cantass (cantar), jeu temess (temer), jeu vendess (vender), jeu durmess (durmir) 41 . Das Imperfekt des Indikativs hat die Endungen -avel, -avas, -ava etc. für die 1., -evel etc. für die 2.-4. Konjugation 42 . Die beiden syntaktisch abhängigen Paradigmen lauten entsprechend: (che) jeu cantassi, (che) ti cantassies etc. 43 (che) jeu cantavi, (che) ti cantavies etc. 44 Es ist nicht leicht, Gebrauch und Systemwert dieser Formen adäquat zu beschreiben, da in der wenig genormten surselvischen Schriftsprache Überschneidungen und Mehrfachverwendungen häufig sind. L IVER 1991: 60-63 versucht, Schwerpunkte und Randzonen des Gebrauchs der Paradigmen auf -assi und -avi darzustellen. Eine Studie von 1993 (L IVER 1993a) beschäftigt sich mit der Stellung dieser Paradigmen im surselvischen Verbalsystem und mit den diachronischen Prozessen, die zur heutigen Situation geführt haben. 40 Zu dieser und weiteren Redeverwendungen des Futurums cf. S PESCHA 1989: 613. 41 Cf. L IVER 1991: 58-60. 42 Cf. L IVER 1991: 45s. 43 Cf. L IVER 1991: 60ss. 44 Cf. L IVER 1991: 62s. <?page no="145"?> 145 W UNDERLI 1993b ordnet die surselvischen Innovationen in eine Gesamtschau romanischer Konvergenzen und Divergenzen ein. G RÜNERT 2003 (cf. oben p. 35) arbeitet die Probleme der Modussyntax des Surselvischen gründlich auf und interpretiert sie auf dem Hintergrund der neueren linguistischen Diskussion. Folgende Fakten müssen festgehalten werden, wobei es unumgänglich ist, auch historische Gesichtspunkte zur Erklärung der heutigen Situation beizuziehen, da diese das Resultat einer nicht vollständig durchgeführten Umstrukturierung früherer Verhältnisse ist. 1. Die Form auf -ass (-ess) ist heute in erster Linie ein „Eventualis“ (traditionell: Konditional) 45 : jeu mass bugen ell’America ,ich ginge gern nach Amerika‘ lessas ti aunc in tec tuorta? ,möchtest du noch ein Stück Kuchen? ‘ Sie tritt zudem in beiden Teilsätzen (Protasis und Apodosis) der hypothetischen Periode auf: sche jeu savess, vegness jeu bugen ,wenn ich könnte, käme ich gerne‘, ferner nach der Konjunktion sco sche ,als ob, wie wenn‘, die den hypothetischen Vergleich einleitet: vus figeis sco sche vus savesses tut ,ihr tut, als wüßtet ihr alles‘. Dass die Form auf -ass in früherer Zeit auch die Funktion eines Konjunktiv Imperfekt hatte, wie heute noch die entsprechende Form des Italienischen (voleva che io cantassi), zeigen altsurselvische Texte (cf. L IVER 1993a: 124-27). 2. Der Konjunktiv ist heute im Surselvischen wesentlich atemporal, das heißt, daß die Formen, die ursprünglich nur Konjunktiv Präsens waren, in der modernen Umgangs- und Schriftsprache auch in Vergangenheitskontexten auftreten, wo früher, wie eben erwähnt, die Formen auf -ass, -ess (später -assi, -essi) vorherrschten. El giavischa/ gaivischava che ti vegnies era ,Er wünscht / wünschte, daß du auch kommest/ kämest‘ El ei ius naven senza che jeu sappi ,Er ging weg, ohne daß ich davon gewußt hätte‘ (S PESCHA 1989: 629). 3. Die Paradigmen auf -assi (-essi) und -avi (-evi) sind, historisch gesehen, Neuerungen im surselvischen Verbalsystem. Sie stellen je eine formal als syntaktisch abhängig markierte Variante des Konditionals und des Indikativ Imperfekt dar. 45 So die begründete Sprachregelung bei G RÜNERT 2003. <?page no="146"?> 146 Ausgehend von einem Satz wie el mass bugen ell’America ,er ginge gern nach Amerika‘ lassen sich abhängige Varianten wie el di/ ha detg/ scheva ch’el massi bugen ell’America ,er sagt/ sagte, er ginge gern nach Amerika‘ bilden. Das Beispiel zeigt, daß die Form auf -assi tempusneutral ist: Sie ist unverändert dieselbe, ob das übergeordnete Verb nun im Präsens oder in einem Vergangenheitstempus steht. Anders die Form auf -avi, die an das Imperfekt gebunden ist. Der Gebrauchsschwerpunkt dieser Form liegt eindeutig in der indirekten Rede, die ein Verbalgeschehen abbildet, das in direkter Rede im Imperfekt stehen würde. Die indirekte Rede wird im Surselvischen, anders als in andern romanischen Sprachen, aber gleich wie im Deutschen, durch den Konjunktiv ausgedrückt. Direkte Rede: Els mavan adina a Falera en vacanzas ,Sie gingen immer nach F. in die Ferien‘. Indirekte Rede: El raquenta (ha raquintau, raquintava) ch’els mavien adina a Falera en vacanzas ,Er erzählt (erzählte), sie seien immer nach F. in die Ferien gegangen‘. Ebenso in freier indirekter („erlebter“) Rede: Els mavien adina a Falera en vacanzas ,Sie seien immer nach F. in die Ferien gegangen‘. Obschon die beschriebenen Gebrauchsschwerpunkte der Paradigmen auf -assi und -avi in der heutigen Sprache klar zutage liegen, tun sich die Grammatiken schwer mit deren Beschreibung und Einordnung. Der Grund liegt darin, daß es in der wenig genormten (Schrift)sprache Überschneidungen gibt, die die Formen auf -ass, -assi und -avi in gewissen Kontexten als vertauschbar erscheinen lassen. Es geht um komplexe Perioden, deren übergeordnetes Verb in einem Vergangenheitstempus steht und deren untergeordneter Satz - bedingt duch die Semantik des übergeordneten Verbs oder durch die subordinierende Konjunktion - im „Konjunktiv“ stehen muß, also dem Bereich, der traditionell „Konjunktiv Imperfekt“ gennannt wird. G RÜNERT 2003: 17-61 stellt den Forschungsstand ausführlich dar. Hier sei nur das Wesentliche zur heutigen Sprachsituation kurz festgehalten: - Der Konjunktiv des Surselvischen ist heute atemporal. Die Formen, die ursprünglich die des Konjunkiv Präsens waren, haben sich auch auf andere Tempora ausgedehnt, so v.a. auf die der Vergangenheit. - Die Form auf -ass, die in früheren Zeiten (auch) die Funktion eines Konjunktiv Imperfekt hatte, ist heute vorwiegend „Eventualis“ (traditionell: Konditional) und als solcher atemporal. <?page no="147"?> 147 - Die Neubildung auf -assi, Variante der Form auf -ass in Kontexten syntaktischer Abhängigkeit, ist ebenfalls tempusneutral. Sie kann sowohl in Nebensätzen, die von einem übergeordneten Verb im Präsens abhängen, als auch in solchen, deren übergeordnetes Verb in einem Vergangenheitstempus steht, auftreten. - Die Neubildung auf -avi verhält sich zu ihrer Ausgangsform, dem Imperfekt des Indikativs auf -ava, wie -assi zu -ass. Das Verbalgeschehen, das durch eine Form auf -avi ausgedrückt wird, ist stets an einen Vergangenheitskontext gebunden 46 . 5.2.3 Syntaktische Besonderheiten 5.2.3.1 Vorbemerkung Wir greifen hier nur drei Themen aus der Syntax des Surselvischen heraus, die aus der Sicht anderer romanischer Sprachen besonders auffällig sind. Eine umfassende Beschreibung der Syntax des Surselvischen 47 steht noch aus. S PE - SCHA 1989: 553-676 enthält jedoch einen Abriss der surselvischen Syntax, wie immer mit guten Beispielen. 5.2.3.2 Inversion 48 Während die Wortfolge im normalen Aussagesatz im Surselvischen wie in den übrigen romanischen Sprachen SV ist, tritt Inversion (VS) hier sehr viel häufiger auf als in diesen. Die Verhältnisse gleichen denjenigen, die im Deutschen und Schweizerdeutschen, aber auch im Altfranzösischen herrschen. Die häufigsten Bedingungen für Inversion sind: - Fragesatz. Inversion tritt im Fragesatz mit und ohne einleitendem Fragewort auf: Eis el aunc cheu? ,Ist er noch da? ‘ Cura eis ella morta? ,Wann ist sie gestorben? ‘ - Nicht durch das Subjekt eingleiteter Aussagesatz. Der häufigste Fall ist der durch ein Adverb oder ein Adverbiale eingeleitete Satz: 46 Der imperfektive Aspekt des nichtvollendeten Geschehens, den die indikativischen Formen auf -ava ausdrücken, ist auch in der Form auf -avi präsent, wie das folg. Beispiel aus H ALTER 1960: 65 illustriert. Das Zitat entstammt einer längeren Passage in (freier) indirekter Rede: Ellas lavazzas dil muletg seigi ella scarpitschada en in rom che schischevi zuppadamein per tiara ed ida en brauncas ,in den Bergampfern des Weideplatzes sei sie über einen Ast gestolpert, der versteckt am Boden lag, und zu Fall gekommen‘. Im gleichen Passus finden sich jedoch auch Verwendungen von -avi mit perfektiver Bedeutung. 47 Zu E BNETER 1994 cf. oben p. 34s. 48 Cf. S PESCHA 1989: 587-88. <?page no="148"?> 148 Damaun mein nus en vacanzas ,Morgen gehen wir in die Ferien‘ Avon treis onns ei Dumeni ius en pensiun ,Vor drei Jahren ging D. in Pension‘. Stilistisch bedingte Abweichungen von der normalen Wortfolge wie Vorwegnahme des Objekts oder des Prädikats ziehen ebenfalls Inversion nach sich: La brev ha la mumma scret ,Den Brief schrieb die Mutter‘ Gronda era la dolur dils geniturs ,Groß war der Schmerz der Eltern‘ 49 . - Hauptsatz nach vorangehendem Nebensatz, Gerundium oder Participium coniunctum: Cura ch’el ei entraus, ein tuts stai sin peis ,Als er eintrat, standen alle auf‘ Arrivond giu encunter il vitg, stat el eri ,Wie er beim Dorf unten ankommt, bleibt er stehen‘ Arrivai sigl ault, han els pussau in mument ,Auf der Höhe angekommen, ruhten sie eine Weile aus‘ 50 . 5.2.3.3 Nicht-Kongruenz Mit diesem Terminus 51 bezeichne ich ein für die surselvische Syntax charakteristisches Phänomen, das in Sätzen wie den folgenden vorliegt: 1) Caschiel ei bien ,Käse ist gut‘ 2) Cigarettas ei nuscheivel ,Zigaretten sind schädlich‘ 3) Igl emprem apiestel dalla Rezia ei stau S. Gliezi ,Der erste Glaubensbote in Rätien war der hl. Lucius‘ 4) Igl ei succediu ina disgrazia ,Es ist ein Unglück geschehen‘ 52 5) Igl ei las treis ,Es ist drei Uhr‘. Die Nicht-Kongruenz besteht darin, daß in diesen Sätzen eine grammatische Übereinstimmung von Subjekt und prädikativem Adjektiv (*Caschiel ei buns, *Cigarettas ein nuscheivlas) respektive Subjekt und Partizip des zusammengesetzten Prädikats (*Il emprem apiestel…ei staus S. Gliezi, *Igl ei succedida ina disgrazia), wie man sie in einer romanischen Sprache erwarten könnte, ausbleibt. Helmut Stimm (S TIMM 1976) hat sich erstmals mit dieser Besonderheit beschäftigt, neuerdings Peter Wunderli unter einem etwas anderen Gesichtspunkt (im Rahmen der Diskussion um ein rätoromanisches „Neutrum“) im oben (p. 135 N14) zitierten Artikel (W UNDERLI 1993a). 49 Weitere Beispiele bei S PESCHA 1989: 595s. Daraus auch die beiden letztzitierten Sätze. 50 Beispiele aus S PESCHA 1989: 596s. 51 Der naheliegende Terminus „Inkongruenz“ befriedigt nicht, weil er Fehlerhaftigkeit suggeriert. 52 Sätze 1-4 aus S PESCHA 1989: 271ss. <?page no="149"?> 149 In den Beispielen 1) und 2) wird ein generisches Substantiv topikalisiert (W UNDERLI 1993a: 147 und 150). Bei partikularisierendem Gebrauch würde Kongruenz hergestellt: 1a) Quei caschiel ei buns ,Dieser Käse ist gut‘ 2a) Quellas cigarettas ein nuscheivlas ,Diese Zigaretten sind schädlich‘. Im Beispiel 3) ist für das Ausbleiben der Kongruenz die kataphorische Stellung des Verbs verantwortlich (W UNDERLI 1993a: 149). Bei einer Wortfolge SV würde die Kongruenz hergestellt: 3a) S. Gliezi ei staus igl emprem apiestel dalla Rezia ,Der hl. Lucius war der erste Glaubensbote Rätiens‘. In den Beispielen 4) und 5) hat ei (resp. igl) präsentative Funktion (H AIMAN / B ENINCÀ 1992: 183). Im Fall von 4) würden auch das Französische und das Italienische eine nicht-kongruente Konstruktion aufweisen (franz.: il est arrivé une catastrophe, ital.: è successo una catastrofe), während in Bsp. 5) das Französische mit dem Surselvischen übereinstimmt (il est trois heures), das Italienische dagegen Kongruenz herstellt (sono le tre). Die Nicht-Kongruenz entspricht in allen hier beschriebenen Fällen einer besonderen Strukturierung des Satzes: Topikalisierung eines generischen Subjekts, kataphorische Stellung des Verbs, Eröffnung des Satzes durch präsentatives ei 53 . 5.2.3.4 Negation Die Negation gehört zu den Elementen, die eine Sprache auffällig charakterisieren, was sich oft in Übernamen für einen Dialekt oder dessen Sprecher niederschlägt, die auf den entsprechenden Negationspartikeln basieren 54 . Auf eine Satzfrage lautet die negative Antwort im Surselvischen na, die positive gie [ ε : ] 55 . Die Verneinung eines Satzes, die mit der Verneinung des Prädikats übereinstimmt, erfolgt im Surselvischen durch die Verneinungspartikel buc (Varianten: buca, ca) 56 . 53 Entsprechende Reliefgebung erreicht z.B. das Französische durch Segmentierung: Du fromage, c’est bon. Le premier apôtre de la Rétie, c’était S. Luc, wobei hier durch die Pausen, die Intonation und das Element ce die Strukturierung viel expliziter ist als in den besprochenen surselvischen Beispielen. 54 Zu dieser Thematik ausführlich D ECURTINS 1993/ I: 292-321, „Namen und Übernamen der Bündner Oberländer“. Als Beispiele seien genannt die Bezeichnung der Einwohner von Domat/ Ems, ils Echers (nach der Negationspartikel ec) und die Dialektbezeichnung il bri (ebenfalls nach der Negationspartikel) für den alteinheimischen Dialekt der Val S. Giacomo (Südseite des Splügenpasses, zu Italien gehörig). Cf. Z AHNER 1989. 55 Cf. DRG 7: 231-40. 56 Cf. DRG 2: 499-507. S PESCHA 1989: 498ss. <?page no="150"?> 150 Über die Distribution der Varianten buc, buca, ca gibt S PESCHA 1989: 499 Auskunft. Buca wird vorwiegend vor Konsonant, buc vor Vokal gebraucht; allerdings sind keine zwingenden Regeln ersichtlich. Zudem muß beigefügt werden, daß in der gesprochenen Sprache auch die Variante bu geläufig ist: Bu dir! ,Sag nichts davon! ‘ Die Negationspartikel buc(a) steht nach dem (konjugierten) Verb, wenn die Aussage des ganzen Satzes negiert wird: El vegn buc ,Er kommt nicht‘. Wenn das Verb periphrastisch ist, folgt die Negation unmittelbar auf die flektierte Verbform: Jeu hai buca giu peda ,Ich habe keine Zeit gehabt‘ Nus vegnin buc a protestar ,Wir werden nicht widersprechen‘. Beim Imperativ kann die Negationspartikel vor oder nach dem Verb stehen: Buca fagei quei! Fagei buca quei! ,Tut das nicht! ‘ Bei Inversion (cf. oben p. 147s.) folgt die Negation unmittelbar auf das Subjekt, dem das Verb vorausgeht: Quei less jeu buca pretender ,Das möchte ich nicht behaupten‘ Damaun mein nus buc a scola ,Morgen gehen wir nicht zur Schule‘. Wenn die Negation andere Satzglieder als das Verb verneint, steht sie vor diesen: buca mal ,nicht schlecht‘ buca mo … mobein era ,nicht nur … sondern auch‘ buc in ,keiner, kein einziger‘ buca maridau ,unverheiratet‘. 5.3 Lexik 5.3.1 Vorbemerkung Für eine synchronische Beschreibung des surselvischen (wie überhaupt des bündnerromanischen) Wortschatzes fehlen bisher die nötigen Vorarbeiten. Es ist bezeichnend, dass in den Abschnitten „Wortschatz“ der jüngsten Forschungsberichte von Holtus und Kramer (H OLTUS / K RAMER 1997: 528-34; 2002: 25-30; 2005: 43s.) fast ausschließlich historisch ausgerichtete Arbeiten verzeichnet sind. Die bisherige Forschung zum Wortschatz des Bündnerromanischen interessiert sich in erster Linie für diejenigen Elemente, die das Bündnerromanische aufgrund einer alten Latinität oder gar vorrömischer Elemente als besonders originell erscheinen lassen, oder dann für die Auswir- <?page no="151"?> 151 kungen des jahrhundertealten Sprachkontakts mit dem Deutschen. Auch die Neologismenforschung erfreut sich in jüngerer Zeit einiger Beliebtheit 57 . Den Versuch, die bündnerromanische Lexik in ihrer heutigen Ausprägung in synchronischer Sicht zu beschreiben, hat bisher noch niemand unternommen. Der Artikel „Lexik“ in LRL 3 (L IVER 1989) stellt einen ersten, notwendigerweise fragmentarischen Vorstoß in diese Richtung dar. Die folgende Skizze stützt sich weitgehend auf diesen Artikel. Ausgewählt werden einige Aspekte, die sich in der Vermittlung des Surselvischen an anderssprachige Lernende immer wieder als besonders auffällig erweisen. Der erste Abschnitt (5.3.2 Ortsadverbien) betrifft eine Besonderheit alpiner Sprachen, die mit der Orientierung der Sprecher im Raum zusammenhängt. Der zweite beschreibt einige Wortfelder, die im Surselvischen eine auffällige Ausgestaltung aufweisen (5.3.3 Wortfeldanalysen). Der dritte ist mit zwei für das Surselvische charakteristischen Translationen (Übergang von einer Wortklasse in eine andere) befaßt (5.3.4). 5.3.2 Ortsadverbien T EKAVC ˇ IC ´ 1981: 285 bezeichnet den Reichtum an Ortsadverbien als „la caratteristica senz’altro più notevole“ des surselvischen Lexikons. Tatsächlich ist die Art und Weise, wie sich die Orientierung des Sprechers im geographischen Raum lexikalisch niederschlägt, charakteristisch nicht nur für das Surselvische, sondern für verschiedene alpine Mundarten (bündnerromanische, dolomitenladinische, walserdeutsche, bündnerdeutsche und frankoprovenzalische) 58 . Im Surselvischen befindet sich der Sprecher im Schnittpunkt zweier Koordinaten, die seinen geographischen Raum strukturieren: einer vertikalen, die durch die Situations- und Richtungsadverbien si ,oben, hinauf‘ und giu ,unten, hinab‘ bestimmt ist, und einer horizontalen, deren Extrempunkte und Richtung durch en ,drinnen, hinein‘ und or (Varianten: o, ora) ,draußen, hinaus‘ bezeichnet werden. Von der Origo des Sprechers aus kann sich also die Lage einer Person/ Sache (oder die Bewegung auf diese Lage hin) ,oben‘, d.h. bergwärts, oder ,unten‘, d.h. abwärts befinden. Zudem kann die bezeichnete Sache/ Person aus der Perspektive des Sprechers weiter ,außen‘, d.h. in Richtung des nächstgelegenen Flußlaufes talauswärts, oder weiter ,innen‘, d.h. flußaufwärts, situiert sein. Entsprechend gibt es auch im Dorf als dem engeren Lebensraum des Sprechers ein ,außen‘ und ,innen‘, ein ,oben‘ und ,unten‘. Charakteristisch für das Surselvische (wie für andere alpine Mundarten) ist die Zusammenschau der vertikalen und der horizontalen Dimension im 57 Cf. oben p. 35 und L IVER 1989: 786 und 800-802. 58 Cf. H OLTUS / K RAMER 1986: 28-32. Für das Schweizerdeutsche Z INSLI 1946: 176-79, 256ss., für das Frankoprovenzalische M URET 1926. <?page no="152"?> 152 geographischen Raum. Sie schlägt sich in der häufigen Kombination von Ortsadverbien nieder: siado(ra) ,hinauf und hinaus‘ siaden ,hinauf und hinein‘ giuado(ra) ,hinab und hinaus‘ giuaden ,hinab und hinein‘. Auch die umgekehrte Reihenfolge der Elemente ist möglich: orasi, entasi, oragiu, entagiu. Die Kumulation von Ortsadverbien kann die beschriebene Zweidimensionalität des geographischen Raums abbilden: brentinas sesguschan dalla val siaden ,Nebel schleichen das Tal hinauf (und hinein)‘. Sie kann die Kombination der Richtungen, im folgenden Beispiel ,hinauf‘ und ,heraus‘, aber auch abgelöst von den spezifisch geographischen Gegebenheiten ausdrücken: fluras cuchegian siadora dil tratsch ,Blumen gucken aus dem Boden hervor‘ 59 . Zu den vom (alpin-)geographischen Raum her gegebenen Dimensionen kommt eine weitere Dimension hinzu, die ausschließlich auf den Sprecher bezogen ist. Wie im Deutschen hin und her, so bezeichnen surs. vi und neu die Bewegung vom Sprecher weg resp. auf den Sprecher hin: va vi tier l’onda! ,Geh zur Tante hinüber! ‘ vegni neu cheu! ,Kommt hierher! ‘ Während vi und neu die Bewegung vom Sprecher weg resp. auf den Sprecher zu bezeichnen, stehen die Adverbien cheu ,hier‘ und leu ,da, dort‘ für die Lage beim resp. nicht beim Sprecher. Auch diese vier Partikel gehen mannigfache Verbindungen mit anderen Ortsadverbien ein: viaden ,hinein‘, viadora ,hinaus‘, viasi ,hinauf‘, viadenasi ,hinauf‘, viadenagiu ,hinunter‘, neuaden ,herein‘, neuadora ,heraus, hervor‘, neuasi ,herauf‘, neuagiu, neuagiudo ,herunter‘, cheugiu ,da unten‘, cheusi ,hier oben‘, cheuenagiu ,da drunten‘, cheuora ,da draußen‘, leuen ,dort drinnen‘, leugiu ,dort unten‘, leu ora ,dort draußen‘, leusi ,dort oben‘ 60 . Zur Verwendung von Ortsadverbien als Präpositionen cf. unten 154s. 59 Beide Beispiele aus V IELI / D ECURTINS 1962 s.v. 60 Nach V IELI / D ECURTINS 1962. Weitere Kombinationen bei D ECURTINS 2001. <?page no="153"?> 153 5.3.3 Wortfeldanalysen Die erste der beiden folgenden Wortfeldanalysen („schneien“, „Schneefall“) illustriert die differenzierte sprachliche Strukturierung eines Sektors der außersprachlichen Wirklichkeit, die für den Bergler besondere Bedeutung hat. Insofern ist der Reichtum an Termini für die verschiedenen Arten des Schneiens vergleichbar mit der beschriebenen Komplexität der Ortsadverbien. Die zweite Analyse ist ein Beispiel für die Strukturierung eines Wortfelds mit abstraktem Inhalt (Modalverben), die im Surselvischen abweicht von derjenigen des Französischen und Italienischen, aber auch von den Verhältnissen, die im Engadinischen herrschen. Die Wortfelder „schneien“ und „Schneefall“ werden in L IVER 1989: 792s. anhand des Materials von S PESCHA 1973 dargestellt. Spescha beschreibt in seiner lexikalisch-semantischen Studie die sprachliche Erfassung meteorologischer Erscheinungen in der Mundart seiner Heimatgemeinde Pigniu (deutsch: Panix, an der linken Flanke des Vorderrheintales gelegen). Aus seinen Materialien ergeben sich 5 Verben für ,schneien‘ und 10 Substantive für ,Schneefall‘. Die Erklärungen, die Spescha zu den einzelnen Lexemen gibt (etwa: brisclar ,leicht schneien‘, cuflegnar ,leicht stöbern‘, etc.), erlauben es, bei einzelnen Verben zusätzlich zum Sem ,schneien‘, das allen Verben gemeinsam ist (S 1 ), die weiteren Seme ,mit Wind‘ (S 2 ) und ,stark‘ (S 3 ) anzunehmen. Von den Synonymen neiver (never) und bischar, die beide die Seme S 2 und S 3 nicht aufweisen, scheint bischar auf der Ebene der Norm vorgezogen zu werden (S PESCHA 1973: 158); bischar kann demnach als Archilexem gelten. Das Wortfeld der Verben für ,schneien‘ läßt sich wie folgt darstellen: ,schneien‘ bischar (neiver) +,mit Wind‘ ∅ ,mit Wind‘ +,stark‘ ∅ ,stark‘ brisclar cuflar cuflergnar In der Beschreibung der 10 Substantive für ,Schneefall‘, die alle von den Verben bischar, brisclar, cuflar, cuflergnar abgeleitet sind, tritt zu den für die Verben genannten Semen ein weiteres hinzu: ,kurz dauernd‘ (S 4 ). In einer Arboreszenz ergibt sich die folgende Strukturierung: <?page no="154"?> 154 ,Schneefall‘ +,mit Wind‘ ∅ ,mit Wind‘ +,stark‘ ∅ ,stark‘ +,stark‘ ∅ ,stark‘ +,kurz ∅ ’,kurz +,kurz ∅ ,kurz +,kurz ∅ ,kurz +,kurz ∅ ,kurz dauernd‘ dauernd‘ dauernd‘ dauernd‘ dauernd‘ dauernd‘ dauernd‘ dauernd‘ cuflada cufla cuflergnada bischada x brisclada +,ganz ∅ ,ganz +,ganz ∅ ,ganz leicht leicht leicht leicht stöbernd‘ stöbernd‘ fallend‘ fallend‘ cuflergnem cuflem brisclem bischa bischem Unter dem Gesichtspunkt der Wortbildung fällt auf, daß die Markierung durch S 4 ,kurz dauernd‘ immer durch das Suffix -ada geleistet wird. Demgegenüber beinhalten das Suffix -em und die rückläufige Ableitung (oder Subtraktivbildung) nichts anderes als den Vorgang an sich 61 . In der Verwendung der Modalverben, die den Bereich der Möglichkeit (des Könnens, Dürfens, Mögens) abdecken, unterscheidet sich das Surselvische nicht nur vom Italienischen und Französischen, sondern auch von den übrigen bündnerromanischen Idiomen. Die folgenden Beispiele, in denen neben das Surselvische jeweils das deutsche, italienische und französische Äquivalent gestellt wird, zeigen, daß sich im Surselvischen die Lexeme saver, puder, astgar anders in den Bereich ,Möglichkeit‘ teilen als ihre Entsprechungen in den romanischen Nachbarsprachen. 1) Jeu sai vegnir Ich kann kommen Posso venire Je peux venir. 2) Sas ti franzos? Kannst du französisch? Sai il francese? Sais-tu le français? 61 Cf. L IVER 1989: 793 und 797. <?page no="155"?> 155 3) Jeu pos buca pli Ich kann/ mag nicht mehr Non (ne) posso più Je ne peux plus. 4) Ti astgas vegnir sche ti vul Du darfst kommen, wenn du willst Puoi venire se vuoi Tu peux venir si tu veux. Am auffälligsten ist die Verwendung von saver in Kontexten, wie sie Beispiel 1) illustriert: ,können‘ im Sinne von ,die Möglichkeit haben, nicht verhindert sein‘. Italienisch und Französisch (aber auch Surmiran und Engadinisch) haben hier das Verb, das (ausdrucksseitig) puder entspricht. In Beispiel 2) (,können‘ im Sinne von ,eine Fähigkeit, Fertigkeit haben, etwas beherrschen‘) stimmt das Surselvisch mit dem Italienischen und Französischen überein. Ebenso in Beispiel 3), wo es um geistiges oder physisches Vermögen oder Disponiertheit geht (,Lust oder Kraft haben, etwas zu tun‘). Im Beispiel 4) weist das Surselvische ein eigenes Lexem (astgar ,dürfen‘) auf für die Möglichkeit, die sich aus der Abwesenheit von sozialen oder moralischen Einschränkungen ergibt. Im Italienischen und im Französischen wird in diesem Fall potere respektive pouvoir verwendet. Die Distribution der Modalverben saver, puder und astgar läßt sich im folgenden onomasiologischen Schema 62 verdeutlichen: Möglichkeit ,gegeben durch Abwe- ,gegeben durch positive senheit von Hindernissen‘ Voraussetzungen, die im Subjekt begründet sind‘ ,soziales Ge- ,äußere Um- ,Wissen/ ,Disposition, bot als Hinstände als Können‘ geistige/ physidernis‘ Hindernis‘ sche Kraft‘ astgar saver saver puder (dt. dürfen können können können, mögen, vermögen) 62 Leicht vereinfachte und auf das Surselvische reduzierte Version eines entsprechenden Schemas in L IVER 1989: 794 (dort ist auch das Vallader berücksichtigt). <?page no="156"?> 156 5.3.4 Translationen 5.3.4.1 Abstraktes Substantiv als Elativ Im Surselvischen wird der Elativ (oder absolute Superlativ) geläufig durch ein abstraktes Substantiv ausgedrückt, das ohne Artikel dem zu determinierenden Substantiv vorangestellt wird: in fermezia cavagl ,ein sehr starkes Pferd‘ (fermezia ,Stärke‘) fermezia calzers ,sehr feste Schuhe‘ in buontad vin ,ein ausgezeichneter Wein‘ (buontad ,Güte‘) ina ferdaglia notg ,eine bitter kalte Nacht‘ (ferdaglia ,Kälte‘) 63 . Das abstrakte Substantiv übernimmt hier die Funktion eines gesteigerten qualifizierenden Adjektivs, wie die Übersetzungen ins Deutsche zeigen. Statt ina ferdaglia notg könnte auch ina notg fetg/ zun freida gesagt werden. In den zitierten Ausdrücken ist jedoch die Wendung mit dem elativischen Abstraktum geläufiger. Allerdings sind es nur einige sehr frequente Abstrakta (neben den genannten: bellezia ,Schönheit‘, nauschira ,Bosheit‘, calira ,Hitze‘, pesanca ,Schwere‘), die als Elativ fungieren 64 . Das Abstraktum wird gelegentlich auch nachgestellt und pluralisiert: ina pegna caliras ,ein glühend heißer Ofen‘ ina notg ferdaglias ,eine bitter kalte Nacht‘ 65 . Wie ein Adjektiv kann das elativische Abstraktum auch prädikativ verwendet werden: En cheu eisi caliras ,Da drinnen ist es sehr heiß‘ „Co ei la suppa? “ - „Buontad! “ ,„Wie ist die Suppe? “ - „Ausgezeichnet! “ 5.3.4.2 Ortsadverbien als Präposition Oben (p. 151s.) war vom Reichtum an Ortsadverbien und deren mannigfacher Kombinierbarkeit im Surselvischen die Rede. Die Ortsadverbien en, or(a), giu, si, vi, neu fungieren auch als Präpositionen: El ei uss en Frontscha, suenter va el ell’ 66 Italia ,Er ist jetzt in Frankreich, dann geht er nach Italien‘. 63 Beispiele aus S PESCHA 1989: 289. 64 Gesamthaft gesehen ist sicher der Elativ durch ein Adjektiv, das mit zun/ fetg ,sehr‘ oder anderen Adverbien, die Intensität ausdrücken, gesteigert wird, geläufiger. Cf. S PESCHA 1989: 287. 65 Cf. S PESCHA 1989: 288. 66 Ell’ = en l’. <?page no="157"?> 157 Els ein el 67 marcau ,Sie sind in der Stadt‘ 68 . Während en generell als Präpostion (dt. ,in, nach‘) dient, beschränkt sich der präpositionale Gebrauch von or(a), giu, si, vi und neu auf die Verbindung mit Orts- oder Flurnamen und Örtlichkeiten in der näheren Umgebung des Sprechers (Haus, Garten, Stall, Maiensäss…). Nus mein or(a) Siat ,Wir gehen nach S. hinaus‘ Ir giu nuegl ,In den Stall hinab gehen‘ Oz mein nus giu Cuera ,Heute gehn wir nach Chur hinab‘ Bab ei ius si cuolm a perver ,Der Vater ist aufs Maiensäß füttern gegangen‘ El va vi Rabius ,Er geht nach R. hinüber‘ Zera vegn el neu Pigniu ,Heute abend kommt er nach P. hinüber‘ 69 . 67 El = en il. 68 Beispiele aus S PESCHA 1989: 517. 69 Beispiele aus DRG 7: 264ss. (s. gio) und S PESCHA 1989: 518ss. <?page no="159"?> 6. Besonderheiten anderer Varietäten 6.1 Vorbemerkung In diesem Kapitel werden einige Züge herausgegriffen, die die Sprache anderer bündnerromanischer Varietäten als des Surselvischen, das im 5. Kapitel beschrieben wurde, in besonders auffälliger Weise kennzeichnen. Es handelt sich um eine begrenzte Auswahl von Phänomenen, die in gesamtromanischer Sicht von besonderem Interesse sind. 6.2 „Verhärtete Diphthonge“ In einem Teil Mittelbündens (Sursés und Albulatal) und im Oberengadin (hier allerdings vorwiegend in älterer Sprache) findet sich eine auffällige Lautung, die in der sprachwissenschaftlichen Literatur mit dem Terminus „verhärtete Diphthonge“ charakterisiert wird. Diese Formulierung suggeriert, daß ein Diphthong im Laufe der sprachlichen Entwicklung eine Modifikation erfahren hat, die zu einer Konsonantifizierung der zweiten Komponente des Diphthongs geführt hat 1 . Auf synchronisch-diatopischer Ebene stehen dann diphthongische Lautungen neben Kombinationen von Vokal + Velarkonsonant. So lautet nach G RISCH 1939: 62 das Resultat von vlat. RIDERE im Sotsés [rejr], [r ε jr], [rojr], [r ɔ jr], im Sursés (Tinizong) jedoch [rekr] und im Oberengadin (Schlarigna) [rikr], gegenüber [ri] in der Sur- und Sutselva und [ri ɐ r] im Unterengadin (Sent). Die auffällige Lautung mit dem Velarkonsonanten findet sich im Sursés und im Albulatal (in früheren Zeiten auch im Oberengadin) bei den Resultaten von klass.-lat. I ¯, U ¯, O ¯, U ˘ in betonter freier Stellung 2 . Die folgenden Beispiele aus Savognin sind L UTTA 1923 entnommen: DORMIRE > [dur mekr] OBSCURU > [ ʃ cikr] 3 VOCE > [vuk ʃ ] JUGU > [ ukf] 4 . 1 Cf. L AUSBERG 1969: 102s. (§ 105). 2 Cf. S CHMID 1985a: 61. 3 L UTTA 1923: 88. 4 L UTTA 1923: 109s. <?page no="160"?> 160 Es geht hier nicht darum, das Alter dieser Erscheinung zu diskutieren. Entgegen G ARTNER 1910: 168 betrachtet neuere Forschung 5 die verhärteten Diphthonge als jung. Die eingehendste Studie zum Problem, S CHMID 1985a, stellt das Phänomen in den Zusammenhang mittelbündnerisch-oberengadinischer Übereinstimmungen. Die Gebiete am Weg von Chiavenna nach Chur werden hier als „das bündnerromanische Durchmischungsgebiet par excellence“ bezeichnet (S CHMID 1985a: 103). Analoge Lautungen finden sich auch im Umkreis der Adria und in frankoprovenzalischen und okzitanischen Dialekten 6 . 6.3 Das durch die Präposition a eingeleitete direkte Objekt im Engadinischen Das Phänomen ist in erster Linie aus dem Spanischen bekannt: ein direktes Objekt (Akkusativ) wird durch die Präposition a eingeleitet, wenn der Referent des Objekts eine Person ist: veo a Juan ,ich sehe Juan‘ gegenüber veo la diferencia ,ich sehe den Unterschied‘. Die Gebrauchsnormen sind im einzelnen sehr differenziert, was uns hier aber nicht zu beschäftigen braucht 7 . Wichtig ist die Feststellung, daß diese Eigenheit des Spanischen, die (in verschiedenen Ausprägungen) auch in anderen romanischen Varietäten - allerdings nicht im Französischen und im Italienischen - auftritt 8 , im Engadinischen und im Dialekt des Münstertals durchaus präsent ist. Das Engadinische unterscheidet sich durch diesen Zug von allen anderen bündnerromanischen Varietäten. Die Grammatiken (A RQUINT 1964, G ANZONI 1977) nennen als Kriterium für die Setzung der Präposition a beim direkten Objekt das Merkmal [+ belebt] 9 . Die folgenden Beispiele illustrieren den Gebrauch: Annina salüda a l’ami da Tumasch ,A. grüßt den Freund von T.‘ No legiain ün bel cudesch ,Wir lesen ein schönes Buch‘ 10 5 E ICHENHOFER 1989: 161-69. 6 S CHMID 1985a: 61 N28. 7 Cf. DE B RUYNE 1993: 291-96. 8 Cf. P ENSADO 1995: 15 N5. 9 Allerdings nicht so formuliert. A RQUINT 1964: 23 „pro persunas“, G ANZONI 1977: 198 „tar persunas e bes-chas“. 10 A RQUINT 1964: 22. <?page no="161"?> 161 Hest tü vis al non? ,Hast du den Großvater gesehen? ‘ El ho mno a spass al chaun ,Er führte den Hund spazieren‘ 11 . Der „präpositionale Akkusativ“ des Engadinischen hat in der Forschung einige Beachtung gefunden. Neben R OEGIST 1979 (wo das Engadinische neben anderen romanischen Sprachen untersucht wird) und W IDMER 1980 hat sich vor allem Helmut Stimm in zwei Studien (S TIMM 1986 und 1987b) eingehend mit dem heutigen Sprachgebrauch sowie mit der Geschichte und der theoretischen Einordnung des Phänomens beschäftigt. S TIMM 1986 untersucht aufgrund einer breiten Materialbasis, „unter welchen Bedingungen und Umständen die Markierung des direkten Objekts durch a im Unterengadinischen vorkommt oder unterbleibt“ (408). Als Ergebnis zeichnet sich ungefähr das ab, was aus dem Spanischen bekannt ist: Objekt mit a beim Merkmal [+hum], ohne a bei [-hum], wobei eine ziemlich breite Übergangszone fakultativer und variabler Verwendung zwischen den beiden Bereichen liegt. In der Studie von 1987 unternimmt es Stimm, einerseits die Genese der heutigen Situation, deren Wurzeln sich im 16. Jahrhundert im Bereich der Personalpronomina ausmachen lassen, nachzuzeichnen. Zudem vertritt er die Auffassung, der heutige „präpositionale Akkusativ“ sei nicht nur formgleich mit einem Dativ, er sei vielmehr auch kategoriell mit einem Dativ gleichzusetzen. 6.4 Klitische Subjektspronomen Das Subjektspronomen ist im Bündnerromanischen obligatorisch, wie im Deutschen und Französischen, anders als im Italienischen. Nicht dieses Faktum und mögliche Erklärungen dafür 12 sollen hier behandelt werden, sondern die Verbreitung von Kurzformen der Personalia in pro- und enklitischer Stellung, die in den verschiedenen bündnerromanischen Idiomen je verschieden ausgestaltet ist. Wie oben (p. 139) dargestellt, ist im Surselvischen die Möglichkeit der Verkürzung der klitischen Personalpronomina auf einige wenige Fälle beschränkt. Im Engadinischen und im Surmiran dagegen ist die Erscheinung sehr viel verbreiteter. Eine Schwierigkeit in der Erfassung der möglichen Fälle besteht darin, daß die Grammatiken im allgemeinen dazu neigen, solche Formen zu unterschlagen, da sie nicht den präskriptiven Normen der Schulsprache entsprechen 13 . Peter Linder widmet den größten Teil seiner Grammati- 11 G ANZONI 1977: 198. 12 Cf. L INDER 1987: 25, 96-106. 13 Cf. S PESCHA 1989: 334: „Il lungatg scret evitescha plitost quellas fuormas encliticas“. <?page no="162"?> 162 schen Untersuchungen zur Charakteristik des Rätoromanischen in Graubünden der Morphosyntax des Personalpronomens (L INDER 1987: 2-162). Seine Quellen sind allerdings schriftliche Texte, die aber immerhin da und dort Mündlichkeit spiegeln. H AIMAN / B ENINCÀ 1992 stellen die klitischen Subjektspronomen in den rätoromanischen Mundarten in den größeren Zusammenhang des norditalienischen Raumes (187-205). Wir halten hier die wichtigsten Züge fest. Innerhalb des Bündnerromanischen scheinen das Engadin und das Oberhalbstein die Gebiete mit den häufigsten Reduktionen klitischer Subjekspronomen zu sein. Während für die proklitischen Verwendungen die Verhältnisse sehr schwer überschaubar sind (mangels spezifischer Untersuchungen zu diesem von den Schulgrammatiken vernachläßigten Gebiet 14 ), zeichnet sich in der Enklise eine besser faßbare Situation ab. Linder konstatiert für das Oberengadin und für Surmeir eine Einheitsform des proklitischen Subjektspronomens, die für die 1. Person Singular, die 3. Person Singular mit areferentiellem (traditionell: neutralem) Subjekt und für alle drei Personen des Plurals gilt (L INDER 1987: 5-11). Im Puter lautet dieses proklitische Pronomen a, im Surmiran i. Wie weit Entsprechendes auch in anderen Idiomen vorkommt, müßte näher untersucht werden 15 . Sicher ist dagegen, daß die formale Übereinstimmung des arefentiellen Pronomens der 3. Person Singular mit dem geschlechtsneutralen Pronomen der 3. Person Plural im ganzen bündnerromanischen Gebiet gilt. Wir haben oben (p. 138) das Pronomen ei im Surselvischen beschrieben, das als Neutralisationsform von els/ ellas in der gesprochenen Sprache fungiert. Funktional entsprechende Formen, die jeweils (wie surs. ei) sowohl für die 3. Person Singular bei areferentiellem Subjekt als auch für die 3. Person Plural bei maskulinem und femininem Subjekt gelten, finden sich auch in den anderen bündnerromanischen Idiomen: als i in der Sutselva, im Surmeir und im Vallader, als a im Puter (cf. L INDER 1987: 14-16). Entsprechend der Häufigkeit der Inversion von Subjekt und Verb im Bündnerromanischen (cf. oben p. 145s.) gerät das Subjektspronomen oft in enklitische Stellung. Diesem Sachverhalt tragen neuere engadinische Grammatiken Rechnung, indem sie neben dem Paradigma für die Folge Pronomen + Verb ein zweites Paradigma für die umgekehrte Folge anführen. Dies ist umso notwendiger, als nicht nur das Pronomen, sondern vielfach auch das Verb in dieser Kombination lautliche Veränderungen aufweist. So findet man bei A RQUINT 1964: 12 für das Vallader 14 Eine an der Universität Bern verfaßte Seminararbeit von Annetta Ganzoni (G ANZONI 1995), auf die im folgenden zurückgegriffen wird, stellt einen ersten Versuch in diese Richtung dar. 15 G RISCH 1939: 193 stellt die Verallgemeinerung von i auf alle Personen des Plurals für Sursés fest, nicht jedoch für Sotsés. <?page no="163"?> 163 Uorden normal Uorden inverti Conjugaziuns regularas esser avair eu invlid invlid eu → invlida suna n’haja tü invlidast invlidast tü → invlidast est hast el invlida invlida el → invlida’l è’l ha’l ella invlida invlida ella → invlid’la è’la ha’la no invlidain invlidain no → invlidaina eschna vaina vo invlidaivat invlidaivat vo → invlidaivat eschat vaivat els invlidan invlidan els → invlidna suna hana ellas invlidan invlidan ellas → invlidna suna hana und bei G ANZONI 1977: 63 für das Puter Uorden normal Uorden inverti Conjugaziuns reguleras esser avair eau müd müd eau → müdi/ -a suni/ -a d’heja tü müdast müdast tü → müdast est hest el müda müda el → müda’l è’l ho’l ella müda müda ella → müd’la è’la ho’la nus müdains müdains nus → müdainsa essans nus (a)vains nus vus müdais müdais vus → müdais essas (a)vais els müdan müdan els → müdane sune haune ellas müdan müdan ellas → müdane sune haune. Die Betonung der Formen der 3. Person Plural liegt immer auf dem Verbalstamm; müdane ist proparoxyton. Die Verhältnisse im Surmiran sind ähnlich. T HÖNI , der die enklitischen Pronomina im Zusammenhang mit der Frageform einführt, stellt die verkürzten Formen („in ganz korrekter und üblicher Abkürzung“, T HÖNI 1969: 26) jeweils den Vollformen gegenüber. Hier seine Beispiele für die Verben esser und aveir 16 : Präsens Frageform Beispiele für Kurzformen esser ia sung sung ia? sunga en om? ,Bin ich ein Mann? ‘ te ist ist te? ist ainten steiva? ,Bist du in der Stube? ‘ 16 T HÖNI 1969: 25s. Wir verzichten auf die schwer nachvollziehbaren graphischen Hervorhebungen des Autors und vereinigen in einer Tabelle, was bei Thöni in vertikaler Abfolge steht. Als Hilfe für den Leser übersetzen wir die Beispiele. <?page no="164"?> 164 el è è el? è’l (el) davos tgesa? ,Ist er hinter dem Haus? ‘ ella è è ella? ella sen pegna? ,Ist sie auf dem Ofen? ‘ gl’è (igl è) è’gl (egl)? egl la tatta? ,Ist es die Großmutter? ‘ nous (nusischan nous ischan ainten steiva? ,Sind wir in der oters) ischan (nusoters)? Stube? ‘ vous (vusischas vous ischas lò? ,Seid ihr da? ‘ oters) ischas (vusoters)? els èn èn els? enigl sen igl tgar? ,Sind sie auf dem Wagen? ‘ ellas èn èn ellas? enigl a meisa? ,Sind sie am Tisch? ‘ aveir ia va va ia? vaia en auto? ,Habe ich ein Auto? ‘ te ast ast te? ast en tgaval? ,Hast du ein Pferd? ‘ el ò ò el? ò’l (ol) ena tgesa? ,Hat er ein Haus? ‘ ella ò ò ella? olla ena sora? ,Hat sie eine Schwester? ‘ gl’ò (igl ò) ò’gl (ogl)? ogl blers velos? ,Gibt es viele Fahrräder? ‘ nous (nusvagna nous? vainsa ena pegna? ,Haben wir einen oters) vagn Ofen? ‘ vous (vusvez vous? vez dus meisas? ,Habt ihr zwei Tische? ‘ oters) vez els on on els? onigl nigns frars? ,Haben sie (m.) keine Brüder? ‘ ellas on on ellas? onigl en’oura? ,Haben sie (f.) eine Uhr? ‘ In allen Paradigmen mit enklitischem Pronomen fällt dieses in der zweiten Person Singular und Plural weg. Auch im Surselvischen, wo die Verkürzung der unbetonten Pronomen viel weniger ausgeprägt ist, fehlt das nachgestellte ti/ vus sehr oft. L INDER 1987: 56 erwägt die Möglichkeit eines Einflusses der umgebenden deutschen Dialekte, wo das enklitische (und sogar das proklitische) Pronomen bei der 2. Person (Singular und Plural) ebenfalls häufig fehlt. Gesamthaft gesehen erweist sich das klitische Subjektspronomen in den verschiedenen bündnerromanischen Varietäten als formal und systematisch äußerst variiert. A. Widmer, der in seiner grundlegenden Untersuchung über das Personalpronomen im Bündnerromanischen ein reichhaltiges Material ausbreitet und sichtet, hält fest: „… aber das unbet. Personalpronomen entzieht sich durch seine satzphonetische Bedingtheit und in Mittelbünden durch eine gewisse ,décomposition linguistique‘ einem straffen System“ (W IDMER 1959: 52s.). Dennoch dürfte es sich lohnen, aufgrund dieses und weiteren Materials (v.a. Auswertung gesprochener Sprache) eine Gesamtdarstellung der jeweiligen Systeme in den einzelnen Dialektgbieten zu versuchen. Die Fälle einer Generalisierung gewisser Formen des klitischen Prono- <?page no="165"?> 165 mens (cf. oben p. 162) müßten auch in Zusammenhang gebracht werden mit der in verschiedenen Gebieten verschieden weit gehenden Generalisierung des reflexiven se 17 . Was die Einbettung der besprochenen bündnerromanischen Verhältnisse in einen größeren geographischen Raum angeht, zeigt es sich, daß sowohl die Reduktion klitischer Pronomina als auch der Formensynkretismus in zahlreichen Dialekten des oberitalienischen Raumes (einschließlich Dolomitenladinisch und Friulanisch) verbreitet sind 18 . Eine scharfe Grenze gegenüber dem Lombardischen entsteht jedoch dadurch, daß die dort übliche Reduplikation des Subjektspronomens vom Typus mi a canti im Bündnerromanischen völlig fehlt 19 . 17 Ein Ansatz bei G RISCH 1939: 193 und 215s. Zu einer gesamtromanischen Interpretation der Verallgemeinerung von SE cf. W UNDERLI 1989b. 18 Cf. H AIMAN / B ENINCÀ 1992: 182-205; M AIDEN / P ARRY 1997: 108-10. 19 Zum Lombardischen immer noch grundlegend S PIESS 1956. <?page no="167"?> 7. Das Bündnerromanische in der Romania 7.1 Vorbemerkung In diesem letzten Kapitel wird der Versuch unternommen, das Bündnerromanische in der Gesamtromania zu situieren. Viele Einzelzüge, die für dieses Thema relevant sind, kamen schon in den vorhergehenden Kapiteln zur Sprache. Hier sollen zusammenfassend die drei folgenden Themenkreise illustriert werden: 1) Das Bündnerromanische wird als großräumig der Galloitalia zugehörig charakterisiert. Daß es innerhalb dieses sprachgeographischen Raumes eine Sonderstellung einnimmt, machen die beiden folgenden Aspekte deutlich. 2) Das Bündnerromanische hat innerhalb der Galloitalia einen klar ausgeprägten Eigencharakter. Die Unterschiede zum südlich angrenzenden Lombardischen lassen sich weitgehend als Archaismen interpretieren, die der Randzonenlage des Gebiets und seiner spezifischen Geschichte zu verdanken sind. 3) Eine weitere Komponente, die das Bündnerromanische von den südlich angrenzenden Dialekten unterscheidet, ist die starke Prägung durch den jahrhundertealten intensiven Kontakt mit dem Deutschen (v.a. in der Form alemannischer Mundarten). 7.2 Zugehörigkeit zur Galloromania In der Diskussion um die „questione ladina“ und die Eigenständigkeit der rätoromanischen Mundarten geht oft die unbestreitbare Tatsache verloren, daß die bündnerromanischen Dialekte in ihren wesentlichen Zügen in den Raum der Galloromania integriert sind. Sie sind nicht etwas grundsätzlich anderes als die galloitalienischen Dialekte, sondern vielmehr das Resultat einer Sonderstellung innerhalb dieses Raumes, die sich einerseits in einer größeren Konservativität (Randzonenlage), andererseits aber auch in spezifischen Neuerungen niederschlägt, die ihre Erklärung in der eigenen, von der der Lombardei getrennten Geschichte der Region finden. Zu den Gemeinsamkeiten mit dem galloitalienischen Dialektraum gehören grundlegende Fakten im Bereich der Lautgeschichte wie die Sonorisierung (z.T. mit Weiterentwicklungen über Spirantisierung bis zum <?page no="168"?> 168 Schwund) der intervokalischen Okklusive oder der Fall sämtlicher Endvokale außer - A . ROTA > surs./ vall. roda ,Rad‘ DRACONE > vall. dragun ,Drache‘, surs. dargun ,Wildbach‘ MURU > surs. mir, vall. mür ,Mauer‘ CANTO > asurs. cant (surs. contel), vall. chant. Mit dem Lombardischen (und der gesamten Galloromania) teilt das Bündnerromanische auch die Palatalisierung von lat. U zu / y/ (z.T. mit Weiterentwicklungen): MURU > eng. mür, surm. meir (dialektal auch mekr), surs. mir DURU > eng. dür, surm. deir (dekr), surs. dir 1 . Auch die Palatalisierung von / K / , / G / vor / A / , die in den verschiedenen Mundarten des Bündnerromanischen je verschieden ausgeprägt erscheint, gehört zu den Zügen, die das Bündnerromanische mit der Galloromania verbinden. Lat. CANE ergibt wie fr. chien surs. tgaun [c ε un], surm. tgang [ca ŋ ], vall. chan [can]. Allerdings ist die Palatalisierung von / K / , / G / vor / A / durchaus nicht generell in Romanischbünden: In der Surselva fehlt sie weitgehend (cf. casa, gat, gategl ,Kätzchen‘), während sie in Mittelbünden meist an die Tonsilbe gebunden ist (surm. giat, aber gatel). Am verbreitetsten ist sie im Engadinischen (vall. giat und giattè) 2 . Übereinstimmungen mit den Verhältnissen in der südlich benachbarten Lombardei sind auch im Bereich der Lexik offensichtlich. Im schon zitierten Aufsatz „Zwischen Chur und Chiavenna: die Mitte Romanischbündens“ (S CHMID 1985a; cf. oben p. 160) hält H. Schmid fest, „daß ,Italien‘, das heißt vor allem die galloitalische Lombardei, an der Herausbildung oberengadinisch-mittelbündnerischer Sondermerkmale stark beteiligt war“ (97) und belegt diese Aussage durch lexikalische Beispiele (97-101). 7.3 Die Randlage des Bündnerromanischen Wenn wir nun dazu übergehen, charakteristische Züge zu beschreiben, durch die das Bündnerromanische sich von den lombardischen Mundarten unterscheidet, so wechseln wir zwar die Blickrichtung, nicht jedoch das Gesamtthema der Situierung des Rätoromanischen im galloromanischen Raum. Viele der Züge, die als spezifisch rätoromanisch gelten, lassen sich 1 Zum Alter des Lautwandels cf. E ICHENHOFER 1989: 85-95. 2 Die eingehendste Studie zum Problem ist S CHMID 1956. Der Autor vertritt die Auffassung, die Erscheinung habe sich von der Poebene aus nach Norden verbreitet. Für eine Zusammenfassung der einschlägigen Forschung cf. L IVER 1995a: 77s. Eine neue Beurteilung des Problems bei V IDESOTT 2001. <?page no="169"?> 169 nämlich auch in oberitalienischen Dialekten, vor allem in früheren Phasen, nachweisen, so daß sie, im Sinne der Raumnormentheorie von Matteo Bartoli, als Archaismen in einer Randzonenlage zu werten sind, in die gewisse Neuerungen nicht einzudringen vermochten. Am deutlichsten lassen sich diese Verhältnisse in Dialekten beobachten, die durch ihre geographische und historische Situation einen Übergang zwischen der archaischen Randzone des Rätoromanischen und der neuerungsfreundlichen Lombardei bilden, wie etwa dem Dialekt der Val S. Giacomo 3 und demjenigen des Bergells. Nach Walther v. Wartburg ist das bregagliot ein lombardisch überlagerter rätischer Dialekt 4 . Es würde den Rahmen eines Studienbuchs sprengen, wenn wir hier im Einzelnen auf diese Übergangsphänomene eingehen wollten. Wir werden jedoch in der folgenden Skizze, die archaische Züge des Bündnerromanischen beschreibt, gelegentlich auf Parallelen in den genannten Dialektgebieten hinweisen. Unter den Zügen, die immer wieder als für das rätoromanische Gebiet charakteristisch hervorgehoben werden (cf. oben p. 23s.), nimmt die Erhaltung des auslautenden -s eine hervorragende Stellung ein. Das gesamte Bündnerromanische (mit einer Ausnahme, auf die wir gleich zurückkommen) bildet den Plural im Nominalbereich auf -s, im Einklang mit der übrigen Westromania 5 . Daß die Erhaltung von -s durch die syntaktische Funktion gestützt wurde, zeigt sich darin, daß -s in Nominal- und Verbalendungen erhalten ist, während es in isolierten Wörtern vielfach geschwunden ist 6 : il mir < ILLU MURU ,die Mauer‘ - ils mirs < ILLOS MUROS ,die Mauern‘ ti contas < TU CANTAS ,du singst‘ vus canteis < VOS CANTATIS ,ihr singt‘ pli < PLUS ,mehr‘ mai < MA ( GI ) S ,nie‘. Die Erhaltung von -s in der zweiten Person bewirkt, daß sich im Bündnerromanischen (anders als im Italienischen und Französischen) der Imperativ vom Indikativ unterscheidet: conta! < CANTA ! ,sing! ‘ cantei! < CANTATE ! ,singt! ‘. 3 Zwischen Splügenpaß und Chiavenna, politisch zu Italien gehörig. Cf. Z AHNER 1989. 4 W ARTBURG 1919. 5 Nach der oft kritisierten, letztlich aber doch praktisch nützlichen Einteilung Walther v. Wartburgs. 6 Der Einfachheit halber geben wir im folgenden nur surselvische Beispiele. <?page no="170"?> 170 Zum Teil unterscheiden sich die bündnerromanischen Varietäten in der Erhaltung resp. Aufgabe von -s: surs. suts. surm. put. vall. MINUS meins mains (manc) (manc), main main FUNDUS funs funs fons fuonz fuond TEMPUS temps tains taimp temp temp NOS nus nus nous nus no VOS vus vus vous vus vo. Die erwähnte Ausnahme in der Pluralbildung, die sonst im Bündnerromanischen durchweg mittels -s erfolgt, betrifft die schwachen Partizipien des Perfekts im Surselvischen, die im m. einen i-Plural aufweisen (cf. oben p. 135): cumprau - cumprai (f. cumpradas) artau - artai (f. artadas) etc. Diese Insel von i-Pluralen in einem Meer der s-Plurale stellt insofern einen Archaismus in der Morphologie des Bündnerromanischen dar, als sie ein Stadium der Zweikasusflexion belegt, die der Generalisierung des Obliquus und damit des s-Plurals vorangegangen sein muß 7 . Einen weiteren Hinweis auf eine alte Zweikasusflexion, wie wir sie aus dem französischen Mittelalter kennen, liefert das oben (p. 134s.) beschriebene prädikative -s des surselvischen Adjektivs und Partizips: il caschiel ei buns ,der Käse ist gut‘ vs. in bien caschiel ,ein guter Käse‘. Spuren des Nominativs finden sich ferner (wie in anderen romanischen Sprachen) in Substantiven mit dem Merkmal [+ hum]: surs. um, eng. hom < HOMO ,Mann‘ surs. nevs, eng. neiv < NEPOS ,Neffe‘ surs. Spindrader, put. Spendreder, vall. Spendrader < * EXPIGNORATOR ,Erlöser‘ 8 . In der festen Wendung surs. ei catscha dis ,es wird Tag, es tagt‘ lebt der lat. Nominativ DIES weiter, während das freie Appellativum di ,Tag‘ auf den Obliquus DIEM zurückgeht. Auch in der Verteilung von surs. Dieus < DEUS und Diu < DEUM ist das Fortleben des Nominativs weitgehend an feste Formeln gebunden: Dieus pertgiri! ,Gott behüte! ‘ vs. il bien Diu ,der liebe Gott‘ 9 . In den deutsch-romanischen Doppelformen von Ortsnamen vom Typus Truns (deutsch)/ Trun (rätoromanisch), Brigels/ Breil, Flims/ Flem etc. hat H. 7 Cf. L IVER 1995b. Zu analogischen i-Pluralen im altsurselvischen Schrifttum cf. L IVER 1986. 8 Cf. J UD 1973: 208. 9 Hierzu ausführlich L IVER 1997a. <?page no="171"?> 171 Schmid die Formen auf -s als alte Nominative erklärt (S CHMID 1951: 42-63) 10 . Während alle genannten Fälle in der heute lebendigen Sprache nur noch als erstarrte Relikte eines ursprünglichen Nominativs anzusehen sind, stellt die geschlechtsneutrale Form des Subjektspronomens der 3. Person Plural, surs. ei < ILLI , surm./ vall. i, put. a, von der oben (p. 138s.) die Rede war, einen echten Nominativ dar: das Pronomen kann nur in Subjektsfunktion verwendet werden. Die Erhaltung von - S , vor allem in morphosyntaktisch relevanter Position, ist bestimmt der stärkste der altgalloitalienischen Züge, die das Rätoromanische zäher bewahrt hat als die angrenzenden lombardischen Dialekte. Er prägt die Pluralbildung der Nomina und einen Teil der Verbalflexion. Über Spuren einer Erhaltung von -s in mittelalterlichen und modernen Dialekten Oberitaliens orientiert P ELLEGRINI 1991: 34s. In der Val S. Giacomo und im Bergell fehlt der Plural auf -s völlig; dagegen finden sich im Bergell Spuren einer Erhaltung von - S in der Verbalflexion: die 2. Person Plural Indikativ Imperfekt lautet [u k ɐ n t ε : v ɐ s] ,voi cantavate‘, dieselbe Person des Konjunktivs Imperfekt (oder Konditionals) [s u k ɐ n tas ɐ s] im oberen, [s u k ɐ n tes ɐ s] im unteren Bergell 11 . Als Archaismus in gesamtromanischer Sicht kann auch die Struktur der irrealen hypothetischen Periode im Bündnerromanischen gewertet werden: Sche jeu havess raps avunda, cumprass jeu ina casa ,Wenn ich genug Geld hätte, würde ich ein Haus kaufen‘. Wie im klassischen Latein erscheint das Verb der Protasis in derselben Form wie das der Apodosis (si haberem…emerem), anders als im modernen Italienischen und Französischen, wo in den Teilsätzen jeweils unterschiedliche Verbformen auftreten: se avessi…comprerei si j’avais…j’achèterais. Die Symmetrie zwischen Haupt- und Nebensatz findet sich, außer im Bündnerromanischen, auch im Rumänischen 12 und in süditalienischen Dialekten (ebenfalls Randzonen! ), und sie ist aus den mittelalterlichen Stufen des Französischen und des Okzitanischen bekannt. Nun ist ja die Form auf -ss, die im Bündnerromanischen in beiden Verben des irrealen Satzgefüges auftritt, von ihrer Funktion her hier in erster Linie ein Konditionalis (cf. oben p. 144ss.). Ein Konditionalis des italienisch/ französischen Typus ( CANTARE - HABUI / HABEBAM ) ist im Bündnerromanischen nicht 10 Weitere Beispiele für Zeugen einer Zweikasusflexion im Bündnerromanischen bei L IVER 1995a: 79. 11 S TAMPA 1934: 133. 12 Hier stehen beide Verbformen im Indikativ Imperfekt (cf. L AUSBERG 1972: 196). <?page no="172"?> 172 vorhanden, ebensowenig wie (in den konservativeren Varietäten Sursilvan und Sutsilvan) ein entsprechendes Futurum ( CANTARE - HABEO ) 13 . Untersucht man die irrealen hypothetischen Satzgefüge aufgrund der Auskünfte des AIS im Raum des Bündnerromanischen und im südlich benachbarten Lombardischen, ergeben sich im Hinblick auf die Einordnung des Bündnerromanischen in den größeren Dialektraum des Oberitalienischen einige bemerkenswerte Feststellungen. Wir gehen von den Karten 1613 „Lavoreremmo di più…“ und 1614 „…se fossimo pagati meglio“ des AIS (vol. VIII) aus. Daraus ergibt sich, vereinfacht zusammengefaßt, das folgende Bild. Im Bündnerromanischen herrscht ausnahmslos der beschriebene „archaische“ Typus, der in beiden Teilsätzen die Form aus -ss aufweist: nus lu vras ɐ n pi fec, ʃɐ nus fus ɐ n p ɐ gaj me ʎɐ r (Pt.1, Breil) 14 . Unter den südlich anschließenden Gebieten teilt einzig das Bergell diese Verhältnisse: um l ɐ u ra s d ɐ py, si m p ɐ gas ɐ n py ben (Pt. 45, Soglio; ähnlich Pt. 46, Coltura). Die übrigen alpinlombardischen Nachbargebiete weisen, immer in einer Grob einteilung, die beiden folgenden Typen auf, von denen der erste näher beim bündnerromanisch/ bergellischen, der zweite näher beim italienischen steht. Der erste dieser Typen gleicht insofern dem bündnerromanisch/ bergellischen, als die Verbform in beiden Teilsätzen dieselbe ist. Es ist die für einen großen Teil der Lombardei, insbesondere das Tessin, charakteristische Form des Konditionals, die auf einer Kontamination des „italienischen“ Typs (Infinitiv + konjugierte Form eines Vergangenheitstempus von HABERE ) mit dem „rätischen“ (Fortsetzung des Konjunktivs Plusquamperfekt) beruht 15 . Diesen Typus belegt der AIS für die Punkte 32 (Chironico, Leventina), 50 (Campo, Valle Maggia) und 216 (Vetto, Lanzada im Veltlin, nördlich von Sondrio) 16 . Hier das Beispiel aus Vetto: in lavur ɐ res py se, s in sa res pa ga py se. Der zweite im alpinlombardischen Nachbargebiet vertretene Typus kann als grundsätzlich dem italienischen entsprechend gewertet werden, insofern als 13 Cf. oben p. 144. 14 Wir schreiben die Zitate aus dem AIS und aus Z AHNER 1989 in die Notierung des API/ IPA um; da es hier nicht um phonetische Nüancen, sondern um morphosyntaktische Typen geht, scheint uns dieses Vorgehen vertretbar. 15 Zu den Voraussetzungen für diese Kontamination cf. T EKAVC ˇ IC ´ 1980/ II: 313s. 16 Für Pt. 205, Prestone in der Val S. Giacomo, gibt der AIS einen Beleg für den „italienischen“ Typus: Konditional im Hauptsatz, Konjunktiv Imperfekt im Nebensatz. Cf. aber Z AHNER 1989: 152: „Nelle frasi condizionali il congiuntivo imperfetto viene quasi sempre sostituito dal condizionale: se ti te ɐ v ɐ res ɐ t fam, ti te man ɐ res ɐ t (se avessi fame mangeresti)“. <?page no="173"?> 173 im Hauptsatz ein Konditional, im Nebensatz ein Konjunktiv Imperfekt steht. Der Konditional, der im Hauptsatz steht, weist wiederum drei verschiedene Formen auf: eine erste, die dem beschriebenen „Kontaminationstypus“ angehört, eine zweite auf -ía und eine dritte auf -ei. Wir geben für jede Form ein Beispiel. a lavor ɐ resum pjynd ɐ , s ɐ fysum mej pa gej (Pt. 31, Osco, Leventina) 17 u ŋ lavor ɐ resum b ε de piu, si n ε pa gas ɔ pi se (Pt. 44, Mesocco) 18 lu rɐ r ej de ply, se me pa ges ɐ n be ŋ (Pt. 209, Isolaccia, oberes Veltlin) 19 . Schematisch lassen sich die hier beschriebenen Typen von irrealen hypothetischen Satzgefügen wie folgt darstellen: I. HS = NS I.1. Form auf -ss (Bündnerromanisch und Bergell) I.2. Kond. auf -aress (Punkte 32, 50, 216) II. HS ≠ NS II.1. HS Kond. auf -aress, NS Konj. Impf. (Punkte 31, 41, 42, 51, 52, 53, 70, 205, 218) II.2. HS Kond. auf -ía, NS Konj. Impf. (Punkte 22, 44) II.3. HS Kond. auf -ei, NS Konj. Impf. (Punkte 58, 209). Die ausführliche Beschäftigung mit diesem Teilaspekt rechtfertigt sich dadurch, daß am Beispiel der irrealen hypothetischen Periode der stufenweise Übergang von einem archaischen Randzonenphänomen zu einer italienischen Innovation geographisch augenfällig belegt ist. Man könnte Typus I.1. rätisch, Typus I.2. archaisch alpinlombardisch und Typus II (in den verschiedenen formalen Ausgestaltungen) italienisch nennen 20 . Die Randzonenlage des Bündnerromanischen findet natürlich auch in lexikalischen Eigenheiten ihren Ausdruck. Oft ist es das in mancher Hinsicht konservative Surselvische, das ältere lateinische Wortschichten bewahrt, zum Teil weisen mehrere oder gar alle bündnerromanischen Varietäten eigenständige, vom angrenzenden Lombardischen abweichende Worttypen auf. Generell gilt aber auch in bezug auf die Lexik die schon verschiedentlich betonte Tatsache, daß die Grenze zwischen Bündnerromanisch und Alpinlombardisch durchläßig ist; manche Worttypen, die eine bündnerromani- 17 Demselben Untertypus gehören die Punkte 41, 42, 51, 53, 70, 71, 73, 205 und 218 an. 18 Gleicher Untertypus Pt. 22, Olivone. 19 Gleicher Untertypus Pt. 58, Poschiavo. 20 Am hier beschriebenen Beispiel wird die Problematik konventioneller grammatischer Terminologie eklatant deutlich. Wir sprechen für das Bündnerromanische von „Form auf -ss“, weil diese Form hier nicht mehr denselben Status hat wie die etymologisch entsprechende Form des Italienischen (Konjunktiv Imperfekt). Sie ist heute vielmehr fast ausschließlich ein „Eventualis“ (traditionell: Konditional). Cf. oben p. 145. <?page no="174"?> 174 sche Eigenheit zu sein scheinen, finden sich auch im Lombardischen, sei es in früheren Sprachzuständen, sei es in abgelegeneren Örtlichkeiten, die den von Süden (aus der Poebene) her eindringenden Neuerungen weniger offen standen. Wenn man sich mit der Charakteristik des Wortschatzes beschäftigt, muß man sich zudem bewußt sein, daß Wörter in besonderem Maße mit außersprachlichen (kulturellen, politischen) Gegebenheiten verknüpft sind und daß die Geschichte des Wortschatzes entsprechend aufwendige Einzeluntersuchungen erfordert. Wir beschränken uns auf einige Beispiele, die immer wieder zur Illustration der Originalität des bündnerromanischen Wortschatzes zitiert werden. Daß sich diese Worttypen zum Teil in anderen Randzonen der Romania wiederfinden, erstaunt nicht 21 . Lat. INCIPERE ,beginnen‘ lebt in surs. entscheiver, suts./ surm. antschever fort, während das Engadin den jüngeren Typus * COMINITIARE hat (put. cumanzer, vall. cumanzar), der auch italienisch, französisch und spanisch ist. Zu INCIPERE gehört dagegen auch rum. începe. Schon Ascoli (A SCOLI 1880-83: 409) betont die Originalität der „singolarissima triade ,albus‘ ,coccinus‘ e ,melinus‘“ der surselvischen Farbadjektive für ,weiß‘, ,rot‘ und ,gelb‘. Während alv (surs./ suts./ surm./ put.), alb (vall.) und tgietschen (surs.), cotschen (suts./ surm./ eng.) gesamtbündnerromanisch sind, deckt der Typus * MELINUS Romanischbünden mit Ausschluß des Unterengadins ab, das gelg hat: surs./ surm. mellen, suts. melen, put. mellan. Die gesamtromanischen Parallelen zu diesen drei Farbadjektiven, deren Etyma ihrerseits verschiedenen lateinischen Schichten und Varietäten angehören, sind unterschiedlich. ALBUS findet sich außer im Bündnerromanischen auch im Rumänischen als Farbadjektiv 22 , ferner in Italien und in Frankreich in Ortsnamen 23 . COCCINUS als Bezeichnung für ,rot‘ ist innerhalb der Romania auf das Bündnerromanische und das Dolomitenladinische beschränkt, findet sich jedoch (außer im Neugriechischen) auch im Albanischen und im Gälischen 24 . MELINUS schließlich, dessen etymologische Basis von den einen in einer Ableitung von MEL ,Honig‘, von den andern im Lehnwort aus dem Griechischen ME ¯ LINUS ,quittengelb‘ gesehen wird 25 , begegnet außerhalb des Bündnerromanischen nur noch im Sardischen, wo melinu eine Pferdefarbe (,falb‘) bezeichnet. Als lexikalische Besonderheiten des Bündnerromanischen kann man ferner die surs. Adverbien avunda ,genug‘, memia ,zuviel‘, vess ,schwierig‘ und 21 Cf. die differenzierte Darstellung von S CHMID 1993, auf die im nächsten Abschnitt zurückzukommen sein wird. Ferner S TEFENELLI 1979. 22 Cf. K RISTOL 1978: 52ss. 23 Cf. FEW 1: 64. 24 Cf. K RISTOL 1978: 159. 25 Für eine Diskussion der verschiedenen Erklärungen cf. L IVER 1980. Für M ELINUS ‚quittengelb‘ optiert HR s.v. mellen und E ICHENHOFER 1999: 95. <?page no="175"?> 175 nuidis ,ungern‘ anführen. Avunda (< * ABUNDA zu ABUNDE ) ist gesamtbündnerromanisch (mit Ausnahme des Münstertals, wo ,genug‘ abot heißt 26 ): surs./ suts. avunda, surm. avonda, eng. avuonda. Der Worttypus ist auch in der Leventina (onda, unda) und im Bergell belegt 27 . Übrigens begegnet er in der Schreibung afunda schon in der Einsiedler Interlinearversion (cf. oben p. 87 und 91). Memia (< * NIMIA zu NIMIS ) lautet suts. megnia, mengia, surm. mengia, put. memma (anders vall. massa). Der Typus scheint, abgesehen von aprov. nemias ,sehr‘, außerhalb Romanischbündens nicht vorzukommen 28 . Vess (< VIX ) ist auf die Sur- und Sutselva beschränkt; surm. aveissas dürfte unter dem Einfluß von anaveidas, der dortigen Entsprechung von surs. nuidis, entstanden sein 29 . Nuidis schließlich, das auf lat. INVITUS zurückgeht, findet sich in allen bündnerromanischen Varietäten (suts. nuidas, nuvidas, surm. anaveidas, eng. invidas) und zudem in verschiedenen oberitalienischen Dialekten 30 . Der Worttypus war in verschiedenen mittelalterlichen romanischen Sprachen verbreitet, so afr. envis, ait. invito, aspan. ambidos 31 . Berühmt und vielzitiert im Zusammenhang mit der Originalität des bündnerromanischen Wortgutes ist Juds Aufsatz „Zur Geschichte der bündnerromanischen Kirchensprache“ von 1919 (J UD 1973). Tatsächlich ist die Verschiedenheit der zentralen kirchensprachlichen Termini zwischen dem Bündnerromanischen und den angrenzenden lombardischen Dialekten eklatant. Die Erklärung für diese Situation liegt zweifellos, wie Jud betont, in der geschichtlichen und kirchlichen Sonderentwicklung Graubündens (cf. oben p. 77ss.). Wir greifen aus Juds Material einige Beispiele heraus, die die Unterschiede zwischen der Surselva und dem südlich angrenzenden Bleniotal (repräsentiert durch Olivone) illustrieren 32 . Obwaldisch Blenio (Olivone) Kirche baselgia gesa Kirchgemeinde pleif parókia Glocke zen campana Glockenturm clutgér campanín Friedhof sentéri scimentéri Sarg vaschi kesa da mört Küster callúster mónic, segrísta selig (verstorben) parmiert al me póer pa (it. povero) 26 Cf. DRG 1: 64. 27 Cf. DRG 1: 643. LSI 1: 96 s. s.v. aónda. 28 Cf. FEW 7: 143. 29 Cf. DRG 1: 589. 30 Cf. FEW 4: 803s. und AIS 8: 1613 Legende ungern (malvolentieri). 31 Cf. FEW 4: 803s. 32 Die von Jud (J UD 1973: 162) verwendeten Graphien, die zum Teil (für das Surselvische) von der heute offiziellen Schreibung abweichen, zum Teil (für Olivone) eine halb-phonetische Notierung darstellen, werden beibehalten. <?page no="176"?> 176 beten ura(r) prägä Pfingsten tschuncheismas pentakósta Fastnacht scheiver kärnävä. Zwei Konklusionen aus den minutiösen Einzeluntersuchungen zu den kirchensprachlichen Termini sind Jud besonders wichtig: 1) Graubünden liegt an einem Schnittpunkt italoromanischer und galloromanischer Einflüsse, was sich im bündnerromanischen Wortschatz spiegelt (J UD 1973: 178). 2) Romanischbünden bewahrt in seiner kirchensprachlichen Terminologie die Latinität des 4./ 5. Jahrhunderts, Zeitpunkt seiner kirchlichen Organisation, mit besonderer Treue (J UD 1973: 171). Auf Einzelheiten der immer noch grundlegenden Arbeit einzugehen, würde hier zu weit führen. Im Rahmen der Randzonentheorie sei einzig auf baselgia hingewiesen, das wie rum. biserica˘ nicht das in der übrigen Romania verbreitete E ( C ) CLESIA fortsetzt (cf. fr. église, ital. chiesa, span. iglesia), sondern das im 4. Jahrhundert aufgekommene Konkurrenzwort BASILICA33 . Im Blickpunkt der Kontinuität zwischen dem oberitalienischen Raum und der Rätoromania verdient festgehalten zu werden, daß Reflexe von BASILICA südlich der Alpen durchaus belegt sind, jedoch meist in einer pejorisierten Bedeutung (,casupola, casa vecchia e brutta‘) 34 . Ferner bezeugen zahlreiche Ortsnamen in Italien, Frankreich und der französischen Schweiz die Präsenz von BASILICA in einem weiteren Gebiet 35 . 7.4 Auswirkungen des Sprachkontakts mit dem Deutschen Die Sonderstellung des Bündnerromanischen innerhalb der Romania ist, wie wir gesehen haben, weitgehend durch seine Randlage bedingt. Nebst den besprochenen Archaismen innerhalb des ursprünglich lateinischen Sprachgutes sind jedoch auch die massiven Spuren, die der jahrhundertelange Kontakt mit dem benachbarten germanischen Sprachgebiet im Bündnerromanischen hinterlassen hat, für den besonderen Charakter der Sprache verantwortlich. Von den Ereignissen der externen Sprachgeschichte, die den intensiven Kontakt mit dem Deutschen (vor allem in der Form von alemannischen und tirolischen Mundarten) bedingten, war weiter oben (p. 78s. 80, 82s.) die 33 Dazu ausführlich (über Jud hinausgehend) A EBISCHER 1968. Zu zenn und clutger K AISER / L IVER 1985. 34 Cf. J UD 1973: 183. LSI 1: 243 s.v. basélga weist neben den pejorativen Bedeutungen auch die ursprüngliche Bedeutung ‚chiesa, tempio protestante‘ aus, vor allem für Breg. und Poschiavo. 35 Cf. J UD 1973: 181s. DRG 2: 230s. <?page no="177"?> 177 Rede. Hier soll mit einigen Beispielen die starke Prägung illustriert werden, die das Bündnerromanische durch den Einfluß des Deutschen erfahren hat. Heinrich Schmid behandelt in seinem Aufsatz „Romanischbünden zwischen Nord- und Südeuropa“ (S CHMID 1993) den Aspekt, um den es hier geht. Sowohl die grundsätzlichen Überlegungen zum Thema und die ausgewogene Haltung des Autors als auch das reichhaltige und differenziert kommentierte Beispielmaterial (vorwiegend aus der Lexik, zum Teil aus der Phraseologie) machen diesen Beitrag zu einer längst fälligen „mise à point“ in der Thematik des deutsch-rätoromanischen Sprachkontakts 36 . Schmid hält fest, daß trotz der doppelseitigen Orientierung Romanischbündens, die sich am augenfälligsten im Bereich des Wortschatzes zeigt, die Kernsubstanz der bündnerromanischen Lexik durchaus lateinisch ist (103s.). Ferner ruft er all denen, die in der massiven Präsenz der Germanismen nur eine Bedrohung und Denaturierung des Rätoromanischen beklagen, die (schon von Hugo Schuchhardt gemachte) Beobachtung in Erinnerung, daß Sprachmischung ein allgemein verbreitetes Phänomen ist, weitaus häufiger als „Sprachreinheit“, und daß die fremden Elemente auch als Bereicherung aufgefaßt werden können (113). Die Randlage Romanischbündens (darauf macht S CHMID 1993: 123 aufmerksam, und wir haben es im vorhergehenden Abschnitt mehrfach bemerkt) ist vergleichbar mit derjenigen Rumäniens, und zwar in doppelter Hinsicht: einerseits durch die in den beiden Sprachregionen oft übereinstimmende Erhaltung archaischer Elemente, andererseits durch die Offenheit für fremde Einflüsse, im Falle des Bündnerromanischen aus dem germanischen, in dem des Rumänischen aus dem slavischen Nachbargebiet. Eine noch engere Parallele ergibt sich zum Dolomitenladinischen, das wie das Bündnerromanische germanischen Einflüssen stark ausgesetzt ist, vor allem in seinen nördlich exponierten Teilen, dem Grödnerischen und dem Gadertalischen. Aus der Vielfalt der Phänomene, die als Spuren des deutsch-romanischen Sprachkontakts erkenntlich sind, greifen wir einige heraus. Die überaus zahlreichen Germanismen im bündnerromanischen Wortschatz staffeln sich in der Diachronie von der althochdeutschen Zeit bis in die Gegenwart. Während die älteren Entlehnungen selbstverständlich vom Sprecher nicht mehr als solche wahrgenommen werden, ist es bei den jüngeren schwierig, im Einzelfall zu entscheiden, ob ein Wort vom heutigen (durchweg zweisprachigen) Sprecher noch als fremd empfunden wird. Als sehr altes Lehnwort aus dem Germanischen wird DRG 7: 417 surs./ suts./ eng. glieud, surm. gliout ,Leute‘ (f.sg.: la glieud) von ahd. LIUT bezeichnet. Alt ist auch surs. uaul, suts. gòld, vòld, surm. gôt, eng. god ,Wald‘ von ahd. WALD . Im Unterschied zu LIUT , das offenbar nur gerade in Romanisch- 36 Cf. die Würdigung bei H OLTUS / K RAMER 1997: 531s. Weiteres zum deutsch-rätoromanischen Sprachkontakt bei D ECURTINS 1993/ I: 172-91 und L IVER 1989: 799s. <?page no="178"?> 178 bünden übernommen wurde, finden sich Reflexe von WALD appellativisch auch im mittelalterlichen Italien und Frankreich, in Ortsnamen in beiden Ländern 37 . In Graubünden dürfte das Wort jedoch aus dem Alemannischen entlehnt sein 38 . Aus der Liste der Germanismen, die Alexi Decurtins in seiner Untersuchung „Zum deutschen Sprachgut im Bündnerromanischen“ (D ECURTINS 1993/ I: 172-91) bespricht, nennen wir einige geläufige Wörter, die ein moderner Sprecher mit Sicherheit nicht als fremd erkennt, sowenig wie ein Italiener guardare oder guadagnare. Das gesamtbündnerromanische Verb lubir ,erlauben‘ (surm. lubeir) mit der Ableitung lubientscha ,Erlaubnis‘ (außer eng.) wird mit got. LAUBJAN (cf. dt. erlauben) in Verbindung gebracht 39 . Germ. WENKJAN lebt in surs. untgir, suts. guntgir, surm. untgeir, eng. guinchir ,ausweichen‘ fort, mit der Ableitung surs. untgida, eng. guinchida ,Ausweichstelle, Schneeflucht‘. Surs. scaffir, eng. s-chaffir ,schaffen‘ mit den surs. Ableitungen scaffider, scaffiment, scaffientscha, scaffiziun wird zu germ. SKAFJAN gestellt 40 . Die Integration der Entlehnungen aus dem germanischen Bereich ins Bündnerromanische zeigt sich in den häufigen Ableitungen von deutschen Stämmen mit romanischen Suffixen. Besonders verbreitet ist die Bildung von Verben auf -egiar, -iar (< - IDIARE ) mit einem germanischen Stammlexem. Die folgenden surselvischen Beispiele gehören unterschiedlichen Entlehnungsschichten an: baghegiar ,bauen‘ (von mhd. BUWEN ) 41 , malegiar ,malen‘, schenghegiar ,schenken‘ (jeweils mit den Subtraktivbildungen maletg ,Gemälde, Bild‘, schenghetg ,Geschenk‘), schazegiar ,schätzen‘. Die Präsenz von Ableitungen ist ein Indikator für die Integration von Entlehnungen. Wörter wie surs. buob ,Junge, Bub‘ oder pur ,Bauer‘ 42 , die von außen als „krude Germanismen“ erscheinen mögen, haben ein f. buoba ,Mädchen‘, pura ,Bäuerin‘ gebildet, daneben Kollektivbildungen wie buobanaglia ,Kinderbande‘, puraglia ,Bauernvolk‘ oder Diminutive wie buobet, puret, puranchel. Vom Adjektiv flissi ,fleißig‘ wurde das Abstraktum flissiadad ,Fleiß‘ abgeleitet, von taffer ,tapfer‘ tafradad ,Tapferkeit‘. Deutsche Adjektive auf -ig (schwdt. zum Teil auf -i) lauten im Bündnerromanischen auf -i, wie flissi, honzeli [hon tse: li] ,freundlich‘ (von dt. holdselig) 43 , hofli ,höflich‘ 44 , vieti ,wütend‘; letzteres wird auch adverbial gebraucht: vieti interessant ,rasend 37 Cf. FEW 17: 486. 38 Cf. DRG 7: 637. 39 D ECURTINS 1993/ I: 185. DRG 11: 478-81 s.v. lubir. 40 So D ECURTINS 1993/ I: 184. HR 705: SCAFFAN , SCAFFON . 41 Cf. DRG 2: 40. 42 Im Unterengadin wurde die tirolische Lautung paur übernommen. 43 Cf. DRG 8: 98. Dazu honzeliadad ,Freundlichkeit‘ und das Adverb honzeliamein. 44 Cf. DRG 8: 62s. Adverb hofliamein, Antonym malhofli ,unhöflich‘, Ableitung hofliadad ,Höflichkeit‘. <?page no="179"?> 179 interessant‘. Nur adverbial ist ualti ,ziemlich‘ (von dt. gewaltig resp. schwdt. gwaltig). Damit sind wir schon nahe bei den aus puristischer Sicht vielgeschmähten schon, aber, halt und ähnlichen Germanismen, die aus der bündnerromanischen (besonders der surselvischen) Umgangssprache heute nicht mehr wegzudenken sind. Eine besondere Art der Integration fremden Sprachguts ist die Lehnübersetzung. Seit Ascolis berühmter Formulierung „materia romana e spirito tedesco“ 45 ist dieser spezielle Aspekt des germanisch-rätoromanischen Sprachkontakts verschiedentlich behandelt worden, allerdings leider noch nie in einer umfassenden und exhaustiven Darstellung, wie D ECURTINS 1993/ I: 180 moniert. Wir greifen zwei Themenbereiche heraus. Der erste betrifft die Rechtsterminologie. Schon Ascoli (A SCOLI 1873: 94) hatte erkannt, daß asurs. derscher [ d ε r ə r] ,richten‘, derschader [d ɐ r a: d ə r] ,Richter‘, die in ihrer lautlichen Substanz zu lat. DIRIGERE (resp. * DERGERE ) gehören 46 , den Inhalt von dt. richten, Richter mit romanischem Material wiedergeben, eben „materia romana e spirito tedesco“. Der aus der Surselva stammende Rechthistoriker Pieder Tuor, der in seinem Aufsatz von 1927, „Ils documents giuridichs romontschs“, die Rechtsverhältnisse Graubündens vom Mittelalter bis in die Neuzeit darstellt, macht auf eine ganze Reihe von rätoromanischen Lehnübersetzungen aus dem Deutschen im Bereich des Rechts aufmerksam. Zum Teil geht diese germanisch geprägte Rechtsterminologie zurück auf die Zeit der politischen und kirchlichen Umorientierung Rätiens von Süden nach Norden, von der oben (p. 78s.) die Rede war. Einige Beispiele: surs. tschentament, eng. tschantamaint ist der Ausdruck, mit dem die rätoromanischen Statuten oder Dorfordnungen bezeichnet werden, die seit dem späten 16. Jahrhundert die älteren lateinischen oder deutschen Redaktionen ablösen 47 . Die Ableitung von tschentar ,setzen‘ (< SEDENTARE ) dürfte dem dt. Satzung nachgebildet sein. - Neben den genannten Ausdrücken derscher ,richten‘ und derschader ,Richter‘ stehen truar und truader, für die moderne Wörterbücher ebenfalls die Bedeutungen ,richten‘ und ,Richter‘ verzeichnen. Die terminologische Verschiedenheit spiegelt eine Eigenheit des mittelalterlichen deutschen Rechts: Der eigentliche Richter, Präsident des Gerichts, der das Urteil verkündet und vollstrecken läßt (derschader), wird unterschieden vom sognannten Urteilsfinder, sozusagen dem Untersuchungsrichter (truader), dem die Aufgabe zukam, das Recht zu „finden“ (truar) 48 . - ,Ehe‘ heißt surs. lètg, put. alach, vall. lai, was materiell lat. 45 A SCOLI 1880-83: 556. Ascoli teilt die lexikalischen Phänomene, die er behandelt, in 5 Sektionen ein: 1. Riduzione fonetica e formale di basi romane, 2. Materia romana e spirito tedesco, 3. Materia tedesca e forma romana, 4. Rude materia tedesca, 5. Problemi lessicali. 46 Cf. DRG 5: 169 und 171-73. 47 Cf. oben p. 103. 48 Cf. T UOR 1927: 17 (p. des Separatums). Zur Etymologie von fr. trouver und den Reflexen von TROPUS und TROPARE im Bündnerromanischen cf. L IVER 2001. <?page no="180"?> 180 LEGE fortsetzt, inhaltlich jedoch die Bedeutungsentwicklung nachvollzieht, die von ahd. EWA ,Sitte, Recht‘ zu ,Ehe‘ geführt hat 49 . Ein zweiter Bereich, in dem sich Lehnübersetzungen aus dem Deutschen in der zweisprachigen Gesellschaft Romanischbündens ständig neu im Gebrauch einstellen, ist derjenige der Fügungen aus Verb + Ortsadverb vom Typus (surs.) mirar suenter ,nachschauen, nachschlagen‘, sedar giu cun ,sich abgeben mit‘, curdar si ,auffallen‘ etc. Wenn auch das Phänomen an sich in oberitalienischen (und weiteren romanischen) Dialekten durchaus belegt ist 50 , läßt sich nicht übersehen, daß das Ortsadverb dort vor allem konkretlokale Bedeutung hat, während im Bündnerromanischen (wie im Deutschen) ein figurativer Gebrauch des Adverbs im Rahmen der Fügung (neben dem lokalen) äußerst verbreitet ist. Ähnliche Verhältnisse herrschen - einmal mehr - nur noch in denjenigen dolomitenladinischen Dialekten, in denen der Sprachkontakt mit dem Deutschen intensiv ist 51 . Der massive Einfluß der deutschen Nachbarsprache auf das Bündnerromanische, den wir bisher mit Beispielen aus der Lexik illustriert haben, tritt auch auf anderen Ebenen (Morphosyntax, Intonation) in Erscheinung. Da spezifische Studien zum Thema fehlen, beschränken wir uns auf wenige knappe Hinweise. Das Bündnerromanische weicht von den übrigen romanischen Sprachen darin ab, daß es die indirekte Rede im Konjunktiv wiedergibt (cf. oben p. 144): surs. El di ch’el seigi malsauns put. El disch ch’el saja amalo ,Er sagt, er sei kank‘. Die Vermutung liegt nahe, daß deutscher Sprachgebrauch für diese Moduswahl verantwortlich sei. Evident ist der Einfluß des Deutschen in zahlreichen Fällen, wo das Bündnerromanische in der Wortfolge vom sonstigen Usus der romanischen Sprachen abweicht. Das gilt vor allem für das Surselvische. Ein Musterfall ist die Sperrung von Hilfsverb und Partizip, zwischen die ganze Satzteile eingeschoben werden 52 ; aber auch die Vorwegnahme von Objekten und 49 Cf. D ECURTINS 1993/ I: 181. Hier auch kritische Überlegungen zu perdetga ,Zeuge‘, das ebenfalls oft im Rahmen der hier besprochenen Lehnübersetzungen aus dem Deutschen erklärt wird. 50 P FISTER 1998: 239 vermutet auch dort germanischen Einfluß, der in fränkischer Zeit stattgefunden hätte. 51 Cf. G SELL 1982. Zur Fügung Verb + Ortsadverb im Bündnerromanischen cf. S CHMID 1993: 130 N41. Eine eingehende Untersuchung der vielfältigen Fügungen mit aint liefert E BNETER 1984 (in: E BNETER 1993: 201-20). 52 Cf. S CHMID 1993: 130 N42. In der Tageszeitung „La Quotidiana” sind in den surselvischen Teilen Titel vom Typus: „Cun Mariano Tschuor ha Augustin Beeli discurriu“ (10.08.98) an der Tagesordnung, während die engadinischen Redaktoren diese Sperrung vermeiden: „Cun Rudolf Gasser ha discurrü Gion Peider Mischol“ (17.08.98). <?page no="181"?> 181 Umstandsbestimmungen oder die des Partizips in einem Satz im Perfekt sind an der Tagesordnung. Die folgenden Beispiele sind einem einzigen Artikel der bündnerromanischen Tageszeitung „La Quotidiana“ entnommen 53 : Contribuiu al success han in program musical attractiv … e l’atmosfera pascheivla ed emperneivla Dau l’entschatta ha la suletta gruppa grischuna presenta agl Open air „Slicky Hamp & the Swing Cats“ Buca reussiu da clamar il publicum ord la reserva eis ei alla secunda gruppa svizra „Span“ Imponiu ha denton era sia vusch da contralto Meins en fuorma pareva il cantadur Enrique Bundbury Per ina surpresa positiva ha la gruppa bernesa „Florian Art & Florenstein“ procurau. Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren. Wir schließen mit einer (mangels einschlägiger Untersuchungen) nicht belegbaren Beobachtung, die die Intonation (im umgangssprachlichen Sinn von Satzmelodie) betrifft. Fährt man (vor allem in surselvischem und mittelbündnerischem Gebiet) in der „Rhätischen Bahn“ und belauscht ein Gespräch im Nachbarabteil, braucht man oft einige Zeit, bis man sicher ist, ob da deutsch oder romanisch gesprochen wird. Die Satzmelodie des Bündnerromanischen gleicht sich bei vielen Sprechern immer mehr derjenigen des Bündnerdeutschen an. Dieser impressionistische Eindruck findet eine Bestätigung in einem in die Norm eingegangenen Einzelfall von Wortbetonung: Die Adverbien auf - MENTE (surs. -mein, eng. -maing) haben heute den Akzent ausnahmslos auf dem Wortstamm, nicht auf dem Suffix 54 . 7.5 Schluß Trotz wertvollen Einzelstudien zum Thema ist die Geschichte des Sprachkontakts zwischen dem Bündnerromanischen und dem Deutschen noch nicht geschrieben 55 . Sie war und ist für das Rätoromanische Graubündens wahrhaft schicksalhaft. Aber auch die Geschichte des Bündnerromanischen in seiner Gesamtheit bleibt noch immer eine Aufgabe der Forschung. Eine solche Darstellung müßte das Bündnerromanische in seiner spezifischen Situation beschreiben, als eine romanische Sprache am Rand des norditalienischen Raumes, mit dem es wesentliche Züge gemeinsam hat, von dem es sich gleichzeitig aber auch deutlich abhebt durch charakteristische Merkmale (Archaismen und Innovationen), die es seiner Randlage, seiner seit der 53 27.7.98: „Angélique Kidjo e Roger Chapman han carmalau varga 6000 persunas agl Open air Val Lumnezia“, von Martin Cabalzar. 54 Zur unterschiedlichen Betonung von Entlehnungen in den verschiedenen Regionen cf. S CHMID 1993: 121s. und 131 N71. 55 Im Artikel 468a des LRL, vol. 7, „Germanisch-romanische Sprachkontakte“, kommt das Bündnerromanische nur punktuell zur Sprache. <?page no="182"?> 182 Spätantike eigenen Geschichte und seiner Lage im Kreuzpunkt von nördlichen und südlichen Einflüssen verdankt. Ascoli diagnostizierte diese besondere Stellung des Bündnerromanischen mit dem ihm eigenen Scharfsinn; aber er gelangte zu einer pessimistischen Prognose: „… un linguaggio come doppio, in quanto si tratti di un corpo che perde l’anima sua propria per assumerne un’altra di affatto estranea“ 56 . Selbst wenn man sich der Gefahren bewußt ist, die die spezielle Situation des Bündnerromanischen (heute noch mehr als zu Ascolis Zeiten) mit sich bringt, kann man die Sache auch positiver sehen, etwa wie Alexi Decurtins: Diese Doppelsprache … kommt den Anforderungen an ein Kommunikationsmedium in einer Übergangslandschaft par excellence zwischen Nord und Süd in hohem Masse entgegen. Sie gestattet die Öffnung nach beiden Seiten. Offenheit und Beweglichkeit der Sprachträger waren m.E. mit ein Grund dafür, dass das Bündnerromanische trotz der Ungunst der Zeit sich in die Moderne hinüberretten konnte (D ECURTINS 1993/ I: 190). Der Tod des Bündnerromanischen ist schon oft prophezeit worden. Bisher hat diese originelle Sprache aber allen Prognosen zum Trotz überlebt, und es gibt Anzeichen dafür, daß ihre Vitalität in den Kerngebieten nach wie vor andauert. Sie kann offenbar auch mit einer neuen Seele leben, die sich mit dem alten Körper verträgt. 56 A SCOLI 1880-83: 407. <?page no="183"?> Bibliographie A EBISCHER , P. 1968: „Basilica, eclesia, ecclesia. Etude de stratigraphie linguistique“, in: ID ., Linguistique romane et histoire religieuse, Barcelona: 260-315 AIS = K. J ABERG / J. J UD , Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz, 8 vol., Zofingen 1928-40 A RQUINT , J.C. 1964: Vierv ladin. Grammatica elementara dal ladin d’Engiadina bassa, Tusan A RQUINT , J.C. 1979: Zur Syntax des Partizipiums der Vergangenheit im Bündnerromanischen mit Ausblicken auf die Romania, Chur (RR 3) A SCOLI , G.I. 1873: „Saggi ladini“, AGI 1: 1-556 A SCOLI , G.I. 1876: „Meyer e il francoprovenzale“, AGI 2: 385-95 A SCOLI , G.I. 1880-83: „Annotazioni sistematiche al Barlaam e Giosafat“, AGI 7: 365-612 ASRR = Annalas da la Società Retorumantscha (seit 1993 Annalas da la societad retorumantscha), 1886ss. B AUR , A. 1996: Allegra genügt nicht, Chur B EC , P. 1971: „Rhéto-frioulan“, in: ID ., Manuel pratique de philologie romane, vol. 2, Paris: 305-57 Bedeutende Bündner = Bedeutende Bündner aus fünf Jahrhunderten. Festgabe der Graubündner Kantonalbank zum Anlass des 100. Jahrestages ihrer Gründung 1870, 2 vol., Chur 1970 B EZZOLA , R.R. 1979: Litteratura dals rumauntschs e ladins, Cuira B EZZOLA , R.R./ T ÖNJACHEN , R.O. 1976: Dicziunari tudais-ch - rumantsch ladin, Cuoira B IERT , C. 1981: Il descendent/ Der Nachkomme, Zürich/ Köln B ILLIGMEIER , R.H. 1983: Land und Volk der Rätoromanen. Eine Kultur- und Sprachgeschichte, Frauenfeld (Originalausgabe: A Crisis in Swiss Pluralism, Den Haag 1979) B ISCHOFF , B./ M ÜLLER , I. 1954: „Eine rätoromanische Sprachprobe aus dem 10./ 11. Jahrhundert“, VRom. 14/ 1: 137-46 B LANKE , H. 1970: „Durich Chiampel 1510-1582“, in: Bedeutuende Bündner 1: 95-108 B OEHMER , E. 1885: „Verzeichniß Rätoromanischer Literatur“, RSt. 6: 109-238 B OURCIEZ , E. 1967: Eléments de linguistique romane, Paris B RANDSTETTER , R. 1905: Das schweizerdeutsche Lehngut im Romontschen, Luzern B ROSI , I. 1935: Der Irredentismus in der Schweiz, Basel B RUYNE , DE J. 1993: Spanische Grammatik, Tübingen B ÜHLER , K. 1982: Sprachtheorie, Stuttgart/ New York (UTB 1159) B ÜHLER , L. 1995: Chur im Mittelalter. Von der karolingischen Zeit bis in die Anfänge des 14. Jahrhunderts, Chur (Quellen und Forschungen zur Bündner Geschichte 6) B UNDI , M. 1964: Stephan Gabriel. Ein markanter Bündner Prädikant in der Zeit der Gegenreformation. Ein Beitrag zur politischen und Geistesgeschichte Graubündens im 17. Jahrhundert, Chur B UNDI , M. 1998: „Lungatg vegl sursilvan en litteratura e documents communals“, ASRR 111: 7-43 C ARATSCH , R. 1983: „Il commissari da la cravatta verda“, in: ID ., Ouvras, Zernez: 121-82 <?page no="184"?> 184 C ARIGIET , W. 1995: „Saver in lungatg: Teorias e lur verificaziun“, ASRR 108: 27-57 C ARIGIET , W./ C ATHOMAS , R ITA 1996: „Scola romontscha e bilinguitad“, ASRR 109: 9-25 C ATHOMAS , B. 1977: Erkundungen zur Zweisprachigkeit der Rätoromanen, Bern/ Frankfurt C ATHOMAS , R. 1995: „Il svilup dalla cumpetenza linguistica tier minoritads“, ASRR 108: 7-25 C ATHOMAS , R. 1997: „Survesta dallas cundiziuns da basa per il svilup dalla cumpetenza linguistica tier minoritads“, ASRR 110: 7-51 C ATRINA , W. 1983: Die Rätoromanen zwischen Resignation und Aufbruch, Zürich C AVIEZEL , E VA 1993: Geschichte von Verschriftung, Normierung und Standardisierung des Surselvischen, Bern (RR 10) C LAVADETSCHER , O. 1979: „Churrätien im Übergang von der Spätantike zum Mittelalter nach den Schriftquellen“, in: J. W ERNER / E. E WIG (ed.), Von der Spätantike zum frühen Mittelalter, Sigmaringen: 159-78 (Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte, Vorträge und Forschungen 25) C LAVADETSCHER , O. 1994: „Zum Problem der Schriftsprachen im mittelalterlichen Rätien“, ASSR 107: 59-63 C HERUBIM , D. 1975: Sprachwandel. Reader zur diachronischen Sprachwissenschaft, Berlin/ New York C ORAY , R ENATA 2008: Von der Mumma Romontscha zum Retortenbaby Rumantsch Grischun. Rätoromanische Sprachmythen, Chur C OSERIU , E. 1988: Einführung in die Allgemeine Sprachwissenschaft, Tübingen (UTB 1372) C URTIUS , R. 1954: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern D AHMEN , W. 1990: „Romontsch sursilvan da messa - Romontsch sursilvan da priedi. Zur Herausbildung und Entwicklung zweier Orthographiesysteme im Surselvischen“, in: W. D AHMEN et al. (ed.), Die romanischen Sprachen und die Kirchen, Tübingen: 145-56 D ARMS , G. 1989: „Bündnerromanisch: Sprachnormierung und Standardsprache“, in: LRL 3: 827-53 D ARMS , G. 1994: „Zur Schaffung und Entwicklung der Standardsprache Rumantsch grischun“, in: G. L ÜDI (ed.), Sprachstandardisierung. 12. Kolloquium der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften 1991, Freiburg (Schweiz) 1991: 3-21 D AZZI , A NNA -A LICE / G ROSS , M. 1989: „Lexikographie“, in: LRL 3: 897-912 D ECURTINS , A. 1958: Zur Morphologie der unregelmässigen Verben im Bündnerromanischen, Bern (RH 62) D ECURTINS , A. 1965: „Das Rätoromanische und die Sprachforschung“, in: D ECURTINS 1993/ I: 27-86 D ECURTINS , A. 1984: „Die Erforschung des Bündnerromanischen. Stand, Entwicklung, Sprachplanung (1950-1983). Eine Übersicht“, in: M ESSNER 1984: 257-88 D ECURTINS , A. 1993: I Rätoromanisch. Aufsätze zur Sprach-, Kulturgeschichte und zur Kulturpolitik. II Viarva romontscha. Contribuziuns davart il lungatg, sia historia e sia tgira, Cuira (RR 8-9) D ECURTINS , A. 2001: Niev vocabulari romontsch sursilvan-tudestg. Neues rätoromanisches Wörterbuch surselvisch-deutsch, Chur D ECURTINS , A. et al. 1977: Studis romontschs 1950-1977. Bibliographisches Handbuch zur bündnerromanischen Sprache und Literatur, zur rätisch-bündnerischen Geschichte, Heimatkunde und Volkskultur, mit Ausblicken auf benachbarte Gebiete. Vol. 1: Materialien, Cuera (RR1) D ECURTINS , C. 1888-1912: Rätoromanische Chrestomathie, Erlangen (13 vol.). Reprint und Register Chur 1983-86 <?page no="185"?> 185 D EGEN , R. 1986: „Die rätischen Provinzen des römischen Imperiums“, Jahrbuch 1986 der Historisch-antiquarischen Gesellschaft von Graubünden: 1-43 DEI = C. B ATTISTI / G. A LESSIO , Dizionario etimologico italiano, Firenze 1968 D EPLAZES , G. 1988: Funtaunas. Istorgia da la litteratura rumantscha per scola e pievel. Vol. 2: Da las refurmas a la revoluziun franzosa, Cuira D EPLAZES , G. 1990: Funtaunas. Istorgia da la litteratura rumantscha per scola e pievel. Vol. 3: Da la revoluziun franzosa a l’avertura litterara, Cuira D EPLAZES , G. 1991: Die Rätoromanen. Ihre Identität in der Literatur, Disentis D EPLAZES , G. 1993: Funtaunas. Istorgia da la litteratura rumantscha per scola e pievel. Vol. 1 (2. ed.; 1. ed. 1987): Dals origins a las refurmas, Cuira D EPLAZES , G. 1994: „Paun casa“, in: ID ., Ovras, vol. 3, Laax: 5-216 D IEKMANN , E. 1988: „Ergebnisse einer Umfrage im bündnerromanischen Sprachgebiet zur Akzeptanz des ‚Rumantsch grischun‘ als gesamtbündnerromanische Schriftsprache“, Ladinia 12: 233-67 D IEKMANN , E. 1990: „Deutsch-surselvische Interferenzprobleme im Bündnerromanischen“, in: P.H. N ELDE (ed.), Sprachkontakt und Sprachkonflikt, Wiesbaden (Beih. ZDL 32): 53-56 D IEKMANN , E. 1991: „Probleme und Aspekte von Kodifizierungsbemühungen des Bünderromanischen und Bericht über eine Umfrage zur Rezeption und Akzeptanz des Rumantsch Grischun als gesamtbünderromanischer Schriftsprache“, in: W. D AHMEN et al. (ed.), Zum Stand der Kodifizierung romanischer Kleinsprachen. Romanistisches Kolloquium V, Tübingen: 69-104 D IEKMANN , E. 1996: „Das Rätoromanische in der Schweiz“, in: R. H INDERLING et al. (ed.), Handbuch der mitteleuropäischen Sprachminderheiten, Tübingen: 335-84 DRG = Dicziunari rumantsch grischun. Ed. Società retorumantscha, Cuoira 1939ss. (bisher 12 vol.) E BNETER , T H . 1973: Das bündnerromanische Futur. Syntax der mit VENIRE und HABERE gebildeten Futurtypen in Gegenwart und Vergangenheit, Bern (RH 84) E BNETER , T H . 1981: Wörterbuch des Romanischen von Obervaz Lenzerheide Valbella. Romanisch - Deutsch. Deutsch - Romanisch. Vocabulari dil rumantsch da Vaz. Rumantsch - tudestg. Tudestg - rumantsch, Tübingen E BNETER , T H . 1993: Strukturen und Realitäten. Aufsätze zur Romanität Graubündens und Norditaliens, Basel/ Tübingen (RH 110) E BNETER , T H . 1994: Syntax des gesprochenen Rätoromanischen, Tübingen (Beih. ZPh. 259) E ICHENHOFER , W. 1989: Diachronie des betonten Vokalismus im Bündnerromanischen seit dem Vulgärlatein, Zürich (RR 6) E ICHENHOFER , W. 1999: Historische Lautlehre des Bündnerromanischen, Tübingen E ICHENHOFER , W. 2006: Die Stellung der Nomen-Nomen-Komposita in Rumantsch Grischun zwischen Deutsch und Italienisch, Tübingen E ICHENHOFER , W. 2007: „Profilo del retoromancio intorno alla Schesaplana“, RLR 71: 119-202 E ICHENHOFER , W. 2009: „Interne Sprachgeschichte des Bündnerromanischen: Laut- und Schriftsystem“, in: G. E RNST et al. (ed.), Romanische Sprachgeschichte. Ein internationales Handbuch zur Geschichte der romanischen Sprachen, 3. Teilband, Berlin/ New York: 2790-97 E LWERT , W.T H . 1977: „L’entità ladina dolomitica. La dimensione linguistica“, in: L. H EILMANN (ed.): L’entità ladina dolomitica. Atti del Convegno interdisciplinare (Vigo di Fassa, 10-12 settembre 1976), Vigo di Fassa: 99-118 <?page no="186"?> 186 E NGLER , R./ L IVER , R ICARDA (ed.) 1987: S IEGFRIED H EINIMANN , Romanische Literatur- und Fachsprachen in Mittelalter und Renaissance. Beiträge zur Frühgeschichte des Provenzalischen, Französischen, Italienischen und Rätoromanischen, Wiesbaden E RASMUS 1962: E RASMUS VON R OTTERDAM , Opera omnia. Vol. 6: Novum Testamentum, Leiden 1705. Nachdruck Hildesheim E RNI , C H . 1984: „Germanisierung in Rätien“, Bündner Monatsblatt: 197-231 F ERMIN , M ARIA H.J. 1954: Le vocabulaire de Bifrun dans sa traduction des quatre Evangiles, Amsterdam FEW = W. V . W ARTBURG , Französisches etymologisches Wörterbuch, Bonn 1928ss. FLNB = Liechtensteiner Namenbuch, ed. H. S TRICKER et al. Teil 1: Die Orts- und Flurnamen des Fürstentums Liechtenstein, 6 vol., Vaduz 1999. Teil 2: Die Personennamen des Fürstentums Liechtenstein, 4 vol., Vaduz 2008 F RANCESCATO , G. 1982: „Rhaeto-Friulian“, in: R EBECCA P OSNER / J.N. G REEN (ed.), Trends in Romance Linguistics and Philology, vol. 3, The Hague/ Paris/ New York: 131-69 F URER , J.-J. 1996: Le romanche en péril? Evolution et perspective, in: Statistique de la Suisse. Recensement fédéral de la population 1990, Berne F URER , J.-J. 2005: Die aktuelle Lage des Romanischen (Eidgenössische Volkszählung 2000), Neuchâtel F URER , J.-J. 2007: „Situazione attuale del romancio“, Ladinia 31: 55-106 G ABRIEL , L. 1648: Ilg Nief Testament da Nies Segner Jesu Christ, Mess giu en Rumonsch da la Ligia Grischa, Basel G ABRIEL , S T . 1768: Ilg ver sulaz da pievel giuvan, Cuera (5. Auflage) G ADOLA , G. 1950-58: „Historia litterara dil sentiment religius en Surselva de messa“, Ischi 36 (1950): 65-97; 37 (1951): 45-77; 38 (1952): 78-96; 41 (1955): 119-29; 44 (1958): 99-111 G ANZONI , A NNETTA 1995: Dumandas morfosintacticas dal rumantsch grischun. Inua mainan las differenzas sistematicas dal pronom persunel? , Bern (Ms.) G ANZONI , G.P. 1977: Grammatica ladina. Grammatica sistematica dal rumauntsch d’Engiadin’Ota, Samedan G ARTNER , T H . 1883: Raetoromanische Grammatik, Heilbronn (Reprint Schaan/ Liechtenstein 1982) G ARTNER , T H . 1904-06: „Die rätoromanischen Mundarten“, in: G. G RÖBER , Grundriß der Romanischen Philologie, vol. l, Straßburg: 608-37 G ARTNER , T H . 1910: Handbuch der rätoromanischen Sprache und Literatur, Halle (Saale) G ARTNER , T H . 1913 (ed.): Das Neue Testament. Erste rätoromanische Übersetzung von Jakob Bifrun 1560, Dresden (Gesellschaft für romanische Literatur 32) G AMILLSCHEG , E. 1961: „Zur Entstehungsgeschichte des Alpenromanischen“, in: ID ., Ausgewählte Aufsätze, vol. 2, Tübingen: 161-90 G AUDENZ , M. 1970: „Iachiam Bifrun 1506-1572“, in: Bedeutende Bündner, vol.1: 84-94 G AZDARU , D. 1962: „Un conflicto ,dialectológico‘ del siglo pasado. Contribución a la historia de la filología retorrománica“, Orbis 11: 61-74 G ENELIN , P. 1900: Germanische Bestandteile des rätoromanischen (surselvischen) Wortschatzes, Innsbruck G IGER , F. 1975: „La paragoga en la litteratura romontscha veglia“, ASRR 88: 63-82 G OEBL , H. 1984a: Dialektometrische Studien, 3 vol., Tübingen G OEBL , H. 1984b: „Sprachklassifikationen im Spannungsfeld zwischen Politik und Wissenschaft“, in: M ESSNER 1984: 207-44 G OEBL , H. 1986: „Typophilie und Typophobie“, in: H OLTUS / R INGGER 1986: 513-36 G OEBL , H. 1989: „Ladinisch. Areallinguistik. b) Synchronische und geotypologische Aspekte“, in: LRL 3: 742-56 <?page no="187"?> 187 G OEBL , H. 1990: „,Ma il distintivo necessario del determinato tipo sta appunto nella simultanea presenza o nella particolar combinazione di quei caratteri‘. Methodische und wissenschaftsgeschichtliche Bemerkungen zum Diskussionskomplex ,unità ladina‘“, Ladinia 14: 219-57 G RISCH , M ENA 1939: Die Mundart von Surmeir, Paris/ Zürich-Leipzig (RH 12) G RÜNERT , M. 2003: Modussyntax im Surselvischen. Ein Beitrag zur Erforschung der Morphosyntax des Verbs im Bündnerromanischen, Tübingen/ Basel (RH 122) G RÜNERT , M. 2005: „Bündnerromanische Schriftnormen. Volksspachliche und neolateinische Ausrichtungen in Romanischbünden zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und den 1930er Jahren, VRom. 64: 64-93 G RÜNERT , M. et al. 2008: Das Funktionieren der Dreisprachigkeit im Kanton Graubünden, Tübingen/ Basel (RH 127) G SELL , O. 1982: „Las rosas dattan ora… Verbalperiphrasen mit Ortsadverb im Rätoromanischen und im Italienischen“, in: S IEGLINDE H EINZ / U. W ANDRUSZKA (ed.), Fakten und Theorien. Festschrift für Helmut Stimm zum 65. Geburtstag, Tübingen: 71-85 H AIMAN , J./ B ENINCÀ , P AOLA 1992: The Rhaeto-Romance Languages, London/ New York H ALTER , T. 1960: Il cavalè dalla Greina, Mustér H EINIMANN , S. 1975: „Das altengadinische Vaterunser“, in: H EINIMANN 1987: 79-85 H EINIMANN , S. 1976: „Bifrun, Erasmus und die vorreformatorische Predigtsprache im Engadin“, in: H EINIMANN 1987: 86-101 H EINIMANN , S. 1987: cf. E NGLER / L IVER 1987 H ERMANN , J. 1990: Du latin aux langues romanes. Etudes de linguistique historique, Tübingen H ILTY , G. 1985: „Das Rätoromanische und die Berge“, Jahresberichte der Schweizerischen Akademie für Geistes- und Sozialwissenschaften, Bern: 15-24 H ILTY , G. 1986: „Gallus am Bodensee“, VRom. 45: 83-115 H ILTY , G. 2001: Gallus und die Sprachgeschichte der Nordostschweiz, St. Gallen H ILTY , G. 2008: „Wann wurde Graubünden wirklich romanisiert? “, in: G. B LAIKNER et al. (ed.), Ladinometria. Festschrift für Hans Goebl zum 65. Geburtstag. 2 vol., Salzburg etc. Vol. 1: 215-28 H OLTUS , G. 1989: „Bündnerromanisch: Externe Sprachgeschichte“, in: LRL 3: 854-71 H OLTUS , G. et al. (ed.) 1997: Italica et Romanica. Festschrift für Max Pfister zum 65. Geburtstag, Tübingen H OLTUS , G./ K RAMER , J. 1986: „,Rätoromanisch‘ in der Diskussion“, in: H OLTUS / R INGGER 1986: 1-88 H OLTUS , G./ K RAMER , J. 1987: „,Rätoromanisch‘ heute“, in: G. H OLTUS / J. K RAMER (ed.), ,Rätoromanisch‘ heute. Kolloquiumsakten Mainz, 20.12.1986, Tübingen: 3-25 H OLTUS , G./ K RAMER , J. 1991: „Neue Forschungen zur Romanität zwischen St. Gotthard und Adria“, in: J. K RAMER (ed.), Sive Padi ripis Athesim seu propter amoenum. Festschrift für G.B. Pellegrini, Hamburg: 23-48 H OLTUS , G./ K RAMER , J. 1994: „Neuere Arbeiten zum Bündnerromanischen, Dolomitenladinischen und Friaulischen (1989-1992), ASRR 107: 99-134 H OLTUS , G./ K RAMER , J. 1997: „Neue Forschungen zum Bündnerromanischen, Dolomitenladinischen und Friaulischen“, Mondo Ladino 21: 515-53 H OLTUS , G./ K RAMER , J. 2002: „Fünf Jahre Forschungen zum Bündnerromanischen, Dolomitenladinischen und Friaulischen (1996-2000)“, in: G. H OLTUS / J. K RAMER (ed.), Ex traditione innovatio. Miscellanea in honorem Max Pfister septuagenarii oblata, Darmstadt. Vol. 2: 3-54 H OLTUS , G./ K RAMER , J. 2005: „Bündnerromanische, dolomitenladinische und friaulische Forschungen 2001, 2002 und 2003“, Romania occidentalis 31: 33-61 <?page no="188"?> 188 H OLTUS , G./ R INGGER , K. (ed) 1986: Raetia antiqua et moderna. W.Th. Elwert zum 80. Geburtstag, Tübingen HR = R UT B ERNARDI et al., Handwörterbuch des Rätoromanischen. Wortschatz aller Schriftsprachen, einschliesslich Rumantsch Grischun, mit Angaben zur Verbreitung und Herkunft, 3 vol., Zürich 1994 H UBER , K. 1953: Der italienische Irredentismus gegen die Schweiz (1870-1925), Seengen H UBER , K. 1986 cf. RN H UBER , K./ I NEICHEN , G. (ed.) 1973: J. J UD , Romanische Sprachgeschichte und Sprachgeographie. Ausgewählte Aufsätze, Zürich/ Freiburg i. Br. H UBSCHMID , J. 1986: „Zur rätischen Sprachgeschichte“, Bündner Monatsblatt: 49-61 H UONDER , J. 1900: Der Vokalismus von Disentis, Erlangen I LIESCU , M ARIA / S ILLER -R UNGGALDIER , H EIDI 1985: Rätoromanische Bibliographie, Innsbruck (Romanica Aenipontana 13) Ischi = Igl Ischi. Organ della Romania, Basel/ Cuera/ Mustér 1897ss. J ENNI , W. 1970: „Johannes Comander 1484-1557“, in: Bedeutende Bündner 1: 62-79 J UD , J. 1917: „Ist das Bündnerromanische eine italienische Mundart? “, Bündner Monatsblatt: 129-43 J UD , J. 1919: „Zur Geschichte der bündnerromanischen Kirchensprache“, in: H UBER / I NEICHEN 1973: 129-43 J UD , J. 1973: cf. H UBER / I NEICHEN 1973 K AISER , P./ L IVER , R ICARDA 1985: „Zenn e clutger. Il lungatg da baselgia romontsch cun e suenter Jakob Jud“, ASRR 98: 31-47 K ATTENBUSCH , D. (ed.) 1987: R OBERT VON P LANTA , Aufsätze, Laax K ELLER , R. 1990: Sprachwandel. Von der unsichtbaren Hand in der Sprache, Tübingen (UTB 1567) K LEIBER , G. 1993: Prototypensemantik. Eine Einführung, Tübingen K RAAS , F RAUKE 1992: Die Rätoromanen Graubündens. Peripherisierung einer Minorität, Stuttgart K RAMER , J. 1971: „Gibt es eine rätoromanische Sprache? “, RRL 16: 189-201 K RAMER , J. 1972: „Abbozzo di una fonematica del sursilvano letterario“, RRL 17: 345- 57 *K RAMER , J. 1995: Rezension von H AIMAN / B ENINCÀ 1992, ZRPh. 111: 326-32 *K RAMER , J. 1996a: Rezension von E ICHENHOFER 1989, ZRPh. 112: 201-03 *K RAMER , J. 1996b: Rezension von T OMASCHETT 1991, ZRPh. 112: 363-65 K REFELD , T H . 1994: „Der surselvische Wortschatz, die questione ladina - und die quantitative Arealtypologie“, Ladinia 18: 261-88 K REFELD , T H . 2003: „Geschichte der Reflexion über die romanischen Sprachen: Friaulisch, Ladinisch, Bündnerromanisch“, in: G. E RNST et al. (ed.): Romanische Sprachgeschichte. Ein internationales Handbuch zur Geschichte der romanischen Sprachen, 1. Teilband, Berlin/ New York: 197-208 K RISTOL , A.M. 1978: Color. Les langues romanes devant le phénomène de la couleur, Berne (RH 88) K RISTOL , A.M. 1984: Sprachkontakt und Mehrsprachigkeit in Bivio (Graubünden). Linguistische Bestandesaufnahme in einer siebensprachigen Dorfgemeinschaft, Bern (RH 99) K RISTOL , A.M. 1989: „Bündnerromanisch: Soziolinguistik“, in: LRL 3: 813-26 K RISTOL , A.M. 1998: „Die historische Klassifikation der Romania III. Rätoromanisch“, in: LRL 7: 937-48 K UEN , H. 1968: „Einheit und Mannigfaltigkeit des Rätoromanischen“, in: Festschrift Walther v. Wartburg zum 80. Geburtstag, Tübingen: 47-69 <?page no="189"?> 189 Ladinia = Ladinia. Sföi culturâl dai Ladins dles Dolomites, San Martin de Tor, Piculin 1977ss. L ANG , J. 1982: Sprache im Raum. Zu den theoretischen Grundlagen der Mundartforschung. Unter besonderer Berücksichtigung des Rätoromanischen und Leonesischen, Tübingen (Beih. ZRPh. 185) L AUSBERG , H. 1967: Romanische Sprachwissenschaft. Vol. 2: Konsonantismus, Berlin (Sammlung Göschen 250) L AUSBERG , H. 1969: Romanische Sprachwissenschaft. Vol. 1: Einleitung und Vokalismus, Berlin (Sammlung Göschen 128/ 128a) L AUSBERG , H. 1972: Romanische Sprachwissenschaft. Vol. 3: Formenlehre, Berlin/ New York (Sammlung Göschen 7199) L IA R UMANTSCHA (ed.) 1985: Pledari rumantsch grischun - tudestg/ tudestg - rumantsch grischun e grammatica elementara dal rumantsch grischun, Cuira L IA R UMANTSCHA (ed.) 1989: Langenscheidts Wörterbuch Rätoromanisch. Rätoromanisch - Deutsch/ Deutsch - Rätoromanisch, Zürich L IA R UMANTSCHA (ed.) 1993: Pledari grond. Tudestg - rumantsch/ deutsch - romanisch, Cuira L IA R UMANTSCHA (ed.) 1996: Retorumantsch: Facts & Figures, Cuira L IA R UMANTSCHA (ed.) 2004: Rumantsch: Facts & Figures, Cuira L IGIA R OMONTSCHA (ed.) 1938: Bibliografia retoromontscha. Vol.1: 1552-1930, Chur L IGIA R OMONTSCHA (ed.) 1956: Bibliografia retoromontscha. Vol. 2: 1931-1952, Chur L ILIENCRON , R. V . (ed.) 1865-69: Die historischen Volkslieder der Deutschen vom 13. bis 16. Jahrhundert, Leipzig L INDER , P. 1987: Grammatische Untersuchungen zur Charakteristik des Rätoromanischen in Graubünden, Tübingen Litteratura = Litteratura. Novas litteraras. Ediu dalla Uniun da scripturs romontschs, Turitg 1978ss. L IVER , R ICARDA 1969a: Die subordinierenden Konjunktionen im Engadinischen des sechzehnten Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der rätoromanischen Schriftsprache, Bern (RH 78) L IVER , R ICARDA 1969b: „Zur Einsiedler Interlinearversion“, VRom. 28: 209-36 L IVER , R ICARDA 1972: „,La Sabgienscha‘, die altengadinische Ecclesiasticus-Übersetzung des Lucius Papa“, Bündner Monatsblatt: 4-45 L IVER , R ICARDA 1976: „Das Lauda Sion in der Consolaziun dell’olma devoziusa“, ASRR 89: 135-46 L IVER , R ICARDA 1980: „Zur Herkunft von bündnerromanisch mellen ,gelb‘“, ZRPh. 96: 125-28 L IVER , R ICARDA 1986: „i-Plurale im Altsurselvischen“, in: H OLTUS / R INGGER 1986: 391-406 L IVER , R ICARDA 1987: „Forschungen zum Bündnerromanischen heute und morgen“, in: P LANGG / I LIESCU 1987: 48-59 L IVER , R ICARDA 1989: „Bündnerromanisch: Interne Sprachgeschichte II. Lexik“, in: LRL 3: 786-803 L IVER , R ICARDA 1991: Manuel pratique de romanche. Sursilvan - vallader. Deuxième édition revue et corrigée, Cuira (première édition 1982) L IVER , R ICARDA 1993a: „Probleme der altsurselvischen Morphosyntax. Zum Desiderat einer Sprachgeschichte des Bündnerromanischen“, VRom. 52: 117-32 L IVER , R ICARDA 1993b: „Surselvische Wortbildung im Spannungsfeld des romanischdeutschen Sprachkontakts“, ASRR 106: 78-90 L IVER , R ICARDA 1993c: „Le démonstratif dans la Version interlinéaire d’Einsiedeln“, in: M ARIA S ELIG et al. (ed.), Le passage à l’écrit des langues romanes, Tübingen: 181-91 (ScriptOralia 46) <?page no="190"?> 190 L IVER , R ICARDA 1994: „Ecrire au Moyen Age. A propos d’une nouvelle interprétation de l’Indovinello veronese“, in: J ACQUELINE C ERQUILINI -T OULET / O. C OLLET (ed.), Mélanges de philologie et de littérature médiévales offerts à Michel Burger, Genève: 203-13 (Publications romanes et françaises 208) L IVER , R ICARDA 1995a: „Bündnerromanisch“, in: LRL 2/ 2: 68-81 L IVER , R ICARDA 1995b: „s final et formation du pluriel dans la Romania alpine“, in: L. C ALLEBAT (ed.), Latin vulgaire - latin tardif IV. Actes du 4 e colloque international sur le latin vulgaire et tardif (Caen, 2-5 septembre 1994), Hildesheim: 395-402 *L IVER , R ICARDA 1995c: Rezension von H AIMAN / B ENINCÀ , VRom. 54: 272-76 *L IVER , R ICARDA 1995d: Rezension von HR, VRom. 54: 176-79 L IVER , R ICARDA 1997a: „Dieus pertgiri! - Per l’amur da Diu! Zur angeblichen Erhaltung einer Kasusopposition im Bündnerromanischen“, in: H OLTUS 1997, vol. 2: 87-97 L IVER , R ICARDA 1997b: „Altengadinisch chavagl ,Sorgfalt‘“, VRom. 56: 58-62 L IVER , R ICARDA 2000: „Zur Entstehung bündnerromanischer Schriftsprachen (Engadin und Surselva)“, ASSR 113: 253-66 L IVER , R ICARDA 2001: „Die Etymologie von fr. trouver und die bündnerromanischen Reflexe von TROPUS und TROPARE “, VRom. 60: 117-27 L IVER , R ICARDA 2002: „Anmerkungen zur Würzburger Federprobe“, VRom. 61: 178-80 L IVER , R ICARDA 2003a: „Die Verben der sinnlichen Wahrnehmung im Bündnerromanischen“, VRom. 62: 67-85 L IVER , R ICARDA 2003b: „La formazione delle tradizioni scritte nel romancio dei Grigioni“, Medioevo romanzo 27: 243-56 L IVER , R ICARDA 2004: „Das Wortfeld der verbalen Kommunikation im Bündnerromanischen“, VRom. 63: 36-56 L IVER , R ICARDA 2005: „Zur Wortgeschichte von bündnerromanisch tedlar ‚hören, horchen‘“, in: S. K ISS et al. (ed.), Latin et langues romanes. Etudes de linguistique offertes à József Herman à l’occasion de son 80 ème anniversaire, Tübingen: 561-67 L IVER , R ICARDA 2007a: „Alpinromanische Wortgeschichten aus der Sicht des Bündnerromanischen“, in: W. D AHMEN / R. S CHLÖSSER (ed.): Sexaginta. Festschrift für Johannes Kramer, Hamburg: 207-19 L IVER , R ICARDA 2007b: „Rätoromanische Literatur in Graubünden im 16./ 17. Jahrhundert“, in: P. R USTERHOLZ / A. S OLBACH (ed.), Schweizer Literaturgeschichte, Stuttgart/ Weimar: 485-96 L IVER , R ICARDA 2009: „Interne Sprachgeschichte des Bündnerromanischen: Morphosyntax, Syntax, Lexik und Onomastik“, in: G. E RNST et al. (ed.), Romanische Sprachgeschichte. Ein internationales Handbuch zur Geschichte der romanischen Sprachen, Berlin/ New York: 2797-2810 L ORINGETT , S T . 1965: „La Sutselva a seas problems da lungaitg“, ASRR 78: 18-36 LRL = G. H OLTUS / M. M ETZELTIN / C HR . S CHMITT (ed.), Lexikon der Romanistischen Linguistik, Tübingen 1988-2005 (12 vol.) LSI = Lessico dialettale della Svizera italiana. Ed. Centro di dialettologia e di etnografia, Bellinzona (5 vol.) L ÜDTKE , H. 1955: „Zur Lautlehre des Bündnerromanischen“, VRom. 14: 223-42 L ÜDTKE , H. 1959: „Zur bündnerromanischen Laut- und Formenlehre“, RJb. 10: 19-33 L UTTA , M. 1923: Der Dialekt von Bergün und seine Stellung innerhalb der rätoromanischen Mundarten Graubündens, Halle (Saale) M AIDEN , M./ P ARRY , M AIR (ed.) 1997: The Dialects of Italy, London/ New York M AISSEN , A./ S CHORTA , A. 1945: Rätoromanische Volkslieder. Erste Folge: Die Lieder der Consolaziun dell’olma devoziusa. 1. Teil: Die Melodien. 2. Teil: Kritischer Text, Basel (Schriften der schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde 27/ 28) <?page no="191"?> 191 *M ANDACH , A. DE 1997: Rezension von G. G UIRAN / R. L AFONT , Le Roland ,occitan‘, VRom. 56: 374-82 M ANI , C. 1956: Igl mastral da la gaglegna, Cuira M ANI , C. 1977: Pledari sutsilvan. Rumantsch - tudestg/ Tudestg - rumantsch, Tusàn M EDIN , A. (ed.) 1892: La obsidione di Padua del MDIX. Poemetto contemporaneo, Bologna (Scelta di curiosità letterarie 144) M EDIN , A./ F RATI , L. (ed.) 1887-90: Lamenti storici dei secoli XIV, XV e XVI, Bologna (Scelta di curiosità letterarie 219, 226, 236) M ESSNER , D. (ed.) 1984: Das Romanische in den Ostalpen. Vorträge und Aufsätze der gleichnamigen Tagung am Institut für Romanistik der Universität Salzburg (6.- 8. Oktober 1982), Wien (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse, Sber. 442) M ETZ , P. 1992: Herbartianismus als Paradigma für Professionalisierung und Schulreform: ein Beitrag zur Bündner Schulgeschichte der Jahre 1880 bis 1930 und zur Wirkungsgeschichte der Pädagogik Herbarts und der Herbartianer Ziller, Stoy und Rein in der Schweiz, Bern etc. M OURIN , L. 1964: „Sursilvain et Engadinois anciens, et Ladin Dolomitique“, in: G. DE P OERCK / L. M OURIN , Introduction à la morphologie comparée des langues romanes, t. 4, Bruges M ÜLLER , I. 1942: Disentiser Klostergeschichte, Einsiedeln/ Köln M ÜLLER , I. 1951: „Zur surselvischen Barockliteratur im Lugnez und in der Cadi 1670- 1720“, Jber. der Historisch-antiquarischen Gesellschaft von Graubünden 81: 3-65 M ÜLLER , I. 1960: „Die sprachlichen Verhältnisse im Vorderrheintal im Zeitalter des Barocks“, Bündner Monatsblatt: 273-316 M ÜLLER , I. 1971a: Geschichte der Abtei Disentis. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Einsiedeln/ Zürich/ Köln M ÜLLER , I. 1971b: „Das rätische Schrifttum von Tello bis Campell“, in: ID ., Glanz des rätischen Mittelalters, Chur: 88-94 M URET , E. 1926: „Adverbes préposés à un complément de lieu dans les patois valaisans“, in: Festschrift Louis Gauchat, Aarau: 79-94 N ICKA , A. 1692: Cunfiert da l’olma cartenta ancunter la temma da la mort, Zürich Nüw gsangbüchle = Nüw gsangbüchle von vil schönen Psalmen und geistlichen liedern/ durch etliche diener der kirchen zuo Costentz vnn andertswo … zesamen gestellt, Zürich 2 1540 (Faksimileausgabe Zürich 1946) P EER , A. 1970: „Peider Lansel 1863-1943“, in: Bedeutende Bündner 2: 365-75 P EER , O. 1962: Dicziunari rumantsch ladin - tudais-ch, Samedan P ELLEGRINI , G.B. 1991: La genesi del retoromanzo (o ladino), Tübingen (Beih. ZRPh. 238) P ENSADO , C ARMEN 1995: „El complemento directo preposicional, estado de la cuestión y bibliografía comentada“, in: EAD . (ed.), El complemento directo preposicional, Madrid P FISTER , M. 1998: „Germanisch-romanische Sprachkontakte“, in: LRL 7: 231-45 P IETH , F. 1945: Bündnergeschichte, Chur *P LANGG , G. 1996: Rezension von E BNETER 1994, ZRPh. 112: 594-98 P LANGG , G./ I LIESCU , M ARIA (ed.) 1987: Akten der Theodor Gartner-Tagung (Rätoromanisch und Rumänisch) in Vill/ Innsbruck 1985, Innsbruck (Romanica Aenipontana 14) P LANTA , P.C. 1872: Das alte Rätien staatlich und kulturhistorisch dargestellt, Berlin P LANTA , R. V . 1920-25: „Die Sprache der rätoromanischen Urkunden des 8.-10. Jh.s“, in: A. H ELBOK (ed.), Regesten von Vorarlberg und Liechtenstein bis zum Jahre 1260, Bern/ Bregenz/ Stuttgart: 62-108 P LANTA , R. V . 1931: „Über die Sprachgeschichte von Chur“, in: K ATTENBUSCH 1987: 83- 104 <?page no="192"?> 192 P LANTA , R. v./ S CHORTA , A. 1939, 2 1979 cf. RN P LANTA -S AMEDAN , M ARIA DE 1937-38: „Il cudesch vegl da las Chartas da Schlarina da l’an 1584“, ASRR 51: 71-138; 52: 179-222 P LATTNER , P. (ed.) 1887-1890: Ulrici Campelli Historia Raetica, vol. 1/ 2, Basel (Quellen zur Schweizer Geschichte 8/ 9) Pledari grond cf. L IA R UMANTSCHA 1993 Pledari rumantsch grischun - tudestg/ tudestg - rumantsch grischun cf. L IA R UMANTSCHA 1985 *P OPOVICI , V ICTORIA 1995: Rezension von E BNETER 1994, RLiR 59: 224-30 P RADER -S CHUCANY , S ILVIA 1970: Romanisch Bünden als selbständige Sprachlandschaft, Bern (RH 60) P ULT , C H . 1912: „Über Ämter und Würden in Romanisch Bünden“, RF 32: 389-480 P ULT , C H . 1927: „Historische Untersuchungen über die sprachlichen Verhältnisse einiger Teile der Rätia Prima“, RLiR 3: 157-205 R AIBLE , W. 1992: Junktion. Eine Dimension der Sprache und ihre Realisierungsformen zwischen Aggregation und Integration, Heidelberg R IATSCH , C. 1998: Mehrsprachigkeit und Sprachmischung in der neueren bündnerromanischen Literatur, Chur (Beih. BM 8) R IATSCH , C. 2007: „Literatur der rätoromanischen Schweiz (18.-20. Jahrhundert)“, in: P. R USTERHOLZ / A. S OLBACH (ed.), Schweizer Literaturgeschichte, Stuttgart/ Weimar: 497-506 R IATSCH , C./ W ALTHER , L UCIA 1993: Literatur und Kleinsprache. Studien zur bündnerromanischen Literatur seit 1860, Disentis (RR 11/ 12) R ISCH , E. 1970: „Die Räter als sprachliches Problem“, Jahrbuch der schweizerischen Gesellschaft für Ur- und Frühgeschichte 55: 127-34 R ISCH , E. 1984: „Die Räter als sprachliches Problem“, in: R EGULA F REI -S TOLBA (ed.), Das Räterproblem in geschichtlicher, sprachlicher und archäologischer Sicht, Chur: 22-32 (Schriftenreihe des Rätischen Museums 28) RN = Rätisches Namenbuch. Vol. 1: Materialien, ed. R. V . P LANTA / A. S CHORTA , Paris/ Zürich-Leipzig 1939, 2 1979 (RH 8). Vol. 2: Etymologien, ed. A. S CHORTA , Bern 1964 (RH 63). Vol. 3: Die Personennamen Graubündens, mit Ausblicken auf benachbarte Gebiete, ed. K. H UBER , Bern 1986 (RH 101, 2 Teilbände) R OEGIST , E. 1979: „A propos de l’accusatif prépositionnel dans quelques langues romanes“, VRom. 38: 37-54 R OHLFS , G. 1952: Romanische Philologie, Heidelberg R OHLFS , G. 1975: Rätoromanisch. Die Sonderstellung des Rätoromanischen zwischen Italienisch und Französisch, München R UGGIERI , R.M. 1949: Testi antichi romanzi, Modena S ABATINI , F. 1963/ 64: „Tra latino tardo e origini romanze“, SLI 4: 140-59 S ALVI , G. 1985: „Soprasilvano“, in: L. R ENZI , Nuova introduzione alla filologia romanza, Bologna: 383-92 S ALVIONI , C. 1917: Ladinia e Italia. Discorso inaugurale letto l’11 gennaio nella adunanza solenne dell’Istituto Lombardo di scienze e lettere, Pavia S CHAAD , G. 1936: Terminologia rurale di Val Bregaglia, Bellinzona S CHLAEPFER , R. (ed.) 1982: Die viersprachige Schweiz, Zürich/ Köln S CHLAEPFER , R./ B ICKEL , H. (ed.) 2000: Die viersprachige Schweiz. Zweite, neu bearbeitete Auflage, Aarau etc. S CHMID , H. 1951: „Zur Geschichte der rätoromanischen Deklination“, VRom. 12/ 1: 21- 81 S CHMID , H. 1956: „Über Randgebiete und Sprachgrenzen“, VRom. 15/ 2: 19-80 <?page no="193"?> 193 S CHMID , H. 1976: „Zur Gliederung des Bündnerromanischen“, ASRR 89: 7-62 S CHMID , H. 1980: „An der Westgrenze des Rätoromanischen“, VRom. 39: 120-82 S CHMID , H. 1982: Richtlinien für die Gestaltung einer gesamtbündnerromanischen Schriftsprache Rumantsch grischun, Cuira S CHMID , H. 1985a: „Zwischen Chur und Chiavenna: die Mitte Romanischbündens“, ASRR 98: 49-107 S CHMID , H. 1985b: „Rumantsch Grischun - eine Schriftsprache für ganz Romanischbünden“, Ladinia 9: 171-201 S CHMID , H. 1989: „Richtlinien für die Gestaltung einer gesamtbündneromanischen Schriftsprache Rumantsch Grischun“, ASRR 102: 43-76 S CHMID , H. 1993: „Romanischbünden zwischen Nord- und Südeuropa“, ASRR 106: 102-33 S CHMID , M. 1970: „Martin Planta 1727-1772“, in: Bedeutende Bündner 1: 290-302 S CHORTA , A. 1934: „Ils vegls scripturs romontschs della Tumgliasca“, Calender per mintga gi: 29-39 S CHORTA , A. 1938: Lautlehre der Mundart von Müstair, Paris/ Zürich-Leipzig (RH 7) S CHORTA , A. 1959: „Il rumantsch-grischun sco favella neolatina“, ASRR 72: 44-63 S CHORTA , A. 1964 cf. RN S CHORTA , A. (ed.) 1965: Tschantamaints d’Engiadina Bassa, Chur (Rechtsquellen des Kantons Graubünden, Serie B) S CHORTA , A. (ed.), 1969: Tschantamaints d’Engiadin’Ota, da Bravuogn e Filisur, Chur (Rechtsquellen des Kantons Graubünden, Serie B) S CHORTA , A. 1988: Wie der Berg zu seinem Namen kam. Kleines rätisches Namenbuch mit zweieinhalbtausend geographischen Namen Graubündens, Chur S CHORTA -G ANTENBEIN , A. und B ERTA 1942: „Gian Travers. La chianzun dalla guerra dagl Chiaste da Müs“, ASRR 56: 7-60 S CHORTA , A./ L IVER , P. (ed.) 1980-85: Rechtsquellen des Kantons Graubünden, 4 vol., Aarau Schw. Id. = Schweizerdeutsches Idiotikon. Wörterbuch der Schweizerdeutschen Sprache, Frauenfeld 1881ss. Schweizer Lexikon = Schweizer Lexikon, Luzern 1991-93 S EGRE , C. 1974: Lingua, stile e società. Studi sulla storia della prosa italiana, Milano S ERIANNI , L. 1993: „La prosa“, in: L. S ERIANNI / P. T RIFONE , Storia della lingua italiana. Vol. 1: I luoghi della codificazione, Torino: 451-577 S ILLER -R UNGGALDIER , H EIDI / V IDESOTT , P. 1998: Rätoromanische Bibliographie 1985-1997, Innsbruck (Romanica Aenipontana 17) S OLÈR , C. 1983: Sprachgebrauch und Sprachwandel. Eine theoretische Faktorenanalyse und die Pragmatik der Sprachbehandlung bei den Rätoromanen von Lumbrein. Mit einem Vergleich der Germanisierung in Präz und Sarn, Zürich S OLÈR , C. 1990: „Germanisierung der Romanischsprecher am Hinterrhein. Sprachwechsel - Sprachwandel“, in: P.H. N ELDE (ed.), Language Conflict and Mi-norities/ Sprachkonflikte und Minderheiten, Bonn: 109-19 S OLÈR , C. 1994: „Il romontsch - bia variaziun ell’unitad“, ASRR 107: 173-85 S OLÈR , C. 1998: „Sprachkontakt = Sprachwechsel. Deutsch und Romanisch in Graubünden“, in: I. W ERLEN (ed.), Mehrsprachigkeit im Alpenraum, Aarau: 149-63 S OLÈR , C. 2008: „Spracherhaltung Rätoromanisch - die Quadratur des Kreises? Sprachliche und außersprachliche Aspekte“, Ladinia 32: 129-45 S OLÈR , C./ E BNETER , T H . 1983: Romanisch und Deutsch am Hinterrrhein/ Gr. Schweizer Dialekte in Text und Ton. Phonogrammarchiv der Universität Zürich. Vol. 1: Heinzenberg/ Mantogna: Romanisch, Zürich <?page no="194"?> 194 S OLÈR , C./ E BNETER , T H . 1988: Romanisch und Deutsch am Hinterrhein/ Gr. Schweizer Dialekte in Text und Ton. Phonogrammarchiv der Universität Zürich. Vol. 3: Romanisch im Domleschg, Zürich S ONDER , A./ G RISCH , M ENA 1970: Vocabulari da Surmeir. Rumantsch - tudestg/ tudestg - rumantsch, Coira S ONDEREGGER , S T . 1979: „Die Siedlungsverhältnisse Churrätiens im Lichte der Namenforschung“, in: J. W ERNER / E. E WIG (ed.), Von der Spätantike zum frühen Mittelalter, Siegmaringen: 219-54 S PESCHA , A. 1973: Wind und Wetter. Die meteorologischen Erscheinungen im Wortschatz einer Bündner Gemeinde (Pigniu/ Panix), Chur S PESCHA , A. 1989: Grammatica sursilvana, Cuera S PIESS , F. 1956: Die Verwendung des Subjektspersonalpronomens in den lombardischen Mundarten, Bern (RH 59) S TÄHELIN , F. 1931: Die Schweiz in römischer Zeit, Basel S TAMPA , G.A. 1934: Der Dialekt des Bergells. 1. Teil: Phonetik, Aarau S TEFENELLI , A. 1979: „Zur Latinität des rätoromanischen Wortschatzes“, Ladinia 3: 50- 56 S TIMM , H. 1973: Medium und Reflexivkonstruktion im Surselvischen, München S TIMM , H. 1976: „Zu einigen syntaktischen Eigenheiten des Surselvischen“, in: W.T H . E LWERT (ed.), Rätoromanisches Kolloquium Mainz, Innsbruck: 31-54 (Romanica Aenipontana 10) S TIMM , H. 1986: „Die Markierung des direkten Objekts durch a im Unterengadinischen“, in: H OLTUS / R INGGER 1986: 407-48 S TIMM , H. 1987a: „Die Syntax in der bündnerromanischen Grammatik“, in: H OLTUS / K RAMER 1987: 95-103 S TIMM , H. 1987b: „Ist der präpositionale Akkusativ des Engadinischen ein Dativ? “, in: P LANGG / I LIESCU 1987: 145-73 S TIMM , H. / L INDER , P. 1989: „Bündnerromanisch: Interne Sprachgeschichte I. Grammatik“, in: LRL 3: 764-85 S TRICKER , H. (ed.) 1978: Studis romontschs 1950-1977, vol. 2: Register, Cuera (RR 2) S TRICKER , H. 1981: Die Sprachlandschaft Rheintal, St. Gallen (Schriftenreihe der Gesellschaft Schweiz-Liechtenstein 4) S TRICKER , H. 1986: „Romanisch und Deutsch im Schanfigg (GR)“, VRom. 45: 55-82 S TRICKER , H. 1989: „Bündnerromanisch: Interne Sprachgeschichte III. Onomastik“, in: LRL 3: 804-12 S TRICKER , H. 1999 und 2008 cf. FLNB T AGLIAVINI , C. 1982: Le origini delle lingue neolatine (sesta edizione), Bologna T EKAVC ˇ IC ´, P. 1972-74: „Abbozzo del sistema morfosintattico del soprasilvano odierno I“, Studia Romanica et Anglica Zagrebiensia 33-36 (1972/ 73): 359-488; „La morfosintassi del verbo soprasilvano II“, Studia Romanica et Anglica Zagrebiensia 37 (1974): 5-134 T EKAVC ˇ IC ´, P. 1981: „Il soprasilvano. Ritratto linguistico della maggiore delle varietà romance“, Ladinia 5: 271-91 T HÖNI , G.P. 1969: Rumantsch-Surmeir. Grammatica per igl idiom surmiran, Coira T OMASCHETT , C. 1991: Die Orts- und Flurnamen der Gemeinde Trun. Mit einem siedlungsgeschichtlichen Überblick, Trun/ Cuera TPMA = Thesaurus proverbiorum medii aevi. Lexikon der Sprichwörter des romanischgermanischen Mittelalters. Begründet von Samuel Singer, Berlin 1995-2002 (13 vol. + Quellenverzeichnis) T UOR , P. 1927: „Ils documents giuridichs romontschs“, Ischi 20: 1-48 <?page no="195"?> 195 T UTTLE , E.F. 1989: „Ladinisch: Areallinguistik. a) Allgemeine Problematik/ Problemi generali“, in: LRL 3: 733-42 U FFER , M ARGARITA 1995: „Metropola - ,all’italiana‘“, Litteratura 18: 43s. U LRICH , J. (ed.) 1906: Der engadinische Psalter des Chiampel, Dresden (Gesellschaft für romanische Literatur 9) V ARVARO , A. 1980: Storia, problemi e metodi della linguistica romanza, Napoli V ECCHIO , G. DEL 1960: Le valli della morente italianità. Il ladino al bivio. Nuova edizione con appendici, Firenze V IDESOTT , P. 2001: „La palatalizzazione di CA e GA nell’arco alpino orientale. Un contributo alla delimitazione die confini dell’Italia linguistica dell’anno 1000“, VRom. 60: 25-50 V IDOS , B.E. 1975: Handbuch der Romanischen Sprachwissenschaft, München V IELI , R./ D ECURTINS , A. 1962: Vocabulari romontsch. Sursilvan - tudestg, Mustér V INZENZ , V. 1983: Die romanischen Orts- und Flurnamen von Buchs und Sevelen, Buchs W ALSER , G. 1994: Studien zur Alpengeschichte in antiker Zeit, Stuttgart W ARTBURG , W. V . 1919: „Zur Stellung der Bergeller Mundart zwischen dem Rätischen und dem Lombardischen“, Bündner Monatsblatt: 329-48 W ARTBURG , W. v. 1950: Die Ausgliederung der romanischen Sprachräume, Bern W IDMER , A. 1959: Das Personalpronomen im Bündnerromanischen in phonetischer und morphologischer Schau, Bern (RH 67) W IDMER , A. 1980: „Igl accusativ preposiziunal el romontsch grischun“, ASRR 93: 7-14 W IESER , C. 1970: „Johann Travers 1483-1563“, in: Bedeutende Bündner 1: 43-61 W UNDERLI , P. 1966: „Zur Regression des Bündnerromanischen“, VRom. 25: 56-81 W UNDERLI , P. 1987: „Theodor Gartner und das bündnerromanische Demonstrativum“, in: P LANGG / I LIESCU 1987: 189-208 W UNDERLI P. 1989a: „L’explication de se omnipersonnel dans les langues romanes“, RLiR 53: 25-34 W UNDERLI , P. 1989b: „se omnipersonnel dans l’Aquilon de Bavière“, in: G. H OLTUS et al. (ed.): Testi, cotesti e contesti del franco-italiano, Tübingen: 80-111 W UNDERLI , P. 1989c: „Typologie - nichts als Probleme? “, in: U. K LENK et al. (ed.), Variatio linguarum. Festschrift für G. Ineichen, Stuttgart: 299-317 W UNDERLI , P. 1993a: „Requiem für eine heilige Kuh. Das ,Neutrum‘ im Surselvischen“, ASRR 106: 134-63 W UNDERLI , P. 1993b: „Das surselvische Verbalsystem. Die surselvischen Innovationen: Gesamtromanische Konvergenzen und Divergenzen“, in: J. S CHMIDT -R ADEFELDT / A. H ARDER (ed.), Sprachwandel und Sprachgeschichte. Festschrift für Helmut Lüdtke zum 65. Geburtstag, Tübingen: 261-78 W UNDERLI , P. 1997: „Surselvisch ei. Polysemie oder Homonymie? “, in: H OLTUS et al. 1997: 99-114 Z AHNER , G. 1989: Il dialetto della Val San Giacomo (Valle Spluga), Milano Z INSLI , P. 1946: Grund und Grat. Die Bergwelt im Spiegel der schweizerdeutschen Alpenmundarten, Bern Z INSLI , P. 1968: Walser Volkstum in der Schweiz, in Vorarlberg, Liechtenstein und Piemont, Frauenfeld