Grammatikalisierungsprozesse zwischen Latein und Iberoromanisch
0915
2010
978-3-8233-7564-7
978-3-8233-6564-8
Gunter Narr Verlag
Heiner Böhmer
Die entstehenden iberoromanischen Sprachen des Frühmittelalters sind uns überwiegend durch romanische Spuren in lateinischen Urkunden bekannt. Im Rahmen einer traditionellen Methodik wurden diese Spuren um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts in verschiedenen Beiträgen untersucht, u.a. in den Orígenes del español von Ramón Menéndez Pidal. Der vorliegende Band bietet, auf der Grundlage einer Verschränkung von Grammatikalisierungstheorie und Textlinguistik, eine umfassende Modernisierung des Themas. Dabei wird als tragender Hintergrund ein Gesamtmodell des Sprachwandels entwickelt. Zur Beschreibung dienen neuartige, zweidimensionale Visualisierungen lateinisch-romanischer Grammatikalisierungswege. Ob und inwieweit die lateinischen Urkunden überhaupt Belegkraft für die internen Wandelprozesse der Ausformung der iberoromanischen Sprachen besitzen. Dieser empirische Wert wird zu Gunsten einer abstrakten Rekonstruktion deutlich eingeschränkt.
<?page no="0"?> Grammatikalisierungsprozesse zwischen Latein und Iberoromanisch von Heiner Böhmer MIT CD-ROM <?page no="1"?> Grammatikalisierungsprozesse zwischen Latein und Iberoromanisch <?page no="2"?> 136 Herausgegeben von Paul Goetsch und Wolfgang Raible <?page no="3"?> Heiner Böhmer Grammatikalisierungsprozesse zwischen Latein und Iberoromanisch <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Satz: NagelSatz, Reutlingen Druck und Bindung: Hubert & Co, Göttingen Printed in Germany ISSN 0940-0303 ISBN 978-3-8233-6564-8 <?page no="5"?> meiner Mutter, deren verständnisvoller und geduldiger Unterstützung ich viel zu verdanken habe <?page no="7"?> Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI 1. Einleitung (mit einer Skizze der Forschungsgeschichte) . . 1 2. Schematische Darstellung der verschiedenen Gesichtspunkte der Untersuchung und der ihr zu Grunde liegenden Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung des grammatischen Sprachwandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 3.1 Grammatikalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 3.1.1 Übersicht über die verschiedenen Grammatikalisierungstheorien und Auswahl von maßgeblichen Elementen . . . . . . . 16 3.1.2 Das Modell von Lehmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 3.1.3 Zum semantischen Hintergrund von Grammatikalisierung . . . 39 3.1.4 Vorschlag zu einer umfassenderen Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . 57 3.1.5 Einordnung der Grammatikalisierung: Prozesstypen und Ursachentypen von Sprachwandel . . . . . . . . 74 3.1.6 Projektion der Grammatikalisierungskanäle auf ein Ebenenschema des Satzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 3.2 Grammatikalisierungswege, die vom Latein zum Romanischen führen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 3.3 Vorgänge des Wortstellungswandels im Vulgärlatein und den alt-iberoromanischen Sprachen . . . . . . . . . . . . . . 185 3.4 Hat Wortstellungswandel die morphosyntaktischen Verschiebungen bewirkt? Zur Theorie von Ángel López García . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 3.5 Zusammenfassung der Erträge dieses Kapitels . . . . . . . . . 203 4. Die sprachexterne Seite und die Beschränkungen der Aussagefähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 4.1 Der diskursive Rahmen von Sprachwandel aus einer allgemeinen Sicht - erster Aspekt: die Rolle von Diskurstraditionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 <?page no="8"?> Inhalt VIII 4.2 Zur Gattung „Urkunde“: Verwendungskontext, Globalstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . 212 4.3 Die Formelhaftigkeit der Urkunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 4.4 Ausblendung von Grammatikbereichen . . . . . . . . . . . . . . 251 4.5 Der lexikalische Bestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 4.5.1 Status der Wörter des Urkundenwortschatzes . . . . . . . . . . . . . . 254 4.5.2 Inhaltsfelder der Urkundensprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 4.5.3 Wortschatz und Grammatik - Einschränkungen der Aussagefähigkeit durch einen beschränkten Ausschnitt aus dem Gesamtwortschatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 4.6 Gäbe es bessere, alternative Belegtexte? - Ein Vergleich zwischen den Abweichungen in den Urkunden und dem grammatischen Gefüge anderer Gattungen des iberischen Mittellateins . . . . . . . . . . . . . . . 260 4.7 Der diskursive Rahmen von Sprachwandel aus einer allgemeinen Sicht - zweiter Aspekt: das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 266 4.8 Charakteristik der Urkundenteile nach Mündlichkeits- und Schriftlichkeitsmerkmalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 4.9 Diglossie im romanischen Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 4.10 Zu den Thesen von Roger Wright . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 4.11 Interferenz und Lateinfehler - Kompetenz und Performanz der Urkundenverfasser . . . 287 4.12 Zusammenfassung der Erträge dieses Kapitels . . . . . . . . . 301 5. Methodischer Exkurs: Bedingungen und Möglichkeiten der Rekonstruktion vergangener mündlicher Sprache . . 304 6. Analyse der sprachentwicklungsrelevanten Phänomene im Urkundenlatein der Iberischen Halbinsel . . . . . . . . . . 309 6.1 Die empirische Basis und einige methodische Bedingungen ihrer Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 6.1.1 Das untersuchte Korpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 6.1.2 Kriterien einer Markierung als sprachentwicklungsrelevante Abweichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 <?page no="9"?> Inhalt IX 6.1.2.1 Fehler, Abweichungen und Bezugsnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 6.1.2.2 Das Niveau des Lateins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 6.1.3 Schreiberfehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 6.2 Zeitliche Einordnung der beobachtbaren Abweichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 6.2.1 Die Periodisierung der lateinisch-romanischen Sprachgeschichte als Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 6.2.2 Typisierung der sprachentwicklungsrelevanten Phänomene . . 343 6.2.3 Versuch einer zeitlichen Einordnung der Urkundenbefunde . . 344 6.2.4 Entwicklung der Leitthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 6.3 Hinleitung zur Korpusanalyse: Einige Besonderheiten der Urkundensyntax . . . . . . . . . . . 360 6.3.1 Brechungen, Mischungen, Lockerungen im Satzbau als Interpretationsprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 6.3.2 Listenstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 6.3.3 Mündlichkeitsartige Techniken zur Rettung von Integration . . 371 6.3.4 Wortstellungsmuster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 6.4 Analyse der Spuren von Grammatikalisierungsprozessen in den Urkunden des Korpus . . . . . . . . . . . . . . . 383 6.4.1 Tempus, Modus, Diathese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 6.4.2 Kopula und Possessionsverb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 6.4.3 Kasus und Präpositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 6.4.4 Determinierer und Pronomina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 6.4.5 Eingebettete Prädikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 6.5 Zusammenfassung der Erträge dieses Kapitels . . . . . . . . . 492 7. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 8. Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 8.1 Notation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 8.2 Beispiele für Urkundenanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519 9. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 534 <?page no="11"?> Vorwort Die folgende Ausarbeitung ist ein Teilaspekt meiner Habilitationsschrift von 1998. Von dieser älteren Abhandlung trennen die vorliegende Arbeit zwei Schwerpunktsetzungen: Während die Habilitationsschrift auch romanische, nämlich altspanische, altkatalanische und galego-portugiesische Urkunden mit einbezog, werden in der hier vorgelegten Fassung nur lateinische Urkunden berücksichtigt; zweitens wahrte die ältere Untersuchung ein Gleichgewicht zwischen textlinguistischen und grammatischen Aspekten, wohingegen die gegenwärtige Schrift die grammatisch-typologischen Gesichtspunkte zu ihrem Hauptthema macht. Die jetzt herausgegebene Fassung wurde in vielfacher Hinsicht wegweisend, fördernd, aber auch kritisch gelenkt und hat ihre letztendlichen Wurzeln in diesen Einflüssen. An erster Stelle ist zu erwähnen, dass die maßgebliche Idee, die Analysen von Ramón Menéndez Pidal und Juan Bastardas Parera in einem textlinguistischen Zugang neu zu bearbeiten von Prof. Dr. Wolfgang Raible von der Universität Freiburg stammt, dem ich für die nachhaltige, immer inspirierende Betreuung während der Habilitationsphase sowie die Gesamtkonzeption großen Dank schulde. Raible war langjähriger Sprecher des Sonderforschungsbereichs 321 der Universität Freiburg („Übergänge und Spannungsfelder zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit“), in dessen Rahmen ich mitwirken durfte und vielfache Anregung und Hilfe erfuhr. Hier möchte ich besonders Barbara Job (Frank), Maria Selig, Ralph Ludwig, Daniel Jacob und Doris Tophinke erwähnen. Johannes Niehoff-Panagiotidis hat mich auf einschlägige Schriften der Geschichte des Römischen Rechts hingewiesen, deren Inhalte ich zum Teil mit ihm zusammen erarbeitet habe. Zu der Förderung durch den SFB 321 gehörte auch das Einscannen der Urkunden des Korpus. In diesem Zusammenhang ist ebenso der Beitrag des Archivo de la Corona de Aragón (Barcelona) sowie des Archivo Histórico Nacional (Madrid) zu erwähnen, die mir Zugang zu Original- Urkunden und Kopiensammlungen im Alter zwischen 1000 und 800 Jahren gewährten. Einen entscheidenden Beitrag zum Selbstverständnis der vorliegenden Arbeit erfuhr ich durch verschiedene Gespräche mit Prof. Dr. Hans-Martin Gauger, durch dessen Hinweise ich zu einem klärenden Urteil über die mathematisierenden und methodologischen Anteile sowie die letztendlichen Ziele der Arbeit gekommen bin. An einer vorderen Stelle sind allerdings auch die kritischen Stimmen zu nennen, die mich dazu brachten, den etwas heterogenen und in Bezug auf die Erkenntnismöglichkeiten vergangener romanischer Mündlichkeit zu optimistischen Entwurf der Habilitationsschrift in eine entschieden rekonstruktiv-schematisierende, auf Grammatikalisie- <?page no="12"?> Vorwort XII rung spezialisierte Form umzugießen. In erster Linie ist hier Prof. Dr. Dieter Wanner von der Universität Columbia zu erwähnen, der als Verfasser des Drittgutachtens und auch schon während seines Aufenthalts als Humboldt- Stipendiat an der Universität Freiburg im Studienjahr 1994/ 95 sowie danach indirekt durch seine Schriften mein Verständnis der Erkenntnismöglichkeiten der Arbeit weiter geklärt und in besonderem Maße zu deren thematischer Konzentration beigetragen hat. Sehr wichtig wurden für mich ferner die kritischen Hinweise, die ich aus der Sektionsarbeit und dem Band zur Altspanisch-Sektion des Hispanistentages in Berlin 1999 mitgenommen habe. Vor allem die Beiträge von Daniel Jacob, Mario Barra Jover sowie die fruchtbare mündliche Kritik von Johannes Kabatek, Maria Selig und Wulf Oesterreicher an einem radikal-optimistischen Versuch der Rekonstruktion vergangener Mündlichkeit, den ich in der damaligen Sektion vorstellte, haben eine Wende zu einem entschieden schematisierenden Denken weg von einer nicht realisierbaren illustrativen Konkretisierung eingeleitet. Zu danken habe ich ferner Stefan Pfänder und Ulrich Detges für anregende Debatten im Bereich der Theorien zum Sprachwandel, sowie Christian Lehmann, der sich offen für eine Diskussion seiner Revidierungen der ursprünglichen Grammatikalisierungstheorie zeigte und mich hier unterstützt hat. Schließlich möchte ich Wulf Oesterreicher danken, der mein Verständnis des Vulgärlateins durch verschiedene Diskussionen im Umkreis des Vulgärlatein-Kolloquiums von Caen 1994 geprägt hat. Trotz dieser recht früh einsetzenden Erweiterungen und Umschwünge hat die Vorbereitung der vorliegenden Publikation noch einige Jahre in Anspruch genommen, da mir verschiedene Klärungen und Fortschritte im Vergleich zur Habilitationsschrift erst im Laufe der Zeit gelungen sind. Eine andere Ursache liegt in der anhaltenden Diskussion um das Grammatikalisierungskonzept als Explicans des grammatischen Sprachwandels. Mittlerweile ist dieser Zugang aber soweit konsolidiert, dass seine breite Anerkennung in Linguistenkreisen gesichert erscheint. Zu danken ist nicht zuletzt dem Narr Verlag, der durch seine anhaltende logistische Wegbereitung in den Publikationen der ScriptOralia-Reihe die Verbreitung der Erkenntnisse des Netzwerks „Übergänge und Spannungsfelder zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit“ ermöglicht und auch die vorliegende Publikation fachkundig begleitet hat. Dresden, 15. Oktober 2009 Heiner Böhmer <?page no="13"?> 1. Einleitung (mit einer Skizze der Forschungsgeschichte) Das Frühmittelalter ist in der lateinisch-romanischen Sprachgeschichte derjenige Zeitabschnitt, in dem aus vagen Divergenzen zwischen den vulgärlateinischen Dialektgebieten deutliche Differenzen werden und durch Lautentwicklungen und unterschiedliche Substrat- und Superstratprägungen im Wortschatz mehrere romanische Dialektgruppen erwachsen, die weit stärker kontrastieren als zuvor. Es ist, vereinfacht gesagt, die Epoche der Entstehung der romanischen Sprachen. Welche Wandelprozesse sich hier im Einzelnen ereignet haben, kann nur erahnt werden. Im Gegensatz zu späteren Abschnitten der Geschichte, in denen volkssprachliche Texte zur Verfügung stehen, wird die mündliche Sprache des Frühmittelalters nicht in nennenswerter Fülle oder in einzelnen Veränderungen dokumentiert. Sie ist lediglich erschließbar: einerseits aus den allgemeinen Rekonstruktionslinien, die ein Vergleich des Romanischen mit dem Altlatein und klassischen Latein ergibt; andererseits aus Spuren in solchen lateinischen Texten, die der mündlichen Sprache nahe standen: vulgärlateinischen Texten aus dem römischen Reich sowie stark spätlateinisch geprägten Texten aus der ersten Hälfte des Mittelalters. Die Untersuchungen in diesem Feld, die meist beide Hinweise nützen, können keine Aussagen liefern, die eine vergleichbare Präzision erreichen würden wie diejenigen zu späteren Abschnitten der Entwicklung. Alles muss zwangsläufig allgemein, unsicher, vage bleiben. Diese Situation galt von den ersten Beiträgen an und wird bis zu jüngsten Untersuchungen immer wieder konstatiert. Ende des vergangenen Jahrhunderts hat etwa József Herman an Hand verschiedener Kerndaten eine Synthese der langfristigen Prozesse unternommen, durch die die romanischen Sprachen aus dem Sprechlatein entstanden sind (Herman 1998). Obwohl er die entscheidenden Schübe des Wandels mit relativ großer Genauigkeit markiert, versäumt er doch nicht auf die schwierigen Bedingungen hinzuweisen, die sich aus der nur teilweise durchsichtigen empirischen Basis ergeben (Ibid.: 5f.). Auch die vorliegende Untersuchung befasst sich mit einem solchen Zeitabschnitt: den drei Jahrhunderten zwischen dem Ende des achten und dem Ende des elften Jahrhunderts, in denen das entstehende Altspanische, Galego-Portugiesische und Katalanische lediglich durch die unbeholfen wirkende Sprachform einer größeren Menge lateinischer Urkunden hindurch zu erkennen sind. Das Thema geht letzten Endes auf die bahnbrechenden Forschungen Ramón Menéndez Pidals zurück. Nachdem die Forscher des 19. Jahrhunderts <?page no="14"?> 1. Einleitung 2 ihre Rekonstruktionstätigkeit überwiegend auf einen Vergleich zwischen Latein und Romanisch und das Studium der Daten aus den Texten des römischen Vulgärlateins gestützt hatten - Daten, die ihnen ja erst Aufschluss über die richtige Deutung der lateinisch-romanischen Beziehungen geben konnten - und das Frümittelalter in diese Rekonstruktion grosso modo mit einbezogen worden war, begann eine neuer Abschnitt, als verschiedene Romanisten sich erstmals mit Texten auseinandersetzten, aus denen die Entwicklungsschübe zwischen 500 und 800 bzw. 1100 abzulesen waren. Zu diesen Initiativen zählte auch das Werk, das Menéndez Pidal 1929 veröffentlichte: die Orígenes del Español. In diesem Maßstäbe setzenden Beitrag widmet sich der Autor dem Studium lateinischer Urkunden mit stark romanischen Spuren, Spuren, die zum Teil offenbar aus der Zeit der Abfassung der jeweiligen Urkunde stammen, zum Teil aber auch ältere Formen aus vorhergehenden Jahrhunderten aufgreifen und durch die Jahrhunderte hindurch bewahrt haben könnten, in Bereichen, in denen sich die Umgangssprache schon geändert haben musste. Die Mehrzahl dieser Urkunden ist im 11. Jahrhundert entstanden, einige der berücksichtigten Dokumente aber auch im 10. und im 12. Jahrhundert. In dem selben Buch hat Menéndez Pidal bekanntlich erstmals die ältesten Sprachdenkmäler des Spanischen ediert: die Glosas Emilianses und die Glosas Silenses, deren Entstehungszeit er noch in die Mitte des 10. Jahrhunderts setzte, für die man heute aber, auf Grund neuerer paläographischer Untersuchungen, die Mitte des 11. Jahrhunderts als Redaktionszeitraum annimmt (vgl. Roger Wright 1991: 177ff.), sowie die um 980 verfasste Noticia de kesos (s. Frank/ Hartmann 1997: Bd. V/ S. 443/ N. o 9059). Dies sind immerhin die einzigen vollständig romanischen Texte in dem Korpus der Orígenes, die lateinischen überwiegen. Diese werden in erster Linie hinsichtlich ihrer Spuren der romanischen Lautentwicklung analysiert. Im grammatischen Bereich dominiert die Suche nach den Varianten freier grammatikalischer Morpheme wie Artikel oder Präpositionen. Die hauptsächlichen Schlussfolgerungen, die Menéndez Pidal aus diesen Befunden zieht, betreffen die Herausbildung der iberoromanischen Sprachräume. Allerdings sind die Orígenes vor allem unter zwei spezielleren Aspekten berühmt geworden: einmal für die Herausgabe der Glosas, zum Zweiten für die These zum leonesischen Vulgärlatein. Besonders in den Urkunden Leóns glaubte der Autor, Nähe zum gesprochenen romance zu erkennen. Fest steht, dass dieses Subkorpus des Werks so dicht wie kein anderes lautliche Züge aufweist, die vom Latein abweichen, nämlich u.a. intervokalische Sonorisierung (abostolis statt apostolis), g-Verlust im Wortinneren (arientio für argenteus), Velarisierung und gleichzeitige Vokalisierung des / -l-/ (saltis statt sautis), Vereinfachung des / -mb-/ -Nexus zu / -m-/ (amobus für ambobus) (Menéndez Pidal 1986: 455f.). Pidal vermutet, dass in diesem Latein eine Form früherer Volkssprache, sogar der frühesten mittelalterlichen Mündlichkeit konserviert ist, die sich durch eine notarielle Stiltradition bis zum Ende des 11. Jahrhundert als Schriftform erhalten hätte (Ibid.: 457). <?page no="15"?> 1. Einleitung 3 Diese These vom leonesischen Vulgärlatein verbindet die Orígenes von 1929 mit einer Reihe ähnlich ausgerichteter, zeitgenössischer Werke zum merowingischen Latein Frankreichs (Lot 1931, Muller 1929, Pei 1932, Vielliard 1927). Henri F. Muller hatte Anfang der 1920 er Jahre eine Debatte über den Zeitpunkt des Übergangs vom Lateinischen zum Romanischen ausgelöst (Muller 1921), die zu einem verbreiteten Interesse an Texten des frühen Mittellateins, die im romanischen Raum entstanden waren, auslöste, wobei man diese Texte in der Absicht untersuchte, Spuren des Romanischen herauszufiltern. Stand hier zunächst Frankreich im Mittelpunkt, für das ein Übergang wegen der Sprachdenkmäler des 9. Jahrhunderts am deutlichsten bezeugt zu sein scheint, so ist es das Verdienst des Vaters der hispanistischen Sprachwissenschaft, den gleichen Zugang für den spanischen Sprachraum eröffnet zu haben. Die vorliegende Untersuchung reiht sich in diese Auseinandersetzung ein, will jedoch nicht die lautliche Entwicklung und die Differenzierung der Sprachräume in den Vordergrund stellen, sondern die morphosyntaktischen Wandelprozesse, da die Forschungslage in diesem Feld immer noch weniger gesichert ist als im Bereich des lateinisch-romanischen Lautwandels oder der stark romanisierten Lexik. Dies wird im Folgenden zu zeigen sein. Die These zum leonesischen Vulgärlatein wurde 1940 von Augustus Campbell Jennings in einer Studie zum Kartular der St.-Vinzenz-Kathedrale in Oviedo überprüft. Jennings hat die ersten 65 Urkunden der Sammlung untersucht, die einen Zeitraum vom frühen 9. Jahrhundert bis 1069 abdecken. Dabei versucht er, überall die Einflüsse (1940: IX ) der Volkssprache und des Schullateins auf dieses späte Vulgärlatein herauszuarbeiten (Ibid.: IX ). Im Bereich der Kasusanalyse hat Jennings auch nummerische Betrachtungen angestellt. So gibt er Tabellen, in denen Auszählungen von klassischen und volkstümlichen Kasusformen in den ersten fünf und den letzten fünf Urkunden seines Auswahlkorpus festgehalten sind. Er kommt zu dem Ergebnis, dass auch das Kartular von Oviedo Spuren einer mündlichen Sprache vulgärlateinischen Charakters aufweise (Ibid.: 309), hält es im Unterschied von Menéndez Pidal aber für möglich, dass diese Varietät nicht nur im sechsten und siebten Jahrhundert gesprochen wurde, sondern bis in die Zeit der Entstehung des Kartulars im zehnten und elften Jahrhundert vital blieb (Ibid.: 313). Jennings’ Beitrag bedeutet in mehrfacher Hinsicht einen Fortschritt gegenüber der Pionierleistung seines Vorgängers: erstens gewinnt die Syntax deutlichen Eigenwert und geht nicht, wie bei Menéndez Pidal, in Lautlehre und Morphologie auf; zweitens wird die lateinische Komponente der Urkunden nicht weniger in den Blick genommen als ihre romanische; drittens bereichert Jennings die qualitative Auswertung um statistische Analysen. Den bedeutendsten Beitrag zur Erschließung der morphosyntaktischen Besonderheiten der frümittelalterlichen Urkundensprache auf der Iberischen Halbinsel hat Juan Bastardas geliefert (Bastardas y Parera 1953). Er hat eine <?page no="16"?> 1. Einleitung 4 große Menge an Einzelphänomenen der Nominal- und Verbalsyntax erfasst und interpretiert. Die folgende Liste vermittelt diese Ergebnisse. Wie Bastardas herausarbeitet, beobachtet man: - Fossilierung von einst im Lateinunterricht erlernten Formen, die nicht mehr morphologisch an den strukturellen Kontext angepasst werden: omnia, corpus, haec, exceptus u.a. - früher Ersatz des Nominativs durch den Akkusativ mit zunehmender Tendenz - Ersatz des Genetivs durch andere Kasus (sub benedictione domino Elmiro episcopo, pro animam pater meus) - Dativ-Ablativ-Plural für Nominativ: post obitum nostrum teneant filiis nostris - Nomina agentis, die ein direktes Objekt regieren: quia enim debitor tibi sum solidos tantos - Ortsnamen nach dem Schema: ubi dicitur (ad Valle Maiore) - Ersatz des Dativs durch Präpositionen (ad + Nomen, in + Nomen): Haec omnia concedimus ad ipsas supradictas eglesias. Similiter in regula sancta de Ocoista dedimus Sancta Maria. - Ersatz des Genetivs durch die Präposition de + Nomen: cultores de ipsa ecclesia - Ersatz des ablativus pretii durch die Verbindung in + (Zahl) + Nomen - ibi für Dativ: Per hanc scriptura vinditionis nostrae vindimus ibi terra nostra propria - exinde/ inde für de+Nomen in postmodum nulla exinde oriatur intentio - unde = wodurch, weswegen - die Präpositionen schwanken alle zwischen einer Rektion des Akkusativs oder Ablativs - neue, zusammengesetzte Präpositionen: pro ad, de ab, prope de, ex contra u.a. - intransitive, reflexive Verben: affinget se, fuit se - Verlust von Depontien, die zu intransitiven Verben werden: conare statt conari - das analytische Passiv verdrängt das synthetische: fuit donata, omnia mea tradita sint ad ipsos sanctos - periphrastisches Perfekt, das noch aoristisch gemeint ist und noch keine Zeitenfolge anzeigt: locum…quem habeo per cartam comparatum - Futur II für Futur I oder als Konjunktiv Futur - das Gerundium im Ablativ ersetzt überall das Participium coniunctum: si aliquis homo in hac predicta defesa fuerit deprehensus piscando - habiturus = ut habeatur Omnia ab integro supra memorato monasterio vel abbati domino Velasconi concedimus perpetim habitura. <?page no="17"?> 1. Einleitung 5 - finale Infinitive: pro molinos facere - der Infinitiv tritt bei Verbindung mit einem Substantiv für Gerundium oder Gerundiv ein: licentia piscato prendere (statt licentia piscatum prehendendi, licentia piscati prehendendi) - Ersatz klassisch-schullateinischer Konjunktionen: si für num, per quod für cum, que für quod oder ut, qualiter für finales ut Was die Grammatik betrifft, ist diese Auflistung praktisch lückenlos. Die Nachfolgeliteratur hat diesen Bestand an Besonderheiten immer wieder aufgegriffen und z.T. auf neu edierte Kartularien angewandt (s.u.). Erweiterungen wurden später nur noch im Bereich der Lexik erreicht. Wie Jennings, so hat Bastardas durchgängig versucht, Entscheidungen zu treffen bezüglich der Zuordnung der einzelnen Merkmale zu den Faktoren, die ihr Auftreten erklären. Wie er schreibt, werden in den Dokumenten viele Charakteristika der Syntax der vorhergehenden Periode bewahrt, also im Sinne der These Menéndez Pidals; außerdem spiegelten sich in den analysierten Sätzen viele Neuerungen desjenigen Romanischen, das zur gleichen Zeit, in der die Urkunden entstanden sind, gesprochen wurde; auf einer dritten Seite weise dieser Satzbau auch den Charakter einer künstlichen und oft schlecht gelernten Sprache auf (Ibid.: xxviff.). Ohne ein generelles Überblicksbild der Entwicklung zusammenzutragen, wagt Bastardas immer wieder verschiedene Aussagen zur Herkunft der einzelnen Merkmale (künstlichschriftlateinisch oder romanisch) und zum zeitlichen Ablauf (zeitgenössisch oder in die Epoche davor gehörend). So bezweifelt er, dass es je in einer Periode der Entwicklung so etwas wie einen Casus obliquus gab. Die Herausbildung eines Universalkasus sieht er im 9. Jahrhundert. Viele Fälle von Nominativgebrauch werden als Überreste der Mnemotechnik des Lateinunterrichts gedeutet, Genitiv und Dativ dagegen werden als Formen angesehen, die in der Anfangszeit noch lebendig waren u.a. Schon Menéndez Pidal hatte eine ähnliche Sicherheit gezeigt, als er ille-Formen in Urkunden des 11. Jahrhunderts bedenkenlos das Etikett „latinismo“ zuwies und sie damit als lediglich gelehrte, schriftsprachliche Versionen der Artikel auswies, ohne zu erörtern, ob solche klassische Vollformen von ille vielleicht damals doch noch existiert haben könnten (1986: 333). Auch das Festhalten an der -t-Endung der dritten Person Singular in den Konjugationsformen hält er mit Entschiedenheit für eine bloße „reacción erudita“ (Ibid.: 353), ohne mit der Möglichkeit zu rechnen, dass diese -t-Endung vielleicht doch noch im riojanischen romance des 10. Jahrhunderts, also der mündlichen Volkssprache, bewahrt worden sein könnte. Nachdem die lautliche Analyse der katalanischen Urkunden durch die Beiträge eines von Paul Russell-Gebbett 1965 herausgegebenen Sammelbands wesentlich verbessert worden war, unternahm Giuseppe Tavani 1968 eine erste Synthese. Dabei wirkte er nicht nur als zusammenfassende Instanz, <?page no="18"?> 1. Einleitung 6 sondern erweiterte das Spektrum durch eine eigene Analyse zu portugiesischen Urkunden, 35 Dokumenten, die zwischen 870 und 1049 im Raum Guimar-es entstanden waren. Überwiegend lautlich ausgerichtet, bietet diese kleine Studie eine bemerkenswerte Beobachtung auch im morphosyntaktischen Feld: In zwei Urkunden aus den Jahren 960 und 1008 tauchen Formen des portugiesischen Artikels a, as auf (Tavani 1968: 262), obwohl sie zur gleichen Zeit nicht in den Texten der von Barsardas untersuchten Portugaliae Monumenta Historica gegeben sind. Lexikalisch wurden die frühmittelalterlichen Rechtstexte der Iberischen Halbinsel in neuerer Zeit zunächst durch Wolf-Dieter Lange (1966) erschlossen, der einerseits den stark romanischen Charakter des Wortschatzes vor Augen führen konnte, andererseits über das Vokabular einen Zugang zur mittelalterlichen Lebenswelt eröffnete. Immerhin blieb trotz der epochalen Leistung Du Canges (1678/ 1883) und des Beitrags von Lange die Bedeutung nicht weniger Lexeme der Kartularien noch lange Zeit unverständlich und unzugänglich. Es ist abermals das Verdienst von Menéndez Pidal, die Arbeit an einem Wörterbuch begonnen zu haben, das, später durch Rafael Lapesa und Constantino García abgeschlossen (Pidal/ Lapesa/ García 2003), für die große Mehrzahl der problematischen Fälle Vorschläge zur allomorphischen Zuordnung und semantischen Interpretation macht. So verfügen wir heute über einen nahezu lückenlosen Einblick in die Variation der romanischen Lexien der Dokumente sowie ihre sachliche Verankerung in den agrarischen und militärisch-politischen Domänen der zweiten Hälfte des Frühmittelalters im Norden der Iberischen Halbinsel. Die Resultate der Forschung wurden verschiedentlich in Sprachgeschichten (Alonso 1962, Lleal 1990: 164ff.), Chrestomatien (Menéndez Pidal 1971) und Textsammlungen (Moreno Peira 1979, González Ollé 1980) aufgegriffen und für eine philologische Präsentation einiger schon analysierter Texte genutzt. Doch wie Ángel López García bemerkt, steht im spanischen Raum Juan Bastardas y Parera praktisch allein da als Erforscher der grammatikalischen Besonderheiten der Urkunden, während um die Dokumente der Galloromania eine Diskussion entstand, in der von mehreren Seiten Zuträge geliefert wurden (López García 2001: 147). Immerhin wird man auf verschiedene Initiativen hinweisen müssen, in denen sich das diatopische Interesse Menéndez Pidals mit den syntaktisch orientierten, um den Gegensatz Latein-Romanisch kreisenden Analyseschwerpunkten von Bastardas verbindet (Saralegui 1977, Kiviharju 1989). López García seinerseits unternimmt keine selbstständigen Analysen, sondern profitiert von den Befunden von Bastardas, um eine eigene These zu entwickeln. Für ihn ist die Periode des christlichen Lateins eine Wendezeit, in der die lateinische Wortsubstanz zu einer neuen grammatikalischen Organisation wechselte, wobei der Sprachtyp von einer Konstruktionsin eine Rektionssprache umschlug (vgl. Kap. 3.4). Im christlichen Latein seien u.a. eine SVO-Wortstellung und Ansätze zum Artikel angelegt worden, und der Satz sei mit analytisch-periphrastischen <?page no="19"?> 1. Einleitung 7 Mitteln bereichert worden. Diese Tendenzen hätten sich in den „tiempos oscuros“ zwischen dem 8. und 11. Jahrhundert fortgesetzt, wofür die von Bastardas aufgewiesenen Spuren des Romanischen Zeugnis ablegten. Im Wesentlichen teilt Ángel López García trotz des Etiketts „Die dunklen Zeiten“ den Optimismus von Bastardas und Menéndez Pidal betreffend die Rekonstruierbarkeit des in jenen Jahrhunderten vorgängigen Grammatikwandels. Jedoch sind in jüngerer Zeit Beiträge veröffentlicht worden, die Anlass geben, diesen Optimismus hinsichtlich der Aussagekraft der Texte, durch die man den lateinisch-romanischen Übergang im Frühmittelalter erschließen will, wieder in Zweifel zu ziehen. Einerseits hat Roger Wright die Diskussion 1982 mit einer provokanten und hochinteressanten These belebt, nach der das anscheinende Mittellatein eigentlich nichts anderes sei als geschriebenes Romanisch, wenn man das Schriftbild nur anders, nämlich radikaler romanisch in Aussprache umsetze. Kasusendungen werden in der Leseweise von Wright ganz auf romanische Endungen reduziert, ille-Vorkommen wie romanische Artikel ausgesprochen, Endungs-t’s von Verben fallen weg, auch wenn sie dastehen usw. Prinzipiell wirkt dies so, als müsse sich daraus großer Optimismus hinsichtlich des Dokumentationswerts der Urkunden ergeben, da sie das gleichzeitige Romanisch anscheinend vollkommen erkennen lassen. Andererseits stellt sich die Frage, welches Romanisch man dann bei der Lektüre als das richtige unterstellen soll. Wenn es dasjenige des 12. Jahrhunderts sein soll, hätte es also in der Zwischenzeit, seit dem 8. Jahrhundert, keine Veränderung mehr erfahren. Wenn man in den Urkunden frei romanische Endungen und Wortstämme lesen kann, dann muss man sie andererseits auch schon aus eigenen Vorkenntnissen heraus dort hineinsehen. In dieser Lage wird der dokumentarische Wert allerdings gerade völlig unsicher, oder, wenn nicht unsicher, dann ist der Beitrag der je einzelnen Urkunde nur noch illustrativ, aber nicht mehr erkenntnisfördernd. Am anderen Extrem findet sich eine radikalisierte Neuauflage der abstrakten Rekonstruktion durch einen direkten Vergleich zwischen Latein und Romanisch, radikal insofern, als jeglicher dokumentarischer Wert von Texten des ersten Jahrtausends abgelehnt wird, also sowohl derjenige der schwieriger zugänglichen Urkunden als auch derjenige der scheinbar so aussagekräftigen antiken Quellen des Vulgärlateins. Diese Richtung, am besten wohl durch Robert de Dardel vertreten (1996), sieht radikale Brüche in der lateinisch-romanischen Sprachgeschichte und hält einen Kreolisierungsprozess zur Erklärung der romanischen Vereinfachung lateinischer Formen für möglich (Dardel/ Wüest 1993). Rückendeckung erhält die Wiederbelebung der abstrakten Rekonstruktion durch eine neue Theorierichtung zur Modellierung von Grammatikwandel. Die vor allem gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts intensivierten Forschungen nach Maßgabe des Grammatikalisierungskonzeptes haben zu Tage gefördert, dass die Prozesse, durch die hindurch sich die morphosyntaktische Struktur von Sprachen verändert - manchmal unter Wechsel des Sprachtyps - immer wieder den gleichen <?page no="20"?> 1. Einleitung 8 1 Natürlich hat auch Jennings einen bedeutenden Anteil an dieser Erschließung. Jedoch darf man nicht vergessen, dass sein Werk lediglich als Dissertation der New Yorker Columbia- Universität gedruckt und nicht im eigentlichen Sinn veröffentlich wurde. Leider blieb sein an sich bedeutender Beitrag ohne nennenswerten Einfluss. Auch Bastardas dürfte ihn - bedenkt man die historischen Umstände der frühen Franco-Zeit - wohl kaum gekannt haben. Wegen folgen, in einer Großzahl von über die ganze Erde verteilten Idiomen. Man kann für Sprachengruppen ohne Schrifttradition plausibel machen, dass man, wenn man archaischere und stärker fortgeschrittene Mitglieder der Gruppe miteinander vergleicht, gleiche Muster der Entwicklung findet wie in anderen Sprachfamilien, auch solchen, deren Wandelschübe auf der Grundlage alter Texte besser rekonstruierbar erscheinen. Durch maßgebliche Fortschritte der theoretischen Diskussion ist also in den 1980 er und 1990 er Jahren eine Lage entstanden, in der das gegenseitige Verhältnis von philologischer Schlussfolgerung und abstrakt-komparativer Rekonstruktion wieder unsicher geworden ist. In welchem Maße sind die Prozesse des grammatischen Wandels, die im Frühmittelalter aus einem analytischeren, formal reduzierten Latein das Romanische haben werden lassen, aus den Urkunden erschließbar, inwieweit muss man umgekehrt in die Urkunden Erkenntnisse aus der Rekonstruktionsbemühung hineinlesen, um ihnen allererst Illustrations- oder Dokumentationswert zu verleihen, den sie eigentlich von sich aus gar nicht haben? Juan Bastardas y Parera 1 kommt das Verdienst zu, die relevanten Abweichungen zum Schullatein, die als sprachentwicklungs-relevante Phänomene Auskunft über die Wandelvorgänge geben könnten, aufgelistet zu haben. Dieser Liste ist nichts hinzuzufügen, auf dieser Seite ist kein Fortschritt der weiteren Forschung mehr nötig. Doch dies heißt nicht, dass die Auseinandersetzung mit seinem Thema an ein Ende gekommen ist. Mehr denn je herrscht Unsicherheit über das gegenseitige Verhältnis von Rekonstruktion und Dokumentation im Bereich des Protoromanischen. Wrights Ansinnen scheint die Seite der Dokumentation zu stärken, die von den Grammatikalisierungstheoretikern aufgestellten universellen Kanäle verbessern die Chancen auf ein abstraktes Verständnis der Prozesse. Gleichzeitig verändert sich vor diesem Hintergrund auch die Sicht auf die sprachentwicklungsrelevanten Phänomene. Es sollte nicht die Hauptsorge sein, sie jeweils synchronisch einer bestimmten Epoche zuzuordnen - Menéndez Pidal, Bastardas und López García treffen ja fast übereinstimmend gewisse Zuordnungen zur Periode des christlichen Lateins oder zu dem darauf folgenden Zeitraum -, sondern sie als Grammatikalisierungsetappen auf einer Skala sprachenübergreifender Gültigkeit anzuordnen, mit anderen Worten, sie in die Rekonstruktion eines dynamischen Geschehens einzubinden, vielleicht sogar ohne die Sicherheit einer genauen zeitlichen Aussage. Es ist Ziel der vorliegenden Arbeit, die Interpretation der Urkundenbefunde in diese Richtung hin zu verschieben. Zu diesem Zweck ist ein 112 Exem- <?page no="21"?> 1. Einleitung 9 plare umfassendes Korpus zusammengestellt worden, dessen Dokumente jeweils vollständig nach den Phänomentypen von Bastardas durchsucht und entsprechend kommentiert worden sind. Das analysierte Korpus wird dem Leser auf der beiliegenden CD-ROM zugänglich gemacht. Selbst wenn damit nicht der Anspruch erhoben wird, bei den erfassten Phänomentypen gegenüber den bisherigen Erkenntnissen einen Fortschritt zu erreichen, liegt doch auch in dieser Art der Präsentation eine Erweiterung des bisher Realisierten, da man so einen durch eine größere Menge von Texten illustrierten Eindruck gewinnt, wie viele Abweichungen ein einzelner Text mit auffälligen, an das Romanische erinnernden Spuren enthalten kann und wie welche Abweichungen über einen Text verteilt sind. Ganz allgemein zielt der vorliegende Beitrag darauf ab, das Thema der Rekonstruktion des frühmittelalterlichen Grammatikwandels und der Möglichkeiten seiner textbasierten Erschließung zu modernisieren, es also an die Leitlinien der neueren Diskussion um die interne lateinisch-romanische Sprachgeschichte anzupassen. Dabei wird der diatopische Aspekt in den Darlegungen der allgemeinen iberoromanischen Entwicklungen aufgehen und keine Leitfrage sein. Die Arbeit will und kann nicht danach streben, die großartige Leistung Menéndez Pidals und der in seinem Gefolge forschenden Sprachhistoriker, Dialektologen und Sprachgeographen zu verbessern. Dass das Korpus alle Gebiete der Halbinsel repräsentiert, auf deren Boden bis in die Gegenwart fortlebende romanische Sprachen entstanden sind, hat in der Hauptsache den Sinn sicher zu stellen, dass die auf Grund der Urkunden rekonstruierbaren Prozesse auch den gesamten Sprachraum betroffen haben. Beobachtungen zu diatopischen Asymmetrien der Verteilung der Phänomene, also zu regionalen Besonderheiten werden lediglich sporadisch angebracht und erscheinen immer in das übergeordnete Interesse einer allgemeinen Beschreibung des lateinisch-iberoromanischen Sprachwandels eingebettet. Die Erörterungen werden im Einzelnen folgenden Gang nehmen: Nach der Präsentation der verschiedenen Theoriebausteine (Kap. 2) werden wir zunächst eine abstrakte Rekonstruktion des lateinisch-romanischen Grammatikwandels auf der Grundlage der Grammatikalisierungstheorie(n) versuchen (Kap. 3). Danach soll es um die kommunikativen Bedingungen der Produktion und Rezeption der betrachteten Texte sowie ihre texttypologischen Eigenschaften gehen, damit ihr empirischer Aussagewert mit den Mitteln neuerer Linguistik präzise herausgestellt wird (Kap. 4). In einem Exkurs (Kap. 5) soll der empirische Wert der Urkunden mit demjenigen der Vulgärlateinquellen einerseits und demjenigen mittelalterlich-romanischer Texte andererseits verglichen werden. Schließlich wenden wir uns der Analyse der Urkunden des Korpus zu, wobei allerdings die von Bastardas aufgelisteten Phänomene nicht nach seiner eigenen Systematik, sondern nach der Zugehörigkeit zu verschiedenen Grammatikalisierungskanälen zur Sprache <?page no="22"?> 1. Einleitung 10 kommen (Kap. 6). In einem abschließenden Fazit werden grob die Hauptanliegen der Arbeit und ihre Einlösung resümiert (Kap. 7). Der Anhang bietet Erläuterungen zur Notation sowie fünf analysierte Beispielurkunden. <?page no="23"?> 2. Schematische Darstellung der verschiedenen Gesichtspunkte der Untersuchung und der ihr zu Grunde liegenden Theorien Dem Anliegen entsprechend, das Urkundenthema an die moderne Diskussion anzupassen, soll im jetzt folgenden Abschnitt eine schematische Gesamtvorstellung gegeben werden, die verschiedene theoretische Aspekte zueinander in Beziehung setzt und jedem einen bestimmten Platz zuweist. Dabei wird die relevante Sprachgeschichte grob periodisiert. Die sprachliche Entwicklung, die vom Latein zu den modernen romanischen Sprachen der iberischen Halbinsel führt, weist folgende größere Etappen auf: Am Ausgangspunkt stellen Vulgärlatein und das am klassischen Latein ausgerichtete Schriftlatein zwei Sprachschichten dar, die sich seit der altlateinischen Phase immer stärker voneinander entfernten (vgl. Berschin/ Berschin 1987). Diese Tendenz hielt bis zum dritten Jahrhundert unvermindert an, bis sich in der spätlateinischen Phase die Schriftsprache wieder mehr für mündliche Einflüsse öffnete. Während sich die Jahrhunderte der Völkerwanderung in Frankreich und Italien eher so auswirkten, dass der Einfluss der Sprechsprache auf die Schriftsprache weiter gefördert wurde, kam es in Spanien nach dem Goteneinfall zu einer Gegenreaktion. Nachdem die Goten vom arianischen zum katholischen Bekenntnis übergetreten waren, pflegten die Schulen von Sevilla, Toledo und Zaragoza ein Latein, das sich wieder deutlich dem klassischen Ideal verpflichtete. Andererseits entstanden zur gleichen Zeit in einem begrenzten Teilgebiet des westgotischen Herrschaftsraums südlich von Salamanca Schiefertafeln bezüglich verschiedener Rechtsgeschäfte, deren Sprache eher in die spätlateinische Linie einzuordnen ist (Herman 1995). Als die Araber im Verlauf des achten Jahrhunderts fast die gesamte Iberische Halbinsel eroberten, kamen literarische Produktion und Rechtsleben vorübergehend zum Erliegen. Erst seit Ende des achten Jahrhunderts wurden wieder lateinische Rechtsdokumente erstellt. Diese Texte, in der Mehrzahl Verkaufs- und Schenkungsurkunden sowie fueros (Stadtrechte), zeigen zwar in unterschiedlichem Maß eine Annäherung an das gesprochene Romanische, grundsätzlich ist aber spürbar, dass ihre Verfasser sich bemühten, durch Kasusendungen, Endungs-t der Konjugation (amat, nicht ama) und Kongruenzreihen eine lateinische Sprachform zu wahren (vgl. Kap. 4.6). In anderen Gattungen der Schriftproduktion wurden noch weiter gehende Schritte auf das klassische Ideal zu gemacht, wenn auch einige Abweichungen wie veränderter Gebrauch von Adverbien und Präpositionen zu beobachten sind (vgl. Kap. 4.6). <?page no="24"?> 2. Schematische Darstellung der verschiedenen Gesichtspunkte 12 In Katalonien wirkte sich seit dem neunten Jahrhundert die karolingische Renaissance aus. Für den Großteil der Iberischen Halbinsel wurde aber erst die cluniazensische Ordensreform, die auch Rückbesinnungen und Reinigungsbemühungen im sprachlichen Bereich einschloss, zum entscheidenden Einfluss. Das eigentliche administrative „Tor“, durch das diese Reform in Spanien Fuß fasste, war das Bischofskonzil von Burgos 1080 (vgl. Wright 1982: 209ff.). Im Wesentlichen setzte es fest, dass die westgotische Liturgie durch die karolingisch reformierte römische Liturgie ersetzt werden sollte. Die Reform verbreitete sich zwischen 1100 und 1250 und führte - genau wie in Frankreich die sprachliche Regulierung seit Alcuin - zu einem merklicheren Gegensatz zwischen dem Latein der Texte und dem Romanischen, das nur gesprochen wurde. Diese (verschärfte) Diglossie-Situation und der Aufschwung der einzelnen iberischen Reiche im Kampf gegen die arabischen Eroberer hatten schließlich zur Folge, dass die Dialekte des Romanischen sich emanzipierten und den Wert von Schriftsprachen erlangten. Es entstanden im Bereich des Rechts und der religiösen und profanen Literatur zunehmend Texte auf Romanisch, wobei die lateinischen Texttraditionen als Vorbild dienten. Schließlich waren die romanischen Sprachen im Laufe des allgemeinen Aufschwungs der Schriftproduktion in der zweiten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts eine anerkannte Alternative zur mittellateinischen Schriftsprache geworden. Es folgten dann die weiteren Epochen bis heute. Die geschilderten sprachgeschichtlichen Vorgänge lassen sich in folgendem Schaubild darstellen, dessen einzelne Bestandteile im weiteren Verlauf dieses Abschnitts erörtert werden sollen: <?page no="25"?> 2. Schematische Darstellung der verschiedenen Gesichtspunkte 13 Abb. 1 Die vorliegende Arbeit zieht verschiedene regionale Phasen der Urkundenproduktion in Betracht, die in diesem Schaubild aufgeführt werden: Erstens die Entstehungszeit der schon angesprochenen westgotischen Schiefertafeln (Velázquez Soriano 1989, Herman 1995). Für dieses Zeitsegment führt das Schaubild außerdem die merowingische Urkundenproduktion auf (Vielliard 1927), mit ihrem Zentrum im siebten Jahrhundert, denn die auf der Iberischen Halbinsel entstandenen Urkunden setzen sprachlich Teile dieser Tradition fort, und zwar durch den Gebrauch einer Reihe von Urkundenformeln, die sich auch in merowingischen Formelsammlungen finden. Weiterhin sind für Italien die ravennatischen Papyri (Carlton 1973) und der Kodex der langobardischen Dokumente (Schiaparelli 1929; B. Löfstedt 1961) in das Bezugszeitraum für grammatische Sprachwandelvorgänge langobard. Urkunden ravennat. Papyri merowing. Urkunden iberolateinische Urkunden got. Schiefertafeln 200 v. Chr. 14 n. Chr. 5. Jh. 6. Jh. 7. 8. 9. 1100 - 1250/ 1300 1500 2000 (Festlegung des klassischen (Völkerwanderung) (Prozess einer Schriftlateins mit der Folge (Spaltung der Einheit des kontinuierl. einer Abkapselung gegenüber röm. Imperiums) Verschriftlichung der iberorom. Sprachen) mündlichen Neuerungen) Bezugszeitraum der externen, kommunikativen Aspekte Gattungseinbettung von grammatischen Erscheinungen Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit Diglossie Interferenz und Fehlerlinguistik <?page no="26"?> 2. Schematische Darstellung der verschiedenen Gesichtspunkte 14 2 Die Liste dieser Schriften ist Herman 1995 (S. 64) entnommen. 3 Wie Pinkster (1988) immer wieder zeigt, lassen die in der klassischen Epoche entstandenen Texte einen Variantenraum erkennen, in dem die späteren vulgärlateinischen Konstruktionen und Formen als minoritäre Lösungen schon mit gegeben sind (vgl. auch Banniard 2003: 549f.) Schaubild integriert worden 2 , obwohl sie nicht direkt in die Vorgeschichte der iberolateinischen Urkunden gehören, da in dem vorliegenden Abschnitt der Arbeit z.T. Aussagen gemacht werden, die über den strikt hispanistischlusitanistischen Rahmen hinausgehen. Schließlich ist die lange Epoche hervorzuheben, innerhalb derer sich eine übermächtige lateinische Schriftproduktion und erste Versuche einer Verschriftlichung des Romanischen gegenüberstanden. Sie überschneidet sich mit der letzten Phase intensiver Produktion iberolateinischer Rechtsdokumente. Nur diese Segmente stecken den engeren, empirischen Rahmen der Arbeit ab. Diejenige Seite des lateinisch-romanischen Sprachwandels, die hier durch die Urkunden erfasst werden soll, der Grammatikwandel, ist dagegen in einer weiteren zeitlichen Perspektive, vom Altlatein bis in die Frühzeit der iberoromanischen Schriftsprachen, in den Blick zu nehmen. Die Theorie der Grammatikalisierung mit ihrem Konzept von über viele Sprachen hin beobachtbaren Kanälen, soll dazu dienen, diesen Wandel aus einer verallgemeinernden Sicht zu beschreiben. Die Ereignisse in dem Zeitraum, der von Bastardas’ Urkunden indirekt dokumentiert wird, betreffen mit Sicherheit nur einzelne Schritte auf den Grammatikalisierungskanälen. Andere Schritte waren auf einigen der betroffenen Grammatikalisierungskanäle vorausgegangen, wieder andere Schritte geschahen auf einigen der betroffenen Kanäle in den Epochen, die auf den Beobachtungszeitraum der vorliegenden Arbeit folgen (vgl. Lleal 1990: 293ff.). Um zu klären, wie die Periode des Beobachtungszeitraums sich auf den Grammatikalisierungskanälen ansiedelt, erscheint es also unumgänglich, zuerst zu verdeutlichen, wovon die zu beobachtende Entwicklung ausgeht und wohin sie mündet. Den Zielpunkt kann man relativ unproblematisch als Altspanisch, Galego-Portugiesisch und Altkatalanisch ansetzen. Als Ausgangspunkt ist am besten das gut bekannte, klassische Latein zu wählen, das eine Verschriftlichung dominierender Aspekte im Variationsraum des Altlateinischen darstellt 3 . Der Grammatikalisierungstheorie ist ein Theorienkomplex gegenüberzustellen, der sich nur auf den engeren, empirischen Beobachtungszeitraum (800-1100) bezieht und in Italien und Frankreich auch auf den unmittelbar vorhergehenden Zeitraum um das siebte Jahrhundert herum anwendbar ist. Mit Hilfe dieses zweiten Komplexes soll genau bestimmt werden, wieviel diese Phänomene in Bezug auf das gesprochene Romanisch jener Zeit überhaupt aussagen können, d.h. wie umfangreich das von ihnen vermittelte Bild des Romanischen gegenüber der eigentlichen Gesamtrealität der gesproche- <?page no="27"?> 2. Schematische Darstellung der verschiedenen Gesichtspunkte 15 nen Sprache ist. Denn Urkundensprache wirkt auf den ersten Blick spezialisiert und durch die Ansprüche des Rechts stark künstlich. Könnte es dann nicht sein, dass sich die Umgangssprache darin überhaupt nur sehr partiell niederschlagen kann? Bleiben die Aussagen, die die Dokumente erlauben, gegenüber der Gesamtwirklichkeit des Romanischen jener Zeit nicht um Einiges zurück? Diese Gruppe ineinander greifender Theorien, die vor allem die kommunikativen Bedingungen der Urkunden betreffen, kann als Komplex der „Filter der Aussagefähigkeit“ bezeichnet werden. Er umfasst im Einzelnen folgende Thematiken: Diglossie; Urkundenlatein als schriftsprachliches Romanisch (These von Roger Wright); die Gattung der Urkunde, ihr möglicherweise beschränktes sprachliches Repertoire und die Bedingungen ihrer Abfassung; Interferenz und Fehlerlinguistik zur Ausscheidung nicht durch Interferenz bedingter Fehler beim schriftlichen Gebrauch des Lateins; konzeptionelle Mündlichkeit in medialer Schriftlichkeit, Spuren unfreiwilliger Mündlichkeit bzw. Formulierungsschwierigkeiten, die den Einfluss der gesprochenen Sprache auf das Urkundenlatein belegen. Im nächsten Kapitel wird zunächst die Grammatikalisierungstheorie vorgestellt und gezeigt, wie sie auf den lateinisch-iberoromanischen Sprachwandel anwendbar ist. <?page no="28"?> 1 Da die folgende Darlegung theoretische Elemente ansprechen soll, für die beansprucht wird, dass sie für jede Beschreibung von Sprachwandel maßgeblich sind, werden nicht nur das Latein und das Romanische der älteren romanischen Epochen ihre empirische Grundlage abgeben. Vielmehr werden Beispiele aus dem Deutschen und anderen Sprachen herangezogen, und meistens dient gerade die moderne Sprachepoche als Beispiel, wenn sich bestimmte Erörterungen besser an ihr festmachen lassen. Es ist zu bedenken, dass die folgenden Aussagen im Bereich „Theoretische Grundlagen“ Gültigkeit auch über den engeren thematischen Rahmen der vorliegenden Arbeit hinaus haben sollen. Dies muss gerade an empirirschen Gegebenheiten aufgewiesen werden, die leichter zugänglich und besser kontrollierbar sind als die Daten der mittelalterlichen Epochen. 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung des grammatischen Sprachwandels Die folgenden theoretischen Grundlagen betreffen jeglichen Sprachwandel, unter anderem denjenigen, der sich innerhalb des Vulgärlateins vollzogen hat. Hingegen sind der Interferenz- und der Diglossiebegriff zwar wichtig für die von Bastardas beschriebenen Erscheinungen, nicht aber für jede Art von Sprachveränderung. Deswegen werden diese theoretischen Grundlagen erst in einem späteren Kapitel besprochen, wenn von dem großen Zusammenhang der Herausbildung romanischer Sprachen zu der besonderen Situation des Verhältnisses von Romanisch und Mittellatein auf der Iberischen Halbinsel übergegangen wird. 1 3.1 Grammatikalisierung 3.1.1 Übersicht über die verschiedenen Grammatikalisierungstheorien und Auswahl von maßgeblichen Elementen Die Grammatikalisierungstheorie beschäftigt sich mit dem Ursprung und der Entwicklung grammatikalischer Kategorien und ihrer Darstellungsmittel auf der Zeichenaußenseite. Diese Thematik hat in der Linguistik eine lange Tradition. Das Neue an den gegenwärtigen Theorien ist, dass sie durch umfassende Vergleiche vieler Sprachen zeigen können, dass die Wege, auf denen grammatikalische Kategorien entstehen, und die Formative, durch die sie repräsentiert werden, in dem Sinne universal sind, als sie sich jeweils in einer größeren Gruppe von Sprachen, auch solchen, die kaum oder nicht miteinander verwandt sind, parallel vollziehen bzw. wiederholen. Jedoch sind die Grundideen dieser modernen Modellierungen des Grammatikwandels eben alt. Als Startpunkt der neueren Geschichte nennen Heine et al. (1991) Rousseau und Condillac, die übereinstimmend der Ansicht waren, dass sowohl der grammatische Bau einer Sprache als auch ihr ab- <?page no="29"?> 3.1 Grammatikalisierung 17 straktes Vokabular von Lexemen für Konkretes herstamme. 1816 präsentierte und erörterte Franz Bopp zahlreiche Beispiele für die Herausbildung von Hilfsverben, Affixen oder Flexiven aus Lexien. Zwei Jahre später sprach August Schlegel einen ähnlichen Gedanken aus. Indem man einige Wörter „ihrer Bedeutungskraft entkleidet“ (vgl. Heine/ Claudi/ Hünnemeyer 1991: 6), erhalte man, d.h. die Sprecher einer bestimmten Sprache, Bausteine einer Grammatik. 1822 hielt Wilhelm von Humboldt eine Vorlesung vor der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin, in der er ebenfalls für die These eintrat, dass Präpositionen und Konjunktionen ihren Ursprung in Wörtern für Dinge hätten. Humboldt schreibt: „Man kann daher mit Recht bezweifeln, […] dass es ursprünglich Praepositionen und Conjunctionen im wahrsten Sinne des Wortes gegeben habe. Alle haben vermuthlich, […], ihren Ursprung in wirklichen, Gegenständen bezeichnenden Wörtern. […] Ein merkwürdigeres Beispiel zu dem hier Gesagten, als vielleicht irgend eine andere Sprache, liefert die Mexicanische in den Praepositionen. […] Notepotzco wird zwar durch hinter mir übersetzt, es heisst aber eigentlich hinter meinem Rücken, von teputz, der Rücken.“ (1988: 51f.). Humboldt nahm vier Stadien an: Nach seiner Theorie entwickeln sich aus Umschreibungen und üblichen Redeformeln über ein Zwischenstadium rein relationale Ausdruckselemente, die schließlich zu Flexiven werden. Heine et al. (1991) führen eine ganze Reihe bedeutender Linguisten in der Ahnenlinie der Grammatikalisierungstheoretiker auf, u.a. Whitney und von Gabelentz (7f.). Die unmittelbare Vorgeschichte der modernen Theorien ist mit den Namen dreier einflussreicher Indogermanisten verbunden: Meillet, Kury owicz und Benveniste. Antoine Meillet führte 1912 den Terminus „Grammatikalisierung“ ein, und durch die Beiträge der drei genannten Forscher etablierte sich das Konzept bis 1970 vollkommen. Dann setzte eine neue Welle ein, in deren Zuge die Verknüpfungen zwischen synchronischer und diachronischer Grammatik enger gesehen wurden, als dies bisher üblich war, so dass man schließlich mehr und mehr bemerkte, dass synchron beobachtete grammatische Subsysteme von Sprachen einer Sprachfamilie als historische Phasen einer gesamten Entwicklung verstanden werden können. Dabei waren einige Sprachen der selben Familie eben als weiter fortgeschritten anzusehen als andere. Auf diese Weise konnten Sprachfamilien, deren historische Vorphasen nicht über Schriftdokumente zugänglich sind, als Quellen der Beschreibung von Grammatikalisierung genutzt werden. Weitere Neuerungen in dieser jüngsten Epoche der Grammatikalisierungsdebatte brachte der Paradigmenwandel der Linguistik. Pragmatik und kognitive Zugänge lieferten neue Grundlagen für die Diskussion um den universalen Charakter der Teilprozesse der Grammatikalisierung. Die Daten wurden erweitert, die Argumentation zu Gunsten der Theorien verfeinert. Zu dieser Ausformung in den letzten Jahrzehnten trugen verschiedene Forscher und Forschergruppen bei, vor allem Talmy Givón, Paul Hopper, <?page no="30"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 18 Elizabeth Closs Traugott sowie die Kölner Afrikanisten um Bernd Heine, aus deren Umfeld auch Christian Lehmann stammt. In der vorliegenden Untersuchung sollen nicht alle diese Beiträge berücksichtigt werden. Um die Prozesse im Bereich der Signifikanten und deren Parallelen im Signifikatbereich zu schematisieren, wurde die Theorieversion Christian Lehmanns ausgewählt, die zugleich die allgemeinsten und umfassendsten Vergleiche zwischen den Sprachen der Welt beinhaltet. Für den inhaltlich-kognitivpragmatischen Hintergrund wurde die Synthese von Bernd Heine gewählt. Dagegen sind diejenigen Versionen, die Hopper und Traugott je für sich vorgeschlagen haben, im Wesentlichen unberücksichtigt geblieben, wurden also nicht in die hier angesetzte Interpretation mit einbezogen. Auf der anderen Seite habe ich die Erläuterung Heines zum inhaltlich-kognitivpragmatischen Hintergrund durch die jüngeren Auffassungen von Traugott und Hopper ergänzt, die sie im Rahmen ihrer gemeinsamen Arbeit dargelegt haben (1993). Zur Begründung dieser Auswahl sollen die jüngsten Grammatikalisierungstheorien kurz vorgestellt und kommentiert werden (vgl. Heine/ Claudi/ Hünnemeyer 1991: 13ff.). Givón prägte die Geschichte der Strömung durch zwei weithin bekannte Formeln, nach denen die Morphologie von heute die Syntax von gestern ist, und, in dieser Logik fortschreitend, die Syntax von gestern die Pragmatik von vorgestern ist. Improvisierte Instrumente, die Illokutionen erkennbar machen sollen, verwandeln sich in routiniert eingesetzte Funktionswörter, und diese werden ihrerseits zu Affixen und später zu Flexiven. Neuere Forschungen (u.a. Detges 1999 u. 2001) deuten darauf hin, dass es dem Ausgangspunkt in der parole - alle Verschiebungen in der langue nehmen ihren Ausgang vom parole-Geschehen - durchaus entspricht, nicht schon bei bewussten Gestaltungsmitteln der Grammatik, also des der Bühler’schen Darstellungsfunktion dienenden „Feldgeräts“ anzusetzen, sondern die ersten Spuren eines Grammatikalisierungsprozesses in Illokutionsmarkierern zu sehen, die für die argumentative Einbettung von Aussagen in Kontexte ad hoc entworfen werden und sich zunächst in diesem pragmatisch motivierten Verwendungsbereich durch Sprachmoden verbreiten. Die Formel Syntax-wird-zu-Morphologie ist auf die meisten Grammatikalisierungstheorien anwendbar. Beide Prinzipien Givóns werden für diejenige Fassung der Grammatikalisierungstheorie, die der vorliegenden Untersuchung zu Grunde gelegt wird, übernommen. Elizabeth C. Traugott erschloss aus der Beobachtung der Konjunktionenbildung einen anders gelagerten Entwicklungsweg als Givón. Sie dreht seine Richtung „von-der-Pragmatik-zur-Syntax“ in gewisser Weise um. Wie alle Grammatikalisierungstheoretiker vertritt Traugott die Hypothese des lexikalischen Ursprungs der Grammeme. Die Wörter, von denen sie herstammen, bezeichnen auch aus ihrer Sicht zunächst äußere Situationen und Dinge und haben eine Eigenreferenz. Sobald sie nun dazu eingesetzt werden, Verknüpfungen zwischen Textteilen herzustellen und ihre Referenz mehr textu- <?page no="31"?> 3.1 Grammatikalisierung 19 ell als außertextuell ist, werden sie zu routiniert eingesetzten syntaktischen Elementen. Diese können dann in einem dritten Schritt noch stärker in die Kommunikation eingebettet werden, gewinnen in dieser Phase also sozusagen eine über die textuelle Referenz noch weiter hinausgehende dialogische Referenz. Das pragmatische Gebrauchsfeld folgt nach dieser Ansicht historisch dem syntaktischen. Nachweislich ist zum Beispiel die englische Konjunktion while (‚während‘) aus whilum (‚zeitweise‘) entstanden. Whilum, ein Dativ Plural des altenglischen Wortes für ‚Weile, Augenblick‘, leistet zeitliche Referenz für eine äußere Situation, auf die sich eine sprachliche Äußerung bezieht, while dagegen bezieht sich auf die sprachlichen Äußerungen selber, indem es Sätze miteinander verbindet. In der Polyfunktionalitäts- Konfiguration von while taucht darüber hinaus noch eine andere Bedeutung auf, die der Konfiguration des deutschen während ähnelt. Ebenso wie es ein temporales und adversatives während gibt, gibt es ein temporales und adversatives while, wobei sich das zweite nachweislich aus dem ersten heraus gebildet hat. Hier hätte man also mit einer Abfolge „extern-referentielle Syntax-zu-textreferentielle Syntax-zu-dialogische Argumentation“ zu tun. Allerdings muss die Geschichte von while, wenn man sie in ihrem vollständigen Reichtum, mit allen Verwendungskontexten, rekonstruiert, komplizierter verlaufen sein, als dies Traugotts Prinzip erkennen lässt. Die Phase der dialogischen Referenz, in der while einen Zustand der bloß subjektiven Annahme markiert, folgt freilich auf die syntaktisch-textuelle des rein temporalen Verständnisses. Das ist zuzugestehen. Man beobachtet aber neben diesen subjektiv-dialogischen Einbettungen durchaus, gerade im wissenschaftlichen Rahmen, Verwendungen von temporalen Adverbien in monologischen Argumentationen mit Anspruch auf intersubjektive Gültigkeit. In solchen Kontexten hat sich while schon wieder semantisch-funktional weiter entfaltet und seinen Gebrauchshorizont über die Einbettung in Dialogizität und die Markierung von Subjektvität hinaus erweitert. Außerdem darf man nicht vergessen, dass while nicht selten in Fällen gebraucht wird, wo auf eine nüchtern-beschreibende Weise Eigenschaften und Merkmale von Objekten gegeneinander gehalten werden. Mit anderen Worten: Die pragmatische Phase ist wieder nur ein Vorstadium einer erneuten textuellen in einem modalen Sinn. Das Muster, das sich aus Givóns Prinzip und Detges’ Hinweisen auf die Rolle der Pragmatik ergibt (vgl. Kap. 3.1.4), ist auf mehreren Stufen das selbe und lautet immer „die Syntax von heute ist die Pragmatik von gestern“. Paul Hoppers Beiträge aus den späten siebziger und frühen achtziger Jahren sind Ausarbeitungen seines Grundgedankens einer „emergent grammar“, ein Konzept, das er bis heute weiter verfolgt: Eine Sprachgemeinschaft strebe andauernd dahin, ihrer Sprache eine Struktur zu geben, ohne jemals zu einer abschließenden Struktur zu kommen. Keine Sprache erreiche jemals eine vollkommene Grammatik mit fest stehenden Regeln, sondern sei fortwährend im Wandel begriffen. Es herrsche zwar Grammatikalisierung, es <?page no="32"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 20 gebe aber keine Grammatiken. Diese Überlegungen machen Hopper auf jeden Fall zu einem maßgeblichen Vertreter dieser Richtung der Deutung von Sprachwandel, da Grammatikalisierung ja gewissermaßen Grammatik ersetzt und so eine immense Bedeutung für den Sprachbau allgemein gewinnt, auch den sogenannten synchronen. Trotz seines faszinierenden, anregenden Hauptgedankens steht Hoppers eigene Theorie im Spektrum der Grammatikalisierungsmodelle aus meiner Sicht eher schwach da. Man kann ihr letzten Endes nicht folgen und muss ihren Begründungen die Zustimmung versagen. Hopper wehrt sich gegen die herkömmliche Auffassung, dass Sprachen eine Grammatik hätten, in der ihren Formen feste Funktionen zukämen. Vielmehr hält er die Funktionen für verhandelbar. Schon diese Ansicht scheint die tatsächliche Stereotypizität und die kreative Marge des semantischen Hintergrunds der täglichen Kommunikation zu überschätzen. Statt von Abweichungen in untypischen Kontexten zu sprechen, aus denen neue Funktionen in einem polyfunktionalen Geflecht erwachsen, verlagert Hopper die Flexibilität der Ränder ins Zentrum der Signifikate der grammatischen Formen und entwirft ein Bild vom Durchschnittssprecher, das dessen poietische Kraft überspannt. Der Durchschnittssprecher kann nicht wie ein Dichter agieren, indem er Sprache immer neu improvisiert, immer neu erfindet. Doch genau dies resultiert, wenn man den Routine-Charakter von Sprachfunktionen aus den Angeln hebt. Hopper hält Grammatik jedoch noch aus einem anderen, etwas widersprüchlichen Grund für emergent. Das eigentliche Sprechen geht aus seiner Sicht vollständig in einem Pastiche aus Formeln auf, was nicht feste Wendungen meint, die im Sinne der Phraseologie-Forschung fixiert wären, sondern einfach lexikalisierte, syntaktisch zufälligerweise feste Wortketten. Die früheren Wortketten, an die man sich erinnert und die man bei anderen gehört hat, werden in der eigenen Mitteilung zu ähnlichen, teilweise neuen Gesamtaussagen verbunden. Da nun keine Trennlinie zwischen der die grammatischen Strukturen kennzeichnenden Wiederholung und dem Wiederholungscharakter der Formeln gezogen werden könne, sei Grammatik überhaupt nicht für sich erkennbar, so dass die Rede von grammatischen Strukturen etwas Willkürliches bekommt. Sprecher brauchten zum Reden keine Grammatik, sie würden lediglich Formeln reproduzieren. Diese Auffassung, dass nämlich die Produktion von Sätzen durch die Erinnerung an vorher gehörte sprachliche Versatzstücke getragen wird, halte ich persönlich für richtig, und es ist sicherlich wichtig, dass ein Linguist dies einmal ausgesprochen hat und auch empirisch demonstriert hat, wie er das meint. Diese Meinung bildet außerdem einen gesunden Widerspruch zu dem beliebten Credo Chomskys, nach dem jeder immer wieder neue, noch nie gehörte Sätze bildet. Jedoch versäumt es Hopper zu beweisen, dass die Formelhaftigkeit die Sprache durchgehend bestimmt, dass es nirgendwo freie Bildungen im Sinne von Coserius „Technik des Sprechens“ gibt. Besonders in der Belletristik ist nicht davon auszugehen, dass das Wiederaufgreifen früherer Sätze die Formulierung bestimmt, auch <?page no="33"?> 3.1 Grammatikalisierung 21 nicht als unbewusste Erinnerung. Ein weiterer Einwand betrifft die Tatsache, dass nicht ganze Sätze erinnert werden, sondern nur formelhafte Wortgruppen. Nun ist es aber ohne „Scharniere“, d.h. ohne abstrakte vermittelnde Kategorien wie Wortarten oder auch major categories im Sinne von Chomsky (NPs, VPs, PPs) kaum verständlich, wie es dem Sprecher gelingen soll, die Teilsätze oder Wortgruppen miteinander zu verbinden. Muss er dies denn in einer bestimmten Weise tun? Ja, denn es gibt den Anspruch von Hörern, dass Sätze wohlgeformt sein sollen, um deren Verständnis zu erleichtern. Also muss es auch abstrakte Wortarten oder Wortgruppentypen geben, die die wohlgeformte Verbindung der Formeln ermöglichen. Die Frage ist doch, ob Grammatik überhaupt existiert, und das tut sie allerdings, denn sie besteht in der Ähnlichkeit der Wortketten untereinander. Sie besteht weiterhin in deren innerer Variabilität, die voraussetzt, dass die Formeln paradigmatische Stellen enthalten, die semantisch als grammatikalische Subkategorien oder als Wortarten zu kennzeichnen sind. Ich hätte gerne… ist im Deutschen eine Formel, mit deren Hilfe man einen Kaufwunsch äußert. Je nach dem Laden, in dem man kaufen will, können aber sehr unterschiedliche Dingwörter an die Objektstelle dieser Formel eingefüllt werden, die also ein Paradigma für zählbare und nicht zählbare Konkreta eröffnet. Grammatik besteht außerdem - und hier kommen wir zurück zu den Funktionen - in der Ableitbarkeit eines konstanten Bedeutungskerns für eine Formel, ein Bedeutungskern, der durch den Kontext zwar gefärbt, aber nicht in eine vollkommen andere Richtung verschoben werden kann. Diese Ableitbarkeit ist durch Kompositionalität gekennzeichnet, d.h., sie folgt den Vorgaben der grammatischen Struktur der Formel, durch die deren Lexeme zu einem Gesamtsinn verbunden werden. Die Konstanz des Bedeutungskerns beruht auf der Wiedererkennbarkeit einer über die Einzelformel weit hinausreichenden grammatikalischen Struktur. Dies wird man kaum bestreiten können. In Hoppers Ansatz liegt also eine Idealisierung und scheinbare Vermenschlichung des kommunikativen Handelns, die nüchterner Betrachtung einfach nicht standhält. Sie ist jedoch ein Hinweis auf die Aktivität der Ränder, auf die Häufigkeit, mit der es geschehen könnte, dass eine funktionale Festlegung einer Form über ihr Zentrum hinaus in neue Zonen gerät, auf die parole als gestaltgebende Grundlage der langue. Gerade für die Fragen der Reanalyse und metonymischen Verbindungen zwischen Funktionen ist dieser Ansatz fruchbar und wird in diesem Sinne im Rahmen dieser Arbeit auch eingewoben. In Heines Ansatz sind relativ viele Elemente zu finden, die in das theoretische Gerüst der vorliegenden Arbeit einfließen sollen. Auf der Seite des semantischen Hintergrundes von Grammatikalisierungsprozessen sollen einige Grundgedanken übernommen werden, die in Kapitel 3.1.3 erläutert werden. Wichtig sind auch die unzähligen Belege, durch die die Kölner Afrikanisten gezeigt haben, dass es berechtigt ist, diachrone Prozesse des morphosyntaktischen Wandels aus der sychonen Beobachtung der Daten von Gegenwartssprachen zu erschließen. Heines Theorie könnte unserem Ansatz <?page no="34"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 22 als ganze zu Grunde gelegt werden, hat jedoch gegenüber der Modellierung von Christian Lehmann zwei Nachteile. Erstens ist sie zum überwiegenden Teil auf afrikanische Sprachen angewandt worden, während Lehmann daneben Sätze aus indoeuropäischen, sino-tibetischen, uralischen und altaiischen, afro-asiatischen, australischen, polynesischen und indianischen Sprachen mit einbezieht. Zweitens bringt sie eine unübersichtliche Zahl an Wandelparametern in Ansatz (vgl. Heine/ Claudi/ Hünnemeyer 1991: 15), denen bei Lehmann die überschaubare, außerdem systematisierte, durch Prinzipien fundierte Zahl von sechs Parametern gegenüber steht. In dem neuesten Beitrag (Heine/ Kuteva 2007) hat Heine die Parameter allerdings ähnlich wie Lehmann deutlich reduziert. Jedoch erreicht er dabei nicht die Geschlossenheit, Symmetrie und Harmonie des Lehmann’schen Inventars. Die neuen Parameter bei Heine sind: die der Reanalyse entsprechende Extension; die der phonetischen Abreibung gleich zu setzende Erosion; die der semantischen Abreibung entsprechende Desemantisierung; sowie ein Restparameter, die Dekategoralisierung, die von Heine als „loss in morphosyntactic properties characteristic of lexical and other less grammaticalized forms“ bezeichnet wird (Ibid.: 34). Diese Liste erscheint unausgewogen, heterogen und asymmetrisch. Die Extension gehört allein der Ebene der parole an, während sich die anderen Parametern auf ihrer resultativen Seite genauso gut in der langue ansiedeln. Der mit dem Verlust der morphosyntaktischen Autonomie verknüpfte Parameter der Dekategorisierung ist viel mächtiger als die spezielleren Teilprozesse der Desemantisierung und Erosion. Die angeführten Teilaspekte befinden sich keineswegs auf dem gleichen Niveau, sie haben sehr unterschiedlichen Status. Dagegen entfaltet Lehmann zwei sets von je drei Parametern in harmonischer Spiegelbildlichkeit zwischen Paradigmatik und Syntagmatik. Heine ist von der Sammlung zur Verdichtung gelangt, hat aber dem verdichtenden Schema keine es durchdringende theoretische Überlegung zu Grunde gelegt. Deswegen ist Lehmanns Modell aus der Sicht eines Schematisierungsanspruchs, wie er die vorliegende Arbeit bestimmt (vgl. Kap. 1), befriedigender. Der Vergleich der verschiedenen Ansätze zeigt nach meiner Auffassung, dass die Erklärungskraft der Grammatikalisierungstheorie am besten zur Entfaltung gebracht wird, wenn man für die formale Seite der Prozesse die Lehmann’sche Fassung zu Grunde legt und diese für die Erhellung ihres semantischen Hintergrunds durch die Modellierungen Heines sowie des gemeinsamen Beitrags von Hopper und Traugott ergänzt, dessen Grundzüge sich in den Versionen von 1993 und 2003 übrigens gleichen. Als allgemeinstes Prinzip soll Givóns Dreischritt angenommen werden: von der Pragmatik zur Syntax, von der Syntax zur Morphologie. Diese Konstellation wird in den beiden folgenden Abschnitten (3.1.2 und 3.1.3) entfaltet. Bevor wir dies darlegen, ist einem Einwand zu begegnen, der gerade gegenüber den jüngsten Fassungen von Grammatikalisierung, wie sie vor allem seit 1980 vorgeschlagen worden sind, angebracht werden könnnte. In <?page no="35"?> 3.1 Grammatikalisierung 23 diesen Versionen (Heine, Lehmann, Hopper/ Traugott u.a.) wird behauptet, dass der Grammatikwandel in sehr vielen Sprachen parallel laufe und vergleichbar sei. Damit setzt sich die Grammatikalisierungstheorie wohlbekannten Gegenargumentationen aus, die aus der Debatte um die Möglichkeit von Sprachtypologie bekannt sind. Hier wird gefragt, ob weit entfernte Sprachen denn überhaupt einen Sprachbau aufwiesen, der auf gleichen Kategorien beruhe. Wolfgang Raible (2001) greift diese Debatte, zu Beginn eines programmatischen Schlüsselbeitrags zur Typologie, auf und illustriert sie durch das Extrembeispiel zweier sowohl zeitlich als auch räumlich in weiter Distanz zueinander befindlicher Idiome schwerer Vergleichbarkeit, nämlich des Altgriechischen und des Japanischen (Ibid.: 6). Die Kategorie des „infiniten Verbs“ umfasst im Japanischen offenbar ganz andere Verwendungskontexte und ein anderes Formenspektrum als die entsprechende Kategorie im Altgriechischen. Bekannt ist auch die Behauptung, nach der der Subjekt-Verb- Bezug im Japanischen anders aufzufassen sei als in den meist von indoeuropäischen Weltauffassungsgewohnheiten geprägten europäischen Sprachen. Als Ausweg aus dieser Problemlage bietet Raible in kognitiven Kontinua wurzelnde sprachliche Skalen an (Ibid.: 17 u. 9ff.). So lasse sich die Transitivität in ihren unterschiedlichen Graden in verschiedenen Sprachen entweder rein verbbezogen oder aber unter variierend intensiver Einbeziehung von Partizipanten, also kasusmarkierten Aktanten und Zirkumstanten, auf Signifikantenseite kennzeichnen. Um die finnische Markierung eines atelischen Prozesses mittels des Objektkasus mit der Verbbeschränkung der Aspektmarkierung in den indo-europäischen Sprachen zu verbinden, sei ein integrales Schema wie der erweiterte Transitivitätsbegriff von Hopper/ Thompson hilfreich. Diese Lösung regt dazu an, auch Grammatikalisierungskanäle als derartige Skalen, projiziert auf die Zeitachse, zu verstehen. Selbst wenn zuzugeben ist, dass die treibenden kognitiven Kräfte, die den verschiedenen Kanälen zu Grunde liegen, noch nicht vollständig erkannt sind, kann man doch durch ein transitorisches, von vornherein auf mögliche Übergänge hin geordnetes Grundverständnis der Kategorien, die in den Kanälen angesetzt werden, erreichen, dass die dort verzeichneten Übergänge als sprachübergreifende, wiederholbare und sich wiederholende Vorgänge aufgefasst werden. Im Übrigen: Selbst wenn man an der sprachspezifischen Qualität der Kategorien der Kanäle festhalten will, muss man sehen, dass auf allen Ebenen außer den letzten alternative Entwicklungswege auf den Grammatikalisierungskanälen vorgesehen sind und Vergleichbarkeit nicht impliziert, dass alle Sprachen uniforme Kategorien aufweisen. Auch Compes et al. (1993) zeigen, dass die Grammatikalisierung auf dem gleichen Kanal auf unterschiedliche Zielkategorien zulaufen kann und nicht die gleichen Kategorien durchlaufen muss. Ein sich reduzierendes Kasussystem muss in den verschiedenen Stadien nicht alle Kasus aufweisen, die der Kanal vorsieht, wenn auch die meisten. Numeralversus Nominalklassifikation sind Scheidewege, <?page no="36"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 24 die von unterschiedlichen Sprachen beschritten werden. In den Bantusprachen wählte man die Nominal-, in vielen ostasiatischen die Numeralklassifikation. Swahili klassifiziert Nomen direkt, Chinesisch tut dies nur aus Anlass der Zählung von nominal bezeichneten Referenten. Die Nominalklassen verschiedener Sprachen sind weit davon entfernt, vergleichbar zu sein, ohne dass das Prinzip der Nominalklassifikation selber durchbrochen wird. Die Wege der Reduktion auf trinäre oder binäre Oppositionen (männlich vs. weiblich; belebt vs. unbelebt) sind disjunkt-alternativ zu verstehen. Worum es bei diesen komplexen Fragen eigentlich geht, hat Wolfgang Raible sehr präzise formuliert. Grammatikalisierungskanäle und synchrontypologische Skalen sowie die dazugehörigen kognitiven Kontinua sollen erklären, wieso bei der Gestaltung unserer Sprachen, deren Zahl eine Größenordnung von Tausend oder Tausenden erreicht, insgesamt eine geringere Menge an Ausformungsmöglichkeiten genutzt wird, als es nach den in Anlehnung an Hockett und Coseriu anzusetzenden abstrakten Prinzipien von Sprachlichkeit (vgl. Raible 2001: 11) eigentlich möglich wäre (Ibid.: 13). Wer dies zugibt, wird die neueren Grammatikalisierungstheorien einfach als eine Konsequenz aus diesem Grundprinzip ansehen und ihnen von einer allgemeineren Argumentation her kommend Gültigkeit einräumen - wobei man über die empirischen Details natürlich jederzeit weiter streiten kann. 3.1.2 Das Modell von Lehmann Nun soll das Modell von Lehmann ausführlich und gründlich erläutert werden, denn es wird ja eine der Grundlagen der in 3.2 aufzustellenden lateinisch-romanischen Grammatikalisierungswege sein. Um der Klarheit willen gehen die nun folgenden Darlegungen von den allgemeinen Zügen der Grammatikalisierungstheorie aus, die in 3.1.1 schon skizziert wurden: Unter GRAMMATIKALISIERUNG ist die Wandlung von Lexemen zu grammatikalischen Morphemen zu verstehen, die dann ihrerseits innerhalb des Grammatikbereichs noch stärker funktionalisiert werden. Die nach außen hin auffälligsten Mermale für die Grammatikalisierung eines Sprachzeichens sind fortwährende phonologische Schrumpfung, Desemantisierung, sowie kontinuierliche Verstärkung der Bindung an die funktional zu kennzeichnenden Lexeme (Klitisierung, Agglutination, Flexion). Ein GRAMMATIKALI- SIERUNGSKANAL ist ein oft wiederkehrender Weg, den Zeichen mit einer jeweiligen Funktion nehmen können, wenn sie beim Sprachwandel grammatikalisiert werden („A grammaticalization channel is a frequently recurring route which signs with a given function may take when they are grammaticalized in language change.“ [Lehmann 2002a : 22]). <?page no="37"?> 3.1 Grammatikalisierung 25 2 Die folgenden Erörterungen halten sich weitgehend an die zweite Auflage der Thoughts (2002a), beziehen jedoch die ursprüngliche Fassung (1982) dort ein, wo diese Darstellung von der romanistischen Thematik der vorliegenden Untersuchung her günstiger schien. Lehmann (2002a) 2 bespricht eine ganze Reihe von Grammatikalisierungskanälen: (1) Possessionsverben (dt. haben): Sie stammen oft von Vollwörtern ab, die „halten“ (span. tener), „ergreifen“, „bekommen“ (engl. have got oder got) bedeuten. (2) Existenzverben (lat. esse): Sie kommen häufig von Verben her, die „leben“ oder „stehen“ (lokale Angabe) bedeuten. Die lokale Angabe spiegelt die Gleichsetzung „existieren = irgendwo sein“ wider. So bedeutet das lateinische existere ja ursprünglich ‚hinaustreten‘. Der Satz <Está.> ist gleichbedeutend mit <Está presente.>, ein Sinn also, der dem prototypischen Kern der Verbklasse „Existenzverben“ benachbart ist. (3) Kopula: (Statisch-durative) Kopula-Verben entstehen in vielen Fällen durch weitere Grammatikalisierung von Existenzverben. Ein aus romanischer Sicht nahe liegendes Beispiel ist hier die Entwicklung STARE > ESTAR ‚stehen, anwesend sein‘ > ESTAR + Adjektiv. (4) Auf den Grammatikalisierungskanälen, die mit dem Konjugationssystem zu tun haben, sind Hilfsverben, Affixe und Kopulaverben sowie eine kleine, weltweit genutzte Gruppe von Vollverben auf komplexe Art miteinander verknüpft. Einen Überblick über die prinzipiellen Beziehungen verleiht das folgende Schema (vgl. Lehmann 1982: 38 u. 2002a: 32): Abb. 2 Abbildung 2 zeigt zwei Ursprünge für grammatische Formative des Konjugationssytems: entweder bestimmte Vollverben oder Adverbien. Tempus, modalitätsanzeigendes Hilfsverb modusanzeigendes Hilfsverb Vollverb/ Kopula temporales Hilfsverb Tempusmarkierer Modusmarkierer aspektuales Hilfsverb Aspektmarkierer Passivhilfsverb Passivmarkierer Adverb <?page no="38"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 26 3 Zou ist die Vergangenheitsform des historisch mit sollen verwandten zullen. Modus, Aspekt und Passiv werden angezeigt durch Hilfsverben in Verbindung mit nominalisierten Verbformen oder durch konjugierte Verben mit aspekt-, modus-, tempus- und passivanzeigenden Affixen (= Markierern). Die einzelnen Positionen der Zeichnung sollen zunächst durch Beispiele konkretisiert werden. Beispiele für Tempushilfsverben sind avoir und être im Französischen; sein und werden sind Passivhilfsverben im Deutschen; estar (= sein, stehen) im Portugiesischen ist ein Aspekthilfsverb. Beispiele für modusanzeigende Hilfsverben: would im Englischen, entsprechend zou 3 im Niederländischen (Jalink/ van den Toorn 1980: 78). - Aspektmarkierer: mi- (imperfektiver Aspekt, Persisch) [Alawi/ Lorenz 1996: 58] - Modusmarkierer: -ba (Konditional, Japanisch) [Lewin et al. 1984: 129] - Tempusmarkierer: -a- (Gegenwart, im Auxiliarkomplex des Baskischen) [Saltarelli 1988: 302ff.] - Passivmarkierer: di- (Indonesisch) [Nothofer 1993: 136f.] Die Vollverbquellen für modalitätsanzeigende Verben sind für die deontische Bedeutung ‚können‘ Verbformen, die ‚wissen‘ (spanisch saber), ‚fähig sein‘ (lat. potesse) bedeuten. Für die deontische Bedeutung ‚müssen‘ sind es Verbformen, die ‚schulden‘ bedeuten (lat. debere), für ‚wollen‘ solche, die ‚wünschen, verlangen‘ (lat. quaerere, span. querer) bedeuten. Eine Quelle für das Passiv-Hilfsverb ist die inchoative Variante der Kopula: werden (deutsch), das ursprünglich von einem indogermanischen Vollverb abstammt, das die Bedeutung ‚wenden‘ hat (Kluge 2002: 984). Quellen für Hilfsverben zur Anzeige der Vergangenheit sind - neben den wichtigsten Possessions- und Kopulaverben - Verben, die ‚kommen‘ und ‚fertig machen‘ bedeuten (afrikanische Sprachen). Ähnliches gilt für Aspekthilfsverben, die mit den Vergangenheitstempora im strengen Sinn verwandt sind. Lehmann 1982 verweist auf portugiesisches acabar de fazer (= ‚eben gerade etwas getan haben‘). Typisches Quellverb für Futur-Hilfsverben ist ein Vollverb mit der Bedeutung ‚gehen‘: port. vou escrever. Hier wie bei den Vergangenheitstempora waren die Vollverben wohl zunächst Quelle für Aspekt-Hilfsverben. Als Quelle für imperfektiven Aspekt ist in vielen Sprachen eine Pseudo-Lokalisierungs- Konstruktion nachweisbar, mit der Kopula als Verb und einer nominalisierten Verbform als Bezugspunkt der Lokalisierung. Neben der Kopula kommen hier Verben aus dem Bereich der Positionsbestimmung für die Hilfsverbfunktion in Frage: (dt.) er ist am Arbeiten/ beim Arbeiten. <?page no="39"?> 3.1 Grammatikalisierung 27 4 Bosworth/ Toller geben die Bedeutungen wie folgt an: 1. to owe, 2. denoting obligation. Für die Konkretbedeutung ‚schulden‘ wird ein Beispiel aus der altenglischen Version des Mathäus- Evangeliums gegeben: Ân him sceolde tyn þûsend punda (Mt 18, 24, 28) Die Übergänge zwischen den Positionen (Pfeile) lassen sich durch viele Einzelentwicklungen belegen. Hier beispielhaft zwei Fälle aus der indoeuropäischen Sprachfamilie: - Englisch: (altengl.) sculan/ sceal (schulden) sculan/ sceal (= sollen [modalitätsanzeigendes Hilfsverb]) [vgl. Bosworth/ Toller 1991: 843] 4 shall (Tempushilfsverb, Futur) should (Modushilfsverb, Konditional) - Latein Portugiesisch: vadere (= gehen, waten [Vollverb, Bewegungsverb]) vou/ vais/ vai fazer (= bald, gleich [inminenter Aspekt]), In diese zentralen Grammatikalisierungskanäle des Konjugationssystems münden auch Grammatikalisierungskanäle für Pronomina, da in den Sprachen, die Flexionsklassen ausbilden, die affigierten Personalmorpheme zusammen mit den Tempus-, Aspekt-, Modus-Markierern in Portemanteau- Morpheme eingehen. (5) Grammatikalisierungskanäle der Pronomina und Artikel In allen Sprachen der Welt lassen sich zumindest zwei große Klassen von pronominalen grammatikalischen Morphemen unterscheiden: definite und indefinite Pronomen. Definite Pronomen gehen nach Lehmann (2002a: 33) auf das freie Demonstrativpronomen zurück. Je nachdem ob es sich an Nomina oder Verben bindet, entstehen aus dem Demonstrativum Determinierer oder Personalpronomen. Entwicklung der Determinierer: erstes Stadium: an ein Nomen gebundenes Demonstrativum mit unterschiedlichem Bezug auf Sprechernähe, Hörernähe und Ferne [im Prinzip die 3. Person] ( Bsp. lat. hic, iste, ille) zweites Stadium: schwaches Demonstrativum mit überwiegend anaphorischer oder kataphorischer Funktion bei verbleibender deiktischer Funktion in manchen Kontexten (Bsp. altengl. se, seo, thaet) drittes Stadium: definiter Deteminierer mit rein anaphorisch-kataphorischer Funktion, ohne deiktische Funktion (engl. the) viertes Stadium: affixaler Artikel (Rumänisch -ul, -a; Schwedisch/ Dänisch/ Norwegisch -en/ -et(t)). fünftes Stadium: der Artikel zeigt nur noch Nominalität überhaupt an <?page no="40"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 28 Der oben beschriebene Grammatikalisierungsweg ist der bekannte Artikel- Zyklus von Greenberg (vgl. Greenberg 1978). Greenberg hat ihn durch Vergleich vieler Sprachen herausgearbeitet. Greenbergs Zyklus ist insofern in sich geschlossen, als das letzte Glied im Verlust einer Artikelmarkierung überhaupt besteht, worauf die Entwicklung wieder mit einem vollwertigen Demonstrativum beginnt, aus dem dann ein artikelartiger Markierer wird usw. Beispiele für Übergänge: Vom schwachen Demonstrativum zum definiten Artikel: Homerisch ho/ he/ to zu Attisch ho/ he/ to [Bornemann/ Risch1978: 327] Vom definiten Artikel zum affixalen Artikel: schwedisch-dänisch den/ det(t) zu -en/ -et(t) [Bodmer 324f.] Diese Übersicht über Beispiele für Übergänge zeigt allgemein, dass ein Grammatikalisierungskanal nicht als ganzer in irgendeiner Sprache aufweisbar sein muss, dass er sich aber durch die Abhängigkeitsverhältnisse der einzelnen, nachweisbaren Schritte insgesamt rekonstruieren lässt. Das Personalpronomen der dritten Person geht auf das freie Demonstrativum zurück, wenn dieses sich an ein Verb anlehnt. Ein solches verbangelehntes Demonstrativum wird ebenfalls erst anaphorisch, so dass es neben der deiktischen noch eine intratextuelle Verweisfunktion hat. Wenn diese schließlich die alleinige Funktion ist, ist das Stadium des Personalpronomens erreicht. Ein gutes Beispiel liefert der Weg von lat. ille zu frz. il/ elle. Für die erste und zweite Person sind meist Nomina der Ausgangspunkt, die eine persönliche Beziehung oder soziale Stellung angeben. erstes Stadium: Nomina (ein Beispiel ist das System der Vielzahl der portugiesischen Anredeformen: Vossa Excelência, o Doutor, o Don Luis, a menina; in Südostasien und Ostasien sind derartige Systeme weit verbreitet, wobei auch die erste Person eingeschlossen ist) zweites Stadium: Höflichkeitsformen bei den Pronomina (span. Usted für die zweite Person; indon. saya [ich] anstatt des familiären aku) [Krause 1993: 35] drittes Stadium: Personalpronomina der ersten und zweiten Person (engl. I, you) <?page no="41"?> 3.1 Grammatikalisierung 29 Beispiele für Übergänge: Von Nomina zu Höflichkeitsformen: indon. nyonya [weibliche Höflichkeitsform] bedeutet auch „Dame“ [Krause 1993: 355]; spanisch Usted hat sich aus Vuestra merced entwickelt Von Höflichkeitsformen zu Personalpronomina: bras. você (du) von port. você (Sie); südamerikanischer voseo mit vos, was früher „Sie“ bedeutete; südamerikanische 2. Pers. Pl. mit ustedes statt vosotros. [Kubarth 1987: 38] Die eigenständigen Pronomina werden mit der Zeit klitisiert, zunächst die Objektspronomina, dann auch die Subjektspronomina wie im Französischen. Schließlich können die Pronomina Affixe werden, die der Kongruenz dienen. So hat das Swahili Konstruktionen wie: „Henry (Subjekt) er-Präsens-ihn-seh (Verbalkomplex) Tom (dir. Obj.) = Henry sieht Tom“, wobei er- und -ihnnoch der Bedingung unterliegen, Kennsilben der ersten von acht Nominalklassen sein zu müssen, die u.a. menschliche Wesen umfasst. Das letzte Stadium der fortschreitenden Grammatikalisierung von Personalpronomen besteht parallel zum Abschlussstadium der Determinierer- Grammatikalisierung darin, dass sie nur noch den Verbalstatus überhaupt anzeigen (Tok Pisin). Zu den indefiniten pronominalen Elementen vergleiche Lehmann 2002a (44 ff.). Für unseren Zusammenhang ist relevant, dass in vielen Sprachen der unbestimmte Artikel von dem Zahlwort für ‚eins‘ abstammt, so im Griechischen und Deutschen, oder auch im Bulgarischen, das zu den mehrheitlich artikellosen slavischen Sprachen gehört. (6) Grammatikalisierungskanäle des Nomens Neben den eher verbbezogenen Grammatikalisierungskanälen stellt Lehmann noch eher nominale Grammatikalisierungskanäle vor: Die umfangreichsten Grammatikalisierungskanäle im Nominalbereich haben mit den semantischen Funktionen von Nomina und ihrer Markierung an der Oberfläche zu tun. Diese Kanäle nehmen ihren Anfang bei einer komplexen strukturellen Ausgangssituation (Ibid.: 75f.), die auf unterschiedlichen Grammatikalisierungskanälen weiterentwickelt wird. Auf dem ersten dieser Kanäle werden relationale Nomina wie „Hinterseite“, „Vorderseite“ u.a. umgeformt zu Postpositionen (etwa zur Anzeige eines Inessivs) und diese wieder zu Kasusendungen (etwa eines generellen Lokativs). Dieser Grammatikalisierungskanal verbindet Sprachen wie Türkisch und Japanisch mit flexionalen Sprachen wie Latein oder Sanskrit, d.h., für die indo-europäischen Sprachen war dies der Weg zur Bildung ihrer Kasussysteme. Auch im Lateinischen oder im Sanskrit gehen die Kasusendungen auf ehemalige Postpositionen zurück. Dagegen verlief die Entwicklung der indo-europäischen Adpositionen - „according to Indo-Europeanist communis opinio“ <?page no="42"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 30 (Ibid.: 80) - über einen anderen Kanal. Indoeuropäische Adpositionen, die meist Präpositionen sind, waren ursprünglich wohl Adverbien. Hier ist ein Überblick über den gesamten Kanal gegeben: erstes Stadium: ([NP-Kasusi]) ([ADV (-Kasusj)]), wobei die Nominalphrase und das Adverb beide in direkter Relation zum jeweiligen Verb stehen und in Apposition zueinander (Lehmann führt ein Beispiel aus dem Hethitischen an, das auf Deutsch folgendermaßen wiedergegeben werden kann: „Dann geht er wieder vorn-Direktional Hof-Direktional“ ; vorn-DIR (= nach vorn) und Hof-DIR (= in den Hof) befinden sich in einem appositiven Verhältnis) nesta namma para-a hila pai-zi then again front-DIR yard: DIR go-3.SG [Ibid.: 81] zweites Stadium: Die Nominalphrase wird vom Adverb regiert. Dieses wird zur Adposition und vermittelt die Beziehung der Nominalphrase zum Verb, die nicht mehr direkt ist. Das Adverb ist jetzt unbedingt notwendig, um die genaue Beziehung der von ihm regierten Nominalphrase zum Verb anzuzeigen (Bsp. lat. sub + NP: Marcus librum sub arbore legit (also ‚Markus befindet sich unter dem Baum und liest das Buch‘); Marcus librum sub arborem portat (also: ‚Markus trägt das Buch an einen Ort, der sich unter dem Baum befindet‘) Der Kasus der Nominalphrase deutet allerdings noch den Kern der unterschiedlichen Beziehungen an. Er ist noch wandelbar, nicht obligatorisch. drittes Stadium: Der Kasus der Nominalphrase wird obligatorisch, d.h., die Präposition verlangt unumgänglich, welcher Kasus auf sie folgen soll. Dieser Kasus kann der Beziehung, die die Nominalphrase rein semantisch zum Verb des Satzes hat, auch widersprechen (Bsp. lat. ad + NP: Marcus aquam ad portam fert. Marcus stat ad portam. Im zweiten Fall findet keine Bewegung statt, und trotzdem verlangt die Präposition ad, dass porta im Akkusativ steht.) viertes Stadium: Der Kasus der Nominalphrase ist verschwunden fünftes Stadium: Klitisierung von Präpositionen (die Amalgamierung mit Artikeln, die Lehmann hier anführt, gehört eigentlich ins siebte Stadium) sechstes Stadium: Die Adposition bekommt eine abstraktere, allgemeine Bedeutung siebtes Stadium: Die Adposition verschmilzt mit benachbarten Morphemen für Genus oder Numerus. Lehmann führt ein Beispiel für eine Präposition aus der australischen Sprache Mangarayi an (vgl. Lehmann 2002a: 79). Hierher könnte man natürlich auch die Amalgamierung der Präposition mit bestimmten Artikeln in den romanischen Sprachen rechnen. <?page no="43"?> 3.1 Grammatikalisierung 31 Beispiele für Übergänge auf dem Kanal, auf dem Präpositionen entstehen und mit - ursprünglich ja aus Postpositionen hervorgegangenen - Kasus interagieren: Von der Apposition zur Vermittlung durch Adposition: Lehmann führt folgendes Beispiel aus dem Hethitischen an (Ibid.: 81): anda-san parn-a nawi pai-zi inside: DIR-PTL house-DIR not.yet go-3.SG In diesem Kontext sieht Lehmann eine zweifache Deutungsmöglichkeit des direktional markierten Nomen parn-a: entweder man deutet es als Apposition, zu anda-san - „er ist noch nicht hinein gegangen, nämlich in das Haus“ - oder man sieht zwischen anda-san und parn-a ein syntaktisches Abhängigkeitsverhältnis - „er noch nicht hinein-das Haus-hinein gegangen“ Von der NP mit Kasus zur kasuslosen NP: Entwicklung vom Latein zu den romanischen Sprachen. Vom vierten Stadium zur Suffigierung: Anpassung an die Vokalharmonie im Ungarischen und den Turksprachen Vom sechsten Stadium zur Amalgamierung: port. a [zu] + o [best. Art.] wird zu ao [ ] Von der Suffigierung zur Markierung abstrakter Kasus: türk. -(y)a, -(y)e markiert Direktiv und Dativ (Wendt 1972: 60), der lat. Akkusativ war ebenfalls zugleich ein Direktiv (Dux Romam iter fecit = ‚der Heerführer reiste nach Rom‘) Verbindet sich der Relator mit dem Verb statt mit der NP, entstehen entweder Präverbien oder Verb-Verb-Kompositionen, je nachdem ob der Relator von einem Nomen her stammt oder von einem Verb. Präverbien sind Verbpräfixe des Typs con-, per-, praeusw. des Lateinischen. Sie bieten manchmal eine Alternative zu Konstruktionen mit Präpositionen (z.B. educere = herausführen) Caesar copias e castris duxit. Caesar copias castris eduxit. Allerdings handelt es sich um Wortbildungsprozesse, so dass man wegen des Auseinanderklaffens von Wortbildungsbedeutung und letztendlicher Wortschatzbedeutung keine regelmäßigen Alternativen erhält. Ähnliches gilt für die in westafrikanischen Sprachen verbreiteten Verb-Verb-Kompositionen. Lehmann lehnt es daher ab, diese Wege als Grammatikalisierungskanäle anzuerkennen (vgl. Lehmann 2002a: 95). Unter dem Stichwort „Main actant relations“ behandelt Lehmann schließlich die Erscheinung der fortwährenden Reduktion von Kasusparadigmen <?page no="44"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 32 durch Formenzusammenfall und/ oder funktionale Reinterpretation. Dieses Phänomen ist aus der Entwicklung der indo-europäischen Sprachfamilie hinreichend bekannt, kann aber heute - nach vielen Jahrzehnten der Forschung in allen Sprachgruppen der Welt und über sie hinweggehend - weitaus allgemeingültiger dargestellt werden und erweist sich als bei weitem nicht auf die indo-europäischen Sprachen beschränkt. Lehmann stellt folgenden Übersichtsgraphen über die unterschiedlichen und in eins laufenden Grammatikalisierungskanäle auf (Ibid.: 99): (? = Der Übergang vom Akkusativ zum Absolutiv ist ungeklärt, ebenso die Entstehung von Nominativen aus Genetiven oder Ablativen) Abb. 3 Abbildung 3 stellt zwar nur die Kasus-Funktionen dar, Lehmann sieht aber einen Zusammenhang zu den oben angegebenen Grammatikalisierungskanälen der Kasusformen (und ihrer Vorläufer): „There is a scale of structural means for the expression of case functions which starts with relational nouns and coverbs and passes through adverbs, adpositions and case markers to morphological zero expression. In every language, this scale is coupled with scale F8 [sc. der oben abgebildeten Skala], such that the least grammaticalized case functions are expressed by relational nouns or coverbs and the more grammaticalized successively by other means“ (Ibid.: 100). Beispiele für die angedeuteten Übergänge finden sich sowohl in bezeugten Sprachwandelprozessen als auch im Zusammenfall von Formen für unterschiedliche Funktionen im selben synchronen Sprachzustand: <?page no="45"?> 3.1 Grammatikalisierung 33 Vom Direktional zum Dativ: engl. to; lat. ad zu rom. a Vom Benefaktiv zum Dativ: bras. para, oft auch außerhalb benefaktiver Kontexte anstatt a Vom Dativ zum Akkusativ: pers. -ra (der Dativ wird heute im Persischen häufiger durch die direktionale Präposition be angezeigt) Vom Akkusativ zum Absolutiv: kein Beispiel (s. Abb. 3 oben) Vom Komitativ zum Instrumental: lat. cum zu span./ it. con Vom Instrumental zum Ergativ: im australischen Dyirbal und im nordostkaukasischen Awarischen werden Instrumental und Ergativ durch die gleiche Form ausgedrückt, was auf die Passivkonstruktion zurückgeht (Die Herausbildung des Ergativs ist für die Gesichtspunkte der vorliegenden Arbeit nur insofern relevant, als sich darin die universale Gültigkeit des obigen Netzes von Grammatikalisierungskanälen zeigt) Vom Ergativ zum Nominativ: Vielleicht Herkunft des indo-europäischen Nominativs auf -s Vom Ablativ zum Genetiv: lat. de zu rom. de Im obigen Kasusgraphen sind allerdings noch nicht alle Übergänge erfasst, die bei sprachvergleichenden Studien erkennbar werden. Die romanistische Linguistik könnte mit der gegebenen Darstellung noch nicht zufrieden sein, da für sie wesentliche Richtungen des Zusammenfalls wie derjenige zwischen Ablativ, Dativ und Akkusativ noch nicht erfasst sind. Tatsächlich zeigt ein Vergleich der unterschiedlichsten Sprachen, dass die Zusammenfälle vielfältigste Polyfunktionalitäten bei den Kasus ergeben, da fast alles möglich wird, sobald sich in einem Sprachsystem ein Subsystem syntaktischer Kasus etabliert hat. Der lateinisch-romanische Wandel im Bereich der Nominalflexion wird erst vor diesem Hintergrund als universales Phänomen verständlich. Dies ist im Folgenden genauer zu erklären. Dass das Geschehen im Vulgärlatein und Frühromanischen (erst sechs Kasus, dann: casus obliquus vs Nominativ, schließlich: Generalkasus) von universalen Prozessen bestimmt wird, beruht auf einer Reihe von Überlegungen und Beobachtungen: (1) Kasussprachen haben in der Regel eine kleinere Gruppe syntaktischer Kasus entwickelt, die ein Satzglied als Aktanten (1,2,3) oder Zirkumstanten oder als Attribut ausweisen. Diese Kasus haben sich aus Postpositionen entwickelt, die im Zusammenhang mit der menschlichen Bewegung stehen, sind von ihrem Ursprung her also Lokalkasus (‚von‘, ‚mit‘, ‚durch‘, ‚nach‘/ ‚zu‘, ‚in‘). Die lokale Herkunft zeigt sich noch in ihrem polyfunktionalen Muster. So ist der Akkusativ häufig ein Allativ (z.B. im Latein und Sanskrit), ebenso wie der Dativ (z.B. im Sanskrit). Darüber hinaus haben sie <?page no="46"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 34 temporale, kausale und modale Funktionen (z.B. der lateinische Ablativ). Schließlich bezeichnen sie syntaktische Funktionen (z.B. der lateinische, russische, ungarische, japanische Akkusativ das direkte Objekt; die Nominative dieser Sprachen das Subjekt; die Dative das indirekte Objekt). (2) Ein System aus syntaktischen Kasus tendiert stärker zur Schrumpfung als das Gesamtsystem der Präpositionen oder Postpositionen. Dabei übernehmen entweder in der einen Richtung Zirkumstanten- oder Attributkasus Funktionen von Aktantenkasus (z.B. russischer Genetiv zur Markierung eines belebten Objekts; altgriechischer partitiver Genetiv für die Markierung von Objekten, die man sich als nur partiell durch die Verbhandlung erfasst denkt; hebräischer Instrumental-Komitativ zur Markierung des direkten Objekts generell) oder aber es greifen in der anderen Richtung Aktantenkasus auf die Funktionen von Zirkumstantenkasus über (z.B. altgriechischer respektiver Akkusativ, altenglischer instrumentaler Dativ, altfranzösischer instrumentaler cas oblique) (3) Jeder Kasus eines Systems aus syntaktischen Kasus kann Funktionen von jedem anderen Kasus übernehmen. Es kann also zwischen fast allen Kasus eines solchen Systems zum Zusammenfall kommen, mit Ausnahme der in der Bewegungsmetaphorik extrem entgegengesetzten. Im Rumänischen und in den germanischen Sprachen sind Nominativ und Akkusativ zusammengefallen, obwohl auch noch andere Kasus existieren. Im Altfranzösischen sind Genetiv, Dativ, Akkusativ und Ablativ im cas oblique zusammengefallen. Im Niederländischen und Englischen sind Dativ und Akkusativ verschmolzen. Die Verschmelzungen können unterschiedlich in unterschiedlichen Flexionsklassen stattfinden. Paradebeispiel ist die morphologische Annäherung von Dativ und Genetiv in den Singularen der a- und e-Deklination des Lateinischen, der die Annäherung des Dativs an den Ablativ in der o- und u-Deklination gegenübersteht. Im Sanskrit fallen Ablativ und Genetiv in einigen Flexionsklassen zusammen, nicht aber bei den a-Stämmen. (4) Die Verschmelzungen greifen nicht in einem Mal, sondern gehen sukzessive von jeweils schon erreichten Reduktionszuständen aus, um zu einer weiteren Reduktion zu führen. Nach diesen Prinzipien ist die Entwicklung, die vom Vulgärlatein zum Romanischen führt, in folgendem Sinne durch universale Prozesse bestimmt: Ein Aktantenkasus greift auf Zirkumstantenfunktionen hinaus und übernimmt auch die Funktionen des periphereren Aktanten und des Attributs. Dies kann in sukzessiven Phasen geschehen sein und zunächst nur in einigen Flexionsklassen. Der klassisch-lateinische Zustand wäre schon der Beginn der Prozesse des Zusammenfalls des Systems der synaktischen Kasus. Der Zusammenfall endet - in der sukzessiven Abfolge - mit dem letzten Schritt, durch den sich Akkusativ und Nominativ vollkommen decken. <?page no="47"?> 3.1 Grammatikalisierung 35 Nachdem nun die einzelnen, für die vorliegende Arbeit wichtigen Grammatikalisierungskanäle präsentiert worden sind, soll erklärt werden, wie Lehmann „Grammatikalisierung“ definiert. Nach seiner Auffassung besteht sie in einem Bündel von sechs miteinander zusammenhängenden Teilprozessen, die auf ein grammatikalisches Element einwirken und es schrittweise in Funktion und Gestalt verändern können. Ganz allgemein verliert ein Wort, das als Quellwort für die Repräsentation einer grammatischen Funktion aus dem Lexikon kommt, fortwährend an Eigenständigkeit (autonomy). Ein Lexem, das den offenen, produktiven Vollwortklassen angehört, hat gewöhnlich ein gewisses phonologisches Gewicht, d.h., es besteht aus einer Anzahl von Phonemen, die es klar von anderen Lexemen unterscheiden (phonological integrity). Seine Bedeutung ist relativ komplex, sie umfasst viele Seme (semantic integrity). Es kann in einem Wortwahlprozeß unter gewissen kontext-semantischen Bedingungen frei an einen Platz in dem zu konstruierenden Satz eingesetzt werden (paradigmatic variability) und steht dort in Konkurrenz zu einer großen Zahl anderer Mitglieder der offenen Wortklasse, der es entstammt. Es gehört nicht zu einem geschlossenen Paradigma wie etwa Kasusendungen (Aspekt der Paradigmaticity). Es genießt eine gewisse Bewegungsfreiheit relativ zu anderen Vollwörtern im Satz (syntagmatic variability), auf die es sich über Vermittlung durch eine höhere Konstituentenebene bezieht - etwa ein Nomen auf ein Adjektiv über die NP, ein Subjektsnomen auf ein Verb über den Satz (Aspekt des Skopus/ scope). Es hat selbst unter Einordnung in den Intonationsverlauf, also den Satzakzent, eine relativ starke Eigenbetonung. Diese Betonung entspricht seiner selbständigen Bedeutung, die auch ohne die Verbindung mit anderen Wörtern gut verständlich ist, während ein grammatikalisches Element wie etwa eine Kasusendung oder ein Tempusmarkierer immer erst im Kontext von Vollwörtern konkret fassbar und verständlich wird (Aspekt der Gebundenheit/ bondedness). Integrität, fehlende Paradigmatizität und paradigmatische Variabilität sind Merkmale der paradigmatischen Eigenständigkeit; ein weiter Skopus, fehlende Gebundenheit und syntagmatische Variabilität kennzeichnen die syntagmatische Eigenständigkeit. Genau diese Merkmale werden im Zuge der Grammatikalisierung in Richtung einer Unselbständigkeit und Anlehnung an Vollwörter verändert. Die entsprechenden Prozesse sind: A Paradigmatische Seite (i) Abnutzung (attrition): Phonologisch besteht die attrition in einer fortwährenden Verringerung der Zahl der Phoneme, aus denen ein sprachliches Zeichen besteht (z.B. lat. ille frz. le, lat. quod span. que), meist gedeutet als Folge eines ökonomischen Prinzips „der geringsten Anstrengung“ bei oft zu nennenden Wörtern. Endpunkt dieser Entwicklung ist immer das Null-Morphem. <?page no="48"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 36 In semantischer Hinsicht besteht die attrition in einer allmählichen Herausschälung abstrakter Hintergrundsbedeutungen durch die fortwährende Reduktion der Propositionen oder Seme, aus denen sich die Bedeutung eines sprachlichen Zeichens zusammensetzt. Lat. de bedeutet ursprünglich: <Bewegung + von weg + Ausgangspunkt liegt höher + nach unten>. Vom Lateinischen zum Romanischen gehen die Propositionen <Ausgangspunkt liegt höher> und <nach unten> verloren. Gleichzeitig bildet sich eine abstrakte Variante, die den Genetiv anzeigt und nur noch das Merkmal eines Rückverweises auf einen Zugehörigkeitspunkt übriglässt. (ii) Paradigmatisierung (paradigmatization): Fortschreitende Verkleinerung des Paradigmas, in dem ein sprachliches Zeichen steht, also die Verringerung der Zahl der Zeichen, die mit ihm bei der Einsetzung an eine Stelle im Satz konkurrieren. Z.B. ist das Paradigma sekundärer lokaler Präpositionen im Englischen (beyond, before, beside, within, amidst usw.) größer als das der einfachen Präpositionen, das der einfachen Präpositionen im Vergleich also als eine um einige Differenzierungen verringerte Version dieses Paradigmas anzusehen. Ein anderes Beispiel ist die Zahl der Nominalklassen. Bei afrikanischen Sprachen ist sie recht hoch. So gibt es im Kisuaheli sieben morphologisch unterschiedliche markierte Klassen, die (1) Lebewesen, (2) Körperteile und Pflanzen, (3)heterogene Klasse, (4) Früchte und Pflanzenteile, (5) einfache Substantive, (6) Abstrakta, (7) mahali (= Platz, Ort). Die Zahl der Nominalklassen kann sich soweit verringern, dass nur noch wenige Genera übrig bleiben, was eine Verringerung der Zahl der beteiligten Morpheme mit sich bringt. Das ideale Paradigma hat zwei Glieder, wie Singular vs. Plural oder Nicht- Vergangenheit vs. Vergangenheit im Tempusbereich. Wird eines dieser Glieder durch das Fehlen, das andere durch das Vorhandensein eines Markierers realisiert, dann ist der höchste Grad an Paradigmatizität erreicht. Endpunkt der Entwicklung ist das Verschwinden des Paradigmas durch die Aufgabe jeglicher Opposition in seinem Kategorienbereich. Ein zweiter Aspekt der Paradigmatisierung liegt in der formalen Ähnlichkeit der Glieder des Paradigmas. Z.B. zwischen lat. Dativ und Ablativ im Plural aller Deklinationen (-is oder -ibus), zwischen türkischem Lokativ auf -da und Ablativ auf -dan. Im lateinischen Perfekt treten Ähnlichkeiten zwischen der 1. und 3. Pers. Sg. (-vi/ -vit) und der 2. Pers. Sg. und Pl. (-visti/ -vistis) auf. Der Verlust semantischer Unterschiede zwischen den Gliedern eines Paradigmas im Zuge seiner Verringerung kann dazu führen, dass mehrere Alternativformen entstehen, die das selbe bedeuten. Mit der Zeit verteilen sich diese auf verschiedene Lexeme und bilden jeweils deren spezifische Form der Realisierung der Kategorie, für deren Markierung diese Form einst Alternativformen waren. In diesem Sinne deutet Christian Lehmann die Vielzahl der Bildungsarten des lateinischen Perfekts (vgl. Lehmann 2002a: <?page no="49"?> 3.1 Grammatikalisierung 37 122). Das Altgriechische zeigt, dass die Reduplikation (cucurri usw.) ursprünglich perfektivisch-resultativ gemeint war, während das s-Perfekt (scripsi usw.) einen aoristischen Ursprung hat. Im polyfunktionalen lateinischen Perfekt sind beide Formen nur noch lexikalisch gebundene Allomorphe. (iii) Obligatorisierung (obligatorification): Mit fortschreitender Grammatikalisierung wird die Wahl, ein sprachliches Zeichen in einem bestimmten Kontext zu gebrauchen, immer stärker eingeschränkt. Lehmann bezieht diese Wahl auf grammatische Paradigmen und unterscheidet zwischen intraparadigmatischer Variabilität und transparadigmatischer Variabilität. Intraparadigmatische Variabilität hängt mit der Freiheit des Sprechers zusammen, in einem gegebenen Kontext je nach Aussageabsicht ein beliebiges Glied eines Paradigmas zu wählen. Vollkommene Freiheit herrscht hier bei Singular und Plural von Nomina oder bei den Tempora. Dagegen wird diese Freiheit im Kasusbereich dann reduziert, wenn vom gegeben Verb ausgehend ein bestimmter Kasus oder eine bestimmte Präposition verlangt wird. Ein anderer Fall der Beschränkung von Wahlfreiheit ergibt sich in den Bantu-Sprachen, wenn die Präfixe von Verben, Adjektiven, Relativpronomen und Demonstrativa an Klasse und Numerus ihrer jeweiligen Bezugsnomina gemäß den Kongruenz-Reihen angepasst werden müssen. Ein Beispiel für intraparadigmatische Obligatorietät ist der Modus in den romanischen Sprachen im Kontext eines Nebensatzes. Innerhalb von Objekt-Nebensätzen, die durch Hauptsätze mit ganz bestimmten Verben eingeleitet werden, sowie nach bestimmten Konjunktionen steht obligatorisch der Subjunktiv. Transparadigmatische Variabilität ist die Möglichkeit, ein Paradigma als ganzes zu realisieren, indem man eines seiner Mitglieder in die zu bildende Konstruktion einbringt, oder es eben nicht zu realisieren. In vielen Sprachen, darunter Chinesisch und Türkisch, ist die Pluralmarkierung nicht obligatorisch, so dass unmarkierte Formen im Sinne indo-europäischer Pluralformen verstanden werden können. Dagegen ist eine Festlegung auf Singular oder Plural in den indo-europäischen Sprachen ebenso obligatorisch wie die Festlegung auf ein bestimmtes Tempus und einen Modus beim Verb, selbst wenn die Entscheidung für Singular oder Plural, für Präteritum oder Präsens von der Aussageabsicht abhängt. Eine Markierung ist keineswegs vermeidbar. Im Artikelbereich kann man beim Vergleich von Deutsch (kein markierter unbestimmter Artikel im Plural), Spanisch (un/ unos, aber kein Partitiv) und Französisch (un/ des & Partitiv) eine zunehmende Tendenz in Richtung auf obligatorische Artikel-Markierung sehen. Ein anderes Beispiel für Obligatorisierung ist die fortschreitende Obligatorisierung einer Verb-Objekt-Kongruenz (Vgl. Spanisch, Swahili, Abchasisch). Den Endpunkt der Entwicklung stellen Elemente dar wie die Markierer von Nominalität und Verbalität in den Grammatikalisierungskanälen der Pronomen (s.o.). Sie stehen kurz davor, jegliche Funktionalität im Sprachsystem zu verlieren, vor allem wenn andere Morpheme mit Zusatzinforma- <?page no="50"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 38 tion den Verb- oder Nomencharakter der durch sie markierten Wörter implizit erkennen lassen, wie dies etwa Tempus- oder Kasusmorpheme tun. B Syntagmatische Seite (i) Verdichtung (condensation): fortschreitende Reduzierung des Skopus eines sprachlichen Zeichens. Unter „Skopus“ versteht Lehmann die Größe der Konstruktion, die unter Mithilfe eines bestimmten Elementes gebildet wird. Sie lässt sich definieren durch die Konstituentenstrukturebene dieser Konstruktion. So ist ein Tempus/ Aspekt/ Modus-Auxiliar zunächst ein Vollverb, das eine nominalisierte Verbalphrase zur Ergänzung hat. Als Vollverb fungiert es also noch auf (Teil-) Satzebene. Als Auxiliar dagegen fungiert es auf der Ebene der Verbalphrase, als Markierer schließlich ist sein Bezugsbereich nur noch der Verbknoten selbst. Lehmann weist darauf hin, dass der konstruktive Skopus nicht mit dem semantischen Skopus von abstrakten Kategorien wie Aspekt und Tempus verwechselt werden darf! Letzterer wird ja gerade vergrößert, wenn ein Aspektmarkierer zum Tempusmarkierer wird (vgl. auch Foley/ vanValin 1984), und keineswegs verringert. (ii) Verschmelzung (coalescence): fortschreitende phonologische und semantische Anlehnung an andere Zeichen. Phonologisch sind die Phasen der Juxtaposition, Klitisierung, Agglutinierung und Fusion zu unterscheiden. Z.B. lat. ille (juxtaponiert), frz. le (proklitisch), rum. (u)l (agglutiniert). Oder dt. Präpositionen: trotz (juxtaponiert), an (proklitisch), am (fusioniert mit dem bestimmten Artikel). Fusion kennzeichnet viele grammatikalische Morpheme in Flexionssprachen. Ablauterscheinungen (engl. foot, feet) bilden den größten Grad der Fusion. Extreme Fusion sieht Lehmann auch bei reiner Akzentverschiebung (etwa russ. ókno (sg.), okná (pl.); den Unterschied zwischen unbetontem -o und -a hört man im Russischen nicht). Die Zweitstellenanlehnung funktional anders zugeordneter Klitika, etwa im Sinne von Wackernagels Gesetz für Klitika des Lateinischen, zeigt nach Lehmann, dass die phonologische Verschmelzung zwei Prinzipien genügt: entweder sie richtet sich an Konstituentenrelationen aus und entspricht der Markierung bestimmter Funktionen, oder sie richtet sich nach der Sequenz der anderen Zeichen im Satz, ohne Rücksicht auf deren kategoriale Zuordnung (Anlehnung an ein bestimmtes Element in der Abfolgereihenfolge, meist das erste). Der Verlust der Juxtaposition wird durch syntaktisches Verhalten angekündigt, so etwa wenn ein Zeichen sich bei Koordination nicht von einem anderen trennen läßt: dt. * zu beschreiben und erklären, zu beschreiben und zu erklären aber engl. to describe and explain <?page no="51"?> 3.1 Grammatikalisierung 39 Das deutsche Infinitivklitikum zu, gleichzeitig eine Präposition, ist offenbar gegenüber dem Infinitiv weniger frei als das englische to, denn es kann sich nicht über einen dazwischen tretenden Koordinator hinweg auf einen Infinitiv beziehen und muss wiederholt werden. Die übliche lexikographische Praxis (dt. Eintrag <beschreiben>; engl. Eintrag <to describe>) verdeckt diese Verhältnisse übrigens. Semantische Verschmelzung bedeutet, dass ein sprachliches Zeichen immer mehr von einem autosemantischen zu einem synsemantischen Zeichen wird. Grammatische Kategorien sind nur insofern in der Bedeutung von synsemanischen Zeichen enthalten, als diese auf Lexeme angewandt werden, denen sie diese Kategorie verleihen. „A number or gender marker does not signify a number or gender concept as such, but only insofar as these are features of other concepts […] This is, in fact, one of the semantic differences between the word plurality and the plural -s“ (Lehmann 2002a: 139). (iii) Fixierung (fixation): zunehmender Verlust der Bewegungsfreiheit eines Zeichens in Beziehung zu anderen Zeichen. So etwa büßen Auxiliare allmählich die Bewegungsfreiheit zu ihrem Bezugsverb ein. Personalpronomina, die noch nicht affigiert sind, können - wie im Russischen - sehr unterschiedliche Positionen zum Verb des Satzes einnehmen. Selbst klitisierte Personalpronomina besitzen noch eine gewisse Beweglichkeit, wie die romanischen Sprachen zeigen (Fragesatz-Inversion, zwischen Subjekt und Verb tretende Negationspartikel, alternative Plätze in Infinitivkonstruktionen). Dagegen müssen affigierte Personalpronomina, wie sie etwa im Swahili, Georgischen oder Abchasischen vorkommen, fest zugewiesene Plätze besetzen. Zwischen diesen Parametern lassen sich Korrelationen erkennen: Wenn ein sprachliches Zeichen in ein kleines Paradigma gepresst ist (starke Paradigmatizität) und unter bestimmten Umständen unbedingt auftauchen muss (Obligatorietät), dann hat es eine abstrakte Bedeutung und sein Sembestand ist gering (geringe semantische Integrität), da es ja zu wenigen anderen Zeichen in Opposition stehen muss; wenn sich der Skopus eines Zeichens verringert, verringert sich auch seine syntagmatische Variabilität und es lehnt sich stärker an andere Zeichen an. 3.1.3 Zum semantischen Hintergrund von Grammatikalisierung Nach den Initiativen Bernd Heines und Christian Lehmanns wurde die Grammatikalisierungstheorie in der Folgezeit weiter ausgeformt. Es wurden Vertiefungen und Modifikationen vorgeschlagen (Compes et al. 1993, Hopper/ Traugott 1993, Heine/ Claudi/ Hünnemeyer 1991, Lang/ Neumann-Holzschuh 1999, Lehmann 2002b), die zum Teil aber auch den Charakter einer grundsätzlichen Kritik an den älteren (Laca 1996, Detges 2001, 2003) und <?page no="52"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 40 neueren Fassungen (Haspelmath 1998) gewannen. Im Folgenden sollen zunächst die Beiträge besprochen werden, die dem ursprünglichen Ansatz Weiterentwicklungen, Modifikationen und Ergänzungen hinzugefügt werden können. 1993 haben Isabel Compes, Silvia Kutscher und Carmen Rudorf eine Übersicht über Grammatikalisierungskanäle geliefert (s. vor allem Compes et al. 1993: 4f.), in deren Rahmen neben neuen Grammatikalisierungskanälen zu Infinitiv und Passiv noch andere Neuerungen gegenüber Lehmann 1982 vorgeschlagen werden, die auch noch aus der Perspektive der zweiten Auflage 2003 interessant erscheinen. Compes, Kutscher und Rudorf setzen zwei Arten von Grammatikalisierungskanälen an. Neben den Kanälen, die von Lexemen, also Vollwörtern, dem Demonstrativum oder natürlichen Kategorien wie „konkret/ abstrakt“ ausgehen, existieren nach ihrer Auffassung andere, die ihren Ausgangspunkt in Produkten der ersten Kategorie von Grammatikalisierungskanälen hätten. Solche Kanäle, mit komplexer Grammatikalisierung, seien für bestimmte Passivformen, modale, aspektuale und Tempuskategorien anzusetzen, sowie für den Subordinator (complementizer) und die Negation. Neue adverbiale Subordinatoren entstünden zum Großteil über solche sekundären Kanäle, die auf bereits etablierten grammatikalischen Strukturen aufbauten. Eine bedeutende Seite der Erweiterung und Vertiefung bildet die Auseinandersetzung mit dem kognitiv-semantischen Hintergrund der De-Lexematisierung und Fortgrammatikalisierung. Lehmann behandelt formale und inhaltliche Aspekte der Grammatikalisierung gleichgewichtig. Dabei beschäftigt er sich allerdings nicht näher mit den rein semantischen, konzeptuellen Aktivitäten, die hinter der Indienstnahme von Morphemen für grammatikalische Zwecke stehen. Die semantisch-konzeptuelle Seite wurde u.a. vom Kreis der Kölner Afrikanisten sowie den ihnen inhaltlich nahe stehenden amerikanischen Forschern (vgl. Kap. 3.1.1) beleuchtet. Danach sind an der Entwicklung grammatikalischer Kategorien zwei Aktivitäten der Sprecher beteiligt, die mit Begriffen der klassischen rhetorischen Tropenlehre als „Metonymie“ und „Metapher“ beschrieben werden können (Heine/ Claudi/ Hünnemeyer 1991: 157 u. 164). Beim Sprachwandel mittels Metapher wird eine Sache bildlich verdeutlicht durch eine andere Sache, die im Kontext nicht gegeben ist (Hopper/ Traugott 1993: 87). Es handelt sich also um eine Übertragung (griech. meta-phorá) von einem Wirklichkeitsbereich in einen anderen. Dies ist z.B. der Fall, wenn die deutsche lokale Präposition durch zur Angabe eines instrumentalen oder kausalen Verhältnisses verwendet wird: Ein Vorgang wird durchgangen - so wie ein zum Ziel führender Pfad durchwandert wird -, so dass ein anderer, als Ziel anzusehender sich ereignet (durch eine Erhöhung der Temperatur erreicht man eine schnellere Reaktion). Beim metonymischen Sprachwandel dagegen wird eine Bedeutung repräsentiert, die neben der wörtlichen Bedeutung in dem gegebenen sprachlichen Kontext tatsächlich gleichzeitig präsent ist (Ibid.: 87). Dadurch <?page no="53"?> 3.1 Grammatikalisierung 41 entsteht Kontiguität oder Berührung zwischen den beiden Bedeutungen, was ja das Wesen einer Metonymie ausmacht. Ein Beispiel ist die Verwendung von Raumteilbezeichnungen zur Ortsangabe in den afrikanischen Sprachen (Heine/ Claudi/ Hünnemeyer 1991: 124). Die Wörter für die verschiedenen Raumteile können wieder auf Bezeichnungen für menschliche Körperteile zurückgehen (Ibid.: 128); auch im deutschen Wort Rückseite steckt ja das Wort Rücken. Zwischen dem Wort für den Körperteil und dem für den Raumteil besteht eine metonymische Beziehung, wenn gesagt wird, dass etwas sich im Rückraum von einer Person befindet. Diese Beziehung wird in dem Augenblick metaphorisch, wo auch einer Sache, in deren Rückraum etwas steht, ein „Rücken“ zugesprochen wird. In diesem Gegenstande werden also Gegenstände als Personen aufgefasst, es findet eine semantische Übertragung aus dem Bereich der Gegenstände in den der Personen statt. Zwischen den Raumteilbezeichnunen und der präpositionalen Verwendung dieser Bezeichnungen lassen sich aber in jedem Fall engere, metonymische Beziehungen feststellen. Eine der Hauptthesen der neueren Grammatikalisierungsforschung besagt, dass alle metaphorischen Beziehungen zwischen grammatikalisch repräsentierten Konzepten oder auch von grammatikalischen Morphemen zu ihren Ursprungslexemen metonymisch vermittelt worden sind. D.h., in den Dialogen, die in einer Sprache geführt wurden, boten sich eine Reihe typischer Kontexte, in denen das Ausgangskonzept und das Zielkonzept der Grammatikalisierung gleichzeitig präsent waren, wenn ein bestimmtes Wort verwendet wurde. Ergebnis dieser Häufung metonymischer Situationen ist meist ein weiterer Schritt auf einem Grammatikalisierungskanal, der in einer metaphorischen Beziehung zu der vorhergehenden Bedeutung des selben Morphems steht. Dies lässt sich durch die Konstruktion von Mikrokontexten demonstrieren, d.h., indem man eine Reihe von Sätzen aufstellt, die zwischen dem Ausgangskonzept und dem Zielkonzept vermitteln. So werden durch die folgende Reihe denkbarer Satzkontexte die komitative und die instrumentale Bedeutung des englischen präpositionalen Morphems with miteinander verbunden (vgl. Heine/ Claudi/ Hünnemeyer 1991: 104): (1) The pantomist gave a show with the clown. (2) The engineer built the machine with an assistant. (3) The general captured the hill with a squad of paratroopers. (4) The acrobat performed an act with an elephant. (5) The blind man crossed the street with his dog. (6) The officer caught the smuggler with a police dog. (7) The prisoner won the appeal with a highly paid lawyer. (appeal = Berufungsprozess) (8) The Nobel Prize winner found the solution with a computer. (9) The sportsman hunted deer with a rifle. (10) The hoodlum broke the window with a stone. (hoodlum = Rowdy) <?page no="54"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 42 In den Sätzen (1) bis (7) werden die Ziele der Handelnden unter Mithilfe begleitender Personen oder Lebewesen erreicht, die in zunehmendem Maße zu dem im Subjekt genannten Handelnden in einer untergeordneten Beziehung stehen: Pantomime und Clown als gleichberechtigte Partner; der Ingenieur, der seinem Assistenten beim Bau einer Maschine Anweisungen gibt; der General, der seine Truppe in militärischer Aktion regelrecht befehligt und seinen Leuten weitgehend die Eigeninitiative nimmt; bis hin zum Gefangenen, dessen Rechte in einem Prozess durch einen Anwalt vertreten werden, der überhaupt nicht mehr in eigenem Interesse agiert und von der Problemsituation nur indirekt betroffen ist. In den letzten Sätzen tritt schließlich ein Ding an die Stelle des lebendig-autonomen Begleiters. In (9) ist die komitative Relation zwischen rifle und sportsman noch gegeben, wenn auch schwächer präsent als die im Vordergrund stehende instrumentale. In (10) schließlich besteht zwischen hoodlum und stone nur noch ein rein instrumentales Verhältnis. Allgemein kann man sagen, dass sich jederzeit metonymische Brücken zwischen konzeptuellen Bereichen anbieten (Heine/ Claudi/ Hünnemeyer 1991: 114). Dies bedeutet, dass die Kontexte, aus denen heraus ein neues Konzept erreicht wird, bei der Beobachtung und Beschreibung eines Grammatikalisierungskanals berücksichtigt werden müssen. In einigen aktuellen Beiträgen zur Grammatikalisierungstheorie (Heine 2002; Diewald 2002) wurden diese Kontexte typisiert: zunächst kommt es dazu, dass grammatikalische Morpheme oder deren lexikalische Vorläufer in untypische Kontexte (Diewald) geraten, in denen sich neue ad-hoc-Lesungen ergeben, die hörerseitig durch konversationelle Implikaturen hergestellt werden können. Brückenkontexte (Heine) erlauben, dass solche Schlussfolgerungen und ebenso die neuen Bedeutungszweige eines polyfunktionalen Grammems bzw. polysemen Lexems stabil sind. Isolierende Kontexte (Diewald) führen zum Umschlag der Bedeutung zu Gunsten des neuen Zweiges, weil sie eine Lesung im Sinne der alten Bedeutung ausschließen. Heine fügt dann noch den Vorgang der Konventionalisierung hinzu, durch den die neue Bedeutung erst Unabhängigkeit von der Bindung an bestimmte Kontexte erreicht und unabhängig vom Kontext besteht. Die dynamische Beschreibung der Kontexte, die ja jeweils über sprachrezeptive und sprachproduktive Operationen wirksam werden, zeigt, dass metonymische Relationen zwischen Bedeutungen in einer sprachlich-situationellen Umgebung nicht einfach so vorliegen, sondern vielmehr erst durch die Auffassung des Hörers zu Stande kommen. Der Hörer deutet die gegebene syntaktische Konstellation neu, belegt sie mit einem neuen Sinn, ohne dass dies zunächst morphologisch oder durch Wortstellungsänderungen an der Oberfläche des Satzes sichtbar würde. Hopper/ Traugott verdeutlichen dieses Geschehen der Reanalyse zunächst an einem lexikalischen Fall: Die Herausbildung bestimmter Derivationssuffixe des Englischen ging aus von der syntaktischen Konstellation einer Juxtaposition konkreterer Substantive mit <?page no="55"?> 3.1 Grammatikalisierung 43 5 Nicht jede grammatikalische Reanalyse führt auch zur Grammatikalisierung, weil nicht jede in der Richtung einer fortschreitenden Festlegung auf immer abstraktere grammatische Funktionen verläuft. So weisen Paul J. Hopper und Elizabeth Closs Traugott darauf hin, dass im Estnischen das Suffix -ep zum ungebundenen Morphem reanalysiert wurde (1993: 49). Also eine rein formale Änderung ohne Auswirkungen auf die Bedeutung oder Funktion dieses Suffixes. Lexemen, die soviel bedeuteten wie „Lebensbedingungen“, „Reich“ oder „Körper“ (1993: 41): freo-dom [frei + Reich] = freedom cild-had [Kind + Lebensbedingungen, Zustand] = childhood man-lic [Mann + Körper] = manly dom, had und lic wurden von den Hörern mehr und mehr als Derivationssuffixe interpretiert. Dies machte sich zunächst nicht bemerkbar. D.h. wenn diese Hörer selbst zu Sprechern wurden und ihre neuen Interpretation zum Ausgangspunkt einer eigenen Äußerung machten, dann konnte man dies noch nicht an morphologischen oder phonetischen Kennzeichen feststellen. Je mehr sich aber die alte Bedeutung verlor, je weniger also dom, lic und had in anderen Kontexten im Sinne von Vollwörtern verwendet wurden, umso stärker wurde der Druck, auch morphologisch-phonetische Veränderungen zu vollziehen: had wurde zu hood, lic verlor den Endkonsonanten, und alle drei Wörter gaben ihre Eigenbetonung auf. Ein anderer Fall von Reanalyse ist die Deutung von temporalen Konjunktionen als kausale Konjunktionen durch einen post-hoc-propter-hoc-Schluss (after [nachdem] he had heard the news, he didn’t leave the house any more, auch zu verstehen als: as he had heard the news [weil er die Nachrichten gehört hatte]). Die Ausgangs-Aktivität, also die veränderte perzeptive Interpretation ohne morphosyntaktische Oberflächenerscheinungen bei der Sprachproduktion, wird „Reanalyse“ genannt (Ibid.: 40). Reanalyse steht hinter allen Bewegungen auf Grammatikalisierungskanälen, die in bloßen Änderungen von Funktionszuordnungen bestehen, ohne morphosyntaktische Veränderungen 5 . 1999 haben Richard Waltereit und Ulrich Detges die Konzepte „Metonymie“ und „Reanalyse“ im Rahmen der Grammatikalisierungstheorie zu einem vertieften Verständnis geführt. So arbeitet Waltereit ein faktorielles System heraus (1999: 25f.), durch das er lexikalische Metonymie einerseits von Reanalyse, andererseits von metonymischem Wandel bestimmter Aktantenrollen (wie beim Übergang: risquer sa vie risquer le combat) unterscheidet. Nur dort, wo die Ausgangssituation syntagmatisch komplex sei (im Gegensatz zur Metonymie beim Bedeutungswandel) und außerdem eine Umstrukturierung der Konstituentengliederung (im Gegensatz zum reinen Wandel der Aktantenrolle) stattfinde, habe man es mit Reanalyse zu tun. Beide Merkmale gälten etwa für die folgenden Fälle von Reanalyse (1999: 21f.): <?page no="56"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 44 (dt.) Entstehung des dativischen Genetivs in manchen deutschen Regiolekten Da zerriss NP [dem Jungen] NP [seine Hose] (syntagmatisch komplexe Ausgangssituation) Da zerriss NP [ NP [dem Jungen]seine Hose] (Änderung der Aufteilung in Konstituenten) (frz.) Entstehung der Fragepartikel est-ce que [Est-ce[que mon amie est morte]? ] (syntagmatisch komplexe Ausgangssituation) [[Est-ce que] mon amie est morte? ] (Änderung der Aufteilung in Konstituenten) Für Ulrich Detges sind Metonymien Umlagerungen zwischen Merkmalen innerhalb eines Frames. Dabei wird „Frame“ als die Gesamtheit der Aussagen, die zu unserem Wissen um eine Sache gehören, verstanden (also ein Stereotyp im Sinne von Putnam 1975). Wenn das, was bis zu einem bestimmten Zeitpunkt im Hintergrund eines Frames gestanden hat, in seinen Vordergrund rücke, und der Vordergrund - die sogenannte „Figur“ im Sinne der Gestaltpsychologie -, der bisher im Zentrum des Frames stand, zum Hintergrund werde, dann ergebe sich eine neue Bedeutungskonstellation (1999: 36ff.). Detges führt dies an Hand der Auxiliarisierung von frz. aller zum Hilfsverb des futur proche vor. Hier sei es zu folgendem Wandel gekommen: GEHEN Figur/ ABSICHT Grund ABSICHT Figur/ GEHEN Grund/ ZUKUNFT Grund ZUKUNFT Figur/ ABSICHT Grund/ GEHEN Grund Metonymie vollzieht sich also als Neuordnung einer (stereotypensemantisch deutbaren) Merkmalsstruktur. Reanalyse vollzieht sich ebenfalls als Neuordnung, nämlich als „stille“ Umstrukturierung einer gegebenen Konstituentenstruktur. In dem obigen Beispiel der englischen Derivationen (freo-dom freedom usw.) wurde [NN] NP oder [Adj N] NP reinterpretiert als [N-Affix] N bzw. [Adj-Affix] N . Dies wird ergänzt durch die Aktivität der Analogie, durch die immer mehr unterschiedliche Lexeme in die erste N-Stelle bzw. die Adjektiv- Stelle eingesetzt werden können (Hopper/ Traugott 1993: 56). Erst diese allgemeine Ausbreitung über das Lexikon hin hat morphologische Reaktionen zur Folge (Ibid.: 57). Die Entwicklung der französischen Negationspartikel pas zeigt die zyklische Wechselwirkung von Reanalyse und Analogie (Ibid.: 58): I. Im Altfranzösischen wurde durch vor das Verb gesetztes ne verneint II. Dem ne konnten zur Verstärkung Substantive beigefügt werden, die in einem instrumental oder akkusativisch verstandenen Casus obliquus standen. Bei Bewegungsverben war ein solches Substantiv pas (der Schritt): (afrz.) ne marche pas (er/ sie geht keinen Schritt) <?page no="57"?> 3.1 Grammatikalisierung 45 III. Dieses adverbial gemeinte pas wurde per Reanalyse als Negationspartikel interpretiert, also als Bestandteil einer Wortgruppe ne…pas, durch die man insgesamt verneinen konnte (Alternative zum bloßen ne) IV. Dadurch stand der Weg offen, per Analogie auch Verben anderer Verbklassen denn Bewegungsverben in die Struktur ne… pas einzusetzen, um sie zu verneinen (nfrz.) il ne sait pas (er weiß nicht) V. Durch diese Erweiterung wurde pas per Reanalyse als obligatorischer Begleiter von ne verstanden. Negation war im Prinzip nur noch diskontinuierlich, durch das Paar ne…pas möglich, das das Verb umschloss. Nur in der syntaktischen Konstellation eines ne explétif und bei einigen wenigen Verben (oser, pouvoir) blieb die Negation durch reines ne erhalten. VI. Aus dieser Situation hat sich in jüngerer Zeit dann der morphologische Effekt ergeben, dass ne in der Umgangssprache zunehmend fallen gelassen wird und pas allein die Negation repräsentiert (nfrz.) il marche pas, il sait pas Die Analogie gehört also zum Geschehen auf einem Grammatikalisierungskanal dazu. Wie die Reanalyse kann sie als Element der Beobachtung und Beschreibung solcher Kanäle angesetzt werden. Wird eine neue Position auf einem Grammatikalisierungskanal erreicht, dann bedeutet dies nicht, dass die anderen Positionen aufgegeben werden. Das Resultat ist vielmehr ein Zustand der Polyfunktionalität: Der selbe Signifikant repräsentiert gleichzeitig eine Mehrzahl unterschiedlich abstrakter grammatischer Funktionen. Dies demonstrieren Bernd Heine, Ulrike Claudi und Friederike Hünnemeyer an einem konzeptuellen Stemma für das außerodentlich polyfunktionale Suffix -ro der in Nigeria gesprochenen Sprache Kanuri (1991: 150): <?page no="58"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 46 Abb. 4 Das weitverzweigte Stemma demonstriert, dass -ro alle diese Funktionen gleichzeitig hat und je nach Kontext die eine oder andere zur Geltung kommt. Dieser Grundgedanke ist aus dem Schema ersichtlich, auch ohne dass es hier in seinen Einzelheiten erschlossen werden muss. Beispiele für weniger weit vernetzte polyfunktionale Verzweigungen finden sich für viele Morpheme europäischer Sprachen: die Funktionen von (frz.) aller faire (Absicht/ nahe Zukunft/ Zukunft + Sicherheit des Eintretens); die Funktionen von (sp.) a (indirektes Objekt/ präpositionaler Akkusativ/ Ziel einer Bewegung/ Position in örtlicher Nähe/ Art und Weise); die temporalen und themenmarkierend-respektiven Funktionen von (engl.) about; die Funktionen von (russ.) -u (Dativ oder Genetiv). Einzelne Morpheme können also mehrere Positionen auf Grammatikalisierungskanälen besetzt halten. Dies ist eine der wesentlichen Tatsachen, die auf dem schon angesprochenen Sprachwandel-Prinzip der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen beruhen. Das Moment des Ungleichzeitigen ist in dem obigen Stemma auf folgende Weise zu denken: Die abstrakteste Funktion, also die Einbettung von Teilsätzen, könnte im Kanuri mit der Zeit zur alleinigen Funktion von -ro werden und andere nachrückende Morpheme könnten es aus den konkreteren Funktionen vollkommen verdrängen. Die spätere <?page no="59"?> 3.1 Grammatikalisierung 47 6 Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen wäre zu modellieren, wenn man Grammatikalisierungskanäle auf die „Dimensionen“ der Typologie von Hansjakob Seiler projizieren würde (s. Seiler 1988; für die beiden wichtigsten Dimensionen Seiler/ Premper 1991 und Seiler 1986). Dies ist jedoch eine sehr komplexe Aufgabe, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht unternommen werden konnte. abstrakte Funktion wäre dann aber schon in der augenblicklichen Situation präsent gewesen. In diesem Sinn greift gegenwärtige Variation der zukünftigen Entwicklung voraus (vgl. Berschin/ Felixberger/ Göbl 1978: 13ff.). Paul J. Hopper und Elizabeth Closs Traugott fassen polyfunktionale Situationen als Zwischenschritte auf Grammatikalisierungskanälen auf, was sich wie folgt repräsentieren lässt (Hopper/ Traugott 1993: 36): A {A, B} B D.h. bevor eine neue Funktion oder grammatische Bedeutung zur alleinigen Funktion eines Morphems wird, hat es eine Zeit lang beide Funktionen gleichzeitig. Man kann die Perspektive aber auch umdrehen und fragen, durch welche Morpheme bestimmte Funktionen repräsentiert werden. Man wird dann feststellen, dass oft mehrere Morpheme als mögliche Repräsentanten koexistieren, so etwa im Deutschen die einfachen Präpositionen mit und durch sowie die komplexe Präposition mit Hilfe von zur Bezeichnung einer instrumentalen semantischen Relation zwischen Prädikat und nominaler Ergänzung. Dies gilt auch für Paradigmen, also Morphemgruppen, die durch eine gemeinsame Grundfunktion und oppositionelle Beziehungen der Glieder konstituiert werden. Paradigmen mit vergleichbaren Grundfunktionen können eine Zeitlang nebeneinander bestehen, wie z.B. Präpositionen und Kasus, bis schließlich das jüngere Paradigma vollkommen an die Stelle des alten tritt, das verschwindet. Beobachtet man einen Grammatikalisierungskanal also in einer bestimmten historischen Phase, dann wird er sich zumindest partiell als Variantenraum darstellen, wobei die Varianten entweder alternative Funktionen eines polyfunktionalen Morphems sind oder aber konkurrierende bzw. koexistierende Morpheme zur Repräsentation ein- und derselben Funktion 6 . Hinter den Relationen zwischen konzeptuellen Bereichen steht also ein kompliziertes parole-Geschehen von Metonymie, Reanalyse, analogischer Erweiterung und Variation. Die verknüpften Bereiche lassen dagegen im Resultat, auf der Ebene der langue, ein Muster erkennen, das der semantischen Seite der Grammatikalisierung doch eine gewisse Regelhaftigkeit verleiht. So ist das schon erwähnte Morphemschöpfungsmuster, nach dem der Bereich menschlicher Personen Benennungen für Objekte liefert, über viele Sprachen verbreitet. Auch im Englischen kann das Wort für ‚Rücken‘ (back) die Rückseite von Gegenständen bezeichnen (the back of the house). Die <?page no="60"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 48 Bezeichnung der Rückseite kann wieder zur lokalen Präposition werden. Funktionswörter für lokale Relationen können gleichzeitig temporale Relationen bezeichnen (lat. post = hinter & nach). Regelmäßig, über viele Sprachen hin wiederkehrende Verknüpfungsmuster von Bezeichnungsbereichen zeigt auch das schon erwähnte Beispiel with: Das polyfunktionale Netz dieser Präposition ging von einer personalen Relation (komitative Funktion) aus, wurde dann um eine Gegenstände betreffende instrumentale Funktion erweitert und umfasste schließlich auch die Kennzeichnung der Art und Weise, eine Funktion also, die die Qualität eines Vorgangs oder einer Handlung betrifft (he fought with skill, Heine/ Claudi/ Hünnemeyer 1991: 52) Fasst man nun die obige Darstellung zu Grammatikalisierungskanälen zusammen, so ergibt sich folgendes Bild: Grammatikalisierungskanäle sind in vielen Sprachen wiederkehrende Wege der Umbildung von Lexemen zu grammatikalischen Morphemen und der weiter gehenden Umbildung dieser Morpheme unter Zuordnung zu immer abstrakter werdenden grammatischen Funktionen. Morphosyntaktisch liegt den Grammatikalisierungskanälen folgende allgemeine Reihe zu Grunde, die sich an dem Lehmann’schen Kriterium der fortwährenden Koaleszenz/ Agglutination ausrichtet: Lexem > Funktionswort (freies grammatikalisches Morphem) > Klitikum > Affix > Flexiv (Hopper/ Traugott 1993: 7) Die semantischen Vorgänge, die Grammatikalisierung erzeugen, lassen sich in einer regelmäßig feststellbaren metaphorischen Reihe repräsentieren: Person > Gegenstand (object) > Vorgang (process) > Raum > Zeit > Eigenschaft (quality) (Closs Traugott/ Heine/ Claudi/ Hünnemeyer 1991: 4) Diese semantischen (Groß-)Bereiche werden durch Metonymie in konkreten Kontexten verknüpft. Die metonymische Relation zwischen Bedeutungen wird hergestellt durch kontext-induzierte Reinterpretation (Reanalyse), die in Wechselwirkung mit der Erweiterung der neuen Funktion auf immer größere Anteile des Lexikons (Analogie) sowie morphologischen Prozessen die Grammatikalisierung in der konkreten Kommunikation bewirkt. Starke Unterstützung für die Annahme, dass es sich bei dieser produktiven Skala metaphorisch verknüpfbarer, aufeinander aufbauender kategorialer Fundamentalbereiche um eine sprachlich-anthropologische Konstante handelt, kommt aus der Kognitiven Semantik, einem Forschungsparadigma, das mittlerweile seit 30 Jahren einflussreich ist. Vor allem die Forschungen von George Lakoff (Lakoff/ Johnson 1980) und Eve Sweetser (Sweetser 1990) haben wichtige Erkenntnisse erbracht, die in die selbe Richtung weisen wie die oben vermerkte Abfolge. Erstens zeigt die Beobachtung von Lexemen in <?page no="61"?> 3.1 Grammatikalisierung 49 ihrem lebendigen Gebrauch in Diskursen, dass hinter der Anthopomorphisierung und Verräumlichung abstrakter Begriffe Mentalitäten und Weltauffassungen stehen. Etymologische Forschungen, durch die man die Bedeutungsentwicklung von Wörtern bis weit in die Vergangenheit zurückverfolgt hat, haben ergeben, dass schon die Lexik, nicht erst die Grammatik eine weit gehende Verwurzelung abstrakter Bedeutungen in körperlichen und räumlichen Erfahrungen aufweist; und drittens haben sprachübergreifende Synthesen zu Tage gefördert, dass dieser Eindruck sich wiederholt, wenn man viele Idiome gleichzeitig untersucht. Auch in der Grammatikalisierungstheorie selber wurden Metaphorisierungsverständnis und Begründungen für die Reihenfolge der obigen Skala vertieft (Stolz 1994) und in Richtung auf kognitionswissenschaftliche Fundamente erweitert. Wesentlich an den obigen Überlegungen ist weiterhin die Tatsache, dass ein Grammatikalisierungskanal oder ein Netz zusammenhängender Grammatikalisierungskanäle in einem synchronischen Schnitt oft das Bild eines Variantenraums bieten, weil Grammatikalisierungskanäle, die den selben Funktionsbereich (etwa Tempus/ Aspekt/ Modus) betreffen, nebeneinander existieren und weil mehrere Schritte auf einem solchen Grammatikalisierungskanal in Folge von Polyfunktionalität oder auch durch morphologische Varianten eines grammatikalischen Elements gleichzeitig bestehen können. Die visuelle Repräsentation von Grammatikalisierungskanälen bleibt bisher hinter dem zurück, was die beiden eben angeführten gesetzmäßigen Reihen, also die morphosyntaktische und die semantisch-metaphorische ermöglichen. Denkbar wäre ein Graph, der in der y-Achse jeweils eine aufsteigende Reihe von konkreteren, auf Personen bezogenen Konzepten verzeichnen würde, bis hin zu relativ abstrakten Konzepten mit dem Status von Eigenschaften (qualities), worunter man auch rein grammatische Funktionen wie „Subjekt“ oder „Komplementierer“ rechnen könnte. Die x-Achse - in Form eines Pfeils - könnte man als Zeit-Achse ansetzen, der entlang die morphosyntaktische Reihe anzuordnen wäre. <?page no="62"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 50 7 Das Buch „Matérialisme, Vitalisme, Rationalisme“ des französischen Wissenschaftstheoretikers und Philosophen Antoine A. Cournot wurde 1877 zum ersten Mal publiziert und 1979 Abb. 5 x-Achse = Zeitachse + morphosyntaktische Reihe y-Achse = Achse zunehmender Abstraktheit + metaphorisch-konzeptuelle Reihe Als schematisierter Graph: Dass die Zeit eher der formalen als der inhaltlichen Seite zuzuordnen ist, hat damit zu tun, dass die formalen Stadien sich tendenziell nacheinander ereignen, selbst wenn zwei benachbarte Stadien in relativ kurzen Zeiträumen auch gleichzeitig bestehen können. Nicht benachbarte Stadien bestehen nur sehr selten gleichzeitig, während man auf der inhaltlichen Seite oft Situationen recht hoher simultaner Polyfunktionalität beobachten kann (s. -ro im Kanuri). Selbst wenn also auch die auf die y-Achse zu beziehenden Werte in einer zeitlichen Folge auseinander hervorgegangen sind, ist die Non-Simultaneität doch weit mehr den Stadien der x-Achse zuzuordnen, die sich entlang eines zeitlichen Ablaufs gruppieren. Was an den im Quadranten, also der Fläche des Graphen, eingezeichneten Positionen auf den Kanälen jeweils gleichzeitig ist und was nicht, lässt sich, wenn man den Graphen nicht mit Information überfrachten will, allerdings nur durch einen informellen Kommentar festlegen. Die in Abschnitt 3.2 anzugebenden, auf den Grammatikalisierungskanälen verlaufenden Grammatikalisierungswege, die vom Lateinischen zum Romanischen führen, sollen diese Form haben. Man mag einwenden, dass hier Mathematisierung betrieben wird, in einem Maße, wie es in einer philologischen Arbeit fehl am Platz ist. Ich möchte diesen naheliegenden Einwänden gegenüber darauf hinweisen, dass die graphische Darstellung oben nicht in einem eng mathematischen Sinne gemeint ist. Der französische Philosoph Antoine Cournot hat darauf hingewiesen 7 , dass man mit Hilfe von <?page no="63"?> 3.1 Grammatikalisierung 51 in der Libraire Jean Vrin neu herausgegeben. In diesem Werk entwickelt Cournot ein an Hegel erinnerndes, naturwissenschaftlich-philosophisches Weltmodell. zweidimensionalen graphischen Darstellungsformen generell und fächerübergreifend ein grundsätzliches erkenntnistheoretisches Defizit überwinden kann, welches im Anordnungszwang des diskursiven Denkens besteht: „Dans toute communication orale ou écrite, dans une leçon, dans un plaidoyer, dans un code, dans un traité, dans une histoire, les mots viennent au bout des mots, les articles au bout des articles, les chapitres au bout des chapitres, les récits au bout des récits, comme les grains d’un chapelet, comme les arbres qui bornent une route ou les pierres milliaires qui la mesurent, […] Que cet assujettissement du discours à un ordre linéaire soit une incommodité et souvent un obstacle insurmontable à la juste expression de nos idées et de leurs rapports, nul ne l’ignore. La grande difficulté est toujours de savoir par où commencer et par où finir. […] Cependant les mêmes objets peuvent être envisagés sous bien des faces qui motiveraient autant d’ordres linéaires différents; et quel que soit l’ordre préféré, il aura le tort de séparer par de grands intervalles des objets qui à d’autres égards sont très voisins ou même connexes. Quand le sujet s’y prête, on tâche de remédier à cet inconvénient à l’aide de tableaux synoptiques, d’arbres généalogiques, d’accolades et de faisceaux composés de lignes, tantôt parallèles, tantôt convergentes ou divergentes. Toutes ces dispositions […] tendent à profiter des deux dimensions d’un plan, d’une feuille de papier, pour exprimer symboliquement et au moyen d’images sensibles, des idées, des relations qui ne tombent que sous la vue de l’entendement, et que le simple discours ne saurait exprimer, à cause de sa disposition linéaire.“ (1979: 171). Wolfgang Raible weist in seiner Mediengeschichte auf Ernst Cassirer hin, der unter dem Stichwort „Symbolische Formen“ herausgearbeitet hat, wie sehr wissenschaftlicher Fortschritt von neuen Formaten gefördert wurde, nach denen man Wissen ordnete und aufbereitete. In seinem Werk Philosophie der symbolischen Formen hebe Cassirer „auf den Umstand ab, dass alle Erkenntnis letztlich darauf beruht, Einheit in der Vielfalt oder das Allgemeine im Besonderen zu erkennen (einschlägige Begriffe sind Kategorisierung, Typisierung, Schematisierung, Modellierung, Generalisierung, Abstraktion…).“ (Raible 2006: 21f.). Die hier vorgeschlagenen Graphen sind als Abkürzung einer informellen Beschreibung der Grammatikalisierungswege zu verstehen, eine simultane Präsentation, die erlaubt, verschiedene Stadien und deren gegenseitige Abhängigkeit gleichzeitig in den Blick zu nehmen und die Reihenfolge einer detaillierteren Betrachtung der verschiedenen Stadien auf den Pfaden im Quadranten selbst zu bestimmen. Es geht keineswegs darum, sprachlichen Fakten ihnen fremde, mathematische Kategorien aufzuzwingen! Zu den so erreichten Modifikationen sind schließlich auch Vorschläge Christian Lehmanns selbst zu zählen, der die Diskussion um die Grammatika- <?page no="64"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 52 lisierung durch einen aktuellen Beitrag wieder neu aufgegriffen und sich kritisch zu manchen seiner ursprünglichen Ansätze geäußert hat (Lehmann 2002b). Hier geht es vor allem darum, dass die Grenze zwischen Grammatikalisierung und Lexikalisierung verschoben werden soll. Ausdruckselemente wie Periphrasen vom Typ (sp.) a base de usw. und einfache Präpositionen mit einer relativ gut erkennbaren, klar umrissenen temporalen oder lokalen Bedeutung (hasta, sobre usw.), die Lehmann früher alle als grammatikalisch eingestuft hätte, rechnet er nun zu den Lexemen bzw. Lexien. In Folge dessen kann man bei ihrer Entstehung (sobre aus supra und a base de aus base) nach Lehmanns neuerer Auffassung auch eigentlich nicht von einer De- Lexematisierung sprechen, sondern vielmehr von einem Wandel innerhalb des Lexikons. Grammatikalisierung geschieht danach erst in dem Augenblick, in dem wirklich grammatikalische Elemente geformt werden, wie die einfache spanische Präposition de. Als grammatikalisch gilt hier nur dasjenige Morphem, durch das sehr abstrakte Relationen angezeigt werden. Mit diesen Vorschlägen wird nun sicherlich auf etwas Wichtiges hingewiesen: dass nämlich die erste Phase der Vorgänge auf einem sogenannten „Grammatikalisierungskanal“ nicht nur einen grammatikalischen, sondern daneben einen lexikalischen Charakter hat. Es gibt viele Präpositionen, Konjunktionen und Adverbien, die in der Tat starke lexikalische Züge an sich tragen, so dass man sie als Lexeme auffassen kann. Allerdings lässt sich im Hinblick auf gewisse andere Merkmale aber doch daran festhalten, dass es sich gleichzeitig um grammatikalische Elemente handelt: (1) Die Präpositionen bilden ein geschlossenes und kein offenes Paradigma wie Verben, Nomina und Adjektive. Sicherlich: Es existieren keine blockartig festen, hermetisch geschlossenen Paradigmata, wenn man so große Ersetzungsklassen in den Blick nimmt, wie es ganze Wortklassen sind. Selbst die Klasse der Determinierer ist Erneuerungen gegenüber aufgeschlossen (etwa das spanische mismo von (lat.) metipsimus als neuer Identitäts-Determinierer, oder, generell, die Etablierung einer neuen Klasse quasi-obligatorischer Anaphorika/ Kataphorika, also der Artikel in den romanischen Sprachen oder dem Bulgarischen). Allerdings lässt sich ein Unterschied erkennen zwischen trägen Wortarten einerseits und sich schnell erneuernden Wortarten andererseits. Die trägen Paradigmata schotten sich stark gegen das Eindringen neuer Elemente ab. Diese werden wesentlich mühsamer und langsamer aufgenommen als: neue Verben in die Verbklasse, neue Substantive in die Substantivklasse oder neue Adjektive in die Adjektivklasse. Nun zeichnet Trägheit auch die Präpositionen und Konjunktionen aus. Obwohl sich hier das Inventar erneuert, ist der Umsatz und die Fluktuation doch wohl keine Frage von Jahren oder Jahrzehnten, sondern eine von Jahrhunderten. Viele Einheiten des spanischen Präpositionenbestandes etwa sind Jahrtausende alt. Dagegen verändert sich der Bestand an Verben, Substantiven und Adjektiven einer Sprache vergleichsweise schnell. Und diese <?page no="65"?> 3.1 Grammatikalisierung 53 8 Brenda Laca (1996: 22) weist darauf hin, dass eine Trennung zwischen der Zugehörigkeit zu Lexikon oder Grammatik eine allgemeine Theorie der grammatischen Bedeutung voraussetzt. Könnte nicht Bühlers Feldtheorie ein solches Modell sein? relative Trägheit verleiht den Klassen der Präpositionen, Konjunktionen und auch der Adverbien einen grammatikalischen Charakter. (2) Da sich Präpositionen mit Kasus korrelieren lassen, würde eine rein auf die Semantik abgestellte Trennung zwischen lexikalischen und grammatikalischen Präpositionen zur Folge haben, dass man die diesen Präpositionen entsprechenden Funktionen von Kasus (z.B. (lat.) der Richtungsakkusativ (Romam ibo) oder der dativus commodi vs. Akkusativ des direkten Objekts oder die Kernfunktionen des Genetivs) entweder im Lexikon oder in der Grammatik behandelt. Mit anderen Worten, die lokal-temporalen, kausalkonditionalen und modalen Funktionen von Kasus müssten dann auch im Lexikon behandelt werden, nicht aber in der Grammatik. Dies erscheint kaum akzeptabel. (3) Konjunktionen und wohl auch Adverbien weisen wie die Präpositionen eine relativ starke Paradigmatizität auf (Schließung des Paradigmas mit Schrumpfungstendenz, träger Erneuerungsprozess). Präpositionen und Konjunktionen sind außerdem gekennzeichnet durch Koaleszenz (Klitisierung) und vor allem starke Synsemantik und relativ hohe Frequenz mit Tendenz zur Obligatorisierung. Das Wesen grammatikalischer Elemente besteht darin, dass durch sie eine konstante Begleitinformation zu den Lexemen im Satz gegeben wird, durch die der sprachliche Sender dem Empfänger der Nachricht verdeutlicht, wie die Lexeme eines Satzes einander zuzuordnen sind, damit dieser eine Gesamtaussage daraus rekonstruieren kann. Dies wird etwa sehr einleuchtend von Karl Bühlers Erläuterungen zu seinem Konzept des Feldgeräts demonstriert. Bühler führt dort, in § 11 der Sprachtheorie, Sätze an, die ohne feste Wortstellung und vor allem ohne grammatikalische Begleitelemente vorgegeben werden (ungeordnete Sequenzen von Lexemen mit Gedankenstrich dazwischen). Es handelt sich um Testsätze, die Studierenden vorgelegt wurden, die die Aufgabe hatten, den Sinn dieser Wortballungen im wahrsten Sinne des Wortes zu rekonstruieren. Ein Beispiel: Edelstein - Preis - Fassung - Wert - erhöhen - nicht (zu rekonstruieren: Die Fassung des Edelsteins erhöht zwar seinen Preis, aber nicht seinen Wert) (Bühler 1982: 170) Die verlangte Rekonstruktion gelang den Testpersonen zwar, aber die Abwesenheit von synsemantischen Markierern des Symbolfeldes, wie etwa Determinierern oder Präpositionen, macht die Sätze, jedenfalls für den Leser Bühlers, auf den ersten Blick unverständlich. Die Einbettung von Lexemen in grammatische Schablonen erleichtert ihre gegenseitige Zuordnung und die Erstellung eines semantischen Gesamtverständnisses 8 . Der Verstehende kennt <?page no="66"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 54 die grammatischen Routinen und erwartet auch, dass sie ihm an die Hand gegeben werden - das ist der Hintergrund von Akzeptabilität und des allgemeinen grammatikalischen Normdrucks. Also dient auch die Vorgeschichte, nämlich die Kreierung solcher Routinen und Schablonen im Zuge von Grammatikalisierungsprozessen diesem Ziel. Grammatik muss am Anfang der gegliederten, mehrwortigen Äußerungen des Homo sapiens doch eigentlich diese Erfindung gewesen sein, dass man einzelne Wörter einer Wortkette mit partiell relationaler Semantik häufig wiederholte und dadurch eine Zweiteilung in den Wortbestand eines Satzes brachte, die die einen Wörter einem inhaltlichen, vordergründigen, improvisiert-einzigartigen, die anderen einem ordnenden, hintergründigen, routinemäßigen Strang zuwies. Es ist die Leistung der Grammatik, gegebene Inhaltsträger mit einer relationalen Begleitinformation zu versehen, und die Frequenz und die Synsemantik sind für diese Leistung wesentlich. Da nun alle, auch konkretere lokale, temporale, kausal-konditionale oder modale Präpositionen und Konjunktionen eine solche Begleitinformation geben und auch deutlich häufiger sind als die große Mehrzahl der Lexeme, stellen sie wohl mit einer ähnlichen Berechtigung grammatikalische Elemente dar, wie dies Markierer von rein syntaktischen Funktionen (de, a usw.) tun. (4) Allerdings gibt es da einen Unterschied in der Synsemantik, der nicht übersehen werden sollte. Gehen wir von dem Punkt der Argumentation aus, den wir im vorherigen Abschnitt erreicht haben: Sowohl konkrete als auch abstrakte Präpositionen haben relationale Bedeutung. Dies gilt immerhin in gewisser Weise auch für Verben (auf Grund ihrer Valenz) und für steigerbare Adjektive (groß, schön usw., wo immer schon der Bezug zu einer Durchschnittsnorm mitgedacht ist). Doch Verben und Adjektive haben lediglich relationale Bedeutungsanteile. Ihre Bedeutung erschöpft sich nicht in den relationalen Angaben, es kommen noch viele andere Bedeutungselemente dazu, vor allem die enzyklopädisch-sachliche Anteile am Semem oder besser Konzept, die auf ihrer kommunikativ tragenden Seite die überwiegende Menge der Seme einer Vollwortbedeutung ausmachen. Präpositionen, Konjunktionen und nicht-modale Adverbien dagegen sind von sich aus Relationen-Bezeichner. Darin besteht der wesentliche Zug ihrer Bedeutung: Sie verweisen auf bestimmte Beziehungen innerhalb verschiedenartiger Relationenpotentiale, nämlich dem lokalen, temporalen, sozialen (para, contra, con), kausal-konditionalen (por, para) und modalen (como) Relationenpotential. Konkrete Präpositionen weisen nun schon von sich aus auf eine bestimmte Relation, die sie repräsentieren. Die Relation bleibt nicht unbestimmt wie bei abstrakten Präpositionen. Zwar gibt es durch lokal-temporale Doppelbezüge gewisse Ambiguitäten (desde zum Beispiel kann temporal oder lokal gemeint sein), aber die Skala der miteinander konkurrierenden Sub- Bedeutungen ist nicht sehr breit. <?page no="67"?> 3.1 Grammatikalisierung 55 Dagegen ist sie bei solchen Präpositionen wie dem genetivischen de so weit gefächert, dass sie an sich gesehen den Charakter eines unbestimmten Assoziationspotentials hat. Erst ausgehend von den durch de verbundenen Lexemen kann bestimmt werden, was es bedeuten soll: la casa de Pepe (Besitzverhältnis oder Zuordnung zu einem Wohnplatz), la ciudad de Guadalajara (Gleichsetzung: Guadalajara ist eine Stadt), el ataque del enemigo (der Feind greift an, also subjektiver Genetiv) usw. Eine gewisse Abhängigkeit vom Kontext herrscht natürlich auch für die mehrdeutigen Konkret-Präpositionen, da etwa desde nur im Hinblick auf das Nomen, das es bestimmt, sowie u.U. im Hinblick auf das gegebene Verb im Satz als lokal oder temporal ausgemacht werden kann. Trotzdem fungieren hier die Lexeme als Disambiguierer eines schon durch desde aktivierbaren Bedeutungsfächers, während das genetivische de ohne die inhaltlichen Vorgaben seiner lexematischen Umgebung gar nicht als bedeutungstragendes Element genutzt werden könnte. Es bezeichnet seine Relation erst im nachhinein, als Ordnungselement vorgegebener Lexeme, indem es diesen noch eine kleine syntaktische Nuance („dies ist ein: Nominalattribut“; „dies ist ein indirektes Objekt“) hinzufügt und dadurch entscheidet, wie der mit seiner Hilfe gebildete Wortkomplex letztendlich zu verstehen ist. Und in diesem Sinne ist es ein echtes Begleitwort, etwas Hinzukommendes, Angelehntes, Synsemantisches, und zwar in viel stärkerem Maße als die Konkret-Präpositionen. Eben ein wirklich reines grammatikalisches Element, in vergleichbarer Weise wie die Kasus. Auf der anderen Seite: Insofern die Konkret-Präpositionen wesensmäßig relationale Bedeutung haben und nicht nur, wie viele Lexeme, einen relationalen Bedeutungsanteil beinhalten, scheinen auch sie einen partiell grammatikalischen Charakter zu tragen. Insgesamt kann man also festhalten, dass man, auch wenn man den lexikalischen Charakter vieler Grammeme zugibt, doch ihren grammatikalischen Status nicht aufgeben muss. Obwohl es in dieser Hinsicht nicht nötig ist, die Grammatikalisieriungstheorie stark zu modifizieren, kann man doch einige weitere Abwandlungsstellen erkennen: - Einfache Präpositionen entstehen aus komplexen Präpositionen/ präpositionalen Wendungen. Diese Periphrasen ihrerseits stellen grammatikalische Elemente dar, die nicht durch Indienstnahme eines gegebenen Lexems gebildet wurden, sondern sozusagen ex nihilo, im Zuge der Lexikalisierung (Aufnahme ins Inventar) einer häufiger gebrauchten Kombination aus grammatikalischen Präpositionen und relationalen Nomina (nsp. a base de) oder einer Kombination aus grammatikalischen Präpositionen und Adverbien (asp. baxo de). Die Initialgrammatikalisierung ist im Bereich der Präpositionen also keine De-Lexematisierung eines Vollwortes. Bei der Bildung der einfachen Präpositionen entstehen zunächst halblexikalische einfache Funktionswörter, die Relationen von sich aus <?page no="68"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 56 anzeigen, und im weiteren Verlauf strikt grammatikalische Morpheme, die reine Ordnungselemente des satzsemantischen Interpretationsprozesses sind. - Was für Präpositionen gilt, gilt auch für Postpositionen, nur dass diese einen weiteren Radius formaler Koaleszenz zur Verfügung haben, insofern als sie auch zu Kasus werden und durch die Stadien der Agglutinierung, Fusion und sogar Apophonie gehen können. - Adverbien entstehen entweder, via Kasus und Defizienz des Deklinationsparadigmas, aus relationalen Nomina (lateinische Adverbien wie cito oder nimis) oder aber ebenfalls aus periphrastischen Verbindungen rein grammatikalischer Elemente mit Lexemen (sp. a lo mejor oder muchas veces). Diese periphrastischen Verbindungen können ihrerseits zu einfachen Adverbien werden (asp. quizabes (< QUID SAPIS ? ) zu nsp. quizá). Einfache Adverbien können dann wieder in periphrastische Präpositionen eingehen (asp. baxo de). Also auch im Bereich der Adverbien bildet nicht eigentlich eine De-Lexematisierung den Startpunkt der Grammatikalisierung. - Einfache Adverbien stellen außerdem die Ausgangspunkte für die Bildung der meisten Konjunktionen dar, in der Regel mit Hilfe von Komplementierern wie (lat.) quod oder ut. Durch den Verlust dieses Komplementiereranteils entstehen dann die einfachen Konjunktionen. Ob außer dem Komplementierer und dem neuspanischen oder altfranzösischen polyvalenten que allerdings noch andere Konjunktionen rein grammatikalisch sind, mag man bezweifeln. Immerhin ist wohl der AND-Koordinierer ein weiteres reines Grammem. - Wenn schon im Bereich der Nominalsyntax grammatikalische Periphrasen „ex nihilo“, durch reine Aufnahme ins Lexikon bereit gestellt werden und insofern also eine Veränderung des Modells von 1982/ 02 angesetzt werden muss, dann gilt die Auffassung, nach der Grammatikalisierung in ihrer Anfangsphase die Herausbildung neuer Grammeme aus vorhandenen Lexemen sei, doch noch im Bereich der Verbalsyntax. Die syntaktische Konstruktion von Verbalperiphrasen wie sp. llegar a hacer, ir a hacer ist in der Regel schon vorhanden. Was bei der Auxiliarisierung der Vollverben in diesen Verbindungen geschieht, ist ihre Verwandlung in ein frequentes, synsemantisches Begleitelement mit modal-temporaler Bedeutung (llegar: ankommen ‚endlich doch noch‘; ir: gehen ‚gleich, bald‘). Mit anderen Worten: die periphrastische Verbindung ist schon vorhanden, da sie gar nicht lexikalisiert, sondern eine syntaktisch freie Verbindung ist. Indem das konjugierte Verb einer solchen Wortkombination zum reinen Relationenbezeichner mit Projektion auf temporalmodale Relationenpotentiale uminterpretiert wird - Anregung dazu liefert natürlich die sukzessive Öffnung der Infinitivstelle für immer neue Verbklassen, auch solche, die nichts mehr mit physischer Bewegung zu tun haben -, entsteht ein neues Grammem. Allerdings ist dieses Auxiliar <?page no="69"?> 3.1 Grammatikalisierung 57 9 Es sind wohl diese Fälle einer Grammatikalisierung „ex nihilo“, die Ulrich Detges in seinem Beitrag von 2003 so irritiert haben und dort zu einer einschneidenden Kritik führen. Detges beschäftigt sich mit der emphatischen verstärkten Verneinung im Französischen. Einige der von ihm angeführten Fälle gehören allerdings rein der parole an, vor allem sind die Verwendungen von ne…jamais, ne…jamais de la vie als verstärkte Verneinung nicht als Sonderfälle zu werten, sondern im Rahmen der argumentativen Funktion, die temporale Adverbien ganz allgemein in Diskussionszusammenhängen annehmen können, zu sehen. Dann handelt es sich aber um okkasionelle Inferenzen aus einer temporalen Bedeutung, die im Kontext einer Diskussion übrigens trotzdem nicht in den Hintergrund tritt. Es handelt sich bei den jamais-Verwendungen nicht um der langue zugehörige Elemente der emphatischen Verneinung. Zu der langue können nur rechnen die bei Detges angeführten: ne…pas du tout, ne…aucunement, ne…nullement. Detges ordnet sie der älteren Lehmann’schen Logik folgend in die Grammatikalisierungsstrecke ein und weist dann auf ihr in der Tat widersprüchliches Verhalten hin: Erstens entstehen hier komplexe grammatikalische Einheiten, deren Frequenz sich im Zuge der Grammatikalisierung erniedrigen würde, und zweitens enthalten diese Einheiten überhaupt keine lexematischen Anteile. In der neuen Auffassung der Initialgrammatikalisierung haben solche Ketten aus rein grammatikalischen Elementen aber ihren Platz. Es handelt sich einfach um eine solche Art der Neuschaffung von grammatikalischen Einheiten, bei der keine lexematischen Elemente beteiligt sind. zunächst, durch seine noch geringe Polyfunktionalität, noch ein lexikalisch-grammatikalisches Mischelement, bevor es dann schrittweise zum Markierer immer vielfältigerer Aspekt- und Temporalfunktionen wird. In der Summe gelangt man also zu einer zwiegespaltenen Initialgrammatikalisierung: in einem Teil der Fälle ist sie De-Lexematisierung, in sehr vielen anderen aber Neu-Schaffung grammatikalischer Periphrasen. Und diese können ein lexikalisches Element beinhalten oder auch rein aus grammatikalischen Bausteinen bestehen 9 . Soweit die Vorschläge zu Modifikationen. Nun zur Grundsatzkritik an der Grammatikalisierungstheorie (Laca 1996, Detges 2001 u. 2003, Haspelmath 1998). Sie wird als Antwort verlangen, dass man eine umfassendere Theorie von Grammatikalisierung ansetzt, die dann zu einer allgemeinen Theorie des Sprachwandels auszuweiten ist. 3.1.4 Vorschlag zu einer umfassenderen Theorie Zunächst zu der Kritik von Brenda Laca (1996). Sie ist noch innerhalb der aktuellen Fassung der Grammatikalisierungstheorie zu beantworten und verlangt noch nicht die Perspektive auf eine Ausweitung, die diesen Abschnitt der vorliegenden Untersuchung bestimmen soll. Die Autorin formuliert verschiedene Ansichten zu den eigentlichen Intentionen der Grammatikalisierungstheorie, die bisher noch nicht angemessen herausgestellt worden seien. Diese Darstellungen sollen im Folgenden skizziert werden, dabei allerdings so, dass mit jedem Punkt sofort eine korrigierende Entgegnung verbunden wird. Nach Lacas Auffassung sollte die Rede von Unterschieden zwischen „Grammatikalisierungsgraden“ in der gesamten Theorie zentraler sein als die <?page no="70"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 58 rein qualitative Feststellung, dass irgendwo Grammatikalisierung stattfindet. Demgegenüber ist darauf hinzuweisen, dass auch Lehmann im Zuge der Fortgrammatikalisierung den Aspekt der Grade berücksichtigt. Seine Theorie verbindet ja die Initialgrammatikalisierung, die sich mit dem Gewinn, der Annahme relational-grammatikalischer Bedeutungswerte durch Lexeme beschäftigt, mit der Beobachtung der Stadien, über die hin sich diese Bedeutungswerte verstärken, sich also unterschiedliche Grammatikalisierungsgrade eines sprachlichen Zeichens ergeben. Innerhalb dieser Gesamtkonzeption scheint es nun nicht besonders sinnvoll, die Grade gegen die absolute Grammatikalisierung, also den Übergang eines Zeichens in den grammatischen Bereich, ausspielen zu wollen. Beide Bausteine sind wichtig, und beide zusammen machen erst die Grammatikalisierungstheorie aus. Eine zweite Behauptung besagt, dass der Begriff der Grammatikalisierung eigentlich prototypischen Charakter trage. Die Theorie klammere sich an bekannte Fälle und habe dann Schwierigkeiten mit weniger typischen Verläufen. Doch diese Darstellung hat mit dem Wesen dieser Theorie eigentlich nicht viel zu tun. Die „bekannten Fälle“ wurden schon von der historischen Linguistik des 19. Jahrhunderts behandelt, die nicht erst auf die moderne Grammatikalisierungstheorie warten musste, um den Grammatikwandel und darin enthalten oft genug den Ursprung und Wandel von Grammemen zu beschreiben. Diez, Meyer-Lübke u.a. betrieben doch, in den morphosyntaktischen Anteilen ihrer Werke, Grammatikalisierungs-Analysen avant la lettre. Der Grundgedanke der Theorie Lehmanns ist demgegenüber der, dass man bei Vergleich vieler Sprachen entdeckt, dass die zunächst nur für indo-europäische Sprachen behaupteten und erkennbaren grammatikalischen Wandelprozesse als allgemeingültige Größen verstanden werden müssen, für die äquivalente Entwicklungen in vielen Sprachfamilien der Erde zu beobachten sind (vgl. vor allem 1982 bzw. 2002a). Nur ein Typologe mit dem heutigen Reservoir an Sprachbeschreibungen, das mittlerweile ja auch Papua- Sprachen, weniger bekannte Indianersprachen und Australsprachen einschließt, konnte überhaupt in der Lage sein, so etwas wie „Grammatikalisierungskanäle“ zu behaupten und aufzustellen. Die aktuelle Grammatikalisierungstheorie hat ihre Besonderheit also gerade in der Erweiterung des bisher von der Indogermanistik erarbeiteten Spektrums und in der Formulierung als Modell allgemeingültiger Wege des grammatischen Wandels. Hier passt eine prototypenhafte Auffassung des Konzepts „Grammatikalisierung“, ungeachtet dessen dass eine solche Auffassung mittlerweile für viele linguistische Begriffe zufriedenstellend angesetzt wird, eben gerade nicht! Nun fußt die Annahme, es gebe in vielen Sprachfamilien ähnlich gelagerte Prozesse der historischen Veränderung, oftmals nicht auf einer weit zurückreichenden Text-Dokumentation, sondern auf einem synchronen Vergleich, nämlich zwischen den Gegenwartssprachen einer Sprachfamilie, bei deren unterschiedlicher morphosyntaktischer Ausstattung unterstellt wird, sie beruhe auf verschieden weit fortgeschrittenen Wandelvorgängen, ausge- <?page no="71"?> 3.1 Grammatikalisierung 59 10 Teile dieser Kritik entnehme ich übrigens mündlichen Mitteilungen in Gesprächen, Vortragsdiskussionen und auch manchen Teilen von Vorträgen, die Ulrich Detges in seinen schriftlichen Versionen wieder zurückgenommen hat. Dies deshalb, weil ich nicht behaupten möchte, dass ich selbst gewisse kritische Punkte erkannt hätte. 11 Die Vorleistungen, die in Hopper/ Traugott (1993) in Bezug auf die Integration von Reanalyse in die Grammatikalisierungstheorie erarbeitet worden sind, werden in der Einführung, die Jürgen Lang und Ingrid Neumann-Holzschuh ihrem vielseitigen Sammelband voranstellen, leider nicht ausreichend erkannt und gewürdigt. hend von einer Ursprache. Laca betont demgegenüber, dass ein Rückschluss von synchronen auf diachrone Verhältnisse problematisch sei. Was aus synchroner Sicht wie abgeleitet wirke, erweise sich oftmals als das Ursprünglichere, wenn man die historischen Belegstellen betrachte. Außer dem Hinweis auf entsprechende Verhältnisse beim lexikalischen Bedeutungswandel, wird dem Leser ein illustrierendes Beispiel allerdings vorenthalten. Als reine Vermutung ist diese so wichtige Aussage jedoch wenig überzeugend. Laca macht ihre These dann noch etwas spezieller, indem sie sagt, dass Grammeme ihr Spektrum der Funktionen bzw. Verwendungen oftmals erweitern können, lange bevor irgendein anderer Teilprozess der Grammatikalisierung stattfindet. In solchen Fällen wird aus ihrer Sicht die angenommene, scheinbar plausible Sequenz an Teilschritten der Grammatikalisierung durcheinander gebracht. So beobachte man frühe habituelle Verwendungen der englischen Verlaufsform (to be doing), die offenbar schon in der mittelenglischen Phase relativ freier Wortstellungsverhältnisse beobachtbar sind und nicht erst in der heutigen Zeit einsetzen, in der auch formal eine stärkere Auxiliarisierung erreicht ist. Genau besehen sind alle Fälle, die Laca in diesem Teil ihrer Thesen zur Grammatikalisierung anführt, aber nichts anderes als Belege des Umstands, dass eben nicht immer alle Parameter bei einem einzelnen Grammatikalisierungsschritt beteiligt sind und dass die Syntaktisierung und Frequenzerhöhung/ Obligatorisierung den Kernprozess darstellt, an den sich alle anderen Teilprozesse im Sinne der Parameter anschließen. Wie wir weiter unten sehen werden, entspricht dies genau gewissen notwendigen Abänderungen der Grammatikalisierungstheorie. Besonders fruchtbare Ansätze zu einer Reform liefern die Beiträge von Ulrich Detges (1999, 2001, 2003). Sie halten sich zwischen grundsätzlicher Kritik und partieller Akzeptanz der Theorie Lehmanns und schaffen gerade durch ihre entschieden negativen Bewertungen ein sehr klares Verständnis für bestimmte modifizierungsbedürftige Schwachstellen, aber auch Fehlauffassungen des Modells 10 . Für Detges spielen Reanalyse und Metonymie bei Prozessen des Grammatikwandels eine Schlüsselrolle (vgl. vor allem Detges 1999). Nun ist dieser Faktor als vorbereitende Größe im gesamten Grammatikalisierungsgeschehen von den neueren Grammatikalisierungstheoretikern, also Hopper und anderen, ja anerkannt worden 11 . Wer die Grammatikalisierungstheorie kritisieren möchte, muss dies auch mit Ziel auf ihren aktuellen Stand tun. Und aus <?page no="72"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 60 12 Mündliche Mitteilung. dieser Sicht besteht gar kein Zwist um die Rolle und Wichtigkeit der Reanalyse und auch der Metonymie (zumindest in der parole). Es ist jedoch das Geschehen nach dem Einsetzen von Reanalyse, das von der Grammatikalisierungstheorie vor allem in Augenschein genommen wird, und darin besteht eben ihre Besonderheit. Es geht um die Interpretation derjenigen Fakten, die von der Grammatikalisierungstheorie als Schrumpfung des Wortkörpers, zunehmende Abstraktheit, zunehmend enger Bezugsbereich und damit einhergehende fortwährende Integration in die determinierten Lexeme, Schließung und kontinuierliche Verengung des Paradigmas sowie als Frequenzerhöhung durch Tendenz zur Obligatorisierung beschrieben werden. Zurückweisen kann man die Grammatikalisierungstheorie nur, wenn man zeigt, dass diese Fakten durch die Theorie nicht angemessen beschrieben werden. Man mag die Zusammengehörigkeit all dieser Vorgänge bezweifeln, durch die Reanalyse-Theorie allein hat man sie alle aber noch nicht beschrieben. Wenn also die Polarisierung nicht stimmt, wenn man die Grammatikalisierungstheorie nicht durch Reanalyse ersetzen kann, so hat man doch die detalliertere Kritik ernst zu nehmen. Detges weist des öfteren darauf hin, dass der eigentliche Grund für die Grammatikalisierung nicht in dem bewussten Wunsch eines Sprechers läge, eine bestimmte abstrakt-grammatikalische Relation zu verdeutlichen, sondern vielmehr mit dem Ziel verbunden sei, Zuhörer durch ein rhetorisches Spiel mit Sprache zu beeindrucken und sie von den eigenen Aussagen zu überzeugen (1999: 41 u. 48ff., 2001: 106ff., 2003: 228). Dieser Punkt muss weiter unten noch besprochen werden. Einstweilen mag nur so viel bemerkt werden, dass nicht klar ist, ob hier überhaupt irgendein Gegensatz zur herkömmlichen Lehmann’schen Theorie besteht. Lehmann hat nirgendwo behauptet, dass der Sprecher sich bewusst Mittel der Repräsentation oder Markierung von grammatikalischen Relationen schaffe, sondern lediglich, dass solche Mittel aus einer Transformation von Lexemen entstünden, als Resultat. Was diese Umformung verursacht, wird bei Lehmann nicht eingehender diskutiert, im Höchstfall angedeutet, und diese Andeutungen harmonieren im Übrigen vollkommen mit den Ansichten von Ulrich Detges (vgl. vor allem Lehmann 1985: 315). Weniger gut zu verteidigen sind aber zwei Lehmann-Thesen, die Detges verschiedentlich kritisiert hat 12 . Die eine betrifft den Umstand, dass die weiter gehende Grammatikalisierung, also diejenige, die stattfindet, wenn ein Lexem zum Grammem transformiert worden ist, bei Weitem nicht alle neu geschaffenen Grammeme aufgreift. Nicht alle transformierten Lexeme leben also in der Sprache als grammatikalische Mittel weiter. Dieses Abbrechen von Grammatikalisierungs-Geschichten wird in Lehmanns Theorie bisher zu wenig ausdrücklich thematisiert. Vor allem gibt es missverständliche Aus- <?page no="73"?> 3.1 Grammatikalisierung 61 sagen, die suggerieren, dass es Lehmanns Auffassung sei, dass alle Grammeme einer Ausgangssituation in irgendeiner Weise ständig von Fortgrammatikalisierung betroffen seien. So schreibt er: „Thus there is an overall movement of grammaticalization, seizing all devices which a language has at its disposal within a given functional domain and pushing them gradually and simultaneously along the stages of a scale, normally without changing their mutual order on that scale“ (1985: 311). Zweitens hat Detges verschiedentlich darauf hingewiesen, dass bei einer Fortgrammatikalisierung keineswegs immer alle Parameter zum Tragen kämen. Doch nach Lehmanns Auffassung schließt Grammatikalisierung immer ein Fortschreiten bei allen Parametern ein. Abweichende Grammatikalisierungsprozesse, bei denen die Parameter nicht korrelieren, bildeten die Ausnahme (1982: 169ff. u. 2002a: 150ff.). Solche abweichenden Grammatikalisierungen erkennt Lehmann an im Fall großer Paradigmata (etwa bei einer Sprache mit sehr vielen Kasus wie der finno-ugrischen Sprache Permjakisch oder sehr vielen Nominalklassen wie der oft untersuchten Sudansprache Ful), wo die Paradigmatizität den anderen Parametern nachhinkt, sowie in einigen anderen Fällen mit geringerer Allgemeingültigkeit. Detges’ Gegenargumente haben nun nicht so viel Kraft, als dass sie zu einer vollkommenen Zurückweisung der Grammatikalisierungstheorie berechtigten. Vielmehr lassen sie sich durch eine Modifikation der Theorie abfangen. Es handelt sich dabei nicht um eine der etwa in der Wissenschaftstheorie von Popper kritisierten ad-hoc-Hypothesen, sondern um unproblematische Veränderungen. Unproblematisch insofern, als sie einfach Lücken füllen, die durch die Struktur der Grammatikalisierungslehre selbst eröffnet werden, und daher eine natürliche Ergänzung darstellen. Diese Lücken betreffen die genauere Beschreibung der Übergänge zwischen Positionen auf Grammatikalisierungskanälen, d.h. zwischen Stadien. Hier sind drei Aspekte zu berücksichtigen: (1) Ebenso wie man das semantische Feingeschehen der Metonymien in unterschiedlichen Kontexten beschreibt, durch die die verschiedenen metaphorisch verbundenen Bereiche konkret, im Geschehen der parole vermittelt werden, sollte man auch bestimmen, wie die Schritte auf den Grammatikalisierungskanälen sich konkret entlang der Zeitachse vollziehen. So ist zwar richtig, dass nur wenige Grammatikalisierungen reversibel sind (Haspelmath 1999), doch heißt dies nicht, dass das zeitweilige Zurückschreiten bei einer Koexistenz alter und neuer grammatikalischer Formen eines Funktionsbereichs nicht doch oft stattfindet. Möglicherweise kommt es im Hinblick auf die Gebrauchshäufigkeit noch einmal oder gar mehrfach innerhalb bestimmter kleinerer Zeiträume zum Überwiegen der alten Formen gegenüber den neuen, bevor sich die neuen Formen vollkommen durchsetzen. Mit anderen Worten, bevor der Schritt von Punkt A zu Punkt B auf einem Grammatikalisierungskanal getan ist, herrscht erst einmal für längere Zeit eine Situation <?page no="74"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 62 des Hin- und Herpendelns zwischen Punkt A und Punkt B. Ebenso wenig, wie es einen diskontinuierlichen Sprung von einem semantischen Großbereich A zu einem Großbereich B gibt, ebenso wenig kommen solche Sprünge im Bereich der Gesamterscheinung der Grammatikalisierung vor, also etwa auch auf der morphologischen Seite. Man könnte dieses Schwanken oder Pendeln als ein „Gesetz der Bewegung auf einem Grammatikalisierungskanal“ bezeichnen. Zu beweisen wäre es freilich nur durch Analysen in kurzen Zeiträumen, an einer ausreichenden Zahl von Texten, die eine ausreichende Vielfalt an Texttypen repräsentieren sollten. Dies stellt im Rahmen der üblichen diachronischen Untersuchungen, die, dem Diachronie-Begriff von Saussure folgend, größere Zeiträume umfassen, eine eher ungewöhnliche analytische Aufgabenstellung dar. Ein solches Vorgehen wäre aber notwendig, um ein klares Bild darüber zu gewinnen, welchen Verlauf zum Zeitpunkt eines Übergangs von einem Stadium A zu einem Stadium B (also in der Koexistenz-Situation {A, B}) die Frequenzverhältnisse im Sprachgebrauch haben. Von diesem Pendeln ist das Schaffen neuer Formen mittels Degrammatikalisierung zu unterscheiden. Ein bekanntes Beispiel ist die funktionale Eingrenzung und die Koaleszenz-Entkoppelung des sächsischen Genetivs im Gegenwartsenglischen (‚s für Personen, of für Sachen), obwohl in früheren Abschnitten der Sprachentwicklung das flexional in das Paradigma eingebundene {/ -s/ } der einzige Genetivrepräsentant war und sachhafte und personale Nominalattribute gleichermaßen markierte. Ein anderer Fall ist das moderne Irisch, das über Personalpronomina verfügt, die im frühen Mittelirischen noch Endungen in der Konjugation waren (Doyle 2002). Dass es Degrammatikalisierung gibt, ist mittlerweile anerkannt (Diewald 1997 u. van Auwera 2002: 22). Sie stellt sich jedoch nur unter bestimmten Umständen ein - im Mittelirischen waren beispielsweise bestimmte Endungen der Konjugation lediglich klitisiert und nicht agglutiniert - und ist insgesamt weit seltener als die Grammatikalisierung. Das hier vorgeschlagene Pendeln in der parole dürfte dagegen ein weit verbreiteter, oft auftretender Prozess sein. (2) Ein weiteres derartiges Bewegungsgesetz könnte dann eben die Feststellung sein, dass bei jedem Schritt auf einem Grammatikalisierungskanal viele potentielle Kandidaten für eine Umwandlung in ein Grammem oder aber eine Fortgrammatikalisierung verloren gehen. In dem Sinne nämlich, dass sie stehen bleiben und nicht über die einmal erreichte Stufe der Grammatikalisierung hinausgelangen, während ein Teil der Grammeme eben doch weiter fortschreitet und eine noch stärkere Grammatikalisierung erfährt. Nach einer ausreichend langen Zeit des Stehenbleibens können einige dieser Grammeme dann auch ganz verschwinden. Ein Einzelfall mag dies demonstrieren: Die lateinische Präposition usque entwickelte sich nicht zu einer Konjunktion weiter, weil okkasionelle usque-quod-Periphrasen nicht stabilisiert, also nicht bis zur Initialgrammatikalisierung auf einem Kanal der sub- <?page no="75"?> 3.1 Grammatikalisierung 63 ordinierenden Konjunktionen fortgetragen wurden. In der Iberoromania verlor sich usque schließlich ganz, obwohl das Fortbestehen dieser Präposition in anderen Teilen der Romania durch reinforcement-Prozesse gesichert wurde. Auch von einer Endung wie -ibus, die ihrerseits vom Indischen gut rekonstruierbare Ursprünge in einem indogermanischen Funktionswort hat, blieb im Romanischen keine Spur, selbst im Rumänischen ist sie verdrängt worden. Sie wurde im Rahmen der Herausbildung eines Systems von Restkasus bis hin zum Universalkasus aufgegeben. Indirekt spricht auch Lehmann von einem dauernden Grammemverlust im Zuge von Schüben der Fortgrammatikalisierung, indem er die Schrumpfung des Paradigmas als zweiten paradigmatischen Faktor der Grammatikalisierung ansetzt. Im Gegensatz zum ersten Gesetz, das gerade vorgeschlagen wurde, ist dieses zweite Gesetz der Bewegung auf Grammatikalisierungskanälen eben durch Daten belegbar. Dies demonstrieren weitere Beispiele aus dem Vulgärlatein und den romanischen Sprachen: (i) In vulgärlateinisch geprägten Texten der Spätantike kann man eine Koexistenz von ipse und ille als Artikoloide beobachten (vgl. Selig 1989). In den späteren romanischen Sprachen bleibt jeweils nur einer dieser Artikel übrig: ille weitgehend in der Balkan-, Italo- und Gallo-Romania, ipse im Sardischen und Mallorquinischen, wobei durch eine Reihe von Toponymen belegt wird, dass ipse zeitweise auch im Festlandkatalanischen dominierte (vgl. Griera 1931); im frühesten Altspanischen mag die Frequenz von ese (< IPSE ) auf eine artikelartige Funktion und damit einen Rest von Koexistenz hinweisen, die sich aber bald verlor. (ii) Im Vulgärlatein der Spätantike sind mehrere periphrastische Ausdrücke für das Futur belegt. Neben dem Typ facere habeo wird auch der Typ debeo facere und der Typ volo facere gebraucht. Nur einer dieser Typen, der erste nämlich, hat überlebt und ist zum Repräsentanten des romanischen Futurs geworden. (iii) Der weitgehende Verlust des neutralen Genus in den romanischen Sprachen (mit Ausnahme des Rumänischen) impliziert eine Reduktion der nominalen Paradigmen. Die formalen Verluste sind unterschiedlich. Während die -um-Endungen verschwinden, bleiben die -a-Plurale durch Reanalyse als singularische Feminina erhalten (folia folha, hoja, feuille u.a.). Durch den Lautwandel kommt es bei den Adjektiven der i-Deklination kurioserweise zum Erhalt von Formen auf -e, während die eigentlichen maskulinen und femininen Endungsmorpheme -is und -em verschwinden. Immerhin bleibt aber keine Spur mehr von den neutralen Komparativen auf -ius (longius usw.). In der Summe ergibt sich neben der Verringerung an Kategorien also auch ein gewisser Ausschuss an lateinischen Morphemen und Allomorphen, die nicht mehr fortgeführt wurden. (iv) Das Altfranzösische kennt drei Formen zur Markierung des genetivischen Nominalattributs: den reinen cas oblique (li chevals Rollant), die Vermittlung via a (= ad bzw. à) [li chevals a Rollant] und die Vermittlung via de (li chevals de Rollant). Von diesen drei Möglichkeiten hat im Gegenwartsfranzösischen nur die dritte ihre volle Verwendungsbreite behalten, die zweite ist auf das Stilniveau français populaire bis familier beschränkt wor- <?page no="76"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 64 den, die erste schließlich existiert nur noch in der Toponymik (Typ rue X, place Y) und einigen engeren Nischen des Gebrauchs. (v) Bei den transformativ-inchoativen Kopulaverben hat das Französische eine Vereinheitlichung erreicht, insofern als devenir und se faire den gesamten Funktionsbereich abdecken. Das Spanische dagegen hat im Bereich der transformativinchoativen Kopulaverben eine beeindruckende Fülle an Ausdruckskonkurrenten bewahrt: volverse, hacerse, ponerse u.a. (vgl. de Bruyne 1993: 553ff.). Mit anderen Worten: Das Französische hat einen Schritt mehr auf dem Grammatikalisierungskanal getan, insofern als die Generalisierung von Kopulaverben auch eine größere Anwendbarkeit auf die unterschiedlichsten semantischen Bereiche impliziert, denen die Prädikatsnomina angehören können und dadurch einen größeren semantischen Abstraktionsgrad für die generalisierten Kopulaverben selber. (3) Ein drittes Gesetz der Bewegung auf Grammatikalisierungskanälen schließlich betrifft die Zahl der beteiligten Parameter. Sieht man sich die von Lehmann angesetzen Kanäle an, so kann man immer wieder erkennen, dass bei weitem nicht alle Parameter bei einem gegebenen Übergang beteiligt sind. In der Regel sind es nicht mehr als zwei bis drei Parameter, die den Übergang von einer Position A zu einer Position B auf einem Grammatikalisierungskanal steuern. Eine realistische Annahme gegenüber der von Lehmann angesetzten Totalwirkung sähe eher so aus: Nur auf die Länge eines gesamten Grammatikalisierungskanals gesehen kommen alle sechs Faktoren, von der phonologischen Schrumpfung bis hin zur Fixierung, zur Anwendung. Bei einem einzelnen Schritt auf einem Kanal sind gewöhnlich nur die Hälfte oder ein Drittel aller Faktoren beteiligt. Konstitutiv für einen Schritt/ Übergang ist die semantische Abreibung, denn sie führt zu immer umfassenderen Verwendungsbereichen und dazu, dass die involvierten grammatischen Mittel zunehmend abstrakte Bedeutungen repräsentieren. Das semantische Fortschreiten in Richtung auf die Erfüllung rein syntaktischer Funktionen und den schließlichen Totalschwund bildet also so etwas wie das Rückgrat jedes Grammatikalisierungskanals, um das herum sich die anderen Parameter gruppieren. Für die Aktivierung dieser anderen Faktoren lässt sich keine fixe Reihenfolge erkennen, immerhin kann man so viel sagen, dass die Schließung des Paradigmas, also der Übergang von offenen zu geschlossenen paradigmatischen Klassen für die De-Lexematisierung des Anfangs natürlich immer eine Schlüsselrolle spielt. Wie beim zweiten Bewegungsgesetz, so kann man auch bei diesem dritten Fakten mit Beweiskraft angeben. Diese belegen, dass immer nur ein Teil der Parameter an den Übergängen beteiligt ist. (i) Beobachtungen am Übergang vom gewöhnlichen definiten Artikel in Form eines freien Morphems (Position A) zum affixalen Definit-Artikel (Position B): Im Schwedischen koexistieren proklitische freie Morpheme (den, det) mit affixalen Definit-Artikeln (-en, -ett). Letztere finden grundsätzlich immer Verwendung bei jeglicher <?page no="77"?> 3.1 Grammatikalisierung 65 13 Schwedische Substantive und Adjektive weisen keine Kasus auf und gehören jeweils einem von zwei Genera an: einem gemeinsamem Geschlecht oder einem Neutrum. Entsprechend ist die Zahl der definiten Artikel zwei. definiten Markierung, erstere werden nur unterstützend gebraucht, wenn die betreffenden Nomina durch ein Adjektiv determiniert sind: den goda hunden [= der gute Hund (vgl. Bodmer: 325)]. Das Wichtige daran ist natürlich, dass das Schwedische noch die Vorstufe der affixalen Artikel erkennen lässt. Dies erlaubt festzustellen, dass es beim Übergang von A zu B zu einer phonologischen Schrumpfung (Verlust des Anfangskonsonanten) kam. Zweitens fanden Koaleszenz, Skopusverringerung (Determination auf NP-Niveau Determination auf N-Niveau) und Fixierung statt, insofern als ein freies Morphem in ein gebundenes verwandelt wurde. Trotzdem verringerte sich ja nicht die Zahl der definiten Artikel - es bleiben zwei 13 -, d.h. von einer Schrumpfung des Paradigmas bei diesem Vorgang kann nicht die Rede sein. Was schließlich die Obligatorisierung betrifft, so bewegt sich auch hier nichts. Es wird lediglich die Obligatorietät der Klitika von den entsprechenden Affixen übernommen. Immerhin ergibt sich durch die Situation der Koexistenz von Klitika und Affixen für die Klitika eine Veränderung ihrer Obligatorietät. Eine Sprache wie das Rumänische zeigt aber, dass auch eine solche Verschiebung nicht stattfinden muss, wenn nämlich die Klitika gänzlich zu Gunsten der Affixe aufgegeben werden. Auch das Rumänische weist zwar im Zusammenhang mit der Determination durch Adjektive Klitika auf (al, a; cel), diese gehen jedoch auf eine Kombination mit Präpositionen (ad) oder Präsentativen (ecce) zurück und schließen daher einen anderen Grammatikalisierungskanal in die Gesamtentwicklung mit ein. Auf dem Grammatikalisierungskanal der definiten Artikel allein kam es bei dem diskutierten Grammatikalisierungsschritt (proklitisches bzw. enklitisches freies Morphem Affix) nicht zu einer Verschiebung der Obligatorietäten. Es sind also bei diesem Übergang nur vier der sechs Faktoren beteiligt, während sich für zwei von ihnen, nämlich den Paradigmatizitäts-Faktor und die Obligatorietät, keine Veränderung ergibt. (ii) Bei der Entstehung von indefiniten Artikeln aus unspezifische Referenz anzeigenden indefiniten Determinierern (‚irgendein‘ ‚ein‘, etwa bei vulglat. unus), eröffnet sich keine Änderung für die Faktoren „Skopus“ und „fixe Wortstellung“. Es bleibt - trotz der semantischen Verschiebung - bei dem NP-Skopus und der fixen (meist pränominalen) Stellung. Nicht einmal ein phonologischer Schwund ist mit Notwendigkeit anzutreffen. Immerhin kann man eine Erhöhung der Frequenz bis hin zur Obligatorisierung vermerken sowie häufig eine Verringerung des Paradigmas, da es mehr Konkurrenten im Bereich der indefiniten, unspezifischen Determinierer gibt als im Bereich der Artikel [vgl. frz. n’importe quel X, l’un ou l’autre X, un X quelconque, quelque X]. (iii) In den indo-europäischen Sprachen waren, wie oben angegeben, die Vorgänger von Präpositionen vermutlich Adverbien. Zur Einbeziehung dieser Adverbien in den Grammatikalisierungs- <?page no="78"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 66 prozess, also gewissermaßen vorgängig zum von Lehmann angesetzten Grammatikalisierungskanal (Lehmann 2002a: 77ff.), bedarf es einer Fixierung auf eine Position nahe dem Nomen, denn erst unter dieser Bedingung ist eine Reanalyse als Apposition möglich. Durch die Fixierung verringert sich auch der konstruktionelle Skopus dieser „in Dienst gestellten“ Adverbien. Beim Übergang zum zweiten Stadium jedoch, also wenn das apponierte Adverb als Adposition begriffen wird, findet wortstellungsmäßig keine Verschiebung mehr statt. Dafür kommt es möglicherweise zu einer phonologischen Schrumpfung, in jedem Fall aber wirkt sich die Koaleszenz aus (Klitisierung) und eine Erhöhung der Frequenz ist ebenfalls zu beobachten. Da Präpositionen sich stärker als Adverbien in deutlich geschnittene Oppositionen pressen lassen, eignen sie sich besser als Adverbien für Systematisierungen, was zur Bildung relativ gut geschlossener Sub-Paradigmata führt (etwa der Präpositionen auf den Achsen rund um ein Orientierungsobjekt, nämlich auf-unter, vor-hinter). D.h. es findet bei diesem Übergang neben der Koaleszenz auch eine Erhöhung der Paradigmatizität statt. Und, da das zweite Stadium dadurch gekennzeichnet ist, dass die Setzung der Adpositionen jetzt notwendig ist, um die lokalen, temporalen und modalen Relationen deutlich anzuzeigen, wird man auch eine Erhöhung der Frequenz bzw. eine Obligatorisierung erkennen können. Die Gesamt-Situation stellt sich also so dar: Beim Übergang vom Null-Punkt zum ersten Stadium wirken sich die Faktoren der Fixierung und Skopusverringerung, beim nächsten Übergang die Faktoren der Koaleszenz, Obligatorisierung und Erhöhung der Paradigmatizität aus. Beim letzten Übergang des Kanals schließlich, der im Verlust der von der Adposition geforderten Kasusform besteht, spielen lediglich die Faktoren der phonologischen und semantischen Abreibung, der Schrumpfung des Paradigmas (nur noch ein Glied ohne Opposition) und der Obligatorisierung eine Rolle, nicht jedoch Faktoren wie Koaleszenz oder Fixierung. (iv) Beim Übergang der Verbalperiphrase für den deontisch-obligativen Modus (facere habeo, habeo facere) zum romanischen Futur wirken folgende Faktoren mit: Fixierung auf die Position unmittelbar hinter dem Verb (gilt für das Altspanische und Galego-Portugiesische sowie Neuportugiesische nur beschränkt, wegen der Möglichkeit eines pronombre intercalado); die Beziehung verläuft bei der Periphrase auf VP-Niveau, bei der romanischen Futurform aber auf V-Niveau (gilt auch für Altspanisch, Galego-Portugiesisch und Neuportugiesisch), was eine Einengung des Skopus impliziert; die Formen von habeo schrumpfen durch eine Erhöhung der Frequenz, was gleichzeitig eine stärkere formale Anlehnung an und synsemantische Verschmelzung mit dem jeweiligen Verblexem bedeutet (Koaleszenz); ob der Wegfall der Konkurrenten debeo facere und volo facere zu diesem Übergang gehört oder schon im Stadium des periphrastischen Futurausdrucks ohne Existenz einer neuen Konjugationsform stattfand, ist ungewiss. Wenn dieser Wegfall mit dem Auftreten der Fixierung und der Skopusverringerung parallel ablief, dann ist für denselben Übergang auch eine Verringerung der Paradigmatizität zu verzeichnen. Ob <?page no="79"?> 3.1 Grammatikalisierung 67 allerdings, um noch den letzten Faktor ins Spiel zu bringen, Futurformen häufiger sind als deontisch-obligative Auxiliare mag man bezweifeln, jedenfalls erscheint eine Beteiligung eines Faktors „Erhöhung der Frequenz“ oder „Obligatorisierung“ eher unwahrscheinlich. Hier bewegt sich wohl nichts. Also sind zwar viele Teilprozesse bei diesem Übergang involviert, für zwei dieser Prozesse (Erhöhung der Paradigmatizität; Obligatorisierung) ist aber zumindest die Zugehörigkeit zu demselben Gesamt-Vorgang, der den Übergang ausmacht, zweifelhaft. Die vorgeschlagenen Bewegungsgesetze sind, wie gesagt, als natürliche Ergänzungen anzusehen. Sie ändern nichts an den wichtigsten Grundsätzen der Theorie, nämlich der Existenz und Symmetrie der Parameter, der Dominanz irreversibler Prozesse, der Aufteilung in Initial- und Fortgrammatikalisierung, der Existenz von in cross-language-studies immer wieder feststellbaren Typen von Quell-Lexemen für neue grammatikalische Periphrasen bzw. De-Lexematisierungen innerhalb bereit stehender verbaler Konstruktionen, schließlich der Wiederholung der stets gleichen Stadien der Fortgrammatikalisierung in den unterschiedlichsten Sprachen und Sprachfamilien. Die Gesetze haben den Wert einer Präzisierung der Vorgänge auf parole-Ebene und machen klar, dass die Theorie trotz ihres Bezugs auf Sprachwandel, also dynamische Verhältnisse, ihren Schwerpunkt auf der Seite der langue liegen hat und eben dort nach sinnvollen Mustern sucht, durch die sich Resultate von Wandelvorgängen miteinander verknüpfen lassen. Nun eröffnet sich trotzdem ein weiteres internes Problem der Grammatikalisierungstheorie. Kann sie alle Vorgänge beschreiben, die man landläufig und unter Absehung der Theorie von Lehmann, Heine, Hopper und Traugott als „grammatischen Sprachwandel“ ansprechen würde? Ein solcher Wandel wäre ja nicht nur die Veränderung von Formen oder die Verschiebung von Funktionen grammatikalischer Formative, sondern in diesen Bereich fällt auch der Wortstellungswandel. Kann die Theorie auch diese Seite abdecken? Ingrid Neumann-Holzschuh diskutiert am Ende ihrer 1997 erschienenen Abhandlung zum Wortstellungswandel im Altspanischen, inwiefern es Grammatikalisierung von Wortstellungstypen gibt (456ff.). Christian Lehmann hat sich, wie Neumann-Holzschuh schildert, selbst Gedanken über diese Frage gemacht (1982), sich dabei aber auf eine andere Linie der Argumentation begeben als bei der später entwickelten Grammatikalisierungstheorie. Lehmann 1982 argumentiert im Sinne der bekannten Givón’schen Idee, nach der die Pragmatik von heute die Syntax von morgen ist. Die Herausbildung von Subjekten sei - trotz ungenügender empirischer Belege - am besten als Grammatikalisierung des Satzthemas zu begreifen. Aus einem pragmatischen Gestaltungsmittel mit der Aufgabe der Anknüpfung an alte oder gegebene Information werde ein syntaktisches, durch das meist der Agens eines Verbs zum Ausgangspunkt der Aussage gemacht werde. Neumann-Holzschuh schließt sich dieser Auffassung an. Auf der anderen Seite deuten alle Aussagen, die sie in diesem Abschnitt Ihrer Arbeit von <?page no="80"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 68 14 Rein formale Relationen wären solche der Genus-Numerus-Kongruenz, durch die ja lediglich angezeigt werden soll, dass verschiedene Wörter zu einem Syntagma unterhalb der Satzebene zusammenzufassen und bei der semantischen Interpretation des Satzes entsprechend zu behandeln sind. Lehmann zitiert (vor allem S. 458), darauf hin, dass dieser eine Integration des Wortstellungswandels in seine Parameter-Theorie nicht vorsieht. Einer der Faktoren von Grammatikalisierung sei zwar die Reduktion syntagmatischer Variabilität, es handele sich aber nicht um einen „prima facie case(s) of grammaticalization“ (Ibid.). Warum? Weil die Wortstellung selbst ein Mittel, aber kein Objekt der Grammatikalisierung darstellt. Die sechs Faktoren beziehen sich ihrem Wesen nach auf ein sprachliches Zeichen, das auch materiell gegeben sein muss, also in Form einer Lautkette. Die Parameter beziehen sich nicht auf ein reines Geflecht von Distributionsrelationen, also eine Konstituentenstruktur. Vielmehr setzen drei der Parameter (Fixierung, Skopusverringerung und Koaleszenz) eine solches Geflecht voraus, weil sie ohne es nicht funktionieren können. In Konsequenz ergibt sich, dass Lehmann 1982 und 1985 zwei unterschiedliche Stränge von Grammatikalisierung ansetzt, einen ersten betreffend die Wortstellung, einen zweiten betreffend den Wandel bei Grammemen und ihren Funktionen. Was nun fehlt, ist ein übergeordneter Gesichtspunkt, der den einen und den anderen Strang zu einer Gesamttheorie vereinigen würde. Wie könnte ein solcher Grundsatz aussehen? Wie kann man ihn gewinnen? Hier scheinen sich zwei Anknüpfungspunkte anzubieten. Erstens das Wesen von Grammatik selbst. Wenn Grammatik das Ergebnis oder zum Teil auch das Ziel von Grammatikalisierung ist, dann sollte uns ihr Sinn Aufschluss über die Triebkräfte geben, die hinter dem grammatischen Wandel stehen. Was ist Grammatik? Am knappsten kann man sie so umschreiben: Grammatik beinhaltet die Regeln und Regularitäten der Bildung von Wortgruppen und Sätzen in einer Sprache. Diese Regeln sehen vor, dass bei der Verbindung von Vollwörtern, d.h. lexematischen Zeichen, zu Wortgruppen oder Sätzen bestimmte Abfolgemuster zu beachten sind (Wortstellung). Und sie sehen vor, dass die Vollwörter entsprechend ihren morphosyntaktischen Merkmalen in bereit stehende Schablonen zu füllen sind, die aus Reihen von Morphemen bestehen, durch die abstrakte semantische oder auch rein formale Relationen 14 zwischen den Wörtern angezeigt werden. Beispiele für solche Ketten von Morphemen, die typische Strukturmuster einer Sprache darstellen: (Strukturmuster im klassischen Latein) -us -i: hortus Marci, exercitus Romuli, opus Vulcani usw. -um -ae: bracchium Luciae, signum concordiae usw. -us -em -it: Marcus famem vincit Populus laborem fugit usw. <?page no="81"?> 3.1 Grammatikalisierung 69 15 Dies mag dem auf die Entwicklung von Einzelzeichen gerichteten Charakter von Grammatikalisierung auf den ersten Blick nicht entsprechen, man darf aber eben nicht vergessen, dass Grammatikalisierung immer auch eine syntagmatische Komponente einschließt, vor allem Fixierung und Skopusverrringerung. -or -am -at: Imperator familiam laudat Venator ursam necat usw. -Ks -em -o -vit: Rex hostem gladio necavit (Strukturmuster im Gegenwartsspanischen) el N Ve una N: el chico come una manzana el vendedor vende una falda usw. el N Vió la N: el delantero decidió la partida el vecino vendió la casa usw. el No Adjo: el pero alto el ruego serio usw. la Na Adja: la hija rica la marcha peligrosa usw. la N del N: la casa del general la decisión del jefe usw. N vuelve a Var: Inés vuelve a cantar Pablo vuelve a trabajar usw. Grammatische Regeln materialisieren sich also in möglichen Strukturmustern. Sie geben diese Strukturmuster vor, entweder als reine Wortartsequenzen (Wortstellungsmuster) oder als Sequenzen von (freien oder gebundenen) grammatikalischen Morphemen. Entsprechend würde die Grammatikalisierung aufzufassen sein als ein Nebeneinander komplexer Vorgänge, durch die diese Sequenzen herausgebildet werden 15 . Auch dies ist wieder ein Aspekt, der in der hier diskutierten Theorie stärkere Beachtung finden sollte. Mehrfach wurde darauf hingewiesen, dass ja nicht nur ein Einzelzeichen grammatikalisiert wird, sondern letzten Endes ganze Konstruktionen von diesem Geschehen betroffen sind (Laca 1996: 21, Lang/ Neumann-Holzschuh 1999: 4). Auf der anderen Seite impliziert die vorgeschlagene Definition von Grammatik, dass auch für jedes einzelne Element, das für diese Bildung notwendig ist, relativ fest umschriebene Funktionen und Anwendungsbereiche existieren und beschreibbar sind. <?page no="82"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 70 Schließlich ist zu beachten, dass die Grammatik einer Sprache zunächst und primär mental ist, d.h., zum Sprecherwissen gehört und in Folge dessen das sprachliche Verhalten eines Sprechers oder Schreibenden bestimmt. Sie kann aber auch explizit formuliert sein, in Grammatikbüchern. Die vorgeschlagene Grammatik-Definition hat nun eine positive Seite, die besagt, dass grammatische Regeln, auch in Form von prozeduralem Wissen, Vorgaben für den kreativen Sprachgebrauch konkreter Sprecher sind. Wenn etwas Bestimmtes ausgedrückt werden soll, stehen dem Sprecher geeignete morphematisch angereicherte Ablaufmuster zur Verfügung, in die er die dem Fall entsprechende lexikalische Information einbringen kann. Auf der anderen Seite sind grammatische Regularitäten nicht nur Vorleistungen, sondern auch Forderungen. Denn entspricht die Sprachbenutzung des Sprechers den Regeln nicht ausreichend, kann er mit formal-ästhetisch motivierten oder durch Verständnisblockierung ausgelösten Sanktionen seitens des Hörers rechnen. Im Sinne dieser Forderung an den Sprecher, bestimmte Muster zu erfüllen, stellt Grammatik eine Einschränkung von Wahlmöglichkeiten bei der Kombination von Lexemen zu Aussagen dar. Die Betrachtung des Wesens von Grammatik könnte, wie gesagt, einen geeigneten Anknüpfungspunkt abgeben, von dem ausgehend ein Grundsatz für eine Gesamttheorie der Grammatikalisierung zu entwickeln wäre. Ein zweiter fruchtbarer Gesichtspunkt könnte in einer Verallgemeinerung liegen, die im Zuge der Darlegungen dieses Kapitels schon erreicht worden ist. Es sei daran erinnert, dass bei der Diskussion, wie viele Parameter denn nun pro Übergang von einem Stadium zum anderen beteiligt sind, ein Faktor als zentrales Rückgrat aller Transitionsprozesse auf Grammatikalisierungskanälen hervorgetreten ist: die fortschreitende semantische Abstrahierung in Richtung auf eine Gewinnung rein syntaktischer Funktionen und den letztendlichen Totalschwund eines grammatischen Formativs. Dies bedeutet, dass Grammatikalisierungskanäle letzten Endes auf die Herausarbeitung einer rein syntaktischen Struktur zielen, in der Grammeme nur noch syntaktische Funktionen wie Subjekt, Attribut, Objekt, Prädikat, Kopula usw. repräsentieren würden. Wenn wir nun an diese verschiedenen Überlegungen anknüpfen, wird ein in gewisser Weise janus-köpfiges Prinzip sichtbar, das jegliche Form von Grammatikalisierung bestimmt. Auf einer positiven Seite besteht diese in der fortwährenden Syntaktisierung der Funktionen von grammatischen Mitteln. Es ist eine Bewegung weg vom semantisch-pragmatischen Pol - wenn man hier mit Levinson (2000) Pragmatik und Semantik als eng verknüpfte und sich gegenseitig ergänzende, in einem ständigen Austausch befindliche Bereiche ansieht - hin zur abstrakten Reinheit und Mathematizität der Syntax, um es etwas überspitzt zu sagen. Im Ideal einer rein syntaktischen Motivation des Grammem-Gebrauchs würden nur noch die Lexeme Belebung und Konkretisierung bringen, andererseits würde ihr Aussagegehalt stärker hervortreten. <?page no="83"?> 3.1 Grammatikalisierung 71 16 Vgl. stellvertretend: Alameda/ Cuetos 1995, Bd. II, S. 590 Spalte 1 (häufigste Wörter): nur Grammeme; Spalten 2/ 3 (nächsthäufigste Wörter) überwiegend Grammeme Die negative Seite des Prinzips lässt sich so ausdrücken: Grammatikalisierung besteht darin, dass ein Sprecher bei der Gestaltung sprachlicher Aussagen zunehmend Wahlmöglichkeiten verliert und dass die Ausdrucksformen zunehmend routinisiert werden, so dass der Sprecher dem Zwang unterliegt, bestimmte Formen unbedingt zu beachten, um sich verständlich und sozial angemessen auszudrücken. Man kommt also zu einem Prinzip, in dem die Bereitstellung von Aussageroutinen mit dem negativen Effekt der Einschränkung von Wahlmöglichkeiten verknüpft ist. Die negative Seite des Prinzips eignet sich vor allem als Grundlage der Grammatikalisierung von Wortstellungen. Dies soll - mit Bezug auf das Spanische - in Abschnitt 3.3 der vorliegenden Arbeit erläutert werden. Die positive Seite des Prinzips bezieht sich vor allem auf die fortwährende Syntaktisierung von grammatikalischen Morphemen und kann daher als Basis für den entsprechenden Strang des grammatischen Sprachwandels angesehen werden. Diese Fassung des Prinzips stellt den Parameter der semantic attrition eindeutig in den Vordergrund. Er ist aus der Sicht dieses Grundsatzes wichtiger als alle anderen Parameter. Doch auch diese erscheinen im Lichte kontinuierlicher Syntaktisierung untereinander nicht unbedingt gleichwertig. Es kennzeichnet Grammeme vor allem, dass sie zu ständigen Begleitern von Lexemen werden. Eine Wortgruppe, ein Satz muss mit diesen Elementen durchsetzt sein, um zu einer Aussage zu werden, die den vorgegebenen Routinen entspricht. Dadurch erreichen Grammeme eine deutlich höhere Frequenz als Lexeme, was durch die Auszählungen der Frequenzwörterbücher ja auch immer wieder bewiesen wird 16 . Endpunkt dieser Erhöhung der Frequenz ist die Obligatorisierung eines ganzen Paradigmas. Jedes Verb oder Hilfsverb einer romanischen Sprache muss eine bestimmte Tempus-Form haben und hinsichtlich Person und Numerus markiert sein; jedes Nomen hat ein Genus und muss bezüglich Singular oder Plural markiert sein. Dadurch gewinnen die Repräsentanten der einzelnen Sub- Kategorien (Sing., Plur./ Mask., Fem./ Präsens, Perfekt, Futur usw.) eine sehr hohe Gebrauchshäufigkeit. Dem Sinn der morphologischen Grammatikalisierung, obligatorische Ausdruckselemente zu schaffen, die die Wortreihen durchsetzen, steht der Parameter der Frequenzerhöhung bis hin zur Obligatorisierung also besonders nahe. Auch die Reduzierung des Paradigmas ist für die Erfüllung der Aufgabe der Grammatikalisierung von zentraler Wichtigkeit, da sie eine Schlüsselrolle bei der Umformung von in Periphrasen enthaltenen Lexemen zu Grammemen spielt. Denn eine conditio sine qua non für diese Transformation stellt die Schließung zu einem trägen, gegenüber Neuaufnahmen starren und d.h. tendenziell finiten Paradigma dar. Lexikalische Paradigmen sind demgegenüber eben tendenziell offen. <?page no="84"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 72 Die übrigen Parameter dagegen sind weiter weg von der Basis „semantische Abreibung“ anzuordnen. Phonologische Abreibung und Koaleszenz spielen eine große Rolle, wenn aus freien grammatikalischen Morphemen mit Eigenbetonung Klitika, aus Klitika Affixe und aus Affixen Portemanteau- Morpheme mit innerer Fusion unterschiedlicher funktionaler Kategorien werden. Diese Vorgänge sind ihrerseits dadurch bedingt, dass das aus Lexemen entstandene grammatikalische Element sich in einem vorhergehenden Prozess erst einmal an die Bezugslexeme angenähert hat. Und diese Annäherung wird durch Skopusverringerung und Fixierung bewirkt. Sie sind die Faktoren, die das erste Wegbewegen vom lexematischen Pol hin zum syntaktischen Pol einleiten. Die phonologische Schrumpfung und die Koaleszenz leiten dagegen über zu morphologischen Paradigmen, zu einer noch höheren Präsenz der betroffenen Grammeme und damit zu einer noch stärkeren Grammatikalisierung. Deswegen stehen Koaleszenz und phonological attrition dem Zentrum der semantic attrition näher als die Fixierung und die Skopusverringerung. Die Gesamtkonstellation der definitorischen Bedeutung der Parameter für die Grammatikalisierung sähe also wie folgt aus: KERNFAKTOREN der GRAMMATIKALISIERUNG PERIPHERE FAKTOREN der GRAMM. Semantische Abreibung/ Syntaktisierung Paradigmatizität phonolog. Abreibung Skopusverringerung Obligatorisierung/ Frequenzerhöhung Koaleszenz Fixierung Abb. 6 Die eher marginale Position der Parameter „phonologische Abreibung“, „Fixierung“ und „Skopusverringerung“ wird zusätzlich durch den Umstand unterstrichen, dass diese auch noch im lexikalischen Bereich des Sprachwandels wirken. So haben in den gallo-italischen Dialekten Norditaliens viele aus dem Vulgärlatein ererbte Lexeme eine phonologische Abreibung durch Verkürzung erlitten (z.B. mailänd. [my: r] statt [mu: ro]) [vgl. Lepschy/ Lepschy 1998: 44]. Trotzdem sind sie nicht zu Grammemen geworden. Ja, möglicherweise könnte man im Fall der phonologischen Schrumpfung sogar argumentieren, dass es sich immer um gewöhnliche Lautwandelprozesse handle, die rein auf der zweiten Gliederungsebene abliefen und Grammeme wie Lexeme unterschiedslos erfassten. Danach wäre die phonologische Schrumpfung als Grammatikalisierungsfaktor zurückzuweisen. Dies übersieht jedoch, dass die Schrumpfung durch die Anforderungen einer höheren Frequenz ausgelöst wird und dass diese Frequenz sich letzten Endes aus der angezielten Obligatorisierung im Rahmen der Schaffung syntaktischer Routinen erklärt. Hinter dem Lautwandel, der sich an grammatischen Elementen vollzieht, steht also immer eine Kette von Gründen, die bis hinauf zum Grundprinzip der Grammatikalisierung führt. Die Gleichheit mit den Lautprozessen, die sich an Lexemen vollziehen, etwa Verkürzung der Silben- <?page no="85"?> 3.1 Grammatikalisierung 73 17 Im Übrigen gilt gerade für indo-europäische Sprachen eine klare Verteilung von grammatischen Mitteln um den Wortstamm eines Lexems herum. Infixe sind ungebräuchlich oder äußerst selten, grammatische Funktionen werden in der Regel durch (absolute oder relative) Suffixe markiert, Präfixe spielen hier ebenfalls eine marginale Rolle - außer im Fall der keltischen Sprachfamilie. Da Lautgesetze aber an der Stellung von Lauten im Wort ansetzen, ergibt sich für die meisten von ihnen eine klare Zuordnung zum lexematischen Bereich, also zum Wortstamm, oder grammatikalischen Bereich (Suffixe). Der Schwund von -m, -s und -t im Lateinischen verschiedener romanisierter Provinzen des römischen Reiches war in jedem Fall und immer grammatisch relevant, da es keine Substantiv-, Verb- oder Adjektivstämme mit neutralen, grammatisch nicht relevanten Endungen gab. So betraf der -m-Schwund grundsätzlich nur die grammatisch relevanten Endungen -um, -orum/ -arum, -am (1. Pers. Sg. Fut. der kons. Konjugation; Femininum Singular von Substantiven und Adjektiven), -im/ -em und -tim (einige Adverbien). Dagegen konnten die Palatalisierungsprozesse bei [k-] und [g-] am Wortanfang nur solche Morpheme betreffen, die entweder vollständig oder aber mindestens partiell als lexikalisch einzustufen sind. Trotzdem sind auch Fälle wie das französische Schwa zu beachten, das sich unterschiedslos auf Lexeme und Grammeme bezog. Es führte im Altfranzösischen vermutlich sogar zur Reduktion des definiten Pluralartikels von [les] zu [l ə s]. Immerhin erscheint bemerkenswert, dass trotz der Wichtigkeit der grammatikalischen Elemente und der vorliegenden weitgehenden Reduktion des Lautkörpers der unbetonten Personalpronomina ein weiterer Schwund zugelassen wurde, von [le] zu [l ə ] und von [les] zu [l ə s]. Das Motiv für diese Reduktion ist eindeutig die im Rahmen der Grammatikalisierung stattfindende Erhöhung der Frequenz von Formativen, eine neutralisierende Zuordnung dieses Vorgangs zur zweiten Gliederungsebene würde diese Herkunft verschleiern. 18 Auf die Problematik um die Rolle der Parameter wurde ich ebenfalls durch Diskussionen mit Ulrich Detges aufmerksam gemacht. Schließlich bildete unsere Auseinandersetzung um konkurrierende Theorien auch den Ausgangspunkt für den nun folgenden Abschnitt 3.1.4. struktur oder Schwund von wortstamm-internen Konsonanten, darf nicht zu einer Gleichsetzung beider Prozesstypen führen 17 . Was die Fixierung angeht, so muss man in Betracht ziehen, dass etwa in den Sprachen mit Verbzentralstellung im Hauptsatz, wie dem Deutschen, die Position des konjugierten Verbs in Beziehung auf die restlichen Bestandteile des Satzes festliegt, fixiert und unveränderbar ist. Aber ein Verb ist eine lexikalische Kategorie, kein Grammem. Selbst die Skopusverringerung scheint nicht auf die Grammeme beschränkt zu sein. Ein attributives Adjektiv etwa trägt zur Bildung einer Nominalphrase bei. Die Beziehung zwischen ihm und dem Nomen, das durch es determiniert wird, besteht auf NP-Ebene. Als prädikatives Adjektiv aber trägt es zur Bildung eines ganzen Satzes bei und seine Beziehung zum Substantiv besteht auf Satzebene. Nun ist auch „Adjektiv“ eine lexikalische Kategorie. Skopusverschiebungen können also auch Lexeme durchmachen. Also ergibt sich, dass der Skopusverschiebung, der Fixierung und der phonologischen Abreibung auch eine Funktion im strikt lexikalischen Bereich zukommt und sie daher weniger spezifisch und definitorisch relevant für die Grammatikalisierung sind. Insofern eben liegen sie weiter weg von deren definitorischem Zentrum 18 . Die bis hierhin erarbeiteten Vorschläge dienten der inneren Umgestaltung der Grammatikalisierungstheorie. Doch diese hat Konkurrenten bei der Erklärung und Beschreibung grammatikalischen Wandels. Inwiefern sie trotz- <?page no="86"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 74 dem immer noch als die zentrale, wenn auch nicht alleinige Theorie in diesem Forschungsbereich gelten kann, soll das nun folgende Kapitel zeigen. 3.1.5 Einordnung der Grammatikalisierung: Prozesstypen und Ursachentypen von Sprachwandel Grammatischer Sprachwandel wurde in der Vergangenheit durch vielerlei Ansätze erklärt, etwa als Veränderungen in Folge sprachlicher Ökonomie, im Sinne von Natürlichkeit, unter dem Zug typologischen Wandels, als Anpassungswirkung (Analogie), als Konsequenz von Expressivität u.a. Alle diese Ansätze scheinen auf den ersten Blick mit der Grammatikalisierungstheorie zu konkurrieren. Doch um hier klarer zu sehen, bedarf es zunächst einmal einer Entwirrung. Die erwähnten Theorien sind nicht alle auf der gleichen Ebene angesiedelt. Es ist zu unterscheiden einerseits zwischen Typen von Ursachen, Gründen, Motiven, die im Zusammenhang mit psychischen, sozialen und kommunikativen Bedingungen der sprachlichen Aktivitäten stehen, und andererseits Typen von Prozessen, die sich vollziehen. So macht die Grammatikalisierungstheorie keine Aussagen über Motive und Gründe solcher Prozesse wie Schrumpfung des Paradigmas, Verringerung des konstruktionellen Skopus, phonologische Schrumpfung u.a. Sie ist lediglich eine Zusammenfassung dieser Prozesse zu einem Ganzen. Entwicklungen werden konstatiert, aber nicht weiter erklärt. Dagegen ist sprachliche Ökonomie ein sprecherseitiges Motiv für Lautabbau oder -abschwächung oder die Angleichung der Paradigmen aneinander per Analogie. Insgesamt kann man die Ansätze zur Erklärung von Sprachwandel also auf zwei große Gruppen verteilen: einerseits Ursachen und Motive, andererseits Prozesse. Zunächst zur ersten Gruppe: Typen von Ursachen für Sprachwandel Sprachökonomie (Aufwandserleichterung) [Lüdtke 1979, Simon 1998], Expressivität (Detges 2002, Simon 1998), Beziehungsregelung und Selbstdarstellung (Simon 1998) Verdeutlichung (semantaktische Anreicherung, Aufwandserhöhung) [Lüdtke 1979, Simon 1998] Hervorhebung, Verständnissicherung Prestige von Sprachen, Sach- und Kulturwandel (Simon 1998) Systemausgleich, innersystematische Anpassung (beim typolog. Wandel) [Blank 1997] In seinem Grundsatzbeitrag zur Sprachtypologie verweist Raible auf den human factor, der gerade beim Sprachwandel die konkrete Auskleidung der universalen Skalen beeinflusse: „There are universal factors beyond those that are wired into our brains or based on our conceptual apparatus. […] <?page no="87"?> 3.1 Grammatikalisierung 75 Human communication […] implies two psychophysical systems, that is speakers who may e.g. be more or less explicit in what they produce, giving rise to phenomena like the ‚Principle of Least Effort‘ […]. This is why economy and markedness are most important factors in human languages, leading for instance to permanent language change.“ (2001: 19). Markiertheit im Sinne von Verdeutlichung und Expressivität sowie die Sprachökonomie gehören - unter den Lebensbedingungen des Menschen und den Bedingungen sprachlicher Kommunikation - zu den konkreten Auslösern von kreativen Prozessen der Ausgestaltung von skalaren Kategorien und Ausdruckselementen, wie sie im folgenden Kasten aufgeführt sind: Prozesstypen Reanalyse Grammatikalisierung Semantische Abreibung/ Syntaktisierung Obligatorisierung/ Erhöhung der Frequenz Schrumpfung des Paradigmas, Koaleszenz Phonologische Abreibung, Fixierung, Verringerung des Skopus Lexikalisierung - Bedeutungswandel: Metonymie, Metapher, Bedeutungserweiterung/ -verengung, Ellipse, Volksetymologie (vgl. Blank 1997) - Syntagmatische Fixierung (Phraseologismen) - Wortbildungsprogramme: Derivation (Präfigierung, Suffigierung, Null-Derivation, Apophonie, Apokope, Siglenbildung, Konversion) Komposition (Juxtaposition [VN, NN], präpositionale Komposition, genetivische Kompostion [z.B. Fugen-s/ -n]) - Festhalten okkasioneller Entlehnungen Prozesse des Lautwandels - Schwund eines Vokals oder Konsonanten, Epenthese und Aphärese einzelner Laute - speziell: Vokale (Diphthongierung, Monophthongierung, Nasalierung, Palatalisierung, Velarisierung, Schließung/ Öffnung = Hebung/ Senkung, Metaphonie) - speziell: Konsonanten (Palatalisierung, Velarisierung, Sonorisierung/ Desonorisierung, Assimilation, Dissimilation, Metathese, Rhotazismus, Assibilierung u.a.) - silbenbezogene Prozesse (Synkope, Aphärese, Epenthese, Apokope) Typologischer Wandel, Analogie und Natürlichkeit sind Erklärungsmodelle, die ihrem Anspruch nach Prozessbeschreibungen und Angaben zu Motiven des Wandels jeweils zu einem Ganzen verbinden. Als Ursachen setzen alle drei Theorien Motive des Systemausgleichs und der innersystematischen <?page no="88"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 76 Anpassung an. Sie sind integraler Teil von ihnen. Andererseits beinhalten alle drei Modelle Bestimmungen zu problembeladenen Ausgangs- und angestrebten Zielpunkten einer Entwicklung, machen also Aussagen zu Prozessen. In diesem Sinne weisen sie eben zwei Seiten auf, gehören zu zwei Feldern. Durch ihre prozessuale Komponente präsentieren sie sich als Konkurrenten zur Grammatikalisierungstheorie. Das Modell des typologischen Wandels (vgl. Ineichen 1979: 149ff.) verlegt die wesentliche Ursache in den Sprachtyp, dem eine jeweilige Einzelsprache angehört. Wenn sich eine Reihe von Merkmalen einer Sprache so ändert, dass diese zu einem anderen Typ überwechselt, so führt das dazu, dass sich auch viele andere Merkmale ändern, um den Wechsel hin zu dem neuen Typ möglichst vollständig zu vollziehen. Derartige Typen wurden vor allem in Bezug auf drei Aspekte herausgearbeitet: analytischer vs. synthetischer Sprachtyp (Schlegel 1818), Prädetermination vs. Postdetermination (Baldinger 1968), schließlich Wortstellungstypen (Greenberg 1966, Bossong 1980) [mit Implikationen auch für die Morphologie (Bartsch/ Vennemann 1973)]. Die erste Opposition spielt eine Rolle beim Übergang vom Latein zu den romanischen Sprachen, bei dem vielfach ein analytic drift unterstellt wurde (Sapir 1921: 150f., Bally 1944: 29ff.). Da sich Vulgärlatein im Vergleich zum Latein in einigen Formen analytisch entwickelt habe, seien die romanischen Sprachen noch stärker zum analytischen Typ hin verändert. Ähnliches wird für den Übergang des Altzum Neufranzösischen behauptet, da hier Postin Prädetermination übergegangen sei. Schließlich werden Abhängigkeiten in der Wortstellung vermutet. Hierhin gehören einige Wortstellungs-Universalien von Greenberg (vgl. Ineichen 1979: 134ff.). Die Theorie des typologischen Wandels weist verschiedene Schwachpunkte auf. In Bezug auf die Analytizität oder Syntaktizität ist darauf hinzuweisen, dass es viele Sprachen von gemischtem Typ gibt, also solche, die eine weitgehend synthetische Nominalmorphologie mit einer stärker analytischen Verbalmorphologie kombinieren (slavische Sprachen) oder umgekehrt (romanische Sprachen). Sprachen mit durchgängig analytischem oder durchgängig synthetischem Charakter in allen grammatikalischen Subsystemen sind selten. Würde aber ein typologischer Zug oder Druck in eine bestimmte Richtung wirklich bestehen, dann müsste bei der letztendlichen vollständigen Realisierung eines Typs ein stabiles, unbeeinflussbares System entstehen. Dann müsste es mehr Sprachen reinen Typs, und weniger von gemischtem Typ geben, da nach der Theorie des typologischen Wandels ja anzunehmen ist, dass Sprachen vom gemischten Typ einfach solche sind, die sich noch in einer historischen Übergangsphase befinden, von einem Typ zum anderen. Zweitens ist es nicht angemessen, dass die Frage der Zeitdauer eines solchen Wechsels zum anderen Typ ausgeklammert wird (Ineichen 1979: 158), denn die Annahme eines Zugs in eine bestimmte Richtung typologischer Gesamtausprägung impliziert, dass die Übergangsstadien nur kurz dauern. Stabile Zustände sind nur dann als stabil zu bezeichnen, wenn sie länger dauern als <?page no="89"?> 3.1 Grammatikalisierung 77 19 In seinem Beitrag zur lateinisch-spanischen Sprachgeschichte zeichnet Ángel López García in einem Graphen, in dem er eine Sprache in ein Verhältnis zur Zeit setzen will, das Bild einer vollkommen gleichmäßigen Fortentwicklung (2001: 41): Jeder Veränderungsschritt, der sich in der gleichen Zeiteinheit vollzieht, ist gleichmäßig stark, ein Wechsel zwischen schnelleren und langsameren Wandelschüben findet nicht statt. Nach seiner Auffassung vollzieht sich so der Sprachwandel bei rein mündlichen Sprachen, denen eine Schrift fehlt. Diesem Bild gegenüber darf man skeptisch sein. Wir wissen aus der Interpretation von Sprachfamilien, in denen kein Idiom bis in jüngste Zeit eine Schrift ausgebildet hat, dass die unterschiedlichen Sprachsysteme der Familie als verschieden weit fortgeschrittene Stadien einer gemeinsamen Ursprache zu verstehen sind. Dies lässt sic im Fall des Polynesischen sehen (vgl. Broschart 1994). Tonganisch im Süden von Polynesien gilt als konservativ und eher archaisch, während Hawaiianisch im Norden, dort wo die jüngste Besiedlung durch die Polynesier stattgefunden hat, relativ weit fortgeschritten zu sein scheint. Innerhalb des gleichen Zeitraums haben sich in diesen Sprachsystemen also unterschiedlich viele Aspekte geändert. Und dies widerspricht dem Bild einer gleichmäßigen Entwicklung. Für Sprachen mit einer Schriftnorm nimmt López García dagegen ein unregelmäßiges Fortschreiten mit sich abwechselnden Phasen stärkeren und schwächeren Wandels an (2001: 42). Übergänge. Diese Dauer gehört zur Definition der typologischen Stabilität und damit des Zielpunkts der Wandeltendenzen. Übrigens ist es auf der Grundlage eines typologischen Wandels auch schwer zu erklären, warum sich der Wandel bei gleicher Ausgangskonstellation mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten 19 vollzieht. Warum hat sich die rumänische und französische Nominalmorphologie langsamer und träger vom vulgärlateinischen Ausgangspunkt entfernt als die der übrigen romanischen Sprachen? Für Rumänisch und Französisch weiß man, dass die entsprechenden Sprachgemeinschaften offenbar länger an Kasusformen festgehalten haben als ihre romanischen Schwestersprachen. Wie ist das möglich, wenn in allen der gleiche Druck in Form eines analytic drifts herrschte? Schließlich besteht die Gefahr, dass die Beschreibungen mittels Typen für viele morphologisch komplizierte und semantisch feine Wandelvorgänge zu grobkörnig sind und zu stark schematisieren (Neumann-Holzschuh 1997: 410). Immerhin bietet das Modell des typologischen Wandels in seiner positionstypologischen Version, also für die Erklärung des Wortstellungswandels, einen fruchtbareren Ansatz. Nach Greenbergs Universalien fördert eine VO-Stellung (Muster SVO, VSO) das Vorkommen von Präpositionen und postnominalen Attributen, während eine OV-Stellung zusammengeht mit Postpositionen und pränominalen Attributen (harmonic relations), wobei andere Lösungen (VO + Postpostionen + GN, AN oder OV + Präpositionen + NG, NA) nach Greenbergs Auffassung disharmonisch sind (1966: 76ff.). Hawkins (1994) erklärt diese Harmonien durch eine Optimierung von Verarbeitungsprozessen. Bei VO würden Attribute, genauer attributive Adjektive oder genetivisch gemeinte Nominalattribute, eines Objekt-Nomens verbabgewandt positioniert und darum nachgestellt, und außerdem syntaktische Relationen durch Präpositionen statt durch Postpositionen angezeigt werden, da Präpositionen bei einem VO-Typ dem Verb zugewandt und nicht von ihm abgewandt seien. Auf diese Weise müssten sprachliche Empfänger weniger <?page no="90"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 78 20 Ingrid Neumann-Holzschuh (1997: 410) bringt in Bezug auf die Positionstypologie die Coseriu’schen Bedenken auf den Plan, dass man auf den ersten Blick vergleichbare Kategorien zweier Sprachen, wie etwa die des „Subjekts“, nicht unbesehen vollkommen in eins setzen solle. Ein „Subjekt“ in einer Kasussprache hat unter seinen Merkmalen das Kennzeichen, dass es im Nominativ steht. Sprachen mit Person-Numerus-Kongruenz zwischen Verb und Subjekt haben in ihrem „Subjekt“-Begriff das Merkmal, dass dasjenige Nomen in einem Satz als Subjekt aufzufassen ist, an dem sich diese Kongruenz orientiert usw. Die Merkmale können also von Sprache zu Sprache im Einzelnen sehr verschieden sein. (vgl. 3.1.1, Überlegungen Raibles). Wie Neumann-Holzschuh bemerkt, liegt hier auch eine Schwierigkeit für die Positionstypologie verborgen, denn diese setzt voraus, dass man das Subjekt in einer Sprache mit dem in einer anderen gleichsetzen kann. Demgegenüber stellt sich die Frage, ob mit den Mitteln moderner Syntax und Semantik nicht doch ein universeller Subjekt-Begriff möglich ist, der die zentralen, prototypischen und unverzichtbaren Subjekt-Merkmale enthält: (1) Subjekt ist der erste Aktant eines Prädikatsausdrucks (2) Dieser Aktant wird in einem aktivischen Hauptsatz als NP-unter-S realisiert. Diese beiden Merkmale dürften auf die Subjekte aller Sprachen zutreffen, unabhängig davon, welche kongruenz-morphologischen, transformationell-diathetischen oder sonstigen Merkmale ein solches Subjekt in einer gegebenen Einzelsprache außerdem noch kennzeichnen. Knoten durchlaufen, um die syntaktische Konstituenten-Struktur eines gehörten oder gelesenen Satzes zu rekonstruieren, als bei einer disharmonischen Kombination VO+Postposition+GN, AN. Dagegen bewirkt eine OV- Stellung gemäß Hawkins, dass Nominalattribute, da wieder verbabgewandt zu positionieren, dem Bezugsnomen vorangestellt werden und die Beziehung zum Verb durch Postpositionen und nicht durch Präpositionen hergestellt wird, da Postpositionen in einem OV-Typ dem Verb zugewandt sind, wodurch wieder weniger Knoten zu durchlaufen seien als bei disharmonischen Lösungen. Die Grundidee ist immer die, dass die Anzeiger der Relationen, also Präpositionen und Postpositionen dem Verb zugewandt ausgerichtet werden und auf diese Weise die Zahl der Knoten, die durchlaufen werden müssen, bis man ein strukturelles Gesamtbild des Satzes erreicht, gering gehalten wird. Nun hat Greenberg selbst festgestellt, dass - wie die Tabelle in Ineichen (1979: 137f.) zeigt - die überwiegende Mehrzahl der Sprachen einem von drei Rein-Typen angehört: SVO mit Präpositionen, „Genetiv“-Nachstellung und Adjektiv-Nachstellung; VSO mit Präpositionen, „Genetiv“-Nachstellung und Adjektiv-Nachstellung; SOV mit Postpositionen, „Genetiv“-Voranstellung und Adjektiv-Voranstellung. Ausnahmen gibt es hier lediglich, und dies wieder relativ häufig, beim Adjektiv 20 . Damit sind rein mengenmäßig stabile Eckpunkte von Entwicklungen aufgezeigt. Die Sprachen scheinen also natürlicherweise dazu zu tendieren, die Verteilung der Hauptwortgruppen im Satz und die Verteilung der das Nomen umgebenden Attribute und synsemantischen Markierungselemente in optimaler Weise aufeinander abzustimmen. Die optimierten Zustände sind ganz offenbar stabile Zustände. Dass man dieses Schema trotzdem noch verfeinern muss, zeigt einerseits die Untersuchung von Ingrid Neumann-Holzschuh (1997), andererseits die Greenberg’sche Restklasse, die in der Liste bei Ineichen ganz am Ende steht und <?page no="91"?> 3.1 Grammatikalisierung 79 wichtige Sprachen wie Tagalog oder Englisch umfasst. Hier wie dort wird die Aufmerksamkeit auf das Gewicht der Alternanz von Wortstellungstypen gelenkt. Bartsch/ Vennemann (1973) haben nun einige Hypothesen bezüglich der Wechselwirkung von Wortstellung und Morphologie aufgestellt. So tendierten Wörter in VO-Sprachen zur morphologischen Reduktion und Null- Markierung. OV-Sprachen dagegen wiesen fast immer Kasussysteme auf. Der Verlust der Markierungen führe zum Wandel in Richtung VO. Dieser Darlegung kann man nur zum Teil zustimmen. Wenn schon ein deutlicher Zusammenhang zwischen OV und der Existenz von Kasussystemen zu erkennen ist, so gilt dies nicht für VO und mangelnde morphologische Markierung. Zwar haben sich die germanischen und romanischen Sprachen von OV zu VO unter Verlust von Kasusmarkierern gewandelt, aber die meisten slavischen Sprachen besitzen trotz VO-Grundstellung immer noch deutlich ausgebaute Kasussysteme. Man kann also nicht sagen, dass das Verb deswegen zwischen Subjekt und Objekt tritt, weil durch diese Trennung von Subjekt und Objekt ermöglicht werden soll, auch ohne Anleitung durch Kasus grammatische Funktionen zuzuweisen. Dies bestätigt auch die Entwicklung des Arabischen, das in der klassischen Version eine VSO-Wortstellung und Kasus aufwies. Obwohl die Kasus in den arabischen Dialekten verloren gegangen sind, sind diese keineswegs zu einer SVO-Wortstellung übergewechselt. Subjekt und Objekt werden durch semantische und Kongruenz-Asymmetrien oder den Kontext unterschieden oder eben rein durch die Abfolge SO, also die relative Stellung von Subjekt und Objekt zum satzinitialen Verb. Die Wortstellungsveränderungen und die morphologisch-funktionalen scheinen also mindestens partiell unabhängig voneinander zu verlaufen. Immerhin muss man der Bartsch/ Vennemann’schen Theorie des typologischen Wandels zugestehen, dass sie in dem generellen Ziel der Überwindung von Morphologie zu Gunsten einer reinen Wortstellungssyntax (vgl. Ineichen 1979: 159, Strömung S2) einen Endpunkt formuliert haben, der auch mit der in der Grammatikalisierungstheorie angesetzten Tendenz nach De-Semantisierung und zunehmend stärkerer Syntaktisierung im Prinzip übereinstimmt. Ob es aber darüber hinaus einen Einfluss spezieller Wortstellungstypen auf morphologisch-funktionalen Wandel gibt, mag bezweifelt werden. Die empirischen Daten jedenfalls lassen keinen eindeutigen Schluss zu. Die Natürlichkeitstheorie (Mayerthaler 1981, Wurzel 1984, Dressler 1985, Mayerthaler/ Fiedl 1993) wurde für verschiedene Sprachebenen ausgebildet, vor allem Phonologie und Morphologie. Natürliche Sprachwandelprozesse sind solche Tendenzen, durch deren vollständige Verwirklichung das eigentliche Wesen von Sprache zum Vorschein gebracht würde, da durch sie maximal einfache und im Verhältnis zum Bezeichneten vollkommen adäquate Wortformen und Konstruktionen erreicht würden. Da natürliche Sprachwandelprozesse aber auf verschiedenen Ebenen stattfinden, behindern sie <?page no="92"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 80 sich nach Auffassung der Natürlichkeitstheoretiker gegenseitig, so dass die Tendenzen zwar immer wieder an einzelnen Problemstellen ansetzten, es aber nie zu einer Gesamtoptimierung der Sprache kommen könne (Mayerthaler/ Fiedl 1993: 612; Dressler 1985). Was aus phonologischer Sicht natürlich sei, könne morphologisch zu komplexeren Formen mit geringerer Angemessenheit zum Ausgedrückten führen. Doch partielle Sprachwandelprozesse verlaufen nach Auffassung der Theorie immer von einem Zustand geringerer Natürlichkeit zu einem solchen größerer Natürlichkeit. In jüngster Zeit standen morphologische Entwicklungsvorgänge im Vordergrund. Hier wurde hervorgehoben, dass die Tendenz zu größerer Natürlichkeit beinhalte, dass mangelnde Uniformität und Transparenz flexionaler Paradigmen sowie fehlende Ikonizität einzelner Formen zum Wandel in Richtung von Eins-zu- Eins-Entsprechungen von Form und Funktion sowie größerer Ikonizität führe. Unter Ikonizität ist dabei zu verstehen, dass eine Wortform genau so viel grammatische Gestaltungselemente beinhaltet wie es ihrer semantischen Markiertheit entspricht. Semantisch weniger markiert sind in der Theorie von Mayerthaler solche Kategorien, die prototypische Sprechereigenschaften widerspiegeln: Ein Sprecher äußert sich jetzt in der hiesigen Realität. Entsprechend sind Singular, Präsens und Indikativ semantisch weniger markiert als der Plural, eine Vergangenheitsform oder der Konjunktiv. Morphologisch sollten deswegen Plural, Präteritum oder Konjunktiv auch formal aufwändiger gekennzeichnet sein als ihre semantisch weniger markierten Gegenstücke. Wenn sie tatsächlich stärker markiert sind - etwa durch einen Affix, wo im Singular bzw. Präsens bzw. Indikativ ein Affix fehlt -, dann besteht eine genaue Korrelation zwischen der semantischen und der morphologischen Markiertheit. Diese Korrelation ist ikonisch. Nicht-ikonisch sind dagegen Markierungen, bei denen die semantisch weniger markierten und die stärker markierten formal gleich aufwändig gekennzeichnet sind, kontraikonische Verhältnisse hat man bei Umdrehung der Markiertheitsproportionen, also wenn semantisch Prototypisches aufwändiger kodiert wird als weniger zentrale Kategorien. Die Sprache tendiere dazu, eben solche problematischen Situationen der mangelnden Ikonizität auf Grund ihres unnatürlichen Status in natürlichere morphologische Strukturen mit größerer Ikonizität zu verwandeln (vgl. Wurzel 1984: 22f.). Obwohl die früh einsetzende Kritik an der Natürlichkeitstheorie zu internen Reformversuchen geführt hat, bleiben doch das begriffliche Fundament, also das Wesen von Natürlichkeit, und die Eignung für die Beschreibung der Einzelfakten umstritten. So hebt Keller die mögliche Tautologie in dem Natürlichkeitskonzept hervor (1994: 59ff.). Hinzu kommen empirische Gegenargumente. Betreffend die Angemessenheit zu den Einzelfakten macht man folgende Festellungen: Auf der morphologischen Ebene kann man, gerade im Fall von Latein und in den romanischen Sprachen, mehrfach beobachten, wie die Entwicklung zu kontraikonischen oder nicht-ikonischen Formen hin verläuft, also entgegen den von der Theorie prognostizierten <?page no="93"?> 3.1 Grammatikalisierung 81 21 Diese These wurde unter dem Stichwort „analogischer Wandel“ schon von den Junggrammatikern vertreten (vgl. Bynon 1981: 31ff.). Tendenzen. Die Plurale des Nominativs der o-Deklination sind kontraikonisch (-us, -i/ -um, -a). Auf dem Weg zum Altfranzösischen wird nun für viele Substantive, die Nachfolger der Substantive der -o-Deklination sind, die starke Markiertheit des Singulars nicht etwa zu einer schwächeren Markiertheit umgewandelt, sondern die im Sinne der Natürlichkeitstheorie paradoxe Situation eines aufwändiger ausgestalteten Singulars gegenüber einem kürzeren Plural wird im cas régime der ersten altfranzösischen Deklination eher noch verschärft (-s vs. NULL). Auch der minimal ikonische Plural des Nominativs der a-Deklination auf -ae wandelt sich schon im Vulgärlatein zu einer nicht-ikonischen Form (-a/ -ae zu -a/ -e). Der mangelnde Aufwandsunterschied in der morphologischen Ausgestaltung wird im späteren Italienischen, das diese Formen beibehält, keineswegs korrigiert. Ikonizität scheint immerhin gut erkennbar in der imparisyllabischen, konsonantischen Deklination des Lateins. Hier ist der Nominativ Singular wirklich die am wenigsten aufwändig markierte Form, ist also insgesamt unmarkiert. Die Plurale der peripheren Kasus Dativ und Ablativ sind dagegen morphologisch sehr aufwändig gestaltet (-ibus). Generell ist es eine relativ weit verbreitete Erklärung für den Kasusschwund in den lateinischen Deklinationen, dass die Mängel betreffend Uniformität und Transparenz der verschiedenen Paradigmen diesen Wandel ausgelöst haben 21 . Möglicherweise ist es dadurch zu einer Zwei-Kasus-Konstellation gekommen oder zur Definition einer Einheitsform für ein Substantiv bei völligem Verlust der Kasus. Dann hätten Funktion-Form-Asymmetrien in den Paradigmen interne Wandelbewegungen ausgelöst, die wiederum ihrerseits zur Definition neuer Kategorien (casus obliquus bzw. einheitliche Grundform) geführt hätten. Dressler (1985) hebt hervor, dass es nur dann eine Flexionsklasse für eine Wortart gibt, wenn mindestens eine Flexionsregel auf die Klasse Bezug nimmt. Sprachliche Kategorien existieren also nur insoweit, als sie sich in Formen niederschlagen. Umgekehrt müsste man dann sagen können, dass Formenwandel auch Kategorienwandel bewirken kann. Demnach wäre die gesamte Geschichte der Reduktion der lateinischen Kasussysteme eben doch brauchbar mit den Mitteln der Natürlichkeitstheorie zu erklären. Doch hier wird eine Grenze sichtbar, die zugleich eine Verbindungslinie zur Grammatikalisierungstheorie herstellt. Erst wenn eine gewisse Konstanz im Gebrauch einer bestimmten Kasusform in den obliquen Funktionen hörerseitig, per Reanalyse, als Realisierung einer neuen, abstrakteren grammatischen Kategorie begriffen wurde, war der casus obliquus im Vollsinn geboren. Und möglicherweise kann diese Reanalyse sogar schon vorher erfolgt sein, als der Reduktionsprozess noch nicht alle Konkurrenzformen ausgeschaltet hatte. Erst der Schlüsselprozess der Grammatikalisierung, die Reanalyse, vollendet also den grammatischen Wandelprozess, indem eine <?page no="94"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 82 neue Kategorie als Gegenstück der formalen Reduktion unterstellt wird. Im Übrigen muss man darauf hinweisen, dass es überhaupt schon Grammatikalisierungsvorgänge waren, die zu mangelnder Uniformität und Transparenz geführt haben, etwa Anpassung von Dativ und Genetiv oder Dativ und Ablativ aneinander. Hier handelt es sich nämlich um die von Lehmann hervorgehobene gegenseitige Anpassung der Formen eines Paradigmas, die ein Aspekt von Paradigmatizität ist (Lehmann 2002a: 120). Im Fall des Rückgangs der Kasusformen sind also sowohl die natürlichkeitstheoretisch als Problemlage eingestufte Ausgangssituation als auch die abschließenden Prozesse der Kategoriendefinitionen besser auf der Grundlage der Grammatikalisierungstheorie zu erklären. Es wurde versucht, den Natürlichkeitsansatz zu verfeinern, indem er nicht nur auf verschiedenen Sprachebenen angesiedelt wurde, sondern abstrakter, auf der Stufe der Sprache überhaupt, auf derjenigen der Sprachtypen und auf derjenigen des Sprachsystems (vgl. Klausenburger 2000: 10). Dressler etwa hat die These aufgestellt, dass man das Türkische mit seiner stark durchsichtigen Suffixstruktur, die fast ohne Portemanteau-Morphe auskommt, im Vergleich zum Latein eigentlich nicht als natürlicher ansehen dürfe. Denn was aus der Sicht von Mayerthalers Universalienansatz gelte, müsse im Hinblick auf Sprachtypen verschoben werden. Türkisch gehöre einem Sprachtyp an, der durch das Streben nach Eins-zu-eins-Entsprechungen zwischen Morphen und den durch sie repräsentierten Bedeutungen bzw. Funktionen gekennzeichnet sei - nach Mayerthaler also eine fast ideale morphologische Struktur aufweist -, während Latein einen Sprachtyp verkörpere, in dem es auf ganz andere Aspekte ankäme, im Hinblick auf die das Türkische gar nicht so günstig gebaut sei, nämlich optimale Wortlänge und eindeutige Erschließbarkeit von Wortarten (Ibid.: 9f.). Man muss in Konsequenz dieses Ansatzes dann ausmachen, ob das Romanische den Prinzipien dieses Typs treu geblieben ist oder sich seine Entwicklung aus diesem Rahmen herausbewegt hat. Eine noch weiter gehende Einschränkung von Mayerthalers universaler Natürlichkeit stellt die Systementsprechung dar, der eigentliche Ansatz Wolfgang Wurzels. Wurzel setzt zur Charakterisierung einer Sprache eine Reihe von system-definierenden Struktureigenschaften an (vgl. Klausenburger 2000: 5). Demnach ist ein gegebenes Sprachsystem u.a. durch folgende Prinzipien zu charakterisieren: Art und Zahl seiner morphosyntaktischen Kategorien und Eigenschaften dieser Kategorien (Beispiel Deutsch: Kasus, mit fünf Subkategorien, und Numerus, als Singular und Plural); Flexion der Grundform oder des Stamms (Beispiel Deutsch: der Freund, des Freundes - -es kommt hinzu - vs. Latein: amicus, amici - -us wird zu -i); kumulative oder getrennte Darstellung von Kategorien durch Signifikanten (Deutsch und Latein beide kumulativ, Türkisch getrennt); die Existenz von Flexionsklassen u.a. Eine Flexionsklasse oder auch einzelne Form ist umso natürlicher, je mehr sie dem Durchschnitt des Systems entspricht. So sind beispielsweise <?page no="95"?> 3.1 Grammatikalisierung 83 solche Substantivformen im Deutschen, die sowohl singularisch als auch pluralisch aufgefasst werden können (der Wagen, die Wagen) unnatürlich und tendieren daher zur Ersetzung durch natürlichere Formen (der Wagen, die Wägen), natürlicher im Sinne der Systemanpassung. Betrifft der grammatische Wandel nicht nur einzelne Formen, sondern generalisiert er sich und breitet er sich aus, dann kommt es, nach Wurzels Ansicht, zu einer Änderung in den system-definierenden Struktureigenschaften, die außermorphologisch, also nicht vom Inneren des Flexionssystems selber, veranlasst wird. Dagegen ist die sich danach ergebende Generalisierung der neuen Prinzipien im betroffenen Sprachsystem rein morphologisch bedingt. Diesen Ansatz wendet Jurgen Klausenburger (2000) auf den Grammatikwandel im Verbalsystem und der Nominalflexion des Lateins beim Übergang zum Französischen und Italienischen an - wobei er am Rande auch das Spanische berücksichtigt. Da das westromanische Französisch dem Spanischen in manchen Zügen ähnelt und auf der anderen Seite das ostromanische Italienische mit dem Spanischen das Vorhandensein expliziterer Flexionsformen teilt, sind Klausenburgers Betrachtungen auch auf die Iberoromania anwendbar. Für das Verbalsystem stellt Klausenburger fest, dass das Romanische sein Kategorieninventar gegenüber dem Lateinischen verringert hat, da Lateinisch in seinen synthetischen Formen noch die Diathese „Passiv“ sowie den Aspekt „perfektiv“ markiert habe, was im Romanischen aufgegeben worden sei. Im Französischen sei es außerdem, durch die Generalisierung des Schwa in den Präsenskonjugationen von Indikativ und Subjunktiv zu der Situation einer Reprästentation kategorialer Person-Numerus-Unterschiede durch einheitliche Signifikanten und damit zu einer Undurchsichtigkeit bezüglich funktionaler Differenzierungen gekommen. Letzteres gilt im Spanischen nur für die andalusischen und karibischen Varietäten sowie das vor allem in Hispanoamerika praktizierte tratamiento unificado, das eine Gleichsetzung der Verbformen von zweiter und dritter Person Plural zur Folge hat, während die europäische Standardsprache weitgehend unberührt von einer Signifikantenvereinheitlichung bei den Verbformen geblieben ist. Im Portugiesischen hat sich, seit Beginn des 19. Jahrhundert, allmählich ein Formenzusammenfall zwischen zweiter und dritter Person Plural durchgesetzt (Teyssier 1980: 92f.). Im brasilianischen Portugiesisch sind die Zusammenfälle in Folge der Ersetzung von tu durch você noch stärker. Die Überdeckung von funktionalen Unterschieden, ihre Verkleidung zu Gunsten einer Vereinfachung der Konjugation ist also durchaus nicht selten in den romanischen Verbalsystemen. Als auffälligste Änderung in den system-definierenden Prinzipien sieht Klausenburger aber die starke Entfaltung der periphrastischen Formen auf der Basis der Hilfsverben habere und esse. Im Lateinischen, mit seinen periphastischen Formen des Perfektpassivs, seien drei Viertel der Formen synthetisch und nur ein Viertel analytisch gewesen. Zähle man die romanischen Konjugationsformen aus, dann werde man gewahr, dass mittlerweile zwei Drittel der Formen analytisch und nur noch ein Drittel syn- <?page no="96"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 84 22 Immerhin muss man einschränkend bemerken, dass die Verwendungshäufigkeit der synthetischen Formen gegenüber den analytischen in den Varietäten des Iberoromanischen die nummerischen Ausgangsverhältnisse im reinen Formenvorrat doch noch etwas zu Gunsten der synthetischen Formen verschiebt. Betreffend das System ist die Bemerkung Klausenburgers aber wohl zutreffend, denn selbst eine so seltene Form wie (port.) tenho feito ist ins Sprachsystem integriert und zählt damit eben zum Formeninventar. thetisch seien 22 . Durch seine präzisen Aufstellungen verdeutlicht Klausenburger, dass sich der lateinisch-romanische Grammatikwandel im Verbalbereich sinnvoll durch eine natürlichkeitstheoretische Deutung verstehen lässt. Plausibilität ist diesem Zugang letzten Endes nicht abzustreiten. Der stärkste außermorphologische Faktor, der die Änderung verschiedener system-definierender Prinzipien zur Folge hatte, also das Aufkommen von habere- Periphrasen, ist nach Klausenburger ein Prozess der Grammatikalisierung. Mit anderen Worten: Grammatikalisierung verursacht Wandel, der im weiteren Verlauf durch Natürlichkeit bestimmt ist. Betreffs der Deklinationen fußen Klausenburgers Erklärungen auf Betrachtungen zum Kategoriengefüge, das diesen zu Grunde liegt. Hier sei schon im Latein Genus grundlegender als Numerus und dieser wieder grundlegender als Kasus gewesen. In Folge dessen sei der Kasus bei einem Grammatikwandel prädestiniert dafür gewesen, dass die Sprecher ihn zu allererst, vor den anderen Kategorien aufgeben. Da im Spanischen das Endungs-/ o/ stark geblieben sei, hätten sich die Substantive der o-Deklination ähnlich entwickelt wie die der a- Deklination, indem der Vokal als Angabe des Genus und der Konsonant / -s/ als Angabe des Numerus generalisiert worden sei. Im Französischen dagegen sei die Entwicklung anders verlaufen, da das Endungs-/ o/ aufgegeben worden sei, so dass die Kategorie „Kasus“ zunächst rudimentär erhalten blieb (2000: 123). In dieser Erklärung erkennt man die typisch natürlichkeitstheoretischen Grundideen der Interaktion zwischen phonologischer und morphologischer Ebene sowie der durch Änderungen der Formen vorangetriebenen Umschichtung von Kategorien. Alles in allem kann man sagen, dass Klausenburger die Wege des Grammatikwandels in zwei Abschnitte schneidet (2000: 151ff.): einen periphrastisch-analytischen, dem er vor allem die Herausbildung der romanischen Artikel und der neuen, mindestens ursprünglich analytischen Umschreibungen für das Tempus „Futur“ (Typ cantare habeo) und „Perfekt“ (Typ habeo cantatum) zuschlägt; sowie einen flexional-synthetischen, der von den Kräften der universalen, typologischen und vor allem der systemabhängigen Natürlichkeit bestimmt sei. Wobei er die lexikalisch-grammatikalischen Umschreibungen, die zur Initialgrammatikalisierung gehören, als ikonisch und dadurch ebenfalls durch Ansätze der universalen Natürlichkeit erklärbar ansieht (Klausenburger 2000: 156). Klausenburgers Vorschläge regen dazu an, die oben entwickelten Überlegungen zum Vergleich zwischen Natürlichkeit und Grammatikalisierung noch weiter zu vertiefen. Denn eigentlich wird man den Natürlichkeits- <?page no="97"?> 3.1 Grammatikalisierung 85 modellen wohl zugestehen müssen, dass sie, durch ein komplexes Gesamt an Prinzipien und Regeln auf mehreren Stufen (Sprache überhaupt, Typ, System, Rede) und bei Berücksichtigung des Wechselspiels der verschiedenen Sprachebenen, grundsätzlich in der Lage sind, Grammatikwandel über seine gesamte Strecke hin zu erklären. Klausenburger führt dies vor Augen, indem er in exemplarischer Dichte wesentliche Beiträge und deren Prinzipien zusammenstellt. Obwohl nun der Versuch Grammatikalisierung und Natürlichkeit zu verbinden, prinzipiell berechtigt ist, scheint doch der Anteil, den Klausenburger der Natürlichkeit für die Deutung der Sprachwandelprozesse, die vom Latein zum Romanischen führen, zugesteht, immer noch zu stark ausgeweitet. Auch der Umbau im Verbalsystem und die Reduktion der Nominalflexion lassen sich nach der Grammatikalisierungstheorie deuten, und dieser Erklärungsansatz soll in der vorliegenden Untersuchung auch verfolgt werden. Außerdem kann man, selbst wenn man die Natürlichkeitstheorie in ihrer gesamten Komplexität und ihren Verfeinerungen in den Blick nimmt, doch verschiedene Schwächen nicht übersehen. Im Vergleich zu Lehmanns Fassung der Grammatikalisierungstheorie, die mit sechs Parametern auskommt, werden in der Natürlichkeitstheorie Dresslers oder Wheelers (vgl. Klausenburger 2000: 10f.) zu viele Parameter und Prinzipien ins Spiel gebracht, da hier eine universale, eine typologische und eine system-orientierte Stufe, jede mit je eigenen Grundsätzen, zusammenwirken sollen. Zweitens erscheint das Konzept der Natürlichkeit als ein in sich widersprüchlicher Begriff, wenn das, was auf einer der Stufen natürlich ist, wie etwa die Ikonizität, auf anderen Stufen unnatürlich wird. Hier ist ja auch noch das Nebeneinander der Sprachebenen im System zu bedenken. Nun kann man diese Widersprüchlichkeit freilich gerade als Kern des gemeinten Verständnisses von Grammatikwandel auffassen. Die Grammatik einer Sprache wandelt sich, weil die sie tragende Sprechergemeinschaft nach einer Optimierung im Sinne der Natürlichkeit strebt. Nur kann sie diese nie erreichen, da die Sprache auf ihren verschiedenen Ebenen (Laute, Formen, Sätze) und Stufen (System, Typ, universale Sprachfähigkeit) zu unterschiedlichen, sich gegenseitig behindernden Lösungen für die angestrebte Natürlichkeit kommen muss und sich daher zwangsläufig Spannungen ergeben. Dies treibt die Sprache fortwährend zum Wandel, zur Veränderung einmal erreichter Formen. Die Kritik an dieser Auffassung betrifft aus der Sicht der Grammatikalisierungstheorie, wie sie hier entwickelt wurde, nun genau den selben Punkt, der innerhalb ihrer selbst schon der älteren Theorieversion Paul Hoppers gegenüber anzubringen war: Eine solche Auffassung führt zu einem geschlossenen Regelkreis des Sprachsystems, in dem lediglich dessen Asymmetrien und Lücken zu einem Wandel führen und die das System schaffende Basis der parole und ihrer Bedingungen ausgespart bleibt. In Anlehnung an Keller und Detges wurde aber schon mehrfach betont, dass die Sprachgemeinschaft seltener nach Optimierung der Inhaltsträger und der Darstellungsfunktion im <?page no="98"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 86 23 Freilich ist Einfachheit an sich kein Ausweis von Gültigkeit. Und doch entspricht sie dem Wesen von Theorie, in der komplexe Wirklichkeitsfelder mit unendlich vielfältigen Situationen und Unberechenbarkeiten auf eine besser überschaubare Liste von Prinzipien, Regeln und Typen von Entitäten reduziert werden soll. Den entscheidenden Gedanken in Bezug auf Einfachheit oder Komplexität einer Sprachtheorie, auf den es mir hier ankommt, hat Noam Chomsky unter den Stichworten empirical adequacy und theoretical adequacy ausgesprochen: Wenn zwei Theorien gleichermaßen adäquat sind im Vergleich zur durch sie beschriebenen Wirklichkeit ist der einfacheren der Vorzug zu geben, da sie die Verhältnisse, aus Sicht der Ansprüche von Theoretisierung überhaupt, besser beschreibt (1975: 49ff.). Wenn sich also Grammatikwandel durch die Natürlichkeitstheorie und die Grammatikalisierungstheorie gleichermaßen gut beschreiben lässt, weil sie beide der Fülle der Phänomene gerecht werden, dann ist diejenige Theorie zu bevorzugen, die dies auf einfachere Weise tut, weil sie weniger Prinzipien benötigt, und dies ist eben die Grammatikalisierungstheorie. Sinne von Bühler strebt, als vielmehr nach der Verstärkung appellativer und ausdruckstragender Elemente, nach eindrucksvollen, rhetorischen Wirkungen, die erst durch Reanalyse in den Bereich der Gestaltung grammatischer Routinen nach und nach hineingebracht werden. Von daher soll der Natürlichkeit im vorliegenden Rahmen ein noch geringerer Anteil bei der Beschreibung von Prozessen des Grammatikwandels zugestanden werden, als dies von Klausenburger vorgeschlagen wurde. Aus der Sicht des Modells, das im vorliegenden Beitrag zu Grunde gelegt werden soll, ist vor allem auf die durchgängige Wirkung des Parameters der Syntaktisierung und Obligatorisierung hinzuweisen, die auf eine größtmögliche Reduktion von semantischen Differenzierungen und grammatikalischen Kategorien zuführt. Mit ihr verquickt ist der schon hervorgehobene Parameter der fortwährenden Schrumpfung des Paradigmas, durch den beispielsweise die lateinisch-romanische Kasusentwicklung erklärbar ist: Eine nicht-ikonische fortwährende morphologische Angleichung von Kasusformen aneinander führt in der parole zu Unsicherheiten und Verwirrungen, die letzten Endes zur Folge haben, dass kategoriale Differenzierungen zu Gunsten eines casus obliquus und schließlich einer generellen, kasuslosen Substantivform aufgegeben werden. Die Paradigmatizität erklärt die fortschreitende Dynamik eines an sich funktionstüchtigen Systems weitaus einfacher 23 , als es das verschlungene Ineinander im Geflecht der natürlichkeitstheoretischen Prinzipien tut. Natürlichkeitstheorie hat dort ihre besondere Stärke, wo es um Ausgleichsbewegungen in Folge der Verschiebungen durch Paradigmatizität und andere Parameter der Grammatikalisierung geht. Also darum, dass jeder kategorialen Differenzierung eine klar erkennbare formale Differenzierung entspricht und umgekehrt. In Zusammenwirken mit der Analogie sorgt die so verstandene Natürlichkeit dafür, dass sozusagen horizontal, auf einer erreichten Stufe der Grammatikalisierung Ruhe einkehrt und das System auf der erreichten Stufe seine Funktionalität festigt, bevor die fortschreitende Syntaktisierung erneut die verbleibenden semantisch-grammatikalischen Kategorisierungen angreift. Dies soll im Folgenden herausgearbeitet werden. <?page no="99"?> 3.1 Grammatikalisierung 87 Gehen wir zunächst wieder von der Situation des Theorienwettbewerbs aus! Zwei mit der Grammatikalisierungstheorie konkurrierende Erklärungsansätze für grammatischen Sprachwandel wurden entweder schon seit Lehmann oder durch spätere Forscher mit dieser verknüpft. Die Analogie ist als Ansatz allgemeiner als die Theorie des typologischen Wandels, da der typologische Wandel eine Form von Analogie ist und diese außerdem noch Vorgänge der Anpassung an morphologische Großklassen beschreibt, die als Vorbildformen dienen, u.a. die Ersetzung unregelmäßiger Formen mit Ausnahmestatus durch regelmäßige. Schließlich kann man als Analogie noch den Vorgang bezeichnen, dass fortwährend mehr lexikalische Einheiten in einen bestimmten grammatischen Wandel mit einbezogen werden. Die klassische Auffassung ist jedoch die der morphologischen Anpassung unregelmäßiger Formen (Paul 1880/ 1975). Der elementare Vorgang der Reanalyse wurde von Hopper, Traugott und Heine in die Grammatikalisierungstheorie eingebracht (s.o.). Die veränderte perzeptive Interpretation ohne morphosyntaktische Oberflächenerscheinungen bei der Sprachproduktion steht nach ihrer Auffassung ja hinter all denjenigen Bewegungen auf Grammatikalisierungskanälen, die in bloßen Änderungen von Funktionszuordnungen bestehen. Es sei daneben daran erinnert, dass, ähnlich der Analogie, die Reanalyse für Hopper/ Traugott auch solche Resultate haben kann, die nicht auf der Linie der Grammatikalisierung liegen (1993: 49). Doch die Reanalyse spielt eine Schlüsselrolle bei der Umwandlung von Lexemen in Grammeme und auch bei Fortgrammatikalisierungen. Detges hebt wohl zu Recht hervor, dass das eigentliche Motiv der Sprecher nicht die Schaffung grammatischer Mittel ist (2001: 106), sondern diese vielmehr erst durch hörerseitige Auffassung kreiert werden. Solange die Hörer expressive Innovationen noch als solche begreifen, werden sie in ihrer eigenen Sprecheraktivität - wenn sie also selbst die Rolle des Sprechers ergreifen - diese Gestaltungsmittel höchstens zu expressiven Zwecken übernehmen, wenn überhaupt. Sobald das neue sprachliche Ausdrucksinstrument aber so weit verbreitet ist, dass es häufig als grammatisches Mittel reanalysiert wird, wird dieses Ausdrucksinstrument Eingang in die Grammatik einer Sprache finden und von den Hörern bei Übernahme der Sprecherrolle in einem grammatischen Sinne, d.h., zur Verdeutlichung und Unterstützung der Verständigung durch Erfüllung hörerseitig erwarteter Muster verwendet werden. Dann ist aus dem expressiv-rhetorischen Glanzstück eine gewöhnliche „Münze“ geworden, ein frequent begleitendes oder obligatorisch zu gebrauchendes Element, ein Teil der grammatischen Schablonen, durch die Tausende von Einzelaussagen wieder und wieder hindurchbewegt werden. Insofern stehen sich Reanalyse und Syntaktisierung, Frequenzerhöhung und Obligatorisierung sehr nahe. Reanalyse gehört eben zum Kern der Grammatikalisierung selber. Sie ist deren zentrale, treibende Kraft. Martin Haspelmath (1998) versucht, zwischen Reanalyse und Grammatikalisierung zu trennen, also die Reanalyse aus dem Bereich der Grammatika- <?page no="100"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 88 24 Vorausgesetzt natürlich es sind Konstituentenstrukturen involviert, deren Aufbau sich irgendwie ändert (gemäß der Matrix von Waltereit 1999: 27), andernfalls hat man es auch bei formalen Änderungen ja mit Bedeutungswandel zu tun. lisierung herauszunehmen. Damit weicht er von den oben geschilderten neueren Vorschlägen von Hopper/ Traugott (1993) u.a. ab. Doch Haspelmaths Kritik scheint bei näherer Betrachtung nicht gerechtfertigt. Das allgemeine Panorama, das Haspelmath aufspannt, weist der reinen Reanalyse eine Nebenrolle im Grammatikwandel zu: „It is difficult to make quantitative statements, but my impression is that grammaticalization and analogical extension account for the large majority of syntactic changes whereas reanalysis changes form a small minority“ (1998: 327). Reanalysen weisen nach Haspelmath ganz andere Eigenschaften auf als Grammatikalisierungsprozesse und seien deswegen klar von diesen zu trennen. Eine Übersicht konfrontiert folgende Merkmale (vgl. Tabelle ibid.): Grammatikalisierung Reanalyse Verlust an Autonomie/ Substanz Kein Verlust an Autonomie/ Substanz in eine Richtung gehend bidirektional keine Ambiguität strukturelle Ambiguität in der Input-Struktur im Sprachgebrauch im Spracherwerb graduell abrupt Den ersten beiden Gegenüberstellungen in der obigen Liste ist durchaus zuzustimmen. Allerdings stellen sie eigentlich keine Gegenargumente gegen die Integration von Reanalyse in Grammatikalisierung dar, sondern geben vielmehr Bedingungen an, in welchem Fall eine Reanalyse als zur Grammatikalisierung gehörig anzusehen ist. Immer dann nämlich, wenn Folgereaktionen eintreten, wenn sich an der Autonomie bzw. Substanz des reanalysierten sprachlichen Zeichens etwas ändert, weil es in eine neue grammatikalische Kategorie eingestuft wird. Solange das noch nicht der Fall ist, kann sich die Reanalyse natürlich auch immer noch zurück entwickeln. Sobald es aber zu einem die Autonomie und Substanz betreffenden Wandel kommt, ändert die prinzipielle und potentielle Bidirektionalität, die am Anfang des Prozesses noch bestand, nichts an der faktischen Unidirektionalität, die sich ergeben hat. Und wenn dies stattfindet, dann ist eine Reanalyse eben integraler Bestandteil eines Grammatikalisierungsprozesses 24 . Betreffend die strukturelle Ambiguität muss bemerkt werden, dass sie sich bei der Reanalyse nicht notwendig ergibt. Die Ambiguität ist die Möglichkeit zu mehrfacher struktureller Analyse seitens des Hörers. Nun bedeutet dies aber nicht, dass jeder Hörer jede Struktur, die offen für eine Reanalyse ist, prinzipiell als offen für zwei Analysen auffasst. In vielen Fällen dürfte die Situation doch so sein, dass die eine Gruppe von Hörern die Struktur noch im <?page no="101"?> 3.1 Grammatikalisierung 89 25 Waltereit lehnt syntaktische Ambiguität als Voraussetzung eines Reanalyseprozesses sogar vollständig ab (1999: 21). Nicht Reanalyse setze Ambiguität voraus, sondern die Ambiguität folge aus der Reanalyse, da ohne diese die zweite Interpretationsmöglichkeit gar nicht gegeben sei. Eigentlich ist aber nicht einmal die erste Möglichkeit gegeben, sondern lediglich die Wortkette. Schon die erste Struktur ist eine Deutung, eine Unterstellung von etwas nicht unmittelbar Gegebenem. Und Ambiguität meint die Möglichkeit zur Zuweisung mehrerer unterschiedlicher Strukturen bei gleichbleibender Wortkette. alten, sozusagen „konservativen“ Sinne interpretiert, während eine andere Gruppe von sprachlichen Rezipienten schon die neue Struktur unterstellt. Für jeden dieser Hörertypen ergibt sich aber eine eindeutige Interpretation. Man braucht nun gar nicht in der Lage zu sein, mengenmäßig zu bestimmen, wie viele Hörer fähig sind, die Ambiguität zu erkennen und wie viele genau eine einseitige Interpretation vornehmen, die Existenz dieser einseitigen Interpretationen ist keineswegs auszuschließen. Daher kann nicht notwendig von einer Ambiguität des Inputs ausgegangen werden, oder, präziser gesagt: die Input-Ambiguität ist nicht diejenige, die bei der Grammatikalisierung berücksichtigt werden muss, sondern vielmehr die Wahrnehmung einer Ambiguität seitens des Hörers. 25 Eine Trennung in mehrere Gruppen von Interpretierenden ist in Brückenkontexten (vgl. Heine 2002) durchaus denkbar. In isolierenden Kontexten (Diewald 2002) verstärkt sich jedoch die Tendenz zur eindeutigen Interpretation wesentlich. Die Reanalyse in Bezug auf ein- und das selbe Lexem bzw. Grammem kann eben verschiedene Phasen durchmachen. Gerät sie in den Bereich isolierender Kontexte, ist die Auslösung weiterer Grammatikalisierungsprozesse wahrscheinlich. Eine strikte Trennung, wie sie Haspelmath vornimmt, leuchtet unter diesen Umständen nicht ein. Man kann sich allerdings auch auf den Input konzentrieren. Dann müsste man sagen, dass der Input eines Grammatikalisierungsprozesses immer eindeutig ist, während der Input eines Reanalyseprozesses ambig ist, ganz abgesehen davon, wie sich die Wahrnehmung dieser Ambiguität über die Sprachgemeinschaft verteilt. Also Ambiguität vs. Eindeutigkeit auf einer abstrakten Ebene. Aber genau da liegt das Problem für die vorliegende Charakterisierung des Grammatikalisierungsprozesses, also die Behauptung, er sei durch fehlende Ambiguität gekennzeichnet. Wieso kommt es im Zuge einer Grammatikalisierungsgeschichte überhaupt zu einer Veränderung der semantischen Substanz und im Zuge dessen der grammatikalischen Kategorie, wenn es kein „Relais“ gibt, das zwischen zwei Eindeutigkeiten, der alten und der neuen kategorialen Zugehörigkeit vermittelt? Ist der Übergang von Eindeutigkeit zu Eindeutigkeit bei der Grammatikalisierung nicht gerade ein Hinweis darauf, dass eine diese vermittelnde Mehrdeutigkeit existieren muss? Und diese Mehrdeutigkeit läge eben im Input der Reanalyse, die sich aus dieser Perspektive erneut als ein Teil der Grammatikalisierung erweist. Die vierte Gegenüberstellung, bei der die beiden Prozesse jeweils eindeutig und entschieden dem Sprachgebrauch oder dem Spracherwerb zu- <?page no="102"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 90 26 Mündlicher Hinweis des Germanisten Otmar Werner im Rahmen eines Vortrags im SFB 321 der Universität Freiburg „Übergangs- und Spannungsfelder zwischen Mündlichkeit geordnet werden, bezieht sich auf den Gegensatz zwischen der GTG-Deutung von Reanalyse und ihrer funktionalistischen Fassung. Wie Haspelmath hervorhebt, ist die Reanalyse für die generativ-transformationelle Grammatik der Schlüsselprozess im grammatischen Wandel. Für die GTG existiert keine Grammatikalisierung. Alles ist re-bracketing, re-labeling, Reanalyse. Zum grammatischen Wandel komme es immer dann, wenn eine sprachliche Zeichenkette strukturell mehrfach zu interpretieren sei. Während die Elterngeneration in diesen Fällen eine traditionelle Hierarchisierung des Baumes bzw. traditionelle Kategorienzuweisung vornehme, analysiere die Kindergeneration die gleichen sprachlichen Zeichenketten gemäß einer neuen Hierarchisierung oder Kategorienzuweisung (vgl. Haspelmath 1998: 317). Nun weist Waltereit (1999: 24f.) darauf hin, dass es gewichtige Probleme gibt, wenn man Verzerrungen und Abänderungen im Spracherwerb übernommener Regeln als die Quelle des Sprachwandels ansetzt. Erstens beobachte man, dass Kinder Fehler, die sie bei der Aneignung der Elternsprache machten, bald wieder korrigieren und ausbügeln. Und zweitens verlange die Auffassung der Generativisten, dass der gleiche Fehler vielfach parallel, in vielen Idiolekten gleichzeitig gemacht werde. Andernfalls könne sich keine neue Sprechnorm ausbilden. Verbindet man die Aktivität des Korrigierens mit der Notwendigkeit massiver paralleler Fehler, dann wird es unwahrscheinlich, dass sich Reanalysen in der jeweils jüngsten Generation durchsetzen können. Hopper/ Traugott (1993) und Waltereit sehen dagegen die Quelle des Wandels durch Reanalyse im Sprachgebrauch und nicht im Spracherwerb. Dabei lässt sich dann eben das oben schon skizzierte, mit der Grammatikalisierung verbindbare Szenario annehmen, nach dem ein (erwachsener) Hörer in einer Kommunikationssituation einer Zeichenkette eine neue Kategorienzuweisung oder Hierarchisierung unterlegt, und, indem er bei seinen eigenen Äußerungen die gleiche Analyse vornimmt, die Grundlage für nachfolgende Änderungen an Substanz und Autonomie der neu eingeordneten Zeichen schafft. Insofern also trifft die Kritik Haspelmaths sicherlich nicht die Möglichkeit zu einer Integration der Reanalyse in die Grammatikalisierungstheorie, sondern kann sich lediglich gegen die GTG- Version der Reanalyse richten. Schließlich weist Haspelmath - in der obigen Zusammenstellung das letzte Konfrontationspaar - darauf hin, dass Grammatikalisierung graduell vor sich gehe, während die Reanalyse in einem abrupten Sprung bestehe. Generell ist hier einzuwenden, dass es das absolut Kontinuierliche im Bereich der Sprache natürlich auch nicht gibt. Grammatikalisierung verläuft zwar über viele kleine Schritte, aber sie besteht sicherlich nicht in einem Fluss aus „Farbnuancen“ ohne erkennbare gegenseitige Grenzen. „Graduell“ bedeutet eben auch nur „vielfach-abrupt“ 26 . Trotzdem ist es im Hinblick auf die neuere <?page no="103"?> 3.1 Grammatikalisierung 91 und Schriftlichkeit“. Die Aktivitäten des in 1990 er Jahren aktiven Sonderforschungsbereichs haben die vorliegende Arbeit in vielerlei Hinsicht inspiriert. Auffassung von sprachlichen Kategorien als um einen prototypischen Kern gruppierter Merkmalskonstellationen, die unterschiedliche Grade der Zugehörigkeit zu der jeweiligen Kategorie erlauben, legitim, anzunehmen, dass der Kategorienwechsel in einem Grammatikalisierungsprozess nicht in einem Sprung verläuft - wie es die Reanalyse zu implizieren scheint -, sondern so, dass sich ein grammatisches Formativ oder grammatikalisiertes Lexem langsam vom prototypischen Kern der alten Kategorie entfernt und sich gleichzeitig allmählich dem prototypischen Kern der neuen Kategorie annähert. Haspelmath weist in diesem Zusammenhang auf eine Untersuchung von Bernd Kortmann und Ekkehard König zum Verhältnis von Gerundien und gerundial ausgedrückten Präpositionen im Englischen hin (1998: 330). Seitens der neueren Grammatikalisierungstheorie wird hier nun so argumentiert, dass sich ein abrupt verlaufener Reanalyse-Schritt eben erst nach und nach in einem veränderten syntaktischen Verhalten und einer gewandelten morphologischen Gestalt manifestiert - eine These, die von Haspelmath selber thematisiert wird (1998: 340). Nach dieser Auffassung sind zum Beispiel verschiedene englische Vollverben in einem Sprung zum Auxiliarstatus übergegangen (relabeling), und dies habe sich dann, im Nachfeld, erst allmählich auf gewisse syntaktische und morphologische Eigenschaften dieser zu Auxiliaren gewordenen Verben (can u.a.) ausgewirkt. Zunächst hätten sie die Fähigkeit verloren, mit direkten Objekten kombiniert zu werden, dann hätten sie nicht mehr als Infinitive oder Partizipien gebraucht werden können, umgekehrt hätten sie schließlich im Gegensatz zu Vollverben die Fähigkeit zur Inversion behalten. Doch Haspelmath deutet diese Vorgänge als allmählichen Übergang zu einer neuen Kategorie und nicht als schrittweise Manifestation einer vorhergehenden Reanalyse. Allerdings muss der neueren Grammatikalisierungstheorie zugestanden werden, dass sie durch die Doppelung von Metapher und Metonymie einerseits in der Lage ist, den graduellen Wechsel zu neuen Kategorien zu beschreiben, andererseits aber das im Sprachgebrauch verlaufende, metonymische Geschehen der kleinen Schritte durch die metaphorischen Relationen auf Systemebene überdacht und so die graduelle und die abrupte Seite des Grammatikwandels miteinander versöhnen kann. Haspelmath gelangt mit seiner Darstellung gerade nicht über Hopper/ Traugott hinaus, sondern bestätigt ihre Position nur um so deutlicher. Durch Erweiterung und Kritik sind also Punkte erkennbar geworden, an denen konkurrierende Theorien (Analogie, Reanalyse) in die Grammatikalisierungstheorie integriert werden können. Wir werden gleich zeigen, dass dies auch für die Natürlichkeitstheorie und die Theorie des typologischen Wandels gilt. Dabei ist von einer einfachen Grundidee auszugehen: Ebenso wie im Wortschatzwandel dem Begriff der Lexikalisierung die Schlüssel- <?page no="104"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 92 stellung zukommt, so muss auch im Bereich des grammatikalischen Wandels die Grammatikalisierung die zentrale Position einnehmen. Alle anderen Erklärungsmodelle sind Ergänzungen zu ihr und erhalten nur insofern Gültigkeit, als sie sich in bestimmter Weise auf sie beziehen. Reanalyse erklärt die Initiative zum Schritt von einem gegebenen zu einem neuen Stadium auf einem Kanal. Durch einen solchen Schritt und seine phonologischen, semantischen und syntaktischen Konsequenzen kommt es zu Turbulenzen in den Paradigmen von Funktionswörtern, affigalen Formen oder Flexionsklassen, die intraparadigmatisch durch Natürlichkeitsprozesse (u.a. Schaffung ikonischer Formen) und interparadigmatisch durch Analogien tendenziell wieder ausgeglichen werden. Unter analytic und synthetic drift schließlich sind zwei Tendenzen zu verstehen, die sich am Anfang (analytic drift) und gegen Ende (synthetic drift) der Kanäle auswirken, am Anfang nämlich als zeitlich parallele Auffüllung aller Kanäle mit neuen grammatikalischen Periphrasen und einfachen Funktionswörtern, am Ende als zeitlich parallele Entwicklung zu kleinen Paradigmen mit wenigen dahinter stehenden Kategorien auf allen Kanälen des nominalen und verbalen Bereichs. Diese Tendenzen zur Parallelisierung sind auf Grund ihrer Komplexität am schwersten realisierbar und bleiben in ihren Resultaten denn auch stark unvollständig. Es wurde gesagt, dass die Modelle von Natürlichkeit, typologischem Wandel und Analogie auch Aussagen über die Ursachen des Sprachwandels beinhalteten, während die Grammatikalisierung eine reine Theorie der Prozesse sei. Um nun hier Klarheit zu schaffen, soll das bisher Vorgetragene zu einer Gesamtsicht des Sprachwandels abgerundet werden, indem auch der Bereich der Motive in den Blick genommen wird. Die derzeit immer noch feinste, umsichtigste und klarste Theorie zu dieser Frage wurde von Rudi Keller (1994) herausgebildet. Die Beschreibung verschiedenster Sprachwandelprozesse in unterschiedlichen Philologien hat seit dem 19. Jahrhundert immer wieder eine Reihe konkreter Motive zu Tage gefördert: unterschiedliches Prestige von Sprachen, Sach- und Kulturwandel, innersystematische „Schieflagen“, die zur Gefährdung von Verständnismöglichkeiten geführt haben, Expressivität, Sparsamkeit der Artikulation oder Verringerung des Merkaufwandes beim Formeninventar. Keller deckt nun auf, dass alle diese Motive nur dann wirksam zu Erklärungen des Sprachwandels werden können, wenn sie innerhalb der Sprachgemeinschaft durch je individuelle Sprechermotive vermittelt werden. Jeder Sprecher einer Gemeinschaft habe seine je eigenen Gründe in einer gegebenen Situation so oder so zu sprechen. Keiner dieser Sprecher habe die Absicht, die Sprache bewusst zu verändern. Erst durch gleichartige Entscheidungen sehr vieler Sprecher in verschiedensten Situationen werde eine individuell abweichende, neuartige Weise zu sprechen zu einem festen Bestandteil der Sprache. Erst durch gleiche Ausgangslage und vergleichbare Motive könne sich ein neues Phänomen durchsetzen. Eine planende Instanz gebe es nicht, selbst Sprachakademien seien <?page no="105"?> 3.1 Grammatikalisierung 93 Abb. 7 nur an der Gestaltung der Ausgangslage beteiligt, ohne die Sprecherentscheidungen direkt steuern zu können. Wie eine „unsichtbare Hand“, so lenke die Parallelität der Sprecherentscheidungen die Umgestaltung des Sprachsystems an der jeweils betroffenen Stelle. Das Modell wird von Keller wie folgt visualisiert (1994, 125): Nach Keller gibt es also eine individuelle Finalität und eine daraus resultierende kausale Konsequenz für die Sprachgemeinschaft als ganze, wobei mit Explanandum einerseits der Sprachwandel überhaupt, andererseits ein bestimmtes Wandelphänomen gemeint sein kann. Die Systemveränderung ist Folge nicht abgestimmter, aber dennoch in die gleiche Richtung wirkender Handlungen vieler Einzelpersonen. Die eigentlichen Motive für die individuellen Handlungen sind für Keller nun nicht unbedingt die oben angeführten. Viele von ihnen, wie Typ-Diskrepanz, Lücken im System oder Prestige von Sprachen gehören aus seiner Sicht zu den Umweltbedingungen, an denen sich das Sprecherverhalten ausrichtet. Eigentliche Motive seien etwa Expressivität oder Ökonomie. Dabei führt Keller nicht nur Gründe für die Veränderung des Systems, sondern auch solche für den Erhalt der meisten Teile dieses Systems an, ohne den der Wandel nicht möglich wäre. Da die individuellen Handlungen ja intentional sind und außerdem in der Sprachgemeinschaft parallel, bei vielen Individuen gleichzeitig wirken, formuliert Keller die Motive als Handlungsmaximen. Viele Individuen folgen gleichzeitig derselben Handlungsmaxime, so dass unter den gegebenen ökologischen Bedingungen das selbe Resultat herauskommt und bleibende Veränderungen entstehen. Und da es neben Sprachwandel auch Spracherhalt gibt, wird das Sprechverhalten durch statische und dynamische Maximen nebeneinander gesteuert. Einzelne Maximen sind die folgenden: Rede so, dass du beachtet wirst (Keller 1994: 139) Rede so, dass du als nicht zu der Gruppe gehörig erkennbar bist (Ibid.) Rede amüsant, witzig etc. (Ibid.) Rede besonders höflich, schmeichelhaft, charmant etc. (Ibid.) Rede so, dass es dich nicht unnötige Anstrengung kostet (Ibid.) [dynamische Maximen] <?page no="106"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 94 Rede so, dass du möglichst nicht missverstanden wirst (1994: 130) Rede so, dass du verstanden wirst (Ibid.) [eher statische Maximen, können sich aber auch dynamisch auswirken, so wenn das Veralten eines Wortes zu Unverständlichkeit und dann zum Verschwinden dieses Wortes führt] Rede so, dass du als Gruppenangehöriger zu erkennen bist (1994: 137) Rede so, dass du nicht auffällst (Ibid.) [statische Maximen] Grob könnte man sagen, dass sich drei Hauptmotive auswirken: die beiden Nutzen-Motive der Anpassung und der Auffälligkeit und das Kostenmotiv der ständigen Verringerung des Aufwands zur Erreichung des Nutzens, d.h. die Ökonomie (vgl. Keller 1994: 166). Die Feinaufschlüsselung, wie sie in der oben aufgeführten Maximenliste durchgeführt wird, ist allerdings aussagekräftiger! Fast noch hellsichtiger als die genaue und konsequente Behandlung der Individual-Motivik ist der sich aus der Invisible-Hand-Idee ergebende Umstand, dass viele der bisher von der Sprachwandelforschung angesetzten Motive eigentlich in den Bereich der Umweltbedingungen verschoben werden müssen. Zu den ökologischen Bedingungen, die Sprachwandel nahe legen, gehören eben dann u.a. folgende: - Homonymen-Kollision - (Kellers Beispiel englisch 1 / englisch 2 und Gilliérons berühmtes gaskognisches gat-Beispiel) - Kulturwandel/ Mode (Lehnwörter) - Sachwandel (Lehnwörter) - Prestige von Sprachen (Lehnwörter, Übernahme von Konstruktionsmustern) - Diastratische Markierung von Lexien und Typen der syntaktischen Konstruktion - Phonologische Schwächung bestimmter Lexeme oder Grammeme (Schwundtendenzen) - Lexikalische Lücken, lexikalische Komplexität (Blank (1997: 394-403)) - funktionale Offenheit (etwa Definitheitsmerkmale lateinischer Nominalphrasen (vgl. Pinkster 1988: 143ff.)) - funktionale Lücken durch Verschiebungen im System (etwa Ersatz von Demonstrativa, die zu Artikeln geworden sind) - funktionale oder semantische Nähe, die zu unmerklichen Verschiebungen führt (Blank 1997: 382-390) - vorgegebene Muster (Sprachtyp, System-Eigenart [Dressler, Wurzel]) - Form-Funktion-Asymmetrien/ mangelnde Transparenz, Uniformität und Ikonizität - isolierte(s) Form/ Wort - konstruktionelle Ambiguitäten in Sätzen <?page no="107"?> 3.1 Grammatikalisierung 95 Die Motiv-Seite an den Modellen der Natürlichkeit, Analogie und des typologischen Wandels muss also zu den ökologischen Bedingungen von Sprachwandel geschlagen werden. Dies bedeutet eine zweite Korrektur dieser Modelle, die am besten nur als Prozessbeschreibungen aufgefasst werden sollten. Und als solche sind sie Ergänzungen zum zentralen Grammatikalisierungsmodell. Dies ergibt ein Gesamtbild des Sprachwandels, das auf der folgenden Seite visualisiert wird. In diesem Schema (Abb. 8) finden alle Elemente Platz, die in der obigen Diskussion erarbeitet wurden. Es erklärt sich also aus dieser Diskussion. Trotzdem sind zu seinem vollkommenen Verständnis ein paar zusätzliche Bemerkungen nötig. Zunächst: Ganz oben in der Abbildung erkennt man die letztendlichen möglichen Ursachen für Sprachwandel. Dabei ist eben zu bedenken, dass die Motivik (sprachliche Umweltbedingungen und Maximen) im Falle der Grammatikalisierung die Innovation und die ersten Phasen der Übernahme betrifft. Es sei noch einmal daran erinnert - und dies ist im Schema hinzuzudenken -: Grammatikalisierungsprozesse werden nicht durch die bewusste Bemühung um Syntaktisierung bzw. Herausarbeitung abstrakterer semantischer Relationen ausgelöst. Vielmehr sind sie ein Resultat der Verarbeitung bestimmter Innovationen durch die Sprachgemeinschaft, deren Auslöser andere sind: Die gegebenen ökologischen Bedingungen, die zum Zeitpunkt der Innovation in einer bestimmten Sprache herrschen, regen in Wechselwirkung mit den Maximen Innovationen an, die von den Hörern zunächst im Sinne ihrer ursprünglichen Motivik in ihre eigene Redeweise übernommen werden, bis durch die Häufigkeit der Übernahmen die Dimension einer Grammatikalisierung erreicht wird. So war der auslösende Faktor für den Zusammenfall der lateinischen Kasus zu wenigen Restkasus und schließlich zu einer kasuslosen Grundform ein Geschehen auf der Lautebene, nämlich die Ersetzung der Vokalquantität durch deren Qualität zwecks Aufrechterhaltung der ursprünglichen Oppositionen. Diese ökologische Bedingung wirkte mit den Maximen der Ökonomie zusammen, so dass Oppositionen zwischen Endvokalen schließlich aufgegeben wurden und die Kasus in Konsequenz daraus schlechter unterschieden werden konnten. Je mehr Sprecher in der Sprachgemeinschaft diese Art ökonomischen Sprechens übernahmen, umso banaler wurde sie. Der Wandel wurde als Umorganisation grammatischer Schablonen begriffen, als Herstellung eines Restsystems aus drei oder zwei Kasus. Zweitens: Es sollte beim unteren Ende der Grammatikalisierungskanäle bedacht werden, dass die Initialgrammatikalisierung unterschiedlicher Art sein kann. Wie wir Ende des vorherigen Abschnittes herausgearbeitet haben, kann es sich dabei um eine De-Lexematisierung handeln (im Falle der Verbalsyntax) oder aber um eine Neu-Erfindung grammatikalischer Elemente durch Bildung von Periphrasen (Präpositionen, Adverbien). Diese Differenzierung ist im obigen Schema nicht extra visuell vermerkt worden. <?page no="108"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 96 Abb. 8 Maximen (Anpassung, Auffälligkeit, Ökonomie) Ökologische Bedingungen (Kultur- und Sachwandel, Prestige von Sprachen, System-Asymmetrien) (führen zu) Lautwandel Universale Prozesse Lexikalisierung Grammatikalisierung ( Gestaltung der Zeichenketten gemäß einer Grammatik , Herausbildung von Regularitäten bei der Bildung von Sätzen und Wortgruppen) negativ: positiv: Einschränkung von Wahlmöglichkeiten fortwährende Syntaktisierung der Funktionen von grammatischen Ausdrucksmitteln Wortstellungswandel Gestaltung via Kanäle synthetic drift H & H Verlust Übergang part. Akt. A & N (vereinzelt) err. St. Degrammati kalisierung R Bewegungsgesetze - Hin- und Herpendeln fortschreitender Verlust Übergang von Grammemen bei jedem Übergang ist nur ein Teil der Parameter beteiligt (partielle Aktivität) Analogie & Natürlichkeit erreichtes Stadium. Reanalyse analytic drift Universale Prozesse jeweils realisiert als: einzelsprachliche Prozesse - <?page no="109"?> 3.1 Grammatikalisierung 97 Schließlich: Die Kennzeichnungen am unteren Rand sollen bedeuten, dass den universalen Prozessen natürlich verschiedene einzelsprachliche Vorgänge entsprechen oder, umgekehrt gesagt, einzelsprachliche Prozesse aus der Sicht von universalen Prozessen interpretiert werden können. Palatalisierung etwa ist in vielen Sprachen der Welt verbreitet, aber die für die romanischen Sprachen so typische Palatalisierung von [g] und [k] am Wortanfang ist ihnen eigen und hat zu einigen auffälligen einzelsprachlichen Resultaten geführt. Sprachwandelprozesse sind jederzeit rein innerhalb der Grenzen einer einzelnen Sprache zu beschreiben. Andererseits kann man sie aber auch vor dem Hintergrund universaler Tendenzen deuten. Und genau dies macht die Eigenart des theoretischen Zugangs in der vorliegenden Arbeit aus, vor allem eben ihren Unterschied zu den Interpretationen von Bastardas, Jennings, Saralegui oder Menéndez Pidal. Eine weitere Theorie, die bei der Erklärung von Sprachwandel zunehmenden Einfluss gewinnt, ist in der Abbildung oben nicht verzeichnet: die Chaostheorie. Dieser Modellvorstellung widmen sich u.a. Simon (1998: 193ff.) und Banniard (2003: 549). Durch Chaostheorie versucht man in den Naturwissenschaften, Schwierigkeiten bei der Prognostizierung bestimmter zukünftiger Ereignisse zu überwinden. Sie wird überall dort eingebracht, wo man bei geringfügigen Veränderungen von Ausgangswerten vollständig andere Zielkonstellationen erhält, also keine geregelten Übergänge zwischen physikalischen Zuständen stattfinden, sondern eher chaotisch wirkende. Simon liefert als Beispiele für derartige Situationen: eine Großwetterlage (5 momentane Werte der Atmosphäre wie Luftfeuchtigkeit u.a. werden auf unterschiedlichen Höhen gemessen), zweitens bestimmte Zahlenreihen (unterschiedliche Werte einer Konstante), drittens die Ausgangsposition eines Pendels, das über einem Magneten schwingen soll. Niemand kann diesen Ausgangslagen gegenüber voraussagen, wie sich bei kleinen Änderungen die Ergebnisse ändern werden. D.h., wie sich bei einer kleinen Variation der Wetterwerte die Verteilung von Tiefs verändern wird; oder - im Zahlenreihenbeispiel - bei geringfügiger Abwandlung der Konstanten die Werte der Zahlenreihe variieren werden; oder wo schließlich - beim dritten Beispiel - die Ruheposition des Pendels liegen wird, wenn man seine Ausgangsposition über dem Magneten ein klein wenig verschiebt. Beim Sprachwandel sieht es anscheinend ähnlich aus: Die gegebene Ausgangslage ist so komplex, dass niemand vorhersagen kann, wie die nächsten Veränderungsschübe aussehen werden und zu welchen Resultaten sie führen werden. Sollte diese Undurchsichtigkeit nicht verhindern, dass man zu einem solch gut geordneten Bild kommt, wie der Abbildung oben, in der Grundformen der Typisierung von Vorgängen und Ergebnissituationen demonstriert werden? Eigentlich nicht! Denn im Falle des Sprachwandels liegt das Chaos nicht in einer unüberschaubaren Vielfalt von Wandelprozessen oder Ergebnissen dieser Prozesse. Beide lassen sich typisieren und sind überschaubar viele. Das <?page no="110"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 98 27 Raible (1996b: 77) bemerkt als Resultat einer Untersuchung über die Grammatikalisierung von aspektuell-temporalen Verbalperiphrasen: „die scheinbare ‚spontane Ordnung‘ bzw. die ‚scheinbaren Selbstorganisationsprozesse‘ verlaufen in letztlich sehr geregelten Bahnen. Sie sind nicht eigentlich dem Zufall oder dem Wirken einer unsichtbaren Hand geschuldet. Sie sind vielmehr in hohem Maße vorhersehbar, weil hinter ihnen kognitive Universalien stehen“. Diese Aussage richtet sich natürlich in gewisser Weise gegen Keller, besonders aber gegen eine durch Helmut Lüdtke entwickelte chaostheoretische Auffassung der Theorie Kellers, nach der aus individueller Unordnung kollektive Ordnung würde. Für Lüdtke liegt das Chaos also im Nebeneinander individueller Entscheidungen. Wem ist hier Recht zu geben? Herrscht nun Ordnung oder Unordnung? Sind die Dinge vorhersagbar oder nicht? Raibles Aussage ist richtig, muss aber doch in zweifacher Hinsicht eingeschränkt werden. In Bezug auf Kellers „Inivisible-Hand-Hypothesis“ ist in der Tat festzuhalten, dass sich überall dort, wo die informativ-referentielle Funktion von Sprache im Vordergrund steht und Sprachwandel durch deren Bedürfnisse bestimmt wird, eine kognitive Grundausstattung, die die Weltauffassung aller Individuen einer Kultur- und Sprachgemeinschaft gleichermaßen bestimmt, durchsetzen wird. Hier gibt es deswegen keine völlige Spontaneität, sondern qualitativ gleiche Entscheidungen sind vorprogrammiert. Allerdings wird die Grammatikalisierung meistens durch rhetorische oder expressive Bedürfnisse eingeleitet, bei denen die ordnende Kraft einer kognitiven Grundausstattung weniger determinativ wirken dürfte. In jedem Fall aber ist ihr Wirken dem Sprecherindividuum nicht bewusst. Es erfährt sich als spontan und in gewissen Grenzen kreativ. Die Einheitlichkeit der ökologischen Bedingungen und weniger eine Grundausstattung ist für die Einheitlichkeit der Entscheidungen verantwortlich. In Beziehung auf Lüdtke ist folgende Formel angebracht: Vorhersagbar ist - mit einer gewissen verbleibenden Streuung, was die konkret involvierten Einzellexeme und Einzelgrammeme betrifft - das WIE der Grammatikalisierungen, nicht aber das DASS! Dies eben demonstriert die Liste oben. Chaos liegt im Zusammenspiel der Faktoren, die in der parole den Sprachwandel beeinflussen. Dieses Chaos bewirkt, dass man nicht 27 vorhersagen kann: - wie sich ein gegebener Polysemie-Fächer durch Ausnutzung möglicher Metaphern oder Metonymien entfalten wird - wie ein gegebener Polysemie-Fächer schrumpfen wird - ob eine gewisse Präsenz von Spontan-Entlehnungen im Sprachgebrauch zu ihrer Lexikalisierung ausreicht - welche spontanen Wortbildungsprodukte lexikalisiert werden - ob bestimmte Hebungen und Senkungen, Sonorisierungen und Desonorisierungen, Monophthongierungen und Diphthongierungen, Verschiebungen des Artikulationsortes usw., die von dem gegebenen Zustand eines Lautsystems aus möglich wären, tatsächlich stattfinden werden - ob und wann bestimmte mögliche Schritte auf einem Grammatikalisierungskanal getan werden - welche konkurrierenden/ koexistierenden Grammeme, Pro-Grammeme oder partiell grammatikalische Periphrasen gleicher Funktion bei einem Schritt auf einem Grammatikalisierungskanal beibehalten und welche aufgegeben werden und dabei auf einer bestimmten Stufe stehen bleiben oder gar verschwinden <?page no="111"?> 3.1 Grammatikalisierung 99 - wie konsequent Natürlichkeitstendenzen und Analogiewirkungen die Asymmetrien in einem Paradigma korrigieren werden - wie viele Grammatikalisierungskanäle in ähnlicher Geschwindigkeit den Weg zu einem einfachen, synthetischen Sprachbau beschreiten (Gleichheit der typologischen Tendenz, Frage: Kommt ein typologischer Sog zu Stande? ) Bei der Chaostheorie der Naturwissenschaften handelt es sich um eine mathematisch-physikalische Theorie, durch die sich chaotisch verlaufende Vorgänge mathematisch beschreiben lassen. Hier weist Simon nun allerdings darauf hin, dass physikalische Vorgänge, die sich durch die Chaostheorie beschreiben ließen, entweder periodische Systeme seien, die trotz chaotischen Verlaufs in ihren Endzustand zurückkehrten, oder aber solche von der Art der Mandelbrot-Bäumchen, d.h., solche, die Selbstentfaltung in Selbstähnlichkeit aufwiesen (1998: 198). Beides sei der Sprache fremd. Sie entwickle sich stets weiter zu neuen Formen, ohne dass sich eine Periodizität oder eine Wiederspiegelung größerer Veränderungen in elementareren Veränderungen beobachten ließen. Im Hinblick auf diese Überlegungen gehören weder der chaotisch-komplexe Charakter noch die Chaostheorie in das oben angeführte Schema. 3.1.6 Projektion der Grammatikalisierungskanäle auf ein Ebenenschema des Satzes Grammatikalisierungskanäle sind hilfreich, insofern als sie eine Übersicht über langfristige Prozesse des grammatikalischen Wandels geben, die miteinander zusammenhängen und aufeinander folgen können (vgl. Lehmann 1982: 38, 57, 111; Compes et al. 1993: 4f.). Auf der anderen Seite kann man mit diesen Systematisierungen und Visualisierungen die Unübersichtlichkeit, die durch die Vielfalt der Vorgänge verursacht wird, nicht vollkommen überwinden, wenn man die Kanäle nicht auf ein Satzschema projiziert, in dem sich die einzelnen betroffenen Gebiete der Grammatik insgesamt verzeichnen lassen. Ein weiteres Problem ist darin zu sehen, dass Grammatikalisierungskanäle abstrakt wirken. Sie scheinen weit weg zu liegen von den tatsächlichen Äußerungen, die in den verschiedenen Sprachen tagtäglich formuliert werden. Es stellt sich die Frage: Was haben Grammatikalisierungskanäle mit konkreten Sätzen zu tun? Auch diese mangelnde Lebendigkeit könnte dadurch überwunden werden, dass man die Kanäle auf ein Satzmodell bezieht. Welches Modell eignet sich? Raible (2001) gibt in diesem Zusammenhang einen Schlüsselhinweis. In seinem programmatischen Aufsatz zur Sprachtypologie, dem wir schon eine mögliche Begründung der Universalität von Grammatikalisierungskanälen entnommen haben, bemerkt er, dass alle Typologen mindestens implizit <?page no="112"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 100 (Ibid.: 15) von der Annahme ausgingen, dass Propositionen und deren verbal-nominale Grundstruktur, basierend auf der Verbvalenz und dem Prinzip der Paradigmatik und Syntagmatik integrierenden hierarchischen Kompositionalität der Wortgruppen, die zentrale Ausdruckseinheit sprachlicher Kommunikation darstellten. Für Sprachvergleiche ist und bleibt die Proposition mit ihren Komponenten aus Raibles Sicht deswegen die gemeinsame Bezugsebene für jede speziellere Konstruktion von tertia comparationis. Dies deckt sich mit jüngsten Tendenzen der grammatischen Theoriebildung in Europa. Als communis opinio vieler grammatischer Beschreibungen der europäischen Linguistik hat sich in den letzten Jahrzehnten der Drei-Ebenen- Ansatz herausgebildet. Viele grammatische Phänomene der verschiedensten Sprachen sind so komplex, dass man sie nur dann adäquat deuten kann, wenn man sie auf drei Ebenen betrachtet: einer syntaktischen, einer semantischen und einer pragmatischen. Diesem methodischen Vorgehen steht seit dem Ende der 70 er Jahre auch ein voll ausgebildetes Grammatikmodell zur Seite, die funktionale Grammatik von Simon C. Dik (1978). Eine einfache, da wenig formalisierte Version dieser FG beinhaltet die lateinische Syntaxlehre von Harm Pinkster (1988). Das Modell von Dik und Pinkster eignet sich nun gut, um sich einen Gesamtüberblick über die Grammatikalisierungskanäle zu verschaffen und sie gleichzeitig besser auf das tatsächliche Satzbildungsgeschehen zu beziehen. <?page no="113"?> 3.1 Grammatikalisierung 101 28 Die in vielfachen Formen vor allem innerhalb der europäischen Linguistik herausgebildeten und vorgeschlagenen „Funktionalen Grammatiken“ (FGs) sind mittlerweile fast zu so etwas wie einer Gegenbewegung zu Chomskys stark formalisiertem Grammatiktyp geworden. Seit ihren Anfängen, insbesondere aber seit den 1980 er Jahren ist in Chomskys Sprachtheorie zunehmend die Idee der Autonomie in den Mittelpunkt gerückt. Dieser Autonomie-Gedanke besagt ja, dass Sprache nur ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt und eine selbstständige psychische Funktion, eine von sonstigen mentalen Funktionen unabhängige Wissens- und Aktivitätsform darstellt. FGs nun sind heute in den Kontext einer umfassenden Strömung des „Funktionalismus“ einzuordnen, die von Givón durch eine fundamentale Opposition gegen die Autonomie-Vorstellung Chomskys charakterisiert wird. „All functionalists ascribe to at least one fundamental assumption, the sine qua non, the non-autonomy postulate: that language (and grammar) can be neither described nor explained adequately as an autonomous system. To understand what grammar is, and how and why it comes to be this way, one must make reference to the mental parameters that shape language and grammar: cognition and communication, change and variation, acquisition and evolution. The past three decades have witnessed an explosion of scholarship on grammar as an instrument for organizing, representing and communicating experience. The work of the functionalist schools that now dot the linguistic countryside spans a wide range of methodologies and databases - from discourse and conversational analysis to semiotics and iconocity; from diachrony and grammaticalization to typology and universals; from acquisition and variation to cognition and text processing.“ (Givón 1995: XV ). Aus historischer Sicht lassen sich die meisten FGs auf den Prager Strukturalismus bzw. Funktionalismus zurückführen (vgl. Gutiérrez Ordóñez 1997: 18f.). Gutiérrez Ordóñez (1997: 548ff.) setzt eine Klassifizierung von FGs an, bei der er vor allem zwischen eher traditionell orientierten Versionen (Alarcos Llorach 1994 u.a.) und progressiven Fassungen (Dik 1978 u.a., hierzu auch Pinkster 1988) unterscheidet. Während erstere im traditionellen Satzrahmen verblieben und nur über syntaktische Funktionen sprächen, bezögen letztere semantische und pragmatische Funktionen mit ein oder stellten sogar Bezüge morpho-syntaktischer Strukturen zu allgemeinen Funktionen der Sprache her (Halliday 1976, 2004). Dies ist zu präzisieren. Hallidays Grammatik kommt eine Sonderstellung zu, da sie in gewissen Grenzen sogar Anknüpfungen an spezifische Gegebenheiten kommunikativer Situationen sowie an Texttypen i.w.S. ermöglicht (vgl. bes. 1976: 11ff.). Dagegen konzentriert sich die Mehrzahl der FGs doch mehr oder weniger auf den Bereich des Satzes und seine internen Strukturen. Alle diese FGs beruhen auf Tesnière’schen Leitideen, d.h., alle gehen aus von einer Grundstruktur: Verb+Aktanten+Zirkumstanten. Diese Struktur wird nun unterschiedlich weitergedacht, nämlich entweder auf die Weise einer einschichtigen oder auf die Weise einer dreischichtigen Grammatik. Einschichtige Grammatiken traditionellen Zuschnitts haben gerade in Spanien namhafte Vertreter (Alarcos Llorach 1994, Hernández Alonso 1984). Sie lehnen sich stärker an das Programm Tesnières an, arbeiten mit Konzepten wie „Transposition“ oder „Funktem“ und definieren Wortklassen durch die Rolle, die sie in Bezug auf Relationen ausfüllen, die innerhalb der Dependenzstruktur bestehen: substantive Beziehungen wie Subjekt oder Objekt, attributive oder adverbiale Beziehungen. Hernández Alonso führt darüber hinaus noch allgemeinere Beziehungen ein wie die Adjazenz. Die ja ebenfalls von Tesnière eingeführte Praxis einer funktional basierten Wortartendefinition (mit all ihren Folgen) ist der gemeinsame Nenner der einschichtigen FGs. Dreischichtige FGs dagegen projizieren nicht nur syntaktische, sondern auch semantische (Tiefenkasus) und pragmatische Funktionen (Topic u. Fokus) auf das Dependenzschema (s.o.). Dass man Grammatikalisierungsprozesse günstig innerhalb von FGs beschreiben kann, ist offenbar schon von César Hernández Alonso angedacht worden (Narbona Jiménez 1985: 95). Ein Satz besteht nach der Funktionalen Grammatik des Dik-Typs 28 aus Konstituenten mit verschiedenem Status. Derjenige Konstituent, der als Prädikat fungiert, bildet das Satzzentrum. Meist ist das ein Verb, es kann sich <?page no="114"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 102 aber auch um die Kombination „Kopula + substantivisches oder adjektivisches Prädikatsnomen“ handeln. Jedes Prädikat eröffnet auf Grund seiner Bedeutung Stellen für andere Konstituenten. Die Valenzgrammatik spricht hier von Aktanten, die funktionale Grammatik bezeichnet die Leerstellenfüller von Verben in Anlehnung an die moderne Logik als Argumente. Argumente sind z.B. Marcus, Paulae und librum in dem lateinischen Satz Marcus Paulae librum dat. Das Prädikat und seine Argumente machen die Kernprädikation des Satzes aus. In vielen Sätzen kommen aber noch weitere Bestandteile vor. Diese begleiten die Hauptaussage des Satzes. Dik bezeichnet sie als Satelliten (lat. satellites = Begleiter). Sie entsprechen den aus der Valenzgrammatik bekannten Umstandsangaben. Satelliten beziehen sich semantisch-pragmatisch auf die gesamte Kernprädikation, sie geben Zusatzinformation zur gesamten Kernprädikation. Das Prinzip einer Funktionalgrammatik im Sinne Diks besteht nun darin, dass sie Argumenten und Satelliten erstens syntaktische, zweitens semantische und drittens pragmatische Funktionen zuweist. Dadurch wird es möglich, grammatische Elemente auf drei Ebenen zu beschreiben. Für unseren Zusammenhang ist dies aber weniger wichtig. Entscheidend ist vielmehr die Grundstruktur von Prädikat+Argumente+Satelliten, denn hier tun sich Zuweisungszonen für Grammatikalisierungskanäle auf. Inwiefern? Prädikate sind meist Verben. Ihnen sind also diejenigen Kanäle zuzuordnen, die mit der Herausbildung und morpho-semantischen Umgestaltung von Tempus-Modus-Aspekt oder aber mit den Diathesen zu tun haben. Argumente können die Form von Nominalphrasen oder eingebetteten Prädikationen aufweisen. Das Gleiche gilt für Satelliten. Zu den Nominalphrasen gehören die Kanäle, die mit Numerus und Genus zu tun haben, zu den eingebetteten Prädikationen diejenigen, die den Komplementierer oder die Konjunktionen betreffen. Die Zuweisungen werden unten noch präzisiert. Zunächst ist ein weiterer Aspekt im Satzmodell zu berücksichtigen. Die Ausdruckselemente eines Satzes (Lexien und Grammeme) verteilen sich auf unterschiedliche Ebenen der morphologischen Verdichtung oder Dehnung. Nehmen wir einen Satz des modernen Spanisch: Por la mañana, la sor regaba las flores. Der am stärksten gedehnte Bestandteil der Aussage ist die fixierte adverbiale Wortgruppe por la mañana. Auf einer zweiten Ebene sind das freie Lexem sor und das freie Grammem la anzuordnen. Das gebundene lain las und das gebundene florin flores lassen sich ebenfalls auf dieser Ebene ansiedeln, da sie ja prinzipiell auch frei sein können. Über der Ebene der freien Lexeme und Grammeme ist eine Ebene der Affixe anzusetzen, in denen die gegebene Information noch stärker verdichtet ist. Affixe sind in dem gegebenen Satz -aba und -es. Dabei ist die Endung -aba ein Portemanteau-Morph, das die Verbalkategorien {Indikativ}, {Imperfekt} und{3. Pers. Sg.}in einem Block repräsentiert. -es dagegen ist ein Allomorph des Pluralmorphems, repräsen- <?page no="115"?> 3.1 Grammatikalisierung 103 29 Die Zonen könnten auch ganz zu Beginn der menschlichen Sprachentwicklung eine Rolle gespielt haben. Die Herausbildung von Zeichenketten (Wortgruppen und Sätzen) aus anfänglichen formelhaften, situationell gebundenen, holophrastischen Blockzeichen mag sich etwa nach folgendem Szenarium vollzogen haben: Durch Referenz-Elemente (Ur- Demonstrativa) und Nomen-Verb-Distinktion (vgl. Broschart 1991) wurden verschiedene Entwicklungsräume in einer sprachlichen Aussage ausgezeichnet. Die Profilierung von Einzelwörtern in den Aussagen ging also möglicherweise gleich mit der Definition möglicher grammatischer Gestaltungshorizonte einher. Letztere dürften über längere Zeit hin einen rein virtuellen Status gehabt haben. Zunächst bestanden die Aussagen vielleicht nur aus Lexemketten, mit präsentativen Elementen als einzigen nicht-lexematischen Bestandteilen. Die virtuellen Entwicklungsräume mussten aber bestimmte Kernelemente, nämlich Kernnomen und Kernverben, enthalten. Um diese herum konnten, durch De-Konkretisierung und Erhöhung der Gebrauchshäufigkeit, bestimmte konventionalisierte Lexeme programmatikalische Funktionen übernehmen und sich dann allmählich zu genuin grammatikalischen Elementen wandeln. Indem immer mehr solcher konventioneller Begleiter auftraten, wurden die bisher rein virtuellen Entwicklungszonen auch materiell manifest, und der weitere Grammatikwandel vollzog sich dann nach den Gesetzen der Grammatikalisierung. Es ist anzunehmen, dass, bei einem Alter von mindestens 40.000 Jahren, das man für den einzig sprechfähigen Vertreter der Gattung „Mensch“, den Homo sapiens, ansetzen muss, die grammatikalischen Elemente aller heute existierender Sprachen schon ein Produkt mehrfacher Schübe und Wanderungen durch die Grammatikalisierungskanäle sind. Vom Urzustand der menschlichen Sprache sind wir heute weit entfernt, selbst wenn es nicht unmöglich erscheint, seine Züge hinter den aktuellen Sprachen auszumachen. In dem bekannten, von Cavalli-Sforza aufgestellten Spiegelschema (2004: 24f.) zeigt sich neben einer allgemeinen Parallele zwischen sprachlicher und genetischer Verwandtschaft der Menschheitsgruppen auch, welche Gruppen in ihren Sprachen eine Zeit lang eine gemeinsame Grammatikalisierungsgeschichte und Konvergenz syntaktischer Strukturen durchgemacht haben. Über diese Geschichten können wir soviel aussagen, dass sie jeweils außer durch eine spezifische kategoriale Ausgestaltung durch eine sie kennzeichnende Gewichtung zwischen dem analytisch-periphrastischen und dem synthetisch-flexivischen bzw. rein syntaktischen Pol der Kanäle gekennzeichnet waren. tiert also nur eine einzige grammatikalische Bedeutung. Wegen der größeren Verdichtung der Information bei -aba könnte man -es auf einer Ebene der „getrennte(n) Affixe“ und -aba auf einer der „verschmolzene(n) Affixe“ oder „Flexive“ anordnen. Schließlich bietet es sich an, auf einem höchsten Niveau so etwas wie eine Null-Ebene anzusetzen, auf der syntaktische Funktionen lediglich durch Positionen im Satz, nicht aber durch Morpheme angezeigt werden. Dies ergäbe - ohne Grammatikalisierungskanäle - das nachfolgende Satzmodell (Abb. 9, S. 104). Prädikate, Argumente und Satelliten konstituieren Zonen der Sprachentwicklung. Um ein Nomen oder Verb herum bilden sich zunehmend freie und gebundene Grammeme durch Umwandlung von Lexemen in grammatischfunktionale Bausteine. Alte Grammeme werden aufgegeben, gleichzeitig kommen neue grammatikalische Elemente auf. Innerhalb der Zonen findet also ein dauernder Auf- und Umbau statt 29 . Dies zeigt das obige Schema, wenn man ihm die unterschiedlichen Grammatikalisierungskanäle zuordnet (Abb. 10, S. 105). <?page no="116"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 104 Abb. 9 Ebene 5/ Null-Ebene Ebene 4/ Flexive Ebene 3/ funktional eindeutige Affixe Ebene 2/ freie Morpheme Ebene 1/ Wortgruppen ARGUMENTE PRÄDIKAT KERNPRÄDIKATION SATELLITEN Eingebettete Prädikationen Nominalphrasen Eingebettete Prädikationen Nominalphrasen <?page no="117"?> 3.1 Grammatikalisierung 105 Abb. 10 0 Fx Af fM WG If. Vf. Kjk. Infin. Verbf. Kompl. Num Gen. Det. Relpro. Genit. If. Vf. Kasus Diathesen TAM Negation Pro. & Adpositionen PRÄDIKAT Eingebettete Prädikationen Nominalphrasen Eingebettete Prädik. Nominalphrasen SATELLITEN ARGUMENTE KERNPRÄDIKATION <?page no="118"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 106 Die aufgeführten Kanäle beziehen sich eher auf die Überblicke in Compes et al. (1993) als auf diejenigen in Lehmann (2002a). Auf der rechten Seite erkennt man die Grammatikalisierungskanäle, die mit dem Prädikat zu tun haben: Tempus, Modus und Aspekt leisten die Einordnung eines im Prädikat ausgedrückten Situationstyps (Ereignistyp, Art von Zustand) in die Zeit und in die Realität bzw. das Spektrum möglicher Handlungsverläufe (möglicher Welten). Ähnlich wie die Modi ist auch die Negation einzustufen, da sie eine Zurückweisung des Realitätsstatus einer Aussage darstellt. Links neben den prädikats-gestaltenden Kanälen folgen über der Verbindung zwischen der Argument- und der Prädikatsseite diejenigen Kanäle, die etwas mit der Beziehung von Prädikat und Argumenten zu tun haben. Hierhin gehört zunächst die Diathese, denn Passiv und Reflexiv mögen zwar Verbalkategorien sein, Diathesen haben aber immer auch Implikationen für den Satzbau als ganzen und damit das Verhältnis der Argumente zum Prädikat sowie zueinander. Weiter sind die Kanäle der Kasus und Adpositionen der Beziehung zwischen Prädikat und Argumenten zuzuordnen. Ein Nominativ etwa markiert, dass das entsprechende Nomen in der Aktiv-Diathese das erste Argument des gegebenen Prädikatsausdrucks ist. Ein à im französischen Satz markiert, dass das entsprechende Nomen das dritte Argument (indirekte Objekt) des gegebenen Prädikatsausdrucks ist. Übrigens betreffen die gleichen Kanäle auch das Verhältnis der Satelliten zur Kernprädikation. So ist etwa der dezentralisierte Agens in einer Passiv- Konstruktion ein Satellit, und viele Adpositionen repräsentieren satellitentypische semantische Funktionen (lokal, temporal, instrumental u.a.). Es folgen weiter links diejenigen Kanäle, die in die Gestaltung von Nominalphrasen eingehen. Hierhin gehören die Wege, auf denen sich der Wandel im Bereich von Genus und Numerus vollzieht. Denn eine Nominalphrase enthält im Kern ein Nomen, ergänzt um Attribute, zu denen u.a. Adjektive zählen. Zwischen Nomen und Adjektiven wird in vielen Sprachen Numerus- und Genuskongruenz hergestellt. Außerdem wird eine Nominalphrase meist um Determinierer ergänzt oder besteht im Kern aus einem Pronomen. Insofern sind auch die entsprechenden Grammatikalisierungskanäle im Nominalphrasenbereich zu situieren. Andere Attributformen neben dem Adjektiv sind Relativsätze und Nominalattribute. Dies legt nahe, die Kanäle, die mit der Herausbildung des Genetivs und den Formen des Relativpronomens zu tun haben, ebenfalls der Nominalphrase zuzuordnen. Eingebettete Prädikationen, die als nächstes weiter links folgen, können auf finiten oder infiniten Verbformen aufbauen. In letzterem Fall kommen ähnliche, aber nicht immer gleiche Typen von infiniten Verbformen zum Einsatz, je nachdem ob sie als Argumente oder Satelliten fungieren (z.B. Latein: participium coniunctum als Satellit oder auch Argument, Infinitiv als Argument, Gerundium als Satellit). Darum müssen diese Kanäle sowohl auf den Argumentbereich als auch auf den der Satelliten projiziert werden. Schließlich können sie auch zur Bildung von Attributen in Nominalphrasen <?page no="119"?> 3.2 Grammatikalisierungswege 107 herangezogen werden (wie das Gerundium von aggredi in der NP potestas aggrediendi = die Möglichkeit anzugreifen). Deshalb erscheint es angebracht, sie auch noch dem Bereich der Nominalphrasen zuzuordnen. Beim Gebrauch finiter Verbformen wird eine ganz bestimmte Klasse von Konjunktionen benutzt, wenn Sätze zu Argumenten der Verben übergeordneter Sätze gemacht werden, also eng an das Prädikat dieser Sätze gebunden werden. Hier handelt es sich um die sogenannten Komplementierer, deren Grammatikalisierungskanal ganz eigene lexematische Quellen aufweist, die sich von denjenigen der anderen Konjunktionen deutlich unterscheidet. Dagegen werden als Satelliten eingebettete Sätze, also adverbiale Nebensätze, durch eine Vielzahl unterschiedlichster Konjunktionen eingeleitet, die großenteils einen adverbialen Ursprung haben. Der Komplementiererkanal ist daher von den übrigen Konjunktionenkanälen zu trennen und beide Seiten sind unterschiedlich einzuordnen: ersterer gehört zum Argumentbereich, letztere sind auf den Satellitenanteil des Satzmodells zu projizieren. Nicht aufgeführt sind die Grammatikalisierungskanäle der Adverbien. Denn diese Kanäle verlaufen quer über die anderen hinweg. D.h. sie schaffen Verbindungen zwischen unterschiedlichen Konstituenten und sind meist nicht einem bestimmten Konstituenten zuzuordnen. So führt der Grammatikalisierungskanal der modalen Adverbien vom Typ (sp.) lentamente, cuidadosamente usw., der bei nominalen Periphrasen mit Satellitenstatus ansetzt (lenta mente), von der Zone der Beziehung zwischen Prädikat und Satelliten zur Prädikatszone selber, da einfache modale Adverbien letzten Endes ja bloß einen Prädikatsskopus haben. Ein anderes Beispiel für die Verbindungsfunktion und diffuse Verteilung der adverbialen Grammatikalisierungskanäle über die Satzkonstituenten hinweg ist die Grammatikalisierung von Konjunktionen wie (lat.) quasi oder (frz.) près de ce que, die ja Nebensatz-Skopus haben, zu den phonologisch verkürzten Versionen (sp.) casi oder (frz.) presque mit NP-Skopus oder gar Adjektiv-Skopus. Und solche Verhältnisse machen eben eine genaue Zuordnung unmöglich. Die in den Schemata getroffenen Zuordnungen werden in der nun folgenden Auflistung der Grammatikalisierungswege, die vom Variantenraum des Lateins zu den alt-iberoromanischen Sprachsystemen führen, genutzt werden. Denn auch die Graphen, in die diese Pfade eingezeichnet werden, sind auf die Konstituenten oder deren Beziehungen zueinander projizierbar. 3.2 Grammatikalisierungswege, die vom Latein zum Romanischen führen Im Folgenden werden Überblicke über Grammatikalisierungswege geliefert, die vom Latein zum Romanischen der iberischen Halbinsel führen. Der Ausdruck „Grammatikalisierungswege“ wurde an Stelle des Terminus <?page no="120"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 108 30 Das Griechische hat die lateinische Sprache vor allem beeinflusst beim Ausbau der Lexik, in Bezug auf den Komplexitätsgrad der Syntax, den Ausbau des Gebrauchs infiniter Formen sowie die Verwendung bestimmter Funktionswörter - wie etwa den Unterschied zwischen ut und quod. Dennoch sollte dieser Einfluss nicht übertrieben werden. Er hat auch in der altlateinischen Phase, als das Latein im schriftsprachlichen Kontext noch angewiesen war auf das griechische Vorbild, nicht vermocht, typisch lateinische Merkmale wie die Dominanz der SOV-Wortstellung oder die Artikellosigkeit zu verändern. Auch das Kasusschema passte sich nicht griechischem Vorbild an und auffällige griechische Verwendungsmuster von Kasus wie der Genetivus respectus konnten sich ebenfalls nicht durchsetzen. In einem Kernbereich blieb das Lateinische also lateinisch, und dann ergibt sich natürlich die Frage, woher sich diese Resistenz genährt haben könnte, wenn nicht von der Umgangssprache her. „Grammatikalisierungskanäle“ gewählt, da es sich um einzelsprachliche Entwicklungen handelt. Von „Grammatikalisierungskanälen“ kann man an und für sich nur sprechen, wenn man viele Sprachen miteinander vergleicht. Es steht dann der Aspekt im Mittelpunkt, dass immer wieder und wieder die gleichen Lexeme Quellen für Grammeme sind und die Grammeme immer wieder auf gleiche Weise zu grammatischen Ausdruckselementen mit umfassenderen Funktionen umgewandelt werden. Wenn man genetisch verwandte Sprachen beschreibt, handelt es sich dagegen um historisch einmalige Einzelfakten. Zwar verlaufen die hier festzuhaltenden Grammatikalisierungswege natürlich auf den Kanälen - dies ist ja das Neue, dass wir jetzt die Allgemeingültigkeit der Muster des romanischen Grammatikwandels verstehen -, sie sind aber nicht mit ihnen identisch. Zu den Details! Zunächst ist über die zeitlichen Eckdaten der Darstellung zu reden. Von welchem Sprachzustand soll sie ausgehen, bei welchem soll sie enden? Der Ausgangspunkt ist am besten in einem altlateinischen Kontinuum zwischen mündlicher und schriftlicher Kommunikation anzunehmen, in dem die Sprache der Literatur und politisch-juridischen Rede zwar unter dem Einfluss des Griechischen, aber doch von den Formen der lateinischen Umgangssprache her aufgebaut wurde 30 . Es ist wahrscheinlich, dass dieses Kontinuum folgende Anteile des grammatischen Baus des Lateinischen implizierte: die Präsenz vielfältiger Kasus- und Konjugationsformen in der mündlichen lateinischen Alltagskommunikation, das Vorkommen eines dreistufigen Systems von Demonstrativa, eine gewisse Breite des mündlichen Gebrauchs satz-integrativer Konstruktionstypen wie des AcI. In der dann später eintretenden Phase der Trennung zwischen Sprech- und Schreibschicht des Lateinischen, als das klassische Latein entstand, muss man auf dem Schriftniveau verschiedene Wege des weiteren Ausbaus beschritten haben. Eine wahrscheinliche Rekonstruktion der Aktivitäten sollte folgende sprachgestalterische Aktivitäten ansetzen: Die Funktionen der überkommenen und normativ ausgewählten Formen des Altlateins wurden ausdifferenziert und ihre Kombinationsmöglichkeiten sowie ihr Potential zur Aussage-Verdichtung zu einer verschlungenen Komplexität gesteigert, die zum Teil große Meisterschaft und Kontrolle über die Satzkonstruktion verlangten. Vor allem <?page no="121"?> 3.2 Grammatikalisierungswege 109 31 Die hier gemachten Annahmen der Gleichsetzung von Vulgärlatein und Sprechlatein, der Rekonstruierbarkeit des Vulgärlateins mittels Textstudiums sowie der Einheitlichkeit der Vorgaben für die weiteren Veränderungen im frühen Mittelalter sind nicht selbstverständlich. Immerhin zeigen die Darlegungen in Reichenkrons Forschungsgeschichte (1965), dass das Vulgärlatein in den meisten Interpretationen als etwas Konkretes gesehen wird und dass sich die Forschung bis zu Reichenkrons Zeit von einer Einstufung des Vulgärlateins als schlechtes Latein zu einer Identifizierung mit der mündlichen Sprachschicht durchgerungen hatte. Dennoch gibt es Stimmen, die im Vulgärlatein eher eine Konstruktion der romanistischen Tradition sehen wollen, eher ein Abstraktum als ein lebendiges, in sich geschlossenes sprachliches Ganzes. So weist Eugenio Coseriu (1978: 270ff.) darauf hin, dass die Merkmale, die die romanischen Sprachen konstituierten, auf die unterschiedlichsten, auch diachronisch gegeneinander verschobenen Varietäten der Gesamtarchitektur der historischen Sprache Latein zurückgingen. „Vulgärlatein“ ist nach Coseriu ein Sammelbegriff für alle diejenigen Erscheinungen im Varietätenraum des Lateins, die sich später in den romanischen Sprachen wiederfanden. Auch Wanner (1987b: die Satzlänge und der Grad der Integration von Propositionen, den das klassische Latein ermöglicht, macht es daher unwahrscheinlich, dass die Schriftsprache der mündlichen Sprache nach dem Ausbau noch nahe stand. Andererseits muss man sehen, dass, insofern das klassische Latein zwangsläufig viele Formen des Altlateins aufgriff und diese bestehen ließ, im Schriftlatein Cäsars, Ciceros oder Vergils auch die ältesten grammatischen Mittel des Vulgärlateins enthalten sein müssen. Von ihrem Bestand hat eine Beschreibung der Grammatikalisierung bis zum Iberoromanischen hin also auszugehen. Die klassische Sprache wurde durch die Literaten und politisch-juridischen Redner durch Jahrhunderte hindurch auf annähernd gleichem Stand festgehalten und gepflegt. Eine spürbare Fortgestaltung der Sprache fand nach der klassischen Normierung nur in der mündlichen Kommunikation statt. In der vorliegenden Arbeit werden außerdem folgende, heute nicht mehr unumstrittene Annahmen gemacht: Das gesprochene Latein ist fassbar in bestimmten Texten, als von den klassischen Normen abweichendes Vulgärlatein. Der vulgärlateinische Sprachwandel ging dem im frühen Romanischen voraus und setzte sich in den ersten Jahrhunderten des Mittelalters in ihm fort. Diejenigen Erscheinungen, in denen sich die romanischen Sprachen - schon in ihren älteren Stufen - ähneln und in denen sie gemeinsam vom Latein abweichen, wie Kasusabsenz oder geringerer Kasusbestand, Vorhandensein von Artikeln, Stärke des SVO- und VSO-Wortstellungstyps, periphrastische Umschreibung einiger temporaler und aspektueller Verhältnisse sowie Verborientierung der klitischen Personalpronomen dürften mindestens keimhaft schon in vulgärlateinischer Zeit, also während das römische Imperium noch bestand, existiert haben. Dies gilt zudem für verschiedene Konkurrenzen, wie etwa die zwischen ipse und ille oder die Zweiheit „Nominativ-vs.- Casus obliquus“, die möglicherweise erst im Laufe des Frühmittelalters in unterschiedlichen Gebieten unterschiedlich entschieden oder aber funktionell gefestigt wurden. Dieses übliche Gesamtbild wird auch in der vorliegenden Arbeit zu Grunde gelegt 31 . <?page no="122"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 110 216) argumentiert ähnlich. Ein „Vulgärlatein“ als in sich zusammenhängende Sprachschicht ergebe sich erst im nachhinein, aus der Perspektive der gegebenen romanischen Sprachen. Wenn man aber nun Reichenkrons Forschungsgeschichte und die Thesen von Coseriu und Wanner zusammennimmt, wird man zu folgender Ansicht der Dinge geführt: Reichenkron erläutert u.a. die Einstufungen Ferdinand Lots und Max Niedermanns, nach denen Vulgärlatein die Sprache der Mittelschicht oder der Unterschicht oder auch ein stilistisches Phänomen war (1965: 12 u. 8f.). Dies läge ganz im Sinne Coserius, der aus derartigen Unsicherheiten bei der Zuordnung den Schluss zieht, dass das Vulgärlatein ein komposites Abstraktum ist. Denkt man allerdings an die Varietätenkette (Koch/ Oesterreicher 1990: 15), erkennt man natürliche, lebendige Verbindungen zwischen diastratischen und diaphasischen Varietäten. Wenn man sich außerdem vor Augen hält, dass auch stilistisch besonders markierte Wörter, Lauteffekte und Konstruktionsweisen durch die Häufigkeit der Benutzung im Laufe der Sprachgeschichte oft banal werden und ihre Stellung als Außenseiter verlieren - man denke an den Fall caballus-GAUL zu caballus- PFERD (Lapesa 1981: 81) -, wird klar, dass mündliche Sprache in der Lage ist, viele Merkmale aufzunehmen und ihre diatopisch-diastratische oder stilistische Zuordnung zu neutralisieren. Und selbst wenn der Banalisierungseffekt für einige Bestandteile des Vulgärlateins nicht gegolten haben sollte und sie weiter diastratisch oder diaphasisch markiert blieben, gehörten sie doch zum großen Raum des mündlich gebrauchten Lateins. Und dieser Raum war etwas Konkretes, ein lebendiges und sich beständig wandelndes Großereignis. Es spielt eigentlich auch gar keine Rolle, welche Elemente des Sprechlateins im Romanischen fortgeführt wurden und welche nicht. Dieses Latein lässt sich ja mittels Texten, deren Mündlichkeitsnähe sich durch kommunikative Erwägungen zu ihren Gattungsmerkmalen erkennbar machen lässt (Oesterreicher 1995), partiell rekonstruieren. Dabei fällt dann eben auf, dass einige der durch diese Rekonstruktion hervortretenden Merkmale auch die romanischen Sprachen kennzeichnen (etwa der Gebrauch von de und ad zur Markierung von genetivischen und dativischen Verhältnissen oder die Frequenzerhöhung bei der Determinierung mittels ille). Dies lässt in Zusammensicht mit den historischen Umständen darauf schließen, dass die romanischen Sprachen auf das Vulgärlatein zurückgehen, was wiederum dazu berechtigt, das Sprechlatein seinerseits partiell von den romanischen Sprachen aus zu rekonstruieren. Dass im Übergang vom Vulgärlatein zum frühen Romanischen eine Reihe von Merkmalen aufgegeben wurden, ändert an den grundsätzlichen Verhältnissen nichts und sollte auch nicht Zweifel an der Lebendigkeit und Konkretheit des Komplexes „Vulgärlatein/ Sprechlatein“ wecken. Immerhin zeigen die Bedenken von Coseriu und Wanner, dass es wohl aussichtslos ist, den Zustand des Sprechlateins zu irgendeinem Zeitpunkt seiner Entwicklung vollständig rekonstruieren zu wollen. Die Fülle der Phänomene würde wohl nie in ihrer Gesamtheit sichtbar werden. In letzter Zeit sind in der Forschung nun allerdings auch Positionen aufgekommen, die sogar den Dokumentationswert der vulgärlateinischen Texte anders einschätzen als üblich. So distanziert sich Robert de Dardel in seiner Darstellung (1996) gänzlich von den Quellen und schlägt eine Art spekulative Rekonstruktion auf Grund eines Vergleichs zwischen den romanischen Sprachen vor. Auf der anderen Seite sieht Roger Wright in Texten, die größere Abweichungen vom klassischen Vorbild zeigen, generell eine Offenheit zur mündlichen Sprache hin, die diese Texte zu Repräsentanten einer schriftsprachlichen Schicht des Vulgärlateins bzw. frühen Romanischen macht. Wright behauptet ein solches Verhältnis zwar nur für vorkarolingische mittelalterliche Texte in Frankreich und vorcluniazensische Urkundentexte in Spanien, nach rückwärts projiziert muss man aus seiner Position allerdings die Konsequenz ziehen, dass auch spätlateinische Texte, die viele vulgärlateinische Elemente bieten, in diesem Sinne einzustufen sind. Während also Dardel behauptet, dass die sogenannten „Quellen des Vulgärlateins“ keinen brauchbaren Einblick in die gesprochene Sprache erlauben, wäre im Anschluss an Wright anzunehmen, dass es unter den schriftsprachlichen Produktionen in lateinischer Sprache einen Strang von Texten gibt, die auf dem Prinzip der kontinuierlichen und breiten Übernahme von Ausdruckselementen aus der jeweiligen gleichzeitigen mündlichen Sprachschicht (Vulgärlatein <?page no="123"?> 3.2 Grammatikalisierungswege 111 oder frühes Romanisch) beruhen. Die Position, die von den meisten Forschern vertreten wird, steht in der Mitte zwischen diesen beiden Extremen: Den Quellen des Vulgärlatein wird eine gewisse Dokumentationskraft zugestanden, wenn sie auch in ihrer Grundsubstanz immer noch durch die Normen des klassischen Latein bestimmt seien. Wrights Einschätzung fußt darauf, dass er weitergehende Abweichungen der Texte von dem in der Umgangssprache anzunehmenden Zustand für Phänoneme der Graphie hält. Dieses Argument wird in Abschnitt 4.10 der vorliegenden Arbeit zurückgewiesen. Gegen Dardel ist zunächst einzuwenden, dass es nicht gerechtfertigt ist, die vulgärlateinischen Texte aus einer Darstellung des frühen Romanischen auszuschließen, denn von den Kommunikationsbedingungen ihrer Textsorten her (Brief, Schauspiel, imitierte Dialoge in der Erzählung, spätlateinische Predigt usw.) stehen viele Quellen des Vulgärlateins eben in der Nähe der Umgangssprache. Nun sind einige der von Dardel postulierten Strukturen des Urromanischen (Wortstellungstyp OSV, ad + Eigenname, völlige Abwesenheit von Kasus) in den vulgärlateinischen Texten stark minoritär bzw. nicht nachweisbar. Dardel muss daher notwendig auf ein Konstrukt ausweichen, dass die Herausbildung des Romanischen in eine Sprachschicht verschiebt, die durch die Quellen überhaupt nicht erfasst wird. Dies tut er durch die von ihm und Jakob Wüest wieder belebte Hypothese, das Romanische sei durch einen Prozess der Halbkreolisierung aus dem Latein entstanden, bei der mit einem Schlag alle Kasus verloren gegangen seien und eine große simultane Bereicherung mit analytischen Strukturen stattgefunden habe. Träger des Romanischen seien die Sklaven gewesen, deren Muttersprache nicht das Latein war und die sich durch ihre Vielsprachigkeit in einer ähnlichen Situation befunden hätten wie die schwarzen Sklaven auf den Inseln des atlantischen Ozeans (Dardel/ Wüest 1993). Dass lateinische Texte diese Sprachschicht dann nicht erfasst hätten, folge ganz natürlich aus der sozialen Randstellung der Sprachgemeinschaft, in der sich das Ur-Romanische herausgebildet hätte und durch die ausschließlich es praktiziert worden sei. Und in diese Sprachgemeinschaft lassen sich natürlich auch alle möglichen Strukturen spekulativ hineinprojizieren. Das entscheidende Argument gegen die Annahme einer Halbkreolisierung ist jedoch die Tatsache, dass sich eine Reihe von synthetischen lateinischen Tempora (mit Personalkonjugation auf der Grundlage von Portemanteau-Morphen) bis in die romanischen Sprachen hinein erhalten konnten. Dass es sich bei diesen Tempora nicht um gelehrte Formen handeln kann, erkennt man an ihrer Lautgeschichte (amabam zu amaba, amavit zu amaut zu amó usw.). In einem wirklichen Kreolisierungsprozess wären diese Tempora nicht übernommen, sondern durch analytische Formulierungen ersetzt worden, mit Auxiliaren für das TAM-Element und Personalklitika für das Person-Numerus-Element. Das Ausweichen auf die Kreolisierungsthese hat keine ausreichende Grundlage, die Mündlichkeitsspuren in den vulgärlateinischen Texten müssen bei der Rekonstruktion des latein-romanischen Sprachwandels eine Schlüsselrolle spielen. Die Thesen von Dardel und Wright haben den großen Vorteil, Randpositionen zu formulieren, Randpositionen der möglichen Interpretation der gewöhnlich als Quellen des gesprochenen Lateins herangezogenen Texte sowie der aus ihnen konstruierten Sprachwandelgeschehnisse. Auf diese Weise wird das gesamte Spektrum der denkbaren Deutungen erkennbar. Diese Thesen sind jedoch in letzter Konsequenz nicht zu akzeptieren. Deswegen wird in der vorliegenden Untersuchung die „main stream“-Position eingenommen, nach der die Vulgärlateintexte partielle Einblicke in das gesprochene Latein ihrer Entstehungszeit erlauben, ohne jedoch so etwas wie eine schriftsprachliche Variante dieses Sprechlateins zu bieten. Für Reichenkron (1965), Väänänen (1981) und Herman (1990) ist Vulgärlatein das lebendige Sprechlatein in seiner Gesamtheit. Alle drei vertreten außerdem die Auffassung, dass sich vor der Zerschlagung der Reichseinheit noch keine nennenswerten regionalen Differenzierungen ausbildeten. Allerdings muss man einschränkend bemerken, dass die Auffassung der Einheitlichkeit des Vulgärlateins vor Hermans statistischen Untersuchungen wenig gesichert war. Erst Hermans nummerische Auswertungen von Inschriften-Analysen demonstrieren deutlich, dass in der Zeit bis zum 5. Jahrhundert zwar erste Divergenzen aufkamen, dass diese aber bis dahin nur langsam fortschritten und daher die Wandelvorgänge im Frühmittelalter viel mehr als die der Spätantike für die in den Texten des <?page no="124"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 112 Hochmittelalters manifest werdenden phonetischen, lexikalischen und morpho-syntaktischen Unterschiede zwischen den (alt-)romanischen Sprachen verantwortlich sein müssen. Dieser Einschätzung schließt sich Verfasser an. 32 Die Autoren des Inventaire des premiers documents en langue romane schließen den Cid aus ihrer Dokumentation aus (Frank/ Hartmann 1997, 38), da das erste Manuskript erst aus dem 14. Jahrhundert stamme. Die innersprachlichen Merkmale dieses Textes in Lautung, Wortstand und Morphosyntax lassen aber klar erkennen, dass er schon sehr viel früher entstanden sein muss und in der Reihe der altspanischen Texte deutlich früher einzuordnen ist (vgl. Lapesa 1981: 222f.), so dass man sich der üblichen Situierung zwischen 1200 und 1240 mit guten Gründen anschließen kann. 33 Die katalanischen Eide bieten kein sprachliches Material, das ausführlich genug wäre, den Zustand des Katalanischen des 11. Jahrhunderts ausreichend zu beurteilen Wenn der Ausgangspunkt der folgenden Darstellungen in einem altlateinischen Kontinuum liegt, wo sollten sich dann ihre Zielpunkte befinden? Es liegt nahe, den Endpunkt der Beschreibung dort anzusetzen, wo die in Blick genommenen Sprachsysteme zum ersten Mal manifest und greifbar werden, also in dem Moment des Auftauchens der ersten längeren Texte. Dies bedeutet für die unterschiedlichen Sprachen der alt-iberoromanischen Zeit: • Kastilisch: Endpunkt ist die Entstehungszeit des Cid, Anfang des 12. Jahrhunderts 32 • Galego-Portugiesisch: Entstehungszeit des Testamento de Alfonso II (1214) und der Noticia de Torto (Ende 12., Anfang 13. Jahrhundert) • Katalanisch: Entstehungszeit ausführlicherer katalanischer Urkunden und der Homilies d’Organyà (2. Hälfte 12. Jahrhundert) 33 Dies ergibt als Zielzeit insgesamt das 12. Jahrhundert und die ersten Jahrzehnte des 13. Jahrhunderts, für die die Sprachzustände der verschiedenen Gruppen des romance festzuhalten sind. Die Ausgangs- und Zielpunkte der folgenden Beschreibung sowie die zwischen ihnen verlaufenden und vermittelnden Sprachwandel-Vorgänge werden dargestellt in einigen maßgeblichen Werken der Forschungsliteratur, an denen sich die Erfassung nach den Vorgaben des Grammatikalisierungsmodells ausrichten wird: Informationen zum Latein sind zu entnehmen aus Rubenbauer/ Hofmann/ Heine (1995), Hofmann/ Szantyr (1965), Kühner/ Stegmann (1962); das Vulgärlatein und seine Wandlung zum Romanischen wird maßgeblich präsentiert in den Werken von Väänänen (1981), Lausberg (1969), Herman (1990) und auch Diez (1836/ 38/ 44); die genauesten Informationen zu den verschiedenen Sprachen oder Dialektgruppen des Iberoromanischen liefern: Menéndez Pidal (1978 u. 1908 (Grammatik zum Cid)), Metzeltin (1979), Lapesa (1981), Lleal (1990), Huber (1933), Nunes (1960), Silva Neto (1988), Moll (1991), Badia i Margarit (1951). Dabei ist zu beachten, dass sich die Angaben zum Altspanischen in erster Linie an Menéndez Pidals Cid-Grammatik orientieren sollen. <?page no="125"?> 3.2 Grammatikalisierungswege 113 34 Dieser Prozess wird minutiös in einer sehr detaillierten und differenziert ausgelegten Studie von Dieter Wanner (1987a) beschrieben. Im Prinzip handelt es sich hier um einen reinen Wortstellungswandel, da die Klitisierung auch schon im Lateinischen galt, allerdings bestimmt durch das Prinzip der Zweitstellen-Anlehnung. Es geht also höchstens um Grammatikalisierung im negativen Sinn, nämlich als fortwährende Einschränkung von Stellungsmöglichkeiten, aber nicht um einen Prozess, der von den Lehmann’schen Parametern bestimmt wird, nicht einmal dem der Koaleszenz. Welche grammatischen Veränderungen des Sprachsystems haben sich in den anderthalb Jahrtausenden, die zwischen den angegebenen Eckpunkten liegen, ergeben? Die zu Grunde liegende Forschungsliteratur gibt im Wesentlichen folgende Verschiebungen an: - allmähliche Verdrängung der SOV-Wortstellung durch die Typen SVO und VSO - Kasusverfall - Gebrauch von Präpositionen zur Anzeige von syntaktischen Funktionen - Entstehung eines bestimmten und unbestimmten Artikels - Verbanlehnung der klitischen Personalpronomen 34 - periphrastische Verbalformen werden zu neuen Tempora (zusammengesetztes Perfekt, Futur) und Modi (Konditional) - bestimmte synthetische Verbalformen (das synthetische Passiv, das alte synthetische Futur auf -bo/ -bis usw. sowie Imperfekt und Perfekt des Konjunktivs) geraten völlig außer Gebrauch - das Perfektsystem des Passivs ersetzt das Präsenssystem des Passivs und übernimmt dessen Funktionen - Gerundiv und Supinum verschwinden, das Präsenspartizip wird in seinem Gebrauch eingeschränkt, die frei werdenden Funktionen werden durch Infinitiv und Gerundium repräsentiert, die ihren Gebrauchsbereich ausweiten - der AcI wird stark zurückgedrängt zu Gunsten des Konstruktionstyps quod + finites Verb, die Konjunktionen cum und ut verschwinden - Ausdifferenzierung der Konjunktionen, hauptsächlich auf der Basis von quod - der Konjunktiv wird durch Konditional und Infinitiv aus einigen seiner Funktionen verdrängt - es entstehen neue Kopulaverben (estar (< STARE ), seer (< SEDERE )) - es entsteht ein neues Possessionsverb (tener) - eine neue Form der Adverbbildung mittels des Suffixes -mente kommt auf Die angegebenen Entwicklungen kann man als Grammatikalisierungsvorgänge ansehen, insofern als neu geschaffene Funktionswörter (habere u.a.) und neue Periphrasen ältere synthetische und hoch-polyfunktionale oder abstrakte Formen verdrängen und zum Verschwinden bringen. Eine Bewegung am Anfang und Ende von Kanälen also. <?page no="126"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 114 Wie eingangs dieses Kapitels erläutert, kann man nicht eigentlich von Grammatikalisierungskanälen sprechen, sondern besser von durch Kanäle bestimmten Grammatikalisierungswegen. Doch auch sie lassen sich wie die Kanäle nach dem in Kapitel 3.1.6 entworfenen Ebenenschema bestimmten Satzkonstituenten zuordnen. Dies zeigt sich, wenn man mittels einer Tabelle eine Gegenüberstellung vornimmt: PARALLELISIERENDE TABELLE Funktionale Bereiche nach dem P INKSTER -Schema Dort einzuordnende Grammatikalisierungswege vom Lateinischen zum Romanischen Prädikat - Verschwinden des synthet. Passiv- Systems - Ersatz des synthet. Futurs durch eine neue Form - Entstehen von Konditional und zusammengesetztem Perfekt - Verschwinden von Konjunktiv Imperfekt und Konjunktiv Perfekt - Entstehung neuer Kopula- und Possessionsverben Kernprädikation - Prädikat und Argumente bzw. Relation zw. Kernprädikation u. Satelliten - Kasusverfall - Anzeige syntaktischer Funktionen durch Präpositionen Nominalphrase - Artikelentstehung - Veränderungen bei Possessiva - Veränderungen bei Demonstrativa Eingebettete Prädikation an Argumentstelle - quod + finites Verb statt ut + fin-V oder AcI Eingebettete Prädikationen an Satellitenstelle - Ausdifferenzierung der Konjunktionen Die Herausbildung der neuen Adverbien auf -mente soll ebenso wie alle anderen Prozesse der Formung adverbialer Neologismen nicht durch Graphen dargestellt werden, da es sich um Wandelvorgänge handelt, die keine eindeutige Zuordnung zu bestimmten Satzkonstituenten erlauben. Außerdem sind die lexematisch-grammematischen Quellen zu unterschiedlich und die semantischen Bewegungen zu uneinheitlich, um alle Entwicklungen im Bereich „Adverbien“ in eine Gesamtübersicht hineinzubringen. Immerhin sollen am Ende dieses Kapitels, nach der Präsentation und Besprechung der Diagramme auch einige adverbiale Wandelprozesse besprochen werden, ohne dass hier gleichzeitig eine Visualisierung oder weiter gehende Formalisierung vorgenommen wird. <?page no="127"?> 3.2 Grammatikalisierungswege 115 Die Tabelle gibt die inhaltlichen Teilaspekte der nun folgenden bildlichen Darstellungen vor. Diese sollen das in Abschnitt 3.1.3 (Abb. 5, S. 50f.) erarbeitete Format haben, d.h. eine x-Achse für die Zeit und die morphosyntaktischen Stadien und eine y-Achse für repräsentierte Konzepte mit aufsteigender Abstraktheit. In den Flächen des Quadranten sind die einzelnen Schritte auf Grammatikalisierungskanälen repräsentiert sowie die Verbindungen zwischen ihnen (Pfeile). Die Schritte können die Form von Namen grammatischer Kategorien aufweisen oder aber die von Funktionswörtern. Dabei ist ein Teil der Funktionswörter und Kategorien lateinisch, ein anderer Teil romanisch. Die romanischen Elemente gehören dem romance der iberischen Halbinsel an, wobei dem Altspanischen immer dann der Vorzug gegeben wurde, wenn nicht genügend Platz vorhanden war, um auch Formen des Galego-Portugiesischen und Altkatalanischen unterzubringen. Dritte berücksichtigte Sprachform ist in einigen Fällen das Vulgärlatein. Latein, Vulgärlatein und Romanisch werden nicht optisch unterschieden. Die entsprechenden Funktionswörter sind ja bekannt und identifizierbar. Wenn ein Pfeil auf eine Null zuführt, dann bedeutet dies, dass die Form außer Gebrauch gekommen ist. Entsprechend der Tabelle folgen jetzt sieben solcher Graphen. Ihr mathematischer Charakter wirkt im linguistischen Kontext, zumal wenn an eine philologische Forschungstradition angeknüpft werden soll, auf den ersten Blick befremdlich. Dass er sich dennoch erkenntnistheoretisch verteidigen lässt und die Graphen ein angemessenes Mittel der Beschreibung darstellen, wurde oben, bei Einführung dieser Darstellungsform (vgl. Kap. 3.1.3, S. 37f.), schon gezeigt. <?page no="128"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 116 I Grammatikalisierungswege im Bereich „Tempus-Modus-Aspekt/ Diathese“ (Abb. 11) gleich debeo + Inf. (Pass) PPP + seré lat. Futur I -> 0 / / rom. Futur I Zukunft vor (Pass) PPP + ero 0 Futurum exactum TEMP Gegenwart (Pass) PPP + so Präsens nach Konditional Vergangenheit vor (Pass) PPP + eram || (Pass) PPP + fueram -> PPP+ fuera Plusquamperfekt Imperf (Pass) PPP+ era Imperfekt ASP Perf (Pass) PPP + sum || (Pass) PPP + fui -> (Pass) PPP + fue/ foi/ fo Perfekt result-relev aver + PPP Periphrase Klitikum Agglutination Flexion Periphrase Klitikum Agglutination Flexion potentiell potesse + Inf poder + Inf Konj. -> 0 deontisch obligator. habere + PPP, debere +Inf . deber + Inf Konj. -> Konj . Inf. + habere potent. poder + Inf Konj Konj, Konditional MOD epistemisch deber + Inf irreal Konj. Konj., Konditional freie Assertion/ real Indikativ syntaktisch abhängige Assertion (rom.) Subjunktiv <?page no="129"?> 3.2 Grammatikalisierungswege 117 Das erste Diagramm entfaltet die Grammatikalisierungswege im Bereich Tempus-Modus-Aspekt und Diathesen. Inwiefern handelt es sich bei den gegebenen Wandelvorgängen um Grammatikalisierungen? Welche Parameter und anderen Aspekte sind beteiligt? Durch den Wegfall der synthetischen Passivformen sowie des Imperfekts und Perfekts des Konjunktivs schrumpft das gesamte Paradigma der Konjugationen. Es wird also die paradigmatische Variabilität der an Verbstelle in den Satz einzusetzenden Konjugationsformen eingeschränkt. Auf der anderen Seite wird das Konjugationssystem mit neuen Formen angereichert (zusammengesetztes Perfekt und neues synthetisches Futur) und wächst dadurch zum Teil wieder. Diese neuen Formen speisen sich aus Periphrasen mit Hilfsverben (habere, debere), die aus Lexemen des Lateinischen gebildet wurden bzw. im Lateinischen selber noch Lexemstatus hatten: habere - ‚halten‘, debere - ‚schulden‘. In dieser Ecke der Gesamtentwicklung liegen also zwar keine Prozesse der Fortgrammatikalisierung vor, aber doch solche der Bildung von Grammemen aus Lexemen. Die dabei verwendeten Lexeme sind außerdem typische Quellen zum Ausdruck von Futur und Perfekt, die über eine Zwischenphase als Element modaler Periphrasen schließlich zu Tempusmarkierern werden (vgl. 3.1.2). Diese Fortentwicklungen der Periphrasen zu Tempora entstehen durch metonymisch-metaphorische Verbindungen, die in vielen Sprachen anzutreffen sind (Bybee/ Perkins/ Pagliuca 1994). Ebenfalls symptomatisch für Grammatikalisierungen ist die phonologische Schrumpfung des Futur-Auxiliars haber/ aver hinter dem Infinitiv zu einer reinen Endung, der die lautliche Reduktion des Perfekt-Auxiliars vor dem Vergangenheitspartizip entspricht: he/ -é statt habeo, has/ -ás statt habes, hemos/ emos statt habemus usw. Dieser Schrumpfung geht im Fall der Futurendungen ein Wandel im Sinne der Koaleszenz voraus. Die Begünstigung des analytischen gegenüber dem synthetischen Passiv mag durchaus im Zusammenhang mit den neu entstandenen Periphrasen stehen. Sie könnte ja die Folge eines analytic drift sein, der durch die Anreicherung des Satzes mit Präpositionen, Artikoloiden und eben verbalen Periphrasen entstanden war. Es liegen also eine Reihe von Faktoren vor, die auf den Grammatikalisierungscharakter der Wandelvorgänge beim verbalen Prädikat schließen lassen. Nun zu dem Graphen! Wie muss er gelesen werden? Was ist im Einzelnen zu erkennen? Die x-Achse verzeichnet verschiedene Stadien auf dem Grammatikalisierungskanal, die als ganze letztendlich nur durch die Periphrase „Infinitiv + habere“ durchschritten werden, während sich andere Entwicklungen vollständig innerhalb ein- und desselben Sektors der x-Achse vollziehen, nämlich entweder innerhalb des Sektors „Periphrase“ oder aber im Sektor „Flexion“. Die y-Achse besteht aus zwei Abschnitten, einem oberhalb der x- Achse und einem unterhalb der x-Achse, so dass der Graph zwei Quadranten <?page no="130"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 118 35 Coseriu (1976) nimmt eine Zwischenposition ein, da er auch Modellvorstellungen wie die Winkelschau ins Spiel bringt, ist aber auf jeden Fall kein reiner Aspekt-Anhänger. In dem Schema auf S. 171 seines Buches arbeitet nämlich auch er mit der Vorstellung, Perfekt sei durch seine Vorzeitigkeit zur Gegenwart, Imperfekt dagegen durch seine Gleichzeitigkeit zur Vergangenheit gekennzeichnet. Eine solche Charakterisierung mag für isolierte Sätze eine brauchbare Interpretation an die Hand geben, die Tempusverteilung in längeren Erzählungen ist nur adäquat beschreibbar, wenn feinere Kategorien wie eben Innen- / Außenperspektive und dergleichen angewendet werden. Und diese feineren Kategorien lassen sich eigentlich besser als Realisierungen von Aspekten verstehen denn als Umsetzungen irgendwelcher zeitlicher Vektorschemata oder vergleichbarer Schematisierungen. aufweist. Der obere Quadrant verzeichnet die Geschehnisse im Bereich von Tempus und Aspekt, der untere die im Bereich von Modus und Modalität. Auf diese Weise können auch Entwicklungen beschrieben werden, die von der Modalität ausgehen und in den Tempus-Bereich hinüberführen oder umgekehrt vom Tempuszum Modus-Bereich zurückführen (vgl. 3.1.2). Auf der anderen Seite kann das Schema nicht erfassen, dass der Modus Konjunktiv in einigen seiner Tempora vollkommen verschwindet. Was erfasst ist, ist die Umdeutung des Futurum exactum zum Futur des Konjunktivs innerhalb des Galego-Portugiesischen und Altspanischen. Nicht erfasst dagegen ist die Verdrängung des lateinischen Konjunktiv Imperfekt. Dies hängt mit zwei Problemen zusammen, die eine Integration dieses Verdrängungsprozesses in das Diagramm impliziert hätte. Im Prinzip hätte die Zweidimensionalität des Graphen in eine Dreidimensionalität verwandelt werden müssen, da man Tempus und Modus eigentlich in einer zweidimensionalen Matrix darstellen muss. Die Matrix hätte in einen Graph übergeführt werden müssen, dem man dann eine in den Raum reichende dritte Achse (z-Achse) zur Repräsentation der Zeit und der morphologischen Stadien hätte hinzufügen müssen. Dies scheint im Kontext der Darstellungsform der anderen Netze von Grammatikalisierungskanälen, für die zweidimensionale Graphen ausreichen, unnötig komplex. Auf der y-Achse zum oberen Quadranten erkennt man zwei Reihen von Angaben. Die linke Reihe besteht in zwei Kürzeln (TEMP und das etwas nach rechts versetzte ASP), die für Tempus und Aspekt stehen. Dies sind die übergeordneten Kategorien, die durch die nicht in Großbuchstaben gehaltenen Angaben der rechten Reihe spezifiziert werden. Es wird also mit dem Instrument des Aspektbegriffs gearbeitet, um die Unterschiede bei den Vergangenheitsformen der Verben zu erfassen, da mir die Versuche, diese Unterschiede rein temporal beschreiben zu wollen (vgl. Pinkster 1988, Rojo 1990) weniger überzeugend erscheinen als die Erklärung mittels der aspektuellen Opposition perfektiv-imperfektiv (vgl. Comrie 1976). Vor allem wenn man sich längere Textpassagen ansieht, ist die Beschreibung durch mehrere Oppositionen wie Abgeschlossenheit/ Offenheit, Wiederholung/ Einmaligkeit, Erzählung von außen her/ Erzählung aus der Innenperspektive der Situation adäquater als eine Kennzeichnung mittels rein zeitlogischer Kategorien 35 . Gemäß Raible (1990) ist das Lateinische also so einzustufen, dass es zu den <?page no="131"?> 3.2 Grammatikalisierungswege 119 36 Im Übrigen möchte ich auch Kritik an der üblichen Routine äußern, mit der mittlerweile Tempora durch ihren reinen Bezug zum Sprechzeitpunkt beschrieben werden, und an der Sprachen gehört, die ein dominantes Tempus-System mit einem gewissen aspektuellen Anteil aufweisen. Der Aspekt ist in den Tempus-Bereich eingebettet, was in dem Graphen dadurch visualisiert wird, dass die ASP-Markierung nach rechts verrückt erscheint. Die Angaben, die an dem oberen Teil der y-Achse rechts von ASP und TEMP stehen, verzeichnen für ASP die Opposition perfektiv-imperfektiv. Rechts unten im ersten Quadranten erkennt man die darauf bezogenen Tempora Perfekt und Imperfekt. Unter dem perf-imperf-Paar auf der y-Achse steht „result-relev“ für „resultativ-relevant“, was als die funktionale Kennzeichnung für die Werte des zusammengesetzten Perfekts reserviert ist. Dabei ist „relevant“ zwar eine pragmatische Größe, aber immerhin ist resultativ wohl als aspektuell einzustufen, insofern als es sich um eine Unterart von Perfektivität handelt. Die Spezifizierungen zu TEMP beruhen auf einfachen, traditionellen Schemata der Zeitbeschreibung, nämlich auf den Begriffen der Zeitstufe (Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft) und der Zeitfolge. Aufgeführt ist nur ein Teil der möglichen gleich-vor-nach-Kennzeichnungen, und zwar alle diejenigen, die erlauben, die Vorzeitigkeit des Futurum exactum und des Plusquamperfekts sowie die Nachzeitigkeit des romanischen Konditionals zu vermerken (Vorzeitigkeit in Beziehung auf einen Zeitpunkt in der Zukunft; Vorzeitigkeit in Beziehung auf einen Zeitpunkt in der Vergangenheit; Nachzeitigkeit in Beziehung auf einen Zeitpunkt in der Vergangenheit). Zwar ist es richtig, was etwa Rojo hervorhebt, dass nämlich die Tempora prinzipiell auf einem Dreierschritt von Gleichzeitigkeit, Vorzeitigkeit und Nachzeitigkeit beruhen und dass dieses Schema grundsätzlich die Eigenschaft hat, gegenüber den natürlichen Zeitzonen beliebig beweglich zu sein, so dass sich das Präsens nicht mit der Gegenwart deckt, das Futur nicht mit der Zukunft identisch ist und die Präterita nicht mit der Vergangenheit zusammenfallen. Im tatsächlichen Sprachgebrauch jedoch wird diese prinzipielle Beweglichkeit nicht in dem Maße ausgenutzt, dass man diese Zuordnungen nicht treffen könnte. Präsens bezeichnet eben meistens die Gegenwart - oft übrigens ja so etwas wie eine Hintergrunds-Gegenwart, die über die Grenzen einer augenblicklichen Kommunikationssituation hinausreicht -, die Vergangenheitstempora beziehen sich meistens auf die Vergangenheit, das Futur auf die Zukunft. Schon wenn man die vielleicht häufigste abweichende Zuordnung ins Auge fasst, nämlich das in der Alltagssprache beliebte praesens historicum, kommt man nicht umhin zuzugestehen, dass sich hier der stilistische Wert der Verlebendigung nur so einstellt, dass das vergangene Geschehen in eine Gegenwart transportiert wird - mit Hilfe des Präsens! So frei das System der Tempora in sich selbst auch sein mag, auf der Ebene der Norm bestehen doch Zuordnungen zu den Zeitzonen 36 . <?page no="132"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 120 Strenge, mit der die Reduktion auf diese Relation eingefordert wird. Der Sprechzeitpunkt ist gleichzeitig doch immer auch ein Erlebniszeitpunkt. Jeder Sprecher steckt in einer Wahrnehmungssituation, einer Realität, die ihn umgibt und die er gleichzeitig erlebt. Die Gegenwart des Sprechens fällt mit einer Gegenwart des Erlebens zusammen und das heißt eben mit der Gegenwart. Auch in diesem Punkt wird das Ausmaß der Eigenständigkeit des Tempussystems gegenüber den Zeitzonen überschätzt. Wie bei der y-Achse des ersten Quadranten, sind entlang des Abschnitts der y-Achse, der den zweiten Quadranten bestimmt, zwei Reihen von Angaben verzeichnet. Die Abkürzung MOD steht für Modus und Modalität. Beide hängen inhaltlich-funktional, aus der Sicht der Grammatikalisierung aber auch via Verbindungen über Grammatikalisierungskanäle zusammen (vgl. Lehmann 2002a: 24f.). Die Angaben rechts von MOD sind nun zweistufig angelegt. Zunächst wird zwischen den Klassen der deontischen und epistemischen Modalität unterschieden, weiter unten wird noch die Kategorie eines syntaktischen Modus angeführt. Diese Kategorie ist in erster Linie im Hinblick auf den romanischen Subjunktiv angelegt worden, der fast ausschließlich in untergeordneten Nebensätzen auftaucht. Raible zeigt in seiner Geschichte des romanischen Subjunktivs (1992b), dass dieser zu gewissen Zeiten seiner Entwicklung sogar als Nebensatzmodus schlechthin aufgefasst wurde, also eine rein syntaktische Funktion angenommen hatte. Die weiter rechts befindlichen Kennzeichnungen spezifizieren „deontisch“ wie üblich zu „potentiell“ und „obligatorisch“. Unter „epistemisch“ kommen in Bezug auf die lateinisch-romanischen Konjugationen die Werte „potentiell“, „irreal“ und „real“ in Betracht. Der „syntaktische Modus“ ist spezifiziert durch Verwendungsbedingungen, die den Übergang vom Latein zum Romanischen bestimmen. Dies wird verständlich in Zusammenschau mit den Kategorien und Pfeilverbindungen, die man ganz rechts unten im unteren Quadranten erkennen kann: Während der lateinische Konjunktiv in Hauptsätzen noch intensiv genutzt wird, bekommt er in der Entwicklung zum Romanischen durch die potentiellen und obligatorischen Periphrasen und vor allem durch den neuen Modus Konditional im Hauptsatz starke Konkurrenz. Es kommt dazu, dass die Verwendungskontexte in den kompletiven oder adverbialen Nebensätzen die Hauptsatzfunktionen immer weiter in den Hintergrund drängen. Während im Lateinischen bei den Nebensatzfunktionen des Konjunktivs ihre Herkunft aus entsprechenden Hauptsatzverwendungen noch erkennbar ist (vgl. Rubenbauer/ Hofmann/ Heine 1995: 264), scheint der romanische Konjunktiv schon in den älteren Stufen des Romanischen wesentlich ein coniunctivus subiunctivus zu sein, insofern als er seinen syntaktischen Schwerpunkt deutlich im Nebensatz hat. Dabei wird seine Setzung stärker als im Latein angeregt durch bestimmte Verben des Hauptsatzes und bestimmte Konjunktionen. Eine freie Setzung in jedem beliebigen Nebensatzkontext, wie sie noch für den lateinischen coniunctivus obliquus galt (Ibid.), ist nicht mehr möglich. Der romanische Subjunktiv ist semantisch ein Modus der abhängigen Assertion: das in den Konjunktiv gesetzte Verb <?page no="133"?> 3.2 Grammatikalisierungswege 121 erhält seine vollständige Einstufung in die Spanne zwischen Realität und Irrealität sowie seine vollständige zeitliche Verortung erst im Zusammenspiel einerseits mit der den Nebensatz einleitenden Konjunktion, andererseits mit dem übergeordneten Prädikatsausdruck des Matrixsatzes. So weit die Kennzeichnungen der Achsen! Nun zu den Inhalten der Quadranten! Sie sollen von oben nach unten erläutert werden. Ganz links oben erkennt man die Periphrase debeo + Infinitiv. Sie gehört weder dem lateinischen Ausgangspunkt an noch den romanischen Zielpunkten der Grammatikalisierungswege, sondern hatte als Futur-Repräsentant nur eine vorübergehende Geltung im Vulgärlatein. Da sie aber in den Urkunden auftaucht, die in Kapitel 6.4 analysiert werden, wurde sie in das vorliegende Diagramm integriert. Den Hauptanteil der linken Hälfte des oberen Quadranten machen die Informationen zu den Verschiebungen im Passivsystem aus. Hier ist der Kern dieser Verschiebungen erfasst: Partizip Perfekt Passiv (PPP) + sum veränderte seinen Tempuswert vom Perfekt zum Präsens, die Verbindung PPP + fui schob sich in die frei werdende Lücke und übernahm den Tempuswert „Perfekt“. Analoge Entwicklung im Bereich Plusquamperfekt/ Imperfekt: die Plusquamperfekt-Periphrase PPP + eram wandelte ihren Tempuswert zu „Imperfekt“, in die frei werdende Lücke schob sich PPP + fuera, da fuera im Mittelalter ja noch die übliche Form für das Plusquamperfekt darstellte. Die Bildung der romanischen Passivform des Futur (seré + PPP) allerdings leitet sich nicht vom Latein her, sondern ist eine Analogiebildung in Anpassung an so + PPP und gehört daher gerade nicht zu einem Grammatikalisierungsweg. Ebenso sind fui + PPP und fuera + PPP Analogiebildungen und ergänzen die Verschiebungen auf den Grammatikalisierungskanälen, ohne im eigentlichen Sinne aus einer Grammatikalisierung zu resultieren. Auf der rechten Seite erkennt man oben den Prozess, dass das lateinische Futur verschwindet (Futur I 0) und andererseits ein neues romanisches Futur an seine Stelle tritt (s.u.). Vom Futurum exactum führt ein langer Pfeil hinunter zum Subjunktiv, da es ja zum Futur des Subjunktivs umgedeutet wurde. Im Altspanischen war dies noch eine häufiger gebrauchte Form, die dann im weiteren Verlauf in den meisten Gebieten Spaniens und den meisten Kontexten außer Gebrauch geriet; im Portugiesischen ist ein Futur des Konjunktivs bis heute lebendig geblieben, es handelt sich immer noch um eine häufig verwendete Form, die in fast allen Kontexten des Sprachgebrauchs zu finden ist. Im rechten unteren Teil des Tempusquadranten erkennt man die zentralen Vergangenheitstempora, also das Paar von Perfekt und Imperfekt, dessen Doppelung gemäß y-Achse auf einen aspektuellen Unterschied bezogen wird (s.o.). Im Modalitäts-Quadranten fallen vor allem die beiden längeren Pfeile auf, die Verbindungen zum Tempus-Quadranten herstellen. Ein erster Pfeil führt von der Periphrase habere + PPP, die in der spätlateinischen Rechtssprache noch eine obligatorische deontische Funktion hatte (vgl. Jacob 1994), zum zusammengesetzten Perfekt, mit der aspektuellen Funktionsspanne „resul- <?page no="134"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 122 tativ-relevant“. Der zweite große Bogen verläuft von der zweiten obligatorischen deontischen Periphrase Infinitiv + habere hin zum neuen romanischen Futur, das in der rechten oberen Ecke des oberen Quadranten verzeichnet ist. An der Existenz des sogenannten pronombre intercalado im Altspanischen (Typ hacer lo he) kann man erkennen, dass die Entwicklung zur vollkommenen synthetischen Form mehrere Phasen durchmachte. Diese Schritte sind auf der x-Achse als Klitisierung und Agglutination vermerkt. Im Fall eines pronombre intercalado hat man es bei dem Futurgrammem mit einem auxiliaren Klitikum zu tun, bei fehlendem oder präverbalem Objektpronomen mit einer Flexionsendung. Diese Verhältnisse gelten im Portugiesischen bis heute, während das Spanische im Spätmittelalter die intercalado- Lösung vollkommen zurückgedrängt hat (vgl. Schede 1987: 83ff.). Eine Konsequenz des neuen Futurs ist das Aufkommen des Konditionals. Durch Kombination mit dem Imperfekt von habere konnte ein Vergangenheits- Futur ausgedrückt werden, das nach und nach ebenfalls synthetische Form bekam und schließlich auch noch weitere Funktionen neben der des Vergangenheitsfuturs übernahm (s.u.). Die epistemisch-potentielle Modalität wird in den romanischen Sprachen meist durch eine Periphrase mit dem Hilfsverb poder bezeichnet, während im Lateinischen der potential gebrauchte Konjunktiv (Perfekt oder Präsens) dafür verwendet wurde. Dieser Konjunktiv kann im potentialen Sinne in den romanischen Sprachen noch im Kontext einer Konditional-Periode (si Nebensatz, Hauptsatz) gebraucht werden, wo er mit dem neu entstandenen Konditional koexistiert. Die Vergangenheitsformen von Konditional und Konjunktiv repräsentieren im Romanischen dann auch die irreale epistemische Modalität. Die Entwicklung des Konditionals und seine Konkurrenz mit dem Konjunktiv ist auf Grund der Zweidimensionalität des Graphen nur unzulänglich beschrieben. Die rechte untere Ecke des unteren Graphen bietet die schon erwähnten Entwicklungen im Bereich des romanischen Subjunktivs. Der vom lateinischen Konjunktiv nach unten verlaufende Kurvenpfeil zum romanischen Subjunktiv signalisiert den Übergang vom selbstständigen zum relativen Modus. Die Motive für die Innovationen, von denen diese Grammatikalisierungen ausgingen, sind unterschiedlich. Eine Rolle bei der Herausbildung der Periphrasen mag das Griechische gespielt haben. Auf diesen Umstand weist die Arbeit von Wolf Dietrich hin (1973). Erst in der Spätantike werden Periphrasen in der Schriftsprache fassbar und dort vor allem im Bereich der christlichen Literatur. Hier manifestiert sich für Dietrich ein möglicher Weg, auf dem das Griechische auch im mündlichen Bereich eine anregende Wirkung ausgeübt haben könnte. Dies impliziert jedoch keine Abhängigkeit. Vermutlich haben die lateinischen Periphrasen nicht auf das Griechische „gewartet“ um zu entstehen, vielleicht wurde aber die größere Menge und Häufigkeit der Verwendung in der Spätantike durch den Kontakt mit der <?page no="135"?> 3.2 Grammatikalisierungswege 123 griechischen Sprache doch entscheidend gefördert. Dann läge hier also die Wirkung eines Prestige-Idioms vor. Diejenige ökologische Bedingung, die die weitere Entwicklung der habere- Periphrasen zu neuen Tempusformen begünstigte, lag im Falle des Futurs in der funktionalen Nähe zwischen „Absicht“ und „Zukunft“. Es war hier leicht möglich, unmerklich von der konkreteren zur abstrakteren Bedeutung hinüberzugleiten. Die größere Aufwändigkeit und das seltenere Vorkommen der Periphrase kamen den Maximen der Auffälligkeit entgegen, so dass dieses Hinübergleiten auf diesem Wege immer häufiger zur Geltung kommen konnte und die Periphrase im Zuge der verbreiteten Übernahme durch die Sprachgemeinschaft zum Futurausdruck fortgrammatikalisiert werden konnte. Detges (1999) unterstreicht den rhetorischen Wert eines Ausdrucks der Absicht. Da das Eintreten zukünftiger Ereignisse immer unsicher ist, wolle man die Gültigkeit der eigenen Zukunftsaussage durch den Rückgriff auf Ausdrücke der Absicht verstärken, die Aussage glaubwürdiger machen. Im Bereich des Passivs mag die Diskrepanz der morphologischen Muster eine auslösende Rolle für die Verdrängung der synthetischen Formen gespielt haben. Das Passiv wurde nicht einheitlich gebildet: längeren, mehrfachaffigalen Morphemstaffeln (am-ar-er, am-ar-er-is u.ä.) standen aufgelockerte, besser durchsichtige Periphrasen gegenüber. Um eine Art „morphologische Logik“ innerhalb des Passivs zu erreichen und so der Ökonomie-Maxime der Verringerung des Merkaufwands entgegenzukommen, könnte man die synthetischen Varianten zu Gunsten neu gedeuteter analytischer Formulierungen aufgegeben haben. Diese Umdeutung wurde möglich durch eine weitere ökologische Bedingung, eine semantische Ambiguität bei der kompositionalen Herleitung der temporalen Bedeutungen aus den periphrastischen Formen. Die Vorgangspassiva vom Typ PPP + sum, die zeitlich eine Vergangenheit kennzeichnen, konnten auch als Zustandspassiv verstanden werden, wobei sie dann präsentisch gedeutet wurden. Diese Re-interpretation konnte unmerklich geschehen, ohne dass irgendeine Sprechermaxime dafür verantwortlich war. Möglicherweise kamen solche Umdeutungen schon auf, als die synthetischen Passivformen noch in vollem Gebrauch waren. <?page no="136"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 124 II Grammatikalisierungswege der Kopulaverben und Possessionsverben (Abb. 12) KOPULA esse -> sum + sedere > seer || estar EXISTENZ ha esse -> sum + sedere > seer POSSESSION tener, aver esse + Genit./ Dat. seer de LOK. POSITION esse sum + sedere > seer||estar Körperlage sedere, stare Körperl. Kontrolle habere, tenere LEXEM FUNKTIONSWORT <?page no="137"?> 3.2 Grammatikalisierungswege 125 Das zweite der sieben Diagramme beschreibt ebenfalls Grammatikalisierungswege, die im Bereich des Prädikats-Konstituenten angesiedelt sind. Es handelt sich um die Herausbildung neuer Kopulaformen und Possessionsverben. Inwieweit liegen in diesem Bereich Grammatikalisierungen vor? Die Kopulaverben des Altspanischen, Galego-Portugiesischen und Altkatalanischen gehen zurück auf das lateinische esse, ergänzt um einige Formen des Verbs sedere (sitzen), sowie auf stare (stehen). Die Possessionsverben sind Nachfolger der lateinischen Vollverben habere und tenere, die ursprünglich nur „halten“ bedeuteten. Nur eines dieser Verben, nämlich habere, weist schon früh, in klassischer Zeit, einen Bedeutungszweig einer allgemeinen Possessionsbedeutung auf, während tenere erst deutlich später, in Süditalien und den Gebieten der Iberischen Halbinsel, zu einem regelrechten Possessionsverb ausgeweitet wird. In frühromanischer Zeit erlangt haber dann auch den Wert eines Existenzverbs (asp. ha = ‚es gibt‘) und estar die Funktion der Ortsangabe. Es liegen also Prozesse einer De-Lexematisierung und Herausbildung von grammatikalischen Funktionswörtern aus Lexemen vor, d.h. ganz klare Grammatikalisierungsvorgänge, mit universal verbreiteten lexikalischen Ausgangsquellen (vgl. 3.1.2). Außerdem findet eine fortwährende Syntaktisierung und semantische Abreibung statt, indem über Positions-, Possessions- und Existenz-Angaben immer abstraktere semantische Werte erreicht werden bis hin zur rein syntaktischen Größe KOPULA. Schließlich sind bei den auf lat. esse und habere zurückgehenden Formen einige phonologische Abreibungen zu verzeichnen: SUM > so(y); SUNT > son; EST > es; HABET > ha; HABEO > he u.a. Semantische und phonologische Schrumpfungen und Konzentrationsvorgänge sind beide ebenfalls typische Grammatikalisierungselemente. Wie ist der Graph zu lesen, in dem diese Vorgänge im Überblick dargestellt werden? Auf der x-Achse sind die beiden morphologischen Stufen angegeben, über die hin die Prozesse verlaufen: Lexem und Funktionswort. Entlang der y-Achse sind die verschiedenen Bedeutungen und Funktionen angegeben, die involviert sind. Weiter unten die lexematischen Ausgangsbedeutungen, die sehr konkret und speziell sind: Körperliche Kontrolle über einen Gegenstand, den man in der Hand hält und im Griff behält; Körperlagen (Sitzen, Stehen). Dann die lokale Position überhaupt, die zwar eine bestimmte Körperlage impliziert, aber gegenüber dieser eine abstraktere Angabe darstellt. Auf dem Weg nach oben folgen die Possession als Zuordnung von Gegenständen zu Personen, die Existenz als das Gegebensein von Dingen, Personen, Sachverhalten überhaupt (sprachlich auch als Integration von Dingen, Personen, Ereignissen in eine Textwelt). Schließlich die syntaktische Funktion der Kopula, die die satzsemantische Grundoperation der Zuschreibung einer Eigenschaft an ein Subjekt oder der Subsumption eines Subjekts unter einen Begriff explizit macht. <?page no="138"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 126 37 Für das Galego-Portugiesische vgl. Huber, der folgenden Satz zitiert: en a nossa cidade nom ha tal moesteiro (1933: 194). Für das Katalanische möge dieser Satz stehen: Esdevenc-se que en Aragó havia un cavaller…(Jaume II, Crònica, S. 46) [daneben: hi havia] Im Quadranten werden dann die einzelnen Prozesse auf dieses konzeptuell-morphologische Gerüst bezogen. Im Lexem-Sektor sind ganz links unten habere und tenere als zwei lateinische Wörter für „halten“ vermerkt, sowie in der nächsten Reihe rechts darüber sedere und stare als zwei Wörter für die Körperlagen ‚sitzen‘ und ‚stehen‘. Weiter ist der Lexem-Sektor nicht besetzt, wird also nur auf der untersten Höhe der y-Achse genutzt. Alle folgenden Entwicklungen verlaufen im Funktionswort-Sektor. Auf der linken Pfeil-Sequenz nach oben erkennt man die Stationen der Grammatikalisierung von habere und tenere. Beide werden sowohl im Altspanischen, als auch im Galego-Portugiesischen als auch im Altkatalanischen zu Possessionsverben. Beispiele für diese Verwendung: (asp.) notó trezientas lanças que todas tienen pendones (Cid, Z. 419) con esta alma, foles (…) non avedes nada (Berceo, Milagros, 89) (gal.-port.) E porque avyam mujtos bees e nõ tijnh- herdeiros (…) [Huber 1933, 298] (akat.) Lavors los seus ulls foren en plor, y lo seu cor en tristícia e dolor per tal que no havia fills (Lllull, Blanquerna, 25). Y per ço, quant yo pense en la mort, e veig que no tinch fills als quals romangua esta casa (…) (Lllull, Blanquerna, 27) Aver wird in einer unpersönlichen Verwendungsweise dann auch noch zum Haupt-Funktionsverb bei Existenzangaben. Es kann in den drei 37 thematisierten alt-iberoromanischen Sprachen im Sinne von „es gibt“ gebraucht werden. Im Lateinischen ist die Entsprechung von deutsch „es gibt“ ja noch in est/ sunt zu suchen. Rechts neben der Pfeilfolge, die von habere, tenere ausgeht, sieht man eine Gruppe von Pfeilstraßen, die bei sedere und stare ansetzen. Sedere lieferte dem lateinischen esse einige Formen, unter anderem den Infinitiv sowie die Formen des Konjunktiv Präsens (sedeat > (asp.) sea/ (gal.-port.) seja). Der Infinitiv sedere entwickelt sich unter Verlust des intervokalischen stimmhaften alveolaren Plosivs [d] sowie des Endvokals zu seer, dessen Doppelvokal in der Mitte späterhin zu einem einfachen Vokal zusammengezogen wird: sedere > seer > ser. esse ist ja schon im Lateinischen ein Suppletivverb, also fähig, solche Konjugationsformen in das eigene Paradigma aufzunehmen, die nicht auf den Infinitiv esse zurückgehen. Diese Fähigkeit setzt sich im frühen Iberoromanischen fort, so dass eine weitere Integration stattfindet, eben die einiger Formen von sedere. Stare wandelte sich in Folge der westromanischen i- Prosthese zu estar. <?page no="139"?> 3.2 Grammatikalisierungswege 127 38 Die folgenden Beispiele aus dem Llibre dels feits sprechen nicht gegen diese Beobachtung, da schon im Altkatalanischen estant als Gerundium von ser dient und ser kein eigenständiges Gerundium besitzt: e nos estant axí (Llibre dels feits, Kap. 27, Anfang, S. 66) estant ella viva pres una altra dona (Llibre dels feits, Kap. 27, Anfang, S. 66) Seer und estar können in den thematisierten alt-iberoromanischen Sprachen beide zur Angabe von Positionen verwendet werden. Seer dient darüber hinaus als Possessionsverb im Sinne von „gehören zu“ und in Randverwendungen als Daseinsverb. Mit estar konkurriert es außer bei der Angabe der lokalen Position in der Funktion der Kopula. Die genauen funktionalen Grenzen zwischen seer und estar verlaufen in den älteren Sprachstufen noch anders als heute. estar tritt im Mittelalter erst in bestimmten Bereichen des gesamten funktionalen Spektrums als Konkurrent von ser auf. Antonio Vañó-Cerdá (1982) legt seiner Analyse des Verhältnisses von ser und estar im Spanischen drei semantische Teil-Sphären zu Grunde: (a) eine der relativ-extensionalen Bedeutung (Ortsbeziehungen, emotionaler Zustand, physischer Zustand); (b) eine der intrinsisch-absoluten Bedeutung (Eigenschaften, dauernde soziale Rollen); (c) eine der aktiv-dynamischen Bedeutung („ehrlich sein, freundlich sein“ usw. im Sinne von Verhalten). Er beobachtet, dass estar im Altspanischen nur in der ersten der genannten Teil- Sphären mit ser konkurriert (S. 276, 299). Eindeutige Zuweisungen und Trennungen der Gebrauchskontexte scheinen dabei aber noch nicht zu herrschen: E Sosimas la cato e viola estar alta en el ayre mas de un cobdo (Vañó-Cerdá 1982: 235 = María Egipcíaca) El rey es ya muy viejo, e non ay en el pro ninguna (Ibid., 277 = Calilia e Dimna) [intrinsisch-absolut] Et otrossi como eran omnes sin mesura, fueron muy desmesurados contra el (Ibid., 300 = Primera Crónica) En tod esto los cristianos estauan ya cansados (Ibid., 246 = Poema de Fernán González, 565 ab) Folgaron e dormieron, que eran muy cansados (Ibid., 246 = Poema de Fernán González, 565 ab) Im Galego-Portugiesischen wird estar noch eingeschränkter gebraucht, nämlich offenbar lediglich für momentanen Aufenthalt und metaphorisch bei Funktionsverbgefügen, die eine Emotion angeben. Bei Gefühlsadjektiven dagegen scheint ser die ausschließliche Kopula zu sein. Im Katalanischen hat estar seinen Eintritt in den Variantenraum der Kopula eher über die Ausdrücke von Gefühlszuständen, während es bei räumlichen Angaben nur selten das gewöhnliche ser ersetzt 38 : <?page no="140"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 128 (gal.-port.) E poys foy ena Cidade de Bar [durch die Präposition em in ena eindeutig als „war er“ und nicht als „ging er“ zu lesen] (Huber 1933, 300 = Vida de S. Nicolau, 14. Jh.) Ca se eu seu mandado nom vir, trist’e coitado serei (Dom Gil Sanches, Cancioneiro da Biblioteca Nacional, Nr. 48) mais forçarom-mi os olhos meus…e um cantar que lh’oí, u a vi estar em cabelos, dizend’um som (Osoir’Anes, Canioneiro da Biblioteca Nacional 39 bis) E cada huu dia stav- e perseverav- em orações (Huber 1933, 298 = Vida de Santo Aleixo, 14. Jh.) (akat.) ¿De què plorau? ¿E perquè stau trista? (Llull, Blanquerna, S. 26) En Simon de Montfort era en Murell bé ab vuit-cents hòmens a cavall (Llibre dels feits, Kap. 9, S. 46) Zur Possessionsfunktion der Konstruktion seer de ist noch zu sagen, dass sie eine direkte Konsequenz der lateinischen Konstruktion „aliquod alicuius est“ darstellt. Sie ergibt sich einfach aus der Ersetzung des Genetivs durch die Periphrase „de + NP“. Der Verbanteil der Konstruktion seer de ist allerdings durch die Entwicklung im Iberoromanischen zu erklären, deshalb die Pfeilkreuzung von unten und links neben bei der Angabe seer de, ganz rechts im Quadranten auf der Höhe des Konzepts POSSESSION. Die lateinische Konstruktion esse + Genetiv leitet sich ihrerseits wohl aus der lokalen Positionsangabe ab. Ebenso wie Dinge und Personen in rein räumlicher Hinsicht zueinander in Beziehung gesetzt werden können, so kann man auch weitere Beziehungen zwischen Dingen und Personen festsetzen und beschreiben, die nicht räumlich-wahrnehmbarer Art sind. Nichträumliche Ding-Personen-Beziehungen sind u.a. possessive Beziehungen, Beziehungen der Verfügung (Besitz, Eigentum, Benutzung). Dinge werden Personen zugeordnet, finden durch die Beziehung zu einer Person ihren Platz im sozialen Raum, werden identifizierbar. Diese innerlateinische metaphorische Herleitungsbeziehung wird durch den Pfeil von esse auf Positionsniveau zu esse auf Possessionsniveau erfasst. Da Grammatikalisierungsvorgänge sich aus Innovationen ergeben, denen ganz andere Motive zu Grunde liegen als die, für eine vorgegebene Sprache eine Grammatik zu schaffen, stellt sich wieder die Frage, wodurch das neue Angebot an Possessions- und Kopulaverben angeregt worden sein könnte. Die ökologischen Ausgangsbedingungen sind wohl einerseits in der morphologischen Isolierung des Infinitivs esse zu sehen, der eine Suppletion durch einen regelmäßigen Infinitiv nahe legte - eben den der e-Konjugation angehörenden Infinitiv sedere -, andererseits in der semantischen Nähe der Körperstellungsangabe stare zur Ortsangabe sowie des physischen Kontrollierens durch Halten (habere, tenere) mit der Besitz- und Eigentums-Kon- <?page no="141"?> 3.2 Grammatikalisierungswege 129 trolle schlechthin. Diese Nähe mag ein unmerkliches Hinübergleiten in die entsprechenden Bedeutungserweiterungen begünstigt haben. Die anderen, abstrakteren Werte der auf der y-Achse des gegebenen Diagramms verzeichneten Skala, also Angabe des Daseins und Kopulafunktion, dürften sedere, stare, habere und tenere allerdings nur durch eine bewusste, expressiv-bildliche Verwendung nach den Maximen des auffälligen Redens erlangt haben. Längere Zeit wurden sie wohl als bildkräftige, außergewöhnliche Konkurrenten des erstarrenden, nüchternen esse gebraucht, was schließlich zu ihrer festen Integration in die Grammatik durch eine Neuaufteilung des funktionalen Gesamtraums von Kopula, Possession, Daseins- und Ortsangaben geführt haben dürfte. Die nun folgenden Diagramme III, IVa und IVb stehen in engem Zusammenhang: Der Graph III zeichnet die Wege nach, auf denen die lateinischen Deklinationsparadigmen geschrumpft sind, und dokumentiert so indirekt auch den morphologischen Kasusschwund; die Graphen IVa und IVb repräsentieren die Veränderungen im Bereich der Präpositionen, als deren Konsequenz einige wichtige einfache Präpositionen zu Ersatzmarkierern an Stelle der Kasus wurden. Zuerst soll das Diagramm III (Abb. 13, S. 130) betrachtet werden. Zunächst stellt sich die Frage, inwieweit die Prozesse des Sprachwandels, die bei den Kasus zu beobachten sind, den Charakter einer Grammatikalisierung tragen. Die Paradigmen der verschiedenen Deklinationen verringern sich stufenweise auf immer weniger in Opposition stehende Formen, d.h., die paradigmatische Variabilität nimmt fortwährend ab. Dabei wird eine prinzipielle Stufung der Reduktion des Kasussystems erkennbar, wenn man die romanischen Sprachen insgesamt betrachtet. <?page no="142"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 130 III Grammatikalisierungswege der Kasus (Abb. 13) KLASS/ NOM kasuslose Grundform Arg1 NOMINATIV Non-Arg1 (OBLIQUUS) KONSTIT-STATUS Obj.-Arg2 AKKUSATIV Obj.-Arg3 DATIV Sat ABLATIV Wortgruppenniveau GENETIV MOD respektiv ABLATIV kaus KKK final DATIV instrumental INSTRUMENTAL SOZ komitativ KOMITATIV benefaktiv BENEFAKTIV ablativ ABLATIV ABLATIV ABLATIV LOK2 elativ illativ allativ DIREKTIV superessiv LOK1 inessiv LOKATIV subessiv rel. Nomen | kompl. Postpos. | einf. Postpos. | Kasus <?page no="143"?> 3.2 Grammatikalisierungswege 131 39 Das eindeutige Abbildungsverhältnis gilt im Bereich des zweiten und dritten Arguments allerdings nur für die Objekte. Alle präpositional vermittelten Argumente sind per se aus dem eindeutigen Abbildungsverhältnis „Kasus x-steht-für-Argument x“ ausgeschlossen. Denn der Kasus wird bei präpositionalen Argumenten durch die Präposition bestimmt und nicht durch das Verb, jedenfalls nicht allein und direkt. Solche präpositionalen Argumente kommen bei Verben der Positionsangabe und Bewegung vor, sowie bei Verben der sozialen Beziehung i.w.S. (Kampf u.a.). Der Argument-Charakter ergibt sich aus der Nicht-Weglassbarkeit und/ oder engen semantischen Zugehörigkeit zum Verb. Beispiele (vgl. Rubenbauer/ Hofmann/ Heine 1995: 174; Pinkster 1988: 29): Caesar milites in muro ponit. (ponere-1/ aliquis-2/ aliquid-3/ in aliquo) Consules in urbem convenerunt. (convenire-1/ aliquis-2/ in aliquem locum) Ex arbore pendebat gladius. (pendere-1/ aliquid-2/ ex aliquo) Romani cum Germanis contendunt. (contendere-1/ aliquis-2/ cum alio homine) Eine eins-zu-eins-Zuordnung gilt also für Objekt-Argumente, bei denen das Nomen der Nominalphrasen direkt durch das gegebene Verb regiert wird. Hier repräsentiert der Kasus dann den Status „zweites bzw. drittes Argument“. Allerdings: Auch in diesem Bereich scheint es Ausnahmen zu geben, die zu Zweifeln an dem Prinzip eines eins-zu-eins- Abbildungsverhältnisses Anlass geben. Eine Reihe von Verben nämlich regiert direkt rein nominale zweite und dritte Argumente, die trotzdem nicht im Akkusativ oder Dativ stehen (vgl. Pinkster 1988: 29): Sempronia Scipioni nupsit (Zweit-Argument im Dativ) Pater filii miseretur (Zweit-Argument im Genetiv) Milites ponte utiuntur (Zweit-Argument im Ablativ) Caesar Gallos frumentum flagitabat (Dritt-Argument im Akkusativ) Affecit me dolore (Dritt-Argument im Ablativ) Pinkster nennt solche Ergänzungen allerdings Komplemente und nicht Objekte. Für ihn ist nur dasjenige Zweit-Argument ein direktes Objekt, das sich in der Passivdiathese in ein Subjekt verwandeln lässt, und nur dasjenige Dritt-Argument ein indirektes Objekt, das mit einem Verb des Gebens, Mitteilens, Zeigens oder Nutzens kombiniert wird (1988: 18ff.). Mit Raible kann man die Fälle eines abweichenden Kasusgebrauchs für das Zweit- oder Dritt-Argument als „regelmäßige Ausnahmen“ auffassen (Raible 1980). Es handelt sich um Reste der ehemaligen semantischen Funktionen der Kasus oder aber um Rückfälle in dieselben. D.h., bei einer Reihe von Verben hat der Kasus noch nicht den Übergang in die rein syntaktische Repräsentationsfunktion vollzogen. Dazu noch einmal einige Beispiele: Sempronia Scipioni nupsit (Zweit-Argument im Dativ) (Hier wird Scipio semantisch als Ziel der Heiratsverbindung angesehen. Für diese Funktion ist der Dativ besser geeignet als der Akkusativ, vor allem weil die Frau im römischen Kulturkontext bei der Planung der Heirat nicht die Initiative ergreifen durfte. Das für die Frau reservierte nubere konnte die andere Partei, den Bräutigam, an die sie durch die Heirat gebunden wurde, dementsprechend nicht als dinghaftes Objekt einer von der Frau ausgehenden Heiratsaktivität darstellen. Der Dativ hat hier also auch die Funktion eines Ausweichkasus, durch den dem Mann der Status eines initiativen, nur als indirektes Ziel von der Handlung betroffenen Aktionsträgers bewahrt wurde.) Erste Stufe: Bezeichnung der semantischen Relationen zwischen Verb und Substantiv selber (indogermanische Dialekte und ihre Vorstufen) Zweite Stufe: Anpassung an das Profil der prädikatenlogischen Konstituenten, so wie es Pinkster (1988) herausarbeitet (1. Argument [Nom.], 2. Argument/ dir. Obj. [Akk], 3. Argument/ indir. Obj. [Dat], Satelliten [Abl], Wortgruppenniveau [Gen]) 39 <?page no="144"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 132 Pater filii miseretur (Zweit-Argument im Genetiv) (Hier wird der Sohn als Ursache der Mitleidsempfindung aufgefasst, mit dem Genetiv als Kasus des Ursprungs, der Ursache des Geschehens) Milites ponte utiuntur (Zweit-Argument im Ablativ) (uti heißt „gebrauchen“, entsprechend kann das zweite Argument als Mittel dieses Gebrauchens aufgefasst und mit einem instrumental zu verstehenden Ablativ statt mit dem Akkusativ kombiniert werden) Als regelmäßige Ausnahmen sind diese Formen des Kasus-Gebrauchs also keine Gegenargumente gegen das oben postulierte eins-zu-eins-Abbildungsverhältnis zwischen Kasus und Satzkonstituenten. 40 Wie Lene Schøsler zeigt, ist auch diese Kasuskennzeichnung in vielen Fällen redundant (Schøsler 1984: 53ff.) Diese Anpassung ist im Lateinischen fast ideal verwirklicht, während das Altgriechische und Gotische etwa schon auf dem Weg zu einem einfacheren System sind, da sie keinen Ablativ mehr haben. Dritte Stufe: Nur noch Auszeichnung des ersten Arguments durch eine besondere kasuelle Erscheinungsform zur Unterscheidung von anderen Argumenten und den Satelliten unter den Bedingungen einer stärker variablen Wortstellung. Die anderen Argumente und die Satelliten haben eine gemeinsame Kasusform (Altfranzösisch, Altokzitanisch und älteres Rätoromanisch) 40 Im Graphen ist diese Phase in ihrer Gültigkeit insofern relativiert, als der Obliquus in Klammern gesetzt erscheint. Denn in der Forschung besteht keine Einigkeit darüber, ob in der Iberoromania je ein Obliquus existiert hat. Es ist durchaus möglich, dass das System der fünf Kasus im frühen Romanischen der Iberischen Halbinsel nach einer längeren Periode vielfacher funktionaler Überschneidungen und formaler Assimilationen direkt zu einer kasuslosen Grundform übergegangen ist (vgl. Einleitung der Diskussion der Kasusvorkommen, Kap. 6.4.3). Vierte Stufe: Verlust von Kasusvariation. Es bleibt eine einheitliche Grundform zurück. Die Flexion der Substantive und Adjektive ist nur noch in Form der Pluralbildung und Genusvariation vorhanden (altitalienische Dialekte, romanische Sprachen der iberischen Halbinsel) Im Ergebnis vollendet sich die fortschreitende Syntaktisierung also dadurch, dass die verbleibenden Endungen lediglich Genus- und Numerusinformation tragen und ansonsten nichts anderes repräsentieren als die Wortklasse Nomen selbst. Wortklassen sind ja das Fundament und der Ausgangspunkt jeglicher Form von Wortkombination durch eine Syntax. Reduktion des Paradigmas, Erhöhung der Frequenz für die verbleibenden Kasus verbunden mit einer fortschreitenden Syntaktisierung sind zentrale Merkmale einer Grammatikalisierung. Der Grammatikalisierungscharakter des Kasusschwunds ist offensichtlich. <?page no="145"?> 3.2 Grammatikalisierungswege 133 41 In der Tat werden lokale Bestimmungen ja immer in Bezug auf einen Gegenstand oder ein Ensemble von Gegenständen vorgenommen, die eine Art Rahmen darstellen, so ein Haus, ein Platz, eine Straße, eine Ortschaft, ein Baum usw. In Bezug auf dieses Objekt bestehen Wie werden diese Vorgänge in Diagramm III erfasst? Auf der x-Achse, der Zeitachse, bietet dieser Graph ganz links alle Phasen, die auf dem Grammatikalisierungskanal der Kasusbildung als Entwicklungsstadien zu den Kasus hin anzunehmen sind: relationales Nomen, komplexe Postposition, einfache Postposition, Kasus (vgl. Abschnitt 3.1.2). Agglutinierende Sprachen mit hohem Kasusbestand wie Ungarisch oder Finnisch lassen am besten erkennen, dass diese Phasen realistisch sind und wie sie untereinander zusammenhängen. Für die Kasus der indoeuropäischen Sprachen stellen die drei ersten Phasen allerdings eine reine Vorgeschichte dar, die nur mittelbar durch Spuren belegbar ist. Darum steht nur die Kennzeichnung der letzten Phase direkt unter der x-Achse. Die y-Achse ist von unten nach oben durch zwei Reihen von Angaben gekennzeichnet. Am weistesten links stehen in Großbuchstaben Abkürzungen, die verschiedene semantische Bereiche bedeuten. Eine Übersicht: LOK1 = lokal/ Position LOK2 = lokal/ Bewegung SOZ = sozial TEMP = temporal KKK = kausal-konditional-konzessiv MOD = modal KONST-STAT = prädikatenlogischer Konstituentenstatus gemäß Ebenenschema (vgl. 3.1.6) KLASS/ NOM = Anzeige der Wortart „Nomen/ Substantiv, Adjektiv“ Je weiter unten im Diagramm sie sich befinden, desto konkreter sind die aufgeführten Bereiche, je weiter oben, desto abstrakter. Der semantisch abstrakteste Bereich ist der modale. Darüber hinaus sind dann nur noch syntaktische Aspekte zu nennen, die durch die Kasus repräsentiert werden: der Konstituentenstatus und schließlich die Wortklasse NOMEN selber. Näher an der y-Achse befinden sich Kennzeichnungen, die in normaler Schrift geschrieben sind, also nicht mit Großbuchstaben. Jeweils mehrere solcher Kennzeichnungen sind als Block gestaltet und von den angrenzenden Blocks durch eine Lücke abgegrenzt. Jeder Block bezieht sich auf den links davon stehenden, durch Großbuchstaben abgekürzten konkreteren oder abstrakteren Bereich. Die Blocks führen einzelne Relationen auf, die innerhalb des jeweiligen Bereichs bestehen können. Im konkret-räumlichen Bereich können Beziehungen bestehen, die sich an Bewegung knüpfen (LOK2) oder solche, die sich an räumliche Verteilung und Positionen in der Ruhe knüpfen (LOK1). In LOK2 bestehen Relationen des Ziels (Allativ, Illativ) sowie der Entfernung von einem Ausgangspunkt (Elativ, Ablativ). In LOK1 wurde ein Raum um ein Orientierungsobjekt zu Grunde gelegt 41 . In <?page no="146"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 134 drei Achsen: Erstens die Blickachse, die vom Auge eines gedachten Betrachters ausgeht; zweitens die in der selben Ebene senkrecht dazu befindliche Breitenachse; drittens die senkrecht dazu stehende Ebene, die aus dieser Ebene heraus nach oben und unten verläuft. Befindet sich ein Gegenstand auf der Blickachse zwischen dem Auge des Beobachters und dem Orientierungsobjekt, dann ist er „vor“ dem Orientierungsobjekt, befindet er sich auf der Breitenachse, dann ist er „neben“ dem Objekt, auf der vertikalen Achse kann er „über“ oder „unter“ dem Objekt sein. diesem Raum wurde eine Achse hervorgehoben, da für die Skizzierung der Entwicklung indo-europäischer Sprachen lediglich die Tatsache wichtig ist, dass es zu einem Zusammenfall der Angaben über LOK1 in einem einzigen Kasus, dem Lokativ, gekommen ist. „Superessiv, Inessiv, Subessiv“ stehen also stellvertretend für weitere LOK1-Relationen. Im sozialen Bereich können Relationen des Benefaktivs und Komitativs, also der Begleitung oder des Wirkens-zum-Nutzen-von-jemandem, bestehen, die durch Kasus von Sprachen repräsentiert werden. Einen speziellen temporalen Kasus haben indogermanische Sprachen nicht entwickelt. Deswegen wurde kein TEMP-Bereich aufgeführt. Der Bereich KKK (kausal-konditional-konsekutiv) wurde in Anlehnung an Bernd Kortmann benannt, der sich in einer 1997 erschienenen sprachübergreifenden Untersuchung mit der Komplexität von Konjunktionen in verschiedenen semantischen Klassen beschäftigt hat. Es handelt sich bei KKK um die Gesamtheit der Ursache-Wirkungs-Beziehungen und der Relationen, die sich aus der Verwendung von Mitteln zur Erfüllung eines bestimmten Zwecks ergeben. Kasusrelevant sind hier die Relationen „kausal“, „final“ und „instrumental“. Im Modalen ist die Relation „respektiv“ zu berücksichtigen. Gemeint sind damit Angaben zur Hinsicht, wie sie im lateinischen ablativus limitationis oder im griechischen genetivus respectus gemacht werden. Auf der Höhe des Konstituentenstatus schließlich erkennt man zwei Blocks. Der weiter unten befindliche bezieht sich auf Kategorien der Funktionalen Grammatik von Pinkster: Satellitenstatus, Status des dritten oder zweiten Arguments - entsprechend dem oben Gesagten spezialisiert auf die Objekt-Argumente -, Anzeige von Substantiv-Substantiv-Relationen auf Wortgruppenniveau. Dagegen ist im nächsten Block eine Trennung zwischen dem ersten Argument und einer Restgruppe (Non-Arg1) vollzogen, die im Gegensatz zu diesem Argument 1 steht. Diese Einteilung ergibt sich, insofern als die Stufung der Kasusentwicklung vom Lateinischen zum Romanischen in der vorletzten Phase ein Zwei-Kasussystem aufweist, das bei einigen Sprachen eben noch zur Zeit ihrer Verschriftlichung zu Tage trat. Die Blocks an der oberen y-Achse des Diagramms, die den Konstituentenstatus betreffen, sind also nötig, um die zweite und dritte Stufe dieser prinzipiellen Entwicklung zu bezeichnen (s.o.) Die vierte Stufe wird durch die letzte Angabe gekennzeichnet. Hier sind typische Endungen und die morphologische Variation zwischen Singular und Plural oder auch Maskulinum und Femininum nur noch Kennzeichen der Wortklasse Substantiv oder Adjektiv. <?page no="147"?> 3.2 Grammatikalisierungswege 135 42 Dies scheint ein Gegenargument gegen die zentrale Stellung der Grammatikalisierung im Geschehen des grammatischen Wandels zu sein. Denn dass der Genetiv die Funktionen des Lokativs übernimmt, kann nur aus einer reinen Reanalyse folgen, die offenbar in der Lage ist, die üblichen semantischen Ströme, wie sie in den Grammatikalisierungskanälen der Kasus bei Lehmann verzeichnet sind (2002a: 99), zu unterlaufen. Die andere Frage ist allerdings, ob es sich bei Formen wie Romae oder Taranti überhaupt um Genetive handelt. Hat man es hier vielleicht nicht doch mit Lokativen zu tun, die eben nur homonym zu Genetiven sind? Warum soll in diesem Fall nicht dasselbe Verhältnis vorliegen wie etwa zwischen dem Dativ und Ablativ der o- oder i-Deklination oder dem Genetiv und Dativ der a- oder e-Deklination? Außerdem haben wir in 3.1.2 ja herausgearbeitet, dass ein einmal etabliertes System syntaktischer Kasus auf sehr vielfache Weise zusammenfallen kann, also auch so, dass an einer Stelle Genetiv und Lokativ zusammenfallen. Der Quadrant des Graphen zeigt über Pfeile die Wandelvorgänge in Form von Kasus-Zusammenfall. Die hier vermerkte Information betrifft aber lediglich die funktionale Seite. Die formalen Veränderungen werden nicht durch die Grammatikalisierung, sondern durch Wirkungen von Natürlichkeit und Analogie bestimmt (s.u.). Die Vorgänge auf der funktionalen Seite, die eigentlichen Grammatikalisierungen also, kann man einerseits im Hinblick darauf rekonstruieren, wie das polyfunktionale Spektrum der verschiedenen Kasus im klassischen Latein im Einzelnen gestaffelt war. Andererseits im Hinblick auf den Lautwandel bei den Endungen, wie er in den vulgärlateinischen Texten in Erscheinung tritt. Danach sind folgende Grammatikalisierungswege für die Kasus anzunehmen: Im Bereich von LOK2 fallen Illativ und Allativ zu einem gemeinsamen Kasus „Direktiv“ zusammen, der in der Funktion der lokalen Zielangabe des lateinischen Akkusativs noch erkennbar ist (Romam ire). Der Elativ geht im Ablativ auf. Die Funktionen des alten Lokativs (LOK1) werden im klassischen Latein dann ebenfalls vom Ablativ übernommen. Der Zusammenfall des Lokativs mit dem Genetiv dagegen (Romae esse) ist ein morphologischer Zufall und beruht nicht auf verallgemeinerbaren, universalen Beziehungen 42 . Die Gruppe der sozialen Relationen folgt als nächste auf der y-Achse. Der Benefaktiv geht in der Entwicklung zum Lateinischen hin in den Dativ ein (dativus commodi). Der Komitativ, der letzten Endes in den Ablativ mündet, schließt sich zunächst wohl dem Instrumental an (mit einem Menschen, mit einem Werkzeug [s. Metonymien von Hopper/ Traugott, S. 41 dieser Arbeit]). Dessen Funktionen werden im Lateinischen vom Ablativ übernommen (ablativus instrumenti). Auch die mit dem Instrumental verknüpfte kausale KKK-Relation mündet im Lateinischen in den Ablativ (ablativus causae). Dagegen wird die finale Relation vom Dativ übernommen (dativus finalis), da dieser ja, wie der Akkusativ, eine Art Zielkasus darstellt. Die respektive Relation wird im Lateinischen durch den Ablativ realisiert (ablativus limitationis). Möglicherweise ist dies einfach eine Konsequenz aus dem Status als peripherer Kasus, denn die „Hinsicht“ ist ja nichts anderes als eine Sichtweise, aus der ein Gesamtereignis dargestellt wird. Gegeben ist das Gesamtereignis, diese Aussage wird zusätzlich noch auf eine Sichtweise <?page no="148"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 136 43 Immerhin gibt es im Altgriechischen neben dem peripheren genetivus respectus auch einen respektiven Akkusativ! Dies widerspricht einer strikten Beschränkung von Hinsicht auf Peripherie. bezogen, die folgerichtig peripher einzubringen ist 43 . Von der respektiven Funktion verläuft ein Pfeil direkt zum Ablativ in Satellitenfunktion, da ein eigener respektiver Kasus im Indogermanischen nicht nachweisbar ist. Der Ablativ versammelt im Latein sehr viele unterschiedliche Funktionen, in denen sich eine lange Vorgeschichte von Kasus-Zusammenfällen widerspiegelt. Um es noch einmal zu wiederholen: Im Latein selber sind die Kasus am besten als Abbildung der Distribution der Satzkonstituenten zu beschreiben, so wie es auch verzeichnet ist. Das gesamte rechte obere Viertel des Quadranten schildert die schon mehrfach angesprochene Stufung der Syntaktisierung im Bereich der Kasus. Zu bemerken wäre hier allerdings noch, dass der Genetiv strenggenommen nicht in einen Graphen gehört, dessen Grammatikalisierungswege die Gestaltung des Bereichs „Relation Prädikat-Argumente“ betreffen. Dennoch erschien es aus darstellungstechnischen Gründen angebracht, sich hier den morphologischen Gegebenheiten anzupassen, nach denen der Genetiv als ein Glied der Deklinationen erscheint und zusammen mit den anderen Kasus beschrieben werden sollte. Einen isolierten Graph nur für den Genetiv zu zeichnen wäre zu aufwändig und hätte eine künstliche Abtrennung bedeutet. Der vorliegende Graph führt - wie gesagt - nur die funktionalen Entwicklungsströme auf und verzeichnet nicht direkt, was bei den einzelnen Deklinationen geschehen ist. Nun ist das begleitende formale Geschehen nicht durch Grammatikalisierung bestimmt gewesen, sondern wurde von Tendenzen der Natürlichkeit und Analogie geleitet, die das semantische Fortschreiten immer wieder als korrigierende Reaktionen begleitet haben. Die formalen Änderungen haben, in Wechselwirkung mit den funktionalen Wandelvorgängen, wahrscheinlich eine Entwicklung wie diese durchlaufen: (1) Die gesamte Skala an Deklinationstypen wurde reduziert, indem minoritäre an majoritäre Typen angeschlossen wurden (Integration der e-Deklination in die a-Deklination (dies zu dia), der u-Deklination in die o-Deklination (cornu zu cornus oder vulglat. corno) und Zusammenfall von i-Deklination, gemischter und konsonantischer Deklination zu einem Typ) [Wirkung der Analogie] (2) Die auch dann noch bestehenden formalen Ähnlichkeiten zwischen unterschiedlichen Kasus der selben Deklination bargen viele potentielle Anlässe der Ambiguität in sich, obwohl durch das Abbildungsverhältnis auf die Satzkonstituenten (Ablativ für Satelliten, Genetiv für Wortgruppenniveau, Dativ für drittes Argument usw.) funktional eine stabile Situation entstanden war. In dieser Situation muss die Natürlichkeits-Tendenz, Form- Funktions-Asymmetrien nach Möglichkeit zu beseitigen, trotz der funk- <?page no="149"?> 3.2 Grammatikalisierungswege 137 44 Die Neutra der kleineren Deklinationen fallen im Zuge von deren Integration in die größeren Deklinationen weg. Konsonantische und a-Deklination haben ihre lexikalischen Schwerpunkte beim Femininum und Maskulinum. Die Neutra der o-Deklination werden verteilt: Singularformen auf das Maskulinum, Plurale auf das Femininum. tionalen Stabilität also einen gewissen Druck ausgeübt haben. Dieser Druck verschärfte sich noch unter den Bedingungen des Quantitätenkollapses. Jetzt dürften im Singular folgende Kasusverhältnisse bestanden haben: o-Dekl.: Nominativ (-s) -vs.-Genetiv (-i) -vs.-Dativ/ Akkusativ/ Ablativ (-o) a-Dekl.: Nominativ/ Akkusativ/ Ablativ (-a)-vs. Genetiv/ Dativ (-e) kons.-Dekl.: Nominativ/ Genetiv (-s)vs. Dativ/ Akkusativ/ Ablativ (-e) An den vielen Homonymien lässt sich erkennen, dass die Natürlichkeit notwendig weitere funktionale Reduktionen begünstigen musste. (3) Die durch Grammatikalisierungen geförderte Anreicherung mit Präpositionen dürfte einer solchen Weiterentwicklung zunächst erst einmal die nötige Rückendeckung verliehen haben. Gleichzeitig regten die Dativ/ Akkusativ/ Ablativ-Homonymien, die bei allen Substantiva der o-Deklination und konsonantischen Deklination bestanden, zu einer Reanalyse im Sinne eines Obliquus-Kasus an. Die bestehenden funktionalen Oppositionen wurden also mittels Grammatikalisierung weiter verschoben in Richtung einer Paarung „Nominativ-Obliquus“ (4) Auf diese Weise konnte wieder der Natürlichkeitstendenz, Form- Funktions-Asymmetrien zu beseitigen, entsprochen werden, indem die Restformen des Genetivs sowie die Dativform der a-Deklination durch die neuen Obliquusformen verdrängt wurden; lediglich der Nominativ konnte der Ersetzung standhalten (5) Bei der Herausbildung der Grundform schließlich konnten sich ikonische oder zumindest ikonisch neutrale Pluralformen gegenüber kontraikonischen durchsetzen (was im gallo-romanischen Bereich allerdings erst im Spätmittelalter der Fall war) Soweit die Wechselwirkung zwischen Formen und Funktionen. Auf den eigentlichen Grammatikalisierungskanälen von Genus und Numerus bewegt sich beim Übergang zum Romanischen nicht allzu viel. Die binäre Opposition zwischen Singular und Plural bleibt erhalten. Bemerkenswert ist allerdings, dass die Zahl der Genera auf eine binäre Opposition reduziert wird. Das Neutrum wird aufgegeben. Dieses Verschwinden hat sich weitgehend durch die formalen Umschichtungen der Deklinationen ergeben 44 , wobei allerdings auch hier wieder erst eine entsprechende Reanalyse von Homonymien als Ausdruck einer einzigen Kategorie den Wegfall „sanktioniert“ haben dürfte. <?page no="150"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 138 Eine letzte Bemerkung zu dem Kasusgraphen: Die Grammatikalisierungswege des Relativums und der deklinierbaren Interrogativa sind denen der Substantive und Adjektive genau gefolgt. Insofern gilt Diagramm III auch für die Relativpronomina sowie einige interrogative Determinierer und Pronomina. Ebenso Indefinita und Demonstrativa. Das in dem Graphen beschriebene Grammatikalisierungsgeschehen ist also sowohl projizierbar auf die Relationen zwischen Prädikat und Argumenten oder Satelliten als auch auf die Nominalphrase (vgl. 3.1.5). Die beiden Graphen IVa und IVb- Die Diagramme IVa und IVb widmen sich den lateinisch-romanischen Präpositionen. Diese werden in zweifacher Hinsicht nach und nach zum Kasusersatz: erstens machen sie den Zusammenfall vieler semantischer Relationen in umfassenden Kasus wie Ablativ oder Dativ zum Teil wieder rückgängig, indem sie eine stärkere Differenzierung zwischen semantischen Funktionen erlauben. Sie ersetzen also einerseits die einzelnen semantischen Funktionen der Kasus. Andererseits werden die Präpositionen de und ad herangezogen, um die gleichen syntaktischen Relationen zu repräsentieren, die im Lateinischen durch den Genetiv und Dativ markiert werden. Inwiefern sind beim Auf- und Ausbau des Präpositionenvorrats im Lateinischen Grammatikalisierungsvorgänge zu beobachten? Wie die Kasus, so schließen sich auch die Präpositionen, durch die Anbindung an inhaltliche Felder (lokale Präpositionen, temporale Präpositionen etc.) zu Paradigmen zusammen. Die eher offenen Paradigmen der Adverbien schließen sich zu mehr oder weniger engen Geflechten, die durch eine begrenzte Zahl an Dimensionen und semantisch-funktionellen Oppositionen getragen werden. Ein Beispiel: Die größte Gruppe von Präpositionen zur Ortsbestimmung lässt sich - wie bereits mehrfach angedeutet wurde - auf Achsen ansiedeln, die rund um einen Orientierungsgegenstand (Gebäude, Möbelstück, Buch, Schreibmaschine u.v.a.) angelegt werden können. Es gibt dann verschiedene Paare von Oppositionen: - in Blickrichtung/ Ausrichtung [vor-hinten]: (asp.) ante, delante - en pos de (gal.-port.) deante - em pos de (akat.) davant - enrere (de), darrere (de), rere; post (selten, z.B. quan venc el sol post nós [Llibre dels feits, S. 111]) - quer zur Blickrichtung [neben, spezifisch: rechts - links]: (asp.) al lado de, ribera de; a siniestro de - al lado de, a diestro de (gal.-port.) a par de, de cabo; aa (parte) sestra, a seestroa par de, de cabo; aa (parte) destra, a deestro <?page no="151"?> 3.2 Grammatikalisierungswege 139 45 Dieses Wort für die Bedeutung ‚neben‘ findet sich etwa in der Heiligenlegende der Maria Egipciaca in den Vides de Sants Roselloneses. In der Sterbeszene (Moreno/ Peira 1979: 180) heißt es: Enayxí con él se pensava aysò, él vesec costa lo cap letres en terra escrites […] (Als er dies so bei sich dachte, sah er neben seinem Kopf Buchstaben auf den Boden geschrieben) (akat.) costa 45 , a la dreta, a l’esquerra - vertikal [oben-unten]: (asp.) sobre - so (gal.-port.) em cima de - sô (akat.) sobre - sots, davall, debax de Eine besondere Entwicklung beobachtet man bei einer kleinen Gruppe häufig gebrauchter Präpositionen. Es handelt sich um die Reihe de, con, por, a, en. Diese Präpositionen nehmen zum Teil schon im Latein, spätestens aber im Verlauf des weiteren Sprachwandels immer mehr abstrakte Funktionen an, indem sie instrumentale, kausale und modale Relationen verschiedener Art repräsentieren. Eine Reihe bildet die Gruppe insofern, als sich alle ihre Glieder mit einer Bewegung koppeln lassen. Von einem Ausgangspunkt ausgehend (de) verläuft eine Bewegung einer Person in Begleitung einer anderen Person (con) durch ein Durchgangsgebiet (por) hin zu einem Zielpunkt (a), der dann auch zum Aufenthaltsort wird (en, a). Dass diese Metaphorik tatsächlich den Bild gebenden Hintergrund für die abstrakteren Funktionen ausmacht, lässt sich deswegen vermuten, weil sie sich auch in anderen, sehr weit entfernten Sprachgruppen konstruieren lässt (vgl. Broschart 1994). Auch dort werden instrumentale, kausale, finale und andere abstrakte Verhältnisse durch solche Adpositionen markiert, die in genau der oben geschilderten Weise an die Phasen eines Fortbewegungsvorgangs gekoppelt sind. Innerhalb der Fortbewegung sind nun wieder Ausgangspunkt und Zielpunkt markant. Dies mag der Grund gewesen sein, warum de und a(d) dazu herangezogen wurden, als direkte Ersatzformen des Genetivs und Dativs zu fungieren. Dabei dürfte im Fall des Lateins allerdings das respektive de (= ‚hinsichtlich‘) einen mindestens mit-bestimmenden Einfluss gehabt haben, da es sich semantisch gut eignet, die Neutralisierung der relationalen Vielfalt zu repräsentieren, wie sie vom Kasus Genetiv geleistet wird (genetivus possessivus, obiectivus, subiectivus, partitivus etc.). Die Schließung zu Paradigmen und die Gewinnung immer abstrakterer Funktionen geht mit rebracketing oder anders gesagt Reanalysen einher. Werden komplexe Präpositionen oder Adverbien zu einfachen Präpositionen (de intus de zu dins, de ante zu deante) reduziert, dann werden Knotengeflechte im Konstituentenstrukturbaum in einfache Knoten umgewandelt. Aus einer lexikalischen Umschreibung innerhalb eines großen, offenen Paradigmas wird ein grammatisches Ausdrucksmittel, das im Rahmen eines stärker geschlossenen Paradigmas steht. <?page no="152"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 140 Neben der Paradigmatisierung und Syntaktisierung sind bei der Entwicklung der Präpositionen die Parameter der phonologischen Abreibung (sub zu so, ad zu a, trans zu tras u.a.) und der Koaleszenz in Form einer Klitisierung beobachtbar. Letztere unterscheidet Präpositionen und Adverbien. Während die Ausgangsadverbien wie prope oder supra ihre stärkere semantische Selbstständigkeit durch eine eigenständige Betonung markieren, wird bei den aus ihnen gebildeten Präpositionen (prop, sobre) eine größere Synsemantik spürbar, u.a. dadurch, dass sie häufig unter Aufgabe der Eigenbetonung an das folgende Substantiv, das sie determinieren, proklitisch angelehnt werden. Wie bei den Kasus, so hat man es also auch im Geschehen der Präpositionen-Entfaltung mit einer Reihe von Wandelfaktoren zu tun, die eindeutig Grammatikalisierungscharakter tragen. Die Änderungen im Feld der Präpositionen sollen jetzt an Hand von zwei Diagrammen vorgeführt werden, die aufeinander aufbauen. Der erste dieser beiden Graphen dokumentiert die Vielfalt der alt-iberoromanischen Präpositionen vom semantischen Bereichen LOK1 bis zu MOD (Abb. 14). Auf der x-Achse, der Zeitachse, sind die universalen Phasen der Herausbildung von Präpositionen (vgl. 3.1.2) markiert: Ausgang von einem Adverb oder relationalen Substantiv, komplexe Präposition, dann einfache Präposition, schließlich Amalgamierung. Im Unterschied zur Kasusentwicklung sind alle diese Phasen für den Sprachwandel vom Vulgärlatein zum Iberoromanischen relevant. Darum steht die gesamte Reihe unter der x-Achse. Auf der y-Achse sind wieder unterschiedliche Relationsbereiche vom Konkreteren zum Abstrakteren gehend aufgezeichnet. Man erkennt einige der Abkürzungen vom vorherigen Kasusgraphen wieder. Neu hinzu kommt bei diesem Graphen der Bereich des Zeitlichen (TEMP). Die Blöcke von Angaben, die dann rechts neben den Abkürzungen stehen, sind zum Teil stärker differenziert als in dem vorhergehenden Graphen. Dies gilt für die Bereiche LOK1 und LOK2. Um abzukürzen und verständlicher zu machen, welche Relation jeweils gemeint ist, sind in etlichen Fällen deutsche Präpositionen verwendet worden. Es handelt sich jedoch nur um Hinweise auf durchaus universale, nicht sprachspezifische semantische Kennzeichnungen. So ist etwa an Stelle von „vor“ folgende komplexere relationale Kennzeichnung zu denken: „auf einer Achse, die vom Auge eines Beobachters zum Orientierungsgegenstand führt, zwischen dem Auge und dem Orientierungsgegenstand befindlich“. „auf…zu“ steht für „eine Bewegung in Richtung auf einen Zielort, ohne dass gesagt ist, dass dieser Zielort erreicht wird“ usw. Auf der anderen Seite sind die meisten Bezeichnungen aus dem Kasusgraphen erhalten geblieben und bei der y-Achse von Diagramm IVa wiederzuerkennen, um dem Wechselverhältnis von Kasus und Präpositionen zu entsprechen. Betrachten wir den Quadranten! Im Bereich von LOK1 ist zunächst darauf hinzuweisen, dass es hier zu Entwicklungen kam, die wieder - wie <?page no="153"?> 3.2 Grammatikalisierungswege 141 IVa Grammatikalisierungswege der Präpositionen mit semantischen Funktionen (Abb. 14) Inhalt de, en Ersatz en „als“ de, por MOD respektiv por, en || secundum -> segunt Art und Weise de, con, por, a Vergleichspunkt a Umstand con, en kausal Nomen + causa, gratia 0 propter, ob 0 de, con, po r|| (akat.) per KKK final pro ad, per ad pora, (gal.-port./ akat.) pera, per a || por, a instrumental de, con, por, a, en per „an“, „in“ a, en „vor“ ante ante TEMP „nach“ en pos de „seit“ desde „bis“ usque ad -> 0 fasta „gegen“ contra -> contra SOZ Komitativ con Benefaktiv por, a Ablativ de, ab -> de del LOK2 Elativ ex Perlativ por || (akat.) per per Illativ in en/ em enno Allativ ad a al „auf...zu“ pro ad pora || facia -> faza||contra „bis“ usque ad -> 0 hatta -> fasta „von...an“ de ex de desde superessiv supra supra sobre LOK1 „in/ an“ de intus de intus de (akat.) dins a, en al, enno subessiv sub so, sô „vor“ de (illo) ante delante, (gal-port) deante „hinter“ de ad retro (akat.) darrere/ tras „neben“ ad latus de al lado de „jenseits“ ad illo inde allen(d)||trans „bei“ prope prope (akat.) prop, cerca „um herum“ circa „zwischen“ inter entre Adv/ rel. Substantiv komplexe Präposition einfache Präposition amalgamierte Präp. <?page no="154"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 142 46 In den Dokumenten, die Moreno/ Peira (1979) bieten, erkennt man frühe Fälle von el, in den Homilies d’Organyà und den Furs de València. In den Homilies (Abschnitt Dominica in LXa; Ibid.: 170). heißt es: Sapiats, seinors, que qui màs se trebalarà dels afars de Déu en est segle, major gazardó n’aurà e . l seu regisme. Dagegen schreibt Llull regelmäßig en lo, ebenso die Vides de Sants Roselloneses. schon in der Vorgeschichte der lateinischen Präpositionen - von Adverbien ausgingen. So wurden die lateinischen Adverbien prope und circa im Altkatalanischen zu einfachen Präpositionen gewandelt (prop, cerca). Eine vergleichbare Veränderung ist die präpositionale Verwendung des Adverbs supra, aus denen im Altspanischen und Galego-Portugiesischen sobre wurde. Das komplexe de intus (de + Adverb! intus) wurde im Altkatalanischen zur Präposition dins (vgl. frz. dans). Ähnlich der Übergang von de ante zu deante de. Letztere Angaben stehen in dem Graphen stellvertretend für eine Reihe von Vorgängen, nämlich: de illo ante zu delante de, de ante oder delante de zu denante de. Eine Wandlung, die ein relationales Substantiv impliziert, ist die spätlateinische Bildung ad latus de, die im Iberoromanischen zu den Versionen (asp.) al lado de/ (gal.-port.) ao lado de wird. Diese Veränderung vollzieht sich ganz innerhalb des ersten, am weitesten links stehenden Sektors des Kanals, lado ist auch im Spanischen und Portugiesischen ein relationales Nomen. Semantisch fällt die Verschiebung der Bedeutung von trans auf, das nach einem spätlateinischen Lautgesetz auf dem Weg zum Spanischen sein -nverloren hat: trans bedeutete noch „jenseits“, tras steht für „hinter“. Beide Relationen sind vergleichbar, da „jenseits“ eine Position „hinter“ einem relativ großen Bezugsobjekt von geographischer Dimension ist. Der Repräsentant der „jenseits“-Relation seinerseits wird im Altspanischen von dem komplexen Adverb ad illo inde her erneuert, das sich durch Lautwandel zu allend oder allen verdichtet. Ansonsten beobachtet man bei den LOK1-Präpositionen verschiedene Lautwandel-Prozesse, die zu einer reduzierten oder veränderten Lautsubstanz führen: in zu en bzw. em, sub zu so bzw. sô, inter verändert sich per Metathese und Quantitätenkollaps zu entre. Der Gegensatz zwischen pro und ante wird zu Gunsten von ante neutralisiert. Besonders im Bereich der lokalen Präpositionen der Bewegung (LOK2) reicht der Wandel in den Sektor der amalgamierten Präpositionen hinüber (del, enno, al). Dabei ist enno eine besonders altertümliche Form, die im Cid zwar noch lebendig erscheint, im weiteren Verlauf des Altspanischen jedoch bald aufgegeben wird. Andererseits entwickeln sich im Portugiesischen allmählich noch kürzere Amalgame von em: no, na usw. Allerdings wird diese Amalgamierung in den ersten Jahrhunderten der Verschriftlichung noch kaum genutzt. Das Galego-Portugiesische zieht lange Zeit die nicht verschmolzenen Kombinationen vor: en o, en a usw. Beim Katalanischen scheint es ähnlich gewesen zu sein, obwohl sich frühe Belege für das Amalgam el finden 46 . Bemerkenswert ist die Neutralisierung der Differenzierung zwischen ex (Entfernung von einem umschlossenen Ausgangspunkt) und ab/ de (Ent- <?page no="155"?> 3.2 Grammatikalisierungswege 143 fernung von einem Ausgangspunkt im freien Gelände) zu Gunsten von de. Der Perlativ wird im Altkastilischen und Galego-Portugiesischen durch die Präposition por zum Ausdruck gebracht, die sich per Metathese aus (lat.) pro entwickelt hat. Pro bedeutete „vor“, doch eine Pfeil-Verbindung zwischen „vor“ und „Perlativ“ wäre im obigen Diagramm zu verwirrend gewesen, so dass darauf verzichtet wurde. Die ausführliche Geschichte von pro wird im folgenden Diagramm IVb gezeigt. Im Katalanischen hat sich das alte lateinische per zur Bezeichung des „durch“-Verhältnisses erhalten. Sowohl Form als auch Funktion sind hier auf dem Weg zum Romanischen gleich geblieben. Zum Ausdruck der Relation „auf…zu“ konkurrieren verschiedene Präpositionen: pora, faza und contra. Während faza auf facia zurückgeht, das mit dem lateinischen facies zusammenhängt, hat pora seinen Ursprung in der Präpositionenkombination pro ad, übersetzbar etwa durch die Formel „nach vorne hin zu“. Durch Assimilation wird dieses pora im weiteren Verlauf der Sprachgeschichte zu para. Im Galego-Portugiesischen und Alt-Katalanischen existiert die Version pera, die sich nicht von pro ad, sondern offensichtlich von per ad herleitet. Contra seinerseits stellt eine Verwendung dar, in der eine Metapher aus dem sozialen Bereich ausgenutzt wird: So wie ein Mensch sich gegen einen anderen richten und gegen ihn angehen kann, kann er sich in seiner Bewegung an einem Objekt ausrichten, auf das er sich zu bewegt. Wenn wir den Quadranten weiter in Richtung der y-Achse nach oben gehend betrachten, folgt eine Gruppe von Präpositionen, die soziale Relationen bezeichnen. Das Lateinische besitzt für den Benefaktiv die einfache Präposition pro, die den Ablativ regiert und in Koexistenz bzw. Konkurrenz zum dativus commodi gebraucht werden kann (pro patria mori). Diese Verwendung erhält sich in (asp./ gal.-port.) por. Zusätzlich übernimmt die Präposition a im (Alt-)Iberoromanischen die Funktion, einen Benefaktiv zu bezeichnen. Der Komitativ wird im Lateinischen durch cum markiert, das sich im Iberoromanischen zu con wandelt. Im temporalen Feld sind einige Präpositionen Fortsetzer der lateinischen einfachen Präpositionen. Aus der komplexen Verbindung de ex de wird die einfache Präposition desde. Bei en pos de dagegen dürfte es sich um eine Periphrase handeln, die sich erst in frühromanischer Zeit herausgebildet hat. Jedenfalls könnte pos vor en pos de existiert haben. So verzeichnet Georges zwar nicht die Periphrase, wohl aber eine Form pos, die sich in Inschriften und bei Quintilian finde (1992, Bd. 2 : 1801). Lat. usque ad wird durch die arabische Präposition hatta ersetzt, obwohl usque ad an sich lautlich stark genug für eine Erhaltung gewesen wäre. Im Französischen etwa wird usque ad in der Form jusqu’à bis zur Gegenwart fortgeführt. Sowohl usque ad als auch hatta sind in ihrer temporalen Verwendung Metaphorisierungen von ursprünglich lokalen Verwendungen, die auch parallel zu den dominierenden temporalen Gebrauchsweisen weiter geführt werden. Auf dieses Verhältnis verweisen die nach oben gehenden, vertikalen Pfeile bei diesen Präposi- <?page no="156"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 144 47 Menéndez Pidal verzeichnet manche der hier aufgeführten Relationen nicht. Andererseits tauchen Kategorien, die er verwendet, nicht in der Tabelle auf. Die Kategorie materia (física o asunto de una comunicación) konzentriert sich auf die Eigenart des durch die Präposition bestimmten Substantivs und ist nicht relationaler Natur. Deswegen wurden Zuordnungen zur Kategorie materia in der Tabelle umgedeutet. Manche Unterschiede zur Orientierungsbasis sind nur terminologisch. Was Pidal medio nennt, heißt in der Tabelle „instrumental“. Allerdings ist hier auch sachlich etwas verändert worden. Alle Verwendungen von en, die Pidal als medio, also instrumental einstuft, wurden anders gedeutet, überwiegend als respektiv (z.B. ganar en = ‚hinsichtlich einer bestimmten Sache zunehmen, stärker, intensiver werden‘). Bei einigen der von Pidal aufgeführten Verwendungen ist die durch die Präposition repräsentierte Relation stark verblasst. In Wendungen wie estar en yda oder ser en pro de ist en Glied eines Funktionsverbgefüges und insofern erstens fixiert und zweitens zum Prädikatsbereich gehörig. Eine Relation zwischen einem Prädikat und einem Argument oder einer Prädikation und einem Satelliten wird durch solche gebundenen Präpositionen nicht mehr ausgedrückt. Der Gebrauchskontext „Funktionsverbgefüge“ wurde daher in der obigen Tabelle nicht berücksichtigt. Bei Verbindungen mit Verben wie garnir de, enchir de oder uenir por wurde je nach Verb eigenständig entschieden, wie die Präposition zu verstehen ist, ohne sich an Pidals Einordnungen und Kategorien zu halten. Die Befunde Pidals werden in der Tabelle also nicht bloß wiedergegeben, sondern zum Teil interpretiert und in relationale Konzepte verwandelt. tionen. Im Gegensatz zum komplexem usque ad ist hatta morphologisch einfach. Die gesamte obere Hälfte des Graphen, in der die Präpositionen der KKK- und MOD-Relationen thematisiert werden, wird beherrscht von der Gruppe der häufigsten und wichtigsten präpositionalen Funktionswörter, die wir oben schon einmal herausgestrichen haben: de, con, por, a und en. In der Tat verkörpern diese fünf Elemente vielfältige abstrakte Funktionen. Dies zeigt die Tabelle auf der folgenden Seite. Man muss zu ihrem besseren Verständnis allerdings ihre Basis bedenken. Die Tabelle ist auf der Grundlage der Beobachtungen zum Präpositionen-Gebrauch erstellt worden, die Menéndez Pidal in seiner Cid-Grammatik zusammengetragen hat (1976: 376ff.). Das Altspanische des Cid liegt zeitlich am frühesten von allen ausführlicheren Texten unter den ersten Sprachdokumenten der iberischen Halbinsel, von seiner Vorgeschichte her ist dieses Epos außerdem einer Schicht der oralen Schriftlichkeit, basierend auf dem Merk- und Darstellungsvermögen der Spielmänner, zuzuordnen. Die Tabelle zeigt also einen Zustand, in dem der Sprachgebrauch noch nicht durch neue Ausdrucksformen bereichert ist, die dann innerhalb der auch medialen Schriftlichkeit hinzukommen, etwa durch neue präpositionale Umschreibungen. Einen Zustand, der vom authentischen mündlichen Sprachgebrauch des im Frühmittelalter entstandenen romance nicht allzu weit entfernt sein dürfte 47 . <?page no="157"?> 3.2 Grammatikalisierungswege 145 48 Die Beispiele der Tabelle sind auch für das Galego-Portugiesische und Katalanische repräsentativ. Belege dafür: (gal.-port.) Art und Weise: en gran coita, cõ grande alegria; kausal: por tal cajom; instrumental: a todo meu poder (akat.) Art und Weise: de grat; kausal: per aquestes rahons; „als“: haver a muller de con por a en Inhalt departir de, dezir mal de - - - fablar en, alegrarse en Ersatz - - - - estos duelos en gozo se tornarán „als“ auienlo de ganançia - otorgar por, lamar por - - Respektiv - - por espaçio, por razón - en el nombre de ganar en, creçer en, ser abiltado en Art und Weise de grado, de coraçon e alma con grand ondra por cuer, por cuenta a grant ondra - Umstand - con el pauor - - biue en deliçio en paz o en guerra Kausal del gozo lorauan con el pauor por mi, por miedo - - Final - - enuiar por, uenir por ¿a qué? a su pro - instrumental dixo de la su boca pagar le hemos de heredades garnir de enchir de con mis manos cargar con grandes aueres ueran por ojos a dientes pagar en oro Die Tabelle 48 führt vor, dass im Bereich der abstrakteren semantischen Relationen sowohl in onomasiologischer als auch semasiologischer Hinsicht ein Mehrfach-Zuordnungs-Verhältnis bestand. Die Zuordnungen der Präpositionen zu den Relationen, die sie repräsentieren, sind derartig offen und ungenau, dass man fast von dem Prinzip ausgehen könnte, dass die Gruppe de-con- <?page no="158"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 146 por-a-en insgesamt diejenigen Funktionen übernommen hat, die im lateinischen Kasussystem durch den Ablativ repräsentiert wurden. Die Gruppe wäre als ganze ein Ersatz des Ablativs. Doch diese Interpretation wird der Situation auch wieder nicht gerecht, da man immer wieder Lücken in der polyfunktionalen Ausstattung der Präpositionen erkennt. Zwar kann jede der fünf Funktionswörter mehrere semantische Relationen realisieren, aber nie alle. Die Zahl der Funktionen, die nicht realisiert werden können, hält sich bei jeder der fünf Präpositionen ungefähr die Waage mit der der realisierbaren. Umgekehrt wird zwar jede Funktion durch mehrere konkurrierende Präpositionen vertreten, lediglich die instrumentale Relation kann jedoch durch alle fünf Präpositionen repräsentiert werden. Dies bedeutet, dass man die semantischen Bewegungen von dem konkreteren Bereich in den abstrakteren hinein, die bei den fünf Präpositionen zur Übernahme der verschiedenen abstrakteren Funktionen geführt haben, nicht en bloc verzeichnen kann, sondern im Einzelnen beschreiben muss. Das ist die Aufgabe des folgenden Graphen IVb, da entsprechende Pfeilverbindungen im Graphen IVa nicht mehr untergebracht werden konnten. Das Resultat wäre vollkommen unübersichtlich geworden. Darum verzeichnet IVa lediglich kleine Listen derjenigen konkurrierenden Präpositionen aus der Fünfer-Gruppe, die für die Erfassung und kommunikative Vermittelung einer bestimmten Relation jeweils zur Verfügung standen. Diese Listen sind fett hervorgehoben. Ihre Gültigkeit kann man an Hand der obigen Tabelle nachvollziehen. Neben den fettgedruckten Listen sind in der oberen Hälfte des Quadranten noch andere Entwicklungen vermerkt. So lautet die wichtigste Präposition zur Markierung kausaler Verhältnisse im Altspanischen und Galego- Portugiesischen por (im Sinne von ‚wegen‘). Die lateinische Formulierung „Nomen im Genetiv + ablativisches causa oder gratia“ sowie die einfachen lateinischen Präpositionen propter und ob sind im romance aufgegeben worden, was der Graph vermerkt. Dagegen hat das eine Hinsicht ausdrückende lateinische secundum (gemäß, nach) in allen drei hier thematisierten romanischen Sprachen einen Nachfolger gefunden, dessen Herkunft aus der Mündlichkeit deutlich an bestimmten Lautmerkmalen wie intervokalischer Sonorisierung oder Endungsschwund erkennbar ist: (asp.) segunt, segund; (gal.-port.) segundo; (akat.) segons. Die finale Relation wird, obwohl in beschränktem Maße durch por und a ausdrückbar, von der Präposition pora bzw. pera beherrscht. Dass diese Präposition ein finales Verhältnis auch in Kombination mit Substantiven markiert und insofern als Kasusersatz gelten kann, demonstriert folgender Satz aus Menéndez Pidals Cid-Grammatik: pora las vistas (Übs.: „für die Zusammenkunft/ Unterredung“, vgl. Alonso 1986: 1627) se adobó (1976: 387). Pera wird im Galego-Portugiesischen und Altkatalanischen verwendet und geht zurück auf eine Verbindung von per und ad. Hier hat sich also das alte lateinische per erhalten, das im Kastilischen gänzlich durch den pro-Nachfolger por verdrängt <?page no="159"?> 3.2 Grammatikalisierungswege 147 49 Im Galego-Portugiesischen wird per außerdem noch in bestimmten Nischen des instrumentalen Bereichs eingesetzt. So bezeichnet es den Vermittler und ist Teil fester Wendungen wie per força. wurde. Immerhin hat das Galego-Portugiesische per nicht in dem Maße am Leben gehalten wie das Katalanische. Zur Bezeichnung des Perlativs sowie im instrumentalen Feld greift Galego-Portugiesisch auf por und nicht auf per zurück 49 . Dagegen hat das Katalanische im Perlativ immer noch per und verwendet es auch, um instrumentale Verhältnisse auszudrücken. Es wird hier wie (asp.) por gebraucht und lässt sich wie dieses außerdem zur Markierung des Kausalen benutzen. Im Katalanischen führt also eine historische Verbindungslinie vom lateinischen per im Sinne von „durch“ zur instrumentalen und dann zur kausalen Funktion, was im Quadranten des Graphen durch entsprechende Pfeile gekennzeichnet ist. Das Diagramm IVa soll die Präpositionen der thematisierten alt-iberoromanischen Sprachen möglichst umfassend dokumentieren. Trotzdem mussten aus Platzgründen relevante Informationen unterdrückt werden. Vor allem im Bereich von LOK2 fehlt Einiges. So muss man nachtragen, dass Altkatalanisch zum Ausdruck von „auf…zu“ andere Präpositionen gebraucht, nämlich auf (lat.) versus/ versum zurückgehendes vers, außerdem sobre, schließlich die auf (lat.) caput zurückführbare Verbindung cap a, die ja noch heute frequent ist. Zweitens ist der Komplex der alternativen Gesichtspunkte der Positionsbestimmung zu erwähnen, die innerhalb von LOK1 mit dem „aufunter/ links vonrechts von/ vor-hinter“-Achsensystem konkurrieren. Hier sind folgende Zusammenstellungen nachzuliefern: (Kreis und Mittelpunkt werden wechselweise zu thematisiertem Gegenstand und Orientierungsgegenstand: ) • (Orientierungsgegenstand = alles, was ungefähr in Kreisform um etwas herum angeordnet ist: ) (asp.) en medio (de) + Substantiv (gal.-port.) em meo de (akat.) en lo mig de • (Orientierungsgegenstand = alles, was einen ungefähren Mittelpunkt zu Gegenständen bildet, die in Kreisform angeordnet sind) (asp.) derredor de + Substantiv; Substantiv + enderredor (gal.-port.) arredor de + Substantiv; d’arredor de + Substantiv (akat.) a derredor de + Substantiv; en gir (de) + Substantiv • (Interesse der Ortsbestimmung: Abstand zwischen zwei Orten [nah-fern]) (asp.) acerca de, cerca de - luenne de (gal.-port.) perto de, preto de, acerca de, a preto de, d’aprés de - alongado de (akat.) prop de - lluny de <?page no="160"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 148 • (Interesse der Ortsbestimmung: auf der einen oder anderen Seite eines Hindernisses? [diesseits-jenseits]) (asp.) aquend + Substantiv - allen(d) + Substantiv (gal.-port.) aquem (de) - alem (de) (akat.) deçà de - dellà de • (Interesse der Ortsbestimmung: noch im Ausdehnungsbereich des Bezugsgegenstands oder nicht? ) (asp.) dentro de - fuera de (gal.-port.) dentro de - fora de (akat.) dins - fors de • (ein Orientierungsgegenstand jenseits eines Zwischenraums, also das „Gegenüber“: ) (asp.) escontra, escuentra, contra; (gal.-port.) escontra; (akat.) contra Formal interessant ist schließlich, dass die alt-iberoromanischen Sprachen in einem gewissen Maß auch einfache Präpositionen untereinander kombinieren konnten und über Wendungen aus Präpositionen mit postponierten Adverbien verfügten, mit denen man das zu markierende Substantiv umklammern konnte. Solche formalen Verhältnisse herrschen vor allem in der LOK2-Gruppe der Bezeichnungen des Passierens von geographischen Erhebungen: • [an…hinauf; an…hinab]: (asp.) [por] + Substantiv + ayuso; [por] + Substantiv + arriva • (gal.-port.) a emproo per + Substantiv; per + Substantiv + afesto • (akat.) per + Substantiv + enjós (pel puig enjós); tro sus a (tro sus a la serra) + Substantiv Diese komplexen präpositionalen Wendungen sind in Epen und Chroniken keine Seltenheit (Truppenbewegungen) und können auch in Urkunden zur dynamischen Umschreibung von Grenzen verwendet werden. Damit können wir zum Graphen IVb übergehen. <?page no="161"?> 3.2 Grammatikalisierungswege 149 IVb Grammatikalisierungswege der wichtigsten Präpositionen (Abb. 15) Obj-Arg 2 (Pers.) a Obj.-Arg 3 ad a Wg-Niv de de Inhalt de en Ersatz por en „als“ por MOD respektiv de por Art & W. de con por a Vergleichsp. a Umstand con en kausal de con por KKK final por a instrument. de con por a en SOZ komitativ cum con benefaktiv por ablativ de, ab de LOK2 elativ ex illativ in en allativ ad a perlativ por adessiv ad a LOK1 inessiv in en „vor“ pro LATEIN ROMANISCH <?page no="162"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 150 Graph IVb - Das zweite Diagramm zu den Präpositionen greift die Informationen des vorherigen Diagramms auf, wobei es nur die Gruppe de-con-por-aen thematisiert. Im vorigen Diagramm fehlten ja Pfeile, die für diese Präpositionen die Gewinnung abstrakterer Funktionen und die fortschreitende Syntaktisierung aufgezeigt hätten. Aufgabe des Diagramms IVb ist es, diese Verbindungen zu demonstrieren. Auf der x-Achse sind lediglich die Sprachen benannt, die Ausgangs- und Zielpunkt der Entwicklung bilden, da sich das Geschehen morphologisch in einem einzigen Feld abspielt, dem der einfachen Funktionswörter. Eine Auftrennung der Zeitachse in verschiedene Sektoren ist also nicht nötig. Im unteren Teil der y-Achse erkennt man die drei (relativ) konkreten semantischen Bereiche LOK1, LOK2 und SOZ, in der Mitte KKK-Relationen und MOD-Relationen, im oberen Teil die Bezeichnungen der Satzkonstituenten nach Pinkster. Dabei ist wieder zu beachten, dass - wie beim Kasus- Graphen - Arg2 und Arg3 genauer als Obj.-Arg2 bzw. Obj.-Arg3 bezeichnet werden, da das eins-zu-eins-Abbildungsverhältnis nur in Beziehung auf solche Argumente gilt, die Objekt-Charakter tragen. Präpositionale Komplemente, wie sie etwa in Kombination mit poner (poner algo en alguna parte) oder estar (estar en alguna parte) auftreten, werden in ihrem semantischen Verhältnis zum Verb wesentlich durch die gegebene Präposition mit bestimmt. Dagegen werden Objekte entweder durch das Verb selber unmittelbar regiert oder aber wenigstens in ihrer semantischen Rolle allein durch das gegebene Verb bestimmt (dar + a-Nomen => a-Nomen ist Empfänger; mostrar + a-Nomen => a-Nomen ist Adressat usw.). Wie sehen die Entwicklungen aus, die in dem Quadranten beschrieben werden? Einerseits wird gezeigt, welche lateinischen Vorläufer hinter den romanischen Präpositionen stehen. Dies impliziert verschiedene lautliche Veränderungen, die zum Teil schon erwähnt wurden. Phonetisch hat sich allerdings nicht viel gewandelt, de ist auf seinem Weg vom Lateinischen zum Romanischen sogar fast konstant geblieben. Umfangreicher gestalten sich dagegen die Bewegungen im funktionalsemantischen Bereich. Man erkennt im Quadranten von links nach rechts gehend fünf Netze aus horizontalen, transversalen und vertikalen Pfeilen, je eines für eine der fünf thematisierten Präpositionen. Jedes dieser Netze weist zwei lange vertikale Achsen auf. Die jeweils linke dieser Geraden oder Pfeile geht vom jeweiligen lateinischen Etymon aus, die jeweils rechte vom daraus resultierenden romanischen Wort. Über die linke Achse und die an ihr hängenden Pfeile werden immer solche Verbindungen zwischen abstrakteren und konkreteren Funktionen beschrieben, die sich schon innerhalb des Lateins ausgebildet haben. In diesem Fall sind die verschiedenen Funktionen im Romanischen lediglich fortgesetzt worden, wobei der Lautwandel zur Folge hat, dass diese Funktionen im Romanischen durch eine phonetisch etwas veränderte Form fortgeführt werden. So lassen sich Umstandsangaben schon im Lateinischen durch ein begleitendes cum verdeutlichen. Wenn nun <?page no="163"?> 3.2 Grammatikalisierungswege 151 auch im Romanischen Umstandsangaben durch con markiert werden können, so ist dies ein genauer Fortsetzer der lateinischen Möglichkeiten, in lautlich etwas abgewandelter Form. Entsprechendes wird im Schema vermerkt, insofern als zu dem con, das auf der Höhe der y-Achsen-Angabe „Umstand“ steht, ein längerer Pfeil führt, der von der linken Achse des zweiten Pfeilnetzes ausgeht, die ihre Wurzel in cum hat. Genauso müssen die Angaben für de, pro, ad und in gelesen werden. Nun gibt es andere Funktionen, die erst im Romanischen dazugekommen sind, etwa der Gebrauch von con zur Markierung eines instrumentalen Verhältnisses. Um zu zeigen, dass solche weiteren Entfaltungen des Funktionenfächers einer gegebenen Präposition erst innerhalb des Romanischen zu Stande kommen, weisen die Netze eben auch eine rechte Achse auf. An dieser Achse hängen alle Pfeile, die auf neue Funktionen verweisen, die im Lateinischen noch nicht zum Funktionenspektrum der beschriebenen Präposition gehören. Dies gilt zum Beispiel für die meisten nicht-lokalen Funktionen von a. Nun zu den einzelnen Pfeil-Netzen! Das de-Netz zeigt an seiner Basis LOK2-interne Verschiebungen. (lat.) ex wird aufgegeben, auch ab verschwindet, und de, das ursprünglich nur eine Bewegung von einem höheren Ort herab bezeichnet, wird zum Allein-Repräsentanten der elativischen und ablativischen Relationen (vgl. Graph IVa). Das de in der Bedeutung „von…herab“ wird schon im Lateinischen herangezogen um das Thema eines Textes (de bello gallico; dicere de aliquo) oder eine Hinsicht/ Entsprechung (de alicuius sententia id facere; bene mereri de aliquo [sich verdient machen hinsichtlich einer Person]) zu bezeichnen. Die Metapher des Blicks von oben herab auf etwas hinunter impliziert Überblick oder eine Perspektive, ein Bild, das sich für die Hervorhebung von Textthemen oder die Bezeichnung eines geistigen Blickwinkels eignet. De als Markierer von Themen, über die man spricht oder schreibt, existiert im Romanischen fort (departir de), nicht jedoch die respektive Funktion von de, die von anderen Präpositionen übernommen wird. Ebenfalls schon im Latein sind erste Ansätze einer instrumentalen (de suo) und kausalen (gravi de causa) Verwendung gegeben. Beide setzen sich im Romanischen fort: dixo de la su boca (instr.), del gozo lorauan (kaus.). Die instrumentale und kausale Gebrauchsweise wurzeln insofern in der ablativischen Basisfunktion von de, als sie durch eine Art „Kraftquellen“-Metapher repräsentiert werden: de suo (nur auf der Grundlage der eigenen Kräfte), gravi de causa (ein Einfluss, der sich von einer schwerwiegenden Ursache herleitet). Erst zaghaft deutet sich im altlateinischen Kontinuum ein Gebrauch im Sinne einer Markierung von Konstituenten auf Wortgruppenniveau an. Für das klassische Latein sind vor allem partitive Konstruktionen bekannt: quis de plebe Romana? (Rubenbauer/ Hofmann/ Heine 1995: 147). Darum wurde der Pfeil hier gestrichelt. Erst in der Entwicklung zum Romanischen hin nämlich <?page no="164"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 152 gewinnt diese Form die Bedeutung eines regelrechten Genetiv-Ersatzes, was durch einen durchgehenden Pfeil angedeutet wurde. Obwohl lokal-ablativische Präpositionen in vielen Sprachen der Welt als Generalmarkierer von Nominalattributen herangezogen werden, ist es im Fall des Lateins wahrscheinlich, dass es die respektive Verwendung ist, von der der Gebrauch als genereller Genetiversatz im Wesentlichen seinen Ausgang nimmt. Der Genetiv neutralisiert viele speziellere Relationen, was sich in seiner Polyfunktionalität ausdrückt: Genetivus possessivus, obiectivus, subiectivus, partitivus, materiae, qualitatis und explicativus. Vor allem das possessive Verhältnis, aber auch andere dieser Relationen können nun günstig durch die Wendung „im Hinblick auf, in Beziehung auf“ wiedergegeben werden. Der possessive Genetiv hat die Funktion einer Referenzangabe, bei der etwas in Beziehung auf etwas anderes identifiziert wird. Beim objektiven oder subjektiven Genetiv werden Handlungen rückgebunden an ihre Träger oder Personen und Dinge, die von ihnen betroffen sind. Ein Ding wird also betrachtet im Hinblick auf seinen Besitzer, eine Handlung im Hinblick auf den, der sie ausführt usw. Immerhin eignet sich für die Darstellung des Partitivus die konkrete ablativische Ausgangsbedeutung von de besser als die respektive: ‚etwas von etwas wegnehmen, einen Teil wegnehmen‘. Vermutlich haben sowohl die konkrete LOK2-Basis als auch die respektive Verwendungsweise einen gewissen Anteil an der Formung und Förderung des generellen präpositionalen Genetiversatzes. Eine wirkliche Eigenentwicklung des Romanischen scheinen eigentlich nur Gebrauchsweisen zu sein, die man als Angabe über die Art und Weise eines Tuns auffassen muss: de coraçom e alma, de grado. In diesen Wendungen erscheinen Herz, Seele und Wohlgefallen als Gefühlsquellen, aus denen das Subjekt während des eigenen Handelns schöpft. Insofern speisen sich diese Aussageformen direkt aus der Idee der Herkunft, also der ablativischen Basisfunktion von de. Dies und die romanische Herkunft werden durch den Pfeilverlauf der rechten Achse des de-Netzes beschrieben. Das zweite Netz zeigt die Sprachwandelvorgänge im Feld von cum. Fast alle Funktionen sind hier schon im Latein gegeben: die komitative (cum amico esse, cum legionibus venire) die Angabe von Umstand (cum cruciatu necare) und Art und Weise (multis cum lacrimis). Die dahinter stehende Metaphorik ist offensichtlich: So wie ein Mensch einen anderen bei einerm Tun begleitet, begleitet ein Vorgang einen anderen (Art und Weise, Umstand). Im Altspanischen und Galego-Portugiesischen werden die überkommenen Verwendungsweisen von cum stärker entfaltet, con wird häufiger als altlateinischklassisches cum in diesen Funktionen gebraucht: con grand ondra, con el pauor. Außerdem kommt eine Funktion hinzu, die sich am besten metonymisch aus der Angabe des Umstands ableiten lässt: die Markierung einer kausalen Relation (con el pauor). Ebenfalls erst ins Romanische gehört die Herausbildung der instrumentalen Funktion: con mis manos. Das dahinter stehende Bild ist wieder das einer Begleitung (ein Gegenstand als Begleiter und Mit- <?page no="165"?> 3.2 Grammatikalisierungswege 153 50 In der Entwicklung zum Altkatalanischen hin wird cum aufgegeben. Das entsprechende katalanische Netz müsste vom ablativischen ab ausgehen, das die komitative Funktion einschließlich abstrakterer Funktionen wie der instrumentalen erst im Altkatalanischen selber gewinnt. Der Quadrant des Graphen ist allerdings durch die gegebenen fünf Netze schon vollständig gefüllt. Daher wurde auf das katalanische ab-Netz verzichtet. wirkender eines Menschen in seinem Tun), d.h., die neue Funktion kann direkt auf die komitative Basisfunktion von con zurückgeführt werden 50 . Ungefähr in der Mitte des Quadranten liegt das pro-Netz. Pro gehört im Lateinischen in seiner konkretesten Bedeutung dem LOK1-Bereich an und bezeichnet eine „vor“-Relation (copias pro oppido collocare). Auf dem Weg zum Romanischen tauschen „r“ und „o“ ihre Plätze, außerdem wandelt sich die Bedeutung. Por wird im Romanischen zur LOK2-Präposition und repräsentiert die „durch“-Relation (por Burgos aguijaua). Dies könnte von zwei Faktoren beeinflusst worden sein. Sollte pro häufiger mit Bewegungsverben kombiniert worden sein, dann könnte die Bindung der „vor“-Angabe an die Vorstellung von Fortbewegung zur Idee einer ständigen Bewegung nach vorn geführt haben. Von hier aus liegt die perlativische Relation metonymisch „greifbar“ nahe. Auf der anderen Seite dürfte die durch die Metonymie entstandene lautliche Analogie zu (lat.) per dieses neue Verständnis begünstigt haben. Das altspanische und galego-portugiesische por weist viele Funktionen auf. Schon fünf dieser Funktionen sind bereits im Latein fertig entwickelt: die Markierung einer benefaktivischen Relation (pro patria mori); eine finale Gebrauchsmöglichkeit (pro libertate pugnare [um die Freiheit zu erlangen/ bewahren]); die Hinsicht/ Entsprechung (pro temporibus [den Zeitverhältnissen entsprechend]); die explizite Statusangabe im Sinne von „als“ (pro cive se gerere), die im Lateinischen ja meistens implizit durch Gleichsetzungskonstruktionen mit Kasusverdoppelung im selben Satz ausgedrückt wird; schließlich die Angabe, dass etwas als Ersatz für etwas anderes fungiert (pro consule). Fast alle diese Verwendungen werden im Altspanischen und Galego- Portugiesischen fortgeführt und zum Teil ausgebaut: rogar por alguno (benefaktiv), uenir por (final), por espaçio (respektiv), lamar por (Status/ “als“). Lediglich für die Ersatz-Relation liefert Menéndez Pidal kein überzeugendes Beispiel. Auch das Altspanischwörterbuch von Alonso (1986) und Hubers Buch zum Galego-Portugiesischen bieten keinen deutlichen Fall einer solchen Verwendung (vgl. Huber 1933: 236). Neben den alten, aus dem Latein ererbten Funktionen kommen neue hinzu. Aus der perlativischen Basisfunktion entwickelt sich eine instrumentale Verwendungsweise: ein Mittel ist natürlich immer etwas, durch dessen Gebrauch man hindurchgehen muss, wenn man ein bestimmtes Ziel erreichen will. Der Cid zeigt Übergangskontexte für dieses neue Verständnis von por (por ojos ueran), das zudem durch die vulgärlateinische Verwendung von per angeregt worden sein dürfte. <?page no="166"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 154 51 Der Entwicklungsweg von (lat.-akat.) per, das in gewisser Weise als Äquivalent von (asp./ gal.-port.) por gelten kann, wurde im vorherigen Graphen IVa schon aufgezeigt. Eine besonders starke Stellung in der erweiterten Polyfunktionalität von por nimmt die kausale Funktion ein, da por zum Haupt-Ersatz für die vielfältigen lateinischen Möglichkeiten der Kausalangabe wird (por mi, por miedo). Die kausale Funktion lässt sich am günstigsten wohl aus der finalen herleiten, denn oft ist es möglich, finale Verhältnisse kausal umzuinterpretieren. Dass sich mittels por Angaben der Art-und-Weise markieren lassen (por cuer, por cuenta), mag dagegen eher auf einer Metaphorisierung beruhen, die sich direkt aus der perlativischen Funktion speist (por cuer [durch das Herz des handelnden Subjekts gehend]) 51 Die nächsten beiden Netze beinhalten im Vergleich zu den vorhergehenden eine Besonderheit. Denn sowohl ad als auch in konnten im Lateinischen auf zweierlei Weise verstanden werden: entweder als Elemente von LOK1 oder als solche von LOK2. Genauer: ad = ‚an‘ (LOK1); ‚zu‘ (LOK2) in = ‚in‘/ Aufenthaltsort (LOK1); ‚in…hinein‘ (LOK2) Dabei ist ad eher ein LOK2-, in eher ein LOK1-Element. Die lateinische Ambiguität dieser Präpositionen setzt sich im Romanischen fort, so dass man optisch Vierecke oder besser Parallelogramme als Basen der Netze bekommt. Nun stellt man fest, dass es für diese beiden Netzen potentiell je vier Ansatzpunkte für weitere Entwicklungen durch die Übernahme abstrakterer Funktionen gibt: ein lateinisches und ein romanisches LOK1-Element + ein lateinisches und ein romanisches LOK2-Element. Es können daher maximal pro Netz vier Achsen der Funktionen-Entfaltung nach oben gehen. Faktisch wird dieses Spektrum nur partiell genutzt, da das Lateinische die untypischen Konkret-Funktionen, also die LOK1-Funktion von ad und die LOK2-Funktion von in, noch nicht aktiviert, um darauf per Metapher und Metonymie neue, abstraktere Gebrauchsweisen aufzubauen. Erst das Romanische mit seinem größeren Bedürfnis nach präpositionaler Verdeutlichung entdeckt auch die Entfaltungsmöglichkeit der untypischen Konkret-Funktionen von a und en. Nun zu den Einzelheiten der beiden Netze auf der rechten Seite des Quadranten! Beim ad-Netz erkennt man im unteren Teil zunächst das Parallelogramm der konkreten Funktionen. Es weist drei Verbindungen durch Pfeile auf, die rechte Pfeil-Kante fehlt aber. Dies hat folgenden Grund: Schon im Lateinischen kann ad ja sowohl im Sinne von ‚an, bei‘ (ad curiam stare) und als auch zur Markierung eines Bewegungsziels verwendet werden (ad urbem proficisci), und dies setzt sich im Romanischen lediglich fort: a la torre las dexo (LOK1), exir a la batalla (LOK2). Die Herausbildung der LOK2-Funktion von a ist abgeschlossen und muss im Romanischen nicht mehr neu unternommen <?page no="167"?> 3.2 Grammatikalisierungswege 155 werden, und eben deswegen fehlt ein Verbindungspfeil zwischen den beiden a des unteren Bereichs. Auf der LOK1-Funktion von a beruhen wohl die romanischen Gebrauchsweisen zur Markierung instrumentaler Relationen und zur Angabe von Art-und-Weise. Romanisches a wird ja zu einem gewissen Anteil auch im Sinne von „mit“ gebraucht, und dieses Verständnis, aus dem heraus sich die instrumentalen und modalen Verwendungen erklären, lässt sich besser an die Grundbedeutung ‚an, bei‘ als an die Bedeutung ‚zu‘ anschließen. Die dahinter stehende Metapher könnte einfach darin bestehen, dass die Hintergrundsrolle des Rahmen gebenden Orientierungsobjekts („xist-an-einem-Orientierungsobjekt“) durch einen Gegenstand oder Vorgang übernommen wird, die im Verhältnis zur Haupthandlung eines Satzes ebenfalls im Hintergrund stehen, insofern als sie bloß Zusatzinformationen bezüglich eines zur Durchführung der Handlung hinzugezogenen Gegenstandes oder aber zur Art und Weise der Duchführung verkörpern. Dagegen erklärt sich die Markierung von finalen Verhältnissen oder die eines Vergleichspunkts eher aus der Ziel-Metapher, die die LOK2-Funktion von a impliziert. Beide Funktionen dürfte a wohl erst im Romanischen übernommen haben. Im Latein war die finale Verwendung von ad im Hinblick auf Substantive noch nicht ausgebildet, obwohl es ja die bekannten Kombinationen mit infiniten Verbformen zum Ausdruck des Zwecks gibt: (paratus ad dimicandum). Die wichtigste Entwicklung bei ad deutet sich allerdings doch schon im Latein an: die Herausbildung eines generellen präpositionalen Dativ-Ersatzes (vgl. Väänänen 1981: 113ff.). Schon bei Plautus findet man dativische Wendungen mit ad: (Plautus, Epidicus. Es wird mitgeteilt, dass jemand [is] so ungeschickt war, Waffen zu verlieren) Id modo videndum est, ut materies suppetat scutariis, si in singulis stipendiis is ad hostis exuvias dabit [exuviae = Waffenbeute] (Slusanski/ Iliescu 1991, 55) Auf der anderen Seite wird diese Verwendung erst in der Entwicklung zum Romanischen hin wirklich genutzt und ausgebaut. Daher führt eine gestrichelte Linie nach oben, die sich noch auf der Höhe des Basis-ad in einem gestrichelten Pfeil fortsetzt, der bei einem lateinischen ad endet. Dann folgt ein durchgehender Pfeil, der den Ausbau des Gebrauchs im Romanischen symbolisieren soll und auf ein romanisches a zuführt. Im Iberoromanischen kommt dem a nun noch die weitere Aufgabe zu, mittels ad zwischen einem sachlichen und einem personalen direkten Objekt zu unterscheiden. Schon das Altspanische kennt eine solche differenzierende Objektmarkierung. Argumente mit der Funktion „Objekt“ können durch die Präposition a markiert werden, wenn sie das semantische Merkmal [+ menschlich] tragen. <?page no="168"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 156 52 Vermutlich ist das, was sich im weiteren Verlauf der Entwicklung des persönlichen Akkusativs ereignet, einfach eine Ausweitung der Anwendungskriterien über den rein menschlichen Bereich hinaus. José María García Martín (1988: 363ff.) zählt auf, wie die Forschung nach und nach Belebtheit, Determination, Personalisierung und ihr Gegenpart, die Versachlichung, als Kriterien der Anwendung herausgearbeitet hat. Dieser Pfad verschiedener Gesichtspunkte repräsentiert wohl auch die historische Entwicklung, in der sich das Anwendungsfeld Schritt für Schritt erweitert hat, um jeweils neue semantische Anhaltspunkte zu integrieren. Was gleich bleibt an dieser Situation, ist von Anfang an aber das Schwanken des Gebrauchs. Semantisch liegt eine lose Liste von Merkmalen zu Grunde (Laca 1987: 302), ihre Ausnutzung zur Setzung des a unterliegt aber pragmatischen Bedingungen (Laca 1987: 308f.). Diese lose Liste kann man aus typologischer Sicht als eine strikt organisierte Reihe auffassen in Anlehung an die Belebtheitsskala von Silverstein (vgl. Bossong 1985: 6f.). Aber auch aus typologischer Sicht hat man es im heutigen Spanischen mit einer komplizierten Mischung von relativ strikten Bedeutungs- und Referenzmerkmalen und „weichen“ pragmatischen Topikalisierungsbedingungen zu tun (Ibid.: 8). Nur in einigen Bereichen (Eigennamen von Personen, Pronomina, prädikative Ergänzungen) ist es schließlich zu einer Grammatikalisierung gekommen, durch die eine notwendige Setzung vorhersagbar wird. Dieser Akkusativ ist allerdings nicht sehr stabil. Der Gebrauch schwankt stark (vgl. Urrutia/ Álvarez 1983: 34) 52 : recibe a Minaya/ recibir las dueñas (Ibid.: 34) veré a la mugier/ veremos vuestra mugier (Ibid.: 34) Auch Galego-Portugiesisch und Altkatalanisch verfügen über einen persönlichen Akkusativ. Im Galego-Portugiesischen wird er meistens, aber nicht immer verwendet (Huber 1933, 143): O homem pode bem servir a dous senhores. (Huber 1933: 143) A huus enforcava. (Huber 1933: 143) [die einen knüpfte er auf] Altkatalanisch zeigt ebenfalls eher ein unbestimmtes Schwanken zwischen den Möglichkeiten der Setzung und Nicht-Setzung des a: El comte d’Empúries e els del Temple anaren ferir als de les tendes (Llibre dels feits, 64) Oc, que tres vegades han vençut els cristians als Sarraïns (Llibre dels feits, 64) E encontram En Guillèm de Medona [also gerade der Eigenname einer einzelnen Person erscheint in diesem Ausschnitt ohne a] Diese Möglichkeit, ein personales direktes Objekt präpositional auszuzeichnen, wird durch ein letztes a auf der Höhe der y-Achsen-Angabe Obj.-Arg2 (Pers.) vermerkt. Dass diese Markierung durch die Präposition a geleistet wird, mag auf eine semantische Nähe zum Dativ zurückgehen. Denn durch die differenzierende Objektmarkierung wird ein menschlicher Betroffener aus der Rolle eines dinghaften Objekts, das einer Handlung nur passiv unterworfen ist, herausgenommen. Und auch das Dativobjekt ist ja ein solches, das nur indirekt von einer Handlung betroffen ist und seine Würde als potentiell initiativer Handelnder nicht verliert (vgl. Laca 1987: 296 u. 300). Diese <?page no="169"?> 3.2 Grammatikalisierungswege 157 Verbindung zwischen der Markierung des Obj.-Arg3-Status und derjenigen des Obj.-Arg2-Status wird durch einen Pfeil im rechten oberen Eck des Quadranten aufgezeigt. Das letzte Netz, ganz auf der rechten Seite, präsentiert die Funktionen- Entfaltung bei in/ en. Wie bei a erkennt man wieder das Parallelogramm der LOK1-LOK2-Basis-Funktionen. Schon im Latein bildet sich die nahe liegende Zielbedeutung von in heraus, also die Lesung ‚in…hinein‘. Die romanischen Verhältnisse sind wieder nur ein lautlich veränderter Reflex dieser Verhältnisse, deswegen fehlt der Pfeil zwischen dem LOK1-en und dem LOK2-en. Hier hat innerhalb des Romanischen keine semantische Entwicklung mehr stattfinden müssen. Schon auf das LOK1-in des Lateins geht die dort übliche Verwendung im Sinne einer Umstandsangabe zurück (in rebus secundis). Die Lebensumstände einer Epoche werden metaphorisch als ein Ort verstanden, an dem man sich aufhält und von dem man umschlossen wird. Außer dieser Verwendung sind im Lateinischen keine weiteren abstrakteren Funktionen für in ausgebildet worden. Die Anwendung für eine Umstandsangabe setzt sich ins Romanische fort (biue en deliçio). Erst in der romanischen Phase werden weitere Metaphorisierungsmöglichkeiten genutzt. So leitet sich aus romanischem LOK1-en die Markierung eines Kommunikations-Themas ab (fablar en). Das Thema wird als Milieu verbildlicht, in dem sich die sprachliche Mitteilung bewegt. Eine instrumentale Gebrauchsform (pagar en oro) könnte ihre Wurzeln insofern ebenfalls im LOK1-en haben, als sie auf bestimmte Kontexte beschränkt ist, in denen es darauf ankommt, dass das Mittel der Handlung eine Version unter mehreren ist, die Handlung zu erfüllen. Die gewählte Version wird dann bildlich als eine Form begriffen, in die die Handlung hineinschlüpft, in der sie realisiert wird (pagar en oro o en plata o en moravedíes). Eine andere neue Verwendung geht dagegen wohl auf das mit der Bewegung gekoppelte en im Sinne von ‚in…hinein‘ zurück. Dieses en markiert ein Ziel, das zudem potentiell zu einem längeren Aufenthaltsort werden kann. Dies passt gut zu einem Vorgang des Werdens-zu, der Verwandlung in etwas anderes (estos duelos en gozo se tornarán). Das Ziel der Verwandlung ist zugleich ein Zustand, der längere Zeit andauert. Damit ist die Präsentation der Graphen III, IVa und IVb abgeschlossen. Diese Diagramme legen die in einer Wechselbeziehung stehenden Grammatikalisierungswege von Kasus und Präpositionen dar. Was schon mehrfach erwähnt wurde, gilt nun auch für das Paar Kasus/ Präpositionen. Natürlich wollten die Sprecher des Vulgärlateins und des frühen Romanischen nicht bewusst, in einem großangelegten Plan gezielt Grammatikregeln oder Formen entwerfen, um die semantischen Relationen zwischen Argumenten, Satelliten und dem Prädikat ihrer Sätze zu markieren bzw. deren Markierungsweise in eine neue Gesamt-Ordnung zu bringen. Die Innovationen, die zu diesen funktionalen <?page no="170"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 158 Einbindungen und Umschichtungen führten, hatten vielmehr andere, individuelle Motive. Welche? Es kommen eine Reihe von Innovationsfaktoren in Frage, die auch in der Forschungsliteratur diskutiert werden. Eine wichtige ökologische Bedingung für den Kasusverfall stellte der Quantitätenkollaps bei den betonten Silben dar. In Zusammenwirkung mit der Maxime der Ökonomie wurden die Unterscheidungen der Vokale in der Endsilbe auf wenige Qualitäten reduziert (vgl. Lausberg 1969, Bd. I), noch weniger als in der Hauptsilbe, wo es immerhin schon zum Kollaps von offenem „i“ und geschlossenem „e“ und offenem „u“ und geschlossenem „o“ gekommen war. Der Zusammenbruch der Unterscheidungen ließ die Kasus zusammenfließen, bis man den neuen funktionalen Gesichtspunkt der Trennung zwischen Casus rectus und Casus obliquus fand und die aus ökonomischen Gesichtspunkten unternommenen Vereinfachungen grammatisch einband. Auf der Seite der Präpositionen spielte wohl die ökologische Bedingung des vorgegebenen Musters eine große Rolle. Im Bereich der Relationen zwischen Satelliten und Kernprädikation nämlich wurde die Relation schon häufig explizit verdeutlicht, selbst wenn sie aus der semantischen Beziehung zwischen dem je gegebenen Substantiv und dem damit jeweils kombinierten Verb erschließbar gewesen wäre. Die Präpositionen wurden eigentlich nur dazu verwendet, eine implizit vorhandene Relation für den Hörer oder Leser ausdrücklich erkennbar zu machen (Pinkster 1988: 101ff.). Dies musste dazu anregen, eine ähnliche Verdeutlichung im Bereich der Argumente oder auf Wortgruppenniveau einzuführen. Anfänglich könnte das redundante Spiel mit der Verdeutlichung durch die Auffälligkeitsmaximen unterstützt worden sein, späterhin jedoch, als die Kasusreduktion Missverständnisse provozieren konnte, eher durch Anpassungsmaximen („Rede so, dass du möglichst nicht missverstanden wirst! “). Die Rücksicht auf Anpassungsmaximen verhalf der präpositionalen Markierung des dritten Arguments und des Nominalattributs dann zur Obligatorisierung und damit zu einer Auffassung im Sinne eines grammatischen Gestaltungsmittels. Was ist mit der Auswahl und Formung der einzelnen Präpositionen? Wie wurden die Innovationen hier gesteuert? Die Innovationen bei den verkürzenden Umgestaltungen komplexer lateinischer Präpositionen zu einfachen Präpositionen (Bsp. de intus de zu (akat.) dins) wurden zu Beginn wahrscheinlich durch ein reines Ökonomiemotiv gesteuert. In Folge der Paradigmatisierung der Neupräpositionen und der fortwährenden Kasusreduktion allerdings dürfte sie sich in eine genuine phonologische Abreibung im Sinne eines Grammatikalisierungsparameters verwandelt haben. Je stärker grammatikalisiert ein Element ist, umso dienlicher wird eine kürzere phonologische Gestalt und umso stärker wird der funktional motivierte Drang zur phonologischen Abreibung. Dies geht dann schon über eine rein individuelle Ökonomie hinaus. Schließlich kommt es bei der Ersetzung von usque ad durch (arab.) hatta das Prestigemotiv ins Spiel. Denkbar ist, dass das Wort zunächst von Mozara- <?page no="171"?> 3.2 Grammatikalisierungswege 159 bern im Rahmen der Fachsprache der Bewässerungstechnik entlehnt wurde, da es dort oft um Feldgrenzen geht. Die in dieser Technik überlegenen Araber dürften oft Anlass gehabt haben, zu erwähnen, dass ein Feld sich bis zu (hatta) einer bestimmten Grenze erstreckte. Die Mozaraber könnten ein so gebrauchtes hatta in ihr eigenes Romanisch übernommen haben. Wann hatta über die mozarabische Fachsprache der Bewässerungstechnik hinausdrang, ob schon im Süden oder vielleicht erst in der neuen nordspanischen Heimat, ist schwer zu sagen. Jedenfalls haben sowohl Kastilier als auch Galizier und Portugiesen das Wort von den Mozarabern übernommen. Während aber das Prestigemotiv für die Mozaraber mit Sicherheit eine Rolle gespielt hat, als sie hatta von den Arabern übernahmen, ist die Präsenz dieses Motivs bei der Weitergabe an die Kastilier und Galizier nicht mehr ohne Weiteres anzunehmen. Im Bereich der individuellen Ursachen dürfte sich bei hatta also zunächst die Maxime des auffälligen, später aber vielleicht eher die des angepassten Redens ausgewirkt haben. Das fünfte Diagramm fasst die Vorgänge bei der Entstehung der Artikel und neuen Personalpronomina der dritten Person zusammen, sowie die daraus folgenden Umschichtungen und Veränderungen bei den Demonstrativa und Possessiva. Zusätzlich sind auch noch die Indefinita erfasst, wo ebenfalls eine Reihe von Wandlungen auf dem Weg zum Romanischen eingetreten sind. Schließlich gehören in dieses Feld die zwei demonstrativen Adverbien inde und hic mit ihren romanischen Nachfolgern. Im Gegensatz zu anderen demonstrativen Adverbien wie ibi oder hunc haben sie nämlich im Laufe der Zeit neben deiktischen auch anaphorische Funktionen übernommen, leisten wie die Personalpronomina der dritten Person also eine Deixis am Text. Inwiefern hat man es bei Artikelbildung, Veränderungen von Demonstrativa und Possessiva, Neuformung von Indefinitia und Personalpronomen mit Grammatikalisierungen zu tun? Das neue Indefinitpronomen nata res speist sich aus einer metaphorischen Umschreibung, einer Personalisierung: ‚eine geborene Sache‘, in Verbindung mit non also: „keine geborene Sache“. Hier liegt ein Vorgang einer De-Lexematisierung und Bildung eines Grammems aus einem Lexem vor (nata - ‚geboren‘ nada - ‚nichts‘). Allerdings liegt in dieser De-Lexematisierung nicht die eigentliche Initialgrammatikalisierung, diese besteht vielmehr darin, dass eine neue Periphrase als Kombination aus dem Funktionswort non und der Lexemkombination nata res geformt wurde: non nata res. Die altspanisch/ altkatalanischen Demonstrativa aquest/ aquell bzw. aquel gehen auf Kombinationen mit dem lateinischen Präsentativum eccu zurück (eccu iste, eccu ille). alguno ist auf aliquus unus zurückzuführen. Das Possessivpronomen wird in eine Kombination mit einem Demonstrativum gebracht (ille meus). Die hinter medesmo, mesmo steckende Form metipsimus enthält mit met- und -imus verstärkende, intensivierende Affixe, die schon im klassischen <?page no="172"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 160 V Grammatikalisierungswege der Determinierer, Pronomina und demonstrativ-anaphorischen Adverbien (Abb. 16) Objektanaph lo,la,li,la/ o, a, lhe Präpanaph ende/ em hy, hi TX-DEIK Def el, la/ o, a so, sa (akat.) Indef un, una/ um, ua nichts, niemand nata res, nec unus nada, ninguno/ nihil, nemo -> 0 etwas, jemand aliquus unus alguno aliquid, aliquod (aligo), algo INDEF kein nec unus ningun irgendein aliquus unus algun unus ein gewisser quidam -> 0 unus KARDINAL unus, duo, tres... POSS ille meus el mi/ el meu meus meu/ mi IDENT metipsimus (medesmo), mesmo|| ipse Sprechernähe aquest||hic -> 0 este hic (Adv.) DEF DEM Hörernähe eccu iste iste esse Ferne eccu ille aquel(l) ille inde (Adv.) komplexes Funktionswort einfaches Funktionswort Klitikum <?page no="173"?> 3.2 Grammatikalisierungswege 161 Latein Anwendung fanden. All dies sind Vorgänge des reinforcement, gemäß Lehmann. Die verstärkten Formen werden im Laufe der Entwicklung verdichtet, also phonologisch reduziert. Es findet ein Wechsel vom komplexen zum einfachen Funktionswort statt, damit dann auch eine syntaktische Reanalyse, ein rebracketing. Bei der Artikel-Entwicklung kommt es zur Klitisierung, also einer phonetischen Annäherung an das Bezugswort mit einer Intensivierung der semantischen Anlehnung/ Synsemantik (Koaleszenz). Die Herausbildung eines Artikel-Systems „un etc. + lo etc.“ schließlich impliziert, dass das System der Indefinita und das eine definite Angabe implizierende System der Demonstrativa zu einem gemeinsamen System zusammenfließen, das die Form der einfachen Opposition „definit vs. indefinit“ hat. Dies bedeutet eine deutliche Steigerung der Paradigmatizität. Außerdem ist es das Wesen eines Artikels, anaphorische und kataphorische Bezüge durch eine dauernde, nahezu obligatorische Begleitung von Substantiven anzuzeigen. Wir haben es also auch mit einer Frequenzerhöhung, Obligatorisierung und Syntaktisierung zu tun. Die damit verbundene semantische Abreibung weist eine Grundmetaphorik auf, die auch die zur Artikelbildung parallel ablaufende Formung neuer pronominaler Klitika, also der Personalpronomen der dritten Person und der Präpositionalanaphern hy und ende, steuert: Textstellen werden bildlich wie konkrete Orte aufgefasst, und es entsteht so etwas wie eine Textdeixis, ein Verweis auf Orte im Text. Nimmt man all diese Angaben zusammen, dann erkennt man, dass es sich ganz offensichtlich um Grammatikalisierungsprozesse handelt, da viele Grammatikalisierungsparameter an diesen Wandelvorgängen beteiligt sind. Die Grammatikalisierungskanäle, auf denen diese Prozesse stattfinden, sind in vielen Sprachen belegbar (s. 3.1.2). Nun zu dem Graphen! Was ist darauf zu erkennen? Auf der Zeitachse, der x- Achse, hat man es einerseits mit Entwicklungen vom komplexen zum einfachen Funktionswort, andererseits mit der Klitisierung einfacher Funktionswörter zu tun. Keines der im Quadranten angegebenen Elemente macht aber in dem betrachteten Zeitraum den gesamten Weg vom komplexen Funktionswort bis hin zum Klitikum durch. Auf der y-Achse sind die verschiedenen konzeptuellen Kategorien angegeben. Dabei in dreifach gestufter Weise. Ganz links werden drei große Bereiche unterschieden: der definite, indefinite und textdeiktische Bereich. Implizit definit sind alle Demonstrativa, Possessiva und auch das Identitäts- Pronomen, denn sowohl über das sprachliche Zeigen (Demonstrativa), als auch über das Anbinden von Dingen und Personen an andere Dinge und Personen auf Grund von sozialen, besitzmäßigen und Teil-von-Beziehungen (Possessiva), als schließlich auch durch den Hinweis auf Identität (Identitätspronomen) wird Referenz geleistet. Dinge und Personen werden definit gemacht, in ihrer Individualität verortet. Zur Textdeixis s. oben. <?page no="174"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 162 Weiter rechts bieten die Angaben der y-Achse noch andere mit Großbuchstaben geschriebene Kategorien, die auf die Teilbereiche POSS(essiva), DEM(onstrativa), IDENT(itätspronomen) und KARD(inalzahlen) verweisen. Kardinalzahlen sind - das erkennt man am Unterschied zu Ordinalzahlen - indefinit, da sie Mengenangaben leisten und nicht als Hinweis auf bestimmte Individuen aus der bezifferten Menge verstanden werden können. Die nicht mit Großbuchstaben geschriebenen Angaben ganz rechts beziehen sich auf bestimmte, zum Teil direkt durch deutsche Übersetzungsäquivalente repräsentierte Subkategorien, denen die Grammeme des Quadranten ummittelbar zuzuordnen sind. Die Bereichsangaben in Großbuchstaben verweisen auf Grammemgruppen, die Subkategorien stellen die Bezugspunkte für die einzelnen Grammeme dar. Wie werden die thematisierten Wandelvorgänge in dem Quadranten beschrieben? Ganz unten links erkennt man die Verbindungen aus dem Präsentativ eccu und den üblichen Demonstrativa des Latein, die die Vorformen der späteren Demonstrativdeterminierer des Altspanischen und Altkatalanischen darstellen. Hic verschwindet, jedenfalls in seiner pronominalen Verwendung (hic, haec, hoc etc.). Dadurch entsteht eine Lücke für den explizit-demonstrativen Ausdruck der Sprechernähe, die durch den Determinierer der Hörernähe iste gefüllt wird. In die Lücke von iste wiederum wird das Identitätspronomen ipse hinein verlagert, das im Altspanischen und Galego-Portugiesischen durch Lautwandel zu esse wird (heute im Spanischen <ese> geschrieben). Der Ersatz von ipse schließlich ergibt sich in Form der zweifach verstärkten Version metipsimus (s.o.), das durch Lautveränderung weiterhin zu (vlglat.) medipsimus und (asp.) meísmo, meesmo, mesmo bzw. (gal.port.) mesmo wird. (vgl. Corominas/ Pascual 1980, Bd. 4, S. 89). Die um die Ecke gehenden Pfeile führen in das rechte obere Eck des Quadranten, wo die klitischen Elemente versammelt sind, deren Funktionen den abstraktesten Status erreicht haben, nämlich die Textdeiktika. Ille wandelt sich unter Aphärese einerseits zum anaphorisch-kataphorischen Determinierer, andererseits zu den anaphorischen Objektpronomina der dritten Person. Das Adverb hic (hier), das eine Nähe zur Sprecherorigo ausdrückt, wandelt sich zu einem anaphorischen Element mit umfassenden Funktionen, da es fähig ist, sich auf Präpositionalausdrücke sehr unterschiedlicher Art zu beziehen: lokale, direktionale bis hin zur Repräsentation des indirekten Objekts (vgl. Wanner 2001). Auch das lokale Ferne ausdrückende Adverb inde (von dort), wird zu einem anaphorischen Pronomen, das unter rein syntaktischen Bedingungen funktioniert: Es steht für und verweist auf alle Pronominalphrasen mit der Präposition de. Hy und inde sind im Altspanischen relativ früh marginalisert worden und kamen gegen Ende des Mittelalters außer Gebrauch - ebenso wie ihre galego-portugiesischen Äquivalente i und ém und anders als die katalanischen Entsprechungen hi und ne/ en. ipse konkurrierte lange Zeit mit ille bei der Markierung der textdeiktischen Anaphorik (vgl. Hinojo Andrés 1988). Wie wir heute wissen, hat es sich nur in einigen <?page no="175"?> 3.2 Grammatikalisierungswege 163 Fällen durchgesetzt, u.a. im balearischen Katalanisch. Griera (1931) bemerkt aber, dass an verschiedenen Toponymen von Orten entlang der katalanischen Küste ablesbar sei, dass auch im Festlandkatalanischen ein bestimmter Artikel so, sa eine Zeit lang neben lo, la in Gebrauch gewesen sein müsse, bis dieses sich durchsetzte. Dieser Übergang wird in dem vorliegenden Graphen daher auch verzeichnet: ipse so, sa. Die Entwicklung zum lo-Opponenten un usw. verläuft von der Reihe der Kardinalzahlen aus über ein Zwischenstadium, in dem unus ‚irgendein‘ bedeutet. Die Vorstadien gehören also dem Bereich der spezielleren Indefinita an. Damit sind die Grammatikalisierungen, die zur Gruppe der textdeiktischen Elemente führen, vollständig beschrieben. Auf der Höhe von POSS sind die im Vulgärlatein gebräuchlichen verstärkten Versionen der Possessiva zu sehen, die durch den bestimmten Artikel gestützt werden, Typ ille meus. Lautliche Entwicklungen führen im Altspanischen zu Kurzformen bei den Possessivdeterminierern: mi, to/ tu, so/ su. Entsprechend kommen verstärkte Versionen auf, die diese Kurzformen enthalten: el mi, el to, el so usw. Während sie sich im Portugiesischen und Katalanischen bis heute gehalten haben, existieren sie im Gegenwartsspanischen nicht mehr. Dass der Possessivdeterminierer suus, der im Lateinischen nur verwendet werden kann, wenn der Possessor auch das Subjekt des Satzes ist, im Iberoromanischen zum umfassenden Possessivdeterminierer der dritten Person wird, ist in dem Quadranten nicht erfasst, da es zu umständlich gewesen wäre, das gesamte Personalparadigma der Possessiva mit in den Graphen hinein zu nehmen. Die erste Person Singular steht stellvertretend für alle weiteren Personen. Meu ist dabei repräsentativ für alle anderen komplexeren Formen, wie mia, suos u.a. (vgl. Metzeltin 1979: 46); mi vertritt alle Kurzformen. Immerhin vermerkt der Graph, in Konsequenz der ihn bestimmenden Kategorien, dass die Kurzformen im Vergleich zu den aufwändigeren Langformen eine Klitisierung bedeuten (stellvertretende Paarung meu/ mi an der Grenze zwischen den x-Achsen-Sektoren „einfaches Funktionswort“ und „Klitikum“). Die obere Hälfte der linken Seite des Quadranten wird von den Entwicklungen der Indefinita eingenommen. Nata res verkürzt sich, unter intervokalischer Sonorisierung, zum einfachen Funktionswort nada. Nec unus (nicht einmal einer) wird unter Nasalierung zu ninguno zusammengezogen. In der nächsten Reihe sind die Wandlungen von der verstärkenden Periphrase aliquus unus zu alguno, und dem schon im klassischen Latein gebräuchlichen aliquod über alico (Cid, Reyes Mayos), *aligo bis hin zum altspanischen Funktionswort algo vermerkt (vgl. Corominas/ Pascual 1980, Bd. 1, S. 163). Quidam verschwindet im gesprochenen Latein und wird zeitweise durch unus ersetzt. Der obige Graph macht keine Angaben zur Kasusentwicklung bei den verschiedenen Demonstrativa, Possessiva, Indefinita, die thematisiert werden. Er lässt außerdem die innerhalb der Nominalphrase ebenfalls zu beachtenden Interrogativa und Relativpronomen außer Acht. Nun stellen bei letzteren die <?page no="176"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 164 Veränderungen der Kasus die einzigen nennenswerten Grammatikalisierungsprozesse dar. Diese Vorgänge lassen sich aber schon am Kasusgraphen ablesen, also dem bereits besprochenen dritten Diagramm dieses Kapitels. Das selbe gilt für die Kasusentwicklungen der Demonstrativa, Possessiva und Indefinita. Bei all den Grammatikalisierungsereignissen, die in dem obigen Graphen aufgeführt werden, ging es den Sprechern zunächst wohl wieder nicht um die Herausbildung neuer grammatischer Formen. Welche Motive könnten die relevanten Innovationen bestimmt haben? Hinter übertreibenden Ausdrücken wie nec unus (nicht einmal einer) oder Personalisierungen wie nata res (eine geborene Sache) lässt sich die expressive Metaphorik einfacher Volksschichten vermuten. Diese Metaphorik mag auch in höheren Kreisen gerade wegen ihrer diastratischen Markierung bald an Anziehungskraft gewonnen haben und kam wohl den Maximen der Auffälligkeit entgegen. Ähnliches gilt für die Verstärkungen mit eccu. Die Verwendung des Präsentativs erlaubte ja, die eigene Rede durch eine verlebendige Geste zu unterstützen, die parallel zu der Äußerung von eccu vor den Augen des Zuhörers vollzogen werden konnte. Schließlich die Form metipsimus! Sie ist möglicherweise so zu erklären, dass der Aufwand, der häufig für Identifizierung und Referenzangaben nötig ist, sich fast schon automatisch in der entsprechenden Pro-Form niederschlägt. Hier wäre die das reinforcement begünstigende ökologische Bedingung die funktionale Nähe zwischen einfachem und verstärktem Identitätspronomen (ipse und metipsimus), die zu einem unmerklichen, nicht durch irgendeine Maxime unterstützten Übergang geführt haben könnte. Auch redundante überladene Formen wie ille meus oder aliquus unus könnten auf eine unkontrollierte Expressivität populärer Sprecherschichten zurückgehen und wären gesteuert durch Auffälligkeitsmaximen in weiteren Umlauf gekommen. Für die Verwendung von ille meus könnte es andererseits ein Anpassungsmotiv geben, denn die Trennung von Anaphorik und Possession, die bei einfachen, nicht durch Artikel begleiteten Possessivadjektiven in einem Wort verschmolzen sind, kann der stärkeren Verdeutlichung und Schritt-für-Schritt-Leitung des Zuhörers oder Lesers gedient haben. Damit eben der Erleichterung der Verstehensbedingungen. Die Artikelherausbildung wird unterschiedlich gedeutet. Während in älteren Deutungen häufig christlich motiviertes emphatisches Sprechen (Maxime der Auffälligkeit) als Motiv angegeben wird (vgl. Raynouard 1816, Trager 1932), nennen neuere Darstellungen andere Gründe: etwa die Sicherung der Kasusbezüge (Maxime der Anpassung), die an dem Demonstrativum ille immer noch leichter erkennbar gewesen seien (vgl. Vennemann 1975, Schmitt 1987) oder das Explizitmachen von anaphorischen Relationen. So verweist Harm Pinkster (1988: 143ff.) darauf, dass Nominalphrasen schon im Lateinischen Definitheitsmerkmale an sich trugen. Die Herausbildung <?page no="177"?> 3.2 Grammatikalisierungswege 165 eines bestimmten Artikels habe diese Definitheitsmerkmale lediglich explizit gemacht. Maria Selig (1992: 142 u. 144f.) arbeitet heraus, dass kritische Referenzkontexte und die Hervorhebung von Protagonisten wesentliche Motive zur Einführung von Artikeln gewesen sein könnten. Nimmt man Pinkster und Selig zusammen, dann sind die einleitenden Motive der Einführung von Artikeln wohl in den ökologischen Bedingungen der funktionalen Offenheit (Pinkster) und strukturellen Ambiguität (Selig) zu suchen, während die dadurch angesprochenen Maximen die der Absicherung gegen Missverständnisse (Selig) sowie die des auffälligen, expressiven Redens (Pinkster, Selig [Protagonisten-Hervorhebung]) gewesen sein dürften. Die eigentliche Grammatikalisierung der expressiveren Versionen der Demonstrativa zu nicht emphatischen Normalversionen (eccu ille aquel usw.) dürfte durch die ökologische Bedingung der funktionalen Lücken eingeleitet worden sein, die durch die Bildung des bestimmten Artikels und der neuen klitischen Personalpronomina aus ille und hic entstanden war. Ähnliches gilt für das Identitätspronomen. Hier kam es dann eben zu der Kette der Lückenfüllungen, die in dem Quadranten aufgezeigt ist. Diese Verschiebungen sollten eigentlich schon durch die Anpassungsmaximen der Verständnissicherung bestimmt worden sein. Das sechste Diagramm schildert die Veränderung bei der Markierung der an Argumentstelle eingesetzten Prädikate durch infinite Verbformen und Komplementierer wie ut oder quod. Die Wandelvorgänge bestanden darin, dass ut wegfiel, der Gebrauch von quod sich verallgemeinerte und sich die Funktionsbereiche der finiten und infiniten Formulierung gegeneinander verschoben. Die lateinische Ausgangssituation bot ein Spektrum vieler Formulierungsalternativen, das in seiner vollen Breite am klarsten in dem Werk von Pinkster (1988) sichtbar wird. Neben ut + Konjunktiv oder AcI/ NcI konnten eingebettete Prädikationen auch durch ut + Konjunktiv, durch ne + Konjunktiv, durch quia + Indikativ, andererseits Gerundivum, Supinum oder reinen Infinitiv an die Argumentstelle in einen Matrixsatz eingebettet werden. Dabei zeigt Pinkster, wie sehr es vom gegebenen Prädikatsausdruck des jeweiligen Matrixsatzes abhing, welche der finiten oder infiniten Anschlussmöglichkeiten nutzbar waren. Es handelt sich also um an Lexeme gebundene syntaktische Eigenschaften. Ein paar Beispiele mit verschiedenen Prädikatsausdrücken: • accidit: + ut: Capitis nostri saepe potest accidere ut causae versentur in iure [S. 157] + quod: Hoc loco percommode accidit quod non adest (s.o.) inique/ permirum accidit + AcI (vgl. S. 156, Anm. 7) <?page no="178"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 166 VI Grammatikalisierungswege der eingebetteten Prädikation (an Argument-Stelle) (Abb. 17) UNIVERSALKONJUNKTION polyvalentes que EINBETTUNG als -Arg. que + Ind./ Konj. Infinitiv/ AcI, 0 Realisierungsziel Supin. modal eingeschätzter Ger. Sachverhalt ut + Konj. Bewertungsinhalt RELATIVIERUNG als Infinitiv/ AcI NcI Wahrnehmungsinhalt Denkinhalt quod + Ind. (asp./ gal.port.) ca + Ind. Mitteilungsinhalt (akat.) car + Ind. KAUS quia + Ind. quare + Ind. quod + Ind. einfaches Funktionswort Affix / Flexiv <?page no="179"?> 3.2 Grammatikalisierungswege 167 • verum esse: + ut: Si verum est ut populus Romanus omnes gentes virtute superarit [S. 160] + AcI: Nec verum est idcirco initam esse cum hominibus communitatem [S. 160] • tempus esse: + ut: Videtur tempus esse ut eamus ad forum [S. 162] + Infinitiv: Tempus esset iam de ordine argumentorum aliquid dicere + AcI: Tempus est iam hinc abire me + Gerundium: …navigandi nobis tempus esse (dass wir Zeit haben, zu fahren) [S. 162] • facere: + ut/ ut non: Splendor vestra facit ut peccare sine summo rei publicae detrimento non possitis [S. 168] + ut/ ut ne: Fecisti ut ne cui innocenti maeror tuus calamitatem adferret [S. 168] + quod: Bene facis quod me adiuvas [S. 168] + AcI: Visum est faciendum vos certiorem facere (Es erschien erforderlich, euch auf dem laufenden zu halten) [S. 168] • persuadere: + ut: Patri persuasi ut aes alienum filii dissolveret [S. 172] + Infinitiv: Quibus persuasum est foedissimum hostem iustissimo bello persequi [S. 173] + AcI: Hos homines tu persuadebis ad honorem tuum pecunias maximas contulisse? (Willst du uns etwa davon überzeugen, diese Menschen hätten zu deiner Ehre soviel Geld zusammengetragen? ) [S. 173] Diese Formulierungsalternativen gehen auf das „Überangebot“ an infiniten Formen und Komplementierern zurück, das die lateinische Sprache im Laufe ihrer Geschichte herausgebildet hatte. In der Entwicklung zum Romanischen hin wurden diejenigen Formen, die durch ihren geringen Lautbestand, ihre niedrige Nutzungshäufigkeit oder ihre formale Randstellung die schwächsten Glieder des angebotenen Formulierungsspektrums waren, aufgegeben. Welche Merkmale dieser Wandelprozesse sind typisch für Grammatikalisierungen? Die Generalisierung von quod gegenüber ut bedeutet eine stärkere Syntaktisierung und Obligatorisierung von quod. In Konkurrenz mit ut konnte quod noch als reserviert für bestimmte semantische Funktionen gelten. Ut drückte eher modale Einstufungen des in der eingebetteten Prädikation ausgedrückten Sachverhalts aus oder markierte die eingebettete Prädikation als Realisierungsziel, dagegen war quod eher eine Angabe für einen objektiv gültigen Sachverhalt. Mit der Obligatorisierung übernimmt quod die rein syntaktische Funktion der Anzeige von syntaktischer Einbettung einer Prädikation in eine andere. Im Zuge des Verdrängungsprozesses beoachtet man auch phonologische Abreibungen: ut verschwand, über ein mutmaßliches Zwischenstadium o; quod vereinfachte sich zu que, über ein mutmaßliches Zwischenstadium qued. Die Obligatorisierung von quod führt hinauf bis zu einer sehr hohen Abstraktionsstufe. Denn nicht nur wurde es zum generellen Komplementie- <?page no="180"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 168 rer, sondern in Form des polyvalenten que (vgl. Metzeltin 1979: 94f.) auch zur Universalkonjunktion, und zwar mit einer Art janus-köpfigen Doppelfunktion: einmal kann das in der Umgangssprache auch heute noch beliebte polyvalente que alle anderen Konjunktionen ersetzen, unter Neutralisierung der formalen Unterscheidung zwischen temporalen, kausalen, finalen usw. Funktionen; andererseits dient que als Stützinstrument, mit dessen Hilfe Satzadverbiale oder präpositionale Ausdrücke in ein Satzgefüge integriert werden können, eben um gerade umgekehrt die Funktionen explizit anzeigen zu können: pues que, antes que zur Anzeige bestimmter temporaler Relationen, en caso que zur Anzeige des Konditionalen usw. (s. nächstes Diagramm). Schließlich liegt generell eine Verringerung des Paradigmas vor, wenn die Zahl der Ausdrucksalternativen sich verringert. Diese Verringerung paradigmatischer Variabilität beobachtet man ebenso bei den infiniten Formen. Im Romanischen bleibt für die Einbettung von Prädikationen an Argumentstelle nur der Infinitiv übrig. Die Konkurrenzformen des Supinums (difficile dictu/ factu), des Gerundiums und Gerundivums (id faciendi, eius faciendi tempus est) weichen der infinitivischen Ausdrucksweise (difficile facere; tempus id facere). An die Stelle mehrerer Formen tritt eine einzige, die immer dann eingesetzt wird, wenn sich das Subjekt der Hauptprädikation mit dem der eingebetteten Prädikation referentiell deckt. Wir haben also Syntaktisierung mit Obligatorisierung und Verstärkungen der Paradigmatizität, semantische und phonologische Abreibungen, d.h. die Präsenz verschiedener Parameter, die allesamt den Grammatikalisierungscharakter der Vorgänge zeigen. Was ist nun auf dem Graphen zu sehen? Die x-Achse zerfällt in zwei Abschnitte: „einfaches Funktionswort“, dann „Affix/ Flexiv“. Einfache Affixe, d.h. gebundene grammatikalische Morpheme, die nur eine einzige Funktion repräsentieren, sind das Infinitivmorphem mit seinen Allomorphen (-ar(e), -ir(e), -er(e)), und die Supinum-Allomorphe -tum und -tu. Flexive dagegen, d.h. Morphem-Verschmelzungen, die in ein grammatisches Paradigma eingepasst sind, bestimmen die Erscheinungsformen von Gerundium und Gerundivum. Im Hinblick auf die in dem vorliegenden Grammatikalisierungsraum berührten Flexionsformen musste im zweiten Sektor der x-Achse also eine Paarung Flexiv/ Affix angesetzt werden. Auf der y-Achse sind die konzeptuellen Bereiche wieder mit Großbuchstaben gekennzeichnet. Auf der untersten Ebene findet sich KAUS, für die Funktion „Anzeige von kausativen Sachverhaltsrelationen“, da die Komplementierer-Entwicklung im Latein von solchen funktionalen Elementen ausgeht. Der nächste Sektor auf der y-Achse ist der der Relativierung. Satzsemantisch steht nämlich hinter der Einbettung einer zweiten Prädikation an einer Argumentstelle einer Hauptprädikation immer ein Verhältnis, das man <?page no="181"?> 3.2 Grammatikalisierungswege 169 beschreiben könnte als asymmetrische Sachverhaltsrelativierung auf ein menschliches Subjekt als außenstehenden Beobachter oder aktiv Beeinflussenden. Obwohl die Prädikation des Matrixsatzes syntaktisch die dominierende ist, steht satzsemantisch doch die eingebettete Prädikation im Vordergrund. Der Prädikatsausdruck des Hauptsatzes nämlich ist in solchen Konstruktionen von der Art, dass er Sachverhalte bezeichnet, die eine Ergänzung durch einen Inhalt oder ein Ziel brauchen: ein Wollen, eine Forderung, ein Wahrnehmen, ein Denken oder Mitteilen, eine Bewertung irgendwelcher Art. Diese Aussagen können nicht für sich allein stehen, sondern verlangen als Ergänzung etwas, das gewollt, gefordert, wahrgenommen, gedacht, mitgeteilt oder bewertet wird. Und dies wird eben in der zweiten, syntaktisch eingebetteten Prädikation ausgedrückt. Die zweite Prädikation kann für sich selbst stehen, aber durch die Einbettung wird sie in ein semantisches Verhältnis zur dominierenden Prädikation gebracht. Diese steht für eine bestimmte Art und Weise, wie ein menschliches Subjekt die im zweiten Prädikatsausdruck geschilderte Situation wahrnimmt, bedenkt, kommuniziert, bewertet oder aber ihren Realitätsstatus einschätzt. Hier findet eine Relativierung des zweiten Sachverhalts zu einer Person statt, die Beobachterstellung zu diesem Sachverhalt einnimmt. Bei Ausdrücken des Wollens, der Aufforderung, des Erlaubens, Verbietens u.ä. nimmt das Subjekt zu der im zweiten Prädikatsausdruck thematisierten Situation den Status eines Partizipanten ein, der diesen Sachverhalt aktiv beeinflusst. Da die eben genannten Gesichtspunkte den Gebrauch von ut oder quod, Infinitiv oder anderen infiniten Formen beeinflussen, wurde dieser Block der Relativierungs-Spezifizierungen in dem gegebenen Graphen angesetzt. Darüber folgt entlang der y-Achse die rein syntaktische Funktion einer Einbettung an Argument-Stelle, schließlich die Charakterisierung „Universal- Konjunktion“, die oben schon erklärt wurde. So weit die Achsen! Der Quadrant bietet auf seiner linken Seite, der der Funktionswörter, die lateinisch-romanischen Entwicklungen im Bereich der Determinierer. Wie schon angedeutet wurde, haben die meisten Komplementierer des Vulgärlateins eine Vorgeschichte als kausale Konjunktionen: aus der Konjunktion quare, die selber von dem auch im klassischen Latein gebräuchlichen Satzadverb quare (‚deswegen‘) stammt, wurde der katalanische Komplementierer car. Dieser dürfte der Aussprache nach früh mit dem im Altspanischen und Galego-Portugiesischen verwendeten Komplementierer ca ununterscheidbar zusammengefallen sein. Ca hat aber ein anderes Etymon, quia. Auch quia ist wieder eine kausale Konjunktion (‚da, weil‘). Schließlich quod, das wie die anderen ursprünglich ‚weil‘ bedeutete, allerdings mit einer respektiven Nuance (‚weil, insofern als‘). Während kausale Konjunktionen, trotz einer gewissen Dienlichkeit des begründenden Sachverhalts für den begründeten, eine Symmetrie und Eigenwertigkeit zwischen den beiden verbundenen Aussagen aufrechterhalten, wurde beim Übergang zum Komplementiererstatus eine asymmetrische Verschränkung der Prädikate hergestellt, wenn das <?page no="182"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 170 Prädikat des Hauptsatzes sich bei Reanalyse für eine solche Interpretation eignete: Ich bin froh, weil X gewonnen hat = Ich bin darüber froh, dass X gewonnen hat. Im Bereich der asymmetrischen Relativierung ergibt sich eine Dichotomie utquod und die infiniten Verbformen kommen ins Spiel. Ut wird im Lateinischen gebraucht, wenn der zweite, eingebettete Sachverhalt ein Realisierungsziel darstellt oder wenn er modal eingeschätzt wird; quod wird verwendet, wenn die Relativierung in Bezug auf eine Wahrnehmung, einen Denk- oder Mitteilungsakt oder eine (emotionale) Bewertung geschieht. Der Infinitiv hat unter den infiniten Verbformen die weitaus meiste Verbreitung. Ob er als reiner Infinitiv oder als AcI auftritt, hängt letzten Endes von syntaktischen Bedingungen ab. Immerhin gibt es eine gewisse semantische Zuordnung des reinen Infinitivs zur Relativierung-als Realisierungsziel, da bei allen anderen Bezugspunkten der asymmetrischen Relativierung (modale Einstufung, Wahrnehmungsinhalt usw.) das Subjekt der eingebetteten Prädikation meist verschieden von dem der Hauptprädikation ist. Der AcI dagegen ist über das gesamte Spektrum gleichmäßig verteilt, kommt also nur unter anderem bei Angabe eines Realisierungsziels vor: Caesar milites castra munire iubet (Rubenbauer/ Hofmann/ Heine 1995: 193). Auf Grund dieser allgemeinen Verbreitung wurde das Paar Infinitiv/ AcI im unteren Teil das Graphen genau auf der Höhe des an der y-Achse stehenden Kern-Ausdrucks „Relativierung-als“ aufgeführt. Das Supinum markiert bei bestimmten Adjektiven den Zweck und damit ein Realisierungsziel. Gerundiale Formen werden im Anschluss an bestimmte Substantive gebraucht, die ebenfalls implizieren, dass die eingebettete Prädikation ein Realisierungsziel meint oder modal eingestuft wird. Beispiele (vgl. Rubenbauer/ Hofmann/ Heine 1995: 187ff., 275ff. u. 298f.): Verres Siciliae civitates hortatur et rogat, ut arent, ut serant. [Relativierung-als Realisierungsziel] Difficile est ut ad haec studia animus tam cito possit accedere (Pinkster 1988: 59) [Relativierung-als modal eingeschätzter Sachverhalt] Bene facis quod me adiuvas [Relativierung-als Bewertungsinhalt] Patere tua consilia, Catilina, non sentis? [Relativierung-als Wahrnehmungsinhalt] Non possum oblivisci meam esse hanc patriam [Relativierung-als Denkinhalt] Equites nuntiant auxilia venire [Relativierung-als Mitteilungsinhalt] Et boni et beati volumus esse [Relativierung-als Realisierungsziel] Contendo vincere (= ich versuche zu siegen) [Relativierung-als Realisierungsziel] Manere cogito (= ich gedenke zu bleiben) [Relativierung-als Realisierungsziel] navigandi nobis tempus esse (Pinkster 1988: 162) [Relativierung-als Realisierungsziel] Im Bereich der infiniten Formen fallen Supinum und gerundiale Ausdrücke in der Entwicklung zum Romanischen weg, wodurch bestimmte semantische Gesichtspunkte nicht mehr eindeutig mit einer infiniten Form gekoppelt sind. <?page no="183"?> 3.2 Grammatikalisierungswege 171 Der NcI wird aufgegeben. Der AcI dagegen bleibt lebendig. Wie viele Möglichkeiten zum Gebrauch gerade das Altspanische dem AcI noch einräumt, zeigt Metzeltins Auflistung (1979: 69). Durch den Schwund der konkurrierenden und semantisch spezialisierten infiniten Formen der Einbettung an Argumentstelle werden Infinitiv und AcI zu rein syntaktisch bedingten Größen. Der semantische Aspekt der asymmetrischen Relativierung steht zwar immer noch im Hintergrund, aber es sind die syntaktischen Gegebenheiten, die den Gebrauch lenken. Darum steht die Paarung „Infinitiv/ AcI“ auf der Höhe der syntaktischen Kategorie EINBETTUNG noch einmal in dem Graphen. Die auf diese verweisenden Pfeile von den weiter unten befindlichen infiniten Formen her symbolisieren die Verdrängung konkurrierender infiniter Formen durch den Infinitiv. Auch im Bereich der Komplementierer beobachtet man eine weitere Syntaktisierung zur Funktion „Einbettung als Argument“. Der Komplementierer gewinnt im Romanischen (nach und nach) die Einheitsform que, lediglich die Modi des Verbs sind noch mit bestimmten semantischen Aspekten der dominierenden Prädikation gekoppelt. Über die syntaktische Doppelrolle des polyvalenten que haben wir oben schon gesprochen. Sie stellt den Gipfelpunkt der Obligatorisierung und Syntaktisierung dar und bildet eine Art „Scharnier“ zu der Gruppe der Grammatikalisierungskanäle der eingebetteten Prädikationen mit Satelliten-Status. Das obige, sechste Diagramm bezieht sich auf Argument-Konstituenten im Satz (vgl. 3.1.5). Derjenige Teil des Graphen, der die Entwicklung bei den infiniten Formen vorführt, beinhaltet nun auch Information zu Wandelvorgängen bei den infiniten Formen auf Wortgruppenniveau. Denn wenn ein Satz ein Prädikat in Form eines Funktionsverbgefüges enthält, dann kann eine weitere Prädikation so an eine Argument-Stelle dieses Satzes eingesetzt werden, dass ein Gerundium oder Infinitiv verwendet wird, durch den/ das das prädikative Nomen des Funktionsverbgefüges ergänzt wird: tempus est navigandi, tempus est abire (s.o.). Infinite Verbformen werden auf Wortgruppenniveau aber immer nur dann verwendet, wenn ein prädikatives Nomen den Kern der Nominalphrase ausmacht. Nur im Anschluss an ein prädikatives Nomen kann die Vielfalt an infiniten Formen im Latein überhaupt innerhalb der Nominalphrase zur Anwendung kommen: consilium ex oppido profugere, suspicio regni/ regnum adpetendi (vgl. Pinkster 1988: 121f.) Es entsteht also eine vergleichbare Konkurrenz unter den infiniten Formen wie bei der Einbettung als Argument, und zwar unter gleichen konstruktionellen Bedingungen (Präsenz eines prädikativen Nomens [consilium dare, suspicionem habere]). Nun beobachtet man auch auf Wortgruppenniveau im Vulgärlatein eine Tendenz, das Gerundium und Gerundivum zu Gunsten des Infinitivs mehr und mehr aufzugeben. Im Romanischen hat sich der Infinitiv ebenso auf Wortgruppenniveau wie auf Satzniveau an Argument-Stelle durchgesetzt. Lediglich an Satellitenstelle, bei Ersatz und Verkürzung adverbialer Nebensätze, konnte sich das Gerundium halten. Insofern lässt sich die Information <?page no="184"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 172 des obigen Graphen betreffend die Verschiebungen bei den infiniten Formen auch auf das Wortgruppenniveau übertragen. Was ist über die Motivik der Innovationen zu vermuten, von denen die Grammatikalisierungen ausgingen, die in dem Graphen beschrieben werden? Im Fall des Supinums dürfte die Isoliertheit der Form im Zusammenspiel mit der ökonomischen Maxime (Verringerung des Merkaufwandes) zum Verschwinden beigetragen haben, beim Gerundivum hat wahrscheinlich das Ökonomie-Verhalten auf die formale Nähe zum Gerundium und daraus resultierende strukturelle Unklarheiten reagiert. Der NcI hatte in Folge des Verschwindens des Passiv-Infinitivs keinen Rückhalt im Sprachsystem mehr und wurde in Konsequenz auch als Gesamtkonstruktion aufgegeben. Zur Aufgabe von ut trug wohl seine phonologische Schwäche bei, die allerdings durch verstärkte Formen wie uti auch wieder hätte aufgefangen werden können. Möglicherweise wirkte sich bei der Verdrängung von ut noch ein anderer Faktor aus: die Attraktivität einer quod-Verallgemeinerung, die durch sprachökonomische Redeweisen in populären Sprecherschichten aufgekommen sein mag. Gemäß der Maxime „Rede so, dass du möglichst auffällst“ könnte sich diese Verdrängung auch in anderen Bevölkerungsschichten durchgesetzt haben, bis sie als Grammatikalisierungsprozess begriffen wurde. Das siebte Diagramm beschreibt die Prozesse, durch die neue, differenzierende Konjunktionen geschaffen wurden. Die Forschungsliteratur zu Konjunktionen ist besonders reich. Das klassische Latein neigt bei der Markierung der unterschiedlichen, durch Konjunktionen darstellbaren Relationen deutlich zur Ökonomie. Die Konjunktionen, die am häufigsten dazu verwendet werden, diese semantischen Funktionen zu repräsentieren, bilden eine kleine Klasse polysemer Elemente: ut, cum, quod und si. Demgegenüber verfügen die romanischen Sprachen über ein vielfältiges Inventar an unterordnenden Konjunktionen. Die Herausbildung neuer Konjunktionen hat nun mit der Möglichkeit zu tun, einfache Konjunktionen mit begleitenden korrelativen Elemente zu kombinieren: (kausal) ideo quod; (final) idcirco ut. Diese Korrelativa sind bei freiem Vorkommen anaphorische Adverbien. In dem Kombinationsgerüst mit Bezugs-Subordinatoren werden sie kataphorisch, verweisen also nicht mehr auf Vorinformation, sondern auf nachfolgende: Oculi tui pulchri sunt. <- Idcirco te amat. vs. Te amat idcirco quod oculi tui pulchri sunt. Eine Arbeit von Hans- Peter Ehrliholzer aufgreifend (Ehrliholzer 1965) zeigt Wolfgang Raible (1992a: 160ff.), dass im Latein schon früh ungefähr fünfzehn unterschiedliche Kombinationen mit kataphorisch eingespannten Adverbialen nachweisbar sind, die kausale, finale und konditionale Relationen bezeichnen können: cum eo quod (= unter der Bedingung, dass) [Cicero]; inde quod (= daher) [Terenz] u.a. Im Spätlatein kommen temporale und andere Relationen hinzu: antea quod, postea quod, praeterquod. Dabei dient der Kom- <?page no="185"?> 3.2 Grammatikalisierungswege 173 VII Grammatikalisierungswege der eingebetteten Prädikation (an Satelliten-Stelle) (Abb. 18) quem ad modum quemadmodum->0 ita...ut->0 Vergleich quo modo quomodo como MOD MOD konzess makarie -> maguer maguer que maguer|| cum->0, ut->0 adhunc -> aun aun...que konsek así de esta guisa de guisa que así que instr fin por tale/ esso....que ut->0|| quod -> que kaus por esso , por tale por que por que, pues que pues || cum->0 kond com esta condiçom com esta condiçom que si -> si en este caso en caso que KKK KKK bis fasta que fasta que seit pues que nach post ->pues pues que pues vor antes antes que gleich (punkt.) quando -> quando||cum->0 gleich (lin.) dum interim demientra TEMP TEMP einf. relat. Anschluss Periphrase gestützte Periphrase gestütztes kompl. einfaches Satzadverbial Satzadverbial Funktionswort Funktionswort <?page no="186"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 174 53 Heine/ Kuteva (2007) weisen in den afrikanischen Sprachen ähnliche Übergänge auf (Ibid: 224ff.), wobei sie, wie Raible, auch Verbserialisierungen berücksichtigen, die aber für die lateinisch-romanischen Entwicklung nicht relevant sind. plementierer quod als einheitliche und neutrale Stützkonjunktion. Die inhaltliche Differenzierung ruht allein auf dem zum Korrelativum gewordenen anaphorischen Adverbial. Zwei andere Quellen zur Bildung adverbialer Konjunktionen sind einmal präpositionale Wortgruppen, in denen ein abstraktes Substantiv auf einen vorhergehenden Satz verweist und dabei oft auch die semantische Stellung des jetzt folgenden Satzes zu dem vorhergehenden anzeigt: ob eam causam ob eam causam quod; zweitens relativische Anschlüsse mit Präpositionen: propter quod (weswegen) propter quod (weil). Die Funktionsweise dieser Elemente lässt sich besser an den syntaktischen Gesamt-Verhältnissen verdeutlichen. In syntaktischer Hinsicht verläuft die Schaffung neuer Subordinatoren im Lateinischen ausgehend von den drei verschiedenen Quellen über die gleichen Stufen 53 : (1) zuerst Satzsequenz: neutrale Anapher: A. Propterea B. Anapher mit Interpretator: A. Ob eam causam B. relativischer Anschluss: A. Propter quod B. (2) dann Integration des ersten Satzes in den zweiten: B propterea quod A. B ob eam causam quod A. B propter quod A. Die Sätze mit propterea und ob eam causam besitzen in ea und causa Repräsentanten des integrierten Satzes. Diese Repräsentanten sind kataphorisch. (3) schließlich Neutralisierung der Opposition zwischen den verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten durch Reduktion auf das einfachste Modell: B propter quod A. Die letztere Formulierungsweise besitzt innerhalb der Konjunktion keinen kataphorischen Repräsentanten des integrierten Satzes mehr, wodurch eine stärkere Stufe der Integration erreicht ist. Inwiefern sind dies Vorgänge der Grammatikalisierung? Stufe (2) bedeutet im Verhältnis zu Stufe (1) in jedem Fall eine Verringerung des Skopus, weil dann die Konjunktion als Konstruktionselement nicht mehr in einen Hauptsatz (S) integriert ist, sondern nur noch zur Bildung eines untergeordneten Satzes (S’) beiträgt. Im Fall der neutralen Anapher mittels Satzadverbial und der Anapher durch Interpretator lässt sich der Ausgangsausdruck, also das Satzadverbial oder die um den Interpretator gebaute Periphrase, noch innerhalb des Satzes, in den er eingebettet ist, verschieben. Die aus diesen Ausgangsausdrücken hervorgegangenen Konjunktionen dagegen sind innerhalb des konjunktional <?page no="187"?> 3.2 Grammatikalisierungswege 175 verknüpften Satzgefüges nicht mehr verschiebbar. Sie stehen fix an der Nahtstelle zwischen Hauptsatz und Nebensatz. Beispiele: Oculos Iuliae admiratur. Ob eam causam illam mulierem amat Mulierem illam eam ob causam amat Iuliam amat ob eam causam quod oculos eius admiratur *Iuliam amat oculos eius ob eam causam quod admiratur *Iuliam amat oculos eius admiratur ob eam causam quod. Semper errat. Ideo fidendum ei non est. Semper errat. Fidendum ei ideo non est. Semper errat ideo ut fidendum ei non sit. *Semper errat fidendum ei ideo ut non sit Es kommt hier also zu einer Fixierung. Betreffend den Schritt von Stufe (1) zu Stufe (2) ist weiterhin relevant, dass die Setzung eines Relationsmarkierers bei Satzsequenzen optional ist und man häufig mit semantisch impliziten Übergängen von Satz zu Satz zu tun hat. Obwohl eine kausale oder temporale Relation besteht, wird sie oft nicht markiert (die bekannten Fälle: Hans hat sich den Knöchel verstaucht. Er muss zum Arzt (also: Deswegen muss er zum Arzt). Ich trat ein. Peter lag am Boden und betrachtete Wanzen durch eine Lupe. (also: Als ich eintrat, betrachtete Peter Wanzen durch eine Lupe)). Dagegen zwingt die Konstruktion eines Satzgefüges zur Setzung eines Relationsmarkierers. Immerhin kann man nicht wirklich von einem Schritt zu einer Obligatorisierung von differenzierenden Konjunktionen sprechen, solange die Möglichkeit, auf ein neutralisierendes, polyvalentes que zurückzugreifen, eine starke Alternative darstellt. Ein Schritt weg von der Optionalität hin zur Obligatorisierung der Markierung führt aber in jedem Fall zu einer Frequenzerhöhung. Das Wesen des Übergangs von Stufe (2) zu Stufe (3) wiederum liegt in der Reduktion der paradigmatisch miteinander konkurrierenden Formen komplexer Konjunktionen mit ihrer unterschiedlichen Herkunft. Diese Reduktion des Paradigmas erhöht die Geschlossenheit des übergeordneten Konjunktionenparadigmas, da für eine Relation nur noch ein Repräsentant zur Verfügung steht. Der Übergang (2)-zu-(3) bringt also eine stärkere Paradigmatizität mit sich. Auch hier sind demnach wieder verschiedene Faktoren einer Grammatikalisierung erkennbar: Fixierung, Frequenzerhöhung, Paradigmatizität. Die Bildung von grammatischen Mitteln zur funktionen-differenzierenden Integration sekundärer Prädikationen an Satelliten-Stelle besteht in einem Geflecht aus Grammatikalisierungsvorgängen, die es nun zu beschreiben gilt. Was zeigt das Diagramm VII? Die Zeitachse ist zweigeteilt, in einen Abschnitt, der die Vorgeschichte von Konjunktionen angeht und einen solchen, der die <?page no="188"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 176 adverbialen Konjunktionen selber betrifft, die ja verschiedenen Kategorien angehören können. Beide Teile der x-Achse sind durch die y-Achse voneinander getrennt. Ganz links auf der x-Achse liegt der Sektor des einfachen, anaphorischen Satzadverbials, das bei der Konjunktionen-Bildung dann korrelativ-kataphorisch eingespannt wird. Es folgt weiter nach rechts der Sektor der relativischen Anschlüsse. Alle Konjunktionen, die eine Präposition ins Spiel bringen, die nicht ihrerseits auch als Satzadverbial fungieren kann, mussten eine Version mit relativischem Anschluss als Vorform der Konjunktion aufweisen, will man nicht annehmen, dass Komplementierer und Präposition auch spontan zu einer neuen Konjunktion verbunden werden können. Am nächsten bei der y-Achse steht in der linken Hälfte der x-Achse der Sektor „Periphrase (mit Hilfe eines Interpretators)“ [s.o.]. Auf der rechten Hälfte der x-Achse schließt sich an erster Stelle der entsprechende Sektor der durch den Komplementierer gestützten Periphrase als die komplexeste Konstruktionsform für eine Konjunktion an. Dann folgt das gestützte Satzadverbial, schließlich das komplexe Funktionswort. Letzteres stellt in der Terminologie des Graphen den Zielpunkt für alle relativischen Anschlüsse dar, über die ja Präpositionen an der Konjunktionenbildung mitwirken können. Am weitesten rechts auf der x-Achse ist der Sektor „einfaches Funktionswort“ zu finden, der im Lateinischen schon durch eine Reihe von Konjunktionen besetzt war und auf dem Weg zum Romanischen durch neue Elemente bereichert wurde. Die y-Achse zeigt die bekannten Klassen der adverbialen Subordinatoren. Dabei sind die umfassenden Kategorien TEMP(oral), KKK (kausal-konsekutiv-konzessiv nach der Termonologie von Kortmann 1997) und MOD(al) in der Mitte, direkt zu beiden Seiten der y-Achse platziert. Am linken Rand des Graphen sieht man nach oben gehend die einzelnen Relationen, die unter diese semantischen Großbereiche jeweils fallen. Die Relationen, die den deutschen Konjunktionen „während“ und „wann“ entsprechen, sind als lineare und punktuelle Gleichzeitigkeit ausgewiesen. Andere temporale Relationen wurden durch deutsche Konjunktionen abkürzend dargestellt. Hinter Bezeichnungen wie „bis“ oder „vor“ stehen aber natürlich komplexe, zeitlogische Charakterisierungen. Die Kategorien des KKK-Bereichs sind die üblichen, bei MOD ist lediglich das komparative Verhältnis berücksichtigt. Bevor die Grammatikalisierungswege beschrieben werden, die im Quadranten von Graph VII auftauchen, sind noch ein paar klärende Worte zur Menge der aufgeführten Konjunktionen nötig. Obwohl eine Reihe von Subordinatoren erfasst sind, ist die Dokumentation des Graphen nicht vollständig. Denn bei diesem Diagramm erschien es wichtiger, die unterschiedlichen Entwicklungsströme von Quellzu Zielkonstruktion durch konkrete Beispiele zu illustrieren als eine umfassende Sammlung von altspanischen, galego-portugiesischen und altkatalanischen Konjunktionen zu bieten. <?page no="189"?> 3.2 Grammatikalisierungswege 177 Die empirische Grundlage des Diagramms bildeten die Angaben zu Konjunktionen, die Menéndez Pidal in seiner Cid-Grammatik macht (1976: 391ff.). Es wurde schon einmal gesagt, dass der Sprachgebrauch des Cid der Umgangssprache des im Frühmittelalter entstandenen Altspanischen noch recht nahe stehen könnte. Dies gilt auch für manche der Konjunktionen, die in dem Epos verwendet werden. Obwohl es nicht typisch ist für mündliche Formulierungsweisen, dass Satzsequenzen zu Satzgefügen verbunden werden, weil die parataktische der hypotaktischen Form der Satzentfaltung vorgezogen wird (vgl. Koch/ Oesterreicher 1990: 96), fehlen Konjunktionen in authentischen Dialogen der Gegenwart durchaus nicht vollkommen. Und für die orale Vorgeschichte der sich nun bildenden iberoromanischen Schriftsprachen ist dies genauso denkbar. Immerhin: Die Schriftsprache braucht Konjunktionen sicherlich in stärkerem Maße, da bei den meisten Textsorten die aus den verbesserten sprachlichen Planungsbedingungen des Schreibens resultierende Möglichkeit, Satzgefüge zu bilden, häufiger genutzt wird. In der Schriftsprache herrscht eine dauernde Aktivität der Neuschaffung von Konjunktionen, die als Neologismen relativ schnell auf den Plan treten und mindestens eine Zeit lang stabile Elemente des Sprachsystems bleiben. Doch mag diese Aktivität gleich zu Beginn auf ein Spektrum fertiger Konjunktionen sowie Satzadverbiale und Interpretator-Substantive zurückgegriffen haben, die durchaus schon in der Mündlichkeit bereit gelegen haben könnten. Das Gros der Konjunktionen, die in Graph VII aufgeführt werden, entstammt - wie gesagt - dem Cid. Immerhin sind einige der aufgeführten Konjunktionen dort noch nicht vertreten, etwa así que oder en caso que. Sie bildeten sich offensichtlich erst im weiteren Verlauf der altspanischen Schriftspache aus und sind in den Texten des 13. Jahrhunderts ausführlich dokumentiert. Weiterhin ist es für das richtige Verständnis des Graphen wichtig, dass er im Unterschied zu den vorhergehenden fast keine lateinischen Elemente bietet. In der Tat erscheint es aus der Sicht der Konjunktionenbildung weniger interessant, auf welches lateinische Satzadverbial ein romanisches zurückgeht oder welches lateinische Interpretator-Substantiv das Etymon zu einem romanischen bildet, als vielmehr, wie die Schaffung von Konjunktionen ablief. Und dies sind eben Prozesse, die sich innerhalb des Romanischen selber vollzogen. Zeitlich verkörpert das Diagramm VII also eine Epoche, die die zwei Jahrhunderte des Hochmittelalters umfasst, in denen sich die alt-iberoromanischen Schriftsprachen konstituierten, sowie die der Verschriftlichung unmittelbar vorhergehenden Jahrhunderte, in der wahrscheinlich schon in der Umgangssprache eine Reihe konjunktionaler Verbindungen geschaffen wurden. Der Graph bezieht sich aber nicht auf die langen Zeiträume der Entwicklung vom Latein zum Romanischen, oder berücksichtigt sie nur am Rande. Im Unterschied zu den anderen Graphen dieses Kapitels repräsentiert er eine relativ kurze Zeitspanne. <?page no="190"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 178 Was zeigt der Quadrant im Einzelnen? Zunächst erkennt man im untersten Teil die Geschichte der Herausbildung und Fortbildung der temporalen Konjunktionen. Um die punktuelle Gleichzeitigkeit auszudrücken, also dass ein Ereignis zum temporalen Bezugspunkt eines anderen wird, verfügt schon das Latein über eine einfache Konjunktion, quando, die auch im Romanischen fortgeführt wird. Im Unterschied zur Konjunktion cum, das ebenfalls eine Reihe von temporalen Bedeutungen verkörpert, ist quando jedoch für eine bestimmte temporale Relation reserviert. Dies begünstigt quando gegenüber dem stark mehrdeutigen cum, das keinen Fortsetzer im Romanischen findet. Die lineare Gleichzeitigkeit wird im Lateinischen durch die Konjunktion dum repräsentiert. An die Seite von dum tritt offenbar schon seit frühester Zeit (Cäsar, Komiker) eine adverbial verstärkte Version interim dum (vgl. Georges 1992, Bd. 2: 369), die einerseits wohl ein Resultat des Lehmann’schen reinforcement sein dürfte, andererseits aber auch die Funktion einer semantischen Differenzierung erfüllt, da dum auch andere Relationen ausdrücken konnte als nur die des „während“. Dum findet im Altspanischen keinen Fortsetzer. Wie die Existenz des Relativums do zeigt (vgl. Metzeltin 1979: 56), hat dies nicht unbedingt etwas mit einer schwachen Lautstruktur zu tun. Aus dum hätte sich lautgeschichtlich ein stabiles do entwickeln können. Möglicherweise ist dum durch die sich aus den Lautgesetzen ergebende Homonymie zum wohl von de unde abstammenden Relativum do aufgegeben worden, vielleicht aber auch schon vorher, als Folge seiner Polyfunktionalität. Interim dum erfuhr eine Umstellung zu dum interim, und diese Periphrase vereinigt gegenüber dem einfachen dum die Vorteile einer funktionalen Eindeutigkeit und starken lautlichen Stabilität mit geringer Gefahr der Homonymie zu einem anderen Funktionswort. Morphologisch vollzieht sich beim Übergang zum Romanischen ein Wandel von einem komplexen (dum + interim) zu einem einfachen (demientra) Funktionswort. Metzeltin (1979: 96) führt eine Reihe von Varianten von demientra auf: demientra que, demientre, demientre que, mientras, mientras que, domientres que, domientre, mientre que, mientre. Die Reihe demonstriert, dass innerhalb des Romanischen offenbar sowohl in Richtung einer noch weiter gehenden Vereinfachung des entstandenen einfachen Funktionsworts als auch in Richtung seines erneuten reinforcement Fortentwicklungen stattfinden konnten. Außerdem führt sie vor Augen, wie viel Kreativität und Aktivität die Verfasser der ersten kastilischen Texte bei der Bildung neuer Konjunktionen bzw. ihrer Hereinnahme aus der gleichzeitigen Umgangssprache an den Tag legten. Die temporale „vor“-Relation wird in der Satzsequenz-Situation durch das altspanische Adverb antes bezeichnet. Bei Bildung von Satzgefügen wird antes durch den Komplementierer gestützt und zur Konjunktion antes que. Ähnlich verhält es sich bei dem auf das lateinische post zurückgehenden Satzadverbial pues, das ‚danach‘ bedeutet. pues begründet ein größeres Netz an Funktionen und Grammemen. Wie bei antes bildet sich die Konjunktion pues que. Das pues <?page no="191"?> 3.2 Grammatikalisierungswege 179 que, das im Sinne von „nachdem“ gebraucht wird, entwickelt sich zur einfachen Konjunktion pues weiter. Die aus der Stützung des Satzadverbials pues entstandene neue Konjunktion pues que wird daneben dazu verwendet, die Relation „seitdem“ zu repräsentieren. Schließlich werden pues que und pues durch eine post-hoc-propter-hoc-Metonymie in den KKK-Bereich hineingenommen und dienen zur Repräsentation der Kausal-Relation. Dies bedeutet einen Aufstieg in abstraktere semantische Funktionen. Die Mehrzahl der KKK-Konjunktionen ist jedoch nicht-temporalen Ursprungs. Schon die Sprache des Cid kennt die „klassische“ iberoromanische Kausalkonjunktion por que, die möglicherweise aus einem relativischen Anschluss entstanden ist, der mittels der Präposition por gebildet wurde. Das lateinische konditionale si wird lautlich-funktional unverändert fortgeführt. Dagegen wird das final-konsekutive ut, das ja auch noch konzessive und konditionale Funktionen wahrnehmen kann, aufgegeben. Weder als Komplementierer noch als Subordinator findet es einen Fortsetzer. Im finalen Bereich wird es durch quod (später que) verdrängt, que + Subjunktiv lässt sich oft mit „damit“ übersetzen. Im KKK-Bereich beobachtet man auch eine Reihe von periphrastischen Ausdrücken um einen Interpretator herum. Die konditionale Relation verkörpert sich in Interpretatoren wie (asp.) caso oder (gal.-port.) condiçom. Entsprechend werden in der Satzsequenz-Situation solche Periphrasen gebildet wie en este caso oder com esta condiçom. Im Fall von caso wird daraus in der Satzgefüge-Konstellation die gestützte Periphrase en caso que. Hier verliert sich das anaphorische Demonstrativum der Ausgangsformel. Ganz anders bei der galego-portugiesischen Formel com esta condiçom. Auch als gestützte Periphrase behält sie das Demonstrativum bei, das aber eine kataphorische Umdeutung erfährt, da in der Satzgefüge-Konstellation die Reihenfolge der Sätze, die konjunktional aufeinander bezogen werden, im Vergleich zu entsprechenden Satzsequenz-Situation ja umgekehrt wird: A. Unter-dieser- Bedingung B = B unter-der-Bedingung-dass A Eine weitere Periphrase ist für den konsekutiven Bereich aufgeführt: de esta guisa („auf diese Weise“), das zur Konjunktion de guisa que („so dass“) wird. Wie caso oben, so verliert auch guisa bei dieser syntaktisch-funktionalen Weiterentwicklung das begleitende Demonstrativum. Generell erhöht es die syntaktische Integration als Konjunktion, wenn das Demonstrativum für die konjunktionale Fassung der Periphrase nicht mehr beibehalten wird. Zum Ausdruck des konsekutiven Verhältnisses bildet des Altspanische außerdem die Konjunktion así que aus, die auf das einfache Satzadverbial así zurückgeht. Die Entwicklung von explizit finalen Konjunktionen geht im Altspanischen von finalen Satzadverbialen aus: por esso, por tale. Tale ist hier wohl ebenso wie esso als selbstständige Verweisform zu verstehen. Nun lassen die Formulierungen des Cid noch erkennen, über welche syntaktischen Zwi- <?page no="192"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 180 schenstadien die Herausbildung regelrechter Konjunktionen gelaufen sein könnte. Im Cid findet man öfters Fokussierungen von Adverbien wie mucho oder tanto. In diesen Konstruktionen werden die Adverbien von dem Adjektiv oder Verb, das sie bestimmen, getrennt: muchol tengo por torpe (= tengo lo por mucho torpe = lo considero muy malo) [Menéndez Pidal 1908: 404]. Formal ähnlich sind nun Formulierungen mit einleitendem Satzadverb und neutraler que-Verbindung, wie die folgenden: Por esso uos la do que la bien curiedes; por tal lo faze que no lo ventasse nadi (Ibid.: 397). Wie die Herausstellungs-Strukturen bei mucho und tanto konnten diese durch Adverbien eingeleiteten Konstruktionen gedeutet werden als Trennungen von eigentlich Zusammengehörigem, so dass sich daraus dann eine Anbindung der Satzadverbialen an die universale Konjunktion que und damit erst eine vollständige Stützung entwickelte. Die explizite, eindeutig finale Konjunktion ist in den späteren altspanischen Texten dann por tal que, das mit dem ambigen que + Subjunktiv konkurriert. Eine ähnliche syntaktische Konstellation beobachtet man bei der konzessiven Konjunktion aun…que, die sich aus dem Satzadverbial aun entwickelte, das seinerseits auf (lat.) adhunc zurückgeht. Adhunc bedeutet „bis jetzt“. Diese Bedeutung konnte sich leicht zu der Bedeutung eines Andauerns über einen Erwartungszeitraum hinaus wandeln, also zu der Bedeutung von (dt.) noch. Die konzessive Lesung entsteht möglicherweise durch eine Anhebung dieses „noch“ auf eine Ebene der Meta-Assertion, übersetzbar durch eine Formel wie: „noch gilt, dass x (Präsupposition: x-verursacht-normalerweise-y); und (trotzdem) nicht-y“. Die Kombination aus dem einleitenden Satzadverbial aun und der abschließenden und überleitenden Universal-Konjunktion que (aun de lo que diessen que oviessen grand ganançia, [Ibid.: S. 398]) konnte wieder als Trennung von eigentlich Zusammengehörigem verstanden werden und führte im weiteren Verlauf zum gestützten Satzadverbial aun que. Diese Konjunktion ist, in zusammengeschriebener Form, bis ins Neuspanische fortgeführt worden. Dagegen ist maguer que typisch für das Altspanische und wird im Neuspanischen nicht mehr gebraucht. Maguer que geht zurück auf das Satzadverbial maguer, das seinerseits von der (altgriech.) Interjektion makarie! her stammt. Makarie! ist laut Gemoll (1954: 481) eine ironische Anredeform („Oh, Liebster! Oh, Gütigster“), die aber auch neutral als „Oh, Glückseliger“ gedeutet werden kann und aus der sich über mehrere Stufen der konzessive Sinn von maguer entwickelte. Dabei wurde zunächst die Interjektion umgedeutet. In altspanischen Texten findet sich laut Ausweis von Corominas/ Pascual (1980, Bd. 3, 764) vereinzelt maguer! im Sinne von ojalá! . Dies deutet darauf hin, dass es optative Sätze mit einleitendem maguer gegeben haben könnte. In Verbindung mit einem Aussagesatz, könnten sich dann Satzpaare ergeben haben, in denen der konzessive Sinn schon angelegt war. Ein Beispiel wäre eine Passage wie: Das Getreide trocknet nicht. Möge der Regen aufhören! Der zweite Satz drückt einen Wunsch aus, der ein Geschehen beinhaltet, das <?page no="193"?> 3.2 Grammatikalisierungswege 181 verhindern sollte, dass der erste, unerwünschte Sachverhalt fortbesteht. Wenn der optative Satz modal umgedeutet wird als eine auf das Subjekt bezogene Erlaubnis, dann ergibt sich ein erster konzessiver Gesamtsinn: Möge der Regen aufhören/ Lass den Regen aufhören, du wirst doch nicht erleben, dass das Getreide trocknet. Dieses Satzpaar, denkbar als Bestandteil von argumentativen Gesprächsformen, bezieht sich auf zukünftige Sachverhalte. Eine stärkere Grammatikalisierung des so verstandenen maguer konnte schließlich dazu führen, dass auch eine Gesamtaussage über vergangene Geschehnisse mit Hilfe von maguer formuliert werden konnte, und damit war die Bedeutung ‚obwohl‘ erreicht. Die weitere Entwicklung ist dem Cid zu entnehmen, der keine Übergangskonstellation maguer…que, also eine Trennung von maguer und que, dokumentiert. maguer que setzte sich zu einer einfachen konjunktionalen Form maguer fort. Schließlich die Vergleichs-Relation. Mit dem Wegfall von ut fällt auch die lateinische Vergleichsformel ita…ut. Auch quemadmodum wird im Romanischen nicht weitergeführt. Im Romanischen wird die Vergleichsrelation ganz von der auf quomodo zurückgehenden Konjunktion como (asp. Versionen auch cuemo, commo) dominiert. Im Gegensatz zu quomodo ist como die etymologische Herkunft nicht mehr anzusehen. Daher kann es als einfache Konjunktion gelten, quomodo dagegen als komplexes Funktionswort. Wie quemadmodum geht quomodo auf einen relativischen Anschluss zurück. Metzeltin zeigt (1979: 55), dass como im Altspanischen viele Funktionen hat und in der Lage ist, eine Reihe von adverbialen Relationen zu repräsentieren: • kausal: E Pirus, como era mancebo, auie sabor dandar e no estar en un logar. • konsekutiv: Dixol Rocas que no lo fiziesse, que el guisarie cuemo nol uinies del danno. • konzessiv: Commo muchos obispos le dixiesen mal, el non daua nada por las lenguas de los maldizientes. • konditional: commo me fyziere algo, que en otra tierra sueldo dan al fyjo dalgo. • final: Aduga melos avistas…Commo aya derecho de ynfantes de Carrion • temporal: E commo los dichos embaxadores entraron, fallaron luego seys marfiles Auf den ersten Blick wirken diese Verwendungen so, als zeige sich in ihnen eine für Grammatikalisierungen ungewöhnliche Rückentwicklung der Semantik von como von einer abstrakteren modalen zu konkreteren Funktionen. Dies scheint die Deutung der in Graph VII beschriebenen Vorgänge als Grammatikalisierungen mindestens partiell zu durchkreuzen. Sieht man sich aber einerseits das umfassende, die adverbialen Relationen fast vollständig abdeckende Bedeutungsspektrum von como an und berücksichtigt man andererseits die Tatsache, dass como in anderen Funktionen als der kompara- <?page no="194"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 182 54 Eine solche Entwicklung ist für einen komparativen Subordinator offenbar nicht ungewöhnlich. Man denke an die semantische Vorgeschichte von (lat.) ut und (altgriech.) hos, die beide ursprünglich „wie“ bedeuteten. tiven nur selten gebraucht wurde (Menéndez Pidal 1976: 393, Cano Aguilar 1988: 304), dann wird eine ganz andere, umfassendere Entwicklung hinter der scheinbaren semantischen Regression ins Konkretere erkennbar. Schon quomodo und später auch como tritt als Konkurrent von quod bei der Herausbildung einer Universalkonjunktion auf 54 . Diese Generalisierung bleibt im Fall von como aber unvollendet. Sie hinterlässt ihre Reflexe durch die marginal genutzte Polyfunktionalität im Bereich der temporalen und KKK-Relationen, die insofern als rein sekundär, als Epiphänomen der abgebrochenen Entwicklung hin zu einer Universalkonjunktion einzustufen sind. Soweit die Information des Quadranten! Wieder muss man sich klar machen, dass diese Grammatikalisierungsprozesse eine Folgeerscheinung von Initiativen sind, die zunächst nicht auf die Schaffung eines Bestands an grammatischen Gestaltungsmitteln zielten. Wodurch wurden die sprachlichen Innovationen mit der Folge „Konjunktionenzoo“ angeregt? Von den ökologischen Bedingungen her gab es zwei begünstigende Voraussetzungen: einmal die strukturelle Ambiguität, wenn die Ausgangskonstruktion ein relativischer Anschluss war. Das konstruktionelle Hinübergleiten zur Konjunktion mag in diesem Fall sehr nahe gelegen haben. Zweitens die funktionale Offenheit von polyvalentem que. Die semantische Relation zwischen zwei zu einem Satzgefüge verbundenen Sätzen ist in vielen Fällen erschließbar, so dass hinter einem faktisch gegebenen schlichten que eine präzisere inhaltliche Beziehung steht. Eine Ergänzung um Präpositionen oder Adverbien konnte diese Beziehung explizit und hörbar bzw. sichtbar machen. Die Maxime, die dazu führte, dass diese ökologischen Bedingungen durch die Schaffung explizierender Konjunktionen aktiv verändert wurden, war wohl eher eine der Anpassung als eine der Auffälligkeit. Vor allem durfte es darum gegangen sein, die Verständlichkeit zu erhöhen. Dies bedeutet nicht, dass bei der Schaffung der nötigen Ausgangsfunktionswörter, nämlich der Präpositionen und Adverbien selber, nicht eher emotionale oder soziale Motive und andere Sprachfunktionen als die referentielle eine Rolle gespielt haben. Eine Präposition wie fasta (= hasta), die auf (arab.) hatta zurückgeht, ein Satzadverbial makarie, das vom Griechischen übernommen wurde, bringen zum Beispiel das Prestige kulturell hoch stehender Idiome oder religiöser Trägersprachen (frühchristliches Griechisch) ins Spiel. Dennoch ist der Schritt von diesen bereit stehenden Lexemen bzw. Grammemen hin zu Konjunktionen eher rational, die Explizierung unterstützt auf Hörerseite das Verständnis von Relationen und nicht die gefühlsmäßige Einstufung von Sachverhalten. <?page no="195"?> 3.2 Grammatikalisierungswege 183 In Verbindung mit der Konjunktionengestaltung ist ein weiteres Feld des Grammatikwandels anzusprechen. Denn auch bei den „Schwestern“ der adverbialen Subordinatoren, nämlich den infiniten Verbformen mit Satellitenfunktion, kam es zu Änderungen und Verschiebungen. Im Blick ist hier der gesamte Phänomenbereich der Verkürzung von Nebensätzen durch atemporale und apersonale Verbvarianten (Infinitiv, Partizip, Gerundium usw.). Nach den bisherigen Erläuterungen sollte man es auch bei dem Wandel der infiniten Verbformen in Satellitenfunktion mit Grammatikalisierungsvorgängen zu tun haben. Eine genauere Betrachtung zeigt nun, dass dies nicht so ist. Alle infiniten Verbformen des Lateinischen können in Satellitenfunktion verwendet werden. Dabei allerdings nicht für die Repräsentation der selteneren und abstrakteren, modalen Relationen (Hinsicht, Vergleich), für deren Markierung explizite Konjunktionen unabdingbar sind. Wohl aber für die häufigen Relationstypen des temporalen und kausal-konditionalen Bereichs. Wie bei den eingebetteten Prädikationen an Argumentstelle reduziert sich beim Übergang zum frühen Romanischen das Formenspektrum. Supinum und Gerundivum werden aufgegeben. Außerdem übernimmt das Gerundium einige Funktionen des Präsenspartizips (als participium coniunctum) und gibt schon in den älteren Stufen des romance einen wichtigen Konkurrenten zu diesem ab. Wenn nun weniger Formen in Opposition zueinander stehen, scheint sich die Paradigmatizität des Ganzen zu erhöhen. Auch Prozesse phonologischer Abreibung finden statt. Bei Gerundium und Partizipien folgen sie den Wegen der Kasusreduktion der Substantive und Adjektive, so dass nur noch Grundformen übrig bleiben: -ndo, -nte (Präsenspartizip), -do/ -da (Vergangenheitspartizip). Allerdings kann sich keine Form als einzige verbleibende infinite Verbform durchsetzen. Es gelten weiterhin Zuordnungen zu bestimmten semantischen Relationen. So ist der Infinitiv im Altspanischen noch reserviert für finale (auch konditionale Bedeutungen), während temporale, kausale, instrumentale oder konzessive Bedeutungen dem Gerundium und Partizip vorbehalten sind. Man kann also bei keiner dieser Formen eine verstärkte Tendenz zur Obligatorietät erkennen. Insgesamt lässt sich auch keine stärkere Schließung des Gesamtparadigmas beobachten, lediglich eine Verdrängung marginaler oder homonymer Formen, eine korrigierende Bereinigung. Die phonologischen Abreibungen sind gering und folgen außerdem per Analogie den Mustern der Nomina. Abstraktere Funktionen werden nicht entwickelt oder übernommen, so dass die eigentlichen Kernparameter der Grammatikalisierung, nämlich die semantische Abreibung, Reanalyse und Obligatorisierung durch die Wandelvorgänge gar nicht berührt werden. Anders als bei der Einbettung an Argumentstelle, wo sich eine Tendenz zur Reduktion auf eine einzige infinite Form registrieren lässt, nämlich den Infinitiv, beharrt das Romanische bei den <?page no="196"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 184 55 Dies bedeutet nicht, dass es für infinite Formen, die an Satelliten-Stelle eingesetzt werden, keine Grammatikalisierungskanäle gäbe. In anderen Sprachfamilien können die Verschiebungen gravierender sein. infiniten Verbformen mit Satellitenfunktion auf dem aus dem Latein ererbten, polymorphen Nebeneinander ohne durchgreifende Änderung der Gesamtkonstellation. Grammatikalisierungskanäle sind hier höchstens andeutungsweise beschritten. Zu einer wirklichen Grammatikalisierung bedürfte es einer wesentlich stärkeren Umformung des bestehenden Formeninventars und der gegebenen Funktionen-Zuordnungen. Bisher ist der Wandel in diesem Feld relativ träge 55 . Im Unterschied zu den zuletzt besprochenen Prozessen im Satellitenbereich haben die diffus über das Satzganze verteilten Wege der Adverbienbildung allerdings den Charakter von Grammatikalisierungsvorgängen. Der bekannteste adverbiale Wandelprozess im Romanischen ist die Entstehung der -mente-Adverbien. Aus einer Periphrase, in der sich Adjektive mit dem Ablativ des femininen Substantivs mens verbanden, entwickelte sich über den Weg einer Reanalyse nach und nach eine Adjektivflexion, durch die aus gegebenen Adjektiven modale Adverbien gebildet werden können. Das Adjektiv wird in die feminine Form gesetzt und -mente zum Suffix umgedeutet. Ein anderes Beispiel stellt die Herausbildung des Adverbs casi (fast) dar, durch das markiert wird, dass eine Eigenschaft nur approximativ zugewiesen wird. Casi stammt von der lateinischen Konjunktion quasi (als ob) ab. In Verbindungen mit Adjektiven konnte quasi vermutlich Formulierungen bilden wie: (lat.) quasi esset invisibile, rubeum, amoenum/ (asp.) casi fuese invisible, rojo, ameno etc. (übersetzbar durch: „fast als ob es unsichtbar, rot, lieblich wäre“). Solche Formulierungen sind von ihrem Sinn her approximative Zuweisungen einer Eigenschaft. Nun kann man semantisch die Tatsache ausblenden, dass es sich um eine Konsequenz des Aussehens-für-einen- Beobachter handelt, indem man syntaktisch den Nebensatz durch Tilgung des Verbs in eine Ellipse verwandelt: (lat.) quasi invisibile, rubeum, amoenum/ (asp.) casi invisible, rojo, ameno etc. Diese Ellipse kann ihrerseits wieder eingestuft werden als Adjektivalphrase mit einem Adverb als Spezifizierer. Auf solche Weise wird die ursprüngliche Konjunktion quasi in das Adverb casi verwandelt. Beide beschriebenen Vorgänge sind Grammatikalisierungen. Dies zeigt sich durch die Präsenz verschiedener Parameter. Quasi macht eine geringfügige phonologische Schrumpfung sowie eine Skopusverrringerung durch, das Substantiv mente verwandelt sich im Zuge eines Koaleszenz-Prozesses über eine klitische Zwischenstufe in ein Affix. Die feminine Form des Adjektivs des -mente-Adverbs wird als willkürliches, rein formales Verfahren verstanden, das seine Motivation nicht mehr im Genus eines Substantivs findet, an das es angelehnt ist (Syntaktisierung). Die mente-Periphrase konkurriert anfänglich <?page no="197"?> 3.3 Vorgänge des Wortstellungswandels 185 wohl noch mit der modo-Periphrase, im Zuge der kontinuierlichen Anlehnung an das Adjektiv fällt diese Konkurrenz jedoch weg, wodurch sich die Paradigmatizität erhöht. All diese Prozesse werden durch Reanalysen geleitet und zum Teil durch semantische Abreibungen begleitet. So verliert mente seine Ursprungsbedeutung („in einem bestimmten Geist, in einer bestimmten psychischen Haltung“). Ob die Bedeutung „als ob“ allerdings irgendwie konkreter ist als die Bedeutung „fast“ lässt sich immerhin schwer bestimmen. Doch der Grammatikalisierungscharakter wird auch hier sichtbar. Abschließend sei noch einmal darauf hingewiesen, dass auf einen Überblicks-Graphen für die Darstellung der Vorgänge bei der Adverbienbildung verzichtet wurde, da die Sektoren der x-Achse und auch die Kategorien der y-Achse sehr uneinheitlich ausgefallen wären und kaum eine Übersicht erreichbar gewesen wäre. Die Kanäle der Adverbienbildung berühren und verbinden oft mehrere semantische Bereiche des Satzes. So verbindet der quasi-casi-Grammatikalisierungsweg den Grammembildungsraum „Nominalphrase“ mit dem Grammembildungsraum „Konjunktional angefügte Sekundärprädikation“. Wahrscheinlich benötigen die Kanäle der Adverbienbildung eine eigene, spezifische Visualisierungsform. Soweit die Erläuterungen dieses Abschnitts! Nachdem nun eine Übersicht über den Grammatikwandel bei den Funktionswörtern und Flexionen gegeben wurde, ist abschließend die andere Seite der Grammatikalisierung i.w.S. zu beleuchten, also der Wortstellungswandel. 3.3 Vorgänge des Wortstellungswandels im Vulgärlatein und den alt-iberoromanischen Sprachen Es wurde oben hervorgehoben, dass Vorgänge des Wortstellungswandels ebenfalls als Grammatikalisierung aufzufassen sind. Auch hier ist also im Sinne der übergeordneten Aufgabenstellung der vorliegenden Untersuchung festzuhalten, welche Änderungen sich auf dem Weg vom Lateinischen zu den ältesten schriftlich dokumentierten Stufen der romanischen Sprachen auf der Iberischen Halbinsel ergeben haben. Als Startpunkt der Wandelvorgänge gilt gemeinhin das das Lateinische kennzeichnende Strukturprinzip der Verb-Endstellung, also die SOV-Wortstellung. Die von Harm Pinkster angeführten Beobachtungen (1988: 255) machen aber klar, dass schon im Altlatein und klassischen Latein andere Muster ohne Verbendstellung eine merkliche Konkurrenz für SOV darstellten. SVO und VSO haben im weiteren Verlauf dann wohl eine zunehmend wichtige Stellung im Variantenraum des Vulgärlateins eingenommen. Ein Überblick über die Wortstellungsmöglichkeiten in der alt-iberoromanischen Situation zeigt, dass SVO und VSO die dominierenden Muster geworden sind. SOV ist in den Bereich der Nebensätze verdrängt worden, SVO <?page no="198"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 186 56 Die Beispiele zum Altkatalanischen basieren auf Analysen des Verfassers von kurzen Ausschnitten aus Blanquerna (1935, 25-28) und der Crònica des Desclot (1982, 45-48). Eine Berücksichtigung der Cid-Grammatik von Menéndez Pidal im Wortstellungsbereich erscheint nicht angemessen oder zumindest heikel, denn es ist anzunehmen, dass die Wortstellungs-Präferenzen im Cantar de mío Cid stark von metrischen Gesichtspunkten beeinflusst sind. Die Wortstellung, die für das Gros der Diskurstypen in den verschiedenen Kommunikationsbereichen des Altspanischen galt, etwa in der mündlichen Sprache, wird durch die Verhältnisse im Cid wohl nicht ausreichend repräsentiert. Prosatexte, die von Metzeltin in weitem Maße berücksichtigt werden, sind hier wesentlich repräsentativer. und VSO erscheinen untereinander annähernd gleichwertig. Beispiele (vgl. Metzeltin 1979: 25f. u. 38f.; Huber 1933: 252 u. 153ff.) 56 : • (asp.) E Ponpeo conquistó muchas tierras (SVO) (Metzeltin 1979, 85) Fizole Dario muchas artes de guerra (VSO) Escuresçio el sol (VS) • (gal.-port.) O loco abrio a boca (SVO) E entom chamou o abade huu monge (e Adv VSO) E cercou a cidade Nabucodonosor (e VOS) • (akat.) Lo rei hac ajustades ses hosts (SVO) Moltes altres bones rahons e bells exemples dix Evast a Aloma (OVS a-O) Das Verhältnis der SV-Wortstellung zur VS-Wortstellung ist für das Altspanische in einer neueren, umfangreichen Untersuchung von Ingrid Neumann-Holzschuh (1997) behandelt worden. Generell stellt Neumann- Holzschuh fest, dass der VS-Typ im 13. Jahrhundert noch eine stärkere Stellung inne hatte als der SV-Typ. Diese Prädominanz schwächte sich im Spätmittelalter offenbar ab, so dass es zum Überwiegen des SV-Typs kam, eine Tendenz, die in den weiteren Jahrhunderten anhielt, mit der letztendlichen Folge, dass das Prinzip Subjekt-vor-Verb heute sehr stark dominiert. Der so skizzierte Wandel wird in der Untersuchung nummerisch präzisiert und differenziert und vor allem funktional erklärt. Zur Klärung von Wortstellungsverhältnissen sind nach Neumann-Holzschuh drei Ebenen der linguistischen Beschreibung zu berücksichtigen: die syntaktische, semantische und pragmatische. Dabei sind auf den verschiedenen Ebenen jeweils ganz bestimmte Aspekte relevant: auf der Ebene der Pragmatik der Gegensatz zwischen „alter“ (= vorerwähnter) und „neuer“ (= nicht vorerwähnter) <?page no="199"?> 3.3 Vorgänge des Wortstellungswandels 187 57 Der erneuerte Transitivitäts-Begriff, von Paul J. Hopper und Sandra A. Thompson, beruht eigentlich auf einem veränderten Wortgebrauch, nicht auf einer Opposition zum herkömmlichen Transitivitätsbegriff. In der Theorie von Hopper und Thomson wird aus der traditionellen Grammatik stammende Terminus „Transitivität“ benutzt, um zu zeigen, dass die syntaktische Eigenschaft eines Verbs, ein direktes Objekt als Ergänzung zu sich zu nehmen, zusammenhängt mit anderen Merkmalen desjenigen Ereignisses, das durch dieses Verb ausgedrückt wird. Nicht mehr Verben, sondern Sätze sind nach der Auffassung von Hopper/ Thompson transitiv. Schon in der älteren Linguistik wurde häufig die These vertreten, dass syntaktische Transitivität die Idee einer Übertragung der Wirkung einer Handlung von einem Träger dieser Handlung auf ein durch deren Wirkung Betroffenes repräsentiere. Schon diese Idee bindet die syntaktische Eigenschaft eines Verbs an den Satz. Dies wird im erweiterten Begriff von Hopper/ Thompson insofern aufgegriffen, als die Autoren sagen, dass vollkommene Transitivität in einem Satz nur in einer bestimmten Konstellation herrsche, die neben dem Vorhandensein eines direkten Objekts folgende Faktoren beinhalte: das Subjekt muss durch starke Agentivität gekennzeichnet sein; auch das Objekt muss ein potentiell zum Handeln fähiges Individuum sein; der Patiens muss vollständig betroffen sein, also sich verändern oder die unmittelbare Wirkung dessen spüren, was auf ihn zielt, und nicht nur partiell, etwa als Beobachter oder Nutznießer; das Ereignis muss eine intentional gesteuerte Handlung sein; der Satz muss affirmativ sein, mit dem Verb im modus realis; schließlich sei vollkommene Transitivität nur durch ein Verb in punktuellem Aspekt und einem strikt gegenwärtig gemeinten Präsens realisiert, d.h., die Handlung muss während der Mitteilungssequenz abgeschlossen sein. Eine solche vollkommene Transitivität sei etwa gegeben in Sätzen wie: Hans schlägt Peter. Die zweite Neuerung neben der Erweiterung besteht in der graduellen Formulierung der Kategorie. Danach gibt es keine polare Opposition zwischen Transitivität und Intransitivität, sondern nur mehr oder weniger Transitivität. Die vollkommene Transitivität bildet den Orientierungspunkt, von dem sich weniger transitive Sätze mehr und mehr entfernen. Die Negation Hans schlägt Peter nicht ist weniger transitiv als Hans schlägt Peter, Hans hat Peter nicht geschlagen ist ebenfalls nicht so transitiv, noch weniger transitiv ist die Version mit einem irrealen Modus (Hans hätte Peter nicht geschlagen), noch weniger die negierte Passiv-Version dieses Satz: Peter wäre von Hans nicht geschlagen worden. Im letzten Fall fehlt zusätzlich zu anderen Transitivitätsmerkmalen auch noch die starke Agentivität des Subjekts. Noch schwächer wird die Transitivität beim Fehlen von Intentionalität oder einem direkten Objekt bei monovalenten Verben: Peter wäre nicht hingefallen. Die Neuerungen gegenüber dem traditionellen Transitivitätsbegriff liegen also in einer Erweiterung - indem eine Reihe von semantischen Merkmalen verschiedener Glieder eines Satzes berücksichtigt werden - und in der Graduierung der Subsumtion unter den Begriff „Transitivität“, eine Art der sprachwissenschaftlichen Konzeptualisierung, die in der Linguistik der letzten Jahrzehnte ja fast schon zur allgemeinen Praxis geworden ist. Diese Neuerungen bedeuten insgesamt allerdings keinen Bruch zum traditionellen Transitivitätsverständnis, sie stellen vielmehr eine konsequente Fortentwicklung dar. Information; auf der Ebene der Semantik die Transitivität im Sinne von Hopper/ Thompson (1980) 57 ; erst auf der Ebene der Syntax dann die Wortstellung selber. Wobei es bei der in den Blick genommenen historischen Veränderung präziser um die Wortstellungsverhältnisse bei der Abfolge von Subjekt und Verb geht (Typ SV oder Typ VS). Im Neuspanischen beobachtet Neumann-Holzschuh nun folgende, die Ebenen überspannenden Affinitäten zwischen diesen Aspekten: Wenn das Subjekt vorerwähnt wurde, also alt ist und das Verb transitiv im Sinne von Hopper/ Thompson, dann geht das Subjekt dem Verb voraus; dagegen hat man eine Tendenz zur Verbvoranstellung, wenn das Verb im Sinne von Hopper/ Thompson intransitiv ist und das Subjekt des gegebenen Satzes <?page no="200"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 188 neu in einen Text eingeführt wird. Abgekürzt: entweder SV&transitiv&alt oder VS&intransitiv&neu. Neumann-Holzschuh arbeitet diese Korrelationen an Hand vieler Beispiele aus einem eigenen neuspanischen Korpus heraus. Wie sind die Affinitäten zu erklären? Hier stützt sich Neumann-Holzschuh auf das vor allem von Miori a Ulrich (1985) und Hans-Jürgen Sasse (1987) erarbeitete MTK (= Modell der thetischen und kategorischen Sätze). Nach dieser Theorie gibt es neben eigentlich kategorischen Sätzen, in denen eine klare Trennung zwischen einem Aussage-Gegenstand (klassisches Subjekt) und einer Aussage über diesen Gegenstand (klassisches Prädikat) besteht, solche, die einen Sachverhalt als ganzen charakterisieren, ohne dass man eine Trennung in Aussage-Gegenstand und Aussage vollziehen könnte. In diesen Sätzen gehört das Subjekt enger zum Sachverhalt selber hinzu. Dies ist immer dann der Fall, wenn in Existenzsätzen das Dasein von Dingen oder Personen thematisiert wird, was meist auch mit einer Neueinführung dieser Dinge und Personen in einen Text, als Partizipanten eines durch den Text geschilderten Geschehens gekoppelt ist. Beispiele wären Sätze wie Érase una vez un rey oder Estaba todo el mundo en la plaza. Mitteilungszentrum einer solchen Aussage und rhematisch-neue Information ist nicht eigentlich das Prädikat, sondern vielmehr das Subjekt. Es ist nicht so, dass das Subjekt schon einmal erwähnt wurde und nun über dieses dem Textrezipienten bekannte, also gewissermaßen schon gesetzte und zu Grunde liegende Subjekt eine Aussage ergeht, vielmehr ist das Subjekt die Aussage selber. Es wird gesagt, dass es diese Person(en) oder diese(s) Ding(e) gibt. Auch unpersönliche Sätze, bei denen kein individuell fassbares Subjekt vorhanden ist, sind nach der Theorie als Block aufzufassen, in dem Aussage- Gegenstand und Aussage nicht getrennt werden: Se auxilió a los heridos. Hierhin gehören außerdem Sätze mit avalenten Verben. Schließlich solche, die trotz vorhandenem Agens einen Experiencer in den Vordergrund rücken, so dass das Subjekt als unablösbarer Bestandteil eines dem Dativ-Experiencer zustoßenden Geschehens aufgefasst wird: me duele la cabeza ist keine Aussage über meinen Kopf, sondern über mich als ganzen, über meinen physischen Zustand. Semantisch-textpragmatisch ist der Bereich des Thetischen zu umschreiben als besetzt durch: Existenzsätze, präsentative Sätze, Sätze, die eine Hintergrundsinformation geben, Allgemeinaussagen (alle Menschen sind sterblich usw.), schließlich Sätze, in denen unerwartete Ereignisse geschildert werden, da hier das Geschehen selber und nicht einer seiner Partizipanten das Mitteilungszentrum bildet. Dahingegen erfüllen kategorische Sätze die Aufgabe, Vordergrundaussagen zu repräsentieren, die das Geschehen vorantreiben oder in expositorischen Texten die Erklärung bzw. Argumentation wesentlich bestimmen. Jetzt kann man nach Neumann-Holzschuh generell sagen, dass die Trias SV&transitiv&alt für die herkömmlichen kategorischen Sätze typisch ist, die <?page no="201"?> 3.3 Vorgänge des Wortstellungswandels 189 Dreiheit von VS, intransitivem Verb und neu eingeführtem Subjekt dagegen den thetischen Typ kennzeichnet. In Umkehrung bedeutet dies, dass sich die festgestellten Affinitäten eben aus dem kategorischen oder thetischen Charakter der verschiedenen Sätze erklären. Diese scharf geschnittenen Grundzüge werden von Neumann-Holzschuh allerdings noch relativiert, indem sie zeigt, dass hier - bei genauerer Betrachtung - die beiden Pole einer Skala vorliegen, die durchaus Zwischenwerte zulässt, also Kombinationen wie VS&alt&transitiv (rechazó Schubert la acusación de Luisa con una mano) oder SV&neu&transitiv (Un rey y una reina de un país lejano querían tener un hijo) [vgl. 1997: 162f.]. Der Wortstellungswandel vom Altzum Neuspanischen wird nun, wie gesagt, nummerisch genauer beschrieben und die ihn bestimmenden Faktoren mit Hilfe des MTK durchleuchtet. Die Werte für das Mittelalter wurden in erster Linie auf der Basis von Chroniken erstellt. Für das erste Buch der Primera Crónica General und für die General Estoria Alfons’ X. stellt Neumann- Holzschuh in den von ihr untersuchten Abschnitten ein Überwiegen der VS- Wortstellung fest (vgl. 1997: 178f.): 43% SV vs. 57% VS (PCG); 39,2% SV vs. 60,8% VS (GE). Allerdings beobachtet sie schon im zweiten Band der über einen längeren Zeitraum hin verfassten Primera Crónica General, dass SV stärker ist als VS: 54% SV vs. 46% VS. Eine noch deutlichere Umkehrung der Proportionen findet sich in einem anderen, nicht-historiographischen Text des 13. Jahrhunderts, den die Autorin untersucht hat, nämlich Calila e Dimna (60,9% SV vs. 39,1% VS) [vgl. 1997: 362]. Es ergibt sich also ein gemischtes Bild. Während in den früheren Chroniken des 13. Jahrhunderts VS führend erscheint, zeigen andere Gattungen und spätere Phasen der historiographischen Literatur in demselben Jahrhundert ein Überwiegen von SV. Bemerkenswerterweise überwiegt VS in den Chroniken des 13. Jahrhunderts nun auch in den Sätzen, in denen die Handlung vorangetrieben wird, also dem doch eigentlich kategorischen Bereich. In dieser Phase des Altspanischen scheint VS noch nicht mit „thetisch“ korreliert zu haben. Zur Erklärung greift Neumann-Holzschuh eine in der Vulgärlateinforschung öfter vertretene These auf, gemäß der VS eine vom Spätlatein her überkommene Grundwortstellung gewesen sein könnte (vgl. S. 376ff.), in deren Anwendungsbereich SV erst allmählich vordrang. Daher könnte sich erklären, dass das Vordergrundgeschehen in den Chroniken, das in kategorischen Aussagen entfaltet wurde, trotz seiner kategorischen Natur häufig nicht durch SV-, sondern auch durch VS-Strukturen realisiert werden konnte. Es handelt sich einfach um den ursprünglich stärker verbreiteten Wortstellungstyp. Schon die Zahlen für das 13. Jahrhundert belegen aber, dass das Prinzip Subjekt-vor-Verb das Prinzip Verb-vor-Subjekt aus seiner anfänglichen Dominanz verdrängte. Dieses Vordringen fand zunächst offenbar in bestimmten syntaktisch-pragmatischen Kontexten statt, nämlich wenn das Subjekt wechselte oder die anaphorische Anbindung besonders betont wurde, etwa durch anaphorisch gebrauchte Demonstrativa (Neumann-Holzschuh 1997: <?page no="202"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 190 204f.). Daneben waren Sätze mit stark transitiven Verben ein Kanal für die Verstärkung von SV. Wie die Zahlen für das Spätmittelalter belegen (1997: 362), weitete sich der Anwendungsbereich von SV in der Folge immer mehr aus. In der im 15. Jahrhundert entstandenen Memorial de Diversas Hazañas von Mosén Diego Valera beobachtet die Autorin ein Verhältnis von 69,6% SV zu 30,4% VS. In das selbe Jahrhundert gehört das Libro de los Exenplos A.B.C., in dem das Verhältnis noch deutlicher zu Gunsten von SV ausfällt: 73,8% SV zu 26,2% VS. Funktional hat man bei dieser Entwicklung mit einem fortwährenden Rückgang des VS-Typs bei der Formulierung der kategorialen Aussagen zu tun. Die Zahlen, die Neumann-Holzschuh für das Gegenwartsspanische zusammengetragen hat, entstammen der Forschungsliteratur, daneben hat sie auch eine Zählung an Hand eines eigenen Korpus vorgenommen (1997: 94ff.). Diese Zahlen belegen eine Präsenz von 10% bis ein Drittel aller Vorkommen für VS. Über ein Drittel kommt der Anteil dieses Wortstellungstyps in den Texten der Gegenwartssprache allerdings nicht mehr hinaus. Hiermit hat sich nach der Auffassung der Autorin die Bindung von VS an den Bereich des Thetischen vollendet. Neumann-Holzschuh sieht die hochmittelalterliche Situation noch als die einer Alternanz. Beide Gestaltungsprinzipien der Wortstellung hielten sich die Waage, so dass eben viele kategoriale Aussagen noch durch VS realisiert werden konnten. Der Wandel zur Neuzeit hin komme im Ergebnis zu einer komplementären Situation: VS repräsentiere das Thetische, SV diene zur Formulierung der kategorischen Sätze (1997: 412). Inwiefern liegen hier nun Grammatikalisierungsprozesse vor? Um diese Frage zu beantworten, ist es zunächst nötig, ein Gesamtpanorama zu entwerfen. Neben SVO und VSO ist auch der Typ SOV in die Betrachtung mit einzubeziehen, der im Altspanischen ausschließlich in Nebensätzen, dort aber noch relativ häufig, zur Anwendung kam. SOV wurde im weiteren Verlauf der Geschichte mehr und mehr marginalisiert, d.h. im Vergleich zu VSO und SVO immer weniger gebraucht, und schließlich aufgegeben. Dadurch wurde das Alternanzpaar VSO/ SVO selber obligatorisiert. Um einen Satz zu formulieren, kann man im Gegenwartsspanischen nur noch auf eine dieser beiden Varianten zurückgreifen. Im Verlauf von Spätmittelalter und früher Neuzeit wurden die beiden Formulierungsmuster fest an die funktionalen Bereiche „kategorisch“ bzw. „thetisch“ gebunden. Im Gegenwartsspanischen bestimmt SV nun weitgehend die Konstruktion kategorischer Aussagen, VS dagegen ist für thetische Aussagen reserviert. Wir sprachen oben, in Abschnitt 3.1.3, von einem Prinzip, das alle Grammatikalisierung bestimme. Auf seiner negativen Seite wurde dieses Prinzip so formuliert, dass Grammatikalisierung in einem zunehmenden Verlust von Wahlmöglichkeiten bei der Gestaltung von Aussagen bestehe. Dieser Fall liegt nun bei der Entwicklung vom Altzum Neuspanischen vor. Die Grammatika- <?page no="203"?> 3.3 Vorgänge des Wortstellungswandels 191 lisierung findet hier in Form von zwei Einschränkungen statt: einer absoluten Restriktion der Wahlmöglichkeiten durch den Totalwegfall von SOV; einer funktionalen Einschränkung durch die Unterbindung der SV/ VS-Alternative bei der Formulierung kategorischer Aussagen des Textvordergrunds. Man hat hier durchaus mit einem Parallelprozess zur Grammatikalisierung bei den grammatischen Formativen zu tun. Im Portugiesischen und Katalanischen scheint die VS-Anordnung schon im Mittelalter eine eher syntaktisch induzierte Variante gewesen zu sein. Jedenfalls beschränkte sie sich im Katalanischen offenbar auf adverb-eingeleitete Sätze und im Portugiesischen bedurfte es mindestens einer Einleitung durch den Konnektor e. Das Katalanische hat nur noch einen geringen Anteil an VS-Vorkommen, die SVO-Tendenz ist nach der mittelalterlichen Epoche sehr stark geworden (vgl. Moll 1991: 230ff.). Das Neuportugiesische hat in seiner jüngsten Phase ebenfalls eindeutig zu einer Grundwortstellung SVO gefunden, obwohl man bei der Lektüre von literarischen Texten aus dem 19. Jahrhundert - etwa der Contos von Eça de Queirós - den Eindruck gewinnt, dass zu jener Zeit noch eine breitere Skala von Stellungsvarianten genutzt wurde. In Aussagesätzen wird VS heute noch zu folgenden Zwecken verwendet: Fokussierung, Existenzsätze und präsentative Sätze (vgl. Hundertmark-Santos Martins: 569f.). Ansonsten tritt VS in Wortfragen und absoluten Konstruktionen auf. Dies entspricht in seiner Häufigkeit etwa den Verhältnissen im Italienischen, erreicht jedoch nicht die funktionale Vielfalt der spanischen Möglichkeiten, wo VS den gesamten Bereich des Thetischen abdeckt und außerdem in Wort- und Satzfragen vorkommt. Bei ähnlicher Ausgangssituation ist der Rückgang von VS im Portugiesischen und Katalanischen also noch drastischer als im Spanischen. Dies ergibt also auch für diese beiden Sprachen das Bild eines Verlustes von syntaktischen Gestaltungsmöglichkeiten und damit einer Grammatikalisierung im Sinne der negativen Fassung des oben angeführten Prinzips. Neben „SOV-zu-SVO“ ist die verborientierte Klitisierung der Personalpronomina ein bedeutender Wandel im Bereich der Wortstellung. Dieter Wanner (1987) hat eine sehr umfangreiche Studie an Texten verschiedener Gattungen unternommen, die den genauen Weg der Entwicklung empirisch aufzeigt. Schon im Lateinischen konkurrierten zwei Prinzipien der Platzzuweisung an Objekt-Pronomina: das Zweitstellenprinzip und das Prinzip der Verbanlehnung. Das Zweitstellenprinzip galt für die meisten Kontexte, die Verbanlehnung zunächst nur dann eindeutig, wenn die Zweitstelle durch einen anderen Konstituenten besetzt war: Traians Imperator Romanus signum hoc nobis dimisit. Wenn das Personalpronomen zwischen der Erststelle und dem Verb stand, war die Situation zweideutig: In einem Satz wie monumentum sibi fecit ist die Position von sibi sowohl nach dem Zweitstellenprinzip als auch als Verbanlehnung deutbar. Bei langen Konstituenten in der Erstposition legte diese Konstellation aber eher eine Deutung im Sinne der Verbanlehnung nahe. Diese Interpretation wurde in Analogie dann auch <?page no="204"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 192 58 Die Texte, die Wanner untersucht hat, lassen die Prozesse nicht alle gleichermaßen erkennen. Spätantike und frühmittelalterliche Texte von Historikern beispielsweise verstärken das klassische Zweitstellenprinzip, indem sie Verb und Personalpronomen häufig trennen, so dass es nicht zu Zweideutigkeiten kommen kann. Verbanlehnung zeigt sich nur in Texten des Vulgärlateins (Pro- und Enklise) und in Bibeltexten (Dominanz der Enklise). Dabei hält Wanner die romanische Proklise für eine Sekundärentwicklung, die nicht direkt an die lateinische anschließt (1987: 238). Die romanische Situation mit schwachen Resten des Zweitstellenprinzips und Vermeidung von Proklise bei absoluter Initialstellung von Verben taucht abrupt auf, ohne dass der letzte Schritt des Übergangs in den Texten dokumentiert wäre. Insgesamt lassen die Texte nur bei einer sehr detaillierten und gleichzeitig umfangreichen Analyse den Weg der Entwicklung erkennen. verstärkt, wenn vor dem Verb und dem Klitikum kein weiterer Konstituent den Satz einleitete, was zu einer völligen Ambiguität führte: tenuit eum et posuit in angulum. Schließlich konnten auch Konstellationen des Typs „Konnektor/ Subordinator + weiteres Element + Klitikum + Verb“ eine solche Deutung nahelegen: et ibi eum suscipis. Nur noch die direkte enklitische Anlehnung an eine Konjunktion oder ein Relativpronomen (ubi ei occurrit mulier) erlaubte eine eindeutige Zuordnung nach dem Zweitstellenprinzip. In allen diesen Situationen befand sich das Klitikum vor dem Verb. In anderen Anordnungen war es überhaupt von dem Verb getrennt, so dass nur eine Deutung nach dem Zweitstellenprinzip oder als betontes Pronomen möglich war: mihi quidem tu iam eras mortuos. Die Situationen der Trennung wurden wesentlich seltener, je mehr das Verb in die Mitte des Satzes rückte. Aus der Etablierung des Verbanlehnungsprinzips und der Mittelstellung des Verbs ergab sich schließlich die Konstellation einer enklitischen Anlehnung, die eindeutig nicht mehr dem Zweitstellenprinzip folgte: et introduxerunt nos in vallem; sero autem purificant se in aqua 58 . Über das Ganze der Sprachgeschichte gesehen (Indogermanisch bis modernes Iberoromanisch) zeigen die Wortstellungsmöglichkeiten der unbetonten Personalpronomina einen zyklischen Wechsel zwischen Schließungen und Unterbindungen von Möglichkeiten einerseits und Öffnungen und einer erneuten Vielfalt andererseits: (i) vom reinen Zweitstellenprinzip zum Nebeneinander von Zweitstellenprinzip und Verbanlehnung (ii) vom Nebeneinander von Zweitstellenprinzip und Verbanlehnung zur reinen enklitischen Verbanlehnung (iii) von der reinen enklitischen Verbanlehnung zur freien Variation zwischen Proklise und Enklise (iv) Unterbindung der freien Variation im Falle finiter Verben, Aufrechterhaltung bei infiniten Verbformen Kann dies auch als Grammatikalisierung betrachtet werden? Da es offenbar noch zu keiner weiteren Integration der Objektpronomina in die Verbform <?page no="205"?> 3.4 Zur Theorie von Ángel López García 193 im Sinne der Koaleszenz kommt, ist dieses Geschehen noch im Sinne der negativen Grammatikalisierung, als die fortwährende Unterbindung von Wortstellungsmöglichkeiten, zu deuten und nicht im Sinne positiver Fortgrammatikalisierung einzelner Grammeme. In dem zyklischen Verhalten spiegelt sich allerdings etwas, was auch bei der positiven Grammatikalisierung immer wieder stattfindet. Man darf ja nicht vergessen, dass trotz des fortschreitenden Verlustes von Grammemen im Zuge der Syntaktisierung einiger weniger auf der anderen Seite doch stetig neue Grammeme in einen Kanal hineingeraten - durch die +am Anfang der Kanäle stattfindende Initialgrammatikalisierung nämlich - und dass diese neuen Grammeme die Ausdrucksmöglichkeiten der Grammatik einer Sprache parallel oder im Nachfeld von Grammemverlusten wieder semantisch verfeinern und bereichern. Ebenso kommt es offenbar auch bei der Klitisierung von Personalpronomina nach der Einschränkung von Wortstellungsmöglichkeiten zur Erfindung neuer Stellungsmuster, die gewissermaßen so etwas wie eine „neue Beweglichkeit“ implizieren. Gegen Ende der vorliegenden Arbeit sollen an den Urkunden nach der Untersuchung der Spuren zur positiven Grammatikalisierung auch Analysen zur Wortstellung durchgeführt werden, und zwar sowohl zur Stellung der nominalen und eingebetteten verbalen Satzglieder als auch zu der der Personalpronomina (vgl. Kap. 6.2.3). 3.4 Hat Wortstellungswandel die morphosyntaktischen Verschiebungen bewirkt? Zur Theorie von Ángel López García Der jüngste größere Beitrag zur frühen Sprachgeschichte des Spanischen stammt von Ángel López García (2001). López García hat eine eigentümliche These zum Wesen der lateinischen Syntax entwickelt, von der ausgehend er eine neue Deutung aller Vorgänge erreichen will. Im Verhältnis zu unserer bisherigen Darstellung ist seine Theorie so zu verstehen, dass er glaubt, dass Wortstellungswandel bzw. die Änderung satzsemantischer Verhältnisse morphologischen oder aber einzelne Grammeme betreffenden funktionalen Wandel zur Folge hat. Nach seiner Auffassung gäbe es demnach kein Nebeneinander oder Ineinander von zueinander unabhängiger negativer und positiver Grammatikalisierung. Vielmehr hat in seiner Sicht der Dinge die Einschränkung von Wortstellungsmöglichkeiten einen Einfluss auf die Satzsemantik und auf diesem Wege dann auf die Fortentwicklung vieler einzelner Grammeme im Zuge der Fortgrammatikalisierung, also eben doch bedeutende Konsequenzen für die Seite der positiven Grammatikalisierung, was in Kap. 3.1.4 anders gesehen wurde. Diese Ansicht verdient eine längere Auseinandersetzung, die in diesem Abschnitt der vorliegenden Arbeit geleistet werden soll. <?page no="206"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 194 López García sieht zwischen dem Latein und dem Romanischen einen radikalen typologischen Umbruch. Dabei charakterisiert er die Pole, zwischen denen sich der Übergang bewegt, anders als dies üblich ist, also nicht als einen Weg von einer synthetischen Flexionssprache zu analytischen, partiell agglutinativen Flexionssprachen. Dies wird weiter unten darzulegen sein. Entscheidend für seine Theorie ist ferner, dass er den Umbruch zeitlich in der Phase des christlichen Lateins verortet, d.h. der Zeit zwischen dem III. und dem VII. Jahrhundert. In dieser Epoche sei es zu einer syntaktischen Katastrophe gekommen, also einer teilweise chaotisch verlaufenden Wendung bestehend in einer Umordnung der wesentlichen Strukturen. Der neue Satzbau habe dann Änderungen der Morphologie bzw. der funktionalen Belegung verschiedener traditioneller lateinischer Formen begünstigt. Zur Beschreibung der gesamten Sprachgeschichte zwischen der lateinischen Ausgangssituation und dem Sichtbarwerden des Spanischen im 12. Jahrhundert unterscheidet López García genauer drei Zeiträume: (1) 1. Jh. v. Chr. - 2. Jh. n. Chr.: das klassische Latein (2) 3. Jh. n. Chr. - 7. Jh. n. Chr.: Umbruch im christlichen Latein (3) 8. Jh. n. Chr. - 11. Jh. n. Chr.: Weiterentwicklung der im christlichen Latein begonnenen Prozesse Die Hauptachse der Verschiebungen in der Grammatik bildet das syntaktische Geschehen. Für diesen grundlegenden Bereich sollen deswegen zunächst alle drei Phasen in ihrem Nacheinander geschildert werden, um die Besonderheit des Zugangs von López García klar zu machen. Danach soll für jede der drei Epochen jeweils die Gesamtheit der vom Wandel betroffenen grammatischen Aspekte besprochen werden. Für den Autor ist das Lateinische eine Konstruktionssprache (lengua de construcción), das Spanische dagegen eine Rektionssprache (lengua de rección). Im Lateinischen erstrecke sich der Einfluss jedes Nomens in einem bestimmten Kasus über die gesamte Szene des Satzes. Dies zeige sich darin, dass es immer wieder Kasus-Numerus-Genus-Kongruenzen über weite Strecken hin gebe. Nominativ, Akkusativ und Dativ seien im Latein noch nicht bestimmten syntaktischen Rollen zugeordnet, in denen sich die funktionale Stellung der in diesen Kasus stehenden Substantive zum jeweiligen Verb widerspiegele. Der Nominativ sei nicht der Kasus des Subjekts, der Akkusativ nicht der des Objekts, der Dativ nicht der des indirekten Objekts. Es gäbe zu viele Ausnahmen wie aliquo uti, Romam ire oder alicui servire. Vielmehr strahle jeder lateinische Kasus eine bestimmte, nicht-funktionale Bedeutung aus, und aus dem reinen Wechselverhältnis der Substantive ergebe sich eine Gesamtbedeutung, der das am Ende folgende Verb nur noch eine gewisse Abrundung, eine letzte Geschlossenheit verleihe. Insofern stehe das Verb im Hintergrund. López García deutet den Satzbau mit Hilfe der Gestaltpsychologie, indem er auf das Figur-Grund-Prinzip zurückgreift. Für ihn bilden im Latein die <?page no="207"?> 3.4 Zur Theorie von Ángel López García 195 Substantive in ihren verschiedenen Kasus die Figur des Satzes, während das Verb den Grund ausmacht, vor dem diese Figur hervortritt. Zwei Zitate mögen diese Auffassung der lateinischen Syntax belegen: „No es que el verbo rigiese ciertos casos, es que los nombres, al adjuntarse al verbo, delimitaban su sentido según el caso en el que estaban flexionados“ (2001: 62); „[…] en latín clásico, como en todas las lenguas nominales, la escena oracional la constituía la comparecencia de las distintas frases nominales, cada una con su caso, y el verbo se limitaba a rubricar el escenario así formado“. (Ibid.: 98) Dagegen stehe im Spanischen das Verb im Vordergrund. Erst im Spanischen gebe es Valenz. Das Verb sei der Ausgangspunkt für die Bestimmung der Gesamtbedeutung des Satzes, die Substantive seien an es gebunden und erfüllten erst im Spanischen die Funktionen von Subjekt, direktem Objekt und indirektem Objekt. In einem spanischen Satz sei das Verb die Figur, die espina dorsal (Ibid.: 82) des Satzes, an der die Substantive als dessen Grund aufgereiht seien. Der Unterschied zwischen einer Konstruktions- und einer Rektionssprache wird an Hand folgender graphischer Darstellungen verdeutlicht (Ibid.: 64): FRASE NOMINAL caso X + FRASE NOMINAL caso Y + …(+ verbo) [klass. Latein; Konstruktion] VERBO (+ frase nominal caso X + frase nominal caso Y + …) [Frühromanisch; Rektion] Abb. 19 Wie wandelte sich der lateinische Typ zum spanischen oder romanischen? López García setzt die folgenden Phasen an: Im klassischen Latein bildeten alle Substantive zusammen die Figur, denen das Verb als Grund gegenüber stand. Im christlichen Latein sei dann ein neues Satzmuster immer beliebter geworden, das von einem nominativus pendens ausgeht. Beispiele: Deus meus impolluta via eius; Qui talia fecerint, miserebor eorum, non eos damnabo (Ibid.: 99). Außerdem beobachte man, dass das Verb häufig an die zweite oder erste Stelle im Satz rückte. Beispiele: Interea ambulantes peruenimus ad certum locum (Peregrinatio); exiit edictum a Caesare Augusto (Bibel) [Ibid.: 27]. Diese Konstellation, eigentlich ja ein Wortstellungsphänomen, habe Veränderungen im satzsemantischen Gefüge bewirkt. Da das Verb im Bibellatein oft an zweiter Stelle steht, sei der Nominativ jetzt als Figur, die weiteren Kasus als Grund und das Verb als Grenze zwischen Figur und Grund verstanden worden. In diesen Zonen seien nun verschiedene syntaktische Funktionen herausgebildet worden (Ibid.: 105): <?page no="208"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 196 FIGURA frontera [ fondo ] sujeto Verbo objeto directo objeto indir. objeto circunstancial Abb. 20 Im weiteren Verlauf sei es, auf Grund dieser klaren Aufteilung der Satzzonen in einen Grundbereich und einen Figurbereich, innerhalb des Grundes zu einer immer stärkeren Vermischung der Kasus gekommen, deren Bedeutungen sich immer stärker überschnitten. In konservativeren Gegenden wie Gallien sei daraus dann ein casus obliquus geworden, der jede Funktion der Grundzone repräsentierte, und dem als Überrest des nominativus pendens immer noch ein casus rectus gegenüber stand. In anderen Gegenden wie Italien und Spanien sei die Entwicklung weiter fortgeschritten, insofern als der Akkusativ sich langfristig über alle Substantive des Satzes verbreitete und in der Grundzone früh bestimmte Präpositionen zur funktionalen Unterscheidung der Substantive in ihrem Gebrauch routinisiert worden seien (Ibid.: 105) FIGURA frontera verbal fondo FN (prep. i +) FN (prep. j +) FN (prep. k +) FN Abb. 21 Die Ausweitung des Akkusativs sei im VIII. bis XI. Jahrhundert geschehen. Dieses Geschehen habe schließlich zu einer Konstellation geführt, bei der der Satz mental aufgeteilt wurde in eine präpositionslose Zone mit Verb, Subjekt und direktem Objekt und eine Präpositionszone mit indirektem Objekt, präpositionalen Objekten und adverbialen Bestimmungen (Ibid.: 156): ESCENA FIGURA MARCO FONDO verbo + acusativos S, OD / grupos de preposición + acusativos OI, OO.CC Abb. 22 Dies also stellt die Hauptachse der Theorie dar. Nun gilt es, die drei Phasen, deren zeitliche Umgrenzungen oben angegeben wurden, in ihrer Fülle zu beschreiben: Im Stadium des klassischen Lateins steht das Verb nach López García im Hintergrund, während die Substantive im Vordergrund stehen. Das Verb <?page no="209"?> 3.4 Zur Theorie von Ángel López García 197 schließt sich an die Bedeutungen einer im Satz verstreuten Gruppe von Kasus an, und es ist nach dieser Auffassung eben nicht so, dass die Bedeutungen der Kasus das Verb als semantische Vorgabe voraussetzten. Der klassischlateinische Wortstellungstyp SOV spiegele die Hintergrundsstellung des Verbs wider. Seine Variationen seien darauf zurückzuführen, dass das Element, das im Satz vorne stehe, thematische Funktion habe, was dann im Spanischen strenggenommen vom Artikel angezeigt werde, über den das Lateinische ja noch nicht verfügte. Das Wortstellungsmuster sei im Spanischen seit der frühromanischen Zeit eindeutig auf SVO festgelegt. Deswegen könne die Wortstellung keinen Hinweis auf die thematische Funktion eines Satzteils geben. Dies sei im Latein dagegen möglich. Die satzsemantischen Eigenschaften des klassischen Lateins sind nach Auffassung López Garcías günstige Voraussetzungen dafür, dass sich eine Form wie das lateinische Mediopassiv bilden und halten konnte. Er deutet die Passivform nämlich als stärker isoliert vom Subjekt und sowieso von den Restkasus. Eine Passivform wie amatur wird als an sich unpersönliche Form interpretiert, die semantisch in sich geschlossen ist, so dass diese Form in einem konkreten Satz mental deutlich von den umgebenden Kasus getrennt gewesen sei (2001: 81). Eine weitere Besonderheit des Lateins im Verbalbereich bestünde darin, dass es eigentlich ein aspektdominiertes Konjugationssystem aufgewiesen habe: die das Präsenssystem begründenden Präsensstämme seien als Repräsentanten eines infectum zu verstehen, die das Perfektsystem begründenen Perfektstämme als Repräsentanten eines factum. Dies habe sich auch für die Sprecher mit der Vorstellung eines offenen vs. geschlossenen Zeitintervalls verbunden. Auch die infiniten Verbformen (formas nominales del verbo) fügen sich für López García in das Bild einer Konstruktionssprache. In der für das klassische Latein so typischen Konstruktion des AcI drücke sich eine besonders enge Bindung von eingebetteten Aussagen an die Hauptaussage des Satzes aus. Die Verbindungen seien hier stärker als bei romanischen infiniten Formen, die satzsemantische Beziehungen nur innerhalb der Zone knüpften, an der sie wortstellungsmäßig zu stehen kämen. Dies hänge wieder mit der Tatsache zusammen, dass die Kasus, wie der Akkusativ des AcI, ihren Einfluss beliebig weit in die Satzszene hinein ausdehnten. Dagegen seien mit Konjunktionen eingeleitete Teilaussagen stärker isoliert. Die Konjunktionen seien durch das Zusammenspiel mit einem sehr oft gebrauchten Konjunktiv als Nebensatzmodus klar verständlich, ohne auf die Kontextinformation angewiesen zu sein, die der Hauptsatz liefere. Richtig interpretiert spiegele sich hierin aber auch wieder die semantische Selbstständigkeit der Kasus, in diesem Fall allerdings als Selbstständigkeit ganzer Teilsätze gegenüber dem Prädikat. Während der Epoche des christlichen Lateins habe sich Einiges an diesen Eigenschaften geändert. In der Wortstellung sei SVO stärker geworden, wie gesagt, mit vielen nominativi pendentes. Die dadurch entstandene Zweizonenaufteilung habe zu zahlreichen Kasusvermischungen im Bereich des Grundes geführt. Das Verb wurde zum Markierer der Grenze zwischen Nominativ- <?page no="210"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 198 und Grundzone. Deswegen musste es bei aktiven Verben so wirken, als werde eine im Verb ausgedrückte Aktivität semantisch in die Grundzone hinein projiziert. Dadurch sei es bei Deponentien wie imitari oder uti zu einem Widerspruch zwischen der Isolation ausdrückenden Passivform und der Projektion und direkte semantische Verbindung zur Grundzone beinhaltenden Bedeutung gekommen. Die Deponentien seien deswegen entweder verschwunden oder hätten ihre Form zu einer aktiven gewandelt. Dagegen sei das synthetische Passiv eine brauchbare Form für die Stellung an der Figur-Grund-Grenze, da seine Bedeutung eine solche Projektion in den Grund hinein nicht beinhaltete und es nur zu den Nominativen hin offen sein musste. Es habe im Gegenteil eine besonders starke Stellung inne gehabt, da es auf vollkommene Weise die thematisch-rhematische Aufgliederung des Satzes repräsentiere, wie sie die neue Figur-Grund-Konstellation impliziere. Die Passiva seien im christlichen Latein deswegen noch sehr lebendig gewesen. Im Verbalbereich hätten sich außer dem Deponentienschwund auch noch andere Veränderungen ereignet. So seien im Sprachgebrauch erzählte und erlebte Zeit - im Sinne von Weinrich 1971 - zu bestimmenden Kategorien geworden, so dass das alte aspektuelle infectum neu gedeutet wurde, nämlich als inaktual, und aus dem alten factum die neue Kategorie des Aktualen entstanden sei. Innerhalb jeder dieser Gruppen seien aber die funktionalen Bindungen der Tempora schwächer gewesen. So sei es oft zu Verwechslungen zwischen Präsens und Futur gekommen. Deswegen sei das lateinische Futur später durch eine periphrastische Form (facere habere) ersetzt worden. In der das christliche Latein prägenden neuen Figur-Grund- Verteilung sei es außerdem nicht mehr möglich gewesen, den AcI aufrechtzuerhalten: „si el nominativo ya no es sólo el caso preferido como sujeto, sino la manifestación formal de la figura, frente al acusativo y los otros casos, que son propios del fondo, parece obvio que la posibilidad de tener oraciones con el sujeto en acusativo se convierte en contrasentido“ (2001: 135f.). Für das christliche Latein sei weiter typisch, dass sich die Zahl der Konjunktionen vermehrte und außerdem immer mehr „Parahypotaxen“ zu beobachten seien. Ein Beispiel aus der Peregrinatio: „at ubi autem sexta hora se fecerit, sic itur ante Crucem“ (ebd. : 239). Hier wird das mit „sobald“ zu übersetzende ubi des Nebensatzes durch ein sic im Hauptsatz wieder aufgegriffen. Solche vorwegnehmenden Adverbien seien dadurch motiviert gewesen, dass sie den Hörer beim Verständnis des neuen Verhältnisses zwischen Haupt- und Nebensatz unterstützten, bei dem der Nebensatz jetzt eine vom Hauptsatz getrennte, zu diesem hinzukommende Aussage darstellte. Der Konjunktiv habe in der Phase des christlichen Lateins seine Selbstständigkeit zu Gunsten des Indikativs aufgegeben, um nur noch anzuzeigen, dass für eine Aussage der Wahrheitsanspruch, die Real-Assertion aufgegeben werde und sie, weil in einem abhängigen Satz befindlich, nur einer möglichen Welt zuzuordnen sei, nicht entschieden der Wirklichkeit. Schließlich sei als Vorphase der Artikelbildung zunächst das System der Demonstrativa durch das Verschwin- <?page no="211"?> 3.4 Zur Theorie von Ángel López García 199 den der hic-Formen, die Verstärkung mittels ecce und funktionale Verschiebungen umorganisiert worden zu: iste, ipse, eccu ille. Einen Artikel habe es in der Phase des christlichen Lateins noch nicht gegeben. Christliches Latein war also eine artikellose, SVO-dominierte Sprachform, mit neuem Demonstrativsystem, vielen Verbalperiphrasen, einem reichen Vorrat an durch begleitende Adverbien unterstützten Konjunktionen, einer dadurch unterstützten klareren Trennung zwischen Haupt- und Nebensatz, sehr lebendigen synthetischen Passivformen und einem Aspektsystem auf dem Weg zum Tempussystem. Diese Ansätze des Wandels hätten sich dann in einem dritten Stadium, der frühmittelalterlichen Formierung des romance, fortgesetzt. Das Verb habe eine Valenz ausgebildet, die auch das Subjekt umfasste, das jetzt mehr und mehr im Akkusativ stand. In einem ersten Schritt sei der Akkusativ nur der Kasus des auf das Verb folgenden Subjekts gewesen, in einem zweiten Schritt sei er dann auch für die dem Verb vorangehenden Subjekte verwendet worden (Ibid.: 149f.). Durch die Verbdominanz sei das SOV-Wortstellungsmuster weiter verdrängt und SVO noch stärker begünstigt worden. Da das Verb jetzt das semantische Rückgrat des Satzes bildete, erkläre sich auch, warum in dieser Zeit VSO-Muster aufkamen und VSO im Altspanischen ein starker Wortstellungstyp war. Das synthetische Passiv mit seiner unpersönlichen, eine Grenze markierenden Bedeutung sei unter diesen Umständen verschwunden. Andererseits seien die synthetischen Formen durch die analytischen ersetzt worden, weil sie eine resultative, nahe den Adjektiven stehende Deutung zuließen. Schließlich könne man auch das Aufkommen einer reflexiven Ausdrucksweise (mit se) beobachten, die an die Stelle des synthetischen Passivs getreten sei. Im Bereich der Verbalperiphrasen seien immer stärker habere-factum-Formen aufgekommen. Da habere schließlich durch alle Konjugationsformen geführt werden konnte, sei es zu einem relativen Tempus geworden. Erst durch diese Ergänzung sei das lateinische Verbformensystem im Vollsinn zu einem Zeitzonen markierenden Tempussystem geworden. Erst jetzt hätten sich außerdem Artikel ausgebildet, weil es den Sprechern mehr und mehr darauf angekommen sei, das Aktuelle vom bloß Virtuellen zu trennen (Ibid.: 158). Die Ausbildung von Artikeln sei außerdem in einer kasuslosen Sprache vor allem deswegen nötig, um die nominalen Wortgruppen der unterschiedlichen Funktionen klar voneinander abzugrenzen (Ibid.: 70). Der Infinitiv habe in dieser Zeit die anderen Verbformen verdrängt. Da der Infinitiv im Gegensatz zu den anderen infiniten Verbformen keinen Kasus aufwies, wurde ein Satz, der ihn enthielt, nicht als Partizipant des Hauptsatzes verstanden, in den dieser Satz eingebettet war. Unter diesen Umständen sei es zu engeren Bindungen der Infinitive an das Hauptverb gekommen, so dass sich eine Reihe von Verbalperiphrasen gebildet hätten (Ibid.: 168). Im Bereich der Konjunktionen zeichne sich die Epoche dadurch aus, dass die prohypotaktischen Hilfsmittel wieder zurückgingen. Die Bedeutung einer Konjunktion hänge im Gegensatz zum klassi- <?page no="212"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 200 schen Latein jetzt vom Kontext ab, der Indikativ trete noch häufiger an die Stelle des Konjunktivs. Soweit die Darlegungen López Garcías! Obwohl seine Untersuchung wegen ihrer ungewöhnlichen Thesen anregend ist, kann man nicht sagen, dass sie die Dinge angemessen darstellt. Leider bieten die Erörterungen des Autors viel Anlass zu Kritik. Zu allererst sollte man sehen, dass es López García trotz größerer Bemühungen nicht gelingt, alle Wandlungen vom klassischen Latein über das christliche Latein bis hin zum frühen Romanischen in einer ähnlichen Geschlossenheit von seiner Hauptthese aus zu erklären, wie dies mit der herkömmlichen Annahme eines typologischen Wandels vom synthetischen zum analytischen Sprachbau erreichbar ist. Einige Entwicklungen wie die der Tempora lassen sich nicht aus dem Wandel von einer Konstruktionssprache zu einer Rektionssprache erklären. Ein weiterer Hauptkritikpunkt betrifft die starke Trennung, die López García zwischen Latein und Romanisch sieht. Harm Pinkster (1988) hat das Latein ebenfalls auf der Grundlage von modernen Theorien dargestellt und dabei immer wieder hervorgehoben, wie nahe es dem Romanischen eigentlich schon ist. Beim Übergang zu jenen Sprachen wird lediglich ein schon im jüngeren Altlatein und im klassischen Latein angedeuteter Variantenraum zu seinem analytischen Pol hin verlagert. Es entsteht gerade nicht ein vollkommen neues System. Pinkster macht u.a. durch detaillierte lexikalische Analysen, die bei López García fehlen, klar, dass die Verben im Latein allerdings eine Valenz haben (1988: 13ff. u. 29ff.). Dies führt auch Happs Dependenzgrammatik des Lateinischen vor (1976). Die lexikalischen Tabellen zeigen auch, dass der Nominativ deutlich erkennbar der Kasus des Subjekts war, ebenso wie der Akkusativ für das zweite und der Dativ für das dritte Argument eines Verbes stand und der Ablativ die Satelliten, d.h. die Zirkumstanten repräsentierte. Die funktionalen Kategorien Pinksters (Subjekt, Objekt usw.) sind einfach definiert und gut auf das Latein anwendbar (1988: 17ff.). Die problematischen Fälle, die López García erwähnt (aliquo uti, alicui servire), haben mit der Erscheinung zu tun, die weiter oben in Anlehnung an Wolfgang Raible als „Regelmäßige Ausnahmen“ (Raible 1980) angesprochen wurden: Während stark syntaktisierte Formen in vielen Fälle in einem rein syntaktischen Sinn verwendet werden, haben sie doch ihren konkreteren, semantisch reicher geprägten Ausgangssinn noch nicht ganz verloren, so dass dieser noch zum Vorschein kommen kann, wenn sich eine entsprechende semantische Konstellation ergibt. Schon im Latein gab es Valenz, und die Kasus waren klar den elementaren Satzfunktionen, den Argumenten, Satelliten und auf diesem Wege auch den syntaktischen Funktionen Subjekt, direktes Objekt und indirektes Objekt zugeordnet. López Garcías Deutungen zum Wandel des Passivsystems dürfen <?page no="213"?> 3.4 Zur Theorie von Ángel López García 201 daher ebenfalls als großenteils unbegründet gelten. Was die Wortstellung betrifft, so zeigt Neumann-Holzschuh klar, dass die heutige Verwendung der Muster SVO und VSO von dem Gegensatz kategorisch-thetisch bestimmt ist. Es besteht daher kein Gegensatz zwischen einem Latein, in dem die Wortstellung das Thema ausgedrückt hätte, und einem Spanisch, in dem Wortstellung nicht zum Ausdruck einer Markierung von thematischen Elementen im Satz verwendbar wäre. Pinkster zeigt außerdem, dass schon in der klassisch-lateinischen Syntax Konstellationen zu beobachten sind, in denen klare Hinweise auf eine definite Interpretation von Nominalphrasen gegeben sind (1988: 144f.): Nomina, die nur einen Referenten haben, wie sol; Kerne von Nominalphrasen mit Nominalattributen, die die Referenz des Kernnomens eindeutig machen, wie in der Wortgruppe pater Marci Tulli Ciceronis; assoziative Anaphern, wie etwa zwischen vorerwähntem domus und nachfolgendem porta; schließlich die implizite Definitheit von Demonstrativa. Der bestimmte Artikel expliziert also etwas, was im Latein schon angelegt ist. Im Übrigen ist von textlinguistischer Seite klar dargelegt worden, dass Artikel anaphorische Funktion haben und zu den Textkohäsion schaffenden Gestaltungsmitteln zählen (Weinrich 1974), womit auch ihre Herausbildung im Laufe der Spachgeschichte in Verbindung gebracht werden muss (Selig 1992). Der Rückgriff auf Lapesas Deutung mittels der Begriffe „aktuell“ versus „virtuell“ ist nicht vollkommen verfehlt, da generische Substantive und Abstrakta im Altspanischen längere Zeit noch ohne bestimmten Artikel gebraucht werden konnten. Diese Erklärung bezieht sich aber auf indirekte Konsequenzen, wie sich mit Hilfe von Darlegungen Raibles erkennen lässt (1972). In „Satz und Text“ erklärt Raible, dass Sätze, die eine Allgemeinaussage treffen, kein Element enthalten müssen, das im Vortext erwähnt wurde. Dies hat bei Artikelsprachen besondere Regelungen für den Artikelgebrauch zur Folge. Solange der Artikel bei zählbaren Nomina aber noch nicht vollkommen obligatorisch ist, kann die stärkere Isoliertheit von Allgemeinaussagen gegenüber ihrem unmittelbaren Kontext einfach durch das Weglassen des Artikels zum Ausdruck gebracht werden. Erst in Folge dieses Verfahrens korreliert dann die Artikelsetzung mit „aktuell-individuell“ und die Weglassung mit „virtuell-generisch“. Schon im klassischen Latein kommen Prohypotaxen vor, die Pinkster Korrelativa nennt (1988: 182f.). Pinkster verweist auf Stellen in Kühner/ Stegmann (1962), die die Existenz dieser Korrelativa im klassischen Latein belegen. López García zeigt sicherlich sehr schön das Wechselspiel zwischen Verarmung und Vervielfältigung von Konjunktionen, zwischen phrasenhafter Aufblähung durch Prohypotaxen und Reduktion zum einzelnen Funktionswort. Er hat die Vorgänge richtig erfasst. Aber er täuscht sich in der zeitlichen Zuordnung. Diese Phasen sind unterschiedliche Schritte auf einem Grammatikalisierungskanal, deren Ergebnisse in jeder Epoche immer parallel nebeneinander verwendet werden. Selbst wenn man wohl zugestehen muss, dass es Phasen mit schwächerem und stärkerem Gebrauch <?page no="214"?> 3. Grundlagen der Beschreibung und Erklärung 202 von Korrelativa gibt, ebenso wie Zeitabschnitte mit stärker oder schwächer polyfunktionalen Kunjunktionen. Auch was über das Tempussystem gesagt wird, entspricht nicht der eigentlich angebrachten Interpretation. Wenn man Pinksters Beschreibung des Tempusgebrauchs im klassischen Latein (1988: 340ff.) mit den Angaben zum altspanischen Tempusgebrauch vergleicht, die Metzeltin macht (1979: 70ff.), dann fällt die große Ähnlichkeit der Gebrauchsmöglichkeiten ins Auge. Hier hat sich funktional wenig geändert. Immerhin: Sekundär mag ein Römer die aspektuelle Note noch mit verstanden haben, und zwar durch die stärkere Konsequenz bei der Unterscheidung von Perfektstämmen und Präsensstämmen, die im Spanischen bei der Mehrzahl der Verben ja zusammenfallen. Raible (1990) zeigt, dass es nicht nur reine Tempussysteme und reine Aspektsysteme gibt. Viele Sprachen der Welt haben gemischte Systeme, so das Russische, das Englische und auch das Lateinische und Romanische, wobei im Falle der beiden letzteren der Tempusanteil überwiegt. Wieder setzt López García hier einen Gegensatz zwischen einem lateinischen Aspektsystem und einem romanischen Tempussystem an, der die wirklichen Unterschiede stark übertreibt. Weiterhin ist anzumerken, dass López García stellenweise leichtfertig mit der Trennung zwischen der mündlichen und schriftlichen Seite von Sprache umgeht. So ist der syntaktische Bruch im christlichen Latein doch einfach nur eine Folge davon, dass die Schriftsprache offener für Einflüsse der mündlichen Sprache wird, und auf einmal auch Entwicklungen widerspiegelt, die in der mündlichen Sprache längst in Gang gekommen sein können. SVO muss nicht erst von den Christen aufgebracht worden sein. Der nominativus pendens, der eine so zentrale Rolle in seiner Sicht der Sprachgeschichte spielt, ist ein universales Phänomen mündlicher Sprache (vgl. Koch/ Oesterreicher 1990: 89ff.), das bestimmte Schlüsselfunktionen in der Thema-Rhema-Progression von Dialogen erfüllt (Wehr 2000). Universale Phänomene mündlicher Sprache hängen unmittelbar von den kommunikativen Bedingungen ab, unter denen mündliche Äußerungen ganz allgemein stehen. Insofern ist der nominativus pendens wohl auch schon in früheren Zeiten der lateinischen Sprachgeschichte häufig verwendet worden, eben in der mündlichen Sprache. Auch hier wird in Folge einer Missachtung des Unterschieds „mündlich vs. schriftlich“ also eine starke Opposition zwischen Romanisch und Latein gesehen, die so nicht existiert haben kann. Symptomatisch für diese Unterschätzung der Trennung zwischen mündlicher und schriftlicher Seite ist vielleicht die Aussage, dass sich in den häufigen Passiva bei Isidor eine entsprechende, reale häufige Verwendung von synthetischen Passiven im spanischen Vulgärlatein des 6. Jahrhunderts widerspiegele (2001: 123ff.). Derartige Aussagen sind einfach zu unvorsichtig. Ich möchte aber noch einmal betonen, dass die Auseinandersetzung mit dem Buch von Ángel López García anregend ist, u.a. weil sie den Wert gegen- <?page no="215"?> 3.5 Zusammenfassung 203 teiliger Interpretationen in ein klareres Licht rückt. Der Beitrag soll in Kapitel 6, also der Urkundenanalyse, an einigen Stellen noch einmal berücksichtigt werden, wobei sich dann auch zeigen wird, dass sich in dem Buch von López García auch einige gültige und wertvolle Einzelaussagen zu dem spezielleren Thema der vorliegenden Untersuchung finden. 3.5 Zusammenfassung der Erträge dieses Kapitels Im vorliegenden Kapitel wurden die Möglichkeiten ausgelotet, die Seite der abstrakten Rekonstruktion und Schematisierung des lateinisch-romanischen Grammatikwandels zu stärken und präzise auszuformulieren. Dazu wurde: - ein umfassendes Modell des Sprachwandels aufgestellt, dessen Hauptziel es war, wesentliche Beiträge zu dieser Problematik, die die Diskussion der letzten Jahrzehnte bestimmt haben, in einem ausgewogenen Gesamtbild zu verarbeiten - die sprachübergreifend und sprachvergleichend begründete Grammatikalisierungstheorie als die zentrale Beschreibungsform für die Prozesse des Grammatikwandels herausgestellt und, durch Modifikationen sowie Integration konkurrierender Erklärungsansätze, gegen Kritik verteidigt - eine Folge von Graphen aufgestellt, durch die die Grammatikalisierungswege des Romanischen auf ihrer formalen und ihrer inhaltlichen Seite dargestellt wurden Diese Diagramme wurden außerdem auf ein Satzschema projiziert, das sich die funktionale Grammatik vom Dik-Typ zu Nutze machte, um die abstrakte, mathematisierende Darstellungsform an die konkreten Äußerungen bzw. Äußerungspotentiale der Sprachen anzuschließen. Dabei wurde versucht, auch Wortstellungswandel in die Grammatikalisierung mit hineinzunehmen: die Festlegung breit gestreuter Möglichkeiten der Wortstellungsvariation auf wenige Muster wurde als negative, die Herausbildung und zunehmende Obligatorisierung und Syntaktisierung von Grammemen als positive Grammatikalisierung erklärt. Die Theorie von Ángel López García, in der funktionaler und morphologischer Wandel aus einer Verschiebung von Wortstellungsprinzipien abgeleitet werden, wurde in ihren Hautzügen zurückgewiesen. <?page no="216"?> 4. Die sprachexterne Seite und die Beschränkungen der Aussagefähigkeit Das oben, in Kapitel 2, präsentierte Schema schließt externe und interne Aspekte von Sprachwandel eng zusammen und wird dadurch fortschrittlichen Ansätzen in der modernen Untersuchung sprachgeschichtlicher Prozesse gerecht. Den synchronen Initiativen einer den Satzrahmen übersteigenden Textlinguistik entspricht diachron die Bemühung, bei der Beschreibung internen Sprachwandels grundsätzlich den diskursiven Rahmen zu berücksichtigen, innerhalb dessen sich lautliche, morphosyntaktische und lexikalische Veränderungen vollziehen (Cherubim 1982, Steger 1982, Raible 1996a). Dieser Rahmen wird von der Sprachgemeinschaft gebildet, ihren kommunikativen Aktivitäten und Diskurstypen (Textgattungen, Gesprächsformen). Es ist dann folgerichtig, sich auch im „halbtransparenten Milieu“ - wie es in Kapitel 2 genannt wurde - mit dieser Seite des Sprachwandels auseinanderzusetzen. Allerdings bringt die Integration von sprachexternen und sprachinternen Prozessen einige Probleme mit sich, die auch speziell das Thema der vorliegenden Studie betreffen. Denn der methodische Ansatz, auf „Latein“ verfasste Texte heranzuziehen, um das Romanische der Zeit vor dessen Verschriftlichung zu erforschen, impliziert bestimmte, als selbstverständlich hingenommene Grundannahmen, die, aus Sicht einer verfeinerten Deutung kommunikativer Verhältnisse, wie sie heute möglich ist, in gewissem Sinne unbesorgt und vorschnell erscheinen. Man darf fragen: Gab es überhaupt eine Bipolarität „Latein-Romanisch“? Woran kann man Mündlichkeit, die sich in Schriftlichkeit mischt, festmachen? Wieviel lassen Urkunden erkennen von der Gesamtsprache, die beschrieben werden soll? Ist die Urkundensprache nicht zu dürftig, um einen Einblick in die Vielfalt des damals gesprochenen Romanischen zu geben? Versperrt die Formelhaftigkeit nicht den Blick auf die gleichzeitig existierende Sprechsprache? Handelt es sich nicht einfach bloß um schlecht beherrschtes Latein? In welchen Situationen und in welchen Phänomenbereichen kann Interferenz überhaupt stattgefunden haben? Der folgende, zweite Teil der Untersuchung möchte die sprachexterne Seite des hier thematisierten Sprachwandels aufhellen und dadurch zeigen, inwieweit die Aussagen, die auf Grund des Urkundenmaterials möglich sind, Einschränkungen unterliegen. <?page no="217"?> 4.1 Die Rolle von Diskurstraditionen 205 4.1 Der diskursive Rahmen von Sprachwandel aus einer allgemeinen Sicht - erster Aspekt: die Rolle von Diskurstraditionen Sprachwandel ist Veränderung des Sprachsystems, die im Sprechen und Schreiben angestoßen wird und sich im massenhaften Sprechen und Schreiben im Zusammenwirken mit den Aktivitäten des massenhaften Zuhörens und Lesens durchsetzt. Sprechen und Schreiben, Zuhören und Lesen, machen zusammen das aus, was man sprachliche Kommunikation nennt. Im Anschluss an die Forschungen von Konversationsanalyse (Franck 1980, Koch/ Oesterreicher 1990, Brinker 2001 u.v.a.) und Textlinguistik (Gülich/ Raible 1977; van Dijk 1980, Heinemann/ Vieweger 1991, Brinker 2000 u.v.a) lassen sich folgende Anforderungen als Grundaufgaben der sprachlichen Kommunikation erkennen: 1. EINBETTUNG des Kommunkationsereignisses in die Gesamtwirklichkeit des Alltagslebens. Durch situative Grenzen (Begegnung mit folgendem Gruß, Verabschiedung mit Trennung) muss ein Gespräch als je neue Situation im Situationsfluss der Erlebnisrealität von Sprecher und Hörer gekennzeichnet werden. Einbettung bedeutet andererseits auch ein Anschließen an diesen Situationsfluss, eine Verbindung mit der angrenzenden Situation nichtkommunikativer Art. Im Fall der Rezeption und Produktion eines geschriebenen Textes dienen textsemiotische Mittel dazu, die Aufmerksamkeit des Lesers oder den Produktionsfluss des Schreibers zu lenken und so eine Rezeptions- oder Produktionssituation zu etablieren. Solche textsemiotischen Mittel sind Deckblätter, Überschriften, Ziffern, Initialen, Rubrices, Miniaturen, Spaltenaufteilung, Wechsel des Schrifttyps oder bloß Lücken in Form von Leerzeichen (vgl. Frank 1994: 25ff.). Zu beachten ist ferner die Einbettung eines Gesprächs oder eines Textes nebst der ihm zugeordneten Rezeptions- und Produktionssituation in Gesprächs- und Textgruppen. So stehen Vorverhandlungen in Beziehung zu Hauptverhandlungen. Rechnungen stehen in einer Reihe aufeinander bezogener Gattungen der Wirtschaftssprache: (Anfrage) Angebot Bestellung (Lagerschein) Lieferschein Empfangsbestätigung Rechnung Überweisung/ Scheck Quittung, usw. 2. ORGANISATION hat mit der internen Verteilung der Äußerungen in einem Gespräch zu tun. Hier geht es um Sprecherwechsel und um Phänomene gleichzeitigen Sprechens wie Kontaktsignale oder Aufspaltung in gleichzeitig stattfindende Teilgespräche. Außerdem hat ORGANISATION zu tun mit der Beziehung der Gesprächsbeiträge zu den innerhalb des situativen Gesprächsganzen, also während des Gesprächs selbst stattfindenden nicht-sprachlichen Handlungen von Sprecher und Hörer. <?page no="218"?> 4. Die sprachexterne Seite 206 1 Wenn Stendhal Verrières beschreibt, sein Thema also diese Stadt der Franche-Comté ist, dann handelt es sich in Bezug auf den Rest des ersten Bands von „Le rouge et le noir“ um einen Rahmen der Erzählung. Folglich nimmt diese Beschreibung einen bestimmten Platz in der Superstruktur narrativer Texte ein, nämlich den des RAHMENs. 2 So kann im Verkaufsgespräch zwar der Preis einer Ware erfragt werden, bevor man bekanntgibt, sie kaufen zu wollen, aber es hat natürlich keinen Sinn, wenn der Verkäufer die Frage nach den Wünschen des Kunden stellt, nachdem schon kassiert worden ist. Auch ein Satz wie „Ja, ich kaufe fünf Pfund und zwar, eh…, von den gelben Äpfeln da drüben“ mit der Reihenfolge „Menge vor Art-des-Kaufobjekts“ scheint nur mit Not akzeptabel. Auch im Textbereich lässt sich ein Äquivalent der dialogischen Organisation ausmachen. Nicht selten wird mehr als nur ein Text über ein gleiches Thema verfasst und diese Texte zu einem Ganzen zusammengeschlossen, so etwa beim Aufbau einer Artikelserie oder wenn von einer Einleitungsstelle aus inhaltliche Bezüge zwischen den Beiträgen der Ausgabe einer Zeitschrift hergestellt werden (vgl. Seibold 1995). Man kann solches In-Beziehung- Setzen als eine Aktivität der Organisation auffassen. Aus der Perspektive des Einzeltextes handelt es sich dabei freilich um ein Problem der Einbettung, aus der Perspektive der Textgruppe dagegen um eines der Organisation. Im Textbereich sind Einbettung und Organisation wechselseitig aufeinander bezogen. Für die Realisierung der Einzelaufgaben im Rahmen der Organisation spielen Satztypen, vor allem Fragen und imperative Sätze, eine zentrale Rolle. Daneben verschiedene Signale, wie solche des Sprecherwechsels. 3. THEMATISIERUNG: Welche Themen werden überhaupt angesprochen? Dies ist die Leitfrage der inventio in der Rhetorik. Sie berührt die inhaltliche Seite eines individuellen Textes, die Makrostrukturen im Sinn von Teun Van Dijk (1980: 41ff.). Im Bereich der Unterhaltung geht es um die Realisierung von freien, assoziativen thematischen Übergängen. Dagegen haben Gesprächsformen wie Verkaufs-, Beratungs- oder Verhandlungsgespräch, die ja bis zu einem gewissen Grad konventionalisiert sind, ihren festgelegten und vorgegebenen Kanon von thematischen Punkten, die durchgesprochen werden müssen. Dies ist im Prinzip ebenfalls in allen Textsorten der Fall. 4. DISPOSITION: Wann soll welches Thema erwähnt werden? Was soll zuerst behandelt werden, welches Thema soll an zweiter Stelle folgen usw.? Dies ist die Frage, durch die sich die dispositio in der klassischen Rhetorik definiert. Aus van Dijks Sicht geht es um Superstrukturen (Ibid.: 128ff.): Welchen Platz ein Thema in Bezug auf die anderen einnimmt, hängt von seiner Subsumption unter eine der Kategorien des dem gegebenen Texttyp zugeordneten Superstruktur-Schemas ab 1 . In der Unterhaltung gibt es nur Thematisierung, eine Anordnung der Themen ist hier gerade nicht vorgeschrieben. Dagegen setzen konventionalisierte Gesprächsformen der Variationsbreite, innerhalb derer die Abfolge der zu besprechenden Themen umgestellt werden kann, spürbare Grenzen 2 . <?page no="219"?> 4.1 Die Rolle von Diskurstraditionen 207 ORGANISATION und DISPOSITION ähneln sich zwar bis zu einem gewissen Grad, sie sind aber nicht vollkommen gleich. Zwar geht es bei der ORGA- NISATION, etwa beim Sprecherwechsel, auch um die Platzierung bestimmter Textabschnitte, nämlich der Redebeiträge der einzelnen Sprecher. Aber die ORGANISATION impliziert keinen Bezug zu einem Gesamtüberblick über die Themen, die zur Sprache kommen sollen. Die Kommunikationsbausteine, auf die sich Organisation bezieht, können sowohl thematisch uneinheitlich sein als auch bloße Bausteine eines thematisch in sich einheitlichen Abschnitts. 5. ENTWICKLUNG: Themen müssen in Form von Satzsequenzen ausgearbeitet werden. Dies betrifft die Aufgabe der Linearisierung von Sätzen und Satzteilen sowie die Gestaltungsparameter der Ausführlichkeit und damit zusammenhängend der Wichtigkeit von Information. (5a) Linearisierung von Sätzen: Die Sätze eines Textes oder Gesprächsbeitrags werden gemäß einem Thema-Rhema-Progressionsschema einander zugeordnet: lineare Progression, konstantes Thema, gespaltenes Thema oder Rhema. Hierfür spielt der Subjektplatz in der unfokussierten Grundwortstellung eine Rolle, andererseits Bewegungen von Satzteilen an den Satzanfang (Topikalisierung). Im Gespräch werden auf Grund der größeren Spontaneität oft segmentierte Sätze zur thematischen Verknüpfung benutzt. (5b) Wichtigkeit: Teile der Information des Satzes können mittels verstärkten artikulatorischen Drucks, also Schwankungen des Satzakzents, oder durch morphosyntaktische Hervorhebungsverfahren wie die französische mise en relief (c'est Paul qui l'a vu) ins Zentrum der Aufmerksamkeit des Hörers gerückt werden. Diese Hervorhebung verbleibt innerhalb des Satzes, insofern als sie sich nur auf das Verhältnis der Satzteile untereinander bezieht. Es handelt sich um Fokussierung. Ein einfaches Fokussierungsmittel ist die Veränderung der Grundwortstellung im Satz: Ich gebe das Buch dem schlechten Schüler (nicht dem besseren). Ich gebe dem schlechten Schüler das Buch. Die Funktion der Grundwortstellung ist eigentlich, den neutralen Hintergrund für merkmalhaltige Abweichungen zu bilden. (5c) Ausführlichkeit: Informationen der selben Art können in einem Satz unterschiedlich ausführlich dargestellt werden. Zeitinformation: gestern, gestern morgen, gestern morgen um fünf Uhr, gestern morgen so um die fünf Uhr mehr oder weniger <?page no="220"?> 4. Die sprachexterne Seite 208 Eigenschaften von Dingen oder Personen: das prädikative Adjektiv nimmt den Satzkern ein => es ist im Verhältnis zur Restinformation relativ stark ( z.B. der Baum ist hoch) das attributive Adjektiv ist eine Zusatzinformation, die im Verhältnis zur Restinformation des Satzes relativ schwach ist (z.B. wir sahen 50 Meter weiter einen hohen Baum) Unterschied zwischen Vollverb und Funktionsverbgefüge: Er antwortete schroff. Er gab eine schroffe Antwort. Wie das letzte Beispiel zeigt, hängen Fokussierung und Informationslänge eng zusammen. Im ersten Satz ist schroff fokussiert, im zweiten Satz Antwort. Das Längenverhältnis zwischen unterschiedlichen Informationsblöcken im Satz soll „Relevanzprofil“ genannt werden. Slots für Vergleiche von Informationsstücken bieten dabei das Prädikat, die Aktanten und die unterschiedlichen Arten von Umstandsangaben an. Das Relevanzprofil von Satzteilen spielt für die Makrosyntax von Urkunden eine große Rolle. Relevant ist in Rechtsdokumenten vor allem die Identität bzw. Identifikation von Personen und Objekten. Diese Texte sind daher durchsetzt von „schweren“, mit Nominalattributen und Appositionen angereicherten Nominalphrasen. Dies bestimmt einerseits die Wortstellung des Verbalteils und ist andererseits ein Faktor, der den Gebrauch von Paarformeln bewirkt wie dono et concedo (ich schenke und trete ab an). In Kap. 6.3.4 wird dieser Charakterzug ausführlicher erörtert. Fokussierung ist rein satzintern, Thema-Rhema-Gliederung satzübergreifend. Beide fallen insofern oft zusammen, als das Rhema häufig fokussiert wird. Wie immer man auch das Verhältnis von Fokussierung, Relevanzprofil und Thema-Rhema-Gliederung sieht, es sind die Teilaspekte einer für jede sprachliche Äußerung bestehenden kommunikativen Grundaufgabe, der Entwicklung. Das Schreiben erfüllt nun diese Aufgaben, indem es auf feststehende Lösungen zurückgreift, die in der kulturellen Tradition einer jeweiligen Gesellschaft und Sprachgemeinschaft angeboten werden. Diese Lösungen sind die Gattungen oder Texttypen. Gattungen stellen eingespielte, aber auch dauernder Veränderung unterliegende Formen dar, die die Textproduktion als Gestaltungsziele bestimmen. Sie weisen eine Vielzahl von Charakteristika auf: formal gebundene Rede oder Prosa, Versmaß, Strophenform und Strophenzahl, Länge überhaupt, Monolog oder Dialog, formelhafte Sprache, Listenform; inhaltlich: Haupt-Themen, Perspektive ihrer Darstellung; inhaltlich-formal: die Globalstruktur (Gülich/ Raible 1977); meta-textuell: die eigene Gattungsbezeichnung des Textes. Eine große Rolle spielt der Verwendungskontext des Textes, d.h. die Adressaten, die Rezeptionssituationen, die Wirkabsicht und Funktion. Textgattungen beeinflussen außerdem das äußere <?page no="221"?> 4.1 Die Rolle von Diskurstraditionen 209 3 Letzteres sind allerdings eher moderne Gesichtspunkte. Solange Pergament und Schriftproduktion generell teuer waren, war es üblich, wenig zusammengehörige Texte in ein und dem selben Kodex unterzubringen (vgl. Frank/ Haye/ Tophinke 1997). Dies wird zum Beispiel durch sehr viele Texte im Inventaire (Frank/ Hartmann 1997) belegt. Erscheinungsbild und die mediale Einbettung des Textes, d.h. in welcher Art von Handschrift oder Druck ein Text wiedergegeben wird und mit welchen anderen Texten er dabei verbunden erscheint 3 . Die Vielfalt dieser Merkmale übersteigt zwar die Ansprüche der oben genannten kommunikativen Aufgaben. Trotzdem lässt sich erkennen, dass einige von ihnen genau auf diese Anspüche antworten. Neben der medialen Einbettung, die die kommunikative EINBETTUNG und die ORGANISATION einer Textvielfalt innerhalb ein und des selben Buches betrifft, ist da an die charakteristische Globalstruktur zu denken, durch die THEMATISIERUNG und DISPOSITION geleistet wird. Der durch EINBETTUNG, ORGANISATION, THEMATISIERUNG und DISPO- SITION seinem äußeren Gerüst nach bestimmte Text entsteht nun erst durch ENTWICKLUNG. Die Aktivitäten der ENTWICKLUNG betreffen direkt Wortstellung, grammatische Funktionen, Abfolge von Tempora, Verbindungsformen zwischen Sätzen, also die Grammatik. Da ENTWICKLUNG aber als sprachliche Ausformung eines Gerüsts verstanden werden muss, das durch die Erfüllung der anderen Aufgaben auf der Grundlage von Textgattungen bereit gestellt wird, kann man sagen, dass die Grammatik und damit grammatische Veränderungen von den Textgattungen beeinflusst werden können. Ein solcher Einfluss geht außerdem auch von anderen Gattungsmerkmalen aus, wie etwa dem Verwendungskontext. Es gibt eine Reihe von empirischen Arbeiten, die eine solche Beziehung zwischen Gattungsbereichen oder einzelnen Gattungen zu Erscheinungen des grammatischen Sprachwandels tatsächlich feststellen (Stempel 1964, Wanner 1987, Raible 1992, Selig 1992 u.a.). Wolf-Dieter Stempel weist nach, dass der Konjunktionenbestand des Französischen über den Weg der Troubadourlyrik und des Roman courtois bereichert wurde. Die Chanson de geste dagegen habe sich eher der Parataxe bedient als der Hypotaxe. Die kommunikative Bedingung, die diesen Weg erklärt, ist der Grad an Reflexivität, der in die Gestaltung der Texte einer Gattung einfließt. Reflexivität drückt sich z.B. in der „Problemrede“ der „ausführlichen Schilderung und Analyse des Liebesgefühls“ aus (Stempel 1964: 37). Das Verhältnis von Parataxen und differenzierenden Subordinatoren wird also durch die Gattung bestimmt. Wanner beobachtet, dass die Klitisierungsprozesse in unterschiedlichen Gattungsbereichen (u.a. Geschichtsschreibung, Bibelübersetzung und bibelnahe Literatur) in je spezifischer Art und Weise abläuft. Selig arbeitet heraus, dass den Nominaldeterminanten in Heiligenlegenden speziell die Funktion zukam, den jeweiligen Protagonisten hervorzuheben und die Fernanaphorik in kritischen Kontexten abzusichern. Raible sieht die Schriftlichkeit, also bestimmte Kommunikationsbedingungen, als besonders förderlich für die <?page no="222"?> 4. Die sprachexterne Seite 210 Entfaltung von Formen des von ihm untersuchten Grammatikbereichs, nämlich der Mittel der Satzintegration, an. Ein angemessenes Konzept zur Beschreibung dieser Einflüsse ist das der Diskurstraditionen (= Traditionen von Gesprächsformen und Gattungstraditionen), das Brigitte Schlieben-Lange 1983 eingeführt hat. Schlieben- Lange bemerkt, dass die frühere Sprachgeschichtsschreibung, also die der großen Philologen des 19. Jahrhunderts, die die Einzelphilologien begründet haben, immer zugleich eine Geschichte von literarischen und nicht-literarischen Gattungen eingeschlossen habe (vgl. Schlieben-Lange 1987: 43f.). Diese verlorengegangene Einheit möchte sie wiederhergestellt sehen. Dabei sollen die Traditionen von Texten auf drei Ebenen betrachtet werden: elementare sprachliche Handlungen, Texttypen, Diskursuniversen. Die Herausbildung der elementaren sprachlichen Handlungen schließt sicherlich die Grammatik ein, geht aber im Vergleich zu den grammatischen Beschreibungsarten, die der vorliegenden Arbeit zu Grunde liegen, zu stark vom Inhalt aus. Für die Ziele dieser Arbeit ist es vielmehr notwendig, die Texttraditionen als einschränkenden und lenkenden Einfluss zu begreifen, der additiv zu einer vorgängigen Grammatikalisierung hinzukommt und wesentliche Anteile der ökologischen Bedingungen von Sprachwandel im Sinne von Keller (1994) ausmacht. Dennoch sind die elementaren sprachlichen Handlungen in einer anderen Hinsicht wichtig, die von Schlieben-Lange deutlich hervorgehoben wird. „Ich denke […] z.B. an die Fülle von sprachlichen Handlungen, die Bürokratie und Beamtentum geschaffen haben und die ihrerseits diese Institutionen mitkonstituieren (ernennen, rügen usw.). […] Meist wird es sich um die Entfaltung und Präzisierung elementarer Handlungen im Rahmen und für den Zweck der Institution handeln. Wie wir für das Beispiel des Versprechens gezeigt haben, gehen die Lebensformen oder im jetzt besprochenen Fall die Institutionen sozusagen in die Handlungstypen ein“ (Schlieben-Lange 1983: 141). Hier ist das angesprochen, was oben Verwendungskontext genannt wurde. Neben den Texttypen erscheint auch Schlieben-Langes dritte Ebene, die Diskursuniversen, wichtig. „Die Diskursuniversen sind die Typen der Texttypen. Wenn mehrere Texttypen ähnlichen Prinzipien folgen, d.h. die gleiche Art von Finalität haben, auf die gleiche Welt referieren und ähnliche formale oder argumentative Standards haben, so kann man sagen, dass sie ein Diskursuniversum bilden“ (Schlieben-Lange 1987: 140). „Welt“ meint Lebensbereiche. So sind verschiedene Diskursuniversen für Schlieben-Lange etwa Religion, Dichtung, Wissenschaft, Normen und Recht (vgl. Schlieben-Lange 1987: 146). Man könnte noch Technik, Wirtschaft und Politik nennen, um ein relativ vollständiges Bild des Zielbereichs schriftlicher Texte zu bekommen. Außerdem sei hinzugefügt, dass es auch für die unterschiedlichen Gesprächsformen Diskursuniversen gibt. Eine mögliche Einteilung des Gesprächsbereichs wird durch die großen Themengebiete des Alltagslebens begründet: Arbeit, Familie, Gesundheit, „Beziehung“ u.a. <?page no="223"?> 4.1 Die Rolle von Diskurstraditionen 211 4 Anm.: Im Folgenden werden erste Ausschnitte aus den Urkunden gezeigt. Auf manche Leser mag die von den lautlichen Eigenarten des romance geprägte Graphie ungewöhnlich und verständnis-hemmend wirken. Deswegen wird in dieser Anmerkung ein kurzer Überblick über die lautlich-graphischen Besonderheiten gegeben, die zu einer inhaltlichen Erschließung beachtet werden müssen: [h-] am Wortanfang verstummt, deswegen wird <h> häufig ausgelassen: <omo> für <homo>, <omine> für <homine>, <abuit> für <habuit>, <abere> für <habere>, <abuit> für <habuit>, <ortus> für <hortus> <e> ersetzt <ae>: <seculum> für <saeculum>, <scripture> für <scripturae>, <que> für <quae> <eternus> für <aeternus>, <ecclesie> für <ecclesiae> Schreibung <u> für <v>: <uos> = <vos>, <uel> = <vel>, <uobis> = <vobis> usw. Verwechslung von <b> und <v>: <quilivis> für <quilibet>, <bindere> für <vendere>, <bacca> für <vacca> <aueo> für <habeo>, <binea> für <vinea>, <bero> für <vero> Intervokalische Sonorisierung: <nominada> für <nominata>, <auctorigare> für <auctoricare> <dublados> für <duplatos> Sonorisierung am Wortende oder Silbenende: <aud> für <aut>, <dublada> für <duplata>, <infrontad> für <infrontat> Synkope: <ermus> für <eremus>, <neptus> für <nepotus>, Affrikatbildung aus Palatalisierung, entsprechende Verwendungen der cedilla oder von <ti>- Verbindungen: <arroio> für <arrogio>, <flagicia> für <flagitia>, <plumazo> für <plumaco> <pieza> für <petia> Stützung durch prosthetisches [i-] oder [e-], graphisch nicht immer angezeigt: <istrata> für <strata>, Auswirkungen des Quantitätenkollapses: <bindere> für <vendere>, <lombo> für <lumbo> An welcher Stelle neue Entwicklungen auftreten oder sich konservative Züge halten, ist nicht nur eine Frage von Generationen oder der Aktivität sprachlich kreativer Individuen (Aschenberg 1984: 70f.), sondern auch eine von Textgattungen und Gesprächstypen. So fördert die thematische Festlegung mancher Gattungen der Fachsprache sicher die lexikalische Bereicherung in einem bestimmten Sachfeld. Schriftinduzierter Sprachwandel vollzieht sich, wie Stempel ja darlegt, nicht in allen Gattungen mit gleicher Geschwindigkeit. Die Ansprüche eines bestimmten Bereichs des sprachlichen Ausdrucks fördern eher die Bildung einer Skala von Konjunktionen für unterschiedlichste Relationen als die von anderen. Andererseits bewahrt gerade die Rechtssprache viele ältere Formen. Dies hat z.B. Rolf Eberenz (1983) für den Rückzug des spanischen Konjunktiv Futur aus weiten Teilen des Neuspanischen im Einzelnen gezeigt. Das Futur des Konjunktivs wird im Spanischen bekanntermaßen nur noch in der Sprache der Gesetze und in einigen Dialekten gebraucht 4 . <?page no="224"?> 4. Die sprachexterne Seite 212 Diphthong im Hauptton: <fuero> für <foro>, <pieza> für <peza>, <cotiello> für <cotello> Wegfall von <n> vor <s> (auf der Lautseite entsprechend): <preses> für <praesens> Vereinfachung der Konsonantennexus <ps>, <x>, <mb>, <mpt>, <xs> u.a. <salmus> für <psalmus>, <exolvat> für <exsolvat> <redemtionis> für <redemptionis>, <camiationis> für <cambiationis> <lumum> für <lumbum>, <esclude> für <exclude> Metathesen: <padulis> für <paludis> Schreibung von <c> als <qu> und von <c> als <k>: <baka> für <vacca>, <iudikare> für <iudicare> <saquavi> für <sacavi> Doppelkonsonant statt einfachem Konsonant: <dupplata> für <duplata>, <Gondissalvo> für <Gondisalvo> <alliquis> für <aliquis> Einfachkonsonant statt Doppelkonsonant: <acepimus> für <accepimus>, <sumum> für <summum> <arogium> für <arrogium> Hyperkorrekturen: <hac> für <ac>, <at> für <ad>, <set> für <sed> <accensit> für <accessit>, <heremus> für <eremus> <morabeti> für <morabedi>, <origentis> für <orientis> 5 Die folgenden Angaben sind im Wesentlichen Giry 1894, Bresslau 1958 und Brandt 1992 entnommen. Sie beruhen darüber hinaus auf eigenen Beobachtungen, die Verf. während einer Archivreise in Spanien im Dezember 1994 gesammelt hat. Näheres s. Kap. 6.1.1 4.2 Zur Gattung „Urkunde“: Verwendungskontext, Globalstruktur Der folgende Abschnitt dient einerseits dazu, die Texte, die dem morphosyntaktischen Geschehen zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert als Dokumente dienen, als Gattung zu charakterisieren, um dem Leser einen Eindruck von ihnen zu vermitteln. Andererseits soll er die Kommunikationssituationen herausarbeiten, bei denen ein Einfluss der Volkssprache stattfinden konnte. Die Urkunde ist ein eingespieltes Schema, um den verschiedenen Grundaufgaben der sprachlichen Kommunikation zu genügen 5 : Textsemiotisch wird sie durch ihr Erscheinungsbild in ihre Umgebung eingebettet. Es handelt sich um ein Einzelpergament mit großem Anfangsbuchstaben und einer Unterschriftenliste, in der oft auffällige Zeichen (signa) als Unterzeichnungsmerkmale zu finden sind. Eine Urkunde kann mit einem Siegel versehen sein, eine Praxis, die sich vor allem in germanischen Ländern seit dem Hochmittelalter vermehrte. Innerhalb eines Kartulars können Urkunden durch Rubriken und Initialen von den ihnen vorhergehenden Urkunden abgesetzt sein (vgl. Frank 1994). <?page no="225"?> 4.2 Zur Gattung „Urkunde“ 213 6 Die Terminologien der beiden Autoren decken sich nur zum Teil, es wurde im Folgenden großenteils mit den Termini von Bresslau gearbeitet. arenga in Bresslau wurde durch Girys Terminus praeambulum (le préambule) ersetzt. Die Urkunde ist mit anderen Texten zu einer Reihe organisiert. Einer Urkunde kann ein Entwurf vorhergehen, in dem der Verfasser sich inhaltliche Notizen über wesentliche Informationen macht. Die Originalurkunde, die daraus entsteht oder aber sofort vom Verfasser diktiert oder geschrieben wird, wird häufig in großen Urkundensammlungen kopiert. Die Thematisierung, also die angesprochenen Themen, und die Disposition, d.h. die Anordnung der Themen, werden bei der Urkunde durch den geregelten Ablauf der Urkundenteile bewerkstelligt, wie er maßgeblich von Harry Bresslau (1958: 45ff.) und Arthur Giry (1894: 527ff.) beschrieben wurde 6 . Eine Verkaufs- oder Schenkungsurkunde ist danach wie folgt aufgebaut (1) Invocatio: Anrufung Gottes, Christi oder der Dreifaltigkeit (2) Intitulatio: Nennung des Ausstellers oder der Aussteller (3) Inscriptio: Nennung des Empfängers des geschenkten oder verkauften Guts (4) Praeambulum: Angabe allgemeiner Gründe, die den Aussteller zu seinem Akt bewogen haben (z.B. „zur Wahrung des eigenen Seelenheils“) (5) Promulgatio: Formel, die eine Art öffentlicher Bekanntmachung des Rechtsgeschäfts darstellt (notum est omnibus) (6) Narratio: Erzählung der Vorgeschichte, wie es zu dem in der Urkunde bezeugten Rechtsgeschäft kam (7) Dispositio: Konstatierung des Schenkungsbeschlusses oder Verkaufsbeschlusses (8) Sanctio: eine Art Vertragsstrafe für alle diejenigen, die den Rechtsfrieden stören wollen, der durch die Ausstellung der Besitzverhältnisse klärenden Urkunde gesichert werden soll (9) Corroboratio: ausdrückliche Nennung der Bestätigungsmittel der Urkunde, z.B. eines Siegels (10) Datierung: Angabe von Jahr und Tag der Ausstellung, oft nach der spanischen Ära (Ära - 38 = heutige Jahreszahl) (11) Subscriptiones: Unterschrift des Ausstellers, Unterschriften von Zeugen, evtl. Nennung von Schreiber und Verfasser <?page no="226"?> 4. Die sprachexterne Seite 214 Ein Beispiel (Urkunde aus Galicien aus dem Jahre 827) / A/ gal1.g/ 827/ / Inventio: In Dei nomine. / Intitulatio: Ego Egilo / Inscriptio: uobis fratribus meis Floridia, Auolino, Gildemiro et Bonoso. / Dispositio: Placuit mihi atque conuenit, nullo cogentis imperio nec suadentis articulo sed propria mihi accessit uoluntas, ut uenderem uobis supra dictis agrum meum quem habeo in uilla Codegio, ubi uos habitatis, et est ipsum agrum inter ecclesiam Sanctum Iulianum et castrum de Paredinas et accepi a uobis precium solidos quod mihi bene complacuit et de ipso precio apud uos nichil remanst (Schreiberfehler im Original | vermutlich: remansit) in debitum. Ita ut de hodie die et tempore de meo iure abrasum et uestro iuri et dominio sit traditum atque concessum, habeatis uos et omnis posteritas uestra perhenniter. / Sanctio: Siquis tamen, quod fieri non credo, contra hunc meum factum ad irrumpendum uenerit, pariat uobis ipsum agrum duplatum uel triplatum et uobis perpetim habiturum. / Datierung: Facta scriptura uenditionis VIIIo idus octobris, era DCCCLXV.a / Subscriptio: Egilo in hac scriptura uenditionis a me facta manu mea (Signo). Lecuegildus testis. Alaricus testis. Varuarinus testis. / E/ gal1.g\ (Übersetzung: / Invocatio: Im Namen Gottes. / Intitulatio: Ich, Egilo, / Inv: an Euch, meine Brüder Floridia, Avolino, Gildemiro und Bonoso. / Dispositio: Es gefiel mir, - ohne dass ein Befehl irgendeines Zwingenden oder das, was irgendein Überreder vorzubringen hätte, mich beeinflusst, sondern aus eigenen freien Stücken, zu beschließen, dass ich Euch oben Genannten meinen Acker verkaufe, den ich in der Siedlung Codegio habe, wo ihr wohnt. Dieser Acker befindet sich zwischen der Kirche St.-Julian und dem Burgflecken Paredinas. Und ich habe von Euch Goldmünzen als Bezahlung erhalten, was mir wohl gefallen hat und von diesem Preis ist bei Euch nichts verblieben, was ihr mir etwa noch schuldetet. So dass vom heutigen Tage an gerechnet und künftig mein Besitz aus meiner Rechtssphäre weggeschnitten und in die Eure hinübergegeben werde. Möget Ihr und Eure gesamte Nachkommenschaft ihn ewig in Besitz haben. / Sanctio: Wenn aber jemand, - wovon ich nicht glaube, dass es geschieht -, kommen sollte und diese von mir eingesetzten Rechtsverhältnisse übertreten will, so soll er Euch als Strafgeld für den selbigen Acker den doppelten oder dreifachen Preis bezahlen, damit ihr ihn auch wirklich auf Dauer haben könnt. / Datierung: Das Verkaufsschreiben wurde acht Tagen vor dem Iden des Oktober im Jahre der spanischen Ära 865 hergestellt. / Subscriptio: Egilo in diesem von mir mit eigener Hand hergestellten Verkaufsschreiben (Zeichen) Lecuegeldis, Zeugin. Alarico, Zeuge. Varuarinus, Zeuge.) Die Corroboratio als ausdrückliche Angabe von Bekräftigungsmitteln mit dem Verb roboro fehlt in frühmittelalterlichen Urkunden der iberischen Halbinsel oft. Die Globalstruktur einer Gattung kann nun mit van Dijk (1980) einmal inhaltsorientiert als Makrostruktur gedeutet werden, andererseits mit Ausrichtung an der Textoberfläche als Ablaufschema oder Superstruktur. Die Makrostruktur beinhaltet die Abstraktionsebene des Urkundentextes. Es ist die Struktur der Idee, die vermittelt werden soll. Die inhaltliche Idee, die eine <?page no="227"?> 4.2 Zur Gattung „Urkunde“ 215 Abb. 23 Urkunde ausmacht, könnte durch das folgende simultane Bild charakterisiert werden: In Worten: Ein Geber schenkt oder verkauft einem Nehmer ein Gebiet mit Bauten, Tieren, Pflanzen und öfters auch den Menschen, die dieses Gebiet bewirtschaften; an den Besitz des Gebiets sind gewisse Rechten und Pflichten gebunden; der Besitzwechsel verlangt beim Verkauf eine Gegenleistung; die Verabredung des Besitzwechsels, also der in der Urkunde dokumentierte Rechsakt, wird von Zeugen beobachtet; der Rechtsakt findet zu einem bestimmten Zeitpunkt statt und hat außer dieser Einbindung in die weltliche Ordnung auch noch einen Bezug zur religiösen Ordnung; für den Rechtsakt gibt es auf Seiten des Gebers und manchmal auch des Nehmers bestimmte Motive; gegenüber Handlungen, die die durch den Rechstakt hergestellten neuen rechtlichen Verhältnisse stören sollten, wird eine Strafe angedroht. Die Superstruktur vermittelt und präzisiert dieses simultane Bild, indem sie es von der invocatio zur Datierung führend linearisiert. Dabei stehen die Bezeichnungen der Teile der Superstruktur meist für kommunikative Handlungen: invocatio, promulgatio, dispositio, praeambulum u.a. Es sind Nominalisierungen performativer Verben (vgl. Austin 1975: 4ff.). Die Superstruktur bildet also eine Art Metaebene des Urkundentextes und zeigt darin ganz ZEUGEN (nehmen den Vorgang wahr) GEBER NEHMER (Strafe) Zeitpunkt (& Motivierung & Einordnung in die relig. Weltauffassung) STÖRER GEBIET (mit Bauten, Tieren, Menschen; Pflanzen) + Rechte und Pflichten, die an ein Gebiet gebunden sind <?page no="228"?> 4. Die sprachexterne Seite 216 ausdrücklich, dass sie eine kommunikative Linearisierung eines inhaltlich simultanen Sinnkomplexes leistet. Hier kommt nun Brigitte Schlieben-Langes Rede von den „Diskurstraditionen“ ins Spiel. Gattungen sind Erweiterungen von elementaren Sprechakten, die hierarchisch zu komplexen Texten angeordnet sind. Im Fall der Urkunde dominiert wohl die dispositio. Alle anderen Teile sind um diesen zentralen formalen Sprechakt herumgruppiert. Neben Texttypen und elementaren Handlungen ist aber auch das Konzept der „Diskursuniversen“ im Zusammenhang mit der Urkunde wichtig. Denn „Urkunde“ ist im Mittelalter nur ein Oberbegriff für eine ganze Reihe von Texttypen wie Schenkungsurkunden, Verkaufsurkunden, Eide, Übereinkünfte (convenientiae) und Verleihungen von Rechten (Foren, Sg. Forum), eine Art von Gesetzestexten. Alle diese Texttypen wiesen Urkundenform auf. Zusammen mit dem Rechtscodex bildete die Urkunde im Mittelalter das repräsentative Format für das Diskursuniversum „Recht“. Im Falle der frühmittalterlichen Urkunden Spaniens und Portugals lässt sich diese Stellung im Sinne eines Oberbegriffs aus den Gattungsbezeichnungen ablesen, die die Verfasser der Urkunden selbst ihren Dokumenten verliehen: Facta karta donacionis sub die X Kalendas Setenberes era DCCCXIIIa. (775, Silonis) [Schenkung] Hec est karta uenditionis quam feci ego Zuleiman iben giarah aciki ad abbatem dulcidium et ad suos fratres de cenobio laurbano territorio conimbrie de omne quod habui in uilla uillella (Portugaliae Monumenta Historica, 1016) [Verkauf] Facta cartula donationis uel testamenti kalendas iunii Era DCCCLXIIII, (826, Santo Toribio) [Schenkung] Facta carta traditionis in era Va Regnante rex Adefonso in Legione et comite Garcia Fredinandi in Castella (Oña, 967) [Übergabe = Schenkung] Ego comes Sancius et uxor mea Iurracha, et ego Gomez Didat Et uxor mea Ostrucia, hanc scripturam fieri iusimus legentem audivimus signos (Oña, 1011) [scriptura statt carta] Facta carta camiationis, notum die, IIII feria, VIII kalendas decembris era T LXXXX VII (Silos, 1059) [Tausch] Ideoque, per hoc placitis nostri firmissimam compromissionem, tibi promittimus per hunc placitum uel pactum quem tibi facimus, ut si recte et fideliter amodo et deinceps sub regulari doctrina habitare in uno cenobio tecum. (Doc. gall., 856) [Übereinkunft, kann z.B. Schenkung, Verkauf, Tausch sein] in primis iram Dei incurrat et peccatis meis anime illius sit obligatum quia per istam cartam donacionis vel redempcionis putabam esse peccatum meum purgatum et in antea ista carta donacionis vel redempcionis firmis et stabilis permaneat omnique tempore. (Archivo Condal, 918) [religiöser Zweck] <?page no="229"?> 4.2 Zur Gattung „Urkunde“ 217 Facta karta testamenti idus aprilis (Portugaliae Monumenta Historica, 907) [Testament] Urkunden bezeichnen meistens ausdrücklich die Gattung, der sie angehören. In der Mehrzahl der oben angeführten Fälle ist diese Bezeichnung zweiteilig aufgebaut: carta/ cartula + speziellerer Name im Genetiv. Der speziellere Name gibt den Zweck der Urkunde an (venditio/ Verkauf, donatio/ Schenkung, testamentum), carta/ cartula verweist auf den ersten Blick einfach auf den Textträger. Aber es liegt natürlich nahe, dies gleichzeitig als einen Oberbegriff zu verstehen, der sich auch auf eine relative Konformität textinterner Merkmale bezieht, die typisch für den Stil jeglicher Urkunde sind. So kehren Textteile wie invocatio oder subscriptiones in allen als cartae bezeichneten Schriftstücken wieder und fehlen selbst bei den Verleihungen von Stadtrechten nicht. Was nicht Schenkung, Verkauf oder Tausch war, erhielt durch diese Gestalt das Aussehen und damit auch den rechtlichen Status einer Urkunde. Es ist auch sachlich schwer, Fueros, Verträge und Eide von den Verkaufs-, Schenkungs- und Tauschurkunden vollkommen zu trennen. So stellt man fest, dass Gründungsverträge von Klöstern oft mit einem Eigentumsverzicht zu Gunsten der Gemeinschaft verbunden sind, dass bei einer Reihe von Fueros gleichzeitig Land zur Wiederbesiedlung übergeben wird und (katalanische) Eide neben der Bestimmung von Wach- und Kriegsdiensten Regelungen zum Teilbesitz an Burgen beinhalten. Probleme wie Gattungshierarchisierung, Eigenbezeichnungen durch Verfasser u.ä. stehen im Mittelpunkt der Beiträge des Bandes „Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit“ (Frank/ Haye/ Tophinke 1997). Als Konsequenz der verschiedenen Überlegungen ergibt sich, dass Gattungsbegriffe entlang einer Reihe von Parametern bestimmt werden müssen, in der grundverschiedene Zugangsbereiche aufeinander treffen, die man aber doch harmonisch zu einer jeweiligen Gesamtdefinition zusammenfügen kann. Im Fall der Urkunde ließe sich dementsprechend folgende Begriffsbestimmung versuchen: <?page no="230"?> 4. Die sprachexterne Seite 218 7 Die Unterscheidung „participant-„ oder „observer-bestimmt“ stammt von Roland Harweg (1968). Sie bezieht sich auf die Herkunft von metasprachlichen Kategorien wie etwa Wortarten. Wortarten können von Linguisten (observers) aufgestellt worden sein, die die Sprache von außen beobachten, oder aber von den Sprachbenutzern (participants) selber. Hinter den Interrogativa z.B. steckt ein solches, von den participants definiertes Wortartensystem. Was man von Wortarten sagen kann, kann man auch von Gattungen sagen. Auch sie sind eine metasprachliche Kategorie und können sowohl von observern als auch von participants aufgestellt werden. Die participant-Kategorie ist dabei einerseits Reaktion auf eine gegebene Textvielfalt, andererseits aber auch Anleitung für die eigene Sprachproduktion. Für die observers handelt es sich allein um eine Erkenntnisfrage, jedenfalls qua observers! Merkmalsbereiche der Gattungsbestimmung Merkmalsbereich Allgemein im Fall der Urkunde Gattungsbezeichnung participant oder observerbestimmt 7 , Platz in der Hierarchie participantbestimmte, hierarchisch hohe Gattungsbezeichnung Medium Ein-Blatt oder Rolle oder Kodex oder Heft oder Mehrblatt (Faltblatt) Ein-Blatt (Pergament) Inhalt Hauptthema, Unterthema Festlegung von Besitzbeziehungen und von Rechten und Pflichten Form Poesie oder Prosa; formelhaft oder frei; Globalstrukturen; Komplexität extrem formelhafte, komplexe Prosa mit stark festgelegter Globalstruktur Verwendungskontext Kulturbereich, Gesellschaftsbereich, Mündlichkeits-/ Schriftlichkeits-Charakter Kontaktgattung zwischen den Lebensbereichen Kloster, Stadt, Dorf, Hof und Burg; außerdem zwischen den Diskursuniversen Recht, Religion, Landwirtschaft; stark schriftlich mit konzeptuell mündlichen Passagen Von der Formelhaftigkeit der Urkunde wird unten noch zu sprechen sein. Die Stellung als „Kontaktgattung“ unter dem Stichpunkt „Verwendungskontext“ hebt darauf ab, dass die Teil-Räume der mittelalterlichen Lebenswelt (die Stadt, der Fürsten- oder Königshof mit seinen wechselnden Örtlichkeiten, die Burg des Ministerialen, das Dorf als Mittelpunkt der Landwirtschaft und das Kloster im Rhythmus der Mönchsregel) stärker gegeneinander isoliert waren als die Lebensbereiche der heutigen, industrialisierten Mediengesellschaft. Gattungen hatten ihre spezifischen Gebrauchshorizonte, außerhalb derer sie keine Anwendung fanden. Bei der Verkaufs- oder Schenkungsurkunde <?page no="231"?> 4.2 Zur Gattung „Urkunde“ 219 8 Es geht nicht nur um landwirtschaftliche Ausdrücke. Wo die Urkunde das Land umschreibt, das Objekt des Rechtsakts ist, gibt sie eigentlich ein zusammenhängendes Bild der typischen villa: ein Landgut mit zentralem Hof und Gärten, umgebenden Feldern und begrenzenden Wäldern, das meist niedrigen Adligen ganz oder anteilsmäßig (Terminus „divisiones“, „divisio“) gehört. Diese villa stellte im Frühmittelalter für die Mehrzahl der Menschen den Horizont ihres Lebens dar (vgl. Dufourcq/ Dalché 1976: 16ff.). dagegen können verschiedene Lebensbereiche miteinander in Berührung kommen: Könige schenken an große Klöster, Klöster verkaufen an Landadel. Fueros bestehen in einer Vergabe von Rechten durch den König an eine Stadt. Die Urkunde vereinigt auch verschiedene Diskursuniversen, vertreten in den einzelnen Urkundenteilen: Im praeambulum und der invocatio spiegelt sich die Verankerung in der Religion wider, die dispostio ist voll von landwirtschaftlichen Ausdrücken 8 , die restlichen Teile bieten performative Verben oder Nominalisierungen von solchen, die Rechtsakte betreffen. In Spanien und Portugal kann man im Früh- und Hochmittelalter folgende Arten von Urkunden beobachten: Urkunde Schenkung Verkauf Tausch Vertrag Eid Fuero Das Stemma rechnet die Fueros nicht im Vollsinn zur Urkundentradition. Einerseits ist zwar richtig, dass vor allem die Fueros Breves (Pérez Bustamante 1994: 118) einen sprachlichen Rahmen aufweisen, der anderen Urkundentypen gleicht: Principium scripti fiat sub nomine Apostoli. In nomine Dei Patris Omnipotentis, ego Fernandus Gonzalviz magister milicie Sancti Iacobi cum aliis fratribus nostris et cum omni nostro capitulo, facimus cartula ad nostros homines qui morantur in Sancto Tirso et in villa nominata Castrelino, de foro. 1. Damus et concedimus ad illos medietatem de nostra hereditate, preter duos modios seminatura in Sancto Tirso et duos modios seminaturam in Castrellino per serna, et vineas de Castrelino, preter illam vineam in exitu montis, et damus eis ortos ubicumque invenerit, preter ortum de Arnal, dos ortos de fronte de ortis Sancto Tirso, et preter illum ortum qui iacet in fronte de ilis ortis de Castrelino. 2. Omnes homines qui intra predictis villis morari venerint non dent nuciu neque maneria nec rosso nec iudgado neque extremallas nec advinctaduras neque algaravidat. <?page no="232"?> 4. Die sprachexterne Seite 220 3. Calumpnia, si non fuerit data, nec dominus accipiat; si vero data fuerit et non infidiata, cum una ansara sic de palatio siccata. Si vero infidiata fuerit, quod expenderint inde solvatur, et quod superfuerit inter dominum et calumpniosum dividatur. (…) Si aliquis hoc nostrum factum rumpere voluerit, sit in primis maledictus et excomunicatus, ita eos terra degluciat vivos, sicuti Dathan et Abiron, quos terra vivos absorbuit, et cum Iuda traditore Domini luat penas in inferno, amen. Facta carta IIIItuor kalendas febroarii, sub era MaCCaXLaVla. Regnante rege Aldefonso in Legione et in Galletia et in Asturiis et in Extrematura. Pelagius Alvardam villicus Regis. Rodericus Fernandi el feu ten ente Benevento. Iohannes Ovetensis episcopus. Martinus Fernandus frater milicie Sancti Iacobi tenebat Sancto Tirso et Castrelino. Qui presentes fuerunt: Miguel Guerra conf. Sarracenus conf. Guterius conf. Dominico filius conf. Ioannis Fernandi conf. Pelagius presbiter conf. Iulianus presbiter conf. Martinus Dominici conf. Petrus Dominici conf. Petrus Pelaiz conf. Iohannes Monazino conf. Guillelmus notuit et hoc signum fecit. (Hinojosa 1919, 105ff.) Andererseits waren Fueros Gesetzessammlungen. Sie definierten Recht, das für viele galt, nicht nur für wenige Vertragspartner. Es wird durch die Darlegungen zu den juristischen Hintergründen von Urkunden (weiter unten in diesem Abschnitt) klar werden, dass sie weitgehend in die Gattungstradition größerer, ebenfalls politisch gestützter Kodifizierungen des römischen Vulgarrechts gehören. Das Hauptmerkmal sind die Gesetze selbst. Die äußere Urkundenform erscheint demgegenüber zweitrangig. Die Beschreibung der Urkunde als Gattung kann und muss nun noch erweitert werden. Kenneth L. Pike hat 1967 in einem monumentalen Werk die Möglichkeiten erörtert, sprachliches und nicht-sprachliches Verhalten in einem gemeinsamen Schema zu beschreiben. So schildert er den Ablauf eines evangelischen Gottesdiensts, in dem Predigt und Lieder, also der Vollzug gewisser Gattungen, mit rituellen Handlungen abwechseln (S. 73ff.). Texte sind Träger von Kommunikation. Sie stehen an einem bestimmten Platz in einer institutionalisierten Handlungskette. So ist der Text an mehreren Punkten der Handlungsketten beteiligt, die zur Aufführung eines Dramas führen: Aussuchen (Lektüre des Intendanten oder Regisseurs), Proben, Beratungen mit den Bühnenbildnern (Bühnenanweisungen des Autors), schließlich unter Umständen simultan als Realisiertes auf der Bühne und als gekanntes, geliebtes oder gehasstes Kulturgut in den Köpfen der Zuschauer. Ein Werbeplakat gehört in die Handlungsketten, die die Ausläufer der Verkaufsmaßnahmen einer größeren Firma sind. Das Protokoll eines Verkehrsunfalls wird vor Ort festgehalten, auf der Wache getippt und geht in eine spätere Gerichtsverhandlung ein, unter Umständen als Grundlage der Befragung eines Staatsanwalts. <?page no="233"?> 4.2 Zur Gattung „Urkunde“ 221 Solche festen, institutionalisierten Handlungsketten schlagen sich auch in dem Text einer Urkunde nieder. Vor allem der Teil der subscriptiones und der sanctio gibt Aufschluss über bestimmte Verhältnisse, z.B. dass die Urkunde verlesen wurde (Formel hanc kartulam relegente audivi = ich habe gehört, wie jemand diese Urkunde noch einmal vorlas) oder bei einem Gerichtsverfahren eine Rolle spielte (Formel si aliquis homo vos pro ipso calumniaverit = wenn jemand unrechtmäßig Anklage gegen Euch erhebt, betreffend diesen Vorgang). Da die dahinter stehenden Gattungseigenschaften aber ein Schema bilden, das es erleichtert, rein kommunikative Aufgaben wie die der Einbettung oder der sprachlichen Entwicklung zu lösen, hat der Text einen konventionellen Charakter. Nur wenn man sich klarmacht, wie die Diskurstradition aussieht, aus der die in Frage stehende Gattung stammt, kann man den Realwert von Handlungs- und Kommunikationsroutinen beurteilen, die in dem Urkundentext angeführt werden. Dies verlangt außerdem gleichzeitig einen Blick auf die Handlungen des soziokulturellen Bereichs, dem die Gattung zuzurechnen ist. Dies soll nun konkret für die frühmittelalterlichen spanisch-portugiesischen Urkunden vollzogen werden. Es geht also um Rechtsgeschichte und Urkundengeschichte, soweit es für den vorliegenden Zusammenhang nötig ist, Licht darauf zu werfen. Die frühmittelalterliche Kultur in Spanien fühlte sich als Erbe des alten Toletanischen Westgotenreiches (507-711). Die ganze Reconquista war im Grunde nichts anderes als der Versuch, dieses Reich wiederherzustellen. Liturgie und Recht blieben westgotisch geprägt. Die Westgoten ihrerseits hatten in vielfacher Weise das Vorbild der römischen Zivilisation übernommen. Westgotisches Recht nährte sich vom römischen Recht. Im römischen Rechtsleben gründen die Gattungen, die das westgotische begleiten. In Rom wurde das Rechtsleben getragen von den Juristen, den Rechtsgelehrten (Liebs 1993: 59ff.), die oft hohe Senatsämter bekleideten. Sie hatten als Praktiker eine Gutachterstellung und hielten in ihren theoretischen Werken die einzelnen juristischen Aktivitäten fest. Die großen Gelehrten des 3. Jahrhunderts, von denen einige am Hof der Severer wirkten, erlangten hohes Ansehen: Papinian, Paulus, Ulpian, Julian, schließlich Gaius. Die Juristen waren früher Patrizier, später dann auch neureiche Aufsteiger oder Außenseiter ohne großen finanziellen oder familiären Rückhalt. Mit der Christianisierung änderte sich die Gesellschaft des Reiches. Es bildete sich der Berufstand des Klerikers aus, d.h. desjenigen, der verschiedene Weihen empfangen hatte und sich mit den heiligen Schriften beschäftigt hatte. Obwohl man anfänglich versuchte, die Klerikerlaufbahn vom weltlichen Staatsdienst getrennt zu halten, wurden viele Staatsbeamte nebenamtlich oder hauptamtlich Kleriker (Hattenhauer 1994: 117). Allmählich bildete sich außerdem eine kirchliche Gerichtsbarkeit mit dem Bischof als Richter aus, die sogenannte episcopalis audientia (Ibid.: 116). <?page no="234"?> 4. Die sprachexterne Seite 222 9 Diese Einflüsse beschränken sich auf die kurze Zeit, in der Byzanz Norditalien (553-568) und die Baetica und Provincia Carthaginensis in Spanien besetzt hielt (540-568), dessen Haltung generell ablehnend gegenüber dem Korpus iuris civilis war (Hattenhauer 1994: 100; Liebs 1993,: 105) In der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts, nach der endgültigen Trennung des Reichs kam der Gedanke auf, das überall verstreute Schriftgut der klassischen Rechtsgelehrsamkeit in großen Sammelwerken zu kompilieren. Valentinian verkündete 438 den sogenannten Codex Theodosianus als maßgebliches Gesetzeswerk für das Westreich (Gibert 1968: 10). Die Juristen in den Kanzleien der westgotischen Könige verfassten nacheinander mehrere solcher Codices, die alle auf den Theodosianus zurückgehen, dabei aber weitere Werke, wie die erst später hinzugekommenen Institutionen des Gaius, einschlossen: Codex Eurici (476), Breviarium Alarici (506). Von nun an durften vor den Gerichten nur Rechtsformeln aus dem Breviarium angeführt werden. Dieses Recht hatte die Form eines Vulgarrechts, aus dem abstraktere juristische Überlegungen, wie die Begriffstrennung zwischen Eigentum und Besitz, verschwunden waren (Hattenhauer 1994: 94). In Byzanz dagegen wurde das bekannte Korpus iuris civilis (528-534) in der Kanzlei Justinians geschaffen, der die komplizierteren rechtlichen Differenzierungen berücksichtigte, was offenbar auch in den Gattungen seinen Niederschlag fand, so in etlichen Bereicherungen des Urkundenformulars (vgl. Tjaeder 1955). Doch die justinianische Tradition gelangte nur vorübergehend in den Westen 9 . Das Breviarium Alarici wurde von den westgotischen Königen mit der Zeit besonders um politische Gesetze und germanische Elemente wie etwa die Rache erweitert (Gibert 1968: 16f.), bis Rekesvind ca. 654 das Liber iudicum et iudiciorum verkündete. Diese Sammlung ist eher bekannt unter dem Namen Fuero juzgo, der ihm durch die Übersetzungen des 13. Jahrhunderts verliehen wurde. Wichtig für die Entwicklung des Rechts waren seit dem dritten Bischofskonzil von Toledo (589) auch die westgotischen Kirchenkonzilien und ihre Canones. Nach dem Arabereinfall 711 wurde das westgotische Recht nicht aufgegeben. Die Araber garantierten den Mozarabern in Verträgen, dass sie ihren Kult und ihre Gesetze behalten durften. Der Norden, mit dem neu gegründeten Zentrum Ovetum, behielt das westgotische Recht ebenfalls bei. Das liber iudicum wurde in der Bischofskirche von León aufbewahrt, in der Eigenschaft einer unangreifbaren Autorität, die in schwierigen Streitfällen den letztgültigen Ausschlag geben sollte. 1017 erhielt die neue Hauptstadt León Stadtrechte (Fueros), die ersten in Spanien. In den nächsten zwei Jahrhunderten wurden viele Fueros erteilt, wobei einzelne als maßgeblich betrachtet werden können. 1039 der Fuero de Burgos und vor allem der Fuero für die Frontstadt Sepúlveda (1076) [vgl. Pérez Bustamante 1994: 120]. Bekannt sind die beiden volkssprachlichen Fueros von Avilés (1155) und Madrid (vielleicht noch im 12. Jahrhundert). Der Fuero von Cuenca 1177 wurde zur Vorform des allgemeinen kastilischen <?page no="235"?> 4.2 Zur Gattung „Urkunde“ 223 10 Vor allem dieses Ereignis macht klar, dass Fueros nur zum Teil in die Gattungstradition der Urkunde gehören, und im wesentlichen als Gesetzeskataloge mit öffentlicher Gültigkeit betrachtet werden sollten. Stadtrechts. Bis schließlich mit der Verleihung des Liber iudicum als Stadtrecht 10 an die wiedereroberten Städte Córdoba und Sevilla eine Art rechtliche Kompromisslösung gefunden wurde und die Konkurrenz oder Koexistenz von allgemeinem westgotischen Recht und städtischem Recht endete. In Katalonien-Aragón war städtisches Gewohnheitsrecht (usatges, costums) mit der Zeit durch Bestätigung und Erweiterung in den maßgeblichen Städten Barcelona, Lérida, Zaragoza zu königlich verliehenem Stadtrecht (fur) geworden. Durch spanische Studenten in Bologna wie Petrus Hispanus kam im 11. Jahrhundert das römische Recht nach Spanien (Ibid.: 101). Seinen ersten Anwendungswert gewann es in den neu zu besiedelnden Städten der Catalunya nova. Der äußere Weg des Rechts zeigt damit die Weitergabe von sehr alten schriftlichen Überlieferungen neben dem Auftreten neuer Rechtskataloge. Einige von Rom ausgehende Entwicklungslinien juristischer Aktivitäten erklären denn auch einige Aussagen frühmittelalterlicher Urkunden. Schenkungen und Verkäufe sind Eigentumsübertragungen. In Rom gab es für Grundstücke eine besondere Regelung, die sogenannte mancipatio (Liebs 1993: 169ff.). Vor fünf Zeugen mussten Käufer und Verkäufer einen symbolischen Akt vollziehen, der im Sprechen bestimmter sprachlicher Formeln bestand und in der Überreichung eines stellvertretenden Geldstücks, das den Preis darstellen sollte. Der ehemalige Eigentümer konnte kommen und seine Sache wieder herausfordern (rei vendicatio, Ibid.: 178). War die Sache rechtlich belastet, etwa durch ein Schuldverhältnis, so dass ein Dritter auftreten konnte, um sie für sich einzufordern, so musste der ehemalige Eigentümer den Käufer in einem Prozess vor diesem Dritten schützen (Ibid.: 267). Wenn er den Prozess gegen den Dritten verlor, musste der ehemalige Eigentümer das Doppelte des Werts der verkauften Sache an den Käufer als Rechtsmängelhaftung bezahlen. Genau diese Verhältnisse stehen hinter einigen Formeln der sanctio der mittelalterlichen Urkunden. Quod si aliquis vos en calumpniaverit que nos defendere non valuerimus, tunc habeatis potestatem aprehendere de nos ipsa corte et ipsa ferragine duplata aut quantum a vobis fuerit meliorata et vobis perpetim habitura. (Wenn jemand deswegen unberechtigte gerichtliche Anklage gegen euch erhebt, den wir nicht abwehren können, dann habt ihr das Recht, den doppelten Preis des Hofs und der Heuwiese von uns zu beziehen, oder aber so viel, wie er von uns wirtschaftlich bereichert worden sein wird und er wird Eurem Besitz ewig zugehören) <?page no="236"?> 4. Die sprachexterne Seite 224 Die Praxis der mancipatio schlug sich auch in den Schriftstücken nieder, die das Rechtsleben begleiteten. Dies mögen zwei römische Urkunden aus dem 1. und 5. Jahrhundert bezeugen: (Bruns 1909, 331) Emptio domus a. 159 p.C. Andueia Batonis emit manci[pioque] accepit domus partem dimidam, interantibus partem [dex]tram,que est Alb. maiori vico Pirustar[um in]t[er ad[ find es Platorem Accep]tianum et Ingenum Callisti X trecentis de Veturi[o Valente]. Eam domus partem dimidiam, q.d.a., cum su[is s]aepibus, saepimentis, finibus, aditibus, claustris, fienestris, ita uti clao fixsa et optima maximaque est h(abere) r(ecte) l(iceat); [e]t si quis eam domum partemve quam quis [e]x [ea] evicerit, q(uo) m(inus) Andueia Batonis e(ive), a(d) q(uem) e.r.p., h.p.u.c. r(ecte) l(iceat); qu[o]d ita licitum n[o]n erit, t(antam) p(ecuniam) r.d. f(ide) r(ogavit) Andueia Batonis, fide promisit, Verturius Valens. Proque ea do[mu partem dim]idiam, pretium X CCC Vertur[ius V]ales (=II, ) a[b A]n[du]ei[a Ba]tonis accepiss[e et] ab[ere se dixit]. Covenit(que) int[e]r eos, [uti] Veturius Va[lens, pro ea] domo tributa usque ad recensum dep[e]n[dat]. Act(um) Alb(urno) maiori prid. nonas Maias Qui[n]tillo et Prisco cos. (Nom. sign.: ) L. Vasidiis V[i]cotr sig(navit). T.F. Fleicis. M. Lcuani Meliris. Plarotis Carpi. T. Aureli Prisci. Batonis Annaei. Veturi Valentis venditoris. Diese Urkunde legt in der Vergangenheitsform (accepit) Zeugnis ab von einer geschehenen mancipatio. Es ist also keine dispositive Urkunde, sondern eine Beweisurkunde (Brandt 1992: 84ff.). Hier finden schon einige Elemente, die man in den frühmittelalterlichen Dokumenten wiederfindet: die Praxis der Vergabe von Besitzhälften (partem dimidiam); die Bestimmung der Lage des Hauses (que est Alb. maiori vico Pirustar); eine Aufzählung dessen, was genauer zu dem Besitz gehört (cum suis saepibus, saepimentis, finibus, aditibus, claustris…); eine nochmalige Bestätigung der neuen Eigentumsverhältnisse (habere recte licat) und eine vergleichsweise nüchterne Drohung gegen den, der diese neuen Verhältnisse durch einen Prozess stört; schließlich eine Nennung des Preises. Das nächste Dokument - eine Wachstafel aus Nordafrika - hat ähnliche Teile, fasst sie sprachlich aber ausführlich. Zudem kommen neue Teile dazu: (Verkauf von Gütern, a. 493? ; Courtois et al.,: 218ff.) anno nono d(o)m(i)n(i) regis guthabondi die nonas ap[riles] bendentibus iulius lepori et coia iugalis eius necnon etiam et silbanianus et uictorinus germani lepori subscripturis coram suscribentibus particellas agrorum in dibersis locis cum bocabulis suis sub dominio fl[au]i gemini catulini flaminis perpetui et infantes id (est) primo in lo in aggarionie locus qui adpellatur gemines tres in quos sunt olibe arb(ores) [no]bi nobe puminus cum lateretis aquaris uergentisque suis it(em) alio in loco s(u)p(ra)scripto caprifici arb(ores) uiii et fici arb(or) un alaxsandrina inter adfine[s] eiusdem agri ab oriemte felix fort[uni a]b occide- <?page no="237"?> 4.2 Zur Gattung „Urkunde“ 225 n[te] quintianus a coro leporius be[ndito]r inter adfines eiusdem loci sup(ra) s[cripti] (…)Z. 25: ques eosdem agros ss(upra) scri(ptos) de quo agitur hac die emerut geminius cresconus et cresconia iugalis eius a iulio leporio et co[ia] iugalis eius et etiam sibanianus et uictoriunus auri solidum unum (…) Z. 34: et nicil quesibi exs eodem pretio quiquam amplius deberi respondiderut ut h(a)b(eat) t(eneat) p(ossideat) utatur fruaturque ipse heredesbe eius in perpetuo et si quis de eosdem agros suu esse d[i]xse[rit u]el questionem facere boluerit thunc dabit pe[cuniam]t tantam et alteram tantam bel qu[anti] ea res eo tempore baluerit stipulati sunt gem(inius) cresconius et cresconia emtores spopondideru[nt] b[endito]res actum in f(un)d(o) tuletianos die et anno ss(u)p(ra)s(cripti)s (…) Z. 45: qui litteras nescint pro [eis] signum sum facturi hunc instrumentum ab ipsis dictatum sicuti supra bendiderunt consenserunt omnem pretium acceperunt et suscripserunt et a testibus subscribi petent signum X lepori signum X coia signum X silb[aniani s]ignum (…) (Teil-Übersetzung: Im Jahre 9 des Königs Guthabondi, den neunten April, als iulis lepori und coia seine Gattin und Silvanius und Victorinus, die Brüder des Lepori Ackerparzellen an verschiedenen Orten verkauften mit ihren Namen unter der Herrschaft Flavius Geminus Catulinus Flamen Perpetuus und seinen Kindern. D.h. in Lo in der Aggarionia gibt es einen Platz, der heißt „Drei Zwillinge“, an dem Olivenbäume stehen, neue mit neuen Obstbäumen und mit den seitlich entlanglaufenden Bewässerungsanlagen und ihren Grünanlagen und acht wilde Feigenbäume und ein alexandrinischer Feigenbaum…(Z. 25) welche selbigen oben erwähnten Äcker, um die es geht, an diesem Tag Geminius Cresconus und seine Gattin Cresonia kauften von Iulius Leporius und seiner Frau Coia und auch Silvanius und Victorinus für einen Goldsolidus (Z. 34) und nach nichts verlange ich noch von diesem Preis, was sie mir noch zu schulden angegeben hätten, auf dass er und seine Erben es haben, halten, nutzen und Genuss daraus haben für immer, und wenn jemand in Bezug auf diese Äcker sagen sollte, sie seien seine, oder Händel anfangen will, so soll er soviel Geld geben, einmal und noch einmal soviel wie diese Sache in jener Zeit wert war (Z. 46) Die nichts von Buchstaben verstehen, für sie mache ich jetzt dieses von ihnen diktierte Rechtsdokument als Zeichen, so wie sie es oben verkauften und zustimmten, den gesamten Preis erhalten haben und unterschrieben haben und darum bitten, dass es von Zeugen unterschrieben wird) Der Text beginnt mit der Datierung und endet mit Unterschriften. Im ersten Teil werden eine intitulatio und eine auf die Unterschriften verschobene inscriptio unmittelbar konfrontiert, danach beginnt die dispositio. Das Präsens zeigt, dass es sich um eine dispositive Urkunde handelt. Die Ortsangaben verfahren nach dem Prinzip der Himmelsrichtungen und der angrenzenden Güter. Beim Preis in Z. 34 wird präzisiert, dass der Käufer nichts schuldig geblieben ist. Dann folgt wieder eine Drohung gegen die Störer des Rechtsfriedens. Die Zeugen der Schriftstücke sind entweder identisch mit den Zeugen des mündlichen Akts oder sie sind deren Nachfolger, übernehmen ihre Rolle. <?page no="238"?> 4. Die sprachexterne Seite 226 Der Abstand zu den Urkunden des in dieser Arbeit untersuchten Korpus ist nicht mehr groß. Immerhin kommt das religiöse Element in der invocatio, dem praeambulum und den Fluchformeln der sanctio im Mittelalter neu hinzu. Die Bereicherung des Formelapparats wurde begleitet von einer fortwährenden Steigerung der Bedeutung der Urkunde. In der Spätantike stellte der Verwaltungsprozess selber gegenüber den Texten, die er als Hilfsmittel benutzte, die entscheidende Instanz dar. Er selbst sollte garantieren, dass sich das Recht durchsetzte: „Die Kanzleien mit ihrem so zahlreichen Personal bilden nur einen kleinen Teil des bürokratischen Systems; die Kaiserurkunde hat eine begrenzte Funktion im Verwaltungsprozess“ (Classen 1983: 84). Die Germanenreiche konnten jedoch den überkommenen Beamtenapparat nicht am Leben erhalten. Kanzleien und Urkunden wurden unter diesen Bedingungen immer bedeutender (Ibid.). So schreibt Gibert über die Zeit des Westgotenkönigs Eurichs: „Pues ahora empezaba a situarse en el centro de los negocios jurídicos la donación, con su vinculación personal y flexible para los más variados fines“ (1968: 12). Nun bedeuten die Etappen der westgotischen Kodifizierung eine ständige Erneuerung des römischen Vulgarrechts. Dieses Recht lebte und wurde ernstgenommen. Das erkennt man auch an den germanischen Elementen und den vielen Stellen im Fuero Juzgo, an denen Rekesvind seine eigenen Gesetze einbringt (vgl. Fuero Juzgo 1815, passim). Deswegen lohnt es sich, sich mit Stellen in diesem Kodex zu befassen, die verstehen lassen, welche Stellung und Funktion vertragliche Rechtsakte und Urkunden innehatten. Zur Schenkung (Kap. V. De Transactionibus) heißt es im Fuero Juzgo, dass Geschenktes nicht zurückverlangt werden darf (Ibid.: 65). Der Geber hat also nicht jederzeit einfach die Möglichkeit einer rei vendicatio, wie es sich dann ja auch tatsächlich in einer der gebräuchlichen sanctio-Formeln niederschlägt: quod si aliquis uos in uolicio temtauerit, an filii uel aliquis homo per subrogata persona, quod nos non ualuerimus uindicare. Eine Schenkung kann vor allem dann nicht abgeschwächt werden, „quando iam apud illum scriptura donationis habetur, in cuius nomina conscripta esse dinoscitur“ (Ibid.: 65). Ein Verkauf und Tausch ohne Gewalt kann durch eine scriptura oder aber durch eine Preiszahlung vor Zeugen gültig werden (Ibid.: 66). Hier scheint einerseits die alte mancipatio durch, andererseits aber auch die neue Bedeutung des Schriftdokuments. Auch beim Verkauf finden sich Regelungen zur Rechtsmängelhaftung, jetzt aber mit dem Hinweis „et poenam quam scriptura continet impleturus“ (titulus IV, VIII) - man solle die Strafe, die die Schrift festlegt, über sich ergehen lassen. Dies belegt abermals einen Realwert der in der Urkunde gemachten Aussagen und außerdem eine enge funktionale Verknüpfung der Gattungen „Gesetzeskodex“ und „Urkunde“. Das Verfahrensrecht enthält nun eigens einen „Titulus de scripturis valituris“. In diesem Abschnitt geht es großenteils um die subscriptiones, so etwa darum, dass eine Unterschrift bei Tod eines der Unterzeichner durch <?page no="239"?> 4.2 Zur Gattung „Urkunde“ 227 Vergleich mit anderen Urkunden (contropatio), die als Beweisstücke von einer Partei beschafft werden müssen, bestätigt werden soll, da der Betreffende ja nicht mehr lebt, um das Gericht durch Wiederholung seiner Unterschrift von der Authentizität zu überzeugen. Die Autorität der scriptura beruht also auf Unterschriften. Um diese Unterschriften geht es immer wieder. Das Gesetz scheint sich darüber auszuschweigen, ob im Gerichtsverfahren auch der Inhalt der Urkunde eine Rolle spielt. Es gibt aber einen Passus, der deutlich darauf hinweist, dass auch der Inhalt eine Rolle spielen musste. Das Gesetz sagt nämlich: „nec testis illic ad testificandum aliud admittatur, qui aliquid aliud protestatur, quam quod prolata donationis scriptura testatur (Fuero Juzgo 1815: 32)“. D.h. die Aussagen von Zeugen und Schriften können gegeneinander gestellt und inhaltlich verglichen werden! Zu achten ist auch auf: aliquid aliud. Darunter könnte man sich zum Beispiel die Veränderung einer Gebietsangabe vorstellen, jedenfalls wird hier von einzelnen Details gesprochen. Also wurde die Urkunde verlesen oder ihr Inhalt musste zumindest auf irgendeine Weise rekonstruierbar sein. Ángel López García (2001: 14f.) gibt im Vergleich mit der Rolle des Lateins in der Religion zu bedenken, dass die katholische Kirche bis zum Zweiten Vatikanum an der für die meisten Gläubigen sprachlich unzugänglichen lateinischen Liturgie festgehalten habe, ohne dass sich die Gläubigen gegen diesen Zustand gewehrt hätten. Das Geheimnis sei akzeptiert und die wesentlichen Glaubenslehren trotzdem vermittelt worden. Im Falle des Rechts verhalte es sich ähnlich. Die Landbevölkerung habe auf keinen Fall von dem Notar, an den sie sich wendete, verlangt, einen verständlichen Text zu verfassen. Vielmehr sei es immer schon Aufgabe des Notars gewesen, die rechtliche Relevanz des von ihm verfassten Textes den Laien im Einzelnen zu erklären. Diese Überlegung unterstützt nun aber gerade die Annahme, dass der Text rechtlich relevant, für die Rechtskundigen verständlich und in seinen Auswirkungen rekonstruierbar gewesen sein muss. Nun könnte sich die westgotische Verfahrenspraxis ab dem Ende des 8. Jahrhunderts ja geändert haben. „(…) la ley visigótica se conservó inalterada, mientras el modo de resolver los juicios debió de cambiar rápidamente en los siglos mudos de la historia del derecho (VIII al X) [Gibert 1968: 21]. Aber wenn es sich um siglos mudos handelt, wieso ist dann überhaupt eine Aussage möglich? Gibert vermutet, dass Gottesurteile und Eide eine große Rolle gespielt haben müssen. Wenn dies für politische Konflikte anzunehmen ist, dann wird man bei der Übertragung auf den privaten Bereich wohl vorsichtig sein müssen. Asturien verstand sich als Fortsetzer des westgotischen Reiches, das liber iudicum wurde später in der Kathedrale von León aufbewahrt. Für Kastilien mag eine Sondersituation bestanden haben. Dort war, wie Menéndez Pidal bemerkt (1986: 473f.), das lokale Richterrecht bestimmend. Doch wenn man Menéndez Pidals Aussagen genau liest, stellt man fest, dass das kastilische Richterrecht auf eine Konfrontation mit León und dessen <?page no="240"?> 4. Die sprachexterne Seite 228 Westgotenrecht zurückgeht und jedenfalls erst Anfang des 10. Jahrhunderts aufkam. Die Rechtssprechung muss auch in Kastilien zunächst westgotisch gewesen sein. Und wenn die kastilischen Richter schon die Gesetze änderten, so impliziert dies nicht mit Notwendigkeit, dass sie gleichzeitig auch das überkommene Verfahrensrecht umgestalteten. Weder für León noch für Kastilien findet man sichere Hinweise darauf, dass man von der westgotischen Prozesspraxis abrückte, und diese Praxis wies der Urkunde und ihrer konkreten inhaltlichen Vergleichbarkeit mit Zeugenaussagen einen hohen Stellenwert zu. Dies macht es jetzt möglich, die Handlungsketten und Kommunikationssituationen zu rekonstruieren, in die die Urkunde eingebunden war. Einiges ist dabei aus der eben geschilderten Rechtspraxis zu erschließen, einiges aus den Urkundentexten selbst. (1) Einigungsgespräch zwischen den beiden Parteien (2) Redaktionsgespräch zwischen Aussteller und Verfasser der Urkunde In den Urkunden findet sich manchmal die Angabe, dass ein Priester gebeten worden sei, sie zu schreiben. Bekar, presbiter, qui hanc karta vindicionis rogitus scripsit et ss. die et anno quod Supra. (Archivo Condal, 889) Die Verzeichnung dieser Bitte gibt ihr einige Bedeutung. Dass diese Bitte lediglich die rein manuelle Ausführung betreffen soll, ist unwahrscheinlich. Abgesehen davon ist ein Redaktionsgespräch zwischen Aussteller und Verfasser plausibel, da der Verfasser anders ja nicht an die nötige Information gekommen wäre. Ohne die Initiative des Ausstellers hätte er nichts von dem Rechtsakt gewusst und auch keine Veranlassung gehabt, überhaupt eine Urkunde zu verfassen. (3) unter Umständen: Entwurf (4) Schreiben oder Diktat der Urkunde Formel: ego EIGENNAME, presbiter, hanc cartam scripsi (5) Verlesen der Urkunde vor dem Auftraggeber Formel: hanc scripturam legente audivi (6) Übergeben an Zeugen zur Unterschrift Formel: testibus [oft: testes] tradidi ad roborandum Die Zeugen mussten zumindest meistens anwesend sein. Zeugen, denen man nachher die Urkunde zur Unterzeichnung übergibt, sind ja keine Zeugen. Zumindest kann diese Überreichung im nachhinein schlecht zur normalen Praxis geworden sein. (7) Aufbewahrung, Kopie Sammlung der Kopien [San Cugat, ix] <?page no="241"?> 4.3 Die Formelhaftigkeit der Urkunden 229 (8) wird vorgewiesen bei Gericht, Überprüfung der subscriptiones [westgot. contropatio] (9) Überprüfung des Inhalts selber während der Gerichtsverhandlung [Konkurrenz Zeugenaussage - Aussage der Urkunde] Die Volkssprache konnte sich an verschiedenen Stellen dieser Abfolge einmischen. Sie bestimmte das Einigungsgespräch und Redaktionsgespräch, sie mischte sich in die eigentliche Abfassung oder das Hören des Schreibers beim Diktat. 4.3 Die Formelhaftigkeit der Urkunden Urkundensprache ist formelhafte Sprache. Wolfgang Heinemann und Dieter Viehweger heben hervor, dass für viele Texttypen jeweils eine bestimmte Menge vorgefertigter Bauteile existiert, mit deren Hilfe die spezifischen Formulierungsaufgaben bewältigt werden können (1991: 166f.). Die Hilfen sind andererseits Auflagen - im verpflichtenden Sinn. Sie konstituieren den Rahmen des Gattungsstils, dem jeder zu entsprechen hat, der einen Text einer bestimmten Gattung verfassen will. Von zentraler Bedeutung sind dabei die zahlreichen Kollokationen wie eine Sitzung eröffnen, einen Parteitag abhalten usw., die vorschreiben, welche Verben mit gegebenen Substantiven verwendet werden dürfen und andererseits werden können. Die Formelhaftigkeit gilt in jedem Fall für viele nicht-literarische Texte. Bei den meisten Gattungen existiert allerdings ein breiter Bewegungsraum für Variation. Die Urkundensprache dagegen verschärft die Doppel-Konstellation aus Formulierungshilfe und Formulierungsauflage. Ganze Satzstücke sind vorbereitet, nicht nur kollokative Verb-Substantiv-Verbindungen. Und, wie die Bauteile anderer Gattungen, so haben auch Urkundenformeln zwei Seiten: Einerseits erleichtern sie den Ausdruck, andererseits sind sie unumgängliche Wortkombinationen, die auf jeden Fall eingehalten werden müssen, um die rechtliche Gültigkeit eines Dokuments zu gewährleisten. Dies wirkt sich auch auf die Grundhaltung der Verfasser solcher Texte aus. Die Auseinandersetzung mit dem Formelhaften ist in mehrfacher Hinsicht relevant für die vorliegende Untersuchung. Jede Formel weist einen charakteristischen Satzbau auf. Diese Strukturen bilden die Vorgaben für die Einmischung romanischer Morphosyntax. Die vorgefertigten Elemente können allerdings im Prinzip vor einer solchen Einmischung bewahren, denn der Redaktor hat ja die Möglichkeit, eine lateinische Formel mit regelgerechter Syntax zu verwenden. Sollte dies nicht Interferenz vom Romanischen her verhindert haben? Andererseits: Verstanden die Verfasser mehr von einer Formel als ihre allgemeine Funktion? Zunächst gilt es, sich den Formeln als Realisierungsmittel des sprachlichen Ausdrucks zu widmen. Grundsätzlich sind die festen Wortfolgemuster <?page no="242"?> 4. Die sprachexterne Seite 230 11 Die folgenden Beobachtungen zu der sprachlichen Einzelformulierung gelten nur für die Urkunden des Korpus der vorliegenden Untesuchung, also für das Frühmittelalter auf der Iberischen Halbinsel, nicht auch für Urkunden anderer Epochen oder anderer europäischer Regionen. so verteilt, dass sie jeweils bestimmten Urkundenabschnitten zugeordnet sind 11 . (1) Invocatio: Anrufung von Gott, Christus oder der Dreifaltigkeit Die üblichen Formeln sind hier: in nomine Domini, in Dei nomine, in nomine Individue Trinitatis, in nomine patris et filii et spiritus sancti Vom Satztyp her handelt es sich um Ausrufesätze. Dem Zuhörer beim Verlesen der Urkunden markiert die invocatio den Beginn des Urkundentextes. Der Anruf Gottes dient kommunikativ also dem, was oben Einbettung genannt wurde. Inhaltlich geht es darum, den menschlichen Rechtsakt letztlich in der Religion zu fundieren und ihm eine tiefere Rechtfertigung zu geben. Satztyp, Einbettungsfunktion und religiöser Charakter erlauben, an der Stelle der Invokation, oft aber auch begleitend zu ihr ein Christuszeichen (Chrismon, ein „X“ mit einem Querbalken in der Mitte) zu setzen. (2) Intitulatio: Nennung des Ausstellers oder der Aussteller (3) Inscriptio: Nennung des Empfängers des geschenkten oder verkauften Guts Oft folgen diese beiden Teile dicht aufeinander. Das Muster lautet wie folgt: ego EIGENNAME (+ TITEL oder HERKUNFT) vobis/ tibi EIGENNAME (+ TITEL oder HERKUNFT) Ego Adeffonssus rex, prolis Fredenandi regis, tibi Fortunio abbati vel collegio fratrum (Silos, 1076) Aussteller und Empfänger können Männer und Frauen sein. Ist ein Kloster der Empfänger, wird meistens der Abt als rechtlicher Stellvertreter der juristischen Person genannt. Beide Positionen, also die des Ausstellers und die des Empfängers, können erweitert sein, meistens so, dass ihre Frauen in den Rechtsakt mit einbezogen werden: ego EIGENNAME una cum uxore mea (+ EIGENNAME der Frau) vobis/ tibi EIGEN- NAME et uxori tuae (+ EIGENNAME) Oder es werden die Kinder mit einbezogen: Ego EIGENNAME, qui sum filius EIGENNAME <?page no="243"?> 4.3 Die Formelhaftigkeit der Urkunden 231 12 Das Korpus, das ich verwendet habe, war ursprünglich etwas größer und umfasste, im Hinblick auf die Thematik der Vorbereitung der Schaffung einer romanischen Urkundensprache im 13. Jahrhundert, auch Dokumente aus dem 12. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Da diese häufig schon besser und glatter formuliert sind, in ihrem Formelapparat aber nicht von ihren Vorgängern aus früheren Jahrhunderten abweichen, wurden teilweise Zitate aus diesen Urkunden im vorliegenden Kapitel zur Demonstration und Erklärung der Formeln verwendet. Schließlich trifft man auf längere Versionen, die viele Teilnehmer an Schenkung oder Verkauf aufführen: tibi/ vobis, (PERIPHASE als EHRENTITEL) TITEL EIGENNAME/ EIGENNAME (PERI- PHRASE als EHRENTITEL) TITEL Bezug auf das Kloster, manchmal mit Ortsangabe [que est sita] In den Kartularien von San Millán und Silos tauchen Prachtformeln für die Anrede der Mönche auf: Dompnis sanctis invictissimis ac triumphatoribus martiribus gloriosis atque venerandis nobisque post Deum fortissimis patronis sanctorum Sebastiani et sanctorum apostolorum Petri et Pauli et sancti Emiliani fidelissimi testis Christi In der Mehrzahl der Fälle bleiben die Nennungen von Aussteller und Empfänger nicht isoliert, sondern werden gleich in eine Ankündigung des Rechtsaktes hineingezogen. Sollen diese Nennungen aber isoliert bleiben, dann werden sie durch einen Gruß (salutem) abgeschlossen wie in folgendem Beispiel: Ego Pelagius Petri, una cum uxore mea Elo Severiz, a vobis Petro Garciaz et uxori tua Eldovera Pelaiz, in Domino Deo eterna salutem, amen. (San Vicente de Oviedo, 1125) 12 (4) Dispositio: Konstatierung des Schenkungsbeschlusses oder Verkaufsbeschlusses, Beschreibung des verkauften Objekts Die dispositio kann abgesetzt sein von intitulatio und inscriptio und einen Neuanfang bedeuten. Sie kann aber auch mit diesen beiden Teilen verwoben sein. Eine einfache Form, die dispositio in die Nennung von Aussteller und Empfänger einzubringen, besteht darin, dass man einfach die rechtliche Rolle des Ausstellers und Empfängers nennt. Dies ist dann eine „dispositio in der intitulatio-inscriptio-Passage“. Ego Koigo binditor bos emtores nostros Sunila et uxori tue Ligilia. (Archivo Condal, 892) (Ich, Koigo, bin Verkäufer euch gegenüber, ihr unsere Käufer Sunila und deiner Frau Ligilia) Intitulatio: Ego Koigo / Dispositio, 1. Teil: binditor bos, / Inscriptio: emtores nostros Sunila et uxori tue Ligila. (Santo Toribio, 915) <?page no="244"?> 4. Die sprachexterne Seite 232 Andererseits gibt es die Möglichkeit, die intitulatio in der Subjektsfunktion und die inscriptio in der Funktion des indirekten Objekts in einen Satz einzufügen, der im Verb den Rechtsakt inhaltlich zum Ausdruck bringt. Dies ist der Typ „intitulatio und inscriptio in der dispositio“: / Intitulatio: Ego Datus / Dispositio1: placuit mihi bono animo et spontanea mihi accesit uoluntas, / Dispositio 2: ut uinderem / Inscriptio: uobis Gundisaluuo abbas uel ceterum fratres qui in regula Sancti Martini sunt constituti, terram (Santo Toribio, 915 ) Bei diesem Typ kommt es also zur Mischung von intitulatio, dispositio und inscriptio, so dass die dispositio in zwei oder mehrere Teile aufgetrennt wird. Die dispositio ist ein Konglomerat von unterschiedlichen Aussagen, die sich aber inhaltlich enger aufeinander beziehen, als die dispositio insgesamt auf die übrigen Urkundenteile. Es ist aus diesem Grund gerechtfertigt, diese verschiedenen Aussagen zu einem einzigen Abschnittstyp (dispositio) zusammenzufassen. Zunächst wird eine Willenserklärung gegeben: placuit nobis/ mihi ut convenit ut quia sic placuit in animo et placet ut placuit animis nostris et placet placuit nobis atque convenit volumtas ut offero sacris altaribus predictis parvum munusculum (Formel, die regelmäßig in dem Kartular von Silos benutzt wird) Diese Willenserklärung wird sehr oft auch von einer Aussage begleitet, die angibt, dass der Aussteller der Urkunde nicht beeinflusst war von anderen, die ihn überredet oder unter Angst gesetzt hätten, und dass er seine Entscheidung bei gesundem Verstand getroffen hat: nullius quoque gentis imperio nec suadentis ingenio/ articulo, sed propria et spontanea voluntate sed propria et spontanea mihi accessit voluntas; sed propria et spontanea mihi hoc elegit bona voluntas ne metu prosterniti ne mente alienati et memoria; sana mente integroque consilio Nach der Willenserklärung, die ja auch noch ein Element des heutigen Vertragsrechts ist, folgt die Angabe, um welche Art von Rechtsgeschäft es sich handelt: ut venderemus/ donaremus/ concederemus (sicuti et vendimus/ donamus/ concedimus) X ut vobis aliquid vindere deberemus ut donare faciam ad X Meist also handelt es sich um Verkauf (vendere) oder um Schenkungen (donare, concedere). <?page no="245"?> 4.3 Die Formelhaftigkeit der Urkunden 233 13 Dieser Hinweis soll vorläufig genügen. Es wird in Kapitel 6.3.2 noch ausführlicher über die Liste zu reden sein. Seltener ist der Tausch (concambiare, commutare): ut concambiauimus et vendimus (Oña, 1011) cartulam venditionis/ donationis/ concessionis facimus de X ut scripturam tibi faciam de X Dann folgt die Angabe, um welches Objekt es sich handelt: villam nostram, villarem, terram oder auch nur: solarem Diese Information wird meistens durch den Ortsamen des Objekts begleitet. Das Land wird dann inhaltlich spezifiziert: id est, domos, curtes, hortos, terras, vineas, molinos, pratis, pascuis, montibus, fontibus, silvis, aquas aquarum, vias euntibus vel reeuntibus, omnia et in omnibus, cultum et incultum, arboribus, pomiferis vel inpomiferis, exiis et regressiis eorum Hier kommt die Aufzählung und eine Art Listenstruktur ins Spiel 13 . Die Aufzählung kann durch cum an die Objektangabe angeschlossen sein: Istas villas pernominatas cum exitos et introitos, cum montes et fontes, cum pratis et pascuis et cum nostras hereditates sic nos tradimus ab omni integritate ad S. Maria de Cassiera et ad tibi abbati Assur et collegium fratrum ibidem habitantibus per in seculum seculi, amen. Dieses cum ist keinesfalls als et zu verstehen, da es bei diesen Passagen ja gerade darum geht, dem Empfänger die rechtliche Garantie zu geben, dass er das Landgut in vollem Umfang übernehmen kann und nicht nur einen Nießbrauch hat oder nur ein Teilbesitzrecht, im Sinne eines Besitzes an gewissen Bestandteilen. Andererseits geht es hier darum, dem Empfänger das Landgut zu beschreiben. In jedem Fall ist ein Teil-von-Verhältnis gemeint und kein additives Verhältnis! Eine wichtige Detailangabe der Beschreibung betrifft den Zustand des Landes: ob es bewohnt ist oder unbewohnt, ob es noch öde ist oder schon urbar gemacht wurde. terras ruptas vel irruptas tam cultum quam etiam incultum Außer seinen Bestandteilen nach muss das Landgut auch seiner Lage nach umschrieben werden. Hierzu gibt es zwei Möglichkeiten. Einmal kann die Lage über positionsangebende Verben auf Grenzmarken und Himmelsrichtungen bezogen werden: vindimus vobis ipso villare, qum suo superposito, suos ortos, cum suas pomiferas, et adfrontat ipse villares de una parte in terra de Petracio, presbitero, et de <?page no="246"?> 4. Die sprachexterne Seite 234 supteriore parte in Lubricato et de tercia parte in strata qui pergit vel ubique, de quarta vero parte in ipsa fonte. (Archivo Condal, 889) Positionsanzeigende Verben, die allgemein benutzt werden, und ihre syntaktische Umgebung: et de parte orientis/ de circi affrontat/ habet affrontationes X de una parte in terra de ORTSNAME et de supteriore parte infrontat; ascendit usque ad; coniungit affiget/ figet LOC Natürliche Grenzen, nach denen man sich ausrichtet, sind Bergkämme, Flussläufe, Straßen. Dazu kommen künstliche Grenzzeichen (arcae). Außerdem gibt es punktförmige Orientierungsmarken (Brunnen z.B.) Den Angaben der Grenzmarken werden oft Ortsnamen hinzugefügt. inter castrum et castrum prope ORTSKATEGORIE ORTSNAME in castrum/ terra/ villa/ valle/ pago/ comitato/ rio ORTSNAME bzw. NAME des BESITZERS super ripam fluminis Dabei kommen neben der direkten Nennung von Ortsnamen durchweg Formeln vor, die an den Namensgebungsakt erinnern (vgl. Bastardas 1953: 37): et est X in locum qui dicitur ubi dicunt; ubi dicitur; quam vocitant Eine andere Möglichkeit besteht darin, eine menschliche Handlung zu suggerieren, nämlich das Abgehen der Grenzen: facio kartas de duobus solaribus in Nozines, contra a parte de Valles et de Peronno, per termino de petra fixo et a castagnar cruciada et a carrera antiqua de Peronno et a lervado et a penna aguilera et a la fonte intre Valles et Nozines, et tornase carrera ubi primus diximus. (San Millán, 1207) (ich stelle Urkunden aus betreffend zwei Böden in Nozines, gegen die Seite von Valles und Peroño hin, durch das Gebiet des festen Steins und hin zur Kreuzung am Kastanienwald und zur alten Straße von Peronno und nach Lervado und zum Adlerfelsen hin und zur Quelle zwischen Valles und Nozines, und es macht die Straße einen Bogen, wo wir sagten) In dem Beispiel wird die Illusion des Abgehens paradoxerweise vor allem durch das ja eigentlich nicht als Bewegung gemeinte tornase deutlich. Offensichtlich soll jemand bei der umbiegenden Straße (carrera) ankommen und selbst feststellen, in welcher Richtung sie verläuft. Das Beschreibungsverfahren hat durchaus gewisse Ähnlichkeiten mit einer mündlichen Wegbeschreibung, wie man sie heute in jeder Großstadt geben könnte. Nicht selten werden statische und dynamische Beschreibung miteinander verknüpft: <?page no="247"?> 4.3 Die Formelhaftigkeit der Urkunden 235 Ego Trasovadus me vindo vobis hic in comitatu Barch., in locum Vallense, Valle que vocant Tordaria, villa Bitaminia, que vocant Palacio, cum ecclesias, id est s. Marie virginis et s. Stephani protomartiris, et alia ecclesia que vocant similiter s. Stephani, qui est in latere Montissigni que affrontat iam dicta vallis de una parte in Arcas qui sunt in villa Moscariolas, et per latere Montissigni usque ad collum inter duos signos et inde vadit usque ad collum que dicunt Collo Formici et pergit per summa mucera de monte Cavallare usque ad archam que dicunt ad ulmo, et vadit usque ad villam Pinellus (San Cugat, 908) Das dynamische Verfahren der Ortsangabe ist nun wieder ein Beleg dafür, dass der sprachlich niedergelegte Inhalt der Urkunde, jedenfalls ihr zentraler Teil, keineswegs rechtlich irrelevant war, sondern jederzeit für eine konkrete Überprüfung vorbereitet sein und ihr standhalten musste. Sprachlich interessant ist die Tatsache, dass sich in diesem Kontext die Gelegenheit ergibt, Verben der Bewegung zu benutzen: et vadit, et perget, fert usque, tornase, (af)figet se Die dispositiones der Verkäufe enthalten dann Angaben zum Preis. Es werden Höhe und Münzart angegeben und bei Naturalien Art und Menge. et accepimus a vobis pretium X solidos/ moravedinos (oft mor. abgekürzt) Dabei tauchen mitunter Bezeichnungen auf, die Reminiszenzen einer technischen Prüfung des Geldes auf Echtheit darstellen: de auro cocto, ad peso legitimo Es wird angegeben, dass der Preis akzeptiert wurde oder aber, dass bei dem Käufer nichts von dem verlangten Preis zurückblieb: accepimus precium quod nobis bene complacuit et nihil de precio apud vos, emptores, remansit (pro dare) de ipso pretio debitus non remansit Die dispositio wird abgeschlossen durch eine Paraphrasierung der Beschreibung der Ländereien, die als Zusammenfassung der dispositio gelten kann. Gleichzeitig wird bestätigt, dass der Empfänger das Gut jetzt auf ewige Zeiten besitzt bzw. mit ihm verfahren kann, wie er will, es also seinerseits auch wieder verkaufen darf: In nomine Domini. Ego Spanesinda, et Adroario, et Sperandeo, donatores sumus domum s. Cucufati zenebii. Manifestum est enim quia precepi nobis quondam Bellidi ut charta donacionis fecissemus ad domum s. Cucufati zenobii, sicuti et facimus, de pecia de terra qui nobis advenit per manumissoria de qd. Bellidi, unde iuditium obligatum tenemus infra metus temporum a sserie concionis editum, te iudice; et est chomitato Barch., in Vallense, in termine sca Maria de Laurona. Et afrontat: de orientis in terra de Vuilara, vel suo eres, de meridie, de occiduo in terra de Todarius, de circi. in strata publica. Quantum in istas affrontaciones includunt. sic donamus ad domum s. Cucufati zenobii ipsa petia de terra, ab <?page no="248"?> 4. Die sprachexterne Seite 236 integre, vel ad eius servientes, et de nostro iure in suo s. servitio de domum s. Cucufati zenobii tradimus (San Cugat, 990) (kursiver Teil: So viel man in diesen Grenzen einschließt, so viel geben wir dem Klosterhaus von San Cugat das Stück Land, insgesamt, oder besser seinen Dienern, und aus unserem Rechtsanspruch übergeben wir es in den Dienst des Hauses San Cugat) Zusammenfassende „All-Aussagen“: cum omnes suos terminos et adiacentias (ut vobis venderem) ab integro haec omnia quod superius resonat omnes termini aedicatum et ad aedificandum quantum infra istas afrontaciones includunt haec omnia quantum infra istas afrontationes habeo Bestätigung des rechtlichen Besitzes, die oft auch als Übergang in die Rechtssphäre des Empfängers dargestellt wird: de meo iure in vestrum dominium sit traditum de meo iure abrasum/ abtersum et in vestrum dominium traditum sit habeas, adeas et in iure tuo vindices atque cedas pro te in pretio tu et omnis posteritas tua (San Vicente, wiederholt) Ortamur etiam eos, quo post obitum nostrum fuerint, ut nichil de nostris oblationibus cunctis, quibus Deo placere studuimus, auferre, nichil emutilare presumant. (Silos, wiederholt) (Wir ermahnen auch jene, welche nach unserem Ableben sein werden, dass sie nichts von all unseren Gaben, durch die wir doch Gott zu gefallen uns bemühten, nichts davon sich herausnehmen zu verkleinern und aufzuteilen) Handlungsfreiheit: ita ut ex hodierno vel tempore habeas et possideas et quicquid exinde facere vel iudicare volueris liberam in Dei nomine habeas potestatem Nicht mehr zur dispositio zählt die sanctio, da sie mit dem Rechtsakt selbst nichts zu tun hat, sondern mit seinen Folgen. Wie im modernen Recht war der Vertrag eine Art privates Gesetz und die lex contractus beinhaltet in vielen Fällen ein Strafrecht im Kleinen. (5) Sanctio: eine Art Vertragsstrafe für alle diejenigen, die den Rechtsfrieden stören wollen, der durch die Ausstellung der Besitzverhältnisse klärenden Urkunde gesichert werden soll Typische Formeln sind folgende: Qui contra hanc cartam/ scripturam venerit ad irrumpendum (allgemein verbreitet) quod si aliquis uos in uolicio temtauerit, an filii uel aliquis homo per subrogata persona, <?page no="249"?> 4.3 Die Formelhaftigkeit der Urkunden 237 quod nos non ualuerimus uindicare, abeatis potestatem prendere de nos ipsa terra duplata ad integritatem (Santo Toribio de Liébana, 884) si quis sane quo fierit non credo aliquis omo uenerit uel uenire uoluerimus contra unc factum nostrum ad inrumpendum conmutatijonem et in iudicio defendigare et obtorigare noluerimus pariemus ad ipsas terras duplatas uel quantum uos fuerit melioratas (Diplomática Española, 878) Die rechtlichen Umstände wurden oben schon dargelegt. Es handelt sich um die Abwehr der rei vindicatio. Der zu bezahlende Preis wird hier auch auf den erhöhten Wert des Wirtschaftsguts bezogen. Syntaktisch hat diese Passage die Struktur eines Konditionalsatzes oder indefiniten Relativsatzes. Ein auffälliges Kennzeichen dieses Teils sind die Fluchformeln, wie sie die beiden folgenden Beispiele zeigen: Et si aliquis de ipsa gens, aut filiis, aut neptis, aut sobrinis, aut heredibus, aut subrogata persona inquietare voluerit, aut in iuditio compulsauerit, sit anathema cum Iuda traditore in inferno inferiori,et a parte de rex, aut de comite qui terram tenuerit exoluat auri libra. (Oña, 1014) Si quis autem ex nostro genere vel alieno hoc nostrum factum usu temerario ad irrumpendum quod absit, venire temptaverit, sit anatema marenata in conspectu Dei Patris omnipotentis, et sit exors ab omni cetu religionis, et Guzi lepra percuciatur, et pariat predicte ecclesie parti tantum et aliud tantum et ad partem regiam reddat in caupto auri libras centum. (Silos, 1041) Die Fluchformeln der Urkunden beinhalten die Topoi der Höllenfahrt, der Trennung vom Rest der Christenheit, seltener die Androhung körperlichen Übels wie Krankheiten oder Blendung. Sie gehen oft unvermittelt über in die nüchterne Nennung der Geldstrafe. Schließlich folgen Datierung und Unterschriften (subscriptiones) (6) Datierung: Angabe von Jahr und Tag der Ausstellung, oft nach der spanischen Ära (Ära - 38 = heutige Jahreszahl) (7) Subscriptiones: Unterschrift des Ausstellers, Unterschriften von Zeugen, evtl. Nennung von Schreiber und Verfasser Eine einfache Version beschränkt sich bei der Datierung auf eine Zahlenangabe. Facta carta venditionis IIIIo kalendas Julias, era DCCCC LXXXXVIIa. Dagaredus in anc cartula venditionis manu mea rovora +. -Justus presbiter +. -Redesendus ic ts. +. -Godinas ic ts. +. -Feles ic ts. +. -Piniolus ic ts. +. -Raiola ic ts. +. (San Vicente, 959) [ic = hic; ts. = testis; üblich auch: conf. = confirmavit] Eine angereicherte Version nennt auch regierende Könige, Grafen oder Bischöfe: <?page no="250"?> 4. Die sprachexterne Seite 238 Facta carta testamenti quod erit sexta feria, tertio [quarto] nonas Julias, sub era octingentesima nonagesima tertia, regnante comite Ruderico in Castella. / Subscr: Ego Paulus abba et Johannes presbiter et Nunnu clerico qui hunc testamentum regule fecimus, manus nostras signos iniecimus + + + et confirmamus.-Vigilia abba + fecit, Arislus abba + fecit, Gaton abba + fecit, Tudericus abba + fecit, Felmirus episcopus + fecit et sacravit, Gimellus presbiter + fecit, Seberus presbiter + fecit, Sarracinus presbiter + fecit, Ulaquidus presbiter + fecit, Enneco presbiter + fecit, Gomeso et Beato et Losidio fratrum + + fecerunt. Sancius presbiter scripsit (San Millán, 855) Syntaktisch handelt es sich um unvollständige Sätze oder intransitive Sätze, deren Verb oft abgekürzt wird (Gondissalvo confirmavit). Die Grundstruktur der typischen frühmittelalterlich-hispanischen Urkunde besteht aus den Teilen invocatio, intitulatio, inscriptio, sanctio, Datierung und subscriptiones. Die Urkunden des Korpus enthalten manchmal aber noch erweiternde und bereichernde Teile: promulgatio, praeambulum und narratio. (8) Promulgatio: Formel, die eine Art öffentlicher Bekanntmachung des Rechtsgeschäfts darstellt. Die üblichen Ausdrücke lauten: certum est enim; constat; sciant omnes homines; notum sit cunctis, non est dubium set multis manet notissimum quod Solche Formeln stellen neben die göttliche Autorität der invocatio eine Zuständigkeit der menschlichen Gesellschaft: Wenn es allen verkündet wird, dann kennt und respektiert jeder die neuen Rechtsverhältnisse und dadurch gelten sie. Die promulgatio kann ganz am Anfang stehen: Notum sit cunctis quod ego Ildefonsus, Dei gracia rex Aragonum, comes Barchinonensis, marchio Provincie, concedo et dono tibi, Gaston, nobili vicecomiti Bearnensi, totum comitatum meum et terram de Bigorra (Liber Feudorum Maior, 1192). (Allen sei bekannt, dass ich Ildefonsus, durch Gottes Gnade König von Aragon,…) Sie kann auch die dispositio einleiten und befindet sich zwischen einem Block bestehend aus der intitulatio-inscriptio-Passage mit Nennung der rechtlichen Rolle des Ausstellers und einem Block bestehend aus der Beschreibung des übergebenen Objekts: In Christi nomine. Nos simul in unu Sicomares et uxor mea Oreta, Adrolfus et uxor mea Odalina, Fruilone, Donnus et uxor mea Tudira, Adeka, et uxor mea Orreka, Sabieldus et uxor mea Natalia, Abimia, Gotta vinditores vobis domno Wifredo comite et uxori tue Winedede. Certum est enim, constat nos vobis vindere deveremus, sicuti et vindimus (Archivo Condal, 889) <?page no="251"?> 4.3 Die Formelhaftigkeit der Urkunden 239 (9) Praeambulum: Angabe allgemeiner, meist religiöser Gründe, die den Aussteller zu seinem Akt bewogen haben Dieser Teil hat in den frühmittelalterlichen Urkunden der iberischen Halbinsel eine Art kurze Stellvertreterformel, nämlich pro remedio animae meae (zur Heilung meiner Seele, als Heilmittel/ zum Heil meiner Seele). Er kann aber auch weit ausgebaut sein: Licet primordia bonorum operum, que inspirante Deo in mente gignitur, iusticie operibus deputetur, tamen ea que maiori cumulo et pociori crescunt, ampliori remuneratione espectetur in premio. Digne igitur iam sue spei vota in domo celica mansionum multarum colocat, qui domum sancte ecclesie restaurat vel in melius construere provocat. (Silos, 919) Non est dubium quod incertum ducimus vitam, quia nec inicium nascendi novimus dum in hec vita venimus, nec finem seculi sciremus dum ab hoc seculo transmigramus. Hec causa nos excitat ut aliquod beneficium mercedis ante Deum invenire mereamur. (Silos, 979) In dem Kartular von Silos wird außerdem eine feste Formel verwendet, die doch recht reiches sprachliches Material bietet: pro luminaria ecclesie vestre atque stipendia vestrorum vel pauperum ibidem degentium atque advenientium (Formel aus dem Kartular von Silos) Trotzdem war das praeambulum das Feld, in dem der Aussteller seine religiöse Betroffenheit zeigen konnte und der Verfasser seine Lateinkenntnisse, was offenbar manchmal zu Exzessen des schlechten Geschmacks führte (Giry 1894: 539). (10) Narratio: Erzählung der Vorgeschichte, die erklärt, wie es zu dem in der Urkunde bezeugten Rechtsgeschäft kam Die narratio ist meistens lang und erzählt etwa von den mühseligen Arbeiten der materiellen Vorbereitung einer Klostergründung oder schildert längere Erbschaftsverhältnisse oder berichtet, im Fall von Gerichtsurteilen, auch von Verbrechen oder harmloseren Verstößen gegen rechtliche Normen und Übereinkünfte: Transactis temporibus, in diebus de regis Sancii Garcia contigit ut armenta S. Emiliani sederunt in Loselias, et venerunt illi de Pazengis et fregerunt tugurium et proiecerunt baccis de illa bakariza, deinde fecerunt querimonia illis de S. Emiliani ad Sancio rex cum sua carta; et Sancio rex per hoc accepit sexdecim baccas de Pozongis, et iussit rex, sicut prius fuit bakariza genua de baccis de S. Emiliani, ita firmavit ut per omnia secula licentiam habeant pascendi armenta de S. Emiliani. Inter hec fuit altercatio inter homines de Pozengis; quisdam ex illis dixerunt ad suos: per vim ibimus ad illo ganato quia scimus ut de ganato S. Emiliani in Losellas debet sedere, et iuraverunt de Pazongis Janniz et Blasius Sangiz ut per directum armenta Sancti Emiliani in Losellas debent sedere. (San Millán, 1070) <?page no="252"?> 4. Die sprachexterne Seite 240 (Es ist einige Zeit her, in den Tagen des Köngis Sancho García, da geschah es, dass die Herden von San Millán in Loselias auf einer Weide standen, und die von Pazengis kamen und das Gehege durchbrachen und die Kühe aus der Kuhweide hinauswarfen und dann mittels einer Anklageschrift bei König Sancho Klage erhoben gegen die von San Millán; und König Sancho erhielt um dessentwillen 16 Kühe von denen von Pozongis, und es befahl der König, so wie vorher die Kuhweide frei war für die Kühe von San Millán, so befestigte er es, dass die Herden von San Millán für alle Zeit die Erlaubnis haben sollten, dort zu weiden. Unterdessen gab es einen Streit unter den Leuten aus Pozengis, einige von ihnen sagten den ihren: gewaltsam sind wir gegen jenes Vieh vorgegangen, da wir doch wissen, dass Vieh aus San Millán in Losellas sein darf, und es schworen aus Pazongis Janniz und Blasius Sangiz, dass die Herden von San Millán mit vollem Recht in Losellas sein dürfen) Unklar ist, von der Definition der narratio her, ob gewisse Formeln in der dispositio nicht schon in das inhaltliche Gebiet der narratio überführen, da eine rechtliche Vorgeschichte angesprochen wird. Gemeint sind oft wiederkehrende Angaben zu früheren Besitzverhältnissen: terra quam habeo de X/ qui fuit de X et hodie retinet Y/ quod mihi pertinet de X advenit nobis/ mihi de parentes nostros/ meos advenit nobis per nostram comparationem (sive per quacumque voce) Schließlich ist noch die corroboratio zu nennen (s.o.), die aber in spanischen und portugiesischen Urkunden des Frühmittelalters nur selten auftritt und deren Formeln daher keine nennenswerte Rolle spielen (11) Corroboratio: ausdrückliche Nennung der Bestätigungsmittel der Urkunde, z.B. eines Siegels Über den Urkundentext verteilt tauchen verschiedene Passagen der Bestätigung auf, jedoch fast immer ohne Nennung besonderer Merkmale wie Siegel usw. Diese Formeln wurden deswegen den anderen Urkundenteilen zugeschlagen und nicht als Corroboratio gewertet. Die Übersicht über die Formeln erlaubt, eine grobe Makrosyntax des Texttyps zu umreißen. Das Prinzip besteht darin, dass Formeln, die jeweils in freier distributioneller Variation mit ähnlichen Formeln stehen, miteinander kombiniert werden über syntaktische Verknüpfungen, die schon in den Formeln enthalten sind (ut, si, sed). Die Formeln bieten Lücken, in die hinein die Angaben des gerade vorliegenden Falls gefüllt werden, ganz so wie in die Lücken eines modernen Formulars. Diese Informationen müssen eine gewisse Präzision erreichen, so dass große Massen von nominalen Angaben von der Urkundensyntax bewältigt werden müssen. Die syntaktisch schwerste Stelle ergibt sich bei der Einzelaufzählung der Teile des übertragenen Guts. In dieser Passage wird Schritt für Schritt ein exakter Raum mittels Landmarken umschrieben, wobei eine Fülle lokal-präpositionaler Bestimmungen zur Anwendung kommt. Das Urkundenformular, dem sich die Formeln ein- <?page no="253"?> 4.3 Die Formelhaftigkeit der Urkunden 241 passen, sorgt ferner für eine Makrodistribution von Tempusformen. Im oberen Teil wird von einer gerade vergangenen Entscheidung gesprochen (placuit), die sich auf eine Verkaufsabsicht bezieht, die als Absicht mit in diese schon abgeschlossene Entscheidung gehört und temporal ähnlich eingeordnet wird - was eigentlich den tieferen Sinn der Tempusassimilation beim Konjunktiv Imperfekt nach „placuit ut“ ausmacht. Bei der Bestätigungsformel „habeas“ u.ä. wird ein Konjunktiv Präsens mit impliziter Zukunftsbedeutung gebraucht. Nach dem „si“ der sanctio folgt ein Futurum exactum, da es sich bei „aliquis homo“ um eine Bezeichnung mit indefiniter Referenz handelt, der folgerichtig mit einem potentiellen Ereignis in der Zukunft verbunden wird. Schließlich gibt ein Konjunktiv Präsens wieder an, was mit dem Störer des Rechtsfriedens geschehen soll bzw. was derjenige zu leisten haben wird, der ihn nicht abwehren konnte. Arthur Giry berichtet, dass die Formeln oft Sammlungen von Mustertexten entnommen wurden, die verschiedene Vorbilder für unterschiedliche Rechtsgeschäfte anboten. Diese Sammlungen waren die sogenannten Formularien. Formularien gehen zurück auf die ältesten Zeiten römischen Rechtswesens, und zwar auf das Gerichtsverfahren. Schon die Pontifices hatten vorgeschrieben, dass die Teilnehmer an einem Rechtsstreit Wort für Wort vorgeschriebene Sätze zu sprechen hatten, durch die ihrem Auftreten im Prozess Gültigkeit verliehen wurde (Liebs 1993: 28f.). Später mussten die Richter ein Verfahren eines bestimmten Typs auf der Grundlage einiger zentraler Formeln durchführen, die dessen Verlauf festlegten (Ibid.: 38f. u. 266). Nun wurde oben gezeigt, dass der Inhalt von Urkunden z.T. das rechtliche Umfeld möglicher Prozesse reflektiert. Dann ist es nicht erstaunlich, wenn wie für diese so auch für die Recht verleihenden Dokumente Formeln verlangt werden, die man zudem zu Mustertexten zusammenfügt. Giry nennt eine Reihe von einflussreichen Formelsammlungen der Franken und Westgoten (Giry 1894: 479ff.). Sieht man sich lateinische Urkunden der frühmittelalterlichen Iberoromania an, dann erkennt man, dass vor allem zwei Sammlungen Formeln liefern, die sich in diesen Texten niederschlagen: die Formulae Visigothorum und, in noch größerem Maße, die in Anjou entstandenen fränkischen Formulae Andecavenses. Die folgende Übersicht bietet verschiedene Formeln, die denen der Urkunden gleichkommen: Aus den Formulae Andecavensis (vgl. Zeumer 1963: 4ff.) Abschnitt 4. (enthält die meisten vergleichbaren Formeln) Hic est vindicio de terra conducta Ego enim illi. Constat me vindedisse, et ita vindedi ad venerabile fratri illa viniola plus menus iuctus tantus, et residit in terraturium sancti illius, in fundo illa villa, <?page no="254"?> 4. Die sprachexterne Seite 242 et acipi a vobis precium, in quod mihi conplacuit, hoc est soledus tantus, ut de ab odiernum diae memoratus emtor, quicquid de ipsa vinia facere volueris, liberam in omnibus habeas potestatem faciendi. Si quis vero, que esse non credo, se fuerit aut ego ipsi aut ullus de heretibus meis vel quislibet obposita persona, qui contra hanc vindicione, quem ego bona volumtate fieri rogavi, venire aut resultare presumpserit, dupplit tantum et alio tantum quantum hec vindicio ista contenit, et quod repetit vinidicare non valeat, et hec vindicio omni tempore firma permaneat. (nur das Kursive ist in Spanien unbekannt oder wird wenig verwendet) Abschnitt 2. nullo cogente imperium, set plenissimam voluntate mea Abschnitt 8.placuit atque convenit inter illos similiter in alio loco dedet illi illo campello Abschnitt 21. quod repetit vindecare non valeat aus den Formulae Visigothicae (Zeumer 1963: 575ff.) [Cartula oblationis, an siebter Stelle] (S. 578) Si quis sane, quod fieri non reor, contra hanc nostrae oblationem cartulam venire conaverit, stante huius cartulae firmitate, aliud tantum, quantum obtulimus ecclesiae vestrae, ex suo prioprio gloriae vestra vel ad colutores vestros persolvat et iuditium Iudae Scariotis sumat, ut in eius condemnatione communem habeat pariticipium ac in adventum Domini sit anathema marenatha. ego vero manu mea signum feci te testibus a me rogitis, bene natis viris, pro firmitate tradidi roborandam Facta cartula oblationis sub die Calendi, in loco ill., anno ill., regnante ill., era ill. 8. Alia (S. 579) Dominis sanctis atque gloriosissimis et post Deum nobis fortissimis patronis, venerandis illis martiribus, quorum reliquiae in baselica, qui in loco illo fundata est, requiescunt, ill. et ill. peccatores, servi vestri. Piaculorum nostrorum cupientes expiare flagitia et peccatorum nostrorum oneris pergravationem orationum vestrarum desiderantes adiutorio sublevari, paba pro magnis offerimus munuscula. ergo pro luminaria ecclesiae vestrae atque stipendia pauperum, vel qui in aula beatitudinis vestrae quotidianis diebus deservire videntur, donamus gloriae vestrae in territorio ill. loco ill ad integrum, sicut a nobis, nunc usque noscitur fuisse possessum, cum mancipiis nominibus designatis, id est ill. et ill. cum uxore et filiis, similiter aedificiis, vineis, silvis, pratis, pascuis, paludibus, aquis aquarumque ductibus vel omni iure loci ipsius, ut diximus, gloriae vestrae deservientes pro luminaria ecclesiae vestrae atque stipendia pauperum vel substancia sua, absque episcopali impedimento, post iure gloriae vestrae perpetuo tempore debeant vindicare <?page no="255"?> 4.3 Die Formelhaftigkeit der Urkunden 243 11. Venditio nihil penitus de eodem pretio apud te remansisse polliceor (S. 581) quidquid de supra fati servi personam facere uolueris liberam in omnibus habeas potestatem (S. 581) Bei Betrachtung dieses scheinbar gemischten Unterbaus aus merowingischen und westgotischen Formeltraditionen muss man nun wohl mehrere Dinge bedenken. Die Westgoten hatten anfänglich in Südfrankreich ein Reich, das sich bis zur Loire erstreckte. Die Kanzlisten der Franken und Westgoten waren sicher gebildete Römer, Juristen oder Kleriker. Die selben Römer, die an der Loire-Grenze im Westgotenreich lebten, könnten die Formulae Andecavenses inspiriert haben, so dass es vielleicht ähnliche (verschollene) Formularien gab, die im 6. Jahrhundert in Südwestfrankreich und in Spanien verbreitet waren. Zweitens könnten Formelbücher ja nichts anderes als eine Kodifizierung einer schon durch den Sprachgebrauch eingespielten Praxis sein, also keine ad-hoc-Vorschrift für das Schreiben. Formularien konnten durchaus Exzerpte aus mustergültigen Einzelurkunden sein. Nicht überall schrieb man aus Formularien ab, sondern praktizierte daneben wohl auch ein Abschreiben von Urkunde zu Urkunde. Dann hätten die Verfasser der Andecavenses einfach auf in Westfrankreich übliche Formeln zurückgegriffen, die auf dem Weg des Abschreibens und der allgemeingültigen Ausdrucksnorm auch nach Spanien gelangten. In jedem Fall ist die Überschneidung von Formeln aus Anjou mit dem frühmittelalterlichen Formelinventar des Nachbarlandes wohl kein Zufall. Das denkbare Wechselverhältnis zwischen Formelbüchern und Formeln konkreter Einzelurkunden legt nun nahe, dass die Ausdrücke in den Büchern nicht völlig immun gegen die Einwirkung der Muttersprache der Verfasser dieser Bücher gewesen sein können, da es die Vorbildurkunden vermutlich auch nicht waren. Immerhin dürfte es die Kodifizierung von Formeln mit sich gebracht haben, dass alte Sprachformen noch länger bewahrt wurden, als sie in der gesprochenen Sprache gebräuchlich waren. Generell ist feste, formelhafte Sprache in der Lage, alte Elemente besser zu bewahren als der freie Ausdruck. Archaismen gehören zu den Definitionsmerkmalen von Sprichwörtern (Arora 1984), bei Sprichwörtern und Redensarten kommen sogenannte unikale Lexeme vor (Zuluaga 1990, 128), die nur noch im Zusammenhang mit der betreffenden festen Wendung üblich sind (sp. dar en el busilis, frz. voilà le hic). Formeln sind „träge“ bei der Integration neuer sprachlicher Formen und bewahren andererseits alte Erscheinungen über das Datum ihres Verfalls in der Umgangssprache hinaus. Denkt man diese Eigenschaft weiter, so böte formelhafte Rede im Prinzip die Möglichkeit, sich Wortketten als ganze zu merken, ohne dass es überhaupt nötig ist, sie im Einzelnen semantisch zu durchschauen. <?page no="256"?> 4. Die sprachexterne Seite 244 Wird man nun sagen müssen, dass die romanischen Verfasser der lateinischen Urkunden einfach abschrieben, ohne zu verstehen? Es gibt gewisse Hinweise, die gegen eine solche Annahme sprechen: (a) Erstens mussten die Verfasser Urkundenformeln mit Eigennamen und den speziellen Verhältnissen des jeweiligen Falls ausfüllen. Das Urkundenformular war ja auch ein „Formular“ im heute üblichen Sinn des Wortes, indem Informationen in bestimmte Leerstellen eingesetzt wurden. Sie mussten verstehen, wo sich welche Leerstellen befanden. (b) Man bemerkt manchmal, dass Formeln uminterpretiert werden, weil der Verfasser oder auch der Schreiber sie anders versteht als sie gemeint sind. Ein Beispiel: meistens gebrauchte Formel: Placuit mihi adque convenit, nullius que cogentis imperio neque suadentis articulo sed propria mihi accessit volumtas (San Vicente, 887) umgedeutete Formel: Ego Uistrilo uobis Teodone et Fro[gildi et Gutino] et Genioni. Placuit mici adque conueni nullis quoque egentis Inperio nec suadentis articulo sed propria mici accesit uolumtas ut facerem uobis dictis Teodone et Genioni, et Frogildi Gutini titulo comutatjonis de ipsa terra nostra in uilla qui dicitur Selis nomine (Dipl. esp., 878) Die Formel heißt eigentlich nullius cogentis imperio. Man findet anstatt dessen auch bisweilen die Version nullius quoque gentis imperio, bei der es sich schon um eine Umdeutung der ursprünglichen Aussage handeln kann. Die Version nullis quoque egentis imperio ist zu übersetzen als: „Nicht auf Druck eines Bedürftigen/ Begierigen hin“, mit egentis von egere (einer Sache bedürfen)“. Sie ergibt in dem gegebenen Kontext durchaus einen Sinn. Ob nun der Verfasser diese Version bewusst gestaltet hat oder sich der Schreiber verhört hat - in jedem Fall ist es der Eingriff eines Lateinkundigen, der nicht abgeschrieben hat, sondern ein ähnlich klingendes Wort aus seinem Wortschatzwissen eingesetzt hat, so dass die veränderte Formel insgesamt einen Sinn ergibt. Eine ähnliche Umdeutung der üblichen Formel zeigt das folgende Beispiel: Ut de odie die et tempore ipsa terra iam superius memorata in uilla que dicitur Selis omnem meam portjonem que eos aueo de iure in uestro dominio sit translata aueatis uos et qui ex uos omnes post ereditas uestra ut quicquid inde agere ad ueritie. (Dipl. esp., 878) Die gemeinte Formel ist eigentlich ausführlicher und markiert die Verschiebung der Besitzrechtssphäre: de nostro iure in uestro dominio. De iure seinerseits ist eine sehr alte adverbiale Wortgruppe des Lateinischen mit der Bedeutung „zu Recht“. Obwohl es sich nicht um eine Formel handelt, die an dieser Stelle konventionell gefordert wäre, ergibt sich doch ein Sinn: „Das Land wird mit <?page no="257"?> 4.3 Die Formelhaftigkeit der Urkunden 245 vollem Recht in Euren Herrschaftsbereich überführt“. Es entsteht kein Unsinn. Offenbar wird die Umformung durch lateinisches Wortschatzwissen und auch durch Verständnis für die syntaktischen Strukturen geleitet, die die Bedingung der Einsetzung des richtigen Wortes darstellen. Ein weiteres Beispiel: Si quis, quod fieri minime credimus, aliquis ex nobis contra partem dominicam pro id intendere presumpserit, inferat vel inferamus partem vestram partique vestre quod hic superius taxatum est, duplatum, et nos perpetim habituri. (Celanova, 886) An Stelle von habituri steht in dieser Formel gewöhnlich habiturum, weil dieses Futurpartizip üblicherweise passivisch umgedeutet wird und sich dabei auf das geschenkte Gut bezieht und nicht auf die, denen es gehören wird. Im vorliegenden Fall wird das Partizip auf das Subjekt nos bezogen. Bezugspunkt ist also nicht das Possessum, sondern der Possessor. Wieder ist durch eine veränderte Deutung ein neuer Sinn entstanden. Nur die Kenntnis der lateinischen Syntax konnte diese Änderung bewirken. An einer Stelle wird die gewöhnliche Formel me trado, die eigentlich im Zusammenhang mit einem Eintritt in ein Kloster verwendet werden sollte, manchmal aber auch offensichtlich in Fällen gebraucht wird, in denen ein solcher gleichzeitiger Eintritt nicht angenommen werden kann, wie folgt umgedeutet: mea trado (Doc. gall., 889). Das nicht adäquate reflexive me wird durch ein mea (‚das Meinige‘) ersetzt, das sich jetzt - sachgerecht - nur auf die Güter des Schenkenden und nicht auf dessen Person bezieht. Im größeren Kontext lautet die Passage so: sic indignus et peccator fui, mea trado ad ipsam ecclesiam sanctam et facio testamentum ad ipsam ecclesiam sanctam quia poterat quidem nudius uerbis definito fieri, sed propter maiorum omnium cunctorum exisset per scripturis alligetur, et ideo in Domino eternam salutem, amen. (c) Das stärkste Argument für die Annahme, dass die Formeln verstanden wurden, ist die Tatsache, dass immer wieder Versionen von Formeln vorkommen, bei denen kleine Zusätze und neue, bisher im Kartular noch nicht aufgetauchte Wörter eingestreut werden, so dass die Formel also an manchen Punkten von ihrer starren Grundform abweicht. Im Folgenden sollen eine Reihe von Passagen aus sechs Urkundensammlungen unseres Korpus analysiert werden, die diese Wandelbarkeit demonstrieren. Im Blickpunkt stehen dabei vor allem die Einleitungspassage der dispositio sowie die sanctio, obwohl man Variationen sogar bei der invocatio oder den subscriptiones beobachten kann. Die Gebietsbeschreibung innerhalb der dispositio ist natürlich auch von Urkunde zu Urkunde anders, allerdings fällt diese Erscheinung eher unter das erste Argument (a), da es sich um ein Resultat der Anpassung der Daten an die jeweilige Rechtssache handelt. <?page no="258"?> 4. Die sprachexterne Seite 246 Sehen wir uns also einige Passagen an! Im Kartular von San Vicente de Oviedo wird die dispositio üblicherweise mit folgender konventioneller Bekräftigungsformel abgeschlossen: Ita ut de odie ((hodie)) de et tempore de meo iure abraso et in tuo iure et dominio sit tibi concessum perpetim abiturum ((habiturum)) In der Schenkungsurkunde des Priesters Dulcidio aus dem Jahre 916 wird diese Formel um den kleinen Zusatz dum vitam vixeris erweitert: Ita ut de odie de et tempore de meo iure abrazo et in tuo iure et dominio sit tivi concessum perpetim abiturum dum vitam vicseris. Dieser Zusatz wird allgemein sehr selten gebraucht und ist auch in den Urkunden aus San Vicente unüblich. Sein Gebrauch verlangt also ein gewisses Verständnis für den Sinn dieser Aussage. Hätte er in einem Formular als Angebot gestanden, ist kaum einsichtig, warum er nicht öfters zum Einsatz gekommen sein sollte. Das Paar intitulatio-inscriptio ist im Kartular von San Vicente gewöhnlich ganz schlicht gehalten, ohne weitere Angaben außer dem Nominativ und Dativ, die Verkäufer/ Schenker und Käufer/ Empfänger bezeichnen. In der Verkaufsurkunde von Baquina aus dem Jahr 887 jedoch findet sich ein Zusatz, der angibt, dass der Ehemann der Verkäuferin dem Rechtsakt zugestimmt hat, eine einmalige und wohl völlig improvisierte Angabe, deren Sinn und rechtliche Bedeutsamkeit der Verfasser mit Sicherheit begriffen hat: Ego Baquina cum consensum mariti mei Zoni tibi Vicentio presbitero et uxori tue Beate. Im Kartular von Santo Toribio de Liébana lautet die gewöhnliche Einstiegsformel für die dispositio placuit mihi et evenit voluntas ut. Das Verb evenit zeigt sich in den anderen Urkunden offen für Varianten wie venit oder pervenit. Diese Varianten begegnen relativ oft und erklären sich aus den Regeln der Wortbildung von der vorgegebenen Form evenit her. Im Fall der Urkunde der Severa (843) [Sánchez Belda 1948: 13] tritt jedoch das einfache esse als Proverb an die Stelle von venire. Ego Seuera, placuit mihi et fuit uoluntas ut facerem… Da diese Form äußerst selten ist und beispielsweise in den für das Korpus ausgesuchten Urkunden gar nicht vorkommt, wird man wohl kaum davon sprechen können, dass der Verfasser die semantischen Folgen dieser Variationsentscheidung nicht unter Kontrolle hatte. Im selben Kartular finden wir eine besonders aufwändige Version der üblichen Beteuerungen, die Schenkungs- oder Verkaufsentscheidung geschehe nicht unter Zwang oder Einfluss eines Dritten. Die übliche Formel hierfür ist ja die dichte, ablativisch gefasste Aussage nullius cogentis imperio. In <?page no="259"?> 4.3 Die Formelhaftigkeit der Urkunden 247 der Schenkungsurkunde des Ordoño und der Proflinia aus dem Jahr 831 (Ibid.: 11) heißt es an Stelle dessen: absque aliqua persecutione seu necesitate non potestatis non alicuius impulsione, set excepta primo anime necessitate Die Schenkungsurkunde des Froila von 826 (Ibid.: 6) bietet in einer narratio- Passage einen Einschub, der einen sonst nicht üblichen Vorbehalt gegenüber einigen Fakten betreffend die Erbfolge bei dem in Frage stehenden Schenkungsgut zum Ausdruck bringt: de omne mea hereditate quidquid visus sum abere ((habere)) de parentum meorum Den Schwung freier Formulierung belegen kleine Spuren wie die folgende, die der Verkaufsurkunde des Pruello aus dem Kartular von Santo Toribio (Ibid.: 4f.) entnommen ist. Dort werden die Strafen der sanctio erwähnt und dabei eine sonst selten eingefügte Stufung zwischen einer Hauptstrafe und einer zusätzlichen Strafe angedeutet, indem die Angaben zur Zusatzstrafe mit verstärkenden, an affektive Ausdrucksweisen der Mündlichkeit erinnernden Adverbien umgeben werden: Si quis tamen, quod fieri non credimus, aliquis monacus de ipsa ecclesia Sancte Marie uel de ipsa ecclesia sua aliquis in iudicio tentare quesierit pro ipsa sorte siue pro suos terminos, qualiter inferat pars nostra parti uestre ipsa sorte duplata uel quantum ad uos fuerit meliorata, et insuper duas libras auri similiter. In einer Urkunde aus dem Kartular von San Millán (Serrano 1930: 17) findet man eine Version der Einleitung einer dispositio, die den einigen Willen bei einer Kirchenabtretungsentscheidung feierlich betont. Diese Formulierung sucht in den Kartularien des Korpus ihresgleichen und sieht aus wie eine ad hoc geformte Ergänzung. Doch auch falls andere Fälle dieser Art auftauchen sollten, wirkt dieser Zusatz durch sein seltenes Vorkommen improvisiert: nos placuit una concordia offerimus et donamus An einer anderen Stelle des selben Kartulars (Ibid.: 21) vermerkt ein ad hoc konstruierter Relativsatz, dass einer der Schenker Invalide (contractus = verstümmelt) ist: Ego igitur Elvira et filius meo Albaro, qui es contracto, pro remedio animarum nostrarum et pro luminaria altariorum, pro elemosina pauperum sic tradimus nostras hereditates proprias… Typisch für das Kartular von San Millán ist die Formel divina gratia mihi dictante, die ein konventioneller Zusatz der intitulatio ist. Doch selbst diese Formel, die schon selbst den Status eines Zusatzes hat, lädt ein zu erweiternden Improvisationen wie in dem folgenden Dokument aus dem Jahr 948 (Ibid.: 55) <?page no="260"?> 4. Die sprachexterne Seite 248 Ego Folio abbate, divina gratia mihi dictante, ac superna virtute inflamante Ein präzises Verständnis des Latein demonstrieren schließlich sogar gewisse sehr detaillierte Variationen und Anpassungen von Formeln, wie im Fall einer Urkunde aus der Sammlung von Oña (del Alamo 1950: 10), in der mit Rücksicht auf die Pluralität der Verkäufer das Substantiv voluntas in den Plural gesetzt wird: Ego Obieco, et ego Oddesenda, et ego Fredenando, placuit nobis, espontanias nostras boluntates, una pariter bendibimus a tibe Die Urkunden der katalanischen Kartularien sind durch eine sichtlich größere Konventionalität gekennzeichnet als die weiter im Norden und Westen der Halbinsel entstandenen. Hier sind die Formeln auch eher dicht angelegt, die Verfasser scheinen bestrebt, die Gebietsangaben oder die Einzelverpflichtungen im Rahmen eines Eides genau auszuführen, dafür aber das formal-juristische Beiwerk möglichst knapp zu halten. Auffällig ist die Dominanz von nominalisierenden Formulierungen wie emptores sumus tibi oder ut ita valeat donacio simul et emptio (s. die Urkunden des Korpus aus San Cugat, Santes Creus, dem Liber Feudorum Maior und dem Archivo Condal). Jedoch lassen selbst diese Texte vereinzelt Variationen erkennen, wie der Vergleich der Anfangspassagen zweier Urkunden aus der Sammlung von San Cugat vor Augen führt, die beide aus dem selben Jahr (947) stammen: (Schenkung des Guadamiro und der Sabrosa) In nomine Domini. Ego Vuadamirus, et uxor mea Sabrosa. Certum quidem et manifestum est enim quia placuit animis nostris, et placet, nullus cogentis imperio, nec suadentis ingenio, sed ex propria et expontanea nobis elegit bona voluntas, ut carta fecisemus… (Schenkung des Goltredo) In nomine Domini. Ego Goltredo, donator sum domum s. Cucufati martiris Christi, cuius baselica fundata est in comitatu Barch. Manifestum est enim quia sic placuit animis meis, et placet, ut ad predictum domum s. Cucufati aliquid de proprietatem meam donare deberem sicuti et facio. Die Bezeichnung des Schenkungsguts als „etwas aus meinem Besitz“ und die Zurückführung des Schenkungsaktes auf eine Pflicht, die im vorliegenden Fall anscheinend wirklich bestimmte, obwohl nicht direkt erwähnte biographische Hintergründe hat, sind gerade im starren katalanischen Formelgerüst ungewöhnlich und lassen Verständnis für die lateinischen Aussagen erkennen. Abgesehen von solchen immer wieder auftretenden Einzelfällen der Variation ist auch fraglich, ob die zahlreichen paradigmatisch eingesetzten Synonyme alle durch das Wortmaterial der Formularien abgedeckt waren. So heißt beispielsweise die Teilformel (domnis invictissimis) quorum basilica fundata est in loco… auch noch quorum basilica sita est in loco… oder quorum basilica constructa est in loco… oder einfach quorum basilica est in loco… Wenn mehrere <?page no="261"?> 4.3 Die Formelhaftigkeit der Urkunden 249 Verkäufer oder Schenker genannt werden, kommen Verbindungsformeln zum Einsatz, die in einer Reihe von Versionen auftreten wie communiter cum, una cum, una pariter cum, uniter cum, simul in unum, simul et oder einfach cum. Wenn für den Verfasser, wie es diese und andere Synonymenreihen nahe legen, die Wortketten der Formeln also nicht vollkommen fertig und unangreifbar waren, wie konnte er sicher sein, wo er Synonyme anbringen konnte, wenn er die Bedeutung der Formel nicht im Einzelnen durchschaute? Dem Eindruck der Wandelbarkeit entspricht nun der Umstand, dass die Formularien, deren Urkundenmuster als Vorbild dienten, offenbar selber zu solcher Variation einladen. Der Verfasser eines Dokuments hätte im Prinzip einfach aus dem ihm vorliegenden Formular eine gesamte Urkunde zum Diktat vorlesen bzw. abschreiben und mit den Daten der spezifischen Rechtssache füllen können. Es wäre also möglich gewesen, blockartige, starr formulierte Texte mit Gerüsten identischen Wortlauts zu schaffen. Überraschenderweise scheinen die Formularien diese Nutzungsweise jedoch gar nicht zu favorisieren. Vielmehr ergibt sich aus einer genauen Betrachtung, dass sie zur variablen und in gewissen Grenzen freien und eigenständigen Formulierung einluden. Von dem Erfahrungshintergrund unserer heutigen Textsortenlandschaft aus könnte man sagen, dass die Texte der mittelalterlichen Formularien gerade nicht mit Vordrucken auf Ämtern zu vergleichen sind, sondern eher mit Sammlungen von Muster-Geschäftsbriefen, die dazu anregen, auf eine bestimmte Weise zu schreiben, aber nicht zwingen, sich exakt und sozusagen flächendeckend an den Wortlaut der Vorbilder zu halten. Sieht man sich etwa den Text Nr. 4 aus den Formulae Andecavenses (Zeumer 1965: 6) an, fällt auf, dass an mehreren Stellen nicht offen-abstrakt, sondern eher konkret und unter Einflechtung von Zusätzen formuliert wird: 4. Hic est vindicio de terra conducta Ego enim illi. Constat me vindedisse, et ita vendedi ad venerabile fratri illa viniola plus menus iuctus tantus, et residit in terraturium illius, in fundo illa villa… Was tat der Verfasser, dessen Urkunde sich nun nicht an einen einzelnen frater richtete? Er konnte nicht genau den Wortlaut dieses Urkundenmusters reproduzieren, sondern musste ihn anpassen oder zumindest aus mehreren Urkundenmustern einen neuen zusammensetzen, was ein einigermaßen sicheres Verständnis der verschiedenen Mustertexte voraussetzt. Die genaue Ortsangabe in fundo illa villa erscheint allzu spezifisch, um mehr zu sein, als bloß die Vermittlung einer Vorstellung, wie man genauere Gebietsbeschreibungen formulieren könnte. Wäre die Urkunde als Vorbild für ein striktes Abschreiben gedacht gewesen, hätte man die Ortsangabe wohl allgemeiner halten müssen. In Text 8 (Ibid.: 7) findet sich der Relativsatz cuius terra esse videtur. Dies ist keineswegs eine neutrale stilistische Spielart einer Formel der Besitzzuschrei- <?page no="262"?> 4. Die sprachexterne Seite 250 bung, vielmehr wirkt sich die modale Einschränkung durch videtur (scheint) auf die juristische Deutung der Passage aus. Da es sich bei 8. um einen leeren konstruierten Fall ohne Angaben handelt, kann das Einstreuen von videtur nur bedeuten: „Dort, wo es angebracht ist, hat der Verfasser die Möglichkeit, Eigentumszuschreibungen unter den Vorbehalt einer letzten Unsicherheit zu stellen“. Um dies zu tun, musste er aber semantisch exakt kontrollieren können, was er im Einzelfall ausdrückt, und das heißt, er musste das von ihm produzierte Latein genau verstehen. In Text 21. (Ibid.: 11) wird das verkaufte Gut mit campello ferente modius tantus beschrieben. Auch dieser Zusatz ferente modius tantus (modius als Plural zu verstehen im Sinne der galloromanischen Lautentwicklung) ist recht spezifisch und wirkt wie ein Versatzstück, zu dessen fall-angepasster Verwendung der Verfasser einer Urkunde eingeladen wurde, die er aber auch ebensogut aus dem Formelinventar herausnehmen konnte, falls er sich Text 21. zur Abfassung der Urkunde seines konkreten Falls zum Vorbild nahm. Ein weiteres Motiv, das den Eindruck einer Anregung von Improvisation zu erhärten scheint, ist das Schwanken zwischen Diminutiven (campellus, viniola) und entsprechenden Simplicia (vinea, campus). Allerdings sind diese Diminutive im Kontext der Galloromania wohl nicht als Anzeiger appreziativ-dimensionaler Angaben, sondern als konnotationslos intendierte Signifikantenversionen mit gleichem Denotat wie ihre Simplicia-Verwandten zu verstehen. viniola ist mit vignoble in Verbindung zu bringen, campellus führt auf ein möglicherweise verbreitetes champeau für champ. Aus dem Schwanken zwischen Simplex und Diminutiv lässt sich also leider kein Argument für die hier favorisierte Interpretation der Formularien ableiten. Immerhin kommen auch syntaktische Hinweise auf Variationsangebote vor. In Text 8. der Formulae Visigothicae (Zeumer 1963: 579) erkennt man eine die Gebietsbeschreibung umfassende Wiederholung einer Formel, was man als Angebot auffassen kann, diese Wiederholung bei lebendigem, um Bekräftigung bemühtem Schreiben zu realisieren oder, wenn ein Verfasser die formalen Anteile möglichst dicht und nicht hervortretend halten wollte, zu unterdrücken: Ergo pro luminaria ecclesiae verstrae adque stipendia pauperum […] donamus gloriae vestrae in territorio ill. loco ill. ad integrum […], ut diximus, gloriae vestrae deservientes pro luminaria ecclesiae vestrae atque stipendia pauperum Die genaue Betrachtung der Texte zeigt also einerseits, dass die einzelnen Urkunden mit einer gewissen Marge an Variabilität gestaltet wurden, andererseits dass die Formularien zu dieser Gestaltungsweise einluden. Und diese Doppelung unterstützt sehr die Vermutung, dass die Verfasser die Texte, die sie produzierten, mehr als nur oberflächlich verstanden und außerdem von einem Geist oder, sollte man sagen, Schwung des freien und vermeintlich souveränen Schaffens lateinischer Sätze beseelt waren, auch wenn das Endprodukt, mit einem klaren und sicheren Wissen um schullateinische <?page no="263"?> 4.4 Ausblendung von Grammatikbereichen 251 Syntaxregeln betrachtet, uns heute fehlerträchtig und höchst unvollkommen erscheint. Ich möchte diese Erörterung mit einer kleinen, aber in meinen Augen recht signifikanten Beobachtung abschließen. Ein etwas kurioser Gebrauch lateinischer Formen, der ebenfalls Verständnis für den Sinn der lateinischen Konstruktionen zeigte, begegnete mir auf meiner Archivreise. Eine Urkunde aus dem Archivo Condal, die auf das Jahr 918 datiert ist, enthielt in der Edition folgende Passage: quod si ego […] aut cuiusliuet homo qui contra hanc ista scripturam donacio vel redemptionis […] Eine Überprüfung der Edition durch das im „Arxiu de la Corona d’Aragó“ befindliche Original ergab, dass der Text tatsächlich donacio enthielt. Es handelt es sich nicht um einen Fehler der Edition. Nimmt man an, dass die den Genetiv anzeigende Silbe „-nis“ hier als freies und zugleich gebundenes grammatikalisches Allomorph des Genetivmorphems aufgefasst wurde und, ähnlich wie es bei de möglich ist, auf zwei koordinierte Substantive gleichzeitig bezogen wurde, dann kann man weiter vermuten, dass der Verfasser die Formel interpretiert hat, dass er inhaltlich wusste, was er diktierte, und Formeln während ihrer Benutzung übersetzte oder zumindest dazu in der Lage war. Dass es sich um einen bloßen Schreiberfehler handelt, ist unwahrscheinlich, denn das gleiche Dokument bietet weiter oben eine Korrektur des Wortes redemptionis zu donacionis: re, p sowie eine der senkrechten Striche von m sind durchgestrichen, e ist in o umgewandelt und a ist über dem so entstandenen n eingefügt. Offensichtlich hatte der Schreiber gerade die gattungsmäßige Subklassifizierung der Urkunde hier zu kontrollieren, da diese Benennung mit dem Anlass des Verkaufs zu tun hatte. Hätte das Diktat weiter unten donacionis statt donacio gelautet, dann hätte der Schreiber die oben angeführte Passage wahrscheinlich entsprechend korrigiert. 4.4 Ausblendung von Grammatikbereichen Die Darstellung der Formeln in 4.3 hat die einzelnen syntaktischen Strukturen vorgeführt, an denen Interferenz ansetzen kann. Wie die meisten Texttypen, so bietet auch eine Urkunde nur eine beschränkte Menge möglicher Bauformen von Sätzen und nur eine Teilmenge des Vorrats an Funktionswörtern, über den eine Sprache verfügt. Die meisten Texttypen verkörpern jeweils ein begrenztes Segment aus der Gesamtheit der grammatischen Möglichkeiten und schließen andere Bereiche aus. Im Folgenden soll genauer untersucht werden, welche Teile der Grammatik durch die Eigenart ausgeblendet werden, so dass der Sprachwandel dort auf jeden Fall unzugänglich bleibt. Dies soll ausgehend von einem einzelnen Text durchgeführt werden: <?page no="264"?> 4. Die sprachexterne Seite 252 / Urkunde aus dem Jahr 1013 / invocatio: In Dei nomine. / intitulatio: Ego igitur Gondissalvo et Gota, / dispositio1: spontanea voluntate, / praeambulum in nuce: pro anime mee remedio / dispositio 2: concedimus et confirmamus / inscriptio: ad atrio S. Johannis et S. Emiliani in Finestra et tibi abbati Monnio / dispositio3: media nostra ecclesia, vocata Sancta Lecodia et Sancta Eolalia, qui est in editus de Birviesca, cum suos terminos, id est, de casa de Maria de Gamar usque casa de Guscava, de alia pars casa de domino Johannes de Auca; et media nostra vinea, qui est latus carrera qui vadit de Birviesca ad Cereso, de alia pars terra de Albaro Ferrero; et illa ecclesia cum introitus et exitus. / sanctio: Si quis homo hanc nostram donationem in aliquo disrumpere voluerit, sit a Domino Deo maledictus et confusus, et a comitis parte exolvat duas libras auri, et duplum ad regula. / datierung: Facta carta in era millessima quinquagesima prima, / subscriptio: Sancio comite in Castella. Obeco et Monnio testes. (Cartulario de San Millán de la Cogolla) Eine Tabellenübersicht zeigt, welche Arten von Phänomenen in der obigen Urkunde, aber auch in anderen, vertreten sind und wo sich Lücken ergeben: GRAMMATIKGEBIET BEISPIELE FÜR KONSTRUKTIONEN, DIE DORTHIN GEHÖREN (1) Kasusgebrauch: Nominativ, Akkusativ, Dativ Ego igitur Gondissalvo et Gota concedimus media nostra ecclesia ad atrio Johannis et tibi abbati Monio (2) Kasusgebrauch: Genetiv (in) editus de Birviesca, casa de Maria de Gamar, duas libras auri (3) Kasusgebrauch: Ablativ sit a Domino Deo maledictus et confusus (andere Urkunden) nullius gentis imperio (4) Anpassung der Kasus an die Präpositionen in editus, cum suos terminos, de alia pars (5) Gebrauch der Präpositionen selbst in era millessima; in Finestra (6) Demonstrativa et illa ecclesia cum introitus et exitus hanc nostram donationem (7) Indefinita si quis homo (= irgendjemand) in aliquo disrumpere voluerit (8) Possessivadjektive hanc nostram donationem (Deixis ego-tu) cum suos terminos (innertextliche Beziehungen) (9) Kongruenz zwischen attibutivem Adjektiv und Nomen spontanea voluntate, media casa (eher selten) (10) Kongruenz zwischen Subjekt und Verb ego Gondissalvo et Gota concedimus <?page no="265"?> 4.4 Ausblendung von Grammatikbereichen 253 (11) Die Personen der Konjugation (andere Urkunden) ego X concedo (andere Urkunden) nos donatores concedimus (andere Urkunden) et affrontat istum terminum (12a) Lexikalische Reflexivität (andere Urkunden) me vindo vobis (12b) Andere Formen der Reflexivität ------------------------------------------------ (13a) Tempora, Präsens confirmamus, qui est, qui uadit (13b) Tempora, Vergangenheitstempora eher selten, jedoch immerhin: placuit ut, elegit uoluntas ut aduenit nobis de parentis nostris (Erbschaft) (13c) Tempora, Futur Si quis disrumpere uoluerit (ein katalanischer Vertrag) faciam tibi cavalcatas (14) Modi maledictus sit, (andere Urkunden) habeas et teneas (15) Infinitiv, Partizipien, Gerundium disrumpere uoluerit (andere Urkunden) uenerit ad disrumpendum (16) Passiv maledictus et confusus sit (17) kausative Konstruktionen (andere Urkunden) donare faciam (18) modales Adverb ------------------------------------------------ (19) Satztypen: Aussagesatz ego et Gota concedimus ecclesia ad atrio (20a) Satztypen: direkte Imperativsätze ------------------------------------------------ (20b) Satztypen: adhortative Imperativsätze exolvat duas libras auri (21) Satztypen: Fragen ------------------------------------------------ (22) Subjekt-/ Objekt-Sätze (andere Urkunden) placuit mihi ut uindo uobis (andere Urkunden) conuenio quod ero tibi fidelis (23) Relativsätze und Relativpronomen carrera qui uadit, uinea qui est (andere Urkunden) uinea que habeo (24) AcI (andere Urkunden) placuit nos uindere uobis (25a) Konditionalsätze si quis disrumpere uoluerit, <?page no="266"?> 4. Die sprachexterne Seite 254 14 Der Wortschatz des Urkunden-Korpus wurde in erster Linie mit Hilfe des Wörterbuchs von Menéndez Pidal, Rafael Lapesa und Constantino García (2003), des Wörterbuchs von Du Cange (1678/ 1883) sowie des Beitrags von Wolfgang Lange (1966) erschlossen. Zusätzlich wurden herangezogen: Coromines (1983), Alonso (1986), Machado (1952-59). (25b) Finalsätze (andere Urkunden) ut habeas et teneas (25c) andere adverbiale Nebensätze fehlen oder sind sehr selten (26) indirekte Rede ------------------------------------------------ Zu erwähnen ist noch der Bereich der temporalen Adverbien, der zwar in der Bestätigungsformel am Ende der dispositio konstant durch ab hodierno die und ähnliche Angaben des Künftigen vertreten ist, der aber bei weitem nicht in seiner Vielfalt auftaucht. Man sieht also, dass der Ausschnitt der allgemeinen Grammatik, der durch die texttypenspezifischen Strukturen sichtbar wird, einerseits ziemlich breit ist, andererseits aber eine Reihe wichtiger Gebiete verborgen hält: den direkten Imperativ; die direkte Frage; die indirekte Rede, die auch in der Mündlichkeit relevant ist, solange es darum geht, eine Einzelsatzaussage zu berichten. Schließlich fehlen einige Typen des adverbialen Nebensatzes, z.B. konzessive. Die Formularien, die den verschiedenen Kartularien offenbar zu Grunde gelegen haben, boten keinen Anlass zum Gebrauch konzessiv angelegter Formeln, weil auch die Superstruktur der Textsorte keine entsprechenden argumentativen Wendungen enthielt. 4.5 Der lexikalische Bestand Im Folgenden soll über die lexikalische Seite der Texte 14 gesprochen werden. Denn erstens dringt die mündliche Sprache natürlich auch im Wortschatz durch. Und zweitens hat sie Auswirkungen auf die Reichweite der Aussagen, die auf der Grundlage der Urkunden möglich sind. 4.5.1 Status der Wörter des Urkundenwortschatzes Die in den Dokumenten enthaltenen Wörter weisen manchmal romanische Endungen auf, so fondon oder saluetat. Dies bedeutet aber nicht notwendigerweise, dass solche Wörter auch aus der Sprechsprache stammen. Es muss zweierlei unterschieden werden: Ein Wort kann romanische Lauterscheinungen im Stamm (z.B. kastilisch -ie- oder -ue-) aufweisen oder eine romanische Endung besitzen (-on, -tat, -tad). Oder aber der Wortstamm ist mit den phonologischen Regeln des Lateinischen vereinbar und hat eine Endung, die eine Zuordnung zu einer lateinischen Deklination erlaubt. Die Herkunft des Wortes dagegen muss man abgesondert von der morphologischen Fragestellung betrachten. Es geht hier um die Möglichkeiten <?page no="267"?> 4.5 Der lexikalische Bestand 255 einer Entstehung innerhalb der Schriftsprache - mit den Mitteln der Wortbildung oder der Vergrößerung der Polysemie - im Gegensatz zu einer Übernahme aus dem gesprochenen Romanischen. Da der morphologische Gesichtspunkt nicht mit dem Herkunftsaspekt zusammenfällt, sind Einordnungen der die Urkunden konstituierenden Wörter als „mittellateinisch“ oder „romanisch“ doppeldeutig: entweder eine solche Einordnung ist im Sinne des Erscheinungsbildes gemeint oder aber im Sinne des Ursprungs. Die vier denkbaren Kombinationen aus Erscheinungsbild und Ursprung lassen sich in der Tat alle feststellen: • Ursprung lateinische Schriftsprache - Erscheinungsbild lateinische Schriftsprache (annubda, eine Abgabenart) • Ursprung lateinische Schriftsprache - Erscheinungsbild gesprochenes Romanisch (salvetat) • Ursprung gesprochenes Romanisch - Erscheinungsbild lateinische Schriftsprache (pezam, ganatum) • Ursprung gesprochenes Romanisch - Erscheinungsbild gesprochenes Romanisch (fuero) Die Linien der Zuordnung sind relativ einfach zu erkennen, wenn man die Kultursphären in den Blick nimmt. Das vorfindbare Fachvokabular gehört der Landwirtschaft an, dem Recht, der Religion. Der agrarische Wortschatzanteil wird ergänzt um Wörter, mit denen Landschaftsteile bezeichnet werden: Straßen, Erhebungen, Senken. Die Fachwelt der Landwirtschaft war nun jedermanns Lebenswelt. Wörter aus Recht und Religion dagegen kamen aus der Schriftsprache selbst und wurden innerhalb von ihr weitergeführt. Also wurden Lexeme zu Landschaftselementen und Sachen der landwirtschaftlichen Tätigkeit aus der Mündlichkeit übernommen. Es handelte sich um Wörter der Alltagswelt. Die fachsprachliche Tradition war schwach bzw. unterbrochen im Verhältnis zum Altertum . 4.5.2 Inhaltsfelder der Urkundensprache Die Thematik der vorliegenden Untersuchung schließt eine Charakterisierung der Urkunden als Texte mit ein. Von diesem Gesichtspunkt aus, erscheint es zunächst interessant, den lexikalischen Bestand der Dokumente überhaupt zu charakterisieren. Eine Übersicht: Substantive Gebiet: terra, terminium/ terminus, comitatum, marchia, agrum, fines, alfoze (Bezirk) <?page no="268"?> 4. Die sprachexterne Seite 256 Siedlung: villa, villares (Weiler), civitas (z.B. in civitate Legionis = in der Stadt León) Flächen: campus, ager, pascuum (Weide), pratum, allodium/ alodes/ alaudes (Stück Land), peza/ pieza/ petia (Fläche, Stück Land), serna (Einfriedung), solares (Boden, Stück Land), vinea, malleolus (junger Weinberg), iugerum (Morgen), manneria (Feld, das ein Mann an einem Tag pflügen kann), aera/ era (trockene Fläche, Dreschplatz), linare (Flachsfeld), ferrago (Fettwiese, Heuwiese) Kennzeichnung der Flächen (ADJEKTIVE): eremus/ ermus (öde, wüst; oder: unbebaut! ), ruptus/ squalidus (gerodet), irruptus (im Urzustand, ohne menschliche Einwirkung) Gärten, Pflanzungen, Waldstücke: hortus, horticellum, pomare (Obstgarten), ficare (Feigenbaumpflanzung), mazanare, nocetum (Nussbaumpflanzung), olivetum (Ölbaumpflanzung), roboretum (Eichenwald) Erhebungen, Bergwelt: mons, collum, cova/ covella (Höhle), collazo (größerer Hügel), lumbum/ lomba (Bergrücken, Bergkette), serra, penna (Felsen), podium (Bergspitze, Erhebung) Ebene: vallis, conca Gewässer: rivus/ rio (Flüßchen, Bach), flumen, fons, arrogium/ roio (Bach), lacuna/ lagena (Morast, sumpfiges Gelände) Straßen und Wege: via, carrera (Römerstraße), calciata (Pflasterstraße), semitarius/ semita (Pfad) Gebäude, Häuser: domus, casa, casata (Haus mit den landwirtschaftlichen Flächen darum), casare (Bauplatz), curtis, senioraticum (Herrenhaus), mansionaticum (Stammhaus einer Adelsfamilie), larea (Heim, Hof, Herd), molendinum/ molinum (Mühle), grangia/ collacium (Scheune), bustus (Ochsenstall) Kirche: ecclesia, baselica Kloster: monasterium, coenobium, asciterium (asketische Mönchsgemeinschaft) Brunnen: puteum, cuba (Zisterne) Hohlmaße für Getreide- und Flüssigkeitsmengen: quarta, modius/ modiatum (Scheffel), cupus Flächenmaße: modius (auch mit ablativus limitationis: seminatura)/ modiatum/ moia/ moiare (Flächenmessung durch die Angabe: soviel wie man mit X Scheffel Saatgut besäen kann), kannare, emina, almut Tiere: ganatum (Vieh), criazom (Vieh), vacca, cabro (Ziegenbock), obelias (Schafe) [nur ganatum ist häufig] Inventar des Hauses, Gerätschaften: plumacus/ plumazo (Federkissen), lectus, lexiva, recula, cupus (Fass) [sind manchmal, aber nicht oft Objekte einer Schenkung oder eines Verkaufs; werden am ehesten in Testamenten erwähnt] Kleidung: atorra (Hemd), lapa, cupo <?page no="269"?> 4.5 Der lexikalische Bestand 257 Schuhwerk: calciamentum, avarca, subtolar (verwandt mit frz. soulier) [werden im Verhältnis zur Kleidung überraschend oft erwähnt; Schuhwerk muss damals anscheinend ziemlich wertvoll gewesen sein] Bücher: liber, missale, (liber) ordinum, antiphonarium/ comicus (Gesangbücher) Arten von Abgaben: quarta, quinta, decima/ dezma, anubda (Steuer, Abgabe, speziell: Abgabe zur Wiederherstellung von Burgen), fossatura (Abgabe zur Befreiung vom Kriegsdienst), teloneus (Zoll), montaticum (Zoll bei Fahrt flussaufwärts), pontaticum (Brückenzoll) Geld, Münzarten: solidos/ denarios, moravedís (arab. Münzsorte), moneta iaccensis (Florinen aus Jaca in Aragonien), tremme/ tremise Erträge: regressum, exitus, fructuarius Früchte, Getreide: ciriale/ ceresales, fructus Verwandtschaft: pater, mater, frater, soror, filius, filia, avus, uxor Beruf: carbonarius (Köhler), telleiro (Waffenschmied), zapatero, cebrarius, cifo politisch-rechtliche Rollen und Titel: rex, comes, marchio, vicecomes, merinus (Sonder-Bevollmächter des Königs), sagio (örtlicher Statthalter des Königs), kirchliche Rollen und Titel: episcopus, abbas/ abba, prior, presbiter, monacus, gasalianus/ gasalianis (Kloster-Geselle, Mitbruder) rechtliche Rollen: donator, venditor, emptor, heres, erus (Herr), ingenuus (freier Bürger), fideiussor/ fidiator (Bürge), mundeburdus (Sachwalter), transgressor (Rechtsbrecher), baiulus Gremien: cabildo (Domkapitel), concilium/ conventus (Klosterkapitel) Recht: ius, directus (Recht), forum (rechtliche Einzelregelung, Rechtskatalog) Substantive für verschiedene Typen von Rechtsgeschäften: venditio, emptio, donatio, commutatio, incomuniatio (jemanden zum Miteigentümer machen), profiliatio (durch Schein-Adoption Besitzverhältnisse klären), pactum/ placitum/ convenientia/ compromissio (Übereinkunft, Vertrag) Verbrechen: homicidium (Mord), fornicatio/ cugucias (Ehebruch) Rechtsschutz: bagulia, immunitas, salvetas gerichtliche Entscheidung: iudicatum, iudicium Frondienst, Kriegsdienst: hominium/ hominiaticum, facendera, cavalcata (kurze Reiterexpeditionen, Überfälle auf Feinde), gueita (Wachehalten) Wörter für Besitz allgemein: peculium, haberes Verben Verfügungsverben: habere (a/ de), tenere, donare, dare, concedere, cambiare, concambiare, commutare, advenire (de), quadrare (zukommen, gehören), competere (zukommen/ gehören), hereditare, accipere, paccare/ pectare/ pariare (bezahlen), ganare (gewinnen, erwerben, [bebauen]), apprehendere (im <?page no="270"?> 4. Die sprachexterne Seite 258 Rahmen einer repoblación, also einer Neubesiedlung eroberten Landes, übernehmen) Positionsverben: esse, stare, affrontare in, infrontare in (grenzen an) Bewegungsverben: vadere, discurrere, se figere (anhalten), se tornare (sich wenden) performative Verben mit rechtlicher Wirkung: iurare, otorgar/ auctoricare/ obturigare (gestatten, einräumen, speziell: einen Verkauf erlauben), disrumpere/ irrumpere contra/ inquietare (den Rechtsfrieden stören, vorgehen gegen), venire contra (sich gerichtlich wenden gegen), dirigere fuerum (einen Rechtskatalog wiederherstellen), aquitare (Rechenschaft geben), intendere (ein Gerichtsverfahren anstrengen), devindicare (zurückfordern, in Anspruch nehmen, sich anmaßen), assignare (unterschreiben), aquitiare/ obligare (etwas abtreten an jd.) weitere kommunikative Verben: dicere, legere, scribere, audire Wahrnehmungsverben: videre, audire (bei den subscriptiones) emotionale Verben: amare, timere, pavescere landwirtschaftliche Tätigkeiten: criazom (Aufzucht), seminatio, squalidare/ aplanare (urbar machen) Adjektive konkret: baius, eremus, squalidus abstrakt-beschreibend: firmus, stabilis, quitus, (in)genuus, omnipotens, malignus abstrakt-relational: regalis, antiquus, praesens, laterus Die Liste spricht für sich selbst. Während man bei den Substantiven ein repräsentatives Spektrum der wichtigen Kultursphären erkennt, ist die Gruppe der Adjektive sehr dürftig besetzt. Bei den Verben schließlich fehlen ganze Verbklassen oder sie sind nur spärlich vertreten. Man vermisst Verben der sozialen Beziehung, mentale Verben, Verben der physischen Einwirkung, Daseinsverben. Wahrnehmungsverben sind in den Texten spezialisiert auf die Rolle der Zeugenschaft. Gegenüber den vielfältigen Möglichkeiten, die selbst die einfachste mündliche Sprache besitzt, wenn sie auch nur die prototypischen Elemente der genannten fehlenden Verbklassen verwendet, erscheint das Spektrum, das die Urkunden bieten, doch bedenkenswert arm und gibt sicherlich keine angemessene Vorstellung vom romanischen Wortschatz jener Zeit. <?page no="271"?> 4.5 Der lexikalische Bestand 259 4.5.3 Wortschatz und Grammatik - Einschränkungen der Aussagefähigkeit durch einen beschränkten Ausschnitt aus dem Gesamtwortschatz Gilt das oben Gesagte aber auch für die Repräsentativität in Bezug auf die Grammatik? Die Grammatik einer Sprache besteht ja nur aus Schablonen, in die eine große Zahl unterschiedlicher Wörter eingesetzt werden kann und die dazu dienen, diese Wörter in bestimmte satzsemantische Relationen zueinander zu bringen. Es würde also im Prinzip genügen, wenn der Wortschatz vielfältig genug ist, um ein Testfeld für die Schablonen abzugeben. Immerhin ist genau das wieder ein problematischer Punkt. Harm Pinksters Darstellung des Lateins bringt nicht umsonst Lexikon und Grammatik in eine enge Verbindung. So hängt es von den gegebenen Verben ab, welche Valenzen sich vorfinden, und es ist ebenfalls eine Frage der Wortschatzdistribution, ob auch alle Formtypen von Deklinationen und Konjugationen repräsentiert sind. Statische Verben z.B. erlauben nur unter besonderen Bedingungen, Tempora und Aspektformen zu gebrauchen. Nicht alle Adjektive eignen sich zur Prädikativität. Was nun die Formtypen angeht, so bietet das Urkundenvokabular allerdings genug Material, um als repräsentativ gelten zu können. Es finden sich Wörter aller Deklinationen, sowohl bei den Adjektiven als auch bei den Substantiven: Substantive: merinus (o), fossatura (a), exitus (u), hereditas, pater (konsonant.), series [testamenti] (e), turris (i) Auch Verben aller Konjugationsklassen kommen vor: a-Konj.: hereditare; e-Konj.: habere; i-Konj.: advenire; konsonant. Konj.: accipere Es gibt Vertreter für dynamische und statische Verben: habere, competere, affrontare in (statisch) dicere, vendere, accipere, videre (dynamisch) Die eigentlich dynamischen Bewegungsverben werden in einem doppeldeutigen Sinn gebraucht, weil sie einmal den Verlauf von Grenzen bezeichnen, andererseits das Abgehen dieser Grenzen suggerieren. Die meisten Verben bezeichnen kontrollierbare Handlungen, nur wenige stehen für nicht-kontrollierbare Vorgänge: habere, donare, vendere, aquitare, disrumpere contra u.v.a. (kontrollierbar) hereditare, competere alicui, accipere (nicht kontrollierbar) Schließlich sind wesentliche Valenzen vertreten: bivalent mit direktem Objekt: audire, devindicare bivalent mit präpositionalem Komplement: affrontare in, venire contra trivalent: dare, accipere <?page no="272"?> 4. Die sprachexterne Seite 260 Einzig monovalente Verben fehlen, aber wenn man ein präpositionales Komplement als Aktanten ansetzt, wird die Klasse strikt monovalenter Verben sowieso klein. Man kann aus einem streng formalen Blickwinkel also sicherlich nicht sagen, dass die Urkundensprache die wesentlichen Möglichkeiten der Morphosyntax nicht ausreichend repräsentiert. Dennoch ist ein anderer Aspekt nicht zu unterschätzen. Das begrenzte Vokabular versperrt den Blick auf die Folgen von Analogieprozessen, durch die stetig größere Anteile eines Wortschatzes von einer neuen grammatischen Entwicklung erfasst werden. Sicherlich wäre dies auch bei einem breiter angelegten Wortvorrat nur begrenzt möglich, da man einen Urkundenverfasser nicht zwingen kann, Interferenzen zu begehen und so durchaus Prozesse der Ausweitung einer grammatischen Erscheinung innerhalb des Lexikons verborgen bleiben könnten. Aber es wäre besser möglich, durch eine punktuelle Streuung von Phänomenen beispielsweise über unterschiedliche Verbklassen hinweg die allmähliche Progression zu beobachten. Für diesen Punkt, also die Bestimmung der Lexikonspezifizität von Erscheinungen, sind die Urkunden wenig geeignet. 4.6 Gäbe es bessere, alternative Belegtexte? Ein Vergleich zwischen den Abweichungen in den Urkunden und dem grammatischen Gefüge anderer Gattungen des iberischen Mittellateins Das Urkundenkorpus bietet also einerseits ein überraschend breites Bild der hauptsächlichen morphologisch-grammatischen Veränderungen, blendet aber die Entwicklung in einigen Bereichen der Grammatik und für den Großteil der Lexik aus. Dass es die sprachinternen Prozesse dennoch besser bezeugt als jede andere Gattungslinie lateinischer Texte, die aus dem Frühmittelalter auf der iberischen Halbinsel erhalten sind, zeigt ein grobkörniger grammatischer Vergleich. Viele wichtige Werke des portugiesischen und spanischen Mittellateins - Gedichte, Chroniken - liegen zu spät, d.h. sie wurden (vgl. Fontán/ Moure Casas: 19ff.) erst im 11. und 12. Jahrhundert verfasst. Für frühere Chroniken ergibt ein Vergleich hinsichtlich ihrer grammatischen Merkmale, dass ihr Sprachniveau relativ hoch lag - selbst wenn die normativen Nachwirkungen der Zeit Isidor von Sevillas langsam abklangen. Zwei Ausschnitte aus Chroniken. Zunächst aus der Mitte des 9. Jahrhunderts: Álvaro de Córdoba (- 861) [Fontán/ Moure Casas 1987: 257] Et erat vir ille in omnibus professionibus principaliter et non medie decoratus, cunctos (cunctas) ex equo deseruiens, et cum preiret omnes scientja, humilior certe etjam infimis uidebatur, clarus uultu et honore precipuus, eloquentja <?page no="273"?> 4.6 Gäbe es bessere, alternative Belegtexte? 261 fulgidus et uite operibus luminosus, incitator martyrum et laudator, tractator peritissimus et dictator (…) (S. 259) Nec illut omittendum huic operi reor, quod post diuine memorie Uuistremiri Toletane sedis episcopi in ea<n>dem sedem ab omnibus conprouincialibus et confinitimis epsicopis electus et dignus est abitus et per relatu omnium comprobatus. Sed dispositjo diuina que eum sibi ad martyrium reseruabat quibusdam repagulis obuiauit, cumque iam ipsa communis electjo eum sibi consecrare in episcopio adclamaret, rerum oviantjum adversitate inpediti alium sibi eo uibente interdixerunt eligere. Qui licet argute frustraretur ab ordine, tamen non est privatus eiusdem ordinis munere, siquidem epsicopatum celestem adeptus est dum per martirii gloria Xro coniunctus est: omnes namque sancti episcopi, non tamen omnes episcopi sancti. Ille uero sanctitatem per cruoris fusionem inueniens episcopii ordine fungitur, dum celo tenus eternis promissionibus muneratur. Die Fehler sind durch Fettdruck hervorgehoben. Man erkennt erstens: Es kommen kaum Abweichungen von der lateinischen Norm vor. Zweitens zeigt der Text besondere stilistisch-grammatikalische Qualitäten: ablativi limitationis im Kontext von Beschreibungen (preiret scientja, clarus uultu u.a.), Deponentien (reor), relativer Anschluss (qui licet argute frustraretur ab ordine), Ablativ bei fungitur, Hyperbata. Ähnlich verhält es sich bei dem zweiten Ausschnitt aus einer Chronik vom Ende des selben Jahrhunderts: Crónica de Alfonso III (c. 880) [Fontán/ Moure Casas 1987: 262f.] Per idem ferre tempus in hac regione Asturiensium prefectus erat in ciuitate Ieione nomine Munnuza conpar Terac. Ipso quoque prefecturam agente, Pelagius quidam, spatarius Uitizani et Ruderici regum, dicione Ismaelitarum oppressus cum propria sorore Asturias est ingressus. Qui supra nominatus Munnuza prefatum Pelagium ob occassionem sororis eius legationis causa Cordoua misit; sed antequam rediret, per quodam ingenium sororem illius sibi in coniungio sociauit. Quo ille dum reuertit nulatenus consentit, set quod iam cogitauerat de salbationem eclesie cum omni animositate agere festinauit. Tunc nefandus Tarec ad prefatum Munnuza milites direxit, qui Pelagium comprehenderent et Cordoua usque ferrum vinctum perducerent. Qui dum Asturias peruenissent uolentes eum fraudulenter comprendere, in uico cui nomen erat Brece per quendam amicum Pelagium manifestum est consilio Caldeorum. Sed quia Sarrazeni plures erant, uidens se non posse eis resistere de inter eis paulatim exiens cursus arripuit et ad ripam fluuii Pianonie peruenit. Hier beobachtet man schon mehr Abweichungen, so das vergessene <-m> bei dem Ziel-Akkusativ Cordoua, die Verwendung der Konjunktion dum im Sinne der Konjunktion cum, den Akkusativ salbationem nach de, den Akkusativ ferrum im Sinne eines instrumentalen Ablativs, den Akkusativ Pelagium an Stelle des Dativs, den Dativ consilio anstelle des Nominativs. Trotzdem sollte man auch diese Mängel wieder den Qualitäten gegenüberstellen. Der zitierte Ausschnitt bietet vieles, was im Sinne der klassischen <?page no="274"?> 4. Die sprachexterne Seite 262 Norm richtig gemacht wird und stilistisch anspruchsvoll ist: Deponentien (ingressus est <ingredi), relative Anschlüsse (qui supra nominatus Munnuza etc., quo ille nulatenus consentit), participia coniuncta (volentes eum fraudulenter comprendere), a.c.i. (videns se non posse eis resistere), finaler Relativsatz unter Beachtung der consecutio temporum (qui Pelagium comprehenderent), explikativer Genetiv (fluuii Pianonie). Die Form quodam statt quoddam kann auf phonetische Faktoren zurückgehen. Ángel López García (2001) sieht einen merklichen Unterschied zwischen dem Latein der mozarabischen Chroniken und Isidors einerseits und dem klassischen Stil Cäsars andererseits. Er rechnet erstere einem „protorrománico sólo superficialmente latinizado“ (S. 20) zu. Den Stilunterschied zu Cäsar versucht er, an Hand textnaher Übersetzungen des Anfangs von De Bello Gallico und eines Isidortextes ins Spanische zu demonstrieren. Hier Auszüge aus diesen Übersetzungen (S. 18f.): (Isidor) Gothi de Magog Iaphet filio orti cum Scythis una probantur origine sati (sc. nati), unde nec longe a vocabulo discrepant. (L.G.) Los Godos de Magog de Iaphet el hijo salieron con los escitas de un mismo según se probó origen nacieron, del cual tan apenas por un vocablo discrepan. (Cäsar) Gallos ab Aquitanis Garunna flumen, a Belgis Matrona et Sequana dividit. (L.G.) Los Galos de los Aquitanios el Garona río, de los belgas el Marne y la Sena separa. López García behauptet, dass der spanische Text, der sich aus der Isidorstelle ergibt, für Romanen leichter verständlich sei als die Übersetzung der Passage aus De Bello Gallico. Liest man allein die spanischen Versionen, gewinnt man allerdings den Eindruck, dass die Beibehaltung der Verbendstellung bei beiden Übersetzungen Undurchsichtigkeiten oder mindestens Störungen verursacht. Und dass andererseits die Verwendungen von bestimmten Artikeln in beiden Übersetzungen für unechte, dem Original nicht entsprechende Auflockerungen und Dehnungen sorgt. Ein tief greifender Gegensatz zwischen größerer und geringerer Zugänglichkeit lässt sich eigentlich nicht erkennen. Auch López Garcías Analysen gegenüber ist daran festzuhalten, dass die Formulierungen Isidors oder der Mozaraber oder auch Álvaro de Córdobas eine deutlich größere Nähe zum klassischen Latein bewahren. Dagegen finden sich unter den Urkunden des Frühmittelalters immer wieder Dokumente, die in sehr viel dichterem Rhythmus Belege für unsichere und stilistisch eingeengte Formulierung bieten: / A/ onia4.k.ab1/ 967/ / Inv: Sub nomine Patris et Filii gratiaque Spiritus Sancti. / Intit: Ego Heldoara$1$2$3, / Prae: licet indigna, nulliusque#4 persuasus$1 4#ingenio, sed i ([Schreiberfehler oder Fehler des Kopisten | vermutlich: in] diuino ardore accensa, non quoacte ((coacte)) sed spontanee*S1, non imbitus$2 ((invitus)) sed uoluntarie, pro remedium*5 anime mee, mortem timendo$6, infernumque pabendo$7 ((pavendo)), / Dis1: placuit animo$3 meo$3 sic*S2 trado$8 meos monesterios et meos solares% [%Lex (solar), Bed = Grundstueck%], et meas diuisas% [%Lex (divisa), Bed = Wiese%]; et meas here- <?page no="275"?> 4.6 Gäbe es bessere, alternative Belegtexte? 263 ditates$9 quam$9 habeo$9 de$10 parentum$10 meorum$10, / Inscr: ad$8 atrium sancti Iohannis Babtiste, et Sancti Petri Apostoli uel Sancte Crucis, seu Sancti Martini, cuius uasilica ((basilica)) sita est in loco'11 predicto'11 Cellaprelata, necnon et tibi abbati meo Ouidio, uel omnibus domnibus ((dominibus*12)) tuo#13 conmorantibus 13#dominio./ Dis2: Imprimis trado memetipsa cum corpus*14 simul et anima, deinde in alfoce% [%Lex (alfoce) <- Arab, Bed = Bezirk%] de*15 Onie*15 uilla$16 que$16 uocitant$16 Arroio de Sancti Fructuosi cum integritate. : : e-onia4.k.ab1: : [$1 K (ego Heldoara, persuasus), N Praediv; Gen (mas st fem) | e: ego Heldoara nulliusque persuasa ingenio$] [$2 K (ego Heldoara, invitus), N Praediv; Gen (mas st fem) | e: ego Heldoara non invita sed voluntarie$] [$3 Linksdislokation bzw. absolute Rahmensetzung (ego Heldoara, animo meo)$] [#4 Hyperbaton (nulliusque, ingenio) | als kontinuierliche Konstituenten: nulliusque ingenio persuasus#] [[*S1 Struktur: „coacte“ ist in der Nachbarschaft von „spontanee“ wohl als Adverb zu deuten: „nicht auf gezwungene Art und Weise“.*]] [*5 R (pro, remedium), Praep N; Kasus (4 st 5) | e: pro remedio*] [$6 G (timendo) | e: ego Heldoara mortem timens$] [$7 G (pavendo) | e: infernumque pavens$] [[*S2 Struktur: das „sic“ ist hier wie ein Doppelpunkt gemeint]] [$8 P (trado, ad, atrium sancti Iohannis): ad-N st N-Akt3, Kasus (3) | e: trado meas hereditates atrio sancti Iohannis Babtiste$] [$9 Rel-Pron (hereditates, quam, habeo), Num (Sing st Plur) | e: meas hereditates quas habeo$] [$10 Dopp-Gen: Kasus (2) + Praep (de), Funktion: separativ$] ['11 Art (sup nom), anaph'] [*12 Dkw (dominibus): u-Dekl st o-Dekl | e: dominiis] [#13 Hyperbaton (tuo, dominio) | als kontinuierliche Konstituenten: dominibus tuo dominio conmorantibus#] [*14 R (cum, corpus), Praep N; Kasus (1 st 5) | e: cum corpore simul et anima*] [*15 Dopp-Gen: Kasus (2) + Praep (de), Funktion: gen. pert.*] [$16 Orp (que): uilla, que, uocitant | e: uilla quam uocitant, ee: villam quam vocitant$] Der Kommentar unter der Urkunde entspricht der Form, wie in dem von mir bearbeiteten Korpus Abweichungen im Vergleich zur klassisch-lateinischen Norm notiert werden (vgl. Anhang). Der Kommentar macht die Menge der Regelabweichungen augenfällig. Ohne auf jedes Phänomen eingehen zu wollen, sei hingewiesen auf Deklinationswechsel einzelner Substantive (dominibus statt dominiis), chaotischen Gebrauch von Relativpronomen (hereditates quam habeo anstatt hereditates quas habeo), Rektionsabweichungen im Vergleich zum Latein (pro remedium), Ersatz des Dativs durch die romanisch-vulgärlateinische ad-Kon- <?page no="276"?> 4. Die sprachexterne Seite 264 15 Dieses Forum war einer der Texte, die ich auf meiner Archivreise mit dem Original verglichen habe. Obwohl es eine Art Gesetzestext ist und damit einen stärker öffentlichen Charakter hat und der Wortlaut also noch entscheidender ist als bei Urkunden, wurde nicht auf die Anwendung vieler Kürzel verzichtet. Meist handelt es sich immerhin um Kontraktionen oder eindeutige Suspensionen. Endungs-m wird in der Regel durch Nasalierungstilden realisiert. Immerhin kommen auch Abkürzungen vor, durch die eine mögliche Nicht-Beachtung der angemessenen Form überspielt wird, so beispielsweise <ht> für die Lesung habuerit nach ordeum non. Im Vergleich zur Edition wurde der Text teilweise stärker an das Original angeglichen. struktion, Fehler bei der Genuskongruenz (Heldoara, indigna…accensa, aber persuasus). Auch die Fueros stehen der Volkssprache relativ nahe. Doch die Produktion von Fueros setzt relativ spät ein (11., vor allem 12. Jahrhundert). Außerdem weisen sie eine monotone Struktur auf, die für die empirische Beobachtung im Prinzip durch die sanctio einer Urkunde schon abgedeckt ist. Fueros bestehen im Wesentlichen in einer Aneinanderreihung von konditionalen Satzgefügen mit einem untergeordneten, adverbialen Nebensatz oder einem indefiniten Relativsatz in der Protasis und einem imperativen Satz mit dem Verb im Konjunktiv Präsens (selten im Imperativ) als Hauptsatz, d.h. als Apodosis: SI X Y FACIT / FECERIT , FACIAT Z; QUI Y FECERIT , FACIAT Z Als Beispiel soll hier ein Fuero Breve (1171; Hinojosa 1919: 77ff.) aufgeführt werden 15 : In Dei nomine. Notum sit cunctis presentibus atque futuris. Qualiter ego Ermengaudus gratia Dei Urgellensium comes et uxor mea Dulcia eadem gratia Urgellensium comitissa cum filio nostro Ermengaudo nos in simul de bona voluntate donamus vobis foro (forum) honorabili concello de Barroco Pardo. 1. In primis dico vobis, quod non eligatis alium seniorem nisi Deo (Deum) et me atque posterita (posteritatem) mea. 2. Et vos et ipsi qui in Barroco Pardo vel in suis terminis veniunt date mihi et posterita mea (posteritati meae) unumquoque annum unum kafiz de pan (panis), tercium triticum et tercium centenum et tercium ordeum. Qui non habuerit triticum det ordeum et centenum. et qui ordeum non ordeum non habuerit det totum centenum et unum carner de quarta de morabitino (unum carnerum quartae morabetini). Istum forum faciant ipsi qui habeant X morabitinos, et super X morabitinos ad in ante quantum Deus eis dederit dederit, et qui valente de X morabitinos non habeat et minus habeat, donet ipsum panem sicuti boni homines de concello videant pro bono et carne (carnem) non. 3. Et ego Ermengaudus comes et mei relinquo vobis cocello de Berroco Pardo (concilium Berroci Pardi) de gratis animis et spontanea voluntate. ipsas hosas quod (quas) mihi hebitis (sic) facere cum lutuosa in simul omni tempore. Hoc facio per servicium bonum, quod semper spero de vobis habere ego et mea posterita (posteritas). <?page no="277"?> 4.6 Gäbe es bessere, alternative Belegtexte? 265 4. Et si obiit aliquid militem (aliquis miles) sine filios (filiis) vel filias (filias) et habeat cavallum et armas et si habeat filios vel filias, non donet mihi cavallum et armas sicut superius est scriptum. 5. Et si habuit aliquid (aliqui) homo muliere (mulierem) aut mulier habet virum et non habeat filios vel filias in quinque annos, qualis quid primus obiit done maneria ad comite. et suis (donet maneriam comiti et suis). 6. Et mulier vidua qui (quae) non habeat filios vel filias et non est tale quod accipiat virum et non habeat de quid (de quo) faciat isto foro (istum forum) non faciat istum forum et si est tale quod habeat unde facere posset istum forum et viderent boni homines quod facere posset et habeat generum aut mancebum, faciat forum. 7. Et ipsi populatores qui in Barroco Pardo venient (venerint), non dent istum forum donec ad caput annum (anni) ad panem colectum. 8. Et de homicidio et rosso et ceteras alias calonias (caloniis) habeatis ad foro (forum) de Ledesma. (habere ad =hier vermutlich= sich halten an) 9. Et si aliquis homo vel femina querebat (vellet) vendere sua hereditate, taleloco vendat eam quod comes et sui non perdant forum suum, et si hoc non faciunt, non possunt eam vendere. 10. Et si habet iugerum de bono homine qui non stet cum seniorem (seniore), et stet in sua mansione, faciat forum, et si stat cum seniorem (seniore), non faciat forum. Die Abweichungen und die entsprechenden korrekten Formen sind im obigen Text kenntlich gemacht und bedürfen nicht unbedingt weiterer Erklärung. Sie entsprechen dem, was auch in den Urkunden üblich ist und immer wieder begegnet: gegenseitige Ersetzung von Ablativ- und Akkusativformen durcheinander, Präpositionalphrasen mit ad als Dativersatz, PPs mit de als Genetiversatz, Unsicherheit bei den Tempora und Modi der Protasis, Unregelmäßigkeiten im Gebrauch der Relativpronomina, fehlende <-t>- Endung der dritten Person Singular. Da die Fueros vor 1000 nicht vorkommen und ihr Bestand an Sprachwandelprozesse dokumentierenden Phänomenen sich nicht von dem der frümittelalterlichen Urkunden unterscheidet, würde ihre Analyse keine erweiternden Gesichtspunkte in die Erforschung der Prozesse hineinbringen. Es wurde deswegen darauf verzichtet, die Fueros in das untersuchte Korpus mit hineinzunehmen. Durch den Blick in Richtung alternativer Belegtexte ist klar geworden, dass Urkunden der Suche nach frühen Spuren des Romanischen ein fundreicheres Material bieten als andere überlieferte Texttypen des spanischen Mittellateins. Selbst stärker mit Abweichungsstellen durchsetzten Texten, wie dem Brief des toletanischen Erzbischofs Elipandus vom Ende des 8. Jahrhunderts (Díaz y Díaz 1950: 214f.) oder einem ergiebigen Abschnitt einer frühen mozarabischen Chronik aus der Mitte des 8. Jahrhunderts (Fontán/ Moure Casas 1987: 251ff.) sind keine Typen von Abweichungen zu entnehmen, die in den Urkunden nicht auch enthalten wären. <?page no="278"?> 4. Die sprachexterne Seite 266 16 Selbst wenn das Modell von Peter Koch und Wulf Oesterreicher mittlerweile weit gehend bekannt ist und zu den Grundlagen der zeitgenössischen Romanistik zählt, wurde doch auf eine Erläuterung dieser Grundlagen nicht verzichtet, um Lesern, die mit diesem Ansatz nicht vollkommen vertraut sind, schnellen Zugang zu dessen Leitlinien zu verschaffen. 4.7 Der diskursive Rahmen von Sprachwandel aus einer allgemeinen Sicht - zweiter Aspekt: das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit Sprachgeschichte wird im Wesentlichen an geschriebenen Sprachäußerungen festgemacht, und sie muss an ihnen festgemacht werden. Dies hat zwar seine Berechtigung darin, dass die geschriebene Sprache von der mündlichen Sprache, die ihre Rezipienten sprechen, nicht allzuweit abweichen darf - es sei denn, es handelt sich um die Ausnahmesituation einer Fergusonschen Diglossie -, verlangt aber doch, sich mit den Unterschieden zwischen der mündlichen und schriftlichen Form von Sprachen auseinanderzusetzen, wenn das Bild, das man von einer Sprache gewinnen will, vervollständigt werden soll. Ludwig Söll hat 1974 zuerst auf einen entscheidenden Unterschied im Bereich von Mündlichkeit und Schriftlichkeit aufmerksam gemacht: Man muss die phonische oder graphische Realisierung einer Aussage von ihrer sprachlichen Struktur trennen (Söll/ Hausmann 1985: 17ff.). Peter Koch und Wulf Oesterreicher 16 haben Sölls Ansätze fortgeführt und zu einem Modell ausgearbeitet, das in verschiedenen Beiträgen auch für die Diskussion der Entstehung und Entwicklung romanischer Schriftsprachen fruchtbar gemacht wurde. Sie sprechen von „medialer“ Mündlichkeit/ Schriftlichkeit im Unterschied zu „konzeptioneller“ Mündlichkeit/ Schriftlichkeit. „Medial“ mündlich ist eine Äußerung dann, wenn sie mittels der Stimme produziert und mittels des Gehörs rezipiert wird; medial schriftlich ist sie, wenn sie mit Tinte auf Papier oder einem anderen Textträger in Form von Buchstaben wiedergegeben und optisch rezipiert, also gelesen wird. Das Etikett „konzeptionell“ dagegen bezieht sich grob auf Unterschiede bei der Sorgfältigkeit, Ausführlichkeit und Komplexität des sprachlichen Ausdrucks. So ist eine Rede zwar letztendlich für die Verlesung vor Zuhörern gedacht, wird also phonisch realisiert, ihre sprachliche Form ähnelt aber einem schriftlichen Äußerungstyp, da sie sorgfältig ausformuliert ist. Ein in einer Zeitung abgedrucktes Interview dagegen bewahrt selbst nach Redaktionseingriffen den Charakter einer mündlichen Kommunikationsform. Beides hängt mit den Kommunikationsbedingungen zusammen, unter denen Rede und Interview entstanden sind. Der Verfasser der Rede hatte mindestens einige Tage Zeit, sich zu überlegen, worüber er in welcher Reihenfolge reden wird und wie er dieses Sprechen ausformuliert. Er konnte Formulierungen wieder durchstreichen und passendere an ihre Stelle setzen, weil er noch nicht unter dem Druck eines Publikums stand, das nicht Verwirrung durch dauernde Korrekturen, <?page no="279"?> 4.7 Das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit 267 sondern den Fortgang der Darlegungen verlangt hätte. Der Interviewte war den Fragen des Journalisten ausgesetzt, er musste sofort reagieren. Entsprechend konnte er sich seine Antworten auch nicht länger überlegen, sondern antwortete spontan. Da der Leser eines Interviews solche spontane Äußerung auf Grund ihres menschlich-persönlichen Charakters und ihres Realwerts teils toleriert, teils sogar erwartet, spiegelt das abgedruckte Interview die Spontansprache mit ihren Fehlern und Korrekturen, Wortwiederholungen usw. noch einigermaßen wider. Konzeptionelle Bedingungen der Kommunikation, wie die eben für die Entstehung von Interview und Rede geschilderten, können allgemein definiert werden als Bedingungen der Formulierung und Gliederung von Äußerungen. Konzeptionelle Bedingungen der Mündlichkeit und Schriftlichkeit sind dann solche, die durch mediale Mündlichkeit und Schriftlichkeit begünstigt werden. Peter Koch und Wulf Oesterreicher (1985/ 90) geben eine Liste von konzeptionellen Bedingungen mündlicher Sprache an (Koch/ Oesterreicher 1985: 23), die sie in ihren Darlegungen zu universalen Merkmalen mit Erscheinungen der sprechsprachlichen Textbildung und Satzformulierung in Verbindung bringen (vgl. Koch/ Oesterreicher 1990: 50ff.). Diese universalen Merkmale sind weithin bekannt aus der Erforschung gesprochener Sprache auf der Grundlage von Korpora (sowie teilweise aus der Soziolinguistik): (i) Die einfachste Kommunikationsbedingung ist die räumlich-zeitliche Unmittelbarkeit der Situation. Die Kommunikationspartner stehen einander unmittelbar gegenüber und können das körperliche Verhalten des oder der anderen weitgehend erkennen (face-to-face-Situation). Die Folge ist, dass Gestik und Mimik und andere nicht-sprachliche Formen von Kommunikation mit in die gegenseitige Mitteilung eingehen. (ii) Spontaneität, der Zwang zur Formulierung jetzt und an Ort und Stelle, führt bei der Satzformulierung zu: Anakoluthen, Fehlstarts, Korrektursignalen, Verzögerungsphänomenen, der Präferenz für schrittweise aufbauende Parataxen an Stelle von Hypotaxen, die ja einen höheren Planungsaufwand erfordern. Spontaneität führt semantisch zu Wortiteration anstatt stilistisch ansprechender Variation, in Folge dessen zu einem niedrigeren Wert bei dem Verhältnis zwischen Worttypen und der Zahl der Einzelwörter des Textes (type-token-Relation). Sie führt bei der Entwicklung von Redeabschnitten mittels Satzsequenzen dazu, dass das Thema vom Rhema eines Satzes abgetrennt wird, um nicht beides auf einmal konstruieren zu müssen, außerdem zu der Reihenfolge Rhema vor Thema, weil die durchgängige Beachtung eines Thema-Rhema-Progressions-Schemas verlangt, dass man eine ruhige Übersicht über den entstehenden Text behalten kann (iii) Situationsverschränkung. Für viele Äußerungen bietet die von beiden Partnern wahrnehmbare Realsituation, in der kommuniziert wird, Hilfen zur <?page no="280"?> 4. Die sprachexterne Seite 268 Verständigung. Folge ist, dass Ausschnitte der Realsituation oft thematisiert werden, so dass man sich Unvollständigkeiten im sprachlich Ausgedrückten leisten kann. Der Textaufbau kann dann auch unzusammenhängender sein als bei schriftlichen Texten. Eine weitere Folge liegt darin, dass mit größerer Häufigkeit Deiktika gebraucht werden. (iv) Bekanntheit der Kommunikationspartner. Sie beeinflusst Dialoge und Sprache in Dialogen in mehrfacher Weise. Erstens wird sprachliche Laxheit mit ihren Folgen bezüglich Korrektur, Anakoluthen, Fehlstart usw. eher unter Bekannten zugelassen. Zweitens sind Bekannte auch eher bereit, spontan in ein mündliches Gespräch einzutreten. Dies sind die Gründe, warum man Bekanntheit als ein typisches Kennzeichen mündlicher Kommunikation ansetzen kann. Ein dritter Einfluss besteht darin, dass die Unvollständigkeit sprachlicher Äußerungen, wie z.B. bei Aposiopesen, mindestens genauso oft mit der gemeinsamen Kommunikationsgeschichte der Kommunikationspartner und ihrem gemeinsamen Erlebnis-, Erfahrungs- und Wissenshintergrund zu tun hat wie mit der Situationsverschränkung. Denn weite Passagen von Gesprächen können aus kleinen Erzählungen, Beschreibungen oder Erklärungen bestehen, die sich absetzen von dem unmittelbar Wahrnehmbaren. Trotzdem kommen auch dort unvollständige Aussagen vor, da fehlende Bestandteile vom gemeinsamen Wissenshintergrund her erschlossen werden können. Dies beginnt schon einfach damit, dass Eigennamen meistens solche Personen bezeichnen, die Sprecher und Hörer beidermaßen bekannt sind, so dass Ergänzungen mittels Apposition oder Relativsätzen in konzeptionell mündlichen Äußerungskomplexen seltener vorkommen. Schließlich ist eine weitere Folge der Bekanntheit zu beachten: der geringere Aufwand bei den Anredeformen durch Ersparung von Höflichkeitsformen. (v) Privatheit. Die Kommunikation wird nicht von einem Publikum verfolgt, sondern nur die unmittelbar an der Situation Beteiligten bekommen mit, was gesprochen wird. Dies hat eine Verringerung der Zielgruppe der Kommunikation zur Folge. Der Gebrauch von Dia-Varietäten ist unter diesen Umständen nicht unangebracht, obwohl noch andere begünstigende Faktoren hinzukommen müssen, nämlich ausreichende gemeinsame Kenntnisse des jeweiligen Dialekts oder Soziolekts und/ oder Zugehörigkeit zu der Gruppe, die ihn normalerweise spricht. (vi) Dialogizität ist die Möglichkeit, die der Rezipient der Kommunikation hat, sich in die Äußerungen des Senders einzumischen bzw. spontan eigene Aussagen beizutragen. In Folge der Dialogizität werden Erzählungen und Beschreibungen oft dialogisch erarbeitet. Andere Folgen dieser Kommunikationsbedingung sind Kontaktsignale, also Sprecher- und Hörersignale, sowie die Markierung des eigenen Redebeitrags durch Eröffnungs- und Schlusssignale, die auch Hilfen für den Sprecherwechsel sind. <?page no="281"?> 4.7 Das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit 269 (vii) Freie Thematik. Die Themen einer konzeptionell mündlichen Kommunikation sind nicht fixiert. Diese Bedingung gilt für die Unterhaltung uneingeschränkt, für Gesprächsformen wie Verhandlung, Verkaufsgespräch, Vorstellungsgespräch usw., die alle ein bestimmtes Themenprogramm haben, gilt sie immerhin insoweit, als der Platz eines Themas nicht vollkommen festgelegt ist. (viii)Emotionalität führt zu einer verstärkten Expressivität von Sprache, was sich im Gebrauch von Metaphern und Metonymien bei der Schilderung nüchterner Realsituationen oder zur Veranschaulichung von Erklärungen manifestiert. Expressiv ist außerdem, dass Personen und auch Sachen oft durch Pejorativa als schlecht bewertet werden. Es werden Diminutive verwendet, um Sympathie auszudrücken, durch Augmentative werden Aussagen intensiviert. Emotionalität muss insofern als ein Kommunikationsmerkmal bewertet werden, das gerade durch die mündliche Kommunikation begünstigt wird, als Emotionalität ein psychischer Zustand ist, der dem wichtigsten Merkmal schriftlicher Äußerung, nämlich der Planung, entgegenläuft. Die Gefühlsbestimmtheit lyrischer oder religiöser Texte ist als gewollte und geplant intensivierte Nachahmung mündlicher Äußerungsformen zu betrachten. Nicht umsonst wurden solche Texte anfangs ja auch gesungen. Der zuletzt erwähnte Begleitumstand der Kommunikation, also die Emotionalität, verweist auf einen gemeinsamen Nenner, den Peter Koch und Wulf Oesterreicher in der konzeptionellen Mündlichkeit erkannt haben. Alle haben nämlich mit Nähe zu tun, entweder mit der Nähe zwischen den Kommunikationspartnern (face-to-face, Bekanntheit, Privatheit) oder der Nähe zum Kommunikationsgegenstand (Identifikation durch Emotionalität, freies Aussuchen des Themas) oder der Nähe zur entstehenden Äußerung (kein planender Abstand, keine Übersicht). Demgegenüber haben die Kommunikationsbedingungen, die durch mediale Schriftlichkeit begünstigt werden, den gemeinsamen Zug der Distanz zwischen den Kommunikationspartnern (räumlich-zeitliche Trennung, es handelt sich um Fremde, Öffentlichkeit mit großem Zielpublikum, Monologizität als Unmöglichkeit sofort zu reagieren), zum Kommunikationsgegenstand (Sachlichkeit, Themen sind durch die Gattung von außen auch der Reihenfolge nach fixiert) und zur entstehenden Äußerung (Planung und Übersicht). Planung und Übersicht ermöglichen eine überlegtere Formulierung und dadurch eine weitgehend fehlerfreie Äußerung ohne Spuren von Korrektur oder Verzögerung, zweitens einen höheren Grad der Integration von Sachverhaltsdarstellungen durch Nominalisierungen und hypotaktische Konjunktionen sowie schließlich einen höheren Grad der Komplexität bei Referenz und Charakterisierung der gemeinten Personen und Gegenstände. Diese erscheint nötig, da für Produzent und Empfänger der Mitteilung keine Situationsverschränkung besteht und bei den meisten Gattungen der Empfänger <?page no="282"?> 4. Die sprachexterne Seite 270 ein größeres, fremdes Zielpublikum ist. Außerdem erlaubt sie eine Beurteilung von der Sache her, da man sich Gedanken über die Eigenschaften des zu besprechenden Gegenstands macht und ausreichend Zeit hat, sie zu bestimmen. Themenfixierung und Monologizität bestimmen wesentlich die Globalstruktur von Texten, z.B. fehlen Kontaktsignale und Sprecherwechselsignale. Trotz der sprachlichen Unterschiede gibt es einen breiten Bereich von morphosyntaktischen Verfahren, den sich der konzeptionell schriftliche und der konzeptionell mündliche Ausdruck teilen. Bei genauerem Zusehen sind es nämlich im Wesentlichen die Faktoren der Komplexität und der Häufigkeit des Gebrauchs, die den Unterschied ausmachen. Konzeptionell schriftliche Äußerungen wie die Mehrzahl der Texte oder manche Beiträge bei politischen Fernsehdiskussionen bestehen zu einem großen Teil aus Satzgefügen, die Nominalphrasen sind komplexer, es gibt viel weniger elliptische Äußerungen. Außerdem neigt die schriftliche Sprache eher dazu, fakultative Valenzstellen aufzufüllen, und hat mehr adverbiale Angaben. Im Schriftlichen sind die Zahlbestimmungen öfter genau als in Kontexten der Mündlichkeit. Aber Verkaufsgespräche stellen eine Gelegenheit dar, bei der trotz sonstiger konzeptioneller Mündlichkeit die Zahlangaben genau sein müssen. Mündliche Nominalphrasen können alternativ entweder durch ein Adjektiv, einen Genetiv, eine Präpositionalphrase oder einen Relativsatz erweitert sein, selbst wenn diese Arten der Ergänzung des Kernnomens unter den Bedingungen konzeptioneller Mündlichkeit wohl kaum in Kombination auftreten dürften. Selbst Hypotaxen mit adverbialen Nebensätzen dürften im Bereich der konzeptionellen Mündlichkeit nicht vollkommen abwesend sein. Da im Mündlichen viele elementare Formen wenigstens erkennbar sind, die im Schriftlichen dann zu komplexen Gebilden verbunden werden (s. auch Abschnitt 4.1 dieser Arbeit), ergibt sich, dass man doch natürlich aus den Formen, die in schriftlichen Äußerungen vorfindbar sind, die Bestandteile des mündlichen Ausdrucks herausfiltern kann. Gegen diese Möglichkeit sprechen auch nicht die pragmatisch-syntaktischen Merkmale konzeptioneller Mündlichkeit. Gliederungssignale, Kontaktsignale sind nur Hinzufügungen; Satzbrüche, Fehlstarts, Verzögerungsphänomene zerstören oder besser attackieren Strukturen, die der Sprecher nun gerade über diese Störungen hinweg durchführt. Immerhin gilt als Einschränkung zu vermerken, dass segmentierte Satzformen vom schriftlichen Zeugnis her wenig zugänglich sind. Zweitens muss man bedenken, dass die Schriftlichkeit in einigen ihrer Erzeugnisse mündliche Dialoge nachahmt, etwa die Dialoge der Helden und Heldinnen in den Romanen Chrétien de Troyes' (Große 1975: 78f.; Stempel 1993: 288ff.). Wie realistisch diese Dialoge sind, lässt sich allerdings mit den Beobachtungen der Gesprochenen-Sprache-Forschung und Konversationsanalyse heute besser beurteilen. <?page no="283"?> 4.8 Charakteristik der Urkundenteile 271 Drittens gilt es für die Zielpunkte dieser Arbeit zu berücksichtigen, dass sich die Bezeichnung „gesprochenes Romanisch auf der iberischen Halbinsel vor seiner Verschriftlichung im zwölften und dreizehnten Jahrhundert“ auf die mediale Mündlichkeit bezieht. Schon die Alltagserzählung ist ein Schritt in Richtung konzeptionelle Schriftlichkeit. Roger Wright legt nahe, dass der Cid im 12. Jahrhundert noch nicht in niedergeschriebener Form vorlag, aber viele kürzere volkssprachliche Gedichte kursierten, die Teile der Cid-Geschichte zum Inhalt hatten (Wright 1982: 233). Im Folgenden soll nun betrachtet werden, wie dieser diskursive Rahmen im Fall der frühmittelalterlichen lateinischen Urkunden der iberischen Halbinsel beschaffen war. 4.8 Charakteristik der Urkundenteile nach Mündlichkeits- und Schriftlichkeitsmerkmalen Beurteilt man die Urkundenteile nach den eben dargelegten Merkmalen konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit, dann stellt man fest, dass sie großenteils dem Pol konzeptioneller Schriftlichkeit angehören. Urkunden sind Rechtsdokumente, zu deren juristischer Funktion ganz wesentlich gehört, dass sie über die Zeiten hinweg Gültigkeit bewahren. Sie sind auf zeitliche Distanz hin angelegt, was ein Kennzeichen konzeptioneller Schriftlichkeit ist. Die Texte, die den Rechtsakt bezeugen und das Verkaufs- oder Schenkungsobjekt beschreiben, weisen zudem einen hohen Planungsgrad auf, wobei allerdings die Planung zum Teil in den Formeln konserviert ist. Die Formeln stellen eine Vorleistung der Planung dar. Ebenfalls ein Kennzeichen konzeptioneller Schriftlichkeit sind die rigide Themenfixierung und die klare Monologizität. Urkunden waren durch Kopieren in Sammlungen einbindbar, sie waren aber nicht Ausgangspunkt für einen juristischen Schriftverkehr, wie er heutzutage denkbar ist. Die Anbindung an Gott und die Religion bedeutet einen hohen Grad an Öffentlichkeit - erneut also ein Merkmal konzeptioneller Schriftlichkeit. Auf der anderen Seite sollte man - und dies ermöglicht gerade das Modell von Peter Koch und Wulf Oesterreicher - die Mündlichkeitsanteile dieser Textgattung nicht übersehen. Zur konzeptionellen Mündlichkeit sind die Referenzbezüge zur Sprecherorigo zu rechnen, die in der Eröffnung durch die Formen der ersten Person Singular oder Plural in der intitulatio zum Ausdruck kommen. Deutliche Referenzbezüge bestehen außerdem zur existierenden Landschaft mit ihren verschiedenen Teilgebieten und Landmarken. Auch Formen der zweiten Person kommen durchweg ins Spiel. Der Käufer oder Beschenkte, zugleich Adressat des Dokuments, wird in den verschiedenen Teilen nicht selten mehrfach angesprochen. In gewissem Umfang hat die Gattung den Charakter eines Briefes. In den - immerhin recht seltenen - <?page no="284"?> 4. Die sprachexterne Seite 272 17 Diese Möglichkeit bedeutet neben den Grammatikalisierungskanälen und den texttypologischen und kommunikationstheoretischen Modellen eine weitere Verbesserung der Forschungsvoraussetzungen, wie sie noch für Bastardas oder Menéndez Pidal galten. Praeambulum-Passagen ist ein hoher Grad an emotionaler Beteiligung zu beobachten, selbst wenn dies mittels einer kunstvoll gesteigerten, syntaktisch komplexen Nachahmung von Mündlichkeit geschieht. Eine ähnliche bewusste Inszenierung und Imitation von Mündlichkeit kennzeichnet die heftigen Drohungen der Sanctio. Alles in allem überwiegt der Eindruck konzeptioneller Schriftlichkeit, der sich in einem entsprechenden formal-expliziten Stil niederschlägt. Allerdings wird diese anscheinend so feste, definierte Stellung durch Züge konzeptioneller Mündlichkeit aufgelockert, die den Gesamtausdruck in Richtung lebendigerer, freierer Äußerung kippen lassen können. Und diese Entzerrung impliziert eine Permeabilität für Formulierungsbausteine aus der Mündlichkeit. Das Bild, das die Analyse nach Koch/ Oesterreicher ergibt, fügt sich ein in allgemeine Charakterzüge der Epoche, die die Behauptung der Offenheit zur Oralität hin zusätzlich stützen. So fasst Ursula Schaefer Forschungserträge der 1970 er und 1980 er Jahre zusammen, indem sie bemerkt, dass „die Kultur des Mittelalters auch da, wo sie sich schon der Schrift bediente, noch von Mündlichkeit geprägt war“ (Schaefer 1993: 1). Bis heute gelten auch mündliche Rechtsgeschäfte als Verträge, und das kommunikative Umfeld mit seinen nicht-schriftlichen Vorgesprächen und Vereinbarungen ist um die Urkunde herum immer mitzudenken. 4.9 Diglossie im romanischen Mittelalter Das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit ist im europäischen Mittelalter dadurch gekennzeichnet, dass eine Sprache mit alter literarischer Tradition zunächst als alleinige, dann lange Zeit noch als mengenmäßig dominierende Schriftsprache neben der jeweiligen gesprochenen Sprache existiert. Im Südosten Europas und in Russland wird diese Stellung vom Griechischen (Kortmann 1997: 265f.) oder vom Altkirchenslavischen (Windisch 1993: 151f.) eingenommen, in den meisten Ländern beherrscht das Latein die Schriftsphäre. Nun hat die Forschung der letzten Jahrzehnte wie im Bereich der Beschreibung von Grammatikwandel so auch im Bereich der Mehrsprachigkeit einen Begriff geschaffen und ausgestaltet, der das oben skizzierte Verhältnis des Lateins zu den gesprochenen Sprachen mit anderen, geographisch und zeitlich weit entfernt liegenden Mehrsprachigkeitssituationen vergleichbar macht und dadurch ermöglicht, dieses Verhältnis im Rahmen einer allgemeinen Typologisierung zu beschreiben 17 . Gemeint ist natürlich das Konzept der Diglossie. Als gemeinsamer Nenner der verschiedenen Auffassungen, die sich <?page no="285"?> 4.9 Diglossie im romanischen Mittelalter 273 18 Statt von H und L kann man auch von „Basilekt“ und „Akrolekt“ sprechen (vgl. Raible 1996a: 121). mittlerweile um diesen Terminus herum gebildet haben, kann angesehen werden, dass Diglossie mit einer Verteilung mehrerer in einer Gesellschaft gebräuchlicher Sprachen oder Varietäten auf unterschiedliche Verwendungsbereiche zu tun hat. Um das Konzept für die theoretische Durchdringung des semi-transparenten Beobachtungsmilieus des lateinisch-romanischen Frühmittelalters fruchtbar zu machen, erscheint es nützlich, sich den Sinn der Schlüsselmodelle dieser Debatte möglichst deutlich vor Augen zu führen. Charles Ferguson (1959), der am Anfang der Diskussion steht, bezeichnet mit dem Namen „Diglossie“ eine eher außergewöhnliche Art von Sprachsituation, die er nur in einigen Sprachgemeinschaften der Gegenwart beobachtet. Als Beispiele nennt er u.a. das Verhältnis der Dialekte des Schweizer Deutschen zum Hochdeutschen oder das Verhältnis der modernen arabischen Dialekte zum klassischen Arabisch. In beiden Fällen bediene sich eine Sprachgemeinschaft zweier verwandter Sprachen, die durch eine Reihe von Unterschieden gekennzeichnet seien: (i) Verwendungsbereich (ein Großteil des Schreibens und förmliche Sprechsituationen wie Gottesdienst oder akademische Vorlesung [Hochdeutsch; klassisches Arabisch] vs. informelle Sprechsituationen wie Familienunterhaltung oder sie imitierende Texttypen [Schweizer-Deutsch; Umgangs- Arabisch]) (ii) Prestige (die eher zum Schreiben verwendete Sprache steht im Ansehen der Mitglieder der Sprachgemeinschaft höher als die für informelle Sprechsituationen gebrauchte: high variety [H] vs. low variety [L] 18 ) (iii) H ist durch einen literarischen Kanon gestützt, L dagegen nicht oder kaum verschriftlicht (iv) H muss in der Schule erlernt werden, L wird zu Hause erlernt (v) H ist durch eine Norm standardisiert, die in Grammatiken und Wörterbüchern niedergelegt wird; innerhalb von L kann sich eine Norm höchstens in einem rein mündlichen Prozess etablieren, indem ein bestimmter Dialekt zum Vorbild der anderen wird (vi) H hat ein reicheres Vokabular und vielfältigere morphosyntaktische Formen als L, aber auch weniger regelmäßige. L wird von seinen Sprechern trotzdem als chaotisch, H als geordnet betrachtet (vii) H und L haben abweichende Lautsysteme, wobei H bei phonischer Realisierung oft wie L ausgesprochen wird, wenn bestimmte H-Phoneme im Lautsystem von L fehlen (Ferguson 1959: 336) <?page no="286"?> 4. Die sprachexterne Seite 274 In der Folgezeit wurde der Begriff u.a. von John Gumperz und Joshua Fishman aufgenommen. Fishman erkannte die Möglichkeit, den Gedanken der Funktionentrennung zwischen Sprachen in einer Sprachgemeinschaft in den Mittelpunkt des Diglossiebegriffs zu stellen und dadurch das Spektrum an beschreibbaren Sprachsituationen zu erweitern, indem er die Bedingung einer historischen Verwandtschaft der diglossisch koexistierenden Sprachen aus dem Konzept herausnahm. Seiner Auffassung nach müssen die psychologisch ausgerichtete Untersuchung von Zweisprachigkeit und die soziolinguistische Untersuchung von Diglossie zusammengesehen werden. Er unterscheidet vier Situationen (1970: 75ff.): (i) „Diglossie mit Zweisprachigkeit“ herrscht nach Fishman z.B. in Paraguay, wo die Hälfte aller Einwohner Guaraní als Umgangssprache benutzen und Spanisch für eher formelle Anlässe reservieren, also beides beherrschen, aber die Funktionen trennen (dieser Gruppe ordnet Fishman auch die Situationen zu, in denen H und L verwandt sind, also die Diglossien in Fergusons Verständnis; die Verwandtschaft ist aber eben nur eine unter vielen möglichen und denkbaren historischen Verhältnissen zwischen koexistierenden Sprachen in einer Gemeinschaft) (ii) „Diglossie ohne Zweisprachigkeit“ gab es etwa im 19. Jahrhundert in Russland, wo der Adel Französisch sprach und das Volk Russisch, aber beide Teile der Sprachgemeinschaft sich gegeneinander abkapselten und die Sprache der anderen nicht oder nur rudimentär beherrschten (iii) „Zweisprachigkeit ohne Diglossie“ sieht Fishman bei Gastarbeitern, bei denen oft die Sprache der Arbeit, also die fremde Sprache des Chefs und der Arbeitskollegen, auch zu Hause verwendet wird, so dass also die Trennung bei der funktionalen Zuordnung teilweise aufgegeben wird (iv) „weder Zweisprachigkeit noch Diglossie“: „Only very small, isolated and undifferentiated speech communities may be said to reveal neither diglossia nor bilingualism“ (Fishman 1970: 88) Für Fishman ist eine (Standard-)Sprache nur eine Art von Varietät neben anderen Varietäten wie Dialekten oder Registern. Aus der Sicht zweisprachiger Sprecher stellt die andere Sprache lediglich eine funktionale Varietät unter anderen dar, bestimmt für die sprachliche Äußerung in spezifischen Situationen (1970: 22f.). Gegenüber der von Fishman ausgelösten, extremen Ausweitung des Disglossie-Begriffs hat Ferguson in einem neueren Beitrag (1991) betont, dass er zweierlei Dinge im Auge gehabt habe: Ausgang von einem klaren Fall (1991: 50) zur Definition einer besonderen, nicht unbedingt häufigen Sprachsituation; gleichzeitig aber die Perspektive der Erweiterung dieses Ausgangspunkts in andere Sprachsituationen hinein, wie z.B. Standard- Dialekt-Variation, Kreol-Kontinua, Bilingualismus oder komplexen Poly- <?page no="287"?> 4.9 Diglossie im romanischen Mittelalter 275 lingualismus wie im Libanon, wo neben Hocharabisch und gesprochenem Arabisch noch Englisch und Französisch eine Rolle spielen. Trotzdem bringt ihn die Diskussion um die Diglossie dazu, klärende, ergänzende Information zu seiner ursprünglichen Idee zu geben: Diglossie ist Fergusons Auffassung zu Folge keine Eigenschaft einer Sprache, sondern einer Sprachgemeinschaft; H und L sind Registervarianten, und zwar mehrere Register vereinigende Überregister, aber in jedem Fall keine Dialektvarianten; die Mitglieder der Sprachgemeinschaft müssen die beiden Varietäten als Stufen der selben Sprache ansehen; die komplexeren Situationen wie im Libanon sind als Untertyp von Diglossie anzuerkennen. Bis heute hält sich „Diglossie“ als eines der Schlüsselkonzepte, die Verständnis und Systematisierung der so vielgestaltigen Mehrsprachigkeitssituationen der Erde ermöglichen. Auch in jüngerer Zeit bewegt sich die Diskussion noch in der Spanne zwischen monogenetischer Beschränkung und polygenetischem Aufbrechen, die durch Ferguson und Fishman aufgezeigt worden ist (Fishman 2002). Stellt man den jüngeren, durch die Beiträge der 1990 er Jahre geklärten Fergusonschen Diglossie-Begriff der Konzeption von Fishman gegenüber und versucht, die zwei Konzepte auf das Verhältnis von Latein und Romanisch im Mittelalter anzuwenden, dann wird sichtbar, dass beide Auffassungen in unterschiedlicher Weise dazu beitragen können, diese Sprachsituation zu charakterisieren. Ferguson spricht nur von zwei Varietäten und gebraucht den Terminus allein in Bezug auf Sprachen, die miteinander relativ eng verwandt sind. Das Romanische stammt aus dem Vulgärlatein und ist über diesen Weg mit dem Lateinischen verwandt. Latein war die Sprache der Kirche und des Rechts. In Schule und Hof spielte es eine nicht geringe Rolle als Schriftsprache sowie bei förmlichen mündlichen Situationen; Romanisch fungierte als Umgangssprache. Immerhin dürfte Latein in gelehrten Kreisen ebenfalls als eine konkurrierende Umgangssprache benutzt worden sein (vgl. Wright 1982 u. Ziolkowski 1993: 196ff.). Latein war die kodifizierte „Grammatica“, es musste in der Schule erlernt werden, es konnte sich auf den repräsentativen Kanon der christlichen Literatur, der Bibel und auf einige anerkannte klassische Autoren stützen. All dies fehlte dem Romanischen. Schließlich war der Formenreichtum des Lateinischen größer als der des Romanischen, - allein schon deswegen weil im Vulgärlatein minoritäre Deklinations- und Konjugationsklassen weggefallen waren -, und die thematische Vielfalt der Bibel und der anderen literarischen Werke sicherten ihm ein immenses Vokabular, das die verschiedensten Phänomenbereiche abdeckte, wohingegen das Romanische sich manche dieser Bereiche noch nicht erobert haben dürfte. Was wie der Idealfall einer Fergusonschen Diglossie aussieht, kann in anderen Aspekten aber besser mit Fishman erklärt werden, und zwar dort, wo es um die Beteiligung der Sprecher an den Varietäten geht. Diese Beteiligung hängt nach Fishman immer mit einem Rollenrepertoire (range of compartmentalized roles) zusammen, das Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft <?page no="288"?> 4. Die sprachexterne Seite 276 zur Verfügung steht (1970: 78): Tritt jemand „als“ dieser oder jener auf, bedient er sich dieser oder jener Varietät. In diesem Sinne ist die Tatsache, dass zwischen den Systemen zweier Sprachen oft ein größerer Unterschied besteht als zwischen den Systemen zweier Dialekte, weniger relevant als die Zuordnung der Varietät zu einer bestimmten Funktion. Und genau diesem „Übersehen“ und Nivellieren der internen Systemunterschiede zugunsten der Verteilung von Sprachen auf gesellschaftliche Domänen wird Fishmans Auffassung stärker gerecht als die von Ferguson. Für einen Priester oder Juristen war „Latein“ einfach eine der Varietäten, auf die er bei dafür vorgesehenen Gelegenheiten zurückgriff. Diese Anlässe zu kennen und sprachlich zu bewältigen, erschien ihm sicherlich wichtiger als die genaue Einordnung der Varietät, die er dazu benutzte. Dann stellt sich die Frage, inwieweit Latein und Romanisch überhaupt als zwei verschiedene Sprachen aufgefasst wurden. Im Anschluss an neuere Tendenzen einer extensionalen Semantik vertritt Paul Lloyd die These, dass es nicht von einer Erkenntnis der Unterschiedlichkeit abhängt, ob man eine bestimmte Sprachform im Vergleich zu anderen als „Sprache“ bezeichnet, sondern dass sich dies aus einem bewussten Zuschreibungsakt ergibt, der die Form einer willkürlichen Entscheidung hat (1991: 13). Lloyd und Janson (1991) verweisen auf ihre Erfahrungen mit dem Arabischen, dessen klassische Form dem gesprochenen nicht näher stehe als das Latein dem Romanischen, ohne dass man beschlossen hätte, den neueren Formen einen anderen Namen zu geben: „Why do people in Spain and France not talk Latin? After all, people in England still speak English (…) The Greeks still speak Greek, just like they did even before Roman times. People in Northern Africa speak Arabic, just as they did 1,500 years ago“ (Janson 1991: 19). Änderung von Sprachnamen, Wahrnehmung und Bewertung von Dialekten und Soziolekten, die Änderung der Einstellung gegenüber Entlehnungen sind nach Janson Teil eines umfassenden metasprachlichen Wandelprozesses. Im Fall von Latein und Romanisch seien es externe Faktoren gewesen, die den Namenswandel bewirkt hätten. Während im 7. und 8. Jahrhundert dem Schriftlatein eine Reihe namenloser lokaler Dialekte gegenübergestanden hätten, habe man in der Zeit der Expansion von Bevölkerung und Wirtschaft im 11. bis 13. Jahrhundert in einem langwierigen Prozess zu einer allmählichen Änderung des Namens gefunden. Dieser Name - „Romanisch“ - sollte die neu entstehenden Schriftsprachen bezeichnen, durch die sich der Adel gegenüber der Kirche behaupten wollte (Janson 1991: 25). Wenn diese These auf Grund der Gattungsverteilung der ersten volkssprachlichen Texte (Sermons de Strasbourg vs. Cantilène de Ste Eulalie, Cid vs. Auto de los Reyes Magos, Sizilianische Lyrik vs. Cantico del frate sole usw.) auch nicht haltbar ist, so zeigt doch die genaue empirische Darlegung von Bodo Müller (1996), dass die Namengebung allerdings auf Identifikationsprozessen beruht haben musste. Generell hielt sich der Name LATINUM lange, um sowohl die lateinische Schriftsprache als auch die romanische Umgangssprache <?page no="289"?> 4.9 Diglossie im romanischen Mittelalter 277 zu bezeichnen (Müller 1996: 135). Speziell im Fall von Spanien beobachtet man (asp.) latin(o) und (akat.) latí bis ins 14. Jahrhundert als Bezeichnung für die Volkssprache. latino(s) und ladino(s) treten besonders häufig „in der alfonsinischen Geschichts- und Rechtsliteratur“ (Ibid.: 135) auf. Diese Namen sollen den Unterschied zu den Nicht-Romanen betonen, den arábigos, griegos, ebraicos, godos. Dabei war die Sprache insofern Vehikel der Identifikation, als auch ein Araber oder Jude latino werden konnte, wenn er lernte, Romanisch zu sprechen. ROMANUM seinerseits hat eine Geschichte, die weiter zurückreicht als bis ins 9. Jahrhundert. Seit der Verleihung des römischen Bürgerrechts an die gesamte Bevölkerung des Reiches unter den Severern 212 n.Chr., stand der Name ROMANI für die große Weltgemeinschaft der römischen Bürger (Ibid.: 137). Als Sprachbezeichnung LINGUA ROMANA war sie seit ältesten Zeiten neben LINGUA LATINA im Gebrauch, war dabei allerdings gerade nicht weltoffen-politisch, sondern rückwärtsgewandt und sprachpuristisch zu verstehen (Ibid.: 137). Erst die aus dem Adverb ROMANICE abgeleiteten romanischen Wörter (akat.) romans, (asp., gal.-port.) romance u.a. beziehen sich eigentlich, oder jedenfalls ohne Zusätze wie rustica, auf die Volkssprache. ROMANICE tritt allerdings nicht vor dem 11. Jahrhundert auf (Ibid.: 138). Dies führt alles in allem zu einem Bild wechselhafter Beziehungen. Je nach Anlass war es möglich, Romanisch dem Latein gegenüberzustellen - beim Bischofskonzil von Tours etwa - oder umgekehrt Sprech- und Schreibsprache als zwei Versionen ein- und des selben anzusehen, sie zu einem Ganzen zusammenzunehmen und anderen, stärker abweichenden Sprachen gegenüberzustellen. Mögen die äußeren Gründe für solche Schwankungen sprachpflegerischer oder politischer Natur sein, ihre prinzipielle Möglichkeit beruht auf der Beschaffenheit menschlichen Sprachbewusstseins. „Metasprachlicher Wandel“, wie Janson sagt, hat mit dem externen Sprachbewusstsein zu tun (Gauger 1976: 51). Diese Seite des Sprachbewusstseins betrifft die „Einstellung der Sprechenden zu ihrem Sprachbesitz“ (Ibid.: 51; vgl. auch Fishman 1970: 24ff.). Der eigentliche Sprachbesitz, das Wissen um Wortschatz und Grammatik, gehört dem internen Sprachbewusstsein an. Hans- Martin Gauger macht dabei auf einen bemerkenswerten Umstand aufmerksam. Der Sprachbesitz gehört nicht ins Bewusstsein, sondern eher ins „Vorbewußte“ (1976: 52ff.). Gauger übernimmt diese Unterscheidung von Siegmund Freud. Das Vorbewusste umfasst alles, was zwar bewusstseinsfähig ist, wie Grammatikregeln und eingeschränkt auch Wortbedeutungen (Ibid.: 46f.), aber nie als ganzes bewusst ist. Dies schließt nun ein, dass es auch nie als ganzes überschaut werden kann. Dem naiven Sprecher war es gar nicht möglich, Latein und Romanisch miteinander zu vergleichen, da es dazu einer schriftunterstützten, eingehenden Analyse bedurft hätte. Um das geschriebene Latein und das gesprochene Romanisch in ihrem gegenseitigen Verhältnis einordnen zu können, musste er sich allemal auf sein Gespür verlassen. Und <?page no="290"?> 4. Die sprachexterne Seite 278 19 Der bloße Eindruck von Sprachverwandtschaft impliziert noch keine problemlose gegenseitige Verständigung. So mag einem Deutschen das Dänische als eine mit dem Deutschen verwandte Sprache erscheinen, ohne dass er es deswegen mehr als nur rudimentär verstehen muss. Die rezeptive Kompetenz gehört in die Kommunikation selber, während das Urteil über Verwandtschaft und Fremdheit auf einer metasprachlichen Ebene angesiedelt ist. Davon ist auch die gängige Praxis von linguistischen Observern zu unterscheiden, wechselseitiges Verstehen als Probe auf den Sprachenstatus von Varietäten einzusetzen. Es geht im vorliegenden Kontext ja gerade um das sprachliche Urteil von Participants des Mittelalters, denen die Voraussetzungen fehlten, ihren Participantstatus zu übersteigen und als Observer der in Frage stehenden H- und L-Varietät zu agieren. dieses Gespür dürfte immerhin von der Tatsache einer ganzen Reihe ähnlicher Wörter in beiden Sprachformen beeindruckt worden sein. Die Unüberschaubarkeit der phonetisch-grammatischen Strukturen bei spürbarer lexikalischer Verwandtschaft 19 also konstituierte einen relativ breiten „Manövrierraum“ für metasprachliche Definitionen. Mit Müller zu schließen scheinen die Gleichsetzung von Romanisch und Latein und ihre Abtrennung voneinander im 13. und 14. Jahrhundert auf der iberischen Halbinsel koexistiert zu haben. Ob der skizzierte Spielraum für die Zeit davor aber bedeutet, dass es kein externes diglossisches Bewusstsein gab, ist stark zu bezweifeln. Denn in der ursprünglichen Konzeption Fergusons ging es ja gerade darum, dass es sich bei H und L immer um zwei Sprachen handelt, die faktisch miteinander verwandt sind! Obwohl also auch schon im Frühmittelalter ein Gespür für die Verwandtschaft bestanden haben dürfte, kann mit der Funktionentrennung zwischen Latein und romanischer Volkssprache jederzeit eine Unterscheidung in zwei Sprachen einher gegangen sein. 4.10 Zu den Thesen von Roger Wright Einer der stärksten Kritiker der Diglossie-Auffassung für das lateinisch-romanische Mittelalter ist in den letzten Jahren der englische Linguist Roger Wright geworden. Wright hat in seinem Buch „Late Latin and Early Romance“ (1982) die These vorgebracht, dass die Sprache der lateinischen Texte vor den großen Reformeinschnitten (Karolingische Renaissance um 800, Cluniazensische Reform im Anschluss an das Bischofskonzil von Burgos 1080) eigentlich Romanisch gewesen sei. Die Wörter der lateinischen Urkunden, Chroniken und Gedichte der vorkarolingischen bzw. vorcluniazensischen Zeit seien gemäß den neuen Lautsequenzen ausgesprochen worden, die sich infolge des romanischen Lautwandels ergeben hätten. Die lateinisch anmutende Graphie verstelle diese Tatsache. Wright entfaltet seine These in einer detaillierten Argumentation. Danach ist „Latein“, wie wir es heute kennen, eine Erfindung der karolingischen Renaissance (Wright 1982: ix). Das Spätlatein der Schriftdokumente sei nichts anderes als eine stilistisch hoch stehende Form des Romanischen, und <?page no="291"?> 4.10 Zu den Thesen von Roger Wright 279 Mittellatein stelle demgegenüber einen Neuansatz dar, in dem Bewusstsein, dass man es mit einer anderen Sprache zu tun habe. Vor der karolingischen Reform seien die Worte nicht Buchstabe für Buchstabe gelesen worden, sondern ein bestimmtes optisches Bild habe als Gesamteindruck eine bestimmte Lautfolge repräsentiert. Hier zieht Wright einen Vergleich mit der Orthographie des modernen Englischen (Ibid.: xi u. passim). Die morphologische Abwandlung von Wortformen sei vor der karolingischen Reform eine reine Frage der Realisierung des überkommenen Schreibsystems gewesen. Vieles an den optisch wiedergegebenen Flexionsvarianten eines Worts sei nicht ausgesprochen worden (Ibid.: 42), worin Wright eine Parallele zum modernen Französisch sieht (Ibid.: x f.). Für den Schreiber unterschied sich das Problem einer Einsetzung von -buin nominale Pluralformen mit ablativischer Funktion nicht von dem Problem der Einsetzung eines stummen, parasitären -n- (-buin annibus wie -nin Herculens). Zur Stützung seiner These greift Wright das mittlerweile recht gut etablierte Wissen zu Sinn und Konsequenzen der Initiativen der karolingischen Reform auf. Danach führte ihr Inspirator und Organisator Alcuin das buchstabenweise Entziffern des lateinischen Schriftbildes ein. Aus seiner Heimat England hatte er die Gewohnheit mitgebracht, das dem Englischen fern stehende Latein Buchstabe für Buchstabe zu lesen (Ibid.: 98ff.). In dem Traktat De orthographia (Ibid.: 108ff.) wandte sich Alkuin gegen die Art und Weise, wie die Bibel zur damaligen Zeit in der Messe der fränkischen Kirchen gelesen wurde. Liturgiekritik stand im Zentrum karolingischer Reformabsichten. Mit der karolingischen Minuskel wurde ein neuer Schrifttyp eingeführt, bei dem Buchstaben im Unterschied zur merowingischen Geschäftsschrift getrennt voneinander geschrieben wurden. Durch die buchstabenorientierte Form des Lesens sei den Sprechern des Französischen mehr und mehr bewusst geworden, wie sehr sich ihr alltägliches Idiom eigentlich vom Latein unterschied. Die neue Norm schuf den Boden für eine vollkommene konzeptuelle Trennung beider Sprachen und regte die Schaffung von Texten auf Altfranzösisch an. Diese Texte wurden gerade in den Zentren der karolingischen Reform geschaffen, da ihre Konzeption eine außerordentliche Könnerschaft im Umgang mit Sprache und Schrift verlangte (Ibid.: 129 u. 133). Wright betont den experimentellen Charakter dieser frühen Texte: „experimental semiphonetic manner“ (Ibid.: 126). In Spanien habe sich, um ein paar Jahrhunderte verzögert, ein ähnliches Szenarium wiederholt. Die prägenden Strömungen waren dabei zunächst die Überreste der isidorischen Tradition der Sprachpflege in Andalusien sowie Einflüsse der karolingischen Reform in Katalonien seit der Errichtung der sogenannten Marca Hispanica. Auch die Rioja stand in Kontakt mit Frankreich. Nicht nur, wie Wright zeigt, durch die Anerkennung der französischen Könige als Herren seitens der Klostergemeinschaften und durch den Pilgerweg nach Compostela (Ibid.: 190), sondern zusätzlich durch Beziehungen zu aquitanischen Klöstern (Segl 1974: 30ff.). Um Vigila in Albelda gruppierte <?page no="292"?> 4. Die sprachexterne Seite 280 sich ein sprachpflegerischer Kreis, den Wright als karolingischen Zentren vergleichbar ansieht (1982: 205). In diesem Milieu entstanden die ersten romanischen Schriftstücke auf der Iberischen Halbinsel: die Glosas Emilianses im Kloster San Millán und die Glosas Silenses im kastilischen Kloster Santo Domingo de Silos nahe der Rioja. Lange Zeit verschlossen sich jedoch Kastilien und León einer Änderung ihrer westgotisch-lateinischen Traditionen. Ähnlich der merowingischen Geschäftsschrift bot die westgotische Kursive nach Wrights Darstellung günstige Voraussetzungen für eine ganzheitliche Zuordnung von Schriftbild und Aussprache. Die westgotische Liturgie wurde im 7. Jahrhundert mit Hilfe von Messbüchern durchgeführt, deren Lektüre eine ähnliche, nicht dem Schriftbild genau entsprechende Vorlesepraxis nahegelegt habe wie in den fränkischen Messen vor der karolingischen Reform (Ibid.: 73ff.). Die Ersetzung dieser Liturgie durch die römische sei schließlich zum Schlüsselereignis geworden, das die Verhältnisse verändern sollte. Träger der Reform waren die Kluniazenser, die vermutlich nicht aus dem Bedürfnis eigener Expansion, sondern gefördert durch die leonesischkastilischen Könige ins Land kamen (Ibid.: 209f.; Segl 1974: 47ff.). Sie setzten ein Konzil in Burgos 1080 durch, das für alle Diözesen des Reiches die Einführung der römischen Liturgie bestimmte. Trotz dieses Beschlusses dauerte es noch etwa 150 Jahre, bis das Studium des Lateins den Wert gewann, dem ihm die karolingischen Reformen in Frankreich sehr schnell verschafft hatten. Auf einem Konzil in Valladolid 1228 legte Ferdinand III. von Kastilien und León fest, dass jeder Priester solide Lateinkenntnisse haben müsse und ein Netz von Lateinschulen über das Land ausgebreitet werden solle (Wright 1982: 255f.). Erst dadurch sei das Latein in Spanien in die festen Formen des buchstabenweisen Aussprechens gebracht worden, der Unterschied war definitiv begründet und der Weg frei für die kontinuierliche Ausbildung einer romanischen Schriftsprache als erkennbarer, eigenständiger Konkurrentin zur lateinischen. Selbst wenn nun diese Darlegungen im Folgenden kritisiert und ihre Konsequenz zurückgewiesen werden soll, darf hier die Gelegenheit nicht versäumt werden, eines herauszustellen: Wright ist mit seinem Buch ein bewundernswertes Werk gelungen. Mit großer Fachkenntnis und erzählerischen Fähigkeiten wird hier ein beeindruckendes Panorama mittellateinischer Schriftkultur entfaltet, vor dessen Hintergrund die ersten altfranzösischen und altspanischen Texte entstanden, wobei gleichzeitig auch die allgemeinen kulturhistorischen Bedingungen detailliert beleuchtet werden. Bis heute hat diese Seite seiner Darstellung ihren unbestreitbaren Wert. Zur (negativen) Kritik: Die Graphie verdeckt nach Wrights Ansicht nicht nur den Lautwandel im Bereich des Wortstamms, sondern auch den Wandel der lateinischen Deklinations- und Konjugationsendungen zu den romanischen Formen. Dies zeigt er ausdrücklich, indem er eine Urkunde in phonetischer Umschrift transkribiert (Ibid.: 166f.). Beispiele: <?page no="293"?> 4.10 Zu den Thesen von Roger Wright 281 geschrieben: ideo placuit mici atque conuenit gesprochen: [íjoplógomíe ekombine] geschrieben: set probria mici acesi uoluntas gesprochen: [sepróbrja míeatseze voluntade] geschrieben: in Dei nomine gesprochen: [en die nuemne] geschrieben: ut uinderem tjui Iam dicte Fredesinde gesprochen: [ovendjéretíejadijtafredzínde] Entsprechend der Beobachtungsabsicht der vorliegenden Untersuchung bedeutet diese Interpretation nun nicht, dass die gesprochene romanische Sprache für den Zeitraum zwischen 800 und 1250 leichter rekonstruierbar würde, etwa wie das gesprochene Spanisch des vierzehnten Jahrhunderts aus den Texten jener Zeit herausgefiltert werden kann. Die Beschreibungssituation wird vielmehr noch schwieriger als unter der Annahme eines Eindringens von romanischen Anteilen in lateinische Schriftstücke, da sie unsicher wird. Folgte man Wrights Ansicht, dann würde das Schriftbild eines Textworts keine Auskunft mehr geben über seine tatsächliche morphologische Beschaffenheit (<voluntas> [voluntade], <dicte Fredesinde> [dijta fredzinde]). Deswegen schränkt die These von Wright, die scheinbar eine günstigere Situation für die Rekonstruktion mündlicher Sprache schafft, die Aussagemöglichkeiten der empirischen Befunde in den Urkunden in Wahrheit ein. Immerhin muss man Wright zugestehen, dass das Vorbild des Englischen, Französischen und Neugriechischen deutlich macht, wie stark Graphie und Aussprache bei einer mächtigen orthographischen Tradition voneinander abweichen können. Im Französischen werden sogar morphosyntaktische Merkmale von Worten rein optisch angezeigt. Warum sollte also nicht im Lateinischen nach einer größeren Zahl von Jahrhunderten Schreibtradition das selbe möglich sein? Die graphisch beobachtbaren Fehler bei der Benutzung des cas sujet im Altfranzösischen, die wahrscheinlich mit dem fortschreitenden Verstummen des Endungs-s zusammenhängen, zeigen, dass eine rein graphische Realisation morphosyntaktischer Merkmale selbst dann möglich ist, wenn der Parameter „Kasus“ betroffen ist, denn in der Zeit, in der diese Fehler passieren (13.-15. Jahrhundert), ist das Endung-s des Singulars des cas sujet der ersten maskulinen Deklination offenbar nur noch ein rein graphisches Zeichen. Wo es gesetzt wird, hat der Verfasser oder Schreiber das System begriffen und graphisch umgesetzt, wo es fehlt, obwohl es gesetzt werden musste, hat die Aussprache den Schreiber so beeinflusst, dass er die Beachtung des Systems vergaß. Dies führte bekanntlich im Spätmittelalter dazu, dass das System schließlich gar nicht mehr durchschaut wurde (vgl. Guiraud 1980: 96f. u. Schøsler 1984). Es erscheint also prinzipiell möglich, etwa eine richtig gebrauchte -ibus-Endung in einem lateinisch wirkenden Text als rein graphische, aber nicht mehr hörbare Anzeige eines Ablativ <?page no="294"?> 4. Die sprachexterne Seite 282 oder Dativ Plurals zu deuten. Eine falsch gebraucht -ibus-Endung wäre dann so zu interpretieren, dass der Schreiber das ihm vom Schreiben her vertraute System unter dem Einfluss der Lautung stellenweise nicht realisiert oder aber überhaupt nicht durchschaut. Es sprechen jedoch einige prinzipielle Überlegungen gegen Wright. In Urkunden aus León und Kastilien kommen immer wieder Schwankungen der Graphie vor, etwa zwischen <donacio> und <donatio>, <aiaciencia> und <adiacentia<, <allia> und <alia>, <iusit> und <iussit>, <inspirabit> und <inspirauit> u.ä. Warum? Ein konservatives, also etymologisches statt phonetisches Orthographie-System kann sich keine Schwankungen leisten. Es beruht gerade darauf, dass ein kanonisches Schriftbild streng eingehalten wird. Schwankungen dürften ihre Motivation in der Anpassung von Buchstaben an eine Aussprachepraxis haben. An solchen Stellen erkennt man das Wirken eines phonetischen Gestaltungsprinzips. Heißt das etwa, dass hier vereinzelt versucht wurde, die Graphie zu reformieren? Wohl nicht, denn eine Reform der Schreibweise wäre kontrolliert vorgegangen und das heißt, alle Worte eines Schriftstücks wären nach den Regeln der neuen Graphie realisiert worden. Vermutlich muss man von den psychischen Vorgängen bei einem Schreiber ausgehen. Es konnte ja sein, dass ein Schreiber nicht genau wusste, wie ein Wort geschrieben wird, und sich manchmal an die Aussprache klammerte. Aber wieso konnte er dies überhaupt? Die Entsprechung „ein-Buchstabe <-> ein-Laut“ war doch gar nicht mehr gegeben. Wieso wusste der Schreiber, welche Buchstaben er zur Wiedergabe der Lautung verwenden musste, um sich aus der Verlegenheit seines Nicht-Wissens zu retten? Wright geht davon aus, dass etwa sonorisierte intervokalische Konsonanten auch reine Schreibfehler hätten sein können: „The fact that the forms prescribed by the writing manuals (…) are sometimes misspelt (…) is not in the least surprising. Archaic vocabulary (including morphemes) is not per se immune from spelling lapses“ (Wright 1982: 172). Aber warum sehen solche Schreibfehler dann immer so aus, dass für <-t> ein <-d> und für ein <-c> ein <-g> geschrieben wird? Warum wurde nicht auch einmal ein <-b> für ein <-t> geschrieben oder ein <-m> für ein <-c>? Also <cingibur> statt <cingitur> oder <lamuna> statt <laguna>? Es besteht kein Zweifel: Vor allem in den Urkunden des sogenannten „latín vulgar leonés“ (Menéndez Pidal 1986: 454 ff.) wurde lange vor dem Konzil von Burgos ein Latein geschrieben, das auf eine Handhabung von Buchstaben nach dem phonetischen Prinzip schließen lässt. Und dieses Latein zeigt die Endungen der klassischen Sprache, wenn auch oft in abweichender Verwendung. Wrights Beurteilung vorkarolingischer Schriften erkennt Aspekte, die in seine Richtung weisen, übersieht aber andere: „The use of such litterae [sc. einzelner, getrennter Buchstaben] depends closely on both the legibility and the consistency of the written texts to be read. Not only should the words be spelt correctly, but each individual letter had to be immediately recognizable in order to aid the reader. Pre-Carolingian scripts were of at least <?page no="295"?> 4.10 Zu den Thesen von Roger Wright 283 20 Es ist außerdem zu bedenken, dass in den meisten Kopien aus dem 12. und 13. Jahrhundert viele lateinische Endungen gar nicht ausgeschrieben, sondern durch Kontraktionen wiedergegeben sind. Dies konnte ich auf meiner Archivreise 1994 feststellen. Wo nun die Originale gar nicht erhalten sind, wie kann Wright für die Textsorte „Urkunde“ behaupten, dass Buchstaben in Endungen nicht gelesen wurden? Waren das ausgeschriebene Endungen oder Kontraktionen? Unter welchen optischen Vorgaben genau wurden die Endungen romanisch ausgesprochen? Gab es wirklich viel scriptio continua in den Originalen? Standen die Kontraktionen schon in den Originalen? Dann müssten also diese Kontraktionen romanisch ausgesprochen worden sein. Für viele einzelne Dokumente könnte Wright nicht kontrollieren, wie sie in ihrer Zeit wirklich geschrieben wurden. a dozen varieties; several were cursive, and not all were easy to read even at the time (…). In addition, manuscript punctuation was eccentric when it existed at all, with words sometimes not divided from each other, or split arbitrarily“ (Wright 1982: 114). Dass für buchstabenweises Lesen jeder Buchstabe erkennbar sein muss, ist klar. Wenn ein Wort nur grob als ganzes erkannt werden muss, mag es sein, dass man den ein- oder anderen Buchstaben auch einmal nicht entziffern kann. Wenn man aber Worte willkürlich trennt oder manchmal zusammenschreibt, dann kann ein Leser gerade nur durch buchstabenweises Entziffern die einzelnen Worte auseinander halten. Ich möchte ein Beispiel geben, das ich der oben schon einmal erwähnten Urkunde des Archivo Condal aus dem Jahr 918 entnehme (vgl. Kap. 4.3). Dieses Dokument bietet mehrere scriptio-continua-Passagen. Manche hören mit einer Wortgrenze auf: deheredibus = de heredibus, cuiusliuethomo = cuius liuet homo. Andere aber zertrennen die Einheit von Wörtern oder Namen: el de verta = Eldeverta. Und wer könnte ein Textsegment wie quodsiegoiamdictafemina = quodsi ego iam dicta femina entwirren, wenn er aus dieser Masse nicht einzelne Buchstaben herauslesen könnte? Dass sich eine so lange Wortverbindung wie diese oft genug wiederholt haben soll, dass jeder Leser ihr quasi täglich begegnete, ist angesichts der im Vergleich zu heutiger Textproduktion doch eher raren Verfassungsanlässe für Urkunden kaum glaubhaft. Selbst ein Jurist wird Gesetzestexten häufiger begegnet sein als dieser Formel. Es ist also unwahrscheinlich, dass die Formel als ganze, global und logogrammartig wiedererkannt wurde. Wer sie lesen wollte, konnte dies nur über den Umweg der Entzifferung der einzelnen Buchstaben leisten. Ganzheitliches, logogrammatisches Wiedererkennen verlangt zumindest, dass die Worte optisch getrennt sind. Scriptio continua ist prinzipiell kein Gegenargument gegen buchstabenweises Lesen. So benutzten sie die Griechen in der Anfangszeit, also der Phase einer phonetischen Graphie. Es ergibt sich also durchaus ein doppeldeutiges Bild, und man müsste Wright gegenüber genauer fragen, ob die Passagen mit scriptio continua und die mit unleserlichen Buchstaben markant häufig zusammenfallen 20 . Rekonstruieren wir die Wright’sche Version der Verwendung von Abkürzungen oder Endungen! Zuerst: Warum sollte der Verfasser beim Diktat <?page no="296"?> 4. Die sprachexterne Seite 284 lateinische Endungen artikulatorisch-hörbar hinzufügen, die später beim Verlesen der Urkunde gar nicht mehr ausgesprochen würden? Dann müsste man vermuten, dass er diese Endungen eben nicht aussprach und sie erst vom Schreiber während des Dikats hinzugefügt wurden. Der Schreiber könnte Kontraktionssymbole benutzt oder aber die Endungen voll ausgeschrieben haben. Beide, sowohl Kontraktionen als auch ausgeschriebene Endungen, hätten ihm als nicht-sprachliche, rein graphische Minimalzeichen gedient, mit deren Hilfe Kasusrelationen und andere grammatische Informationen markiert werden konnten. Es wäre dann der Verantwortung des Schreibers anheimgestellt gewesen, die grammatischen Relationen zu beachten und einzufügen. Dies wäre in der Tat die gleiche Situation wie im Fall der französischen orthographe grammaticale. Mit zwei Unterschieden. Dem bedenklichen, dass ein weiterer Parameter, die Kasus, rein optisch markiert werden muss! Und dem sehr bedenklichen, dass in den Urkunden nicht immer die selbe Funktion durch das selbe Kasuszeichen markiert wird. Die orthographe grammaticale dagegen ist durch feste Regeln bestimmt. Wrights Aussprachethese bewährt sich nicht immer in konkreten Proben. So hält Thomas J. Walsh (1991) Wright entgegen, dass relativ korrektes Latein - wie man es eben in vielen Texten ekklesiastischer Provenienz findet (Ibid.: 207) -, wenn es laut gelesen wird, ohne dass man die Endungen ausspricht, schnell zu einem sinnlosen Geschnatter (gibberish) wird, weil die Endungen die Relationen zwischen den einzelnen Worten anzeigen (Ibid.: 208). Nun kommt aber ein sprachexterner Gesichtspunkt dazu, der Wrights Überlegungen zu stützen scheint. Die Personen, die an dem durch eine Urkunde jeweils dokumentierten Rechtsakt beteiligt waren, mussten ein Bedürfnis haben, das Rechtsdokument zu verstehen, wenn es vorgelesen wurde. Warum hätte man diese Verständlichkeit mit der Zeit verstellen sollen? Dagegen bleibt immerhin zu sehen, dass etwa in Deutschland die Urkundentradition zunächst lateinisch war, obwohl doch nicht angenommen werden kann, dass die Laien Latein von ihrer eigenen Sprache aus verstehen konnten. Demgegenüber lässt sich wieder einwenden, dass die germanische Rechtstradition den magischen Symbolwert der Urkunde noch viel höher einschätzt als die romanische. „Im fränkisch-deutschen Bereich erscheinen zwar zunächst sowohl Carta wie Notitia, aber in dem Maße, wie die antiken Kulturformen hier verlorengehen, erfahren sie sehr eigentümliche (…) Wandlungen. Mit Ausnahme der staatlichen Spitze (also des Königtums) gehen dabei Sinn und Begriff des Urkundenbeweises allmählich immer mehr verloren. Die alte Auffassung, daß Recht nur durch rechtssymbolische Handlung geschaffen werden kann, nicht durch <<Schrift>>, setzt sich, der spätgermanischen Kultursituation entsprechend, wieder durch. Der Carta sowohl wie der Notitia wird daher ein rechtssymbolischer Wert unterstellt: nicht mehr die Schrift, sondern die traditio cartae, die rechtssymbolische Handlung der Übergabe des Pergaments erscheint als der maßgebende Akt. Damit wird <?page no="297"?> 4.10 Zu den Thesen von Roger Wright 285 der geschriebene Inhalt immer unwichtiger“ (v. Brandt 1992: 85). Wenn dies nun in der germanischen Sphäre so gewesen sein mag, dann kann man von ähnlichen Praktiken in den Ländern mit einer stabilen, alt eingesessenen römischen Rechtstradition nicht notwendig ausgehen. Wichtiger noch als dieser kulturelle Unterschied ist jedoch ein anderer Umstand, den Martin Hartung hervorhebt: „Sehen wir […] die magisch-religiöse Welt des archaischen Menschen geradezu charakterisiert durch die augenfällige, scheinbar unauflösliche Verflechtung von Profanem und Heiligem“ (Hartung 1993: 111). Unter diesen Umständen war es denkbar, dass man den nüchternen, profanen Inhalten des Textes, trotz des magischen Symbolwerts der Urkunde, noch eine gewisse Aufmerksamkeit schenkte, denn der profane Gebrauchswert, den die Gebiete und Besitzverhältnisse erschließende, rekonstruierende Lektüre der Urkunde darstellte, und die magische Belegkraft ergänzten einander und widersprachen oder verdrängten sich keineswegs. Wenn der Inhalt zählte, musste er verstanden werden. Allerdings ist es dazu nicht nötig, in dem Text eines Dokuments selber maximale Ähnlichkeit zur mündlichen Umganggsprache herzustellen. Dies wird im Folgenden zu zeigen sein. Dabei werden wir gleichzeitig ein genaueres Bild der mittelalterlichen Diglossie zwischen Romanisch und Latein entwerfen. Die Aussprachethese von Roger Wright ist alles in allem abzulehnen, seine Überlegungen zur externen Sprachgeschichte hingegen lassen sich in eine Präzisierung der hier vertretenen Diglossieauffassung einbinden. Das Konzept von Ferguson aufgreifend sind Vulgärlateinforscher und nicht wenige Romanisten geneigt, schon seit der Spätantike von einer Diglossie auszugehen. Wrights Thesen legen nahe, dies zu bezweifeln oder mindestens zu relativieren. Dabei könnte nicht nur die Aussprachedifferenz zwischen Schriftlatein und gesprochenem Latein vor den Reformjahrhunderten wesentlich geringer gewesen sein, als es meistens angenommen wird, sondern auch die grammatische. Michel Banniard deutet in einer Übersicht (2003: 552) an, dass es möglich ist, dass sich der Kasusverfall und damit verbunden der Quantitätenkollaps bis ins 8. Jahrhundert hingezogen haben, wobei im ganzen ehemaligen Reichsgebiet auch nach 800 weiterhin eine Zwei- oder Dreikasusdeklination praktiziert worden sein soll. Die Artikelentstehung wird erst in die Zeit vom 8. bis zum 12. Jahrhundert verlegt. Ähnliche Auffassungen speziell für Spanien vertreten Manuel Díaz y Díaz (1998) und Juan Bastardas (1953). Demnach hätte die Volkssprache dem Schriftlatein noch längere Zeit recht ähnlich gesehen. Nichtsdestoweniger wurden, wie Banniard (1992: 2003) darlegt, ab dem 3. Jahrhundert in der Schriftsprache niedere stilistische Niveaus ausgebildet, die eine vertikale Kommunikation zwischen Gebildeten und Nicht-Gebildeten trugen und somit indirekt den Abstand zwischen den verschiedenen Varietäten belegen. Verhindert ein solches stilistisches Kontinuum Diglossie? Keineswegs! Dies zeigt das Beispiel des Kreolkontinuums, dessen Mesolekte nicht verhindern, dass ein Akrolekt und ein Basilekt existieren, die stark miteinander <?page no="298"?> 4. Die sprachexterne Seite 286 kontrastieren. Wenn unter diesen Umständen die Sprachloyalität zum Basilekt oftmals bedroht erscheint, dann durch weit gehende Möglichkeiten moderner sozialer Mobilität, die im spätantiken römischen Reich und im spanischen Frühmittelalter gerade nicht gegeben waren (vgl. Flasch 1986: 23ff.). Man muss deswegen davon ausgehen, dass seit der Spätantike eine stabile Diglossiesituation bestand. Im merowingischen Frankreich war sie vermutlich schwächer ausgebildet als im westgotischen Spanien, da dort der Einfluss der Schule Isidors für ein hohes Niveau der Schriftsprache sorgte. In Frankreich wurde die Situation durch die Reformen von Alcuin gegen 800 verschärft. Banniard zu Folge änderten sich die Bedingungen für die vertikale Kommunikation. Wenn man das Niveau des Lateins hoch hielt (sermo politus), wurden neue Themen beim Vorlesen von Nicht-Gebildeten nur noch rudimentär verstanden, bekannte Themen immerhin mittelmäßig; das weiterhin aufrechterhaltende Kommunikationsniveau des sermo rusticus ermöglichte bei neuen Themen wenigstens ein mittelmäßiges Verstehen, bei bekannten dagegen ein ausreichendes (2003: 548). Trotz der Öffnung durch den sermo rusticus wird man von einer Verstärkung oder Verschärfung der Diglossiesituation sprechen müssen. Und es ist eben dies, was sich zwischen 1080 und 1230 in Spanien wiederholte. Das bedeutet aber nicht, dass vorher keine Diglossiesituation bestanden hätte. Sicherlich ermöglichte die Schriftproduktion in den nördlichen Gebieten zwischen 775 und 1100 eine bessere Durchlässigkeit im Verhältnis zur Volkssprache. Dennoch wurde ein Text unter diesen Umständen noch nicht ohne Weiteres verständlich, wenn man ihn vorlas. Urkunden etwa waren kein Gegenstand der Alltagskommunikation, dafür waren die Anlässe für ihre Produktion zu spärlich, war ihr wechselnder Hörerkreis in je privatem Kontext zu klein. Routiniertes Rezipieren konnte auf diese Weise bei den Ungebildeten und Analphabeten nicht entstehen. Bedenkt man die Komplexität der stark integrativen Urkundensyntax, dann liegt eher nahe, dass die Inhalte durch einen rein mündlichen Vereinfachungsstil vermittelt wurden, in dem sie während der Verlesung noch einmal Schritt für Schritt erklärt wurden, als dass man annehmen kann, dass der Text im Moment seiner Verwandlung in Schallsignale unmittelbar einleuchtete. Außerdem begegnet man in den Dokumenten immer wieder eindeutigen Spuren für die Suche nach Distanzformen zur Volkssprache, selbst wenn diese dann in syntaktische Kombinationen verwoben werden, die, in Teilsatz-Segmenten, volkssprachliche Konstruktionsgewohnheiten reproduzieren. Ad hat weit weniger oft die Form a als die ausführlichere mit okklusivem Endkonsonanten, obwohl diese ab einer bestimmten Zeit sicherlich als distanzsprachlich gegolten haben muss. Ille und ipse tauchen im Korpus fast nie in einer reduzierten Form auf, obgleich sie sich umgangssprachlich spätestens seit dem 10. Jahrhundert ganz offensichtlich gewandelt hatten (vgl. Menéndez Pidal 1986: 330ff.). Das deutlichste Anzeichen für die Suche nach distanzsprachlichen Formen ist aber die vollkommen chaotische Verwendung der Relativpronomen, mit quos für erwartbares quam, quorum <?page no="299"?> 4.11 Interferenz und Lateinfehler 287 für quem, quem für quae usw. (vgl. Kap. 6.4.4). Aus meiner Sicht gibt es für Wright keine Möglichkeit, dieses Durcheinander mit reinen Gewohnheiten des Schreibens zu motivieren, zumal die selben Urkunden, die diese Formen bieten, auch schöne, von dem Basilekt her gut nach vollziehbare Vorkommen eines Subjektrelativpronomens qui und eines Objektrelativpronomens que aufweisen. Trotz ihres teilweisen Zugehens auf die mündliche Sprache erscheinen die privaten Rechtsdokumente darum als Repräsentanten eines lateinischen Stilwillens und einer gegenüber Isidors Zeit abgeschwächten, jedoch fortbestehenden Diglossie. Die Reformen, die von Aachen und Burgos ausgingen, sorgten lediglich für eine Verschärfung einer vorher schon gegebenen Funktionenteilung und einer schon länger herrschenden kritischen kommunikativen Beziehung zwischen stark kontrastierenden Varietäten. Die Beobachtungen von Müller (1996) zeigen außerdem, dass diese Reformen noch nicht einmal für das Bewusstein der Eigenständigkeit der autochthonen romanischen Sprache im Verhältnis zum Latein einen ultimativen, alles entscheidenden Schritt bedeuteten. Das Wissen um das Ausmaß der Unterschiedlichkeit wuchs ebenso allmählich wie sich die Diglossie stufenweise verschärfte, durch eine Reihe von fördernden kulturgeschichtlichen Bewegungen gehend. Nach 800 bzw. 1230 wurden zunächst die schullateinischen Regeln konsequent beachtet, wodurch die typisch lateinischen Strukturen klar hervortraten. Erst in größerem Abstand, einige Jahrhunderte später, wurden auch die Sprachbezeichnungen latín und romance metasprachlich konsequent getrennt und die Eigenständigkeit gegenüber der Zusammengehörigkeit endgültig mit Entschiedenheit betont. 4.11 Interferenz und Lateinfehler - Kompetenz und Performanz der Urkundenverfasser Der Begriff „Interferenz“, also Vermischung zweier Sprachen, wurde 1953 durch Uriel Weinreichs Buch Languages in contact eingeführt. Sprachmischung findet dann statt, wenn eine Äußerung Elemente mehrerer Sprachsysteme aufweist. Dies kann geschehen in Situationen des schulisch gesteuerten Erwerbs einer Zweitsprache, die nicht im eigenen Land gesprochen wird, vor allem aber dann, wenn zwei Sprachgemeinschaften mit Sprechern unterschiedlicher Sprachen im selben geographischen Raum leben. Die beiden Sprachgemeinschaften stehen in einem engeren Kontakt, so dass ihre Sprecher oft in die Situation kommen, sich miteinander verständigen zu müssen. Eine zweisprachige Sprachgemeinschaft ist aber auch eine solche, in der Diglossie herrscht. Auch hier kann es zur Mischung kommen, z.B. wenn die Sprechsprache sich beim Schreiben in die Schriftsprache einmischt. Sprachen, die sich in einer engen Kontaktsituation befinden, üben Druck aufeinander aus. Dieser Druck hängt einerseits von den Unterschieden <?page no="300"?> 4. Die sprachexterne Seite 288 zwischen den Strukturen der beiden Sprachen ab, andererseits von sozialen und psychologischen Faktoren (Weinreich 1977: 88). Verschiedene Formen von Interferenz werden durch diese Faktoren entweder hervorgerufen oder begünstigt, oder, auf der anderen Seite, verhindert. Im Fall von Diglossie befördert der Differenzierungsreichtum und die Abstraktheit von Schriftsprache in manchen Feldern (Religion, Recht), dass Wörter aus dem Akrolekt in den Basilekt übernommen werden, sog. Buchwörter oder cultismos. Umgekehrt gibt es, wie die Urkunden zeigen, auch Entlehnungen aus der Sprache des Alltags in die Schriftsprache. In anderen Feldern der Interferenz als dem lexikalischen wirkt sich Diglossie aber eher hemmend aus. Die beiden Sprachen sollen ja getrennt bleiben, dafür sorgt die Pflege der Schriftsprache durch die Schule und durch eine begleitende Norm. Inwieweit die Trennung gelingt, hängt natürlich von der Intensität ab, mit der die Ausbildung in der Schriftsprache betrieben wird, und das heißt von der Dichte der Verbreitung, der Qualität der Schule und der Qualität der bereit stehenden Lehrwerke. In ihrer Gesamtheit wirken sich die sozialen Faktoren also eher hemmend und diglossiebewahrend aus. Die individuellen, psychologischen Faktoren entscheiden jedoch über faktische Interferenz. Weinreich trennt zwischen Interferenz der Rede und Interferenz des Systems. Bei der ersteren mischt sich die eine Sprache nur momentan in eine Äußerung ein, die in der anderen Sprache gemacht wird, bei der zweiten verändert eine Sprache an bestimmten Punkten dauerhaft das System einer anderen, mit der sie in Kontakt steht. Es kann also Interferenz der Rede geben ohne Interferenz des Systems. In einer Diglossie ereignet sich vermutlich viel Interferenz der Rede, die nicht auf die Dauer Spuren im Akrolekt oder umgekehrt solche im Basilekt hinterlässt. Und eben Interferenz der Rede wird durch das Individuum bestimmt. Individuelle, psychische Faktoren von Interferenz sind der relative Status der beiden Sprachen bzw. die Tatsache, dass eine von beiden dominieren kann, die Sprechsituation, das generelle Sprachtalent eines Sprechers. Welche Sprache für einen bestimmten Sprecher die dominierende ist, hängt davon ab, ob sie eine sie optisch verstärkende Schriftform aufweist und auf diese Weise von dem Sprecher rezipiert werden kann, wie gut ein Sprecher sie beherrscht, wie nützlich sie für Verständigungszwecke oder aber für das soziale Fortkommen ist, welchen literarisch-kulturellen Wert sie hat. Die Sprechsituaton wird bestimmt durch die Akzeptanz oder Ablehnung von Interferenz seitens des Gesprächspartners oder die Affektbetontheit des Sprechers. Auch die Verfasser der Urkunden unterlagen diesen individuellen psychischen Faktoren. Die Dominanzkonfiguration dürfte ungefähr folgendes Profil aufgewiesen haben: Romanisch war stets früher als Latein erlernt worden, es war die Muttersprache, es bestand zu ihr eine starke affektive Bindung, man konnte sich mit ihrer Hilfe mit mehr Menschen verständigen als mit Hilfe des Lateinischen; dagegen hatte Latein einen hohen literarischen Wert, war wichtig für das Fortkommen, es wurde optisch verstärkt durch die <?page no="301"?> 4.11 Interferenz und Lateinfehler 289 Schriftform und es war Sprache des Gottesdienstes, so dass nicht nur die Priester, sondern auch viele Gläubige eine starke affektive Bindung zu ihm hatten. Dies lässt nicht unbedingt auf eine überwältigende Dominanz des Romanischen schließen. Der Faktor „Redesituation“ wirkt sich auf die Sprache der Urkunden an mehreren Stellen ihrer Produktion und Rezeption aus, die schon im Zusammenhang mit der Gattungstradition der Urkunde herausgearbeitet wurden: der Redaktionssituation, in der ein Auftraggeber dem Urkundenverfasser die Details des Rechtsgeschäfts erläutert; dem Diktat, bei dem Verfasser und Schreiber involviert sind; und schließlich der Vorlesesituation, die einen Partnerzwang gegenüber dem einsprachigen Hörer bedeutet. Was schließlich das Sprachtalent angeht, so ist anzunehmen, dass in einem Kloster solche Mönche mit dem Abfassen der Urkunde beauftragt wurden, von denen man annahm, dass sie Latein gut beherrschten. Karl Suso Frank, der herausarbeitet, dass die bestimmenden Klosterregeln ein Grundniveau an Schriftkompetenzen von den Mönchen forderten (Frank 1993), weist darauf hin, dass nach der Benediktinerregel nur diejenigen Brüder zum Vorlesen und Vorsingen zugelassen werden durften, die die Hörer erbauten (Ibid.: 15). Ähnliches ist also für die Schreibkompetenz auch anzunehmen. Dabei darf man jedoch nicht vergessen, dass diese Forderung mit einem anderen Kenntnisprofil kollidieren konnte. Denn gesucht war schließlich auch jemand, der die rechtlichen Folgen seines Textes verstand und der im Redaktionsgespräch beurteilen konnte, wie man die Vorstellungen des Ausstellers in einen angemessenen sprachlichen Ausdruck übersetzt. Diese Kenntnisse mussten nicht unbedingt mit der Beherrschung eines guten lateinischen Stils zusammenfallen. Welches Bild kann man sich von den Verfassern machen? Die Texte selber bieten einige Hinweise. In vielen Fällen ist angegeben, wer die Urkunde geschrieben hat. Beispiele: Theodemirus presbiter scripsit (Documentos gallegos, 835) Meistens nennt sich der Schreiber „presbiter“. In einigen Fällen - vier Urkunden von 112 - findet sich auch „notarius“: Volinus. episcopi notarius, conf. (Documentos gallegos, 909) Nun ist „scripsit“ offen für eine zweifache Auslegung: Entweder es bezieht sich auf den Akt des Schreibens und auf den des Verfassens des Textes. Das gilt auch für „notuit“, weil sich dahinter ja die Bezeichnung einer Tätigkeit verbergen kann, die der des Notars glich, und dies schloss das Redigieren von Texten ein. „notuit“ würde sich dann auf das Redaktionsgespräch mit dem Auftraggeber beziehen. Wenn man die Umgebung der Nennung bedenkt (subscriptiones) dürfte es sich um den Schreiber handeln. Dies zeigt auch ein Hinweis aus dem Korpus, eine Textstelle aus einer subscriptio: <?page no="302"?> 4. Die sprachexterne Seite 290 Albaricus, presbiter, qui ista vindicione scripsit cum literas superpositas in verso vii. (Archivo Condal, 974) Barbara Frank und Jörg Hartmann weisen darauf hin, dass sich der Urkundenverfasser manchmal in südfranzösischen volkssprachlichen Urkunden nennt (1993: 211). So findet man in den Tabellen des Inventaire (Frank/ Hartmann 1997) bei den Urkunden aus dem Rouergue Textschlüsse, die mit „auteur“ versehen sind (z.B. N.o 72.076: autor miro de bornag, und N.o 71.099: Autor daquest don Ponz lo peire da Pradas). Vergleichbares entdeckt man in den Urkunden des Korpus nicht. Die Formel „rogitus scripsit“ deutet allerdings nicht auf einen professionellen Schreiber, denn ein solcher stand doch wohl ohne Bitten zur Verfügung. Durch diese in mehreren Urkunden vorfindbare Formel hat man also einen Hinweis darauf, dass „scribere“ den Akt des Abfassens und den des Schreibens gleichzeitig meinte. Es ist demnach möglich, dass Schreiber und Verfasser in einer Reihe von Fällen identisch waren. Dann wären viele der feststellbaren Diktatspuren, in denen sich die Wechselwirkung zwischen einem Diktierenden und einem Schreibenden niedergeschlagen hat, eigentlich Zeugnisse für den Formulierungsprozess selber: Bindo ((Vendo)) vobis ipsa binea et medio torculario, qui est in Stradasa ab omni integrietate, in adera ([Fehler beim Schreibansatz | vermutlich: aderato]) aderato et defito ((debito)) precio (aderato precio = adaerato precio = geschätzter Geldpreis) (Archivo Condal, 892) Per anc ((hanc)) scriptura vindicionis me vindo ((vendo)) tibi alodem meum proprium, qui est in comitatum Ausona, in terminio de Castro Ursali vel infra eius termines; qui est mihi advenit per parentorum meorum, (Archivo Condal 974) Im zweiten Beispiel könnte das est darauf zurückgehen, dass ein Schreiber einem Diktat vorausgeeilt war, est schrieb und dann merkte, dass der Redaktor anders weiterformulierte. Hier erscheint es wahrscheinlicher, dass Schreiber und Verfasser getrennt waren, eine Identität ist aber ebenfalls vorstellbar. In jedem Fall lässt die Formel „scripsit“ offen, ob der Verfasser und der Schreiber identisch waren oder nicht. Im Zusammenhang mit der Fragestellung der vorliegenden Untersuchung interessiert nun in erster Linie zu rekonstruieren, wie dieser (Schreiber-)Verfasser von seiner Lebensgemeinschaft kommunikativ geprägt wurde und wie es kam, dass Romanismen in die Urkundentexte einflossen. Dabei ergibt sich allerdings ein Problem. Die Kartularien sind Urkundensammlungen von großen Klöstern. Das Auftreten von romanischen Spuren ist nun alles andere als trivial, wenn man annimmt, die Rechtsdokumente seien von diesen Mönchen formuliert worden. Inwiefern? Das Ideal des Mönchtums ist asketisch. Zur Askese gehört auch Stille. Im siebten Kapitel der Mönchsregel des Heiligen Benedikts heißt es: „Scurilitates vero vel verba otiosa et risum moventia aeterna clusura in omnibus locis damnamus et ad <?page no="303"?> 4.11 Interferenz und Lateinfehler 291 talia eloquia discipulum aperire os non permittimus.“ [Die Benediktusregel, 98 = Kapitel VI De taciturnitate]. Obwohl die Mönche in Spanien anfangs anderen Regeln folgten, nämlich denen des Heiligen Isidors, Fructuosus und Augustinus (Pérez Bustamante 1994: 119), betraf das in der Benediktregel Gesagte wohl auch sie. So deckt Antonio Linage Conde eine Reihe von Parallelen zwischen der Benediktregel und derjenigen Isidors auf (1973: 278ff.). Wenn die Mönche, die doch die Urkunden verfasst haben, also gar keine regelrechten Unterhaltungen untereinander führten, dann musste ihre romanische Muttersprache doch mit der Zeit verblassen. Auf der anderen Seite waren die Mönche einem dauernden Einfluss des Lateins ausgesetzt, durch die mehrmals täglich stattfindende Liturgie und die sogenannte collatio, d.h. das Zuhören bei der Verlesung von Ausschnitten aus den Werken der Kirchenväter nach dem Abendessen (Die Benediktusregel, 174 = Kapitel XLII Ut post completorium nemo loquatur). Karl Suso Frank weist darauf hin, dass nach der Pachomiusregel jedes Haus eines Klosters eine Bibliothek besaß (1993: 11) und dass im Benediktinerkloster jeder Bruder zu Anfang der Fastenzeit ein Buch aus der Bibliothek erhalten sollte, das er bis zum Ende der Fastenzeit ganz durchzulesen hatte (Ibid.: 14). Wurden diese Ideale wirklich eingehalten, so kann kein Zweifel sein, dass, zumindest nach einer gewissen Zeit der Zugehörigkeit zum Kloster, das Latein das Romanische im Bewusstsein der Mönche in den Hintergrund gedrängt hatte. Immerhin muss man alle Faktoren der Dominanzkonfiguration, die Weinreich anführt, mitberücksichtigen. Man wird dann abgeschwächt von einer Verschiebung der Dominanzkonfiguration sprechen. Romanisch blieb ja in jedem Fall die zuerst erlernte Sprache, die Muttersprache. Wie war es unter diesen Umständen möglich, dass sich die nicht praktizierte Muttersprache bei der Redaktion der Urkunden einmischte? Eine Erklärung wird sichtbar, wenn man die Realität des frühmittelalterlichen Klosterlebens auf der iberischen Halbinsel näher betrachtet. Die meisten Klöster waren nichts anderes als halb religiös inspirierte Wirtschaftshöfe, die nach Abgabenfreiheit strebten: „Y no hay duda que la motivación determinante, suficiente por sí sola para proporcionarnos una explicación histórica, radica en la independencia patrimonial de los monasterios, procedente, a su vez, de la tradición visigótica. El ideal monástico debió jugar un papel mucho más reducido (…) ¿No habría sido más natural que de simples iglesias rurales se hubiese tratado? El personal reducido, que muchas veces no debió sobrepasar al normal de servicio de un templo; …“ (Linage Conde 1973: 358). Diese Klöster waren Instrumente der Reconquista. Die Urkunden des Korpus betreffen jedoch offenkundig größere Klöster, in denen das Mönchsideal vermutlich besser beachtet wurde. So stellt Linage Conde fest, dass das Kloster von San Cugat von Anfang an benediktinisch war (1973: 519). Trotzdem musste das Romanische sich entgegen den Folgen der angenommenen Lebensweise irgendwie bei den Urkundenschreibern <?page no="304"?> 4. Die sprachexterne Seite 292 erhalten haben, denn die Urkunden von San Cugat weisen sehr viele Abweichungen von der lateinischen Norm auf. Wie erklärt sich diese Interferenz? Eine Antwort erreicht man am besten, indem man die Fäden der oben aufgeführten empirischen Befunde zu einem Gesamtszenarium zusammenführt: Da die Verkäufer oder Schenker von Grundstücken meist wohl nicht schriftkundig waren, wandten sie sich an einen Kleriker, der zu schreiben vermochte und etwas von rechtlichen Dingen verstand. In den Urkunden nennt er sich „presbiter“. Dabei ist daran zu erinnern, dass Rechtsgelehrte in der Spätantike ja mehr und mehr gleichzeitig zu Klerikern wurden (Hattenhauer 1994: 117). Klerus und Rechtsgelehrsamkeit lagen also nahe beieinander. Wie ist die Figur dieses „presbiters“ noch näher zu charakterisieren? Eine Möglichkeit besteht darin, dass es sich um einen Landpriester gehandelt haben könnte, der eine neutrale Instanz darstellte und nicht der beschenkten bzw. kaufenden Mönchsgemeinschaft angehörte. Allerdings legt eine Durchsicht durch die Kartularien nahe, dass die Einzeldokumente auf der Grundlage von Formularien erstellt wurden, denn gleiche Formeln kommen regionenübergreifend vor, selbst aufwändigere Formeln erscheinen immer ähnlich, wenn auch variabel gestaltet. Es ist nun kaum anzunehmen, dass ein Landpriester im Besitz eines Formulars sein konnte. Letztere waren wohl immer Eigentum von Institutionen, die relativ häufig Anlass zum Abfassen von rechtlich relevanten Texten hatten, also von Kanzleien oder Skriptorien. Die Bezeichnung „presbiter“ bezog sich daher wohl eher auf einen Mönch, und zwar, da der Eintritt in die Gemeinschaft nicht notwendig mit der Absolvierung einer Ausbildung zum Priesteramt verbunden war, möglicherweise auf ein in der Hierarchie höher angesiedeltes Mitglied der Mönchsgemeinschaft, dem man gute Schriftkenntnis zusprach und der vielleicht auch leitende Funktionen im Klosterleben erfüllte. Die größeren Klöster integrierten mit der Zeit die kleineren in ihren Besitz (Linage Conde 1973: 390). Dadurch gingen Grundstücke, die früher Eigentum der kleineren waren, auf die größeren über. Die kleineren Mönchsgemeinschaften mit ihrer wirtschaftlichen, teils kämpferischen Rolle bei den großen Kampagnen der Wiedereroberung und Wiederbesiedlung vorher arabisch besetzter Gebiete waren organisatorische Kerne und standen mit ihrem romanischen Umfeld daher vermutlich in näherem Kontakt. Dies muss auch für den „presbiter“ genannten Mönch gegolten haben, an den sich die Verkäufer oder Schenker mit ihrem rechtlichen Anliegen wandten. Unter diesen Umständen und mit Rücksicht auf die partiell konzeptionelle Mündlichkeit der Gattung sowie auf ihr kommunikatives Umfeld (vgl. Kap. 4.8 u. Kap. 4.2) war der von lateinischem Formulierungswillen getragene Gestaltungsakt der Urkunde wahrscheinlich in größerem Maße permeabel für die tägliche Umgangssprache ihres Verfassers gewesen. Die größeren Klöster haben diese Urkunden bei Integration kleinerer Klöster ererbt und damit auch deren der Umgangssprache nahe stehende Ausdrucksweise. Verkäufe <?page no="305"?> 4.11 Interferenz und Lateinfehler 293 und Schenkungen allerdings, die sich direkt an die größeren Klöster richteten, wurden wohl durch solche Urkunden belegt, die in den Skriptorien dieser größeren Köster selber entstanden. Warum sind hier dann ebenfalls lexikalisch-phonetische und morphosyntaktische Romanismen zu beobachten? In diesen Fällen bleibt kein anderer Schluss, als dass die Romanisierung der Texte unter ähnlichen Vorzeichen einer teils bewussten, teils aus Unwissenheit geschehenen Annäherung an die mündliche Sprache stand, wie dies Jahrhunderte zuvor im Frankreich Gregor von Tours, also dem Frankenreich vor der Karolingischen Reform geschehen war. Die allgemeine Ursache der Romanisierung war dort der Niedergang des Bildungsniveaus, das durch Alcuins Initiativen wieder auf die Höhe spätmittelalterlich-christlicher Regel- und Stilsicherheit zurückgeführt wurde. Will man dies konkretisieren, so hat man den entscheidenden Unterschied zwischen den Lateinkenntnissen vor und nach einer Reform wohl darin zu sehen, dass die stilistisch-grammatischen Übungen den Mönch in Hoch-Zeiten der mittelalterlich-lateinischen Schriftkultur ein Leben lang begleiteten, während die Ausbildung in stärker beeinträchtigten Epochen beim Elementarunterricht stehen bleiben mochte und der Lateinkundige in späteren Lebensabschnitten darauf angewiesen war, sich an die richtigen Formen zu erinnern und das Wissen um die Funktion aus seinen Erfahrungen mit der lesenden und zuhörenden Rezeption von Bibeltexten oder lateinischen Gesängen zu erschließen. Martin Irvine (1996) entfaltet in seiner Entstehungsgeschichte der mittelalterlichen Textkultur des Abendlandes ein Panorama, das den umfassenden, enzyklopädischen Horiziont, den die Disziplin der grammatica implizieren konnte und der neben der Einübung grammatischer Korrektheit die Kunst der Textkritik und Textdeutung umfasste, scharf von den viel bescheideneren und nüchterneren Forderungen der Grundstufe des Lateinunterrichts abhebt: „Donatus’s Ars grammatica […] was divided into an elementary Ars minor and a three-part intermediate Ars maior. Both the encyclopedic and schoolroom types are often confusingly termed Schulgrammatik texts, textbooks written for use in the Roman schools, but the encyclopaedic ars, though a product of the Roman schools, is clearly a reference text that includes more of the literary division of grammatica and therefore would not have been used in the elementary classroom“ (Irvine 1996: 57). Lateinkenntnisse wurden schon durch die Praxis des Elementarunterrichts garantiert. Sie wurden erst durch den langen kulturellen Atem einer regelrechten Textkultur aufrechterhalten und weiterentwickelt. Letztere mag im Spanien nach der arabischen Eroberung stark zurückgegangen sein. Roger Wright beschreibt ja, wie auffällig in der gesamten Landschaft der Textkultur Zentren wie Palencia oder San Millán erscheinen mussten und weist durch diese Rekonstruktion von Zentren der Schriftkultur-Renaissance indirekt auf die Krise der bestehenden Schreib- und Lesepraxis hin. Wo intensive Textkultur fehlte, konnte die rezeptive Vertrautheit mit lateinischen Texten oder das Auswendiglernen von gregorianischen Sequen- <?page no="306"?> 4. Die sprachexterne Seite 294 zen zu der Selbsteinschätzung einer vermeintlich sicheren aktiven Beherrschung des Akrolekts führen. Viele Mönche hatten mit lateinischen Äußerungen überwiegend rezeptiv und passiv zu tun. Die Klosterbrüder kleinerer oder größerer Gemeinschaften mochten dem Latein zwar tagtäglich ausgesetzt seien, aber sie mussten es eben selten aktiv benutzen, vor allem nicht frei formulieren. Wenn sie Latein mit dem „Donatus minor“ erlernt hatten, wie es von den allgemeinen Schulpraktiken aus anzunehmen ist, dann war das Ergebnis des Lernprozesses vermutlich so gestaffelt, dass sie zwar eine gute Übersicht über die Formen hatten und die Listen der Formenaufzählung auch beherrschten, ihnen gleichzeitig aber die Syntax wenig bekannt war. Falls die Lateinkenntnisse kein höheres Niveau erreichten, als es für ein rudimentäres Schreiben und ausreichendes Verstehen kanonischer Texte nötig war, konnten sie wohl nicht beurteilen, unter welchen Bedingungen man einen Ablativ und einen Akkusativ gebraucht. Sie waren auf Imitation angewiesen, und die Imitation ließ sie in den Texten, denen sie ausgesetzt waren, in erster Linie wohl das hören, was mit dem Romanischen übereinstimmte. Ein Ausschnitt aus der „Ars minor“ mag demonstrieren, dass neben skizzenhaften, von abstrakten Stichwörtern getragenen Hinweisen auf die Syntax die morphologische Information bei weitem dominiert, die in dem Lehrbuch in einer dichten Abfolge präsentiert wird. Nomen quid est? Pars orationis cum casu corpus aut rem proprie communiterve significans. Nomini quot accidunt? Sex. Quae? Qualitas conparatio genus numerus figura casus. (…) Quae nomina comparantur? Appellativa dumtaxat qualitatem aut quantitatem significantia. Comparativus gradus cui casui servit? Ablativo sine praepositione: dicimus enim „doctior illo“. (…) Genera nominum quot sunt? Quattuor. Quae? Masculinum, ut hic magister, femininum ut haec Musa, neutrum, ut hoc scamnum, commune ut hic et haec sacerdos (…) Magister nomen appellativum generis masculini singularis figurae simplicis casus nominativi, quod declinabatur sic: nominativo hic magister, genetivo huius magistri, dativo huic magistro, accusativo hunc magistrum, ablativo ab hoc magistro (…). (Keil 1864: 355f.) Nun verzeichnet die Übersicht über Grammatik-Manuskripte, die Geoffrey L. Bursill-Hall erarbeitet hat (1981), keine Donatus-Handschriften für den Großteil der spanischen Bibliotheken. Lediglich in der Provinz-Bibliothek von Tarragona finden sich einige Manuskripte. Die Beleglage bei den grammatischen Metatexten erlaubt also keine sichere Rekonstruktion der Grundlagentexte des Elementarunterrichts. Dass es andererseits mindestens mit dem Donatus minor vergleichbare Texte gegeben haben musste, ergibt sich einfach aus den Urkundentexten selber. Deren Verfasser waren die lateinischen Deklinationen und Konjugationen keineswegs unbekannt. Nicht aus dem Romanischen erschließbare Endungen wie -us, -i oder -ibus finden sich zu Hauf, selbst wenn sie häufig nicht sicher gebraucht werden. Die Textkultur aber, die noch Isidors Buch De grammatica <?page no="307"?> 4.11 Interferenz und Lateinfehler 295 verkörperte (Irvine 1996: 209) war weggebrochen, und dies eröffnete Missdeutungen Tür und Tor. Zusammengefasst: Eine Permeabilität zum Romanischen hin ist bei den „presbiteres“ einfacherer Klöster durch die gegenüber der Restbevölkerung der Umgebung hin offenere Lebensweise wahrscheinlich, während bei größeren Klöstern eine Beeinträchtigung der Ausbildungsdisziplin im eigenständigen Verfassen lateinischer Sätze und Texte anzunehmen ist, die romanischen Mustern als Leitmodellen für den Gebrauch lateinischer Formen einen gewissen Raum für Prägung eröffnete. Nach diesen Erläuterungen dürfte klar sein, dass auch von den externen, kommunikativen Bedingungen her plausibel gemacht werden kann, dass und wie es zu den Interferenzen kam. Doch nicht alle Abweichungen von den lateinischen Regeln folgen aus einer Interferenz. Solche Fehler haben vielfältige Ursachen. Seit den 60 er Jahren hat man sich vor dem Hintergrund moderner Sprachwissenschaft intensiver mit Fehlern befasst. Daraus ist ein neues, anwendungsorientiertes Forschungsfeld erwachsen, die sogenannte „Fehlerlinguistik“ (Cherubim 1980). Eine sehr nützliche, relativ einfache Darstellung der Leitideen, die dieses Gebiet bestimmen, gibt Helga Fervers (1983). Ihre Darlegungen werden im Folgenden wiedergegeben. Die Fehlerlinguistik wurde in einer ersten Phase durch die Kontrastivhypothese bestimmt. Nach dieser Auffassung entstehen Fehler durch die unterschiedlichen Strukturen der Muttersprache und der zu erlernenden Zweitsprache. Fehler sind dann erklärbar durch Übertragung muttersprachlicher Strukturen in fremdsprachliche Strukturen. Denkt man sich das Paar Deutsch (Muttersprache)-Französisch (Zweitsprache), dann läge eine Strukturübertragung vom Deutschen her etwa in folgendem Beispiel vor: Die beiden Kinder spielen Ball im Badezimmer. Im Badezimmer spielen die beiden Kinder Ball. Les deux enfants jouent au ballon dans la salle de bain. (Dans la salle de bain, les deux enfants jouent au ballon.) * Dans la salle de bain jouent les deux enfants au ballon. Hier wurde nach einer topikalisierten adverbialen Bestimmung (dans la salle de bain) die im Französischen übliche Wortstellung (Adv SVX) durch die aus dem Deutschen gewohnte Umstellung von Verb und Subjekt ersetzt (Adv VSX). Der Kontrast zwischen Strukturen betrifft in der Kontrastivhypothese allerdings nicht nur die Wortstellung, sondern alle Bestandteile des sprachlichen Wissens, also auch Laute, Wortschatz, Morphologie und die Funktionen grammatischer Elemente. Er deckt sich also weitgehend mit Weinreichs Strukturgegensatz zwischen zwei Sprachen (vgl. Weinreich 1977, Übersicht auf S. 90f.). <?page no="308"?> 4. Die sprachexterne Seite 296 Unter dem Einfluss der universalistischen Tendenz von Chomskys Aspects of the Theory of Syntax (1965) bildete sich in Konkurrenz zur Kontrastivhypothese die Identitätshypothese aus. Sie besagt, dass alle Sprachen grundsätzlich auf die gleiche Weise angeeignet werden. Fehler resultieren demnach aus gewissen universalen Lernmechanismen und haben nichts mit dem Kontrast der zu erlernenden neuen Sprache mit der Muttersprache zu tun. Solche Lernmechanismen sind z.B. die Übergeneralisierung von Regeln auf Strukturen, denen sie eigentlich gar nicht zugeordnet sind: * He can sings (Fervers 1983: 51) [-s der dritten Person auf den Infinitiv ausgedehnt] oder die Simplifizierung eines komplizierten Systems von Regeln, das in der Zweitsprache bewältigt werden muss: * Ma maman et mon papa aller à Glendon (Fervers 1983: 51) [Infinitiv ersetzt finite Verbform] Nach der Phase des Gegensatzes traten Theorien auf, in denen man sich bemühte, den Standpunkt der Kontrastivhypothese und den der Identitätshypothese zu einer Gesamtsicht zu verbinden. Larry Selinker schlug 1972 die als vermittelndes Modell zu verstehende Interlanguage-Hypothese vor. Sie sagt im Kern aus, dass sich Lernende ein fremdes Sprachsystem über eine Reihe von Zwischensystemen aneignen, durch die ihr Wissen hindurchgeht, bevor sie die Regeln der Fremdsprache sicher beherrschen. Diese Zwischensysteme, „Interlanguages“ genannt, vereinigen Züge der Erstsprache und der Zweitsprache, und weisen zudem noch unabhängige Merkmale auf. Eine Interlanguage zeichnet sich durch ihren gleichzeitig systematischen und variablen Charakter aus (Fervers 1983: 62). Ein solches Übergangssystem wird von mehreren Faktoren beeinflusst (Ibid.: 61): (i) dem Transfer von der Muttersprache her (ii) der Art von Übungen, durch die die Fremdsprache angeeignet wird (iii) den Strategien des Zweitsprachenerwerbs (iv) bestimmten Kommunikationsstrategien in der konkreten Kommunikation (v) einer Übergeneralisierung von zielsprachlichem Material Eine Interlanguage kann sich nun verfestigen, ohne dass der Fremdsprachenerwerb zu einer sicheren Aneignung der Regeln führt (Ibid.: 69). Diese Verfestigung oder Fossilierung kann z.B. mit dem Alter zusammenhängen. Je älter der Lernende ist, um so schwerer ist es für ihn, eine einmal erreichte und feststeckende Interlanguage-Norm wieder in Richtung auf die korrekten zielsprachlichen Formen hin zu überschreiten. <?page no="309"?> 4.11 Interferenz und Lateinfehler 297 Wie aus einem neueren Band hervorgeht, hat die Spracherwerbsforschung seit den 70 er Jahren wesentliche Aussagen der Interlanguage-Hypothese bestätigt (Eubank/ Selinker/ Sharwood Smith 1995: 8): die gleichberechtigte kognitive Realität von Universalgrammatik und Transfer; die Unterschiedlichkeit von Erst- und Zweitspracherwerb; Fossilierung als real wirkenden Prozess. Obwohl sich die Aufmerksamkeit zu Ende des vergangenen und zu Anfang dieses Jahrhunderts in Richtung pragmatische Kontraste und pragmatische Ausdrucksstrategien verschoben hat, wird auch pragmatische Kompetenz weiter als Teil einer Interlanguage verstanden (vgl. Pütz/ Neff-van Aertselaer 2008: xii, sowie 131 ff.). Dieses Konzept hat bis heute seine Gültigkeit und Leitfunktion in der Spracherwerbsforschung behalten. An dem Dargelegten ist aus der Sicht der vorliegenden Untersuchung Zweierlei interessant. Erstens die Tatsache, dass offenbar nicht nur die Muttersprache sich in den Erwerb der Zweitsprache Latein mischte, sondern daneben universale Spracherwerbsstrategien im Umgang mit den Einheiten und Regeln des lateinischen Sprachsystems eine Rolle spielten. Zweitens die Fossilierung. Könnten nicht die Verfasser der Urkunden eben nur über eine fossilierte Interlanguage verfügt haben, ohne Latein vollständig zu beherrschen? Dann wären in diese fossilierte Interlanguage auf dem Weg des Transfers in der Spracherwerbsphase eben auch Anteile des Romanischen eingegangen. Aus der Sicht der Urkundenverfasser wäre dies Gebrauch eines einzigen Sprachsystems - ihrer Interlanguage, die sie für die richtige Form des Akrolekts hielten. Der heutige Linguist dagegen erkennt in ihrer Schreibweise zu Recht eine Mischung aus Latein und Romanisch. Der Altersfaktor der Fossilierung beträfe die Novizen, die ja nicht unbedingt im jugendlichen Alter anfingen, sich mit Latein zu beschäftigen. Man muss differenzieren: Fehler, die innerhalb einer Interlanguage als Regeln gelten, sind eigentlich Kompetenzfehler; Fehler, die einen Regelverstoß, auch gegen die Interlanguage, darstellen, sind Performanzfehler (Fervers 1983: 86). Beobachtbare Interferenzen können natürlich auch Performanzfehler sein. Es geht also in der Fehlerlinguistik darum zu unterscheiden, ob ein Fehler auf den Einfluss der Muttersprache zurückgeht oder auf eine Übergeneralisierung bei der Anwendung zielsprachlicher Regeln. Außerdem muss unterschieden werden, ob es sich um einen Performanzfehler handelt oder um einen Kompetenzfehler. Ein weiterer Gesichtspunkt betrifft die Art der involvierten grammatischen Kategorie. Nicht immer ist klar, gegen welche Regeln in einem gegebenen Fall genau verstoßen wurde. Ein Beispiel: Bei der deutschen Sprachproduktion französischer Lernender sind Genusfehler oft gut zu erkennen. Der Genetiv *des Mauers statt der Mauer ist aller Wahrscheinlichkeit die Folge einer Übergeneralisierung der Regel „Endung -er = Maskulinum“ (Ibid.: 95). Diese leichte Erkennbarkeit ist aber nicht immer gegeben. *seinen Hemd für ein direktes Objekt la chemise muss nichts mit einer Genusverwechslung „Maskulinum statt Neutrum“ zu tun haben, sondern <?page no="310"?> 4. Die sprachexterne Seite 298 kann eine Übergeneralisierung der Endung -en der schwachen Adjektive sein (Ibid.: 97). Es können sich auch verschiedene Regelabweichungen an einem Punkt ballen. So verstößt diese in der Präpositionalphrase auf diese Foto (erkennt man) sowohl gegen das Genus von Foto (Femininum statt Neutrum) als auch gegen den geforderten Dativ, da ein Femininum im Dativ hätte lauten müssen: auf dieser Foto (erkennt man). Alle genannten Aspekte der Fehlerlinguistik (Transfer vs. intralingualer Umgang mit der Zweitsprache; Performanzversus Kompetenzfehler; Zuordnung des Fehlers zu einer Kategorie und Ballungen von Regelverstößen) spielen eine Rolle für die Interpretation der Normabweichungen in den Urkunden. Eine der Aktivitäten, die das Aussehen einer Interlanguage bestimmen, sind nun „Strategien der zweitsprachlichen Kommunikation“ (Ibid.: 66ff.). Solche Strategien werden von dem Lernenden eingesetzt, um sich in Situationen auszudrücken, in denen die angemessenen Regeln ihm noch nicht zur Verfügung stehen, weil er sie noch nicht erworben hat. Diese Strategien können zu Fehlern führen. Doch nicht nur in der Phase der Erwerbung einer Zweitsprache kommen solche Normabweichungen vor, die durch Bedürfnisse des Ausdrucks hervorgerufen werden. Henri Frei (1929) zeigt, dass das selbe auch beim routinierten Sprechen der eigenen Muttersprache geschieht. In jeder mündlichen Kommunikation stehen sich Ansprüche des Sprechers und des Hörers gegenüber. Während Hörer dem Sprecher abverlangen, möglichst klar und deutlich zu reden, tendiert der Sprecher zur Ersparnis des Ausdrucksaufwands, zur Reduktion von Signifikanten und Lauten (vgl. u.a. Hopper/ Traugott 1993: 64ff.). Da sich der Sprecher z.T. auch an den Hörererwartungen ausrichtet, ergeben sich mehrere Grundverfahren, die dem ein oder anderen Bedürfnis dienen: Ökonomie Ausdrucksentfaltung Assimilierung Differenzierung Kürze Expressivität Invariabilität Die Verfahren verursachen zwar Verstöße gegen die Norm, aber sie sollen dazu dienen, bestimmte Defizite der Sprache in Bezug auf die Ausdrucksbedürfnisse zu beheben. (i) Assimilierung/ Angleichung Paradigmatisch gehören hierher die Volksetymologie und die lexikalische Kreuzung. Syntagmatisch beobachtet man mechanische Angleichungen an Wörter des Kontextes, im Französischen z.B. an das vorhergehende Wort (les <?page no="311"?> 4.11 Interferenz und Lateinfehler 299 dangers que peuvent provoquer l’octroi trop facile d’un permis). Der Plural peuvent ist ein Reflex des vorhergehenden Plurals dangers. Er stimmt nicht überein mit dem Singularsubjekt l’octroi und ist daher fehlerhaft. Es liegt ein Performanzfehler vor, der durch mechanische Assimilation erklärbar ist. (ii) Differenzierung Der analogischen Assimilierung steht die Differenzierung gegenüber. Hierzu zählen lexikalisch die Gilliéronschen Verfahren der Sprachtherapie. Syntaktisch sind Verfahren zur Differenzierung von Verbformen aufzuführen. Das normgerechte je jouis bedeutet z.B. „ich genieße“ und „ich genoss“. Eine fehlerhafte, aber differenzierende Form je jouissai markiert dagegen eindeutig die Vergangenheitsbedeutung. Ein anderes Beispiel ist die Beseitigung der Doppeldeutigkeit bei kausativen Konstruktionen. Bei kausativen Konstruktionen im Französischen darf normalerweise keine Reflexivform stehen. Ein Satz wie nous l’avons fait arrêter kann infolgedessen bedeuten: „wir haben ihn dazu gebracht, dass er anhält“ (= nous avons fait qu’il s’arrête) oder „wir haben ihn verhaften lassen“ (nous avons fait qu’on l’arrête). Die erste Version wird nun eindeutig bezeichnet, wenn man entgegen den Regeln ein Reflexiv zulässt: nous l’avons fait s’arrêter. In allen Fällen handelt es sich um Performanzfehler, die auf das Bedürfnis nach klärender Differenzierung zurückgehen. (iii) Bedürfnis nach Kürze Das Bedürfnis nach Kürze erklärt, warum ein präziser Ausdruck durch eingespielte idiomatische Wendungen vertreten werden kann: heureusement que (= je suis heureux que, nous pouvons être heureux que) au reçu de votre lettre (= quand j’ai reçu votre lettre) voilà (= je vous remets) Dieses Bedürfnis spiegelt sich außerdem im sous-entendu bei verkürzten Konstruktionen wider: le fils Dupont (= le fils de M. Dupont), connais pas (kenn’ ich nicht), c’est en face la Sorbonne (= en face de la Sorbonne) Der gesamte gemeinte Ausdruck ist für den Hörer rekonstruierbar, obwohl der Sprecher nicht alle seine Bestandteile nennt. Der Hörer kann die anderen Teile ergänzen. (iv) Bedürfnis nach Invariabilität Das Bedürfnis nach Invariabilität schlägt sich in der Bildung fester Ausdrücke nieder. Diese festen Ausdrücke stehen insgesamt für eine Bedeutung. Die Teile der Wortgruppe werden dem syntaktischen Kontext nicht mehr angepasst, die Bedeutung der Teile ist nicht mehr bewusst: <?page no="312"?> 4. Die sprachexterne Seite 300 21 Das Bedürfnis nach Expressivität ist das einzige, das für die Handhabung des Lateins in den Urkunden nicht relevant ist. Expressivität ist zwar nicht abwesend, aber gebunden in einer künstlichen Ausdrucksweise. Sie taucht auf im praeambulum in halbliterarisch-gesteigerter Form und in der sanctio in religiös-magischer Einkleidung. bon marché, plus bon marché travaux publics (öffentliche Arbeiten, Straßenbaustelle), travaux publics privés je vous serai des plus reconaissante Auf dieses Bedürfnis führt Frei auch Phänomene fehlender Kongruenz zurück: ma robe tout neuf; je vas; les moustiques va entrer (v) Bedürfnis nach Expressivität 21 Hierzu zählt die Benutzung von grammatikalischen Morphemen als Mittel der Bewertung (Ibid.: 244ff.): Celle-là! Ce qu’on s’est amusé! Hier wird eine Aussage auf ein vieldeutiges Demonstrativum reduziert, das gleichzeitig einen Fingerzeig auf jemanden als Andeutung einer Bewertung repräsentiert. Die konjunktionale Einleitung durch ce que ist für exklamative Sätze des français parlé typisch. Außerdem gehören zu diesem Bereich die Verwendung direkter statt indirekter Rede, komparative Strukturen wie la plus grande des maladresses, Plurale von Abstrakta u.a. Freis Buch beinhaltet noch eine Reihe von Betrachtungen zu grammatischen Elementen sowie eine Vertiefung des psychologischen Hintergrunds der aufgeführten Bedürfnisse. Diese Partien sind im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht relevant. Wichtig für das Anliegen, Fehler oder Abweichungen zu deuten, erscheint aber seine Erkenntnis, dass Fehler auch durch Ansprüche des Ausdrucks motiviert sein können und nichts mit einer falschen oder unvollkommenen Sprachaneignung zu tun haben müssen. Bezüglich der intralingualen Übergeneralisierungen der Zweitsprache und des Transfers muttersprachlicher Strukturen in die Zweitsprache wird man dann wohl feststellen können, dass beide Erzeugungsquellen fehlerhaften Sprachgebrauchs auch positiv zu wirken vermögen, wenn sie nämlich Ausdrucksmängel beheben, die der Zweitsprache eignen. Konkret gesprochen könnten vom Romanischen auch Anregungen gekommen sein, wie man mit den Wörtern und Strukturen des Lateins inhaltlichen Ansprüchen der Gattung begegnen kann - auf die Gefahr hin, dabei Fehler zu produzieren. <?page no="313"?> 4.12 Zusammenfassung 301 4.12 Zusammenfassung der Erträge dieses Kapitels In Kapitel 4 wurde herausgearbeitet, dass man berechtigterweise davon ausgehen darf, dass sich die romanische Volkssprache in die Formulierung der Urkunden eingemischt hat, dass es sich bei den starken Abweichungen zum Schullatein also nicht nur um orientierungslose, ungeordnet-fehlerbehaftete Handhabung einer Nicht-Muttersprache handelt. Große Teile der Forschung, gerade die spanischen Beiträge, gehen davon aus, dass man eine solche Einmischung an den Phänomenen selber erkennt. Es wird nicht in Frage gestellt, ob diese Einmischung überhaupt stattgefunden haben kann. Dagegen wurden in der vorliegenden Arbeit verschiedene Probleme angesprochen, die sich für eine Erklärung dieser Interferenz ergeben. Die Schwierigkeiten betrafen einerseits die Relevanz des Urkundentextes, andererseits die Personen der Verfasser. In der ersten Hinsicht stellte sich zunächst die Frage, ob bei der Verfassung der Urkunde nicht vielleicht einfach blind ein Formelprogramm abgearbeitet wurde, ohne dass denen, die den jeweiligen Text entwarfen, wirklich klar war, was die Formeln inhaltlich im Einzelnen bedeuteten. Verschiedene Hinweise wie die Notwendigkeit des korrekten Auffüllens mit konkreten Daten, Uminterpretationen, die in der genauen sprachlichen Ausführung der Musterurkunden angelegte Variabilität sowie das generelle Niveau der Lateinkenntnisse in Klöstern machten es sehr wahrscheinlich, dass das formelhafte Latein - trotz einer gegenteiligen Möglichkeit - doch mit einem Verständnis der Satzinhalte verbunden war. Weiterhin konnte man fragen, ob die Texte tatsächlich gelesen oder verlesen wurden und ob dann das Latein in einem bewussten Prozess an das Romanische angenähert werden musste. Die Untersuchung ergab hier, dass Urkunden so im westgotischen Gerichtsverfahren verankert waren, dass auch ihr Inhalt eine wesentliche Rolle spielte. Deswegen musste er mindestens rekonstruierbar sein. Es musste wenigstens klar sein, welches genau die Gebiete waren, die im jeweiligen Fall an ein Kloster verkauft oder verschenkt wurden. Der magische Charakter der Urkunde widerspricht der Forderung nach Zugänglichkeit nicht, denn Magisches und Profanes durchdrangen sich in der frühmittelalterlichen, archaisch geprägten Gesellschaft sehr eng. Allerdings machte es die komplexe Syntax des Textes wohl nötig, ihn Schritt für Schritt, in einem vereinfachenden romanischen Stil als Träger vertikaler Kommunikation mündlich zu erklären. Was die Verfasser der Urkunden angeht, die sich in der Regel als „presbiter“ ausweisen, so stellte sich die Frage ihrer Zuordnung: Waren sie Mitglieder der beschenkten oder kaufenden Klöster oder waren es einfache Landpriester, die in dem jeweiligen Rechtsgeschäft ja die Funktion gehabt hätten, eine neutrale Stellung einnehmen zu können? Aus den Textvorkommen war die Annahme zu erschließen, dass die meisten Autoren der Dokumente den Klöstern angehörten, die Adressat von Schenkung oder <?page no="314"?> 4. Die sprachexterne Seite 302 Verkauf waren, denn die Urkunden wurden auf der Grundlage von Formularien verfasst, über die wohl nur Klosterskriptorien oder Kanzleien verfügten, nicht aber einzelne Landpriester. Nur sehr wenige Verfasser bezeichnen sich als Notare. Für letztere ist dauernde Praxis des Romanischen im Kontakt mit der Bevölkerung anzunehmen. Bei Angehörigen von Klöstern dagegen scheint es auf den ersten Blick nicht so leicht, die Umstände der Interferenz zu rekonstruieren. Denn die durch Schweigen gekennzeichnete asketische Lebensweise des Mönchsideals und die Tatsache, dass die Mönche lateinischen Texten der Liturgie dauernd ausgesetzt waren, macht es zunächst schwer erklärlich, wie es bei ihnen selbst zu einer Interferenz mit dem Romanischen gekommen sein kann. Die Beschäftigung mit den historischen Realitäten ergab jedoch, dass die Mönchsgemeinschaften der kleineren Klöster im Kontext der Reconquista und der Repoblaciones unter solchen Umständen lebten, in denen sie doch in gewissem Maße der Umgangssprache ausgesetzt waren, so dass Interferenz dann doch begünstigt wurde. In den größeren Klostern dürfte das Niveau der grammatischen Ausbildung im Latein im Vergleich zu der Epoche Isidors deutlich gesunken sein, so weit dass man über die Phase des Elementarunterrichts hinaus keine analytische Auseinandersetzung mehr mit lateinischen Texten betrieb. Unter den genannten Umständen konnten die Verfasser der Urkunden als Mitglieder ihrer Mönchsgemeinschaften entweder doch ständig in Kontakt mit vielen Sprechern ihrer Muttersprache gestanden haben (kleinere Klöster) oder aber - unter den Bedingungen des Schweigens - die rezeptiv bekannten morphologischen Formen des Lateinischen beim Schreiben oder Diktieren im Sinne der von der Muttersprache gewohnten Syntaxregeln gebraucht haben (größere Klöster). Die Interferenz in den Urkunden mag im Einzelfall näher vorbereitet worden sein durch die Kommunikationssituationen, die mit der Entstehung des Dokuments und seiner Einbindung in bestimmte institutionelle Prozesse zu tun hatten: Redaktionsgespräch; Schreiben einer Vorfassung; Verlesen an ein Publikum, das ein Interesse daran hatte, bestimmte Teile des Textes zu verstehen. Die Auffassung, es habe im frühen Mittelalter auf der Iberischen Halbinsel keine romanisch-lateinische Diglossie gegeben, wie Roger Wright sie vertritt, wurde zurückgewiesen. In Zusammensicht mehrerer Beiträge wurde seine Darstellung in ein differenzierteres Bild des Ablaufs verwandelt. Das Vorhandensein vertikaler Kommunikation, wie es Michel Banniard aufgezeigt hat, bezeugt, dass seit der Spätantike ein diglossisches Verhältnis zwischen Schrift- und Volkssprache herrschte. Im Übergang von den ersten Jahrhunderten des ibero-lateinischen Frühmittelalters zu den späteren beobachtet man, dass sich das Niveau des durch die Urkunden repräsentierten Akrolekts absenkte, ohne dasss man davon sprechen kann, dass sich der Unterschied zwischen Basilekt und Akrolekt verwischte. Durch die Reformen im Anschluss an das Konzil von Burgos 1080 hat sich diese Diglossie verschärft und allmählich ein Be- <?page no="315"?> 4.12 Zusammenfassung 303 wusstsein für die Besonderheit des Romanischen gegenüber dem Latein geschaffen. Doch erst entschiedene Identifizierungs- und Bezeichnungsakte sorgten im Spätmittelalter für eine klare Trennung in zwei als eigenständig anerkannte Sprachen. Durch diese Diskussionen konnte die einfache Konstellation, von der Menéndez Pidal und Bastardas Parera durch die empirischen Erfahrungen mit den Texten selbst ausgingen, auch gegenüber den kritischen Ansprüchen neuerer Theorien verteidigt werden. Dennoch erwies sich der repräsentative Wert der Urkunden in mehrfacher Hinsicht als eingeschränkt. Zwar werden wichtige Wortschatzanteile und Grammatikbereiche sichtbar, es gibt aber bedeutende Gebiete, die einfach durch die Eigenart der Gattung ausgeblendet werden und deren Entwicklung man in keiner Weise beobachten kann. Im Falle der Grammatik entziehen sich Prozesse der Herausbildung modaler Adverbien, die indirekte Rede, der ganze Reichtum der temporalen Adverbien der Beobachtung. Beim Wortschatz bleibt fast das gesamte Inventar an Adjektiven verborgen, einzelne Verbklassen wie Wahrnehmungsverben, mentale Verben, Verben der physischen Veränderung, der sozialen Beziehung, Existenzverben sind nicht oder kaum vertreten. Immerhin sind damit keine wesentlichen Einschränkungen bei der Repräsentation von Valenzen verbunden. Aber etwa die Beobachtung der Herausbildung und Ausbreitung des persönlichen, präpositionalen Akkusativs ist unter diesen Voraussetzungen nicht möglich, da Verbklassen, die mit einiger Regelmäßigkeit Personenbezeichnungen in direkter Objektsfunktion verlangen, in der Urkundensprache nicht vertreten sind. Immerhin erwiesen sich die Urkunden im Vergleich zu anderen Texten des Mittellateins, vor allem Chroniken, als deutlich ertragreicher. Für das Verständnis des sechsten Kapitels ist schließlich das in Anlehnung an Henri Frei und im Weiterdenken der Identitätshypothese erreichte Ergebnis wichtig, dass die Art und Weise, wie in den Dokumenten auf lateinische Formen zurückgegriffen wird, teilweise durch bestimmte Ausdrucksnotwendigkeiten bedingt sein kann. <?page no="316"?> 5. Methodischer Exkurs: Bedingungen und Möglichkeiten der Rekonstruktion vergangener mündlicher Sprache Was im vorigen Kapitel der vorliegenden Untersuchung herausgearbeitet wurde, bezieht sich in erster Linie auf den Fall der frühmittelalterlichen lateinischen Urkunden, die in Spanien und Portugal verfasst wurden. Doch die Erkenntnisse, die hier gewonnen wurden, lassen sich verallgemeinern und in einen weiter gefassten Rahmen stellen. Es geht um die Grundfrage, in wie weit generell die Möglichkeit besteht, die mündliche Sprache früherer Epochen zu rekonstruieren. Dies soll in dem nun folgenden Kapitel der Arbeit in gewissen Umrissen beantwortet werden. Im Hinblick auf den thematischen Faden handelt es sich dabei natürlich um eine Abschweifung, einen Exkurs. Wir hatten oben (Kap. 2) vier Beobachtungsmilieus unterschieden: opak, semi-transparent, transparent und evident. Im Rahmen dieses Exkurses besteht nun Raum zu erörtern, durch welche Eigenschaften diese empirischen Grundsituationen gekennzeichnet sind. Zunächst einmal sollte man sich vor Augen führen, welche Epochen u.a. Beispiele für diese Beobachtungsmilieus abgeben. • opak (es gibt keine Texte, die die Sprache bezeugen): Indogermanisch • semi-transparent (Diglossie; die L-Varietät ist durch einige der in der H- Varietät verfassten Texte hindurch zu erkennen): Vulgärlatein; frühes Romanisch vor der Verschriftlichung • transparent (es gibt keine direkten Dokumentationen für die mündliche Sprache, aber die Schriftsprache ist eine Umformung der mündlichen Sprache und reagiert außerdem in kürzeren Zeitabständen auf Veränderungen im umgangssprachlichen Bereich): romanische Texte des Mittelalters und der Neuzeit (bis spätes 20. Jh.) • evident (es existieren Tonbandaufnahmen und Transkripte, die die wirkliche mündliche Sprache dokumentieren): die gegenwärtige Epoche (seit dem späten 20. Jh.) Historische Sprachwissenschaft, wie sie im romanistischen Kontext betrieben wird, bewegt sich vor allem in einem transparenten und daneben auch einem semi-transparenten Beobachtungsmilieu. Welchen Bedingungen unterliegt die Erforschung der mündlichen Sprache in diesen Milieus? Für das semi-transparente Beobachtungsmilieu kann die in Kap. 4 der vorliegenden Arbeit durchgeführte Erörterung - trotz der zum Teil sehr <?page no="317"?> 5. Methodischer Exkurs 305 spezifischen Randdaten der Dokumentationssituation der hispanisch-lateinischen Urkunden - Hinweise geben. Im vorliegenden Fall hatten wir es mit einer Schriftsprache zu tun, dem (spanisch-portugiesischen) Mittellatein, die sich in verschiedenen Diskurstraditionen ausdrückte. Nicht alle diese Traditionen erlaubten Rückschlüsse auf die Volkssprache, lediglich die Urkunden waren in dieser Hinsicht besonders aufschlussreich. Nun ist anzunehmen, dass in einer Diglossie generell die Situation gegeben ist, dass nie das gesamte Spektrum der Gattungen Texte liefert, in die sich die gleichzeitig gesprochene L-Varietät einmischt. Nur ein Teil wird günstig sein. Selbst ein so verschiedenartiges Spektrum an Texten, wie es die Quellen des Vulgärlateins sind, ist ja in zweierlei Hinsicht begrenzt: erstens sind auf die ganze Länge der Dokumentation (200 v. Chr. - 500 n. Chr.) bestimmte Gattungen zu keinem Zeitpunkt vulgärlateinisch geprägt oder beeinflusst, so etwa das Epos oder die Lyrik oder die Gesetzestexte; zweitens - und das ist noch wichtiger - stellen zu jedem Zeitpunkt der durch die Quellen bezeugten Periode jeweils immer nur wenige Gattungen auswertbare Daten zur Verfügung. Wenn das letzte Drittel des ersten Jahrhunderts durch die Graffiti von Pompeji und verschiedene Grabinschriften belegt ist, dann wird der Anfang des folgenden Jahrhunderts außer durch Grabinschriften im Wesentlichen noch durch die Gattung „Brief“ (eines ägyptischen Soldaten) repräsentiert. In der Spätantike verbreitert sich zwar das vulgärlateinische Gattungsspektrum, aber trotzdem sind nicht alle Diskurstraditionen beteiligt. Einige besonders aufschlussreiche Textsorten, die auf Grund der Vielfalt ihrer thematischen Aspekte und Sprechakttypen weit reichende Aussagen über die Veränderung der Sprache erlauben sollten, finden keine Fortsetzung. So fehlt die Komödie, die sich noch in altlateinischer Zeit, bei Plautus und Terenz, hinsichtlich der Spuren des gleichzeitigen Sprechlateins fruchtbar auswerten lässt, im spätantiken Quellenbestand. Man hat es also entweder mit wechselnden Fächern an Beleg-Gattungen zu tun, die keine kontinuierliche Beschreibung erlauben, oder aber mit einer äußerst beschränkten Zahl an Diskurstraditionen mit Mündlichkeitsspuren, die längere Perioden der Entwicklung belegen. In beiden Versionen ist das Spektrum der belegenden Gattungen gegenüber dem gesamten Gattungssystem (des iberischen Mittellateins, des spätantiken Schriftlateins, des Lateins der klassischen Periode usw.) eingeschränkt. Dies wirkt sich im semitransparenten Milieu nun so aus, dass der Wert der Dokumentation durch die Eigenarten der dokumentierenden Gattungen bestimmt wird. Wie viele Anteile der gleichzeitigen mündlichen L-Varietät zu erkennen sind, hängt davon ab, wie stark die sprachlichen Bewahrungskräfte und Archaisierungstendenzen der Gattung wirken und wie mächtig in ihrem Selbstverständnis und ihrer Realisierung durch Participants der Anspruch ist, dem Ideal eines guten Stils zu entsprechen. Im vorliegenden Fall stellte sich dies als Problem der Formelhaftigkeit der Urkundensprache dar. In vulgärlateinischer Zeit <?page no="318"?> 5. Methodischer Exkurs 306 werden verschiedene Hoch-Gattungen durch das Stilideal geschützt, andere, auch solche mit Mündlichkeitsspuren, transportieren auf der Grundlage eines traditionellen Formelinventars alte Ausdrucksformen durch viele Jahrhunderte, obwohl diese in der Umgangssprache schon verschwunden sein können. Hier ist wieder an die Grabinschriften und allgemein an die Rechtssprache zu denken. Ebenfalls gattungsbedingt ergibt sich die Frage, für welche grammatikalischen Formen und Konstruktionen und welche Lexien eine Beobachtung der Wandelprozesse überhaupt möglich ist, da das Vorkommen von Formen, Konstruktionen, Lexien davon abhängt, welche Themen im Rahmen der datenträchtigen Diskurstradition(en) üblicherweise behandelt werden und über welche Sub-Sprechakte die Gesamtaussage eines solchen Textes gewöhnlich entfaltet wird. Schließlich spielen Merkmale der Kommunikationspartner eine Rolle, die an der Realisierung einer Daten liefernden Diskurstradition beteiligt sind, wie etwa Eigenschaften des Bilinguismus ihrer Verfasser oder deren Bildungsgrad: Konnte sich hier Volkssprache eingemischt haben, welche Form der Volkssprache konnte interferieren? Waren die Rezeptions- und Redaktionsbedingungen günstig für das Durchdringen der Volkssprache? Solche Fragen sind nicht nur im Zusammenhang mit den hispanisch-lateinischen Urkunden zu stellen, die in der vorliegenden Arbeit untersucht werden, sondern spielten schon bei der Beurteilung vulgärlateinisch geprägter Texte eine bestimmende Rolle. Wenn geklärt ist, inwieweit die vom Regelwerk abweichenden Charakteristika durch die Interferenz der L-Varietät bedingt sein können, kann man mit dem gleichen Inventar als methodischen Elementen in die Einzelfall- Diskussion einsteigen. Für jeden einzelnen Kandidaten einer möglichen Spur ist dann auszumachen, ob die gewählte Formulierung auch durch spezifische Ansprüche der Gattung erklärt werden kann, ob es sich um einen bloßen Fehler im Umgang mit den Regeln der H-Varietät handeln kann, die simplifiziert oder zu stark generalisiert wurden, oder ob tatsächlich der Fall vorliegt, dass da eine L-Konstruktion, L-Form oder L-Lexie übernommen wurde. Ergebnis einer solchen Bemühung wird dann ein Nebeneinander von Aussagen zu Einzelentwicklungen sein, das nur partielle Einblicke in die gleichzeitige basilektale Sprechsprache erlaubt. Wesentlich günstiger dagegen scheinen die Möglichkeiten zu einer Rekonstruktion der mündlichen Sprache im transparenten Beobachtungsmilieu, wenn also für den bisherigen Basilekt eine schriftsprachliche Ausdrucksebene ausgebildet wurde. In diesen Modus der sprachlichen Kommunikation werden viele Elemente aus der mündlichen Mitteilungsform übernommen. Die Mehrzahl der Eigenschaften von Sätzen, viele Formen und eine große Zahl an Wörtern kommt sowohl in der mündlichen als auch in der schriftlichen Mitteilung vor. Diese Offenheit zur mündlichen Seite hin lässt sich <?page no="319"?> 5. Methodischer Exkurs 307 nicht zuletzt am relativ schnellen Wandel erkennen, der volkssprachliche Schriftsprachen kennzeichnet. Nun zeigen einige methodische Überlegungen, dass die Möglichkeiten, eine vergangene Umgangssprache zu rekonstruieren, auch im transparenten Milieu begrenzt sind. Man ist weit von der Zugänglichkeit entfernt, die das evidente Beobachtungsmilieu bietet. Dies legen einige Beiträge in Jacob/ Kabatek (2001) nahe. So weist Jacob darauf hin, dass es auch in einer gegenüber Dialekten noch offeneren Form der Schriftsprache, wie sie im Mittelalter zum Teil gegeben ist, viele Varietäten gibt, die nicht in Texten vertreten sind. Im Fall von Spanien ist hier an die stark diskontinuierliche und im Spätmittelalter völlig abbrechende Dokumentation von Varietäten des Leonesischen oder Aragonesischen zu denken. Auch volkstümliche Soziolekte mögen - trotz einiger volksnaher Gattungen wie etwa der fabliaux in Frankreich - gegenüber der Fülle der diastratischen Realität eher spärlich festgehalten sein. Zentral für Jacob ist seine Idee, dass der Fächer an Funktionen, die durch eine Form realisiert werden, sich bei näherer Betrachtung auflöst in eine Reihe heterogener Kommunikationsanlässe, die an den Kontext verschiedener Gattungen oder Typen von Dialogsituationen gebunden sind. Daher müsse man bedenken, dass immer die Möglichkeit bestehe, dass das vorhandene, in der Schriftlichkeit genutzte Gattungsinventar insgesamt gar nicht genügend Anlässe für die Verwendung einer bestimmten Form bot, um die Fülle der Gebrauchsmöglichkeiten dieser Form, die in der gleichzeitigen mündlichen Sprache vielleicht gerade genutzt wurden, in repräsentativer Weise widerzuspiegeln. Viele mittelalterliche Texte waren Übersetzungen. Dies könnte nun insofern zu Inkongruenzen zwischen ihnen und dem mündlichen Romanisch der Epoche geführt haben, als für verschiedene Merkmale dieser Texte nicht diese mündliche Sprachform, sondern vielmehr die Quellsprache das anregende Vorbild abgegeben haben könnte. Schließlich sei an die Heterogenität der Texte zu denken. Kopisten waren im Mittelalter berechtigt, den Vorlagentext zu verändern, u.a. in Beziehung auf ihren eigenen Dialekt, wenn dieser Text für ein Lesepublikum einer jeweiligen Gegend angemessen aufbereitet werden sollte. Da diese Eingriffe durchaus nicht sprachlich konsequente, in sich stimmige Manuskripttexte zur Folge hatten, steht der anzunehmenden Homogenität der mündlichen Varietäten eine gewisse Heterogenität der Texte gegenüber. Andere Schwierigkeiten erkennt Mario Barra Jover (im selben Band). Da sich die mündliche Sprache verändert, ist es natürlich notwendig, die zu ihrer Rekonstruktion herangezogenen Texte genau zu datieren. Eine solche präzise zeitliche Zuordnung sei häufig aber nicht unstrittig erreichbar. Dieser Mangel verstärkt sich aus seiner Sicht noch durch das von ihm so genannte „n+1- Problem“. Wenn bis zu einem bestimmten Zeitpunkt der philologischen Beschäftigung mit den vergangenen Texten die Form für einen gerade unter- <?page no="320"?> 5. Methodischer Exkurs 308 suchten Zeitpunkt noch nicht dokumentiert ist, so bedeute das nicht, dass man bei Betrachtung eines neu gefundenen oder auch bloß erstmals in Angriff genommenen Analysetextes aus der fraglichen Zeit nicht doch noch auf diese Form treffen könne. Nach Barras Ansicht lässt sich nie mit Sicherheit sagen, wann eine Entwicklung in der Schriftlichkeit und damit der ungefähr gleichzeitigen Sprechsprache begonnen hat. Insgesamt sei der Vorrat an dokumentierenden Texten, über den wir heute verfügten, doch spärlich, und Barra Jover kommt zu der Konsequenz, die Sprachform eines Textes und die mit ihr verbindbaren Regeln zunächst einmal ganz strikt als Idiolekt und nichts weiter zu betrachten. Wulf Oesterreicher weist in seinem Beitrag (wieder im selben Band) darauf hin, dass die mittelalterlichen Texte in einen begleitenden semiotischkommunikativen Kontext eingebunden waren, den man zur richtigen Einschätzung der Formen erst einmal in seiner Fülle rekonstruieren müsse. Man müsse die Texte rekontextualisieren, erst dann könne man die sprachlichen Ausdrucksformen selber vollständig beurteilen. Hier könnte man noch anfügen: Nicht anders als bei Texten aus dem semi-transparenten Milieu auch, wie es ja im vorliegenden Fall versucht wurde. All diese Unschärfen des Dokumentationswerts - varietätenbezogene Heterogenität und Lückenhaftigkeit der Texte, Einfluss von Quellsprachen bei Übersetzungen, Unter-Repräsentation von Verwendungsanlässen, offene Datierungen, mögliche neue Textfunde (n + 1-Problem), Kontextentbundenheit - relativieren die auf den ersten Blick so offensichtlich wirkende Nähe zur Mündlichkeit doch beträchtlich. Zumindest was mittelalterliche Texte betrifft. Es fragt sich, ob das transparente Milieu, wenn es auch mit sehr anders gelagerten Schwierigkeiten behaftet ist, in seinem Dokumentationswert für die gleichzeitige mündliche Sprache wesentlich über die Möglichkeiten des semi-transparenten Milieus hinausgeht. <?page no="321"?> 6. Analyse der sprachentwicklungsrelevanten Phänomene im Urkundenlatein der Iberischen Halbinsel In diesem Teil soll nun analysiert werden, welche Spuren der im dritten Kapitel beschriebenen Grammatikalisierungsprozesse sich in den Urkunden tatsächlich nachweisen lassen. Der Vergleich des sich im klassischen Latein spiegelnden Sprachzustands mit den altromanischen Synchronien des 12./ 13. Jahrhunderts lässt keinen anderen Schluss zu, als dass diese Grammatikalisierungsprozesse tatsächlich stattgefunden haben. Allein die abstrakte Rekonstruktion der Verbindungen zwischen den genannten Sprachzuständen zwingt zu dieser Annahme. Die genaue Beschreibung der Grammatikalisierungswege wird außerdem gelenkt durch die Befunde der vulgärlateinischen Texte, die durch ihre Textsortenvielfalt eine große Zahl an Einzelentwicklungen sichtbar machen. Für das Frühmittelalter muss man sich in erster Linie auf das so erreichbare Bild der Vorgänge verlassen, d.h., man muss zur Charakterisierung des Wandels die in der Antike angefangenen Grammatikalisierungswege einfach fortsetzen. Was die empirische Seite betrifft, so ist aus den Darlegungen des vierten Kapitels klar geworden, dass die Spuren in den lateinischen Schriften dieser Zeit so vielen Einflüssen unterliegen, dass sie im Unterschied zu den Quellen des Vulgärlateins wahrscheinlich keine konkreteren Angaben erlauben, durch die diese abstrakten Beschreibungen regelrecht ergänzt werden können. Man kann in den Urkunden aber immerhin nach empirischen Hinweisen dafür suchen, ob die Prozesse so abgelaufen sein könnten, wie sie von den abstrakten Grammatikalisierungswegen geschildert werden. Diese gelten eigentlich für sich, sie benötigen die Spuren in den Urkunden nicht als Beweis. Es geht darum, ob wir über unsere theoretischen Schlussfolgerungen hinaus zusätzlich irgendetwas Empirisches in der Hand haben. Dass die Texte des zu analysierenden Textsortenbereichs überhaupt brauchbare Quellen für solche Hinweise abgeben könnten, ist im vierten Kapitel allerdings herausgearbeitet bzw. verteidigt worden. Jetzt soll untersucht werden, wie die verschiedenen Formen der Regelabweichung im Einzelnen zu beurteilen sind. Zunächst soll das Korpus näher charakterisiert werden, das der vorliegenden Untersuchung zu Grunde liegt. Es ist so angelegt, dass es zeitlich streut und drei Jahrhunderte repräsentiert. Prinzipiell besteht natürlich ein Interesse daran, aus den Daten der Analyse Aussagen über den zeitlichen Ablauf der dokumentierten Grammatikalisierungsprozesse zu erschließen. Die Möglichkeiten und Grenzen einer solchen Chronologie werden in Kap. 6.2 erörtert, dessen Überlegungen auf eine die Detailuntersuchung bestimmende <?page no="322"?> 6. Analyse der sprachentwicklungsrelevanten Phänomene 310 Leitthese zulaufen. Als weiteres Ergebnis dieser Diskussion wird ein Analyseschema entwickelt, durch das sich die einzelnen sprachentwicklungsrelevanten Phänomene bestimmten Typen von kausalen Konstellationen zuordnen lassen, auf die sie zurückgeführt werden können (s. S. 359f.). Bevor dann zum Kernteil übergegangen wird (6.4), ist in einer Art Einleitung über einige Aspekte zu reden, die die Lektüre der Textauszüge erschweren, wie die Komplexität der Wortstellungsmuster oder Effekte mangelnder Integration (6.3). In Kap. 6.3.4 wird dabei erörtert, was sich über die negative Grammatikalisierung, den lateinisch-romanischen Wortstellungswandel aus den Urkunden ablesen lässt. Grundlage für die Erörterungen in Kap. 6.4 sind die in 3.2 aufgestellten, schematischen Grammatikalisierungswege. 6.1 Die empirische Basis und einige methodische Bedingungen ihrer Analyse Wie schon in der Einleitung angedeutet, wurde ein kleines, konzentriertes Korpus gebildet, um die Phänomene mit genügender qualitativer Feinheit zu deuten. Trotz ihres begrenzten Umfangs bietet diese Textsammlung für jeden Typ der Regelabweichung immer mehrere Beispiele. 6.1.1 Das untersuchte Korpus Das Korpus besteht aus einer Reihe kleinerer Textgruppen, die jeweils einer von 12 Urkundensammlungen selektiv entnommen wurden. Diese 12 Urkundensammlungen lassen sich verschiedenen Gebieten der Iberischen Halbinsel zuordnen, für die sie repräsentativ sind (s.u.). In der Mehrzahl handelt es sich um sogenannte Cartularios oder Becerros, angelegt von größeren Klöstern für eigene Zwecke. Die Cartularios setzen sich aus im 12. und 13. Jahrhundert angefertigen Abschriften von Urkunden früherer Jahrhunderte zusammen. Nach José Rius, dem Herausgeber des Kartulars von San Cugat, beweist die Tatsache, dass gerade im 12. und 13. Jahrhundert so viele Kartularien entstanden, dass man die Originale in diesen Jahrhunderten mehr und mehr in Gerichtsverfahren verwenden musste, da die weltliche Macht den wirtschaftlichen Einfluss der Geistlichkeit immer deutlicher als Gegner empfand und gegen ihn vorgehen wollte (Rius 1945: ix). In der Regel haben die Editoren für ihre Ausgabe allerdings nicht die Abschriften, sondern die ihnen entsprechenden Originale herangezogen, soweit diese noch auffindbar waren. Zwei der Sammlungen wurden überhaupt erst durch die Herausgeber selber auf der Grundlage von Originalen zusammengestellt (Einzelheiten folgen weiter unten). Die Hauptorientierung für die Auswahl der Kartularien gab die Liste in Bastardas (1953: XXXIV ff.). Die Auswahl der Gebiete, die dokumentiert werden sollten, richtete sich natürlich nach der diatopischen Staffelung des frühmittelalterlichen Ibero- <?page no="323"?> 6.1 Die empirische Basis 311 1 Das Manuskript, in dem das Gedicht des Cid überliefert ist, stammt erst aus dem 14. Jahrhundert (Frank/ Hartmann 1997: 38). Im Inventaire wird in Konsequenz des Manuskriptprinzips eine grundsätzliche Zurückhaltung gegenüber einer Vorverlagerung von Texten vor das Datum ihrer Dokumentation geübt. Demgegenüber ist darauf hinzuweisen, dass das Werk trotz seiner späten Verschriftung mit Hinblick auf seine sprachlichen Züge eindeutig in die von Menéndez Pidal vermutete Entstehungszeit gehört. Die große Zahl an Apokopen, die häufige Auslassung des bestimmten Artikels, der massive Einsatz der neutralisierenden Universalkonjunktion que, die wohl der noch mangelnden Ausgestaltung expliziter Konjunktionen zuzuschreiben ist, sprechen klar für ein älteres Stadium des Kastilischen als romanischen. Das Gebiet der katalanischen Dialektgruppe ist durch 3, das der navarro-aragonesischen durch 1, das kastilische durch 3, das asturische durch 2, das galego-portugiesische durch 3 Textsammlungen vertreten. Die auf das Navarro-Aragonesische beziehbare Sammlung aus dem Kloster San Millán de la Cogolla ist - zusammen mit den Texten aus den Portugaliae Monumenta Historica - die umfangreichste von allen und repräsentiert das Gebiet in einer vergleichbaren Größenordnung wie bei den anderen Regionen. Jeder der fünf diatopischen Räume ist durch eine Zahl an Urkunden in der Größenordnung von 20-30 vertreten: Katalonien (22 Urkunden); Aragón und Navarra (19 Urkunden); Kastilien (28 Urkunden); Asturien (18 Urkunden), Galicien und Portugal (25 Urkunden). Die Zahlen sind trotzdem nicht vollkommen identisch. Man darf dabei nicht vergessen, dass die Urkunden nie gleich lang sind und auch nicht in exakt gleicher Dichte Abweichungsphänomene präsentieren. Es ergibt sich lediglich ein ungefähres, nicht präzise kontrollierbares Gleichgewicht zwischen den Zonen der fünf verschiedenen Dialektgruppen. Zeitlich erstreckt sich das Korpus von der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts bis zum Ende des 11. Jahrhunderts. Dass die Texte des Korpus im 8. Jahrhundert ansetzen, hat schlicht damit zu tun, dass einige der in Anlehnung an Bastardas konsultierten Sammlungen zu dieser Zeit beginnen. Dabei ist lediglich das Diploma Silonis Regis (Documentos gallegos 1) von 775 in seiner Datierung unumstritten. Doch sind die anderen Urkunden des 8. Jahrhunderts mindestens so früh entstanden, dass sie sich der Zeit um 800 herum zuordnen lassen. Dieser allgemeine Zeitraum der frühesten Dokumentation im Korpus ist sprachgeschichtlich gut begründet, da er dem Verlauf des diglossischen Abstands zwischen Akrolekt und Basilekt folgt. Wie in Kap. 4.6 gezeigt wurde, waren die lateinisch verfassten Schriftwerke zur Zeit Isidors in kaum nennenswertem Maße vom gleichzeitigen Romanischen geprägt. Erst in der Zeit nach den Wirren im Zusammenhang mit dem arabischen Einbruch wurden lateinische Texte verfasst, die eine deutlich höhere Zahl an möglichen Kontaktstellen zur Volkssprache bieten, so dass Akrolekt und Basilekt sich ein wenig annäherten. Die obere Grenze der Korpusdokumentation bildet das Jahr 1100. Die Urkunden des 12. Jahrhunderts wurden nicht mehr mit einbezogen, weil mit dem Fuero de Madrid, dem Fuero de Avilés, den Omilies d’Organyà sowie dem Cantar de Mío Cid 1 , für das 12. Jahrhundert Texte <?page no="324"?> 6. Analyse der sprachentwicklungsrelevanten Phänomene 312 dasjenige, das sich in den Schrifttzeugnissen des 14. Jahrhunderts niederschlägt. Es ist bekannt, dass der Cid ebenso wie die griechische Ilias eine Phase konstituierte, in der trotz Verzichts auf buchstabenmäßige Fixierung geplant und sorgfältig konstruierte Texte allein im mündlichen Medium aufgebaut und tradiert wurden. Dieses Epos ist ein wesentlicher Repräsentant einer Übergangszone zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Da sein Text aber offenbar ohne einschneidende Veränderungen bis zum Zeitpunkt seiner schriftlichen Fixierung mündlich überliefert wurde, dient er den Linguisten zu Recht als Zeugnis für den Sprachzustand des Kastilischen in dieser Übergangszeit, also im frühen 12. Jahrhundert. mit reichem, vielfältigem Sprachmaterial gegeben sind, die die altkatalanischen, altspanischen, altaragonesischen und altleonesischen Sprachzustände in ausreichendem Maße dokumentieren, so dass es für das 12. Jahrhundert nicht mehr fraglich ist, wie die Etappen der Grammatikalisierungswege aussahen. Da man auch für Galizien und Portugal eine parallele Entwicklung auf den Grammatikalisierungskanälen vermuten muss, scheint es auch hier überflüssig, noch im 12. Jahrhundert nach Spuren in Urkunden zu suchen. Es handelt sich freilich um eine recht abstrakte Grenze, die aber dem schematisierenden Charakter der Grammatikalisierungswege entspricht. Nach welchen Kriterien wurden nun die einzelnen Urkunden ausgewählt? Es wurden solche Urkunden gesucht, aus denen sich potentiell möglichst viele Rückschlüsse in Bezug auf Grammatikalisierungsvorgänge würden ziehen lassen. Es kam also darauf an, sich bei der Auswahl nach solchen Eigenschaften zu richten, die beim ersten Lesen darauf hindeuteten, dass in einer gegebenen Urkunde viele Kandidaten für romanische Spuren enthalten sein würden, ohne dass man dies im jeweiligen Fall schon in einer aufwändigen Einzeluntersuchung geklärt hätte. Solche Hinweise auf günstige Urkunden waren erstens das Vorkommen von Mündlichkeitsspuren, wie Dislokationen, Anakoluthen u.ä., zweitens die starke Präsenz von morphosyntaktischen Turbulenzen beim Gebrauch lateinischer Formen und drittens schließlich das Vorkommen einzelner, sehr auffälliger Formen - etwa romanischer Personalpronomina -, die vermuten ließen, dass der Einfluss des romance in einer solchen Urkunde auch ganz allgemein sehr stark sein könnte. Im Ergebnis ist ein Korpus zusammengekommen, das alles in allem doch recht klein aussieht. Darin könnte man freilich ein Problem sehen. Denn es scheint, gerade angesichts der modernen Möglichkeiten der empirischen Analyse, auf den ersten Blick naheliegend, ein besonders großes Urkundenkorpus zu untersuchen, um gültige statistische Aussagen zu erreichen. Dadurch wäre doch auch der zeitliche Verlauf der Grammatikalisierungsprozesse erfassbar, weil man in die Lage versetzt würde, die mengenmäßigen Verstärkungen und Schrumpfungen von Vorkommen eines Abweichungstyps sowie die internen Verändungen jedes Abweichungstyps zu dokumentieren. Hier könnte man sich die elektronischen Korpora zu Nutze machen, <?page no="325"?> 6.1 Die empirische Basis 313 2 Sie ist einsehbar unter der URL http: / / www.ilg.usc.es/ tmilg/ proxexto.html die mittlerweile in sehr umfangreichem Maße erstellt worden sind und teilweise sogar im Internet zur Verfügung stehen. Ein herausragendes Beispiel ist die TMILL-G genannte Sammlung mittelalterlicher lateinischer Urkunden, die im Instituto da Lingua Galega erarbeitet wurde 2 . Zu diesem Einwand gegen ein kleines Korpus ist Folgendes zu sagen: Mehrere große Urkundensammlungen auf alle grammatisch relevanten Abweichungsphänomene hin zu untersuchen, die darin vorkommen, erfordert sehr viel Zeit und ist für einen einzelnen Forscher praktisch nicht durchführbar. Wenn, dann müsste dies im Team angegangen werden, und dieses Forscherteam müsste außerdem recht groß sein. Bliebe die Möglichkeit, die Urkunden vielleicht parsen zu lassen. D.h., ein Computerprogramm zu schreiben, das die Sätze selbstständig analysiert und ihnen eine syntaktische Struktur samt morphologischer Beschreibung zuordnet. Allerdings benötigt ein solches Programm sichere Vorgaben. Solange man ihm in algorithmischer Form angeben kann, wie die Strukturen aussehen, die es abarbeiten muss, funktioniert das Programm und produziert Beschreibungen. Ein Parser kann aber nur dann erfolgreich angewandt werden, wenn er mit berechenbaren Strukturen zu tun hat, die sich zwar in einem gewissen Umfang abwechseln, deren Aufbau und Art des Ineinandergreifens aber für jede Teilstruktur schon im Parser beschrieben wird. Nun enthalten diejenigen Einzelurkunden der Kartularien, die quantativ und qualitativ interessante Spuren des Romanischen bieten, üblicherweise Stellen, an denen überraschende, nicht berechenbare Strukturen auftreten, auf die sich ein Parser prinzipiell nicht vorbereiten lässt und die sich daher nicht algorithmisch abarbeiten lassen. Wie sehr eine brauchbare Beschreibung der vorhandenen Satzstrukturen hier von menschlicher Beurteilung der semantischen und syntaktischen Verhältnisse der Stelle selber und ihres Kontextes abhängt, zeigen die zahlreichen Kommentare und strukturellen Erklärungsversuche (Vermerk [[Struktur: ]]), die etwa in den Urkunden des Anhangs zu finden sind. Es sind vor allem die in Kapitel 6.3.1 angesprochenen Besonderheiten des Satzbaus, die verhindern, dass sich ein Algrorithmus konstruieren lässt, der mit sicherer Hand zu verlässlichen Analyseergebnissen führen würde. Selbst wenn die meisten Strukturen routinemäßig zu erstellen wären, müssten alle Ergebnisse noch einmal durch einen menschlichen Analysator überprüft werden, denn die Gefahr, dass mindestens zwei oder drei Strukturen falsch sind, besteht über alle Satzsequenzen hinweg. Dann könnte der Text aber genauso gut von vorneherein von einem Menschen durchgearbeitet werden. Die begrenzten zeitlichen Möglichkeiten eines einzelnen menschlichen Analysators sind kaum durch ein geeignetes Computerprogramm zu überwinden. Aber auch dann erscheint das Korpus immer noch zu wenig um- <?page no="326"?> 6. Analyse der sprachentwicklungsrelevanten Phänomene 314 3 Die Texte wurden mit Mitteln des SFB 321 der Universität Freiburg eingescannt. Auf diese Weise konnte hoher Zeitaufwand, wie er für ein Eintippen nötig gewesen wäre, eingespart werden. Da die vorliegende Arbeit nicht direkt im Rahmen des Sonderforschungsbereichs angefertigt wurde, bin ich dem SFB speziell für diese technische Hilfestellung besonderen Dank schuldig. fangreich. Hätte es nicht doch mindestens mehrere Hunderter-Einheiten umfassen können? In der Tat sollten ursprünglich 300 Urkunden betrachtet werden. Diese Zahl wurde auch eingescannt. 3 Doch im Fortschreiten der Fehlerbeschreibung zeigte sich erstens, dass praktisch jede der ausgewählten Urkunden Anlass zu vielen Anstreichungen sowie jeweils einer Reihe von strukturellen und anderen klärenden Kommentaren gab, so dass schon durch eine einzige reichlich Material geboten wurde. Zweitens trat im Laufe der Zeit immer stärker hervor, wie gleichartig die Information war, die aus den ausgewählten Texten zu ziehen war. Immer wieder waren viele Vorkommen von artikelverdächtigen ille-Verwendungen zu vermerken, immer wieder der Gebrauch von de und ad als Ersatz von Genetiv und Dativ, immer wieder fand man analytische Passivformen, die temporal im Sinne einer romanischen Passivform zu deuten waren usw. Letzten Endes war es diese Gleichartigkeit, die mich zum Abbruch weiterer Analysen und zur Einschränkung des Korpus bewogen. Mein Ziel bei der statistischen Auswertung lag darin zu bestimmen, welche Formen in einem bestimmten Funktionsbereich so auffällig häufig als Konkurrenten zu schullateinisch geforderten Formen auftraten, dass ihre Verwendung seitens der Verfasser einen funktionalen Sinn haben musste und nicht als vollkommen unkontrolliert und ungeordnet eingeschätzt werden konnte. Nach mehreren Analyse- und Auswahlphasen wurde das Korpus schließlich auf 112 Urkunden eingeschränkt, mit 20-30 Urkunden pro repräsentiertem Gebiet. Dass so immer noch genug relevante Stellen zusammenkamen, zeigt sich an der Gesamtzahl der als Abweichung angestrichenen Stellen: Es wurden 4029 Stellen markiert und kommentiert. Zieht man eine Reihe von Passagen ab, an denen Hyperbata und gelungene absolute Konstruktionen als Hinweise auf eine mögliche bessere Lateinkompetenz angestrichen wurden oder raumdeiktische Verwendungen von ille in mitten einer Serie von textdeiktischen klärend hervorgehoben wurden, kommt man immer noch auf eine Größenordnung von 4000 Vorkommen sprachentwicklungsrelevanter Phänomene, also Abweichungen im Vergleich zu den klassisch-lateinischen Regularitäten. Die Typen von Phänomenen, die Bastardas herausgearbeitet hat und die von mir ebenfalls in den Urkunden des Korpus festgestellt werden konnten, machen eine Zahl von ca. 120 unterschiedlichen Abweichungskategorien aus. Daraus folgt, dass für jeden Typ der zu beschreibenden sprachentwicklungsrelevanten Erscheinungen im Durchschnitt mehr als 30 dokumentierende Stellen zur Verfügung stehen könnten. Natürlich sind viele Typen weitaus schwächer repräsentiert, aber die meisten Phänomene sind mit einer Häufigkeit von Vorkommen vertreten, <?page no="327"?> 6.1 Die empirische Basis 315 die mindestens um die 10 Fälle liegt. Lediglich einige, zu denen immerhin so wichtige Bereiche wie das periphrastische Perfekt (habet factum), das Gerundium an Stelle von Participium coniunctum oder das analytische Perfekt Passiv der Vergangenheit (fuit factum usw.) gehören, erreichen nur eine Präsenz zwischen 5 und 10 Exemplaren. Hier könnten phänomenspezialisierte systematische Durchsuchungen des gesamten zur Verfügung stehenden Korpus mehr erreichen. Doch alles in allem scheint die so charakterisierte empirische Basis genügend Rückhalt zu bieten, um aussagekräftige Feststellungen zu treffen. Nicht zuletzt erlaubte ein auf wenige Urkundenexemplare konzentriertes Vorgehen, in die Untersuchung der einzelnen Textstellen mehr Überlegung hineinzulegen, als wenn ich mich bemüht hätte, eine möglichst große Masse an aussagefähigem Material anzusammeln. Das Ergebnis dieser Analysen demonstrieren die fünf Beispiele des Anhangs sowie das vollständige Korpus, das auf der beiliegenden CD-ROM zu finden ist. Natürlich kann man fragen, ob Korpora, die ein vergleichbares Untersuchungsziel haben, also die Analyse der Abweichungsphänomene mit genauer Rücksicht auf ihre textliche Umgebung, immer so klein bleiben müssen oder ob sie, wenn schon nicht ein Computerprogramm dazu in der Lage ist, nicht doch durch ein größeres Forscherteam erheblich an Umfang gewinnen könnten. Und ob dann nicht auch Aussagen über den zeitlichen Verlauf der letzten Etappen der Grammatikalisierungswege, die direkt auf die altromanischen Synchronien des 12./ 13. Jahrhunderts zuführen, möglich wären. Hoffnungsvoll in dieser Hinsicht stimmt sicherlich das Vorhandensein elektronisch erfasster Textsammlungen. Andererseits zeigen die Darlegungen im vierten Kapitel der vorliegenden Arbeit, wie viele Faktoren an der Entstehung eines einzelnen Abweichungsphänomens beteiligt sein können, mit wie vielen heterogenen Einflüssen zu rechnen ist. Dieser Eindruck wird sich im Folgenden bestätigen, wenn an Hand konkreter Textstellen über diese verschiedenen Auslöser nachgedacht und sie gegeneinander gewichtet werden. Eine Darlegung des zeitlichen Verlaufs wäre letzten Endes nur für solche Reihen von Abweichungen eines Typs möglich, für die ein konstant gleich starker Einfluss der gleichzeitigen romanischen Umgangssprache vermutet werden kann und für die dieser Faktor auch konstant der einzige oder mindestens der stärkste ist. Mir persönlich scheinen die Möglichkeiten der Einflussnahme zu vielgestaltig, als dass man dies für irgendeinen Abweichungstyp annehmen könnte. Sicher: de und ad etwa als Markierer von Nominalattribut und indirektem Objekt treten von Anfang der dokumentierten Zeit an auf. Da scheint dann von Beginn an eine konstante Anregungswirkung von Seiten der Umgangssprache gekommen zu sein, die auch in späterer Zeit anhielt. Aber: Gab es im Laufe der Jahrhunderte überhaupt noch eine quantitative Verstärkung des Gebrauchs? Mit welchen Kasus wurden de und ad verbunden? Wenn eine Verstärkung stattfand, dann müsste man zu Anfang der Entwicklung annehmen, dass Dativ und Genetiv noch lebendig waren, de und ad also noch mit ihnen konkurrierten. Welche Hinweise dafür würde <?page no="328"?> 6. Analyse der sprachentwicklungsrelevanten Phänomene 316 man in den Urkunden finden können? In Urkunden, die korrekt verwendeten Genetiv zur Markierung des Nominalattributs aufweisen, kann es vorkommen, dass sich gleichzeitig Fälle von Dativverwendung an Genetivstelle finden. Handelt es sich dann um einen Reflex der Umgangssprache, in der beide Fälle noch zur Markierung des Nominalattributs benutzt wurden? Oder sind solche Dativverwendungen vielleicht nur ein indirekter Hinweis darauf, dass im romance Nominalattribute vom Typ „ad + Substantiv“ existierten wie im Altfranzösischen? Oder hat das vielleicht gar nicht mit der gleichzeitigen Volkssprache zu tun, sondern ist vielmehr durch eigenständige Regelbildungen des Verfassers zu Stande gekommen, der das Latein unvollständig erlernt hatte? Er könnte den Dativ, der im Vergleich zu anderen Kasus der Kernprädikation ein stärker peripherer Fall ist (s. Pinkster 1988: 71), als geeignete morphologische Variante betrachtet haben, um ein Substantiv in die Nominalattributfunktion zu bringen. Diese Tendenz ist im Übrigen in vielen Sprachen zu beobachten (vgl. Seiler 1983), weswegen es also nicht einmal ein zufälliges und willkürliches Ergebnis des Lernprozesses wäre, sondern vielleicht so etwas wie ein kognitives Universale. Oder waren dem Verfasser die Verwendungsbedingungen von Genetiv und Dativ gar völlig unbekannt? Vielleicht wollte er das Nominalattribut einfach nur auf eine Weise formulieren, die irgendwie lateinisch wirkte. Dass die Attributfunktion vorliegt, wird sowieso schon durch die reine Nebeneinanderstellung zweier Substantive verständlich, das zeigt das Arabische. Das Kasus-„Gewand“ stellt in dieser Konstellation dann nur noch so etwas wie ein „flag“ dar, eine Angabe mit dem Sinn: ‚Dies ist Latein, dies ist Distanzsprache‘. Es ist die fehlende Konstanz der Stärke, mit der die Strukturen der gleichzeitigen Umgangssprache auf die Urkundenverfasser einwirken, die eine Nutzung der quantitativen Kräfteverschiebungen zur Rekonstruktion der Entwicklung im Romanischen letztlich durchkreuzt. Dem Einfluss des je zeitgenössischen Romanischen überlagern sich über die gesamte Zeit hin eine Reihe anderer Motive, die für Mengenschwankungen ebenso verantwortlich sein können. Zurück zu demjenigen Korpus, das in dieser Arbeit benutzt wird. Erwähnt werden muss noch, dass ich zur Ergänzung der eigentlichen Analysetätigkeit im Dezember 1994 mit Unterstützung des SFB 321 eine Archivreise nach Spanien unternehmen konnte. Diese Reise diente in erster Linie zwei Zwecken: Erstens bekam ich die Gelegenheit, mich mit den Dokumenten selber in ihrer konkreten Materialität vertraut zu machen; zweitens war dies natürlich ein Anlass, die allgemeine Verlässlichkeit der Editionen zu überprüfen. Da diese nicht von Philologen, sondern von Historikern erstellt worden waren, wäre es möglich gewesen, dass die sprachlichen Formen aus Klärungsbedürfnis und um eine größere Lesbarkeit zu schaffen zum Teil verändert worden waren (vgl. Cabrera 1998: 91). Bastardas hatte dies nicht berücksichtigt und seine Beobachtungen im Vertrauen auf die Editionen angestellt. Ich besuchte das Arxiu de la Corona d’Aragó in Barcelona, wo ich <?page no="329"?> 6.1 Die empirische Basis 317 4 Ein Ergebnis dieser Reise war, dass mir die tatsächliche materielle Verfassung der von mir betrachteten mittelalterlichen Texte später, während der gesamten linguistischen Untersuchung an den eingescannten Versionen, vor Augen stand. Die Skala reicht hier von sehr alten, katalanischen Dokumenten auf losen Pergamenten, die es einem fast schwer machen zu glauben, dass auf ihnen Besitzwechsel von großen Landflächen festgehalten sind, über schwere Konvolute in Ledereinband, die durch Übersicht schaffende Rubriken gegliedert und zugänglich gemacht wurden, bis hin zu prächtig illuminierten Sammlungen. Letztere wurden mir bedauerlicherweise nur per Mikrofilm zugänglich gemacht, was aber wegen der Kostbarkeit des Manuskripts - es handelte sich um das Liber Feudorum Maior - verständlich erscheint und für meine Zwecke auch genügte. Im Fall eines kastilischen Kartulars habe ich mir nachträglich einen Mikrofilm zuschicken lassen, der im A.H.N. von Madrid angefertigt wurde. katalanische Urkunden einsehen konnte, sowie das Archivo Historico Nacional in Madrid, wo vor allem kastilische Urkunden betrachtet wurden 4 . Ganz allgemein erwiesen sich die Editionen als sehr verlässlich. Immer wieder fand ich Wortgruppen in fehlerhaftem Latein, die mir aus der Transkription bekannt waren, im mittelalterlichen Text wortgetreu wieder. Im Grunde war dies kaum anders zu erwarten, denn gerade die ausgewählten Urkunden enthielten oft genug Textpassagen, die im Verhältnis zum regelgerechten lateinischen Ausdruck so verstellt waren, dass ihre Bedeutung nicht einfach zu rekonstruieren war. Also konnte man auch ohne unmittelbaren Vergleich vermuten, dass die Historiker die Texte nicht zum Zweck der besseren Verständlichkeit umgeformt hatten. Allerdings konnten auch Übertragungsfehler entdeckt werden. Gefundene Abweichungen habe ich notiert und in die eingescannten Texte eingetragen. Im Fall der Edition des Kartulars von Celanova in Galizien wurde in den verschiedenen Urkunden eine größere Zahl von Abweichungen entdeckt (Druckfehler wie perquiventes statt perquirentes, Ergänzungen seitens des Herausgebers wie cum heredum suorum statt redum suorum, willkürliche Hinzufügungen ohne ersichtlichen Grund wie quod de corde credimus statt quod corde credimus). In Konsequenz dieses Befundes wurde nur eine der Urkunden dieses Kartulars in das Korpus übernommen, die sich nach der Überprüfung als verlässlich transkribiert herausstellte (Serrano y Sanz 1921, Urkunde vom 13. April 886). Alle anderen ursprünglich ausgewählten Texte wurden herausgenommen. Ein wichtiger Punkt ist auch die Tatsache, dass in den erhaltenen Originalen einige lateinische Endungen der Wörter abgekürzt werden. In den Kopien sind noch deutlich mehr Endungen betroffen. Dabei werden meist Kontraktionen verwendet - dies wurde in dem Abschnitt zur Wright-These schon erwähnt - und selten Suspensionen. Bei Suspensionen ist der Interpretationsspielraum des Lesers und daher auch des Transkribierenden größer. Er hat den Beginn des Wortes und setzt selbst den Rest ein. Dies wird er dann so tun, dass er den Wortstamm mit der grammatisch richtigen, vom morphosyntaktischen Kontext geforderten Endung versieht. Dagegen stehen Kontraktionen für eine bestimmte Endung, die durch sie repräsentiert wird. <?page no="330"?> 6. Analyse der sprachentwicklungsrelevanten Phänomene 318 Welche Endung dies ist, steht nicht frei. Sie ist dem Leser und auch dem Transkribierenden vorgeschrieben. Man kann also meist klar erkennen, welche lateinische Form die Verfasser anzielten, sowohl in den Originalen als auch in den Kopien. Zum Abschluss dieses Unterkapitels soll der Aufbau des Korpus detailliert erklärt werden. Es folgt eine Liste der Kartularien und editor-seitigen Textsammlungen, von denen ausgegangen wurde. Die Urkundensammlungen sind im einzelnen: Katalonien: El Archivo Condal de Barcelona en los siglos IX y X. Estudio crítico de sus fondos, hrsg. v. Federico Udina Martorell, Barcelona 1951. (Grundlage der Transkription sind sämtlich Urkunden-Orginale, was eo ipso auch für die ausgewählten Texte des Korpus gilt; es wurden 10 Texte ausgewählt) Liber Feudorum Maior. Cartulario real que se conserva en el Archivo de la Corona de Aragón, hrsg. v. Francisco Miguel, Barcelona 1945. (Auswahl: 6 Texte, sämtlich Originale, wobei für die Urkunde von 1062 und 1086 auch Kopien herangezogen wurden) Cartulario de San Cugat de Vallés, hrsg. v. José Rius, Madrid 1945. (Grundlage der Transkription war nur das Kartular selber, so dass die 6 ausgewählten Urkunden alle Kopien sind) Rioja, Nord-Aragón, Navarra: Cartulario de San Millán de La Cogolla, hrsg. v. Luciano Serrano, Madrid 1930. (Grundlage der Transkription war im Wesentlichen die Sammlung, die das Kloster im nachhinein angelegt hat; die Edition wurde in wenigen Fällen auch auf der Grundlage von Originalen erstellt, da nur wenige Originale vorhanden sind, so etwa für eine Urkunde von 971 und eine von 996; da aber die Frage, ob Original oder nicht, für die vorliegende Auswahl nicht maßgeblich war, sind alle ausgewählten 19 Texte Kopien) Cartulario de San Millán de La Cogolla, hrsg. v. Antonio Ubieto Arteta, Valencia (Anubar) 1976. (mit Hilfe dieser zweiten Edition konnten Textstellen der ersten berichtigt und einige ursprünglich ins Korpus aufgenommene Urkunden ersetzt werden) Kastilien Recueil des Chartes de l'Abbaye de Silos, hrsg. v. D. Marius Férotin, Paris 1897. (Auswahl: 6 Urkunden, von denen 4 Kopien sind, eine ein Original (1067) und eine (1059) vermutlich eine Kopie, ohne dass dies eindeutig wäre)) <?page no="331"?> 6.1 Die empirische Basis 319 Colección diplomática de San Salvador de Oña, hrsg. v. Juan del Alamo, Madrid 1950 (Auswahl: 9 Urkunden, von denen die meisten Kopien sind, zwei (1045, 1099) mit Sicherheit ein Original und eine (1011) vielleicht ein Original) Kantabrien: Cartulario de Santo Toribio de Liébana, hrsg. v. Luis Sánchez Belda, Madrid 1948. (Auswahl: 13 Texte; da die Edition nur auf der Grundlage der Urkundensammlung erstellt wurde, sind alle Texte Kopien) Asturien: Diplomática española del período astur, Cartulario crítico, hrsg. v. A. Floriano, Oviedo 1949/ 51 (Auswahl: 7 Texte, davon Originale: 775, 878, 897; Kopien: 829, 837, 883, 887) Cartulario de San Vicente de Oviedo, hrsg. v. Luciano Serrano, Madrid 1929. (Auswahl: 11 Texte; diese Sammlung wurde vom Herausgeber überwiegend auf Grund von Originalen erstellt) Galizien: „Documentos gallegos inéditos del período asturiano“, hrsg. v. E. Sáez, in: Anuario de Historia del Derecho Español, XVIII (1947), S. 399ff. (Auswahl: 5 Texte aus Urkundensammlungen der Klöster Celanova und Sobrado, allesamt Kopien) „Documentos del Cartulario del Monasterio de Celanova“, hrsg. v. M. Serrano y Sanz, in: Boletín de la Biblioteca Menéndez Pelayo de Santander, III (1921), S. 263-278 u. 301-320. (Auswahl: 1 Urkunde, die eine Kopie ist) Portugal: Portugaliae Monumenta Historica, a saeculo octavo post Christum usque ad quintum decimum, Bd. 2: Diplomata et Chartae, Lissabon (Academia de Ciências de Lisboa) 1856-1917. (Auswahl: 19 Texte, Urkunden aus den Klöstern Laurebanus, S-o Vicente und Moraria, die Texte der Sammlung waren zur Veröffentlichungszeit über das Nationalarchiv, die Nationalbibliothek und Privatsammlungen verteilt) Insgesamt: 112 Urkunden Es sei noch einmal an einen Hinweis zur thematischen Schwerpunktsetzung der vorliegenden Untersuchung erinnert, der schon am Ende der Einleitung zur Sprache kam: Die geographische Streuung der Kartularien wird in der <?page no="332"?> 6. Analyse der sprachentwicklungsrelevanten Phänomene 320 folgenden Analyse nur stellenweise für Beobachtungen bezüglich diatopischer Variation genutzt; in der Hauptsache dient sie dazu, sicherzustellen, dass die feststellbaren sprachentwicklungsrelevanten Phänomene sowie die daraus herleitbaren Schlussfolgerungen für den gesamten iberoromanischen Raum gelten. Abbildung 24 zeigt eine Übersicht über die Einzeltexte des Korpus, die durch ihre Datierung identifiziert werden. Soweit zum Gegenstand der Analyse! Nun einige Bemerkungen zum methodischen Ansatz! 6.1.2 Kriterien einer Markierung als sprachentwicklungsrelevante Abweichung Der Kern des gegenwärtigen, sechsten Kapitels soll in einer Diskussion von Sprachentwicklungsphänomenen und Bewegungen auf Grammatikalisierungskanälen bestehen, deren Auslösung sehr weit zurückliegt. Deswegen ist es sinnvoll, die kleinräumigen Bewegungen in dem Zeitraum der vier Jahrhunderte, der hier näher betrachtet werden soll, einzuspannen in Sprachwandelvorgänge, die sich über größere Zeiträume erstrecken, also sie, wie es das Schema in Kap. 2 verdeutlicht, in die Grammatikalisierungswege zu integrieren, die in Kapitel 3.2 konkretisiert wurden. Das Ziel der Analyse ist vor diesem Hintergrund natürlich kein belehrender oder auch nur klärender philologischer Kommentar der betrachteten Texte. Es geht nicht darum, Abweichungen zu brandmarken, die als Fehler hervorzuheben und negativ zu bewerten wären. Wie Pinkster (1988) zeigt, waren die zu thematisierenden Abweichungen ja schon in römischer Zeit lebendig und wurden mit einer gewissen Systematik praktiziert. Sie waren lediglich stilistisch oder soziolektal markierte Ausdrucksformen, deren Keime meist schon zu Zeiten der Klassik existierten, die sich aber von deren Normen abhoben. Die Ausweitung dieser konkurrierenden Ausdrucksformen im Kommunikationsraum des Vulgärlateins und Frühromanischen wurde traditionell nun immer mit Bezug auf die in altlateinischer und frühklassischer Zeit dominierenden Lösungen beschrieben, und dies ist auch sehr sinnvoll. Diese Lösungen wurden als Regel begriffen, die Wandelphänomene als Verstöße gegen diese Regeln, die sich zunächst nur in bestimmten Untergruppen der Sprachgemeinschaft und bestimmten Registern verbreiteten und sich dann im Laufe der Zeit ausweiteten. Dass man „Fehler“ anstreicht und kommentiert, stellt lediglich ein hilfreiches Verfahren dar, um die Neuerungen durch Differenzierung hervortreten zu lassen. Statt von „Fehlern“ in einem Urkundentext sollte man daher von „sprachentwicklungs-relevanten Abweichungen“ sprechen. Es handelt sich also um solche Verstöße gegen die Regeln des Schullateins, die potentiell in Verbindung mit einer der die Grammatikalisierungswege konstituierenden <?page no="333"?> 6.1 Die empirische Basis 321 Abb. 24 8. Jh. 9. Jahrhundert 10. Jahrhundert 11. Jahrhundert Archivo Condal 889 892 899 903 918 955 956 974 989 993 San Cugat 908 913 945 946 990 1000 Liber feudorum maior 1053-1071 1062 1063 1078 1086 1090 San Millán 759 807 855 864 871 913 938 948 949 955 956 959 969 978 979 992 998 1007 1012 1034 1052 1058 1059 1062 1070 1084 1086 Silos 919 979 1041 1059 1067 1076 Oña 822 836 944 967 1011 1014 1045 1096 1099 Santo Toribio 790 796 826 829 843 884 885 915/ 915 925 946 1015 1051 1089 Dipl. esp. 775 829 837 878 883 887 897 San Vicente 887/ 887 890 916 946 959 978 990 1028 1070 1085 Doc. gall. 827 835 856 889 909 Celanova 886 Portugaliae Mon. Hist. 882 897 907 921 946 957 965 974 985/ 985 998 1016 1017 1033 1034 1052 1072 1092 1100 <?page no="334"?> 6. Analyse der sprachentwicklungsrelevanten Phänomene 322 Bewegungen der Abweichung und Entfernung vom altlateinischen Ausgangssystem zu tun haben könnten. Zu Beginn des Korpus sind eine Reihe von Abweichungen vermerkt, die fest und nicht variabel in Formeln eingebunden sind: exinde in quidquid exinde facere volueritis, dominio statt direktives dominium in der Formel de nostro iure in vestro dominio sit tradita u.a. (s. CD-ROM). Entsprechende Stellen wurden nicht durchgehend angestrichen, aber doch in einer größeren Gruppe von Vorkommen, damit sie ein gewisses nummerisches Gewicht gewinnen, das ihrer Präsenz in der Urkundensyntax enspricht, und außerdem auch konkrete Einzelvorkommen geboten werden, in der diese Formeln in einen größeren Kontext gestellt erscheinen. 6.1.2.1 Fehler, Abweichungen und Bezugsnorm Wie in Abschnitt 4.11 der vorliegenden Arbeit festgestellt wurde, schlagen sich Interferenzen vom Romanischen her in Fehlern nieder. Aber Fehlern im Verhältnis zu welcher Norm? Sollen Abweichungen, die vor einem mittellateinischen Hintergrund üblichen Sprachgebrauch darstellen, wie etwa die Verwendung von modo im Sinne von „jetzt“, in die Markierung der Urkunden des Korpus mit einbezogen werden, weil hier von der klassischen Sprache abgewichen wird? Oder sollte nicht vielmehr das Mittellatein die Bezugsgrundlage abgeben, von der das Latein der Urkunden abzuheben ist? Das Mittellatein war eine variantenreiche Sprache. Es unterschied sich von Epoche zu Epoche, von Gattung zu Gattung, von Land zu Land (Norberg 1968: 68; Stowasser et al. 1979: XXVIII). Klopsch (1975: 413) spricht von dem „disparaten Charakter“ einer Kunstsprache. „Jedem, der sich ihrer bedient, stehen die Elemente früherer Sprachstufen zu beliebiger Verfügung“ (Ibid.). Selbst wenn durch das Vorbild bestimmter herausragender Schriftsteller wie Isidor von Sevilla sowie durch die Schriften von Sprachreformern wie Alcuin eine definierte Norm existierte, kann doch auf Grund dieses wesentlichen Merkmals einer offenen Gestaltbarkeit nicht davon gesprochen werden, dass diese gegenüber dem länder-, gattungs- und individuenspezifischen Sprachgebrauch die selbe korrigierende Stellung einzunehmen vermochte, wie die nationalen Standardisierungen einiger lebender Sprachen der europäischen Neuzeit. Immerhin könnte man dann nach einer gattungsinternen, länder- und epochenbezogenen Norm suchen. Nun entsprechen Königsurkunden, die zwischen 800 und 1100 auf der Iberischen Halbinsel entstanden sind, in weitem Maße den Regeln des Schullateins, wenn sie dieses auch an ihre Zwecke anpassen. Sie könnten also gegenüber anderen Urkunden der selben Epoche und geographischen Provenienz so etwas wie einen Standard repräsentieren. Man könnte daher Privaturkunden an dem Vorbild der Königsurkunden messen, zumal davon auszugehen ist, dass Dokumente aus den königlichen Kanzleien von den Verfassern der Privaturkunden immer schon <?page no="335"?> 6.1 Die empirische Basis 323 als implizite Norm angesehen wurden - falls sie einen Zugang zu solchen Schriftstücken hatten. Doch eine solche Ausrichtung an Normurkunden scheint deswegen unangebracht, weil das gesprochene Romanisch sich von vornherein schon in die Norm der Königsurkunden gemischt haben kann. In Beziehung zu dem, was wir oben Fehler nannten, also Zeugnissen jeglicher Entwicklung seit der altlateinischen Epoche, wäre ein solcher Maßstab gerade nicht geeignet. Dies lässt sich durch eine bereits im dritten Kapitel erwähnte, generelle Überlegung zum Sprachwandel verdeutlichen, die wir an dieser Stelle noch einmal aufgreifen müssen. Nach der Theorie Eugenio Coserius (1959) wandelt sich Sprache durch neue Elemente und Ausdrucksweisen, die ein Sprecher in seine Sprachproduktion einbringt (inovación). Dieser kreative, zumindest halbbewusste Akt kann von den Hörern durch Ablehnung beantwortet oder ignoriert werden, er kann aber auch dazu führen, dass die Hörer ihrerseits in ihrer Sprachproduktion diese Innovation zur Anwendung bringen. Dies nennt Coseriu „Übernahme“ (adopción). Die Kreativität von Sprechern und Schreibenden wird angeregt durch verschiedene Einflüsse. Einerseits liegen bestimmte Weiterentwicklungen der Sprache „in der Luft“. Sie werden nahegelegt durch die gegebene Variation, die aus den Bewegungen auf den Grammatikalisierungskanälen resultiert und ihr gleichzeitig vorweggreift (Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen). Diese Variation umfasst Formen und Strukturen, die jetzt noch Ausnahmen sind und später zu dominierenden Regeln werden. Die Kreativität wird weiterhin angeregt durch bestimmte allgemeine Ausdrucksdefizite, die in dem kodifizierten Standard liegen und mittels „Fehlern“ behoben werden (Frei 1971). Ein anderer Einfluss geht von den Ansprüchen verschiedener Gattungen an die Formulierung aus. Schließlich können sich die Strukturen anderer Sprachen durch quelltextorientierte Übersetzungen oder Interferenzen so einmischen, dass Vorschläge für sprachliche Neuerungen entstehen. Die Übernahme durch die Rezipienten der neuartigen Ausdrücke ist durch eine Reihe von Bedingungen begrenzt. Erstens durch die natürliche Konventionalität sprachlicher Zeichen, die auch in rein mündlichen Sprachgemeinschaften ohne explizite Norm schon bestimmt und garantiert, dass sich deren Mitglieder gegenseitig verstehen. In Anlehnung an die Physik könnte man von sprachlicher „Trägheit“ sprechen (vgl. Saussure 1972: 112 = Cours, Première Partie, Chap. II § 2). Eine andere Bedingung stellen wieder die Gattungsansprüche dar. Aus ihnen ergibt sich eine implizite Gattungsnorm, die immer dann durchbrochen wird, wenn eine Neuerung den Funktionen der Gattung, in der sie auftaucht, nicht gerecht wird. Schließlich muss jedes Erneuerungsangebot vor den Regeln eines allgemeinen Standards bestehen, sobald er einmal definiert und kodifiziert worden ist und staatlich gestützt wird. <?page no="336"?> 6. Analyse der sprachentwicklungsrelevanten Phänomene 324 Die folgende Übersicht fasst diese Verhältnisse zusammen: anregende Bedingungen für eine sprachl. Neuerung Grammatikalisierungs- und Lexikalisierungskanäle allgemeine Ausdrucksdefizite der normgerechten Sprache Gattungsansprüche Sprachkontakt (Interferenz) Einfluss der Übersetzungen begrenzende Bedingungen gegen die Übernahme einer Neuerung Normierung (allg. Norm) Gattungsansprüche, implizite Gattungsnorm sprachliche „Trägheit“ = Konvention Abb. 25 In der Abwesenheit einer expliziten Norm - wie es in Spanien vor der Einführung der römischen Liturgie, ja bis ins 13. Jahrhundert hinein der Fall gewesen ist - können sich die kreativen Vorstöße, die durch Gattungsansprüche und Interferenz angeregt werden, besser verwirklichen. Ja, es kann sein, dass Anregungen durch Interferenz den Bedürfnissen der Gattung entgegenkommen. Sie werden dann von der impliziten Gattungsnorm geduldet, sind aber nichtsdestoweniger Spuren des Sprachkontakts. Genau diesen Fall demonstriert der folgende Ausschnitt aus einer Königsurkunde (Kartular von Silos, 1041), an dem sich gleichzeitig auch die sprachliche Reinheit des königlichen Kanzleistils demonstrieren lässt, da sich im Vergleich zur klassischen Norm relativ wenige Abweichungen ergeben: / A/ silos3.k/ 1041/ (Christus). In nomine sancte et individue Trinitatis. Dominis sanctis invictissimis hac ((ac)) triumphatoribus martiribus gloriosis atque venerandis nobisque post Deum fortissimis patronis sancti Petri apostoli et sancti Marini et sancti Pelagii testis Christi, quorum relqiuie ([Schreiberfehler im Original oder Fehler des Kopisten | vermutlich: reliquiae]) condite requiescunt, et in quorum honore basilica est fundata in suburbio quod ferunt Lara super crepidinem fluminis Aslancee./ Intit: Igitur ego Fredinandus, sub Dei gratia rex, et uxor mea Sancia regina, / Inscr1: tibi Auriolo abbati Sancti Petri et omni collegio lateri tuo adherencium monachorum, / Prae: scilicet piaculorum [| Klass. Lat.(piaculum), Bed = Fehler, Suende|] nostrorum honeris ((oneris)) pregravationem% [%Lex (praegravatio), Bed = Last, Pflicht%] cupientes expiari flagicia et peccatorum nostrorum molem, orationem vestrarum desiderantes adiutorio [Klass. Lat.(adiutorium), Bedeut = Beistand, Hilfe] sublevari, parva pro magnis oferimus ((offerimus)) munuscula. Ergo pro luminariis ecclesie vestre atque stipendiis eius aut pauperum, vel in altario beatitudinis vestre deservire <?page no="337"?> 6.1 Die empirische Basis 325 cotidianis diebus videntur, / Dis1: oferimus ((offerimus)) / Inscr2: tibi Auriolo abbati et successoribus tuis atque sacris predictis reliquiis / Dis2: monasterium Sancti Iohannis de*1 Tabladillo ad integrum, sicuti a nobis dinoscitur nunc usque fuisse possessum. In primis ipsum locum, in quo eadem ecclesia est sita, cum omnibus adiacentibus vel prestationibus suis, scilicet montibus, fontibus, pratis, pascibilibus, ortis ((hortis)), molendinis, in hieme quomodo in estate, cum suis productilibus% [%Lex (productilis), Bed = herabfließend%] acquis, omnia determinata, que continentur ecclesie Sancti Iohannis, cuncta ad integrum deliminata iure perhenni ecclesie Sancti Petri concedimus: hoc est de parte orientis, de vado Sancte Cecilie usque ad illam'2 fontem de*3 Lastriella cum medietate aque ipsius'4 fontis; et de parte occidentis, de fondo de*5 illa'6 serna de*7 Coco, et per sumum lumum ((lumbum%)) [% Lex (lumbum), Bed = Bergruecken%] de*8 illa*9 serra ([Schreiberfehler im Original oder Fehler des Kopisten | vermutlich: serna])*K1 cum sua defesa lignea, et cum valle de*10 Niguenti, et valle de*10 Fradres, usque venit ad supradictam'11 fontem de*12 Lastriella, quicquid infra concluditur cum medietate aque ipsius*13 fontis ad integrum concedimus; de parte vero meridie*14*S1, concedimus sernam Sance Marie, que iacet iuxta calzatam% [%Lex (calzata), Bed = bepflasterte Straße%], et aliam que iacet super flumen Huram ad illum enebrale ([Schreiberfehler des Kopisten oder Fehler der Edition | unidentifizierbar]); de parte septentrionis, damus illam'15 sernam que iacet inter Gastalium et vallem Sancti Vincencii. : : esilos3.k.ab1: : [*1 Eigenname mit de*] ['2 Art (ill), kataph: illam fontem de Lastriella'] [*3 P (fontem, de, Lastriella): de-N st Kasus (2), N = Eigenname (Lastriella), Funktion: gen. pert.*] ['4 Art (ips), anaph'] [*5 P (fondo, de, serna): de-N st Kasus (2), Funktion: gen. pert. | e: de fondo illius sernae*] ['6 Art (ill), kataph: illa serna de Coco'] [*7 P (serna, de, Coco): de-N st Kasus (2), N = Eigenname (Coco), Funktion: gen. pert.*] [*8 P (lumbum, de, serra): de-N st Kasus (2), Funktion gen. pert. | e: summum lumbum sernae*] [*9 DEIKT*] [[*K1 KOMM: „serra“ deutet der Herausgeber richtig als beabsichtigtes „serna“. Da der Schreiber das Wort „serna“, das er eben gerade geschrieben hat, kennt, kann es sich nur um einen Schreiberfehler handeln.*]] [*10 P (valle, de, Niguenti…Fradres): de-N st Kasus (2), N = Eigenname (Niguenti…Fradres), Funktion: gen. pert.*] ['11 Art (sup nom), anaph'] [*12 P (fontem, de, Lastriella): de-N st Kasus (2), N = Eigenname (Lastriella), Funktion: gen. pert.*] ['13 Art (ips), anaph'] [*14 Gen. Rel. (parte, meridie), Kasus (5 st 2), Funktion: gen. explic. | e: de parte vero meridiei*] <?page no="338"?> 6. Analyse der sprachentwicklungsrelevanten Phänomene 326 [[*S1 Struktur: In dieser Koenigsurkunde sind besonders wenige Abweichungen zu den Regeln des klassischen Lateins zu finden. Wie bei der zweiten Urkunde entdeckt man aber manchmal Kreuzungen von Strukturen: de meridie gekreuzt mit de parte. Diese Verbindung sollte eigentlich „de parte meridiei“ ergeben, „meridies“ muss in den Genitiv gesetzt werden. *]] ['15 Art (ill), kataph: illam sernam quae iacet'] : : a-silos3.k.ab2: : Et in omnibus montibus et terminis que sunt in alfoze% [%Lex (alfoze) <- Arab (? ), Bed = Bezirk%] de*16 Tablatiello licenciam ((licentiam'17))$18#19 damus'17 19#pascendi et ligna faciendi, et in aquis et in pratis, et exercere$18 sicut in nostro#20 manet 20#iure per secula cuncta. Ortamur ((hortamur)) etiam eos$21, quod$21 post obitum nostrum fuerint$21, ut nichil de nostris oblationibus cunctis, quibus Deo placere studuimus, auferre, nichil emutilare% [%Lex (stutzen, vermindern), Bed = %] presumant. / Sanc: Si quis autem ex nostro genere vel alieno hoc nostrum factum usu ([Schreiberfehler im Original oder Fehler des Kopisten | e: ausu]) temerario ad irrumpendum quod absit, venire temptaverit, sit anatema% marenata% [%Lex (anatema marenata), Bed = Bannfluch bei Untersagung jeden Kontakts mit Gemeindemitgliedern%] in conspectu Dei Patris omnipotentis, et sit exors ab omni cetu ((coetu)) religionis, et Guzi lepra percuciatur, et pariat predicte ecclesie parti tantum et aliud tantum et ad$22 partem regiam reddat$22 in caupto ((cauto%)) [%Lex (cautus), Bed = koenigliche Finanzkasse%] auri libras centum. / E/ silos3.k.ab2\ [*16 P (alfoce, de , Tablatiello): de-N st Kasus (2), N = Eigenname (Lastriella), Funktion: gen. pert.*] ['17'FVG'] [$18 I Inf st Ger (licentiam, exercere) | e: licentiam exercendi$] [#19 Hyperbaton (licentiam, pascendi| als kontinuierliche Konstituenten: damus licenciam pascendi#] [#20 Hyperbaton (nostro, iure) | als kontinuierliche Konstituenten: sicut manet in iure nostro#] [$21 Rel-Pron (eos, quod, fuerint) | e: eos qui post obitum nostrum fuerint$] [$22 P (reddat, ad, partem): ad-N st N-Arg3 mit Kasus (3) | e: parti regiae reddat$] In den dispositio-Passagen erkennt man immerhin fünf freie, nicht in Eigennamen eingebundene Vorkommen von de. Dies ist typisch für das an ein modernes Formular erinnernde Lückenfüllungs-Prinzip der Syntax der Formeln: de markiert oft eine Stelle, in die man einen Eigennamen einfüllen kann. Dennoch drängt sich die Präposition, die zur Markierung geeignet ist, natürlich nicht vom Latein selbst her auf. Hier muss Inspiration von der Volkssprache vorliegen, um die gattungseigenen Anforderungen zu erfüllen. Die Verwendung von ad wie in der Passage ad partem regiam reddat ermöglicht eine deutlichere Trennung zwischen gebender und empfangender Partei, als dies mit Hilfe eines konventionellen lateinischen Dativs möglich wäre, der in dem obigen Dokument aber auch vorkommt: offerimus tibi Auriolo abbati et successoribus tuis. Besonders in den Eingangspassagen, in denen oft intitulatio <?page no="339"?> 6.1 Die empirische Basis 327 und inscriptio eng miteinander verwoben erscheinen, ist diese Übersicht verschaffende Markierung nützlich. Wieder also lassen sich die Schreiber von der Umgangssprache inspirieren, um Gattungsansprüchen besser gerecht zu werden. Dies gilt schließlich für einen dritten Fall der Abweichung von klassischen Normen, nämlich die oben angestrichene kataphorische und anaphorische Verwendung der Artikoloide ille und ipse, die deswegen in einer an das Romanische erinnernden Intensität gebraucht werden, weil die Absicherung von Referenzangaben und damit die genaue Identifizierung von Orten, Personen und Gegenständen in einer Urkunde so notwendig ist wie in keinem anderen Text, da durch ein Rechtsdokument in der Regel individuelle Rechtsansprüche bestimmter Personen auf bestimmte Güter abgesichert werden sollen. Die Struktur des Romanischen kommt also in verschiedener Hinsicht den kommunikativen Besonderheiten des Texttyps entgegen. Die potentielle Bezugsnorm - das Latein der Königsurkunden - ist also selbst schon durch das Romanische geprägt. Würde man nun Königsurkunden als Bezugsnorm für die zu markierenden Abweichungen ansetzen, dann würden eine Reihe von typisch romanischen Erscheinungen gewissermaßen „verschluckt“ und nicht als sprachentwicklungsrelevante Phänomene erfasst, was nicht im Sinne des empirischen Untersuchungsziels der vorliegenden Arbeit sein kann. In Folge dessen wird von einem Standard, der innerhalb des Korpus aufzustellen wäre, abgesehen. Vielmehr wollen wir in der Tradition der romanistischen Beschreibung des Vulgärlateins das Schullatein und seine Regeln als Bezugspunkt beibehalten, da sich in ihm ja die altlateinischfrühklassischen Ausgangspunkte der sehr langfristigen, sich über ein Jahrtausend hin ziehenden Grammatikalisierungsbewegungen am besten niederschlagen. Immerhin sollte nicht umgangen werden, dass in der Forschungsliteratur zum frühmittelalterlichen Romanischen immer wieder von einer mittleren Ebene der Annäherung zwischen Volkssprache und gehobener Schriftsprache die Rede ist, welche den Charakter einer sekundären Norm besäße. Diese von Avalle 1965 aufgebrachte These wird u.a. von Ineichen (1987: 14) und Banniard (2003: 546f.) wieder aufgenommen. Avalle spricht von „latinum circa romançum“, Banniard von „sermo humilis“, Ineichen eben von einer „volkssprachlichen Norm“. Nach Auffassung Avalles wurde das Vulgare in bestimmten mittleren Registern verschriftlicht, wodurch gemäß Banniard vertikale Kommunikation zwischen Gebildeten und Ungebildeten ermöglicht wird. Diesen Registern sollen etwa Heiligenlegenden angepasst sein, die für das Vorlesen in der Gemeinde gedacht waren. Befanden sich Urkunden auf diesem mittleren Niveau? Wenn ja, wie wäre dann eine entsprechende Norm zu definieren? Meiner Meinung nach stellt sich die Frage nach der Definition einer Urkundennorm auf einem mittleren Niveau nicht, weil deren Sprache - wie schon zu Ende von Kap. 4.10 angedeutet - nicht dem sermo humilis angehören kann, sondern auf ein höheres Niveau abzielt. Dafür spricht, dass sich ihre kommunikativen Eigenschaften überwiegend dem schriftlichen Pol <?page no="340"?> 6. Analyse der sprachentwicklungsrelevanten Phänomene 328 im Koch-Oesterreicher-Modell zuordnen lassen (vgl. Kap. 4.8). Dafür sprechen weiterhin die stark integrativen Strukturen und aufwändigen, Offizialität signalisierenden Formulierungen mit Funktionsverbgefügen, vielen Relativsätzen, eingebetteten Sätzen mit Komplementierer (ut, que, quomodo) und langen Aufzählungen, deren Übersichtlichkeit sich bei einer Verlesung verlieren würde. Natürlich wäre es möglich, dass Zuhörer auch solche komplizierteren Strukturen ad hoc verarbeiten können, wenn sie Routine im akustischen Rezipieren dieser Konstruktionen haben. Doch davon kann angesichts der seltenen Textproduktion im Frühmittelalter keine Rede sein. Es liegt nahe, dass der Verlesende im Augenblick der Verkündung der Urkunde einzelne für den Fall relevante Passagen erklärte. Die sermo humilis mag in diesem Fall als mündliche Vermittlungsvarietät im Dienste vertikaler Kommunikation gedient haben, sie bestimmt aber nicht den Text der Urkunde selber. Es bleibt die Konsequenz, dass im Interesse der Beschreibung des langfristigen morphosyntaktischen Wandels und in Abwesenheit einer festen zeitgenössischen Bezugsnorm für die Urkunden, das klassische Latein die Folie bilden sollte, von der die Besonderheiten der Korpuskommunikate als Abweichungen und sprachentwicklungsrelevante Phänomene abzuheben sind. 6.1.2.2 Das Niveau des Lateins Das Niveau des Lateins der Urkunden ist sehr unterschiedlich. Für das Korpus wurden bewusst einige Urkunden ausgesucht, die demonstrieren sollen, dass neben fehlerträchtigem auch relativ gut beherrschtes Latein in den damaligen Dokumenten der Iberischen Halbinsel zu beobachten ist. Die maßgeblichen Vorbilder für diese Texte kamen aus dem Ausland, so eine fränkische Königsurkunde Karls das Kahlen aus dem Archivo Condal, oder Papsturkunden. Ein Ausschnitt aus dem fränkischen Dokument: In nomine Sancte et individuae Trinitatis. Karolus, divina propiciante clemencia, rex. Si utilitatibus locorum, divinis cultibus mancipatorum servorumque atque ancillarum Dei necessitatibus cura impendimus, regiam proculdubio exercemus consuetudinem ac per hoc ad aeternam beatitudinem facilius tandem provenire, minime dubitamus. Idcirco, notum esse volumus omnium fidelium nostrorum praesencium, scilicet, ac futurorum sollerciae quia venerabilis genetrix nostra Adhelerdis regina, accedens ad nostram clemenciam deprecata est quatinus res quasdam datas monasterio sancti Iohanis Baptiste, quod est constructum in pago Ausonensi, in loco qui dicitur ubi sacrae virgines Christi, sub regimine venerabilis abbatissae Hemmae, Domino famulantur, tam ipsam abbatissam quamque praescriptum monasterium, cum omnibus rebus ad se pertinentibus, sub nostrae tuicionis mundeburdo, susciperemus et praecepto nostrae auctoritatis illi confirmaremus. (Archivo Condal, 899) <?page no="341"?> 6.1 Die empirische Basis 329 Hier ist an Abweichungen von klassisch-lateinischer Norm Weniges zu bemerken: fehlender Akkusativ bei cura, eingebetteter Satz mit finitem Verb statt a.c.i. nach notum esse, Gebrauch von quia und quatenus als Komplementierer, also im Sinne von (dt.) dass. Dafür ist das gut Beherrschte um so stärker vertreten: absolute Konstruktion in der intitulatio, Hyperbaton zwischen consuetudinem und regiam, accedens als participium coniunctum, ein Deponens (deprecari) und der Konjunktiv Imperfekt nach dem Perfekt deprecata est. Selbst die Genetive nach fidelium sind nicht als Dative gemeint - wie es in den merowingischen Dokumenten der vorherigen Epoche üblich ist (vgl. Löfstedt 1956: 218ff.) -, sondern laufen auf den Dativ sollerciae zu, an dem sie sich abstützen. In der Gebietszuweisung beobachtet man zwar eine geringere Kunstfertigkeit, aber doch eine allgemeine Disziplin in der Beachtung der grammatisch korrekten Form: Id est in praedicto pago ausonensi cella Mucronio cum finibus et adiacenciis suis et ecclesia sancti Kirici sive sancti Martini, necnon et sanctae Eulaliae et sanctae Leocadie cum finibus et adiacentiis suis. In villa etiam Terrates et in Tagnano et in Felcariolas et in Berga et in Genestero et in Sennare quicquid habere videntur. Et in pago quoque Confluente, in villa Fauliano quicquid ibi et in ceteris predicti pagi locis habere videntur. Et in pago Cerdaniae villulam Spinosam. Et in Cardona cellam sancti Iohannis, cum finibus et adiacenciis suis. In valle Abbitana et in Stullo quicquid habere videntur. Et in pago Bisuldunense collo Witizane. Et in pago Hempuritano sive in ceteris pagis vel territoriis quicquid iuste et racionabiliter possidere videntur vel deinceps divina pietas, praedicto loco ipsi que abbatissae ac sanctemonialibus ibidem Deo militantibus earumve successoribus augeri voluerit ad suarum necessitatum emendacionem sint delegata omnia. Lediglich die Eigennamen sind nicht an die syntaktischen Rektionsverhältnisse angepasst. Unter den Appellativa erkennt man collo Witizane statt des angebrachten und geforderten Akkusativs collum Witizane. Wie man oben schon an Hand einer Königsurkunde aus Silos sehen konnte, sind sich hier die spanische und französische Urkunde nicht unähnlich. Wahrscheinlich gilt auch in diesem Fall, dass alte westgotische Traditionen und neu hereindrängende französische Einflüsse zusammenkamen. Am anderen Pol der Skala liegen Urkunden, die einen relativ ungeordneten Kasusgebrauch zeigen, wie die folgende: Fredenando, Guginu, Homar, Sueiue, Leuno, Aluaro, Leidone, alio Aluaro, Cidone. Vermudo cum coniugis et filiorum qui sumus filiis supra dicte ecclesie, quod patrum nostrorum de sulco antiquo adprehenderunt et construxerunt et intestati discesserunt, et ut nobis lex canonica imperat conduximus pontifex eximius Assuri episcopi ad consecrandam aule huius templi. : : e-gal5.k.ab2: : (Doc. gall., 909) <?page no="342"?> 6. Analyse der sprachentwicklungsrelevanten Phänomene 330 (Fredenando usw. Vermudo mit Frau und Kindern, die wir die Kinder der oben genannten Kirche sind, die unsere Eltern in früherer Zeit übernommen haben und erbaut haben und bei ihrem Sterben vermacht haben, und, wie es uns das Kirchengesetz befiehlt, haben wir den hochmögenden Bischof Assuri dort hingeführt, um die Hallen dieses Tempels zu weihen) Man erkennt in einem Satz fünf Kasusabweichungen: • Dativ oder Ablativ Plural für eine Gleichsetzungssubjekt/ Prädikatsnomen: sumus filiis • Genetiv für das erste Argument/ Subjekt von adprehendere: patrum nostrorum • Nominativ für das zweite Argument/ Objekt von conducere: pontifex • Genetiv für eine Apposition zum zweiten Argument von conducere: episcopi • Nominativ Plural für das zweite Argument/ Objekt von consecrare: aule Jede einzelne dieser Verwendungen hat sicherlich ihre Motive - wie vielleicht eine fehlerhafte akkusativische Interpretation der -um-Endung von bei pater -, es handelt sich aber nicht um häufig wiederkehrende Variationsverhältnisse, also um funktional zu erklärende Abweichungen des Kasusgebrauchs. Dass oft ein korrektes Niveau des Lateins angestrebt wird, zeigt sich an Hyperkorrekturen. Die folgenden beiden Ausschnitte enthalten perhenniter für perenniter (< perennis) und set für sed. et hunc eundem Placenti abbati cum fratribus suis concedimus regere, tenere et monasticam vitam et secundum docet Sancti Benedicti regulam ibidem exercere, nullusque in aliquo eum salubriter inquietari decernimus, sed quiete et secure perhenniter manere precepimus, et vires que eis ministraverint hedificare, plantare, procurare non desinant, et in suis stipendiis ac utilitatibus, prout opus eis fuerit, vendere, expendere, licenciam non denegamus eis habere. (Silos, 919) id est, de illo roio de Salvata per summa ripa de Barcena usque ad illa via publica qui discurrez de Salvata apud Salvanton, et per illo semitario qui discurrez de Faro ad Coronellas, et per summa ripa usque ad illa serna de Andaluz, in ipsa silva de ressa alios heredes non habeant porcionem set propria sit confirmata in hunc monasterium. (San Millán, 864) Hyperbata und absolute Konstruktionen kommen in den Texten des Korpus selten vor. Et ego indigno pater uester Absalon, presbiter, simili modo me uobis trado cum omne mea facultate et omne meo fundamentum, qui hunc in placitum uel pactum meum roborastis (Doc. gall., 856) [Hyperbaton] In primis omnem ganatum meum quantum habeo de mea senara in Bera exceptis perfiis meis (Dipl. esp., 837) [absolute Konstruktion] <?page no="343"?> 6.1 Die empirische Basis 331 Ihre Seltenheit beweist nicht nur, dass die mit Hilfe des Lateins angestrebte Distanzierung ihre Grenzen hatte, sondern zeigt auch den eher nüchternen und praxisorientierten Charakter der Gattung selbst. 6.1.3 Schreiberfehler Ein zentraler Punkt bei der Beurteilung des empirischen Materials ist die Rolle der Schreiber. Diejenigen, die die Urkunden graphisch durch die Arbeit des Schreibens in einen materiell manifesten Text umwandelten, konnten das, was der Verfasser der Urkunde formuliert hatte, in zweifacher Weise abändern: entweder durch regelrechte Schreiberfehler, indem sie etwas überhörten oder aus versehen Dinge hinzufügten, oder aber durch bewusste Umstellung von Wörtern, Änderung von Formen, veränderte Wortwahl und orthographische Eingriffe beim Kopieren älterer Originale. Durch solche Abwandlungen wird die ursprüngliche Formulierung verstellt. Durch Schreiberfehler sind eventuell zufällige Abweichungen entstanden oder aber der eigentliche Text wurde unverständlich. Außerdem ist denkbar, dass durch Eingriffe von Kopisten ursprüngliche Abweichungen im Verhältnis zum Schullatein korrigiert worden sind. Zunächst zu den Schreiberfehlern, die sich möglicherweise bei der Entstehung des Originals oder beim Kopieren ereignet haben. Schmidt (1994) fasst die Erfahrung, die bei der Erforschung mittellateinischer Texte immer wieder gemacht wurde, wie folgt zusammen: „Wer aber viele Handschriften eines breit überlieferten Textes durcharbeitet, muß einräumen, daß es kaum eine Art von Fehlern gibt, die ein mittelalterlicher Kopist nicht macht. Man begegnet falschen Worttrennungen, Haplographien, Dittographien, Auslassungen von einem oder mehreren Wörtern bis hin zum Verlust ganzer Zeilen; Abkürzungsstriche - besonders für Nasale - sind nicht gezogen, durch das Vorauseilen des Auges, durch Hörfehler beim Diktat oder durch das ‚innere Diktat ‚ entstanden Fehler, seltenere Wörter wurden zu bekannteren umgeformt, Abkürzungen falsch aufgelöst“ (7f.). Auch in den Urkunden des untersuchten Korpus finden sich immer wieder Stellen, an denen es nahe liegt, von einem Schreiberfehler auszugehen. Dabei sind unterschiedliche Typen von Fehlern zu verzeichnen: (1) Einzelne Buchstaben werden ausgelassen: et acepimus de uos precio IX modios, que nobis bene complacuit et de precio aput uos nicil remansit in debito ita ut de odie et tempore siant ipsos uilares de iuri nostro abrasos et in uestro iure uel dominio sint traditus uel confirmatu (Dipl. esp., 883) <?page no="344"?> 6. Analyse der sprachentwicklungsrelevanten Phänomene 332 5 Traditus ist hier in traditos zu übersetzen. In Galizien und Portugal wurden das / o/ am Wortauslaut extrem geschlossen ausgesprochen, was zur heutigen Allophonie-Konstellation im europäischen Portugiesisch geführt hat. In den Urkunden finden sich manchmal Beispiele, in denen sich diese Aussprache optisch in einer Form niederschlägt, die wie ein Wechsel von der oin die u-Deklination wirkt. Auch im vorliegenden Fall ist das so, obwohl alle Vergangenheitspartizipien im Lateinischen der o-Deklination angehören. Die Koordination mit traditus macht hier wahrscheinlich, dass bei der zweiten Form einfach nur der Schreiber ein -s am Ende von confirmatu ausgelassen hat. Intendiert war wohl ebenfalls ein Plural wie traditus 5 . (2) Einzelne Buchstaben werden hinzugefügt: Certe, et nos omnes amoniti per apostolicam uocem, nos tibi trademus nos metipsos et omnes nostras portiones quis in quantum habuerit quod uitas docet et regula sancta, tam terras quam uineas uel domos, uascula, cupas uel cupos, rem uiuentem, uestito uel de omnem omnioram nostram rem uel specie mobilem uel inmobilem, uel omnem pomiferam et arbusta, fructuosas uel infructuosas, uel quicquid in nobis alicum firmum habemus que nos competet inter nostros heredes, et nos per iusticiam habemus ueritatem tradere, sicut et tradimus, tibi iam dicto omnia siue et regule sancte et baselice Sancte Eolalie Uirginis, omnia tibi confirmatum per regulare decretum (Doc. gall., 856) Hier wird der pluralische Akkusativ uitas statt eines singularischen Nominativs uita gebraucht. Vermutlich ist dies einfach darauf zurückzuführen, dass der Schreiber aus Versehen ein -s hinzugesetzt hat. Denkbar wäre natürlich auch ein Kongruenzfehler in Bezug auf der Verb docet, als Spur der Einmischung von Mündlichkeit (vgl. Kap. 6.3.3). In dieser dichten Abfolge von Subjektnomen und Verb ist ein Kongruenzfehler aber kaum wahrscheinlich, und auch semantisch, vom Kontext her, besteht kein Anlass, einen Plural zu gebrauchen. Es handelt sich um eine generische Aussage über das Leben überhaupt. Dass hier von den Leben mehrerer Personen die Rede sein sollte, ist nicht ersichtlich. Dies alles begünstigt die Einstufung als Schreiberfehler. Noch offensichtlicher ist die Hinzufügung eines Buchstabens in dem folgenden Fall: In era DCCCCLXXXIIa, orta fuit intemtio inter fratres de regula Sancti Salbatoris et Conantibus frater qui fuit in ipsa regula sub regimine Uuimarani abbati . Et sub manu Silbani ababa XXII annos et post hec uenit illi spiritus deceptionis quum aliis gasalianes qui sunt suasores ecclesie, quum cartas falsarias et extranearunt nobis de nostra casa, et fuimus ex illa minus dies triginta, et rapinaberunt ex illa quantum in notitia resonat et effugauerunt fratres de ipsa kasa. (Oña, 944) Der Schreiber schrieb ababa statt abba und fügte ein a zwischen die beiden <b> ein. Die Rekonstruktion der Buchstabenfolge <ababa> zum Wort abba liegt nahe. <?page no="345"?> 6.1 Die empirische Basis 333 (3) Buchstaben bzw. Laute, für die diese Buchstaben stehen, werden verwechselt: Iam illi diu transierunt et omnia michi sub uno relinquerunt in unione regule, et ego, cum iam in extremos dies deuenio et timens et tremens ero de die et ora illa quando ac luce migrauero, sed quod hic in pauperibus dipensaui, et pro illis et me Domino commendaui et quod est iugo seruitutis liberaui mercedem quod iam illic sustineret (Oña, 836) Das ac ist im Kontext eindeutig als eine missglückte Version von ab zu verstehen. Migrare verlangt eine präpositionale Ergänzung im separativen Sinn. Dem ac folgt ein Verb und eine Konjunktion geht ihm voraus. Als Konjunktion der Koordination ist ac aber dadurch gekennzeichnet, dass es zwei syntaktisch gleich wertige Glieder miteinander verbinden muss. Also kann das beabsichtigte Wort nur ab, nicht ac lauten. Demnach handelt es sich um einen Schreiberfehler. Auch der nächste Fall gehört in diese Kategorie: Sic accepimus ego Gomic Didaç et uxor tua Ostroçia, ipso precio que in ista carta resonat, ex contra nos que ad nos bene complacuit et aput de Sancio comite et uxor tua Urraka comitissa, debitus non remansit pro dare (Oña, 1011) Gemeint war wohl: apud te und nicht aput de. Hier ist die Buchstabenersetzung mit einer regelrechten Vertauschung verbunden, wie es bei Versprechern oft vorkommt. (4) Weniger häufig, aber durchaus möglich ist die Ersetzung eines Satzsegmentes durch einen einzelnen Buchstaben. Dies könnte in dem folgenden Abschnitt geschehen sein: Quod si aliquis ex nobis, quod Deus ab se faciat, fugiens de monasterio superuia inflatus fuerit, tandiu excomunicatus permaneat quousque in hoc monasterio reuertati unde fugiens est, et non sit qui inter fratres faciat querella, sed simus omnes unum in Christo. (Doc. gall., 856) Vielleicht wurde das Wort revertati nicht vom Verfasser diktiert, sondern es handelt sich um die Folge eines Schreiberfehlers. Demnach könnte der Schreiber eine auditive Verkürzung begangen haben, indem er ein revertati an Stelle eines diktierten revertatus sit schrieb. Die eigentliche Passage müsste demnach lauten: quousque in hoc monasterium revertatus sit. (5) Größere Segmente von Formeln oder Sätzen werden überhört und ausgelassen oder im Fortgang eines schnellen Diktats vergessen, was zu verwirrenden syntaktischen Ergebnissen führt: In Dei nomine. Ego Leovina tibi Vincencio presbiter in Domino salutem. Placuit mici adque convenit, neque suadentis articulo sed probria nobis et venit voluntas, ut vinderemus vobis una pariter cum consenso marito meo Gegino, terra in villa <?page no="346"?> 6. Analyse der sprachentwicklungsrelevanten Phänomene 334 nomine Membro, mea racione ex intrica in arcreo que vocant Marcenatum (San Vicente, 890) Hier fehlt ein Segment nullius cogentis. Vollständig müsste die Formel lauten: nullius cogentis neque suadentis articulo. So wie sie dasteht, kann man das koordinierende neque nicht richtig verstehen. Ein weiteres Beispiel dieses Typs: Ego domna Eldoara, sic me trado ad atrium Sancti Salvatoris, et Sancti Michaelis et ad abbas domino Ioanni cum meas terras, et est una terra, ad Sancti Aciscli de Lomana, ad latus carrera publica, que discurrit ad multos locos, est de alia parte una ripa, ipsa terra ab omni integritate, et de meo iure sit abrasum, et in uestro sit confirmatum per in seculum seculi, et uno libro ordine toletano. Et si aliquis de ipsa gens, aut filiis, aut neptis, aut sobrinis, aut heredibus, aut subrogata persona inquietare voluerit, aut in iuditio compulsauerit, sit anathema cum Iuda traditore in inferno inferiori,et a parte de rex, aut de comite qui terram tenuerit exoluat auri libra. (Oña, 1014) Der größere Kontext macht deutlich, dass die kursiv hervorgehobene Passage des Textes an der Stelle, wo sie steht, in ihrem Sinn zwar erahnbar ist, aber trotzdem syntaktisch völlig isoliert bleibt. Diese elliptische Struktur könnte natürlich eine Spur mündlicher Formulierungsweise sein. Ihr syntaktischer Kontext deutet aber viel eher darauf hin, dass sie auf einen Schreiberfehler zurückgeht, nämlich darauf, dass eine Passage überhört wurde, die besagte, dass das Ordensbuch als zusätzliche Gabe ebenfalls vom Rechtsbereich eines Eigentümers in den des anderen wechseln sollte. Die jeweils an die Stelle angeschlossenen Überlegungen zeigen, dass es Umsicht erfordert, wenn man eine Abweichung vom regelgerechten Satzbau oder ein Wort oder eine Wortform auf einen Fehler des Schreibers oder vielleicht auch des Kopisten zurückführt. Nun zur Rolle der Kopisten! Ist es möglich, dass sie eingegriffen und die Originale den mittellateinischen Gewohnheiten ihrer Zeit angepasst haben? Für das Spanische etwa zeigt eine an Urkunden durchgeführte Studie von Pilar Díez de Revenga und Isabel García Díaz (1986), dass die Kopisten schon recht merklich in den Ausgangstext eingreifen und ihn den Rezeptionsbedingungen anpassen konnten, in denen der Text jeweils gelesen werden sollte. Die Veränderungen, die sie aufgespürt haben, betreffen lautliche Anpassungen, die mit typischen Eigenschaften des Kastilischen zu tun haben, mit Phänomenbereichen wie der Diphthongierung oder Nicht-Diphthongierung von „e“ und „o“, mit <h> statt <f>, mit Apokopen u.a. Verglichen wurden Originale aus dem 13. Jahrhundert mit Kopien aus dem 15. und aus dem 18. Jahrhundert. Wie gesagt, die Veränderungen sind beträchtlich, weswegen die Autorinnen zu einem deutlich ablehnenden Fazit bezüglich der empirischen Aussagekraft von Kopien gelangen: „Por todo lo anterior, consideramos que si las copias posteriores de documentos no son totalmente <?page no="347"?> 6.1 Die empirische Basis 335 idénticas a sus originales como nos ha demostrado el cotejo de estas cartas, no es conveniente utilizarlas para estudios lingüísticos en ninguno de sus diferentes aspectos a no ser que sirvan como apoyatura de teorías basadas en los textos originales, porque si no existe el documento inicial - como suele suceder - difícilmente se podrá discernir qué grafías, trueques o innovaciones corresponden a uno y cuales a otro“ (1986: 25). Allerdings ist aus einer an Syntax interessierten Perspektive zu sagen, dass die von den Autorinnen aufgezeigten lautlichen Abänderungen lediglich zu einem veränderten Schriftbild für einige Wörter führen. Für den Satzbau oder den Gebrauch von Formen bedeutet dies keine Verschiebung. Man muss genau sehen, wo das Interesse der vorliegenden Untersuchung liegt: es geht um morphosyntaktische Veränderungen, nicht um lautliche. Eingriffe in diese Strukturen können Inhalte und damit den Rechtswert eines Dokuments ändern. Es besteht die Gefahr, dass durch missverständliche Formulierungen eventuell Ansprüche gefälscht werden. Dagegen kann man es im täglichen Rechtsbetrieb hinnehmen, wenn das Schriftbild über Jahrhunderte hinweg schwankt. Eine weitere Überlegung zeigt, wie unwahrscheinlich es ist, dass die analysierten Kopien von den Abschreibenden grammatisch verändert worden sind. Die Urkunden des vorliegenden Korpus sind, wenn es sich um Kopien handelt, im 12. und 13. Jahrhundert entstanden, jener Zeit also, in der Wright das Wirken der cluniazenischen Reform ansetzt, durch die das nordspanische Mittellatein wieder stärker in schullateinische Bahnen gelenkt wurde. Wenn die Kopisten also entsprechend instruiert waren, wieso hätten sie dann so viele Fehler und Verstöße gegen die lateinischen Regeln zulassen sollen, wenn sie den Ausgangstext an die Rezeptionsgewohnheiten ihrer Zeit anpassen wollten? Warum sind die Texte zum Teil so unregelmäßig, wenn sie von Kopisten abgewandelt worden wären, die sprachlich besser geschult waren als die Verfasser der Originale? Schließlich spricht auch Einiges in den Darlegungen von Schmidt (1994) dafür, dass die Kopisten der mittellateinischen Urkunden die Originale getreu wiedergaben. Bei der Charakterisierung verschiedener Schreibertypen vermerkt Schmidt, dass es solche Schreiber gab, die in ihren Abschriften üblicherweise den Wortlaut von Texten nach ihren Bedürfnissen abwandelten (mutatores). Im Umkehrschluss bedeutet dies allerdings, dass nicht jeder Kopist dazu berechtigt oder auch nur fähig war. Außerdem ordnet Schmidt die mutatores langen, fiktionalen oder halbliterarischen Textsorten zu wie den Visionen. Dies zeigt, dass solche Gestaltungsfreiräume von den Eigenschaften der Textsorte abhingen. Ein nicht-fiktionaler, rechtlich sensibler Text wie eine Urkunde wird wohl kaum ein geeigneter Ausgangspunkt für Einschübe, umfassende Wortstellungsänderungen oder sonstige morpho-syntaktische Transformationen gewesen sein. Wenn schon keine bewussten Eingriffe üblich waren, kann es dann zu zufälligen Fehlern, eben seitens der Kopisten und gar nicht einmal seitens der <?page no="348"?> 6. Analyse der sprachentwicklungsrelevanten Phänomene 336 Schreiber des Originals, gekommen sein? Schmidt nennt die verschiedenen Arbeitsbedingungen, unter denen Schreiber ihrer Tätigkeit nachgehen mussten und die zu einer Fehlerhaftigkeit ihrer Produktion beitrugen (1994: 9f.). Offenbar gab es Einzelpersönlichkeiten, die sich besonders oft verschrieben. Für alle gilt, dass es vom Zeitdruck abhing, wie kontrolliert ein Text produziert wurde. „Der Wortlaut liturgischer Texte und der Heiligen Schrift wurde stets mit besonderer Sorgfalt überwacht“ (Ibid.: 10). Viel schneller wurden etwa Glossen aufgezeichnet oder solche Texte, die nur für einen kurzfristigen Gebrauch dienen sollten. Außerdem schwankte die Aufmerksamkeit über den Tag verteilt. Wenn für die Schreiber der originalen Urkunden gilt, dass ihre Aufmerksamkeit während der Produktion der Urkunde wohl nicht so sehr schwanken konnte, da sie im Ganzen wenige Urkunden zu Papier brachten und diese außerdem immer in einem relativ kurzen Text bestanden, so ist es möglicherweise für das Zusammenstellen von Kartularien doch richtig, dass die Aufmerksamkeit schwankte und dies Fehler verursachte. Allerdings ist der Arbeitsrhythmus schwierig zu rekonstruieren. Wurden viele Originale auf einmal abgeschrieben oder nur eines oder zwei pro Tag? Bei prächtigen Kartularien, wie es das Liber feudorum maior oder das Kartular von San Cugat waren, wird man wohl kaum von einer täglichen Massenproduktion ausgehen können. Auch weniger prächtige Abschriften machen in der Regel einen sauberen, kontrollierten Eindruck, wie ich auf der Archivreise feststellen konnte. Die Fehlerrate war beim Erstellen der Kartularien durch Abschreiben also vielleicht nicht größer als in der Situation des Erstdiktats. 6.2 Zeitliche Einordnung der beobachtbaren Abweichungen Das Latein der Urkunden wird durch eine Reihe von Faktoren beeinflusst: die romanische Umgangssprache zur Zeit der Entstehung der jeweiligen Urkunde; die mit der Diskurstradition verbundene Kraft der Bewahrung alter Formen; die Gattungsansprüche; die individuelle Interlanguage eines Verfassers und ihre Fossilierungen, sowie auch generelle Ausdruckseffekte und -bedürfnisse wie Assimilierung, Kürze, Invariabilität, Differenzierung und Expressivität. Die Erscheinungen können also vielfältig beeinflusst sein. Bezogen auf das thematische Interesse dieser Studie tritt der Faktor „Prägung durch das Romanische“ bei jeder Form in Konkurrenz zu einer Reihe anderer Erklärungen, so dass nicht vor einer eingehenden Diskussion zu ermitteln ist, ob die Phänomene durchgängig oder in ihrer Mehrzahl überhaupt die Volkssprache widerspiegeln. Die Möglichkeiten, in vielen Fällen die Abweichungen im Vergleich zur Schulnorm auf andere Ursachen zurückzuführen, sind beträchtlich und behindern eine allzu optimistische Einschätzung der Rekonstruierbarkeit des frühen Iberoromanischen. In diesem Kapitel sollen die prinzipiellen Chancen dieser Rekonstruktion geklärt werden. <?page no="349"?> 6.2 Zeitliche Einordnung der beobachtbaren Abweichungen 337 6.2.1 Die Periodisierung der lateinisch-romanischen Sprachgeschichte als Hintergrund 1996 traf sich eine Gruppe maßgeblicher Vulgärlateinforscher an der Universität Venedig, um sich mit dem Thema der lateinisch-romanischen Sprachgeschichte auseinanderzusetzen. Bei dieser Gelegenheit wurden mehrere neuere, auf erweiterter Datengrundlage beruhende Vorschläge zur Periodisierung dieser Sprachgeschichte entwickelt und zusammengestellt. Für unseren Zusammenhang scheinen vor allem diejenigen Beiträge richtunggebend, die sich auf sprachinterne Tatsachen berufen. József Herman, der selbst in Jahrzehnte langer Arbeit statistische Analysen zu vulgärlateinischen Phänomenen unternommen hat, geht davon aus, dass langfristige, in unterschiedlichem Rhythmus und Tempo verlaufende Prozesse sich an bestimmten Schnittpunkten verdichtet haben und durch ihren plötzlich parallelen und beschleunigten Ablauf zu einer schnellen, ruckhaften Veränderung der Sprachsubstanz führten. Dies gelte für das fünfte Jahrhundert, in dem das Lateinische zum ersten Mal spürbar verändert worden und definitiv von bisher gültigen Merkmalen abgerückt sei. Außerdem für das achte Jahrhundert, indem aus dieser Substanz dann in einem zweiten Schritt über eine erneute parallele Beschleunigung von Wandelprozessen die romanischen Varietäten in ihren verschiedenen Gebieten entstanden seien (1998: 21f.). Im Einzelnen hält Herman folgende Vorgänge fest: - letzte Jahrhunderte des römischen Imperiums, vor allem zweite Hälfte des 5. Jahrhunderts (1) Quantitätenkollaps, vollendet erst gegen 476 (2) Verlust des Endungs-m im Laufe der Spätantike (3) Kasusverfall, wobei bis Ende des 5. Jahrhunderts in der Umgangssprache regional unterschiedlich Dreikasussysteme oder Zweikasussysteme entstehen - Ende des achten Jahrhunderts (1) Verlust von / -s/ und / -t/ am Ende der Wörter, vollendet im 8. Jahrhundert (2) vollkommene Auflösung des Kasussystems zu Gunsten einer einheitlichen Grundform (ausgenommen in der Galloromania) (3) Grammatikalisierung der periphrastischen Futur- und Perfektformen Alberto Zambonis Modell hat Ähnlichkeiten mit dem Hermans, weicht andererseits aber auch deutlich von diesem ab. Zamboni bietet in seinem Statement wesentlich mehr Fakten an - die bei Herman jedoch im Hintergrund stehen - und zieht andere Grenzen. Nach seiner Auffassung hat die entscheidende Umstrukturierung zum Romanischen hin in einer einzigen, aber längeren Schlüsselperiode stattgefunden, dem 4. bis 6. Jahrhundert (1998: 123). Die nachfolgende Ausdifferenzierung der romanischen Spra- <?page no="350"?> 6. Analyse der sprachentwicklungsrelevanten Phänomene 338 chen, die er - mit Lot gehend - offensichtlich erst um 800 als in spürbare Ergebnisse mündend auffasst, sieht er offenbar differenzierter und lokal spezifischer als Herman. Jedenfalls spricht er nicht von einer zweiten Verdichtungsperiode der Prozesse. Für Spanien behauptet der große Mittellateinexperte Manuel C. Díaz y Díaz, in Folge der Entdeckung der Westgotischen Schiefertafeln (s. Kap. 2), dass dem vorhandenen Material an Rechtstexten, also auch den Urkunden, eine Reihe von aussagekräftigen Fakten zu dem jeweils gleichzeitigen gesprochenen Romanischen zu entnehmen sind, die denen Hermans und Zambonis zum Teil widersprechen. So liest er aus den Textbelegen Velázquez Sorianos (1989) ab, dass sich bestimmte Prozesse des Quantitätenkollapses erst im 6./ 7. Jahrhundert auf alle Kontexte und lexikalischen Einheiten ausweiteten (1998: 161). Er beobachtet in den Schiefertafeln einen guten Erhaltungsstand für den Dativ Singular und Genetiv Singular, den er auf die gleichzeitige Umgangssprache überträgt (Ibid.: 163). Weiterhin erkennt er ein gewandeltes System von Demonstrativa, das er für das gesprochene Romanische der Zeit ebenfalls annimmt: iste, ipse, ille statt hic, iste, ille (Ibid.: 163). Andererseits vermutet Díaz y Díaz, dass das alte Futur in der Umgangssprache des 6./ 7. Jahrhundert schon verschwunden war, obwohl die Schriftsprache ganz offensichtlich an ihm festhält (Ibid.: 164). In den - knappen - Bemerkungen zu den sprachinternen Vorgängen im 8. und 9. Jahrhundert finden sich Beobachtungen wie die folgende: „En la declinación nominal dura bastante tiempo el genetivo en formas anquilosas, pero con clara indicación de la idea de posesión. El dativo, ya en forma oblicua, sigue funcionando incluso con valores de genetivo.“ (1998: 170). Dabei bilden erst das 9. und das 10. Jahrhundert aus Díaz’ Sicht die entscheidende Periode für die Ausbildung der romanischen Varietäten (Ibid.: 170). Anfang dieses Jahrhunderts hat Michel Banniard einen weiteren aktuellen Vorschlag der Periodisierung vorgelegt (Banniard 2003), indem er die Anordnung der internen Fakten unter die Bedingung stellte, gewissen externen Gegebenheiten genügen zu müssen, also sich mit ihnen zu einem harmonischen Gesamtbild verbinden zu lassen, und zwar solchen externen Fakten, die mit der Anpassung gebildeter Sprecher an weniger gebildete Hörer zu tun haben. Unter dem Stichwort „Vertikale Kommunikation“ hat Banniard in intensiver Textarbeit (s. u.a. Banniard 1992) an Hand von metakommunikativen Aussagen herausgefiltert, dass sich verschiedene Zeiträume unterschiedlichen Verhaltens der gebildeten Träger schriftlicher Kommunikation im mündlichen Kontakt mit weniger gebildeten Hörern beobachten lassen (Ibid.: 546ff.). Einer frühen Phase der Abgrenzung der römischen boni gegenüber dem Volk schließen sich Perioden der Öffnung an bis hin zu einer erneuten, partiellen Abgrenzung im Zuge der karolingischen Renaissance und ihrer Folgeerscheinungen in der Italo- und Iberoromania. Diese Zeiträume parallelisiert Banniard mit Epochen der internen Sprachentwicklung, indem er verschiedene Wellenbewegungen ansetzt, die an <?page no="351"?> 6.2 Zeitliche Einordnung der beobachtbaren Abweichungen 339 unterschiedlichen Stellen des gegebenen lateinischen Ausgangssystems angreifen und von markierten Ausnahmeformen anhebend über eine fortschreitende Erhöhung der Gebrauchshäufigkeit bis hin zur vollkommenen Trivialisierung mit Verlust der Markiertheit führen, wodurch die neuen Konstruktionen und Formen zu Fundamenten des Sprachsystems werden (Ibid.: 549f.). Banniard setzt folgende extern-interne Perioden an: (1) klassisch-römisch (bis zum 2. Jh./ ohne beobachtbare Initiative zu einer sprachlichen Vereinfachung bei vertikaler Kommunikation Nähe von Schriftsprache und mündlicher Sprache/ im Volkslatein: Entwicklung der ad-, de-Periphrasen in Konkurrenz zu Dativ und Genetiv; Anfänge der -mente- Adverbien; habeo-factum-Ansätze); (2) Spätlatein I (3.-5. Jh.) und Spätlatein II (6.-7. Jh.) [für beide Perioden gilt: bewusste, christlich inspirierte Initiativen zu sprachlicher Vereinfachung bei vertikaler Kommunikation Schriftsprache und mündliche Sprache müssen also dabei sein, sich voneinander entfernen/ Ausbildung von Drei- Kasussystemen; Verstärkung bestimmter Subsysteme im Konjugationssystem (Aktiv, Infinitiv) zu Lasten anderer Subsysteme (Passiv, Gerundiv/ Gerundium, Supinum); Änderung des Demonstrativsystems; Erfindung und Entwicklung eines zusammengesetzten Perfekts] (3) Spätlatein II (6.-7. Jh.) und Frühromanisch (proto-roman) [8.-9. Jh.] (Umbau des Passivs; Erneuerung des Futurs; Erfindung des Konditionals; Verschwinden des Neutrums; nur frühromanisch: Schaffung des bestimmten Artikels/ nur frühromanisch: das Gelingen von vertikaler Kommunikation hängt vom Thema ab: bei alten Themen gelingt die vertikale Kommunikation trotz des reformierten Lateins recht gut, bei neuen Themen ergeben sich erhebliche Schwierigkeiten, so dass man bald wieder auf einen noch stärker auf das Basilekt zugehenden Vermittlungsstils zurückgreift, den sermo rusticus) Syntaktisch seien in diesen Perioden Verschiebungen in der consecutio temporum, dem Gebrauch der verschiedenen Modi und den Konstruktionsgewohnheiten von Subordination und Koordination zu beobachten. Eine kleine Bemerkung aus iberoromanischer Sicht: Durch die Veränderung der Datierung bei den Glosas - 11. statt 10. Jh. (vgl. Wright 1991) - ist die frühromanische Phase natürlich länger anzusetzen und sollte sich für das Kastilische und Aragonesische bis zum 10. Jahrhundert, für das Leonesische und Katalanische bis zum 11. Jahrhundert und für das Galego-Portugiesische bis zum 12. Jahrhundert erstrecken Die vier genannten Vorschläge zur Periodisierung haben für die zeitliche Einordnung der in den Urkunden gegebenen Abweichungen sehr unterschiedliche Konsequenzen. Mit Díaz y Díaz gehend sind all diejenigen Regelabweichungen, die sich als Spuren des Romanischen verteidigen lassen, einschließlich des erst allmählichen Schrumpfens der Deklinationen, Reflexe von zeitgenössischen Wandelvorgängen innerhalb der gleichzeitig gesproche- <?page no="352"?> 6. Analyse der sprachentwicklungsrelevanten Phänomene 340 nen Volkssprache. Auch Banniards Periodisierung impliziert einen späten Verlust der Kasus und eine späte Herausbildung des bestimmten Artikels. Dieser Ansicht lässt sich außerdem die Einschätzung von Jennings zuordnen (1940: 313). Geht man andererseits mit Herman und Zamboni, dann sind die wesentlichen Entwicklungen im 8. und 9. Jahrhundert bereits abgeschlossen. Auch in der bekannten Darstellung von Ralph Penny (1991) wird die Entwicklung ähnlich beurteilt. Exemplarisch zeigt sich das an seiner Beschreibung des Wandels im Bereich der Kasus: „By the fourth and fifth century, […] in most of the West (including Spain) there was probably a maximum of two case-forms (a Nominative or subject-case, in contrast with an Oblique, which was used in all roles except that of subject) in both singular and plural. […] This two-case system survived, in French and Provençal, with minor changes, until the twelfth-thirteenth centuries. In other areas there was an early further reduction to invariable sing. and plur. noun forms […]“ (Penny 1991: 104f.). In den Urkunden auftretende Phänomene, die -m-Verlust, Effekte des Quantitätenkollapses, das Zusammenschieben des Kasussystems zu einem Universalkasus, das Aufkommen von Artikeln u.a. beinhalten, können nach dieser Sicht der Entwicklung nicht erst auf das romance des 8.-10. Jahrhunderts zurückgehen. Zambonis Modell regt zu der Lösung an, dass möglicherweise die Formularien, die in der Schlüsselperiode des 4.-6. Jahrhunderts entstanden, diese Spuren schon enthielten, so dass sie in den zwischen 770 und 1000 verfassten lateinischen Urkunden der Iberischen Halbinsel dann lediglich reproduziert wurden. Hermans Modell impliziert, dass ein gänzlich anderes Verständnis des Urkundenlateins gefunden werden muss, in dem die Phänomene nicht als einfache Reflexe einer gleichzeitigen oder Bewahrung einer vergangenen Umgangssprache verstanden werden. Wichtig erscheint mir die Überlegung, dass zwischen der allgemeinen Frage, zu welchem Zeitpunkt das Lateinische ins Romanische übergegangen ist (Bastardas 1989), und der einzelne Morpheme und Bauprinzipien betreffenden speziellen Frage, wie die lateinisch-stämmigen Varietäten in verschiedenen Perioden ihrer Geschichte genau ausgesehen haben, wann also bestimmte Formen und Konstruktionen definitiv verschwunden sind, wann bestimmte neue Formen und Konstruktionen aufgekommen und wann diese dann schließlich ins Fundament der Systeme der Varietäten eingegangen sind, zu trennen ist. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung interessiert - wenn man einen Anspruch auf zeitliche Genauigkeit ansetzt - die zweite, die spezielle Fragestellung, während die erste sekundär ist. Immerhin soll sie nicht künstlich ausgegrenzt werden, da sie ja mit der ersten verwandt ist. Die Lösungen der zweiten Frage hängen aber nicht von einer so oder so gearteten Antwort auf die erste ab. Beide Probleme sind im Grunde unabhängig voneinander. Im Rahmen des hier verfolgten Grammatikalisierungszugangs mag folgende Auskunft für die Beantwortung der ersten Frage genügen: Latein und <?page no="353"?> 6.2 Zeitliche Einordnung der beobachtbaren Abweichungen 341 Romanisch gehören, aus der Sicht einer abstrakt-morphologischen Prinzipien folgenden Sprachtypologie, unterschiedlichen Typen an: Latein kann überwiegend als Ausprägung des synthetischen Typs verstanden werden, da seine Grammatik mit Ausnahme des Perfekt-Passiv-Systems kein dominant analytisches Subsystem beinhaltet, die romanischen Varietäten/ Sprachen dagegen können im Hinblick auf Artikel, periphrastische Verbalformen und präpositionale Markierung syntaktischer Relationen (hier Ausnahme natürlich Rumänisch) als überwiegend analytisch angesehen werden. Wie wir oben sagten, bedeutet typologischer Sprachwandel vom Blickwinkel der Grammatikalisierung aus eine massive Parallelentwicklung in mehreren Grammatikalisierungskanälen. In Beziehung auf die Dichotomie „synthetisch-analytisch“ bedeutet dies, dass die Struktur der romanischen Sprachen ihre Schwerpunkte in den analytischen Anfangsabschnitten der Grammatikalisierungskanäle hat, weil an diesem Pol neue, konkurrierende Ausdrucksformen zu den altererbten entstanden sind, die in ihrer Grammatikalisierung höchstens bis zum pro- oder enklitischen Stadium vorangeschritten sind, ohne schon zu neuen präfigalen oder suffigalen Porte-Manteaumorphen geworden sind. Die Struktur des Lateins dagegen hat ihre Fundamente und Hauptträger eben in suffigalen, Flexionsklassen begründenden Porte-Manteaumorphen, die aus einer langen Geschichte der Grammatikalisierung resultierten, d.h., der Sprachtyp des Lateins besteht in einem Übergewicht der durch abstraktsyntaktische Relationen und reduktive kategoriale Ausstattung charakterisierten zeitlichen Endbereiche der Grammatikalisierungskanäle. Der lateinisch-romanische Variantenraum (Pinkster 1988) hat sich im Laufe der Geschichte von seiner synthetischen auf seine analytische Seite verlagert, was in einem allgemeineren, das Lateinische übersteigenden Verständnis auch grammatkalisierungstheoretisch gut nachvollzogen werden kann. Man kann also sagen, dass jede im römischen Reich gesprochene Varietät des Lateinischen immer schon in geringen Anteilen romanisch war und dass dieser romanische Charakter in dem Augenblick die Oberhand gewann, in dem analytisch-periphrastische Repräsentationsformen grammatischer Funktionen häufiger gebraucht wurden als synthetisch-flexionale. Nimmt man weiterhin den Gedanken hinzu, dass nicht alle Merkmale einer Varietät gleichermaßen zu deren Identifizierung und Eigenart beitragen, sondern sowohl im Hinblick auf den Gesamtbau des Sprachsystems als auch im Hinblick auf die metasprachliche Außenwahrnehmung einer Varietät durch die Sprecher ihrer diatopischen oder diastratischen Nachbarvarietäten bestimmte Merkmale als besonders typische Kennzeichen für die Identifizierung gerade dieser Varietät und ihre Unterscheidung von anderen Varietäten anzusehen ist, dann kann man vielleicht folgende Züge als Ausweis von Romanität ansetzen: den überwiegenden Gebrauch von de zur Markierung des Nominalattributs, den überwiegenden Gebrauch von ad zur Markierung des indirekten Objekts, den sehr häufigen Gebrauch einer morphologischen ipse- oder ille-Variante in der Funktion eines bestimmten Artikels, sowie den überwiegenden Gebrauch <?page no="354"?> 6. Analyse der sprachentwicklungsrelevanten Phänomene 342 eines analytischen Passivs gegenüber einem synthetischen. Wenn man dies akzeptiert, kann man sagen, dass der Umschlag vom lateinischen in den romanischen Charakter einer vom Lateinischen abstammenden Varietät im römischen Reich bzw. dessen Nachfolgereichen in dem Augenblick stattfand, als die oben genannten romanischen Formen gegenüber den ererbten lateinischen häufiger gebraucht wurden. Es spielt dann für die Zuerkennung des romanischen Charakters keine Rolle, ob noch Reste des Kasussystems, der Passivformen, der alten consecutio temporum mit gut erhaltenen Formen des Konjunktiv Imperfekts oder Perfekts vorhanden sind. Entscheidend wäre das Überwiegen der analytischen Markierung syntaktischer Funktionen in den Bereichen „Textdeixis“, „Nominalreferenz per Nominalattribut“, „Drittaktant“ und „Passivdiathese“. Nimmt man interne und externe Daten zusammen, ist es am wahrscheinlichsten, einen solchen Umschlag der Gebrauchshäufigkeit im 7./ 8. Jahrhundert anzunehmen (vgl. Bastardas 1989: 41), denn die Überreste der Kasus mussten bis zum Auftreten der ersten romanischen Texte im 11. Jahrhundert wenn nicht verschwunden, so doch auf den Status rein lexikalischer Marginalfälle (Marcos, virtos u.ä.) zurückgedrängt sein, da sie weder in der Syntax der Glosas, noch der Nodicia, noch den Strophen des Cid eine Rolle spielen. Dies bedeutet, dass die iberolateinischen Varietäten zu dem Zeitpunkt, in dem die Urkundendokumentation begann, schon als romanisch anzusprechen wären. Für das Interesse einer genauen Rekonstruktion des zeitlichen Verlaufs des Aufkommens, der Gebrauchsvermehrung, der Gebrauchsverminderung und des Verschwindens einzelner Formen und Konstruktionen ist dies jedoch noch keine hinreichende Auskunft. Wenn wir eine ungefähre Epoche des Umschlags angeben können, heißt das eben noch nicht, dass wir sagen können, wie dieses Romanische im Einzelnen aussah, dass wir wissen, wann die synthetischen Passivformen aus dem Frühromanischen verschwunden sind, wann die letzten Kasusformen bei Substantiven und Adjektiven aufgegeben wurden, in welchem Maß dieses Frühromanische -mente-Adverbien aufwies usw. In den folgenden Abschnitten soll nun versucht werden, zwischen den unterschiedlichen Ansätzen der zeitlichen Einordnung der beobachteten sprachentwicklungsrelevanten Regelabweichungen der Urkunden eine Entscheidung herbeizuführen. Dazu sind einzelne Dokumente zu analysieren, wozu wiederum zunächst nötig ist, sich einen Einblick in die wichtigsten Typen von Regelabweichungen zu verschaffen (vgl. Kap. 1, Liste von Bastardas). <?page no="355"?> 6.2 Zeitliche Einordnung der beobachtbaren Abweichungen 343 6.2.2 Typisierung der sprachentwicklungsrelevanten Phänomene Die markantesten Abweichungen sind - nach Bereichen geordnet: - beim Prädikat: Gebrauch des analytischen Passivs im Sinne eines Präsens (excomunicatus sit im Sinn von excomunicetur), Formen der konsonantischen Konjugation wechseln zur e-Konjugation (curret im Sinne von currit), - bei den nominalen Argumenten: Kasusabweichungen als Kongruenzmängel (bei Apposition: vobis dominos statt vobis dominis; zwischen Adjektiv und Nomen: ego, indigno pater vester statt ego, indignus pater vester), oder als Rektionsabweichungen (bei Präpositionen (cum fundamentum statt cum fundamento) oder in Bezug auf das Verb (conduximus pontifex statt conduximus pontificem)) Präpositionen ersetzen Kasus, vor allem de den Genetiv (terra de Patrocio statt terra Patrocii) und ad den Dativ (donare ad coenobium statt donare coenobio) - bei den Determinierern: ille und ipse als vorverweisende Artikoloide totus ersetzt omnis (contra totos homines statt contra omnes homines) - bei den Relativpronomen: chaotischer Gebrauch der lateinischen Formen (habeo villa qui dicunt statt habeo villam quam dicunt; in valle quos vocitant statt in valle quam vocitant) Vorkommen eines genusneutralen Subjektrelativpronomens (strata qui pergit statt strata quae pergit) que als Objektrelativpronomen (terras que habemus statt terras quas habemus) oder neutrales Relativpronomen (locum que dicitur statt locum qui dicitur) Daneben kommen progressive neue Formen vor, vor allem bei: Adverbien (in ab ante ‚künftig‘, de presente ‚schon jetzt‘ u.a.) und Präpositionen (ad latus ‚neben‘, subtus ‚unter‘, , u.a.) stare für esse (qui stat in montem statt qui est in monte) sedere für esse (sedeat semper ingenua statt sit semper ingenua) <?page no="356"?> 6. Analyse der sprachentwicklungsrelevanten Phänomene 344 6.2.3 Versuch einer zeitlichen Einordnung der Urkundenbefunde Die in 6.2.2 aufgeführten Phänomene sind zum Großteil als Niederschlag romanischen Einflusses zu deuten. Die aufgeführten Abweichungstypen treten schon früh auf. Schon das vermutlich älteste Dokument aus dem Jahre 775, das berühmte Diploma Silonis Regis, bietet (1) ein Vorkommen von ad statt Dativ, (2) anaphorisches ipse, (3) neutrale Relativpronomen que (statt qui) sowie (4) ein genusneutrales Subjektsrelativpronomen qui, und (5) den Gebrauch von stare für esse zur Angabe der Position: / A/ ast1.u/ 775/ (Chr.) Silo. Macnum adque preclarum est locum abitacjonis propter mercedem anime mee facere donationem (1)ad fratres et seruos Dei Petri presuiteri, Alantj conuersj, Lubinj conuersj, Aujtj presbitjri, Ualentini presbiteri, uel aliorum fratrum qui in ipso loco sunt, uel quem Deus ibi adduxserit qui a nobis pedes obsculauerit sunt. (2)ipsi serui Dei, ut darent eis locum orationis in cellario nostro qui est inter Iube et Masona, inter ribulum Alesancia et Mera, locum (3)que dicitur Lucis, determinatum de ipsa uilla ubi ipse noster mellarius abitauit Espasandus, et per illum pelagum nigrum, et iusta montem que dicitur Farum, et per illas sasas aluas er per illa lacuna usque in alia lacuna, et usque ad petra ficta et per ila lagenam et per ipsum vilare que dicitur Desiderii et per illum arogium que dicitur Alesantiam et per alia petra ficta qui (5)stat in montem super Tabulata per ipsa strata (4)qui esclude terminum usque in locum que dicitur Arcas et arogium que dicitur Comasio, cum omnem exitu et regressu suo castros duos quum omne prestacione suam montibus et felgarias, parietes qui iui sunt et omnem exitum. Ec omnia supra nominatum dono vobis Deo adque concedo per nostrum fidelem fratrem Sperautane abatem, ut oretis pro mercedem anime mee in ecclesia que ibi edificata fuerit et omnia de meo iure abrasum et in vestro iure traditum et confirmatum abeatis omnia firmiter adquem inrevocauiliter, et quem Deus adduserit ad confesionem in ipso loco, vindicent omnia qum omnem voce oposuitionis mee et iudicent adque defendant de omnem omine, et si post odie aliquis eos inquietare voluerit, pro ipso loco vel pro omnia quod scriptum est inprimis, sit sebaratus ad comunione sancta et a conventu cristianorum et eclesie sancte permaneat extraneus, et cum Iuda traditore deputetur danandus, talisque illum ultio consequatur divina que omnes videntes terreant et audientes contremescant. Facta karta donacionis sub die X Kalendas Setenberes era DCCCXIIIa. - Silo anc scriputa donacionis manu mea. - Esprauta abba anc escritura ubi preses fui. - Teodenandus conversus manu mea feci. - Nepozanus testis anc escritura donationis ubi preses fui et testis. - [[KOMM: Hier ist eine groeßere Luecke]] a clericus manu mea sinum feci. - Florentius presbiteri testis. - Selvatus presbiteri. / E/ ast1.u/ Gleich in den frühesten Urkunden der verschiedenen Kartularien tauchen eine Reihe von Vorkommen des Gebrauchs von de und ad zum Ersatz von Genetiv und Dativ auf. Ferner beobachtet man immer wieder anaphorisch gebrauchtes ipse sowie Fälle der Verwendung von ille im Sinne eines Personalpronomens. Qui begegnet als genusneutrales Subjektspersonalpronomen, que als generelles Objektpersonalpronomen mit Tendenz zur Generalisierung zum allgemeinen Relativpronomen. <?page no="357"?> 6.2 Zeitliche Einordnung der beobachtbaren Abweichungen 345 Dies alles erscheint eingebettet in eine als lateinisch erkennbare Grundsubstanz, die zwar zum Teil abweichenden Kasusgebrauch nach Präpositionen oder in Argument-, also Aktantenpositionen aufweist, durchaus aber auch viel korrekten Sprachgebrauch im Sinne der Regeln des Schullateins bietet (vgl. Jennings 1940: 138, 146, 150). Sehen wir uns Auszüge aus 13 frühen Urkunden aus den Kartularien des Korpus an. Es sind in ihrer Mehrzahl die ersten Urkunden der Editionen und/ oder frühe Dokumente, die an zweiter oder spätestens dritter Stelle von den Editoren aufgeführt wurden. Der Zeitraum erstreckt sich vom Ende des 8. bis Anfang des 10. Jahrhunderts: (Archivo Condal, 889) In Christi nomine. Nos simul in unu Sicomares et uxor mea Oreta, Adrolfus et uxor mea Odalina, Fruilone, Donnus et uxor mea Tudira, Adeka, et uxor mea Orreka, Sabieldus et uxor mea Natalia, Abimia, Gotta vinditores vobis domno Wifredo comite et uxori tue Winedede. Certum est enim, constat nos vobis vindere deveremus, sicuti et vindimus in balle Bucaranense, in locum ubi dicitur ad Spinosa, vindimus vobis ipso villare, qum ((cum)) suo superposito, suos ortos ((hortos)), cum suas pomiferas, et adfrontat ipse villares [jener vorerwähnte Weiler] de una parte in terra de Petracio [Land zugehörig zu Petracio], presbitero, et de supteriore parte in Lubricato et de tercia parte in strata qui [trotz femininem Antezedens] pergit vel ubique, de quarta vero parte in ipsa fonte. Et advenit nobis ipse villares de parentes nostros, vindimus vobis ipso villare ab omni integrietatem non meto prosterniti ne [ne statt nec geht in die Nähe romanischer Formen] mente alienatis et memoria per precio quod inter nos bone pacis [statt bona pace] placuit atque convenit soliditas quadraginta in rem baialentem tantum, quod vos emtores nobis dedistis et nos vinditores de presente recepimus et nichilque de ipso precio aput vos emtores non remansit et est manifestum. (Dipl. esp., 837) Hoc scriptum de rebus de domina Exsemena Moniniiz pro remedium [statt pro remedio] anime sue. In nomine domini Ihesu Christi. Ego Exsemena Monii facio ordinationem de meis rebus pro remedium anime mee. In primis omnem ganatum meum quantum habeo de mea senara in Bera exceptis perfiis meis; et medietate de omne pane [partitives de] quantum habeo, siue in agro tam in celario, sit in manu mei magistri domino Michele; et diuidat, simul cum consilio unius mei filii, qualem ex illis uocauerit meo magistro [magistro als Subjekt], ubicumque uiderint; et diuidant illum ubicumque bene uiderint pro remedium anime mee: Aras quas dedit mihi domino meo domno [domino als Subjekt] Petro do eas filiis meis quales habui ex illo. Ego Exsemena Moniniz facio anunciacionem tibi filio meo Pelagio quantum habuisti ex mihi, exceptis omines et hereditates. Et ego item Pelagius relinquo tibi meam matrem XX solidos denarios et mediatem de duobus equis et medietatem VII uacas. Ego item Exemena facio libertate Mariane Monizi ut seruias omnibus quales uoluerit. Facta cartula idus ianuarii, era DCCCCLXXV. Ego Lucius notarius escrisi et confirmo cum testibus. Justinus, Ordonius et Ramirus. / E/ ast3.u/ (Celanova, 886) In Dei nomine, vobis nostros dominos Adefonso Regi et Exemena Regina. Nos id est, Argemirus, Silo, Aloytus, Petrus, Kindulfus, et Froila, qui <?page no="358"?> 6. Analyse der sprachentwicklungsrelevanten Phänomene 346 sumus nepti et pronepti Aloyti. Placuit nobis expontanea voluntate nostre ut faceremus vobis, sicut et facimus, kartulam incomuniationis vel donationis. Donamus vobis donamus vobis villas que [statt quas] dicunt Salzeto, Villaplana, Dominici, et sunt ipsas villas [hier Subjekt] territorio Lemaos, secus rivulo Laure. Damus vobis ipsas villas [vorerwähnte villae] ab integro, sive et IIII.a portione in ipsos servos qui [kataphorisches, auf qui zuführendes ipse] ibidem sunt abitaturi, qui sunt de casata Gundivere et Marine, quod in presentia vestra per iuditium conquisimus. Omnes ipsas villas cum domos et vineas [statt cum domis et vineis], pumares, terras cultas vel incultas, mulina, salta, vel cum omnibus suis per terminos antiquos usque in Laure. (Documentos gallegos, 827) In Dei nomine. Ego Egilo uobis fratribus meis Floridia, Auolino, Gildemiro et Bonoso. Placuit mihi atque conuenit, nullo cogentis imperio nec suadentis articulo sed propria mihi accessit uoluntas, ut uenderem uobis supra dictis agrum meum quem habeo in uilla Codegio, ubi uos habitatis, et est ipsum agrum inter ecclesiam Sanctum Iulianum et castrum de Paredinas et accepi a uobis precium solidos quod mihi bene complacuit et de ipso precio [partitives de, precium vorerwähnt] apud uos nichil remanst in debitum. (Documentos gallegos, 835) In Dei nomine. Ego Ponpeianus placuit mihi atque conuenit, nullius cogentis imperio nec suadentis articulo sed propria mihi accessit uoluntas, [ut] uenderem uobis Herfonsus et Hermildi terra mea propria que habeo in monte que dicitur Rania; ipsa terra per ubi obtinuerunt eam aut per terminos de uilla Roadi, et inde in fonte Coua, et inde in fonte Carregosa, et inde per ubi ipsa fonte discurrit usque in terminos de Codegio, et inde in terminos de uilla Gonderedi et inde in terminos de uilla que dicunt Codesoso. Uendo uobis IIIIor portiones integras extra ipsa Va portionem quam dedit filio meo Fafilla, et accepit de uobis in aderado et definido precio, id est: boue colore marceno, manto laneo uilado et chomacio, kaseos LL(15 Buchstaben) et est ipso precio [precio als Subjekt] in aderado solidos IIIIor et uno tremese et de ipsum precium apud uos nichil remanet. (Oña, 836) In nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti. Ego Kardellus presbiter, qui suum filius condam patris mei Ualeri, uobis omnibus christianis, episcopis, abbatibus presbiteris, dicaconibus (sic) clero uel omni populo Dei, Deum timentibus ecclesie orantibus notesco et ut pro me orare iubeatis supplex expostulo. Is expletis, ego et pater meus nostre Ualerius in christi nomine edificabimus in proprietate nostram monasteria cum regula sancta in Aletese (sic) in locum quod dicitur Asia; constituimus ecclesias, domos et ortos ((hortos)), uineas et pomares, terras de Iscaira factum est calidum, et de monte fecimus campum, in honore Dei omnipotentes et Sanctorum Apostolorum Petri et Pauli et Sancti Andree quos patronos elegimus in ipsa loca. Iam illi diu transierunt et omnia michi sub uno relinquerunt in unione regule, et ego, cum iam in extremos dies deuenio et timens et tremens ero de die et ora illa quando ac luce migrauero, sed quod hic in pauperibus dipensaui, et pro illis et me Domino commendaui et quod est iugo seruitutis liberaui mercedem quod iam illic sustineret et ego ab eri de misericordia Dei non confido, sed quod longam est ut per ordinem prosequamur nunc uero de presenti narremus, sit omnia concessum ad ecclesia domni et patroni <?page no="359"?> 6.2 Zeitliche Einordnung der beobachtbaren Abweichungen 347 mei Sancti Andree apostoli in loco quod dicitur Asia, quidquid obtinere ualui, secundum quod superius memini. Et ipsa uilla Asia et summo Linuinsia, Uba et alia loca alletes Leorga, et in Castella quod nominatur uilla Kardelli de nominis mei et Uillella, libros, uestitum, pomares, uineas, res mobilem et immobilem, terras, exitus cum omni ingressum et regressum [cum mit Akkusativ] suo. (Portugaliae Monumenta Historica, 882) Christus. In nomine patri et filii et spiritus sancti. domnis inuictissimis ac triumphatoribus sanctis martiris petri et pauli sancti migaeli arcamgeli. cuius baselica fumdamus in uilla quod [quod trotz femininen Antezedens] uocitant lauridosa inter duas annes kanaluno et cebrario subtus monte petroselo territorio anegrie. ego serbus dei muzara et zamora damus adque concedimus ad deum et ad ipsa baselica que nos fundamus in nomine sancti petri et pauli et sancti migaeli arcangeli. damus ipsa uilla ubi ipsa eclesia fumdamus in omnique circuitu suos dextruos sicut kanonica sentemtia docet : duodecim pasales pro corpora tumudamdum (sic) et LXXIIos ad toloramdum fratrum adque indigentium et foru dextruos ipsa uilla pro ubi illa [vorverweisendes Objektpronomen: villa <illa] obtinuimus de presuria pro suis locis et terminus antiquiis cum pascuis padulibus montes fontes petras mobiles uel inmouiles aquis aquarum uel sesicas molinarum terras ruptas uel barbaras arbores fructuosas uel infructuosas accessum uel regressum cubus cubas lectus kadedras mensas signum de medalo cruce kapsa calice de ariemto cum quamtumque ibidem aprestamo ominis est.damus atque concedimus ipsum que sursum taxatum est pro remedio animabus nostris ad ista eclesia adque sacresancto altario quod subra taxatum est. concedimus ut diximus pro uicto atque uestimentum monagus et fratres et sirores et propinquis nostris [das Nominalattribut wird hier durch Nominative und Dative ausgedrückt, statt durch einen Genetiv] et qui bonus fuerint et in uita sancta perseueraberint seculariter et uia monastica obtinuerint in ipso loco. sibe pro luminaria altariorum uestrorum uel elemosias pauperum. sicut lex et canonica sententia docet. et ibi notuimus ut nec uimdendi nec donandi neque a rex neque ad comnide neque ad episcopo neque ad numlo omine inmitendi. set sidea semper inienua usque in sempiternum. (Santo Toribio, 829) In Dei nomine. Ego Ualerianus una cum patri meo Teodarium et meos gasalianes. placuit nobis bono animo ad tibi abbati et patri nostro domno Moysi et Gorgerico Fradilany uel ceteros gasalianes domno Saluatori et Sancto Iohanni apostoli siue fratres qui ibidem habitant, abrenunciamus nos et omnes facultates nostras secundum regulam apostolicam que est prenominatam causam monasterium in loco Osina et ecclesiam Sancti Saluatoris quam ego prendidi de eos calido id est: terras, uineas, pomares, libros, solares, molina, gresu adque regresu tam mobile quam ecciam et inmobile uel ubicumque hereditatem nostram potueritis inuenire, ad omni integritatem teneatis uindicetis, ut ex odierno die tempore abeatis post et fratribus tuis traditum et post obitus nostrum uindicetis usque in perpetim abiturum, ut ante Deum fiduciam abeamus, et per singulos annos racionem faciatis ad suma parte de Uellenia de quidquid abueritis. Si quis tamen, quod fieri minime credo, aliquis homo per subrogata persona pactum istum disrumpere quesierit et ipsa ecclesia auferre uoluerit, in primis sit excomunicatus et cum Iuda traditore condemnatus <?page no="360"?> 6. Analyse der sprachentwicklungsrelevanten Phänomene 348 [Beispiel für analytische Passivformen, die im Sinne eines Präsens gemeint sind] et non abeat anime sue ueniam ante Deum. (San Cugat, 908) In nomine Domini. Ego Trasovadus, vinditor vobis domno Wifredo, comite hac marchio, que vocant Borrello, et uxori tue Gersinda, emptores. Per hanc scriptura vindiccionis me vindo vobis hic in comitatu Barch., in locum Vallense, Valle que vocant Tordaria, villa Bitaminia, que vocant Palacio, cum ecclesias, id est s. Marie virginis et s. Stephani protomartiris, et alia ecclesia que vocant similiter s. Stephani, qui est in latere Montissigni que affrontat iam dicta vallis de una parte in Arcas qui sunt in villa Moscariolas, et per latere Montissigni usque ad collum inter duos signos et inde vadit usque ad collum que dicunt Collo Formici et pergit per summa mucera de monte Cavallare usque ad archam que dicunt ad ulmo [statt ad ulmum], et vadit usque ad villam Pinellus et usque in villare que dicunt Romanos. Quantum infra istas afrontaciones includunt, sic vindo vobis omnia quantum ibidem iusus sum habere vel possidere, vel quantum ibidem ullo tempore per quacumque auctoritate [statt per auctoritatem] Suniarius, comes, et uxor sua Ermingardim hereditaverunt, et quantum ibidem in omnibus meruerunt habere, sicut in ipsa scriptura emtionis insertum est, quod illi michi fecerunt, sic vobis hoc vindo omnia quantum illi michi ibidem vendiderunt, id est, domos, curtes, ortos, terras, vineas, molinis, pratis, pascuis, silvis, garricis, aquis aquarum, vie euntibus vel reeuntibus, omnia et in omnibus, cultum et incultum, arboribus, pomiferis vel inpomiferis, exiis et regressiis eorum, quantum Suniarius, comes, et uxor sua ibidem meruerunt habere, sic vobis hoc vendo, ab integre, cum omni voci apositionis, vel prosecutionis me; et accepi ego, vinditor, de vos emptores precium pro ista vindictione solidos duo milia, et de ipso precium apud vos emtores non remansit, sed omnia michi adimplestis; est manifestum. (Silos, 919) In nomine sancte et individue Trinitatis. […] Ideo pro luminaria ecclesie vestre atque stipendia earum vel pauperum, aut qui in altaria beatitudinis vestre et reliquias iam nominati deservire cotidianis diebus videntur monachorum omnium ibidem degencium cunctorumque obediencium, id offerimus sacrosancto altario vestro ad integro, sicut a nobis dignoscitur nunc usque fuisse possessum.[…] In primis fundamentum ipsius locum, in quo hec eadem ecclesia sita est vel monasterio fundatus, cum omnibus adiacenciis vel prestacionibus suis, domus, atriis, ortis, molinis, pratis, padulibus (paludibus) cum suis antiquis productilibus aquis, quorum termini hec sunt: […]et exiet usque ad summo monte; et de tercia parte via que discurrit de ipsa crux [statt de cruce] iam dicta, et vadit pro medio campo inter ambas villas de Silos per altare Sancti Iusti et exiet usque ad summo monte. Istos terminos iam dictos cum suis productilibus aquis vel ligna seu pomiferus donavimus, ut eum ampliora hedificetis ((aedificetis)), omnia determinata, que continentur a parte ecclesie vestre, cuncta ad integro deliminata iure perhenni vestre ecclesie concedimus vel confirmamus. Igitur hec obtime munere censemus votum ecclesie, quam et omne nostrum, que ibidem tribuimus concessione ad regulam Sancti Sebastiani et Sancti Petri apostoli et Sancti Emiliani presbiteri facimus donationem; et hunc eundem Placenti abbati cum <?page no="361"?> 6.2 Zeitliche Einordnung der beobachtbaren Abweichungen 349 fratribus suis concedimus regere, tenere et monasticam vitam et secundum docet Sancti Benedicti regulam ibidem exercere, (San Millán, 807) In Dei nomine. Ego Eugenius presbiter cum socios meos, id est, Belastar et Gersius et Nonna tradimus nosmedipsos ad honorem S. Emeteri et Celedoni de Taranco, eciam cum nostras proprias ecclesias pernominatas S. Andre apostoli et S. Felicis que manibus nostris extirpe radice fecimus in territorio de Area Patriniani, in loco qui dicitur inter Pando et Nozeto sicco, cum illo termino de roigo ad roio et de via de radice usque ad summa serra ab omni integritate cum terras et mazanares et cetera pomifera, defesas et nostros domos ibidem, vel omnibus rebus nostris, tam mobile quam inmobilem, sic confirmamus pro remediis animarum nostrarum ad S. Emeteri et tibi presenti abbati nostro Vitulo ut sint ibi permansurum in secula seculorum. Facta tradictionis scriptura in era octogentesima quadragesima quinta, secundo [tertio] Idus Novembris.-Ego Eugenius et mei socii hec scripta legente audivimus, manus nostra + + + roboravimus. Stefanus presbiter testis, Placentius presbiter testis, Paternus presbiter testis. Nachtraegliche Hinzufuegungen: 912: - Ego Armentarius presbiter sic me trado pro remedio anime mee cum ipso meo mazanare cum fundus terre qui est in territorio de Taranco iuxta via qui vadit ad Cella ad ecclesia S. Emeteri et Celedoni et ad tibi abbati Erbigio in hans scritpura manu mea + feci. Avimara testis, Tellus testis, Bandaliscus testis.-Ego Enneco presbitero sic me trado ad ecclesia S. Emeteri et Celedoni et tibi abbati Armenterio cum mea facultate et hereditate et cum ipsa mea ecclesia S. Caprasi, qui est in territorio inter Taranco et Foze mediana, cum illo termino de valle ad valle, et de radice de ripa ubi tempore iberni illas aquas adiungunt usque ad summo cotello et circundat toto giro ipso cotiello, terras, defesas; et in Taranco in illa ferragine meo mazanare. Qui voluerit inquietare vel auferre, a parte rex [statt a parte regis] pariet libra auri due. In hac scripta manu mea + feci. (San Vicente, 781) XPS.- […] Non est dubium set multis manet notissimum quod istum locum, quod dicunt Oveto, tu iam dicte Maximus prius eexisti, et aplanasti illum [Verwendung von illum als Personalpronomen, das auf locus vorverweist, klassisch wäre eum verlangt] una cum servos tuos, ex scalido nemine possidente, et populasti de monte; et sic postea coniunctus pariter cum idem predicto tuo tio domino Fromistano abbate, fundastis in isto loco iam dicto Oveto basilicam Sancti Vincentii, levite et martiris Christi; et obinde placuit nobis omnibus iam nominatis, qui subtus roboraturi vel signa facturi sumus, sana mente integroque consilio, ut, sicut mos est ecclesiarum et tradictio regule, abrenuntiamus seculum, et concedimus tibi sepe dicto nostro abbati Fromistano sive et Maximo presbitero nosmetipsos cum omne nostro peculio, sicut iam diximus in alio testamento, tam in terris quam etiam in vineis, pomiferis, edificiis, aquis, aquarumve ductibus, que nos omnes competit unumquemque in loco suo inter nostros heredes, seu etiam ego Montanus presbiter libros, ornatum ecclesie, et nos omnes sub uno, caballos, equas, boves, vaccas, omnia pecora, vestitum sive et omnem rem, quicquid ad usus hominis pertinet, tradimus et concedimus post partem idem sancte ecclesie Sancti Vincentii martiris Christi, <?page no="362"?> 6. Analyse der sprachentwicklungsrelevanten Phänomene 350 ubi nobis omnibus et eis qui ibidem sancte, iuste et pie vixerint in presenti seculo et ante Deum permaneat merces atributa. Et ego Fromista abbas, qui iam XXi annos sunt quod simul cum meo sobrino Maximo presbitero hunc locum squalidum a nemine habitante irrumpimus, et fundamus in honore Sancti Vincentii martiris Christi atque levite; et accepimus regulam beati Benedicti abbatis, ubi omnes nostras facultates dedimus, sic recipimus vos ad servitium Dei, et facio cum vos omnes et cum sobrino meo Maximo presbitero firmamentum et testamentum / Sanc: ut qui extra nostram traditionem et sancte regule [statt extra sanctam regulam] fuerit inde ausus auferre aut subtrahere, vendere vel donare voluerit, aut abbatem eligere extra regulam beati Benedicti aut extra comunem ut canones sancti et legum decreta constituerunt, ordinationem nostram frangere aut ipsum locum sanctum alicui homini tradiderit vel subiugaverit, nullam habeat firmitatem; et insuper sit maledictus et excomunicatus et cum Datan et Abiron dampnatus; et quicquid exinde aliquis ex his que dedit ibi voluerit accipere et ad alium locum pergere et dare, segregatus a Corpus Christi sit, et nichil in sua potestate sit, set sit excomunicatus qui talia fecerit. Sieht man sich diejenigen Formularien an, denen die den den Korpusurkunden zu Grunde liegenden Formularien geähnelt haben müssen (vgl. Kap. 4.3), so fällt auf, dass die Formulae Andecavenses genau diesen Eindruck einer lateinischen Grundsubstanz mit romanischen Einsprengseln und fehlerhafter Kasuskontrolle ebenfalls vermitteln. Dabei zeigen sich vor allem die Formulae Andecavenses sensibel für das Zweikasussystem und die Artikel oder Artikoloide des Galloromanischen ihrer Entstehungszeit (illi = li). Damit einher geht die Zuspitzung des Subsystems der Relativpronomen auf eine binäre Opposition. Für die galloromanische Prägung sprechen ferner einige Fälle von symptomatischen Konjugationswechseln ((lat.) retenere wird (frz.) retenir u.a.) sowie romanische Vollformen (aei statt habeo). Sehen wir uns einige Beispiele an: Formulae Andecavenses (Zeumer 1963: 4ff.) 1. Hic est iesta Annum quarto regnum nostri Childeberto reges, quod fecit minus ille, dies tantus, cum iuxta consuetundinem Andicavis civetate curia puplica resedere in foro, ibiquae vir magnificus illi prosecutor dixit: ‚Rogo te, vir laudabilis illi defensor, illi curator, illi magister militum […] prosequere que optas […] Obeodire illa per mandato suo pagina mihi iniuncxit, ut prosecutor exsistere deberit, qualiter mandatum, quam in dulcissimo iocali meo illo fici pro omnis causacionis suas, tam in paco quam et in palacio seu in qualibet loca, accidere faciat, illas porciones meas, quam ex alote parentum meorum aei legibus obvenit vel obvenire debit, […] Curia viro dixerunt: ‚Mandato quem tibi habere dicis, accipiat vir venerabilis illi diaconus et amanuensis. […] Dotem quem te dicis per manibus retenire [][] 4. Hic est vindicio de terra conducta Quicquid de ipsa vinea facere volueris, liberam in omnibus habeas potestatem faciendi. <?page no="363"?> 6.2 Zeitliche Einordnung der beobachtbaren Abweichungen 351 […] et hec vindicio omni tempore firma permaneat. 8. Incipit concamius Similiter in alio loco dedit illi super de uno latere campus illius, ut, quicquid exinde facere voluerit, […] liberam in omnibus habeas potestatem. 21. Incipit vindicio Ego enim illi. Constat me vindedisse, et ita vindedi ad illo campello ferente modius tantus, et est super terraturio sancti illius, in villa illa, et subiungit de uno latere campus illius 28. Incipit iudicius Veniens illi Andecavis civetate ante illo agente necnon et illo vel reliquis, qui cum eum aderunt, interpellabat aliquo homine nomen illo, quasi fossado per terra sua […] ei fossadassit. Et taliter ipsi homo dedit respunso quod terra sua fossado fecisset; […] Sieht man sich speziell die Kasusverwendung in den obigen Ausschnitten an, beobachtet man einige Abweichungen, die sich aber alle zu einem harmonischen Bild fügen, wenn man annimmt, dass sie die Zweikasusflexion des Galloromanischen widerspiegeln. Eine Form wie diaconus steht - unter der Annahme des Beibehalts der / -u/ -Vokalqualität und der allmählichen Schwächung und des Schwundes dieses / -u/ - für eine Form diacons, mit dem / -s/ des cas régime des Altfranzösischen. Zweitens erkennt man, dass die Akkusative auf <-m> gut beachtet werden, obwohl zur Zeit der Entstehung der Formulae Andecavenses, also dem 6./ 7. Jahrhundert, das / -m/ in der Umgangssprache, wie Herman bemerkt, nahezu verschwunden sein musste. Die gerade im Gegensatz zu den Urkunden unseres Korpus vorliegende Disziplin in der Beachtung der Anwendungsbedingungen von <-m> Akkusativen könnte ihren Grund einfach in einer Systemadäquatheit haben: In dem Unterschied <-us> vs. <-um>, <-a> vs. <-am> könnte sich einfach der abstrakte Gegensatz zwischen einem Subjektskasus und einem Casus obliquus niederschlagen. Bemerkenswert immerhin die Formen agente (Präpositionalobjekt) und fossado (Zweitargument) in Abschnitt 28., die man aber ebenfalls als Niederschlag einer abstrakteren, kategorialen Einwirkung aus der Umgangssprache her deuten könnte. Die für Lateineraugen seltsame Verwendung eines scheinbaren Maskulinum Singular Nominativs an Stelle eines zu erwartenden Akkusativ Plural in Text 21 (ferente modius tantus) lässt sich unter den lautlichen Bedingungen von / -u/ -Qualität und / -u/ -Schwund rekonstruieren zu einer richtig intendierten Form für das, was ausgesagt werden soll. Hinter modius tantus steckt folgendes Deklinationsmuster: Casus rectus singularis modius tantus Casus obliquus singularis modiu(m) tantu(m) Casus rectus pluralis modi(i) tant(i) Casus obliquus pluralis modius tantus <?page no="364"?> 6. Analyse der sprachentwicklungsrelevanten Phänomene 352 Es kommen noch weitere interessante Abweichungen vor. Man sieht an einer Obliquusstelle, hinter Präposition (Text 28., ante illo agente), dass illo an Stelle von illi gebraucht wird. Auf illo gehen ja dann das altfranzösische le und das altokzitanische lo zurück. Selbst terra sua in der letzten Zeile von Text 28 könnte in seiner Funktion eines präpositionslosen Lokativs noch als Widerschein eines galloromanischen Obliquus gedeutet werden. Im Kontext der Interpretation der anderen Kasusabweichungen wird diese Deutung recht plausibel. Was allerdings das Gesamtniveau des Lateins betrifft, so ist nicht zu übersehen, dass es immer noch höher liegt als dasjenige der Texte unseres Korpus. Dies zeigen diejenigen Stellen, die oben unterstrichen wurden. Die Kasus werden insgesamt besser beachtet, z.B. bei einer Rektion Präposition Nomen wie in de latere (Text 8 der Formulae Andecavenses); es werden Gerundien bei satzartigen Nominalattributen (faciendi in Text 4) und Participia coniuncta (veniens in Text 28) gebraucht, wo in den Dokumenten der iberischen Halbinsel schon früh eine recht starke Neigung zum Infinitiv zu beobachten ist; die Zeitenfolge wird gut eingehalten (fossadassit in Text 28); in Abhängigkeit von unpersönlichen Ausdrücken werden in klassisch-lateinischer Tradition accusativi cum infinitivo konstruiert (constat me vindedisse in Text 21) anstatt, wie es häufig in den Urkunden des Korpus geschieht, den AcI durch eingebettete Nebensätze mit Komplementierer und konjugiertem Verb zu ersetzen und dadurch neue syntaktische Valenzen zu schaffen (vgl. Pinkster 1988: 156). Dieses Bild einer besseren Latinität bieten in noch höherem Maße die Formulae Visigothicae, die offenbar durch das allgemeine Niveau der westgotischen Schriftlichkeit geprägt sind. Auch im Falle der Formulae begegnet man einer in hohem Maße disziplinierten und kunstvollen Beherrschung des Regelapparats und der mit ihm verbundenen Stilmittel. Abweichungen finden sich unter diesen Bedingungen in sichtbar geringerer Häufigkeit: 7. […] Si quis sane, quod fieri non reor, contra hanc nostrae oblationis cartulam venire conaverit, stante huius cartulae firmitate, aliud tantum, quantum obtulimus ecclesiae vestrae, ex suo proprio vel ad cultores ecclesiae vestrae persolvat […] ego vero manu mea signum feci 8. Alia […] Ergo pro luminaria ecclesiae vestrae atque stipendia pauperum, vel qui in aula beatitudinis vestrae quotidianis diebus deservire videntur, donamus gloriae vestrae in territorio ill. loco ill. 11. [Venditio] […] nihil penitus de eodem praetio apud te remansisse polliceor 16. Alia Ob hac re oportunum est … <?page no="365"?> 6.2 Zeitliche Einordnung der beobachtbaren Abweichungen 353 20. Testamentum Ill. sana mente sanoque consilio, lectulo quidem infirmitate detentus, evitans causalem mortis eventum, hanc voluntatis meae epistolam fieri elegi […] Et ideo, […] tunc ad ecclesiam domini mei ill. martiris, […] volo pertinere locum illum ad integrum Man stellt fest, dass die Kasus sehr gut im Sinne der lateinischen Regeln beachtet werden, dass klassische Deponentien wie reri oder polliceri nicht fehlen, dass etwa bei donare in Text 8. kein ad gesetzt wird, sondern das Drittargument mit dem lateinischen Dativ bezeichnet ist (gloriae vestrae), dass participia coninuncta eingesetzt werden (z.B. evitans in Text 20) oder ablativi absoluti (stante firmitate im ersten Auszug). Das bedeutet nicht, dass die Formulae Visigothicae frei wären von leichten vulgärsprachlichen Einflüssen wie Neutralisierung der Deponentien (conaverit statt conatus erit) oder Konstruktion von ad-Präpositionalphrasen an Stelle von Dativformen. Hin und wieder begegnet auch ein einfacher Fehler in der Regelbeherrschung wie im oben vermerkten ob hac re statt ob hanc rem aus Text 16. Über das Ganze des Formulars gesehen kommen jedoch weder die puren Regelverstöße noch die volkssprachlichen Spuren bemerkenswert häufig vor. Der generelle Eindruck, den die Formularien vermitteln, lässt sich in einer Qualität zusammenfassen, die eine deutliche Differenz im Vergleich zu den für unser Korpus ausgesuchten Urkunden der Iberischen Halbinsel bedeutet: der Systematizität. Entweder die Regeln des Lateins werden gut beachtet oder es ist so, dass in einem Teil der Formeln der lateinische Formelvorrat systematisch im Sinne der protoromanischen Umgangssprache des frühen Mittelalters eingesetzt wird, während der Rest systematisch auf Latein bleibt. Selbst wenn die Einhaltung solcher Systematizität nicht hundertprozentig gelungen sein mag, so ist doch der inkonsequente, improvisierende Zug der Korpustexte im Vergleich zu den Formularien nicht zu übersehen. Einen Eindruck davon vermitteln nicht zuletzt die in Abschnitt 6.3.1 aufgeführten problematischen Passagen. In diesem Zusammenhang muss daran erinnert weden, dass, wie in 4.3 festgestellt wurde, die Formularien zum freien Formulieren einladen. Unter diesen Umständen ist es wahrscheinlich, dass die von ihnen angebotenen Konstruktionen aus früherer Zeit zwar teilweise übernommen wurden, andererseits aber auch gewissen zeitgenössischen Einflüssen Raum gegeben war, worin sich die Unentschiedenheit begründet, die zu dem ungeordneten Gesamtbild dieser Texte geführt hat. Zurückkommend auf die Frage der lateinisch-romanischen Sprachentwicklung, ergibt sich bei genauerer Überlegung, dass die Textbefunde der Urkunden keine Entscheidung zu Gunsten eines der drei Modelle zulassen. Wenn schon eine Prägung durch das Romanische offensichtlich ist, kann man nicht mit Sicherheit sagen, ob es sich dabei um das Romanische der Formularien handelt, also dasjenige der westgotischen Zeit, oder um dasjenige des 9. und 10. Jahrhunderts. Was noch schwerer wiegt, ist aber die <?page no="366"?> 6. Analyse der sprachentwicklungsrelevanten Phänomene 354 Tatsache, dass man nicht beurteilen kann, welchen Grad an Latinität das Romanische des 9. und 10. Jahrhunderts noch aufwies. Die Textbefunde stützen zwar Hermans Auffassung, lassen aber nicht zu, die Meinung von Díaz y Díaz gänzlich zurückzuweisen. Die betrachteten Texte der frühesten Urkunden und die der späteren bestehen in einer lateinischen Grundsubstanz. Sie zeigen jedoch nicht von sich aus, ob diese Grundsubstanz nun durch das Regelwissen der Verfasser abgesichert wurde oder vielleicht auch oder allein durch die zeitgenössische Umgangssprache. Wer kann sicher sagen, dass Díaz y Díaz nicht doch Recht hat, wenn er behauptet, der Genetiv und Dativ Singular seien in gewissem Umfang noch lebendig gewesen? Die gelungenen Passagen ihrer Verwendung könnten durchaus durch die Umgangssprache abgesichert gewesen sein. Wer kann außerdem sagen, ob Regelabweichungen bei der Kasusverwendung Mängel der Interlanguage des Verfassers oder nicht vielleicht doch in der Epoche der Urkundenabfassung stattgefundene Konkurrenzsituationen zwischen unterschiedlichen Kasus in der Umgangssprache bezeugen? Ich möchte gerne glauben, dass - mit Herman gehend - das Iberoromanische, so wie es sich in den ältesten Sprachdenkmälern niederschlägt, im 9. Jahrhundert schon fertig war und alles korrekte Lateinische nur auf die Regelbeherrschung und die Abweichungen auf mangelhafte Regeldisziplin bei Produktion von mündlichkeitsfremden Formen und Konstruktionen zurückgehen. Allerdings fällt es im Hinblick auf die Denkmöglichkeiten und unser Wissen um die kommunikativen Hintergründe (Kap. 4) schwer, sich für die eine oder andere Auslegung zu entscheiden. Die analysierten Texte des Korpus vertragen sich mit allen drei Modellen des zeitlichen Ablaufs der lateinisch-romanischen Sprachentwicklung. Sie sind demgegenüber neutral, ob Herman oder Zamboni oder Díaz y Díaz Recht zu geben ist. 6.2.4 Entwicklung der Leitthese Aus der zusammenfassenden Überlegung im vorher gehenden Abschnitt sollte eine Konsequenz gezogen werden: Das Sprachmaterial der Urkunden muss von seiner Zeitbindung befreit werden. Man sollte es aufgeben, diese Strukturen und Formverwendungen auf die Enstehungszeit der Texte (775-1100) festzulegen und sie mit dem Romanischen jener Jahrhunderte direkt in Verbindung zu bringen. Denn die Urkunden bezeugen auch frühere Jahrhunderte. Im Prinzip sagt Menéndez Pidal zwar Ähnliches, allerdings bezieht er sich auf die Bewahrungskraft der Formelsprache. Demgegenüber soll in der vorliegenden Arbeit dem experimentellen Wiederholungscharakter der Formulierungen mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Geht man von Herman aus, dann prallen ab dem 9. Jahrhundert die fertigen romanischen Varietäten auf ein durch Artikelabwesenheit, Präpositionenarmut, Kasuslenkung, Wortgruppenaufspaltung und Verbendposition gekennzeichnetes Buchlatein. In dieser Situation konnten in Folge des mangelnden <?page no="367"?> 6.2 Zeitliche Einordnung der beobachtbaren Abweichungen 355 syntaktischen Regelwissens vieler Urkundenverfasser Konstruktionsmuster der Volkssprache in die lateinische Grundsubstanz eindringen und sich außerdem zwischen dieser und den zur Umgangssprache analogen Strukturen Übergangsformen ausbilden, die Zwischenstufen auf den Grammatikalisierungswegen wiederholen, die unter den Bedingungen der Abfassung dieser Texte quasi experimentell erzeugt werden. Ein repräsentatives Beispiel bilden Vorkommen der Kombination von Dativen mit ad, das ja normalerweise den Akkusativ regiert, von Genetiven mit de, das eigentlich den Ablativ fordert, sowie von Ablativen mit dem normalerweise den Akkusativ nach sich ziehenden per: […] ut uinderemus ad uobis, sicut et uindimus (Dipl. esp., 883) […] Convenit Raimundo ad Bernardo Mironi que teneat ipso castro de Naslia (Liber feudorum maior, 1090) […] Et ipsa uilla Asia et summo Linuinsia, Uba et alia loca alletes Leorga, et in Castella quod nominatur uilla Kardelli de nominis mei et Uillella (Oña, 836) […] Dono tibi hec omnia, videlicet, quantum infra has afrontaciones habeo per quacumque voce ab integro (Archivo Condal, 965) In solchen Fällen wird die syntaktische Funktion zweimal markiert und zwar in erster Linie durch den Kasus, zu dem die Präposition als semantische Verstärkung und metaphorisierende Verdeutlichung hinzutritt (vgl. Pinkster 1988: 105). Die Grammatikalisierungskanäle beschreiben, auf welche Weise ein System syntaktischer Kasus zusammenklappen kann und von welchen semantischen Ecken her ersetzende Präpositionen zu erwarten sind. Eine Folge dieser Zusammensicht ist es, dass man erwarten kann, dass mindestens in der parole Zwischenschritte auftraten, bei der eine präpositionale und eine durch ein Kasussuffix getragene Kennzeichnung syntaktischer Funktionen gemeinsam und gleichzeitig angewandt wurden. Unter den Formulierungsbedingungen der Urkunden nun werden solche Konstellationen tatsächlich erzeugt. Zwar lässt sich das parole-Geschehen der frühmittelalterlichen romanischen Umgangssprache nicht direkt einfangen - wir haben es ja nicht mit einem evidenten Beobachtungsmilieu zu tun -, aber die Schematisierung der Grammatikalisierungswege legt bestimmte Vorkommen in dieser parole nahe, und die Urkundensprache bestätigt in einer Art Experiment, dass es tatsächlich zu solchen Kombinationen von Kasus und Präpositionen gleicher funktionaler Ausrichtung gekommen sein kann. Mit Zamboni gehend wären Teile der typisch romanischen Konstruktionen zwar als Bewahrung früherer Formen aufzufassen, man darf aber nicht vergessen, dass diese früheren Formen in der Logik der Weiterentwicklung des Romanischen liegen und sich in Folge dessen in der Volkssprache der Zeit zwischen 775 und 1000 immer noch oder sogar verstärkt wiederfanden. Außerdem ist die Entstehung von Zwischenformen auch vor dem Hintergrund des Modells von Zamboni eine Art experimentelles Resultat, ob der <?page no="368"?> 6. Analyse der sprachentwicklungsrelevanten Phänomene 356 romanische Pol der Konfrontation nun älteren Datums oder zeitgenössischen Ursprungs war. Folgt man schließlich den Ansichten von Díaz und Díaz, könnte es sein, dass viele Konstruktionspraktiken, etwa die Konkurrenz bestimmter Kasus und bestimmter Präpositionen, keine früheren historischen Stadien wiederholen, sondern gegenwärtige Vorgänge durchscheinen lassen. Dann wäre in diesen Fällen nicht von einem experimentellen Formulieren in der zum „Labor“ gewordenen Schreibstube auszugehen, sondern man hätte diese Situationen konkurrierender Muster insgesamt als Reflexe und Niederschläge der gleichzeitigen Umgangssprache aufzufassen, die nicht nur in Folge einer Permeabilität partiell in die regelgeleitete schullateinische Grundsubstanz eingedrungen wäre, sondern die Abfassung der Texte in einem viel umfassenderen Sinn geprägt und geleitet hätte. Aber niemand vermag mit Sicherheit zu sagen, wie viele von denjenigen Strukturen, Formen, Konstruktionen, in denen man nicht das später durch die Texte der altromanischen Sprachstufen bezeugte Idiom wiedererkennt, wirklich noch lebendig waren. Gibt es eine Möglichkeit, dies festzustellen, außer man ginge im Frühmittelalter mit einem Tonband herum - um den alten Scherz einmal mehr zu bemühen? Fest steht, dass diese Anteile an verbliebener Latinität in der Umgangssprache nach und nach zurückgegangen sein müssen, denn etwa von einem Genetiv oder Dativ alter Bauart findet sich in den frühesten romanischen Texten ja nichts mehr. Auch Díaz y Díaz müsste anerkennen, dass je später ein Dokument verfasst wurde, im Verhältnis zum Ausgangspunkt 775, es umso mehr Fälle der künstlichen Wiederholung sprachgeschichtlicher Vorgänge enthält, die nicht mehr durch die gleichzeitige Umgangssprache abgedeckt gewesen sein können. Dies soll also unsere Leitthese für die kommenden Analysen sein: Das sprachliche Material der Urkunden ist aus seiner zeitlichen Bindung an das 9. bis 11. Jahrhundert zu lösen und muss als experimenteller Beleg für die gesamte lateinisch-romanische Sprachentwicklung in ihrer Ausdehnung vom 2. Jahrhundert vor bis zum 11. Jahrhundert nach Christus herangezogen werden. Romanität und Latinität der Dokumente stehen für End- und Ausgangspunkt der Grammatikalisierungswege und erzeugen durch ihre Konfrontation Konstellationen, Formen, Konstruktionen, die Zwischenschritte auf verschiedenen Grammatikalisierungskanälen bedeuten. Dazu kommt nun ein wichtiger Gedanke, der den Eindruck von Beliebigkeit bei dieser Einschätzung verhindert. Wir wissen aus dem konfrontativen Vergleich zwischen klassischem Latein und Romanisch, der seit Diez unter Zuhilfenahme verschiedenster vulgärlateinischer Befunde zu einer abstrakten Rekonstruktion des lateinisch-romanischen Sprachwandels geführt hat, wie die Geschichte abgelaufen sein muss. In der heutigen Forschungslage kommt noch die Besonderheit dazu, dass die Grammatikalisierungstheorie gezeigt hat, dass dieses Bild durch seine Ähnlichkeit mit weltweiten Grammatikalisierungsprozessen, die sich immer und immer wieder wiederholen, an Wahrschein- <?page no="369"?> 6.2 Zeitliche Einordnung der beobachtbaren Abweichungen 357 lichkeit und Gültigkeit gewonnen hat. Die abstrakte Rekonstruktion steht stärker und stabiler da als je zuvor. Demgegenüber sind die Zweifel an der Aussagekraft des Belegmaterials in unserer Zeit erheblich gestiegen (s. Kap. 5). Die Leitthese lässt sich also insofern präzisieren, als dass man sagen muss, dass aus Sicht einer durch weltweite Parallelprozesse gestützten, schematisierenden, abstrakten Rekonstruktion des lateinisch-romanischen Grammatikwandels die Formulierungen in den Urkunden als zusätzliche Belege für und Konkretisierung der im gesamten Zeitraum zwischen altlateinischen Texten und altromanischen Sprachdenkmälern abgelaufenen Sprachwandelvorgänge auf den Grammatikalisierungskanälen erkennbar werden, und zwar indem sie diese Prozesse unter den Bedingungen der frühmittelalterlichen Urkundengestaltung großenteils wiederholen. Diese Leitthese lässt sich in ein Analyseschema entfalten, das auf jeden Abweichungstyp, auf jede Art von sprachentwicklungsrelevantem Phänomen immer wieder neu anzuwenden ist. Die Erfahrungen mit der eingehenden Durchsicht der Korpustexte zeigt, dass neben sinnvollen, nachvollziehbaren Regelverstößen auch vollkommen ungeordnete, schwer verständliche Weisen des Gebrauchs lateinischer Formen zu finden sind. Die Erfahrung zeigt auch, dass morphologische Muster lateinischer Wörter, die im Lateinischen vollkommen unbekannt sind oder nicht wenigstens als Abarten mit romanischer Endung erkennbar werden, minimal häufig auftreten, und wenn, sich dann immer leicht als Schreiberfehler einstufen lassen. D.h., den Urkundenverfassern waren die Deklinations- und Konjugationsformen des Lateinischen offenbar gut bekannt. Ihre nicht selten völlig unerwartete und unorthodoxe Anwendung zeigt aber auch, dass zumindest diejenigen Mönche, die für die Texte unseres Korpus verantwortlich zeichnen, weder durch ihren Unterricht noch durch die Rezeption lateinischer Texte im Klosterleben gelernt hatten, die syntaktischen Regeln, die festlegten, in welcher Funktion welches Morphem verwendet werden durfte, vollkommen zu durchschauen. Letzten Endes wird das Latein der Urkunden nur dann begreiflich, wenn man mit dieser Unterstellung, also der eines unvollkommenen syntaktischen Regelwissens, an das Material herangeht. Die hier vertretene Ansicht lässt sich unter Bezug einer gegenteiligen Meinung von Jennings erklären. Jennings glaubt, dass eine lateinische Genetivform nach klassischem Muster in den Urkunden von San Vicente nur dann auftauchen konnte, wenn sie in Formeln eingebunden war, die einfach mechanisch reproduziert wurden: „It is our conviction that the scribes used formulae containing genetives with little more idea of the Latin genitive than the average lawyer of to-day has when he says corpus delicti.“ (1940: 148). Wir hatten jedoch in Kap. 4.3 gesehen, dass die Formularien zur Variation einluden, dass inhaltlich motivierte Uminterpretationen von Formeln stattfanden und dass man deswegen eher davon ausgehen muss, dass die Verfasser der Urkunden aus einem detaillierten inhaltlichen Verständnis heraus nach eigenkreativer Textgestaltung strebten. Darin also unterscheidet sich <?page no="370"?> 6. Analyse der sprachentwicklungsrelevanten Phänomene 358 unsere Auffassung grundsätzlich von derjenigen Jennings’. Wenn ein Verfasser einen Genetiv diktierte, dann verstand er prinzipiell, wo das funktionale Zentrum von dessen Verwendung lag. Wie weit das Verwendungsspektrum dieser Form reichen durfte, hatte er aber nicht unter Kontrolle, weil er keine expliziten Regeln kannte. Da nun die de-Formen etwa Konstanz von Eigennamen erlaubten und so den Gattungsansprüchen in vielen Teilen besser entgegenkamen als die lateinischen Genetivformen, gebrauchte er diese auch seltener. Das bedeutet jedoch nicht, dass er nur einen formelhaften Zugang zu ihnen hatte. Unter den Bedingungen der hier angenommenen Beschränkungen der Kompetenz in der High Variety werden zwei fundamentale Tendenzen sichtbar: Entweder man hat es im Einzelfall mit einer Gebrauchsweise zu tun, die irgendwie auf den Grammatikalisierungskanälen vorstellbar oder lokalisierbar ist - sei es als altlateinisch-klassischer Ausgangspunkt, sei es als altromanisches Resultat, sei es als Zwischenschritt - oder aber mit einer Regelabweichung, die nicht in Grammatikalisierungskanäle einzuordnen ist. Zu der ersten Gruppe gehören auch diejenigen Typen von Regelabweichungen, die mögliche Nebenpfade der Entwicklung demonstrieren, wie etwa ein partitives in an Stelle eines Genetivus partitivus, dem man im Korpus mitunter begegnet. Zu der zweiten Gruppe rechnen Typen von Regelabweichungen, die offenbar rein durch die Sorge hervorgerufen wurden, eine lateinische Form zu verwenden, die gerade Distanz und nicht Nähe zur romanischen Umgangssprache repräsentiert. In dieser Absicht kam es vermutlich vor, dass Verfassern solche lateinischen Formen verdächtig erschienen, die romanischen Formen zu nahe standen, etwa ein Akkusativ Plural in der Funktion des direkten Objekts, so dass sie dann bewusst andere morphologische Abwandlungen verwendeten, im Beispiel einen Nominativ Plural. Oder sie griffen auf beliebige lateinische Formen zurück, ohne dass ihnen klar war, dass man sie nicht in dieser Funktion einsetzen kann, etwa einen Genetiv Plural in der Funktion des Subjekts. Zu den Gattungsmerkmalen zählt der offizielle Charakter, der durch das distanzsprachliche Gewand der Wörter garantiert wird. Bei mangelndem syntaktischen Regelwissen kann dies eben zu vollkommen unvorhersehbarem, ungeordnetem Gebrauch führen. Zweitens sind für die Gruppe von Abweichungen, bei deren Zuordnung zu Grammatikalisierungskanälen man vorsichtig sein muss, urkundeninterne Formulierungsmotive nach Frei anzusetzen: Vereinfachungen, Assimilierungen u.a. Sie sind häufig an längere Aufzählungen, gedehnte Nominalphrasen, komplexe schriftsprachliche Strukturen gebunden. Zum Beispiel beobachtet man in einer Reihe von Nominalattributen im Singular, in der eigentlich -i-Genetive und -is-Genetive wechseln müssten, dass sich die -is-Genetive in eine -i-Form wandeln, die wie ein Dativ aussieht, nur um das morphologische Muster der Reihe zu vereinheitlichen - wieder in anscheinend völligem Unwissen über die genauen funktionalen Grenzen der Verwendung der -i-Formen des Dativs und der -is-Formen des Genetivs. <?page no="371"?> 6.2 Zeitliche Einordnung der beobachtbaren Abweichungen 359 Oder man beobachtet, dass der erste Teil einer durch syndetische oder asyndetische Koordination zusammengehaltenen Wortgruppe einen Kasus gemäß der Funktion der Wortgruppe erhält - etwa als Dativ, Ablativ oder Nominativ gekennzeichnet wird -, während die anderen Teile in einer davon abweichenden, einheitlichen, neutralisierenden Form erscheinen - meist als Akkusativ oder Ablativ. Die funktionale Kennzeichnung der gesamten Wortgruppe bindet sich nur an deren erstes Glied, während der Rest der Information nur noch Referenz leistet, ohne Merkmale der Zuordnung zum Restsatz. Allerdings machen sich diese Motive nach Frei nur dort bemerkbar, wo es gilt, schriftsprachliche Komplexität durch aus der Mündlichkeit bekannte Verfahren zu bewältigen und eignen sich daher nicht, die das Grammatikalisierungsgeschehen vorantreibenden Ausdrucksformen der vulgärlateinischprotoromanischen parole nachzubilden. Die Frei’schen Faktoren bedingen in den Urkunden Verwendungsweisen, die man wohl außerhalb der Grammatikalisierungskanäle ansiedeln muss. Schließlich hat man ein weiteres Motiv in der Fossilierung von falschen Regelannahmen. Falls eine solche Fossilierung nicht eine Gebrauchsweise zur Folge hat, die innerhalb eines Grammatikalisierungskanals liegen kann, sondern eine solche, die dort nicht lokalisierbar ist, stellt sie neben der beliebigen Suche nach Distanzformen um der Distanzierung willen und den Frei’schen Faktoren eine weitere mögliche Erklärung für Typen ungeordneter Regelabweichung dar. Zusammengefasst ergibt dies folgendes Analyseschema: Analyseansatz: Die gegebene Urkunde bietet in einer regelgerechten, lateinischen Grundsubstanz viele Regelabweichungen, die dadurch bedingt sind, dass der Verfasser zwar die morphologischen Muster des Lateinischen kannte, aber über ein nur unvollkommenes oder sehr unvollkommenes Wissen um ihre syntaktische Verwendung verfügte. Die Abweichungen können (A) auf Grammatikalisierungskanälen lokalisierbar sein oder (B) außerhalb von Grammatikalisierungskanälen liegen Dabei lassen sich die Gruppen (A) und (B) wie folgt weiter unterteilen: (A1) Gebrauchsweisen, die romanische Strukturen imitieren (A2) lateinisch-romanische Übergangsstrukturen, in denen sich Sprachgeschichte wiederholt (A3) Nebenzweige von Grammatikalisierungswegen, die nicht zu einem altromanischen Resultat geführt haben Die Nebenzweige der Grammatikalisierungswege, die sich aus dem gegebenen Gebrauch lateinischer Formen herausarbeiten lassen, müssen mindestens in der protoromanischen parole als verstreute Innovationen ohne Übernahme - im Sinne von Coseriu - aufgetreten sein. Manche könnten sich darüber hinaus auch als vorübergehende Moden auf Systemebene gehalten haben. <?page no="372"?> 6. Analyse der sprachentwicklungsrelevanten Phänomene 360 (B1) Gebrauchsweisen, die sich durch die beliebige Suche nach einer Distanzform ergeben haben (B2) Regelabweichungen, die durch Frei’sche Faktoren zur Bewältigung schriftsprachlicher Komplexität bestimmt sind (B3) in der Interlanguage eines Verfassers fossilierte ungeordnete Regelabweichungen Schließlich wird man mit einer Reihe von rein schriftsprachlichen Innovationen rechnen müssen, die sich nur innerhalb des Mittellateins vollzogen haben können, weil sie äußerst schriftsprachlichen Bedingungen unterliegen. Dies gilt in erster Linie für die Erfindung neuer Konjunktionen und Komplementierer, die nicht unbedingt auch im romance angenommen werden können, da die Einbettung sekundärer Prädikationen in der Umgangssprache nur in einem beschränkten Umfang praktiziert worden sein dürfte. 6.3 Hinleitung zur Korpusanalyse: Einige Besonderheiten der Urkundensyntax Hauptthema dieser Arbeit sind die Grammatikalisierungsprozesse im positiven Sinn, d.h. diejenigen, die auf Kombinationsmuster und syntaktische Funktionalität von aus Lexemen entwickelten Grammemen zulaufen. Ein Nebenthema bildet aber auch das, was oben (Kap. 3.1.4 u. 3.1.5) als negative Grammatikalisierung gesehen wurde, nämlich die Entwicklung der Wortstellungsmuster. Am Ende des vorliegenden Abschnitts werden entsprechende Muster in den Urkunden behandelt. Die generelle Funktion von 6.3 ist es aber, zu der eigentlichen Analyse der Spuren von lateinisch-romanischen Grammatikalisierungswegen hinzuleiten, indem zunächst auf Merkmale des Satzbaus aufmerksam gemacht wird, auf den man in den untersuchten Texten trifft. Denn in 6.4, wo es um eben diese Spuren gehen wird, werden immer wieder längere Ausschnitte aus den Dokumenten präsentiert, um die besprochenen Beispiele für die verschiedenen sprachentwicklungsrelevanten Phänomene jeweils im Rahmen eines größeren sprachlichen Kontextes sichtbar werden zu lassen. Es fällt leichter, diese Passagen zu verstehen, wenn man auf deren Satzbau vorbereitet ist. Die eher am schriftlichen Pol des Koch/ Oesterreicher-Kontinumms anzusiedelnde Gattung der carta (vgl. Kap. 4.8) verlangt ihren Verfassern ab, eine stark integrative Syntax zu beherrschen. Die Formelbücher machen entsprechende Vorgaben. Dabei regen sie zu einer variablen Handhabung der Vorbildtexte an, die von den Verfassern denn auch versucht wird. Nur manche der für unser Korpus ausgewählten Texte lassen allerdings erkennen, was eine adäquate Umsetzung dieses Programms bei Beibehaltung vollkommen integrativer Strukturen bedeutet. Diese wenigen Exemplare des Korpus stehen - das muss man sich vor Augen halten - für eine immerhin recht große Teilmenge an Urkunden der verschiedenen Kartularien, in denen die <?page no="373"?> 6.3 Hinleitung zur Korpusanalyse 361 komplizierten, durch lange Nominalphrasen und sekundäre Prädikationen (infinite Verben, finite Verben nach Komplementierer oder Relativpronomen, prädikative Substantive) sich bildenden Verschachtelungen von Propositionen und Wortgruppen durchaus gelungen durchgeführt sind. Allerdings bieten Texte diesen Typs leider nicht viele Spuren des Romanischen oder der zu ihm hinführenden Prozesse positiver Grammatikalisierung. Wenn man solche Spuren sucht, hat man mit Texten zu rechnen - und zu kämpfen -, in denen die geforderte Kontrolle der Integration von Teilaussagen zu einem Ganzen immer wieder gebrochen und elliptisch aufgelockert erscheint, mit teils unklaren Satzgrenzen und Passagen, in denen sich zwei strukturelle Lösungen für eine Aussage unentwirrbar mischen. Die Exemplare unseres Korpus sind von dieser Art. Praktisch bei jeder Urkunde enthält der analytische Kommentar Bemerkungen zur strukturellen Beurteilung bestimmter Wortgruppen oder Propositionen, Bemerkungen, durch die entweder die Einstufung als sprachentwicklungsrelevantes Phänomen gerechtfertigt oder aber die Regeladäquatheit der in Frage stehenden Formen verteidigt werden musste oder oft auch eine Zurückhaltung bei Zuweisung des einen oder anderen Status die Konsequenz war. Die Abschnitte 6.3.1, 6.3.2 und 6.3.3 sollen jetzt einen Eindruck von den Entgleisungen in der Kontrolle über die Integration vermitteln, die immer wieder bei der Durchsicht des Korpus begegnen. Dabei stellen die in 6.3.3 angesprochenen Spuren mündlichen Formulierens einerseits Auflockerungen der Integration dar, fungieren andererseits aber auch als Werkzeuge, um Strukturen, die in eine „Gefahrenzone“ der zusammenhanglosen Aussagelosigkeit zu entgleiten drohen, doch noch zu retten. 6.3.1 Brechungen, Mischungen, Lockerungen im Satzbau als Interpretationsprobleme Brüche ergeben sich u.a. durch eine Reihe von Spuren, die universalen Merkmalen mündlicher Sprache ähneln (vgl. 6.3.2). Unter den Bedingungen spontanen Formulierens werden „Pannen“ toleriert, die unter denen des geplanten schriftlichen Konstruierens geglättet und überspielt würden. Wo gleiche Strukturen in einer geschriebenen Äußerung auftreten, wird mangelnde Fähigkeit zur Integration erkennbar, vielleicht auch mangelnde Vorbereitung des Diktats. Eine solche, an mündliche Gewohnheiten erinnernde Formulierungsspur zeigt sich in dem zweimaligen Ansetzen zu einer eingebetteten Prädikation an Argumentstelle, wie im folgenden Satz: Manifestum est enim quia convenit ut inter nos ut comutacionem fecissemus, sicuti et facimus. (San Cugat, 1000) Durch das ut-ut-Paar wird die Präpositionalphrase inter nos zwar fokussiert, aber es ist aus dem Kontext nicht ersichtlich, warum dieser Satzteil wichtiger <?page no="374"?> 6. Analyse der sprachentwicklungsrelevanten Phänomene 362 sein soll als etwa comutacionem. Die Fokussierung erscheint eher unfreiwillig. Sie bewirkt eine Desintegration des Satzes, die sich mit mündlichen Formulierungsformen vergleichen lässt. Eine ebenfalls unfreiwillige Fokussierung ergibt sich, wenn Elemente eines eingebetteten Satzes aus diesem herausgenommen und ihm vorangestellt werden: Constat nos ut vobis aliquod vindere deveremus, sicut et vindimus vobis terra, (Silos, 903) Der segmentierende, die Integrität auflösende Effekt dieser Vorwegnahme entspricht mündlichen Formulierungstendenzen. Im nächsten Beispiel wird die Integrität des Satzes dadurch gesprengt, dass der Urkundenverfasser zwei Verben wählt (sit und deserbia [gehören und dienen]), die um die Prädikatrolle konkurrieren: Ita ut diximus sit omnia quod super testatus est ad ipsum lucum deserbia pro tolerantia fratrum serborum domini (Portugaliae Monumenta Historica, 974) In ähnlicher Weise wirkt sich der mitunter zu beobachtende Wechsel der Schreiberperspektive aus, den schon Bastardas als Grund für einen scheinbar inkohärenten Gebrauch der Personen der Konjugationsformen erkennt (1953: 10f.): Ego Sulmus, presbiter, qui hanc carta donacionem scripsit. (San Cugat, 913) Dies muss kein Zeugnis für verstummtes <-t> sein, es kann sich auch darum handeln, dass der Verfasser oder in diesem Fall der Schreiber nicht konsequent bei einer subjektiven oder objektiven Perspektive zu bleiben vermochte. So zitiert Bastardas Fälle wie den folgenden: Ego Placianus cum filios uel filia sua (Ibid.: 11). In den Urkunden des Korpus ist nicht immer leicht zu entscheiden, ob ein Perspektivenumschlag vorliegt, da manchmal auch einfach angenommen werden muss, dass ein geschriebenes <-t> nicht ausgesprochen wurde: Ego Monia, filia Monnio Santiz, in hanc cartula vinditionis manum propia confirmavit (San Vicente, 1028) In diesem Beispiel aus einer subscriptiones-Passage ist im Hinblick auf das ego des Anfangs und die Kürze der Aussage einfach anzunehmen, dass der Verfasser nicht die Übersicht verloren hat, sondern das <-t> nicht ausgesprochen wurde und aus Versehen an diese Stelle geraten ist. Man muss also confirmavi lesen und nicht confirmavit. Auch in dem folgenden Abschnitt ist das <-t> der beiden durch Fettdruck hervorgehobenen Wörter nicht ausgesprochen worden: Ego Uistrilo uobis Teodone et Fro[gildi et Gutino] et Genioni. Placuit mici adque conueni nullis quoque egentis Inperio nec suadentis articulo sed propria mici accesit uolumtas ut facerem uobis dictis Teodone et Genioni, et Frogildi Gutini <?page no="375"?> 6.3 Hinleitung zur Korpusanalyse 363 titulo comutatjonis de ipsa terra nostra in uilla qui dicitur Selis nomine que iacet sicut [alia] que ibi aueo inter fratres uel meos uobis concedo sicut et accepit de uos alia terra similem tanta in uilla que dicitur Nigrarios que dicitur Nigrarios (sic) que uos dedistits et ego accepit (Dipl. esp., 878) Wie die Kombination mit ego im zweiten Fall zeigt, ist das gegebene <accepit> hier beidesmal wohl als accepi zu verstehen. Aber es gibt trotzdem verschiedene Beispiele für tatsächliche Perspektivenwechsel. Dies ist etwa der Fall, wenn der Schreiber bzw. Verfasser sich selbst nennt. Da er eine gegenüber den Interessen der Parteien neutrale Person sein möchte, kann man annehmen, dass es ihm darauf ankommt, diese Neutralität auch sprachlich spürbar zu machen, indem er sich objektiviert und von sich in der dritten Person spricht. Dadurch kommen Satzbrüche wie der folgende zu Stande, bei dem das Subjekt in der ersten, das darauf bezogene Verb aber in der dritten Person Singular steht : Ego Sulmus, presbiter, qui hanc carta donacionem scripsit (San Cugat, 913) Strukturell erklärt sich die dritte Person des Verbs zusätzlich durch die zwischen ego und das Verb tretenden Appositionen (Sulmus, presbiter). Es folgt eine Reihe von Beispielen für die Brüche, Lockerungen und Mehrdeutigkeiten im Satzbau, die sich durch freiwillige oder unfreiwillige Ellipsen auftun. Im Fall unten scheint eine der Formeln verwendet zu werden, bei denen eine Agens-Nominalisierung als prädikativer Kern einer intitulatio-inscriptio-Passage auftritt. Diese Formeln sind in Katalonien sehr beliebt. Da aber die Kopula fehlt, lässt sich die Markierung als Abweichung auch abfangen, da es möglich ist, vinditores als Apposition aufzufassen: Nos simul in unu Sicomares et uxor mea Oreta, Adrolfus et uxor mea Odalina, Fruilone, Donnus et uxor mea Tudira, Adeka, et uxor mea Orreka, Sabieldus et uxor mea Natalia, Abimia, Gotta vinditores vobis domno Wifredo comite et uxori tue Winedede (Archivo