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Historische Syntax des Deutschen

Eine Einführung. Unter Mitarbeit von Oliver Schallert

1006
2011
978-3-8233-7568-5
978-3-8233-6568-6
Gunter Narr Verlag 
Jürg Fleischer
Oliver Schallert
<?page no="0"?> Jürg Fleischer Oliver Schallert Historische Syntax des Deutschen Eine Einführung <?page no="3"?> Jürg Fleischer In Zusammenarbeit mit Oliver Schallert Historische Syntax des Deutschen Eine Einführung <?page no="4"?> Prof. Dr. Jürg Fleischer ist Professor für Sprachgeschichte am Institut für Germanistische Sprachwissenschaft der Philipps-Universität Marburg. M.A. Oliver Schallert ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistische Sprachwissenschaft der Philipps-Universität Marburg. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr-studienbuecher.de E-Mail: info@narr.de Printed in the EU ISSN 0941-8105 ISBN 978-3-8233-6568-6 <?page no="5"?> Vorwort Die vorliegende Einführung in die historische Syntax des Deutschen ist für fortgeschrittene Bachelor- und für Master-Studierende konzipiert. Eine gewisse Vertrautheit mit linguistischen Grundbegriffen wird vorausgesetzt, eine bereits absolvierte Einführung in die Syntax und/ oder eine Einführung in eine ältere Sprachstufe des Deutschen (z.B. ins Mittelhochdeutsche) ist von Vorteil, aber nicht unbedingt notwendig. Das Buch kann als Grundlage für eine einsemestrige Veranstaltung dienen, wobei je nach Präferenzen auf das eine oder andere Kapitel verzichtet werden kann. Aufgaben zu den Kapiteln 2-18 können von der folgenden Seite heruntergeladen werden: www.narr.de/ historische_Syntax Zunächst einige Informationen zur Art und Weise, wie diese Einführung entstanden ist: Die Kapitel 10 (Ersatzinfinitiv), 17 (Formale Ansätze) und 18 (Optimalitätstheoretische Ansätze) wurden von Oliver Schallert verfasst, alle übrigen Kapitel stammen von Jürg Fleischer. Wir haben die Kapitel des anderen Autors jeweils ausführlich gegengelesen, kommentiert und kritisiert und können beide überzeugt hinter dem stehen, was der jeweils andere geschrieben hat. Die historische Syntaxforschung zum Deutschen konnte in den letzten Jahren ein erfreuliches Interesse auf sich ziehen. Ganz verschiedene Forschungsrichtungen (von eher textlinguistisch bzw. stilistisch-rhetorisch bis dezidiert formalistisch geprägten Ansätzen) prägen das Feld. Wir haben uns bemüht, ein möglichst breites Spektrum abzudecken. Dabei war es uns ein besonderes Anliegen, den methodischen Problemen, die bei Daten aus nur schriftlich überlieferten Sprachstufen auftreten, gerecht zu werden: Historische Texte fordern ein höheres Maß an philologischer Interpretation als gegenwartssprachliche Daten, eine korrekte Einordnung des Materials, die die Grundlage für syntaktische Untersuchungen bilden muss, ist in vielen Fällen ohne entsprechendes Hintergrundwissen nicht möglich. Dass diese Einführung ausführlich auf althochdeutsche Daten eingeht, hängt nicht (nur) mit unserer Vorliebe für das Althochdeutsche zusammen. Das älteste Deutsch bietet zur modernen Sprache häufig die klarsten Kontraste. Grundsätzlich ist unsere Ausrichtung diachron: Syntaktische Entwicklungen sollen dargestellt werden, und dazu ist es in der Regel sinnvoll und möglich, bis zu den ältesten überlieferten Formen zurückzugehen. Auch Daten aus modernen Dialekten können häufig eine interessante Perspektive auf diachrone Entwicklungen eröffnen. Wo es sich angeboten hat, haben wir deshalb auch dialektale Daten einbezogen. Eine Vorversion dieser Einführung wurde im Wintersemester 2009/ 10 in einem Seminar von Jürg Fleischer erprobt, einige weiter ausgearbeitete Kapitel wurden im Sommersemester 2011 in einem Seminar von Oliver Schallert in der Praxis getestet. Einzelne Kapitel wurden von beiden Autoren in weiteren Lehr- <?page no="6"?> Vorwort 6 veranstaltungen eingesetzt. Allen Studierenden, die sich durch Kommentare und Kritik an den einzelnen Kapiteln beteiligt haben, möchten wir an dieser Stelle herzlich danken. Die folgenden Marburgerinnen und Marburgern aus unserem näheren linguistischen Umfeld haben ebenfalls einen wichtigen Anteil am Zustandekommen dieser Einführung: Magnus Birkenes hat die ganze Einführung durchgelesen und kommentiert, Lea Schäfer und Augustin Speyer größere Teile davon. Die Daten für die Karten zum Präteritumschwund und zur Setzung des Subjektpronomens wurden von Kathrin Wollenschläger transkribiert und typisiert; gezeichnet wurden die Karten von Lea Schäfer. Bei der Herstellung des Textes haben uns Lea Schäfer und zum Schluss Miriam Schlicht geholfen. Ihnen alles sei für ihr Feedback und ihre gewissenhafte Arbeit herzlich gedankt. Für Kritik, Ratschläge und andere Unterstützung in Bezug auf einzelne Kapitel möchten wir uns bei den folgenden Kolleginnen und Kollegen bedanken: Katrin Axel, Antje Dammel, Shannon Dubenion-Smith, Andreas Dufter, Susann Fischer, Agnes Jäger, Anke Lüdeling, Elke Ronneberger-Sibold, Svetlana Petrova, Eva Schlachter, Anna Volodina und Helmut Weiß. Durch ihre Kommentare und Anmerkungen haben sie dazu beigetragen, zahlreiche Fehler zu verbessern und Ungenauigkeiten zu vermeiden. Dabei gilt natürlich, dass alle noch im Text verbliebenen Schnitzer in unserer Verantwortung liegen. Nicht zustande gekommen wäre diese Einführung schließlich ohne das entscheidende Wirken von Ursula Götz, für das wir uns ebenfalls herzlich bedanken möchten! Von Seiten des Gunter Narr Verlags wurde die Einführung zunächst von Jürgen Freudl, dann von Kathrin Heyng und Melanie Wohlfahrt betreut. Ihnen allen möchten wir für die sehr angenehme und produktive Zusammenarbeit herzlich danken. Wir wissen es sehr zu schätzen, dass sie durch ihr gewissenhaftes und hilfreiches Lektorat (ein Service, den heute nur noch wenige Verlage kennen) mit zahlreichen Anregungen und Hinweisen dazu beigetragen haben, den Text wesentlich verdaulicher zu machen. Den letzten Schliff haben dem Text schließlich die Korrekturen von Susanne Trissler gegeben, auch ihr danken wir für die fruchtbare Zusammenarbeit. Marburg, im Sommer 2011 Jürg Fleischer, Oliver Schallert <?page no="7"?> Abkürzungen ................................................................................................................... 13 Abkürzungen in den Glossen ........................................................................................ 14 Präsentation der Beispiele: technische Bemerkungen ................................................ 15 Beispiele, Übersetzungen und Glossierungen............................................................. 15 Stellenangaben ................................................................................................................. 16 Wiedergabe der Beispiele ............................................................................................... 17 Einführung ....................................................................................................................... 19 1 Syntax und Sprachgeschichte des Deutschen .............................................. 21 1.1 Syntax.................................................................................................................... 21 1.2 Diachrone Linguistik, Sprachwandel und syntaktischer Wandel ............... 22 1.3 Die Sprachstufen des Deutschen....................................................................... 24 1.4 Regionale Unterschiede: Dialekte ..................................................................... 27 1.5 Daten in der historischen Linguistik ................................................................ 30 Literaturhinweise............................................................................................................. 31 Teil I: Methodologie....................................................................................................... 33 2 Übersetzungstexte .............................................................................................. 35 2.1 Zur althochdeutschen Überlieferung ............................................................... 35 2.2 Syntaktische Strukturen im althochdeutschen Tatian ................................... 37 2.2.1 Übersetzungssyntax: Übernahme lateinischer Konstruktionen................... 39 2.2.2 Umstellungen und Ergänzungen...................................................................... 40 2.2.3 Zur Erklärung der Übernahmen und Abweichungen................................... 42 2.2.4 Zur Methodologie der Tatian-Syntax............................................................... 44 2.3 Übersetzungssyntax in späterer Zeit................................................................ 45 Literaturhinweise............................................................................................................. 47 3 Poetische Texte ................................................................................................... 49 3.1 Vor- und Nachteile poetischer Texte ................................................................ 49 3.2 Syntaktische Strukturen in Otfrids Evangelienbuch...................................... 50 3.2.1 Einfluss des Reims .............................................................................................. 52 3.2.2 Einfluss des Metrums ......................................................................................... 53 3.3 Ungewöhnliche „poetische“ Konstruktionen: spätere Zeit .......................... 54 3.3.1 Verbendstellung im Hauptsatz ......................................................................... 54 3.3.2 Fehlende Vorfeldbesetzung ............................................................................... 55 3.4 Prosa vs. Poesie: das Genitivattribut im Mittelhochdeutschen .................... 56 Literaturhinweise............................................................................................................. 58 <?page no="8"?> Inhaltsverzeichnis 8 4 Überlieferungs- und Editionsprobleme ........................................................ 59 4.1 Zur Überlieferung mittelalterlicher Texte ....................................................... 59 4.2 Edition mittelhochdeutscher Texte................................................................... 62 4.3 Editionen und Syntax ......................................................................................... 64 4.3.1 Die Negation im Erec Hartmanns von Aue .................................................... 64 4.3.2 Kongruenzformen bei Hybrid nouns im Nibelungenlied............................... 66 Literaturhinweise............................................................................................................. 67 5 Quantitative und qualitative Aspekte ........................................................... 69 5.1 Quantifizierung ................................................................................................... 69 5.2 Datenmenge und Textmenge ............................................................................ 71 5.3 Korpusbildung..................................................................................................... 73 5.4 Interne und externe Faktoren ............................................................................ 76 Literaturhinweise............................................................................................................. 80 Teil II: Phänomene ......................................................................................................... 81 6 Kasussyntax: das Schicksal des Genitivs ...................................................... 83 6.1 Der Genitiv in der Standardsprache................................................................. 83 6.2 Der Genitiv in den Dialekten............................................................................. 84 6.3 Der Rückgang des adverbalen Genitivs........................................................... 87 6.3.1 Externe Faktoren ................................................................................................. 90 6.3.2 Die Genitiv-Akkusativ-Alternation: interne Faktoren................................... 91 6.4 Der Rückgang des adnominalen Genitivs ....................................................... 94 6.4.1 Die von-Periphrase .............................................................................................. 94 6.4.2 Der possessive Dativ........................................................................................... 96 6.5 Zur Erklärung des Genitivschwunds ............................................................... 99 Literaturhinweise........................................................................................................... 100 7 Entwicklungen im Bereich der Kongruenz................................................. 103 7.1 Kongruenzphänomene ..................................................................................... 103 7.2 Fehlende Kongruenz von Subjekt und Verb ................................................. 106 7.3 Hybrid nouns ....................................................................................................... 107 7.4 Committee ................................................................................................ 112 7.5 Kongruenz bei unterschiedlichen Genusmerkmalen .................................. 114 7.5.1 Plural ................................................................................................................... 115 7.5.2 Singular............................................................................................................... 119 Literaturhinweise........................................................................................................... 120 8 Die Entstehung periphrastischer Verbalformen........................................ 121 8.1 Periphrastische Verbalformen im Neuhochdeutschen................................ 121 8.2 Die Perfekt-Periphrasen ................................................................................... 123 8.2.1 Das sein-Perfekt ................................................................................................. 124 <?page no="9"?> Inhaltsverzeichnis 9 8.2.2 Das haben-Perfekt............................................................................................... 125 8.2.3 Der Präteritumschwund................................................................................... 129 8.3 Das werden-Passiv.............................................................................................. 133 8.4 Das werden-Futur ............................................................................................... 137 8.5 Modus-Periphrase: die würde-Umschreibung............................................... 140 8.6 Die tun-Periphrase ............................................................................................ 142 Literaturhinweise........................................................................................................... 144 9 Die Entwicklung der Verbstellung............................................................... 147 9.1 Das Satzklammer- oder Feldermodell............................................................ 147 9.2 Die Stellung des finiten Verbs in deklarativen Hauptsätzen...................... 151 9.2.1 Verbzweitstellung ............................................................................................. 151 9.2.2 Verberststellung ................................................................................................ 152 9.2.3 Verbspäterstellungen ........................................................................................ 153 9.3 Die Stellung des finiten Verbs in Entscheidungsfragen .............................. 156 9.4 Das Nachfeld...................................................................................................... 159 9.4.1 Zur Entwicklung der Nachfeldbesetzung ..................................................... 159 9.4.2 Konstituenten im Nachfeld.............................................................................. 161 9.5 Die Abfolge der verbalen Teile im Nebensatz .............................................. 163 9.5.1 Die Abfolge der verbalen Teile in Zwei-Verb-Clustern .............................. 166 9.5.2 Drei-Verb-Cluster .............................................................................................. 167 9.5.3 Interne und externe Faktoren .......................................................................... 169 9.6 Lateinischer Einfluss bei der Verbendstellung im Nebensatz? .................. 170 Literaturhinweise........................................................................................................... 172 10 Der Ersatzinfinitiv (Oliver Schallert) .......................................................... 175 10.1 Der Ersatzinfinitiv im heutigen Deutschen ................................................... 175 10.1.1 Semantische Eigenschaften von IPP-Verben ................................................. 176 10.1.2 Morphologische Eigenschaften ....................................................................... 178 10.1.3 Abfolgerestriktionen ......................................................................................... 178 10.2 Die diachrone Entwicklung des Ersatzinfinitivs .......................................... 179 10.2.1 Überblick zu den relevanten Verbklassen ..................................................... 179 10.2.2 Mit dem Ersatzinfinitiv konkurrierende Konstruktionen........................... 182 10.2.3 Morphologische Aspekte ................................................................................. 184 10.2.4 Stellungsregularitäten....................................................................................... 185 10.3 Die Situation in den heutigen Dialekten........................................................ 186 10.3.1 Morphologische Aspekte ................................................................................. 186 10.3.2 Stellungsregularitäten....................................................................................... 189 10.4 Erklärungen zum Ursprung des Ersatzinfinitivs ......................................... 190 Literaturhinweise........................................................................................................... 193 11 Die Entwicklung des Subjektpronomens ................................................... 195 11.1 Gesetztes und nicht gesetztes Subjektpronomen ......................................... 195 <?page no="10"?> Inhaltsverzeichnis 10 11.2 Althochdeutsch.................................................................................................. 198 11.3 Jüngere Sprachstufen und moderne Dialekte ............................................... 202 11.4 Zur Erklärung der Obligatorizität des Subjektpronomens ......................... 206 Literaturhinweise........................................................................................................... 212 12 Das expletive es ................................................................................................ 213 12.1 Typen des expletiven es .................................................................................... 213 12.2 Unpersönliches es .............................................................................................. 214 12.2.1 Expletives es bei nullwertigen Verben ........................................................... 216 12.2.2 Expletives es bei unpersönlichen Experiencer-Verben ................................ 217 12.3 Vorfeld-es ............................................................................................................ 219 12.3.1 Vorfeld-es in Sätzen mit Subjekt...................................................................... 219 12.3.2 Vorfeld-es beim unpersönlichen Passiv ......................................................... 220 12.4 Zur Entstehung des expletiven es ................................................................... 221 12.4.1 Obligatorische Vorfeldbesetzung ................................................................... 222 12.4.2 Obligatorisches overtes Subjekt ...................................................................... 223 Literaturhinweise........................................................................................................... 225 13 Die Negation ..................................................................................................... 227 13.1 Negation in Sätzen ohne Indefinita ................................................................ 227 13.1.1 Präverbale Partikel (einfache Negation) ........................................................ 227 13.1.2 Präverbale Partikel + freie Partikel (doppelte Negation) ............................ 230 13.1.3 Freie Partikel (einfache Negation) .................................................................. 233 13.2 Die Entwicklung der Negation als Zyklus .................................................... 233 13.3 Negation in Sätzen mit Indefinita ................................................................... 235 13.3.1 Negationspartikel + positives Indefinitum ................................................... 236 13.3.2 Negationspartikel + negatives Indefinitum (Negationskongruenz) ......... 237 13.3.3 Negierte Sätze mit mehreren Indefinita......................................................... 239 13.3.4 Negation durch negatives Indefinitum.......................................................... 240 Literaturhinweise........................................................................................................... 241 Teil III: Erklärungen .................................................................................................... 243 14 Präskriptive Normierungen ........................................................................... 245 14.1 Die Vertikalisierung .......................................................................................... 245 14.2 Die Tradition der grammatischen Literatur .................................................. 247 14.3 Stigmatisierungen ............................................................................................. 248 14.3.1 Doppelte Negation ............................................................................................ 249 14.3.2 Possessiver Dativ und Genitiv ........................................................................ 250 14.3.3 Tun-Periphrase................................................................................................... 252 14.3.4 Syntax von Pronominaladverbien .................................................................. 253 14.4 Präskriptive Normierungen: Fazit .................................................................. 257 Literaturhinweise........................................................................................................... 258 <?page no="11"?> Inhaltsverzeichnis 11 15 Sprachkontakt ................................................................................................... 259 15.1 Sprachkontakt: Forschungsgeschichte und Methodologie ......................... 259 15.2 Syntaktische Entlehnungen in Sprachinseln ................................................. 262 15.2.1 Sprachinseln in Norditalien ............................................................................. 262 15.2.2 Pennsylvaniadeutsch ........................................................................................ 264 15.3 Durch Sprachwechsel geprägte Varietäten ................................................... 266 15.3.1 Deutsch auf rätoromanischem Substrat......................................................... 266 15.3.2 Deutsch auf dänischem Substrat..................................................................... 268 15.3.3 Deutsch auf slavischem Substrat .................................................................... 268 15.4 Einflüsse von kulturell dominierenden Sprachen ........................................ 270 15.4.1 Latein................................................................................................................... 270 15.4.2 Englisch............................................................................................................... 273 15.5 Lehnsyntax im Deutschen: Fazit ..................................................................... 276 Literaturhinweise........................................................................................................... 276 16 Funktionale Erklärungen................................................................................ 277 16.1 Zum Wesen funktionaler Erklärungen .......................................................... 277 16.2 Syntaktische Natürlichkeit............................................................................... 280 16.3 Funktion von Klammerstrukturen ................................................................. 285 16.4 Funktional-typologische Erklärungen ........................................................... 289 16.5 Funktionale Erklärungen: Fazit....................................................................... 294 Literaturhinweise........................................................................................................... 294 17 Formale Ansätze (Oliver Schallert) .............................................................. 295 17.1 Zum Wesen formaler Ansätze......................................................................... 295 17.1.1 Phrasenstrukturregeln und das X’-Schema................................................... 297 17.1.2 Transformationsregeln ..................................................................................... 299 17.1.3 Funktionale Projektionen und syntaktische Merkmale ............................... 302 17.1.4 Parametrische Unterschiede zwischen Sprachen ......................................... 303 17.2 Syntaktischer Wandel in der generativen Grammatik ................................ 305 17.2.1 Ein parametrischer Wandel im Deutschen? .................................................. 307 17.2.2 Syntax oder Stilistik? Veränderungen in der Verbstellung ........................ 312 17.2.3 Veränderungen in der Negation ..................................................................... 315 17.3 Fazit: formale Ansätze ...................................................................................... 317 Literaturhinweise........................................................................................................... 318 18 Optimalitätstheoretische Ansätze (Oliver Schallert) ............................... 319 18.1 Zum Wesen optimalitätstheoretischer Ansätze............................................ 319 18.1.1 Konfliktlösung: ein Beispiel ............................................................................. 322 18.1.2 Mikroparameter................................................................................................. 324 18.2 Syntaktischer Wandel in der Optimalitätstheorie ........................................ 326 18.3 Fazit: optimalitätstheoretische Ansätze ......................................................... 329 Literaturhinweise........................................................................................................... 330 <?page no="12"?> Inhaltsverzeichnis 12 Literaturverzeichnis ..................................................................................................... 331 Quellentexte.................................................................................................................... 331 Forschungsliteratur ....................................................................................................... 336 Abbildungsnachweis ................................................................................................... 359 <?page no="13"?> Abkürzungen * rekonstruiert (ältere Sprachstufen); ungrammatisch AcI Accusativus cum Infinitivo afr. altfranzösisch ahd. althochdeutsch Akk. Akkusativ aleman. alemannisch bair. bairisch Cod. Codex Dat. Dativ f. Feminin frnhd. frühneuhochdeutsch Gen. Genitiv ger. gerundet germ. germanisch griech. griechisch hochalem. hochalemannisch Hs., Hss. Handschrift, Handschriften IPP Infinitivus pro Participio it. italienisch Kurzf. Kurzform Langf. Langform lat. lateinisch m. Maskulin mhd. mittelhochdeutsch mittelfr. mittelfränkisch mod. modal n. Neutrum Nom. Nominativ omd. ostmitteldeutsch ostfränk. ostfränkisch Pl. Plural PPI Participium pro infinitivo r recto (bei Stellenangaben zu Handschriften oder Drucken) rätorom. rätoromanisch rhfr.-hess. rheinfränkisch-hessisch Satzkl. Satzklammer schwäb. schwäbisch Sg. Singular südrheinfr. südrheinfränkisch Transkr. Transkription temp. temporal Übs. Übersetzung <?page no="14"?> Abkürzungen 14 ung. ungerundet v verso (bei Stellenangaben zu Handschriften oder Drucken) westgerm. westgermanisch Abkürzungen in den Glossen = Abtrennung klitischer Formen 1 1. Person 2 2. Person 3 3. Person AKK Akkusativ F Feminin IPP Infinitivus pro participio M Maskulin N Neutrum NEG Negation OBJ Objekt PL Plural PPI Participium pro infinitivo SG Singular SU Subjekt <?page no="15"?> Präsentation der Beispiele: technische Bemerkungen In dieser Einführung werden zur Illustration der behandelten syntaktischen Konstruktionen zahlreiche Beispiele angeführt. In den folgenden Abschnitten wird erklärt, wie sie dargestellt und zugänglich gemacht (d.h.: übersetzt und erklärt) und wie sie nachgewiesen werden. Beispiele, Übersetzungen und Glossierungen Die Beispiele werden - je nachdem, wie schwer zugänglich (d.h.: verständlich) sie vom Neuhochdeutschen aus sind - in verschiedener Art und Weise präsentiert. Grundsätzlich werden alle Beispiele in Kursivdruck dargeboten, die Erklärungen bzw. Übersetzungen dazu dagegen in Normalschrift. Bei poetischen Texten werden Versgrenzen durch ‘/ ’ markiert. Wenn bei Prosatexten der Zeilenbruch markiert werden soll, geschieht dies durch ‘|’. Unterscheidet sich ein Beispiel in Bezug auf seine Syntax nicht und in Bezug auf die orthographischen Formen der darin vorkommenden Wörter nur wenig vom Neuhochdeutschen, wird es ohne weitere Erklärungen angeführt: diß ist eyn beispiell Unterscheidet sich ein Beispiel vom Neuhochdeutschen in Bezug auf seine Syntax nicht, in Bezug auf die darin vorkommenden Formen dagegen ziemlich stark, wird auf einer zweiten Zeile eine „Glossierung“, d.h. eine wortwörtliche Übersetzung bzw. eine Umsetzung in neuhochdeutsche Wortformen angeführt. In einem solchen Fall entspricht jeweils ein Wort im Beispiel einem Wort in der Glossierung (bzw. wenn in der Glossierung zwei Wörter einem Wort im Beispiel entsprechen, werden diese durch den Unterstrich miteinander_verbunden): diz ist ein bîspel dies ist ein Beispiel Unterscheidet sich ein Beispiel von der neuhochdeutschen Standardsprache in den darin vorkommenden Formen und in seiner Syntax, wird zusätzlich zur Glossierung eine idiomatische neuhochdeutsche Übersetzung zwischen ’einfachen hochgestellten Anführungszeichen’ gegeben (im Fließtext bezeichnen einfache hochgestellte Anführungszeichen dagegen möglichst wörtliche Wiedergaben): uuanta diz ist bilidi weil dies ist Bild ‘weil dies ein Beispiel ist’ <?page no="16"?> Präsentation der Beispiele: technische Bemerkungen 16 In bestimmten Fällen, in denen längere Textpassagen zitiert werden und wo es in der Übersetzung nicht auf die genaue Übersetzung und Abfolge mancher Elemente ankommt, wird von diesem Verfahren auch etwas abgewichen. Bei Beispielen, die aus Übersetzungstexten stammen, ist es manchmal sinnvoll, neben dem deutschen auch den (in der Regel lateinischen) Text des Originals anzuführen (dies betrifft vor allem das Althochdeutsche). Dies geschieht auf einer eigenen Zeile. Der Originaltext wird kursiv gesetzt und durch die Bezeichnung der Originalsprache eingeführt: uuanta diz ist bilidi weil dies ist Bild ‘weil dies ein Beispiel ist’ lat.: quia hoc exemplum est In wenigen Fällen (relativ häufig aber bei fremdsprachigen Beispielen) werden zur Hervorhebung die grammatischen Kategorien eines bestimmten Wortes gesondert bezeichnet: Im Beispiel selbst wird das entsprechende Morphem durch einen Bindestrich von seinem Stamm abgesetzt, in der Glossierung wird nach (bzw. vor) der Übersetzung des Wortstamms mit einem Bindestrich eine in K APITÄLCHEN gesetzte Abkürzung für die relevante(n) grammatische(n) Kategorie(n) angeführt (gelegentlich werden die entsprechenden Abkürzungen auch in runden Klammern angegeben). So bedeutet etwa im folgenden Beispiel N . SG „Neutrum Singular“ (vgl. hierzu auch das Abkürzungsverzeichnis): diz bilidi ist skonaz dieses Bild ist schön- N . SG ‘dieses Beispiel ist schön’ Wenn bei einem Beispiel eine bestimmte Konstituente besonders hervorgehoben werden soll, wird mit Unterstreichungen gearbeitet. Stellenangaben Die Beispiele dieser Einführung werden in der Regel mit einem Zitatnachweis versehen. Bei Texten, die über Editionen gut erschlossen sind, haben wir uns bemüht, Belege zu überprüfen und nach den jeweils modernsten Editionen (bzw. in manchen Fällen auch nach digital zugänglichen Handschriften) zu zitieren. Entsprechende Texte bzw. Editionen werden nach den Beispielen in (runden Klammern) durch eine Sigle bezeichnet, auf die eine Stellenangabe folgt. Im Verzeichnis der Quellentexte wird angegeben, worauf sich die Stellenangaben beziehen (beispielsweise auf Seiten der Edition bzw. der Handschrift, auf Verse etc.). In der folgenden Stellenangabe bezeichnet das hinter der Zahl 18 stehende „r“ (für „recto“) die Vorderseite, „v“ (für „verso“) würde dagegen die Rückseite bezeichnen. Diese Zählung ist bei manchen Handschriften und älteren Drucken üblich, die nur Blätter, aber nicht Seiten im heutigen Sinn zählen: <?page no="17"?> Präsentation der Beispiele: technische Bemerkungen 17 (Marburger Osterspiel 1527, 18r) Im Verzeichnis der Quellentexte werden die Siglen aufgelöst und die zitierten Editionen angegeben. In bestimmten Fällen wäre es dagegen zu aufwändig gewesen, die Beispiele mit (mitunter schwer zugänglichen) Editionen abzugleichen. In einem solchen Fall werden die Beispiele mit einer kurzen Charakterisierung der Quelle versehen, danach wird mit einem üblichen Verweis nach der Abkürzung „zit. n.“ (für „zitiert nach“) die wissenschaftliche Arbeit genannt, aus welcher wir den entsprechenden Beleg beziehen. Solche Angaben haben dann beispielsweise die folgende Gestalt: (Marburger Fastnachtsspiel 1638; zit. n. Behaghel 1932: 532) Wiedergabe der Beispiele Die Beispiele werden im Allgemeinen so genau wie möglich wiedergegeben. Allerdings haben wir auf die Wiedergabe bestimmter graphischer Eigenheiten verzichtet, beispielsweise geben wir in Drucktexten < ( > und <ä> als ä, < = > und <ö> als ö sowie < F > und <ü> als ü wieder. <?page no="19"?> Einführung Dieses Buch besteht - neben dem folgenden Einführungskapitel - aus drei verschiedenen Teilen. In Teil I werden einige methodologische Probleme thematisiert, die für die historische Syntaxforschung von besonderer Wichtigkeit sind. Im darauffolgenden Teil II, dem Hauptteil, werden einzelne Phänomene der historischen Syntax des Deutschen detailliert vorgestellt und diskutiert. In Teil III werden verschiedene Erklärungsmodelle syntaktischen Wandels behandelt. Die Kapitel zu den Teilen I, II und III enthalten jeweils neben der Behandlung der entsprechenden Themen Hinweise zur weiteren Lektüre. <?page no="21"?> 1 Syntax und Sprachgeschichte des Deutschen In diesem einleitenden Kapitel werden einige grundlegende Konzepte erläutert, die für das Verständnis der vorliegenden Einführung zentral sind. Nach einer kurzen Diskussion des Begriffs „Syntax“ (1.1) wird auf die Begriffe „diachrone Linguistik“ und „Sprachwandel“ eingegangen und es werden erste Beispiele für syntaktischen Wandel aus der Geschichte des Deutschen diskutiert (1.2). Danach werden kurz die sogenannten „Sprachstufen“ des Deutschen vorgestellt, deren Bezeichnungen (Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch, Frühneuhochdeutsch, Neuhochdeutsch) in dieser Einführung häufig verwendet werden (1.3). Ebenfalls wichtig - sowohl für ältere Sprachstufen als auch für das moderne Deutsch - sind dialektale, also regionale Unterschiede (1.4). Schließlich wird das Problem der Daten in der historischen Linguistik genauer ausgeführt: Anders als bei der Untersuchung der Gegenwartssprache bestehen bei historischen Quellen bestimmte Probleme in Bezug auf ihre Interpretation und Auswertung, die bei der Untersuchung syntaktischer Phänomene berücksichtigt werden müssen (1.5). 1.1 Syntax Die Syntax ist ein Teilbereich der Grammatik. Während sich die Morphologie mit der internen Struktur von Wörtern beschäftigt, fällt in den Bereich der Syntax die Verbindung von Wörtern zu größeren Einheiten (griech. sýntaxis bedeutet wörtlich unter anderem ‘Zusammenstellung, (An-)Ordnung’). Dazu gehören einerseits Sätze, andererseits aber auch kleinere Einheiten, die in der traditionellen Grammatik etwa als „Satzglieder“ bezeichnet werden, in bestimmten modernen Grammatiktheorien (beispielsweise in der generativen Grammatik) als „Phrasen“. Die Syntax befasst sich also mit der Beschreibung und Erklärung grammatischer Strukturen, die oberhalb der Wortebene liegen. Unter Syntax versteht man in der Linguistik einerseits also den Objektbereich (also Größen wie Sätze etc.), andererseits aber auch eine Theorie, die diesen Objektbereich zu beschreiben und zu erklären versucht. So gibt es beispielsweise eine „funktionale“ oder eine „generative Syntax“. Damit werden verschiedene theoretische Zugänge zur Beschreibung und Erklärung syntaktischer Kategorien bezeichnet. In vielen Einführungen, die die Syntax des Neuhochdeutschen zum Thema haben (etwa in Dürscheid 2010), nimmt die Darstellung verschiedener syntaktischer Theorien einen breiten Raum ein. Im vorliegenden Buch geht es in erster Linie darum, eine Einführung in die syntaktischen Entwicklungen und Veränderungen des Deutschen zu bieten. Unser Ziel ist es, syntaktische Strukturen, die sich vom Gegenwartsdeutschen unterscheiden, zu beschreiben. Dabei wird auch, wo es dem weiteren Verständnis dient, ein Anschluss an die moderne syntaktische Theoriebildung gesucht. <?page no="22"?> Syntax und Sprachgeschichte des Deutschen 22 1.2 Diachrone Linguistik, Sprachwandel und syntaktischer Wandel In seinem 1916 postum erschienenen Cours de linguistique générale, dem grundlegenden Text der modernen Linguistik, unterscheidet Ferdinand de Saussure (1857-1913) zwischen „Synchronie“ und „Diachronie“. Die synchrone Sprachwissenschaft hat die Aufgabe, einen Sprachzustand zu einem bestimmten Zeitpunkt zu beschreiben und zu analysieren. Die diachrone Sprachwissenschaft versucht dagegen, die Veränderungen, die sich zwischen verschiedenen synchronen Sprachzuständen beobachten lassen, zu beschreiben und zu analysieren (vgl. de Saussure 1916/ 2003: 167). Mit dieser Definition ist bereits gesagt, dass sich Sprache grundsätzlich verändern kann: Gäbe es keinen Sprachwandel, würde auch die Unterscheidung in Synchronie und Diachronie keinen Sinn ergeben. Von diesem Wandel ist jede Ebene der Sprache betroffen. Ein Beispiel für phonologischen Wandel bieten etwa die mittelhochdeutschen hohen Langvokale, die im Neuhochdeutschen zu Diphthongen geworden sind (mîn niuwez hûs wird zu mein neues Haus; diese Entwicklung wird als „frühneuhochdeutsche Diphthongierung“ bezeichnet). Ein Beispiel für morphologischen Wandel kann darin gesehen werden, dass bestimmte Verben ihre Flexionsklasse gewechselt haben (das starke Präteritum pflog wird ersetzt durch das schwach gebildete pflegte). In lexikalischer Hinsicht ist bekannt, dass Lexeme veralten, neu aufkommen oder ihre Bedeutung verändern können. Beispielsweise hatte mhd. wîp noch nicht die pejorative Bedeutung von nhd. Weib. Dass sich auch syntaktische Strukturen wandeln können, kann anhand der folgenden Gegenüberstellung verschiedener, aus unterschiedlichen Epochen stammender Übersetzungen der gleichen Bibelstelle (Lk 2,8-11) illustriert werden: 9. Jh. (Tatian 35,29-36,7) 16. Jh. (Luther, Biblia 1545, 277v) 21. Jh. (Zürcher Bibel 2007) uuarun thô hirta In thero lantskeffi.’ uuahhante Inti bihaltante nahtuuahta ubar ero euuit, quam thara gotes engil Inti gistuont nâh in.’ Inti gotes berahtnessi bischein sie.’ giforhtun sie In thô In mihhilero forhtu., Inti quad In ther engil, nicur& îu forhten, Ih sagen îu mihhilan gifehon.’ ther ist allemo folke. bithiu uuanta giboran ist îu hiutu VND es waren Hirten in der selbigen gegend auff dem felde / bey den Hürten / die hüteten des nachts jrer Herde. Vnd sihe / des HERRN Engel trat zu jnen / vnd die Klarheit des HERRN leuchtet vmb sie / Vnd sie furchten sich seer. Vnd der Engel sprach zu jnen. Fürchtet euch nicht / Sihe / Jch verkündige euch grosse Freude / die allem Volck widerfaren wird / Denn Euch ist heute der Und es waren Hirten in jener Gegend auf freiem Feld und hielten in der Nacht Wache bei ihrer Herde. Und ein Engel des Herrn trat zu ihnen, und der Glanz des Herrn umleuchtete sie, und sie fürchteten sich sehr. Da sagte der Engel zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Denn seht, ich verkündige euch grosse Freude, die allem Volk widerfahren wird: Euch wurde heute der Retter geboren, der <?page no="23"?> Diachrone Linguistik, Sprachwandel und syntaktischer Wandel 23 heilant.’ ther ist christ truhtin In dauides burgi. Heiland gebörn / welcher ist Christus der HErr / in der stad Dauid. Gesalbte, der Herr, in der Stadt Davids. Im Text des 9. Jahrhunderts findet sich zunächst ein Hauptsatz, der mit dem Verb beginnt (und bei dem es sich nicht um einen Fragesatz handelt). In den jüngeren Texten steht das Verb nicht mehr am Anfang: Abgesehen von der Konjunktion und, die im Text des 9. Jahrhunderts fehlt, beginnt der Satz mit dem sogenannten „Vorfeld-es“ (einem als „expletiv“ bezeichneten Element). Im Text des 9. Jahrhunderts fehlt also gegenüber den jüngeren Texten das es, die Position vor dem Verb im Hauptsatz bleibt unbesetzt. Das Fehlen wird in der folgenden Gegenüberstellung durch ‘Ø’ markiert (dieses Zeichen wird in der Linguistik oft verwendet, wenn es darum geht, eine „Nullstelle“, also das Fehlen eines bestimmten Elements, hervorzuheben): 9. Jh. Ø uuarun thô hirta In thero lantskeffi … 16. Jh. VND es waren Hirten in der selbigen gegend … 21. Jh. Und es waren Hirten in jener Gegend … Im Text des 9. Jahrhunderts tritt im Relativsatz der direkten Rede des Engels ein Präsens auf (ist), dagegen findet sich in den jüngeren Texten das sogenannte „werden-Futur“, also eine Verbalform, die aus zwei Teilen besteht (widerfahren wird): 9. Jh. ther ist allemo folke 16. Jh. die allem Volck widerfaren wird 21. Jh. die allem Volk widerfahren wird Bei einem Vergleich der beiden jüngeren Texte zeigt sich, dass das Genitivattribut seine Stellung verändert: Im Text des 16. Jahrhunderts tritt es vor das Nomen, auf das es sich bezieht, im Text des 21. Jahrhunderts steht es dagegen nach dem Bezugsnomen. Das Bezugsnomen wiederum bekommt nur bei Nachstellung des Genitivattributs einen eigenen Artikel (der Text des 9. Jahrhunderts ist hier nicht direkt vergleichbar, da statt Herr dort das Wort got ‘Gott’ auftritt): 16. Jh. des HERRN Engel 21. Jh. ein Engel des Herrn Ein weiterer Unterschied besteht im Kasus des Objekts, das vom Verb hüten vergeben wird: Im Text des 16. Jahrhunderts regiert das Verb hüten ein Genitiv-Objekt (jrer herde); im Text des 21. Jahrhunderts ist diese Stelle zwar anders wiedergegeben, aber wir wissen, dass das Verb hüten heute kein Genitiv-Objekt mehr zu sich nehmen kann, sondern stattdessen ein Akkusativ-Objekt auftreten würde. Syntaktische Veränderungen, wie sie aus diesen Vergleichen hervorgehen, sind das Thema dieses Buches. Die Entwicklung der Verbstellung wird in Kapitel 9 und die Entstehung des als Vorfeld-es bezeichneten expletiven es in Kapitel 12 behandelt. Um die Entstehung des werden-Futurs geht es in 8.4, auf die <?page no="24"?> Syntax und Sprachgeschichte des Deutschen 24 Stellung des Genitivattributs wird in 3.4 kurz eingegangen, der Verlust des Genitivs ist Thema von Kapitel 6 (adverbiale Genitive werden in 6.3 diskutiert). 1.3 Die Sprachstufen des Deutschen Die Sprachgeschichte des Deutschen wird - vor allem auch aus praktischen Gründen - in unterschiedliche Perioden unterteilt. Seit dem 19. Jahrhundert haben sich Germanisten um eine solche Periodisierung bemüht, ohne dabei zu einem einheitlichen und allgemein akzeptierten Ergebnis zu kommen. Dies liegt daran, dass je nach Ansatz verschiedene Faktoren unterschiedlich gewichtet werden. Manche Forscher ziehen in ihren Periodisierungen „interne“ Faktoren heran, d.h. Veränderungen des Sprachsystems selbst (meist werden lautliche Kriterien zur Periodisierung verwendet, doch sind vergleichsweise häufig auch morphologische Kriterien herangezogen worden). Dagegen beziehen sich andere Forscher auf „externe“ Faktoren, auf „pragmatische“ Faktoren im weitesten Sinn wie etwa den Status des Deutschen gegenüber dem Latein, die Veränderung der Kommunikationssituation aufgrund von gesellschaftlichen und technischen Innovationen (z.B. die sogenannte „Schreib- und Lese-Expansion“ im Spätmittelalter mit der Erfindung des Buchdrucks als besonders wichtiger technischer Innovation) oder die Veränderung des Gefüges der Varietäten durch die Herausbildung einer sogenannten „Leitvarietät“ (die letztlich zur Entwicklung der neuhochdeutschen Standardsprache führt) etc. Betont werden muss, dass es keine „richtigen“ und „falschen“ Periodisierungen der deutschen Sprachgeschichte gibt, sondern dass die unterschiedliche Gewichtung verschiedener Faktoren zu jeweils anderen Ergebnissen führt (zum Problem der Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte vgl. ausführlich Roelcke 1995). Die folgende Tabelle zeigt eine weit verbreitete Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte, die in vielerlei Hinsicht auch einen Kompromiss zwischen verschiedenen existierenden Datierungen darstellt (vgl. z.B. Schmidt 2007: 16-22, Nübling et al. 2010: 6). Darin wird - in Anlehnung an die Geschichtswissenschaft - zwischen „Vorgeschichte“ und „Geschichte“ unterschieden: Unter „Vorgeschichte“ versteht man diejenigen Perioden, die - von verstreuten einzelnen Dokumenten abgesehen - nicht direkt durch Zeugnisse dokumentiert sind, sondern nur rekonstruiert werden können. Unter „Geschichte“ versteht man dagegen diejenige Zeit, die durch Quellen mehr oder minder kontinuierlich belegt ist. Periodenbezeichnung: zeitliche Einordnung: „Vorgeschichte“ (rekonstruiert) Indogermanisch ca. 4. Jt. v. Chr. - ca. 1. Jt. v. Chr. Germanisch ca. 1. Jt. v. Chr. - ca. 200 n. Chr. Westgermanisch ca. 200 n. Chr. - ca. 500 n. Chr. „Geschichte“ (belegt) Althochdeutsch 750 - 1050 Mittelhochdeutsch 1050 - 1350 Frühneuhochdeutsch 1350 - 1650 Neuhochdeutsch 1650 - Gegenwart Die rekonstruierten und die belegten Sprachstufen des Deutschen <?page no="25"?> Die Sprachstufen des Deutschen 25 Die Vorgeschichte des Deutschen, d.h. die als Westgermanisch, Germanisch und Indogermanisch bezeichneten Perioden, sind nicht direkt bezeugt. Bereits im 19. Jahrhundert wurde versucht, durch den Vergleich der überlieferten ältesten Sprachen und Sprachstufen, aber auch anhand von bestimmten Distributionsmustern innerhalb einer überlieferten Sprache oder Sprachstufe, Teile der davor liegenden Sprachstufen zu rekonstruieren. In Bezug auf Phonologie und Morphologie zeitigte dieses Verfahren große Erfolge. Allerdings ist es - anders als bei Phonologie und Morphologie - umstritten, ob syntaktische Strukturen überhaupt rekonstruiert werden können. In der vorliegenden Einführung geht es fast ausschließlich um syntaktische Strukturen der überlieferten Zeugnisse des Deutschen, d.h. um Phänomene, die durch Beispiele aus Texten belegt werden können. Auf die Vorgeschichte, also auf die vor dem Beginn der Überlieferung liegenden, nur rekonstruierten Sprachstufen, wird nur am Rande eingegangen. Wir verfügen erst seit ca. 750 n. Chr. über schriftliche Zeugnisse des Deutschen, die eigentliche Überlieferung setzt zu diesem Zeitpunkt ein. Bei der Datierung des Beginns des Althochdeutschen, wie sie in der oben angeführten Übersicht gegeben wird, kommt damit ein externes Kriterium zum Tragen. Als internes Kriterium für die Abgrenzung des Althochdeutschen gilt dagegen vielen Forschenden die Durchführung der sogenannten „zweiten Lautverschiebung“, also einer lautlichen Entwicklung. Im Rahmen der zweiten Lautverschiebung wurden die stimmlosen Plosive des Westgermanischen je nach Position im Wort zu Affrikaten oder Frikativen, wie das folgende Schema zeigt (da die germanischen Laute nicht direkt belegt, sondern rekonstruiert sind, werden sie mit einem Sternchen ‘*’, dem „Asterisk“, versehen): westgerm. *p *t *k ahd. pf f ts s kx x Dass die zweite Lautverschiebung stattgefunden hat, sieht man etwa, wenn man bestimmte deutsche Wörter mit ihren englischen Entsprechungen vergleicht. Da im Englischen die zweite Lautverschiebung nicht stattgefunden hat, findet man dort noch die dem Westgermanischen entsprechenden Formen, etwa Apfel - apple, offen - open, Herz - heart, Wasser - water, machen - make etc. (vgl. z.B. Schmidt 2007: 230-233 für eine genauere Beschreibung der zweiten Lautverschiebung). Man vermutet, dass diese Konsonantenveränderung um ca. 500 n. Chr. stattfand. Dieses Kriterium wäre also ein Argument dafür, das Althochdeutsche bereits um 500 beginnen zu lassen. Wie hypothetisch diese Datierung allerdings ist, lässt sich anhand des mutmaßlich ältesten Zeugnisses für die zweite Lautverschiebung belegen. Das wahrscheinlich älteste Zeugnis für die zweite Lautverschiebung ist die Lanzenspitze von Wurmlingen mit einer Runeninschrift, die möglicherweise ein Beispiel für die Verschiebung von germ. *k zu ahd. [x] zeigt. Sie wird auf das letzte Drittel des 6. Jahrhunderts oder auf das frühe 7. Jahrhundert datiert (vgl. Schwerdt 2000: 236, Düwel 2008: 62) - also später als das Jahr 500. Wenn man außerdem den Zeugniswert dieses Dokuments für unsicher hält, wie dies Schwerdt (2000) tut, kommt man in eine noch spätere Zeit: Der älteste sichere <?page no="26"?> Syntax und Sprachgeschichte des Deutschen 26 Beleg für die zweite Lautverschiebung ist nach Schwerdt (2000: 266) vermutlich in der Runeninschrift der Halbkugel von Stetten enthalten, die erst um das Jahr 680 zu datieren ist (vgl. Schwerdt 2000: 229). Wenn man die Sprachgeschichte des Deutschen mit dem Einsetzen einer einigermaßen kontinuierlichen Überlieferung um 750 beginnen lässt, umfassen die Sprachstufen jeweils Zeitabschnitte von ungefähr dreihundert Jahren. Für das 20. Jahrhundert wird von vielen Forschenden ein in der oben angeführten Tabelle nicht verzeichneter Periodisierungsschnitt um 1950 angesetzt (vgl. z.B. Elspaß 2008, Roelcke 2010). Als Argument für diese Periodisierung wird unter anderem auf mehrere bereits im 19. Jahrhundert einsetzende Entwicklungen, wie die massive Migrationsbewegung, die Massenalphabetisierung und die zunehmende Verbreitung der Massenmedien, verwiesen (vgl. Elspaß 2008: 7), aber auch auf das Vordringen der neuhochdeutschen Schriftsprache, das zu einem grundlegend veränderten Varietätenspektrum des Deutschen führt (vgl. Elspaß 2008: 11). Ebenfalls eine wichtige Entwicklung stellt die immer stärker abnehmende Toleranz gegenüber Abweichungen von den Normen der Standardsprache dar (vgl. Elspaß 2008: 15). In Zukunft wird man also vielleicht eine fünfte Sprachstufe des Deutschen, die um 1950 einsetzt, in das Sprachstufenmodell integrieren - womit die vierte Sprachstufe dann, wie die ersten drei, dreihundert Jahre umfassen würde. Damit ergibt sich das Problem der Benennung der vierten und fünften Sprachstufe. Elspaß (2008) schlägt als Terminus für die vierte Sprachstufe von 1650 bis 1950 den Terminus „Mittelneuhochdeutsch“ vor. Für die historische Syntaxforschung haben die Sprachstufen vor allem einen praktischen Wert: Zwar haben manche Forscher auch syntaktische Kriterien für die Periodisierung des Deutschen herangezogen (vgl. Roelcke 1995: 328-329), doch das einzige syntaktische Kriterium, das vergleichsweise häufig genannt wird, ist die „verhältnismäßige Freiheit von Satzkonstruktionen und Wortstellungsmustern im Mittelalter sowie deren zunehmende Reglementierung in der Neuzeit“ (Roelcke 1995: 341). Dieser Hinweis könnte allenfalls dazu dienen, das Mittelhochdeutsche vom Frühneuhochdeutschen abzugrenzen. Damit erreicht man aber keine detaillierte Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte. Die Sprachstufenbezeichnungen „Althochdeutsch“, „Mittelhochdeutsch“, „Frühneuhochdeutsch“ und „Neuhochdeutsch“ mit ihren oben angeführten Datierungen (die je nach Ansatz allerdings auch etwas abweichen können; besonders umstritten ist die Datierung des Frühneuhochdeutschen) sind weit verbreitet. Sie geben auch grammatikographischen und lexikographischen Unternehmungen ihren Namen („Althochdeutsches Wörterbuch“, „Mittelhochdeutsche Grammatik“, „Frühneuhochdeutsche Grammatik“ etc.). In diesem Buch werden jeweils, wo nötig, bei Beispielen die Termini „althochdeutsch“ (ahd.), „mittelhochdeutsch“ (mhd.) und „frühneuhochdeutsch“ (frnhd.) verwendet. Sie erlauben einerseits eine schnelle zeitliche Orientierung, verweisen andererseits aber auch auf den generellen soziohistorischen Kontext der Überlieferung. Gerade in Bezug darauf zeigen die Zeugnisse, die den älteren Sprachstufen zugerechnet werden, nämlich eine gewisse innere Kohärenz, und es ist auch deshalb sinnvoll, mit den etablierten Sprachstufenbezeichnungen zu arbeiten. Man kann das sozio- <?page no="27"?> Regionale Unterschiede: Dialekte 27 historische Umfeld, aus welchem uns Texte der älteren Sprachstufen überliefert sind, mit den folgenden Stichwörtern assoziieren: • Althochdeutsch: Sprache der Klöster • Mittelhochdeutsch: Sprache der Höfe • Frühneuhochdeutsch: Sprache der Städte Das Althochdeutsche, das uns in Texten überliefert ist, kann als „Sprache der Klöster“ charakterisiert werden: Ausnahmslos alle Zeugnisse des Althochdeutschen stehen in Zusammenhang mit der frühmittelalterlichen Klosterkultur und sind in dieser verankert. Dagegen kann das Mittelhochdeutsche als „Sprache der Höfe“ bezeichnet werden: Deutsche Schriftlichkeit ist nun nicht mehr exklusiv an den Kontext des Klosters gebunden (obwohl nach wie vor viele deutsche Texte in Klöstern verfasst und tradiert werden). An den Fürstenhöfen etabliert sich nun eine deutschsprachige Schriftlichkeit, in der unter anderem auch bestimmte Textsorten, die mit der Kultur der Ritter verbunden sind, zentral werden. Das Frühneuhochdeutsche schließlich ist die „Sprache der Städte“: Mit dem Niedergang der feudalen Ordnung, die das Hochmittelalter prägte, verlieren die Fürstenhöfe an Bedeutung. Stattdessen erleben die Städte - etwa durch die Entwicklung des Fernhandels, aber auch durch kulturelle und technische Innovationen, beispielsweise die Etablierung eines von der Kirche relativ unabhängigen Bildungssystems - einen großen Aufschwung. Im Rahmen dieser Entwicklung entstehen neue Textsorten, die nicht direkt an die hochmittelalterlichen Muster anknüpfen. Die Charakterisierung der Sprachstufen als „Sprache der Klöster, Höfe bzw. Städte“ weist auf ein wichtiges Merkmal historischer Sprachdaten hin: Aus den älteren Sprachstufen ist uns jeweils nur ein sehr kleiner Ausschnitt der sprachlichen Wirklichkeit in schriftlicher Form überliefert. Selbstverständlich wurde Althochdeutsch vor allem auch außerhalb der Klöster oder Mittelhochdeutsch vor allem auch außerhalb der Höfe gesprochen (und ab und zu vielleicht sogar geschrieben), doch können wir aufgrund der fehlenden Überlieferung davon nichts fassen. Die Problematik historischer sprachlicher Daten wird deshalb in einem eigenen Abschnitt noch ausführlicher behandelt (1.5). 1.4 Regionale Unterschiede: Dialekte Noch heute ist es für das Deutsche typisch, dass eine ganze Reihe regionaler Varianten nebeneinander besteht. Unter den europäischen Sprachen ist das Deutsche wahrscheinlich diejenige, die die größte dialektale Vielfalt aufweist. Beispielsweise sind zwischen Dialekten, die im äußersten Süden bzw. Norden des Sprachgebiets gesprochen werden, die Unterschiede beträchtlich (was durchaus dazu führen kann, dass die gegenseitige Verständlichkeit nicht gegeben ist). Die Dialekte des Deutschen werden meist aufgrund des Kriteriums der zweiten Lautverschiebung (vgl. 1.3), also einer historischen Entwicklung, weiter unterteilt. Diese lautliche Entwicklung ist also nicht nur Grundlage für die Abgrenzung des Althochdeutschen vom Westgermanischen, sondern auch für die <?page no="28"?> Syntax und Sprachgeschichte des Deutschen 28 Differenzierung der deutschen Dialekte. Während die Dialekte im Norden des Sprachgebiets, die als „Niederdeutsch“ zusammengefasst werden (dazu gehören etwa das Westfälische, das Nordniederdeutsche oder das Brandenburgische), die zweite Lautverschiebung gar nicht mitgemacht haben, weisen die zentralen und südlichen Dialekte, die als „Hochdeutsch“ bezeichnet werden, zumindest einen gewissen Anteil an der zweiten Lautverschiebung auf. Die südlichen, als „Oberdeutsch“ bezeichneten Dialekte (dazu gehören etwa Alemannisch und Bairisch), haben die zweite Lautverschiebung am konsequentesten durchgeführt. Die in der Mitte des deutschen Sprachgebiets gesprochenen Dialekte werden als „Mitteldeutsch“ zusammengefasst. Dabei wird zusätzlich meist auch eine Unterteilung in „Westmitteldeutsch“ und „Ostmitteldeutsch“ angesetzt; so gehört etwa Rheinfränkisch zum Westmitteldeutschen, Obersächsisch dagegen zum Ostmitteldeutschen. Die mitteldeutschen Dialekte haben die zweite Lautverschiebung weniger konsequent durchgeführt. In diesen Dialekten sind bestimmte Teilentwicklungen, beispielsweise die Verschiebung von germ. *k zur Affrikate kx, unterblieben. Die folgende Karte zeigt die Hauptgebiete der deutschen Dialekte mit den Grenzen der verschiedenen Teilentwicklungen der zweiten Lautverschiebung. Solche Grenzen sprachlicher Formen werden in der Dialektologie oft als „Isoglossen“ bezeichnet. Gliederung der deutschen Dialekte nach den Grenzen der zweiten Lautverschiebung (aus: König 2007: 64) Die Form des „Deutschen“, die beispielsweise die in diesem Buch verwendete Sprache ist, wird häufig als „neuhochdeutsche Standardsprache“ bezeichnet. Dabei bezieht sich „neu“ auf die Zeit (vgl. 1.3), „hoch“ dagegen auf die areale Herkunft: Die neuhochdeutsche Standardsprache beruht auf Dialekten vor allem <?page no="29"?> Regionale Unterschiede: Dialekte 29 des Zentrums und des Südens (wobei das Ostmitteldeutsche eine besonders wichtige Position einnimmt). Der Norden, das Niederdeutsche, war an der Herausbildung der neuhochdeutschen Standardsprache dagegen weniger stark beteiligt. Die in 1.3 vorgestellten älteren Sprachstufen des „Deutschen“ repräsentieren genau betrachtet nur die zentralen und südlichen Regionen: Neben dem Althochdeutschen existierte im Norden des deutschen Sprachgebiets auch das Altniederdeutsche und neben dem Mittelhochdeutschen das Mittelniederdeutsche (allerdings werden die Sprachstufen des Niederdeutschen etwas anders datiert als die des Hochdeutschen). Beim Altniederdeutschen und Mittelniederdeutschen handelt es sich um die Vorstufen der modernen niederdeutschen Dialekte, die im Norden des deutschen Sprachgebiets teilweise heute noch verbreitet sind. Im vorliegenden Buch werden zumeist hochdeutsche Daten behandelt, nur an manchen Stellen wird auch auf das Niederdeutsche eingegangen. Dies ist eine Beschränkung, die unter anderem dadurch motiviert ist, dass das moderne „Deutsch“, die neuhochdeutsche Standardsprache, eben in erster Linie aus hochdeutschen Dialekten schöpft. In den letzten Jahren kristallisierte sich zunehmend heraus, dass die deutschen Dialekte auch in Bezug auf ihre Syntax besondere Konstruktionen und teilweise sehr klare regionale Unterschiede aufweisen. Dies hat zur Etablierung der „Dialektsyntax“ als eines eigenen Forschungszweiges innerhalb der Dialektologie geführt (vgl. z.B. Glaser 2008), der manche Berührungen mit der historischen Syntax aufweist. In diesem Buch werden deshalb an manchen Stellen auch Daten aus modernen Dialekten behandelt. Die neuhochdeutsche Standardsprache weist anders als die Dialekte kaum regionale syntaktische Unterschiede auf. Allerdings existieren, wie Götz (1995) aufzeigt, auch diese, etwa bei der Wahl des Hilfsverbs von Verben wie liegen (ich habe/ bin gelegen) oder beim Auftreten des Ersatzinfinitivs bzw. Partizips II in bestimmten Kontexten (ich habe sagen hören/ gehört; vgl. Kapitel 10). Die neuhochdeutsche Standardsprache stellt allerdings eine verhältnismäßig junge Entwicklung dar. Für die älteren Sprachstufen ist es charakteristisch, dass wir auch in schriftlichen Dokumenten Konstruktionen finden können, die jeweils nur eine beschränkte regionale Verbreitung haben. Wie bei modernen dialektalen Konstruktionen müssen wir bei syntaktischen Konstruktionen aus älteren deutschen Texten deshalb damit rechnen, dass sie eine beschränkte regionale Verbreitung besaßen (d.h. beispielsweise nicht für das „Frühneuhochdeutsche“ generell Gültigkeit hatten, sondern z.B. nur für das Westmitteldeutsche in frühneuhochdeutscher Zeit). Deshalb werden in diesem Buch an manchen Stellen Dialektbezeichnungen oder Bezeichnungen von Dialektgroßräumen (wie etwa „Westmitteldeutsch“, „Oberdeutsch“) verwendet, um damit darauf hinzuweisen, dass eine bestimmte Konstruktion vielleicht nur eine beschränkte regionale Verbreitung hatte. <?page no="30"?> Syntax und Sprachgeschichte des Deutschen 30 1.5 Daten in der historischen Linguistik Historische Linguistik - und damit historische Syntax - beruht zum überwiegenden Teil auf der Auswertung historischer Quellen. Dabei handelt es sich um schriftliche Zeugnisse, die im Fall des Deutschen über tausend Jahre alt sein können. Zwar kann auch anhand der Untersuchung moderner Varietäten die historische Dimension berücksichtigt werden: Der Vergleich von einander nah verwandten Formen von Sprache, die auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgehen und die sich in Bezug auf ein bestimmtes sprachliches Merkmal unterscheiden, führt häufig zum Schluss, dass es sich im einen Fall um eine historisch ältere, im anderen Fall dagegen um eine historisch jüngere Form handelt. Diese bestehen synchron in verschiedenen Varietäten nebeneinander. In der Dialektologie wird dieser Befund häufig „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ bezeichnet. William Labov, der Begründer der modernen Soziolinguistik, hat die folgende, sehr treffende Formulierung für die Arbeit des historischen Linguisten geprägt: Ihm zufolge ist die „traditionelle“ historische Linguistik, die sich auf die Interpretation historischer, schriftlich überlieferter Texte stützt, „the art of making the best use of bad data“ (Labov 2010: 11). Warum sind die Daten, mit denen man in der historischen Sprachwissenschaft arbeitet, „schlecht“? Labov (2010: 10-11) nennt mehrere Gründe: • Die Zeugnisse älterer Sprachstufen sind oft nur durch Zufall bis auf den heutigen Tag erhalten geblieben, nicht aufgrund eines gezielten Plans. Labov formuliert: „Historical documents survive by chance, not by design […]“ (2010: 11). Beispielsweise wird vermutet, dass in althochdeutscher Zeit germanische Heldensagen aufgezeichnet wurden (unter Karl dem Großen erging ein entsprechender Erlass), doch ist die germanische Heldendichtung im Deutschen nur in Form des Hildebrandslieds bis in die moderne Zeit hinein überliefert. Unser Bild vom Althochdeutschen sähe vermutlich in linguistischer Hinsicht anders aus, wenn andere Texte erhalten wären als diejenigen, die tatsächlich überliefert sind. • Die Zeugnisse älterer Sprachstufen liegen ausschließlich schriftlich fixiert vor und sie erlauben uns somit nur einen indirekten Zugang zur (gesprochenen) Sprache. Wir wissen aus der Erforschung des modernen Deutschen, dass sich geschriebene und gesprochene Sprache stark voneinander unterscheiden können. Für ältere Sprachstufen verfügen wir aber nur über schriftliche Quellen. Erst seit dem späten 19. Jahrhundert besteht die technische Möglichkeit, Schall dauerhaft aufzuzeichnen. Primäres Objekt der Linguistik ist die gesprochene Sprache (Ferdinand de Saussure spricht von der gesprochenen Sprache als dem „primären Zeichensystem“, dagegen bezeichnet er schriftliche Sprache als „sekundäres Zeichensystem“). Das sekundäre Zeichensystem erlaubt jedoch nur indirekt Rückschlüsse auf das primäre. In schriftlichen Zeugnissen findet sich oft das Bemühen, sich an einer bestimmten, besonders prestigeträchtigen Varietät zu orientieren, und aus diesem Grund können viele schrift- <?page no="31"?> Literaturhinweise 31 liche Zeugnisse auch nicht als repräsentativ für die „Muttersprache“ ihrer Autoren (und/ oder Schreiber) angesehen werden. Gerade in mittelalterlichen Texten finden sich einerseits Fehler von Seiten der Schreiber, andererseits auch Hyperkorrekturen. Unter letzteren versteht man Textproduktionen, die auf eine nicht muttersprachlich beherrschte, prestigeträchtigere Variante zurückgreifen, wobei aus Sorge um Korrektheit eine Form entsteht, die es so nicht gibt. In mittelalterlichen Texten stehen auch häufig verschiedene dialektale Formen nebeneinander. • Schließlich enthalten schriftliche Zeugnisse immer nur „positive Evidenz“. Man kann nur beschreiben, welche Strukturen in einem bestimmten Dokument belegt sind (positive Evidenz), man kann aber in der Regel nicht sagen, welche Strukturen in der betreffenden Varietät ausgeschlossen, d.h. ungrammatisch waren („negative Evidenz“). Die moderne Syntaxtheorie, vor allem die generative Syntax, ist in einem starken Maß auf negative Evidenz angewiesen, weil sie Aussagen über die Grammatikalität bestimmter Strukturen macht. Es muss deshalb beurteilt werden können, ob ein bestimmter Satz korrekt („grammatisch“) ist oder nicht („ungrammatisch“). Bei modernen Sprachen wird dies festgestellt, indem beispielsweise Sprecher oder die eigene Intuition befragt werden. Historische Texte können dies jedoch nicht bieten, allenfalls kann das offensichtliche Fehlen bestimmter Konstruktionen in größeren Texten dahingehend ausgelegt werden, dass die entsprechenden Konstruktionen nicht grammatisch waren. Historische Daten sind also anders geartet und bieten andere Probleme als Daten zu lebenden Sprachen. Aufgrund der geschilderten Schwierigkeiten besteht bei vielen historisch arbeitenden Syntaktikern das Bemühen, als Grundlage eine in einer bestimmten Art und Weise ausgewogene Datenbasis zu verwenden. Das „Korpusprinzip“ ist eine Manifestation dieses Bemühens (vgl. Kapitel 4). Da die historische Syntax in Bezug auf methodologische Fragestellungen etwas mehr Aufwand erfordert als für die Untersuchung der Gegenwartssprache nötig, werden in Teil I methodologische Probleme der historischen Syntax des Deutschen etwas ausführlicher behandelt. Literaturhinweise Zur Syntax des (Standard-)Deutschen existieren zahlreiche Einführungen, etwa Engel (2009). Die Duden Grammatik (2009) beschreibt die Syntax des Gegenwartsdeutschen von einem normativen Standpunkt aus sehr ausführlich, noch ausführlicher ist die am Institut für Deutsche Sprache Mannheim erarbeitete dreibändige Grammatik der deutschen Sprache (Zifonun et al. 1997). Eine sehr empfehlenswerte Einführung in verschiedene syntaktische Theorien, oft anhand deutscher Beispiele, bietet Dürscheid (2010). Auch zur Sprachgeschichte des Deutschen gibt es zahlreiche einführende Werke, die hier nicht alle genannt und charakterisiert werden können. Eine auf <?page no="32"?> Syntax und Sprachgeschichte des Deutschen 32 das Wesentliche beschränkte, dabei aber auch syntaktische Phänomene berücksichtigende Einführung in die deutsche Sprachgeschichte bietet Speyer (2010). Nübling et al. (2010) legen eine relativ ausführliche, dabei auch jüngere theoretische Ansätze berücksichtigende Einführung vor, die auch Kapitel zum syntaktischen sowie zum ebenenübergreifenden Wandel enthält. Sehr ausführlich und eher zum Nachschlagen als zum kontinuierlichen Lesen geeignet ist das Lehrbuch von Schmidt (2007). Die Studien-CD von Donhauser et al. (2007) stellt eine multimediale, didaktisch gut aufbereitete Einführung dar, die auch syntaktische Phänomene abdeckt. An Einführungen in die historische Syntax des Deutschen existiert bis jetzt nur Ebert (1978), ein immer noch lesenswertes, aber in vielerlei Hinsicht nicht mehr ganz aktuelles Bändchen. Syntaktische Skizzen im Rahmen von Einführungen in bestimmte Sprachstufen bieten beispielsweise Sonderegger (2003: 345- 353) zum Althochdeutschen, Weddige (2010: 68-77) zum Mittelhochdeutschen und Hartweg/ Wegera (2005: 171-179) zum Frühneuhochdeutschen. Auch in Schmidt (2007) finden sich grammatische Skizzen zum Alt-, Mittel- und Frühneuhochdeutschen, die auch syntaktische Phänomene berücksichtigen. Ansonsten ist man direkt auf die bestehenden synchronen und diachronen Darstellungen angewiesen, die allerdings nicht als Einführungen konzipiert sind. Das wichtigste Werk zur historischen Syntax des Deutschen ist nach wie vor die monumentale Deutsche Syntax Otto Behaghels (vier Bände, 1923-1932). Eine konzise, in vielerlei Hinsicht etwas leserfreundlicher aufbereitete Übersicht ist Dal (1966). Umfangreichere Darstellungen bieten Lockwood (1968) und Admoni (1990). Eine jüngere, umfassende Darstellung der Syntax des Deutschen von 1300 bis 1750 stammt von Ebert (1999; der erste Teil zu diesem Werk, der die Zeit von den Anfängen bis 1300 abdecken soll, ist leider nie erschienen). In jüngerer Zeit finden sich syntaktische Darstellungen im Rahmen der Sprachstufengrammatiken des Deutschen: zum Althochdeutschen Schrodt (2004), zum Mittelhochdeutschen Paul et al. (2007) und zum Frühneuhochdeutschen Ebert et al. (1993). Kürzere syntaktische Skizzen zu einzelnen Sprachstufen, allerdings mit teilweise unterschiedlichen Ansätzen, versammelt der Band zur Sprachgeschichte in der Reihe Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswisssenschaft (HSK): Greule (2000) zum Althochdeutschen, Wolf (2000) zum Mittelhochdeutschen, Erben (2000) zum Frühneuhochdeutschen und Ágel (2000) zum Neuhochdeutschen. <?page no="33"?> Teil I: Methodologie Die historische Syntaxforschung braucht als Datengrundlage in der Regel vollständige Texte: Phänomene wie Kongruenz oder Wortstellung manifestieren sich erst dann, wenn nicht nur ein einzelnes Wort, sondern ein zumindest minimaler Text überliefert ist. Während es für das Mittelhochdeutsche, Frühneuhochdeutsche und Neuhochdeutsche relativ unproblematisch ist, geeignete Texte zu finden, bietet vor allem die älteste Sprachstufe des Deutschen, das Althochdeutsche, aufgrund der Überlieferungssituation besondere Schwierigkeiten. Häufig gibt es keine „guten“, d.h. für die syntaktische Forschung uneingeschränkt geeigneten Quellen. Das bedeutet, dass man sich mit den Problemen der existierenden Quellen auseinandersetzen muss und methodologische Zugänge zu ihrer Auswertung entwickelt. Zunächst werden die Probleme von Übersetzungstexten geschildert, wobei hier insbesondere auf das Althochdeutsche eingegangen wird (Kapitel 2). Danach werden die Probleme von poetischen Texten, in denen Reim und Metrum die sprachlichen Formen beeinflussen können, diskutiert (Kapitel 3). Eine wichtige Rolle für die historische Syntaxforschung spielen sodann auch Probleme der Überlieferung und Edition älterer Texte: Gerade hochmittelalterliche Texte sind häufig in einer Form überliefert, die für die linguistische Forschung an sich schwierig ist. Dabei gehen Texteditionen mit dieser Situation häufig in einer Art und Weise um, die in linguistischer Hinsicht sehr problematisch ist; solche Probleme der Datengrundlage werden eingehend diskutiert (Kapitel 4). Schließlich wird auf quantitative und qualitative Aspekte, die für die Interpretation von Entwicklungen in der historischen Syntaxforschung eine wichtige Rolle spielen, eingegangen (Kapitel 5). <?page no="35"?> 2 Übersetzungstexte Übersetzungstexte sind für die historische Syntaxforschung grundsätzlich problematisch, weil Strukturen der Ausgangssprache auch in die Übersetzung übernommen werden können. Dies trifft besonders für das Althochdeutsche zu, weil in dieser ältesten Sprachstufe Übersetzungstexte eine wichtige Rolle spielen. Im Folgenden wird deshalb zunächst auf die Überlieferung des Althochdeutschen und ihre spezifischen Anforderungen an die syntaktische Forschung eingegangen (2.1). Danach wird ein besonders wichtiger althochdeutscher Übersetzungstext, der sogenannte „althochdeutsche Tatian“, als Musterbeispiel behandelt (2.2). Auch nach althochdeutscher Zeit finden sich in bestimmten Zeugnissen noch syntaktische Strukturen, die durch die Übersetzung bedingt zu sein scheinen. Allerdings kann hier teilweise beobachtet werden, dass diese Strukturen nicht nur in Übersetzungstexten auftreten, was ihre Bewertung problematisch macht (2.3). 2.1 Zur althochdeutschen Überlieferung Die ältesten Zeugnisse des Deutschen, des Althochdeutschen (750-1050), stammen aus dem Frühmittelalter. In dieser Zeit wurde das Deutsche erstmals verschriftlicht, allerdings hatte die deutsche neben der lateinischen Schriftlichkeit nur einen marginalen Status. Die Quellen zu Beginn der deutschen Überlieferung sind spärlicher vorhanden als in späteren Epochen. Anders als bei jüngeren Sprachstufen haben wir im Althochdeutschen nur wenige umfassendere Zeugnisse zur Verfügung, gerade was die älteste Zeit (8./ 9. Jahrhundert) betrifft. Viele althochdeutsche Zeugnisse sind vom Latein abhängig, außerdem handelt es sich häufig nicht um zusammenhängende Texte, was für die syntaktische Forschung besonders problematisch ist. Eine der ursprünglichsten Überlieferungsformen des Althochdeutschen sind die sogenannten „Glossen“. Unter Glossen versteht man „im Text oder an den Blatträndern über- oder beigeschriebene Übersetzungen lateinischer Wörter“ (Sonderegger 2003: 67). Der folgende Ausschnitt aus einer lateinischen Handschrift zeigt über dem dritten lateinischen Wort eine althochdeutsche Glosse. Der lateinische Infinitiv cedere ‘weichen, nachgeben’ wird mit dem althochdeutschen vuichan ‘weichen, nachgeben’ übersetzt (<vu> steht für nhd. <w>): <?page no="36"?> Übersetzungstexte 36 Althochdeutsche Glosse aus Cod. Sang. 134, 24,9 (Quelle: Codices Electronici Sangallenses, www.cesg.unifr.ch) Derzeit sind über 1300 Handschriften bekannt, die althochdeutsche Glossen aufweisen; insgesamt dürfte die Anzahl althochdeutscher Glossen über 250 000 betragen (vgl. Stricker 2009: 187). Wie wichtig diese Überlieferungsform für unsere Kenntnis des Althochdeutschen grundsätzlich ist, wird klar, wenn man die Zahl althochdeutscher Glossen mit der Wortanzahl der beiden umfangreichsten althochdeutschen Texte des 9. Jahrhunderts vergleicht: Der althochdeutsche Tatian (vgl. 2.2), eine zweisprachige lateinisch-althochdeutsche Handschrift, enthält geschätzt ca. 90 000 Wörter, in dieser Zahl ist der lateinische Teil allerdings inbegriffen; Otfrids Evangelienbuch (vgl. 3.2) dürfte ca. 70 000 Wörter umfassen. Für die historische Syntax gilt allerdings, dass Glossen kaum syntaktische Informationen bieten: Glossen bestehen in der Regel aus einzelnen Wörtern. Dieser Quellentypus kann deshalb nur begrenzt genutzt werden, obwohl die althochdeutschen Glossen für bestimmte syntaktische Phänomene durchaus Material bieten (vgl. Schmid 2009: 1083, der mehrere Bereiche nennt). Besonders lohnend sind syntaktische Phänomene des bestimmten Artikels (vgl. Glaser 2000, Schmid 2009: 1085). Dennoch gilt, dass Glossen zumeist für die syntaktische Forschung unzureichend sind. Auch sogenannte „Glossare“, frühmittelalterliche „Wörterbücher“, die beispielsweise aus Sammlungen von Glossen entstanden sind, bieten mit wenigen Ausnahmen für die syntaktische Forschung kein Material. Nahe verwandt mit Glossen sind die sogenannten „Interlinearversionen“. Dabei handelt es sich um „in den Handschriften zwischen den Zeilen angeordnete Wort-für-Wort- oder besser Form-für-Form-Übersetzungen“ (Sonderegger 2003: 72). Die folgende Abbildung stammt aus einer Handschrift vom Beginn des 9. Jahrhunderts. Sie enthält die lateinische Benediktinerregel 1 mit einer althochdeutschen Interlinearversion. Die lateinisch-althochdeutsche Benediktinerregel Cod. Sang. 916, 17,7-10 (Quelle: Codices Electronici Sangallenses, www.cesg.unifr.ch) ________ 1 In der auf den heiligen Benedikt von Nursia (ca. 480-547) zurückgehenden Benediktinerregel werden das klösterliche Leben und der klösterliche Verhaltenskodex umfassend beschrieben und geregelt. <?page no="37"?> Syntaktische Strukturen im althochdeutschen Tatian 37 Der Ausschnitt beginnt zunächst mit einem in Großbuchstaben gehaltenen Titel im lateinischen Text (darin tritt eine Abkürzung auf; der lateinische Text ist aufzulösen als de generibus monachorum ‘von den Sorten der Mönche’, im Text geht es also um die verschiedenen Arten von Mönchen). Der lateinische Text ist etwas größer ausgeführt als die althochdeutschen Glossierungen, außerdem ist die Tinte der althochdeutschen Glossierungen etwas heller als die des lateinischen Textes. Der oben abgebildete Textausschnitt kann in der folgenden Art und Weise wiedergegeben werden (Benediktinerregel 17,7-8): municho fioreo vvesan chunni chund ist Monachorum quattuor esse genera manifestum est ‘Es ist bekannt, dass es vier Arten von Mönchen gibt.’ Zwar ist in dieser Interlinearversion jedes lateinische Wort glossiert, insofern liegt eine vollständige „Übersetzung“ des lateinischen Textes vor. Doch ergibt die Aneinanderreihung der althochdeutschen Einzelübersetzungen nicht unbedingt einen wohlgeformten althochdeutschen Satz. Die lateinische Wortstellung und die lateinischen Konstruktionen werden genau beibehalten und gegenüber dem lateinischen Text werden keine Ergänzungen vorgenommen. Beispielsweise tritt im lateinischen Text eine sogenannte „Accusativus-cum-Infinitivo-Konstruktion“ (AcI) auf (vgl. 2.3): Vom Hauptprädikat (manifestum est ‘es ist bekannt’) hängen ein Akkusativ und ein Infinitiv ab, die in einer deutschen Übersetzung in der Regel als Subjekt und Prädikat eines dass-Satzes wiedergegeben werden (monachorum quattuor esse genera heißt wörtlich: ‘der Mönche vier sein Arten’). Wenn die Aneinanderreihung der althochdeutschen Einzelübersetzungen einen grammatischen althochdeutschen Satz ergibt, ist dies Zufall. Interlinearversionen, die im Prinzip nichts anderes als Aneinanderreihungen von Glossen darstellen, sind darum - wie die Glossen - nur bedingt als Quelle für die syntaktische Forschung nutzbar. Ein bedeutender Teil der althochdeutschen Überlieferung (Glossen, Glossare, Interlinearversionen) fällt aus, wenn es um syntaktische Fragestellungen geht, denn hierfür sind textuelle Zeugnisse notwendig. Bei den eigentlichen Texten handelt es sich in althochdeutscher Zeit allerdings meist entweder um Übersetzungen aus dem Latein, deren Probleme im folgenden Abschnitt am Beispiel des althochdeutschen Tatian behandelt werden, oder um poetische Texte, die ihrerseits wieder andere Schwierigkeiten für die syntaktische Auswertung bieten (vgl. Kapitel 3, bes. 3.2). 2.2 Syntaktische Strukturen im althochdeutschen Tatian Einer der ältesten althochdeutschen Texte, der außerdem sehr lang ist, ist der sogenannte „althochdeutsche Tatian“. Es handelt sich dabei um die althochdeutsche Übersetzung einer lateinischen Evangelienharmonie, 2 genauer um eine ________ 2 In einer Evangelienharmonie wird das Leben Christi nach dem Text aller vier Evangelien zusammengestellt. Man nennt eine Evangelienharmonie deshalb häufig auch „Diatessaron“ <?page no="38"?> Übersetzungstexte 38 „Bilingue“, eine zweisprachige Handschrift: Die linke Spalte enthält den lateinischen Text, die rechte seine althochdeutsche Übersetzung. Das einzige vollständige Manuskript des althochdeutschen Tatian entstand in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts in Fulda. Die folgende Abbildung zeigt einen Ausschnitt aus dieser Handschrift: Ausschnitt aus der althochdeutschen Tatianhandschrift Cod. Sang. 56, 290,12-18 (Quelle: Codices Electronici Sangallenses, www.cesg.unifr.ch) Im Folgenden wird eine „Transliteration“ dieses Abschnittes angeführt, d.h. eine Umsetzung der handschriftlichen Buchstaben in Druckschrift (zur besseren Orientierung wird links eine Zeilenzählung beigegeben). Die zweispaltige Anlage der Handschrift bleibt erhalten, bestimmte Eigenheiten und Abkürzungen werden aber aufgelöst (das betrifft etwa den sogenannten „Nasalstrich“: filiū = filium, aber auch &, das als et wiedergegeben wird; bei & handelt es sich um eine sogenannte „Ligatur“, eine Abkürzung in einer mittelalterlichen Handschrift): 1 2 3 4 5 6 7 haec locutus est ihesus et subleuatis oculis in cælum ad patrem dixit uenit hora clarifica filium tuum ut filius tuus clarificet te sicut dedisti ei potestatem omnis carnis thisu sprah ther heilant Inti uferhabanen ougon in himil zi themo fater quad quam zít giberehto thinan sun thaz thin sun thih giberehto soso thu imo gabi giuualt íogiuuelihes fleisges (vgl. Tatian 290,12-18) ‘Dies sprach Jesus, und nachdem er seine Augen in den Himmel zum Vater erhoben hatte, sagte er: „Die Zeit ist gekommen, verherrliche deinen Sohn, damit dein Sohn dich verherrliche. Wie du ihm die Macht über alles Fleisch gegeben hast […]“’ ________ (wörtl. „durch vier“): Aus den vier Evangelientexten wird ein Text kompiliert. Die für die Überlieferung des Althochdeutschen zentrale Version einer Evangelienharmonie geht auf den im Syrien des 2. Jahrhunderts wirkenden Tatian zurück und bezieht den Namen von ihrem Kompilator. <?page no="39"?> Syntaktische Strukturen im althochdeutschen Tatian 39 In diesem Ausschnitt finden sich sowohl Übernahmen als auch Abweichungen vom lateinischen Text. Beispiele für beides werden im Folgenden genauer besprochen. 2.2.1 Übersetzungssyntax: Übernahme lateinischer Konstruktionen Im althochdeutschen Text entsprechen bestimmte Strukturen dem lateinischen Text exakt. Das gilt beispielsweise für die Zeilen 2 und 3. Im lateinischen Text tritt hier ein sogenannter „Ablativus absolutus“ auf. Beim lateinischen Ablativus absolutus werden ein Partizip und ein Nomen im Ablativ (einem der sechs Kasus des Lateins) als Äquivalent eines Nebensatzes verwendet. In der folgenden Darstellung ist das im Ablativ stehende Partizip einfach unterstrichen, das Nomen doppelt. Darunter steht eine wörtliche deutsche Übersetzung (in der der lateinische Ablativ durch den deutschen Dativ wiedergegeben wird; in Klammern stehen Elemente, die im lateinischen Text nicht durch ein eigenes Wort ausgedrückt werden): & subleuatis oculis In cælum ad patrem dixit (Tatian 290,13-14) und erhobenen Augen in (den) Himmel zu(m) Vater sagte (er) In einer neuhochdeutschen Übersetzung wird statt dieser Partizipialkonstruktion meist ein temporal oder modal geprägter Nebensatz gewählt („Und nachdem er seine Augen in den Himmel zum Vater erhoben hatte, sagte er“). Die althochdeutsche Struktur gibt die lateinische dagegen genau wieder: Dem lateinischen Partizip subleuatis ‘erhoben’ entspricht das althochdeutsche Partizip uferhabenen, dem lateinischen Nomen oculis ‘Augen’ entspricht das althochdeutsche ougon. Dies zeigt die folgende Gegenüberstellung, in der im althochdeutschen Text ebenfalls das Partizip einfach, das Nomen doppelt unterstrichen ist: & subleuatis oculis In cælum ad patrem dixit Inti uf erhabanen ougon In himil zi themo fater quad (Tatian 290,13-14) Der einzige Unterschied zwischen der lateinischen und der althochdeutschen Struktur liegt im verwendeten Kasus: Für den lateinischen Ablativ - einen Kasus, den es im Althochdeutschen nicht gibt - tritt der althochdeutsche Dativ ein. Entsprechend wird die althochdeutsche Struktur gerne als „Dativus absolutus“ oder als „absoluter Dativ“ bezeichnet. Im althochdeutschen Tatian finden sich sehr viele Beispiele für den Dativus absolutus, sie sind aber jeweils immer parallel zu einem lateinischen Ablativus absolutus konstruiert, es bestehen also diesbezüglich keine Unterschiede zum lateinischen Text. Die Tatsache, dass die althochdeutsche der lateinischen Konstruktion genau entspricht, ist für die Interpretation problematisch: Liegt im althochdeutschen Text eine authentische Struktur vor, die sozusagen „zufällig“ mit dem lateinischen Text übereinstimmt, oder handelt es sich um eine dem Althochdeutschen an sich fremde Struktur, die aus dem lateinischen Text übernommen wurde? Es wäre durchaus vorstellbar, dass das Althochdeutsche über absolute Partizipial- <?page no="40"?> Übersetzungstexte 40 konstruktionen verfügte - in vielen früheren Sprachstufen indogermanischer Sprachen ist dies der Fall: So gibt es etwa neben dem lateinischen Ablativus absolutus im Griechischen einen Genitivus absolutus und im Altindischen einen Locativus absolutus. Da der Dativus absolutus im althochdeutschen Tatian nie eigenständig, d.h. ohne lateinische Entsprechung, auftritt, ist der Status dieser Konstruktion schwierig zu beurteilen: Es kann kaum entschieden werden, ob es sich trotz des völlig parallelen Auftretens zum lateinischen Text um eine genuin althochdeutsche Konstruktion handelt oder nicht. Eine Entscheidung dieser Frage wird aber möglich, wenn die Befunde zu anderen althochdeutschen Texten einbezogen werden. Außerhalb von Übersetzungstexten tritt der Dativus absolutus im Althochdeutschen kaum auf. Da außerdem der Dativus absolutus in Übersetzungstexten immer dem lateinischen Ablativus absolutus entspricht, liegt es nahe, dass es sich hier um eine aus dem Latein übernommene Struktur handelt, die sich kaum über althochdeutsche Übersetzungstexte hinaus verbreitet hat (vgl. Fleischer 2006: 42- 44). Sie war im gesprochenen Althochdeutschen wenig üblich, obwohl sie uns in manchen althochdeutschen Übersetzungstexten, unter anderem im Tatian, sehr häufig begegnet. So sprechen also einige Argumente dafür, den althochdeutschen Dativus absolutus nicht als genuin althochdeutsche Struktur, sondern als eine Übernahme aus dem Latein zu sehen. In der Forschungsliteratur findet sich für solche Fälle häufig der Terminus „Übersetzungssyntax“ (vgl. auch 2.3): Damit werden Strukturen aus Übersetzungstexten bezeichnet, bei denen es sehr wahrscheinlich ist, dass sie in der Zielsprache eigentlich nicht vorkommen, sondern Übernahmen einer anderssprachigen Struktur und durch den Übersetzungsprozess bedingte Strukturen darstellen. 2.2.2 Umstellungen und Ergänzungen Neben strukturellen Entsprechnungen bietet der althochdeutsche Tatian aber auch zahlreiche Abweichungen von lateinischen Strukturen. Dazu gehören Umstellungen und Veränderungen der lateinischen Konstruktionen genauso wie Zusätze im althochdeutschen Text, die keine lateinische Entsprechung haben. Ein Beispiel für eine Umstellung aus dem oben angeführten Abschnitt bietet das Possessivpronomen: Im lateinischen Text steht es in den Zeilen 4 und 5 nach dem Nomen, im Althochdeutschen Text dagegen - wie dies auch im Neuhochdeutschen üblich ist - davor. In der folgenden Gegenüberstellung ist das Nomen einfach, das Possessivpronomen doppelt unterstrichen: lat. filium tuum filius tuus ahd. thinan sun thin sun (Tatian 290,15-16) Übs. ‘deinen Sohn’ ‘dein Sohn’ Die Tatsache, dass hier im Althochdeutschen die Reihenfolge verändert wurde, kann dahingehend interpretiert werden, dass die Abfolge Possessivpronomen - Substantiv im Althochdeutschen üblich war, die dem Latein entsprechende Ab- <?page no="41"?> Syntaktische Strukturen im althochdeutschen Tatian 41 folge Substantiv - Possessivpronomen dagegen nicht. Hier ermöglicht uns der althochdeutsche Tatian also eine Aussage zur Syntax des Althochdeutschen. Neben Umstellungen finden sich gegenüber dem lateinischen Text auch Ergänzungen. Dies ist beispielsweise beim Subjektpronomen (vgl. Kapitel 11) der Fall. Während Sätze im modernen Deutschen in der Regel ein Subjektpronomen aufweisen müssen, wenn ansonsten kein Subjekt realisiert ist, werden Subjektpronomen im Latein nur zur besonderen Betonung verwendet. In Zeile 6 des lateinischen Textes finden wir einen Satz, in dem das Subjektpronomen fehlt. Im althochdeutschen Text wird dieses dagegen gesetzt, wie die folgende Gegenüberstellung zeigt (das Fehlen des Subjektpronomens im lateinischen Text wird durch ‘Ø’ verdeutlicht, das Subjektpronomen im althochdeutschen Text wird demgegenüber unterstrichen). Die Hinzufügung gegenüber dem lateinischen Text kann schon durch bloßes Abzählen ersehen werden: Im lateinischen Text stehen vier Wörter, im althochdeutschen dagegen fünf. lat. sicut Ø dedisti ei potestatem ahd. soso thu imo gabi giuualt (Tatian 290,17) Übs. ‘wie du ihm die Gewalt gabst’ Eine weitere häufig anzutreffende Ergänzung betrifft den Artikel. In Zeile 3 wird gegenüber dem lateinischen Text ein Artikel im Dativ (themo = nhd. ‘dem’) hinzugefügt, wie die folgende Gegenüberstellung zeigt (das Fehlen des Artikels im lateinischen Text wird durch ‘Ø’ verdeutlicht, der Artikel im althochdeutschen Text wird unterstrichen): lat. ad Ø patrem ahd. zi themo vater (Tatian 290,14) Übs. ‘zu dem Vater’ Auch in Zeile 1 (haec locutus est ihesus = thisu sprah ther heilant; Tatian 290,12) fällt auf, dass dem lateinischen Ihesus das althochdeutsche ther heiland ‘der Heiland’ entspricht. Im Latein gibt es keine Artikel, im modernen Deutschen sind Artikel dagegen in sehr vielen Kontexten obligatorisch. Die Tatsache, dass in der althochdeutschen Übersetzung gegen das Latein ein Artikel gesetzt wird, kann als Hinweis darauf gedeutet werden, dass der Artikel in althochdeutscher Zeit bereits üblich war und dass er für den Übersetzer offensichtlich eine gewisse Bedeutung hatte. Wenn in einem Übersetzungstext eine bestimmte Struktur gegen das Original auftritt, spricht man davon, dass ein „Differenzbeleg“ vorliegt. Differenzbelege im althochdeutschen Tatian sind wichtig, wenn es darum geht, genuin althochdeutsche Strukturen zu identifizieren. Mit derartigen Umstellungen und Ergänzungen zeigt der althochdeutsche Tatian gegenüber dem lateinischen Text durchaus signifikante Abweichungen. Es handelt sich nicht um einen Text, der die lateinische Syntax nur „sklavisch“ wiedergibt, wie dies die ältere Forschung häufig gesagt hat, sondern es finden sich durchaus auch vom Latein abweichende Konstruktionen (vgl. Fleischer et al. 2008: 213). <?page no="42"?> Übersetzungstexte 42 2.2.3 Zur Erklärung der Übernahmen und Abweichungen Für unsere modernen Lesegewohnheiten erscheint eine Übersetzung, die Strukturen der Ausgangssprache übernimmt, fremdartig. Die ältere Forschung sprach deshalb gerne vom „Unvermögen“ der althochdeutschen Übersetzer, eine den Strukturen des Althochdeutschen adäquate Übersetzung hervorzubringen. Heute ist man diesbezüglich vorsichtiger: Das Beibehalten lateinischer syntaktischer Muster erklärt sich vielleicht auch durch eine gewisse Ehrfurcht vor dem Originaltext. Gerade bei religiösen Texten kann dieser Faktor besonders wichtig sein. Mittelalterliche Bibelübersetzungen hatten eine grundlegend andere Funktion als neuzeitliche: „Mit Hilfe der Volkssprache soll die sprachliche Gestalt des Sakraltextes nachgeformt werden, um diese selbst zu verdeutlichen.“ (Kirchert 1984: 67). Der Kirchenvater Hieronymus, der im späten 4. Jahrhundert die Bibel ins Latein übersetzte, 3 bemerkt, dass es an sich richtig sei, nicht Wort für Wort, sondern dem Sinn nach zu übersetzen, nennt aber als Ausnahme explizit die heiligen Schriften, „wo sogar die Ordnung der Worte ein Mysterium ist“. 4 Aus dieser Aussage wurde in der Spätantike und im Mittelalter abgeleitet, dass „jegliche Veränderung des Bibeltextes zugunsten syntaktischer Regeln den Wert der Übersetzung verringere.“ (Schwarz 1963/ 1986: 14). Für mittelalterliche Bibelübersetzer waren die in der Nachfolge von Hieronymus aufgestellten Regeln weitgehend verbindlich und hatten über die Bibelübersetzung hinaus eine große Wirkung (vgl. Schwarz 1986a: 43). Auch für die althochdeutsche Tatian-Übersetzung, die ja das Leben Jesu nach jeweils einem der vier Evangelien bietet, kann angenommen werden, dass sie „den Heiligen Text bewußt und absichtlich Wort für Wort übertrug, in der Nachfolge des Hl. Hieronymus […]“ (Ganz 1969: 75). Ein Beispiel für eine noch heute verbreitete Übernahme einer lateinischen Wortfolge in einem religiösen Text bietet wahrscheinlich das „Vater unser“ (Mt 6,9; Lk 11,2): Vor allem von der katholischen Konfession geprägte Übersetzungen behalten in diesem für das Christentum zentralen Text die lateinische Wortfolge bei (pater noster = Vater unser). Dagegen zeigen auch viele Übersetzungen die umgekehrte (für das Deutsche übliche) Abfolge unser Vater, so beispielsweise Luthers Bibelübersetzung (Luther, Biblia 1545, 248r [Mt 6,9], 285v [Lk 11,2]). Denkbar ist außerdem auch, dass es gerade die Absicht der Übersetzung ist, die Struktur des lateinischen Originals transparent zu machen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass die althochdeutschen Übersetzungen in der Regel zusammen mit ihrem lateinischen Text überliefert werden und dass für die frühmittelalterliche, durch das Kloster dominierte Kultur der lateinische Originaltext wesentlich wichtiger war als die Übersetzung. Die Übersetzung hatte nur dienende Funktion, sie sollte dem (weniger gebildeten) Benut- ________ 3 Der auf den heiligen Hieronymus (347-420) zurückgehende lateinische Bibeltext wird als „Vulgata“ bezeichnet. Im abendländischen Mittelalter war dies faktisch der verbindliche Bibeltext, obwohl die Bibel im Original nicht lateinisch, sondern hebräisch (und aramäisch; Altes Testament) bzw. griechisch (Neues Testament) verfasst ist (vgl. Kirchert 1984: 63). 4 Im lateinischen Original: „ubi et verborum ordo mysterium est“ (Hieronymus, Liber de optimo genere interpretandi (Epistula 57) 13). <?page no="43"?> Syntaktische Strukturen im althochdeutschen Tatian 43 zer das lateinische Original vermitteln. Auf keinen Fall sollte sie an die Stelle des Originals treten, wie dies bei modernen Übersetzungen (die in der Regel ohne Originaltext dargeboten werden) der Fall ist. Insgesamt zeigt der althochdeutsche Tatian einen ziemlich uneinheitlichen Befund: Einerseits finden sich zahlreiche strukturelle Entsprechungen zum Latein, bei denen es sehr unwahrscheinlich ist, dass sie im gesprochenen Althochdeutschen üblich waren. Andererseits treten auch nicht wenige Abweichungen auf. Es stellt sich darum die Frage, weshalb in manchen Fällen die lateinische Struktur übernommen, in anderen Fällen aber davon abgewichen wurde. Eine generelle Antwort auf diese Frage ist wohl nicht möglich. Zumindest für gewisse Übernahmen kann allerdings die formale Gestaltung der Handschrift einen Erklärungsansatz liefern. Ein zentrales Prinzip der Tatian-Bilingue besteht nämlich darin, dass jeweils in einer Zeile althochdeutscher und lateinischer Text einander genau entsprechen: In jeder lateinischen Textzeile steht exakt so viel Text, wie in der korrespondierenden althochdeutschen Textzeile übersetzt ist; nicht mehr und auch nicht weniger. Bei eventuellem Überschuss haben die Schreiber radiert, um in jedem Fall die Kongruenz zu wahren beziehungsweise herzustellen. (Masser 1997: 128) Das Prinzip der korrespondierenden Zeilen wird durch die obige Abbildung (vgl. 2.2) schön illustriert: Jedes lateinische Wort hat seine althochdeutsche(n) Entsprechung(en) auf der gleichen Zeile. Es ist übrigens forschungsgeschichtlich interessant, dass in der lange Zeit maßgeblichen Edition des althochdeutschen Tatian von Eduard Sievers (1875, 2 1892) dieses Prinzip nicht wiedergegeben und infolgedessen von der späteren Forschung nicht beachtetet wurde. Deswegen sind deren Ergebnisse in manchen Fällen kritisch zu hinterfragen. Erst in der 1994 erschienenen Edition von Achim Masser wird das Prinzip der korrespondierenden Zeilen der Handschrift entsprechend wiedergegeben. 5 Zwar finden sich in der Tatian-Handschrift einige Abweichungen von diesem Prinzip (vgl. Fleischer et al. 2008: 220, Fußnote 5), doch insgesamt wird es über mehrere hundert Seiten hinweg sehr konsequent befolgt. Es versteht sich von selbst, dass der althochdeutschen Übersetzung durch das Prinzip der korrespondierenden Zeilen gewisse Grenzen auferlegt werden: Masser (1997: 136) erklärt beispielsweise das Auftreten des Dativus absolutus im althochdeutschen Tatian damit, dass eine Auflösung dieser Partizipialkonstruktion „in einen naturgemäß wortreicheren deutschen Nebensatz“ eine exakte Zeilenentsprechung verunmöglicht hätte. Umgekehrt ist die Umstellung von Substantiv und Possessivpronomen in Bezug auf die Anzahl der Wörter neutral, und „Kleinwörter“ wie Subjektpronomen und Artikel, die aus nur wenigen Buchstaben bestehen, nehmen kaum Platz in Anspruch. In solchen Fällen ist eine Abweichung vom Latein gut möglich, und sie wurde auch wahrgenommen. ________ 5 In dieser Einführung wird bei Tatian-Beispielen darum immer dann, wenn die lineare Abfolge für das behandelte Phänomen von Wichtigkeit ist, der Zeilenbruch durch ‘|’ bezeichnet. <?page no="44"?> Übersetzungstexte 44 Anhand des althochdeutschen Tatian wird deutlich, dass auch so syntaxferne Faktoren wie etwa die Einrichtung einer Handschrift, d.h. in diesem Fall das Prinzip der korrespondierenden lateinischen und althochdeutschen Zeilen, die syntaktischen Strukturen eines althochdeutschen Textes beeinflussen können. Die historische Syntaxforschung muss, will sie ihren Quellen gerecht werden, derartige philologische Gegebenheiten in ihren Analysen berücksichtigen. 2.2.4 Zur Methodologie der Tatian-Syntax Für die Methodologie der Tatian-Syntax stellt die Tatsache, dass der lateinische Text in vielen Fällen übernommen, aber ebenso davon abgewichen wurde, eine Schwierigkeit dar: Welche Strukturen dürfen als „genuin althochdeutsch“ betrachtet werden, bei welchen handelt es sich dagegen um Übernahmen? Dieses Problem kann zu einem Teil durch das „Prinzip der Differenzbelege“ entschärft werden. Bereits im 19. Jahrhundert formuliert, wird es von Dittmer/ Dittmer (1998) in der jüngsten monographischen Untersuchung zur Wortstellung des althochdeutschen Tatian folgendermaßen zusammengefasst: Beweiskräftig für genuin althochdeutsche Wortstellung sind in erster Linie nur die von der Vorlage abweichenden Belege. (Dittmer / Dittmer 1998: 36) Es dürfen also nur Abweichungen vom lateinischen Text als Datengrundlage verwendet werden. Dieses Verfahren ist bei der syntaktischen Auswertung des althochdeutschen Tatian zu beachten. Auch bei anderen Übersetzungstexten (sowohl des Althochdeutschen als auch späterer Sprachstufen) kann dieses Prinzip bei der Beurteilung ihrer Syntax hilfreich sein. Wenn nur Differenzbelege betrachtet werden, ist die Chance, dass man genuin althochdeutsche Strukturen beschreibt, ziemlich groß. Man kann sogar vermuten, dass es dem Urheber des Textes, der ja nicht selten parallel zum Latein übersetzt, gerade in diesen Fällen besonders wichtig war, vom lateinischen Text abzuweichen, eben weil das Althochdeutsche in dieser Hinsicht vom Lateinischen verschieden ist. So gesehen bietet der althochdeutsche Tatian gegenüber anderen Texten sogar einen gewissen Vorteil. Donhauser (1998b: 286) formuliert dies dahingehend, dass der „lateinische Filter“ des althochdeutschen Tatian „nicht per se ein Hindernis für die Strukturerkennung des Althochdeutschen“ darstellt; vielmehr leistet er „unter Umständen sogar eine besondere Art der Hilfestellung, die es erleichtert, zentrale Strukturregeln des Althochdeutschen zu identifizieren, sofern sie nicht mit dem Lateinischen identisch sind.“ Obwohl also der althochdeutsche Tatian in vielerlei Hinsicht unzweifelhaft vom Latein geprägt ist, kann er in syntaktischer Hinsicht dennoch ausgewertet werden. Jedoch muss man bei der Analyse umsichtig vorgehen und die philologischen Gegebenheiten beachten. Dies gilt generell für Übersetzungstexte: Mit der gebührenden Vorsicht interpretiert können sie durchaus valide syntaktische Ergebnisse erbringen. Gegebenenfalls ist aber einem nicht übersetzten äquivalenten Text, wenn vorhanden, Vorrang einzuräumen. Im Althochdeutschen ist die Überlieferungssituation allerdings so, dass man nicht auf Übersetzungen ver- <?page no="45"?> Übersetzungssyntax in späterer Zeit 45 zichten kann: Zwar gibt es auch „freie“, d.h. vom Latein unabhängige althochdeutsche Texte, doch sind diese in der Regel nur sehr kurz, oder aber es handelt sich um poetische Texte (vgl. Kapitel 3, bes. 3.2). 2.3 Übersetzungssyntax in späterer Zeit Übersetzungssyntax liegt vor, wenn eine aus einer anderen Sprache stammende syntaktische Struktur im Rahmen eines Übersetzungsvorgangs in einen Übersetzungstext übernommen wird. Das methodologische Problem der Übersetzungssyntax stellt sich für das Althochdeutsche aufgrund der Überlieferungssituation und, bei deutscher Erstverschriftlichung, wegen der möglichen Nähe zum lateinischen Original besonders stark. Doch auch in späterer Zeit finden sich syntaktische Strukturen, bei denen eine Übernahme aus einer anderen Sprache wahrscheinlich ist. Charakteristisch ist für derartige Strukturen, dass sie im Prinzip nur in Übersetzungen auftreten. Es kann aber vorkommen, dass sich eine ursprünglich fremdsprachige Struktur auch in anderen Textsorten etabliert, die nicht direkt Übersetzungen darstellen. Wenn eine aus einer anderen Sprache übernommene syntaktische Struktur nicht mehr auf Übersetzungstexte beschränkt ist, sondern eine weitere Verbreitung aufweist, liegt ein Übergang von „Übersetzungssyntax“ zu „Lehnsyntax“ vor. Bei „Lehnsyntax“ handelt sich um syntaktische Strukturen, die aus einer anderen Sprache entlehnt worden sind, sich aber in der aufnehmenden Sprache weiter verbreitet haben. Lehnsyntaktische Konstruktionen entstehen typischerweise eher auf der Ebene der gesprochenen Sprache, durch direkten Sprachkontakt (vgl. Kapitel 15). Die Grenze zwischen Lehn- und Übersetzungssyntax ist bei nur schriftlich überlieferten Sprachstufen nur schwer zu ziehen. Bisweilen sind bestimmte Konstruktionen, die in Übersetzungstexten auftreten, in der Zielsprache eigentlich völlig ausgeschlossen (ein solcher Fall scheint der „absolute Dativ“ des Althochdeutschen zu sein; vgl. 2.2.1). Es kann aber auch vorkommen, dass in der Sprache vielleicht bereits bestehende strukturelle Anlagen nur verstärkt werden. Häufig wird zwischen „heterogenen“ und „homogenen Entlehnungen“ unterschieden: Bei heterogenen Entlehnungen werden „fremdartige syntaktische Gebilde“ übernommen, bei homogenen Entlehnungen werden dagegen nur durch fremdsprachigen Einfluss „neue Varianten einer der heimischen Sprache zumindest ansatzweise und in verwandter Form bekannten Konstruktion geschaffen“ (Lippert 1974: 31). Im Folgenden wird mit dem sogenannten „AcI“ ein Phänomen der Übersetzungssyntax diskutiert, das sich unter anderem in frühneuhochdeutschen und neuhochdeutschen Zeugnissen findet und das sich etwas besser in das grammatische System des Deutschen integriert als der althochdeutsche Dativus absolutus. Ein Beispiel, bei dem ein Übergang von Übersetzungssyntax zu Lehnsyntax vorzuliegen scheint, das erweiterte Partizipialattribut, wird dagegen im Kapitel zum Sprachkontakt behandelt (vgl. 15.4.1). Bereits bei der Diskussion der althochdeutschen Benediktinerregel (vgl. 2.1) wurde kurz der „Accusativus cum infinitivo“ (AcI) gestreift. Darunter versteht man eine Konstruktion, bei der ein Akkusativ und ein Infinitiv von einem flek- <?page no="46"?> Übersetzungstexte 46 tierten Verb abhängig sind, wobei der Akkusativ die Rolle des Subjekts der durch den Infinitiv ausgedrückten Verbalhandlung einnimmt. Im folgenden lateinischen Beispiel wird der Infinitiv einfach, der Subjektsakkusativ doppelt unterstrichen: scio te laborare weiß dich arbeiten ‘ich weiß dich arbeiten’ = ‘ich weiß, dass du arbeitest’ Der lateinische AcI wird in einer modernen deutschen Übersetzung in der Regel durch einen dass-Satz wiedergegeben. Auch im Neuhochdeutschen treten, allerdings sehr beschränkt, AcI-Konstruktionen auf, nämlich bei Verben der sinnlichen Wahrnehmung (vor allem sehen und hören) sowie bei einigen kausativen Verben wie etwa heißen, lassen oder machen: ich höre dich singen ich heiße dich kommen In älteren Texten des Deutschen kann man dagegen Beispiele für den AcI finden, die auch bei anderen Verben auftreten, allerdings ist dies charakteristischerweise vor allem in Übersetzungstexten der Fall. Entsprechende Belege finden sich etwa im althochdeutschen Tatian (vgl. Dentschewa 1987) oder beim spätalthochdeutschen Notker (vgl. Speyer 2001: 158-162), aber auch in frühneuhochdeutschen Übersetzungstexten. Das folgende Beispiel stammt von Niklas von Wyle (ca. 1410 bis ca. 1479): Jch mag nimmer gelouben Helenam hüpscher gewesen sin (zit. n. Henkel 2004: 3176) ich mag nie glauben Helena hübscher gewesen sein ‘Ich würde nicht einmal glauben, dass Helena schöner gewesen ist’ lat.: Non Helenam pulchriorem fuisse crediderim In diesem Satz liegt eine direkte Entsprechung zum lateinischen Text vor, der ebenfalls einen AcI enthält (Helenam pulchriorem fuisse = Helenam hüpscher gewesen sin). Dies spricht dafür, in dieser Konstruktion ein Beispiel für Übersetzungssyntax zu sehen. Bestätigt wird dieser Befund durch Vergleiche von Übersetzungstexten mit autochthonen Texten: Während der AcI beispielsweise in althochdeutschen Übersetzungstexten sehr weit verbreitet ist, kommt er in einem autochthonen althochdeutschen Text, Otfrids Evangelienbuch (vgl. 3.2), nur sehr selten vor, nämlich insgesamt 13 mal, wobei aber zwölf der Belege auf Verben der sinnlichen Wahrnehmung entfallen (vgl. Speyer 2001: 164). Ähnliches kann auch bei einem Vergleich frühneuhochdeutscher Texte festgestellt werden: Während etwa in einem Ausschnitt eines Übersetzungstexts von Niklas von Wyle insgesamt 30 Belege für den AcI auftreten, von denen nur acht auf Verben der sinnlichen Wahrnehmung entfallen (27 %), finden sich in einem etwa gleich <?page no="47"?> Literaturhinweise 47 großen Abschnitt eines autochthonen Textes Ulrichs von Hutten 18 Belege, von denen aber 13 auf Verben der Wahrnehmung entfallen (73 %; vgl. Speyer 2001: 175). Die für das Deutsche offenbar unauthentische Verwendung außerhalb der Verben der Wahrnehmung und der kausativen Verben ist bei Otfrid und Hutten also wesentlich seltener als in vergleichbaren Übersetzungstexten. Allerdings finden sich auch Beispiele deutscher AcI-Konstruktionen in Texten, bei denen keine direkte Abhängigkeit von einer lateinischen Vorlage besteht. Die folgenden Beispiele stammen vom Barockdichter Martin Opitz (1597-1639) und aus Grimmelshausens Simplicius Simplicissimus (erstmals erschienen 1668/ 69): daß man die Poeten eine heimliche zusammenkunfft vnd verbüntnuß mit den Göttern zuhaben geargwohnet (Opitz, Teutsche Poemata 6) wie mich der offtgemeldte Obriste beschaffen zu seyn beschrieben (Grimmelshausen, Simplicissimus 534) Obwohl sich der AcI in schriftlichen Texten des Deutschen bis ins 18. Jahrhundert auch bei Verben, für die er im Deutschen an sich atypisch ist, belegen lässt, heißt das nicht, dass er Eingang in die deutsche Syntax gefunden hätte. Derartige Beispiele finden sich nämlich fast ausschließlich in literarischen und stilistisch sorgfältig durchgearbeiteten Texten. Die Konstruktion hat sich beispielsweise nicht in die gesprochene Sprache verbreitet. Dass der AcI in bestimmten Texten auftritt, führt Henkel (2004: 3176) darauf zurück, dass Autoren wie Opitz auch lateinische Texte verfassten und die Verwendung des AcI „auf ein Lesepublikum ausgerichtet ist, dessen sprachliche Ausbildung maßgeblich vom Muster des Lat. geprägt ist und das sprachlich-stilistische Interferenzen wie den AcI kennt und schätzt.“ Trotz seines Auftretens in deutschen Texten scheint der AcI (von den oben genannten Ausnahmen der Verben der sinnlichen Wahrnehmung und der kausativen Verben abgesehen) nach wie vor an sein lateinisches Vorbild gebunden und ist somit weniger ein Phänomen der deutschen Grammatik als vielmehr „ein Phänomen der lat. beeinflussten Stilistik“ (Henkel 2004: 3176). Bereits Notker (†1022) konstruiert in spätalthochdeutscher Zeit den AcI ohne direkte lateinische Vorlage (vgl. Speyer 2001: 162). Das Beispiel AcI zeigt also, dass „Übersetzungssyntax“ sich auch in Texten finden kann, die zwar keine Übersetzungen darstellen, bei denen aber sozusagen im Hintergrund mit einem fremdsprachigen Vorbild zu rechnen ist. Charakteristisch für solche Konstruktionen bleibt die Tatsache, dass sie eine sehr restringierte Verbreitung - zum Beispiel eine Beschränkung auf gewisse Textsorten - aufweisen. Literaturhinweise Bis jetzt existiert keine einführende Überblicksdarstellung zu methodologischen Problemen der Syntax älterer deutscher Übersetzungstexte. Die im Folgenden genannten Arbeiten gehören der Forschungsliteratur an und verlangen gewisse <?page no="48"?> Übersetzungstexte 48 Vorkenntnisse. Für althochdeutsche Übersetzungstexte zentral ist die Monographie von Lippert (1974), die allerdings in Bezug auf den althochdeutschen Tatian das Prinzip der korrespondierenden Zeilen nicht berücksichtigt. Besonderheiten der Syntax des althochdeutschen Tatian, die mit der Einrichtung der Handschrift zusammenhängen, werden von Masser (1997) behandelt. Die bis jetzt umfangreichste Untersuchung zur Tatian-Syntax, in der auch methodologische Überlegungen angestellt werden, ist die Monographie von Dittmer/ Dittmer (1998). Einige Überlegungen zur Tatian-Syntax finden sich sodann bei Fleischer (2006: 31- 33) und bei Fleischer et al. (2008). Zu jüngeren syntaktischen Einflüssen aus dem Latein bietet der Handbuch-Artikel von Henkel (2004: 3175-3176) konzentrierte Informationen. Der deutsche AcI wird von Speyer (2001) ausführlich behandelt. <?page no="49"?> 3 Poetische Texte Die Strukturierung poetischer Texte durch Reim und Metrum stellt die syntaktische Forschung vor besondere Probleme. Im Folgenden werden mögliche Vor- und Nachteile poetischer Texte für die syntaktische Forschung behandelt (3.1). Einige konkrete Schwierigkeiten bei der syntaktischen Analyse lassen sich anhand eines wichtigen poetischen Textes des Althochdeutschen, Otfrids Evangelienbuch, illustrieren (3.2). Da manche Strukturen im Deutschen nur oder vor allem in poetischen Texten auftreten, ist ihr grammatischer Status fraglich (vgl. 3.3). Wie stark sich Prosa und Poesie in syntaktischer Hinsicht unterscheiden können, zeigt die Stellung des Genitivattributs im Mittelhochdeutschen (3.4). 3.1 Vor- und Nachteile poetischer Texte Aus unserer alltäglichen Erfahrung wissen wir, dass in poetischen Texten Strukturen auftreten können, die ansonsten ungewöhnlich sind. Die bekannte Redensart Reim dich oder ich fress dich zeigt, dass in vielen poetischen Textsorten der Reim hohe Priorität besitzt. In dem Wilhelm Busch zugeschriebenen Spruch Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr wird beispielsweise eine falsche Kasusform gewählt, um einen Reim zu erzielen - hier natürlich auch um des komischen Effektes willen. Derartige Regelverstöße werden häufig als „dichterische Freiheiten“ oder „poetische Lizenzen“ bezeichnet. Wenn man Texte des Neuhochdeutschen, beispielsweise des 19. Jahrhunderts, in Bezug auf syntaktische Fragestellungen untersuchen möchte, würde man deshalb auf jeden Fall Prosatexte wählen (und womöglich nicht unbedingt solche mit literarischen Ambitionen). Auf keinen Fall würde die Wahl auf poetische Texte fallen, wie aus der Formulierung des folgenden Prinzips für die historische Syntaxforschung hervorgeht: Womöglich soll man von Prosatexten ausgehen, in denen der normale Gebrauch nicht von den Bedürfnissen von Reim und Rhythmus beeinflusst wird. (Ebert 1978: 6) Allerdings ist dieses Prinzip nicht ganz unbestritten. Zunächst einmal stellt die Verfügbarkeit von Quellen ein gravierendes Problem dar (vgl. Betten 1987: 4). Manche eher philologisch orientierte Autoren weisen sogar darauf hin, dass auch in der Poesie prinzipiell die grundlegenden Regeln der Syntax zum Tragen kommen: Admoni spricht davon, dass gerade in poetischen Texten „oft die tieferen, ‚schlummernden’ Potenzen des Satzbaus realisiert werden - eben dank der künstlerischen Natur der dichterischen Werke […]“(Admoni 1990: 11). Jedoch ist unklar, in welchem Verhältnis ausschließlich in poetischer Sprache anzutreffende Strukturen zur „wirklichen“, gesprochenen Sprache stehen. Allgemein geht man <?page no="50"?> Poetische Texte 50 davon aus, dass Prosatexte zumindest näher an der gesprochenen Sprache sind als poetische Texte. Daneben wird aber auf einen möglichen Vorteil poetischer Texte hingewiesen: Archaische Konstruktionen können unter Umständen noch benutzt werden, wenn sie in anderen Textsorten bereits verschwunden sind: Poetische Texte haben insofern ihren Wert, als in ihnen oft altertümliche Formen und Konstruktionen erhalten sind. (Ebert 1978: 6-7) Tatsächlich können gewisse syntaktische Strukturen, die nur in poetischen Texten auftreten, als (durchaus bewusst eingesetzte) Archaismen gedeutet werden. Abgesehen von den umstrittenen Vorteilen poetischer Texte spricht für die älteren Sprachstufen ein praktisches Kriterium gegen ihren Ausschluss aus syntaktischen Untersuchungen: Häufig sind nicht genug Prosatexte überliefert, als dass man auf poetische Texte verzichten könnte. Beispielsweise für das Althochdeutsche des 8./ 9. Jahrhunderts finden sich an großen Texten nur entweder Prosatexte, die jedoch Übersetzungen aus dem Latein und insofern problematisch sind (vgl. 2.2), oder aber poetische Texte. Deren Probleme sollen in den folgenden Abschnitten an konkreten Beispielen illustriert werden. 3.2 Syntaktische Strukturen in Otfrids Evangelienbuch In Bezug auf vergangene Sprachperioden können wir keine muttersprachlichen Sprecher befragen und wir selbst werden, auch wenn wir uns sehr eingehend mit älteren deutschen Texten beschäftigen, niemals über muttersprachliche Intuitionen verfügen. Daher ist es nicht einfach festzustellen, ob es sich bei einer bestimmten Konstruktion eines poetischen Textes um einen Verstoß gegen an sich geltende grammatische Regeln oder bloß um eine seltene und ungewöhnliche, aber eben nicht ungrammatische Konstruktion handelt. Dies kann am Beispiel Otfrids von Weißenburg auch in forschungsgeschichtlicher Hinsicht illustriert werden. Von Otfrid von Weißenburg besitzen wir einen sehr langen Text, das sogenannte „Evangelienbuch“. Es entstand zwischen 863 und 871; bei seinem Autor, dem Mönch Otfrid aus dem Kloster Weißenburg (Wissembourg, Elsass), handelt es sich um den ersten mit Namen bekannten deutschen Dichter. Im Evangelienbuch wird das Leben Christi in Versen nacherzählt, und zwar in jeweils durch Endreim verbundenen Verspaaren. Sprachlich bietet das Evangelienbuch gewisse Formen und Konstruktionen, deren grammatischer Status fraglich ist: Sie finden sich nicht in anderen althochdeutschen Texten und im Evangelienbuch selbst häufig in Positionen, die die Vermutung nahe legen, dass sie gewählt wurden, um einen Reim zu ermöglichen und/ oder das Metrum zu erfüllen. Die Debatte, wie derartige Strukturen zu interpretieren sind, wurde vermutlich bei keinem mittelalterlichen deutschsprachigen Text so intensiv geführt wie bei Otfrids Evangelienbuch. Grundsätzlich wurden zwei verschiedene Erklärungsmuster angeführt: <?page no="51"?> Syntaktische Strukturen in Otfrids Evangelienbuch 51 Auf zweifache Weise ist bislang versucht worden, das Phänomen der sprachlichen Verstöße bei Otfrid zu erklären. Die einen […] wollten nicht wahrhaben, daß der von ihnen verehrte Dichter so viele Fehler gemacht habe, und sie bemühten sich deshalb darum, Otfrids sprachliche Verstöße als richtige, wenn auch seltene Wortformen zu erweisen; die anderen […] vertraten dagegen die Meinung, daß Otfrid aus Reimzwang notgedrungen F e h l e r habe machen müssen. (Nemitz 1962: 363) Da es sich bei Otfrid um den ersten namentlich bekannten deutschen Dichter handelt, dessen Werk man einen hohen literarischen Rang zubilligt, haben viele Forscher fragliche Formen und Konstruktionen als seltene, aber letztlich doch grammatische Formen und Konstruktionen, und nicht als dichterische Lizenzen, zu erklären versucht. Viele dieser Erklärungen sind der Absicht geschuldet, einem „Meister der Sprache“, als der Otfrid in literarischer Hinsicht gilt, keine „falschen“ Formen anzulasten, wobei übersehen wurde, dass die linguistische und die literaturwissenschaftliche Bewertung eines Textes voneinander völlig unabhängig sind. Auch ein „falscher“ oder „ungrammatischer“ Satz kann einem Text von hohem literarischem Wert angehören, man denke nur an Goethes Faust, in dem sich etwa ein Hauptsatz findet, in dem das flektierte Verb an letzter statt an zweiter Stelle auftritt: Der Herr dich für ein Fräulein hält (Goethe, Werke 7/ 1, 124 [Faust I, Vers 2906]). Grundsätzlich ist die Behauptung, dass eine „ungewöhnliche“ Form oder Konstruktion selten, aber grundsätzlich grammatisch ist, schwer zu widerlegen. Allenfalls kann - durch Vergleiche innerhalb eines Textes oder zwischen mehreren Texten - die Grammatikalität oder Ungrammatikalität einer bestimmten Form oder Konstruktion wahrscheinlicher oder weniger wahrscheinlich gemacht werden. Findet sich beispielsweise eine bestimmte Form oder Konstruktion innerhalb eines poetischen Textes nur in der Reimposition, ansonsten aber nicht, liegt es nahe, Einfluss des Reimes anzunehmen. Findet sich eine bestimmte Form oder Konstruktion nur oder überwiegend in poetischen Texten (oder gar nur in einem einzigen Sprachdenkmal), aber nicht in Prosatexten, liegt eine Erklärung durch die Gegebenheiten der gebundenen Sprache ebenfalls nahe. In Bezug auf Otfrid kann festgehalten werden, dass im Evangelienbuch „grammatische Verstöße“ auftreten, die durch Reim und/ oder Metrum bedingt sind und die mit dem Begriff der modernen Syntaxforschung nur als „ungrammatisch“, d.h. falsch, bezeichnet werden können. Damit ist allerdings nicht gesagt, dass sämtliche ungewöhnlichen Formen und Konstruktionen Otfrids ungrammatisch sind. Entsprechende „grammatische Verstöße“ Otfrids wurden bereits von Ingenbleek (1880) gesammelt und von Nemitz (1962) in den Kontext der spätantiken und frühmittelalterlichen lateinischen Dichtung gestellt. Für Otfrids poetischen Lizenzen finden sich in der lateinischen Dichtung direkte Vorbilder, nicht aber in der deutschen. In den folgenden Abschnitten wird zunächst der Einfluss des Reims behandelt, danach der Einfluss des Metrums. Im erstgenannten Fall geht es um eine Struktur, die im Althochdeutschen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ungrammatisch war, im zweiten Fall liegt dagegen eine Konstruktion vor, die im Althochdeutschen an sich nicht unbedingt <?page no="52"?> Poetische Texte 52 ungrammatisch gewesen sein muss, bei der aber das Metrum bei Otfrid der Grund dafür sein kann, dass sie in unüblichen Kontexten auftritt. 3.2.1 Einfluss des Reims Eine besonders auffällige Konstruktion Otfrids, die nur als ungrammatisch bezeichnet werden kann und die durch den Reim verursacht ist, ist in den folgenden Versen verwendet. Es geht darin um ein biblisches Paar, nämlich Zacharias und Elisabeth, die im Folgenden interessierenden Formen sind durch Unterstreichung hervorgehoben. Vuárun siu béthịu · góte filu drúdịu · / ioh íogiuuar sínaz · gibot fúllentaz / waren sie beide Gott sehr treu und jeder sein Gebot erfüllend Vuízzod sínan · ío uuírkendan · (Otfrid I 4, 5-7) sein Gesetz immer ausführend ‘Sie beide (Zacharias und Elisabeth) waren Gott sehr treu und jeder sein Gebot erfüllend, sein Gesetz ausführend.’ In diesem Ausschnitt weist das prädikative Adjektiv drúdiu ‘treu’ im ersten Vers die Flexionsform des Nom./ Akk. Pl. n. auf (wörtlich bedeutet der Vers: ‘waren sie beide Gott sehr treu’). Das prädikative Adjektiv kongruiert mit dem Subjekt siu béthiu (im Althochdeutschen wie überhaupt in den altgermanischen Sprachen konnte sich eine Form des Neutrum Plural auf eine aus Männern und Frauen bestehende Gruppe, besonders häufig auf ein Paar, beziehen; vgl. Askedal 1973). Diese Form war vermutlich auch im gesprochenen Althochdeutschen durchaus verbreitet und grammatisch (zum prädikativen Adjektiv im Althochdeutschen vgl. Fleischer 2007). Beim Partizip im zweiten Vers tritt dagegen, obwohl noch immer das gleiche Subjekt wirkt, die Form des Nom./ Akk. Sg. n. auf, die Endung des Partizips fúllentaz „kongruiert“ bzw. reimt mit dem Possessivpronomen sínaz des Objektes (wörtlich bedeutet dieser Vers: „[sie waren] auch jeder sein Gebot erfüllend-es“). Das gilt auch im dritten Vers, hier reimt der Akk. Sg. m. uuírkendan mit dem Possessivpronomen sínan (wörtlich: „[sie waren] sein Gesetz (m.) stetig ausführend-en“). Im ersten Vers kongruiert das Adjektiv also mit dem Subjekt, im zweiten und dritten Vers „kongruieren“ hingegen die Partizipien mit dem Objekt. Bei dieser „Konstruktion“ spricht vieles dafür, dass Otfrid zugunsten des Reims bewusst gegen die Regeln des Althochdeutschen verstieß. Eine mit dem Objekt statt mit dem Subjekt kongruierende Form des Prädikativums wäre jedenfalls im Deutschen (und generell in den germanischen Sprachen) völlig unerwartet und ist ansonsten - über Otfrid hinaus - auch nicht belegt. Hier handelt es sich um eine „Phantomstruktur“, die an sich keinen Status in der Grammatik des Althochdeutschen beanspruchen darf, und das Auftreten dieser ungrammatischen Konstruktion ist ausschließlich durch den Reim bedingt (vgl. Ingenbleek 1880: 33- 34, Nemitz 1962: 421, Fleischer 2006: 36-37). <?page no="53"?> Syntaktische Strukturen in Otfrids Evangelienbuch 53 3.2.2 Einfluss des Metrums Auch das Metrum kann sich bei Otfrid auf syntaktische Strukturen auswirken. Im folgenden Beispiel geht es um eine Struktur, die vermutlich nicht generell ungrammatisch ist, bei der es aber sein könnte, dass sie in einer Distribution auftritt, die an sich nicht üblich ist. Für das Althochdeutsche ist umstritten, ob das Subjektpronomen ähnlich wie im Neuhochdeutschen obligatorisch gesetzt werden musste oder nicht (vgl. Kapitel 11). Bei Otfrid findet sich das Subjektpronomen jedenfalls schon sehr häufig; deshalb stellt sich die Frage, ob in den Fällen, in denen es nicht gesetzt wird, die Gegebenheiten des Metrums für sein Fehlen verantwortlich gemacht werden können. Im zweiten der nachstehenden Verse wird das Subjektpronomen nicht gesetzt (die Stelle, an der es stehen könnte, wird durch ‘Ø’ bezeichnet): E ŕ dun inti himiles · inti alles flíazentes / Erde und Himmels und alles Fließenden féhes inti mánnes · drúhtin bist Ø es álles (Otfrid V 24, 5-6) Tieres und Menschen Herr bist dessen alles ‘der Erde und des Himmels und alles Fließenden, des Tiers und des Menschen, dessen alles bist du der Herr’ Nach Eggenberger (1961: 41) fehlt das Subjektpronomen im zweiten Vers, weil es eine zusätzliche Senkung mit sich brächte und damit das Metrum gestört würde. In der vorliegenden Form findet sich im zweiten Vers das folgende Metrum, in dem jeweils eine Hebung und eine Senkung alternieren: | ~ | | ~ | | ~ / | ~ | | ~ | | ~ Würde nach dem flektierten Verb das Subjektpronomen du hinzugefügt, entstünde stattdessen folgende Abfolge: | ~ | | ~ | | ~ / | ~ | | ~ ~ | | ~ Die Nichtsetzung des Subjektpronomens an dieser Stelle dient nach Eggenberger (1961: 42) der „Erzielung eines flüssig alternierenden Verses“. Das gesetzte oder nicht gesetzte Subjektpronomen bei Otfrid kann Eggenberger (1961: 47) zufolge generell „mit den metrischen Erfordernissen der Dichtung“ in Zusammenhang gebracht werden. Gesagt ist damit nicht, dass das fehlende Subjektpronomen im Althochdeutschen an sich ungrammatisch ist. Allerdings können metrische Erfordernisse einen Einfluss auf die Wahl einer bestimmten Konstruktion haben. Im Althochdeutschen spielen einerseits der Satztyp, andererseits die Person eine Rolle bei der Frage, ob das Subjektpronomen gesetzt wird oder nicht (das Subjektpronomen wird in Nebensätzen eher gesetzt als in Hauptsätzen; und es wird bei der 1. und 2. Person eher gesetzt als bei der 3. Person; vgl. 11.2). Diese Faktoren spielen beim angeführten Beispiel aber keine Rolle. Es könnte also sein, dass die bei Otfrid zu beobachtende Distribution des Subjektpronomens eventuell <?page no="54"?> Poetische Texte 54 nicht oder nicht ausschließlich durch grammatische Faktoren zu erklären sind. „Falsch“ ist in einem solchen Fall nicht unbedingt die Konstruktion an sich, sondern ihre Distribution. 3.3 Ungewöhnliche „poetische“ Konstruktionen: spätere Zeit Otfrids Evangelienbuch ist das älteste und vielleicht am meisten diskutierte Beispiel eines poetischen Textes, der Strukturen aufweist, die ansonsten nicht oder in anderer Distribution vorkommen. Für die Prosa und damit vermutlich auch für die gesprochene Sprache ungewöhnliche Formen und Strukturen in poetischen Texten finden sich aber während der gesamten Sprachgeschichte des Deutschen. Im Folgenden werden einige solcher Konstruktionen anhand jüngerer Beispiele ausführlicher besprochen. Dabei handelt es sich um Strukturen, die teilweise als ungrammatisch anzusprechen sind, teilweise auch nur als ungewöhnlich. In jedem Fall aber handelt es sich um Strukturen, die man in Prosatexten nicht oder kaum findet. 3.3.1 Verbendstellung im Hauptsatz Im neuhochdeutschen Hauptsatz tritt das flektierte Verb, wie bereits im Alt- und Mittelhochdeutschen, in der Regel nicht am Ende eines (aus mehr als zwei Konstituenten bestehenden) Hauptsatzes auf (*Er ein gutes Buch liest.). Allerdings findet sich genau diese Konstruktion in poetischen Texten, und zwar im Mittelhochdeutschen ebenso wie im Neuhochdeutschen. Das nachstehende Beispiel stammt aus Parzival (Anfang 13. Jahrhundert), der auf den fraglichen Satz folgende Vers wird ebenfalls angeführt. Deutlich wird so, dass das flektierte Verb in Endstellung mit dem letzten Wort des folgenden Verses kongruiert: Dar nâch er eine zuht begienc: / si wurden ledic, die er dâ vienc (Parzival 2981- 2982 = 100,19-20) danach er eine Zucht beging sie wurden frei die er da fieng ‘Danach beging er eine gute Tat; diejenigen, die er gefangen hatte, wurden frei’ Das folgende analoge Beispiel stammt aus einem Gedicht Goethes (1749-1832); ein vergleichbarer Beleg aus Faust wurde bereits oben diskutiert (vgl. 3.2). Auch hier ist das Reimwort des anschließenden Verses zu beachten: Ein Veilchen auf der Wiese stand, / Gebückt in sich und unbekannt (Goethe, Werke 1, 660) In den bisher angeführten Beispielen kann die ungewöhnliche Stellung des Verbs jeweils durch den Reim erklärt werden (bei Parzival reimt begienc auf fienc, bei Goethe stand auf unbekannt). Dies ist aber nicht immer der Fall. Im folgenden Bei- <?page no="55"?> Ungewöhnliche „poetische“ Konstruktionen: spätere Zeit 55 spiel aus einem Gedicht Heinrich Heines (1797-1856) findet sich im dritten Vers zwar Verbendstellung, doch ist hier gar kein Reim realisiert (im gesamten Gedicht reimen sich jeweils nur der 2. und der 4. Vers): Am Tage schwankte ich träumend / Durch alle Straßen herum; / Die Leute verwundert mich ansah’n, / Ich war so traurig und stumm. (Heine, Werke 1/ 1, 169 [Buch der Lieder, Lyrisches Intermezzo XXXVIII, V. 5-8]) Die Verbletzt-Stellung in Deklarativsätzen kann sich in poetischer Sprache auch ohne unmittelbaren „Nutzen“ (z.B. zur Erzielung eines Reimes) finden - sie ist insgesamt ein Merkmal poetischer Sprache, unabhängig davon, ob sie an einer bestimmten Stelle für einen bestimmten Zweck, etwa zur Erzielung eines Reims, eingesetzt wird. Wie sind diese Beispiele für die Verbletztstellung in deklarativen Hauptsätzen zu interpretieren? In neuhochdeutscher gesprochener Sprache wäre es ungrammatisch, *ein Veilchen auf einer Wiese stand zu sagen, und wir können vermuten (aber nicht sicher sein), dass dies bereits für die Zeit Goethes galt. Aufgrund des zunehmenden zeitlichen Abstands schwieriger ist allerdings die Frage, ob auch ein Sprecher des Mittelhochdeutschen eine solche Struktur ausgeschlossen hätte. Auffällig bleibt aber der (schon von Behaghel 1932: 23) gemachte Befund, dass sich diese Verbstellung in der Überlieferung des Deutschen fast ausschließlich in poetischen Texten findet. Behaghel geht davon aus, dass die Verbstellung im Germanischen wesentlich freier war als später im Deutschen, und er erklärt diese Stellung als Bewahrung einer im Germanischen generell möglichen Struktur. Falls diese Erklärung korrekt ist, würde dies Eberts (1978: 6- 7) oben zitierte Bemerkung stützen, nach der dichterische Texte ältere Strukturen eher bewahren können als Prosatexte. Der jeweilige synchrone Befund - die Verbletztstellung tritt im Mittelhochdeutschen wie im Neuhochdeutschen fast ausschließlich in dichterischen Texten auf und ist insofern nicht Teil der „normalen“ gesprochenen Sprache - bleibt aber bestehen. 3.3.2 Fehlende Vorfeldbesetzung Im Neuhochdeutschen steht in deklarativen Hauptsätzen das Verb in der Regel an zweiter Stelle. Ausnahmen davon bieten Verberstsätze, die bestimmte narrative Strukturen aufweisen (sie sind unter anderem typisch für Anfänge von Witzen; die unbesetzte Position vor dem Verb wird in den folgenden Beispielen durch ‘Ø’ verdeutlicht; vgl. 9.2.2): Ø Treffen sich zwei Yetis. Ø Sagt der eine zum anderen: … Ansonsten ist das Vorfeld in neuhochdeutschen deklarativen Hauptsätzen jedoch in der Regel besetzt. Dies kann entweder dadurch geschehen, dass eine bestimmte Konstituente das Vorfeld besetzt, oder dass das Vorfeld-es auftritt: es treffen sich zwei Yetis / zwei Yetis treffen sich <?page no="56"?> Poetische Texte 56 Das Vorfeld-es ermöglicht die formale Besetzung des Vorfelds, ohne dass sich aber an der Abfolge der Konstituenten im Übrigen etwas ändern muss. Das Aufkommen des Vorfeld-es wird deshalb häufig als ein Reflex auf die zunehmend obligatorische Vorfeldbesetzung angesehen (vgl. 12.3). Die Textvergleiche in 1.2 haben gezeigt, dass das Vorfeld-es im althochdeutschen Tatian noch nicht auftritt, in Luthers Bibelübersetzung aber vorhanden ist. Allerdings finden sich noch in neuhochdeutscher Zeit in poetischen Texten Sätze, in denen das Vorfeld nicht besetzt ist (und in denen beispielsweise eine Umstellung vorgenommen oder ein Vorfeld-es gesetzt werden könnte). Dies illustriert der folgende Anfang eines Gedichts von Joseph von Eichendorff (1788-1857): Ø Schläft ein Lied in allen Dingen, / Die da träumen fort und fort (Eichendorff, Gedichte 328 [Wünschelrute, V. 1-2]) Im Neuhochdeutschen müsste das Vorfeld besetzt werden, sei es durch Umstellung (ein Lied schläft in allen Dingen, in allen Dingen schläft ein Lied), sei es durch ein Vorfeld-es (es schläft ein Lied in allen Dingen). Dass das Vorfeld in diesem Beispiel unbesetzt ist, kann vielleicht mit dem Metrum erklärt werden: Eine Umstellung würde das Metrum zerstören, ein Vorfeld-es brächte eine zusätzliche Senkung in den Vers, die vom Versmaß nicht gefordert ist. Auf jeden Fall liegt hier eine Struktur vor, die im Neuhochdeutschen (in dieser Distribution) ungewöhnlich ist, die aber in älterer Zeit durchaus Vorläufer hat. Dies könnte wiederum ein Hinweis darauf sein, dass sich in poetischen Texten archaische Strukturen erhalten können. Es zeigt sich also wiederum die Sonderstellung der poetischen Sprache. 3.4 Prosa vs. Poesie: das Genitivattribut im Mittelhochdeutschen Zwischen poetischen Texten und Prosatexten können sich eklatante Unterschiede in Bezug auf bestimmte Strukturen, wie etwa die Position des Genitivattributs, ergeben. Diese können unsere Wahrnehmung einer bestimmten Periode somit wesentlich beeinflussen. Im Neuhochdeutschen wird ein Genitivattribut dem Substantiv, auf das es sich bezieht, üblicherweise nachgestellt, obwohl auch die Voranstellung nicht ausgeschlossen ist: Nachstellung: die Großmutter des Teufels Voranstellung: des Teufels Großmutter In der Forschung besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass es sich bei der Nachstellung um die historisch jüngere, bei der Voranstellung dagegen um die historisch ältere Konstruktion handelt. Die Tatsache, dass ein vorangestelltes Genitivattribut im Neuhochdeutschen häufig archaisch klingt, kann als Reflex davon gesehen werden. <?page no="57"?> Prosa vs. Poesie: das Genitivattribut im Mittelhochdeutschen 57 Bereits im Mittelhochdeutschen unterscheiden sich Poesie und Prosa in Bezug auf die Stellung des Genitivattributs signifikant. Für die mittelhochdeutsche Poesie, die lange Zeit auch in der linguistischen Forschung das Bild des Mittelhochdeutschen dominierte, ist die Voranstellung besonders typisch. Ein einschlägiges Beispiel für diese Struktur findet sich etwa im Parzival: des landes küneginne (Parzival 1040 = 35,22) des Landes Königin ‘die Königin dieses Landes’ Die folgende Tabelle zeigt für einige mittelhochdeutsche Verstexte die Anzahl von Genitivattributen insgesamt sowie die Anzahl der Voranbzw. Nachstellungen. Letztere werden zudem in Prozent angegeben. Die Zahlen beruhen auf der Untersuchung von Barufke (1995), die fast nur Verstexte berücksichtigt: Text Gen.-Attr. Voranst. Nachst. Nachst. (%) Parzival (7444 Verse) 603 575 28 4,6 % Anagenge (3242 Verse) 128 115 13 10,2 % Nibelungenlied (Av. 1-8) 251 230 21 8,4 % Iwein (2000 Verse) 38 34 4 10,5 % Anzahl Voranstellungen und Nachstellungen in mittelhochdeutschen Verstexten (nach Barufke 1995; Tabelle nach Prell 2000: 31) In Verstexten ist die im Neuhochdeutschen übliche Nachstellung selten, sie macht in den untersuchten Texten jeweils kaum mehr als 10 % aus. Dagegen sind nach Paul et al. (2007: 328 = § S 47) in einer Reihe von Prosatexten über zwei Drittel der Genitivattribute (mit gewissen Schwankungen) dem Substantiv nachgestellt. Die folgende Tabelle zeigt die Stellung des Genitivattributs in einigen mittelhochdeutschen Prosatexten, die Prell (2000) untersucht: Text Gen.-Attr. Voranst. Nachst. Nachst. (%) Um 1100 Wiener Notker 37 9 28 75,7 % Trierer Williram 14 5 9 64,3 % 2. Hälfte 12. Jh. Speculum ecclesiae 82 37 45 54,9 % Zürcher Arzneibuch 59 22 37 62,7 % Hoffm. Predigtsammlung 30 9 21 70,0 % 1. Hälfte 13. Jh. Kuppit. Predigtsammlung 47 7 40 85,1 % St. Pauler Predigten 61 6 55 90,2 % St. Trudpeter Hohelied 51 9 42 82,3 % Vatikanische Gebete 9 6 3 33,3 % Anzahl Voranstellungen und Nachstellungen in mittelhochdeutschen Prosatexten (nach Prell 2000: 27) <?page no="58"?> Poetische Texte 58 Die Nachstellung ist in den Prosatexten wesentlich häufiger als in den poetischen Texten, sie beträgt fast überall über 50 %, häufig sogar deutlich über 70 %. Anders als bei manchen der oben behandelten Konstruktionen ist es beim Genitivattribut wohl kaum der Fall, dass die eine der beiden Stellungen ungrammatisch ist. Die Tatsache, dass in mittelhochdeutscher Zeit die Voranstellung in erster Linie in poetischen Texten auftritt, hat vielleicht mit ihrem stilistischen Wert zu tun. Auf jeden Fall zeigt diese Gegenüberstellung, dass unser Bild der mittelhochdeutschen Syntax sich in Abhängigkeit davon, ob Vers- oder Prosatexte analysiert werden, dramatisch verändern kann. In der Forschung zur mittelhochdeutschen Syntax wurden lange Zeit fast nur poetische Texte ausgewertet, was beim Genitivattribut dazu führte, dass die Voranstellung als typisch mittelhochdeutsch wahrgenommen wurde. Wie aber die Untersuchung von Prell (2000) zeigt, ist die Voranstellung nicht für „das Mittelhochdeutsche” generell typisch, sondern nur für mittelhochdeutsche poetische Texte. Wir scheinen auch hier ein Beispiel für die von Ebert (1978: 6-7) vertretene Ansicht zu haben, dass poetische Texte archaische Strukturen bewahren können, die in der Prosa schon selten geworden sind. Literaturhinweise Bisher gibt es kaum Überblicksdarstellungen, die der Frage nachgehen, inwiefern poetische Texte für die syntaktische Forschung genutzt werden können bzw. in welcher Weise die Gegebenheiten poetischer Texte die Syntax beeinflussen. Diese Fragestellung hat die germanistische Forschung besonders ausführlich anhand eines Einzeltextes, Otfrids Evangelienbuch, bearbeitet. Eine Übersicht zu poetischen Lizenzen bei Otfrid bietet Ingenbleek (1880); Nemitz (1962) stellt diese Erkenntnisse in den Kontext der spätantiken und frühmittelalterlichen Dichtungstheorie. Beide Arbeiten sind relativ schwer zugänglich (Kenntnisse in Althochdeutsch und Latein sind für die Lektüre von Vorteil). Dass sich zwischen Prosa und Poesie hinsichtlich syntaktischer Strukturen gewisse Unterschiede ergeben können, zeigt der gut lesbare Artikel von Prell (2000). Es wird darin aufgezeigt, dass sich mittelhochdeutsche Prosa und Poesie in Bezug auf ein bestimmtes sprachliches Merkmal, die Stellung des Genitivattributs, signifikant unterscheiden. <?page no="59"?> 4 Überlieferungs- und Editionsprobleme Die Texte der älteren Sprachstufen des Deutschen sind ausschließlich handschriftlich überliefert, was sich auch in Bezug auf syntaktische Strukturen auswirken kann. Am problematischsten ist die Überlieferungslage - und damit einhergehend die Editionssituation - bei den poetischen Texten des Mittelhochdeutschen, weshalb diese Textgattung im Folgenden vorrangig behandelt wird. Nach einer eingehenden Charakterisierung der Überlieferungssituation mittelalterlicher Texte (4.1) wird dargestellt, wie die Editionen mit den dargestellten Problemen umgehen (4.2). Schließlich wird an zwei konkreten Beispielen dargelegt, dass bestimmte Editionen als Datengrundlage problematisch sind, weil sie die Überlieferung verfälschen (4.3). 4.1 Zur Überlieferung mittelalterlicher Texte Die historische Syntaxforschung ist auf die Auswertung schriftlicher Texte angewiesen. Doch, wie bereits in Kapitel 1.5 angesprochen, sind die Daten, mit denen die historische Linguistik (und damit auch die historische Syntaxforschung) arbeiten muss, „schlecht“. Auf das Problem der konkreten Überlieferung ausführlicher einzugehen lohnt sich unter anderem aber bereits deshalb, weil es in der historischen Syntaxforschung des Deutschen lange Zeit zu wenig beachtet wurde. Schriftliche Texte haben Urheber. Besonders bei literarischen Texten wird in der Regel von Autoren gesprochen (Goethe ist der Autor des Faust, Keller ist der Autor des Grünen Heinrich). Häufig existieren verschiedene Fassungen eines Textes, die beispielsweise zu unterschiedlichen Zeiten entstanden sind, vom Autor überarbeitet wurden etc. So ist etwa der Urfaust überliefert, der sich in textueller - und teilweise auch in sprachlicher - Hinsicht vom späteren Faust unterscheidet; vom Grünen Heinrich existieren eine erste und eine zweite Fassung, die ebenfalls zahlreiche Unterschiede aufweisen. Im Fall von Goethes Faust und Kellers Grünem Heinrich ist die Dokumentation vergleichsweise hervorragend: Wir wissen, teilweise aus expliziten Äußerungen, welche Version ihres Textes in den Augen von Goethe bzw. Keller die endgültige Fassung war. Man spricht in einem solchen Fall von einer „autorisierten Fassung“. Im Idealfall kann eine autorisierte Fassung, die beispielsweise in Form eines Manuskripts, d.h. eines von der Hand des Autors geschriebenen Textes, vorliegt, auf Jahr und Tag genau datiert und damit auch in sprachlicher Hinsicht eingeordnet werden. Schon bei neuzeitlichen Autoren ist die Lage in vielen Fällen allerdings wesentlich komplizierter. Beispielsweise ist die Überlieferungssituation bei Hölderlin oder Büchner sehr verworren, weil von manchen Texten verschiedene Fassungen existieren, bei denen teilweise unklar ist, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen oder wie sie der Autor selbst einschätzte. Noch wesentlich <?page no="60"?> Überlieferungs- und Editionsprobleme 60 komplizierter ist die Situation bei mittelalterlichen, namentlich bei hochmittelalterlichen Texten. Von den meisten mittelalterlichen Texten liegen uns keine autorisierten Fassungen vor. Wir verfügen nicht über Manuskripte von hochmittelalterlichen Dichtern wie Walter von der Vogelweide, Hartmann von Aue, Gottfried von Straßburg oder Wolfram von Eschenbach, ja wir wissen noch nicht einmal mit Sicherheit, ob diese Personen überhaupt selbst Texte niederschreiben konnten. Noch schwieriger wird die Situation bei Texten wie dem Nibelungenlied: Hier kennen wir nicht einmal den Namen eines Autors (oder auch mehrerer Autoren; bei diesem Text besteht durchaus die Möglichkeit mehrerer Verfasser). Vor allem aber erstreckt sich bei vielen Texten zwischen dem vermuteten Zeitpunkt der Entstehung und dem ältesten überlieferten Manuskript eine beträchtliche zeitliche Distanz, oft von Jahrzehnten, manchmal sogar von mehreren Jahrhunderten. Das Alter eines mittelalterlichen Textes, die Textentstehung, ist also grundsätzlich vom Alter des (ältesten) Textträgers, der (Text-)Überlieferung, zu unterscheiden. Dies kann an zwei besonders wichtigen Beispielen illustriert werden: • Das einzige (nahezu) vollständige Manuskript des Erec Hartmanns von Aue wird auf die Zeit von 1504-1515/ 16 datiert (es ist im sogenannten Ambraser Heldenbuch überliefert). Der Text ist dagegen vermutlich um 1180/ 1190 entstanden. Zwischen Textentstehung und dem ältesten erhaltenen Textträger liegen hier also mehr als dreihundert Jahre (vgl. Bein 1995: 15, Fußnote 6). • Die berühmteste Sammlung mittelhochdeutscher Lyrik bietet die sogenannte „Große Heidelberger Liederhandschrift“, die häufig auch - nach ihrem vermuteten Auftraggeber - als Manessische Liederhandschrift bezeichnet wird. Bekannt ist diese Handschrift vor allem durch ihre ästhetisch ansprechenden Illustrationen, doch ist sie auch textgeschichtlich wichtig: Viele mittelhochdeutsche lyrische Texte sind nur in dieser Handschrift überliefert. Die Manessische Liederhandschrift stammt aus dem 1. Drittel des 14. Jahrhunderts. Viele der in ihr überlieferten Texte entstanden demgegenüber in der Zeit der sogenannten „Staufischen Klassik“ (1180- 1250), in diesem Fall liegen also zwischen Textentstehung und Überlieferung über hundert Jahre (vgl. Bein 1995: 15, Fußnote 6). Gerade für die Zeit der Staufischen Klassik (1180-1250) ist eine „autorferne“ Überlieferung, wie sie durch die obigen Beispiele repräsentiert wird, die Regel. Dazu existieren nur wenige Ausnahmen. Zwei Beispiele von „autornah“ überlieferten mittelalterlichen Texten bzw. Textsammlungen werden im Folgenden kurz vorgestellt. Charakteristisch ist für beide Fälle, dass sie nicht in die Zeit der Staufischen Klassik fallen, sondern dem 9. Jahrhundert und somit noch der althochdeutschen Zeit bzw. bereits dem 14./ 15. Jahrhundert angehören: • Das Evangelienbuch Otfrids von Weißenburg (vgl. 3.2) ist zwischen 863 und 871 entstanden und in insgesamt vier verschiedenen Handschriften überliefert. Bei einem der erhaltenen Textträger, der sogenannten „Wie- <?page no="61"?> Zur Überlieferung mittelalterlicher Texte 61 ner Handschrift“, gilt es als sehr wahrscheinlich, dass Otfrid selbst an der Korrektur der Handschrift mitgewirkt hat. Insofern kann diese Handschrift als „autorisierte Fassung“ des Evangelienbuchs gelten (vgl. Bein 1995: 15, Fußnote 5). • Die Lieder Oswalds von Wolkenstein (1376-1445) sind unter anderem in zwei Handschriften überliefert, die Oswald von Wolkenstein zu Lebzeiten anfertigen ließ. Anders als bei Otfrid ist unklar, ob Oswald selbst an der konkreten Herstellung der Handschriften beteiligt war, doch ist unbestritten, dass die von ihm in Auftrag gegebenen Handschriften „autornäher“ sind, als es bei anderen mittelhochdeutschen Texten der Fall ist (vgl. Bein 1995: 15, Fußnote 5). Die „Autornähe“ oder „Autorferne“ eines konkreten schriftlichen Zeugnisses ist deshalb wichtig, weil im Mittelalter schriftliche Texte ausschließlich durch Abschreiben reproduziert und tradiert werden konnten (der Buchdruck wurde erst im ausgehenden Mittelalter, um 1450, erfunden). Der Prozess des Abschreibens ist zunächst einmal anfällig für Fehler: Beispielsweise gibt es zahlreiche mittelalterliche Handschriften, in denen beim Abschreiben ein Wort übersehen wurde, wodurch ein fehlerhafter Text entstand (der dann vielleicht zur Grundlage für die weitere Tradierung wurde). Hinzu kommt aber noch ein grundsätzlicheres Problem: Das „Kopieren“ eines Textes bedeutete im Mittelalter in der Regel nicht ein buchstabengetreues Abschreiben einer Textvorlage, wie dies eine moderne Kopiermaschine leisten würde, sondern bot Raum für vielerlei Arten von Bearbeitungen. So konnte etwa ein Text, der sprachlich noch einer anderen Periode angehörte, an die aktuell gesprochene Sprache angepasst werden. Häufig kam es auch vor, dass ein Text, der in einer bestimmten dialektalen Region beheimatet war und der dann für den Gebrauch in einer anderen Region kopiert wurde, sprachlich an den anderen Dialekt adaptiert wurde (was sich in phonologischer und lexikalischer, aber auch in syntaktischer Hinsicht auswirken kann). Darüber hinaus konnte auch inhaltlich-künstlerisch in den Text eingegriffen werden (der Übergang zwischen reinem „Kopieren“ und Textbearbeitung ist bei mittelalterlichen Texten fließend). An dieser Form des „Kopierens“, die man heute als „Verfälschung“ ansehen würde, nahm man im Mittelalter keinen Anstoß: Der Begriff der Autorschaft existierte noch nicht im modernen Sinn, ein Eingriff in den Text in sprachlicher (oder auch inhaltlicher) Hinsicht wurde nicht als illegitim betrachtet, sondern war als Anpassung an die zeitgenössische und ortsübliche Sprache allgemeine Praxis. Wenn nun aber zwischen Autor und ältestem Überlieferungsträger eine große Zeitspanne liegen kann, in der mehrere Prozesse des „Kopierens“ stattgefunden haben, ist nicht mehr klar, wofür ein bestimmter Überlieferungsträger eigentlich steht: Entspricht eine bestimmte Form der ursprünglich vom Autor verwendeten oder entspricht sie der Form, die dem Abschreiber aus seiner Sprache vertraut war? Oder ist, als dritte Möglichkeit, eine hybride Form entstanden, die weder der Sprache des Autors noch der Sprache des Abschreibers entspricht, sondern einen Kompromiss zwischen diesen darstellt, also vielleicht gar keine sprachliche Realität hat? <?page no="62"?> Überlieferungs- und Editionsprobleme 62 Ein zusätzliches Problem ist die Tatsache, dass die meisten „klassischen“ mittelhochdeutschen Texte nicht nur autorfern überliefert sind, sondern zusätzlich noch in verschiedenen Versionen mehrerer Handschriften. Die folgende Tabelle zeigt für einige der bekanntesten mittelhochdeutschen Texte, wie viele Textzeugen insgesamt bekannt sind. Dabei wird zwischen „Codices“ und „Fragmenten“ unterschieden: Ein Codex bietet den Text eines bestimmten Werks nahezu vollständig oder vollständig, ein Fragment bietet demgegenüber nur ein Bruchstück des Textes. Text Codices Fragmente Textzeugen gesamt Nibelungenlied 13 21 34 Hartman: Der arme Heinrich 4 3 7 Hartman: Erec 1 3 4 Hartman: Gregorius 8 5 13 Hartman: Iwein 16 17 33 Gottfried von Straßburg: Tristan 11 18 29 Wolfram: Parzival 16 70 86 Anzahl Textzeugen klassischer mittelhochdeutscher Verstexte (Zahlen nach: www.hand schriftencensus.de; Stand 04.05.2011) Wie aus dieser Tabelle hervorgeht, sind viele klassische mittelhochdeutsche Texte in mehreren Textzeugen, oft auch in mehreren vollständigen Handschriften tradiert. Den „Rekord“ in dieser Tabelle hat der Parzival Wolframs von Eschenbach mit 86 Textzeugen inne. Der Erec Hartmanns von Aue ist demgegenüber nur in vier Textzeugen überliefert, worunter sich, wie bereits behandelt, bloß ein einziger Codex findet (der zudem noch auf das 16. Jahrhundert zurückgeht). Bei einer Überlieferungssituation mit zahlreichen Textzeugen stellt sich die Frage, welcher der überlieferten Textzeugen den „besten“ (d.h.: autornächsten) Text darstellt. Dies ist in manchen Fällen nicht leicht zu beantworten; oft bietet ein bestimmter Textträger in Bezug auf eine Stelle eine Fassung, die vermutlich nahe am Original ist, dagegen ist ein anderer Textträger bei einer anderen Stelle näher am vermuteten Original. Den umrissenen Problemen der Tradierung mittelhochdeutscher Verstexte muss bei der Edition in irgendeiner Weise Beachtung geschenkt werden. Dies hat unter anderem auch Auswirkungen auf die in den Editionen gebotene Sprache. 4.2 Edition mittelhochdeutscher Texte Bei der Edition mittelhochdeutscher Texte kommen nach Bein (1995: 16) grundsätzlich zwei verschiedene Herangehensweisen zum Zug: Die autororientierte Textkritik versucht, aufgrund der vorhandenen Überlieferungsträger den originalen Text zu rekonstruieren, wie er vom Autor intendiert war. Die textorientierte Textkritik hält sich dagegen an einen konkreten Überlieferungsträger, der möglichst genau wiedergegeben wird. <?page no="63"?> Edition mittelhochdeutscher Texte 63 Für die autororientierte Textkritik spricht die Tatsache, dass sich die erhaltenen Textträger aufgrund der oben beschriebenen Prozesse offensichtlich von der ursprünglichen Fassung entfernt haben. Man versucht deshalb, die überlieferte Form eines Textes auf den vermuteten originalen Stand zurückzuführen (bei einem Text, der in einem über dreihundert Jahre nach seiner Entstehung verfassten Codex überliefert ist, wie dies beim Erec Hartmanns von Aue der Fall ist, gleicht diese Aufgabe allerdings einer eigentlichen „Rückübersetzung“). Wenn verschiedene Überlieferungsträger vorhanden sind, wird bestimmt, welcher Textträger den besten Text bietet - oft kommen auch mehrere Handschriften in Frage. Problematisch an diesem Vorgehen ist, dass unklar ist, inwieweit ein moderner Herausgeber überhaupt beurteilen kann, welche überlieferten Formen dem originalen Wortlaut entsprechen. Um den originalen Text rekonstruieren zu können, sind sprachgeschichtliche (und literaturhistorische) Kenntnisse notwendig, die aber ihrerseits nur auf anderen mittelalterlichen Texten basieren können, deren Überlieferungssituation ebenfalls durch die beschriebenen Schwierigkeiten geprägt ist - nach Bein (1995: 19) besteht damit ein argumentativer Teufelskreis. In dieser Art und Weise rekonstruierte Texte müssen sich somit den Vorwurf gefallen lassen, dass sie im Grunde ahistorisch sind. Wie Wegera (2000: 1304) feststellt, liegen derartige Editionen „von der Sprachrealität“ weit entfernt. Für die textorientierte Textkritik spricht dagegen die Tatsache, dass man sich auf eine historische Grundlage stützt und man sozusagen weiß, was man hat: Statt eine mit vielen Unsicherheiten behaftete Rekonstruktion des originalen Wortlautes zu versuchen, wird ein bestimmter Textträger möglichst überlieferungsgetreu ediert. Es wird versucht, in der Edition möglichst nahe an die tatsächlich überlieferten Zeugnisse zu kommen. Damit gibt man zwar den Versuch auf, die originale Textform zu rekonstruieren, doch können umgekehrt auch keine rekonstruktionsbedingten Verfälschungen auftreten. Man geht von der konkreten Überlieferung aus; dass diese nicht den originalen Wortlaut wiedergibt, wird akzeptiert, die „Fehler“, die durch das Kopieren entstanden sind, werden - wenn es sich um sprachliche Anpassungen handelt - als legitime Adaptationen an die zeitlichen und dialektalen Umstände der Entstehung des konkreten Textträgers aufgefasst. In der Editionspraxis mittelhochdeutscher Texte war zunächst, im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die autororientierte Textkritik weit verbreitet. Dieses Verfahren ist verbunden mit den Namen Georg Friedrich Benecke (1762-1844), Jacob Grimm (1785-1863), Wilhelm Grimm (1786-1859) und vor allem Karl Lachmann (1793-1851) (vgl. Lutz-Hensel 1975: 11). Karl Lachmann rekonstruierte den sprachlichen Zustand für die Zeit der Staufischen Klassik. Die von ihm eingeführte sprachliche Form, die die meisten gängigen Editionen mittelhochdeutscher Texte übernehmen, wird als „normalisiertes Mittelhochdeutsch“ bezeichnet. Etwa seit den 1960er Jahren ist man dagegen zunehmend zur textorientierten Kritik übergegangen (vgl. Bein 1995: 21-22). In linguistischer Hinsicht ist es unabdingbar, sich auf eine Datenbasis zu beziehen, die in der Überlieferung tatsächlich greifbar ist. Angesichts dessen formuliert Wegera (2000: 1306) für grammatische Untersuchungen zum Mittelhochdeutschen das „Prinzip der Handschriftentreue“. Dies bedeutet, dass nur solche <?page no="64"?> Überlieferungs- und Editionsprobleme 64 Editionen für die linguistische Auswertung verwendet werden dürfen, die die Gegebenheiten der Handschrift korrekt wiedergeben. Ältere Untersuchungen zum Mittelhochdeutschen stützen sich jedoch häufig nicht auf die handschriftliche Überlieferung, sondern beziehen ihr Belegmaterial aus Editionen, die die handschriftlichen Gegebenheiten unter Umständen stark verunklären. Dies gilt insbesondere für die älteren Grammatiken des Mittelhochdeutschen, was problematische Konsequenzen zeitigt: Es handelt sich damit um Grammatiken, die die Inventare und Regeln einer normierten Kunstsprache abbilden bzw. beschreiben. […] Inwieweit diese Inventare und Regeln das Mhd. der überlieferten Hss. repräsentieren, ist bisher kaum abzuschätzen; erste vergleichende Studien zeigen jedoch erhebliche Unterschiede zwischen den Regeln der Grammatiken und dem tatsächlichen Sprachstand […]. (Wegera 2000: 1305) Die jüngste Auflage der Mittelhochdeutschen Grammatik Hermann Pauls et al. (2007) versucht, der handschriftlichen Überlieferung besser gerecht zu werden. Im Entstehen begriffen ist derzeit außerdem eine auf vier Bände angelegte Grammatik des Mittelhochdeutschen, die auch einen Band zur Syntax umfassen wird. Darin werden grundsätzlich nur handschriftennahe Editionen bzw. die Handschriften selbst als Datengrundlage verwendet. Autorfern überlieferte Texte werden gar nicht in die Datenbasis einbezogen. Das bedeutet, dass die gesamte mittelhochdeutsche Lyrik, aber auch Texte wie das Nibelungenlied oder die Versepen Hartmanns von Aue, Gottfrieds von Straßburg oder Wolframs von Eschenbach nicht berücksichtigt werden (vgl. Wegera 2000: 1311). Dieses Vorgehen ist von einem linguistischen Standpunkt aus zweifellos angebracht. 4.3 Editionen und Syntax Viele der bisherigen Untersuchungen zur mittelhochdeutschen Syntax beachten die Problematik der Textgrundlage nicht genügend. In den folgenden Abschnitten sollen Verfälschungen, die bestimmte Editionen mittelhochdeutscher Texte bieten können, anhand zweier Beispiele etwas eingehender behandelt werden. 4.3.1 Die Negation im Erec Hartmanns von Aue Die Negation im Erec Hartmanns von Aue ist ein besonders drastisches Beispiel für die sprachlichen Eingriffe, die rekonstruierende Editionen mittelhochdeutscher Texte bisweilen vornehmen. Der Versroman ist in nur vier Textzeugen überliefert, von denen aber nur ein einziger (fast) vollständig ist. Wie bereits angesprochen, stammt diese Handschrift, ein Teil des sogenannten „Ambraser Heldenbuchs“, vermutlich aus den Jahren 1504-1515/ 16, der Text selbst entstand dagegen vermutlich zwischen 1180-1190 (vgl. 4.1). Die sprachlichen Formen des Erec, wie er im Ambraser Heldenbuch überliefert ist, sind schon stark vom Frühneuhochdeutschen geprägt. In phonologischer <?page no="65"?> Editionen und Syntax 65 Hinsicht etwa hat die frühneuhochdeutsche Diphthongierung stattgefunden. Die folgende Gegenüberstellung des ersten Verses nach der Handschrift und nach einer gängigen Edition zeigt zahlreiche phonologische Unterschiede: Handschrift (Cod. vindob. ser. nova 2663, 30r,b) Edition (Erec 1, ed. Gärtner 2006) be ÿ jr vnd be ÿ jr we ÿ ben bî ir und bî ir wîben Auch in syntaktischer Hinsicht nehmen die gängigen Editionen bestimmte Veränderungen vor. Für das Mittelhochdeutsche gilt die sogenannte „doppelte Negation“ als typisch (vgl. 13.1.2): Dabei wird die Negation einerseits durch eine vor dem Verb stehende Partikel en/ ne/ n ausgedrückt, zusätzlich tritt aber auch noch das freie Morphem niht auf. So bedeutet beispielsweise mhd. ich enweiz niht ‘ich weiß nicht’. Im Erec, wie ihn das Ambraser Heldenbuch überliefert, ist die präverbale Negationspartikel en/ ne/ n, wie Gärtner (2006: XXXIX) bemerkt, „in der Regel nicht mehr bewahrt worden“. In den Editionen wurde en/ ne/ n dagegen häufig wieder eingesetzt. So fehlt beispielsweise die präverbale Negationspartikel im folgenden Vers in der Handschrift, wird aber in den gängigen Editionen (hier wiederum repräsentiert durch diejenige Gärtners) dagegen ergänzt: Handschrift (Cod. vindob. ser. nova 2663, 30r,c) Edition (Erec 88, ed. Gärtner 2006) Jr seÿt nicht weÿse leůte ir ensît niht wîse liute ihr seid nicht weise Leute ihr NEG =seid nicht weise Leute ‘ihr seid keine weisen Leute’ Interessanterweise verfahren beim Einsetzen der in der Handschrift nicht vorhandenen präverbalen Negationspartikel verschiedene Herausgeber jeweils anders, wie die folgende Gegenüberstellung zeigt. Bei Vers 84 setzen beide zitierten Herausgeber entgegen der Handschrift die präverbale Negationspartikel ein; bei Vers 21 nur Wolff (1963), Gärtner (2006) dagegen nicht: Vers 84 Vers 21 Handschrift Jch sag dir annders niht (30r,c) die fraw des nicht wolte (30r,c) ed. Wolff 1963 ich ensage dir anders niht diu vrouwe des niht enwolde ed. Gärtner 2006 ich ensage dir anders niht diu vrouwe des niht wolde Übersetzung ‘ich sage dir nichts anderes’ ‘die Frau wollte das nicht’ Schon Wolff (1963: XVI) weist darauf hin, dass sein Vorgänger Leitzmann beim Einsetzen der präverbalen Negationspartikel „entschieden zu weit gegangen“ sei; „in rund 50 Fällen“ (Wolff 1963: XVI) beseitigt Wolff die von Leitzmann im Text eingesetzte präverbale Negationspartikel wieder. Gärtner (2006), von dem die jüngste Edition des Erec stammt, fügt die Negationspartikel nur noch in bestimmten, detailliert erklärten Kontexten ein (vgl. Gärtner 2006: XXIX-XXX). Er beruft sich dabei auf eine Arbeit von Zutt (1976), die die Negation der Gießener Iwein-Handschrift untersucht. Letztere ist eine relativ autornah überlieferte <?page no="66"?> Überlieferungs- und Editionsprobleme 66 Handschrift eines anderen Textes von Hartmann von Aue, es scheint deshalb ein sinnvolles Vorgehen, die dort auftretenden Regularitäten für die Rekonstruktion der Negation in Erec zu verwenden, wie dies Gärtner (2006) tut. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es Gärtner mit seiner Praxis - die gegenüber früheren Editionen eine behutsamere Einfügung von en mit sich bringt - gelingt, der tatsächlichen Originalform des Textes näher zu kommen. Dass man aber, wenn man sich für die Syntax der mittelhochdeutschen Negation interessiert, nicht eine Edition von Erec als Datengrundlage verwenden kann, versteht sich von selbst. Bei Erec führt auch eine sehr sorgfältige kritische Edition nicht zu einer in sprachlicher Hinsicht verlässlichen Quelle, da die kritische Edition ja letztlich nur auf - besser oder schlechter begründeten - Annahmen über die ursprüngliche Sprache des Textes basiert. 4.3.2 Kongruenzformen bei Hybrid nouns im Nibelungenlied Das Nibelungenlied ist einer der bekanntesten mittelhochdeutschen Verstexte. Zu ihm existieren, wie die in 4.1 angeführte Tabelle zeigt, insgesamt 13 vollständige Codices. Von diesen gelten drei als besonders gute Überlieferungsträger; sie werden als Handschriften A, B und C bezeichnet. Bei der Edition der Handschriften A, B und C nach Batts, auf die im Folgenden Bezug genommen wird, ist gegenüber der handschriftlichen Überlieferung keine Normalisierung durchgeführt worden, allerdings wurden das Layout und die Interpunktion an moderne Gepflogenheiten angepasst und eine Verstrennung nach Zeilen gewählt (in den Handschriften sind die Verse durch Punkte, nicht durch Absätze voneinander getrennt). Das syntaktische Phänomen, das zur Illustration des Verhältnisses von Original zu Edition herangezogen wird, betrifft die Kongruenzformen bei sogenannten „Hybrid nouns“ (vgl. 7.3). Unter Hybrid nouns (eine deutsche Bezeichnung hat sich bis jetzt nicht eingebürgert) versteht man Substantive, deren Genus nicht mit dem natürlichen Geschlecht übereinstimmt. Beispielsweise ist das neuhochdeutsche Substantiv Mädchen ein Neutrum (das Mädchen), bezieht sich aber auf ein weibliches Wesen. In mittelhochdeutscher Zeit können sich mit solchen Substantiven kongruierende Adjektive sowohl nach dem grammatischen Geschlecht als auch nach dem natürlichen Geschlecht richten. In der folgenden Stelle findet sich in der Edition von Bartsch mit hêrlîchez (wörtlich: herrliches) ein neutrales Adjektiv, und das gilt auch für die Handschriften B und C. Handschrift A zeigt dagegen ein anderes Adjektiv (normalmhd. wætlich ‘schön, stattlich’), das mit der femininen Endung -e statt der neutralen Endung -ez auftritt: ed. Bartsch (287,4) man sach in hôhen zühten manec hêrlîchez wîp Hs. A (286,4) man sach in hohen zvhten manich wetliche wip Hs. B (285 (287),4) man sach in hohen z M hten manech herlichez wip Hs. C (289,4) man sach in grozen zvhten vil manich herlichez wip man sah in großen Züchten viel manch herrliche Frau ‘man sah manch herrliche Frau in vollendeter Haltung’ <?page no="67"?> Literaturhinweise 67 Auch in nachstehendem Vers (der allerdings in Handschrift C nicht überliefert ist), findet sich in der Edition von Bartsch die neutrale Form, die Handschrift B entspricht. In Handschrift A ist dagegen die feminine Form belegt: ed. Bartsch (194,4) daz müet in Sahsen lande vil manec wætlîchez wîp Hs. A (193,4) daz gem M t in Sahsen vil manich wætliche wip Hs. B (192 (194),4) daz m N t in Sahsen lande vil manech wætlichez wip das müht in Sachsen Land manche herrliche Frau ‘das wird im Sachsenland manch herrlicher Frau Kummer bereiten’ Aus dem Vergleich dieser Stellen geht hervor, dass der Herausgeber in beiden Fällen die neutrale Form des Adjektivs gewählt hat, die der Handschrift B (und in einem Fall C) entspricht. Das heißt aber nicht, dass „im Nibelungenlied“ nur diese Form auftritt: In Handschrift A ist stattdessen zweimal die feminine Form verwendet. Die Edition von Bartsch repräsentiert also die Variation, die sich in der Überlieferung des Nibelungenlieds zeigt, nicht und gibt somit kein Gesamtbild der Überlieferung. In vielen Editionen mittelhochdeutscher Texte werden vom dargebotenen Text abweichende Formen aus anderen Handschriften im sogenannten „Apparat“ (einer Fußzeile, in der die abweichenden Formen aufgeführt sind) nachgewiesen. Bei solchen Editionen kann deshalb ein Blick in den Apparat sinnvoll sein: Darin könnten sich auch syntaktisch interessante Varianten finden. Grundsätzlich ist es bei syntaktischen Untersuchungen angesichts der geschilderten Probleme jedoch notwendig, sich darüber zu informieren, in welchem Verhältnis die verwendete Edition zu den tatsächlichen Überlieferungsträgern steht. Dabei kann sich ergeben, dass bestimmte Editionen für eine syntaktische Auswertung ungeeignet sind. Literaturhinweise Die Probleme der Edition mittelalterlicher Texte wurden bisher vor allem aus mediävistischer Perspektive behandelt. Gute Einführungen in die Problematik bieten hier der Überblicksartikel von Bein (1995) und das Lehrbuch von Bein (2011). Darstellungen zu den speziellen Problemen, die sich für die historische Syntaxforschung aus der Editionssituation ergeben, gibt es dagegen bislang kaum. Als Einstieg kann auf den gut lesbaren Artikel von Wegera (2000), in dem auch andere Probleme der mittelhochdeutschen Grammatikographie zur Sprache kommen, verwiesen werden. <?page no="69"?> 5 Quantitative und qualitative Aspekte Die historische Syntaxforschung beginnt zunehmend, auch den quantitativen Aspekt einzubeziehen, da auf diese Art und Weise bestimmte Wandelerscheinungen deutlicher heraustreten als bei einem rein qualitativen Vorgehen. Anhand eines Beispiels, der Form des prädikativen Adjektivs im Althochdeutschen, wird zunächst aufgezeigt, dass ein quantifizierendes Vorgehen Aussagen erlaubt, die über die Angaben in Handbüchern hinausgehen (5.1). Wenn man quantifizierend vorgeht, ist es notwendig, sich Gedanken darüber zu machen, welche Daten- und Textmenge für die Untersuchung notwendig ist (5.2). Daneben ist es auch nötig zu begründen, welche Texte in qualitativer Hinsicht ausgewertet werden. Die „Korpusbildung“, die Auswahl von Texten, die die Grundlage einer linguistischen Untersuchung bilden, stellt gerade bei älteren Sprachstufen ein besonderes Problem dar (5.3). Sprachwandelerscheinungen können von verschiedenen Faktoren abhängig sein, deren Interaktion bei der Analyse zu beachten ist. Neben „internen“ Faktoren, die im Sprachsystem selbst begründet sind, wirken sich auch „externe“ Faktoren, die außerhalb der Sprache liegen, auf Wandelerscheinungen aus. Das Zusammenspiel interner und externer Faktoren wird anhand der Stellung des Genitivattributs im Frühneuhochdeutschen illustriert (5.4). 5.1 Quantifizierung Die ältere Forschung zur historischen Grammatik des Deutschen ging häufig rein qualitativ vor: Zu bestimmten Phänomenen wurden Belege aus verschiedenen Texten gesammelt, es wurden aber keine Angaben zur Häufigkeit erhoben. Wegera (2000: 1305) spricht sehr anschaulich davon, dass die Auswertung der Quellen in der Regel nicht systematisch-quantifizierend erfolgte, sondern „steinbruchartig“. Dagegen beginnt die jüngere Forschung zunehmend, auch den quantitativen Aspekt zu berücksichtigen. Dadurch kommt es manchmal zu einer Neubewertung einer Konstruktion: Beispielsweise galt die sogenannte „doppelte Negation“ lange als eine für das Mittelhochdeutsche typische Konstruktion (vgl. 4.3.1). Wenn man allerdings konkrete mittelhochdeutsche Quellen quantitativ auswertet, zeigt sich, dass diese Konstruktion wesentlich weniger häufig ist, als man vermuten würde (vgl. Kapitel 13.1.2). Quantitatives Auswerten bedeutet, dass ermittelt wird, welche Konstruktionen wie häufig sind. Dabei genügt es in der Regel nicht, die absolute Anzahl der Belege für eine bestimmte Konstruktion in einer bestimmten Quelle (oder in mehreren Quellen) zu nennen. Angegeben werden muss auch, wie häufig diese Konstruktion in Relation zu den mit ihr konkurrierenden Varianten ist. Dazu bietet es sich beispielsweise an, Prozentwerte zu berechnen. In Bezug auf die doppelte Negation müsste etwa jeweils die Relation von Sätzen mit doppelter zu denjenigen mit einfacher Negation in einer bestimmten Quelle berechnet werden. <?page no="70"?> Quantitative und qualitative Aspekte 70 Dabei zeigt sich dann beispielsweise, dass die doppelte Negation in einem Ausschnitt aus den bairisch geprägten Predigten Bertholds von Regensburg nur 4 %, im westmitteldeutschen Prosalancelot dagegen 27 % beträgt (Jäger 2008: 120; vgl. 13.1.2). Die quantitative Herangehensweise soll an einem konkreten Beispiel veranschaulicht werden, und zwar anhand des prädikativen Adjektivs im Althochdeutschen. Dieses konnte mit dem Subjekt kongruieren, d.h. eine Form aufweisen, die in Bezug auf Genus und Numerus flektiert ist und damit die Merkmale des Subjekts aufnimmt. Das prädikative Adjektiv musste aber nicht zwingend flektiert werden, es konnte genauso wie im Neuhochdeutschen eine Form ohne overte (d.h. sichtbare, aus einem konkreten Morphem bestehende) Endung aufweisen. Die folgenden beiden Belege aus dem althochdeutschen Tatian zeigen dasselbe Adjektiv in prädikativer Verwendung. Im ersten Beleg ist es nicht flektiert, wie dies auch im Neuhochdeutschen üblich wäre (die unflektierte Form wird durch ‘-Ø’ hervorgehoben); im zweiten Beispiel tritt dagegen die flektierte Form auf (das Morphem des Maskulin Plural wird durch einen Bindestrich vom Stamm abgetrennt): thaz her blint-Ø uuari (Tatian 222,3) dass er blind-Ø wäre ‘dass er blind wäre’ daz sie sin blint-e (Tatian 224,6) das sie seien blind- M . PL ‘dass sie blind seien’ Diese Belege zeigen, dass im Althochdeutschen grundsätzlich sowohl die unflektierte als auch die flektierte Form des Adjektivs in prädikativer Verwendung auftreten kann. Im Neuhochdeutschen ist das prädikative Adjektiv dagegen immer unflektiert (*sie sind blinde). Die Althochdeutsche Grammatik I geht explizit auf die Singular- und die Pluralformen ein und gibt an, dass sowohl im Singular als auch im Plural die unflektierte Form bevorzugt wird, die flektierte Form aber auch „häufig“ vorkommt (Braune/ Reiffenstein 2004: 219 = § 247). Wenn man allerdings konkrete althochdeutsche Texte in quantitativer Hinsicht analysiert, ergibt sich ein wesentlich nuancierteres Bild, wie die folgende Tabelle zeigt. Analysiert wurden die vier größten Texte des 8./ 9. Jahrhunderts, darunter Tatian und Otfrid (vgl. 2.2 bzw. 3.2), sowie ein Teil eines spätalthochdeutschen Texts von Notker (†1022), die Psalterübersetzung (vgl. Fleischer 2007: 307). Jeweils angegeben wird das Verhältnis von flektierten zu unflektierten Adjektiven für die einzelnen Genus-Numerus- Kombinationen (in Klammern der Prozentsatz für die flektierte Form): <?page no="71"?> Datenmenge und Textmenge 71 Isidor Mons. M. Tatian Otfrid Notker Ps. Total: m. Sg. 0: 10 (0%) 2: 11 (15%) 4: 137 (3%) 33: 113 (23%) 6: 122 (5%) 45: 393 (10%) f. Sg. 2: 0 (100%) 0: 1 (0%) 2: 26 (7%) 5: 44 (10%) 4: 40 (9%) 13: 111 (10%) n. Sg. 0: 5 (0%) 0: 3 (0%) 0: 49 (0%) 26: 144 (15%) 2: 33 (6%) 28: 234 (11%) m. Pl. - 4: 0 (100%) 57: 3 (95%) 45: 62 (42%) 8: 41 (16%) 114: 106 (52%) f. Pl. 0: 1 (0%) 3: 0 (100%) 4: 0 (100%) 7: 9 (44%) 3: 3 (50%) 17: 13 (57%) n. Pl. - 0: 2 (0%) 19: 3 (86%) 5: 10 (33%) 1: 14 (7%) 25: 29 (46%) Total: 2: 16 (11%) 9: 17 (35%) 86: 218 (28%) 121: 382 (24%) 24: 253 (9%) 242: 886 (21%) Anzahl flektierter : unflektierter prädikativer Adjektive in althochdeutschen Texten (nach Fleischer 2007: 311, Tabelle 4) Der Anteil flektierter prädikativer Adjektive im Althochdeutschen beträgt nach Fleischer (2007: 311, Tabelle 4) insgesamt 21 %. Die Angabe der Althochdeutschen Grammatik I, derzufolge beide Formen vorkommen, die unflektierte aber bevorzugt wird, kann damit grundsätzlich bestätigt werden. Allerdings zeigen sich beträchtliche Unterschiede zwischen einzelnen Formen, die in der Althochdeutschen Grammatik I unerwähnt bleiben: Im Singular beträgt der Anteil an flektierten Formen, wie aus der Total-Spalte hervorgeht, jeweils nur ca. 10 %, im Plural dagegen um 50 %, in Tatian sogar etwa 90 %. Dass sich Singular und Plural gleich verhalten, wie dies die Althochdeutsche Grammatik I angibt, ist also nicht korrekt. Aus den Angaben der Althochdeutschen Grammatik I geht nicht hervor, dass deutliche Unterschiede in Bezug auf die einzelnen Formen bestehen. Dies zeigt sich erst bei einer quantifizierenden Herangehensweise. Dabei werden außerdem Differenzen zwischen verschiedenen Perioden sichtbar: Während der Anteil flektierter Adjektive in Texten des 9. Jahrhunderts, wie die Total-Zeile zeigt, teilweise deutlich über 20 % liegt, beträgt er beim spätalthochdeutschen Notker nur noch 9 %. Aus einer quantitativen Auswertung ergibt sich in diesem Fall also ein Bild, das es erlaubt, die Angaben der Althochdeutschen Grammatik I zu korrigieren und zu präzisieren. Durch eine Auswertung, die nicht nur „steinbruchartig“ ganz bestimmte, vielleicht besonders auffällige Belege für prädikative Adjektive im Althochdeutschen notiert, sondern das Verhältnis der flektierten und unflektierten prädikativen Adjektive für die verschiedenen Formen genau bestimmt, können zusätzliche Aspekte der Verteilung zu Tage treten. Dazu ist es allerdings notwendig, nicht nur die vom Neuhochdeutschen aus betrachtet „auffälligen“ Belege für Flexion, sondern auch die Belege für die Nichtflexion gesamthaft zu sammeln und zueinander in Beziehung zu setzen. Durch Untersuchungen, die den quantitativen Aspekt berücksichtigen, kann sich - wie im Fall der „typisch mittelhochdeutschen“ doppelten Negation - die Beurteilung bestimmter Konstruktionen ändern. Da viele historische Untersuchungen zur Syntax bisher nicht quantitativ vorgehen, könnte dies auch in Zukunft noch der Fall sein. 5.2 Datenmenge und Textmenge Wenn das Auftreten einer Konstruktion unter quantitativen Gesichtspunkten beleuchtet werden soll, stellt sich die Frage, wie viele Daten erhoben werden sol- <?page no="72"?> Quantitative und qualitative Aspekte 72 len bzw. müssen. Die Datenmenge hängt grundsätzlich stark vom zu untersuchenden Phänomen ab. Tritt wenig oder kaum Variation auf, sind wesentlich weniger Belege notwendig, als wenn ein bestimmtes Phänomen durch eine hohe Varianz gekennzeichnet ist, d.h. sein Auftreten offensichtlich von verschiedenen Faktoren abhängt. Mit der Frage nach der Anzahl der Belege verbunden ist die Frage, wie viel Text ausgewertet werden muss, um eine ausreichende Zahl an Belegen zu erhalten. Davon abgesehen, dass bei Phänomenen, die durch eine hohe Varianz gekennzeichnet sind, eine höhere Anzahl an Belegen notwendig ist, hängt die Größe des auszuwertenden Textes (bzw. Textausschnitts) grundsätzlich davon ab, wie häufig ein bestimmtes Phänomen ist. Bei hochfrequenten Erscheinungen, wie sie etwa viele phonologische Phänomene darstellen, können unter Umständen wenige Seiten Text genügen. Bei niedrigfrequenten Erscheinungen - dazu gehören gerade viele syntaktische Phänomene - muss die untersuchte Textmenge dagegen größer sein. Bis jetzt gibt es allerdings kaum Erfahrungswerte. Im Rahmen der Arbeiten an der Grammatik des Frühneuhochdeutschen und nun an der Grammatik des Mittelhochdeutschen wurde pro Text jeweils ein Ausschnitt von ca. 30 sogenannten „Normalseiten“ ausgewertet (beide grammatikographischen Unternehmungen machen es sich zur Aufgabe, die grammatischen Erscheinungen einer Periode von jeweils ca. dreihundert Jahren unter Einschluss der regionalen Verschiedenheiten zu beschreiben). Eine „Normalseite“ entspricht 400 Wortformen, 30 Normalseiten umfassen also 12 000 Wortformen; für poetische Texte entspricht dies ca. 2 500 Versen (vgl. Wegera 2000: 1310, Ebert et al. 1993: 9). Diese Textmenge hat sich beim Aufstellen von Flexionsparadigmen bewährt. Dagegen stehen für spezifisch syntaktische Phänomene bisher noch kaum Erfahrungswerte zur Verfügung. Auch hier ist selbstverständlich, dass die notwendige Textmenge sich von Phänomen zu Phänomen unterscheiden kann. Grundsätzlich ist allerdings damit zu rechnen, dass die benötigte Textmenge größer ist als bei phonologischen und morphologischen Phänomenen: Syntaktische Phänomene beziehen sich auf Strukturen oberhalb der Wortebene, es ist deshalb zu erwarten, dass mehr Text ausgewertet werden muss, um zu einer gleich hohen Anzahl von Belegen zu gelangen wie bei einem morphologischen Phänomen. Bei seltenen syntaktischen Phänomenen kann eine Beschränkung auf 30 Normalseiten schon allein deswegen nicht praktikabel sein, weil sie zu wenig Datenmaterial erbringen würde. Dies soll anhand eines konkreten Rechenbeispiels veranschaulicht werden. Das syntaktische Phänomen, das genauer betrachtet werden soll, ist die Abfolge von akkusativischen und dativischen Personalpronomen. In der neuhochdeutschen Standardsprache steht in der Regel in Sätzen, in denen ein pronominales akkusativisches und dativisches Personalpronomen auftreten, das akkusativische Pronomen vor dem dativischen, es tritt praktisch keine Variation auf: ich gebe es ihm / *ich gebe ihm es Der folgende Ausschnitt stammt aus dem sogenannten „Prosalancelot“, einem sehr umfangreichen mittelhochdeutschen Text, der gleichzeitig der älteste <?page no="73"?> Korpusbildung 73 deutsche Prosaroman ist. Wie dieser Ausschnitt zeigt, können im Prosalancelot grundsätzlich beide Abfolgen auftreten. Zuerst tritt die Abfolge Akkusativ vor Dativ auf, danach jedoch die umgekehrte Abfolge Dativ vor Akkusativ: da stieß ich mynen fuß in mynen stegreiff und wolts im nit geben, er gewúnne mirs dann an mit jostieren (Prosalancelot 292,5-7) ‘da setzte ich meinen Fuß in meinen Steigbügel und wollte es ihm nicht geben, er gewönne mir es denn ab mit Tjostieren’ Die Gesamtauswertung des ersten Teils des Prosalancelot ergibt insgesamt 482 Belege für Sätze mit einem pronominalen akkusativischen und dativischen Objekt, die unmittelbar hintereinander auftreten. Davon entfallen 310 Belege (64 %) auf die Abfolge Akkusativ vor Dativ, 172 Belege (36 %) auf die umgekehrte Abfolge Dativ vor Akkusativ (vgl. Fleischer 2010: 528). Der erste Teil des Prosalancelot ist mit geschätzt ca. 345 000 Wörtern einer der längsten Texte, die wir aus mittelhochdeutscher Zeit überhaupt zur Verfügung haben. Die Tatsache, dass wir aus diesem Text relativ viele Belege entnehmen können, hängt natürlich mit seinem Umfang zusammen. Insgesamt ergibt sich eine Beleghäufigkeit von einem Beleg je ca. 715 Wörter (d.h. auf durchschnittlich 715 Wörter Text findet sich ein Beleg für das untersuchte Phänomen). Bei einer Beschränkung der ausgewerteten Daten auf 30 Normalseiten (bzw. 12 000 Wortformen) kommt man auf nur ca. 17 Belege. Die Abfolge von akkusativischen und dativischen Personalpronomen im Mittelhochdeutschen ist aber, wie unter anderem die detaillierte Untersuchung des ersten Teils des Prosalancelot aufgezeigt hat, durch hochgradige Variation gekennzeichnet, und zwar verhalten sich verschiedene Pronomen unterschiedlich. So treten im Prosalancelot die dativischen Pronomen der 1. und 2. Person Singular, mir und dir, besonders häufig vor den akkusativischen Personalpronomen auf, die übrigen Dativformen stehen dagegen eher nach dem Akkusativ. Die Zahl von 17 Belegen wäre auf jeden Fall zu gering, um diese Regularitäten zu erkennen. Nur durch das Auswerten des gesamten Textes werden genaue Aussagen möglich. Bei syntaktischen Phänomenen, die niedrigfrequent sind und bei denen auch innerhalb eines bestimmten Texts eine hohe Varianz festzustellen ist, kann es deshalb notwendig sein, eine Textmenge zu analysieren, die wesentlich über 30 Normalseiten hinausgeht. 5.3 Korpusbildung Historische Syntaxforschung kann sich auf ein bestimmtes Sprachdenkmal beziehen und dessen syntaktische Strukturen beschreiben und analysieren. Genau wie bei einer Untersuchung der Gegenwartssprache liegt damit ein synchroner Zugang vor. Viele historische Untersuchungen sind dagegen bestrebt, diachrone Entwicklungen aufzuzeigen. Dazu ist es notwendig, Texte (oder Textausschnitte) aus verschiedenen Epochen zu untersuchen und die einzelnen Befunde miteinander zu vergleichen. Sobald man mehrere Texte (oder Textausschnitte) auswertet und zueinander in Beziehung setzt, wertet man ein „Korpus“ aus. Als Korpus (Pl. <?page no="74"?> Quantitative und qualitative Aspekte 74 Korpora) bezeichnet man zunächst jede Sammlung von Texten (vgl. Lemnitzer/ Zinsmeister 2010: 8). Ein Korpus für die linguistische Forschung wird allerdings nach bestimmten Kriterien zusammengestellt. Für die diachrone Forschung ist natürlich die Zeit, in der ein bestimmter Text entstanden ist, das wichtigste Kriterium. Die Verbreitung sprachlicher Strukturen kann sich nicht nur in verschiedenen Zeitstufen, sondern auch in verschiedenen Textsorten unterschiedlich darstellen (beispielsweise wird das Genitivattribut im Mittelhochdeutschen in der Poesie häufiger vorangestellt als in Prosatexten; vgl. 3.4). Außerdem können regionale Unterschiede auftreten. So ist die doppelte Verneinung in westmitteldeutschen und niederdeutschen Texten aus dem Zeitraum von 1470-1530 wesentlich häufiger als in ostmitteldeutschen und oberdeutschen Quellen (vgl. 13.1.2). Für eine umfassende Untersuchung kann es darum sinnvoll sein, auch diese Faktoren zu berücksichtigen. Damit wird die benötigte Zahl an auszuwertenden Texten (oder Textausschnitten) aber sehr groß, weil sich die Faktoren multiplizieren. Dies soll zunächst anhand eines theoretischen Beispiels illustriert werden: Wenn ein bestimmtes Phänomen in Bezug auf Periode, Regionalität und Textsorte untersucht werden soll und dabei insgesamt vier Zeitperioden, drei Regionen und zwei Textsorten berücksichtigt werden müssen, sind insgesamt 24 verschiedene Texte (oder Textausschnitte) notwendig, damit alle möglichen Kombinationen von Faktoren abgedeckt sind und die Daten somit umfassend erhoben werden können. Dies verdeutlicht die folgende Matrix (Texts. steht für „Textsorte“): Region 1 Region 2 Region 3 Texts. 1 Texts. 2 Texts. 1 Texts. 2 Texts. 1 Texts. 2 Periode 1 Periode 2 Periode 3 Periode 4 Matrix für ein strukturiertes Korpus Jede leere Zelle in dieser Matrix steht für einen Text (oder Textausschnitt), der den Kriterien von Periode, Region und Textsorte entspricht; gegebenenfalls können weitere Parameter hinzukommen. Wenn man über eine Sammlung von Texten verfügt, die im Hinblick auf die Parameter in einer Art und Weise zusammengestellt ist, dass die möglichen Paramterkombinationen alle durch einen quantitativ vergleichbar großen Text (oder Textausschnitt) abgedeckt werden, spricht man von einem „strukturierten Korpus“ (vgl. Wegera 2000: 1306). Die Überlieferung gerade der älteren Sprachstufen des Deutschen ist allerdings so beschaffen, dass kaum strukturierte Korpora gebildet werden können, weil nicht genügend (und nicht genügend unterschiedliche) Texte vorhanden sind. Wenn man beispielsweise das 9. Jahrhundert in zwei Zeitabschnitte unterteilt, vier Dialektregionen betrachtet, zwei Textsorten (Prosa und Poesie) ansetzt und zusätzlich fordert, dass die Texte eine bestimmte Länge aufweisen müssen, <?page no="75"?> Korpusbildung 75 ergibt sich eine Matrix, in der die meisten Zellen leer bleiben, da keine entsprechenden Texte überliefert sind (Mons. steht für Monseer Fragmente): Ostfränk. Südrheinfr. Aleman. Bair. Prosa Poesie Prosa Poesie Prosa Poesie Prosa Poesie 800-850 Tatian - - - - - Mons. - 850-899 - - - Otfrid - - - - Matrix eines strukturierten Korpus des 9. Jahrhunderts Für das Althochdeutsche des 9. Jahrhunderts mit seinen wenigen überlieferten Texten ist es also gar nicht möglich, ein strukturiertes Korpus zu bilden. Pro Raum wären jeweils vier verschiedene Texte nötig, doch steht für das Alemannische kein einziger geeigneter Text zur Verfügung, für die übrigen drei Dialekträume jeweils nur einer. Generell sind für die althochdeutsche Sprachstufe, aber auch für das ältere Mittelhochdeutsche bis zur 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts zu wenig Texte überliefert (vgl. Wegera 2000: 1305-1306). Dagegen hat man in frühneuhochdeutscher Zeit eine derart reichhaltige Überlieferung, dass ein strukturiertes Korpus problemlos gebildet werden kann. Dies gilt - mit gewissen Einschränkungen - auch für das Mittelhochdeutsche ab der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts. Die Parameter, durch welche ein Korpus strukturiert wird, können verschiedenartig und verschieden fein sein. Erwähnt wurde bereits die Strukturierung durch Periode, Region und Textsorte. Bei der Unterteilung in Perioden wurden in der Grammatik des Frühneuhochdeutschen jeweils Abschnitte von fünfzig Jahren als Perioden festgelegt, auch die entstehende Grammatik des Mittelhochdeutschen folgt einem solchen Einteilungsschema. Diese Einteilung in Zeitperioden ist im Prinzip willkürlich, es könnten ebenso gut längere oder kürzere Abschnitte gewählt werden. Im Fall des Mittelhochdeutschen spricht für die Unterteilung in Abschnitte, die nicht kleiner als fünfzig Jahre sind, ein praktisches Kriterium: Die meisten Quellen können ohnehin nicht genauer als in eine bestimmte Jahrhunderthälfte datiert werden (vgl. Wegera 2000: 1307). Auch in Bezug auf die Region können größere oder kleinere Teilgebiete zugrunde gelegt werden: So kann etwa nur eine grobe Unterteilung zwischen Mitteldeutsch und Oberdeutsch Verwendung finden oder es können kleinere Gebiete im mitteldeutschen bzw. oberdeutschen Raum unterschieden werden. Im oberdeutschen Raum können beispielsweise noch Bairisch und Alemannisch unterschieden werden. In Bezug auf die Textsorten schließlich sind neben der sehr groben Unterteilung in Prosa und Poesie auch wesentlich feinere Unterteilungen möglich. In der Grammatik des Mittelhochdeutschen wird beispielsweise mit einer Dreiteilung in Verstexte, Urkundentexte und übrige Prosatexte gearbeitet (vgl. Wegera 2000: 1305). Eine solche Dreiteilung bietet ein im Vergleich zu modernen Textsortenklassifikationen immer noch eher grobes Raster, doch gibt es für die älteren Sprachstufen nicht genug verschiedenartige Texte, als dass eine feinere Unterteilung möglich wäre. Die folgende Matrix zeigt die Korpusarchitektur, wie sie für die entstehende Grammatik des Mittelhochdeutschen Verwendung findet (der Anschaulichkeit halber bleiben dabei die Textsorten unberücksichtigt). Die Zeit vom Beginn der mit- <?page no="76"?> Quantitative und qualitative Aspekte 76 telhochdeutschen Sprachstufe um ca. 1050 bis 1150 wird dabei, anders als die spätere Zeit, nur durch einen einzigen Zeitabschnitt repräsentiert, da aus dieser frühen Zeit nur wenige Texte erhalten sind. Die für das Mittelhochdeutsche relevanten Dialektgebiete verändern außerdem im Verlauf der mittelhochdeutschen Sprachstufe ihre Anzahl, da sich das Verbreitungsgebiet des Mittelhochdeutschen vergrößert. Die Dialektbezeichnungen der folgenden Matrix beziehen sich auf die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts: Bair. Schwäb. Aleman. Mittelfr. Rhfrk.-hess. Omd. vor 1150 1150-1200 1200-1250 1250-1300 1300-1350 Matrix für ein strukturiertes Korpus des Mittelhochdeutschen (nach Wegera 2000) Als weitere Dimension kommt noch die Textsorte hinzu. Bei drei verschiedenen Textsorten (Vers, Urkunden, übrige Prosa) sind somit für ein strukturiertes Korpus des Mittelhochdeutschen 90 verschiedene Texte nötig: 5 Perioden x 6 Regionen x 3 Textsorten = 90 Texte. Bei den Verstexten des Mittelhochdeutschen können der Zeitpunkt der Textentstehung und der ältesten Überlieferung (und häufig auch die Region der Entstehung und der Überlieferung) weit auseinander liegen (vgl. 4.2). Viele der „klassischen“ mittelhochdeutschen Texte erfüllen deshalb die Kriterien, die die Architektur eines strukturierten Korpus stellt, nicht und werden daher nicht berücksichtigt (vgl. Wegera 2000: 1309). Für das Frühneuhochdeutsche kann eine strukturierte Korpusarchitektur dagegen gut realisiert werden. Das „Bonner Frühneuhochdeutschkorpus“, das bei der Erarbeitung der Grammatik des Frühneuhochdeutschen verwendet wurde und das pro Text jeweils einen Ausschnitt von ca. 30 „Normalseiten“ (vgl. 5.2) bietet, steht heute online zur Verfügung. 6 Für das Althochdeutsche und Mittelhochdeutsche werden derzeit Korpora erarbeitet, die - soweit dies aufgrund der Überlieferungslage möglich ist - ebenfalls strukturiert sind und zahlreiche elektronische Suchmöglichkeiten bieten. Auch für das Deutsche des 17. und 18. Jahrhunderts wird gegenwärtig ein elektronisches Korpus aufgebaut. Untersuchungen zur historischen Syntax des Deutschen werden von diesen Forschungsinstrumenten in nicht allzu ferner Zukunft profitieren können. 5.4 Interne und externe Faktoren Mit einem strukturierten Korpus kann ein syntaktisches Phänomen in Bezug auf seine Abhängigkeit von Zeit, Region und Textsorte untersucht werden. Vergli- ________ 6 Vgl. http: / / www.korpora.org/ Fnhd/ . <?page no="77"?> Interne und externe Faktoren 77 chen werden kann diese Methode mit dem Vorgehen der modernen Soziolinguistik, wie sie von William Labov geprägt wurde. Moderne soziolinguistische Arbeiten untersuchen Faktoren wie Alter, Geschlecht und soziale Schicht anhand einer bestimmten Population. Es handelt sich dabei um sogenannte „externe Faktoren“, da sie außerhalb des Sprachsystems liegen. „Interne Faktoren“ liegen dagegen in der Sprache selbst; beispielsweise bei der Konstruktion, der Form etc. Für eine soziolinguistische Untersuchung müssen Personen (meist als „Informanten“ bezeichnet) gefunden werden, die den jeweiligen Kombinationen von Kriterien entsprechen und die befragt werden können. Wie in der Korpuslinguistik muss sozusagen eine Matrix gebildet und deren einzelne Zellen gefüllt werden, indem Informanten, die den jeweiligen Kriterien entsprechen, ausfindig gemacht werden. Für die älteren Sprachstufen des Deutschen können Faktoren, die für die Soziolinguistik besonders interessant sind, in der Regel nicht abgedeckt werden, da entsprechende Zeugnisse fehlen. Es gibt jedoch einige wenige historische syntaktische Untersuchungen, die aufgrund einer besonders guten Überlieferungssituation ganz ähnlich angelegt sind wie moderne soziolinguistische Untersuchungen. Anschaulich sind hier vor allem die Arbeiten Robert Peter Eberts zur Sprache Nürnbergs. In Ebert (1998) wird aufgezeigt, dass in der geschriebenen Sprache Nürnbergs im 16. Jahrhundert die soziale Schicht und das Geschlecht einen Effekt auf die Verbstellung haben (vgl. 9.5.3). Im 16. Jahrhundert kann in Nebensätzen, in denen eine aus zwei Verben zusammengesetzte Verbalform auftritt, das finite (flektierte) Verb, anders als in der neuhochdeutschen Standardsprache, vor dem unflektierten Verb (im folgenden Beispiel handelt es sich um ein Partizip II) stehen: daß ytzunt hans Rappolt genn Leyptzigk ist geritten (1529; zit. n. Ebert 1998: 5) ‘dass jetzt Hans Rappolt nach Leipzig geritten ist’ Dieser und andere Nürnberger Briefe des 16. Jahrhunderts zeigen, dass Angehörige der sozialen Oberschicht häufiger die dem modernen Standarddeutschen entsprechende Abfolge unflektiertes Verb - flektiertes Verb (… geritten ist) verwenden als Vertreter einer niedrigeren Schicht (vgl. Ebert 1998: 167). Außerdem weisen Männer die dem modernen Standarddeutschen entsprechende Abfolge unflektiertes Verb - flektiertes Verb deutlich häufiger auf als Frauen, wobei aber der Abstand zwischen den zwei Gruppen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts geringer wird (vgl. Ebert 1998: 169). Dieser Unterschied dürfte allerdings vor allem darauf zurückzuführen sein, dass Frauen weniger Zugang zu Schulbildung hatten als Männer. Gerade für die älteren Sprachstufen des Deutschen sind in der Regel Untersuchungen, wie sie Ebert (1998) für das Nürnberg des 16. Jahrhunderts vorlegt, nicht möglich, weil die Daten fehlen. Beispielsweise wäre es kaum (bzw. nur für wenige Ortschaften) möglich, Eberts Untersuchung um den Faktor Region zu erweitern: In den meisten anderen Städten verfügen wir im 16. Jahrhundert nicht über ein derart umfangreiches (und in Bezug auf die interessierenden Faktoren strukturierbares) Briefkorpus. Dass wir im Fall von Nürnberg Aussagen zum Effekt des Geschlechts und der sozialen Schicht machen können (die sich aller- <?page no="78"?> Quantitative und qualitative Aspekte 78 dings, wie man einschränkend hinzufügen muss, auf bestimmte Textsorten beschränken), ist ein seltener Glücksfall. Bei Geschlecht und sozialer Schicht handelt es sich um sogenannte „externe Faktoren“, d.h. um Faktoren, die außerhalb des Sprachsystems liegen. Neben externen können aber natürlich auch „interne Faktoren“, d.h. Faktoren in der Struktur der Sprache selbst, eine Rolle spielen. In 5.1 haben wir gesehen, dass sich die morphologische Kategorie auf die Flexion des prädikativen Adjektivs im Althochdeutschen auswirkt. Für die Abfolge der verschiedenen Verben in zusammengesetzten Verbalformen sind - neben dem Geschlecht und der sozialen Stellung - auch interne Faktoren wichtig, etwa die Konstruktion: Beispielsweise verhält sich das werden-Passiv anders als das sein-Perfekt (vgl. 9.5.3). Bei der Stellung des attributiven Genitivs im Mittelhochdeutschen treten, wie in 3.4 gezeigt wurde, sowohl Voranstellung als auch Nachstellung auf, dabei unterscheiden sich Vers- und Prosatexte deutlich. Für die Stellung des Genitivattributs in der Zeit von 1300 bis 1750 kann nun bei Ebert (1999) nachgelesen werden, dass auch semantische Gesichtspunkte, und damit also ein interner Faktor, wichtig sind. Ebert (1999) unterteilt die Substantive in die folgenden fünf semantischen Gruppen: - Eigennamen und Titel (z.B. Hans Rappolt, König, Papst, kaiserliche Majestät) - Bezeichnungen für Gott (z.B. Gott, der Herr) - Gattungsnamen von Personen = Appellative (z.B. Prediger, Priester) - Abstraktbezeichnungen (z.B. Christenheit) - nichtpersönliche Konkreta (z.B. Buch, Tisch) Eigennamen und Titel werden in der Regel im ganzen untersuchten Zeitraum vorangestellt. Gottesbezeichnungen dagegen, die semantisch den Eigennamen und Titeln eigentlich sehr nahe stehen, werden nach den Beobachtungen Eberts häufiger nachgestellt als Eigennamen und Titel. Ebert vermutet, dass hier „das Vorbild der meist nachgestellten lateinischen Genitive Dei und Domini wirksam ist“ (Ebert 1999: 95). Gattungsnamen von Personen werden zunächst überwiegend vorangestellt, ein Beispiel dafür ist der folgende Beleg: in dez priesters hant (zit. n. Ebert 1999: 95) in des Priesters Hand = ‘in der Hand des Priesters’ Im 15. und 16. Jahrhundert setzt sich bei Gattungsnamen dagegen immer häufiger die Nachstellung durch, wobei sich allerdings große Unterschiede zwischen einzelnen Autoren zeigen. Bei den Abstrakta tritt im 14. Jahrhundert noch häufig die Voranstellung auf, doch wird im 15. Jahrhundert die Nachstellung immer häufiger, im frühen 16. Jahrhundert wird diese dann allerdings „sehr stark bevorzugt“ (Ebert 1999: 95). Bei manchen Autoren ist die Voranstellung auch noch im 17. Jahrhundert nicht unüblich, wobei jedoch interessant ist, dass es sich bei vorangestellten Beispielen in der Regel um „abstrakte Bezeichnungen für Institutionen und Gruppen, die aus Personen bestehen“ (Ebert 1999: 95), handelt. Beispiele für vorangestellte Genitive sind etwa der stat (‘der Stadt’), des ordens, des <?page no="79"?> Interne und externe Faktoren 79 regiments, der christenheit etc. (vgl. Ebert 1999: 95). Bei diesen in Bezug auf die Voranstellung eher atypischen Abstrakta könnte die semantische Nähe zur Gruppe der Personenbezeichnungen ausschlaggebend sein. Konkreta verhalten sich dagegen ziemlich homogen, sie sind bereits im 14. Jahrhundert gewöhnlich nachgestellt (vgl. Ebert 1999: 95). Die folgende Darstellung fasst das Auftreten der Voranstellung (VS) bzw. Nachstellung (NS; die entsprechenden Zellen sind grau hinterlegt) bei den verschiedenen Gruppen von Substantiven zusammen. Nicht in die Darstellung aufgenommen ist die Gruppe der Gottesbezeichnungen. Eigennamen, Titel Gattungsnamen für Personen Abstrakta Konkreta 14. Jh. VS VS VS NS 15. Jh. VS NS NS NS 16. Jh. VS NS NS NS Ausbreitung der Nachstellung in verschiedenen semantischen Gruppen vom 14. bis 16. Jahrhundert (nach Ebert 1999) Die im Neuhochdeutschen, abgesehen von Eigennamen (Ottos Buch), übliche Nachstellung setzt sich also von den Konkreta ausgehend langsam, über verschiedene semantische Gruppen gehend, durch. Dieser syntaktische Wandel wird somit von einem sprachinternen Faktor - der Semantik der betroffenen Substantive - strukturiert. Daneben spielen bei diesem Wandel auch externe Faktoren eine Rolle. Ebert untersucht deren Rolle detailliert für einen bestimmten Zeitausschnitt (1500-1540) in verschiedenen Texten aus Nürnberg. Er nimmt dabei folgende Unterteilung der untersuchten Texte vor: - Privatbriefe von Frauen der sozialen Oberschicht - Privatbriefe, ein Tagebuch und eine Autobiographie von Männern der sozialen Oberschicht - offizielle Schreiben von Männern der sozialen Oberschicht, die studiert hatten und städtische Ämter bekleideten - in der städtischen Kanzlei verfasste Briefe Bei den Eigennamen überwiegt die Voranstellung, dies ist aber in den offiziellen Schreiben und Kanzleitexten nicht ganz so häufig der Fall wie in den Privattexten. Auch die Gattungsnamen für Personen stehen in den offiziellen Schreiben und Kanzleitexten deutlich häufiger nach als in den Privattexten. Die Entwicklung zur Nachstellung des Genitivattributs ist also „in den offiziellen Schreiben und Kanzleitexten weiter fortgeschritten als in den Privattexten“ (Ebert 1999: 96). Für die Ausbreitung des nachgestellten Genitivattributs sind also sowohl sprachinterne als auch sprachexterne Faktoren relevant. Methodologisch ist es in manchen Fällen nicht ganz einfach, das Wirken interner und externer Faktoren auseinanderzuhalten. So untersucht Fritze (1970) die Voranstellung bzw. Nach- <?page no="80"?> Quantitative und qualitative Aspekte 80 stellung des Genitivattributs für den Zeitraum von 1470 bis 1530 und geht dabei detailliert auf verschiedene Textsorten (Fachprosa, Flugschrift, Chronik, Volksbuch, Reisebeschreibung) ein. Allerdings gliedert sie ihre Belege nicht nach semantischen Gruppen. Fritze (1970: 426-427) stellt Unterschiede zwischen den verschiedenen Textsorten fest, und zwar überwiegt demnach die Nachstellung in der Fachprosa und in den Flugschriften, sie ist seltener in den Chroniken und noch weniger häufig in den Volksbüchern und Reisebeschreibungen. Es scheint also, dass die Stellung des Genitivattributs von der Textsorte abhängig ist. Nach Ebert kann dieser Befund allerdings auch anders interpretiert werden: Entscheidend sind ihm zufolge nicht die Textsorten an sich, sondern die Tatsache, dass beispielsweise Eigennamen, die in der Regel vorangestellt werden, „in den Chroniken, Volksbüchern und Reisebeschreibungen häufiger vorkommen als in den Flugschriften und in der Fachprosa“ (Ebert 1999: 96). Fritze (1970: 437) selbst geht sogar darauf ein, dass Eigennamen in Chroniken und Reisebeschreibungen besonders häufig sind, zieht daraus aber keine weiteren Schlüsse (vgl. Ebert 1999: 96). Ebert (1999: 19) leitet - aufgrund derartiger Beispiele - ein methodologisches Postulat ab: Auch bei der Untersuchung sprachexterner Faktoren ist es notwendig, die wichtigsten internen Faktoren zu berücksichtigen. Nur wenn gezeigt werden kann, dass interne Faktoren - wie etwa im diskutierten Beispiel die Semantik der Substantive - keine Auswirkung auf eine bestimmte syntaktische Struktur haben, kann der Effekt externer Faktoren (Textsorte, soziale Schicht, Geschlecht etc.) stichhaltig bewiesen werden. Von der Untersuchung sprachinterner Faktoren kann nach Ebert (1999: 19) „nur dann abgesehen werden, wenn man festgestellt hat, daß sie nur eine relativ geringe Wirkung haben oder wenn sie auf die verschiedenen zu vergleichenden Texte relativ gleichmäßig verteilt sind.“ Literaturhinweise Zu den in diesem Kapitel besprochenen quantitativen und qualitativen Aspekten gibt es bis jetzt kaum Überblicksdarstellungen. Der Artikel von Wegera (2000) diskutiert mit Bezug auf das Mittelhochdeutsche einige der hier angesprochenen Probleme, unter anderem die Korpusbildung, in einer konzentrierten, aber gut lesbaren Art und Weise. Der Abschnitt „Zur syntaktischen Variation“ in Ebert (1999: 18-26) reflektiert gut nachvollziehbar zahlreiche der hier angesprochenen Probleme. Eine gute Einführung in die Korpuslinguistik, die sich allerdings kaum mit historischen Daten befasst, bieten Lemnitzer/ Zinsmeister (2010). <?page no="81"?> Teil II: Phänomene In diesem zentralen Teil der Einführung geht es um verschiedene syntaktische Phänomene, die in der Geschichte des Deutschen interessante diachrone Entwicklungen zeigen. Die Kapitel sind in der Regel so aufgebaut, dass zunächst (meist anhand neuhochdeutscher Beispiele) auf ein bestimmtes Phänomen allgemein eingegangen wird, bevor Daten aus älteren Sprachstufen präsentiert und mögliche Erklärungen diskutiert werden. Den Anfang macht ein Kapitel zum Kasussystem, d.h. also zu einem Phänomen der Nominalsyntax (Kapitel 6). Im darauf folgenden Kapitel geht es um Kongruenzbeziehungen unter anderem zwischen Subjekt und Verb, also um das Zusammenspiel nominaler und verbaler syntaktischer Phänomene (Kapitel 7). Danach wird mit der Entstehung periphrastischer Verbalformen ein Phänomen der verbalen Syntax behandelt, das einen engen Bezug zur Morphologie aufweist (Kapitel 8). Die Stellung des Verbs und seiner Teile zeigen zahlreiche interessante Entwicklungen; sie sind für die Organisation des deutschen Satzes zentral (Kapitel 9). Mit dem sogenannten „Ersatzinfinitiv“ wird auf ein bestimmtes Phänomen der Verbsyntax gesondert eingegangen (Kapitel 10). Häufig wurden Entwicklungen in der verbalen Morphologie dafür verantwortlich gemacht, dass das Subjektpronomen in der Geschichte des Deutschen obligatorisch wurde. Insofern weist das Subjektpronomen eine gewisse Verbindung mit dem Verb auf (Kapitel 11). Auch die Entstehung des expletiven es (z.B. es kommen wenig Studenten in die Sprechstunde) hat vielleicht damit zu tun, dass Subjekte in der Geschichte des Deutschen zunehmend obligatorisch werden (Kapitel 12). Den Abschluss macht ein Kapitel zur Entwicklung der Negation, die einige sehr interessanten Entwicklungen zeigt (Kapitel 13). <?page no="83"?> 6 Kasussyntax: das Schicksal des Genitivs In den älteren Sprachstufen des Deutschen war der Genitiv sehr häufig, und zwar sowohl in der Verwendung als Objekt als auch in der Verwendung als Attribut. Dagegen lässt sich in der Geschichte des Deutschen beobachten, dass der Genitiv zurückgeht. Zwar ist in der modernen Standardsprache das Genitivattribut (der Hut des Lehrers) noch verbreitet, doch die sogenannte „adverbale“ Verwendung, d.h. das Genitivobjekt (sie erinnern sich dessen), hat nur noch einen marginalen Status. In den Dialekten und in der Umgangssprache wird auch der adnominale Genitiv, d.h. das Genitivattribut, durch verschiedene Periphrasen ersetzt (der Hut vom Lehrer, dem Lehrer sein Hut). Im Folgenden wird zunächst kurz auf den Genitiv in der Standardsprache eingegangen (6.1). Danach werden kontrastiv dazu die Verhältnisse in den Dialekten genauer dargestellt (6.2). Vor diesem Hintergrund werden dann der Rückgang des adverbalen Genitivs (6.3) und des adnominalen Genitivs (6.4) eingehender behandelt. Zum Schluss werden mögliche Erklärungen für den Genitivschwund diskutiert (6.5). 6.1 Der Genitiv in der Standardsprache In der neuhochdeutschen Standardsprache kann der Genitiv von Verben abhängen, weshalb man diese Verwendung als „adverbal“ bezeichnet. sie gedachten seiner sie bezichtigten ihn der Lüge Die adverbale Verwendung ist in der neuhochdeutschen Standardsprache ziemlich selten. Lenz (1996a: 48-49) listet insgesamt 56 neuhochdeutsche Verben auf, die „genitivfähig“ sind, d.h. ein Genitivobjekt zu sich nehmen können (aber nicht in allen Fällen müssen). Im Folgenden werden einige weitere Beispiele für genitivfähige Verben im Neuhochdeutschen angeführt. Viele dieser Verben sind in der modernen Sprache relativ unüblich, gehören einer gehobenen Stilebene an und haben einen archaischen Klang: einer Sache entraten, jemanden einer Sache zeihen, sich einer Sache erdreisten, sich einer Sache befleißigen, sich einer Sache bemächtigen Bei vielen genitivfähigen Verben besteht im Neuhochdeutschen Konkurrenz zwischen einem adverbalen Genitiv und anderen Objekttypen. Statt eines Genitivobjekts kann bei vielen Verben ein Akkusativobjekt auftreten: ich entbehre seines Rates/ seinen Rat <?page no="84"?> Kasussyntax: das Schicksal des Genitivs 84 Bei anderen (vor allem reflexiven) Verben alterniert das Genitivobjekt mit einem präpositionalen Objekt: ich erinnere mich seiner/ ich erinnere mich an ihn Schließlich tritt bei manchen Verben ein adverbaler Genitiv nur noch in festen Wendungen auf. Andere Genitivobjekte sind dagegen gar nicht mehr möglich (vgl. Lenz 1996a: 4, Duden Grammatik 2009: 928 = § 1467): er freut sich des Lebens vs. *er freut sich des Geschenks Wie diese Beobachtungen nahelegen, hat der Genitiv im Neuhochdeutschen nur noch einen marginalen Status. Hier tritt er typischerweise „adnominal“ auf, d.h. als Attribut zu einem Nomen: der Hut des Lehrers Diese Verwendung des Genitivs ist in der neuhochdeutschen Standardsprache durchaus stabil und weit verbreitet, der Genitiv ist deshalb im Wesentlichen ein adnominaler Kasus. Daneben kann der Genitiv im Neuhochdeutschen noch in weiteren Kontexten vorkommen, z.B. in Abhängigkeit von einer Präposition (anlässlich des Treffens) oder eines Adjektivs (seiner überdrüssig). Im Folgenden werden aus Platzgründen nur die adverbale und die adnominale Verwendung des Genitivs genauer betrachtet. Dazu ist zunächst ein Blick auf die modernen Dialekte erhellend: Die Entwicklung, die auf dialektaler Ebene stattgefunden hat, lässt sich als eine konsequentere Durchführung derselben Tendenz zum Genitivschwund begreifen, die wir auch in den älteren Sprachstufen und im Neuhochdeutschen feststellen können. 6.2 Der Genitiv in den Dialekten Die meisten Dialekte des Deutschen zeigen einen vollständigen Abbau des Genitivs (vgl. Mironow 1957: 391, Shrier 1965: 421, Koß 1983: 1242). Der Genitiv fehlt somit nicht nur in der für die moderne Standardsprache marginalen adverbalen, sondern auch in der im Standard durchaus weit verbreiteten adnominalen Verwendung. Hinsichtlich des Genitivs besteht somit ein besonders großer Abstand zwischen der modernen Standardsprache auf der einen und den Dialekten auf der anderen Seite. Die Standardsprache ist gegenüber den Dialekten in Bezug auf das Kasusinventar konservativer, d.h. sie repräsentiert einen historisch älteren Zustand: Während im Standard noch vier Kasus vorkommen (Nominativ, Akkusativ, Dativ, Genitiv), weisen die meisten hochdeutschen Mundarten ein Drei- Kasus-System auf (Nominativ, Akkusativ, Dativ), für die meisten niederdeutschen Mundarten ist demgegenüber ein Zwei-Kasus-System charakteristisch, in welchem der Nominativ einem einzigen Objektkasus gegenübersteht (vgl. Shrier 1965: 431). <?page no="85"?> Der Genitiv in den Dialekten 85 Anders als der adverbale Genitiv ist der adnominale Genitiv in der Standardsprache durchaus lebendig. In den Mundarten ist er durch verschiedene sogenannte „Periphrasen“ ersetzt worden. Darunter werden Formen verstanden, die durch „Umschreibungen“ gebildet werden (gr. períphrasis bedeutet wörtlich ‘Herum-Reden’). Häufig wird dieser Begriff für verbale Formen verwendet (vgl. Kapitel 8), doch spielt dieses Phänomen auch in der Nominalsyntax eine Rolle. Die beiden häufigsten Umschreibungen für den adnominalen Genitiv sind die von-Periphrase und der sogenannte „possessive Dativ“. Bei der von-Periphrase wird die attributive Relation durch die Präposition von wiedergegeben, die als präpositionales Attribut auf das Kernnomen folgt. Beim possessiven Dativ tritt eine dativische Nominalphrase zusammen mit einem Possessivpronomen auf, diese stehen vor dem Kernnomen: von-Periphrase: der Hut vom Lehrer possessiver Dativ: dem Lehrer sein Hut Die Dialekte des Deutschen verfügen in der Regel über beide Periphrasen. Dies gilt besonders für die vom Standard aus betrachtet „auffällige“ Konstruktion mit dem Possessivpronomen, wie schon Weise (1898) zeigte. Der possessive Dativ ist allerdings auf belebte Nominalphrasen beschränkt (vgl. z.B. Zifonun 2003: 102). Die folgenden Beispiele zeigen die von-Periphrase in einem niederdeutschen, einem westmitteldeutschen und einem oberdeutschen Dialekt. Obwohl die Beispiele aus völlig unterschiedlichen Regionen stammen, haben sie alle die gleiche Struktur: dat Dack vun den Schuppen (Nordniederdeutsch; Lindow et al. 1998: 144) das Dach von dem Schuppen ‘das Dach des Schuppens’ de Såådel vun miin Foorrååd (Osthessisch [Transkr. vereinfacht]; Weldner 1991: 147) der Sattel von meinem Fahrrad ‘der Sattel meines Fahrrads’ s Haus vo n mein Vadda (Bairisch; Zehetner 1985: 107) das Haus von meinem Vater ‘das Haus meines Vaters’ Die folgenden Beispiele (aus den gleichen Dialekten) zeigen den possessiven Dativ. Auch hier tritt in allen Dialekten die gleiche Struktur auf: den Vadder sien Huus (Nordniederdeutsch; Lindow et al. 1998: 144) dem Vater sein Haus ‘das Haus des Vaters’ <?page no="86"?> Kasussyntax: das Schicksal des Genitivs 86 min Vååde sii Maandel (Osthessisch [Transkr. vereinfacht]; Weldner 1991: 147) meinem Vater sein Mantel ‘der Mantel meines Vaters’ mein Vadda(n) sei n Haus (Bairisch; Zehetner 1985: 107) meinem Vater sein Haus ‘das Haus meines Vaters’ Die von-Periphrase und der possessive Dativ sind in den Dialekten an die Stelle des adnominalen Genitivs getreten. Beide Periphrasen sind in den deutschen Dialekten weit verbreitet. Erhaltener Genitiv findet sich nur in wenigen, besonders archaischen Dialekten des Deutschen. Dazu gehören unter anderem die höchstalemannischen Mundarten im Wallis (Südwesten der deutschsprachigen Schweiz; vgl. Henzen 1932) und die durch Auswanderung aus dem Wallis entstandenen sogenannten „Südwalser Sprachinseln“ (zu diesem Begriff vgl. 15.2) im italienischsprachigen Gebiet, außerdem auch die bairische Sprachinsel Gottschee (in Slowenien) und einige weitere archaische Mundarten (vgl. Koß 1983: 1243). Die folgenden höchstalemannischen Beispiele von adnominalen Genitiven stammen aus dem Wallis bzw. aus der Südwalser Sprachinsel Issime. Die Konservativität dieser Mundarten zeigt sich hier nicht nur in der Erhaltung des Genitivs, sondern auch in der Tatsache, dass er dem Nomen vorangestellt wird. Diese Stellung des Genitivattributs ist im modernen Neuhochdeutschen ansonsten nur noch bei Eigennamen üblich, war aber in älteren Sprachstufen weiter verbreitet (vgl. 3.4, 5.4): ts pfarærš juŋkfroiw (Wallis; Henzen 1932: 98) des Pfarrers Haushälterin („Jungfrau“) ‘die Haushälterin des Pfarrers’ diisch mansch bruuder (Issime; Zürrer 1999: 146) dieses Mannes Bruder ‘der Bruder dieses Mannes’ Ein besonderer Archaismus in diesen Mundarten besteht darin, dass sogar die adverbale Verwendung des Genitivs noch gut erhalten ist. Diesbezüglich sind diese Mundarten wesentlich konservativer als die Standardsprache: iær bruiχæd minær nīd ts wārtæ(n) (Wallis; Henzen 1932: 126) ihr braucht meiner nicht zu warten ‘ihr braucht nicht auf mich zu warten’ gheb dich nöit deisch lebtagsch (Issime; Zürrer 1999: 146) beklage dich nicht deines Lebens ‘beklage dich nicht über dein Leben’ <?page no="87"?> Der Rückgang des adverbalen Genitivs 87 Die höchstalemannischen Mundarten sind dadurch, dass sie den Genitiv nicht nur in adnominaler, sondern auch in adverbaler Verwendung erhalten haben, äußerst atypisch. Typisch für die deutschen Dialekte ist dagegen, dass der Genitiv vollständig verschwunden ist. 6.3 Der Rückgang des adverbalen Genitivs Während der adverbale Genitiv in den Dialekten mit wenigen archaischen Ausnahmen vollständig verschwunden ist, kann in der neuhochdeutschen Standardsprache bei einigen Verben noch ein Genitivobjekt auftreten. Dies war in älteren Sprachstufen anders. Insgesamt lässt sich vom Althochdeutschen bis zum Neuhochdeutschen ein deutlicher Rückgang des adverbalen Genitivs feststellen. Zum Rückgang adverbaler Genitive kann es auf zweierlei Weise kommen: Verben, die den Genitiv regieren, können insgesamt aussterben (und damit auch ihre Rektion), sie können aber auch ihre Rektion ändern: Das Genitiv-Objekt wird durch andere Objekttypen (Akkusativ- oder Präpositionalobjekt, selten Dativobjekt) ersetzt. Dieser Ersatz, der sicher nicht von einem Moment auf den nächsten vonstatten ging, begann in vielen Fällen wahrscheinlich damit, dass es zunächst zur Variation des Genitivobjekts mit anderen Objekttypen kam. Damit entstand eine Konkurrenzsituation, die bei manchen Verben bis heute andauert (vgl. die oben angeführten Beispiele zu entbehren und sich erinnern). Die folgenden Beispiele aus dem 16. Jahrhundert zeigen das Verb vergessen, das damals sowohl mit Genitivobjekt als auch mit Akkusativobjekt auftreten konnte. Dieses Verb nimmt heute praktisch ausschließlich ein Akkusativobjekt zu sich: 7 Vnd hast vergessen Gottes / der dich gemacht hat (Luther, Biblia 1545, 115r [Dtn 32,18]) da vergist man Gott (Sarcerius 1549; zit. n. Fischer 1987: 279) Die folgenden Beispiele illustrieren in analoger Weise, ebenfalls für das 16. Jahrhundert, das Verb sich freuen, bei dem das Genitivobjekt mit einem Präpositionalobjekt konkurriert. An den angeführten Beispielen ist besonders bemerkenswert, dass sie vom selben Autor und aus der gleichen Quelle stammen: Frewe dich dieses Prophetischen orts (Witzel, Büchlein 1536; zit. n. Fischer 1987: 281) … vnd uns über die verheissung des zuk F nfftigen Reichs unaussprechlich frewen (Witzel, Büchlein 1536; zit. n. Fischer 1987: 281) ________ 7 Ein Relikt des Genitivobjekts bei vergessen bietet das Vergissmeinnicht: In diesem Blumennamen steckt die alte Genitivform mein (nhd. meiner), vgl. etwa frühneuhochdeutsch: Vnd meine Freunde haben mein vergessen (Luther, Biblia 1545, 280r [Hiob 19,14]). <?page no="88"?> Kasussyntax: das Schicksal des Genitivs 88 Schon in althochdeutscher Zeit besteht also bei manchen Verben eine Konkurrenzsituation zwischen Genitivobjekt und anderen Objekttypen. Während nach mittelhochdeutscher Zeit vor allem Unterschiede in Stil und Textsorte für die Alternation verantwortlich zu sein scheinen (vgl. 6.3.1), sind es zuvor wahrscheinlich eher sprachinterne (semantische) Unterschiede, die die Alternation steuern (vgl. 6.3.2). Dabei alterniert in althochdeutscher Zeit das Genitivobjekt zunächst vor allem mit dem Akkusativobjekt (gelegentlich mit einem Dativobjekt), in späterer Zeit kommen Präpositionalobjekte als weiterer Objekttyp hinzu. Im 14. Jahrhundert konkurriert der Genitiv häufig mit einem Akkusativ- oder einem Präpositionalobjekt. Von einem dieser beiden Objekttypen wird er schließlich bei den meisten Verben verdrängt (vgl. Ebert 1999: 40). In den Dialekten verschwand er vollständig, wie im vorigen Abschnitt gezeigt worden ist, womit es zu einer gewissen Differenz zwischen den Dialekten auf der einen und der Schriftsprache auf der anderen Seite kommt. Aus einer Analyse von Auswandererbriefen des 19. Jahrhunderts, einer der gesprochenen Sprache nahestehenden Textsorte, geht hervor, dass das Genitivobjekt in der damaligen gesprochenen Alltagssprache „nicht mehr produktiv, sondern nur noch resthaft in formalisierten Kontexten erhalten“ war (Elspaß 2005: 320). Dies zeigt sich an Belegen, in denen statt eines Genitivobjekts ein konkurrierendes Objekt in einem Kontext verwendet wird, der von der standardsprachlichen Norm aus betrachtet fehlerhaft ist. Dies ist etwa im folgenden Beispiel der Fall (im modernen Standard müsste ein Genitivobjekt ihrer auftreten): so haben sich die Fürsten um sie angenommen (Auswandererbrief 1856; zit. n. Elspaß 2005: 318) Der Rückgang des adverbalen Genitivs kann durch Zahlen gut illustriert werden. In verschiedenen Arbeiten finden sich quantitative Aussagen zur Verbreitung des Genitivobjekts, die alle auf seinen zunehmenden Schwund hindeuten. Lindgren (1969) macht Angaben zur gesamten deutschen Sprachgeschichte. Er zählt in verschiedenen Texten anhand von jeweils 500 Sätzen aus, wie häufig das Genitivobjekt auf hundert Satzglieder ist. Bei Otfrid macht das Genitivobjekt nach dieser Berechnung 9,4 % aus, im Nibelungenlied 9,0 %, bei Luther 3,6 %, bei Goethe 1,2 %, bei Musil 1,0 % und in der Zeitschrift Zeit 0,2 % (vgl. Lindgren 1969: 151, Tabelle 2). Hier lässt sich also ein kontinuierlicher Rückgang feststellen. Die Auszählung Lindgrens (1969) bezieht sich auf die Frequenz des Genitivobjekts. Der Rückgang lässt sich jedoch auch anhand der Verben, die den Genitiv regieren können, illustrieren. Im Althochdeutschen rechnet Rausch (1897: 54) mit ca. 300 Verben, die den Genitiv zu sich nehmen können. Donhauser (1998a: 72) kommt aufgrund einer Analyse von Tatian (vgl. 2.2), Otfrid (vgl. 3.2) und Notker (†1022) auf insgesamt 290 althochdeutsche Verben, die den Genitiv als Objektkasus zu sich nehmen können. Für das Mittelhochdeutsche geht Rausch (1897: 98) von ca. 260 genitivfähigen Verben aus. Dies scheint gegenüber dem Althochdeutschen einen nur moderaten Rückgang zu bedeuten. Wenn man jedoch berücksichtigt, dass das Althochdeutsche wesentlich weniger gut belegt ist als das Mittelhochdeutsche und vielleicht nicht alle betreffenden althochdeutschen Verben <?page no="89"?> Der Rückgang des adverbalen Genitivs 89 überliefert sind, kann man diese Zahlen auch so interpretieren, dass der Rückgang bereits mit dem Übergang vom Altzum Mittelhochdeutschen markant einsetzte. Es besteht kein Zweifel daran, dass das Genitivobjekt in alt- und auch noch in mittelhochdeutscher Zeit wesentlich häufiger war als in den jüngeren Sprachstufen. Schmid (2004: 25) nennt für die beiden ältesten Sprachstufen zusammen die Zahl von über tausend Verben, die ein Genitivobjekt aufweisen können. Von mittelhochdeutscher Zeit bis ins Neuhochdeutsche reduziert sich die Zahl genitivfähiger Verben beträchtlich. Entscheidend für den Verlust des adverbalen Genitivs scheint das 14./ 15. Jahrhundert gewesen zu sein. Von den ca. 260 Verben, die im Mittelhochdeutschen ein Genitivobjekt zu sich nehmen können, verschwindet der Genitiv bei ca. 120 Verben bis zum 16. Jahrhundert vollständig und wird bei vielen weiteren Verben seltener (vgl. Rausch 1897: 101). Der Rückgang des Genitivobjekts lässt sich auch anhand von Verben veranschaulichen, bei denen für einen gewissen Zeitraum eine Konkurrenzsituation mit anderen Objekttypen besteht (vgl. die oben angeführten Beispiele aus dem 16. Jahrhundert). Solche Verben werden in zwei detaillierten Studien von Fischer (1987, 1992) zu Leipziger Drucken von 1500-1561 bzw. zu Texten aus dem gesamten deutschen Sprachraum von 1570-1630 und 1670-1730 eingehend untersucht. In Leipziger Drucken aus der Zeit von 1500-1561 macht der Anteil von Genitivobjekten bei Verben mit wechselnder Rektion 55,6 % aus (diese Zahl beruht auf insgesamt 1639 Belegen; vgl. Fischer 1987: 284). In den aus dem gesamten deutschen Sprachraum stammenden Texten von 1570-1630 bzw. 1670-1730 lässt sich der Rückgang des adverbalen Genitivs dann sehr gut verfolgen. Die nachstehende Tabelle zeigt für vier verschiedene Zeitperioden die Häufigkeit von Genitivobjekten bei Verben mit wechselnder Rektion: Genitivobjekte (%) konkurrierende Objekte (%) Anzahl Belege 1570-1599 55,7 % 44,3 % 1387 1600-1630 50,2 % 49,8 % 1587 1670-1699 39,9 % 60,1 % 1372 1700-1730 37,1 % 62,9 % 1040 Anzahl von Genitivobjekten und konkurrierenden Objekten in Texten von 1570-1730 (nach Fischer 1992: 329) Der Anteil des Genitivobjekts reduziert sich kontinuierlich von 55,7 % auf 37,1 %. Entsprechend nimmt der Anteil konkurrierender Objekttypen kontinuierlich von 44,3 % auf 62,9 % zu. Noch im jüngeren Neuhochdeutschen lässt sich der Rückgang des Genitivobjekts quantifizieren. Sommerfeldt (1966) vergleicht Zeitungstexte aus den Jahren 1860 und 1960. Von insgesamt ca. 6 400 untersuchten Objekten machen die Genitivobjekte in beiden untersuchten Jahren nur noch einen sehr geringen Anteil aus. In den Zeitungstexten von 1860 ist das Genitivobjekt mit 1,5 % nur noch <?page no="90"?> Kasussyntax: das Schicksal des Genitivs 90 marginal vertreten, in den Texten von 1960 hat sein Anteil mit 0,6 % weiter abgenommen (vgl. Sommerfeldt 1966: 36). Insgesamt lässt sich also anhand dieser Zahlen ein deutlicher Rückgang des adverbalen Genitivs feststellen. Es handelt sich dabei um eine Entwicklung, die über mehrere Jahrhunderte kontinuierlich abläuft. Sowohl interne Faktoren, d.h. Faktoren, die im Sprachsystem selbst begründet sind, als auch externe Faktoren, d.h. Faktoren, die außerhalb des Sprachsystems liegen, scheinen beim Schwund des adverbalen Genitivs eine Rolle zu spielen. 6.3.1 Externe Faktoren Aufgrund des vollständigen Fehlens des Genitivs in den meisten deutschen Dialekten lässt sich - so bereits Rausch (1897: 12) - vermuten, dass der adverbale Genitiv zunächst in der Mundart und in der „volkstümlichen Sprache“ schwand, in der gehobenen, vor allem auch in der schriftlich fixierten Sprache dagegen erhalten blieb. Der Rückgang des adverbalen Genitivs in der geschriebenen Sprache stellt sich somit als Rückzug in bestimmte Register und Stilschichten dar. Für Leipziger Drucke aus dem Zeitraum von 1500-1561 stellt Fischer (1987: 320) fest, dass der Anteil von Genitivobjekten in der Gebetsliteratur, in Predigten, Briefen, Liedern, Pestschriften und Chroniken besonders niedrig ist. Autoren solcher Schriften bedienten sich offensichtlich einer Sprachform, „die der gesprochenen Sprache nahestand“ (Fischer 1987: 321). Auch bei den Texten aus dem gesamten deutschen Sprachraum von 1570-1630 bzw. 1670-1730 sind es Texte unterhaltenden oder privaten Charakters, die die geringste Häufigkeit von Genitivobjekten aufweisen (vgl. Fischer 1992: 332). Durch den Rückgang in vielen „volkstümlichen“ Texten wurde das Genitivobjekt immer mehr „zu einem Stilmittel, welches auf gewählte Sprache, gehobene Stilschicht bzw. archaisches Wortgut hindeutet“ (Fischer 1992: 334). Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Blick in die Tradition der präskriptiven Grammatiken des Deutschen, also der Grammatiken, die normative Regeln für die Verwendung des Hochdeutschen formulieren (vgl. Kapitel 14). Wie Fischer (1992: 336-342) aufzeigt, halten viele Grammatiker des 17. und 18. Jahrhunderts den adverbalen Genitiv für „besser“ als die damit konkurrierenden Objekttypen und fordern - teilweise gegen die eigene Sprachpraxis - die Verwendung des adverbalen Genitivs. Dies geht beispielsweise aus dem folgenden Zitat aus Gottscheds Deutscher Sprachkunst hervor (dabei handelt es sich um eine der einflussreichsten präskriptiven Grammatiken des 18. Jahrhunderts): Imgleichen sprechen und schreiben einige: ich erinnere dich, oder mich daran. Dieses klingt aber bey weitem nicht so gut, als dessen. (Gottsched 1762: 451; Hervorhebungen J.F.) In den Texten der Zeiträume von 1570-1630 und 1670-1730 finden sich Genitivobjekte besonders häufig in Rechtstexten, religiösen Schriften und Chroniken. Diese Textsorten sind „sprachlich und stilistisch durch alte Textvorlagen, durch lateinische Ursprungstexte, durch Kanzleistil, Rechtssprache oder Sprache der <?page no="91"?> Der Rückgang des adverbalen Genitivs 91 Bibel in starkem Maße geprägt und verhalten sich gegenüber neuen sprachlichen Formen relativ verschlossen.“ (Fischer 1992: 333). Besonders scheint das für juristische Texte zu gelten (vgl. Fischer 1992: 331). Schon für das Mittelhochdeutsche beobachtet Schmid (2004) eine besondere Häufigkeit des Genitivobjekts in Rechtstexten. In der hoch- und spätmittelalterlichen Rechtssprache hat das Genitivobjekt gegenüber dem Althochdeutschen sogar „deutlich expandiert“ (Schmid 2004: 32). Für die moderne Standardsprache weist die am Institut für deutsche Sprache Mannheim erarbeitete Grammatik der deutschen Sprache explizit darauf hin, dass das Genitivobjekt gerade bei einer Reihe von Verben aus dem Rechtsbereich (anklagen, bezichtigen, beschuldigen, überführen, zeihen) relativ stabil ist (Zifonun et al. 1997: 1090). Der adverbale Genitiv hat also noch im Neuhochdeutschen in diesem Bereich ein Reservat. 6.3.2 Die Genitiv-Akkusativ-Alternation: interne Faktoren Die Alternation des Genitivobjekts mit anderen Objekttypen hat im Deutschen eine lange Tradition: Bereits im Althochdeutschen gibt es entsprechende Beispiele (vgl. Donhauser 1990, 1998a). Dies wird im Folgenden anhand der Genitiv-Akkusativ-Alternation im Althochdeutschen ausgeführt. Während, wie im letzten Abschnitt dargestellt, ab frühneuhochdeutscher Zeit Faktoren wie Stil und Textsorte (also Faktoren außerhalb des Sprachsystems) für das Auftreten von Genitivobjekten offensichtlich entscheidend sind, scheinen für die ältere Zeit interne (also im Sprachsystem selbst liegende) Faktoren eine wichtige Rolle zu spielen. Bei der Untersuchung des Genitivobjekts im Althochdeutschen stellte sich heraus, dass die Situation bei verschiedenen Verbtypen unterschiedlich zu beurteilen ist. Wichtig ist die Unterteilung in zwei- und dreiwertige Verben: Bei zweiwertigen Verben tritt neben dem Subjekt nur ein Objekt auf (z.B. jemandes gedenken), bei dreiwertigen Verben kommen dagegen neben dem Subjekt zwei Objekte vor (z.B. jemanden einer Sache bezichtigen). Unter den genitivfähigen Verben des Althochdeutschen gibt es zweiwertige, die ausschließlich mit einem Genitivobjekt auftreten, es gibt aber auch solche, bei denen das Genitivobjekt mit einem Akkusativ- oder Dativobjekt alterniert. Daneben gibt es dreiwertige genitivfähige Verben, bei denen ein Genitivobjekt zusammen mit einem Akkusativ- oder Dativobjekt auftritt. Bei dreiwertigen Verben gibt es keine Objektalternation. Die folgende Aufstellung zeigt, welche Objektkombinationen bei den ca. 290 genitivfähigen althochdeutschen Verben auftreten. Grau hinterlegt sind diejenigen Verben, bei denen Alternation zwischen verschiedenen Objekttypen beobachtet werden kann: Verben Objekte Anzahl Verben zweiwertig Genitivobjekt 140 (unsicher: 4) Genitivobjekt/ Akkusativobjekt 45 (unsicher: 20) Genitivobjekt/ Dativobjekt 7 (unsicher: 1) dreiwertig Genitivobjekt + Akkusativobjekt 83 (unsicher: 2) Genitivobjekt + Dativobjekt 22 (unsicher: 2) Objekte bei genitivfähigen Verben im Althochdeutschen (nach Donhauser 1998a: 72) <?page no="92"?> Kasussyntax: das Schicksal des Genitivs 92 Aus dieser Aufstellung geht hervor, dass bei wenigstens 25 Verben im Althochdeutschen sowohl ein Genitivobjekt als auch ein Akkusativobjekt auftreten kann. Bei diesen Verben besteht also eine Konkurrenzsituation zwischen Genitiv und Akkusativ. Die Genitiv-Akkusativ-Alternation nimmt im Sprachsystem des Althochdeutschen einen wichtigen Platz ein. Mit der Kasusalternation in alt- (und mittel-)hochdeutscher Zeit sind semantische Differenzierungen verbunden. Der Genitiv tritt beispielsweise dann auf, wenn eine bestimmte Handlung nicht bis zum Ende durchgeführt wird. Das Objekt wird von der Verbalhandlung nicht vollständig, sondern nur zum Teil betroffen. Wird das Objekt dagegen vollständig von der Verbalhandlung erfasst, tritt statt des Genitivs der Akkusativ auf. Die unterschiedliche Bedeutung von Genitiv- und Akkusativobjekt wird häufig anhand der folgenden Stelle aus dem Iwein Hartmanns von Aue illustriert, in der zwei sehr ähnliche Verben mit einem Akkusativbzw. Genitivobjekt auftreten (vgl. Paul et al. 2007: 341 = § S 72): er az daz brot v ] tranc daz N . / eîns wazzers daz er hangende vant. / in eînē eîmber bi der want. (Iwein 3310-3312) er aß das Brot und trank dazu eines Wassers das er hängend fand in einem Eimer bei der Wand ‘er aß das Brot und trank dazu Wasser, das er in einem Eimer an der Wand hängend fand’ Während das Akkusativobjekt von der Verbalhandlung vollständig betroffen ist (vom Brot bleibt nichts mehr übrig), wird das Genitivobjekt von der Verbalhandlung nur teilweise affiziert (es bleibt noch Wasser im Eimer zurück). Diese spezielle Verwendung wird als partitiver Genitiv (lat. genitivus partitivus, „Teilungsgenitiv“) bezeichnet, entsprechend wird bei solchen Genitivobjekten gelegentlich von „partitiven Objekten“ gesprochen. In den jüngeren Sprachstufen ist der partitive Genitiv selten (allenfalls findet er sich noch in adnominaler Verwendung: ein Glas guten Weines), die Bedeutungsunterscheidung wird im Neuhochdeutschen stattdessen durch das Vorhandensein bzw. Fehlen des bestimmten Artikels angezeigt: ich trank Wasser (Teilmenge) vs. ich trank das Wasser (Gesamtmenge) Im Althochdeutschen kann ein mit dem Partitivitätseffekt verwandter semantischer Unterschied in einer etwas generelleren Art und Weise beobachtet werden: Bei Verben mit Genitiv-Akkusativ-Alternation bedeuten Sätze, in denen der Akkusativ auftritt, in der Regel, dass sie eine resultative oder punktuelle Bedeutung haben. Die im Fokus stehende Handlung ist abgeschlossen. Dagegen bedeuten Sätze mit Genitivobjekt in der Regel, dass die entsprechende Handlung nicht abgeschlossen ist oder über einen längeren Zeitraum andauert (vgl. Donhauser 1998a: 73-74). Dies kann anhand der Gegenüberstellung von zwei Beispielen illustriert werden. In der folgenden Stelle aus Otfrid hängt vom Verb thenkan ‘denken’ ein Genitivobjekt ab. Betont wird (durch die Adverbien iu forn ‘schon lan- <?page no="93"?> Der Rückgang des adverbalen Genitivs 93 ge’), dass die Verbalhandlung häufig und immer wieder vollzogen wird (man spricht hier von Durativität). Thie liuti ráchun tho iro zoŕn · thæs thahtun sie eŕ iu filu foŕn (Otfrid IV 17,25) die Leute rächten da ihren Zorn, dessen dachten sie früher schon sehr lange ‘die Menschen rächten ihren Zorn, daran hatten sie zuvor schon sehr lange gedacht’ (vgl. Donhauser 1998a: 76) Dagegen tritt im folgenden Beispiel (ebenfalls aus Otfrid) beim gleichen Verb thenkan ‘denken’ ein Akkusativobjekt auf. Hier zeigt das Adverb in gahi ‘plötzlich’, dass die Verbalhandlung punktuell aufzufassen ist. Er tháhta imọ ouh in gáhi · thia mánagfaltun uúihi / ioh thia hóhun uuirdi (Otfrid I 8,13; [Transkr. vereinfacht]) er dachte sich auch plötzlich die mannigfaltigen Weihen und die hohen Würden ‘er dachte für sich auch plötzlich an die vielfältigen Weihen und an die hohen Würden’ (vgl. Donhauser 1998a: 76) Für Fälle, wie sie im ersten der angeführten Beispiele vorliegen, wird davon gesprochen, dass „nicht-terminative Bedeutung“ des Verbs vorliege: Die Verbalhandlung wird oft und häufig vollzogen. Im zweiten Fall liegt dagegen „terminative Bedeutung“ vor: Die Verbalhandlung erstreckt sich nur auf einen kurzen Moment, nicht über einen längeren Zeitraum, und sie ist begrenzt. Die Unterscheidung von „terminativer“ und „nicht-terminativer“ Bedeutung wird unter dem Terminus „Aspekt“ gefasst: Durch Aspekt wird angezeigt, ob eine Verbalhandlung abgeschlossen ist oder nicht. Während im Neuhochdeutschen Aspekt nicht über einen eindeutigen grammatischen Ausdruck verfügt, gibt es viele Sprachen, in denen Aspekt eine wichtige Rolle spielt (vor allem auch in der Verbalmorphologie). Dazu gehören beispielsweise die slavischen Sprachen. Für das Deutsche ist vermutet worden, dass Aspekt im Althochdeutschen noch eine zentrale grammatische Kategorie war, dass aber spätestens in mittelhochdeutscher Zeit die Aspektkategorie aus dem Deutschen verschwunden ist. Der Verlust des Genitivobjekts bei Verben mit Objektalternation kann nach Donhauser (1998a: 83) mit dem Verlust der Aspektkategorie erklärt werden. Die semantischen Differenzierungen, die für das Althochdeutsche und vielleicht auch noch für das Mittelhochdeutsche Gültigkeit hatten, verlieren sich im Lauf der deutschen Sprachgeschichte zunehmend. Dadurch ergibt sich, dass die Genitivobjekte ab frühneuhochdeutscher Zeit immer seltener werden. Dass sie auch zunehmend stilistische Funktionen erhalten, ist eine sekundäre Erscheinung, die dadurch überhaupt erst ermöglicht wird, dass die ursprüngliche grammatische Funktion des Genitivobjekts verloren gegangen ist. Nach dem Verlust der Aspektkategorie haben die Genitivobjekte im Vergleich zu anderen Objekttypen keine spezifische grammatische Funktion mehr, deshalb verschwinden sie. Allerdings kann mit dieser These der Verlust des adverbalen Genitivs nicht vollständig erklärt werden: Zwar bestätigt sich bei der Analyse von zweiwertigen <?page no="94"?> Kasussyntax: das Schicksal des Genitivs 94 Verben, bei denen das Genitivobjekt mit einem Dativobjekt alterniert oder bei denen ausschließlich ein Genitivobjekt auftritt, dass mit dem Genitivobjekt eher nicht-terminative Bedeutung verbunden ist (vgl. Donhauser 1998a: 79-80). Bei dreiwertigen Verben, bei denen ein Genitivobjekt zusammen mit einem anderen Objekt auftreten kann, lassen sich hingegen keine analogen aspektuellen Phänomene wie bei den zweiwertigen Verben beobachten. Für diese Verben kann die „Aspekthypothese“ somit keine Erklärung liefern. 6.4 Der Rückgang des adnominalen Genitivs In den Mundarten ist der adnominale Genitiv durch die von-Periphrase und den possessiven Dativ vollständig ersetzt worden (vgl. 6.2). Im Folgenden wird die Geschichte und Entwicklung dieser beiden Periphrasen etwas eingehender behandelt. Für beide Periphrasen ist die Datierung ihres Aufkommens problematisch: Da der adnominale Genitiv in der Schriftsprache bis auf den heutigen Tag über eine ungebrochene Tradition verfügt, sind Beispiele für Periphrasen in schriftlichen Texten ziemlich selten. Kiefer (1910), von dem eine grundlegende Arbeit zum Schwund des adnominalen Genitivs stammt - viele von Kiefers Belegen und Ergebnissen sind in die Syntax von Behaghel (1923), dessen Schüler Kiefer war, eingeflossen - analysiert deshalb in erster Linie Texte, die durch eine gewisse Nähe zur gesprochenen Sprache gekennzeichnet sind. Auch dann jedoch ist es für ältere Sprachstufen schwierig, entsprechende Belege zu finden. 6.4.1 Die von -Periphrase Es ist schwierig, für die Entstehung der von-Periphrase unzweifelhafte ältere Belege zu finden. Nach Kiefer (1910: 52) konnte der Genitiv ab dem 12. Jahrhundert durch die von-Periphrase ersetzt werden. In vielen Fällen ist es jedoch möglich, dass bei der durch von eingeleiteten Präpositionalphrase zwar ein präpositionales Attribut vorliegt, dieses aber wegen der spezifischen Semantik der Präposition von gewählt wurde und insofern kein eindeutiges Äquivalent zu einem Genitivattribut darstellt. Im folgenden Beispiel liegt nach Kiefer (1910) einer der ältesten Belege für sicheren Ersatz des Genitivs durch von vor: Daz blůt von abele. / daz rûfet ín di hohe. / Rach an sînem bruder (Ava, Leben Jesu 460 = v. 1650-1651) das Blut von Abel das rief in die Höhe Vergeltung an seinem Bruder ‘das Blut Abels rief in die Höhe nach Vergeltung an seinem Bruder’ Allerdings kann bei diesem Beispiel argumentiert werden, dass die Präposition von die Quelle angibt (‘das Blut, das von Abel stammt’). Sie könnte somit aufgrund ihrer spezifischen Semantik gewählt worden sein. Wenn dies der Fall ist, bildet dieses mit von eingeleitete präpositionale Attribut kein eindeutiges Beispiel für den Ersatz eines Genitivattributs. Wenn allerdings gezeigt werden könnte, dass präpositionale Attribute im Mittelhochdeutschen und Frühneuhochdeut- <?page no="95"?> Der Rückgang des adnominalen Genitivs 95 schen noch sehr selten sind, aber gerade bei von häufiger werden, würde dies die Beurteilung verändern. Abgesehen davon, dass vielleicht schon immer die Möglichkeit eines präpositionalen Attributs mit von bestand, kann die von-Periphrase aus Kontexten entstanden sein, in denen eine durch von eingeleitete Präpositionalphrase zunächst als direkt vom Verb abhängig, aber dann neu als vom vorangehenden Substantiv abhängig aufgefasst wurde. Man spricht in einem solchen Fall von einer „Reanalyse“, weil sich zwar nicht die lineare Abfolge der einzelnen Wörter ändert, wohl aber die zugrunde liegende strukturelle Auffassung, die „Analyse“. Ein Beispiel für einen Kontext, in dem eine Reanalyse greifen könnte, die zur von- Periphrase führt, bietet der folgende Satz: da erging ein Gebot von Kaiser Augustus Die Präpositionalphrase von Kaiser Augutus hängt wahrscheinlich direkt vom Verb ab. Doch ist sehr gut vorstellbar, dass die Präpositionalphrase in diesem Kontext als adnominal aufgefasst werden kann, d.h. als abhängig vom vorangehenden Substantiv Gebot. Schematisch kann diese Reanalyse durch die folgenden beiden Klammerstrukturen verdeutlicht werden: ältere Analyse: da erging [ein Gebot] [von Kaiser Augustus] jüngere Analyse (Reanalyse): da erging [ein Gebot [von Kaiser Augustus]] Die Reanalyse kann mit ‘da erging ein Gebot des Kaisers Augustus’ wiedergegeben werden, sie ist ein Äquivalent des standardsprachlichen Genitivs. Beim Satz da erging ein Gebot von Kaiser Augustus sind noch beide Auffassungen möglich. Die Reanalyse kann von solchen „ambigen“, d.h. zweideutigen Kontexten aus auf Kontexte ausgedehnt werden, in denen nur eine Auffassung möglich ist. Wenn dies der Fall ist, spricht man davon, dass nach der Reanalyse die „Extension“, die Ausbreitung auf andere Kontexte, stattgefunden hat. Beispielsweise kann das Kernnomen zusammen mit dem von ihm abhängigen Präpositionalattribut in die Position vor dem Verb (ins Vorfeld; vgl. Kapitel 9) bewegt werden, wie dies auch bei einem Kernnomen mit Genitivattribut möglich wäre: [ein Gebot [von Kaiser Augustus]] erging da [ein Gebot [des Kaisers Augustus]] erging da Das Problem vieler älterer potentieller Belege für die von-Periphrase besteht darin, dass sie ambig sind. Sie zeigen den Kontext, in dem eine Reanalyse stattfinden könnte, aber nicht, dass auch die Extension in andere Kontexte bereits stattgefunden hat. Ein frühes ambiges Beispiel ist etwa die folgende Stelle aus Otfrid: Tho quam bóto fona góte (Otfrid I 5,3) da kam Bote von Gott ‘da kam ein Bote von Gott’ <?page no="96"?> Kasussyntax: das Schicksal des Genitivs 96 Die Präpositionalphrase fona góte hängt wahrscheinlich direkt vom Verb ab. Doch könnte die Präpositionalphrase in diesem Kontext als adnominal reanlysiert werden, d.h. als abhängig vom vorangehenden Substantiv bóto. Bei diesem Beispiel sind beide Auffassungen möglich, es kann also nicht gezeigt werden, dass die Extension stattgefunden hat. Da außerdem, wie oben gezeigt worden ist, bei Stellen, in denen eindeutig ein präpositionales Attribut vorliegt, auch häufig argumentiert werden kann, dass die Präposition von aufgrund ihrer spezifischen Semantik gewählt wurde, ist es kaum möglich, eindeutige ältere Belege für die von-Periphrase zu finden. 6.4.2 Der possessive Dativ Der possessive Dativ hat in jüngster Zeit aufgrund eines bekannten Buchtitels (Bastian Sick, Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod) eine gewisse Prominenz erlangt. Die Entstehung dieser Konstruktion bietet ebenfalls ein Beispiel für eine Reanalyse: 8 In bestimmten Kontexten können eine dativische und eine darauf folgende Nominalphrase, die durch ein Possessivpronomen eingeleitet ist, sowohl als zwei direkt vom Verb abhängige Nominalphrasen als auch als eine komplexe, insgesamt zusammengehörige Nominalphrase aufgefasst werden. Das folgende Beispiel illustriert dies (vgl. Kiefer 1910: 59-60, Behaghel 1923: 638): ich habe dem Mann seinen Hut genommen Hier ist einerseits die Auffassung möglich, dass dem Mann als freier Dativ anzusehen ist, oder aber, dass ein possessiver Dativ und damit ein Attribut zu seinen Hut vorliegt. Wir haben hier also wieder einen „ambigen“, einen zweideutigen Kontext. Die beiden Analysen, die ältere, ursprünglich einzig mögliche, und die jüngere, d.h. die Reanalyse, werden durch die folgenden Klammerstrukturen verdeutlicht: ältere Analyse: ich habe [dem Mann] [seinen Hut] genommen jüngere Analyse (Reanalyse): ich habe [[dem Mann seinen] Hut] genommen 9 Während bei der älteren Analyse zwei Konstituenten auf gleicher Ebene vorliegen, haben wir es bei der Reanalyse mit nur einer (dafür in sich komplexeren) Konstituente zu tun. Der Satz ich habe dem Mann seinen Hut genommen ist ambig. Von hier ausgehend kann eine Extension auf andere Kontexte stattfinden, in de- ________ 8 Ein alternatives Szenario deutet Weiß (2008: 385, Fußnote 8) an: Vielleicht wies die ursprüngliche Form der Konstruktion gar nicht den Dativ auf, sondern den Genitiv, der weiter unten behandelte „possessive Genitiv“ wäre demnach also die ältere, nicht die jüngere Konstruktion. Für diese ist eine Entstehung durch Reanalyse unwahrscheinlich. 9 Die synchrone syntaktische Analyse des possessiven Dativs ist nicht unumstritten: Statt der oben angegebenen Struktur, in welcher das Possessivpronomen als Teil des Attributs aufgefasst wird, ist es auch denkbar, dass das Possessivpronomen syntaktisch zum Kernnomen gehört (vgl. Simon 2008: 62-63): [[dem Mann] [seinen Hut]]. Eine Reanalyse kann jedoch unabhängig von der Frage, welche strukturelle Analyse man für den possessiven Dativ annimmt, stattgefunden haben. <?page no="97"?> Der Rückgang des adnominalen Genitivs 97 nen keine Ambiguität vorliegt. Erst anhand nicht-ambiger Kontexte kann nachgewiesen werden, dass die neue Struktur, der possessive Dativ, vorliegt. Ein erstes, nicht ganz sicheres Indiz liegt dann vor, wenn der possessive Dativ und das Kernnomen gesamthaft verschoben werden können, beispielsweise in die Position vor dem flektierten Verb in einem Hauptsatz, ins sogenannte „Vorfeld“ (vgl. 9.1): dem Mann seinen Hut habe ich genommen. 10 Ein weiteres, eindeutigeres Indiz ist das Auftreten eines Verbs, das selbst gar keinen Dativ zu sich nehmen kann. Kontexte, in denen nur die Interpretation als possessiver Dativ möglich ist, sind etwa die folgenden: auf dem Tisch liegt [[dem Mann sein] Hut] ich sehe [[dem Mann seinen] Hut] die Kinder spielen [[mit dem Mann seinem] Hut] Bei den Verben liegen, sehen und spielen kann kein Dativ auftreten (*dem Mann liegt sein Hut auf dem Tisch, *dem Mann sehe ich seinen Hut, *dem Mann spielen die Kinder mit seinem Hut), deshalb muss hier der possessive Dativ vorliegen. Die älteren Sprachstufen des Deutschen bieten schon früh ambige Kontexte. Eines der bekanntesten Beispiele stammt aus dem zweiten Merseburger Zauberspruch, einem der archaischsten althochdeutschen Texte (in diesem und in den folgenden Beispielen werden der Dativ mit dem Possessivpronomen und das mögliche Kernnomen jeweils unterstrichen): du uuart demobalderes uolon sinuuoz birenkict (2. Merseburger Zauberspruch 5-6) da wurde dem Balders Fohlen sein Fuß berenkt ‘da wurde dem Fohlen Balders sein Bein von Verrenkung betroffen’ (Eichner/ Nedoma 2001: 11) Bereits Behaghel (1891: 570) bemerkt zu dieser Stelle, dass es nicht berechtigt ist, darin „ein beispiel des heutigen attributiven dat. possessivus zu sehen; der dativ kann wie in so vielen fällen, zum verbum gehören“ (vgl. auch Eichner/ Nedoma 2001: 111). In diesem Kontext könnte zwar Reanalyse vorliegen; dass die Extension stattgefunden hat, kann aber nicht schlüssig gezeigt werden. Dies gilt auch für die folgenden mittel- und frühneuhochdeutschen Stellen: Phariens wip besach yren man sin wunden (Prosalancelot 83,17) Phariens Frau besah ihrem Mann seine Wunden ‘Phariens Frau besah die Wunden ihres Mannes’ ________ 10 Solche Beispiele sind deshalb nicht völlig eindeutig, weil das Deutsche unter bestimmten Umständen auch zwei Objekte im Vorfeld erlaubt: Auch der Satz dem Mann den Hut habe ich genommen ist grammatisch, hier kann aber, da kein Possessivpronomen auftritt, offensichtlich kein possessiver Dativ angenommen werden. <?page no="98"?> Kasussyntax: das Schicksal des Genitivs 98 off der stat hait men sent Kathrijnen yer heyligs heufft aeff geslagen (Die Pilgerfahrt des Ritters Arnold von Harff; zit. n. Fritze 1976: 420) auf der Stätte hat man Sankt Katharina ihr heiliges Haupt ab geschlagen ‘an dieser Stelle wurde der heiligen Katharina ihr Haupt/ das Haupt der heiligen Katharina abgeschlagen’ Bei beiden Beispielen ist zwar die Auffassung möglich, dass jeweils possessive Dative vorliegen (der Dativ also vom nachfolgenden Nomen abhängig ist), ebenso gut kann der Dativ jedoch ohne nähere strukturelle Beziehung zum auf ihn folgenden Nomen stehen. Ältere eindeutige Belege für den possessiven Dativ sind relativ schwer zu finden, da in sehr vielen Stellen - wie bei den angeführten Beispielen - verschiedene Interpretationen möglich sind und da die Konstruktion in älteren (und jüngeren) schriftlichen Texten generell selten ist (vgl. Behaghel 1923: 638). Eindeutige Beispiele für den possessiven Dativ treten nach Kiefer (1910: 66) ab dem 12. Jahrhundert auf. Die folgenden eindeutigen Belege stammen aus dem 16. Jahrhundert. Der zweite von ihnen ist dem 1515 erstmals in Straßburg gedruckten Vlenspiegel entnommen, einem sogenannten „Volksbuch“, das vielleicht eine größere Nähe zur gesprochenen Sprache zeigt als andere Textsorten: Die pauren namen dem appt von Kempten sein Kloster ein (Chronica newer geschichten 1512-1527; zit. n. Fritze 1976: 429) die Bauern nahmen dem Abt von Kempten sein Kloster ein ‘die Bauern nahmen das Kloster des Abtes von Kempten ein’ Die .LXV. history sagt wie Ulenspiegel zů Pariß ein pferdkeufer ward / vnd einē Frantzosen seinem pferd den schwantz uß zoch (Ulenspiegel 91r [Seite fälschlich als 111 bezeichnet] = 65. history) Die 65. Geschichte sagt, wie Eulenspiegel in Paris ein Pferdehändler wurde und einem Franzosen seinem Pferd den Schwanz auszog (= ‘dem Pferd eines Franzosen den Schwanz ausriss’) Der possessive Dativ findet sich in schriftlichen Texten nur sehr selten, er kommt, wenn überhaupt, dann vor allem in eher volkstümlichen Textsorten vor. Dazu passt, dass der possessive Dativ in Auswandererbriefen des 19. Jahrhunderts ziemlich gut belegt ist, also einer Textsorte, die durch eine vergleichsweise große Nähe zur gesprochenen Sprache gekennzeichnet ist (vgl. Elspaß 2005: 325-336). Aus einer solchen Quelle stammt das folgende Beispiel: mit dem Leunig seiner Frau könnt Ihr eine Brief mitschicken (Auswandererbrief 1854; zit. n. Elspaß 2005: 328) Dies zeigt noch einmal deutlich, dass der possessive Dativ als eine gesprochensprachliche Konstruktion anzusehen ist. In der geschriebenen Sprache entstand vom possessiven Dativ ausgehend eine Konstruktion, die als „Kontamination“ des possessiven Dativs und des <?page no="99"?> Zur Erklärung des Genitivschwunds 99 schriftsprachlichen adnominalen Genitivs erklärt werden kann. Wie beim possessiven Dativ tritt das Possessivpronomen auf, aber nicht zusammen mit dem Dativ, sondern mit dem Genitiv: daß es des Schulmeisters sein Jung gethan hat (1685; Beer, Sommer-Täge 162) Der Vater suche des Kindes seinen Nutzen (1713, Christian Thomasius, Höchstnöthige Cautelen; zit. n. Fritze 1976: 443) Ein mögliches Bindeglied zwischen possessivem Dativ und possessivem Genitiv stellen possessive Konstruktionen mit femininem Kernnomen dar: Da bei den Feminina im Singular Dativ und Genitiv homonym, also formgleich sind, kann ein possessiver Dativ hier als Genitiv aufgefasst werden. In meiner Mutter ihr Bruder kann meiner Mutter als Dativ wie als Genitiv angesehen werden. Es ist unwahrscheinlich, dass sich der „possessive Genitiv“ in der natürlich gesprochenen Sprache weit verbreitete, im Gegenteil ist auf dialektaler Ebene ja zu beobachten, dass der Genitiv vollständig schwindet (vgl. 6.2). Es handelt sich eher um eine Konstruktion, die durch die Interferenz von Dialekt (possessive Konstruktion) und Hochsprache (adnominaler Genitiv) erklärt werden kann. Sie trat in schriftlichen Texten wohl häufiger auf als in der mündlichen Sprache. In Texten des Zeitraums 1670-1730 ist der possessive Genetiv interessanterweise öfter verwendet als der possessive Dativ (vgl. Fritze 1976: 443, 447). Nach der Beobachtung Kiefers (1910: 65) verwenden manche Schriftsteller den possessiven Dativ und Genitiv, um dadurch „die Sprache des Volkes zu kennzeichnen.“ Sie hatten also eine klar volkssprachliche Konnotation. Dies zeigt sich unter anderem auch daran, dass beide Konstruktionen von präskriptiven Grammatikern teilweise sehr heftig abgelehnt werden, unter anderem deshalb, weil sie als „unlogisch“ galten (vgl. 14.3.2). Der possessive Dativ und der possessive Genitiv wurden in präskriptiven Grammatiken als für die Standardsprache unangemessen angesehen. Als „schöner“ bzw. „besser“ galt und gilt der attributive Genitiv. 6.5 Zur Erklärung des Genitivschwunds Trotz der Tatsache, dass der Genitiv (in adnominaler Verwendung) in der Standardsprache gut erhalten ist, kann insgesamt für die deutsche Sprachgeschichte von einem kontinuierlichen Verlust des Genitivs gesprochen werden. Dieser „Genitivschwund“ ist ein Phänomen, das bisher keine gesamthafte Erklärung gefunden hat. Behaghel (1923: 479) sah den Grund für den Verlust des Genitivs in der sogenannten „Nebensilbenschwächung“: Diese lautliche Entwicklung, welche übrigens in vielen Ansätzen zur Abgrenzung des Althochdeutschen vom Mittelhochdeutschen herangezogen wird, hat dazu geführt, dass die vollen Nebensilbenvokale des Althochdeutschen zum Zentralzungenvokal / ə / („Schwa“) zusammenfielen. Das folgende Schema (das die Nebensilbenschwächung für einen bestimmten Silbentyp zeigt) illustriert dies: <?page no="100"?> Kasussyntax: das Schicksal des Genitivs 100 ahd. hirti tage zunga lango hiutu mhd. hirte tage zunge lange hiute nhd. ‘Hirte’ ‘Tag(e)’ (Dat. Sg.) ‘Zunge’ ‘lange’ ‘heute’ Während im älteren Althochdeutschen in den Nebensilben noch fünf distinkte Phoneme vorhanden sind (/ i/ -/ e/ -/ a/ -/ o/ -/ u/ ), tritt im Mittelhochdeutschen nur noch / ə / auf. Dieser Vokal wird im Mittelhochdeutschen (wie im Neuhochdeutschen) meist mit dem Graphem <e> wiedergegeben. Die Nebensilbenschwächung, bei der es sich zunächst um eine rein lautliche Entwicklung handelt, zeitigte zahlreiche morphologische Konsequenzen (vgl. 11.4). Sie wurde auch für den Schwund des Genitivs verantwortlich gemacht: Der Genitiv ist in manchen Paradigmen durch die Nebensilbenschwächung mit anderen Kasus zusammengefallen, etwa beim Wort für nhd. Bote: Im Althochdeutschen lautete der Genitiv (und Dativ) boten, der Akkusativ dagegen boton. Durch die Nebensilbenabschwächung fielen diese Formen im Mittelhochdeutschen zu boten zusammen (diese Form gilt noch im Neuhochdeutschen: des Boten - den Boten). Eine ausreichende Erklärung für den Genitivschwund ist die Nebensilbenabschwächung aber nicht: Gerade bei den sogenannten „starken“ Maskulina und Neutra, die den Genitiv Singular bis heute auf -(e)s bilden (Tag - Tag(e)s, Wort - Wort(e)s etc.), bestehen keine lautlichen Gründe für den Verlust des Genitivs. Die bisher vorgeschlagenen alternativen Erklärungen für den Genitivschwund beziehen sich immer nur auf einen Teilaspekt. So ist, um ein weiteres Beispiel zu nennen, nach van der Elst (1984: 329) der adverbale Genitiv im Neuhochdeutschen deshalb geschwunden, weil er sich von den anderen adverbalen Kasus nicht deutlich durch eine eigenständige Bedeutung unterschied. Dies kann jedoch nicht erklären, weshalb der Genitiv auch in der adnominalen Verwendung unter Druck steht (und in den Dialekten ja praktisch vollständig geschwunden ist). Wie in 6.3.2 aufgezeigt wurde, könnte der Verlust des adverbalen Genitivs mit dem Verlust der Aspektkategorie zusammenhängen - allerdings kann diese Erklärung nur bei zweiwertigen Verben mit Objektalternation Geltung beanspruchen. Donhauser (1998a: 84) warnt deshalb davor, „das Genitivproblem schon jetzt als gelöst zu betrachten […]“. Um einer Lösung des Genitivproblems näher zu kommen, könnte es sich vielleicht als sinnvoll erweisen, möglichst viele Typen des Genitivs einheitlich zu erfassen. Wie aus diesem Kapitel hervorgeht, zeigt die Standardsprache dadurch, dass sie den Genitiv überhaupt erhalten hat, ein atypisches Gepräge (das ebenso erklärungsbedürftig ist wie der Schwund des Genitivs in den Dialekten). Eine Untersuchung auch der morphologischen Ursachen und der Einbezug dialektaler Daten könnte deshalb vielleicht zu einer Lösung führen. Literaturhinweise Bisher gibt es nur wenige Arbeiten zur Entwicklung des Genitivs, die die gesamte Sprachgeschichte (inklusive die dialektalen Entwicklungen) abdecken. Einige Arbeiten betrachten das gesamte Kasusinventar, darunter der Genitiv (bzw. seine <?page no="101"?> Literaturhinweise 101 Äquivalente) in den Dialekten. Einen Überblick gibt der Handbuchartikel von Koß (1983), Entwicklungen der Substantivdeklination stehen im Artikel von Mironow (1957) im Vordergrund, während Shrier (1965) die Entwicklung bei Pronomen und Adjektiven darstellt. Sehr viel Material zum (erhaltenen) Genitiv im Wallis bietet der Artikel von Henzen (1932). Zur dialektalen Verbreitung des possessiven Dativs gibt Weise (1898) umfangreiche Informationen. Zifonun (2003) diskutiert die grammatischen Eigenschaften dieser Konstruktion eingehend aus einer funktionalen Perspektive. Weiß (2008) untersucht die Grammatik dieser Konstruktion aus generativer Sicht. Zum Status des adverbalen Genitivs in der modernen Standardsprache bietet Lenz (1996a) eine gute Zusammenstellung, die leider nur als „graue Literatur“ publiziert ist. Die grundlegenden Daten zur Entwicklung des adverbalen Genitivs in und nach mittelhochdeutscher Zeit stellt Rausch (1897) zusammen. Zum adverbalen Genitiv im Althochdeutschen und speziell zur Genitiv-Akkusativ- Alternation im Alt- und Mittelhochdeutschen besteht eine umfangreiche Literatur, auf die hier nicht gesamthaft eingegangen werden kann; als Einstieg in die Thematik sind die Artikel Donhausers (1990, 1998a) geeignet. Für die Entwicklung des adverbalen Genitivs im Frühneuhochdeutschen stehen die umfangreichen Korpusstudien von Fischer (1987, 1992) zur Verfügung. Beide Studien können mit gewissen Vorkenntnissen gut gelesen werden. Einen Überblick über die Entwicklung des adnominalen Genitivs gibt bisher nur die Arbeit Kiefers (1910), die auch in die Darstellung von Behaghel (1924) eingegangen ist. <?page no="103"?> 7 Entwicklungen im Bereich der Kongruenz Unter Kongruenz versteht man die Übereinstimmung zweier (oder mehrerer) aufeinander bezogener Elemente in Bezug auf grammatische Kategorien wie Kasus, Genus, Numerus und Person. Kongruenz scheint nahezu selbstverständlich, doch finden sich in den älteren Sprachstufen, und teilweise auch noch im Neuhochdeutschen, einige interessante Erscheinungen in diesem Bereich. Im Folgenden werden zunächst Kongruenzphänomene (und bestimmte für Kongruenzsysteme schwierige Fälle) sowie die für die Beschreibung von Kongruenzsystemen verwendeten Begrifflichkeiten vorgestellt (7.1). Danach geht es um Konstruktionen, in denen die Kongruenz zwischen Subjekt und Verb fehlt (7.2). Insbesondere zwei Typen von Substantiven weisen ein besonderes Verhalten in Bezug auf die Kongruenz auf: Hybrid nouns sind Substantive wie nhd. Mädchen, deren Genus nicht mit dem natürlichen Geschlecht übereinstimmt (7.3), Committee nouns sind Substantive wie nhd. Volk, die singularisch sind, aber eine Vielzahl bezeichnen (7.4). Bei den sogenannten Gender resolution-Kontexten geht es um die Frage, welche Kongruenzform auftritt, wenn Bezug auf mehrere Nominalphrasen mit unterschiedlichen Genusmerkmalen vorliegt (7.5). 7.1 Kongruenzphänomene Kongruenz im oben definierten Sinne betrifft ganz unterschiedliche Phänomene. Beispielsweise ist im folgenden neuhochdeutschen Satz das Subjekt ein Personalpronomen der 1. Person Singular. Entsprechend zeigt auch das Prädikat, das Verb, eine Form der 1. Person Singular; andere Formen sind ungrammatisch: ich 1. SG lese 1. SG / *lesen 1. PL das Buch Im Deutschen kongruiert das Verb nur mit dem Subjekt. Die grammatischen Kategorien des direkten Objekts (im Beispielsatz: das Buch) werden im Verb nicht aufgenommen. So tritt im Beispielsatz die genau gleiche Verbform auf, auch wenn das Objekt in den Plural gesetzt wird (Ich lese/ *lesen die Bücher). 11 Neben der Kongruenzbeziehung zwischen Subjekt und Verb spielt im Deutschen die Kongruenz innerhalb der Nominalphrase eine wichtige Rolle. Hier besteht Kongruenz in Bezug auf Kasus, Numerus und Genus. Im folgenden Bei- ________ 11 In manchen Sprachen (allerdings nicht in den germanischen) kongruiert das Verb nicht nur mit dem Subjekt, sondern auch mit dem Objekt. Dies illustrieren die folgenden georgischen Beispiele: Im zweiten Satz tritt ein Objekt auf; es wird durch das Objektspräfix mam Verb markiert, genauso wie das Subjekt durch das Suffix -s am Verb ausgedrückt wird: is xa ṭ av-s vs. is m -xa ṭ av-s me er/ sie mal-3. SG . SU er/ sie 1 SG . OBJ -mal-3. SG . SU mich ‘er/ sie malt’ ‘er/ sie malt mich’ <?page no="104"?> Entwicklungen im Bereich der Kongruenz 104 spielsatz steht ein neutrales Substantiv (Buch) im Genitiv Singular. Entsprechend weisen die Formen des Artikels und des attributiven Adjektivs, die auf das Substantiv bezogen sind, ebenfalls Formen des Genitiv Singular Neutrum auf. Sie erinnert sich [des GEN . SG . N schönen GEN . SG . N Buches GEN . SG ] Beim Substantiv sind die Kategorien Numerus und Kasus veränderlich (Substantive flektieren nach Kasus und Numerus), Genus hingegen nicht. Das Genus eines Substantiv wird deswegen häufig als „inhärent“ bezeichnet: Es bleibt in allen Flexionsformen gleich (das Buch ist gleichermaßen ein Neutrum wie des Buches oder der Bücher). Dagegen sind bei Adjektiven und Pronomen alle grammatischen Kategorien, also auch Genus, veränderlich: ein schöner Tisch weist maskuline Formen des Artikels und Adjektivs auf, eine schöne Statue dagegen feminine (Adjektive und Pronomen flektieren nicht nur nach Kasus und Numerus, sondern auch nach Genus). In manchen Ansätzen wird auch die anaphorische Aufnahme eines Substantivs durch ein Pronomen (beispielsweise ein Personalpronomen) als Kongruenzphänomen angesehen. Im folgenden „Mikrotext“ wird das direkte Objekt des ersten Satzes (ein Buch) im zweiten Satz als pronominales Subjekt wiederaufgenommen. Da ein Buch im Singular Neutrum steht, weist auch das Pronomen diese grammatischen Kategorien auf. Wenn Genus und/ oder Numerus des Subjektpronomens im zweiten Satz verändert werden, ist der anaphorische Bezug auf ein Buch nicht mehr gegeben: Auf dem Tisch steht ein Buch. Es N . SG / *Er M . SG / *Sie PL gefällt mir gut. Die bisher illustrierten Fakten zur Kongruenz sind in gewisser Hinsicht banal. Das Funktionieren der Kongruenz im Neuhochdeutschen erscheint dermaßen selbstverständlich, dass es kaum wahrgenommen wird - Kongruenz ist eine „unauffällige“ Erscheinung. Allerdings gibt es im Neuhochdeutschen, und mehr noch in älteren Sprachstufen, auch auffällige Kongruenzphänomene. Diese in bestimmter Hinsicht nicht prototypischen Fälle sind besonders lehrreich, denn sie können - gerade weil sie atypisch sind - viel über das Funktionieren von Kongruenzsystemen allgemein verraten. Ein interessantes Problem für Kongruenzsysteme stellen „Hybrid nouns“ 12 dar. Bei Hybrid nouns handelt es sich um Substantive, deren Genus („grammatisches Geschlecht“) nicht mit dem natürlichen Geschlecht (zur Abgrenzung von „Genus“ wird hier häufig der Terminus „Sexus“ verwendet) übereinstimmt. Beispiele dafür sind etwa nhd. Mädchen oder nhd. Weib. Diese Substantive sind Neutra, bezeichnen aber weibliche Wesen. In bestimmten Konstellationen sind ________ 12 Der Begriff „Hybrid noun“ (wie auch der Begriff „Committee noun“) wird u.a. von Corbett (2006) verwendet. Corbett (2006) bietet eine sehr umfangreiche Einführung in die Phänomene und Probleme von Kongruenzsystemen. Seine englische Terminologie hat bis jetzt keine allgemein verbreiteten deutschen Entsprechungen gefunden, weshalb im Folgenden die englischen Termini verwendet werden. <?page no="105"?> Kongruenzphänomene 105 bei solchen Substantiven sowohl feminine als auch neutrale Kongruenzformen möglich: Das Mädchen legt ihren/ seinen Mantel ab. Sie/ es trägt ein rotes Kleid. (Köpcke/ Zubin 2009: 142) Neben Hybrid nouns, deren natürliches Geschlecht festgelegt ist, existieren auch solche, die auf männliche oder weibliche Wesen bezogen werden können. Das folgende Beispiel zeigt ein Hybrid noun und dessen anaphorische Aufnahme durch ein Possessivpronomen. Diese geschieht durch die feminine Form ihr, das Substantiv Model bezeichnet hier also offensichtlich nicht einen Mann, sondern eine Frau: das Model und ihr Prinz Bei den angeführten Beispielen (von denen das letzte Eingang in den Titel eines Artikels zum Thema gefunden hat: Thurmair 2006) besteht zwischen Genus und Sexus, also zwischen grammatischem und natürlichem Geschlecht, ein Konflikt. Insofern kann das Kongruenzsystem praktisch nur falsch reagieren: Entweder das Possessivpronomen richtet sich nach dem Genus (dem „grammatischen Geschlecht“) des Substantivs, auf das es sich bezieht - dann bleibt der Sexus (das „natürliche Geschlecht“) unberücksichtigt. Oder es richtet sich nach dem natürlichen Geschlecht des Substantivs - dann bleibt das Genus unberücksichtigt. Im zuletzt angeführten Beispiel gibt offensichtlich das natürliche Geschlecht den Ausschlag. Wäre das Genus entscheidend, würde statt des femininen Possessivpronomens ihr das neutrale Possessivpronomen sein auftreten (das Model und sein Prinz). Ein mit den Hybrid nouns vergleichbares Phänomen, bei dem aber nicht das Genus, sondern der Numerus die in Frage stehende Kongruenzkategorie verkörpert, zeigt sich auch bei den sogenannten „Committee nouns“. Dabei handelt es sich um Substantive, die zwar singularisch sind, aber pluralische („kollektive“) Bedeutung haben. Beispiele dafür sind dt. Volk oder engl. committee, das dieser Gruppe von Substantiven den Namen gibt (ein Komitee besteht aus mehreren Leuten). Im Englischen kann sich ein als Subjekt auftretendes Committee noun mit einer pluralischen Verbalform verbinden: The police come. Im Neuhochdeutschen tritt hier die Singularform auf, obwohl das deutsche Polizei von der Bedeutung her dem englischen police absolut vergleichbar ist (die Polizei kommt/ *kommen). Wenn sich die Kongruenzform bei einem Hybrid noun oder bei einem Committee noun nach der Form richtet (d.h. nach dem Genus bzw. Numerus des Substantivs), spricht man von „grammatischer“ bzw. „formaler Kongruenz“ oder lateinisch von einer Constructio ad formam (wörtlich: „Konstruktion nach der Form“). Richtet sich die Kongruenzform dagegen nach der Semantik (d.h. nach <?page no="106"?> Entwicklungen im Bereich der Kongruenz 106 dem natürlichen Geschlecht bei einem Hybrid noun oder nach der pluralischen Bedeutung bei einem Committee noun), spricht man von „semantischer Kongruenz“ oder lateinisch von einer Constructio ad sensum (wörtlich: „Konstruktion nach dem Sinn“). Im Neuhochdeutschen tritt beispielsweise bei Committee nouns relativ konsequent formale Kongruenz auf, und das gilt auch für andere Konstellationen (allerdings kommt, wie mehrere der oben angeführten Beispiele gezeigt haben, auch in der neuhochdeutschen Standardsprache die semantische Kongruenz vor). Dagegen war nach Behaghel (1928) in den älteren Sprachstufen des Deutschen die semantische Kongruenz weiter verbreitet. Behaghel zufolge ist die semantische Kongruenz „in neuerer Zeit […] stark zurückgetreten“ (Behaghel 1928: 2). Im Neuhochdeutschen können auch mehrere Nominalphrasen von einem kongruierenden Element aufgenommen werden. Bei folgendem Beispiel stellt sich die Frage, wodurch die Form des neutralen Relativpronomens bestimmt wird: Er beschleunigte seinen Schritt und wußte nicht, ob es der Mann oder die Frau war, das so weinte. (Dürrenmatt, Das Versprechen 33) Das Relativpronomen das könnte sich sowohl auf der Mann als auch auf die Frau beziehen (der Erzähler weiß gerade nicht, wer von den beiden weint). Das Relativpronomen hat in diesem Beispiel sozusagen individualisierende Funktion, indem es sich auf eine der koordinierten Nominalphrasen bezieht, wobei allerdings nicht festgelegt wird, auf welche. Statt des maskulinen Relativpronomens der (das auf der Mann Bezug nehmen würde) oder des femininen Relativpronomens die (das sich auf die Frau beziehen würde) tritt hier das neutrale Relativpronomen das auf, das beide Möglichkeiten offen lässt. Corbett (2006: 150-151) spricht deshalb in einem ähnlichen Fall von einer „evasiven“ Verwendung der neutralen Form). 7.2 Fehlende Kongruenz von Subjekt und Verb In den älteren Sprachstufen des Deutschen treten Sätze auf, in denen die Kongruenz zwischen Subjekt und Verb fehlt: Ein pluralisches Subjekt wird mit einem singularischen Verb verbunden. Beispiele dafür bieten die folgenden Sätze aus dem Mittelhochdeutschen und Frühneuhochdeutschen: dâ inne was / sîniu buoch (Parzival 13717-13718 = 459,21-22) darin war seine Bücher ‘darin waren seine Bücher’ Vnd dem bischoff gefiel Vlenspiegels schwenck gantz wol (Ulenspiegel 21v [Seite fälschlich als 20 bezeichnet] = 15. history) dem Bischof gefiel Eulenspiegels Schwänke ganz wohl ‘dem Bischof gefielen Eulenspiegels Schwänke ganz gut’ <?page no="107"?> 107 Nach Paul et al. (2007: 324 = § S 42, Anm. 1) fehlt zu derartigen Konstruktionen bis jetzt eine systematische Zusammenstellung der Daten. Festgehalten werden kann aber, dass es zwei Faktoren gibt, die solche Konstruktionen zu begünstigen scheinen: In den meisten Beispielen, in denen ein pluralisches Subjekt mit einem Verb im Singular verbunden wird, folgt das Subjekt dem Verb. Außerdem ist das Substantiv, bei dem die Kongruenz fehlt, meist ein Neutrum. Dass fehlende Kongruenz dadurch begünstigt wird, dass das Subjekt dem Verb folgt, kann vielleicht durch die Sprachproduktionsperspektive erklärt werden: Da die Position vor dem Verb nicht durch das Subjekt besetzt ist, ist beim Verb sozusagen noch nicht aktiviert, welche morphosyntaktischen Eigenschaften das Subjekt haben wird. Deshalb wird als unmarkierte Form die 3. Person Singular gesetzt. Tritt stattdessen das Subjekt vor dem Verb auf, sind die morphosyntaktischen Kategorien bereits realisiert, wenn das flektierte Verb produziert wird. Allerdings genügt dieser Gesichtspunkt allein sicher nicht zur Erklärung dieser Fälle: In der überwiegenden Mehrheit der mittelhochdeutschen und frühneuhochdeutschen Sätze, in denen das Subjekt nach dem Verb steht (unter anderem ist dies in den allermeisten Nebensätzen der Fall), kongruieren Subjekt und Verb problemlos in der erwarteten Art und Weise miteinander. Dahinter, dass als Subjekt meist ein Neutrum auftritt, könnte sich eine sehr alte Eigenheit verbergen: In mehreren älteren indogermanischen Sprachen (beispielsweise im Altgriechischen) finden sich Belege für Subjekte im Neutrum Plural, auf die sich singularische Verbformen beziehen. 13 Nach Meier-Brügger (2010: 335) erklärt sich dies aus dem Verständnis des Neutrums als ursprüngliche Kollektivform. Allerdings liegen zwischen den deutschen Belegen und der indogermanischen Grundsprache mehrere tausend Jahre. Es scheint deshalb - trotz der Tatsache, dass es auch im Deutschen vor allem das Neutrum ist, das mit singularischen Verben kongruiert - unsicher, ob die deutschen Belege tatsächlich durch die Eigenheiten des indogermanischen Neutrums erklärt werden können. 7.3 Hybrid nouns Beispiele für Hybrid nouns, bei denen sich eine Kongruenzform nach dem natürlichen statt nach dem grammatischen Geschlecht richtet, also eine Constructio ad sensum auftritt, finden sich bereits in althochdeutscher Zeit. Im folgenden Beispiel wird das Substantiv magatin ‘Mädchen’, das neutrales Genus aufweist (dies zeigt der davor stehende Artikel, der in der neutralen Form tház ‘das’ und nicht etwa in ________ 13 Ein Beispiel, das mit den angeführten deutschen Belegen verglichen werden kann, bietet etwa der folgende altgriechische Satz. Darin tritt ein Subjekt im Neutrum Plural auf (sowohl der Artikel tà als auch das Substantiv selbst zeigen diese Form), das jedoch mit einem Verb im Singular verbunden wird (in der Grammatikschreibung des Griechischen spricht man vom so genannten schêma attikón): tà phýlla píptei die- NOM . PL . N Blatt- NOM . PL . N fall-3 SG . IND . PRÄS . AKT ‘die Blätter fallen’ <?page no="108"?> Entwicklungen im Bereich der Kongruenz 108 der femininen Form thiu ‘die’ auftritt), durch ein feminines Personalpronomen (siu = nhd. sie) aufgenommen: inti arstuont sliumo tház magatin Inti gieng. siu uúas alt zuelif iaro (Tatian 96,30-32) und erstand schnell das Mädchen und ging. Sie war alt zwölf Jahre ‘und das Mädchen auferstand schnell und ging. Sie war zwölf Jahre alt’ Das gleiche Phänomen zeigt die folgende Stelle aus Luthers Bibelübersetzung. Hier wird weib ‘Frau’ (wörtlich ‘Weib’, allerdings bei Luther noch ohne die pejorative Bedeutung des Neuhochdeutschen) durch ein feminines Personalpronomen sie ‘sie’ anaphorisch aufgenommen: Da hastu dein weib / nim sie vnd zeuch hin (Luther, Biblia 1545, 7r [Gen 12,19]) Auch noch im Neuhochdeutschen finden sich entsprechende Belege. Im folgenden Beispiel von Goethe wird ein anderes Hybrid noun, nämlich Fräulein, durch ein feminines Personalpronomen aufgenommen: Ein schönes Fräulein nahm sich seiner an, / Als er in Napel fremd umher spazierte; / Sie hat an ihm viel Lieb’s und Treu getan (Goethe, Werke 7/ 1, 127 [Faust I, V. 2981-2983]) Die bisher angeführten Beispiele für Constructiones ad sensum zeigen jeweils ein Hybrid noun, das von einem Personalpronomen aufgenommen wird. Die Constructio ad sensum kann jedoch auch bei einem Relativpronomen auftreten, dessen Bindung an das vorangehende Substantiv enger ist, wie die folgenden Beispiele aus dem Spätalthochdeutschen bzw. Mittelhochdeutschen zeigen: éin uuîb tíu adrastia héizet (Notker, Martianus Capella 55,12-13) ein Weib, die Adrastia heißt ‘eine Frau, die Adrastia heißt’ alse ein wîp diu eines kindes sol genesen (Kaiserchronik 1912-1913) wie ein Weib, die eines Kindes genesen soll ‘wie eine Frau, die ein Kind gebären soll’ Noch im Neuhochdeutschen finden sich entsprechende Belege, und zwar nicht nur in der älteren Zeit - dafür steht etwa das folgende Beispiel aus Grimmelshausens Courasche (Erstdruck 1670) -, sondern auch in der Zeitungssprache des 21. Jahrhunderts: ein altes Weib / die des Lebens so lange Zeit wol gewohnet (Grimmelshausen, Courasche 21) Eigentlich war seine Reise auch eine Flucht vor einem Mädchen, die ihn zu schnell und zu heftig erobert hat. (Berliner Zeitung, 11.11.2001; zit. n. Panther 2009: 83) <?page no="109"?> Hybrid nouns 109 Im Mittelhochdeutschen erscheint bisweilen sogar ein attributives Adjektiv in einer dem natürlichen und nicht dem grammatischen Geschlecht entsprechenden Form (vgl. Paul et al. 2007: 384 = § S 137, Anm. 1). Entsprechende Beispiele aus dem Nibelungenlied (wo aber im Vergleich verschiedener Handschriften eine gewisse Varianz beobachtet werden kann) wurden bereits in 4.3.1 angeführt. Das folgende Beispiel illustriert diese Konstruktion für einen weiteren mittelhochdeutschen Text, den Prosalancelot. Statt der neutralen Form (normalmhd. êlîchez) tritt hier eine feminine Form auf: anders enmocht ich myn eliche wip nit laßen (Prosalancelot 522,17) anders NEG =könnte ich mein eheliche Weib nicht lassen ‘anders könnte ich meine Ehefrau nicht zurücklassen’ Die bisher angeführten Beispiele betreffen allesamt Substantive, deren Genus neutral ist, die sich aber auf weibliche Wesen beziehen. Dies sind vielleicht die auffälligsten und häufigsten Beispiele für Hybrid nouns im Deutschen. Doch finden sich weitere Typen von Hybrid nouns - beispielsweise Diminutive maskuliner Personenbezeichnungen. Im folgenden Beispiel wird das Substantiv knebelin ‘Knäblein’, das neutral ist (das vorangestellte attributive Adjektive junges zeigt eine neutrale Form), sich aber auf ein männliches Wesen bezieht, mit dem maskulinen Personalpronomen er aufgenommen: Und sie hatten nymant miteinander gewůnnen dann ein junges knebelin kleyn, und sie hatten niemanden miteinander gezeugt als ein junges Knäblein klein, und was geheißen Lancelot syn zuname, wann er was getauffet Galaad (Prosalancelot 1,5-6) und war geheißen Lanzelot sein Zuname, denn er war getauft Galad ‘und sie hatten niemanden miteinander gezeugt außer ein junges Knäblein klein, das mit einem Zunamen Lancelot hieß, denn getauft war er auf den Namen Galad’ Es gibt überdies auch Hybrid nouns, die in Bezug auf das natürliche Geschlecht nicht festgelegt sind. In den folgenden Belegen aus dem Althochdeutschen bzw. Mittelhochdeutschen bezieht sich das neutrale Substantiv kind ‘Kind’ bzw. der davon abgeleitete Diminutiv kindelîn ‘Kindlein’ jeweils auf einen Jungen - das Lexem wird entsprechend mittels maskuliner Formen anaphorisch aufgenommen: ist thiz kínd íúer · ther blínter uuard gibóraner (Otfrid III 20, 82) ist dieses Kind euer, der blind- M . SG wurde geboren- M . SG ? ‘ist dieses Kind, das blind geboren wurde, euch? ’ er nam daz kindelîn bî der hant, / er bevalh in in ir hant (Kaiserchronik 1670- 1671) er nahm das Kindlein bei der Hand, er befahl ihn in ihre Hand ‘er nahm das Kind bei der Hand und befahl ihn in ihre Hand’ <?page no="110"?> Entwicklungen im Bereich der Kongruenz 110 Außerdem gibt es Hybrid nouns, bei denen das grammatische Genus dem natürlichen Geschlecht entgegengesetzt sein kann. Im folgenden Beleg bezieht sich das maskuline Substantiv gemahel ‘Gemahl, Ehepartner’ auf eine Frau - und wird deshalb mit einem femininen Relativpronomen aufgenommen: Werdet auch on allen zweyffel ewren liebstenn gemahel wider vberkommen / die jr also trewlichen vnd hertzliche geliebt habet (Magelone 670) ‘Ihr werdet auch ohne jeden Zweifel euren liebsten Gemahl wieder bekommen, die ihr so treulich und herzlich geliebt habt’ Bisher ist die Entwicklung der Kongruenz bei Hybrid nouns in der Geschichte des Deutschen noch kaum systematisch erforscht. Die angeführten Beispiele zeigen, dass die Constructio ad sensum in den älteren Sprachstufen des Deutschen einen wichtigen Platz einnimmt. Es scheint, dass die semantisch motivierten Formen eher zurückgehen, wobei sich allerdings Unterschiede zwischen verschiedenen Wortarten bzw. Verwendungen ergeben. Nach Dal (1966: 161) werden im Neuhochdeutschen bei neutralen Hybrid nouns, die sich auf weibliche Personen beziehen, die Personal- und Possessivpronomen eher in femininen Formen verwendet, die Relativpronomen dagegen eher in neutraler Form. Bei attributiven Adjektiven, die sich auf ein Hybrid noun beziehen, scheint nur noch die Constructio ad formam möglich (*ein nette Mädchen). Die Constructio ad sensum ist offenbar also vor allem noch bei denjenigen Wortarten möglich, die keine besonders enge Bindung an das Substantiv haben, auf das sich die Kongruenz richtet (anaphorisches Personalpronomen, Possessivpronomen). Beim Relativpronomen, wo diese Bindung etwas enger ist, scheint sich die Constructio ad formam durchzusetzen, beim attributiven Adjektiv, wo diese Bindung noch enger ist, hat sie sich vollständig durchgesetzt. Die Tendenz, dass die Constructio ad sensum am seltensten in attributiven Relationen auftritt, lässt sich auch übereinzelsprachlich feststellen. Von Corbett wird diese Verallgemeinerung in der sogenannten „Agreement Hierarchy“ formuliert (vgl. Corbett 2006: 207). Neben der syntaktischen Funktion spielt auch der lineare Abstand zum Nomen, auf das sich die Kongruenz richtet, eine wichtige Rolle (vgl. Panther 2009: 78-80). Dies illustriert das folgende Beispiel, in dem sich zwei Relativpronomen auf ein Hybrid noun beziehen - das erste, das unmittelbar auf Mädchen folgt, ist neutral, das zweite dagegen feminin: Und er liebt Henriette Vogel, das Mädchen, das in derselben Nacht wie er geboren wurde und die mit ihm im Bordell aufwächst (Internettext, zit. n. Panther 2009: 78, Köpcke/ Zubin 2009: 142) In Internettexten zeigt sich, dass ein Relativpronomen, das sich auf Mädchen bezieht, in nur 6,8 % der Fälle die feminine Form aufweist, wenn zwischen Mädchen und dem Relativpronomen kein weiteres Wort steht, das Relativpronomen also unmittelbar auf das Hybrid noun folgt. Wenn der Abstand dagegen ein Wort beträgt, weisen 12,2 % der Relativpronomen die feminine Form auf, bei zwei Wörtern bereits 26,6 % und bei fünf Wörtern sogar 40 % (Panther 2009: 79; vgl. <?page no="111"?> Hybrid nouns 111 Köpcke/ Zubin 2009: 141). Mit dem linearen Abstand vom Nomen, auf das sich die Kongruenzform richtet, nimmt also die Wahrscheinlichkeit, dass die Constructio ad sensum auftritt, deutlich zu. Die bisher betrachteten Daten bestätigen die Angaben von Behaghel (1928: 2) und Dal (1966: 161), dass in der Entwicklung des Deutschen die Constructio ad sensum zurückgeht. Allerdings finden sich auch im Neuhochdeutschen durchaus noch entsprechende Beispiele, und die Tatsache, dass etwa in Internettexten entsprechende Belege gar nicht selten zu sein scheinen, führt zur Vermutung, der Rückgang könne in erster Linie bestimmte Textsorten der Standardsprache betreffen. Dass es in neuhochdeutscher Zeit sogar ein Beispiel für die zwischenzeitliche Ausdehnung der Constructio ad sensum gibt (und zwar sogar in einer attributiven Relation), soll im Folgenden anhand der Kongruenzformen des Zahlworts ‘zwei’ gezeigt werden. Anders als im Neuhochdeutschen verfügt dieses in den älteren Sprachstufen, und teilweise noch bis ins ältere Neuhochdeutsche hinein, über verschiedene Genusformen. In manchen Dialekten sind diese bis in die jüngste Zeit erhalten geblieben. Die folgende Tabelle führt die verschiedenen Genusformen des Zahlworts ‘zwei’ im Mittelhochdeutschen, Frühneuhochdeutschen, in einem osthessischen und in einem alemannischen Dialekt auf (diese werden in Thüringen bzw. im österreichischen Bundesland Vorarlberg gesprochen). In der letzten Zeile wird - im Kontrast - die in Bezug auf Genus nicht differenzierte Form der neuhochdeutschen Standardsprache aufgeführt: maskulin feminin neutral mhd. zwêne zwo, zwa zwei frnhd. zwe(e)n(e) zwo zwey osthess. (Thüringen) tsw ɪ : n tsw ʊ : tswa: alem. (Vorarlberg) tßw ǟ tßw ō tßw ǭ ɒ nhd. (Standard) zwei Genusformen beim Numerale ‘zwei’ (Formen aus: Paul et al. 2007: 231 = § M 60, Ebert et al. 1993: 206 = § M 58, Weldner 1991: 104, Gabriel 1963: 250) Bei Luther sind die verschiedenen Genusformen noch vollständig erhalten. Das folgende Beispiel zeigt alle drei Genusformen bei einem femininen, maskulinen bzw. neutralen Substantiv: Es ist dir besser / das du zum Leben lam oder ein kröpel eingehest / Denn das du zwo hende oder zween Füsse habest / vnd werdest in das ewige Fewr geworffen. Vnd so dich dein Auge ergert / reis es aus / vnd wirffs von dir. Es ist dir besser das du eineugig zum Leben eingehest / denn das du zwey Augen habest / vnd werdest in das hellische Fewr geworffen (Luther, Biblia 1545, 255v [Mat 18,8-9]) Interessant ist in unserem Zusammenhang das Verhalten des Zahlworts ‘zwei’ bei Hybrid nouns. Bei Luther tritt die Constructio ad formam auf. Im folgenden Bei- <?page no="112"?> Entwicklungen im Bereich der Kongruenz 112 spiel findet sich bei Weib die neutrale Form (zwey), beim Femininum Magd dagegen die erwartbare feminine Form (zwo): vnd nam seine zwey Weiber / vnd die zwo Megde (Luther, Biblia 1545, 20r [Gen 32,26]) Dagegen tritt im älteren Neuhochdeutschen in derartigen Kontexten häufig die feminine Form auf. Die folgenden Belege zeigen dies für Fräulein, Frauenzimmer und Mädchen: in einem Hause, wo zwo so artige Fräuleins sind (Gottsched, Testament 150) diese zwo Frauenzimmer leiden Mangel (Schiller Werke 7, 539 [Merkwürdiges Beispiel einer weiblichen Rache]) Nun sitzen des Tags die zwo Mädchen und die Mutter daran (La Roche, Sternheim 204) Auch in den modernen Dialekten, die noch eine Genusdistinktion bei ‘zwei’ kennen, findet sich bei Hybrid nouns die Constructio ad sensum (vgl. Weldner 1991: 104, Gabriel 1963: 250): Osthessisch: tsw ʊ : ma: çə ‘zwei Mädchen’, tsw ʊ : wi: w ə ‘zwei Weiber’ (Weldner 1991: 104) Alemannisch: tßw ō m ǫǝ tl ɒ ‘zwei Mädchen’ (Gabriel 1963: 250) In vielen Fällen geht die Constructio ad sensum im Lauf der deutschen Sprachgeschichte zurück. Beim Zahlwort ‘zwei’, dessen Genus-Distinktionen allerdings im jüngeren Neuhochdeutschen (und auch in vielen Dialekten) letztlich aufgegeben wurden, scheint das genaue Gegenteil der Fall zu sein. Es ist unklar, ob sich die angeführten Beispiele zu ‘zwei’ sich bei Berücksichtigung von weiteren Daten als atypisch oder im Gegenteil als charakteristisch herausstellen würden und ob es noch mehr Fälle gibt, in denen sich die Constructio ad sensum gegen den allgemeinen Trend ausbreiten kann. Bis jetzt gibt es nur wenig verlässliche Angaben zum syntaktischen Verhalten von Hybrid nouns in der Gegenwartssprache, und auch eine umfassende Studie zur Kongruenz bei Hybrid nouns in der Geschichte des Deutschen fehlt bisher. 7.4 Committee nouns Committee nouns sind, wie erwähnt (vgl. 7.1), singularische Substantive mit pluralischer Bedeutung. In Abhängigkeit von der Konstruktion nehmen sie unter Umständen noch in der modernen Standardsprache pluralische Formen zu sich. Wenn Committee nouns als Subjekt auftreten, können sie bis in die frühneuhoch- <?page no="113"?> Committee nouns 113 deutsche Zeit hinein mit einem pluralischen Verb verbunden werden (wie das im Englischen noch heute der Fall ist; vgl. 7.1). Das folgende mittelhochdeutsche Beispiel zeigt dies für das Substantiv her ‘Heer’ (ein Heer besteht aus vielen Soldaten, die pluralische Bedeutung liegt also auf der Hand): Hin von den zinnen vielen / und gâhten zuo den kielen / daz hungerc her durch den stoup (Parzival 5947-5949 = 200,17-19) hinunter von den Zinnen fielen und stürzten zu den Schiffen das hungrige Herr durch den Staub ‘das hungrige Herr stürzte (wörtlich: stürzten) hinunter von den Zinnen und eilte (wörtlich: eilten) durch den Staub zu den Schiffen’ In Luthers Bibelübersetzung von 1545 treten Committee nouns mit Bezug auf ein pluralisches Verb, ein pluralisches Personalpronomen bzw. pluralische Possessivpronomen auf: Vnd das gantze Jsrael steinigeten jn (Luther, Biblia 1545, 121v [Jos 7,25]) Denn Gott gedacht / Es möcht das Volck gerewen / wenn sie den streit sehen / vnd wider in Egypten vmbkeren. (Luther, Biblia 1545, 37v [Ex 13,17]) RVffe getrost / schone nicht / Erhebe deine stim wie eine Posaune / vnd verkündige meinem Volck jr vbertretten / vnd dem hause Jacob jre sunde (Luther, Biblia 1545, 30v [Jes 58,1]) In einer Übersetzung des 21. Jahrhunderts finden sich an den entsprechenden Stellen überall Singularformen, es tritt also die Constructio ad formam auf: Und ganz Israel steinigte ihn (Zürcher Bibel 2007, Jos 7,25) Denn Gott dachte: Das Volk könnte es bereuen und nach Ägypten zurückkehren wollen, wenn es in einen Krieg verwickelt wird. (Zürcher Bibel 2007, Ex 13,17) Rufe aus voller Kehle, halte dich nicht zurück! Einem Schofar gleich erhebe deine Stimme, und verkünde meinen Volk sein Vergehen und dem Haus Jacob seine Sünden! (Zürcher Bibel 2007, Jes 58,1) Allerdings gibt es auch im Neuhochdeutschen noch die Constructio ad sensum. Dies zeigt die folgende Gegenüberstellung einer Bibelstelle in der Übersetzung von Luther 1545 und der Zürcher Bibel 2007. Hier liegt mit Volk ein Committee noun vor, auf welches sich auch in der modernen Übersetzung ein pluralisches Personalpronomen bezieht: Las mein Volck / das sie mir dienen (Luther, Biblia 1545, 35v [Ex 9,1]) Lass mein Volk ziehen, damit sie mir dienen (Zürcher Bibel 2007; Ex 9,1) <?page no="114"?> Entwicklungen im Bereich der Kongruenz 114 Es ist unklar, ob die hier angeführten Belege aus Bibelübersetzungen repräsentativ sind und ob die festgestellten Unterschiede eine Entwicklung illustrieren. Bei manchen Bibelbelegen scheint es wahrscheinlich, dass eine sich auf ein Committee noun beziehende Form deshalb pluralisch ist, weil dies auch im Originaltext der Fall ist - immerhin handelt es sich ja um Übersetzungstexte. Wie bei den Hybrid nouns könnte auch bei den Committee nouns die Art der Kongruenzbeziehung eine Rolle für das Auftreten der Constructio ad sensum spielen. In Bezug auf die Werke Wolframs von Eschenbach stellt Gärtner (1970: 60) fest, dass das anaphorische Pronomen bei Committee nouns in der Regel pluralisch ist (71 pluralischen Belegen stehen nur 5 singularische gegenüber, der Anteil der Constructio ad formam macht somit bloß 7 % aus). Beim Relativpronomen hingegen, dessen Bindung an das Nomen, auf das sich die Kongruenz richtet, enger ist, ist der Anteil der formalen Kongruenz höher (24 pluralische stehen 16 singularischen Belegen gegenüber, der Anteil der Constructio ad formam macht hier 40 % aus). Bei der Beziehung zwischen einem Committee noun als Subjekt und der Verbform spielt die relative Abfolge eine entscheidende Rolle: Die Constructio ad sensum tritt vor allem dann auf, wenn das Verb dem Subjekt folgt und von diesem durch die Versgrenze getrennt ist (vgl. Gärtner 1970: 60). Außerdem könnte auch die lineare Distanz zum Wort, auf das sich die Kongruenzform bezieht, wichtig sein. Die folgende Stelle aus der Luther-Bibel stellt einen Beleg für diese Annahme anhand von Beispielen zum Possessivpronomen und zum Verb dar: Hier referiert auf Volck zunächst das unmittelbar folgende Possessivpronomen seine, später tritt jedoch das pluralische Possessivpronomen jren auf; auch bei den Verben finden wir zuerst (und noch vor dem Auftreten von Volck) eine Singularform (reiss), dann jedoch eine Pluralform (brachten). Da reiss alles Volck seine gülden Ohrenringe von jren ohren / vnd brachten sie zu Aaron (Luther, Biblia 1545, 50v [Ex 32,3]) Wie bei den Hybrid nouns gilt auch bei den Committee nouns, dass systematische Untersuchungen zum Kongruenzverhalten für die moderne Standardsprache und für die historische Entwicklung noch weitgehend fehlen. Ein Rückgang der Constructio ad sensum lässt sich aber zumindest in qualitativer Hinsicht feststellen: Während es im Frühneuhochdeutschen durchaus noch Belege dafür gibt, dass bei einem Committee noun ein pluralisches Verb auftritt, scheint dies im Neuhochdeutschen nicht mehr möglich zu sein. 7.5 Kongruenz bei unterschiedlichen Genusmerkmalen Bei den in den letzten beiden Abschnitten behandelten Fällen bezogen sich kongruierende Formen jeweils auf ein bestimmtes Nomen (dessen Semantik allerdings Merkmale aufweist, die zu seinen grammatischen Eigenschaften im Widerspruch stehen). Im Folgenden geht es um Konstruktionen, bei denen sich eine Kongruenzform auf mehrere Substantive richtet, die unterschiedliches Genus aufweisen. Auch hier stellt sich die Frage, wie das Sprachsystem in solchen <?page no="115"?> Kongruenz bei unterschiedlichen Genusmerkmalen 115 Fällen verfährt. Im Neuhochdeutschen treten solche Konstellationen nur im Singular auf, da es im Neuhochdeutschen bei kongruierenden Wortarten, also z.B. bei Pronomen und Adjektiven, im Plural keine Genusdifferenzierungen gibt. Dies verhält sich in den älteren Sprachstufen jedoch anders. Im Folgenden werden pluralische und singularische Beispiele deshalb getrennt behandelt. 7.5.1 Plural Im Neuhochdeutschen gibt es bei kongruierenden Wortarten, beispielsweise bei Adjektiven und Pronomen, nur im Singular Genusunterschiede (ein letzter Überrest von verschiedenen Genusformen im Plural findet sich im älteren Neuhochdeutschen und in modernen Dialekten noch beim Zahlwort ‘zwei’; vgl. 7.3). In den älteren Sprachstufen treten dagegen im Plural noch unterschiedliche Genusformen auf, die Genusdifferenzierungen werden allerdings im Lauf der deutschen Sprachgeschichte zunehmend abgebaut. Die folgende Tabelle führt die Formen des bestimmten Artikels (der zugleich auch als Demonstrativ- und Relativpronomen verwendet werden kann) und des Personalpronomens für verschiedene Perioden an. Wenn bestimmte Formen für mehr als ein Genus stehen, wird dies durch graue Hinterlegung markiert. best. Art./ Dem.-/ Rel.-Pron. Pers.-Pron. m. f. n. m. f. n. Ahd.: Tatian thie thio thiu sie sio siu Ahd.: Otfrid thie thio thiu sie siu Mhd. die diu sie siu Frnhd. die ~ diu > die sie ~ siu > sie Nhd. die sie Tabelle: Genusformen im Plural beim Artikel und Personalpronomen (nach: Askedal 1973: 21, 39, Paul et al. 2007: 217 = § M 44, 213 = § M 41; Ebert et al. 1993: 218-219 = § M 68, 213-214 = § M 63) Während es im älteren Althochdeutschen, wie es in Tatian belegt ist, noch drei verschiedene Genusformen sowohl beim bestimmten Artikel/ Demonstrativ-pronomen/ Relativpronomen als auch beim Personalpronomen gibt, sind bereits bei Otfrid erste Zusammenfälle festzustellen: Beim Personalpronomen wird die eigene Form des Femininums aufgegeben, die Form sie steht ab nun sowohl für Maskulin als auch für Feminin Plural. Im Mittelhochdeutschen sind die Genusunterschiede zwischen Maskulinum und Femininum auch beim Artikel/ Relativpronomen verschwunden, das Neutrum ist jedoch noch als solches erhalten. In der weiteren Entwicklung verschwindet auch der Unterschied zwischen der neutralen Form auf der einen und der maskulinen/ femininen Form auf der anderen Seite. Im Neuhochdeutschen sind wir bei einem Zustand, in welchem im Plural keinerlei Genusunterschiede mehr vorhanden sind. Daher gibt es keine Kongruenzprobleme, wenn sich, wie im folgenden Beispielsatz, ein pluralisches Pronomen auf zwei Nominalphrasen mit unter- <?page no="116"?> Entwicklungen im Bereich der Kongruenz 116 schiedlichen Genera bezieht. Ohne Probleme kann das (nicht genusdifferenzierte) Personalpronomen der 3. Person Plural verwendet werden: Auf der Straße gehen eine Frau und ein Mann. Sie schauen sich die Litfaßsäulen aufmerksam an. In einer Sprache oder Sprachstufe, die auch im Plural Genusunterschiede kennt, beispielsweise im Althochdeutschen, steht das Kongruenzsystem bei einer derartigen Konstellation dagegen vor einem Problem: Tritt in einem solchen Fall die Form des Maskulin Plural auf (dann werden die morphosyntaktischen Merkmale der femininen Nominalphrase nicht repräsentiert), tritt stattdessen die Form des Feminin Plural auf (dann werden die morphosyntaktischen Merkmale der maskulinen Nominalphrase nicht repräsentiert) oder tritt - als „Kompromiss“ - die Form des Neutrum Plural auf (dann werden die morphosyntaktischen Merkmale keiner der beiden Nominalphrasen repräsentiert)? Im anaphorischen Pronomen, oder auch bei anderen kongruierenden Wortarten, können jedenfalls nicht die Genusmerkmale beider Nominalphrasen aufgenommen werden. In der englischsprachigen Literatur werden solche Fälle, in denen in irgendeiner Weise geregelt werden muss, welche Form als Kongruenzform auftritt, als Kontexte für Gender resolution bezeichnet. Es muss für Gender resolution-Kontexte eine bestimmte Regel existieren, die besagt, welche Form in derartigen Fällen auftritt und welche Kriterien dafür den Ausschlag geben. Ein Kontext, der dem oben angeführten neuhochdeutschen Beispielsatz vergleichbar ist, liegt im folgenden althochdeutschen Beispiel vor: Im Text werden zwei Personen unterschiedlichen Geschlechts (Zacharias und Elisabeth) eingeführt. Auf diese beiden Personen beziehen sich ein pluralisches Personalpronomen und - davon abhängig - das prädikative Adjektiv gerecht sowie das Pronomen beide. Alle drei weisen die Form des Neutrum Plural auf - es wird hier also eine Art „Kompromissform“ zwischen der maskulinen und der femininen Nominalphrase erreicht: uuas In tagun herodes thes cuninges Iudeno sumer biscof namen zacharias fon themo uuehsale abiases Inti quena Imo fon aarones tohterun Inti Ira namo uuas elisab&h, siu uuarun rehtiu beidu fora gote (Tatian 25,29-26,3) ‘Es war in den Tagen des Königs Herodes ein gewisser Priester namens Zacharias aus der Abteilung des Abija, und er hatte (wörtl.: jenem war) eine Frau aus den Töchtern Aarons, und ihr Name war Elisabeth. Sie ( N . PL ) waren beide ( N . PL ) gerecht ( N . PL ) vor Gott […]’ lat.: Fuit in diebus Herodis regis Iudeę quidam sacerdos nomine Zacharias de vice Abia et uxor illi de filiabus Aaron et nomen eius Elisabeth. Erant autem iusti ambo ante deum Wie dieses Beispiel zeigt, kann in den älteren Sprachstufen des Deutschen eine Form im Neutrum Plural auftreten, wenn Bezug auf mehrere Nominalphrasen mit unterschiedlichem Genus vorliegt. Diese Konstruktion gilt als typisch für das Germanische: Sie ist in vielen altgermanischen Sprachen belegt, kommt aber in <?page no="117"?> Kongruenz bei unterschiedlichen Genusmerkmalen 117 anderen indogermanischen Sprachzweigen nicht vor. Im lateinischen Text entspricht dem althochdeutschen Neutrum Plural rehtiu die Form iusti - dabei handelt es sich um eine Form des Maskulin Plural, die im Latein (und in den romanischen Sprachen) regelmäßig in Gender resolution-Kontexten auftritt. Im Althochdeutschen ist Neutrum Plural mit Bezug auf mehrere Nominalphrasen unterschiedlicher Genera gut belegt. Das folgende Beispiel stammt aus Otfrids Evangelienbuch. Im Kontext geht es um Joseph und Maria, die ihr Kind zum Tempel bringen; das einleitende Personalpronomen im Neutrum Plural bezieht sich auf Joseph und Maria: Siu fúarun fon theru búrg úz · zi themo drúhtines hús / sie ( N . PL ) fuhren von der Stadt hinaus zu dem Gottes Haus thes gibótes siu githáhtun · thaz kind ouh thára brahtun (Otfrid I 14,19-20) des Gebotes sie ( N . PL ) gedachten, das Kind auch dorthin brachten ‘Sie gingen aus der Stadt zum Haus des Herrn, sie dachten an das Gebot und brachten ihr Kind dorthin’ Auch im Mittelhochdeutschen tritt Neutrum Plural bei Bezug auf Nominalphrasen unterschiedlicher Genera auf. Häufiger ist aber die Form die, die für das Maskulinum und Femininum steht. Der folgende Beleg aus Parzival illustriert die Wiederaufnahme mittels dieser Form: Man und wîp die sint al ein (Parzival 5139 = 173,1) Mann und Frau die ( N . PL ) sind ganz eins ‘Mann und Frau sind ganz eins’ Interessanterweise zeigt diese Textstelle in manchen Handschriften (und in vielen Editionen) statt die die Form des Neutrum Plural diu. Diejenige Handschrift aber, die als die verlässlichste gilt, verwendet, wie oben angegeben, die (vgl. Askedal 1973: 141). Dies zeigt schon eine gewisse Varianz in Bezug auf dieses Phänomen. Besonders illustrativ sind diesbezüglich bestimmte einzelne Textstellen, in denen Neutrum und Maskulin Plural als Kongruenzformen abwechseln. Im folgenden Ausschnitt aus Otfrids Evangelienbuch geht es wiederum um Joseph und Maria. Sie werden zunächst im ersten Vers durch eine Form des Neutrum Plural anaphorisch aufgenommen, im zweiten tritt dann jedoch die Form des Maskulin Plural auf: So síu tho thar irfúltun · so in thio búah gizaltun / Als sie ( N . PL ) da dort erfüllten, wie ihnen die Bücher erzählten sie flízzun sar thes sínthes · thes iro héiminges (Otfrid I 16,21-22) sie ( M . PL ) beflissen schnell des Weges der ihrer Heimat ‘Als sie ( N . PL ) dort ihr Gebot erfüllt hatten, wie es ihnen die Schriften vorgeschrieben hatten, machten sie ( M . PL ) sich schnell auf den Weg in ihre Heimat’ <?page no="118"?> Entwicklungen im Bereich der Kongruenz 118 Bei Otfrid finden sich in derartigen Kontexten insgesamt 36 Belege, in denen eine Form des Neutrum Plural auftritt, daneben 24 mit einer Form des Maskulin Plural (vgl. Askedal 1973: 188). Dagegen tritt in Tristan und in Parzival häufiger die Form des Maskulin/ Feminin Plural auf (vgl. Askedal 1973: 189). Grundsätzlich können in den älteren Sprachstufen des Deutschen also sowohl neutrale als auch maskuline (bzw. im Mittelhochdeutschen: maskuline/ feminine) Formen Nominalphrasen von verschiedenem Genus aufnehmen. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass Belege, in denen Gender resolution-Kontexte auftreten, nicht besonders häufig sind. Askedal (1973), der dieses Phänomen in fünf langen altbzw. mittelhochdeutschen Texten untersucht, bespricht sämtliche Belege, doch insgesamt kann er nur einige wenige ausmachen (vgl. Askedal 1973: 187). Es stellt sich somit die Frage, ob von solch geringen Belegmengen ausgehend Generalisierungen möglich sind. Die bisher angeführten Beispiele zeigen ohne Ausnahme einen bestimmten Typus von Belegen: Das anaphorische Pronomen referiert jeweils auf zwei koordinierte Nominalphrasen, die sich auf einen Mann und eine Frau (in der Regel ein Paar) beziehen. Dies ist eine besonders interessante Konstellation, da hier nicht nur Genus (das „grammatische Geschlecht“), sondern auch das natürliche Geschlecht („Sexus“) eine Rolle spielen kann. Es handelt sich hierbei aber nicht um die einzig mögliche Konstellation von koordinierten Nominalphrasen. Man geht davon aus, dass in Gender resolution-Kontexten die Form des Neutrum Plural die ältere, im Germanischen verbreitete Form ist. Bereits im Althochdeutschen tritt allerdings auch, wie gesehen, die Form des Maskulin Plural auf. Bei Bezug auf eine Gruppe von Menschen verschiedenen Geschlechts unbestimmter Zahl ist die maskuline Form sogar häufiger. Dagegen findet sich bei Nominalphrasen, die nicht belebt sind, überwiegend das Neutrum (vgl. Askedal 1973: 191). Dies illustriert das folgende Beispiel aus dem Tristan Gottfrieds von Straßburg: sîne sinne und sîne manheit / diu prîsete hof unde lant (Tristan 18956-18957) seine Sinne ( M . PL ) und seine Mannheit ( F . SG ) die ( N . PL ) pries Hof und Land ‘Hof und Land priesen seine Sinne und seine Mannheit’ Bei sinne handelt es sich um ein maskulines Substantiv (das im Plural steht), manheit ist dagegen ein Femininum. Darauf bezieht sich mit diu eine Form im Neutrum Plural. Im Tristan Gottfrieds von Straßburg stellt sich das Verhältnis der anaphorischen Aufnahme durch das pluralische Pronomen die/ diu bei belebten und unbelebten Nominalphrasen folgendermaßen dar: n. diu m./ f. die belebte Nominalphrasen 1 12 unbelebte Nominalphrasen 17 11 Pronominalisierung durch diu/ die im Tristan (nach Askedal 1973: 113) <?page no="119"?> Kongruenz bei unterschiedlichen Genusmerkmalen 119 Während im Tristan belebte Nominalphrasen in den meisten Belegen durch die Form die pronominalisiert werden, ist bei unbelebten Nominalphrasen die neutrale Form diu häufiger. Ähnliche Befunde zeigen auch andere Texte. Askedal (1973: 192) stellt fest, dass bei belebten Nominalphrasen eher Pronominalisierung durch die Form des Maskulin Plural (bzw. im Mittelhochdeutschen: Maskulin/ Feminin Plural) auftritt, bei unbelebten Nominalphrasen dagegen durch die Form des Neutrum Plural. Man kann aufgrund dieses Befundes die Vermutung aufstellen, dass mit dem Maskulinum die Bedeutung ‘belebt’ verbunden war. Die hier vorgestellten Kontexte für Gender resolution kommen in den jüngeren Sprachstufen nicht mehr vor, weil die Genusunterschiede im Plural gänzlich verschwunden sind (am spätesten wurden sie beim Zahlwort ‘zwei’ aufgegeben, vgl. 7.3). Es stellt sich die Frage, ob Gender resolution-Kontexte, wie sie in diesem Abschnitt diskutiert wurden, neben anderen Gründen (etwa lautlichen Entwicklungen) mit zum Zusammenbruch des Genussystems im Plural beigetragen haben. Dies wäre dann wahrscheinlich, wenn gezeigt werden könnte, dass Gender resolution-Kontexte im Verhältnis nicht so selten sind, wie man vielleicht annehmen würde. Dazu müssten allerdings systematische Vergleiche mit anderen, für das Kongruenzsystem unproblematischen Kontexten angestellt werden. 7.5.2 Singular Während die im vorangehenden Abschnitt behandelten Gender resolution-Kontexte in den jüngeren Sprachstufen keine Rolle mehr spielen, da im Plural die Genusdistinktion aufgegeben worden ist, finden sich im Singular noch im Neuhochdeutschen Konstellationen, in denen sich eine neutrale Form auf Nominalphrasen verschiedener Genera bezieht. Ein Beispiel aus dem Neuhochdeutschen, bei dem sich das neutrale Relativpronomen auf ein maskulines oder feminines Substantiv bezieht, wurde bereits oben angeführt (vgl. 7.1). Askedal (1973) spricht in solchen Fällen von der „individualisierenden Funktion“ des Neutrums. Belege für die Form des Neutrum Singular in solchen Kontexten kommen ab mittelhochdeutscher Zeit vor. Einer der ältesten Belege stammt aus der sogenannten „Wiener Genesis“, einem frühmittelhochdeutschen Text (vgl. Askedal 1973: 87). Im Textzusammenhang geht es um Adam und Eva, nachdem sie von der verbotenen Frucht gegessen haben: Er unt sin wib / cherten fon ein anderen ir lip, / er und seine Frau kehrten von einander ihren Körper daz ir ne wederz nesahe / wie das andere getan ware (Wiener Genesis 724-727) das ihrer keines ( N . SG ) NEG -sähe wie das andere ( N . SG ) geschaffen wäre ‘Er und seine Frau drehten ihren Körper voneinander weg, damit keines von ihnen sähe, wie das andere geschaffen sei’ Diese Verwendung des Neutrum Singular kann im Mittelhochdeutschen häufig beobachtet werden. Im folgenden Beispiel aus dem Tristan Gottfrieds von Straßburg (vgl. Askedal 1973: 136) treten die neutralen Formen kataphorisch auf, also vor den Substantiven, auf die sie sich beziehen: <?page no="120"?> Entwicklungen im Bereich der Kongruenz 120 ietwederez sprach unde sach / daz ander beltlîcher an: / jedes sprach und sah das andere verwegener an: der man die maget, diu maget den man (Tristan 12038-12040) der Mann die ( AKK ) Jungfrau, die ( NOM ) Jungfrau den Mann Auch im Neuhochdeutschen ist diese Verwendung des Neutrum Singular noch belegt. Das folgende Beispiele aus der Courasche (Erstdruck 1670) illustriert dies: Jch und mein Mann bekamen einander je länger je lieber / und schetzte sich als das eine glückseelig / weil es das andere zum Ehe gemacht hatte (Grimmelshausen, Courasche 65) Nach Dal (1966: 161) kann auch in der modernen Standardsprache das Neutrum noch in dieser Art und Weise verwendet werden (daneben ist auch das Maskulinum möglich). Auch zu dieser Verwendung des Neutrum Singular bzw. zur Konkurrenz mit dem Maskulinum fehlen bis jetzt verlässliche Angaben und eine umfassende Studie. Wie bei den Kontexten im Plural besteht Konkurrenz zwischen maskulinen und neutralen Formen. Es wäre interessant, genauer zu überprüfen, ob sich hier eine Ablösung des Neutrums durch das Maskulinum abzeichnet oder ob Faktoren benannt werden können, die die Verteilung der beiden Formen steuern. Gerade in den jüngeren Sprachstufen, die eine wesentlich bessere Überlieferung zu bieten haben als das Alt- und Mittelhochdeutsche, könnte sich eine eingehende Erforschung dieses Phänomens lohnen. Literaturhinweise Das Interesse an Kongruenzerscheinungen stammt in jüngerer Zeit vor allem aus der Sprachtypologie (vgl. dazu die gut lesbare Einführung von Corbett 2006, die aber nur sehr wenige Angaben zum Deutschen und zur Diachronie enthält). In Bezug auf das Deutsche haben Kongruenzphänomene bisher vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit erhalten. Für die Gegenwartssprache sind in jüngster Zeit einige Untersuchungen erschienen, die sich mit Hybrid nouns befassen, hingewiesen sei hier vor allem auf die Arbeiten von Thurmair (2006) und Panther (2009). Informationen zu Kongruenzphänomenen in älteren Sprachstufen müssen in erster Linie aus den Grammatiken und Handbüchern gewonnen werden. Besonders zentral sind hier Behaghel (1928: 2-47) und Dal (1966: 156-163). Die Darstellung von Behaghel (1928) ist sehr materialreich, doch ist die Gliederung und Analyse der Belege teilweise nicht mehr aktuell. Dal (1966) präsentiert das Thema in einer knappen, sehr konzisen Darstellung. Daneben gibt es auch wenige Arbeiten, die sich mit bestimmten Kongruenzphänomenen eingehend beschäftigen. Unter anderem auf Committee nouns bei Wolfram von Eschenbach geht Gärtner (1970) in einem sehr materialreichen Artikel ein. Askedal (1973) behandelt in einer Monographie in Bezug auf das Alt- und Mittelhochdeutsche hauptsächlich Gender resolution-Kontexte im Plural, geht daneben aber auch auf singularische Fälle ein. <?page no="121"?> 8 Die Entstehung periphrastischer Verbalformen Im Neuhochdeutschen wird eine ganze Reihe von Verbalformen durch sogenannte „Periphrasen“ gebildet, bei denen eine Verbalform aus zwei Verben zusammengesetzt wird (z.B. ich habe gegessen). Sie sind das Thema dieses Kapitels. Zunächst wird auf periphrastische Verbalformen generell eingegangen und aufgezeigt, dass sie im Neuhochdeutschen eine wichtige Stellung einnehmen (8.1). Dann wird das Perfekt (und andere vorzeitige Tempus-Formen) behandelt, das mit sein oder haben gebildet wird (ich bin gekommen/ ich habe gesehen) (8.2). Eine Periphrase im Bereich des Genus verbi stellt das werden-Passiv dar (ich werde gesehen) (8.3). Auch auf das werden-Futur (ich werde gehen) wird eingegangen (8.4). Eine Periphrase im Bereich des Modus ist die würde-Umschreibung (ich würde kommen) (8.5). Die tun-Periphrase (ich tue lesen/ lesen tue ich) ist schließlich eine im Standard wenig verbreitete periphrastische Verbalform, die über ein sehr breites Spektrum an verschiedenen Funktionen verfügt (8.6). 8.1 Periphrastische Verbalformen im Neuhochdeutschen Das Verbalsystem des Neuhochdeutschen ist durch eine ganze Reihe sogenannter „periphrastischer“ Verbalformen gekennzeichnet. Unter „Periphrasen“ werden Formen verstanden, die durch „Umschreibungen“ gebildet werden (gr. períphrasis bedeutet wörtlich ‘Herum-Reden’), d.h. die mehrteilig sind, indem sie aus mehr als einer Verbform bestehen. In periphrastischen Verbalformen trägt jeweils eine infinite Form des Vollverbs den lexikalischen Gehalt (z.B. ein Infinitiv oder ein Partizip); daneben kommen ein oder mehrere sogenannte „Auxiliare“ (oder „Hilfsverben“: lat. auxilium = ‘Hilfe’) vor, die die grammatische Information kodieren. Dass im Deutschen zahlreiche Verbalformen periphrastisch gebildet werden, kann ein Vergleich mit dem Latein deutlich machen. Die nachstehende Tabelle zeigt die Formen der 1. Person Singular Indikativ Aktiv eines Verbs im Latein und im Deutschen in allen sechs für diese Sprachen angesetzten Zeitstufen. Während im Latein überall eine mithilfe der Morphologie gebildete Form auftritt (man spricht hier von „synthetischen“ Formen), ist dies im Deutschen nur im Präsens und im Präteritum der Fall. In allen anderen Fällen haben wir im Deutschen mehrteilige, eben periphrastische Formen (als Gegenbegriff zu den synthetischen Formen spricht man hier auch häufig von „analytischen“ Formen). In der folgenden Gegenüberstellung sind alle periphrastischen Verbalformen grau hinterlegt: <?page no="122"?> Die Entstehung periphrastischer Verbalformen 122 Latein Deutsch Präsens amō liebe Perfekt amāvī habe geliebt Präteritum amābam liebte Plusquamperfekt amāveram hatte geliebt Futur I amābo werde lieben Futur II amāverō werde geliebt haben Verbformen der 1. Person Singular Indikativ Aktiv im Latein und im Deutschen In den aktiven Verbformen tritt im Deutschen in drei Tempora jeweils ein Auxiliar auf (habe, hatte bzw. werde), beim Futur II finden sich sogar zwei Hilfsverben (werde … haben). Deutsch hat also im Vergleich zum Latein wesentlich weniger synthetische Verbformen. Dies ist ein generelles Merkmal des Germanischen: Die germanischen Sprachen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie - anders als viele andere indogermanische Sprachen - nur zwei synthetische Tempora besitzen, nämlich Präsens und Präteritum. Dass das Deutsche im Vergleich zum Latein wesentlich mehr periphrastische Verbalformen nutzt, zeigt sich neben den aktiven Verbformen besonders auch beim Passiv: Hier kennt das Deutsche ausschließlich periphrastische Formen, während im Latein in immerhin drei der sechs Tempora synthetische Formen auftreten (in den anderen drei dagegen auch periphrastisch gebildete). Latein Deutsch Präsens amor werde geliebt Perfekt amātus/ amāta sum bin geliebt worden Präteritum amābar wurde geliebt Plusquamperfekt amātus/ amāta eram war geliebt worden Futur I amābor werde geliebt werden Futur II amātus/ amāta erō werde geliebt worden sein Verbformen der 1. Person Singular Indikativ Passiv im Latein und im Deutschen Im Neuhochdeutschen werden also die Tempora Perfekt, Plusquamperfekt, Futur I und Futur II sowie das Passiv ausschließlich mithilfe von Auxiliaren gebildet. Die folgende Übersicht zeigt die für die neuhochdeutsche Standardsprache gängigerweise angesetzten Hilfsverben und ihre Funktion(en) mit jeweils einem Beispiel: Auxiliar Funktion Beispiel sein Perfekt, Passiv (? ) ist gekommen, ist geöffnet haben Perfekt hat gesagt werden Passiv, Futur I, Konjunktiv II wird geöffnet, wird kommen, würde kommen tun Topikalisierung sagen tun wir nichts <?page no="123"?> Die Perfekt-Periphrasen 123 Bei sein ist umstritten, ob bei der Form, die häufig als „Zustandspassiv“ bezeichnet wird (der Brief ist geöffnet), überhaupt eine Periphrase vorliegt, oder ob es sich dabei um eine rein prädikative Struktur handelt (vgl. dazu z.B. Maienborn 2007). Dass sein - bei bestimmten Verben - das periphrastische Perfekt bildet, ist dagegen unumstritten. Darüber hinaus scheint dieses Auxiliar derzeit seine Funktion auszudehnen, indem es auch bei der Bildung des sogenannten „am-Progressiv“ (er ist am Kochen) zunehmend Verwendung findet (vgl. dazu Pottelberge 2004). Das Auxiliar werden erfüllt im Deutschen besonders viele Funktionen: Es spielt im Bereich der Genus-verbi-, Tempus- und Modus-Umschreibung eine Rolle. Ob man - für die Standardsprache - auch tun als Auxiliar ansehen soll, ist umstritten, doch ist auf jeden Fall klar, dass dieses Verb in den Dialekten eine wichtige Rolle spielt (vgl. 8.6). Überhaupt finden sich in bestimmten Varietäten weitere Auxiliare, die (noch) nicht der Standardsprache angehören. Ein entsprechendes Beispiel ist kriegen/ bekommen, mit dem das sogenannte „Rezipientenpassiv“ (er kriegt/ bekommt geholfen) gebildet wird (vgl. dazu Lenz 2008). Die Entstehung der periphrastischen Verbalformen kann in der Überlieferung des Deutschen teilweise sehr gut beobachtet werden. In den folgenden Abschnitten wird die Entwicklung einzelner periphrastischer Verbalformen des Deutschen diskutiert. 8.2 Die Perfekt-Periphrasen Im Neuhochdeutschen wird das Perfekt (sowie das Plusquamperfekt und das Futur II; diese werden im Folgenden nicht eigens behandelt) mit dem Auxiliar sein oder haben gebildet, entsprechend ist vom sein- und vom haben-Perfekt die Rede. Gemeinsam ist beiden Periphrasen, dass das Auxiliar mit dem Partizip II des Vollverbs verbunden wird. Bei transitiven Verben hat das Partizip II, wenn es attributiv verwendet werden kann, passive Bedeutung (der geschlagene Hund), bei intransitiven Verben dagegen aktive Bedeutung (der entlaufene Hund; allerdings ist die attributive Verwendung bei gewissen intransitiven Verben nicht möglich: *der geschlafene Student). Mit diesen Bedeutungen des Partizips II scheint die Entwicklung der Periphrasen zu beginnen. Zunächst ergab sich die Bedeutung der Fügungen aus der Bedeutung des Verbs und des Partizips II: er ist gekommen bedeutet zunächst ‘er ist ein Gekommener’ (genauso wie er ist groß als ‘er ist ein Großer’ paraphrasiert werden kann), ich habe den Baum gepflanzt bedeutet zunächst ‘ich habe/ besitze einen Baum als gepflanzten’. Dabei traten sein als Kopula und haben als Vollverb auf. Das Wesen einer periphrastischen Verbalform besteht darin, dass sich ihre Bedeutung nur aus dem Zusammenspiel der involvierten Verben ergibt, nicht jedoch dadurch, dass die jeweiligen Bedeutung der involvierten Verben sozusagen addiert werden (gelegentlich wird davon gesprochen, dass sich die Bedeutung einer Paraphrase nicht „kompositionell“, d.h. nicht aus den einzelnen Teilen, ergibt). Mit der zunehmenden Grammatikalisierung entstehen aus den ursprünglichen Fügungen eigentliche Periphrasen. „Grammatikalisierung“ bedeutet, dass aus ursprünglichen Vollverben Hilfsverben werden (diese Entwicklung <?page no="124"?> Die Entstehung periphrastischer Verbalformen 124 wird gelegentlich als „Auxiliarisierung“ bezeichnet). Beispielsweise spielt die primäre Bedeutung von haben für ich habe gesagt keine Rolle mehr (man kann ich habe gesagt nicht als ‘ich besitze Gesagtes’ auffassen). Für die historische Sprachwissenschaft ist bei Periphrasen die Frage zentral, ab welchem Zeitpunkt eine ursprünglich freie Fügung nur noch als periphrastische Form vorliegt, deren Bedeutung sich nicht mehr aus der Bedeutung ihrer einzelnen Teile zusammensetzt. Dies ist bei historischen Texten häufig nur schwer festzustellen. 8.2.1 Das sein -Perfekt Das sein-Perfekt wird durch eine flektierte Form des Auxiliars sein und durch das Partizip II des Vollverbs gebildet. Das Partizip II tritt dabei in der gleichen Position wie prädikative Adjektive auf. Ursprünglich unterschied sich diese Struktur nicht von Verbindungen aus sein mit einem prädikativen Adjektiv. Das sein- Perfekt ist aus Sätzen entstanden, in denen das Partizip II ein prädikatives Element zum Subjekt war. Er ist gelaufen hatte ursprünglich die Bedeutung ‘er ist ein Gelaufener’, wobei die Zustandsbedeutung im Vordergrund stand. Da das Partizip II aber eine abgeschlossene Handlung bezeichnet, übernahm die Konstruktion diese Bedeutung mit und entwickelte sich zur Perfekt-Periphrase (vgl. Grønvik 1986: 16). Belege für das sein-Perfekt sind in den älteren althochdeutschen Texten selten. Beispielsweise fehlt die Konstruktion im althochdeutschen Tatian weitgehend, was allerdings auch damit zusammenhängen mag, dass es im lateinischen Text kein direktes Vorbild für diese Konstruktion gibt. 14 Im althochdeutschen Isidor, einem wahrscheinlich noch vor 800 entstandenen Text, findet sich etwa das folgende Beispiel, bei dem sich eine Form des Verbs wesan/ sīn 15 mit einem Partizip II verbindet (im hier nicht wiedergegebenen lateinischen Text des Isidor tritt keine vergleichbare Struktur auf): dhazs dher allero heilegono heilego druhtin nerrendeo christ iu ist langhe quhoman (Isidor 26,11-14) dass der aller Heiliger heilige Herr rettender Christ schon ist lange gekommen ‘dass der allerheiligste heilige Herr, der rettende Christ, schon lange gekommen ist’ ________ 14 Vgl. Fleischer (2007: 340, Fußnote 102). Das von Grønvik (1986: 17) zitierte Tatian-Beispiel ist unsicher, weil arstorbana sint (Tatian 41,26) ‘sie sind gestorben’ einem lateinischen defuncti sunt entspricht, hier könnte eine Nachbildung der lateinischen Struktur vorliegen. 15 Noch im Neuhochdeutschen werden die Formen des Verbs sein von verschiedenen Stämmen gebildet (vgl. sein, ist, bin, war etc.), bei sein handelt es sich deshalb um ein sogenanntes „suppletives“ Verb. Dies gilt auch schon für das Althochdeutsche, allerdings existieren dort noch Formen, die es im Neuhochdeutschen nicht mehr gibt (z.B. birun ‘wir sind’ etc.). Als Infinitiv treten im Althochdeutschen sowohl sīn als auch wesan auf (den zweiten Stamm sehen wir noch heute im Partizip II: gewesen), im Folgenden wird der Infinitiv des Verbs sein im Althochdeutschen deshalb als wesan/ sīn angeführt. <?page no="125"?> Die Perfekt-Periphrasen 125 Aus Otfrid stammt die folgende, häufig zitierte Textstelle, in der gleich zwei Beispiele für das periphrastische Perfekt mit sein auftreten: Er ist fon héllu iruuúntan · ioh úf fon dóde irstantan (Otfrid V 4,47) er ist von Hölle umgekehrt und auf vom Tod erstanden ‘er ist aus der Hölle zurückgekehrt und vom Tod auferstanden’ Wie das prädikative Adjektiv konnte auch das Partizip II bei sein in althochdeutscher Zeit die flektierte Form aufweisen. Wiederum sind Belege für das periphrastische Perfekt mit einem flektierten Partizip nicht sehr zahlreich (anders verhält es sich bei der Passivperiphrase; vgl. 8.3). Das folgende Beispiel stammt aus der Psalterübersetzung Notkers (†1022). Die Flexion des Partizips ist in spätalthochdeutscher Zeit und im Maskulin Singular äußerst untypisch, doch könnte darin ein Hinweis gesehen werden, dass die Grammatikalisierung zur Periphrase noch nicht abgeschlossen ist: Also der centurio uuas fóne gentibus chómen-êr (Notker, Psalter 163,22-23) wie der Centurio war von Völkern gekommen- M . SG ‘wie der Centurio von den Völkern gekommen war’ Das sein-Perfekt findet sich also schon im Althochdeutschen (wenngleich es in den älteren Denkmälern noch eher selten erscheint) und ist seither im Deutschen gut belegt. Ab mittelhochdeutscher Zeit gibt es keine Beispiele für flektierte Partizipien, schon im Althochdeutschen stellen diese die absolute Ausnahme dar. Spätestens ab mittelhochdeutscher Zeit ist die Struktur mit dem neuhochdeutschen sein-Perfekt vollkommen identisch. 8.2.2 Das haben -Perfekt Wie beim sein-Perfekt kann auch beim haben-Perfekt bereits in althochdeutscher Zeit eine entsprechende Fügung beobachtet werden. Ihre Distribution weitet sich bereits in dieser Sprachstufe beträchtlich aus. Auch das haben-Perfekt ist aus einer prädikativen Konstruktion entstanden, allerdings bezog sich das prädikative Partizip hier auf das Objekt: Das Verb ahd. habēn bzw. eigan 16 ‘haben, halten, besitzen’ nimmt ein Partizip II zu sich, das sich auf ein von habēn/ eigan abhängiges Objekt bezieht. Zur Illustration wird meist das folgende Tatian-Beispiel angeführt: phígboum habeta sum giflanzot-an in sinemo uuingarten (Tatian 163,10-12) Feigenbaum hatte jemand geplanzt- AKK . SG . M in seinem Weingarten ‘jemand hatte einen Feigenbaum gepflanzt/ als gepflanzten in seinem Weingarten’ lat.: arborem fici habebat quidam plantatam in uinea sua ________ 16 In bestimmten althochdeutschen Zeugnissen kann der Stamm eigan neben Formen von haben auftreten oder diese ganz ersetzen. Im Folgenden werden deshalb jeweils beide Infinitive angeführt. <?page no="126"?> Die Entstehung periphrastischer Verbalformen 126 Das Partizip II giflanzotan kann als Teil eines Objektsprädikativs aufgefasst werden (‘jemand hatte einen Feigenbaum in seinem Weingarten, und der Feigenbaum war auch gepflanzt’). Hier ergibt sich die Bedeutung kompositionell, d.h. das Verb haben und das Partizip II tragen je ihren spezifischen Teil zur Gesamtbedeutung bei. Es ist aber auch die Auffassung als periphrastisches Perfekt möglich: In diesem Fall ergibt sich die Bedeutung nicht mehr kompositionell, haben und das Partizip II ergeben nur zusammen die Bedeutung des Perfekts. Wenn dies der Fall ist, bezieht sich die gesamte Periphrase (und nicht nur haben) auf das Subjekt des Satzes. Der Feigenbaum ist dann also auch von derjenigen Person gepflanzt worden, die ihn in ihrem Weingarten besitzt. Die Struktur dieses althochdeutschen Tatian-Belegs scheint also ambig: Beide Auffassungen sind möglich, und nur der Kontext kann zeigen, welches die richtige ist. Im konkreten Fall wird die Interpretation als Objektsprädikativ vom Kontext als die richtige nahegelegt, und beim lateinischen Text ist nur diese Auffassung möglich. Es handelt sich deshalb nicht um einen Beleg für das haben-Perfekt, sondern nur um einen Beleg für den Kontext, aus welchem heraus das haben-Perfekt entstehen konnte. Die angeführte Tatian-Stelle ist außerdem insofern ungeeignet, als sie die lateinische Struktur (die nur als Objektsprädikativ aufgefasst werden kann) exakt wiedergibt (vgl. Grønvik 1986: 34). Doch gibt es im Althochdeutschen auch Beispiele, bei denen die Interpretation als periphrastisches haben-Perfekt sehr wahrscheinlich ist. Einer der ältesten Belege stammt aus der Exhortatio ad plebem christianam, einem Text vom Beginn des 9. Jahrhunderts, der einer lateinischen Vorlage folgt. Die althochdeutsche periphrastische Form wird hier aber ohne lateinische Vorlage gebildet (bzw. gibt ein lateinisches synthetisches Perfekt wieder): … ir den christanun namun intfangan eigut (Exhortatio B 4-5) … ihr den christlichen Namen empfangen habt ‘… die ihr den christlichen Namen empfangen/ angenommen habt’ lat.: … qui christianum nomen accepistis Anders als bei der oben angeführten Tatian-Stelle fehlt bei diesem Beleg die Flexion des Partizips. Dies könnte ein Hinweis auf die Grammatikalisierung zum Auxiliar sein (vgl. aber unten). Die Konstruktion, aus der das haben-Perfekt entstanden ist, ist zunächst nur mit transitiven Verben möglich, bei denen das direkte Objekt realisiert wird. Das erklärt sich daraus, dass die prädikative Struktur, aus der das haben-Perfekt entsteht, sich ja auf das direkte Objekt bezieht. Im oben angeführten Beispiel ist das direkte Objekt durch christanun namun realisiert. Schon in althochdeutscher Zeit findet eine Ausdehnung des ursprünglichen Kontexts statt: Die Konstruktion tritt weiterhin bei Verben auf, die grundsätzlich transitiv sind. Das direkte Objekt in diesen konkreten Sätzen kann aber durch ein neutrales Pronomen, das einen vorangehenden Satz oder Satzkomplex aufnimmt, oder durch einen Nebensatz realisiert werden (vgl. Grønvik 1986: 36). In solchen Fällen ist es ausgeschlossen, dass das Objektsprädikativ vorliegt. Das haben-Perfekt kann außerdem bei grundsätzlich transitiven Verben ohne realisiertes direk- <?page no="127"?> Die Perfekt-Periphrasen 127 tes Objekt auftreten. Da das haben-Perfekt aus einer Struktur entstanden ist, in der sich ein Partizip II auf ein direktes Objekt bezieht, zeigt die Existenz von Belegen ohne realisiertes direktes Objekt, dass nicht mehr die ursprüngliche prädikative Konstruktion vorliegen kann. Das Verb haben kann also nicht mehr die Bedeutung des Vollverbs (‘besitzen’) aufweisen, da kein Objekt vorhanden ist, das man im Zustand der Verbalhandlung besitzen kann. Damit ist haben auxiliarisiert, also von einem Vollverb zu einem Auxiliar geworden. Das älteste Beispiel für ein haben-Perfekt bei einem transitiven Verb ohne realisiertes direktes Objekt stammt nach Grønvik (1986: 36) aus dem Muspilli, einem als sehr archaisch geltenden dichterischen Text, der auf den Beginn des 9. Jahrhunderts datiert wird. Auch bei Otfrid finden sich nach Grønvik (1986: 37) zwei entsprechende Beispiele, eines wird im Folgenden wiedergegeben: denne der paldet, der gipuazzit hapet (Muspilli 99) dann der erstarkt, der gebüßt hat ‘dann fasst derjenige Mut, der gebüßt hat’ nu gene al éigun sus gidán (Otfrid III 18,36) nun jene alle haben so getan ‘nun haben jene alle so getan’ Anders als beim oben angeführten Beispiel aus der Exhortatio ad plebem christianam, in der die Interpretation als prädikative Struktur vielleicht noch möglich ist (‘… die ihr den christlichen Namen als empfangenen habt’), ist bei diesen Beispielen aufgrund des Fehlens eines Objekts nur noch die Interpretation als periphrastisches Perfekt möglich (*‘… der als Gebüßtes hat’, *‘… besitzen jene so Getanes’). Die Verben büßen und tun sind zwar grundsätzlich transitiv (z.B. seine Sünden büßen, etwas tun), treten aber in diesen Beispielen ohne direktes Objekt auf. In einem nächsten Schritt wird die Konstruktion dann auf intransitive Verben ausgedehnt. Auch hier kann nicht mehr die ursprüngliche Bedeutung von haben vorliegen, da haben als Vollverb ja ein direktes Objekt zu sich nimmt; haben ist deshalb auch hier nicht mehr als Vollverb, sondern als Auxiliar zu analysieren. Die Ausdehnung auf intransitive Verben kann erstmals beim spätalthochdeutschen Notker belegt werden. Nach Grønvik (1986: 37) finden sich bei Notker unter 550 Beispielen für das haben-Perfekt immerhin 36 Belege für Verben, die einen Dativ oder Genitiv, und 16 Belege für Verben, die gar kein Objekt zu sich nehmen. Die folgenden Beispiele zeigen das haben-Perfekt bei einem Dativ-Objekt und bei einem Verb ohne Objekt, in beiden Fällen kann nicht mehr das ursprüngliche Vollverb ‘besitzen’ vorliegen: Nu hábent siê dir úbelo gedanchot (Notker, Psalter 275,12-13) nun haben sie dir übel gedankt ‘nun haben sie dir schlecht gedankt’ <?page no="128"?> Die Entstehung periphrastischer Verbalformen 128 so hábet er gelógen (Notker, De Interpretatione 56,26) so hat er gelogen ‘so hat er gelogen’ Die Ausdehnung auf intransitive Verben scheint zwischen Otfrid und Notker, also zwischen dem 9. und dem 10./ 11. Jahrhundert, stattgefunden zu haben: Während bei Otfrid das haben-Perfekt nur bei transitiven Verben aufritt, kommt es bei Notker auch bei intransitiven Verben vor (vgl. Grønvik 1986: 38). Die folgende Zusammenstellung zeigt noch einmal die verschiedenen Entwicklungsstufen des haben-Perfekts: transitives Verb mit Objekt ich habe einen Baum gepflanzt transitives Verb ohne Objekt ich habe gepflanzt intransitive Verben ich habe gelogen Wie beim sein-Perfekt (vgl. 8.2.1) und beim werden-Passiv (vgl. 8.3) treten auch bei der haben-Konstruktion in althochdeutscher Zeit flektierte Partizipien auf (für das Objektsprädikativ zeigt dies der oben angeführte Tatian-Beleg). Die Endung des Partizips II bezieht sich dabei auf das direkte Objekt. Im folgenden Beispiel aus Otfrid tritt eine Form des Akk. Sg. m. auf, weil das direkte Objekt (liabon drúhtin minan) ebenfalls diese grammatischen Kategorien aufweist: Sie éigun mir ginóman-an · liabon drúhtin minan (Otfrid V 7,29) sie haben mir genommen- AKK . SG . M lieben Herrn meinen ‘sie haben mir meinen lieben Herrn genommen/ als genommenen (wörtl.: genommenen)’ Bei Otfrid liegt es zwar nahe, Einfluss von Reim und Metrum anzunehmen (vgl. 3.2), doch hätte das Fehlen der Endung hier keine Auswirkungen auf den Reim (ginoman würde mit minan genauso gut oder schlecht reimen wie die Form ginomanan). Die Metrik würde durch die Form ginoman sogar eher noch verbessert (beide Halbverse würden dann mit der Struktur Hebung - Senkung schließen, im tatsächlichen Text schließt dagegen der erste Halbvers mit der Struktur Hebung - Senkung - Senkung). Es wird häufig diskutiert, wie die Existenz von Formen mit Flexion zu bewerten ist. Im Prinzip könnte man erwarten, dass in der ältesten Phase, in der noch ein Objektsprädikativ vorliegt, Flexion auftritt, dass sie aber mit zunehmender Grammatikalisierung zum haben-Perfekt verschwindet. Allerdings tritt die Flexion gerade in den ältesten althochdeutschen Belegen nicht auf (was als Indiz für stattgefundene Grammatikalisierung gedeutet werden könnte), und sie scheint auch später selten zu bleiben. Umgekehrt kann die Existenz einer flektierten Endung allein nicht als Indiz dafür gewertet werden, dass noch das alte Objektsprädikativ vorliegt: Beispielsweise findet sich in den modernen romanischen Sprachen bis heute unter bestimmten Bedingungen ein flektiertes Partizip, wobei aber nicht in Zweifel steht, dass es sich bei der Konstruktion um das Perfekt handelt (vgl. Öhl 2009: 274, Fußnote 10). Im Altniederdeutschen, dem nächsten Verwandten des <?page no="129"?> Die Perfekt-Periphrasen 129 Althochdeutschen, in welchem das haben-Perfekt wesentlich häufiger belegt ist als im Althochdeutschen, treten Beispiele mit und ohne Flexion auf, ohne dass ein kategorialer Unterschied festzustellen wäre (vgl. Grønvik 1986: 61). 8.2.3 Der Präteritumschwund Wie die vorangehenden Abschnitte zeigen, kann man schon für das Spätalthochdeutsche oder spätestens Mittelhochdeutsche, vielleicht sogar schon für das ältere Althochdeutsche davon ausgehen, dass die Verbindungen aus wesan/ sīn bzw. habēn/ eigan + Partizip II zu periphrastischen Tempusformen grammatikalisiert sind. Bedeutend später, in frühneuhochdeutscher Zeit, wird der Status des Perfekts durch eine Entwicklung, die häufig als „Präteritumschwund“ bezeichnet wird, noch wesentlich wichtiger. Im Spätmittelalter und in der beginnenden Neuzeit wird das morphologisch gebildete Präteritum bei vielen Verben immer seltener, das Perfekt dafür häufiger. Die folgende Tabelle zeigt das Verhältnis von finit gebildeten Präteritumformen und dem Auftreten des Partizips II 17 in vier verschiedenen, je fünfzig Jahre umfassenden Epochenschnitten im Korpus des Frühneuhochdeutschen (vgl. 5.3): Periode Präteritum Partizip II 1350-1400 61 % 39 % 1450-1500 42 % 58 % 1550-1600 37 % 63 % 1650-1700 25 % 75 % Häufigkeit des Präteritums und des Partizips II in vier Zeitschnitten des Bonner Frühneuhochdeutschkorpus (nach Solms 1984: 311) Das Präteritum nimmt, rein quantitativ betrachtet, in der Zeit von 1350-1700 zugunsten des Perfekts deutlich ab. Dieser Rückgang des Präteritums hat auch einen qualitativen Aspekt: Es scheinen vor allem gewisse Verben zu sein, bei denen das Präteritum schwindet, bei anderen erhält es sich vergleichsweise gut. Dazu kommt ein regionaler Aspekt: In bestimmten Räumen ist der Schwund des Präteritums nachhaltiger als in anderen. Es gibt moderne Dialekte, in denen das Präteritum vollständig verschwunden ist. Dies kann unter anderem anhand einer Auswertung der sogenannten „Wenker-Materialien“ gezeigt werden. 18 Das Präteritum der ________ 17 Wie Solms (1984: 311) ausführt, treten nicht alle der im Korpus belegten Partizipien im Perfekt auf (sondern beispielsweise auch in attributiver Verwendung), insofern bezeichnen die angeführte Zahlen nicht genau das Verhältnis Präteritum : Perfekt. Dass die für die Perfekt- Bildung notwendigen Partizipien II jedoch unübersehbar zunehmen, geht aus den Zahlen deutlich hervor. 18 Bei den Wenker-Materialen handelt es sich um eine Sammlung von dialektalen Übersetzungen vierzig standardsprachlicher Sätze (der sogenannten „Wenkersätze“), die ab den 1870er Jahren in Marburg gesammelt und ausgewertet wurden. Sie bilden die Grundlage für den sogenannten „Sprachatlas des Deutschen Reichs“. Den Namen verdanken die Wenkersätze ihrem Schöpfer Georg Wenker (1852-1911), der die hochsprachliche Version an die Dorf- <?page no="130"?> Die Entstehung periphrastischer Verbalformen 130 schriftsprachlichen Vorlage „Das Wort kam ihm von Herzen! “ (Wenkersatz 34) übersetzten viele Dialektsprecher mit einem Perfekt (in manchen Fällen wurde außerdem das Präsens gewählt, womit auf die Frage nach dem Präteritumschwund für die entsprechenden Ortspunkte leider keine Antwort möglich ist). Die folgende Karte zeigt die areale Verbreitung der dialektalen Wiedergaben: Die schwarzen Punkte stehen für das Perfekt, die grauen für das Präteritum, und durch weiße Punkte werden Antworten symbolisiert, in denen das Präsens gewählt wurde. In der Karte tritt südlich des Mains sehr häufig das Perfekt auf, in gewissen Gebieten hat es sogar fast ausschließliche Geltung (etwa in der deutschsprachigen Schweiz). Da vor allem die oberdeutschen Dialekte durch den Präteritumschwund gekennzeichnet sind, wird häufig vom „oberdeutschen Präteritumschwund“ gesprochen (zum Präteritum in den Dialekten vgl. Rowley 1983). In einer Untersuchung zum südlichen Thüringer Wald hat sich ergeben, dass die „Präteritalgrenze“ bei verschiedenen Verben jeweils immer parallel, aber in einer deutlichen arealen Nord-Süd-Staffelung verläuft: Im untersuchten Gebiet liegt die Präteritalgrenze beispielsweise beim Verb fragen wesentlich weiter nördlich als beim Verb können (vgl. Sperschneider 1959: 90, mit Karte 17). Bei den Dialekten, die den Präteritumschwund nicht vollständig vollzogen haben, ist es charakteristisch, dass sich das Präteritum gerade bei hochfrequenten Verben (z.B. sein, aber auch Modalverben wie wollen etc.) am besten hält. Für die hier angeführte Karte heißt das, dass sich bei anderen Verben als kommen etwas andere Kartenbilder ergeben könnten. In älteren Arbeiten wurde häufig die Ansicht vertreten, dass der Präteritumschwund auf die sogenannte „Apokope“, den Schwund von auslautendem ə , zurückgeht: Bei den sogenannten „schwachen“ Verben, also denjenigen Verben, die ihr Präteritum und das Partizip II mittels -t bilden (machen - machte - gemacht), fielen durch die Apokope (die im Oberdeutschen am konsequentesten durchgeführt wurde) in der 3. Pers. Singular Indikativ das Präsens und das Präteritum zusammen. Wie die folgende Darstellung zeigt, werden die Formen vor der Apokope voneinander unterschieden, fallen aber mit der Apokope zusammen (dies wird durch die graue Hinterlegung symbolisiert): 3. Sg. Ind. Präs. 3. Sg. Ind. Prät. vor Apokope macht machte nach Apokope macht ________ schullehrer des damaligen Deutschen Reichs verschickte, mit der Bitte, sie in die jeweilige Ortsmundart zu übersetzen. Das abgedeckte Gebiet wurde später gezielt erweitert, heute werden in Marburg über 55 000 Wenkerformulare archiviert. Die hier publizierte Karte beruht auf einer Auswertung von ca. 4 % des gesamten Wenker-Materials. Im 19. und 20. Jahrhundert wurden anhand der Wenkersätze kaum syntaktische Fragestellungen bearbeitet, derzeit werden diese Materialien jedoch an der Philipps-Universität Marburg in Bezug auf syntaktische Phänomene ausgewertet. Die Wenker-Materialien (u.a. handgezeichnete Karten und dialektale Übersetzungen der Wenkersätze) sind über den „Digitalen Wenker-Atlas (DiWA)“ online zugänglich (vgl. http: / / www.diwa.info). <?page no="132"?> Die Entstehung periphrastischer Verbalformen 132 Die These, dass der Präteritumschwund durch die Apokope ausgelöst wurde, gilt allerdings schon seit geraumer Zeit als widerlegt. Gegenargument ist der Hinweis, dass homonyme (und damit eigentlich „funktionsuntaugliche“) Präteritalformen in den Quellen nicht häufiger durch Perfektformen ersetzt werden als Präteritalformen, die vom Präsens unterschieden sind (vgl. Dentler 1997: 6). Man geht heute eher davon aus, dass bei der Veränderung des Tempussystems mehrere Ursachen zusammenspielen (vgl. Dentler 1998: 133). In welchem Verhältnis steht der Präteritumschwund zur Ausdehnung des Perfekts? Das sein- und das haben-Perfekt konnte nach Grønvik (1986: 52) bereits in frühmittelhochdeutscher Zeit von nahezu allen Verben gebildet werden (Ausnahmen waren zu dieser Zeit nur noch haben und die Modalverben). In dieser Hinsicht waren die Perfekt-Periphrasen also bereits zu einer Zeit nahezu vollständig grammatikalisiert, als der Präteritumschwund noch in weiter Ferne lag. Allerdings lässt sich zunächst eine langsame, aber kontinuierliche Ausweitung des Perfekts in semantischer Hinsicht feststellen: Ursprünglich trat das Perfekt dann auf, wenn das in der Vergangenheit liegende, durch die Perfektform beschriebene Ereignis eine Relevanz für den Redezeitpunkt hatte. Ab mittelhochdeutscher Zeit lässt sich nun, wenn auch zunächst sehr zögerlich, feststellen, dass das Perfekt in Kontexten auftritt, in denen dies nicht mehr der Fall ist. Beispielsweise findet es nun auch als Erzähltempus Verwendung und dringt damit in eine Domäne vor, die zuvor dem Präteritum vorbehalten war. Dies ist im folgenden Beleg aus einer im ostmitteldeutschen Raum entstandenen Evangelienübersetzung aus dem 14. Jahrhundert der Fall (vgl. Dentler 1997: 140). Ein Perfekt (doppelt unterstrichen) steht hier inmitten von Präteritum-Formen (einfach unterstrichen); im Text findet sich keine Spur der Apokope, sie unterblieb im Ostmitteldeutschen generell: Und jene lîzen zůhant di netze und schiffe und si sint ime gevolgit. Her gînc vorbaz von dannen und her sach zwêne andere brûdere … (Beheim, Evangelienbuch 14 = Mt 4,20-21) ‘und jene ließen sofort die Netze und Schiffe und sie folgten ihm (wörtl.: sind ihm gefolgt). Er ging voraus von dort und er sah zwei andere Brüder …’ Die Perfekt-Belege nehmen in Kontexten, die ursprünglich dem Präteritum vorbehalten waren, langsam, aber kontinuierlich zu. Wie hoch der relative Anteil von Perfekt-Belegen in Präteritum-Kontexten ist, illustriert die folgende Tabelle: Periode Perfekt in Präteritum-Kontext (%) Anzahl Belege 11. Jh. 1,2 % 165 12. Jh. 4,5 % 459 13. Jh. 5,0 % 529 14. Jh. 7,3 % 466 15. Jh. 18,2 % 368 16. Jh. 20,9 % 326 Ausdehnung des Perfekts auf Präteritum-Kontexte (nach Dentler 1997: 152, Tabelle 8: 14, Dentler 1998: 138, Tabelle 8: 14) <?page no="133"?> Das werden-Passiv 133 Wie diese Tabelle zeigt, ist das Perfekt in präteritalen Kontexten im 11. Jahrhundert noch kaum verbreitet, im 16. Jahrhundert machen diese Fälle aber immerhin ein Fünftel aller Perfekt-Belege aus. Der größte Anstieg ist dabei zwischen dem 14. und 15. Jahrhundert zu beobachten (von 7,3 % auf 18,2 %). Dadurch, dass sich das Perfekt auch auf Kontexte ausdehnt, die ihm ursprünglich nicht zustehen, wird das Präteritum entbehrlich. In diesem Sinn kann die semantische Ausdehnung des Perfekts als Voraussetzung für den Präteritumschwund gesehen werden. Dass sich ein periphrastisches Vergangenheitstempus auf Kosten eines synthetischen ausdehnt, ist eine Entwicklung, die in vielen Sprachen zu beobachten ist (vgl. Bybee/ Dahl 1989). Im Deutschen kann außerdem auf die generelle Tendenz zur Analyse verwiesen werden: Nicht nur im Verbalsystem des Deutschen werden synthetische Formen zunehmend von analytischen ersetzt. Auch im Nominalsystem lassen sich teilweise analoge Tendenzen beobachten, etwa bei der Entwicklung des Genitivs (vgl. 6.4.1, 6.4.2). Diese allgemeinen Tendenzen bieten allerdings keine Antwort auf die Frage, durch welche Entwicklungen die Perfekt-Ausdehnung und der Präteritumschwund letztlich begründet sind. Ein interessanter Erklärungsansatz sieht eine Motivation der Perfektausdehnung darin, dass durch periphrastische Verbalformen vermehrt eine verbale Klammer gebildet wird (vgl. dazu Kapitel 9) und sich solche Klammerstrukturen in der Entwicklung des Deutschen als zunehmend zentral herausstellen (vgl. 16.3). 8.3 Das werden -Passiv Wie in 8.1 gezeigt wurde, besitzt das Neuhochdeutsche kein synthetisches Passiv. Das gilt auch bereits für das Althochdeutsche. Dagegen treten im Gotischen, der ältesten belegten germanischen Sprache, noch synthetische Passivformen auf: Beispielsweise steht der Form nimiþ (3. Sg. Ind. Präs. Akt. von niman ‘nehmen’: er/ sie/ es nimmt) die Form nimada (3. Sg. Ind. Präs. Pass. von niman ‘nehmen’: er/ sie/ es wird genommen) gegenüber. In den übrigen germanischen Sprachen ist das synthetische Passiv allerdings verschwunden. Schon im Gotischen scheint sein Status nicht mehr gefestigt, es ist nur im Präsens, aber nicht im Präteritum belegt. In der Geschichte des Deutschen haben sich anstelle eines synthetischen Passivs periphrastische Formen entwickelt. Für das Neuhochdeutsche wird häufig zwischen dem werden- oder Zustandspassiv (er wird erwischt) und dem sein- oder Vorgangspassiv (er ist erwischt) unterschieden. Allerdings ist umstritten, ob die sein-Fügung im Neuhochdeutschen tatsächlich als Passiv anzusehen ist (beispielsweise kommt Maienborn 2007 zum Schluss, dass das „Zustandspassiv“ sich nicht vom prädikativen Adjektiv unterscheidet). Beide Fügungen sind bereits ab althochdeutscher Zeit belegt. Die folgenden Beispiele stammen aus dem als besonders altertümlich geltenden Muspilli (Anfang 9. Jh.): daz frono chruci, dar der heligo Christ ana arhangan uuard (Muspilli 100-101) das hehre Kreuz, da der heilige Christ an gekreuzigt wurde ‘das hehre Kreuz, an welchem der heilige Christ gekreuzigt wurde’ <?page no="134"?> Die Entstehung periphrastischer Verbalformen 134 diu marha ist farprunnan (Muspilli 61) die Mark ist verbrannt ‘das Land ist verbrannt’ Auch im althochdeutschen Tatian finden sich zahlreiche Belege. Diese geben meist synthetische Passivformen des lateinischen Textes wieder, die althochdeutschen Passivperiphrasen haben also im lateinischen Text kein Vorbild. In den folgenden Beispielen werden die synthetischen Passivformen uocatur bzw. uocabitur durch die analytischen Formen uuirdit ginemnit bzw. ist ginemnit wiedergegeben: uuanta her nazareus uuirdit ginemnit (Tatian 42,7) weil er Nazareus wird genannt ‘weil er Nazarener genannt wird’ lat.: quoniam nazareus uocabitur thie thar ist ginemnit christ (Tatian 33,21) der da ist genannt Christus ‘der Christus genannt wird’ lat.: qui uocatur christus Während das sein-Passiv in der Geschichte des Deutschen insgesamt eher zurückzugehen scheint, dehnt sich das werden-Passiv offenbar aus. In neuhochdeutschen Texten der 1950er und 1960er Jahre (ausgewertet wurden Belletristik, Trivialliteratur, (populär-)wissenschaftliche Literatur, Zeitungstexte und Gebrauchsliteratur; vgl. Brinker 1971a: 19-20) macht das werden-Passiv fast drei Viertel aller Belege aus. Dagegen liegt dieser Wert in älteren Texten noch wesentlich tiefer. Dies zeigt die folgende Tabelle: sein-Passiv werden-Passiv werden-Passiv (%) Tatian 270 170 39 % Parzival 738 606 45 % Augsb. Konf. (1530) 71 135 66 % Texte 1950er/ 60er Jahre 3 684 10 402 73,8 % Häufigkeit des sein- und werden-Passivs in Tatian (nach Schröder 1955: 56), in Parzival (nach Eroms 1989: 86), in der Augsburgischen Konfession (nach Brinker 1971b: 171) und in Texten der 1950er/ 60er Jahre (nach Brinker 1971a: 107) Das sein- und das werden-Passiv sind aus prädikativen Strukturen entstanden, in denen sich das Partizip II zunächst wie ein prädikatives Adjektiv auf das Subjekt bezog (z.B. er ist/ wird ein Geschlagener). Beim sein-Passiv hat, wenn die Analyse von Maienborn (2007) zur Gegenwartssprache korrekt ist, gar keine Entwicklung stattgefunden, es handelt sich demnach nicht um eine Periphrase, sondern um eine einfache Kopula-Struktur. Beim werden-Passiv hat dagegen eine Grammati- <?page no="135"?> Das werden-Passiv 135 kalisierung, d.h. eine Loslösung von der ursprünglich prädikativen Struktur stattgefunden, wie im Folgenden zu zeigen ist. Die primäre Funktion eines Passivs ist es, bei einem transitiven Verb das direkte Objekt zum Subjekt zu befördern (sie nennen ihn Christus > er wird (von ihnen) Christus genannt). Dennoch finden sich im Neuhochdeutschen Passivsätze, in denen kein Subjekt auftritt (beispielsweise es wurde getanzt: es füllt hier nur die Position vor dem finiten Verb, das Vorfeld, es handelt sich um das expletive es bzw. „Vorfeld-es“, nicht um ein Subjekt; vgl. 12.3). Da in dieser Konstruktion kein Subjekt vorhanden ist, wird häufig vom „unpersönlichen Passiv“ gesprochen. Belege für das werden-Passiv ohne Subjekt finden sich bereits im Althochdeutschen (vgl. Kotin 1998: 80, Vogel 2006: 132-149). Der folgende Beleg stammt aus dem Muspilli: … enti imo after sinen tatin arteilit uuerde (Muspilli 84) … und ihm nach seinen Taten geurteilt werde ‘und er gemäß seinen Taten gerichtet werde’ Die Ausgangskonstruktion, in welcher das Partizip II als prädikatives Element zum Subjekt auftritt, kann nicht mehr vorliegen - dieser Satz ist ja gerade dadurch gekennzeichnet, dass kein Subjekt auftritt. Derartige Belege sind in althochdeutscher Zeit noch selten, aber offensichtlich bereits möglich, ihre Existenz zeigt, dass es sich nicht mehr um die ursprüngliche Kopula-Konstruktion handeln kann und dass somit sehr wahrscheinlich eine Periphrase vorliegt. Ab mittelhochdeutscher Zeit finden sich vermehrt Belege für Verben mit einem Dativ-, Genitiv- oder Präpositionalobjekt im Passiv (vgl. Kotin 1998: 113, Vogel 2006: 164-169). Wie im Neuhochdeutschen werden diese Objekte im Passiv nicht zum Subjekt, sondern behalten ihren Kasus. Auch hier handelt es sich um subjektlose Passive, also nicht mehr um die ursprüngliche prädikative Struktur. Das folgende Beispiel stammt aus dem Parzival: den wart von im gedanket vil (Parzival 352 = 12,22) denen wurde von ihm gedankt viel ‘denen wurde von ihm viel gedankt’ Schließlich findet sich das Passiv ab mittelhochdeutscher Zeit auch bei sogenannten „einwertigen Verben“, d.h. Verben, die im Aktiv nur ein Subjekt zu sich nehmen und im Passiv entsprechend subjektlos sind (vgl. Kotin 1998: 114, Vogel 2006: 172). Im Mittelhochdeutschen sind entsprechende Belege schon recht zahlreich. Das folgende Beispiel stammt ebenfalls aus dem Parzival: <?page no="136"?> Die Entstehung periphrastischer Verbalformen 136 Dâ wart geweinet unt geschrît (Parzival 6881 = 231,23) da wurde geweint und geschrieen Das werden-Passiv weist also ab mittelhochdeutscher Zeit, nach Kotin (1998: 121) ab dem 12. Jahrhundert, nach Vogel (2006: 232) spätestens ab dem 12./ 13. Jahrhundert, die Charakteristika auf, die auch noch für das neuhochdeutsche Passiv zentral sind. Spätestens ab dieser Zeit kann man von einer grammatikalisierten Periphrase ausgehen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie die althochdeutschen Fügungen aus werdan + Partizip II zu beurteilen sind. In der Literatur wird immer wieder darauf hingewiesen, dass das Partizip II im Althochdeutschen noch Kongruenzflexion mit dem Subjekt aufweisen kann. Dies zeigt etwa der folgende Beleg, der einen Vers der Bergpredigt (Mt 5,6) wiedergibt: salig-e sint thiethar hungerent Inti thurstent reht uuanta thie uuerdent gisatot-e (Tatian 60,9-11) selig- M . PL sind die da hungern und dürsten Recht, denn die werden gesättigt- M . PL ‘selig sind die da hungern und nach Recht dürsten, denn sie werden gesättigt werden’ lat.: Beati qui esuriunt & sitiunt iustitiam quoniam ipsi saturabuntur Das Partizip weist hier die Form des Maskulin Plural auf (‘sie werden gesättigte’). Nach Ansicht vieler Autoren ist diese Struktur deshalb von den prädikativen Adjektiven, die im Althochdeutschen ebenfalls noch Flexion aufweisen können (dafür bietet im Beleg gerade die Forme salige ein Beispiel: wörtlich übersetzt lautet der Beginn dieser Stelle: ‘selige sind’), noch nicht differenziert (vgl. Fleischer 2007: 331-334). Dies würde dafür sprechen, hierin noch keine Periphrase zu sehen. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass im althochdeutschen Tatian das Partizip II bei werdan wesentlich seltener Flexion zeigt als bei wesan/ sīn, wogegen Flexion bei den prädikativen Adjektiven bei werdan sogar häufiger ist (vgl. Fleischer 2007: 340). Wenn man dies als Hinweis auf die beginnende Grammatikalisierung der Fügung von werden + Partizip II wertet, beginnt diese also schon ziemlich früh (vgl. Fleischer 2007: 341). Dazu muss allerdings angemerkt werden, dass auch die prädikativen Adjektive im Althochdeutschen längst nicht immer Flexion aufweisen (vgl. 5.1) und dass für die Verteilung der flektierten und unflektierten Form beim Partizip II wie beim prädikativen Adjektiv in erster Linie ein morphologisches Kriterium ausschlaggebend ist (vgl. Fleischer 2007: 318-320). Insofern darf der Zeugniswert der Flexion wohl nicht zu hoch veranschlagt werden. <?page no="137"?> Das werden-Futur 137 8.4 Das werden -Futur Neben seiner Verwendung in der Passivperiphrase wird werden im Neuhochdeutschen auch als Auxiliar für das Futur verwendet, etwa in ich werde sagen. Anders als beim Passiv tritt werden hier mit dem Infinitiv auf. Das werden-Futur ist jünger als das werden-Passiv: Erste Belege stammen aus mittelhochdeutscher Zeit; dabei etabliert es sich aber erst langsam, im Verlauf des Frühneuhochdeutschen. Als alternative mögliche Futurperiphrasen treten in alt- und mittelhochdeutscher Zeit vor allem Modalverben auf, die einen Infinitiv zu sich nehmen, und zwar in erster Linie wollen und sollen, daneben auch müssen. In Sätzen wie ich will/ soll/ muss gehen liegt eine modale Bedeutung vor, doch ist diesen Sätzen gemeinsam, dass sie sich auf ein Ereignis in der Zukunft beziehen (wenn ich gehen will/ soll/ muss, bin ich zum Sprechzeitpunkt noch nicht gegangen). Eine Entwicklung zur Futurperiphrase ist deshalb gut denkbar, und viele germanische Sprachen haben ein Modalverb als Futurauxiliar grammatikalisiert (im Englischen treten sowohl will als auch shall als Futurauxiliare auf, wobei will heute wesentlich weiter verbreitet ist: I will/ shall go). Allerdings ist es bei konkreten Belegstellen manchmal schwierig, beide Bedeutungen zu trennen: „Der jeweilige Anteil der modalen bzw. der temporalen Bedeutungskomponente […] schwankt von Fall zu Fall.“ (Paul et al. 2007: 294 = § S 12). In vielen Stellen ist neben dem Zukunftsbezug auch eine modale Nebenbedeutung enthalten. In den folgenden Belegen könnte beim ersten durchaus auch die modale Bedeutung vorliegen, beim zweiten scheint dagegen die temporale Bedeutung wesentlich zentraler zu sein, da es kaum dem Willen des Angesprochenen entsprechen dürfte, Schaden zu erlangen. swaz der küneginne liebes geschiht, des sol ich ir wol gunnen (Nibelungenlied 1204,2-3) was der Königin Schönes geschieht, dessen soll ich ihr wohl gönnen ‘was auch immer der Königin Schönes geschieht, das bin ich verpflichtet, ihr zu gönnen/ werde ich ihr wohl gönnen’ (vgl. Paul et al. 2007: 294 = § S 13) du wilt von ir grôzen scaden gewinnen (Kaiserchronik 12320; vgl. Paul et al. 2007: 295 = § S 13) du willst von ihr großen Schaden gewinnen ‘du wirst von ihr großen Schaden erlangen’ Gegenüber den Modalverben hat werden ursprünglich eine rein inchoative Bedeutung, d.h. es wird der Beginn eines Zustands oder Ereignisses beschrieben (etwa in ich werde Lehrer). Auch hier liegt in vielen Fällen ein Bezug auf etwas Zukünftiges vor. Dass sich werden zum Auxiliar für das Futur entwickelt hat, ist insofern nicht völlig überraschend. Die ältesten sicheren Belege für werden + Infinitiv in futurischer oder modaler Bedeutung treten in mittelhochdeutscher Zeit auf (vgl. Saltveit 1962: 185-188 für mögliche althochdeutsche Belege), etwa in der folgenden Stelle: <?page no="138"?> Die Entstehung periphrastischer Verbalformen 138 ez ist min friunt der beste, der wirt iuch wol enthalten (Flore; zit. n. Behaghel 1924: 261) es ist mein Freund der beste, der wird euch wohl Aufenthalt gewähren ‘mein Freund ist der beste, er wird euch wohl bewirten’ Auch werden + Infinitiv kann, wie die Modalverben, eine modale Bedeutung haben, die noch im Neuhochdeutschen vorhanden ist (z.B. sie werden schon kommen). Dennoch scheint im Frühneuhochdeutschen die temporale Bedeutung wesentlich weiter verbreitet zu sein. Bogner (1989), der die Fügungen werden + Infinitiv bzw. Modalverb + Infinitiv im Bonner Frühneuhochdeutschkorpus (vgl. 5.3) in vier Zeitstufen untersucht und ihre Verwendung klassifiziert, nennt die folgenden Häufigkeiten von temporalem und modalem werden + Infinitiv: temp. mod. temp. (%) 1350-1400 35 2 95 % 1451-1500 77 1 99 % 1551-1600 259 3 99 % 1651-1700 241 14 91 % Anzahl von werden + Infinitiv im Bonner Frühneuhochdeutschkorpus, unterteilt nach temporaler und modaler Verwendung (nach Bogner 1989: 74-78) Von den Belegen für werden + Infinitiv entfallen in den untersuchten frühneuhochdeutschen Texten jeweils über 90 % auf die temporale Bedeutung. Bemerkenswert ist, dass die Anzahl der Fügungen werden + Infinitiv stetig zunimmt. Da im Bonner Frühneuhochdeutschkorpus pro Text jeweils ein ungefähr gleich großer Ausschnitt von ca. 30 „Normalseiten“ zur Verfügung steht (vgl. 5.3), liegt eine reale Zunahme von werden + Infinitiv vor: Im Zeitraum 1350-1400 stehen den 37 Fügungen aus werden + Infinitiv insgesamt 15 952 finite Verbformen gegenüber (der Anteil von werden + Infinitiv macht damit 0,23 % aus); 1451-1500 beträgt dieses Verhältnis 78 : 17 537 (= 0,44 %); 1551-1600 bereits 262 : 13 821 (= 1,9 %); und 1651-1700 dann 255 : 12 572 (= 2,03 %) (vgl. Bogner 1989: 66). Der relative Anteil der werden-Fügung an den Verbalformen insgesamt steigert sich also in dreihundert Jahren fast um das Zehnfache. Demgegenüber zeigt die Anzahl von Fügungen aus Modalverb + Infinitiv in den verschiedenen Zeitstufen in Bezug auf die absoluten Zahlen zwar gewisse Schwankungen, doch sinkt der prozentuale Anteil der temporalen Fälle insgesamt, wie die folgende Tabelle zeigt: wollen sollen müssen t. m. t. (%) t. m. t. (%) t. m. t. (%) 1350-1400 84 190 31 % 83 753 10 % 17 71 19 % 1451-1500 6 108 5 % 47 486 9 % 6 108 5 % 1551-1600 43 187 19 % 22 223 9 % - 97 0 % 1651-1700 39 223 15 % 12 204 6 % - 143 0 % Anzahl von Modalverb + Infinitiv im Korpus des Frühneuhochdeutschen, unterteilt nach temporaler und modaler Verwendung (nach Bogner 1989: 74-78) <?page no="139"?> Das werden-Futur 139 Bei wollen sinkt der Anteil an temporalen Fällen von anfänglich 31 % auf 15 %, bei sollen von 10 % auf 6 %, bei müssen gar von 19 % auf 0 %. Die temporale Bedeutung hält sich also bei wollen noch am besten, schwindet aber dennoch stetig. Wenn von werden und von den Modalverben nur die Fälle mit temporaler Bedeutung miteinander verglichen werden, zeigt sich eine stetige Zunahme von werden: Während werden in der ersten Periode nur 16 % aller Sätze mit Futurbedeutung stellt, sind es im jüngsten Zeitraum 83 %: werden wollen sollen müssen mod. Total werden (%) 1350-1400 35 84 83 17 184 16 % 1451-1500 77 48 47 6 101 43 % 1551-1600 259 43 22 - 65 80 % 1651-1700 241 39 12 - 51 83 % Anzahl der temporal aufzufassenden Verbindungen bei werden und den Modalverben (nach Bogner 1989: 74-78) Aufgrund dieser Zahlen folgert Bogner (1989: 77), dass sich das werden-Futur im Zeitraum von 1551-1600 gegenüber den Modalverben durchgesetzt hat. Dabei zeigen sich auch gewisse landschaftliche Unterschiede: Die Periphrase werden + Infinitiv ist am häufigsten im Obersächsischen belegt (vgl. Bogner 1989: 79), also in der Sprachlandschaft, die für die Herausbildung der deutschen Standardsprache besonders wichtig ist. Im Neuhochdeutschen ist das werden-Futur etabliert, wenn auch selten. Es scheint vor allem für die Schriftsprache typisch zu sein: In den Dialekten ist zwar die werden-Periphrase in modaler Bedeutung durchaus belegt, die temporale Bedeutung wird dagegen eher selten beschrieben, das futurische werden in den deutschen Dialekten scheint wenig gebräuchlich zu sein (vgl. Saltveit 1962: 92-110, Schirmunski 1962: 575). Zum Ursprung des werden-Futurs wurden verschiedene, in ihren Ansätzen sehr unterschiedliche Theorien entworfen. Unter anderem wurde Analogie oder Kontamination mit anderen verbalen Fügungen oder Entlehnung aus dem Tschechischen vorgeschlagen, doch vermögen diese Erklärungen nicht zu überzeugen (vgl. Westvik 2000, Krämer 2005: 72-89). In mehreren Ansätzen, etwa in der Arbeit von Krämer (2005), wird auf eine verwandte Konstruktion als mögliche Quelle für das werden-Futur verwiesen; diese Konstruktion ist aber im Neuhochdeutschen nicht mehr vorhanden: In verschiedenen alt- und mittelhochdeutschen Texten kann ein Partizip I mit werden (und auch mit sein) auftreten (vgl. Winkler 1913). Die folgenden Belege stammen aus Nibelungenlied und Prosalancelot: ja wird ir dienende vil manic wætlicher man (Nibelungenlied 1210,4) ja wird ihr dienend viel mancher schöner Mann ‘viele ansehnliche Männer werden ihr dienen’ er hett ein schön wip, und der ritter wart sie mynnende (Prosalancelot 37,15) er hatte ein schönes Weib und der Ritter wurde sie liebend ‘er hatte eine schöne Frau, und der Ritter begann sie zu lieben’ <?page no="140"?> Die Entstehung periphrastischer Verbalformen 140 Nach Behaghel (1924: 383) wird mit dieser Konstruktion das Eintreten eines Zustandes oder einer Handlung bezeichnet. Das kann, wie der Beleg aus dem Prosalancelot zeigt, auch bei einer Präteritalform der Fall sein. Da bei einer Verbindung von einem Partizip I mit einer Präsensform von werden aufgrund der Semantik dieses Verbs automatisch Zukunftsbezug vorliegt (wenn jemand dienend wird, ist er es zum Sprechzeitpunkt noch nicht), scheint es durchaus denkbar, dass diese Konstruktion für die Entstehung des werden-Futurs eine Rolle spielt. Allerdings stellt sich dann die Frage, wie aus dem ursprünglichen Partizip I der Konstruktion ein Infinitiv geworden ist. In älteren Ansätzen wurde die These aufgestellt, dass die Endung des Partizips I aus lautlichen Gründen verloren ging und damit ein Zusammenfall von Partizip I und Infinitiv stattfand, doch können gegen diese Erklärung mehrere Einwände erhoben werden (vgl. Westvik 2000: 238-239, Krämer 2005: 73-75). Nach Krämer (2005: 104) kann diese Konstruktion allerdings dennoch als Ausgangspunkt für das werden-Futur angesehen werden: Das Partizip I wurde durch den Infinitiv nach Analogie der Konstruktion beginnen + Infinitiv ersetzt (noch im Mittelhochdeutschen wird beginnen ohne Infinitivpartikel ze verwendet, vgl. Paul et al. 2007: 314 = § S 34). Allerdings nennt Krämer (2005) keine Argumente, die für eine Analogie nach dem Modell von beginnen + Infinitiv sprechen, und eine Untersuchung an konkreten Texten fehlt. Die genaue Entstehung des werden-Futurs scheint also nach wie vor ungeklärt. Bemerkenswert ist, dass sich das werden- Futur bis heute kaum in die Dialekte verbreitet hat, es könnte sich somit um eine in erster Linie schriftsprachliche Entwicklung handeln. 8.5 Modus-Periphrase: die würde -Umschreibung Im Neuhochdeutschen tritt das Auxiliar werden neben seiner Funktion in der Passiv- und in der Futurperiphrase auch im Modusbereich auf, nämlich im Rahmen der sogenannten „würde-Umschreibung“. Formal betrachtet handelt es sich bei würde um den Konjunktiv II von werden. Umschreibungen mit würde können in der neuhochdeutschen Standardsprache verschiedene Funktionen haben (vgl. Smirnova 2006, 2007: 20), von denen im Folgenden nur auf eine (die vielleicht interessanteste) eingegangen wird: Die Verbindung würde + Infinitiv steht im Neuhochdeutschen häufig anstelle eines synthetisch gebildeten Konjunktivs II, man kann deshalb davon sprechen, dass es sich um einen „analytischen Konjunktiv II“ handelt. Die folgenden Beispiele illustrieren dies: ich würde es sehr schön finden, wenn er mir schreiben würde sie würden das machen, wenn wir es ihnen sagen würden Im ersten Beispielsatz könnten die würde-Formen semantisch gleichbedeutend durch den entsprechenden Konjunktiv II ersetzt werden (ich fände es sehr schön, wenn er mir schriebe). Beim zweiten Beispielsatz lauten die Konjunktiv-II-Formen dagegen gleich wie die Präteritum-Formen (sie machten das, wenn wir es ihnen sag- <?page no="141"?> Modus-Periphrase: die würde-Umschreibung 141 ten). Nur die würde-Form ist in solchen Kontexten eindeutig. Die Tatsache, dass sich die würde-Umschreibung in der Geschichte des Deutschen zunehmend verbreitete, wird deshalb unter anderem von Behaghel (1924: 244) damit in Zusammenhang gebracht, dass bei vielen Verben die Form des Konjunktivs II mit dem Indikativ Präteritum identisch geworden ist. Dies gilt zunächst für nahezu alle schwachen Verben (den Verben, die ihr Präteritum und ihr Partizip II mittels -t bilden, etwa machen - machte - gemacht): So kann etwa machte sowohl Indikativ Präteritum als auch Konjunktiv II sein (das einzige schwache Verb mit einem distinkten Konjunktiv II ist brauchen: Indikativ Präteritum brauchte vs. Konjunktiv II bräuchte). Aber auch bei bestimmten Formen der starken Verben (den Verben, die ihr Präteritum und Partizip II mittels „Ablaut“, einer Veränderung des Stammvokals, bilden, etwa singen - sang - gesungen), ist dies der Fall, und zwar dann, wenn der Stammvokal nicht umgelautet werden kann; z.B. kann wir/ sie schrieben sowohl als Indikativ Präteritum als auch als Konjunktiv II aufgefasst werden. Dieser (teilweise) Formenzusammenfall von Indikativ Präteritum und Konjunktiv II geht letztlich auf die Nebensilbenschwächung zurück (vgl. 6.5). Nach Smirnova (2007: 33) finden sich die ältesten Belege für würde + Infinitiv in der Bedeutung des Konjunktivs II in frühneuhochdeutscher Zeit, sie sind allerdings noch relativ selten. Die folgenden Beispiele stammen aus dem 1669/ 70 erstmals gedruckten Abentheurlichen Simplicissimus: wann du aber einen hohen Sinn hättest / wie Adeliche Gemüter haben sollen / so würdest du mit Fleiß nach hohen Ehren und Dignitäten trachten (Grimmelshausen, Simplicissimus 154) wann ältere Thier als ich / so wol als ich reden könten / sie würden euch wol anders auffschneiden (Grimmelshausen, Simplicissimus 159) Warum tritt gerade die Verbindung würde + Infinitiv teilweise an die Stelle des synthetisch gebildeten Konjunktivs II? Nach Smirnova (2007) hat sich aus der Bedeutung des Verbs werden, das den Eintritt in einen neuen Zustand bezeichnet (man spricht hier häufig von „Ingressivität“), die Futur-Bedeutung von werden + Infinitiv entwickelt (vgl. 8.4). Nach Smirnova (2007: 27) bezeichnen die werden- Fügungen allerdings „nicht nur den Eintritt in einen neuen Zustand, sondern charakterisieren zudem diesen neuen Zustand als aus dem vorher Dargestellten f o l g e n d .“ So drückt etwa im folgenden Beispiel die werden-Fügung nicht nur den Futurbezug aus, sondern auch eine Folge-Relation: Wer nun Tugend / gute Sitten vnd Kuensten liebt / wird wissen was er thun solle (Chronik Memmingen (1660); zit n. Smirnova 2007: 27) Hier hat werden + Infinitiv die Funktion, die Relation zwischen zwei Gegebenheiten zu bezeichnen (vgl. Smirnova 2007: 28). Die Bezeichnung der Folge-Relation kann nun auch in hypothetischen Kontexten eine Rolle spielen, in denen der Konjunktiv auftritt. Dies ist beispielsweise im folgenden Beleg der Fall: <?page no="142"?> Die Entstehung periphrastischer Verbalformen 142 Wenn ich eine Jungfer wäre / so würde ich fragen / warum neulich in unserem Lande die heßlichste Frau den schönsten Mann bekommen hat (Weise, Jugendlust (1684); zit. n. Smirnova 2007: 31) Diese Verbindung von würde + Infinitiv unterscheidet sich von werden + Infinitiv nur dadurch, dass (aufgrund des hypothetischen Kontexts) der Konjunktiv auftritt, es handelt sich um eine konditionale Verwendung von werden + Infinitiv. Die Fügung würde + Infinitiv tritt in dieser Phase in der Regel nur im Hauptsatz auf, in welchem die Folge der (hypothetischen) Bedingung im Nebensatz formuliert ist. Von hier aus dehnt sich würde + Infinitiv dann auf Kontexte aus, in denen der Konjunktiv II auftritt - beispielsweise auf Nebensätze eines Bedingungsgefüges und generell auf Kontexte, in denen der Konjunktiv II gefordert ist (vgl. Smirnova 2007: 33). Damit ist im Wesentlichen der heutige Geltungsbereich von würde + Infinitiv erreicht. Bei der Entwicklung der würde-Periphrase ist die Frage besonders interessant, in welcher Relation die hier besprochenen semantischen Verschiebungen (die in Textbelegen schwer nachzuvollziehen sind; häufig scheinen mehrere Interpretationen einer würde-Fügung möglich) und der morphologische Faktor stehen: Sind die nicht mehr eindeutigen Konjunktiv-II-Formen Auslöser oder eher „zufälliger Nutznießer“ der semantischen Entwicklung? Um diese Frage zu beantworten, wären Untersuchungen dazu nötig, zu welchem Zeitpunkt welche Verben in welcher Verwendung der würde-Form auftreten: Wenn sich herausstellt, dass sich die würde-Periphrase zunächst vor allem bei schwachen Verben (sowie bei gewissen Formen starker Verben mit nicht umlautfähigem Stammvokal) ausdehnt, liegt die Annahme nahe, dass die Morphologie eine entscheidende Rolle spielt. Zeigt sich dagegen, dass sich die würde-Periphrase bei allen Verben mehr oder weniger gleichzeitig ausbreitet, so spricht dies eher dafür, dass die semantischen Veränderungen die Hauptrolle spielen. 8.6 Die tun -Periphrase Die bisher behandelten Periphrasen haben gemeinsam, dass sie in der Standardsprache mehr oder weniger gut etabliert sind. Daneben existieren im Deutschen jedoch noch weitere Periphrasen, die im Standard zwar kaum akzeptiert, aber in bestimmten Varietäten weit verbreitet sind. Dazu gehört unter anderem das sogenannte „kriegen-/ bekommen-Passiv“ (vgl. dazu Lenz 2008), aber auch die tun- Periphrase. Unter der tun-Periphrase versteht man eine Konstruktion, in der das Verb tun zusammen mit einem Vollverb auftritt. Es steht dabei anstelle einer flektierten Form des Vollverbs. Die folgenden Beispiele stammen aus modernen Dialekten: <?page no="143"?> Die tun-Periphrase 143 Verspreche tut e viel, awer es is keh Verlaß uffn (Thüringisch; zit. n. Fischer 2001: 140) versprechen tut er viel, aber es ist kein Verlass auf ihn Du dich nor nedd schnerre! (Hessisch; zit. n. Fischer 2001: 140) tu dich nur nicht schneiden! as ik em ropen dee, keem he ni (Nordniederdeutsch; zit. n. Fischer 2001: 141) als ich ihn rufen tat, kam er nicht Einer der ältesten Belege für die tun-Periphrase scheint aus Otfrids Evangelienbuch zu stammen. Das Kudrun-Beispiel illustriert, dass diese Konstruktion bereits im Mittelhochdeutschen vorkommt, allerdings auch dort noch selten. Häufiger tritt die tun-Periphrase dann vor allem ab frühneuhochdeutscher Zeit auf, wie das Beispiel aus einer Predigt von Abraham a Sancta Clara (1644-1709) belegt: thie uuízzi dua mir méron · zi thínes selbes éron (Otfrid III 1,28) die Weisheiten tue mir mehren zu deines selbst Ehren ‘vermehre mir den Verstand zu deinen eigenen Ehren’ wer sît ir, juncfrouwe, die uns frâgen tuot? (Kudrun 1484,2) wer seid Ihr, Jungfrau, die uns fragen tut ‘Wer seid Ihr, Jungfrau, die Ihr uns fragt? ’ da khamen 3 teiffl zu im, die theten vnglaublich mit einander zankhen (Abraham a Sancta Clara 16) da kamen drei Teufel zu ihm, die taten unglaublich miteinander zanken ‘da kamen drei Teufel zu ihm, die zankten unglaublich miteinander’ Für die tun-Periphrase ist charakteristisch, dass sie über keine spezifische Funktion verfügt bzw. verschiedene Funktionen ausfüllen kann, dass aber in verschiedenen Varietäten jeweils verschiedene - und nicht unbedingt alle - Funktionen auftreten. Fischer (2001: 150-151) nennt unter anderem die Umschreibung der funktionalen Kategorien Tempus und Modus, den Ausdruck von Aktionsart oder Aspekt, die Nebensatzmarkierung und den Ersatz komplizierter Formen als mögliche Funktionen. In den Predigten von Abraham a Sancta Clara hat die tun- Periphrase etwa die Funktion, den Indikativ Präterium zu umschreiben (so etwa beim oben angeführten Beleg). Da bei Abraham a Cancta Clara die synthetischen Präteritumsformen von wenigen Verben abgesehen selten sind und da er im bairischen Sprachgebiet wirkte, können wir davon ausgehen, dass bei ihm der Präteritumschwund (vgl. 8.2.3) Relevanz hat. Die tun-Periphrase ermöglicht hier also die Umschreibung des Präteritums (vgl. Fischer 1998: 127). Beim Ersatz komplizierter Formen übernimmt die tun-Periphrase eine ähnliche Funktion wie im Standard teilweise die würde-Umschreibung. Beispielsweise tritt im Zürichdeutschen bei bestimmten schwachen Verben eher die tun-Periphrase als <?page no="144"?> Die Entstehung periphrastischer Verbalformen 144 der Konjunktiv II auf, etwa i tèèt zittere ‘ich täte zittern’ statt i zittereti (vgl. Fischer 2001: 147). In einer bestimmten Ausprägung hat die tun-Periphrase eine Funktion in der Gliederung von Information bzw. in der Fokussierung des Verbs: Das ist dann der Fall, wenn der Infinitiv des Vollverbs in der Position vor dem flektierten Verb (in diesem Fall einer finiten Form von tun) im Vorfeld auftritt (vgl. 9.1): Faulenzen tut er halt recht gerne (Abraham/ Fischer 1998: 41) Schreiben tue ich, nicht lesen (Abraham/ Fischer 1998: 41) Durch die tun-Periphrase kann das lexikalische Verb ins Vorfeld gestellt werden, was im deutschen Hauptsatz aufgrund der schon früh gültigen Verbzweitstellungsregel (vgl. 9.2.1) ansonsten nicht möglich ist. Von den vielen verschiedenen Ausprägungen der tun-Periphrase ist es ausschließlich diese, die auch im Standard akzeptiert ist (vgl. Fischer 2001: 139, Duden Grammatik 2009: 427 = § 594): Hier gibt es auch im Standard - im Gegensatz zu den übrigen Funktionen - keine Alternative zur tun-Periphrase. 19 Ansonsten wird die tun-Periphrase für die Standardsprache abgelehnt. In der Tradition der präskriptiven Grammatiken wird sie ab dem 18. Jahrhundert zunehmend stigmatisiert (vgl. 14.3.3), das erklärt möglicherweise ihren marginalen Status im Standard. Angesichts der Tatsache, dass die tun-Periphrase im Frühneuhochdeutschen und älteren Neuhochdeutschen ebenso wie in den modernen Varietäten gut belegt ist, ist dieser marginale Status nämlich erstaunlich. Literaturhinweise Zu den periphrastischen Verbalformen des Deutschen und ihrer Entstehung gibt es eine sehr umfangreiche Literatur, die aber, da es häufig um feine semantische Unterschiede geht, in der Regel nicht ganz leicht zu rezipieren ist. Eine gut lesbare Darstellung zur Entstehung des sein- und haben-Perfekts findet sich in Grønvik (1986). Der Artikel von Öhl (2009) bietet eine generative Analyse dieses Phänomens, er ist für Anfänger weniger geeignet. Besonders zahlreich sind die Arbeiten zum Passiv. Als Einstieg ist der Artikel von Eroms (1990) empfehlenswert. Die zentralen Entwicklungen sind in der Monographie von Vogel (2006) übersichtlich und mit vielen eigenen Daten dargestellt, die theoretischen Teile der Arbeit setzen allerdings einiges an Wissen voraus. Nicht für den Anfänger geeignet sind auch die Monographien von Kotin (1998, 2003), deren zweite sich auf mehrere Typen von werden-Periphrasen bezieht. Die Entstehung des werden-Fu- ________ 19 In bestimmten Varietäten des Deutschen (und auch im Jiddischen) existiert allerdings eine alternative Konstruktion, bei der das Verb verdoppelt wird. Das folgende Beispiel stammt aus Berlin (vgl. dazu Fleischer 2008b): Kriejen kricht er nischt (Meyer et al. 1965: 57) kriegen kriegt er nichts = ‘kriegen tut er nichts’ <?page no="145"?> Literaturhinweise 145 turs wird in einer ganzen Reihe von (teilweise auch älteren, aber durch ihre Datensammlungen nach wie vor wichtigen) Arbeiten thematisiert, die in der vorliegenden Einführung nur teilweise zitiert sind (man vergleiche dazu die Literaturangaben von Westvik 2000 und Krämer 2005). Als Einführung in das Thema bietet sich Westvik (2000) an, dieser Artikel gibt einen guten Überblick über die verschiedenen Entstehungstheorien. Dies tut auch die Arbeit von Krämer (2005), die sich darüber hinaus vor allem mit der Semantik der werden- Periphrasen beschäftigt. Die würde-Umschreibung wird in zahlreichen Arbeiten zu werden mitbehandelt, eine umfassende Darstellung bietet Smirnova (2006). Diese Arbeit setzt einiges Wissen zur Grammatikalisierung voraus. Die tun-Periphrase stellt Fischer (2001) in einem materialreichen, aber gut lesbaren Artikel ausführlich dar. In Abraham/ Fischer (1998) steht dagegen die Analyse im Vordergrund, dieser Artikel setzt einiges Wissen in syntaktischer Theorie voraus. <?page no="147"?> 9 Die Entwicklung der Verbstellung Bei der Verbstellung haben sich seit althochdeutscher Zeit zahlreiche Entwicklungen vollzogen. In diesem Kapitel wird zunächst anhand des Neuhochdeutschen das sogenannte „Verbklammer- oder Satzklammermodell“ illustriert, ein Beschreibungsinstrumentarium für die deutsche Verbstellung (9.1). Das Deutsche ist dadurch gekennzeichnet, dass sich die Verbstellung im Hauptsatz von derjenigen im Nebensatz stark unterscheidet. In Bezug auf deklarative Hauptsätze wird die Entwicklung der Stellung des finiten Verbs behandelt (9.2). Danach geht es um die Stellung des Verbs in Entscheidungsfragen, d.h. Fragen, die mit „ja“ oder „nein“ beantwortet werden können, z.B. kommst du heute? (9.3). Darauf wird speziell das sogenannte „Nachfeld“, die Position am Ende des Satzes, näher betrachtet (9.4). Im Nebensatz zeigen sich bei der Abfolge mehrerer Verben besonders interessante Erscheinungen (9.5). Ebenfalls im Nebensatz setzte sich in der Geschichte des Deutschen immer mehr die absolute Endstellung des flektierten Verbs durch. Als Grund dafür wurde möglicher Einfluss des Lateins erwogen, eine These, die eingehend zu diskutieren ist (9.6). 9.1 Das Satzklammer- oder Feldermodell Einige zentrale Regularitäten der Wortstellung des Deutschen lassen sich durch das sogenannte „Satzklammer- oder Feldermodell“ deskriptiv gut erfassen. Von diesem Modell existieren verschiedene Varianten (die sich beispielsweise in Bezug auf die Unterteilung bestimmter Positionen unterscheiden). Im Folgenden wird eine relativ einfache Version vorgestellt, deren Grenzen dann auch aufgezeigt werden. Das Satzklammermodell geht davon aus, dass für die Wortstellung des Deutschen die Stellung des Verbs bzw. der verbalen Teile zentral ist. Diese bilden sozusagen den Ausgangspunkt, um den herum sich die übrigen Teile des Satzes gruppieren. Man spricht bei den verbalen Teilen von der „Satzklammer“ (oder auch von der „Verbalklammer“) und entsprechend vom „Satzklammermodell“. Die sich um die verbalen Elemente, d.h. die Satzklammer, gruppierenden Teile werden dagegen als „Felder“ bezeichnet. Die alternative Bezeichnung „Feldermodell“ leitet sich hiervon ab. „Satzklammermodell“ und „Feldermodell“ bezeichnen also das Gleiche, doch werden mit dem Begriff „Satzklammermodell“ die verbalen Teile des Satzes betont, mit dem Begriff „Feldermodell“ dagegen alle übrigen. Die folgende Darstellung zeigt die verschiedenen Felder und Klammern, die im Modell angenommen werden: Vorfeld linke Satzklammer Mittelfeld rechte Satzklammer Nachfeld Satzklammer <?page no="148"?> Die Entwicklung der Verbstellung 148 Im neuhochdeutschen Hauptsatz besetzt das finite Verb die linke Satzklammer. Wenn die Verbform aus mehreren Teilen besteht, stehen die übrigen verbalen Teile in der rechten Satzklammer. Das ist einerseits bei periphrastischen Verbformen der Fall, wie sie in der Geschichte des Deutschen immer zahlreicher geworden sind (vgl. Kapitel 8). Andererseits wird die rechte Satzklammer auch bei all denjenigen Verben gefüllt, die ein trennbares Präfix aufweisen (trennbar sind diejenigen Präfixe, die betont sind: z.B. ábreisen - ich reise ab / *ich abreise, áufmachen - ich mache auf / *ich aufmache etc., aber überlégen - ich überlege / *ich lege über). In der rechten Satzklammer können mehrere Verbformen stehen (vgl. die Beispiele unten), in der linken Satzklammer steht dagegen immer nur genau ein Element, das flektierte Verb. Auch bei der Besetzung der Felder gibt es in einem Fall Beschränkungen. Das Vorfeld ist im Neuhochdeutschen in der Regel nur von einem Satzglied besetzt, das Verb steht also immer an zweiter Stelle (Ausnahmen zu dieser Regel werden von Müller 2003 und Wich-Reif 2008 diskutiert). Diese als „Verbzweit“ bezeichnete Eigenschaft ist eines der wichtigsten syntaktischen Merkmale des Deutschen und auch der meisten anderen germanischen Sprachen (in manchen germanischen Sprachen tritt Verbzweit in Nebensätzen auf, nicht nur wie im Deutschen im Hauptsatz). Eine Ausnahme bildet allerdings das Englische: Dort können neben dem Subjekt problemlos weitere Konstituenten vor dem Verb auftreten, das Verb muss also nicht an zweiter Stelle stehen; entsprechende Sätze sind im Englischen gang und gäbe (etwa next month we will be in Guildford). Anders als im Vorfeld können im Mittelfeld des Deutschen beliebig viele Satzglieder stehen. Das Nachfeld ist dagegen in der neuhochdeutschen Standardsprache, zumindest in ihrer schriftlichen Form, selten besetzt. Seine Besetzung bedeutet eine stilistische Markierung, was in bestimmten Textsorten und in der gesprochenen Sprache durchaus vorkommt. Gerade präpositionale Ergänzungen treten nicht selten im Nachfeld auf. Bei Nebensätzen (die selbst über eine interne Felderstruktur verfügen) ist die Stellung im Nachfeld des übergeordneten Satzes sogar die Regel. Die folgende Darstellung demonstriert anhand einiger deklarativer Hauptsätze, wie sie im Rahmen des Feldermodells analysiert werden: Vorfeld l. Satzkl. Mittelfeld r. Satzkl. Nachfeld Die Studenten gehen ins Seminar. - - Die Studenten werden ins Seminar gehen. - Die Studenten werden - gehen. - Ins Seminar werden die Studenten gegangen sein. - Die Studenten haben im Seminar oft diskutiert über dieses Problem. Sie reisen heute spät ab. - Sie reisen - ab. - Morgen werden sie spät abgereist sein. - Sie haben mir nur gesagt, dass sie kommen. Neuhochdeutsche deklarative Hauptsätze im Feldermodell <?page no="149"?> Das Satzklammer- oder Feldermodell 149 Charakteristisch für den neuhochdeutschen Hauptsatz ist, dass eine Konstituente ins Vorfeld gesetzt wird. Häufig handelt es sich dabei um das Subjekt, doch können auch andere Konstituenten im Vorfeld auftreten, das Subjekt steht dann im Mittelfeld (oder fehlt). Allerdings wird in neuhochdeutschen Hauptsätzen das Vorfeld nicht immer gefüllt. Eine systematische Ausnahme stellen bestimmte Fragesätze (die sogenannten „Entscheidungsfragen“; vgl. 9.3), Imperativsätze oder auch Exklamativsätze dar. In diesen Fällen bleibt das Vorfeld leer: Vorfeld l. Satzkl. Mittelfeld r. Satzkl. Nachfeld - Gehen sie ins Seminar? - - - Sind sie ins Seminar gegangen? - - Geht ins Seminar! - - - Kämen sie doch ins Seminar! - - Neuhochdeutsche Frage-, Imperativ- und Exklamativsätze im Feldermodell Es gibt allerdings auch den Fall deklarativer Hauptsätze, in denen das Vorfeld unbesetzt bleibt. Diese Verberstsätze haben eine sehr beschränkte Verbreitung; im Althochdeutschen sind deklarative Hauptsätze mit unbesetztem Vorfeld (d.h. deklarative Verberstsätze) dagegen noch wesentlich häufiger (vgl. 9.2.2). Auch Nebensätze können mit dem Feldermodell beschrieben werden. Wird der Nebensatz mit einer Konjunktion eröffnet, steht diese in der linken Satzklammer; das Vorfeld bleibt dann leer. 20 Da im Nebensatz bei der Klammerbildung teilweise andere Elemente betroffen sind als im Hauptsatz, wird manchmal spezifisch von der „Nebensatzklammer“ gesprochen. Im Nebensatz stehen alle verbalen Teile (finite wie infinite Verben) in der rechten Satzklammer, weil die linke Satzklammer nicht von einem verbalen Teil besetzt wird. Die folgenden Beispiele illustrieren einige durch Konjunktionen eingeleitete Nebensätze, wie sie im Satzklammermodell analysiert werden können: Vorfeld l. Satzkl. Mittelfeld r. Satzkl. Nachfeld - dass sie ins Seminar gehen - - dass sie ins Seminar gehen werden - - weil sie morgen spät abreisen werden - Neuhochdeutsche konjunktionale Nebensätze im Feldermodell In manchen Arbeiten wird im Rahmen des Feldermodells die folgende Terminologie verwendet: Ein „Kernsatz“ ist ein Satz, in welchem das flektierte Verb in der linken Satzklammer steht und in welchem das Vorfeld besetzt ist. Ein „Stirnsatz“ ________ 20 Wird der Nebensatz dagegen durch ein Relativpronomen eröffnet, sprechen viele Argumente für die Annahme, dass dieses - anders als die Konjunktion - im Vorfeld steht; in diesem Fall bleibt die linke Satzklammer unbesetzt. Da es im Folgenden vor allem um die rechte Satzklammer geht, wird auf dieses Problem (das zu unterschiedlichen Herangehensweisen bei der Analyse verschiedener Nebensatztypen führt) nicht näher eingegangen. <?page no="150"?> Die Entwicklung der Verbstellung 150 liegt vor, wenn das Vorfeld unbesetzt ist und das Verb in der linken Satzklammer steht, also den Satz eröffnet. Um einen „Spannsatz“ handelt es sich, wenn das Verb in der rechten Satzklammer steht: Vorfeld l. Satzkl. Mittelfeld r. Satzkl. Nachfeld Kernsatz: Sie lesen das Buch. - - Stirnsatz: - Lesen sie das Buch? - - Spannsatz: - dass sie das Buch lesen - Kern-, Stirn- und Spannsatz im Feldermodell Das Feldermodell bietet die Möglichkeit, gewisse Eigenschaften der deutschen Satzstellung deskriptiv genau zu erfassen. Bei bestimmten Belegen aus älteren Sprachstufen (oder auch aus modernen Dialekten) gibt es allerdings mehrere Analysemöglichkeiten im Rahmen des Feldermodells. Beispielsweise gilt dies bei Sätzen, die von den neuhochdeutschen Regularitäten abweichen und die eine verbale Konstituente aufweisen, bei der nicht festgestellt werden kann, ob sie in der linken oder in der rechten Satzklammer steht. Dies kann am folgenden deklarativen Hauptsatz aus dem althochdeutschen Isidor illustriert werden (bei diesem Denkmal handelt es sich um eine freie, noch aus dem 8. Jahrhundert stammende Übersetzung eines lateinischen Texts, die zahlreiche archaische Merkmale aufweist; in diesem und den folgenden Beispielen wird das flektierte Verb jeweils unterstrichen): ih inan infahu (Isidor 18,17-18) ich ihn empfange ‘ich nehme ihn auf’ lat.: suscipiam eum Das Verb steht in diesem deklarativen Hauptsatz an dritter Stelle - dies ist gleichzeitig auch die letzte Position. Der Satz könnte somit als Beispiel für die „Verbendstellung“ bzw. „Verbletztstellung“ analysiert werden, mit der Position des Verbs in der rechten Satzklammer. Eine alternative Analyse wäre die, das Verb in der linken Satzklammer zu sehen. Dabei müsste aber angenommen werden, dass in althochdeutscher Zeit noch zwei Konstituenten vor der linken Satzklammer auftreten können statt wie im Neuhochdeutschen nur noch eine. Entsprechend könnte man sagen, dass hier ein Beispiel für eine „Verbdrittstellung“ vorliegt. Die folgende Darstellung zeigt die beiden Möglichkeiten (vgl. Ramers 2005: 87-88): Vorfeld l. Satzkl. Mittelfeld r. Satzkl. Nachfeld ih - inan infahu - ih inan infahu - - - Konkurrierende Analysen eines althochdeutschen Satzes <?page no="151"?> Die Stellung des finiten Verbs in deklarativen Hauptsätzen 151 Ein Beispiel wie das angeführte erlaubt in Isolation keine eindeutige Antwort: Um zu beweisen, dass es sich um einen Fall von Verbdrittstellung handelt, das Verb also in der linken Satzklammer steht (wobei das „Vorfeld“ dann anders geartet ist als im Neuhochdeutschen), müssten nach dem Verb noch weitere Konstituenten folgen. Um zu beweisen, dass es sich um eine Verbletztstellung handelt (und das Verb somit in der rechten Satzklammer steht), müsste beispielsweise gezeigt werden, dass mehrere verbale Elemente zusammen in der rechten Satzklammer auftreten können. In beiden Fällen gilt es zu berücksichtigen, dass das Nachfeld im Althochdeutschen noch wesentlich häufiger besetzt wird als im Neuhochdeutschen (vgl. 9.4). Wir dürfen uns also nicht auf die oberflächlich feststellbare Abfolge verlassen. Ebenfalls problematisch wird das hier vorgestellte vereinfachte Feldermodell bei Sätzen, in denen zwischen den verbalen Teilen andere Elemente stehen, wie dies etwa im folgenden Nebensatz der Fall ist: wann wir einem Regiment musten Winter-Quartier geben (Grimmelshausen, Courasche 129-130) ‘als wir einem Regiment Winterquartier geben mussten’ In der linken Satzklammer steht die Konjunktion wann, das flektierte Verb musten und das unflektierte Verb geben, die in der neuhochdeutschen Standardsprache in der rechten Satzklammer hintereinander stehen müssten, sind dagegen nicht adjazent, sondern durch das direkte Objekt Winter-Quartier voneinander getrennt. In bestimmten Analysen geht man davon aus, dass hier das flektierte Verb nach links bewegt wurde. In der generativen Grammatik werden solche diskontinuierlichen Verbalkomplexe als Verb projection raising bezeichnet, dafür wurden eine Reihe unterschiedlicher Analysen vorgeschlagen (im Folgenden wird diese Struktur nicht näher behandelt). 9.2 Die Stellung des finiten Verbs in deklarativen Hauptsätzen In Hauptsätzen findet sich im Neuhochdeutschen eine unterschiedliche Wortstellung in Abhängigkeit vom Satzmodus: Während in deklarativen Hauptsätzen das Verb an zweiter Stelle steht, tritt es in Entscheidungsfragen (vgl. 9.3) an erster Stelle auf. Im Folgenden werden zunächst die verschiedenen Typen der Verbstellung im deklarativen Hauptsatz behandelt. 9.2.1 Verbzweitstellung Bereits im Althochdeutschen finden sich zahlreiche deklarative Hauptsätze, in denen das flektierte Verb wie im Neuhochdeutschen an zweiter Stelle steht, d.h. vor dem flektierten Verb steht genau eine Konstituente. Das zeigt etwa der folgende Beleg aus dem zweiten Merseburger Zauberspruch, einem Text, der als sehr archaisch und vom Latein unabhängig gilt: <?page no="152"?> Die Entwicklung der Verbstellung 152 P h ol ende uuodan uuorun ziholza (2. Merseburger Zauberspruch 5) Fol und Wotan fuhren zu=Holz ‘Fol und Wotan ritten in den Wald’ Im althochdeutschen Tatian (vgl. 2.2) finden sich Belege, in denen die Verbzweitstellung durch Umstellung der Konstituenten oder durch Einsetzungen gegen den lateinischen Text „hergestellt“ wird. Nach Hinterhölzl/ Petrova (2011: 178) gibt es im althochdeutschen Tatian insgesamt 382 Fälle, in denen die Verbzweitstellung gegen den lateinischen Text eingeführt wird. Die folgenden Belege sind entsprechende Beispiele: maria saz In huse (Tatian 230,29) Maria saß in Hause ‘Maria saß zu Hause’ lat.: maria autem domi sedebat her gitruuuet in got (Tatian 315,28) er vertraut in Gott ‘er vertraut in Gott’ lat.: confid& in deum Schon in althochdeutscher Zeit ist also die Verbzweitstellung in deklarativen Hauptsätzen ein weit verbreitetes Muster. Es bleibt bis ins Neuhochdeutsche stabil. Darüber hinaus treten jedoch im Althochdeutschen (und teilweise auch später) noch weitere Verbstellungsmuster auf, wie die folgenden Abschnitte zeigen. 9.2.2 Verberststellung Im Althochdeutschen sind zahlreiche Beispiele von deklarativen Hauptsätzen belegt, in denen das flektierte Verb an erster Stelle steht. Man spricht hier von der „Verberststellung“. Das folgende Beispiel aus dem Muspilli, einem als archaisch geltenden dichterischen Text ohne lateinische Vorlage, veranschaulicht dies: uuanit sih kinada diu uuenaga sela (Muspilli 28) wähnt sich Gnade die unglückliche Seele ‘es hofft die unglückliche Seele (immer noch) auf Gnade’ Im althochdeutschen Tatian tritt Verberststellung relativ häufig entgegen der Vorgaben des lateinischen Texts auf: uuas thar ouh sum uuitua | In thero burgi (Tatian 201,2-3) war da auch gewisse Witwe in dieser Stadt ‘es lebte eine Witwe in dieser Stadt’ lat.: V idua autem quædam erat | In ciuitate illa <?page no="153"?> Die Stellung des finiten Verbs in deklarativen Hauptsätzen 153 Verberststellung findet sich relativ häufig in Sätzen, die einen neuen Redegegenstand in die Erzählung einführen, wie dies beispielsweise bei Witwe im oben angeführten Tatian-Beispiel der Fall ist (dies tritt naturgemäß bei neuen Abschnitten besonders häufig auf), aber auch dann, wenn neue Information zu einem bereits etablierten Diskursreferenten gegeben wird oder eine neue Situation im Diskurs eintritt (vgl. Hinterhölzl/ Petrova 2010: 316-317, Hinterhölzl/ Petrova 2011). Die Verberststellung in Deklarativsätzen hatte also im Althochdeutschen unter anderem eine spezifische Funktion im Rahmen der Strukturierung von Information: Sätze, in denen neue Information eingeführt wird, konnten durch Verberststellung gekennzeichnet werden. Wie die neuhochdeutsche Übersetzung des angeführten Tatian-Beispiels zeigt, tritt im Neuhochdeutschen anstelle einer Verberststellung häufig ein durch ein Vorfeld-es (vgl. 12.3.1) eingeleiteter Satz auf. Auch im Neuhochdeutschen kommen Deklarativsätze mit Verberst-Stellung vor (vgl. dazu Önnerfors 1997, Reis 2000). Unter anderem Witzanfänge weisen häufig Verberststellung auf (etwa Kommt ein Skelett in die Bar und sagt …). Die Überlieferung von Deklarativsätzen mit Verberststellung ist in der deutschen Sprachgeschichte allerdings nicht kontinuierlich: Während sie im älteren Althochdeutschen gut belegt sind, fehlen sie im Spätalthochdeutschen und Mittelhochdeutschen fast komplett, um dann ab der Mitte des 15. Jahrhunderts wieder zu erscheinen (vgl. Maurer 1926: 184). Deshalb stellt sich die Frage, ob eine historische Kontinuität zwischen den althochdeutschen und den (früh-)neuhochdeutschen deklarativen Verberstsätzen besteht. Es ist einerseits vorstellbar, dass Verberstsätze im Mittelhochdeutschen zwar in den schriftlich überlieferten Zeugnissen kaum belegt sind, aber in der gesprochenen Sprache dennoch weiterlebten. Andererseits ist denkbar, dass bei den frühneuhochdeutschen und neuhochdeutschen Beispielen eine neue Konstruktion ohne direkte Vorläufer in den älteren Sprachstufen vorliegt. Wie Axel (2007: 170-171) ausführt, ist die Frage nach der historischen Kontinuität aufgrund der linguistischen Eigenschaften der Verberstsätze nicht einfach zu beantworten: Manche der althochdeutschen Verberstsätze könnten Vorläufer der modernen Strukturen sein, bei anderen ist dies hingegen nicht der Fall. Viele der althochdeutschen Verberststrukturen sind, wie oben erwähnt, beispielsweise durch Sätze mit Vorfeld-es abgelöst worden. 9.2.3 Verbspäterstellungen Neben Fällen von Verbzweitstellung und Verberststellung finden sich in älteren althochdeutschen Texten auch Beispiele für Verben in deklarativen Hauptsätzen, die nicht an erster oder zweiter Stelle, sondern später stehen. Wie bereits in 9.1 besprochen wurde, sind bei vielen dieser Beispiele mehrere Interpretationen möglich: In manchen Fällen kann nicht entschieden werden, ob eine Verbendstellung oder eine Verbdrittstellung vorliegt. Im Folgenden wird von „Verbspäterstellungen“ gesprochen, wenn es nicht möglich ist, diese Frage zu entscheiden. Dabei handelt es sich um einen Terminus, der in der älteren Literatur zur Verbstellung häufig verwendet wird, wenn weder Verberstnoch Verbzweitstellung vorliegt. <?page no="154"?> Die Entwicklung der Verbstellung 154 Verbendstellung in deklarativen Hauptsätzen ist ein Muster, das aus anderen altgermanischen Sprachen bekannt ist. Sie scheint besonders archaisch zu sein (vgl. Fourquet 1938, 1974). Manche Forscher gehen davon aus, dass das Germanische, die rekonstruierte Vorstufe des Deutschen und der übrigen germanischen Sprachen, durch Verbendstellung im Hauptsatz gekennzeichnet war. Die im Althochdeutschen auftretenden Fälle, die in der Geschichte des Deutschen immer seltener werden, wären dann als Überrest einer archaischen Wortstellung anzusehen. Die folgenden Beispiele zeigen Verbspäterstellungen im althochdeutschen Isidor. Im lateinischen Text tritt das Verb jeweils an anderer Stelle auf, es kann also keine direkte lateinische Beeinflussung vorliegen. Im ersten Fall steht das Verb wie beim in 9.1 angeführten Isidor-Beispiel an dritter Stelle (die Konjunktion endi ‘und’ verfügt nicht über Satzgliedstatus, Konstituenten vor dem Verb sind also nur ih ‘ich’ und inan ‘ihn’). Das Verb könnte in der linken Satzklammer stehen, wobei dann allerdings für das Vorfeld im Frühalthochdeutschen noch andere Regeln gelten würden als in späteren Epochen (man könnte von einer Verbdrittstellung sprechen). Im zweiten Beispiel steht das Verb hingegen an fünfter Stelle, hier scheint es sehr wahrscheinlich, dass das Verb die rechte Satzklammer besetzt, somit also eine Verbendstellung vorliegt: Endi ih inan chistiftu in minemu dome, endi in minemu riihhi (Isidor 37,22-38,1) und ich ihn einsetze in meinem Haus und in meinem Reich ‘und ich setze ihn in meinem Haus und in meinem Reich ein’ lat.: Et statuam eum in domo mea et in regno meo Fona hreue aer lucifere ih dhih chibar (Isidor 23,17-18) von Schoß vor Luzifer ich dich gebar ‘ich gebar dich vor Luzifer aus dem Schoß’ lat.: Ex utero ante luciferum genui te Im Althochdeutschen ist es aufgrund der problematischen Überlieferungssituation häufig schwierig, sich ein genaues Bild von der Verbstellung zu machen, etwa wenn sich die althochdeutsche und die lateinische Verbstellung entsprechen oder wenn - bei Otfrid - metrische Faktoren eine Rolle spielen könnten (vgl. dazu Axel 2007: 249). Doch scheint die Evidenz dafür, dass es im althochdeutschen deklarativen Hauptsatz nicht nur die Verbzweit- und Verberststellung gab, gesichert, unter anderem aufgrund von Beispielen aus dem althochdeutschen Isidor. Das oben angeführte Beispiel ih inan infahu ‘ich nehme ihn auf’ ist gegen den lateinischen Text konstruiert. Das ist ein Indiz dafür, dass es sich um eine genuin althochdeutsche Konstruktion handelt, deren grammatische Eigenschaften beschrieben und analysiert werden müssen. Wie Axel (2007: 202) ausführt, gibt es im Althochdeutschen mindestens sechs verschiedene Arten von Verbspäterstellungen. Bestimmte Typen sind beispielsweise dadurch gekennzeichnet, dass vor allem kurze, wahrscheinlich unbetonte Konstituenten (besonders Pronomen, aber auch Adverbien) vor dem Verb stehen, wie dies etwa beim ersten der oben angeführten Beispiele der Fall ist. <?page no="155"?> Die Stellung des finiten Verbs in deklarativen Hauptsätzen 155 Nach dem älteren Althochdeutschen werden Belege für Verbspäterstellungen zunehmend selten. Im Spätalthochdeutschen ist die Konstruktion noch belegt, allerdings nicht sehr häufig: In Martianus Capella, einem Text von Notker, finden sich nach Manthey (1903: 52) nur zwei sichere Beispiele. Auch in einem anderen Notker-Text gibt es nach Näf (1979: 143) nur zwei Beispiele: únde er mír unne . dés íh pegínne (Notker, Martianus Capella 35,18-19) und er mir gönne dessen ich beginne ‘und er möge mir gönnen, was ich beginne’ Fóne díu chît iz in bíuuurte . álter ál genímet. (Notker, Martianus Capella 62,2) von dem heißt es in Sprichwort Alter alles nimmt ‘daher heißt es im Sprichwort: Das Alter nimmt alles.’ Nach Behaghel (1932: 15) finden sich in mittelhochdeutscher Zeit ebenfalls noch einige Beispiele für Verbspäterstellung, gerade wenn Pronomen involviert sind. Der folgende Beleg stammt aus einer Predigt Bertholds von Regensburg (13. Jh.): Ei, wol iuch wart, daz iuch iuwer muoter ie getruoc (Berthold I, 391 [Predigt 25]) ei, wohl euch wurde, dass euch eure Mutter je trug ‘ei, wohl wurde euch, dass euch eure Mutter trug’ Beim ersten Notker-Beispiel und beim Beispiel aus Berthold von Regensburg stehen jeweils Pronomen vor dem Verb, womit ein Kontext vorliegt, in dem auch im älteren Althochdeutschen besonders häufig eine Verbspäterstellung auftritt. Beim zweiten spätalthochdeutschen Beleg handelt es sich um ein Sprichwort (wie im Text auch explizit angesprochen wird). Es ist vielleicht kein Zufall, dass sich eine alte Wortstellung gerade in einem Sprichwort erhalten hat (vgl. Näf 1979: 143). Sogar in moderner Zeit findet sich in Sprichwörtern gelegentlich noch Verbspäterstellung im Hauptsatz (z.B. Wer gut schmiert, der gut fährt). Die bisher diskutierten Belege stammen aus Prosatexten, wo die Verbspäterstellung im Lauf der deutschen Sprachgeschichte immer seltener wird. Dagegen finden sich in poetischen Texten bis in die moderne Zeit hinein Beispiele. Die folgenden Belege illustrieren dies für das Mittelhochdeutsche, Frühneuhochdeutsche und Neuhochdeutsche. Besonders in Knittelversen, wie sie unter anderem Goethe in Faust verwendete, tritt Verbletztstellung relativ häufig auf: Der wirt in mit der hant gevienc. / geselleclîche er dannen gienc (Parzival 5025- 5026 = 169,5-6) der Hausherr in mit der Hand fing freundschaftlich er dannen ging ‘der Hausherr fing ihn mit der Hand. Freundschaftlich ging er von dannen.’ also das gantse land verdarb, / all creatur darin verstarb (Hans Sachs; zit. n. Behaghel 1932: 23) so das ganze Land verdarb jede Kreatur darin verstarb ‘so verdarb das ganze Land, jede Kreatur darin starb weg’ <?page no="156"?> Die Entwicklung der Verbstellung 156 Denk’, Kind, um alles in der Welt! / Der Herr dich für ein Fräulein hält (Goethe, Werke 7/ 1, 124 [Faust I, V. 2905-2906]). Man kann bei diesen Beispielen Einfluss des Metrums und vor allem des Reims vermuten. Wahrscheinlich war schon in mittelhochdeutscher Zeit die Verbspäterstellung in deklarativen Hauptsätzen außerhalb poetischer Texte kaum mehr möglich. 9.3 Die Stellung des finiten Verbs in Entscheidungsfragen „Entscheidungsfragen“ sind Fragen, auf die man mit „ja“ oder „nein“ antworten kann (z.B. Kommst du heute? - Ja). Demgegenüber spricht man von „Ergänzungsfragen“, wenn eine Frage mit einer Nominalphrase beantwortet werden kann. Ergänzungsfragen werden mit einem w-Wort eingeleitet (z.B: Wer kommt heute? - Hans). Im Folgenden geht es nur um die Verbstellung in Entscheidungsfragen. Bereits im Althochdeutschen kann in Entscheidungsfragen die aus dem Neuhochdeutschen bekannte Struktur auftreten: Der Satz wird mit dem flektierten Verb eröffnet. Das folgende Beispiel aus dem althochdeutschen Tatian ist gegen den lateinischen Text konstruiert, in welchem das Verb an letzter Stelle steht: bistu eino elilenti (Tatian 330,15) bist=du allein fremd ‘Bist du nur ein Fremder? ’ lat.: tú solus peregrinus és Allerdings kann in Entscheidungsfragen das Verb auch an anderer Stelle stehen, wie etwa der folgende Beleg aus Otfrid zeigt: Inti thu ni hórtos hiar in lánte · fon demo héilante (Otfrid V 9, 23) und du nicht hörtest hier im Land von dem Heiland ‘Und hörtest du nicht hier im Lande vom Heiland? ’ Im Althochdeutschen tritt außerdem auch eine Konstruktion auf, die es im Neuhochdeutschen nicht mehr gibt: Der Satz wird von einer Partikel eno, eno nu, eno ia, inu etc. eingeleitet, die speziell markiert, dass es sich um eine Frage handelt. Die Partikel hat sozusagen die gleiche Funktion wie im modernen Schriftbild das Fragezeichen, mit dem Unterschied, dass sie am Anfang und nicht am Ende des Satzes auftritt (in den Glossierungen wird diese Partikel im Folgenden durch ‘ PART ’ bezeichnet, die Fragepartikeln in diesem und in den folgenden Beispielen werden doppelt unterstrichen): eno moyses gab hiu euua (Tatian 167,18) PART Moses gab euch Gesetz ‘Gab euch nicht Moses das Gesetz? ’ lat.: Nonne moyses dedit uobis legem <?page no="157"?> Die Stellung des finiten Verbs in Entscheidungsfragen 157 In diesem Beispiel steht das flektierte Verb nach dem Subjekt (wobei allerdings der althochdeutsche Text dem lateinischen exakt folgt; auch die Partikel eno kann als Entsprechung der lateinischen Partikel nonne angesehen werden). In einer durch eno etc. eingeleiteten Entscheidungsfrage kann das Verb aber auch unmittelbar hinter der Partikel stehen, wie der folgende, gegen den lateinischen Text konstruierte Beleg zeigt: eno tuot her thanne managerun zeichan | thanne theser tuot (Tatian 169,15) PART tut er denn viele Zeichen als dieser tut ‘Tut er denn nicht etwa mehr Zeichen, als dieser tut? ’ lat.: numquid plura signa faci& | quam quæ hic facit Die behandelten Typen von Entscheidungsfragen werden im Folgenden nach Petrova/ Solf (2009: 11) schematisiert dargestellt (dabei werden folgende Abkürzungen verwendet: P ART = ‘Fragepartikel’, V = ‘flektiertes Verb’, X = ‘eine beliebige Konstituente’, … = ‘beliebige weitere Konstituente(n)’). Petrova/ Solf (2009) fassen alle Fälle, in denen vor dem Verb eine andere Konstituente steht, zusammen, unabhängig davon, ob der Satz durch eine Fragepartikel eröffnet wird oder nicht, vor einer oder mehreren anderen Konstituenten kann also bei diesem Typ noch eine Fragepartikel auftreten (dies entspricht in der Zusammenstellung den durch das erste und das zweite Beispiel illustrierten Strukturen): Typ Beispiel(e) (P ART )-X-…-V-… Inti thu ni hórtos hiar in lánte · fon demo héilante eno moyses gab hiu euua P ART -V-… eno tuot her thanne managerun zeichan V-… bistu eino elilenti Die folgende Tabelle zeigt das Auftreten der verschiedenen Typen in einigen althochdeutschen Denkmälern: (P ART )-X-…-V-… P ART -V-… V-… Total Isidor 2 - 2 4 Monseer Fragmente 3 3 4 10 Tatian 19 43 45 107 Otfrid 9 4 27 40 Dialogtexte - - 17 17 Interlinearversionen 1 1 2 4 Kleinere Denkmäler - - 2 2 Total 34 51 99 184 Typen von Entscheidungsfragen in althochdeutschen Denkmälern (nach Petrova/ Solf 2009: 42, Tabelle 19) Der dem Neuhochdeutschen entsprechende Typ mit Verberststellung (V-…) ist bereits im althochdeutschen Tatian sehr zahlreich - er hat hier vor allem <?page no="158"?> Die Entwicklung der Verbstellung 158 Konkurrenz durch Fragesätze, die durch eine Partikel eingeleitet sind, auf die das Verb unmittelbar folgt (P ART -V-…). Beide Typen sind in Tatian fast gleich häufig. Dagegen macht bei Otfrid die Verberststellung bereits zwei Drittel aller Belege aus. Interessant ist auch der Befund zu den „Dialogtexten“. Zu diesen gehören neben relativ stark formalisierten Texten wie etwa Beichten oder Taufgelöbnissen auch Denkmäler, die der gesprochenen Sprache relativ nahe stehen, etwa die sogenannten „Pariser (Altdeutschen) Gespräche“. Sie stellen eine Art frühmittelalterlichen Sprachführer für einen des Althochdeutschen unkundigen Reisenden dar, die Sätze sind jeweils sowohl althochdeutsch als auch lateinisch überliefert. In den Pariser Gesprächen ist in Entscheidungsfragen ausschließlich die Verberststellung belegt. Dies illustriert etwa das folgende Beispiel: Quesan ger . iuda min . erra (Pariser Gespräche 80, P1r) saht ihr heute meinen Herrn ‘Saht ihr heute meinen Herrn? ’ lat.: uidisti . Hodie seniorem Signifikant ist nach Petrova/ Solf (2009: 37) auch, dass die Verberststellung sogar in Interlinearversionen festgestellt werden kann, was in diesem Überlieferungstyp nicht unbedingt zu erwarten ist (vgl. 2.1). Allerdings können Petrova/ Solf nur zwei entsprechende Beispiele vorweisen, die außerdem etwas problematisch sind (vgl. Petrova/ Solf 2009: 39-40). Im Verlauf der althochdeutschen Zeit verlieren sich die Typen mit Fragepartikeln bzw. mit einer anderen Stellung des Verbs als Verberst vollständig. Bereits ab mittelhochdeutscher Zeit findet sich nur noch der dem Neuhochdeutschen entsprechende Typ der Verberststellung. Das kann anhand der folgenden Gegenüberstellung von Übersetzungen der gleichen Bibelstelle (Joh 9,40) aus dem althochdeutschen Tatian und Luthers Bibelübersetzung aufgezeigt werden: Während bei Tatian noch eine Fragepartikel eno nu auftritt, findet sich bei Luther die dem Neuhochdeutschen entsprechende Verberststellung: eno nu birun uúir blinte (Tatian 224,9) PART PART sind wir blind ‘Sind wir denn auch blind? ’ lat.: N umquid & nos ceci sumus Sind wir denn auch blind? (Luther, Biblia 1545, 303v [Joh 9,40]) An der Entwicklung der Wortstellung in Entscheidungsfragen ist bemerkenswert, dass bereits in althochdeutscher Zeit die Auswahl an verschiedenen Wortstellungsmustern relativ beschränkt ist (das würde auch für Ergänzungsfragen gelten; vgl. Petrova/ Solf 2009). Anders als in den deklarativen Sätzen, in denen noch lange eine große Varianz an verschiedenen Wortstellungsmustern herrscht, unterliegen Fragen somit schon ab althochdeutscher Zeit einer ganz besonderen syntaktischen Stabilität. <?page no="159"?> Das Nachfeld 159 9.4 Das Nachfeld Das Nachfeld ist in der neuhochdeutschen Standardsprache in der Regel unbesetzt, in der gesprochenen Sprache (unter anderem in Dialekten) sind Nachfeldbesetzungen hingegen nicht ganz selten. Auch für ältere Sprachstufen ist die Nachfeldbesetzung charakteristisch. Allerdings besteht bei der Nachfeldbesetzung ein empirisches Problem: In Hauptsätzen können Nachfeldbesetzungen in der Regel nur dann festgestellt werden, wenn sich die Verbalform auf mindestens zwei verschiedene Teile aufspaltet (beispielsweise auf ein finites Hilfsverb und ein infinites Vollverb oder auf ein finites Vollverb und ein abgetrenntes Präfix). Nur in diesem Fall nämlich wird die rechte Satzklammer gefüllt und somit ersichtlich, ob das Nachfeld besetzt ist oder nicht. Dagegen kommt potentiell jeder Nebensatz als Kandidat für eine Nachfeldbesetzung in Frage: Im Nebensatz steht das flektierte Verb immer in der rechten Satzklammer, es ist somit immer möglich festzustellen, ob das Nachfeld besetzt ist oder nicht. Weil zwar bei allen Nebensätzen, aber jeweils nur bei einem Teil aller Hauptsätze, die rechte Satzklammer besetzt ist, ist die absolute Anzahl von überhaupt in Frage kommenden Hauptsätzen bei Textanalysen in der Regel deutlich niedriger als die Anzahl der Nebensätze. Die Entwicklung der Nachfeldbesetzung ist deshalb in Bezug auf den Nebensatz besser untersucht als in Bezug auf den Hauptsatz. 9.4.1 Zur Entwicklung der Nachfeldbesetzung Die Nachfeldbesetzung wird in der Geschichte des Deutschen immer seltener. Im Althochdeutschen finden sich zahlreiche Beispiele für dieses Strukturmuster. Die folgenden Beispiele stammen aus dem althochdeutschen Isidor (in diesem und in den folgenden Belegen wird neben dem Verb auch die Konjunktion oder das Relativpronomen zu Beginn des Nebensatzes einfach unterstrichen und somit die Nebensatzklammer markiert; die im Nachfeld stehenden ausgeklammerten Konstituenten werden jeweils doppelt unterstrichen): dhazs uuerodheoda druhtin sendida mih zi dhir (Isidor 12,6-8) dass Heeres Herr sandte mich zu dir ‘dass der Herr der Heerscharen mich zu dir sandte’ lat.: quia dominus exercitum misit me ad te dhazs ir selbo christ ist chiuuisso got ioh druhtin (Isidor 4,10-11) dass er derselbe Christus ist gewiss Gott und Herr ‘dass er, derselbe Christus, gewiss Gott und Herr ist’ lat.: Quia idem deus et dominus est Im ersten Beleg, einem durch dass (in der Orthographie des althochdeutschen Isidor: dhazs) eingeleiteten Nebensatz, stehen die Konstituenten mih ‘mich’ und zi dhir ‘zu dir’ nach dem flektierten Verb, dieser Beleg ist parallel zum lateinischen Text konstruiert. Im zweiten Beleg stehen dagegen das Adverb chiuuiso ‘gewiss’ und die koordinierten Substantive got ioh druhtin ‘Gott und Herr’ nach dem flek- <?page no="160"?> Die Entwicklung der Verbstellung 160 tierten Verb. Da hier im lateinischen Text das flektierte Verb in Schlussstellung steht, kann lateinischer Einfluss ausgeschlossen werden. Auch im althochdeutschen Tatian finden sich Belege, in denen, abweichend vom lateinischen Text, nach dem flektierten Verb des Nebensatzes Konstituenten auftreten. Im folgenden Beispiel, bei dem es sich um einen Relativsatz handelt, ist dies das direkte Objekt diuual ‘Teufel’: Inti thie thár hab&un diuual (Tatian 59,1) und die da hatten Teufel ‘und diejenigen, die den Teufel hatten’ lat.: & qui demonia habebant Besonders gut sind wir über die Nachfeldbesetzungen in Texten Notkers unterrichtet. Von Notker sind mehrere lange Prosatexte überliefert, bei denen es sich um Übersetzungen und Kommentierungen lateinischer Texte handelt. Die folgende Tabelle zeigt, wie häufig in zwei Notker-Texten das Nachfeld besetzt wird (in der Tabelle: „NF-B.“): Hauptsätze Nebensätze Total NF-B. % Total NF-B. % Boethius, Consolatio 691 296 42,8 % 1476 498 33,7 % Psalter 1828 859 47,0 % 4488 1173 26,1 % Anzahl leerer Nachfelder in Texten Notkers (nach Bolli 1975: 47 [Boethius, Hauptsätze], Näf 1979: 225 [Boethius, Nebensätze] und Borter 1982: 68, 131 [Psalter]) Bei Notker ist also in über 40 % aller Hauptsätze das Nachfeld besetzt, bei den Nebensätzen verhält sich dies in immerhin einem Viertel bis einem Drittel aller Fälle ebenso (die beiden Texte verhalten sich etwas verschieden). Etwas niedriger sind entsprechende Zahlen für das Frühneuhochdeutsche. In zwei (Teil-)Auswertungen von Texten, den Offenbarungen der Adelheid Langmann und Der Nonne von Engelthal Büchlein von der Gnaden Überlast, bei denen allerdings nur Nebensätze betrachtet werden, machen Nebensätze mit Nachfeldbesetzungen jeweils ca. ein Fünftel aus (18,5 % bzw. 19,7 %; vgl. Ebert 1999: 108). Auch in Texten aus Nürnberg, die Zeugnisse mehr oder weniger privater Schriftlichkeit (Privatbriefe, formelle Briefe, Tagebücher) darstellen, ist der Prozentsatz der Sätze mit Nachfeldbesetzung in den Texten aus der Mitte des 14. Jahrhunderts relativ hoch (ca. ein Viertel in Hauptsätzen bzw. ein Fünftel in Nebensätzen); danach scheint dieser Anteil zunächst etwas zu sinken, um gegen Ende des 15. Jahrhunderts und im 16. Jahrhundert dann wieder zu steigen (vgl. Ebert 1980: 366-367). Allerdings finden sich auch Ende des 16. Jahrhunderts in bestimmten Zeugnissen noch relativ viele Nachfeldbesetzungen. Wie Ebert (1980) aufzeigt, korreliert die Anzahl der Nachfeldbesetzungen teilweise mit sozialen Faktoren, wie dies auch bei der Abfolge der verbalen Teile im Nebensatz der Fall ist (vgl. 9.5.3). Deshalb ist ein Vergleich mit eher „offiziellen“ Texten aus der gleichen Stadt interessant. Ebert (1980) untersucht Texte der <?page no="161"?> Das Nachfeld 161 Nürnberger Kanzlei vom späten 13. Jahrhundert bis 1595. Insgesamt zeigt sich - mit gewissen Schwankungen -, dass der Anteil an Sätzen ohne Nachfeldbesetzung in den offiziellen Dokumenten höher ist als in den Zeugnissen privater Schriftlichkeit. Vor allem ist bei den offiziellen Dokumenten die Zunahme der Sätze mit unbesetztem Nachfeld noch wesentlich deutlicher. Ab dem zweiten Viertel des 16. Jahrhunderts haben in allen offiziellen Quellen nur noch weniger als 10 % der Sätze eine Nachfeldbesetzung (vgl. Ebert 1980: 383). Bei Luther lässt sich im Lauf seines Lebens feststellen, dass die Nachfeldbesetzung in Nebensätzen abnimmt (vgl. Erben 1954: 152, Lühr 1985: 46). Eine interessante Ausnahme dazu stellt allerdings seine Bibelübersetzung (in ihren verschiedenen Versionen) dar: Zwar nimmt auch hier die Anzahl leerer Nachfelder zwischen 1522 und 1546 sehr leicht zu, wie Ebert (1983: 149, 151) anhand eines Vergleichs der vier Evangelien aufzeigt. Dennoch bleibt der Anteil an Nachfeldbesetzungen in der Lutherbibel wesentlich höher als in seinen anderen Schriften. Durch diese spezifische syntaktische Eigenheit „hob sich bereits zur Zeit Luthers die Sprache der Bibel von der normalen Sprache ab“ (Lühr 1985: 48). Der folgende Beleg illustriert die „biblische“ Nachfeldbesetzung Luthers: Als aber der Speisemeister kostet den Wein (Luther, Biblia 1545, 297v [Joh 2,9]) Gegen Ende des Frühneuhochdeutschen wird die Nachfeldbesetzung immer seltener. Im 1668 erschienenen ersten Buch des Abentheurlichen Simplicissimus Grimmelshausens finden sich nach Hammarström (1923: 190) keine Beispiele für dem Verb nachgestellte Objekte mehr. Allerdings sind in modernen Dialekten Nachfeldbesetzungen nach wie vor relativ häufig (vgl. z.B. Patocka 1997: 317-368). Der Rückgang der Nachfeldbesetzung in der Geschichte des Deutschen scheint somit für die Standardsprache wesentlicher markanter zu sein als für die gesprochene Sprache. Dadurch, dass die Nachfeldbesetzung zurückgeht, kommt es in Nebensätzen, in denen nur ein Verb auftritt, automatisch zur Endstellung des flektierten Verbs. Dabei handelt es sich um eines der auffälligsten syntaktischen Merkmale des deutschen Nebensatzes. 9.4.2 Konstituenten im Nachfeld Neben dem generellen Vorkommen der Nachfeldbesetzung, das im Lauf der deutschen Sprachgeschichte immer seltener wird, bietet auch die Art und Weise, wie das Nachfeld besetzt wird, einige interessante Entwicklungen. Die folgenden Belege, die Näf (1979: 236-238) zusammengestellt hat, zeigen, dass in Notkers Consolatio Philosophiae das Nachfeld durch verschiedenste Konstituenten besetzt werden kann. In den folgenden Beispielen sind ein Subjekt, ein direktes Objekt, ein indirektes Objekt bzw. eine präpositionale Angabe ausgeklammert (alle jeweils doppelt unterstrichen): úbe dánne héiz chúmet ter uuólchenônto súnt-uuínt (Notker, Consolatio 67,6-7) wenn dann heiß kommt der Wolken_bringende Südwind ‘wenn dann der Wolken bringende Südwind heiß kommt’ <?page no="162"?> Die Entwicklung der Verbstellung 162 án démo man bechénnet tia stárchi (Notker, Consolatio 92,12) an dem man erkennt die Stärke ‘an dem man die Stärke erkennt’ tánne sie búrg-réht scûofen demo líute (Notker, Consolatio 64,13-14) da sie Burgrecht schufen dem Volk ‘als sie dem Volk das Stadtrecht verliehen’ Táz ér dia érda gezîere mít plûomôn (Notker, Consolatio 12,14) dass er die Erde verziere mit Blumen ‘dass er die Erde mit Blumen schmücke’ Rein grammatisch können bei Notker praktisch sämtliche Konstituenten ausgeklammert werden. Allerdings geschieht dies bei manchen häufiger als bei anderen. Die folgende Tabelle, die sich auf zwei verschiedene Notker-Texte bezieht, zeigt, wie häufig bestimmte Satzglieder bei Notker ausgeklammert werden: Boethius, Consolatio Psalter Total Nachf. Nf. (%) Total Nachf. Nf. (%) Subj. 324 26 8 % 1002 45 4 % Akk.-Obj. 224 65 29 % 927 216 23 % Dat.-Obj. 51 17 33 % 204 50 25 % Gen.-Obj. 43 15 35 % 185 61 33 % Präp. 416 175 42 % 1298 616 47 % andere 176 28 18 % 87 29 33 % Total: 1234 326 26 % 3703 1021 28 % Art der Nachfeldbesetzungen in Texten Notkers (nach Näf 1979: 236, Borter 1982: 178) Bei Notker stehen nur 8 % bzw. 4 % aller Subjekte im Nachfeld (Subjekte stehen also in der überwiegenden Zahl aller Fälle im Vor- oder Mittelfeld), dagegen sind beispielsweise Objekte wesentlich häufiger ausgeklammert, und noch häufiger ist dies bei präpositionalen Konstituenten der Fall: 42 % bzw. 47 % aller Präpositionalphrasen stehen bei Notker im Nachfeld. Fast die Hälfte aller durch eine Präposition eingeleiteten Konstituenten, aber weniger als jedes zehnte Subjekt, treten also bei Notker im Nachfeld auf. Die präpositionalen Konstituenten dominieren bei der Nachfeldbesetzung auch in anderer Hinsicht: In der Consolatio Philosophiae entfallen von total 326 Nachfeldbesetzungen 175 auf diesen Phrasentyp, dies entspricht 54 % aller Nachfeldbesetzungen. Im Psalter ist dieser Anteil sogar noch größer: 616 von 1021 Nachfeldbesetzungen (= 60 %) werden durch präpositionale Konstituenten realisiert. Noch in frühneuhochdeutscher Zeit sind die meisten syntaktischen Funktionen ausklammerbar. Die folgenden Beispiele aus den Offenbarungen der Adelheid Langmann zeigen die Nachfeldbesetzung durch ein direktes Objekt und durch eine präpositionale Ergänzung in einem frühneuhochdeutschen Text: <?page no="163"?> Die Abfolge der verbalen Teile im Nebensatz 163 daz er in gibt leiden und süezzikeit (zit. n. Ebert 1999: 109) ‘dass er ihnen Leid und Süße gibt’ als ich an dem ostertag erstunt von dem tode (zit. n. Ebert 1999: 109) ‘als ich am Ostertag vom Tode auferstand’ In den Offenbarungen der Adelheid Langmann und in Der Nonne von Engelthal Büchlein von der Gnaden Überlast entfallen von den Belegen für Nachfeldbesetzungen durch eine Konstituente 78 % bzw. 84 % auf Präpositionalphrasen (vgl. Ebert 1999: 108). Gegenüber Notker erscheinen die Nachfeldbesetzungen also noch stärker auf Präpositionalphrasen eingeschränkt, doch kommen auch hier noch ausgeklammerte Subjekte oder Akkusativobjekte vor. In der neuhochdeutschen Standardsprache sind Nachfeldbesetzungen wenig üblich, sie kommen aber am ehesten noch bei Präpositionalphrasen vor, wogegen sie beispielsweise bei direkten Objekten oder Subjekten fast ausgeschlossen sind. Dass Nachfeldbesetzung vor allem bei Präpositionalphrasen typisch ist, zeichnet sich aber schon bei Notker ab. In der Sprachgeschichte des Deutschen werden Nachfeldbesetzungen also je länger je eher von präpositionalen Konstituenten realisiert. Ein Grund für diese Einschränkung könnte darin liegen, dass es sich bei Präpositionalphrasen häufig um relativ „schwere“ Konstituenten handelt: Da sie durch eine Präposition eingeleitet werden, bestehen sie gegenüber z.B. dem direkten Objekt oder Subjekt immer aus einem Wort mehr. Die Erkenntnis, dass größere Konstituenten oft nachstehen, wurde von Behaghel als das „Gesetz der wachsenden Glieder“ formuliert (vgl. Behaghel 1932: 6). 9.5 Die Abfolge der verbalen Teile im Nebensatz Die rechte Satzklammer in Nebensätzen bietet einige interessante historische Entwicklungen, die in diesem Abschnitt etwas genauer betrachtet werden. Im Nebensatz stehen alle verbalen Teile in der rechten Satzklammer. Bei allen periphrastischen Verbformen, also bei denjenigen Verbformen, die aus mehr als einem Wort bestehen (vgl. Kapitel 8), stellt sich somit die Frage, in welcher Abfolge sie auftreten. Dies gilt nicht nur für zusammengesetzte Tempusformen wie das Futur oder das Perfekt, sondern auch für Modalverben, die einen Infinitiv regieren. Bei zwei Verbformen ist die Abfolge im Neuhochdeutschen klar geregelt: Die infinite Form (Partizip II, Infinitiv) steht vor der finiten, wie die folgende Übersicht zeigt: Vorfeld l. Satzkl. Mittelfeld r. Satzkl. Nachf. - dass sie abreisen werden/ *werden abreisen - - dass sie abgereist sind/ *sind abgereist - - dass sie abreisen wollen/ *wollen abreisen - - dass sie gesagt haben/ *haben gesagt - Abfolge von finiten und infiniten Formen im Nebensatz bei zwei verbalen Teilen <?page no="164"?> Die Entwicklung der Verbstellung 164 Anders sieht es allerdings aus, wenn drei Formen involviert sind: Bei den Auxiliaren sein oder werden steht das flektierte Verb meist am Ende der rechten Satzklammer. Allerdings kann beim werden-Futur mit einem Modalverb, bei zwei Modalverben oder bei bestimmte Konstruktionen mit lassen das flektierte Verb auch zu Beginn der rechten Satzklammer stehen, hier sind in der neuhochdeutschen Standardsprache zwei verschiedene Abfolgen möglich (vgl. Duden Grammatik 2009: 475 = § 684). Bei haben + Modalverb muss das flektierte Verb dagegen an den Anfang der rechten Satzklammer treten: Vorf. l. Satzkl. Mittelf. r. Satzkl. Nachf. - dass sie abgereist sein werden/ *werden abgereist sein - - dass sie gesehen worden sind/ *sind gesehen worden - - dass sie kommen können werden/ werden kommen können - - dass sie ihnen helfen können müssten/ müssten helfen können - - dass sie mich kommen lassen haben/ haben kommen lassen - - dass sie *gehen müssen haben/ haben gehen müssen - Abfolge von finiten und infiniten Formen im Nebensatz bei drei verbalen Teilen Bei der Abfolge mehrerer verbaler Teile in der rechten Satzklammer spricht man häufig von „Verb-Clustern“, und zwar je nach Anzahl der involvierten Teile von „Zwei-Verb-Clustern“, „Drei-Verb-Clustern“ etc. Charakteristisch ist, dass in älteren Sprachstufen und modernen Varietäten des Deutschen gegenüber der modernen Standardsprache wesentlich mehr Variation auftritt. Grundsätzlich ist die Variation bei der Abfolge von zwei verbalen Formen am kleinsten: Bei der Serialisierung von zwei verschiedenen Formen bestehen rein kombinatorisch nur zwei Möglichkeiten, die im Folgenden für ein sein-Perfekt illustriert werden. In der Forschungsliteratur werden die verschiedenen Verbformen häufig zur besseren Orientierung mit einem tiefgestellten Zahlenindex versehen (wobei die finite Form die Nummer 1 bekommt). Nicht selten werden auch einfach die Zahlenfolgen verwendet, um auf einen bestimmten Abfolgetypus zu verweisen. Der Typus 2-1 bedeutet also „infinite Verbform vor finiter Verbform“, 1-2 dagegen „finite Verbform vor infiniter Verbform“. Typus Beispiel 2-1 dass sie gekommen 2 sind 1 1-2 dass sie sind 1 gekommen 2 Kombinatorisch mögliche Abfolgen in einem Zwei-Verb-Cluster Bei drei verschiedenen Formen können rein kombinatorisch sechs verschiedene Serialisierungen auftreten, was im Folgenden anhand eines Futurs II illustriert wird. Auch hier werden tiefgestellte Zahlen als Indizes bzw. Zahlenkombinationen zur Bezeichnung der Typen verwendet: <?page no="165"?> Die Abfolge der verbalen Teile im Nebensatz 165 Typus Beispiel 3-2-1 dass sie gekommen 3 sein 2 werden 1 2-3-1 dass sie sein 2 gekommen 3 werden 1 3-1-2 dass sie gekommen 3 werden 1 sein 2 1-3-2 dass sie werden 1 gekommen 3 sein 2 1-2-3 dass sie werden 1 sein 2 gekommen 3 2-1-3 dass sie sein 2 werden 1 gekommen 3 Kombinatorisch mögliche Abfolgen in einem Drei-Verb-Cluster Cluster, in denen jeweils das regierende Verb dem bzw. den regierten vorangeht (also z.B. 1-2, 1-2-3), werden als „aufsteigende Abfolgen“ bezeichnet. Wenn dagegen jeweils das regierte Verb dem bzw. den regierenden vorangeht (z.B. 2-1, 3- 2-1), liegt eine „absteigende Abfolge“ vor. Verb-Cluster können im Deutschen auch aus mehr als drei Formen bestehen: Vier-Verb-Cluster sind durchaus möglich, wie das folgende Beispiel aus dem 17. Jahrhundert zeigt: daß er einer kahlen mageren Hennen halber einen so wackern Menschen hätte 1 aufhencken 4 lassen 3 wollen 2 (Grimmelshausen, Courasche 149) Bei Vier-Verb-Clustern gibt es kombinatorisch 24 verschiedene Abfolge-Möglichkeiten. Auch Fünf-Verb-Cluster (etwa dass sie hätten gesehen worden sein sollen) oder Sechs-Verb-Cluster (etwa weil der Sack auf die Schultern hat müssen genommen worden sein können; Ágel 2001: 329) sind bildbar. Die Anzahl der kombinatorisch möglichen Abfolgen wächst bei fünf oder gar sechs verbalen Teilen noch mehr an (auf 120 bzw. 720). Je mehr verschiedene Teile einen verbalen Cluster bilden, umso weniger häufig sind allerdings entsprechende Beispiele in Texten. Im Bonner Frühneuhochdeutschkorpus (vgl. 5.3) finden sich nach Sapp (2007: 301) insgesamt 2 752 Beispiele für Zwei-Verb-Cluster, aber nur 169 Beispiele für Cluster mit drei oder mehr Verben (vgl. auch Sapp 2011: 76 mit leicht unterschiedlichen Zahlen). Die Zwei-Verb-Cluster machen somit 94,2 % aller Mehr-Verb-Cluster aus. Nach Hennig (2009: 116), die eine Korpusanalyse von Texten des 17. und 19. Jahrhunderts durchführt und dabei unter anderem zahlreiche Texte berücksichtigt, die durch eine gewisse Nähe zur gesprochenen Sprache gekennzeichnet sind, machen die Zwei-Verb-Cluster jeweils 90-95 % aller Mehr-Verb-Cluster aus. Im Folgenden werden nur Zwei- und Drei-Verb-Cluster behandelt. Mehr-Verb-Cluster werden im Lauf der deutschen Sprachgeschichte aufgrund der Entstehung verbaler Periphrasen, die ja aus mehr als einem verbalen Element bestehen (vgl. Kapitel 8), immer zahlreicher. In den älteren Sprachstufen (und teilweise auch noch in modernen Dialekten) treten sehr häufig Abfolgen auf, bei denen das flektierte Verb nicht am Ende des Clusters steht. Dies wird im Folgenden etwas detaillierter behandelt, und zwar getrennt nach Zwei- und Drei-Verb-Clustern. <?page no="166"?> Die Entwicklung der Verbstellung 166 9.5.1 Die Abfolge der verbalen Teile in Zwei-Verb-Clustern In Zwei-Verb-Clustern tritt in der neuhochdeutschen Standardsprache ausnahmslos die Abfolge 2-1 auf. In althochdeutscher Zeit sind Zwei-Verb-Cluster noch vergleichsweise selten, da verbale Periphrasen wie das Perfekt erst im Entstehen begriffen sind (vgl. 8.2). Doch tritt beispielsweise beim werden-Passiv, das schon in althochdeutscher Zeit etabliert ist, häufig die Abfolge 1-2 auf: uuanta her nazareus uuirdit 1 ginemnit 2 (Tatian 42,7) weil er Nazarener wird genannt ‘weil er Nazarener genannt wird’ lat.: quoniam nazareus uocabitur In diesem Beleg wird das lateinische synthetische Passiv uocabitur mit einem werden-Passiv wiedergegeben. Dass dabei das Auxiliar vor dem Partizip auftritt, wird durch den lateinischen Text nicht vorgegeben, die Abfolge des verbalen Clusters kann deshalb als authentisch angesehen werden. In mittelhochdeutschen Prosatexten tritt in etwa 50 % aller Fälle das finite Verb vor dem infiniten Verb auf (wobei auch das Nachfeld unbesetzt bleibt; vgl. Paul et al. 2007: 454 = § S 213). Der folgende Beleg zeigt die Abfolge 1-2: wan er weste niht, wie er vber mer wær 1 chomen 2 (Bavngart 213) denn er wusste nicht, wie er über Meer wäre gekommen ‘denn er wusste nicht, wie er über das Meer gekommen war’ Nach mittelhochdeutscher Zeit geht der Anteil der Abfolge 1-2 zurück. Für die Auxiliare sein und haben errechnet Weber (1971: 132) auf der Basis der Materialien von Maurer (1926) einen Anteil der Abfolge 1-2 von 28 % für das 14. Jahrhundert, 20 % für das 15. Jahrhundert, 22 % für das 16. Jahrhundert und noch 8 % für das 17. Jahrhundert. Nach Lühr (1985: 40), die etwas über tausend Nebensätze untersucht, macht die dem modernen Standard entsprechende Abfolge 2-1 bei Luther bereits ca. 90 % aus. Gegenüber den Materialien von Maurer (1926) zeigt somit Luther bereits im 16. Jahrhundert einen höheren Anteil an der dem modernen Standard entsprechenden Abfolge. Nach Ebert (1999: 124) ist um 1600 die heutige Abfolge 2-1 „die häufigste Variante“ (vgl. auch Härd 1981: 169). Die folgenden Belege für die Abfolge 1-2 aus Grimmelshausens Courasche (Erstdruck 1670) sind im Kontext des 17. Jahrhunderts also bereits relativ ungewöhnlich: weil er wuste daß er solte 1 sterben 2 (Grimmelshausen, Courasche 34) der jenigen Damen die mir den Possen hatt 1 zugerichtet 2 (Grimmelshausen, Courasche 96) Allerdings ist der Rückgang der Abfolge 1-2 nicht generell. Für Texte, die durch eine besondere Nähe zur gesprochenen Sprache gekennzeichnet sind, zeigt Hennig (2009: 115) auf, dass im 17. Jahrhundert durchaus noch die Abfolge 1-2 auftritt, auch wenn diese seltener ist als die Abfolge 2-1. Der folgende Beleg aus <?page no="167"?> Die Abfolge der verbalen Teile im Nebensatz 167 der sogenannten „Stausebacher Chronik“ des Caspar Preis, die der gesprochenen Sprache wohl relativ nahe steht, zeigt die Abfolge 1-2: wan der Wint stark hatt 1 gewehet 2 (Preis, Stausebacher Chronik 46) ‘wenn der Wind stark geweht hat’ Im 19. Jahrhundert kommt nach Hennig (2009: 115) die Abfolge 1-2 dagegen auch bei Texten, die durch Nähe zur gesprochenen Sprache gekennzeichnet sind, praktisch nicht mehr vor. In Dialekten und Umgangssprachen ist diese Abfolge aber bis in die moderne Zeit hinein nicht unüblich (vgl. Axel/ Weiß 2010: 28). Das folgende Beispiel illustriert dies für das Zürichdeutsche, eine hochalemannische Mundart: wil de Joggel es gottlett wott 1 ässe 2 (Lötscher 1978: 4) weil der Joggel ein Kotelett will essen ‘weil Jakob ein Kotelett essen will’ Für westmitteldeutsche Mundarten zeigt Dubenion-Smith (2010: 112, mit Tabelle 1) anhand einer Analyse von Tonaufnahmen, dass die Abfolge 2-1 zwar mit 88 % (1 167 Belege) überwiegt, dass aber auch die Abfolge 1-2 mit 12 % (159 Belege) durchaus vorkommt. Die Dialekte zeigen hier also gegenüber der Standardsprache interessante Abweichungen. 9.5.2 Drei-Verb-Cluster Drei-Verb-Cluster lassen auch in der modernen Standardsprache noch verschiedene Abfolgen zu, und zwar tritt je nach Konstruktion die Abfolge 3-2-1 (z.B. dass sie gesehen 3 worden 2 sind 1 ) oder 1-3-2 (dass sie es haben 1 sagen 3 müssen 2 ) auf. Die Datensituation in Bezug auf die historische Entwicklung ist hier widersprüchlich. Nach Härd (1981: 89) geht im 17. Jahrhundert „das finite Hilfsverb den infiniten Konstituenten voran.“ Dagegen schließt Takada (1994: 215) aus einer Korpusanalyse von Texten des 17. Jahrhunderts, dass sich die Nachstellung des Finitums auf Kosten der Voranstellung ausbreitet. Je nach analysiertem Korpus kommt man also zu verschiedenen Schlüssen. Besonders interessant ist, dass sich für das 17. Jahrhundert regionale und andere Unterschiede bei der Serialisierung von Drei-Verb-Clustern feststellen lassen. Beispielsweise wurde in einem unautorisierten, bereits 1669 erschienenen Nachdruck von Grimmelshausens Simplicissimus (Erstdruck 1668/ 69) unter anderem die Stellung von Drei-Verb-Clustern verändert: Erstdruck: so vom Gegentheil gefangen 3 waren 1 worden 2 (Grimmelshausen, Simplicissimus 96) Nachdruck: so vom Gegentheil waren 1 gefangen 3 worden 2 (zit. n. Takada 1994: 191) ‘die von der Gegenpartei gefangen worden waren’ <?page no="168"?> Die Entwicklung der Verbstellung 168 Erstdruck: wenn sie diese saubere Arbeit verrichtet 3 haben 2 würden 1 (Grimmelshausen, Simplicissimus 57) Nachdruck: wenn sie diese saubere Arbeit würden 1 verrichtet 3 haben 2 (zit. n. Takada 1994: 191) Dies zeigt, dass bei Drei-Verb-Clustern im 17. Jahrhundert verschiedene Abfolgen auftreten und dass offenbar eine beträchtliche Varianz herrscht. Nach Takada (1994: 215) kann zwar im 17. Jahrhundert beobachtet werden, dass die Nachstellung des flektierten Verbs zunimmt, womit eine gewisse Parallelität zu den Zwei- Verb-Clustern gegeben ist. In Texten des 17. Jahrhunderts, die durch eine gewisse Nähe zur gesprochenen Sprache gekennzeichnet sind, tritt die im modernen Standard bei vielen Konstruktionen übliche Abfolge 3-2-1 gar nicht auf, stattdessen sind die Abfolgen 1-2-3, 3-1-2 und 1-3-2 alle gleich häufig vertreten (vgl. Hennig 2009: 115). Auch in der neuhochdeutschen Standardsprache sind nach wie vor in bestimmten Konstruktionen andere Abfolgen als 3-2-1 üblich; sogar obligatorisch ist eine andere Abfolge beim sogenannten „Ersatzinfinitiv“, der etwa in dass er hätte 1 kommen 3 sollen 2 / *kommen 3 sollen 2 hätte 1 auftritt (vgl. Kapitel 10, besonders 10.2.4, 10.3.2). Im folgenden Beispiel eröffnet das finite Verb den Verbalkomplex (was auch in der neuhochdeutschen Standardsprache der Fall wäre), danach tritt jedoch das Modalverb vor dem lexikalischen Verb auf. Dies wäre in der neuhochdeutschen Standardsprache ausgeschlossen: das kein Mensch darinen hätte 1 können 2 bleiben 3 (Preis, Stausebacher Chronik 64) ‘dass kein Mensch darin hätte bleiben können’ Auch in modernen Dialekten finden sich zahlreiche Serialisierungen, die dem Standard nicht entsprechen. Die folgenden Beispiele für die Abfolge 3-1-2 stammen aus Österreich. Der erste Beleg repräsentiert einen bairischen Dialekt, der zweite stammt dagegen aus einem standardsprachlichen Text des österreichischen Krimi-Autors Wolf Haas (*1960), der zahlreiche dialektale Elemente in seine Texte integriert: da ma wås leana 3 hettn 1 soin 2 (Patocka 1997: 278) dass wir was lernen hätten sollen ‘dass wir etwas hätten lernen sollen’ Obwohl ich einen Kilometer rundherum gehen 3 hab 1 müssen 2 (Haas, Brenner 84) Die Abfolge 3-1-2 gilt unter anderem als typisch für das Bairische, sie ist aber auch sonst weit verbreitet. Für westmitteldeutsche Mundarten zeigt Dubenion- Smith (2010: 116-117, mit Tabelle 3) anhand einer Analyse von Tonaufnahmen, dass die Abfolgen 3-1-2 (46,8 %, 58 Belege) am häufigsten ist, gefolgt von der Abfolge 3-2-1 (40,3 %, 50 Belege). <?page no="169"?> Die Abfolge der verbalen Teile im Nebensatz 169 9.5.3 Interne und externe Faktoren Wie das bisher Besprochene zeigt, tritt sowohl in Zweials auch in Drei-Verb- Clustern in der Geschichte des Deutschen beträchtliche Variation auf, teilweise dauert diese bis heute an. Im Folgenden wird etwas eingehender diskutiert, welche Faktoren diese Variation bestimmten. Da Nebensätze mit einem Drei-Verb- Cluster insgesamt relativ selten sind, sind für die älteren Sprachstufen des Deutschen diesbezüglich nur die Zwei-Verb-Cluster eingehend erforscht. Im Folgenden wird deshalb auf diesen Typ im Frühneuhochdeutschen eingegangen. Ob bei Zwei-Verb-Clustern die Abfolge 2-1 oder 1-2 auftritt, hängt einerseits von internen, andererseits von externen Faktoren ab. In Bezug auf die internen Faktoren ist festzustellen, dass je nach Konstruktion die Abfolge 2-1 häufiger oder weniger häufig auftritt (vgl. Ebert 1999: 124). Am häufigsten ist die Abfolge 2-1 in der Regel beim werden-Passiv. In Privatbriefen von Jugendlichen aus dem Nürnberg des 16. Jahrhunderts ergeben sich aufgeschlüsselt auf die verschiedenen Konstruktionen die folgenden Zahlen: Anzahl Belege % 2-1 werden-Passiv 239 95 % sein-Passiv 129 88 % haben-Perfekt 2268 78 % Infinitivkonstr. 2882 59 % sein-Perfekt 1004 47 % Abfolge 2-1 in Nürnberger Privatbriefen des 16. Jahrhunderts (nach Ebert 1998: 65) Daneben spielen noch zahlreiche weitere interne Faktoren eine Rolle, beispielsweise das Vorhandensein eines betonbaren Verbalpräfixes oder die Länge des vorangehenden Wortes (vgl. dazu Ebert 1981). Auch weitere Faktoren, unter anderem die Informationsstrukturierung, wirken sich nach Sapp (2011: 79-84) auf die Serialisierung der verbalen Konstituenten aus (vgl. auch Sapp 2007: 302-304). Neben internen haben aber auch externe Faktoren beim Auftreten der verschiedenen Abfolgen einen Einfluss. In Nürnberger Kanzleitexten des 15. und 16. Jahrhunderts ist die Abfolge 2-1 bei sämtlichen Konstruktionen mit Werten, die nicht selten deutlich über 90 % liegen, wesentlich häufiger als in Nürnberger Privatbriefen (vgl. Ebert 1998: 133, Tabelle 5-1). Man kann deshalb schließen, dass sich die Abfolge 2-1 zuerst in eher offiziellen Kontexten durchsetzte und sich von dort aus auch in andere Bereiche ausdehnte. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass in Grammatiken und Unterrichtswerken des 16. Jahrhunderts zwar noch keine expliziten Aussagen zur Abfolge der verbalen Teile zu finden sind, dass aber in diesen Werken mit ca. 95 % die Abfolge 2-1 bereits deutlich vorherrscht (vgl. Ebert 1998: 130) - in ähnlicher Weise, wie dies auch für die Kanzleitexte gilt. Für die Abfolge des finiten und infiniten Verbs im Nebensatz besteht sogar die glückliche Lage, dass man - in Bezug auf Nürnberg - den Einfluss sozialer Faktoren nachweisen kann. Männer mit einer Universitätsbildung, welche städtische Ämter bekleideten (und damit auch häufig mit kanzleisprachlichen Texten <?page no="170"?> Die Entwicklung der Verbstellung 170 umgehen mussten bzw. solche verfassten), weisen die höchsten Anteile an der Abfolge 2-1 auf. Am geringsten ist dieser Anteil dagegen bei weltlichen Frauen - jener Gruppe, die auch am wenigsten Zugang zur Bildung hatte (vgl. Ebert 1999: 127). Man kann sich aufgrund solcher Daten vorstellen, dass sich die Abfolge 2-1 in einem gestaffelten Prozess langsam verbreitete. Dabei spielten sowohl interne als auch externe Faktoren eine Rolle: Die Verbendstellung verbreitet sich einerseits von Konstruktion zu Konstruktion, andererseits von Register zu Register (wobei die höheren Register vorangehen). 9.6 Lateinischer Einfluss bei der Verbendstellung im Nebensatz? Im Neuhochdeutschen endet nahezu jeder Nebensatz mit dem flektierten Verb. Bei dieser „absoluten Verbendstellung“ handelt es sich um eine auffällige Eigenschaft des Deutschen (eine Ausnahme zur Regel bilden nur, wie oben behandelt, bestimmte Drei- und Mehrverb-Cluster). Der moderne Zustand geht auf zwei Entwicklungen zurück: Aufgrund der immer seltener werdenden Nachfeldbesetzungen (vgl. 9.4) und aufgrund der Tatsache, dass sich bei Zwei-Verb-Clustern die Stellung des finiten Verbs nach dem infiniten vollumfänglich, aber auch bei Drei-Verb-Clustern in vielen Konstruktionen durchsetzt (vgl. 9.5.1, 9.5.2), tritt das finite Verb immer häufiger in der absoluten Endstellung auf. Verschiedene Forscher haben vermutet, dass die absolute Verbend-Stellung im deutschen Nebensatz auf lateinischen Einfluss zurückgehen könnte. Als Erster scheint Behaghel (1892) diese These geäußert zu haben (vgl. Chirita 1997): […] das Vorstehende mag […] es außer Zweifel setzen, daß wir es lateinischem Einflusse verdanken, wenn etwa seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Endstellung der Worte in derartigen Fällen streng durchgeführt worden ist. (Behaghel 1892: 267) Diese These findet sich auch in Behaghels Deutscher Syntax, allerdings äußert er sich dort mit der Formulierung „wohl unter Einfluß des Lateinischen“ (Behaghel 1932: 45) etwas vorsichtiger. Speziell in Bezug auf Zwei-Verb-Cluster im Nebensatz spricht Behaghel (1932: 87) allerdings nach wie vor davon, dass es neben anderen Faktoren wahrscheinlich sei, dass die Endstellung „durch das Verfahren des Lateinischen oder das, was man für das Verfahren des Lateinischen hielt“, befördert worden sei. Auch Maurer (1926), ein Schüler Behaghels, spricht sich für diese These aus. Allerdings ist daran mehrfach Kritik geübt worden. Verschiedene Punkte sprechen eher gegen die Annahme von lateinischem Einfluss. Zunächst muss die Frage gestellt werden, ob es überhaupt korrekt ist, dass im „Latein“ überwiegend Verbendstellung auftritt. Für das klassische Latein, wie es etwa durch Caesars Gallischen Krieg repräsentiert wird, scheint dies tatsächlich zu stimmen: Im zweiten Buch des De bello gallico steht das finite Verb in 84 % aller Hauptsätze und in 93 % aller Nebensätze am Ende; allerdings finden sich bei anderen klassischen Autoren deutlich niedrigere Werte (vgl. Hofmann/ Szantyr <?page no="171"?> Lateinischer Einfluss bei der Verbendstellung im Nebensatz? 171 1965: 403). Man muss sich aber fragen, welche Form des Lateins am ehesten einen Einfluss auf die deutsche Nebensatzstellung hätte ausüben können. Hier scheinen Mittellatein (das Latein, das im europäischen Mittelalter die Rolle der dominierenden Schriftsprache innehatte, aber von niemandem als Muttersprache gesprochen wurde) sowie - ab der beginnenden Neuzeit - das durch den Humanismus geprägte Neulatein wesentlich einschlägiger zu sein als das klassische Latein. Interessanterweise lässt sich weder im Mittellatein noch im Neulatein eine besondere Tendenz zur Verbendstellung beobachten. Bereits Maurer (1926: 180) weist darauf hin, dass in mittelalterlichen lateinischen Urkunden nicht die Verbendstellung auftritt und dass auch in den ältesten deutschen Urkunden, bei denen eine Anlehnung an lateinische Muster am ehesten wahrscheinlich wäre, die Verbendstellung nicht vorkommt. Ein weiteres Argument gegen die lateinische Beeinflussung leitet sich aus der Analyse von Übersetzungstexten ab. In frühneuhochdeutschen Bibelübersetzungen sind nach Hartmann (1970: 193) „die deutschen Endstellungsbelege weitestgehend unabhängig vom Latein, häufig gegen das Latein gestaltet.“ Auch eine Beobachtung zum Sprachgebrauch Luthers (1483-1546), von dem sowohl deutsche als auch lateinische Texte (sowie Mischtexte mit deutschen und lateinischen Passagen) überliefert sind, bietet ein Argument gegen die These des lateinischen Einflusses. Stolt (1964) untersucht die sogenannten „Tischreden“ Luthers. Diese sind durch einen sehr häufigen Wechsel zwischen Latein und Deutsch gekennzeichnet, teilweise zwischen den Sätzen, teilweise aber auch im einzelnen Satz. Stolt (1964) vergleicht unter anderem die Verbstellung in deutschen dass-Sätzen mit der Verbstellung in lateinischen Nebensätzen, die durch quod ‘dass’, ut ‘dass, damit’ und ne ‘dass nicht, damit nicht’ eingeleitet werden. Dabei zeigt sich, dass die Endstellung in den deutschen dass-Sätzen mit 72 % wesentlich häufiger ist als in den lateinischen Nebensätzen (27 %). Für die lateinischen Passagen von Luthers Tischreden gilt also keineswegs die Verbendstellung im Nebensatz (vgl. Stolt 1964: 161). Die deutschen Passagen von Luthers Tischreden wären in dieser Hinsicht „lateinischer“ als seine lateinischen Passagen. Gegen die These des lateinischen Einflusses spricht auch die Tatsache, dass sich lateinische Grammatiker für eine andere Verbstellung aussprechen. So im folgenden Zitat aus der Grammatik des Priscian (512-560 n. Chr.): […] primo loco nomen, secundo verbum posuerunt, quippe cum nulla oratio sine iis completur […] (zit. n. Fleischmann 1973: 47-48) […] an die erste Stelle stellten [die vorbildlichen Schriftsteller] das Nomen, an die zweite das Verb, da überhaupt keine Äußerung ohne sie beendet werden kann […] (Übersetzung J.F.) Nach Fleischmann (1973: 48) geht aus dieser Stelle hervor, dass Priscian eine Wortfolge fordert, die eher der des deutschen Hauptsatzes mit seiner Verbzweitstellung entspricht. Auch aus der 1570 erschienenen Grammatik des Humanisten Philipp Melanchthon (1497-1560) kann herausgelesen werden, dass Verbendstellung nicht die geforderte Regel war (vgl. allerdings Chirita 1997: 13-14, die dieses Zitat anders interpretiert): <?page no="172"?> Die Entwicklung der Verbstellung 172 Orditur sententiam nominatiuus, aut quod vice nominatiui fungitur. Hunc proximè sequitur uerbum finitum, deinde adijcitur obliquus alicubi et aduerbia, et attexunt saepè plura nomina praepositiones […] (zit. n. Fleischmann 1973: 49) Der Nominativ beginnt den Satz, oder das, was die Rolle des Nominativs übernimmt. Das finite Verb folgt diesem am nächsten, danach werden irgendwo der Obliquus und die Adverbien hinzugeworfen, und oft flicht man Präpositionen hinzu […] (Übersetzung J.F.) Gegen die These des lateinischen Einflusses kann auch noch ein prinzipieller Einwand erhoben werden: Wenn das Latein die Verbstellung des Deutschen beeinflusst, ist nicht einzusehen, wieso dies nur im Nebensatz, nicht aber im Hauptsatz der Fall sein soll. Die These des lateinischen Einflusses scheint somit widerlegt oder zumindest stark relativiert. Stattdessen könnte die Tradition der präskriptiven Grammatik (vgl. Kapitel 14) für die Durchsetzung der Verbendstellung eine Rolle gespielt haben: Wie Fleischmann (1973: 368) ausführt, fordern Grammatiker ab dem 18. Jahrhundert die Verbendstellung im Nebensatz. Um in dieser Frage mehr Klarheit zu erlangen, wären unter anderem größere quantitative Untersuchungen zur Verbstellung im Mittel- und Neulatein wichtig. Genauer geklärt werden müsste, welches „Latein“ überhaupt maßgeblich gewesen sein könnte. Literaturhinweise Die Entwicklung der deutschen Verbstellung wird in sehr vielen Arbeiten thematisiert, von denen hier nicht alle genannt werden können. Zur historischen Entwicklung der Verbstellung ist nach wie vor Maurer (1926) eine zentrale (und auch gut lesbare) Monographie, auch wenn die Forschung inzwischen teilweise zu anderen Resultaten und Schlüssen gekommen ist. Zu Phänomenen der althochdeutschen Verbstellung ist Ramers (2005) als Einstieg gut geeignet. Axel (2007) behandelt unter anderem Verberst- und Verbspäterstellungen im Althochdeutschen in einem generativen Rahmen (diese Arbeit setzt Kenntnisse in generativer Syntax voraus). Petrova/ Solf (2009) befassen sich mit der Entwicklung der Verbstellung in Fragesätzen. Fourquet (1938, 1974) geht auf die mögliche Entstehung der Verbzweitstellung im Kontext der übrigen altgermanischen Sprachen ein. Eine sehr klare und gut lesbare, allerdings einiges Wissen voraussetzende Darstellung der Verbstellung eines bestimmten althochdeutschen Denkmals bietet Näf (1979); auch Bolli (1975) und Borter (1982) geben vergleichbare (allerdings etwas weniger ausführliche) syntaktische Darstellungen. Zur Verbstellung im Frühneuhochdeutschen sind vor allem die Arbeiten Robert Peter Eberts empfehlenswert, als Einstieg geeignet ist etwa Ebert (1998). Die von Ebert durchgeführten Analysen setzen relativ viel statistisches Wissen voraus, das gilt vor allem für Ebert (1980) und Ebert (1981). Eine grundlegende Arbeit zur Abfolge in Drei-Verb-Clustern ist die diachron angelegte Studie von Härd (1981). Zu diesem Thema empfiehlt sich auch der gut lesbare Artikel von <?page no="173"?> Literaturhinweise 173 Takada (1994), der neben den Resultaten einer Korpusstudie auch über interessante Vergleiche zwischen verschiedenen Simplicissimus-Drucken berichtet. Einen Überblick zur Forschung gibt Ágel (2001). Die Abfolge im verbalen Cluster in den Dialekten des Deutschen ist gerade in jüngerer Zeit auf sehr breites Interesse gestoßen (unter anderem auch von Seiten der generativen Grammatik). Als Einstieg in diesen Themenkomplex empfiehlt sich Lötscher (1978), eine der ersten Untersuchungen zu diesem Thema. Eine gut lesbare dialektsyntaktische Monographie, in der neben anderen Phänomenen auch die Verbstellung behandelt wird, ist Patocka (1997), der sich auf die bairischen Mundarten Österreichs bezieht. Der verbale Cluster im Westmitteldeutschen steht im Zentrum des ausführlichen Artikels von Dubenion-Smith (2010), in dem auch auf viele jüngere Arbeiten zum Thema verwiesen wird. Die Frage nach dem lateinischen Einfluss bei der Herausbildung der Verbendstellung im Nebensatz wird von Chirita (1997) übersichtlich und unter einer wissenschaftshistorischen Perspektive diskutiert. <?page no="175"?> 10 Der Ersatzinfinitiv Dieses Kapitel beschäftigt sich mit einer Konstruktion aus dem Bereich der rechten Satzklammer, deren Merkwürdigkeit dem flüchtigen Blick leicht entgeht: dem sogenannten „Ersatzinfinitiv“. Damit sind Fälle wie er hat sie nicht gehen hören gemeint, wo statt einem erwartbaren Partizip ein Infinitiv auftritt. Zunächst wird auf die Eigenschaften dieser Konstruktion im heutigen Deutschen eingegangen (10.1). Dann werden die wesentlichen Züge ihrer historischen Entwicklung skizziert (10.2). Im Anschluss daran folgt ein Vergleich mit der Situation in den heutigen Dialekten, die beim Auftreten des Ersatzinfinitivs ein interessantes Nebeneinander von konservativen (d.h. ältere Formen fortsetzenden) und innovativen Erscheinungen zeigen (10.3). Am Ende des Kapitels werden die wichtigsten Erklärungen für die Entstehung des Ersatzinfinitivs diskutiert (10.4). 10.1 Der Ersatzinfinitiv im heutigen Deutschen Im Deutschen kann in bestimmten Perfektkonstruktionen ein Partizip II durch den Infinitiv ersetzt werden. Nach der Duden Grammatik (2009: 466-467 = §§ 662- 663) ist dies bei Modalverben, Perzeptionsverben wie sehen oder hören, dem Verb lassen sowie einigen anderen Verben wie beispielsweise helfen möglich (siehe dazu auch grundlegend Askedal 1991 und Eisenberg et al. 2001). Die Bezeichnung „Ersatzinfinitiv“ rührt also daher, dass eine Verbform (das Partizip II) in einem bestimmten Kontext durch eine andere Verbform (den Infinitiv) ersetzt wird. Die entscheidende Bedingung für das Auftreten dieser Konstruktion ist, dass das Ersatzinfinitiv-Verb (im Folgenden reden wir von „Trägerverb“) mit einem weiteren, von ihm abhängigen Verb auftritt. Diese Bedingung ist in den folgenden beiden Beispielen veranschaulicht: Bildet das Modalverb wollen ein einfaches Perfekt (ohne weiteres abhängiges Verb), ist der Ersatzinfinitiv ungrammatisch; tritt wollen hingegen mit einem weiteren Verb auf, ist er sogar obligatorisch, d.h. das Partizip ist ungrammatisch. Ich habe das doch nicht gewollt/ *wollen. Ich habe das doch nicht tun wollen/ *gewollt. Beim Verb lassen ist der Ersatzinfinitiv bei kausativen Verwendungsweisen (d.h. in der Bedeutung: ‘veranlassen’) für die meisten Sprecher obligatorisch. Wenn es sich beim eingebetteten (abhängigen) Verb semantisch gesehen um ein sogenanntes „statives Verb“ (stehen, liegen, sitzen usw.) handelt, ist er hingegen optional. <?page no="176"?> Der Ersatzinfinitiv 176 Lea hat ihre Geige reparieren lassen/ *gelassen Lea hat das Buch im Garten liegen lassen/ gelassen Der Ersatzinfinitiv ist ein typisches Phänomen der kontinentalwestgermanischen Sprachen Deutsch und Niederländisch, wobei es in den von diesen Standardsprachen überdachten Dialekten mitunter sehr große Unterschiede in den Auftretensbedingungen dieser Konstruktion gibt. Einige dieser Unterschiede werden uns in Abschnitt 10.3 noch beschäftigen. Traditionell wird der Ersatzinfinitiv „IPP“ genannt, lat. für Infinitivus pro participio, d.h. „Infinitiv anstelle des Partizips“; diese Bezeichnung wird auch im Folgenden verwendet. 10.1.1 Semantische Eigenschaften von IPP-Verben Beim Ersatzinfinitiv lässt sich nach Schmid (2000, 2005) die unten wiedergegebene implikationelle Hierarchie von IPP-Verben ansetzen. Sie ist folgendermaßen zu lesen: Wenn ein Sprachsystem über einen obligatorischen Ersatzinfinitiv bei einer Verbklasse auf einer bestimmten Stufe der Skala verfügt, tritt dieser auch für die Verbklassen weiter links in der Hierarchie auf, aber nicht umgekehrt: Kausative < Modalverben < Perzeptionsverben < Benefaktive < Durative < Inchoative < Kontrollverben (nach Schmid 2000, 2005; vereinfacht) Diese Hierarchie bezieht sich vor allem auf die semantischen Eigenschaften der einzelnen Verbklassen, jedoch spielen auch syntaktische Kriterien eine Rolle. So zeichnen sich die tieferen Positionen (Inchoative, Kontrollverben) etwa dadurch aus, dass sie im Standarddeutschen ausschließlich mit einem abhängigen zu-Infinitiv auftreten. Kausative Verben drücken semantisch gesehen eine Veranlassung oder ein Bewirken eines Ereignisses bzw. einer Situation aus (z.B. Er lässt seinen Bruder die Blumen abholen). Modalverben denotieren bestimmte Einstellungen (Fähigkeit, Verpflichtung, Annahme) zu einem Sachverhalt (z.B. Du sollst nicht töten! ). Perzeptionsverben sind Verben der sinnlichen Wahrnehmung (z.B. Er hörte/ sah es blitzen und donnern). Benefaktive drücken Handlungen aus, die zugunsten einer bestimmten Entität geschehen (z.B. Er hilft seiner Schwester). Durative Verben drücken zeitlich nicht abgrenzbare Handlungen oder Ereignisse aus (z.B. Er liegt den ganzen Tag herum); Inchoative bilden das Gegenstück dazu, denn sie drücken den unmittelbaren Beginn oder das unmittelbare Ende einer Handlung oder eines Ereignisses aus (z.B. Er fängt an zu schreien). Unter Kontrollverben versteht man Verben, die in einer besonderen semantischen Beziehung zu dem von ihnen regierten Verb stehen: So ist der vom Verb bitten abhängige Infinitivsatz in den folgenden Beispielen so zu verstehen, dass die Objektphrase Clara als implizites Subjekt des Infinitivs zu kochen fungiert, während dies im zweiten Satz beim Verb versprechen für die Subjektphrase Fritz der Fall ist. Dies wird jeweils durch tiefgestellte Indizes am „Kontroller“ und dem abhängigen Infinitiv symbolisiert. Man spricht im ersten Fall von Subjekt- und im zweiten Fall von Objektkontrolle. <?page no="177"?> Der Ersatzinfinitiv im heutigen Deutschen 177 Fritz bittet Clara i , die Suppe zu kochen i (= Clara soll die Suppe kochen) Fritz i verspricht Clara, die Suppe zu kochen i (= Fritz soll die Suppe kochen) Die folgende Tabelle zeigt für das Standarddeutsche, bei welchen Verbklassen der Hierarchie der Ersatzinfinitiv verbreitet ist: Die Hauptdomänen bilden demnach Kausative und Modalverben, wo nur der Ersatzinfinitiv möglich ist. Bei Perzeptionsverben und Benefaktiven kann der Ersatzinfinitiv auftreten, er ist aber nicht obligatorisch (dies wird durch das Symbol „±“ gekennzeichnet), d.h. sowohl der Ersatzinfinitiv als auch das Partizip II können bei diesen Verben auftreten. Bei allen anderen Verben weiter rechts in der Hierarchie ist diese Konstruktion dagegen ungrammatisch. IPP Klasse Beispiele + Kausative (lassen, machen, …) Er hat die Kinder mit der Modelleisenbahn spielen *gelassen/ lassen. + Modalverben (können, müssen, sollen, …) Er hätte das Formular schon längst einreichen *gesollt/ sollen. ± Perzeptionsverben (hören, sehen, fühlen, …) Er hat die Kinder im Garten schreien gehört/ hören. ± Benefaktive (helfen, lernen, …) Er hat seiner Mutter abwaschen gehofen/ helfen. - Durative (bleiben, sitzen, …) Er ist noch ein bisschen liegen geblieben/ *bleiben. - Inchoative (anfangen, aufhören, …) Er hat mit 16 angefangen/ *anfangen zu rauchen. - Kontrollverben (versuchen, sich trauen, …) Er hat sich nicht getraut/ *trauen, so spät noch bei ihr anzurufen. IPP-relevante Verbklassen (nach Schmid 2005: 32-33, 36) Die von Schmid (2000, 2005) formulierte Hierarchie ist durch den Sprachvergleich motiviert. Beispielsweise das Niederländische, aber auch manche modernen Dialekte des Deutschen, gehen deutlich über das hinaus, was im Standarddeutschen in Bezug auf das Auftreten von IPP möglich ist. Ähnliches gilt für ältere Sprachstufen des Deutschen, und interessanterweise bewegt sich auch die diachrone Entwicklung dieses Phänomens entlang der einzelnen Positionen der Hierarchie (vgl. dazu 10.2). An dieser Stelle soll zur Illustration ein Hinweis auf das heutige Niederländische genügen: Es zeigt sich, dass der Ersatzinfinitiv in dieser Sprache bei wesentlich mehr Verben auftreten kann als im Deutschen (vgl. dazu Ponten 1973: 75 bzw. Schmid 2005: 28, 30), unter anderem auch mit Kontrollverben wie trachten ‘versuchen, trachten‘: <?page no="178"?> Der Ersatzinfinitiv 178 hij heeft hem trachten te bedriegen (Ponten 1973: 76) er hat ihn versuchen- IPP zu betrügen ‘er hat ihn zu betrügen versucht’ 10.1.2 Morphologische Eigenschaften Die Bezeichnung „Ersatzinfinitiv“ rührt vom Auftreten einer morphologisch nicht erwartbaren Verbform her. Daran schließt sich die Frage an, welche Regularitäten sich für den Regelfall, d.h. die Bildung des Partizips II, finden lassen. Da diese Frage für die Diskussion an verschiedener Stelle noch von Bedeutung ist, soll sie hier kurz angesprochen werden. Die Verben des Deutschen lassen sich nach der Bildung ihrer Vergangenheitsformen (Präteritum, Perfekt) in zwei große Klassen einteilen, die „starken“ und die „schwachen“ Verben. Die erste Gruppe bildet das Präteritum und das Partizip II durch eine phonologische Veränderung des Stammes (z.B. singen - sang - gesungen, fahren - fuhr - gefahren), den sogenannten „Ablaut“; das für die Bildung des Perfekts wichtige Partizip II wird neben der Stammveränderung zusätzlich mit dem Präfix ge- und dem Suffix -en markiert (ge-sung-en, ge-fahr-en). Die zweite Gruppe, die schwachen Verben, bilden das Präteritum ohne Veränderung des Stammes, aber mittels Anfügung eines dentalen Suffixes -t- (z.B. machen - machte - gemacht, arbeiten - arbeitete - gearbeitet). Das Partizip II wird hier ebenfalls durch Hinzufügung des Präfixes gegebildet, doch tritt an Stelle des Suffixes -en das (in bestimmten Kontexten erweiterte) Dentalsuffix -(e)t heran. Während die Wahl des Suffixes rein vom Faktor Verbklasse (stark vs. schwach) abhängig ist, unterliegt das Auftreten von geganz klaren phonologischen Bedingungen: Partizipien, die den Wortakzent nicht auf der ersten Silbe tragen, können nicht mit gepräfigiert werden, z.B. schmarótzen - schmarotzt oder beátmen - beatmet und nicht *geschmarotzt oder *gebeatmet (vgl. Wiese 2000: 90). Gerade im Fall der starken Verben können Infinitiv und Partizip II gewisse Ähnlichkeiten in der Bildung aufweisen: Wenn die Ablautstufe identisch ist (etwa bei fahren - gefahren), unterscheiden sich die beiden Formen nur noch durch das Präfix gevoneinander. Dies ist auch beim IPP-Verb lassen der Fall (lassen - gelassen), weshalb die Frage, ob bei einer bestimmten infiniten Form überhaupt ein Infinitiv oder ein (ge-loses) Partizip II vorliegt, nicht immer leicht zu beantworten ist (vgl. 10.2.1, 10.4). 10.1.3 Abfolgerestriktionen Die IPP-Konstruktion besteht aus drei Teilen, nämlich erstens dem Trägerverb, das zweitens mit dem tempusbildenden Auxiliar haben zusammen das Perfekt bildet, und drittens dem vom Trägerverb abhängigen Verb (üblicherweise ein lexikalisches Vollverb). In Nebensätzen, in denen die verbalen Teile alle in der rechten Satzklammer stehen, kommt es deshalb bei dieser Konstruktion immer zur Bildung eines Drei-Verb-Clusters. Bemerkenswert ist nun, dass in Nebensätzen bei IPP-Konstruktionen in der Standardsprache obligatorisch die Abfolge 1-3-2 auftreten muss (vgl. 9.5.2): Wäh- <?page no="179"?> Die diachrone Entwicklung des Ersatzinfinitivs 179 rend etwa beim werden-Passiv nur die Abfolge 3-2-1, mit Endstellung des finiten Verbs, möglich ist, kann bei IPP-Konstruktionen das finite Verb nur am Anfang des Drei-Verb-Clusters stehen: … weil ich das Kapitel längst hätte 1 abschließen 3 sollen 2 / *abschließen 3 sollen 2 hätte 1 In Hauptsätzen steht das finite Auxiliar hingegen in der linken Satzklammer, das Trägerverb sowie das von ihm abhängige Verb aber in der rechten Satzklammer. Da bei der Indizierung nur die Verben in der rechten Satzklammer berücksichtigt werden, erhält hier das IPP-Verb als übergeordnetes Verb den Index 1 und das lexikalische Vollverb als abhängiges Verb den Index 2. In diesem Fall tritt in der Standardsprache ausschließlich die Abfolge 2-1 (also „regiertes Verb vor regierendem Verb“) auf: Er hätte das Kapitel längst *sollen 1 abschließen 2 / abschließen 2 sollen 1 In älteren Sprachstufen des Deutschen, aber auch in modernen Dialekten sind allerdings zahlreiche Abweichungen von diesen Stellungsregularitäten zu beobachten (vgl. dazu 10.2.4). Als Indiz für diese Variation kann man etwa den Phraseologismus es hat nicht sollen 1 sein 2 werten, der noch eine Abfolge konserviert, die dem Prinzip „regiertes Verb vor regierendem Verb“ nicht entspricht. 10.2 Die diachrone Entwicklung des Ersatzinfinitivs Der Ersatzinfinitiv hat in der Sprachgeschichte des Deutschen eine recht wechselhafte und komplexe Entwicklung durchlebt, die in diesem Abschnitt behandelt wird. Die Darstellung ist chronologisch und orientiert sich an der oben eingeführten Verbklassenhierarchie. Im Anschluss daran wird gesondert auf die Situation im Frühneuhochdeutschen eingegangen, wo einige mit dem Ersatzinfinitiv konkurrierende Konstruktionen zu beobachten sind, die sich teilweise in modernen Dialekten des Deutschen fortsetzen. Schließlich wird noch aus einer diachronen Perspektive kurz auf einige Abfolgeregularitäten eingegangen. 10.2.1 Überblick zu den relevanten Verbklassen Da der Ersatzinfinitiv auf gewisse Perfektkonstruktionen beschränkt ist, lässt sich sein historisches Auftreten weitgehend unabhängig von der Beleglage periodisieren: Das periphrastische Perfekt wird erst in spätalthochdeutscher Zeit grammatikalisiert (vgl. 8.2), d.h. die morphosyntaktischen Voraussetzungen für IPP sind erst ab diesem Zeitpunkt gegeben. Erste (seltene) Belege für den Ersatzinfinitiv finden sich im 13. Jahrhundert, und zwar bei den kausativen Verben tuon und lâzen - also jener Verbklasse, die in der Hierarchie von Schmid (2000, 2005) am höchsten steht - sowie bei dem Perzeptionsverb hœren: <?page no="180"?> Der Ersatzinfinitiv 180 so han wir unse Ingesegele an důsen breyf důn hangen (Urkunde, Köln, 1300; zit. n. Hoefer, Urkunden 59) so haben wir unser Siegel an diesen Brief tun- IPP hängen ‘so haben wir unser Siegel an diesen Brief hängen lassen’ ir habt iz ofte horen sagen (Rabenschlacht 98, 3) ihr habe es oft hören- IPP sagen ‘ihr habt es oft sagen hören’ Vereinzelt (besonders in der Urkundensprache) tritt der Ersatzinfinitiv auch beim Verb heizen ‘befehlen, veranlassen’ auf; dasselbe gilt laut Kurrelmeyer (1910: 159- 160, 163-164) in dieser Zeit auch für helfen und müezen ‘müssen’. und hæte im heizen machen […] ein wunneclîchez hûselîn (Tristan 16341-16345) und hätte ihm heißen- IPP machen ein wonnigliches Häuslein ‘und hätte ihn geheißen, ein schönes Häuslein zu bauen’ Inwiefern der von Kurrelmeyer angeführte Einzelbeleg für müezen überhaupt als aussagekräftig für das Mittelhochdeutsche betrachtet werden kann, ist allerdings zweifelhaft. Er stammt aus Biterolf und Dietleib, einem Epos aus dem 13. Jahrhundert, dessen einziger Überlieferungsträger das Ambraser Heldenbuch darstellt. Da dieser Textträger erst Anfang des 16. Jahrhunderts niedergeschrieben wurde, ist nicht auszuschließen, dass er einen späteren Sprachstand wiedergibt (siehe dazu Kapitel 4.2). so het ichs mussen lan beleiben (Biterolf 4474) so hätte ich es müssen- IPP lassen bleiben ‘so hätte ich es bleiben lassen müssen’ Ab frühneuhochdeutscher Zeit tauchen bei der Klasse der Modalverben dann nach dem Muster der schwachen Verben gebildete Präteritalformen sowie insbesondere auch Partizipformen auf (vgl. Ebert et al. 1993: 296 = § M 135). Verschiedene ältere Arbeiten gehen davon aus, dass lâzen das erste Verb ist, bei dem der Infinitiv zu beobachten ist. Wie bei den anderen frühen IPP-Verben ist aber empirisch nicht zu entscheiden, ob ein „echter“ Ersatzinfinitiv vorliegt oder ob es sich nur um Varianten des Partizips ohne ge-Präfix handelt (vgl. Kurrelmeyer 1910: 59). Erste eindeutige Belege (mit parallel belegten ge-präfigierten Varianten) für den Ersatzinfinitiv bei lâzen datieren auf das 14. Jahrhundert, und zwar für das niederdeutsche bzw. ostmitteldeutsche Gebiet; Ähnliches gilt für das Mittelniederländische. Erst im Verlauf des 15. Jahrhunderts tritt die IPP-Konstruktion häufiger auf, wobei als wichtigste Gruppe von Trägerverben die Modalverben zu nennen sind. Ab dem 17. Jahrhundert finden sich schließlich auch IPP-Belege mit dem Inchoativ-Verb anfangen und dem semantisch verwandten Verb pflegen; 21 in ________ 21 Man fasst habituelle Verben wie pflegen und Inchoative oft unter der Bezeichnung „Phasenverben“ zusammen, da sie sich semantisch auf bestimmte Teile eines Ereignisses bzw. einer Tätigkeit beziehen, z.B. aufhören (Endpunkt eines Ereignisses) oder pflegen (Wie- <?page no="181"?> Die diachrone Entwicklung des Ersatzinfinitivs 181 dieser Zeit tauchen zudem analoge Belege für die Kontrollverben brauchen und (ver-)suchen sowie für das Perzeptionsverb fühlen auf: a. 1614 […] hab ich in br. Albrechten hauss anfangen bawen (Schad, Reisebuch: 383 [1618]) anno 1614 habe ich in Bruder Albrechts Haus anfangen- IPP bauen ‘Im Jahr 1614 hab ich in Bruder Albrechts Haus angefangen zu bauen’ Unbesunnen Urthel hab ich jederzeit mehr zuverachten als zu achten pflegen (Opitz, Teutsche Poemata: 8 [1624]) unbesonnenes Urteil habe ich jederzeit zu verachten pflegen- IPP ‘unbesonnenes Urteil pflegte ich jederzeit zu verachten’ In der Zusammenschau ergibt sich somit die in der folgenden Übersicht angeführte Chronologie für die Ausbreitung des Ersatzinfinitivs auf die einzelnen Verbklassen (nach Eroms 2006: 84 und Kurrelmeyer 1910); in Klammern angeführt sind Verbklassen, für die sich nur spärliche Belege finden. Am frühesten belegt ist IPP bei Kausativen, Benefaktiven, Perzeptionsverben und (mit Verzögerung) bei Modalverben, die allesamt höhere Positionen in der Verbklassenhierarchie von Schmid (2000, 2005) einnehmen. Tiefere Verbklassen wie beispielsweise Inchoative oder Kontrollverben treten demgegenüber nicht nur deutlich später auf, sondern haben auch die Tendenz, schneller wieder zu verschwinden. Zeit mit IPP belegte Verbklassen Verben vor 1300 Kausative, Perzeptionsverben, (Benefaktive) heißen, lassen, hören, müssen, tun, helfen vor 1400 Modalverben, (Kontrollverben) bitten, türren ‘wagen’ vor 1500 Perzeptionsverben, Benefaktive, Kontrollverben sehen, wollen, lernen, können, dürfen, machen vor 1600 Modalverben sollen, mögen vor 1700 Inchoative, Kontrollverben anfangen, pflegen, (ver)suchen Übersicht zum Auftreten von IPP bei einzelnen Verbklassen Eine plausible Hypothese für die allmähliche diachrone Verfestigung des heutigen Systems und insbesondere den Rückgang von IPP bei manchen Verbklassen könnte im Standardisierungsprozess des Deutschen liegen. Für diesen waren vor allem die ostmitteldeutschen Dialekte maßgebend, wobei diese im Hinblick auf den Ersatzinfinitiv genau jenes System zu zeigen scheinen, das auch im heutigen Standarddeutschen zu finden ist (siehe dazu beispielsweise die Hinweise, die sich bei Weise 1900: 155 zum Ortsdialekt von Altenburg finden). Dies würde zumindest teilweise auch die gegenüber dem Deutschen auffallend hohe Zahl von IPP-Verben im Niederländischen erklären, dessen Standardvarietät auf einer ________ derholung einer Tätigkeit). Dementsprechend wäre es mit Blick auf die diachronen Daten sinnvoll, Schmids (2000, 2005) Klasse der Inchoative in „Phasenverben“ umzubenennen. <?page no="182"?> Der Ersatzinfinitiv 182 ganz anderen dialektalen Grundlage steht. Dass dann der Ersatzinfinitiv im Deutschen genau bei jenen Verbklassen wieder verschwindet, bei denen er zuletzt auftritt (und die zudem allesamt weiter rechts in der Hierarchie von Schmid 2000, 2005 angesiedelt sind), unterstreicht einmal mehr deren diachrone Validität. 10.2.2 Mit dem Ersatzinfinitiv konkurrierende Konstruktionen Modalverben, die heute wichtigste Klasse von IPP-Verben (besonders können), werden Eroms (2006: 84) zufolge erst „verhältnismäßig spät in diesen Konstruktionstyp hineingezogen“. In Konkurrenz dazu finden sich die unten schematisch angeführten Konstruktionsmuster, die von Biener (1932) ausführlich untersucht wurden (siehe dazu auch Ebert et al. 1993: 413-414 = § S 209). Die Fälle (4.) und (5.) sind in gewisser Hinsicht Spiegelbilder zum Ersatzinfinitiv, denn hier tritt eine partizipiale Form anstelle eines erwartbaren Infinitivs auf; in Analogie zu IPP redet man hier auch von „PPI“, lat. für Participium pro infinitivo, d.h. „Partizip anstelle des Infinitivs“. 1. er will gesagt haben (im Sinne von ‘er hat sagen wollen’) 2. er hat sagen gewollt 3. er hat sagen wollen [IPP-Konstruktion] 4. er hat gesagt wollen [PPI-Konstruktion] 5. er hat gesagt gewollt [PPI-Konstruktion] Der Grund für diese Varianz liegt sicherlich auch darin, dass alle Modalverben mit Ausnahme von wollen diachron betrachtet der Klasse der sogenannten „Präteritopräsentien“ angehören. Das sind Verben, deren Präsensformen alte (d.h. aus vorgermanischer Zeit stammende) Perfektformen fortsetzen und deren Präteritum nach dem Muster der schwachen Verben gebildet wird; eindeutige (und ebenfalls nach dem Muster der schwachen Verben gebildete) Partizipialformen sind für diese Verbklasse erst ab dem 15. Jahrhundert belegt, d.h. streng genommen ist die Rede von einem Ersatzinfinitiv hier erst ab dieser Zeit gerechtfertigt. Für unsere Zwecke genügt es, nur diese einzelnen Typen kurz zu diskutieren. Im folgenden Abschnitt soll es spezieller um die Frage gehen, inwieweit diese verschiedenen Typen Kontinuitäten bzw. Fortsetzer in den heutigen Dialekten des Deutschen besitzen. Ins Auge sticht vor allem der Typ (1.), der unten mit einigen Beispielen illustriert wird. Syntaktisch gesehen handelt es sich hierbei um einen Infinitiv Perfekt, der von einem finiten Modalverb abhängig ist, also um einen Konstruktionstyp, der von der Warte des Gegenwartsdeutschen aus betrachtet keine Besonderheiten in sich zu bergen scheint. der karacter â b c / muos er hân gelernet ê (Parzival 13531-13532 = 453,15-16) der Buchstaben ABC muss=er haben gelernt eher ‘da mußte er zuerst das ABC der Buchstaben lernen‘ Neben dieser Verwendung, die bei Biener (1932: 5) als „Infinitiv des Perfekts im strengen Sinn des Wortes“ bezeichnet wird und die somit eine seit mittelhoch- <?page no="183"?> Die diachrone Entwicklung des Ersatzinfinitivs 183 deutscher Zeit bestehende sprachgeschichtliche Kontinuität aufweist, treten aber auch semantisch deutlich abweichende Verwendungskontexte auf: z.B. Irrealiswendungen zum „Ausdruck einer vereitelten Absicht“ (Biener 1932: 8). Dies illustriert der folgende Beleg: si wolden Volkeren ce tode erslagen han. (Nibelungenlied B 1890 (1893),3) sie wollten Volker zu Tode erschlagen haben ‘sie hätten Volker erschlagen wollen (aber Etzel verhinderte es)’ Inwieweit die Konstruktion mit finitem Modalverb ursprünglich nur der Umschreibung des Perfekts bzw. Plusquamperfekts der Präteritopräsentien diente, wie dies die ältere Forschung annahm (vgl. z.B. Grimm 1898: 200), oder ob sie nur dann möglich ist, wenn das finite Modalverb im Konjunktiv steht (Biener 1932: 7- 8, 14), ist empirisch nur schwer zu überprüfen. Einschlägige Belege wie der unten angeführte, die aus der kritischen mittelhochdeutschen Periode stammen, können nicht als zuverlässige Evidenz für eine Modusbeschränkung beansprucht werden, da dieser im Mittelhochdeutschen vom Indikativ Präteritum morphologisch nur schwer zu unterscheiden ist (siehe z.B. Birkmann 1987: 217 zu wollen). er wolde gern erwendet hân / mîne vart, die ich dâ her hân getân (Parzival 9787- 9788) er wollte gern verhindert haben meine Fahrt die ich hier her habe getan ‘Er hätte mich gerne von meiner Reise abgehalten, die ich hierher unternommen habe’ Eine semantische Differenzierung zwischen der rein temporalen Referenz bei der IPP-Konstruktion und dem Ausdruck zusätzlicher Bedeutungskomponenten bei der finiten Modalverbkonstruktion wird auch von Eroms (2006: 86f.) angenommen. Er sieht hierbei insbesondere die sogenannten „epistemischen“ Verwendungsweisen von Modalverben als Katalysator. Solche Verwendungsweisen lassen sich anhand des folgenden Beispielpaars veranschaulichen: Im ersten Satz drücken die Verben müssen/ sollen eine Verpflichtung aus (man nennt dies auch „deontische Modalität“), im zweiten Satz hingegen werden Annahmen über Sachverhalte zum Ausdruck gebracht (man nennt dies „epistemische Modalität“). Die letztere Verwendungsweise von Modalverben ist sprachgeschichtlich deutlich jünger und lässt sich erst in frühneuhochdeutscher Zeit sicher nachweisen (siehe dazu grundlegend Diewald 1999). Klaus muss/ soll das Buch bis Freitag gelesen haben. [deontisch] (= ‘Klaus hat die Verpflichtung, das Buch zu lesen’) Klaus muss/ soll das Buch schon gelesen haben. [epistemisch] (= ‘Es besteht die Vermutung, dass Klaus das Buch gelesen hat’) Auch solche Konstruktionen überlappen sich teilweise mit den bereits erwähnten Irrealis-Wendungen, und ohne Zweifel haben sie zur semantischen Differenzie- <?page no="184"?> Der Ersatzinfinitiv 184 rung beigetragen. In ähnlicher Weise deutet das ebenfalls erst im Frühneuhochdeutschen sicher belegbare Auftreten von schwachen Partizipialformen bei den Modalverben auf das Schließen einer funktionalen Lücke im Tempusgebrauch hin. Der Umstand aber, dass etwa im Fall des Verbs müezen die Umschreibung mit dem Infinitiv sogar älter ist als jene mit dem Partizip, zeigt, dass im Deutschen auch andere Entwicklungsprozesse am Werk waren. 10.2.3 Morphologische Aspekte Von den weiteren der oben angeführten, mit dem Ersatzinfinitiv konkurrierenden Konstruktionsmustern spielt beim ersten Typ (will gesagt haben) die semantische Differenzierung eine tragende Rolle. Anders liegen die Verhältnisse bei den verbleibenden drei Typen, die hier noch einmal angeführt werden und die sich besser von einer morphologischen Betrachtungsweise aus fassen lassen: 2. er hat sagen gewollt 4. er hat gesagt wollen [PPI-Konstruktion] 5. er hat gesagt gewollt [PPI-Konstruktion] Der Typ (2.) tritt im Frühneuhochdeutschen ganz regulär und relativ hochfrequent auf. Er ist - das wurde bereits oben erwähnt - auf jeden Fall im Zusammenhang mit der Entwicklung schwacher Partizipialformen bei den Präteritopräsentien zu sehen. Neben diesem regulären Typ finden sich auch nach dem Muster der schwachen Verben gebildete Varianten (mit t-Affix), bei denen das ge-Präfix fehlt, sowie vereinzelte stark gebildete Partizipien: daz noch vnser veter noch wir haben mucht tragen (Cod. Teplensis, Acta 15,10, um 1400; zit nach Biener 1932: 15) dass weder unser Vetter noch wir haben vermocht tragen ‘dass weder unser Vetter noch wir es zu tragen vermochten’ ‘[…] er ist selbs einer und hat mich auch gewelt darz G bringen’ (Rollwagenbüchlein: 57,14-15 [Kap. 30.]) er ist selber einer und hat mich auch gewollt dazu bringen ‘er ist selber einer und hat mich auch dazu bringen wollen’ Das ist war, niemant hat es ged = rffen sagen. (Hutten, Gesprächsbüchlin: 75) das ist wahr niemand hat es gedurft sagen ‘Das ist wahr, niemand hat es sagen dürfen.’ Die letzten beiden Typen (4.) und (5.) unterscheiden sich dahingehend von den bisher diskutierten Varianten, dass das Partizip an einem Bestandteil der Verbkette realisiert wird, der eigentlich im Infinitiv auftreten müsste. Belege zu diesem Typ aus älteren Sprachstufen des Deutschen finden sich bei Biener (1932: 21- 22) und Kurrelmeyer (1910: 169-170). Der Beleg aus einer Basler Urkunde ist <?page no="185"?> Die diachrone Entwicklung des Ersatzinfinitivs 185 insofern bemerkenswert, als die Partizipform henket ohne das charakteristische ge- Präfix realisiert wird. dez han wir vnser kunichlich Insigel an disen breiff haissen gehenket (Urkunde, Stuttgart 1286; zit. n. Biener 1932: 21) daher haben wir unser königliches Siegel an diesen Brief heißen- IPP gehenkt- PP ‘daher haben wir unser königliches Siegel an diesem Brief anbringen lassen’ hand wir unser eigen ingesigel geton henket (Urkunde, Basel 1387; zit. n. Biener 1932: 22) haben wir unser eigenes Siegel getan- PP gehenkt- PP ‘haben wir unser eigenes Siegel abringen lassen’ Wie wir gesehen haben, lassen sich von Beginn an zumindest drei morphologische Konkurrenzformen zum Ersatzinfinitiv feststellen, nämlich einerseits die reguläre (und erwartbare) Form am Trägerverb (hat sagen gewollt) sowie andererseits das „Ersatzpartizip“, d.h. die Realisierung der Partizipialmorphologie gleichsam am „falschen“ Verb (hat gesagt wollen). Das dritte Muster (hat gesagt gewollt) beinhaltet gewissermaßen die Kombination dieser beiden Konstruktionen. Wie wir in 10.3 sehen werden, lassen sich solche Konkurrenzformen auch in modernen Dialekten beobachten, die teilweise noch zusätzliche, ebenfalls vom Ersatzinfinitiv abweichende Innovationen aufweisen. 10.2.4 Stellungsregularitäten Hinsichtlich der Stellungsregularitäten von IPP-Konstruktionen in älteren Sprachstufen des Deutschen lässt sich feststellen, dass in den ältesten Belegen praktisch nur „aufsteigende“ Abfolgen des Typs 1-2 bzw. 1-2-3 auftreten (vgl. Kurrelmeyer 1910). Das sind Abfolgemuster, bei denen das regierende Verb dem regierten Verb vorangeht. Beispiele für diese beiden Abfolgetypen sind hier mit dem Perzeptionsverb hœren ‘hören‘ und dem Modalverb sollen angeführt: Der teüffel hat jms helffenn 1 tichten 2 . (Erzählungen [15. Jh.]: 367,17) der Teufel hat ihm es helfen- IPP dichten ‘der Teufel hat ihm geholfen, das zu dichten’ und da man den armen hat 1 sollen 2 geben 3 […] (Augsburger Chr. [1532]: 51,1-2) ‘und da man den Armen (etwas) hat geben sollen […]‘ Bei den im heutigen Standarddeutschen zu findenden Abfolgen 2-1 bzw. 1-3-2 handelt es sich also sprachgeschichtlich betrachtet um Neuerungen. Für die dreigliedrige Variante 1-3-2 finden sich erste Belege im Niederdeutschen des 14. Jahrhunderts, später auch im Mitteldeutschen und ab dem 15. Jahrhundert vereinzelt auch im Oberdeutschen, d.h. es ist von einer Nord-Süd-Ausbreitung dieser innovativen Stellungsvariante auszugehen. Bei zweigliedrigen Verbketten finden sich im Mittelhochdeutschen vereinzelte Belege für 2-1-Abfolgen, z.B. ich <?page no="186"?> Der Ersatzinfinitiv 186 hân si ligen 2 lân 1 da nidere bî der vlüete ‘ich habe sie dort unten bei dem Fluss liegen lassen‘ (Kudrun 1281,1, zit. nach Kurrelmeyer 1910: 162). Dies ändert allerdings nichts an dem generellen Befund, dass die Variante 1-2 ursprünglich den Normalfall darstellte, während sie im heutigen (Standard-)Deutschen nur noch in Phraseologismen wie es hat nicht sollen sein konserviert ist. Interessant sind in diesem Zusammenhang die bei Sapp (2011) und Härd (1981) zu findenden Angaben zur Verteilung einzelner Verbstellungstypen im Frühneuhochdeutschen, die in der folgenden Tabelle angeführt sind. Berücksichtigt werden dreigliedrige IPP-Abfolgen im Kontext von Modalverben, und zwar für den Zeitraum vom 14. bis zum 16. Jahrhundert. Sie verdeutlichen, dass die im heutigen Deutschen zu findende Abfolge 1-3-2 selbst in dieser Epoche noch unübersehbar in der Minderzahl war, während die Abfolge 1-2-3 deutlich überwog: 3-2-1 1-3-2 1-2-3 3-1-2 Härd (1981) 2,3 % 28,8 % 56,9 % 8,3 % Sapp (2011) - 30,3 % 66,7 % 3 % Abfolgevarianten bei der IPP-Konstruktion im Frühneuhochdeutschen (nach Härd 1981: 46-52 und Sapp 2011: 80) Im folgenden Abschnitt wird die Frage der Abfolgevarianz noch einmal aus der Perspektive der Dialekte aufgenommen. Diese Frage ist besonders deswegen von Interesse, weil in verschiedenen neueren Arbeiten die Position des tempusbildenden Auxiliars relativ zum IPP-Verb als auslösender Faktor für den Ersatzinfinitiv betrachtet wird. 10.3 Die Situation in den heutigen Dialekten Die modernen Dialekte des Deutschen zeigen bei der Ersatzinfinitiv-Konstruktion ein beträchtliches Maß an Variation, und zwar sowohl in Hinblick auf die betroffenen Verbklassen, die in der Hierarchie von Schmid (2000, 2005) erfasst sind, als auch in Bezug auf die Stellungseigenschaften der einzelnen involvierten Verben. In diesem Abschnitt werden zwei Fäden wieder aufgenommen, die bereits vorhin im Zusammenhang mit der diachronen Entwicklung der Ersatzinfinitiv-Konstruktion gesponnen wurden, nämlich einige morphologische Aspekte und die bei dieser Konstruktion zu beobachtende Stellungsvariation. 10.3.1 Morphologische Aspekte In manchen Dialekten des Deutschen tritt selbst dort kein Ersatzinfinitiv auf, wo er im Standarddeutschen obligatorisch ist. Umgekehrt können Dialekte auch über das System der Standardsprache hinausgehen und den IPP-Effekt bei Verben zeigen, wo er im Standard nicht möglich ist. Der zweite Fall lässt sich anhand des Berndeutschen illustrieren, das wie das Niederländische (vgl. 10.1.1) den Ersatzinfinitiv auch bei Durativen zeigt: <?page no="187"?> Die Situation in den heutigen Dialekten 187 T Lüt si blibe schtaa (Partizip: bbl ɪ be) (Berndeutsch; Schmid 2005: 16) ‘Die Leute sind stehen geblieben’ Für den ersten Fall eignet sich ein Blick auf die Dialekte, die im heutigen Bundesland Hessen gesprochen werden und die auch untereinander ein recht divergentes Bild abgeben: In südhessischen Dialekten kann bei Modalverben wie können ein schwach gebildetes Partizip auftreten: är hod schwimme gekennd (Neckarsteinach; Durrell/ Davies 1990: 236) ‘er hat schwimmen können’ Die heutigen Dialekte des Deutschen präsentieren also ein gleichermaßen vielfältiges wie komplexes Bild beim Auftreten des Ersatzinfinitivs, das einerseits die Verhältnisse älterer Sprachstufen fortsetzt, andererseits aber auch durch verschiedene Innovationen gekennzeichnet ist. Mit Blick auf den Ersatzinfinitiv soll hier der Frage nachgegangen werden, ob und inwieweit die in 10.2.2 angesprochenen, mit dem Ersatzinfinitiv konkurrierenden Konstruktionen auch Fortsetzer (bzw. Nachfolger) in den heutigen Dialekten des Deutschen haben. Zu diesem Zweck wollen wir uns erneut ihre einzelnen Typen vergegenwärtigen (Typ (1.) spielt für die hier vorgetragenen Überlegungen keine Rolle und wird daher weggelassen): 2. er hat sagen gewollt 3. er hat sagen wollen [IPP-Konstruktion] 4. er hat gesagt wollen [PPI-Konstruktion] 5. er hat gesagt gewollt [PPI-Konstruktion] Beginnen wir mit Typ (2.), der insofern als regulär betrachtet werden kann, als er die morphologisch eigentlich zu erwartende Form des Trägerverbs (nämlich das Partizip) aufweist. Dieser Typ hat auch in den heutigen Dialekten des Deutschen zahlreiche Fortsetzer. Die folgenden Belege illustrieren diesen Typ anhand der südbzw. mittelbairischen Dialekte Österreichs; 22 weitere Beispiele aus verschiedenen deutschen Dialektgebieten finden sich bei Biener (1932: 15-16). dei homp se giwelt fakāfn (43951 Lienz [Osttirol; südbair.]) die haben sie gewollt verkaufen ________ 22 Es handelt sich hierbei um Übersetzungen aus den sogenannten „Wenkermaterialien“ (vgl. 8.2.3, Fußnote 18), genauer des zweiten Teils von Wenkersatz 37: Die Bauern hatten fünf Ochsen und neun Kühe und zwölf Schäfchen vor das Dorf gebracht, die wollten sie verkaufen. Bedingt durch den oberdeutschen Präteritumschwund wird diese Vorlage in der Regel mit einer zusammengesetzten Perfektkonstruktion wiedergegeben, wobei in den oben angeführten südbairischen Beispielen, anders als in den meisten anderen oberdeutschen Dialekten (und anders als im Standard), nicht der Ersatzinfinitiv, sondern das Partizip II auftritt. Die Wenkerformulare werden anhand einer fünf- oder sechsstelligen laufenden Nummer und anhand des Ortsnamens zitiert. <?page no="188"?> Der Ersatzinfinitiv 188 de homb sie vakafn gwelt (44109 Hermagor [Kärnten; südbair.]) die haben sie verkaufen gewollt ‘die haben sie verkaufen wollen’ Die Dialekte halten bei diesem Typ noch weitere Besonderheiten bereit: Höhle (2006) zeigt mit einer Reihe von Belegen, dass es ein breites (ost-)mitteldeutsches Gebiet (mit Ausläufern ins Oberdeutsche) gibt, in dem in vergleichbaren Kontexten eine hybride Infinitivform auftritt (er bezeichnet diese Form mit dem Begriff „Supin“, womit in der Latein-Grammatik eine infinite Verbalform bezeichnet wird, bei der es sich weder um einen Infinitiv noch um ein Partizip handelt). Diese Infinitivform unterscheidet sich morphologisch sowohl vom reinen Infinitiv als auch vom Partizip deutlich. Wie in den unten angeführten Beispielen zu sehen, werden solche Supina im Dialekt von Oberschwöditz (Sachsen-Anhalt) mittels Dentalsuffix gebildet, d.h. es besteht eine Entsprechung zur Partizipbildung bei schwachen Verben; im Unterschied zu den entsprechenden Partizipialformen fehlt jedoch nicht nur das ge-Präfix, sondern es tritt immer auch eine Modifikation des Stammvokals auf, und zwar unabhängig davon, ob das Partizip stark gebildet wird (wie im Falle von gesa: n) oder schwach (wie im Falle von gedorfd). de håsd darfd dri ke (reguläres Partizip: gedorfd) (Trebs 1899: 21) ‘du hast trinken dürfen’ hud rnij sa: d lo: fe (reguläres Partizip: gesa: n) (Trebs 1899: 20-21) ‘habt ihr ihn nicht sehen laufen’ Die Typen (4.) und (5.) unterscheiden sich insofern von den bisher diskutierten Varianten, als das Partizip an einem Bestandteil der Verbkette realisiert wird, der eigentlich im Infinitiv auftreten müsste. Dieses Phänomen ist vor allem aus modernen (nord-)niederländischen bzw. westfriesischen Dialekten bekannt. Der bereits eingeführte Terminus PPI = „Participium pro infinitivo“, also ‘Partizip anstelle des Infinitivs’, eine Analogiebildung zu IPP = „Infinitivus pro participio“, stammt aus der grammatikographischen Literatur zum Niederländischen und Westfriesischen. Dafür wird auch der Terminus „Ersatzpartizip“ verwendet. Auch hierfür gibt es Belege aus den Dialekten des Deutschen, so etwa aus dem Schwäbischen oder aus dem Dialekt von Wasungen (Thüringen). Bemerkenswerterweise scheinen sie sich auf das Verb helfen zu beschränken, d.h. sie sind bei Modalverben (dem häufigsten IPP-Typ) nicht zu finden: Glaubsch, der hedd mr hälfa kochd? (Schwäbisch; Steil 1989: 41) Glaubst der hätte mir helfen- INF gekocht- PP ‘Glaubst du, er hätte mir kochen geholfen? ’ ich hou half gəarbət (Sonneberg [Obersächsisch-Thüringisch]; Schleicher 1894: 62-63) ich habe helfen- INF gearbeitet- PP ‘ich habe arbeiten helfen’ <?page no="189"?> Die Situation in den heutigen Dialekten 189 Als Beleg für PPI kann man auch die im Gegenwartsdeutschen gelegentlich zu findende „Skandalkonstruktion“ (vgl. Reis 1979) betrachten, die unten mit zwei Beispielen illustriert ist: Das von haben abhängige Verb steht wie erwartet im Ersatzinfinitiv, während das von diesem abhängige Verb mit dem nicht-erwartbaren Partizip auftritt. Eine Pariserin namens Dimanche soll sich ein gewaltiges Stirnhorn operativ entfernt haben lassen (statt: entfernen lassen haben) (Der Spiegel 4/ 1975, S. 94, zit. n. Reis 1979: 15) Gut, ich will es ihn erreicht haben lassen (Sanders 1908: 252) Die Dialekte des Deutschen zeigen aber in IPP-Kontexten eine beträchtliche morphologische Varianz am Trägerverb: Neben dem Ersatzinfinitiv im engeren Sinn (hat lesen wollen) treten auch partizipiale bzw. „supinale“ Formen (d.h. solche, die weder dem Infinitiv noch dem Partizip entsprechen) auf. Überdies kann im Fall des Ersatzpartizips auch umgekehrt ein nach morphosyntaktischen Gesichtspunkten nicht erwartbares Partizip auftreten (hat gelesen wollen). 10.3.2 Stellungsregularitäten Die Dialekte des Deutschen zeigen besonders bei der Ersatzinfinitiv-Konstruktion ein großes Spektrum an Stellungsvariation. So sind etwa bei der Klasse der Modalverben bei Drei-Verb-Clustern regional gestaffelt mindestens fünf der sechs logisch möglichen Abfolgen zu finden, vgl. Schmid/ Vogel (2004: 235-236), Wurmbrand (2004). Zur Illustration kann an dieser Stelle das Schwäbische dienen, wo den Angaben von Steil (1989: 20-24) zufolge in erster Linie die Varianten 1-3-2, 1-2-3 und 3-1-2 zu finden sind. Zusätzlich kann auch noch 3-2-1 auftreten; nur die erste dieser Varianten ist auch im Standarddeutschen möglich: I woiß ned, ob i ra den schlissl hedd 1 gäbba 3 dirfa 2 . (Steil 1989: 21) Ich weiß nicht, ob ich ihr den Schlüssel hätte geben dürfen- IPP ‘Ich weiß nicht, ob ich ihr den Schlüssel hätte geben dürfen.’ daß ma’ ’et allzuviel Kiachla hat 1 miassa 2 macha 3 (Ruoff 1984: 120) dass man nicht allzuviele Küchlein hat müssen- IPP machen ‘dass man nicht allzu viele Küchlein hat machen müssen’ damit w(e)r onser Muse-um [sic! ] schöö’ oufschtella 3 hand 1 kenna 2 (Ruoff 1984: 134) damit wir unser Museum schön aufstellen haben können- IPP ‘damit wir unser Museum schön haben aufstellen können’ daß d Anna ons bsuacha 3 wella 2 had 1 (Steil 1989: 16) dass die Anna uns besuchen wollen- IPP hat ‘dass Anna uns hat besuchen wollen’ <?page no="190"?> Der Ersatzinfinitiv 190 Die große Wortstellungsvarianz, die in heutigen deutschen Dialekten beim Ersatzinfinitiv zu finden ist, stellt in gewissem Sinne eine Kontinuität zur Situation im Frühneuhochdeutschen dar. Dies ist auch die Epoche, in der es zu den größten Umwälzungen bei dieser Konstruktion kam. Das Standarddeutsche hat mit der synchron betrachtet ungewöhnlichen 1-3-2-Abfolge in Nebensätzen eine sprachgeschichtliche Innovation übernommen, die in früheren Sprachperioden (d.h. im Mittelhochdeutschen) noch nicht vorhanden war. 10.4 Erklärungen zum Ursprung des Ersatzinfinitivs Aus einer synchronen Perspektive stellt der Ersatzinfinitiv eine morphosyntaktische Anomalie dar, die zumindest im Standarddeutschen in ganz bestimmten syntaktischen Kontexten anzutreffen ist. Berücksichtigt man allerdings Befunde aus älteren Sprachstufen sowie den modernen Dialekten des Deutschen, wie wir dies in den vorangehenden Abschnitten getan haben, ergibt sich die Frage, wie es überhaupt zu dieser Konstruktion kommen konnte und welche Faktoren zu ihrer Ausbreitung (und teilweise auch wieder zu ihrem Verschwinden) entlang der Verbklassenhierarchie führten. Im Wesentlichen gibt es die folgenden beiden Erklärungsansätze zum Ursprung des Ersatzinfinitivs: • IPP als ge-loses (starkes) Partizip • IPP als „echter“ Infinitiv Der erste Ansatz ist wohl die traditionsreichere These zum Ursprung von IPP. Die Auffassung, dass es sich beim Ersatzinfinitiv um ein „starkes“ Partizip handelt, wurde von Paul (1920: 128-130) und Behaghel (1924: 367-368) vertreten. Die Grundidee ist hierbei, dass beim Ersatzinfinitiv ein ge-loses Partizip II vorliegt, das dann als Infinitiv reanalysiert wird. Ausgangspunkt für diese Überlegungen bildet das Verb lâzen, das als starkes Verb sein Partizip mit dem zum Infinitivmorphem homophonen Suffix -en bildet und dessen Form ohne das ge- Präfix somit homonym mit dem Infinitiv ist. Auch einige neuere Arbeiten behandeln den Ersatzinfinitiv als eine Art Allomorph des Partizips (z.B. Plank 2000: 27). Diese Auffassung ist jedoch weniger diachron motiviert, sondern dient dazu, die bei dieser Konstruktion offensichtlich auftretende morphologische Anomalie (Infinitiv anstelle eines erwartbaren Partizips) zu erklären: Als tempusbildendes Auxiliar regiert haben niemals einen Infinitiv. Das größte Problem für diesen Erklärungsansatz liegt darin, dass sich die ersten sicheren Belege für den Ersatzinfinitiv ausgerechnet bei Verben finden, die klar unterscheidbare (d.h. vom Infinitiv verschiedene) Partizipialformen haben. Kurrelmeyer (1910) zufolge sind es eben nicht lâzen, sondern heizen und sehen, die als erste Verben mit dem Ersatzinfinitiv auftreten, und bei diesen Verben besteht keine Verwechslungsgefahr, da ihr Partizip morphologisch klar distinkt ist. Das Hauptproblem dieses Ansatzes kann darin gesehen werden, dass er die distributionellen Bedingungen nicht erklären kann: Der Ersatzinfinitiv ist (zumindest im heutigen Standarddeutschen) <?page no="191"?> Erklärungen zum Ursprung des Ersatzinfinitivs 191 nur dann zu finden, wenn das IPP-Verb mit einem von ihm abhängigen Verb auftritt. Der zweite wichtige Erklärungsansatz zum Ersatzinfinitiv sieht in dieser Erscheinung einen „echten Infinitiv“. Diese Position wurde zuerst von Erdmann (1886) vertreten und hatte in der Folgezeit verschiedene Anhänger. Eine Begründung für seine Sichtweise führt Erdmann (1886: 110) aus der Sprachverarbeitungsperspektive ins Feld (auch wenn diese nach heutigen psycholinguistischen Standards als etwas vage bezeichnet werden muss): Ihm zufolge hat „eine wirkliche Ausgleichung, Assimilation der Formen stattgefunden“, die durch die geistige Vorwegnahme des eingebetteten Infinitivs, vielleicht auch durch die Wirkung anderer zusammengesetzter Infinitivformen (z.B. das Futur oder Modalverbkonstruktionen wie ich möchte ihn sehen) befördert wurde. Dal (1971) bietet eine alternative Erklärung dafür an, dass der Infinitiv anstelle des Partizips in Verwendung kam: Sie nimmt einen Synkretismus zwischen diesen beiden Formen an, der sowohl morphosyntaktisch als auch semantisch motiviert ist und zu Schwierigkeiten bei der Eingliederung von Doppelinfinitiven (lesen müssen, schreien hören) in die neu entstandenen periphrastischen Perfektformen führt (vgl. Dal 1971: 196). Nicht nur traten in älteren Sprachstufen des Deutschen wie dem Mittelhochdeutschen sogenannte „präfigierte Infinitive“ auf, und zwar vor allem in Abhängigkeit von Modalverben (z.B. sol getrinken ‘soll/ wird trinken’) und einer Reihe weiterer Verben (vgl. Solms 1991) - es sind dies interessanterweise gerade jene Verben, die auch für den Ersatzinfinitiv anfällig sind, also z.B. lâzen, heizen, helfen, hœren, sehen. Diese Verwendung findet sich auch noch in manchen deutschen Dialekten wie beispielsweise dem Osthessischen: Das will ich gemach (Friebertshäuser 1987: 93) das will ich machen Nach Dal (1971) führt Unsicherheit im Gebrauch, nicht jedoch Reanalyse (wie dies der Partizip-Ansatz annimmt), zur Verwendung des Infinitivs anstelle eines Partizips (vgl. ich hân gesehen ‘ich habe gesehen’ gegenüber ich mac gesehen, wörtl. ‘ich will gesehen’), genauso wie der spiegelbildliche Fall eintreten kann, d.h. eine Auflösung in Richtung des sogenannten „PPI“, das bereits oben mit Beispielen illustriert wurde. Einen ähnlichen Synkretismus zwischen dem ursprünglichen „perfektivierenden“ Präfix gebeim Infinitiv bzw. dem Partizip sieht Dal (1971: 206) bei Formen wie er kam gelaufen; den Ausgangspunkt bildeten Minimalpaare wie beispielsweise ahd. si wārun gifaran ‘sie waren gefahren’ : sie quāmun gifaran ‘sie kamen gefahren’, bei denen man „keinen Bedeutungsunterschied zwischen den Verbalnomina empfunden haben [wird]“. Dazu mag auch beigetragen haben, dass im Althochdeutschen das Partizip bei telischen Verben - das sind Verben wie z.B. erwachen oder finden, die Ereignisse mit einer inhärenten Grenze beschreiben - auch ohne Präfix gegebildet werden konnte (z.B. ahd. Infinitiv findan - Partizip II funtan). Die jüngste Arbeit zu diesem Thema ist Gaeta (2010), der in der erst mit Ende der althochdeutschen Periode abgeschlossenen Grammatikalisierung des Perfekts (siehe dazu Kapitel 8.1) den Auslöser für die Entwicklung sieht. Demnach hat die anfängliche semantische Unverträglichkeit von <?page no="192"?> Der Ersatzinfinitiv 192 Perzeptionsverben und Kausativen, den beiden am frühesten mit dem Ersatzinfinitiv belegten Verbklassen, mit dem Präfix gedazu geführt, dass der Infinitiv als Ausweichform gewählt wurde. Auch neuere Arbeiten im Rahmen der Grammatiktheorie wie beispielsweise Schmid (2005) übernehmen die Ansicht, dass der Ersatzinfinitiv wirklich das ist, was seine Bezeichnung nahelegt, und sie modellieren die offensichtliche Selektionsverletzung (Infinitiv statt erwartbarem Partizip II) als „Reparaturphänomen“, das durch konfligierende, aber verletzbare Beschränkungen bedingt ist, wie sie in der Optimalitätstheorie angenommen werden. Die beiden relevanten Bedingungen bei Schmid (2005: 111, 118) lassen sich in vereinfachter Form folgendermaßen wiedergeben: • Beschränkung A: Morphologische Anforderungen des einbettenden Verbs müssen erfüllt werden. • Beschränkung B: Ein Partizip II darf kein Verb einbetten, das im Infinitiv steht. Der Ersatzinfinitiv (IPP) und auch das Ersatzpartizip (PPI) sind vor diesem Hintergrund zwei alternative Strategien, um Beschränkung B zu erfüllen, wie dies schematisch in den Beispielen unten illustriert ist. In beiden Fällen geht diese Reparatur aber auf Kosten von Beschränkung A, d.h. in beiden Typen ist die Beschränkung B wichtiger bzw. höher geordnet (vgl. Schmid 2005: 119). [A erfüllt; B verletzt]: Ich habe das Buch lesen gewollt [Partizip II] [A verletzt; B erfüllt]: Ich habe das Buch lesen wollen [IPP] [A verletzt; B erfüllt]: Ich habe das Buch gelesen gewollt [PPI] Sowohl lesen wollen als auch gelesen gewollt sind unter Beschränkung B zulässig. Der erste Typ, IPP, erfüllt diese quasi durch Umgehung: Wegen des Ersatzinfinitivs ist kein mit Partizipialmorphologie versehenes Verb mehr vorhanden, und somit ist die Einbettung der Infinitivform lesen zulässig. Der zweite Typ, PPI, erfüllt die Beschränkung B dadurch, dass die Partizipialmorphologie nicht am regierenden, sondern am regierten Verb realisiert wird. Im vorangehenden Abschnitt haben wir allerdings auch Belege für den Typ haben … lesen gewollt kennengelernt, und zwar sowohl aus älteren Sprachstufen als auch aus modernen Dialekten. Hier könnte man den Überlegungen Schmids folgend davon ausgehen, dass die Beschränkung A wichtiger ist und daher Beschränkung B aussticht. Zur Hypothese einer Reparaturform passen auch die in Abschnitt 10.3.1 angeführten „hybriden Formen“ aus dem Dialekt von Oberschwöditz, die von Höhle (2006) diskutiert werden (z.B. ij håwe musd gi: e ‘ich habe müssen gehen’) und welche nur in Ersatzinfinitiv-Kontexten auftreten, d.h. wenn das IPP-Verb ein weiteres Verb einbettet; andernfalls tritt das reguläre Partizip bzw. der reguläre Infinitiv auf. Sehr gut lässt sich dieser Kontrast bei dem bereits oben angeführten Verb sehen erkennen, das in diesem Dialekt in Ersatzinfinitiv-Kontexten sa: d lautet, dessen reguläres Partizip aber gesa: n ist: <?page no="193"?> Literaturhinweise 193 hud rnij sa: d lo: fe (reguläres Partizip: gesa: n) (Höhle 2006: 58) habt=ihr=ihn=nicht gesaht laufen ‘habt ihr ihn nicht laufen sehen? ’ Ein weiterer Grund für das Auftreten des Ersatzinfinitivs (d.h. einer morphologisch nicht erwartbaren Verbform), der in der theoretischen Diskussion öfter vorgebracht wird (z.B. Haider 2010a: 288), könnte in der Umstellung des (finiten) Auxiliars an die Spitze der rechten Satzklammer liegen, die dazu führt, dass das direkt abhängige Verb nicht mehr von diesem „gefunden“ werden kann: Ob er den Mond aufgehen gesehen hat? Ob er den Mond hat aufgehen sehen/ *gesehen? Diese Generalisierung mag mit Blick auf die Standardsprache durchaus ihren Sinn haben, mit Blick auf die dialektalen, besonders aber die historischen Daten ist sie aber wenig überzeugend. Erstens tritt der Ersatzinfinitiv auch mit Abfolgen auf, in denen sich das Auxiliar in unmittelbarer Nachbarschaft zum IPP-Verb befindet, d.h. beispielsweise mit der Abfolge 1-2-3 oder 3-2-1. Zweitens ist, wie wir gesehen haben, gerade die 1-3-2-Abfolge deutlich jünger als die anderen bei dieser Konstruktion zu findenden Stellungsvarianten. Literaturhinweise Zur historischen Entwicklung des Ersatzinfinitivs gibt es außer verstreuten Angaben in Sprachstufengrammatiken oder traditionellen historisch orientierten Darstellungen wie Erdmann (1886) oder Behaghel (1924) einen neueren Überblicksartikel von Eroms (2006), der leider nicht sehr leicht zugänglich ist; die jüngste Arbeit zu diesem Thema ist Gaeta (2010), der eine alternative Erklärung für die Entstehung des Ersatzinfinitivs vorschlägt. Zahlreiche interessante Belege zu IPP in der Sprachgeschichte des Deutschen finden sich allerdings in den Arbeiten von Kurrelmeyer (1910) und Biener (1932). Gute Überblicksdarstellungen zum heutigen Deutschen sind Askedal (1991) und Eisenberg et al. (2001). Eine umfangreiche und theoretisch anspruchsvolle Analyse zum Auftreten von IPP und der dabei zu beobachtenden Stellungsvariation in verschiedenen modernen Dialekten des Deutschen und Niederländischen findet sich bei Schmid (2005). Da sich Schmids Arbeit im Rahmen der Optimalitätstheorie (vgl. Kapitel 18) bewegt, ist eine gewisse Vertrautheit mit diesem Modell erforderlich. <?page no="195"?> 11 Die Entwicklung des Subjektpronomens In der neuhochdeutschen Standardsprache müssen Sätze, in denen das Subjekt nicht beispielsweise von einer Nominalphrase mit einem Substantiv als Kern realisiert wird, über ein pronominales Subjekt verfügen. In älteren Sprachstufen und auch in modernen deutschen Dialekten verhält sich dies dagegen teilweise anders. Im Folgenden wird zunächst allgemein auf das Setzen oder Nicht-Setzen des Subjektpronomens eingegangen und die hier verwendete Terminologie eingeführt (11.1). Danach wird die Situation im älteren Althochdeutschen ausführlich diskutiert. Dabei zeigt sich, dass trotz möglicher Beeinflussungen aus dem Latein oder - bei dichterischen Texten - durch das Metrum interessante Distributionen auftreten (11.2). Sodann geht es um das Subjektpronomen in den jüngeren Sprachstufen und in den modernen Dialekten (11.3). Schließlich werden mögliche Erklärungen für die weitgehende Obligatorizität des Subjektpronomens in den jüngeren Sprachstufen besprochen (11.4). 11.1 Gesetztes und nicht gesetztes Subjektpronomen In der neuhochdeutschen Standardsprache müssen Sätze in der überwiegenden Zahl der Fälle obligatorisch über ein Subjekt verfügen. Wenn das Subjekt durch ein Substantiv realisiert wird, d.h. durch eine sogenannte „volle Nominalphrase“, die über eine eigene lexikalische Bedeutung verfügt, ist dies unproblematisch (der Mann liest). Wird das Subjekt dagegen nicht durch ein Substantiv bzw. eine Nominalphrase mit einem Substantiv als Kern realisiert, muss stattdessen ein pronominales Subjekt, in der Regel ein Personalpronomen, auftreten (er liest). Ein Fehlen des Pronomens führt im Deutschen zu einem ungrammatischen Satz (*liest). Eine systematische Ausnahme dazu bilden allerdings beispielsweise Imperativsätze, in denen das Subjekt meist fehlt (Komm! ), allerdings auch gesetzt werden kann (Gib du mir das Buch! ), oder unpersönliche Passive (heute wird getanzt; vgl. 12.3). Doch gilt, von diesen systematischen Ausnahmen abgesehen, dass Sätze im Deutschen ein Subjekt aufweisen müssen. Anders als etwa im Deutschen besteht in vielen Sprachen der Welt die Möglichkeit, dass das Subjekt fehlen kann. Man spricht dann häufig davon, dass das Subjekt nicht „overt“ (wörtlich: „offen“) realisiert wird. Vor allem in der generativen Literatur werden solche Sprachen als „Pro-drop-Sprachen“ bezeichnet: Das Subjektpronomen wird „weggelassen“ (engl. to drop). In manchen Pro-drop-Sprachen werden die Eigenschaften des Subjekts in Bezug auf Person und Numerus zwar nicht durch ein eigenes Pronomen ausgedrückt, sie können aber aus der Verbalendung ersehen werden. In anderen Pro-drop-Sprachen ist allerdings nicht einmal das der Fall: Im Japanischen und Koreanischen etwa gibt es keine Flexion des Verbs nach Numerus und Person, dennoch sind Japanisch und Koreanisch Pro-drop-Sprachen (vgl. Corbett 2006: 107). <?page no="196"?> Die Entwicklung des Subjektpronomens 196 Die folgenden Beispiele illustrieren das Fehlen bzw. das Vorhandensein von Subjektpronomen anhand des Italienischen und Deutschen: Im Italienischen kann das Subjektpronomen weggelassen werden (es wird in der Regel nur dann gesetzt, wenn es besonders hervorgehoben wird), im Deutschen darf es dagegen nicht fehlen. In den Beispielen dieses Kapitels wird das fehlende Subjektpronomen jeweils durch ‘Ø’ verdeutlicht. Durch dieses Symbol (das für die Null steht) wird die Position bezeichnet, in der das Subjektpronomen auftreten könnte, aber nicht auftritt. In der generativen Literatur wird stattdessen häufig ein kleines ‘pro’ verwendet. io/ Ø am-o questo libro ich/ Ø lieb-1. SG . IND . PRÄS dieses Buch ‘ich liebe dieses Buch’ ich/ *Ø liebe dieses Buch Wie diese Beispiele zeigen, handelt es sich beim Italienischen um eine klassische „Pro-drop-Sprache“, beim Deutschen dagegen nicht. Obwohl allerdings das Deutsche keine Pro-drop-Sprache ist, kommen auch im Deutschen Strukturen vor, bei denen das Subjekt nicht overt realisiert wird. Bereits hingewiesen wurde auf den Imperativ und das unpersönliche Passiv. Kein Pro-drop liegt auch dann vor, wenn beispielsweise bei Koordination das Subjektpronomen beim zweiten Konjunkt unter bestimmten Bedingungen weglassbar ist (entsprechende Beispiele sind im Neuhochdeutschen gang und gäbe, etwa er kommt und Ø geht). Doch auch über diese Konstruktionen hinaus kann das Subjektpronomen im Neuhochdeutschen in gewissen, beschränkten Kontexten, in bestimmten Textsorten weggelassen werden. Dies ist etwa für das Pronomen der 1. Person Singular und Plural in Briefen bzw. E-Mails der Fall: Lieber Hans, Ø habe schon lange nichts mehr von mir hören lassen, aber es geht mir gut! Im Deutschen scheint bereits für das 16. Jh. das Wegfallen des Pronomens in Briefen typisch zu sein, und zwar dort besonders häufig in Schlussformeln wie befehle mich hiemit etc. Nach Held (1903: 128) ist in Luthers Briefen das Fehlen des Subjektpronomens besonders häufig. Dies hängt vielleicht mit Strategien der Höflichkeit zusammen (es ist in der Regel das Pronomen des Absenders, das weggelassen wird), doch könnte ein Zusammenhang mit dem folgenden Phänomen bestehen. Auch außerhalb bestimmter Textsorten kann im Deutschen, zumindest in der gesprochenen Sprache, das Subjektpronomen unter gewissen pragmatischen Bedingungen weggelassen werden. Die folgende Frage-Antwort-Sequenz illustriert dies: Was ist mit Hans? - Ø ist heute noch nicht erschienen. <?page no="197"?> Gesetztes und nicht gesetztes Subjektpronomen 197 Diese Weglassbarkeit betrifft allerdings nur das Vorfeld. Wenn das Vorfeld durch eine andere Konstituente als das Subjekt besetzt ist, darf im Mittelfeld das Subjektpronomen nicht fehlen: Was ist mit Hans? - *Heute ist Ø noch nicht erschienen. Im Vorfeld (aber nicht im Mittelfeld) können auch pronominale Objekte oder andere pronominale oder deiktische Konstituenten weggelassen werden. Das folgende Beispiel illustriert dies für ein direktes Objekt. Auch hier gilt, dass das direkte Objekt nur im Vorfeld entfallen kann, nicht jedoch im Mittelfeld: Was ist mit Hans? - Ø habe ich heute noch nicht gesehen. Was ist mit Hans? - *Ich habe Ø heute noch nicht gesehen. Man geht deshalb davon aus, dass die Weglassbarkeit des Subjekts und direkten Objekts (bzw. anderer Konstituenten; vgl. zu diesem Phänomen Fries 1988, Zifonun et al. 1997: 632-637) damit zu tun hat, dass die entsprechenden Konstituenten, wenn sie realisiert würden, im Vorfeld aufträten. Im Vorfeld stehen in der Regel Konstituenten, die „topikalisiert“ sind. Der Begriff „Topik“ (engl. topic; dafür wird häufig synonym auch „Thema“ verwendet) stammt aus der Pragmatik und bedeutet, dass die durch eine oder mehrere Konstituente(n) transportierte Information bereits bekannt ist. Die neue Information wird dagegen als „Kommentar“ (bzw. „Rhema“; engl.: comment) bezeichnet. Man spricht bei den durch die oben angeführten Beispiele repräsentierten Strukturen häufig vom „Null-Topik“ (engl. z.T. topic-drop). Dass es sich um topikalisierte, d.h. besonders hervorgehobene Konstituenten handelt, geht nicht nur daraus hervor, dass sie im Vorfeld stehen (bzw. eben fehlen). Es kann auch daraus ersehen werden, dass statt eines Personalpronomens eher ein Demonstrativpronomen auftritt, wenn die topikalisierte Konstituente realisiert wird: Was ist mit Hans? - Der (eher nicht: er) ist heute noch nicht gekommen. Was ist mit Hans? - Den (eher nicht: ihn) habe ich heute noch nicht gesehen Im Neuhochdeutschen ist die Weglassbarkeit des Subjektpronomens also an bestimmte, relativ strikte Bedingungen geknüpft. Viele Fälle von fehlenden pronominalen Subjekten sind Beispiele für das Null-Topik. Entsprechend handelt es sich beim Neuhochdeutschen um eine „Topic-drop-Sprache“, nicht aber um eine Pro-drop-Sprache. Für die älteren Sprachstufen des Deutschen gilt es darauf zu achten, in welchen Positionen und unter welchen Bedingungen ein pronominales Subjekt fehlen kann: Handelt es sich bei älteren Sprachstufen um Pro-drop-Sprachen, oder kann das (im Vergleich zum Neuhochdeutschen häufigere) Fehlen des Subjektpronomens anders erklärt werden? <?page no="198"?> Die Entwicklung des Subjektpronomens 198 11.2 Althochdeutsch Das (fehlende) Subjektpronomen im Althochdeutschen wurde bereits in anderen Zusammenhängen für zwei Texte, Tatian und Otfrids Evangelienbuch, in methodologischer Hinsicht diskutiert. Im Althochdeutschen finden sich nicht selten Beispiele für fehlendes Sujektpronomen, allerdings stellt sich die Frage, wie dies zu interpretieren ist: Beim althochdeutschen Tatian wurde das Fehlen des Subjektpronomens häufig mit der Tatsache in Verbindung gebracht, dass es auch im lateinischen Text meist fehlt (Latein ist wie Italienisch eine klassische Pro-drop- Sprache). Es könnte also eventuell bloß eine lateinische Struktur nachgeahmt werden und somit keine authentische althochdeutsche Struktur vorliegen. Interessant ist dabei allerdings, dass im althochdeutschen Tatian das Subjektpronomen nicht selten gegen den lateinischen Text gesetzt wird (vgl. 2.2.2). Bei Otfrid dagegen wurde das fehlende Subjektpronomen mit metrischen Erfordernissen in Beziehung gebracht: Das Subjektpronomen besteht meist aus einer Silbe; wenn diese weggelassen wird, kann unter Umständen das Metrum besser erfüllt werden (vgl. 3.2.2). Jedoch zeigt das Subjektpronomen auch bei Tatian und Otfrid bestimmte Regularitäten in seiner Distribution, sodass sein syntaktisches Verhalten über die gerade zitierten Erklärungen hinaus betrachtenswert erscheint. In den ältesten althochdeutschen Texten fehlt das Subjektpronomen relativ häufig. Die folgenden Ausschnitte zeigen jeweils zwei Beispiele für fehlendes Subjektpronomen im althochdeutschen Isidor sowie im althochdeutschen Tatian (in der Übersetzung werden die Subjektpronomen im Folgenden zur Verdeutlichung immer dann eingeklammert, wenn sie im althochdeutschen Text fehlen): Umbi dhazs selba quhad Ø auh in iobes boohhum: Spahida dhes gotliihhin fater huuanan findis Ø (Isidor 2,11-15) um dasselbe sprach Ø auch in Hiobs Büchern Weisheit des göttlichen Vaters woher findest Ø ‘über dasselbe sprach (er) auch im Buch Hiob: Die Weisheit des göttlichen Vaters, woher findest (du) sie? ’ lat.: Hinc est et illud in libro iob: sapientiam dei patris unde inuenies? Ø quad themo lamen thir quidu Ø arstant (Tatian 89,28-29) Ø sprach dem Lahmen dir sage Ø steh_auf ‘(er) sprach zu dem Lahmen: (Ich) sage dir: steh auf‘ lat.: ait paralytico. tibi dico surge Sowohl beim althochdeutschen Isidor als auch bei Tatian handelt es sich um Übersetzungstexte (der lateinische Text, der in beiden Fällen zusammen mit der althochdeutschen Übersetzung überliefert ist, wird deshalb ebenfalls angeführt). Wie aus den Belegen hervorgeht, fehlt das pronominale Subjekt jeweils auch im lateinischen Text. Man könnte diese Beispiele deshalb mit Verweis auf die Gegebenheiten der lateinischen Vorlage erklären. Ein Blick auf dieses Phänomen in anderen, nicht vom Latein beeinflussten Texten legt jedoch nahe, dass diese Erklärung zu kurz greift. <?page no="199"?> Althochdeutsch 199 Von besonderem Interesse ist zunächst, dass verschiedene althochdeutsche Texte sich in der Verbreitung des Subjektpronomens mitunter recht deutlich voneinander unterscheiden. Dies zeigt die folgende Übersicht über gesetztes bzw. fehlendes Subjektpronomen in einigen wichtigen althochdeutschen Denkmälern: Text mit Subj.pron. (%) ohne Subj.pron. (%) Isidor (vor 800) 146 (72 %) 56 (28 %) Monseer Fragmente (um 800) 121 (56 %) 97 (44 %) Tatian (vor 850) 2614 (60 %) 1055 (40 %) Otfrid (863-871) 4753 (89 %) 597 (11 %) Notker (†1022), Consolatio (1. Buch) 439 (99 %) 4 (1 %) Gesetztes und fehlendes Subjektpronomen in verschiedenen althochdeutschen Texten (Zahlen aus Eggenberger 1961: 128, 124-126, 84-85, 34-35, 71-72) Während beispielsweise bei Tatian das Subjektpronomen in 40 % der Fälle fehlt, beträgt dieser Anteil bei Otfrid nur 11 % und beim spätalthochdeutschen Notker gar nur 1 %. Auffallend ist für die älteren Texte, dass das Subjektpronomen besonders häufig in Übersetzungen fehlt, in autochthonen Texten (in der Tabelle repräsentiert durch Otfrids Evangelienbuch und die Altdeutschen Gespräche) dagegen häufiger ist. Als eines seiner zentralen Ergebnisse zum Subjektpronomen im Althochdeutschen hielt Eggenberger (1961: 167) deshalb fest, dass es nicht unbedingt die ältesten, sondern die „lateinischsten“ althochdeutschen Texte sind, in denen das Subjektpronomen fehlt. Es könnte sich hier also um den Fall einer lateinischen Struktur in der althochdeutschen Überlieferung handeln, was besonders bei Tatian mehrfach belegt ist (vgl. 2.2). Obwohl diese Erklärung auf den ersten Blick überzeugend scheint, lassen sich aber auch in den nicht-autochthonen Übersetzungstexten interessante Distributionseigenschaften des gesetzten oder nicht gesetzten Pronomens feststellen. Die folgende Textstelle aus Tatian ist gut geeignet, dies zu illustrieren: Hier tritt zweimal eine Form der 3. Person Singular auf, zunächst in einem Hauptsatz, dann in einem Nebensatz. Nur im Nebensatz findet sich ein Subjektpronomen, im Hauptsatz fehlt es (im lateinischen Text fehlt es in beiden Sätzen): inti after sehs tagon nam Ø p&rum inti iacobum inti iohannem sinan bruoder inti leitta sie in hohan berg suntringon thaz her betoti (Tatian 145,8-12) und nach sechs Tagen nahm Ø Petrus und Jakob und Johannes seinen Bruder und leitete sie in hohen Berg südlichen dass er betete ‘und nach sechs Tagen nahm (er) Petrus und Jakob und Johannes, seinen Bruder, und führte sie auf einen hohen südlichen Berg, damit er bete’ lat.: et post dies sex Ø assumpsit p&rum & iacobum & iohannem fratrem eius & ducit illos in montem excelsum seorsum ut Ø orar& In den althochdeutschen Denkmälern existiert beim Fehlen des Subjektpronomens eine deutliche Asymmetrie zwischen Haupt- und Nebensätzen. Die folgende Tabelle zeigt das Auftreten bzw. Fehlen des Subjektpronomens in den bereits oben angeführten althochdeutschen Texten, nun aber aufgeschlüsselt nach <?page no="200"?> Die Entwicklung des Subjektpronomens 200 Satztypen (hier werden der Raumersparnis halber nur noch die absoluten und relativen Zahlen für gesetztes Subjektpronomen angeführt): Hauptsatz Nebensatz Isidor (vor 800) 61 (56 %) 85 (91 %) Monseer Fragmente (um 800) 48 (36 %) 73 (85 %) Tatian (vor 850) 1434 (60 %) 1180 (92 %) Otfrid (863-871) 2532 (85 %) 2221 (93 %) Notker (†1022), Consolatio (1. Buch) 239 (98 %) 200 (100 %) Gesetztes Subjektpronomen in verschiedenen althochdeutschen Texten, aufgeschlüsselt nach Satztypen (Zahlen aus Eggenberger 1961: 128, 124-125, 84, 34, 71) Während die Anteile des gesetzten Subjektpronomens im Hauptsatz große Unterschiede aufweisen (von 36 % in den Monseer Fragmenten bis 85 % bei Otfrid), bieten die Nebensätze ein wesentlich einheitlicheres Bild: Hier beträgt der Anteil des gesetzten Subjektpronomens in allen Texten mit Ausnahme der Monseer Fragmente immer über 90 %, auch die Monseer Fragmente kommen mit 85 % diesem Wert recht nahe. Im Nebensatz scheint das Subjektpronomen also bereits nahezu obligatorisch zu sein, im Hauptsatz zeigt sich dagegen ein differenzierteres Bild: Im älteren Althochdeutschen bestand zumindest in Hauptsätzen noch die Möglichkeit, dass das Subjektpronomen nicht gesetzt wird. Für die Vorstufen des Althochdeutschen ist es sehr wahrscheinlich, dass es sich um Pro-drop-Sprachen handelte: Indogermanisch wird als Pro-drop-Sprache rekonstruiert, wie es etwa auch Latein, Altgriechisch oder Altindisch sind. Meist wird in analoger Weise auch für das Germanische davon ausgegangen, dass es sich um eine Pro-drop-Sprache handelte (vgl. Axel/ Weiß 2010: 15). Da allerdings das Germanische nicht direkt belegt ist, wird die Frage, ob die Pro-drop-Option in germanischer Zeit noch bestand oder bereits damals verloren ging, kaum je eine definitive Antwort finden. Die althochdeutschen Daten können jedenfalls dahingehend diachron interpretiert werden, dass sich das obligatorische Subjektpronomen zunächst im Nebensatz und erst später im Hauptsatz durchsetzte. In diesem Szenario könnte das älteste Althochdeutsche noch den letzten Überrest eines Sprachzustands repräsentieren, in welchem im Hauptsatz die Pro-drop- Option noch möglich, im Nebensatz dagegen bereits weitgehend verschwunden war. In bestimmten althochdeutschen Texten zeigt sich allerdings nicht nur ein Unterschied in Bezug auf den Satztyp: In Hauptsätzen weisen darüber hinaus verschiedene Personen beim Auftreten des Subjektpronomens ein unterschiedliches Verhalten auf. Dies zeigt die folgende Tabelle (berücksichtigt sind nur diejenigen der bereits genannten Texte, in denen die verschiedenen Personen in ausreichend großer Zahl belegt sind). Die gesetzten Pronomen in Hauptsätzen werden nach Personen aufgeschlüsselt (in Nebensätzen würden die Werte unabhängig von der Person in fast allen Fällen über 90 % betragen): <?page no="201"?> Althochdeutsch 201 Isidor Mons. Fragm. Tatian Otfrid 1. Sg. 36 (94 %) 10 (67 %) 415 (80 %) 426 (94 %) 2. Sg. 3 (60 %) 5 (63 %) 131 (61 %) 186 (78 %) 3. Sg. 15 (34 %) 12 (19 %) 394 (46 %) 1194 (87 %) 1. Pl. 2 (40 %) 2 (67 %) 62 (70 %) 144 (83 %) 2. Pl. 1 (100 %) 16 (62 %) 262 (86 %) 103 (81 %) 3. Pl. 4 (25 %) 3 (23 %) 170 (41 %) 479 (80 %) Gesetztes Subjektpronomen in althochdeutschen Hauptsätzen, aufgeschlüsselt nach verschiedenen Personen Bei Isidor, in den Monseer Fragmenten und bei Tatian sticht ins Auge, dass es jeweils vor allem die 3. Person (Singular und Plural) ist, in der das Subjektpronomen im Hauptsatz selten gesetzt wird: Die Werte für gesetztes Pronomen liegen zwischen 19 % und 46 % bei der 3. Person Singular bzw. zwischen 23 % und 41 % bei der 3. Person Plural. In den übrigen Personen liegt dieser Wert dagegen höher, und zwar in der Regel deutlich über 50 % (eine Ausnahme davon bildet nur die 1. Person Plural in Isidor, vgl. dazu aber 11.4). Der folgende Textausschnitt aus dem althochdeutschen Tatian ist somit charakteristisch für die Distribution: Zunächst fehlt das Subjektpronomen zweimal bei einer 3. Person Singular, wird dann aber bei einer 1. Person Singular zweimal gesetzt (einmal davon allerdings in einem Nebensatz). Im lateinischen Text fehlt es dagegen immer: Ø quam in thero menigi after Inti biruorta tradon sines giuuates Ø quad thó innan iru oba ih sín giuuati birinu thanne uuirdu ih heil (Tatian 95,8-12) Ø kam in der Menge zurück und berührte Saum seines Gewandes Ø sprach da in ihr wenn ich sein Gewand berühre dann werde ich gesund ‘(Sie) kam in der Menge zurück und berührte den Saum seines Gewandes. (Sie) sprach da zu sich selbst (wörtl.: in ihr selbst): Wenn ich sein Gewand berühre, denn werde ich gesund.’ lat.: Ø uenit in turba r&ro.’ & t&tigit fimbriam uestimenti eius; Ø dicebat enim intra se.’ quodsi Ø uel uestimentum eius t&igero Ø salua ero Bei Otfrid zeigt sich dagegen kein Unterschied: Die Werte für das gesetzte Subjektpronomen liegen in allen Personen meist deutlich über 75 %, die 3. Person Singular bzw. Plural weist dabei mit 87 % bzw. 80 % nicht die niedrigsten Werte auf. Wie können diese Muster interpretiert werden? Eine Möglichkeit besteht darin, dass die 3. Person im älteren Althochdeutschen (d.h. bis und mit Tatian) tatsächlich noch regelmäßig ohne Subjektpronomen verwendet wurde, im jüngeren Althochdeutschen (d.h. ab Otfrid) dagegen nicht mehr. Es ist aus anderen Sprachen bekannt, dass das Subjektpronomen in bestimmten Personen gesetzt werden muss, in anderen dagegen nicht obligatorisch ist, man bezeichnet eine solche Verteilung häufig als „partielles Pro-Drop“. Das moderne Hebräisch (Ivrit) beispielsweise zeigt - neben der Beschränkung, dass das Pronomen nur in be- <?page no="202"?> Die Entwicklung des Subjektpronomens 202 stimmten Zeiten fehlen darf - eine zum älteren Althochdeutschen geradezu spiegelbildliche Verteilung: Pro-Drop in Hauptsätzen ist nur in der 1. und 2. Person möglich (vgl. Borer 1989: 93). Beim älteren Althochdeutsch könnte es sich also um eine partielle Pro-drop-Sprache gehandelt haben. Eine alternative Erklärung setzt dagegen bei den Textsorten an: Bei Isidor, den Monseer Fragmenten und Tatian handelt es sich jeweils um Übersetzungen, die dem lateinischen Text teilweise sehr eng folgen, bei Otfrid dagegen um einen autochthonen althochdeutschen Text. Es könnte sein, dass dieser Faktor für die Verteilung des Subjektpronomens in der althochdeutschen Überlieferung ausschlaggebend ist. Gemäß dieser Interpretation liegt beim fehlenden Subjektpronomen eine Übernahme aus dem Latein vor, die nicht unbedingt eine genuin althochdeutsche sprachliche Struktur darstellt. Allerdings kann diese Interpretation nicht erklären, weshalb die Übersetzer einen Unterschied zwischen 1./ 2. und 3. Person (und auch zwischen Haupt- und Nebensätzen) gemacht haben, wenn es doch darum ging, die lateinischen Strukturen möglichst eins zu eins ins Althochdeutsche zu übernehmen. Unbestreitbar ist allerdings für das ältere Althochdeutsche, dass das fehlende Subjektpronomen klare Distributionen aufweist, und zwar einerseits in Bezug auf den Satztyp (das fehlende Subjektpronomen tritt fast nur im Hauptsatz auf), andererseits auch in Bezug auf die Person. In Hauptsätzen, in denen das Subjekt fehlt, ist zudem auffällig, dass das Vorfeld häufig anderweitig besetzt ist, d.h. dass das Subjekt in einer Position nach dem flektierten Verb fehlt. Die klaren Distributionen, vor allem der auffällige Unterschied zwischen Haupt- und Nebensätzen, der beispielsweise auch bei Otfrid auftritt, können als Anlass genommen werden, die althochdeutschen Daten trotz gewisser Bedenken hinsichtlich ihrer Authentizität ernst zu nehmen und Erklärungen zu hinterfragen, die nur mit Übersetzungssyntax argumentieren (vgl. Axel 2005: 36-37). 11.3 Jüngere Sprachstufen und moderne Dialekte Bereits in spätalthochdeutscher Zeit wird das Subjektpronomen in der überwiegenden Zahl der Fälle gesetzt, und dies scheint auch für die jüngeren Sprachstufen zu gelten. Allerdings sind die Sprachstufen ab dem Mittelhochdeutschen (und insbesondere das Mittelhochdeutsche selbst) diesbezüglich wesentlich schlechter untersucht als das Althochdeutsche, und die Datenlage ist auch nicht ganz eindeutig. Die bisher einzige umfassende empirische Untersuchung ist die Monographie von Held (1903). In mittelhochdeutschen dichterischen Texten fehlt das Subjektpronomen nach Held (1903: 105) praktisch nie. Demgegenüber sind Belege ohne Subjektpronomen in frühneuhochdeutschen Texten des 16. Jahrhunderts wieder etwas häufiger (vgl. Held 1903: 107-108). Nach Ebert et al. (1993: 345 = § S 56) entfällt das Subjektpronomen in bestimmten Textsorten (Poesie, Drama, Dialog, Briefstil) besonders oft. Bei diesem Befund stellt sich die Frage, ob und inwieweit eine historische Kontinuität zwischen den althochdeutschen und den jüngeren Daten besteht. Nach Held (1903) ist fehlendes Subjektpronomen grundsätzlich eine Erscheinung, die für die gesprochene Sprache typisch ist. Die Tatsache, dass das <?page no="203"?> Jüngere Sprachstufen und moderne Dialekte 203 Subjektpronomen in den klassischen mittelhochdeutschen Texten praktisch nie fehlt, erklärt Held (1903) dadurch, dass die entsprechenden Textgattungen hochgradig stilisiert und von der gesprochenen Sprache weit entfernt sind. Dagegen wird das in frühneuhochdeutscher Zeit wiederum häufigere Fehlen des Subjektpronomens darauf zurückgeführt, dass sich in den überlieferten Texten eher Einfluss der gesprochenen Sprache manifestieren kann (vgl. Held 1903: 113). Den Angaben bei Held (1903: 129) und Ebert et al. (1993: 345 = § S 57) zufolge fehlt das Pronomen in frühneuhochdeutscher Zeit besonders häufig in der 2. Person Singular. Die folgenden Beispiele stammen aus einem Fastnachtspiel von Hans Sachs (1494-1576) und aus Reichstagsakten aus der Zeit Karls V. (Regierungszeit 1519-1556): weist Ø nit? (zit. n. Held 1903: 134) ‘weißt (du) nicht? ‘ alsdann wöllest Ø dein botschaft … gen Nürmberg … schicken (Reichtagsakten, zit. n. Ebert et al. 1993: 345 = § S 57) ‘dann mögest (du) deine Botschaft nach Nürnberg schicken’ Für die modernen Dialekte sind die Bedingungen, unter denen das Subjektpronomen fehlen kann, vergleichsweise gut erforscht. Gegenüber dem Althochdeutschen haben zwei Veränderungen stattgefunden: Einerseits entfällt das Pronomen in Hauptwie Nebensätzen gleichermaßen, andererseits ist fehlendes Pronomen nur bei bestimmten Personen möglich, und zwar meist nur bei der 2. Person Singular (wesentlich seltener in anderen Personen, beispielsweise in gewissen bairischen Dialekten auch bei der 2. Person Plural). Gegenüber dem Althochdeutschen, wo eine klare Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebensätzen beobachtet werden kann und die 3. Person (Singular und Plural) eine besondere Affinität zum Fehlen des Subjektpronomens zeigt, hat sich die Distribution also markant verändert. Die folgenden Beispiele illustrieren fehlendes Subjektpronomen in der 2. Person Singular für einen bairischen und einen hochalemannischen (schweizerdeutschen) Dialekt, im einen Fall anhand eines Haupt-, im anderen Fall anhand eines Nebensatzes: moang bisd Ø wieda gsund (Axel/ Weiß 2010: 16) morgen bist Ø wieder gesund ‘morgen bist (du) wieder gesund‘ Ich glaub nöd, dass Ø gäge de Peter chasch güne (Cooper 1995: 60) ich glaube nicht, dass Ø gegen den Peter kannst gewinnen ‘Ich glaube nicht, dass (du) gegen Peter gewinnen kannst’ Es stellt sich die Frage, inwieweit diese dialektalen Belege für fehlendes Subjektpronomen in einer historischen Kontinuität zu den älteren Sprachstufen stehen. Dass bereits in frühneuhochdeutscher Zeit den Angaben von Held (1903: 129) und Ebert et al. (1993: 345 = § S 57) zufolge das Subjektpronomen besonders häufig in <?page no="204"?> Die Entwicklung des Subjektpronomens 204 der 2. Person Singular fehlt, könnte jedenfalls darauf hindeuten, dass eine ähnliche Distribution vorliegt wie in den modernen deutschen Dialekten. Unter den modernen Dialekten scheint das fehlende Subjektpronomen in der 2. Person Singular vor allem für den Süden und das Zentrum des deutschen Sprachgebiets typisch zu sein (die oben angeführten Beispiele stammen aus dem Bairischen und Alemannischen, also aus den südlichsten Dialektgebieten des Deutschen). Dies legt unter anderem eine Auswertung der Wenker-Materialien (vgl. 8.2.3, Fußnote 18) nahe. In der schriftsprachlichen Vorlage „Wo gehst du hin? “ (Wenkersatz 12) steht ein Subjektpronomen, viele Informanten haben bei der dialektalen Wiedergabe jedoch darauf verzichtet. Das zeigen etwa die folgenden Beispiele von dialektalen Wiedergaben dieses Wenkersatzes: 23 Wo gasch Ø hi (45529 Riedikon [Zürich; hochalem.]; ‘Ø’ ergänzt) Wo gehst Ø hin ‘Wo gehst du hin? ’ Wo göscht hin (43021 Ehrwald [Tirol; südbair.]; ‘Ø’ ergänzt) Wo gehst Ø hin ‘Wo gehst du hin? ’ Die areale Verbreitung von Pro-Drop in der 2. Person Singular, wie sie aus den dialektalen Übersetzungen von Wenkersatz 12 hervorgeht, illustriert die folgende Karte: Das Subjektpronomen (symbolisiert durch schwarze Punkte) entfällt vor allem im Süden und im Zentrum des Sprachgebiets, allerdings finden sich auch vereinzelte Belege („Streubelege“) im Norden des Sprachgebiets. In der Zusammenschau stellt sich die Situation zum gesetzten bzw. fehlenden Subjektpronomen in den jüngeren Sprachstufen und in den modernen Dialekten folgendermaßen dar: In frühneuhochdeutschen und älteren neuhochdeutschen Texten sowie in modernen Dialekten finden sich nach wie vor Beispiele für fehlendes Subjektpronomen. Anders als im älteren Althochdeutschen spielt die Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebensätzen aber keine Rolle mehr. Dagegen zeigen sich auch in den modernen Beispielen Unterschiede zwischen den verschiedenen Personen, jedoch in einer ziemlich anderen Form: Während es im älteren Althochdeutschen vor allem die 3. Person Singular und Plural (in Hauptsätzen) ist, die sich durch häufiges Fehlen des Subjektpronomens auszeichnet, ist es in den modernen Dialekten vor allem die 2. Person Singular. Bereits im Frühneuhochdeutschen fehlt bevorzugt die 2. Person Singular. Angesichts dieses Befundes stellt sich die Frage, inwieweit die althochdeutschen und die modernen Fälle von Pro-Drop trotz deutlicher Unterschiede in der Distribution zueinander in Bezug gesetzt werden können. Tatsächlich gibt es gewisse Indizien dafür, dass ein Konnex zwischen den verschiedenen Fällen von fehlendem Subjektpronomen besteht. ________ 23 Die Wenkerformulare werden anhand einer fünf- oder sechsstelligen laufenden Nummer und anhand des Ortsnamens zitiert. <?page no="206"?> Die Entwicklung des Subjektpronomens 206 11.4 Zur Erklärung der Obligatorizität des Subjektpronomens Die zunehmende Obligatorizität des Subjektpronomens in der deutschen Sprachgeschichte wurde in der Vergangenheit meist damit erklärt, dass die Distinktivität der verbalen Endungen in der Entwicklung des Deutschen zunehmend geringer wurde. Diese Erklärung wurde auch für die Entwicklung des obligatorischen Subjektpronomens in anderen indogermanischen Sprachen vorgeschlagen; sie wird im Folgenden zunächst anhand der Entwicklung im Französischen dargestellt. Während im Latein und in vielen romanischen Tochtersprachen, unter anderem im Italienischen, die verschiedenen Personen über unterschiedliche Endungen verfügen, ist dies im modernen Französischen meist nur noch bei der 1. und 2. Person Plural der Fall. Dies zeigt die folgende Tabelle, in der die Formen des Indikativ Präsens des Verbs ‘singen’ einander gegenübergestellt werden. Die Tatsache, dass im Französischen viele Formen homonym sind, wird allerdings durch die konservative Orthographie verunklart. In der Tabelle wird deshalb beim Französischen neben der orthographischen Form auch die phonetische Realisierung in [eckigen Klammern] angeführt; die homonymen Formen sind grau hinterlegt: Latein Italienisch Französisch Sg. 1. cantō canto chante [ ʃɑ̃t ] 2. cantās canti chantes [ ʃɑ̃t ] 3. cantat canta chante [ ʃɑ̃t ] Pl. 1. cantāmus cantiamo chantons [ ʃɑ̃tɔ̃ ] 2. cantātis cantate chantez [ ʃɑ̃te ] 3. cantant cantano chantent [ ʃɑ̃t ] Einer weit verbreiteten Erklärung zufolge wurde das Subjektpronomen im Französischen deshalb obligatorisch, weil die verbalen Endungen gegenüber dem Latein zu einem großen Teil zusammenfielen und sich somit die verschiedenen Personen nicht mehr genügend unterschieden (vgl. von Wartburg 1993: 256-257). Tatsächlich sind im Französischen vier der sechs Formen homonym. Wenn man außerdem berücksichtigt, dass im gesprochenen Französisch die 1. Person Plural nous ‘wir’ häufig durch das Pronomen der 3. Person Singular on ‘man‘ ersetzt wird, hebt sich nur noch eine Form von den anderen ab. Dagegen bestehen im Italienischen nach wie vor sechs distinkte Formen. Mit dem Erhalt bzw. dem Wegfall distinkter Endungen korreliert die Fakultativität bzw. Obligatorizität des Subjektpronomens: Italienisch mit seinen distinkten Endungen ist, wie bereits zu Beginn des Kapitels ausgeführt wurde, eine Pro-drop-Sprache; Französisch mit seinen vielen homonymen Endungen ist dagegen wie Deutsch eine Sprache, in der das Subjekt obligatorisch overt realisiert werden muss. Es scheint somit, dass im Französischen das obligatorisch gewordene Subjektpronomen sozusagen die Funktion der ehemals distinkten <?page no="207"?> Zur Erklärung der Obligatorizität des Subjektpronomens 207 Endungen übernommen hat, wogegen sich im Italienischen im Vergleich zum Latein (das ebenfalls eine Pro-drop-Sprache ist) nichts geändert hat. Auch für das Deutsche wurde eine zum französischen Fall analoge Erklärung vorgeschlagen: Gemäß dieser wurde das Subjektpronomen in der Geschichte des Deutschen ebenfalls dadurch obligatorisch, dass die verbalen Endungen sich immer weniger unterschieden (so z.B. Behaghel 1928: 442). Wie bereits in 6.5 aufgezeigt wurde, führte die sogenannte „Nebensilbenabschwächung“ dazu, dass die vollen Nebensilbenvokale des Althochdeutschen zum Zentralzungenvokal / ə / („Schwa“) zusammenfielen (dieser Vokal wird im Mittelhochdeutschen - wie im Neuhochdeutschen - meist mit dem Graphem <e> wiedergegeben). Diese Entwicklung beginnt schon in spätalthochdeutscher Zeit. Das folgende Schema (das gegenüber der Darstellung in 6.5 um das Spätalthochdeutsche erweitert ist) illustriert dies: ahd. suochi suoche suohta salbo suochu spätahd. suoche suoche suohta salbo suocho mhd. suoche suoche suohte salbe suoche Bedeutung ‘such! ’ (Imp. Sg.) ‘suche’ (3. Sg. Konj. Präs.) ‘suchte’ (1./ 3. Sg. Ind. Prät.) ‘salbe’ (1./ 3. Sg. Konj. Präs., Imp. Sg.) ‘suche’ (1. Sg. Ind. Präs.) Während im älteren Althochdeutschen noch fünf und im Spätalthochdeutschen immerhin noch drei distinkte Phoneme in den Nebensilben vorhanden sind (/ i/ - / e/ -/ a/ -/ o/ -/ u/ im älteren Althochdeutschen bzw. / e/ -/ a/ -/ o/ im Spätalthochdeutschen), tritt im Mittelhochdeutschen nur noch Schwa auf. Die Nebensilbenschwächung hatte zahlreiche morphologische Konsequenzen: So fielen aufgrund dieser Entwicklung beispielsweise bestimmte Kasusendungen und verbale Endungen zusammen. Dies zeigen drei der oben angeführten Formen des Verbs nhd. suchen: Die 1. Pers. Sg. Ind. Präs., die 3. Pers. Konj. Präs. und der Imp. Sg. weisen im Althochdeutschen noch distinkte Endungen auf (suochu - suoche - suochi), lauten aber im Mittelhochdeutschen alle gleich (suoche). Auch die folgende Gegenüberstellung von Formen des Verbs nhd. schreiben zeigt einen durch die Nebensilbenschwächung bedingten Zusammenfall: 3. Pl. Prät. Ind. 3. Pl. Prät. Konj. Ahd. scribun scribin Mhd. scriben Nhd. schrieben Im Mittelhochdeutschen sind die Formen des Indikativs und Konjunktivs bei diesem Verb aufgrund des Zusammenfalls von / u/ und / i/ zu / ə / homonym geworden, was unter anderem ein möglicher Auslöser dafür gewesen sein könnte, dass bei diesem Verb die würde-Form den Konjunktiv Präteritum häufig ersetzt: Statt der nicht distinkten Form sie schrieben (Konj.) wird zunehmend sie <?page no="208"?> Die Entwicklung des Subjektpronomens 208 würden schreiben verwendet (vgl. 8.5). An diesem Beispiel zeigt sich exemplarisch, wie eine phonologische Entwicklung Auswirkungen auf die Morphologie haben und diese dann wiederum syntaktische Veränderungen nach sich ziehen kann. Auf den ersten Blick scheint deshalb der mit der Nebensilbenschwächung einhergehende Verlust distinkter verbaler Endungen eine gute Erklärung für die zunehmende Obligatorizität des Subjektpronomens im Deutschen zu sein. Erste Anzeichen der Nebensilbenschwächung können, wie oben gezeigt, bereits in spätalthochdeutscher Zeit beobachtet werden. Die Tatsache, dass beim spätalthochdeutschen Notker das Subjektpronomen bereits weitgehend obligatorisch ist, passt also sehr gut zu diesem Befund. Bei genauerer Betrachtung wird allerdings klar, dass diese Erklärung zu kurz greift: In den Sprachstufen des Deutschen finden sich im verbalen Paradigma trotz Nebensilbenschwächung verhältnismäßig wenige „Synkretismen“, d.h. Zusammenfälle von Formen. Dies wird durch die folgende Gegenüberstellung deutlich, in der synkretistische Formen grau hinterlegt sind. Aufgeführt ist der Indikativ Präsens bzw. Präteritum des Verbs nhd. suchen; in anderen Tempora bzw. Modi (und bei anderen Verbalklassen) finden sich teilweise etwas andere Muster, doch gehen die Synkretismen in keinem Fall so weit wie im Französischen: Althochdeutsch Mittelhochdeutsch Neuhochdeutsch Präs. Sg. 1. suochu suoche suche 2. suochis suoches suchst 3. suochit suochet sucht Pl. 1. suochemēs, suochem, -n suochen suchen 2. suochet suochet sucht 3. suochent suochent suchen Prät. Sg. 1. suohta suohte suchte 2. suohtōs suohtest suchtest 3. suohta suohte suchte Pl. 1. suohtum, -n, suohtumēs suohten suchten 2. suohtut suohtet suchtet 3. suohtun suohten suchten Im Mittelhochdeutschen finden sich im Präsens noch fünf, im Neuhochdeutschen immerhin noch vier verschiedene Formen. Im Präteritum herrscht schon im Althochdeutschen Synkretismus zwischen der 1. und 3. Person Singular, dazu gesellt sich der Synkretismus zwischen der 1. und 3. Person Plural (der bereits in althochdeutscher Zeit beginnt). Dennoch sind im Neuhochdeutschen beispielsweise die Formen der 1. und 2. Person Singular vollständig distinkt, sie könnten die Eigenschaften des Subjekts im Prinzip gut allein ausdrücken. Interessant ist, dass gerade die 3. Person, bei der im älteren Althochdeutschen das Subjekt am häufigsten fehlt (vgl. 11.2), am häufigsten in Synkretismen eingebunden ist. Wenn die fehlenden Distinktionen der verbalen Endungen eine ausreichende Erklärung für die zunehmende Obligatorizität des Subjektpronomens wären, würde man genau <?page no="209"?> Zur Erklärung der Obligatorizität des Subjektpronomens 209 umgekehrt in solchen Kontexten erwarten, dass das Subjektpronomen obligatorisch wird. Obwohl noch im Neuhochdeutschen zahlreiche Endungen distinkt sind, hat sich das pronominale Subjekt bereits im Spätalthochdeutschen weitgehend durchgesetzt. Der Verlust von Distinktionen in den verbalen Endungen ist somit kein ausreichender Grund für die zunehmende Obligatorizität des Subjektpronomens (dies gilt auch für viele andere Pro-drop-Sprachen, für die zunächst ein direkter Zusammenhang zwischen Flexionsmorphologie und Auftreten des Subjektpronomens vermutet wurde; vgl. Corbett 2006: 98). Dennoch scheinen die verbalen Endungen zumindest in gewisser Hinsicht einen Einfluss auf die Setzung bzw. das Fehlen des Subjektpronomens zu haben. Dazu ist es zunächst sinnvoll, noch einmal das Althochdeutsche genauer zu betrachten. Aus dem oben angeführten althochdeutschen Paradigma geht hervor, dass in der 1. Person Plural zwei verschiedene Formen auftreten, eine kurze Form auf -m (das sich dann im Lauf des 9. Jahrhunderts zu -n entwickelt) und die sogenannte „Langform“ auf -mēs. Interessanterweise tritt die Langform auf -mēs im älteren Althochdeutschen selten zusammen mit einem Subjektpronomen auf, die Kurzform auf -m/ -n dagegen wesentlich häufiger. 24 Dies geht aus der folgenden Tabelle hervor, in der für den althochdeutschen Tatian das Auftreten bzw. Fehlen des Subjektpronomens uuir bei der Lang- und Kurzform aufgezeigt wird: Hauptsatz Nebensatz mit Pron. ohne Pron. mit Pron. ohne Pron. Langform -mēs 37 (58 %) 27 (42 %) 20 (95 %) 1 (5 %) Kurzform -m/ -n 25 (100 %) 0 (0 %) 6 (100 %) 0 (0 %) Auftreten bzw. Fehlen des Subjektpronomens bei der Lang- und Kurzform der 1. Person Plural im althochdeutschen Tatian (nach Eggenberger 1961: 104-105) Während das Pronomen uuir bei der Kurzform (im Hauptwie im Nebensatz) zu 100 % gesetzt wird, fehlt es bei der Langform im Hauptsatz in immerhin 42 % der Fälle (im Nebensatz dagegen fast nie). Die folgende Textstelle macht die im älteren Althochdeutschen zu beobachtende Distribution augenfällig: Zunächst findet sich eine Kurzform, die zusammen mit dem Personalpronomen uuir auftritt, danach eine Langform ohne Personalpronomen: oba uuir uuarin In tagon unsero fatero niuuarimes iro ginózza In bluote thero uuîzzagono (Tatian 247,1-4) wenn wir wären (Kurzf.) in den Tagen unserer Väter NEG =wären (Langf.) ihre Genossen in Blut der Propheten ‘wenn wir in den Tagen unserer Väter gelebt hätten, wären wir nicht mit ihnen schuldig am Blut der Propheten’ lat.: si fuissemus In diebus patrum nostrorum non essemus socii eorum In sanguine proph&arum ________ 24 Die Langform war ursprünglich auf den Indikativ Präsens beschränkt, sie breitete sich dann aber auch auf andere Fomen aus (vgl. Braune/ Reiffenstein 2004: 262 = § 307, Anm. 1). <?page no="210"?> Die Entwicklung des Subjektpronomens 210 Teilweise wird davon ausgegangen, dass die Langform das Subjektpronomen enthält bzw. dass -mēs auf das Subjektpronomen zurückzuführen ist, allerdings ist diese Etymologie umstritten (vgl. Braune/ Reiffenstein 2004: 262 = § 307, Anm. 1). Unabhängig davon, ob diese Herleitung korrekt ist, ist auf jeden Fall gut denkbar, dass Sprecher des Althochdeutschen die Form -mēs als das Äquivalent eines „richtigen“ Personalpronomens auffassten. Dafür spricht unter anderem die Tatsache, dass sich (seltene) Belege für die Kombination der beiden Endungen der 1. Person Plural finden (vgl. Axel/ Weiß 2010: 24). Bei der Form gabunmes (Tatian 267,6) ‘wir gaben’ etwa scheint die kurze Endung auf -n mit der langen Endung auf -mēs kombiniert zu sein. Da eine Verbform in der Regel nur über eine Endung verfügt, liegt es nahe zu vermuten, dass der Schreiber -mēs nicht als Endung, sondern als pronominal (im Sinne eines enklitischen, d.h. an die Verbform angelehnten Pronomens; vgl. auch 13.1.1) auffasste. Auffällig ist auch, dass es kaum Beispiele dafür gibt, dass das Pronomen uuir unmittelbar hinter einer Langform auftritt - die Schreiber der althochdeutschen Denkmäler haben offensichtlich ein unmittelbares Aufeinandertreffen von -mēs und uuir vermieden. Durchaus nachzuweisen ist aber uuir, das nicht unmittelbar auf die Langform folgt, sondern beispielsweise vor dieser auftritt. Dies zeigt etwa der folgende Beleg aus dem althochdeutschen Tatian: uuir gisahumes sínan sterron In ostarlante (Tatian 39,14-15) wir sahen (Langf.) seinen Stern im Morgenland ‘wir sahen seinen Stern im Morgenland’ lat.: uidimus enim stellam eius In oriente Die althochdeutsche Endung -mēs verfügt also über bestimmte Eigenschaften, die dazu führen, dass das Pronomen wesentlich häufiger als bei der Kurzform weggelassen wird und in bestimmten Kontexten - unmittelbar nach der Endungg - kaum je auftritt. Bei der 2. Person Singular kann etwas Ähnliches beobachtet werden. Aus dem Vergleich des oben angeführten althochdeutschen, mittelhochdeutschen und neuhochdeutschen Paradigmas des Verbs suchen geht hervor, dass die 2. Person Singular im Althochdeutschen auf -s endet, im Neuhochdeutschen dagegen auf -st. Nach gängiger Auffassung ist die Form auf -st dadurch entstanden, dass der Anlaut des nachgestellten enklitischen Pronomens du, thu als Teil der Verbalendung aufgefasst wurde (vgl. z.B. Braune/ Reiffenstein 2004: 261 = § 306, Anm. 5). Das folgende Beispiel aus dem althochdeutschen Tatian zeigt ein nachgestelltes Pronomen, das mit seinem Verb auch graphisch eine Einheit bildet, indem es mit ihm zusammengeschrieben wird: <?page no="211"?> Zur Erklärung der Obligatorizität des Subjektpronomens 211 fon hinan iu fahistu man (Tatian 56,9) von nun schon fängst=du Menschen ‘von nun an wirst du Menschen fangen’ lat.: ex hoc iam homines eris capiens Solche Verbindungen der Verbform mit dem klitischen Pronomen der 2. Person Singular wurden von Sprechern des Althochdeutschen „falsch aufgelöst“, d.h. neu aufgefasst. Ein solcher Vorgang, bei welchem sich die Grenzen der beteiligten Morpheme verschieben, wird häufig als „Reanalyse“ bezeichnet. Im Folgenden werden die ältere und die jüngere Analyse einander gegenübergestellt: ältere Analyse: fahistu = fahis + du Reanalyse: fahistu = fahist + du Die Verbindung fahistu erlaubt beide Auffassungen, hier kann im Prinzip nicht entschieden werden, welche Analyse zutrifft. Erst dann, wenn die Form -st auch ohne nachfolgendes du auftreten kann, ist eindeutig gezeigt, dass eine Ausdehnung auf andere Kontexte als auf diejenigen, in denen die Reanalyse entstanden ist, stattgefunden hat. Bereits in althochdeutscher Zeit finden wir - allerdings nur selten - für die 2. Person Singular Beispiele, in denen die Endung -st auftritt, allerdings interessanterweise in der Regel nur dann, wenn das Pronomen du, thu folgt. Im folgenden Beispiel aus dem althochdeutschen Tatian wird, anders als beim oben angeführten Beleg, das Pronomen vom Verb, das auf -t endet, graphisch abgesetzt: zunzuuuáz nimist thu unsera sela (Tatian 226,29) bis wohin nimmst du unsere Seelen? ‘Wie lange willst du uns noch hinhalten? ’ lat. quousque animam nostram tollis Bei der 2. Person Singular zeigt sich somit eine etwas andere Beziehung als bei der Langform der 1. Person Plural: Die längere Form auf -st tritt gerade nur dann auf, wenn das Subjektpronomen unmittelbar darauf folgt. In den jüngeren Sprachstufen enthält die Endung der 2. Person Singular in der Regel einen dentalen Plosiv. Es scheint deshalb kein Zufall zu sein, dass es ausgerechnet diese Person ist, in der das pronominale Subjekt systematisch fehlen kann: Diese Endung könnte, anders als andere, noch über bestimmte pronominale Eigenschaften verfügen und das Pronomen deshalb fakultativ machen. In vielen modernen Dialekten ist jedoch der dentale Plosiv wieder verschwunden, was darauf hinweist, dass der Sachverhalt wohl noch etwas komplizierter ist. Auf jeden Fall kann sowohl bei der 1. Person Plural im Althochdeutschen als auch bei der 2. Person Singular in den modernen Dialekten festgestellt werden, dass die Form der Verbalendung einen Einfluss auf die Setzung bzw. Nicht- Setzung des Subjektpronomens zu haben scheint. Dies allerdings nicht auf die direkte Art und Weise, wie in älteren Ansätzen angenommen wurde. Die Beziehung scheint komplizierter zu sein. <?page no="212"?> Die Entwicklung des Subjektpronomens 212 Literaturhinweise Das Subjektpronomen in der Geschichte des Deutschen wurde in der Forschung mehrfach behandelt. Eine ältere Darstellung ist Held (1903); diese Arbeit bietet eine Fülle von Einzelbeobachtungen. Da aber - abgesehen vom Althochdeutschen - die jüngeren Sprachstufen des Deutschen bisher nicht ausführlich auf die Syntax des Subjektpronomens hin untersucht worden sind, bleibt diese Arbeit dennoch wichtig. Für die Erforschung des Subjektpronomens im Althochdeutschen ist die Dissertation von Eggenberger (1961) zentral. In dieser Arbeit wird umfangreiches statistisches Material zu allen althochdeutschen Denkmälern geboten, die jüngeren Arbeiten zum Subjektpronomen im Althochdeutschen beruhen zum Teil auf dieser empirischen Arbeit. In jüngerer Zeit hat das Subjektpronomen vor allem Aufmerksamkeit im Rahmen generativer Ansätze erfahren. Eine sehr gute Darstellung, die allerdings gewisse Kenntnisse in der generativen Theorie voraussetzt, bietet Axel (2005) zum Althochdeutschen. Das gilt auch für das Kapitel zum Subjektpronomen in Axels (2007) Monographie zur althochdeutschen Syntax. Sowohl althochdeutsche als auch moderne dialektale Daten, ebenfalls in einem generativen Rahmen, behandeln Axel/ Weiß (2010). Den Autoren geht es in diesem Artikel in erster Linie um einen methodologischen Punkt, dabei wird jedoch das Subjektpronomen als eines von mehreren Fallbeispielen sehr ausführlich behandelt. Auch dieser Artikel verlangt Vorkenntnisse in generativer Syntax. Eine weitere, etwas ältere generative Arbeit zu dialektalen Daten ist Coopers (1995) Artikel zum Zürichdeutschen. <?page no="213"?> 12 Das expletive es Als „expletives es“ bezeichnet man jenes es, das in es schneit, es graut mir, es wird getanzt, es kommen fünfzig Studenten in die Vorlesung etc. auftritt. Es zeigt eine Reihe von syntaktischen Besonderheiten, die in diesem Kapitel besprochen werden. Zunächst werden die verschiedenen Typen des expletiven es anhand des Neuhochdeutschen kurz vorgestellt (12.1). Anschließend wird die historische Entwicklung der einzelnen Typen behandelt: zuerst diejenige des expletiven es bei unpersönlichen Verben (es schneit, es graut mir) (12.2), dann diejenige des sogenannten „Vorfeld- oder Platzhalter-es“ (es kommen zwei Studenten). In Bezug auf Letzteres wird insbesondere auch das es diskutiert, das beim unpersönlichen Passiv auftritt (es wird getanzt) (12.3). Den Abschluss bilden Überlegungen zur Frage, welche Faktoren für die Entstehung des expletiven es verantwortlich sein könnten (12.4). 12.1 Typen des expletiven es Das es ist für das Deutsche eine der interessantesten, aber auch schwierigsten syntaktischen Einheiten. Prototypisch für es ist zunächst die Verwendung als Personalpronomen, d.h. als Vertreter für ein Substantiv, wie im folgenden Beispiel. Auf diesen wenig problematischen Typ des es wird im Folgenden nicht weiter eingegangen: Auf dem Hof steht ein Pferd. Es wiehert fröhlich. / Fröhlich wiehert es. Daneben kommt es jedoch in mehreren nicht-pronominalen Funktionen vor. Für diese einzelnen Verwendungen von es existieren teilweise recht unterschiedliche Klassifikationen und Terminologien. Die Duden Grammatik (2009: 822-833 = §§ 1259-1263) etwa unterscheidet (neben der Verwendung als Personalpronomen) die folgenden Gebrauchsweisen von es: • unpersönliches es • Korrelat-es • Platzhalter-es (= Vorfeld-es) Das unpersönliche es tritt bei bestimmten Verben in der Rolle des Subjekts (oder des direkten Objekts) auf, vertritt aber kein Substantiv, das im Diskurs eingeführt worden wäre. Bei bestimmten Verben ist unpersönliches es die einzige Ergänzung, bei anderen Verben treten dagegen neben unpersönlichem es weitere Argumente auf. Unpersönliches es kann sowohl im Vorals auch im Mittelfeld auftreten: <?page no="214"?> Das expletive es 214 Es regnet heute. / Heute regnet es. Es gefällt mir in Paris. / Mir gefällt es in Paris. Das Korrelat-es verweist auf einen Nebensatz. Es tritt nur auf, wenn der Nebensatz auf den Hauptsatz folgt. Geht der Nebensatz dem Hauptsatz voraus (d.h. besetzt der Nebensatz das Vorfeld des Hauptsatzes), so fällt das Korrelat-es weg: Es freut mich, dass er gekommen ist. / Dass er gekommen ist, freut (*es) mich. Das Platzhalter-es steht im Vorfeld eines deklarativen Hauptsatzes, wenn dort keine andere Konstituente steht. Ist dies der Fall, so verschwindet es. Das Platzhalter-es kann also nicht im Mittelfeld auftreten. Es wird deshalb häufig auch „Vorfeld-es“ genannt, womit seine Funktion - das Füllen des Vorfeldes - bezeichnet wird. Im Folgenden wird der Terminus „Vorfeld-es“ verwendet. Es kamen vor alten guten Zeiten die Leute da zusammen, die gern einen König gehabt hätten … (Brentano, Mährchen vom Rhein 76-77 [Das Rheinmährchen]) Vor alten guten Zeiten kamen (*es) die Leute da zusammen … Diese nicht-pronominalen Verwendungen von es werden im Folgenden als „expletiv“ bezeichnet: Das es scheint jeweils nur eine bestimmte syntaktische Stelle auszufüllen (lat. explēre bedeutet unter anderem ‘füllen, vollständig machen, ergänzen’), ohne über eine eigene Bedeutung zu verfügen, wie sie etwa das pronominale es aufweist. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass es keine allgemein verbreitete und akzeptierte Terminologie gibt. In manchen Arbeiten wird beispielsweise nur das Platzhalter- oder Vorfeld-es als „expletives Element“ bzw. „Expletivum“ bezeichnet. In den folgenden Abschnitten wird die historische Entwicklung des expletiven es in Bezug auf einige besonders interessante Typen etwas eingehender betrachtet. Eine umfassende historische Darstellung des expletiven es im Deutschen fehlt bisher, weshalb viele Fragen, etwa zum Verhältnis von gesetztem und fehlendem expletiven es, nur ungenügend beantwortet werden können. 12.2 Unpersönliches es Das als „unpersönliches es“ bezeichnete expletive es ist dadurch gekennzeichnet, dass es bei Verben auftritt, die kein Agens haben. Bei diesen Verben gibt es also keinen Aktanten bzw. keine semantische Rolle, die als Verursacher der Verbalhandlung angesehen werden kann. Solche Verben werden deshalb als „unpersönlich“ bezeichnet. Es können zwei Typen unterschieden werden: <?page no="215"?> Unpersönliches es 215 • unpersönliche Verben, die über gar keine semantischen Rollen verfügen. Solche Verben werden häufig mit einem Terminus der Valenzgrammatik als „nullwertig“ bezeichnet. Besonders typisch für die nullwertigen unpersönlichen Verben sind Verben, die Naturvorgänge bezeichnen (sehr wichtig sind „Wetterverben“): es schneit / es regnet • unpersönliche Verben, die zwar über (mindestens) eine semantische Rolle verfügen, welche aber nicht als Handlungsverursacher in Frage kommt, sondern die im Gegenteil von der Verbalhandlung betroffen ist. Die von diesen Verben vergebene thematische Rolle besteht häufig darin, dass der entsprechende Aktant die Verbalhandlung erleidet oder dass mit ihm etwas geschieht. Diese semantische Rolle wird häufig als „Experiencer“ bezeichnet, demgemäß wird von „unpersönlichen Experiencer-Verben“ gesprochen. Typisch für unpersönliche Experiencer-Verben sind Verben, die ein körperliches oder seelisches Gefühl des Experiencers bezeichnen: es dünkt mich / es hungert ihn / es graut ihr vor ihm Das es in den angeführten Beispielen zeigt nicht das Verhalten eines Pronomens. Beispielsweise kann es nicht durch eine volle Nominalphrase oder ein „richtiges“ Pronomen der 3. Person Singular ersetzt werden. Man spricht deshalb manchmal davon, dass es in solchen Fällen ein „Pseudoaktant“ oder ein rein „formales Subjekt“ sei: *das Wetter/ *er/ *sie schneit *der Magen/ *er/ *sie hungert ihn In den angeführten Beispielen tritt es jeweils im Vorfeld auf. Wenn dieses anderweitig besetzt ist, bleibt das expletive es bei den nullwertigen Verben auch im Mittelfeld erhalten. Bei den unpersönlichen Experiencer-Verben kann es erhalten bleiben, es kann aber auch wegfallen: Heute schneit es/ *Ø Ihr graut es/ Ø vor ihm Die beiden Untergruppen von unpersönlichen Verben zeigen in Bezug auf das expletive es im Neuhochdeutschen also ein unterschiedliches Verhalten, und auch ihre historische Entwicklung ist unterschiedlich verlaufen. Es ist deshalb sinnvoll, beide Gruppen getrennt voneinander zu betrachten. Dabei ist die Frage wichtig, ob (bzw. ab wann) bei diesen Verben ein expletives es auftritt. Außerdem stellt sich die Frage, in welcher Position es auftreten kann. <?page no="216"?> Das expletive es 216 12.2.1 Expletives es bei nullwertigen Verben Bei den nullwertigen Verben kann bereits in althochdeutscher Zeit ein expletives iz auftreten. Die folgenden spätalthochdeutschen Belege zeigen dies für das Vorfeld in einem Hauptsatz und für das Mittelfeld in einem Nebensatz: Únde iz náhtêt . êr an hímele stérnen skînen (Notker, Consolatio 14,7) und es nachtet bevor an Himmel Sternen scheinen ‘und es wird Nacht, bevor am Himmel Sterne scheinen’ Sôz régenôt só ‿ náz-zênt tî bôuma (Notker, De partibus logicae 194,4-5) so=es regnet so nassen die Bäume ‘wenn es regnet, werden die Bäume nass’ In den älteren althochdeutschen Texten finden sich nur wenige Belege für expletives es bei nullwertigen Verben, was sicher auch daran liegt, dass nullwertige Verben insgesamt selten sind. Im folgenden Beispiel aus dem Tatian tritt allerdings eindeutig ein expletives iz nach der Konjunktion uuanta ‘weil; denn’ auf. Da diese Konjunktion im Althochdeutschen sowohl mit Hauptals auch mit Nebensatzstellung auftreten kann (vgl. Axel 2009: 38, Endnote 8), kann bei diesem Beispiel nicht gesagt werden, ob es sich um einen Hauptsatz oder um einen Nebensatz handelt. Im ersten Fall würde das iz im Vorfeld stehen (dies könnte mit nhd. denn es abendet wörtlich wiedergegeben werden), im zweiten Fall dagegen im Mittelfeld (dem würde nhd. weil es abendet entsprechen). So oder so ist bemerkenswert, dass dieses althochdeutsche iz im Tatian gegen den lateinischen Text gesetzt wird (im Latein gibt es keine Entsprechung zum expletiven es). Dass dies bereits in einem althochdeutschen Text aus der 1. Hälfte des 9. Jahrhunderts beobachtet werden kann, ist besonders bedeutsam: Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt kann expletives es im Deutschen also eindeutig bezeugt werden. uuanta iz abandet. Inti Intheldit ist iu ther tag (Tatian 332,3-4) weil es abendet und hingelegt/ niedergelegt ist schon der Tag ‘weil es Abend wird und der Tag schon vergangen ist’ lat.: quoniam aduesperascit & declinata est iam dies Aus den angeführten Beispielen wird klar, dass das expletive es bei nullwertigen unpersönlichen Verben bereits in althochdeutscher Zeit auftreten kann. Damit noch nicht beantwortet ist jedoch die Frage, ob bzw. ab wann das expletive es in diesen Fällen gesetzt werden muss, d.h. obligatorisch ist. Aufgrund der Überlieferungssituation des Althochdeutschen ist es schwer, sich darüber ein klares Bild zu verschaffen. Ein Problem besteht darin, dass Belege für nullwertige Verben im Althochdeutschen generell selten sind. Die Überlieferung bietet also unter Umständen zu wenige Belege, als dass man daraus die Situation im Althochdeutschen exakt rekonstruieren könnte. Behaghel (1924: 127) führt die althochdeutsche Form plecchazit ‘es blitzt’ ohne expletives es an, was zunächst darauf hindeutet, dass dieses Wetterverb im Althochdeutschen noch ohne expletives es im Vorfeld auftreten kann. Diese Form <?page no="217"?> Unpersönliches es 217 wird häufig zitiert, beispielsweise bei Lenerz (1992: 105). Doch handelt es sich dabei nicht um einen validen Beleg für das Fehlen des expletiven es. 25 Auf jeden Fall gibt es Hinweise darauf, dass das expletive es in alt- und mittelhochdeutscher Zeit noch fehlen kann, wenn das Vorfeld anderweitig besetzt ist bzw. - im Fall der Nebensätze - gar nicht gefüllt wird. Der folgende Beleg zeigt dies für einen spätalthochdeutschen Nebensatz (die Position, in der im Neuhochdeutschen das es auftreten würde, ist durch ‘Ø’ markiert). Hier tritt allerdings nicht ein Vollverb, sondern die Kopula zusammen mit dem Adjektiv heiz ‘heiß’ auf, es könnte sein, dass sich unpersönliche Kopula-Konstruktionen etwas anders verhalten als die eigentlichen unpersönlichen Verben: sô Ø héiz uuírt ze ‿ súmere (Notker, Consolatio 31,20) so heiß wird zu Sommer ‘wenn es im Sommer heiß wird’ Wiewohl die Situation gerade für das Althochdeutsche nicht völlig klar ist, scheint sich das expletive es bei nullwertigen Verben schon relativ früh durchzusetzen, wenn das Vorfeld nicht anderweitig besetzt ist. Im Mittelfeld kann es aber eher noch fehlen. Das expletive es würde sich, falls dieses Szenario korrekt ist, also zunächst im Vorfeld und erst später im Mittelfeld durchsetzen. Allerdings gibt es bisher keine eingehendere Untersuchung, die vor allem auch die quantitativen Verhältnisse von gesetztem und fehlendem expletiven es berücksichtigen würde. 12.2.2 Expletives es bei unpersönlichen Experiencer-Verben Unpersönliche Experiencer-Verben verfügen zwar über mindestens eine semantische Rolle, doch kann diese nicht als Agens, d.h. als Verursacher der Verbalhandlung, aufgefasst werden. Wie bereits das oben diskutierte Beispiel gezeigt hat, kann bei unpersönlichen Experiencer-Verben im Neuhochdeutschen - im Gegensatz zu den nullwertigen Verben - das expletive es fehlen, wenn das Vorfeld besetzt ist, es kann jedoch auch im Mittelfeld auftreten (muss dies aber nicht): es hungert mich / mich hungert es / mich hungert Ø In althochdeutscher Zeit tritt bei diesen Verben in der Regel kein iz auf, weder wenn der Experiencer dieser Verben im Vorfeld auftritt, noch wenn er im Mittelfeld steht (allerdings gilt auch hier, dass entsprechende Belege in der althochdeutschen Überlieferung relativ selten sind). Dies illustrieren die folgenden Be- ________ 25 Behaghel (1924: 127) gibt für die Form plecchazit keinen Stellennachweis. Sie scheint jedoch aus einer Glosse zu stammen, jedenfalls ist eine Form in der bei Behaghel angeführten Orthographie in den St. Emmeraner Glossen belegt (vgl. Althochdeutsche Glossen II 333,64). Eine althochdeutsche Verbform in Form einer Glosse als Beleg für ein fehlendes expletives iz anzunehmen, wie dies Lenerz (1992: 105) dann tut, ist methodisch fragwürdig, da Glossen ja nur einzelne Wörter, jedoch keine Texte darstellen (vgl. 2.1). <?page no="218"?> Das expletive es 218 lege (durch ‘Ø’ wird markiert, an welcher Stelle ein expletives es im Neuhochdeutschen auftreten könnte): Mih slâphota Ø fore úrdrúzedo (Notker, Psalter 446,19) mich schläferte vor Überdruss ‘ich ermattete vor Überdruss’ dâr dúnchet Ø tir réhto (Notker, Consolatio 34,23) da dünkt dir recht ‘da dünkt es dich recht’ Besonders interessant ist der folgende Beleg. Er zeigt, dass das expletive es im Althochdeutschen auch bei unbesetztem Vorfeld fehlen kann: Únde Ø dúnchet mir réht (Notker, Martianus Capella 81,4-5) und dünkt mir recht ‘und es dünkt mich recht’ Im Mittelhochdeutschen kann bei unpersönlichen Experiencer-Verben das expletive es im Vorfeld dagegen auftreten, allerdings sind entsprechende Belege eher selten. Häufiger ist fehlendes es dagegen, wenn das Vorfeld anderweitig besetzt ist, etwa durch den Experiencer. mir grûset Ø in der hiute (Helmbrecht 1577) mir graut in der Haut ‘es graut mir in meiner Haut’ Im Neuhochdeutschen ist das Bild uneinheitlich: Bei bestimmten Verben scheint das es auch im Mittelfeld obligatorisch zu sein (*mir gefällt Ø in Paris), bei anderen kann es dagegen fehlen, und bei vielen Verben tritt Variation auf. Dies kann anhand des Verbs grauen illustriert werden. In der unten zitierten Stelle aus Goethes Faust tritt ein expletives es (in der klitischen Form ’s) im Mittelfeld auf, was bei diesem bekannten Zitat allerdings häufig unterschlagen wird (dies kann als Hinweis darauf gedeutet werden, dass in der Gegenwartssprache fehlendes es beim Verb grauen üblicher zu sein scheint). Dagegen fehlt ein expletives es in der danach zitierten Stelle, die ebenfalls von Goethe stammt: Heinrich! Mir graut’s vor dir. (Goethe, Werke 7/ 1, 199 [Faust I, V. 4610]) Mir graut Ø vor solcher Verwandtschaft. (Goethe, Werke 8, 790 [Reineke Fuchs, 11. Gesang, V. 314]) Die Situation bei den unpersönlichen Experiencer-Verben ist also nicht einheitlich. Einerseits besteht ab mittelhochdeutscher Zeit die Tendenz, dass gerade im Vorfeld ein expletives es auftritt, wenn das Vorfeld nicht anderweitig besetzt ist. Andererseits fehlt das expletive es bei anderweitig besetztem Vorfeld noch bis ins <?page no="219"?> Vorfeld-es 219 Neuhochdeutsche hinein, wobei Varianz auftritt, die wahrscheinlich auch von den jeweiligen Verben abhängt. Auch hier steht eine eingehende Untersuchung, die unter anderem auch das quantitative Verhältnis zwischen gesetztem und fehlendem es berücksichtigen würde, noch aus. 12.3 Vorfeldes Das Vorfeld-es oder Platzhalter-es tritt, der Name sagt es schon, nur im Vorfeld auf, jedoch nicht im Mittelfeld. Wenn das Vorfeld anderweitig besetzt ist, verschwindet das Vorfeld-es sozusagen wieder, es scheint nur die Funktion zu haben, eine syntaktische Position, die ansonsten leer bliebe, zu füllen. Im Folgenden werden zwei verschiedene Typen von Vorfeld-es näher behandelt: Einerseits gibt es Sätze, in denen das Vorfeld-es zusammen mit einem Subjekt auftritt, das im Nominativ steht und das ganz regulär mit dem Verb kongruiert. In diesem Fall ist im Satz eindeutig eine Konstituente vorhanden, die für die Verbalhandlung verantwortlich ist, es gibt ein Agens. Dies ist dagegen nicht der Fall in Sätzen, in denen das Vorfeld-es mit einem unpersönlichen Passiv kombiniert ist. Hier fehlt ein Agens. 12.3.1 Vorfeldes in Sätzen mit Subjekt Das Vorfeld-es kann mit einem „normalen“ Subjekt im Nominativ, das gleichzeitig auch als Agens fungiert, d.h. als Verursacher der Verbalhandlung, kombiniert werden. Das Verb kongruiert mit dem Subjekt, anders als bei den bisher behandelten Typen können beim Vorfeld-es deshalb auch Fälle auftreten, in denen das Verb im Plural steht. Das Vorfeld-es in Kombination mit einem Subjekt wird häufig durch den folgenden Gedichtanfang aus Des Knaben Wunderhorn illustriert. Wie die Umstellung dieses Verses zeigt, tritt das Vorfeld-es nicht auf, wenn das Vorfeld anderweitig besetzt ist: Es ritten drei Reiter zum Thor hinaus (Wunderhorn 238 [I 253, Drei Reiter am Thor]) Drei Ritter ritten (*es) zum Tor hinaus Das Vorfeld-es ist besonders häufig, wenn in einem Satz durch die Aktanten keine bekannte, sondern nur eine neue Information mitgeteilt wird (prototypisch dafür sind Märchenanfänge, etwa Es war einmal ein König…). Statt durch eine Konstituente, die eine eigene lexikalische Bedeutung (und damit potentiell neue Information) trägt, wird das Vorfeld durch ein expletives es, einen „dummy“ oder „Platzhalter“, der keine eigene Bedeutung (und damit keine neue Information) enthält, besetzt. Das Vorfeld-es oder eben Platzhalter-es hat die Funktion, eine strukturell angelegte Position zu füllen, ohne eine eigene Bedeutung in den Satz zu bringen. <?page no="220"?> Das expletive es 220 In der Geschichte des Deutschen hat sich das Vorfeld-es erst allmählich etabliert. In althochdeutscher Zeit finden sich anstelle von Sätzen mit Vorfeld-es nicht selten deklarative Hauptsätze mit Verberststellung, die also ein unbesetztes Vorfeld aufweisen - es handelt sich um deklarative Hauptsätze mit Verberststellung (vgl. 9.2.2). Der Kontrast zwischen Verberstsätzen und Sätzen mit Vorfeld-es kann aus dem folgenden Vergleich von Übersetzungen der gleichen Bibelstelle (Lukas 18,3) illustriert werden: Im althochdeutschen Tatian tritt die Verberststellung auf (der entsprechende Beleg wurde bereits in 9.2.2 diskutiert, er wird deshalb hier nur verkürzt, ohne lateinischen Text, wiedergegeben). Luthers frühneuhochdeutsche Übersetzung verwendet dagegen das Vorfeld-es: Ø uuas thar ouh sum uuitua In thero burgi (Tatian 201,2-3) war da auch gewisse Witwe in dieser Stadt Es war aber eine Widwe in der selbigen Stad (Luther, Biblia 1545, 290v [Lk 18,3]) Das Vorfeld-es setzte sich ab mittelhochdeutscher Zeit durch. Für das Mittelhochdeutsche ist es bereits wesentlich üblicher als im Althochdeutschen. Das folgende Beispiel illustriert dies: Iz kumet noch thiu stunde (Rolandslied 1464) es kommt noch die Stunde Allerdings kann auch noch in neuhochdeutscher Zeit das Vorfeld-es in poetischen Texten fehlen. Dies veranschaulicht beispielsweise der folgende Gedichtanfang: Ø Schläft ein Lied in allen Dingen, / Die da träumen fort und fort (Eichendorff, Gedichte 328 [Wünschelrute, V. 1-2]) Insgesamt zeigt das Vorfeld-es in Sätzen mit Subjekt aber eine relativ geradlinige Entwicklung: Während es in althochdeutscher Zeit noch weitgehend fehlt (Behaghel 1924: 319 verweist auf einen einzigen altniederdeutschen Beleg), ist es ab mittelhochdeutscher Zeit etabliert und tritt ab dann in der auch im modernen Deutsch gültigen Verteilung auf. 12.3.2 Vorfeldes beim unpersönlichen Passiv Während das „kanonische“ Passiv dadurch gekennzeichnet ist, dass das direkte Objekt eines transitiven Verbs zum Subjekt wird, können im Neuhochdeutschen auch von intransitiven Verben Passivformen gebildet werden (z.B. es wird getanzt). Solche Sätze haben kein Subjekt. Im Neuhochdeutschen kann bei einem unpersönlichen Passiv ein expletives es auftreten, das aber nicht im Mittelfeld stehen kann, d.h. es verschwindet, wenn das Vorfeld anderweitig gefüllt wird: <?page no="221"?> Zur Entstehung des expletiven es 221 Es wurde gelacht. Gestern wurde (*es) gelacht. Diese Eigenschaft in der Distribution spricht dafür, in dem expletiven es beim unpersönlichen Passiv einen Subtyp des Vorfeld-es zu sehen. Ein Unterschied besteht nur darin, dass beim „eigentlichen“ Vorfeld-es das es zusammen mit einem Subjekt auftritt, was beim unpersönlichen Passiv nicht der Fall sein kann. Aus diesem Grund wird es in manchen Forschungsansätzen als eigener Typus behandelt. Das unpersönliche Passiv ist im älteren Althochdeutschen noch gar nicht belegt (vgl. 8.3), entsprechend ist auch die Frage nach einem beim unpersönlichen Passiv auftretenden Vorfeld-es müßig. Ab mittelhochdeutscher Zeit ist das unpersönliche Passiv jedoch etabliert. Im Mittelhochdeutschen tritt beim unpersönlichen Passiv ein expletives ez auf, wenn das Vorfeld unbesetzt ist. Ist das Vorfeld dagegen anderweitig besetzt bzw. - bei Nebensätzen - gar nicht angelegt, fehlt es wie im Neuhochdeutschen: ez enkunde baz gedienet nimmer heleden sîn (Nibelungenlied 964,2) es NEG =konnte besser gedient niemals Helden sein ‘es konnte Helden niemals besser gedient sein’ wie dâ mit zuht gedienet wart (Parzival 6896 = 232,8) wie da mit Zucht gedient wurde ‘wie da mit Sittsamkeit gedient wurde’ Beim unpersönlichen Passiv zeigt sich in Bezug auf das expletive es also ab mittelhochdeutscher Zeit (und damit wohl schon seit oder kurz nach seiner Etablierung) das gleiche Muster wie im Neuhochdeutschen. Das expletive es scheint sich beim unpersönlichen Passiv also ziemlich schnell durchgesetzt zu haben. Somit verhält sich das expletive es beim unpersönlichen Passiv auch in seiner historischen Entwicklung wie das „normale“ Vorfeld-es in Sätzen mit Subjekt: In beiden Fällen setzt sich das Vorfeld-es ab mittelhochdeutscher Zeit durch. 12.4 Zur Entstehung des expletiven es Die in verschiedenen Konstruktionen auftretenden Typen des expletiven es zeigen unterschiedliche Entwicklungen. Sie werden hier noch einmal zusammengefasst: • nullwertige unpersönliche Verben: Das expletive es etabliert sich bereits in althochdeutscher Zeit, zunächst im Vorfeld, mit einer gewissen Verzögerung auch im Mittelfeld <?page no="222"?> Das expletive es 222 • unpersönliche Experiencer-Verben: Das expletive es wird ab mittelhochdeutscher Zeit vor allem im Vorfeld verwendet, im Mittelfeld ist es zunächst selten; noch im Neuhochdeutschen tritt hier Variation auf • Vorfeld-es: Dieses expletive es (das sowohl zusammen mit einem Subjekt als auch beim unpersönlichen Passiv auftreten kann) etabliert sich ab mittelhochdeutscher Zeit, bleibt aber auf das Vorfeld beschränkt Insgesamt kann in der deutschen Sprachgeschichte eine Zunahme des expletiven es beobachtet werden, und ab mittelhochdeutscher Zeit ist der Stand des modernen Deutschen schon weitgehend erreicht. Die Zunahme des expletiven es ist vor allem im Vorfeld zu beobachten, doch auch im Mittelfeld etabliert es sich in gewissen Konstellationen. Bei den verschiedenen Typen des expletiven es zeichnet sich zwar keine vollständige Parallelität, aber immerhin eine gewisse Ähnlichkeit in der Entwicklung ab. Es scheint deshalb sinnvoll, nach einer einheitlichen Erklärung zu suchen. Das zunehmende Auftreten des expletiven es kann mit zwei Tendenzen der sprachlichen Entwicklung des Deutschen in Zusammenhang gebracht werden: • das unbesetzte Vorfeld (in deklarativen Hauptsätzen) verschwindet in der Geschichte des Deutschen zunehmend (vgl. 9.2.2) • ein overt realisiertes Subjekt wird in der Geschichte des Deutschen zunehmend obligatorisch (vgl. Kapitel 11) Diese beiden Tendenzen und ihre Bedeutung für die Entstehung des expletiven es werden im Folgenden etwas eingehender diskutiert. 12.4.1 Obligatorische Vorfeldbesetzung Das expletive es steht in den meisten Fällen im Vorfeld bzw. setzt sich dort schneller und konsequenter durch als im Mittelfeld. Diese Tatsache kann damit in Zusammenhang gebracht werden, dass es in der Geschichte des Deutschen zunehmend obligatorisch wird, in deklarativen Hauptsätzen das Vorfeld zu besetzen. Das expletive es besetzt eine syntaktische Position, die ansonsten nicht gefüllt würde, die aber nicht leer bleiben darf. Besonders interessant ist dabei das Vorfeld-es, da es zusammen mit einem „richtigen“ Subjekt auftreten kann. Die Tatsache, dass in einem deutschen Satz meist ein overtes Subjekt vorhanden sein muss, kann darum für die Entstehung dieses Typs des expletiven es keine Rolle spielen. Ausschlaggebend scheint vielmehr die syntaktische Position zu sein. Wenn beispielsweise aus informationsstrukturellen Gründen keine Konstituente vor der linken Satzklammer, also vor dem flektierten Verb, steht, bleibt im Althochdeutschen das Vorfeld unbesetzt. Ab mittelhochdeutscher Zeit findet sich in einer solchen Konstellation stattdessen das Vorfeld-es. Ramers (2005: 83-84) vermutet, dass in althochdeutschen deklarativen Sätzen das Vorfeld deswegen noch nicht besetzt werden musste, weil Hauptsätze mit Verberststellung nicht eindeutig als Entscheidungsfragen markiert waren. Er verweist darauf, dass im Althochdeutschen noch die Möglichkeit <?page no="223"?> Zur Entstehung des expletiven es 223 bestand, Fragesätze mittels einer besonderen Fragepartikel einzuleiten (vgl. 9.3). Die Ausbreitung des Vorfeld-es korreliert zeitlich ungefähr mit dem Rückgang der durch Fragepartikeln eingeleiteten Fragesätze. Allerdings müsste der Zusammenhang zwischen beiden Strukturen noch genauer herausgearbeitet werden. Eine wichtige Frage ist dabei, ob Deklarativsätze mit Verberststellung (d.h. ohne expletives es) und Fragesätze wirklich nicht voneinander zu unterscheiden waren: Im modernen Deutschen sind Fragesätze nicht nur durch Verberststellung, sondern auch durch eine eigene Intonation gekennzeichnet, was schon für das Althochdeutsche gegolten haben könnte. Die Intonation von Fragesätzen im Althochdeutschen ist also gleichfalls für die Syntax von einigem Interesse. Jedoch wird hier allerdings eine Frage aufgeworfen, die nur sehr schwer zu beantworten ist, da schriftliche Quellen in der Regel nur sehr rudimentäre oder gar keine Informationen zur Prosodie enthalten. Auch das Vorfeld-es bei unpersönlichen Verben könnte seine Entstehung der obligatorischen Vorfeldbesetzung verdanken. Ziemlich wahrscheinlich ist dies deshalb, weil das Vorfeld-es nicht im Mittelfeld auftritt. Auch die Tatsache, dass sich das expletive es wesentlich früher bei den nullwertigen als bei den Experiencer-Verben durchsetzt (und dass die Entwicklung im Vorfeld beginnt), spricht für diese Interpretation: Bei den nullwertigen Verben kommt es wesentlich häufiger zu einer Konstellation, in der das Vorfeld nicht anderweitig gefüllt werden kann. Dagegen kann bei den unpersönlichen Experiencer-Verben immer diejenige Konstituente, die für den Experiencer steht, ins Vorfeld gestellt werden. Möglicherweise spielt aber bei den unpersönlichen Verben (wie beim unpersönlichen Passiv) zudem der Faktor des obligatorischen Subjekts eine Rolle (vgl. unten). Insgesamt scheint es so, dass die zunehmende Obligatorizität des gefüllten Vorfelds für die Entstehung mehrerer Typen des expletiven es von gewisser Bedeutung ist. Die Tatsache, dass im Deutschen zunehmend weniger Sätze mit unbesetztem Vorfeld auftreten, könnte die Entstehung und Verbreitung des expletiven es gefördert haben. 12.4.2 Obligatorisches overtes Subjekt Die zunehmende Obligatorizität eines overten Subjekts könnte für die Entstehung des expletiven es ebenfalls wesentlich sein. Abgesehen vom Vorfeld-es, das zusammen mit einem „richtigen“ Subjekt auftritt, kann das expletive es immer als „formales Subjekt“ oder „Scheinsubjekt“ aufgefasst werden, das die Forderung nach einem overten Subjekt erfüllt. Der Fall des expletiven es bei unpersönlichen Verben im Mittelfeld ist besonders eindeutig: Da expletives es hier nicht im Vorfeld auftritt, kann es trivialerweise nicht mit der Tendenz zur Vorfeldbesetzung erklärt werden. Ein Satz wie heute regnet es oder ihr graut es vor ihm würde auch ohne expletives es über ein besetztes Vorfeld verfügen. Doch auch wenn bei unpersönlichen Verben ein expletives es im Vorfeld auftritt, kann die Obligatorizität eines overten Subjekts zumindest eine gewisse Rolle spielen, da das Subjekt sehr häufig im Vorfeld steht. Sogar beim unpersönlichen Passiv könnte die Tendenz, ein overtes Subjekt zu haben, wichtig sein: Beim kanonischen „persönlichen Passiv“ ist jeweils ein <?page no="224"?> Das expletive es 224 Subjekt vorhanden (das direkte Objekt wird bei der Passivierung zum Subjekt promoviert), durch ein expletives es wird auch beim unpersönlichen Passiv ein „Scheinsubjekt“ eingeführt. Wenn allerdings diese Tendenz allein entscheidend wäre, könnte man erwarten, dass das expletive es auch im Mittelfeld auftritt, denn das Subjekt fehlt ja dort genauso wie im Vorfeld. Besonders wichtig scheint die Tendenz, dass Sätze obligatorisch über ein Subjekt verfügen, deshalb vor allem für die unpersönlichen Verben: Bei den nullwertigen Verben wird das expletive es auch im Mittelfeld obligatorisch, und bei den unpersönlichen Experiencer-Verben kann es ebenso im Mittelfeld auftreten. Dass die Tendenz, dass Sätze zunehmend obligatorisch über ein overtes Subjekt verfügen müssen, eine Rolle spielt, wird durch eine weitere Entwicklung bei den unpersönlichen Verben wahrscheinlich gemacht. Bei vielen dieser Verben kann nämlich zunehmend eine „Personalisierung“ beobachtet werden: Die subjektlose Konstruktion wird durch ein Muster ersetzt, das ein kanonisches Subjekt enthält (vgl. von Seefranz-Montag 1983: 191). Dies gilt beispielsweise vom Verb träumen: Es wurde, wie der erste unten angeführte Beleg aus einem Gedicht von Heinrich Heine (1797-1856) zeigt, als unpersönliches Experiencer-Verb verwendet. Doch zeigt der zweite Beleg, dass der gleiche Autor auch die persönliche Verwendung kennt, die heute sicher wesentlich üblicher ist: Mir träumt’: ich bin der liebe Gott, / Und sitz’ im Himmel droben (Heine, Werke 1/ 1, 279 [Buch der Lieder, Die Heimkehr LXVI, V. 1-2]) Doch ach! ich träume, denn du ziehst von hinnen (Heine, Werke 4, 130 [Reisebilder III, Die Bäder von Lukka, Capitel X]) Bei manchen Verben ist die subjektlose Konstruktion heute noch möglich, bei vielen hat sie aber einen archaischen Klang (und gilt entsprechend als typisch für einen gehobenen bis affektierten Stil) und ist kaum mehr verbreitet. Die folgende Aufstellung (nach von Seefranz-Montag 1983: 191) zeigt einige Verben, bei denen sich die persönliche Konstruktion durchgesetzt hat oder aktuell im Begriff ist, sich durchzusetzen: mich hungert > ich hungere/ habe Hunger mich dürstet > ich dürste/ habe Durst mich friert > ich friere mir/ mich fröstelt > ich fröstele mir/ mich ekelt > ich ekle mich mir zweifelt > ich zweifle Durch die „Personalisierung“ entstehen Konstruktionen, in denen kanonische Subjekte auftreten. Dass die Tendenz zu overten Subjekten bei diesen Verben auch bei der Entstehung des expletiven es maßgeblich war, scheint angesichts der bei den gleichen Verben auftretenden Tendenz zur „Personalisierung“ also durchaus möglich. <?page no="225"?> Literaturhinweise 225 Sowohl die zunehmende Vorfeldbesetzung als auch die häufiger werdende Obligatorizität eines overten Subjekts waren sicher Faktoren, die für die Entstehung des expletiven es eine Rolle spielten. Allerdings stellt sich die Frage, ob diese beiden Faktoren für eine Erklärung ausreichend sind. Gerade der Unterschied zwischen nullwertigen und Experiencer-Verben bleibt rätselhaft: Durch die Tendenz zur Vorfeldbesetzung kann zwar erklärt werden, warum bei diesen Verben ein expletives es aufkommt (und dass es bei den nullwertigen Verben häufiger auftritt, weil dort die Notwendigkeit zur Vorfeldbesetzung häufiger besteht). Durch die zunehmende Obligatorizität eines overten Subjekts kann überdies erklärt werden, warum das expletive es auch im Mittelfeld auftritt. Doch warum wird das expletive es bei den nullwertigen Verben obligatorisch, bleibt dagegen bei den Experiencer-Verben meist fakultativ? Dieser Unterschied könnte vielleicht damit zusammenhängen, dass der Experiencer eher über (freilich nicht prototypische) Subjekteigenschaften verfügt und dass darum bei Experiencer- Verben weniger „formale Subjekte“ auftreten als bei den nullwertigen Verben. Literaturhinweise Zur Geschichte des expletiven es im Deutschen fehlen bis jetzt umfassende Darstellungen, die Angaben zu seiner Verbreitung müssen aus den Handbüchern (besonders Behaghel 1924) zusammengetragen werden. Einen dichten, aber sehr konzisen Überblick über die verschiedenen Typen und die Entwicklung des expletiven es gibt Lenerz (1992), Grundkenntnisse in generativer Syntax sind für die Lektüre seines Artikels allerdings hilfreich. Sehr materialreich ist von Seefranz-Montags (1983) Monographie und der darauf aufbauende Handbuch- Artikel (von Seefranz-Montag 1995), allerdings geht es in diesen Arbeiten in erster Linie um semantische Fragestellungen subjektloser Konstruktionen (Fragen zur Wortstellung, wie sie in diesem Kapitel ausführlicher behandelt worden sind, werden dagegen wenig behandelt). Beide Arbeiten sind eher für Fortgeschrittene geeignet. <?page no="227"?> 13 Die Negation Die Negation hat in der Geschichte des Deutschen einige ungewöhnliche Phänomene zu bieten. Die wichtigste Entwicklung besteht darin, dass ein Übergang von einer präverbalen zu einer freien Negationspartikel vollzogen wird. Darüber hinaus kann in bestimmten Sprachstufen (und auch in modernen Dialekten) die sogenannte „doppelte Negation“ beobachtet werden: Zwei Negationsträger treten gemeinsam in einem Satz auf, ohne sich gegenseitig (wie dies aus der Logik erwartet werden könnte) aufzuheben. Zunächst wird auf die Negation in Sätzen ohne Indefinita eingegangen (13.1). Dann wird erörtert, inwiefern die zu beobachtende Entwicklung im Rahmen eines zyklischen Modells interpretiert werden kann (13.2). Sätze mit Indefinita, d.h. mit Elementen wie jemand, etwas, je etc., werden in einem eigenen Abschnitt diskutiert, da sie besondere Phänomene aufweisen (13.3). 13.1 Negation in Sätzen ohne Indefinita Die Negation zeigt in der Geschichte des Deutschen einige charakteristische Entwicklungen. Zunächst wurde die Negation hauptsächlich durch eine präverbale, eng mit dem Verb verbundene Partikel ni ausgedrückt, während im Neuhochdeutschen die freie Partikel nicht als Negationsträger fungiert. Diese geht auf ein negatives Indefinitum mit der Bedeutung ‘nichts’ zurück, die sich aber zur einfachen Negation (‘nicht’) abschwächte. In einfachen Sätzen ohne Indefinita (d.h. in Sätzen ohne Elemente wie jemand, etwas, je etc.) finden sich vom Althochdeutschen bis zum Neuhochdeutschen im Wesentlichen drei verschiedene Typen der Negation. Beim ersten, ältesten Typus wird die Negation durch eine vor dem Verb stehende Partikel (ahd. ni, mhd. en, ne, n) ausgedrückt. Im dritten, noch heute zu findenden Typus wird die Negation durch eine frei stehende Partikel (mhd. niht; frnhd. nicht, nit; nhd. nicht) realisiert. Der zweite Typus, der unter anderem im Mittelhochdeutschen vorkommt, verbindet beide Negationsträger und wird deshalb häufig als Bindeglied zwischen dem ältesten und dem noch heute verwendeten Typus gesehen. Da bei diesem zweiten Typus in einem negierten Satz zwei Negationsträger auftreten, die einander aber nicht aufheben, spricht man hier häufig von der „doppelten Negation“ bzw. von der „doppelten Verneinung“ (die anderen Typen werden dagegen als „einfache Negation“ bzw. „einfache Verneinung“ bezeichnet). 13.1.1 Präverbale Partikel (einfache Negation) Im Althochdeutschen wurde die Negation in der Regel durch die Partikel ni ausgedrückt. Dabei steht ni meist direkt vor dem Verb, wie die folgenden Belege <?page no="228"?> Die Negation 228 zeigen. Die Partikel ni wird in den Glossierungen durch NEG (für ‘Negation’) wiedergegeben. Inti ni forstuontun thaz sine eldiron (Tatian 42,19) und NEG verstanden das seine Eltern ‘und seine Eltern verstanden dies nicht’ lat.: & non cognouerunt parentes eius giuuísso thaz ni híluh thih (Otfrid IV 7,30) gewiss das NEG verberge=ich dich ‘das verberge ich dir gewiss nicht’ Die Negationspartikel ni geht mit dem Verb eine besonders enge Bindung ein. Man bezeichnet sie häufig als „klitisch“: Ein „Klitikon“ ist vereinfacht ausgedrückt ein Wort, das selbst über keinen eigenen Akzent verfügt und sich deshalb an ein anderes Wort „anlehnt“ (gr. klínein bedeutet ‘anlehnen’). Das Wort, an das sich das Klitikon anlehnt, wird als „Basis“ (engl. häufig host ‘Wirt, Gastgeber’) bezeichnet. Je nachdem, ob das klitische Element vor oder nach seiner Basis steht, unterscheidet man zwischen Proklitika (vor der Basis) und Enklitika (nach der Basis). Klitische Formen existieren beispielsweise bei Artikeln oder Personalpronomen (beispielsweise kann auch in der Standardsprache anstelle von es die klitische Form ’s auftreten: zeig’s), oder eben auch bei der Negation (zu Klitika vgl. ausführlich Nübling 1992, Nübling et al. 2010: 256-263). Die althochdeutsche Negationspartikel ni ist proklitisch: Sie steht in der Regel vor dem Verb. Ein Reflex der Tatsache, dass die Negationspartikel ni klitisch ist, kann darin gesehen werden, dass sie in althochdeutschen Manuskripten häufig (aber nicht immer) mit dem Verb zusammengeschrieben wird. Negation und Verb bilden dann also eine graphische Einheit (allerdings geben die Editionen althochdeutscher Texte diesbezüglich leider häufig nicht die tatsächlichen Gegebenheiten der Handschrift wieder; vgl. Jäger 2005: 227, Fußnote 2). Ein weiterer möglicher Hinweis auf den klitischen Status von ni ist die Verschmelzung von ni und Verb. Die Verschmelzung findet in der Regel dann statt, wenn das Verb mit einem Vokal anlautet: Statt einem Zusammentreffen zweier Vokale (einem sogenannten „Hiat“) entfällt einer der Vokale bzw. die beiden Vokale verschmelzen zu einem. Dies tritt besonders häufig bei der Verbform ist (3. Pers. Sg. Ind. Präs. des Verbs ‘sein’) auf - aus ni + ist wird nist: nist tót thaz magatin ouh slafit (Tatian 96,18-19) NEG =ist tot das Mädchen, sondern schläft ‘das Mädchen ist nicht tot, sondern schläft’ lat.: non est enim mortua puella. sed dormit uuant ér giuuisso thín nist (Otfrid II 14,54) weil er gewiss dein NEG =ist ‘weil er gewiss nicht deiner ist’ <?page no="229"?> Negation in Sätzen ohne Indefinita 229 Dass ni unselbständig ist und keine eigene Konstituente darstellt, legen außerdem einige Beobachtungen zur Wortstellung nahe. So tritt ni auch dann vor das Verb, wenn das Verb in einem deklarativen Hauptsatz in der linken Satzklammer steht und das Vorfeld, die Position vor dem Verb, bereits besetzt ist. Zwar ist es nicht ausgeschlossen, dass in deklarativen Hauptsätzen des Althochdeutschen noch die Verbdrittstellung möglich ist (vgl. 9.2.3), doch ist die Verbzweitstellung auf jeden Fall wesentlich üblicher. Belege wie die folgenden müssten als Beispiel für Verbdrittstellung angesehen werden, wenn ni nicht als Teil des Verbs interpretiert wird. Eine Auffassung als Verbzweit erscheint demgegenüber plausibler: ín nist íz gigeban (Tatian 110,11) ihnen NEG =ist es gegeben ‘ihnen ist es nicht gegeben’ lat.: illis autem non est datum sie ni bráhtun nan sar (Otfrid I 22,22) sie NEG brachten ihn schnell ‘sie brachten ihn nicht schnell’ Außerdem steht ni auch in solchen Kontexten vor dem Verb, in denen das Verb den Satz eröffnet. Im Althochdeutschen tritt bei Entscheidungsfragen am häufigsten Verberststellung auf (daneben gibt es allerdings im älteren Althochdeutschen auch noch andere Strukturen, vgl. 9.3). Jedoch steht in Entscheidungsfragen ni trotzdem vor dem Verb: Ni uuildu spréchan […] zi mír (Otfrid IV 23, 35) NEG willst=du sprechen zu mir ‘Willst du nicht zu mir sprechen? ’ Auch bei Imperativen steht das Verb in der Regel an erster Stelle (vgl. Schrodt 2004: 135). Doch erscheint, wenn der Imperativ verneint ist, die Negationspartikel vor dem Verb: ni láz thir nan ingángan (Otfrid IV 37,11) NEG lass dir ihn entgehen ‘lass ihn dir nicht entgehen! ’ Es sprechen also mehrere Beobachtungen dafür, in ni keine eigene Konstituente zu sehen. Diesbezüglich unterscheidet sich dieses Element klar vom neuhochdeutschen Negationsträger nicht. Dieser ist nicht klitisch, er kann weder zusammen mit einer anderen Konstituente vor dem Verb im Vorfeld stehen (*ihnen nicht ist es gegeben) noch vor dem Verb in Sätzen mit Verberststellung auftreten (*nicht willst du sprechen zu mir? , *nicht lass ihn dir entgehen! ). Mit der Nebensilbenschwächung (vgl. 6.5, 11.4) wurde ahd. ni bereits im Spätalthochdeutschen zu ne geschwächt, im Mittelhochdeutschen erscheint die Negationspartikel als ne, en oder n. Sie verbindet sich im Mittelhochdeutschen <?page no="230"?> Die Negation 230 sowohl proklitisch mit dem Verb als auch (seltener) enklitisch mit dem vorangehenden Wort (vgl. Paul et al. 2007: 388 = § S 143, Jäger 2008: 125-127). In den folgenden Belegen steht die Negationspartikel jeweils im gleichen Kontext (zwischen dem Personalpronomen ‘ich’ und der 1. Sg. Ind. Präs. des Verbs ‘wissen’) enklitisch nach dem Personalpronomen bzw. proklitisch vor dem Verb: ine weiz, wer si des bæte (Parzival 4961 = 167,1) ich NEG weiß wer sie dessen bäte ‘ich weiß nicht, wer sie darum bat’ Herre, ich enweiß wer er sy (Prosalancelot 22,10) Herr ich NEG =weiß wer er sei ‘Herr, ich weiß nicht, wer er ist’ Im Althochdeutschen werden die meisten negativen Sätze allein durch präverbales ni gebildet, dies kann als Haupttypus der althochdeutschen Negation angesehen werden. Nach Jäger (2008: 59), die mehrere althochdeutsche Texte untersucht (allerdings nur Isidor und Tatian vollständig), macht dieser Typus jeweils mindestens 65 % aller Belege für negierte Sätze aus (in Tatian beispielsweise sind es 770 von 956 negierten Sätzen, d.h. 81 %). Im Mittelhochdeutschen ist dieser Typus dagegen schon wesentlich seltener: In drei mittelhochdeutschen Texten, von denen jeweils hundert negierte Sätze ausgewertet wurden, wird die Negation nach Jäger (2008: 116) nur noch in 2 % bis 7 % der negierten Sätze durch ne/ en/ n allein realisiert. Für ein Korpus von Texten von 1470 bis 1530 kommt Pensel auf durchschnittlich 1,5 %, wobei der Anteil im niederdeutschen Gebiet mit 5,4 % etwas höher liegt (vgl. Pensel 1976: 299). Nach Ebert (1993: 426 = § S 230) finden sich letzte Spuren dieses Typs im 16. Jahrhundert. Im Lauf der deutschen Sprachgeschichte verschwindet er vollständig: Er ist im Althochdeutschen zunächst das dominierende Muster, wird aber bereits im Mittelhochdeutschen selten. Die einfache Verneinung mit der präverbalen, klitischen Negationspartikel geht spätestens in frühneuhochdeutscher Zeit verloren. 13.1.2 Präverbale Partikel + freie Partikel (doppelte Negation) Bereits im Althochdeutschen besteht die Möglichkeit, dass in einem negierten Satz neben der präverbalen Negationspartikel ni noch ein negiertes Indefinitum auftritt (diese Konstruktion wird in 13.3.2 eingehend behandelt). Ein negiertes Element, das zusammen mit der Negationspartikel ni auftreten kann, ist das Indefinitum niowiht ‘nichts’. Im folgenden Beleg steht es für lateinisches nihil ‘nichts’, doch zusätzlich, und ohne lateinische Entsprechung, findet sich die präverbale Negationspartikel ni, es treten also zwei Negationsträger im gleichen Satz auf: uuanta uzzan mih nimugut ir niouuiht duon (Tatian 283,14-15) denn ohne mich NEG =könnt ihr nichts tun ‘denn ohne mich könnt ihr nichts tun’ lat.: quia sine me nihil potestis facere <?page no="231"?> Negation in Sätzen ohne Indefinita 231 Das negative Indefinitum niowiht enthält neben dem Negationsträger das ursprünglich substantivische wiht ‘Wesen, Ding’. Die Bedeutung von niowiht (und auch die phonetische Form) schwächt sich aber bereits in althochdeutscher Zeit ab: Es verliert seine indefinite Semantik und wird damit zu einem reinen Negationsträger (vgl. Jäger 2008: 107). Als „neue“ einfache Negationspartikel (d.h. nicht mehr mit der ursprünglichen indefiniten Bedeutung) tritt es erstmals in spätalthochdeutscher Zeit auf. Da diese freie Negationspartikel zusammen mit der präverbalen Negationspartikel auftreten kann, kommt es zu Sätzen mit „doppelter Negation“, d.h. zu Sätzen mit zwei Negationsträgern, aber einfach negativer Bedeutung. Entsprechende Belege finden sich in spätalthochdeutscher Zeit bei Notker, das ursprüngliche niowiht erscheint bei ihm deutlich geschwächt als niêht: Ih nehábo niêht in ‿ geméitun sô uílo geuuêinot (Notker, Psalter 20,23-24) ich NEG =habe nicht vergeblich so viel geweint ‘ich habe nicht vergeblich so viel geweint’ Die doppelte Verneinung gilt als besonders charakteristisch für das Mittelhochdeutsche. Gemäß vielen Untersuchungen treten im Mittelhochdeutschen die Verneinungspartikeln en/ ne/ n und niht regelmäßig zusammen auf (vgl. z.B. Wolf 2000: 1356). Mittelhochdeutsche Belege für die doppelte Verneinung zeigen die folgenden Beispiele: ichn weiz niht, hêrre, wer ir sît (Parzival 15221 = 509,25) ich= NEG weiß nicht Herr wer ihr seid ‘ich weiß nicht, Herr, wer ihr seid’ wann er wolt das yn der ritter niht ensehe (Prosalancelot 229,25-26) denn er wollte dass ihn der Ritter nicht NEG =sehe ‘denn er wollte, dass ihn der Ritter nicht sähe’ Die Ansicht, dass die doppelte Verneinung die typische mittelhochdeutsche Form der Negation sei, muss allerdings revidiert werden: Jäger (2008: 120) kommt aufgrund einer Analyse von jeweils hundert negierten Sätze aus drei mittelhochdeutschen Texten zum Schluss, dass die doppelte Verneinung nur 4 % (Berthold von Regensburg) bis 27 % (Prosalancelot) aller negierten Sätze ausmacht. Wahrscheinlich wird die doppelte Negation, die ja im Mittelhochdeutschen durchaus vorkommt, als besonders typisch wahrgenommen, weil sie eine im Neuhochdeutschen nicht mehr mögliche Struktur darstellt und deshalb im Vergleich zum Neuhochdeutschen besonders „auffällig“ ist. In diesem Zusammenhang zeigt sich der verzerrende Effekt der kritischen Ausgaben mittelhochdeutscher Texte deutlich: Die Herausgeber „klassischer“ mittelhochdeutscher Texte fügten häufig die Negationspartikel en in ihren Ausgaben hinzu, auch wenn die Handschrift „nur die Negation niht aufweist“ (Paul et al. 2007: 388 = § S 143). Aus der bereits dem neuhochdeutschen Muster entsprechenden einfachen Verneinung durch niht wurde in solchen Fällen somit die „typisch mittelhochdeutsche“ doppelte Verneinung künstlich wieder hergestellt (vgl. 4.3.1). <?page no="232"?> Die Negation 232 Im 16. Jahrhundert findet sich die doppelte Negation in Sätzen ohne Indefinita nur noch in Spuren (vgl. Ebert 1993: 426 = § S 230). In einem Korpus mit Texten aus dem Zeitraum von 1470-1530 macht dieser Typus insgesamt noch 5,7 % aller negierten Sätze aus (vgl. Pensel 1976: 300). Das folgende Beispiel stammt aus dem Jahr 1497: So enkünent sie nit geheilen (Brunschwig, Cirurgia; zit. n. Pensel 1976: 300) so NEG =können sie nicht heilen ‘so können sie nicht heilen’ Beim Verlust der präverbalen Negationspartikel en/ ne/ n wirken sich innersprachliche Faktoren aus: Nach Behaghel (1918: 244) verschwindet die Negationspartikel zunächst bei Verben, die selbst ein unbetontes Präfix aufweisen. Sie bleibt umgekehrt dann am längsten erhalten, wenn sie unmittelbar nach niht steht, was besonders in Nebensätzen häufig ist (vgl. Behaghel 1918: 246). Ein Beispiel dafür zeigt der folgende Beleg: sie dete als ob sies nicht enhörte (Prosalancelot 298,17) sie täte als ob sie=es nicht NEG =hörte ‘sie tat, als ob sie es nicht hörte’ Nach Behaghel (1918: 245) findet sich ein letzter Überrest dieser Konstruktion in der neuhochdeutschen Fügung mitnichten: Das zwischen nicht und dem Verb stehende en, wie es beispielsweise im oben angeführten Beleg in nicht enhörte auftritt, wird als Teil von nicht (und nicht als Teil des Verbs aufgefasst), woraus sich die Form nichten erklärt. Hier ist also das alte Negationspräfix noch „fossiliert“ erhalten. Beim Verschwinden der Negationspartikel zeigen sich landschaftliche Unterschiede. Schon die mittelhochdeutschen Daten von Jäger (2008) lassen auf gewisse regionale Differenzen schließen: Beim bairisch geprägten Mittelhochdeutsch Bertholds von Regensburg macht die doppelte Verneinung nur 4 % aus, im westmitteldeutschen Prosalancelot dagegen immerhin 27 %. Besonders klare Daten haben wir im Frühneuhochdeutschen für die Zeit von 1470 bis 1530. Während die doppelte Negation in Pensels Korpus in den ostmitteldeutschen Texten gar nicht mehr belegt ist und in den westoberdeutschen und ostoberdeutschen Texten jeweils nur 0,9 % aller Belege ausmacht, ist dieser Typus in westmitteldeutschen Texten mit 12,6 % und in niederdeutschen Texten mit 14,0 % noch deutlich besser vertreten (vgl. Pensel 1976: 298-301). In bestimmten Gegenden hat sich dieser Typus also länger gehalten als in anderen. Interessanterweise ist er sogar in modernen westmitteldeutschen Dialekten, also genau in einem der Dialektgebiete, in dem er in frühneuhochdeutscher Zeit häufiger festgestellt werden kann als anderswo, zumindest zu Anfang des 20. Jahrhunderts noch belegt. Das folgende Beispiel stammt aus dem ripuarischen Dialektgebiet (d.h. aus der Gegend um Köln): <?page no="233"?> Die Entwicklung der Negation als Zyklus 233 dat endōn iχ net (Münch 1904: 192) das NEG =tue ich nicht ‘das tue ich nicht’ 13.1.3 Freie Partikel (einfache Negation) Mit dem Verschwinden der Negationspartikel en/ ne/ n in mittelhochdeutscher und frühneuhochdeutscher Zeit verbleibt niht, das ursprüngliche negative Indefinitum, als einziger Negationsträger. Es tritt schon in althochdeutscher Zeit neben seiner Funktion als negatives Indefinitum (‘nichts’) auch als Negationspartikel auf. Ab mittelhochdeutscher Zeit finden sich viele Sätze mit Einfachnegation, in denen nur niht als Negationsträger erscheint. Strukturell entspricht diese Form der Verneinung im Wesentlichen der noch im Neuhochdeutschen üblichen Negation. Die folgenden Belege zeigen diese Struktur im Mittelhochdeutschen: nû suln wir niht verliesen (Parzival 1862 = 63,10) nun sollen wir nicht verloren gehen ‘nun wollen wir nicht untergehen’ Und thete ich des niht (Prosalancelot 11,14-15) und täte ich das nicht ‘und täte ich das nicht’ Nach Jäger (2008: 120), die jeweils die ersten hundert negierten Sätze dreier mittelhochdeutscher Texte untersucht, machen diejenigen negierten Sätze, in denen ausschließlich niht als negiertes Element auftritt, zwischen 28 % und 45 % aus. Es handelt sich also um einen bereits in mittelhochdeutscher Zeit gut etablierten Typus, der - anders, als viele Darstellungen vermuten lassen - wesentlich häufiger ist als die doppelte Negation. In frühneuhochdeutscher Zeit dominiert dieser Typus klar: In Pensels Korpus, das Texte von 1470 bis 1530 umfasst, macht er insgesamt 86,6 % aus, in den ostmitteldeutschen Texten beträgt der Anteil dieses Typs sogar 97,7 % (vgl. Pensel 1976: 298). 13.2 Die Entwicklung der Negation als Zyklus Die historische Entwicklung der Negation wird, einer 1917 erstmals publizierten bahnbrechenden Arbeit des dänischen Linguisten Otto Jespersen (1860-1943) folgend, häufig als Zyklus aufgefasst. Meist wird vom „Jespersen-Zyklus“ (engl. Jespersen cycle oder Jespersen’s cycle) gesprochen (vgl. van der Auwera 2009: 75, 2010). Jespersen beschrieb die Entwicklung der Negation vor allem mit Bezug auf das Englische, hatte aber auch andere Sprachen im Blick. Ähnliche diachrone Veränderungen der Negation finden sich in vielen Sprachen in paralleler Art und Weise. Laut Jespersen kann in der Entwicklung der Negation die folgende Abfolge beobachtet werden (nach Jäger 2005: 229; vgl. van der Auwera 2009: 38, 2010: 76): <?page no="234"?> Die Negation 234 Stufe I: Negation wird durch eine Partikel ausgedrückt (einfache Negation); die Partikel wird abgeschwächt (klitisiert) und durch ein zusätzliches Element verstärkt Stufe II: Negation wird durch die klitisierte Partikel und das verstärkende Element ausgedrückt (doppelte Negation); der klitische Negationsträger wird zunächst optional, verschwindet schließlich vollständig Stufe III: Negation wird durch das ursprünglich verstärkende Element ausgedrückt, dieses ist der neue eigenständige Negationsträger (einfache Negation); mit der Schwächung des ursprünglich verstärkenden Elements beginnt der Zyklus von Neuem Als ein Beispiel für diese zyklische Entwicklung wird auf das Französische hingewiesen: Während im Altfranzösischen die Verneinung durch die präverbale Negationspartikel ne gebildet wurde (= Stufe I, einfache Negation), tritt im modernen Standardfranzösischen nach dem Verb das Element pas hinzu, die Verneinung wird also durch die beiden Negationsträger ne … pas geleistet, die das Verb umschließen (= Stufe II, doppelte Negation). In gesprochenen Varietäten des Französischen besteht die Tendenz, die präverbale Negationspartikel ne wegzulassen. Die Verneinung wird damit nur noch durch den Negationsträger pas realisiert (= Stufe III, einfache Negation). Dies wird durch die folgenden Beispiele (nach Lenz 1996b: 183) illustriert: Stufe I jeo ne di (Altfranzösisch) ich NEG sage Stufe II je ne dis pas (modernes Standardfranzösisch) ich NEG sage NEG Stufe III je dis pas (modernes gesprochenes Französisch) ich sage NEG ‘ich sage nicht’ Lange wurde auch die Geschichte der Negation im Deutschen als ein Beispiel für den Jespersen-Zyklus angesehen. Auf den ersten Blick spricht einiges für diese Auffassung: Im Althochdeutschen wird die Negation zunächst nur durch die klitische präverbale Partikel ni geleistet (vgl. 13.1.1; Stufe I). Ab spätalthochdeutscher Zeit kann nieht bzw. mhd. niht hinzutreten (vgl. 13.1.2; Stufe II). Ab mittelhochdeutscher Zeit entfällt die klitische Negationspartikel en/ ne/ n zunehmend, womit nur mehr niht (bzw. frnhd. und nhd. nicht) als Negationselement verbleibt (vgl. 13.1.3; Stufe III). Problematisch an diesem Szenario ist allerdings Stufe II: Es scheint in der Geschichte des Deutschen keine oder zumindest keine längere Periode gegeben zu haben, in der Stufe II (die doppelte Negation) das dominierende Muster war. Die doppelte Negation tritt in spätalthochdeutscher und mittelhochdeutscher Zeit zwar auf, doch ist sie, anders, als dies oft dargestellt wird, nie der häufigste Typus (vgl. Jäger 2008: 122). Vielmehr scheint - wenn man die Terminologie des Jespersen-Zyklus verwendet - ein beinahe direkter <?page no="235"?> Negation in Sätzen mit Indefinita 235 Übergang von Stufe I in Stufe III vorzuliegen bzw. Stufe II kann als „Überlappung“ zwischen Stufe I und Stufe III aufgefasst werden. 13.3 Negation in Sätzen mit Indefinita Als „Indefinita“ werden Pronomen und Adverbien wie etwa jemand/ niemand, etwas/ nichts etc., die indefinite Bedeutung haben, bezeichnet. Indefinita können im Neuhochdeutschen sowohl in positiver als auch in negativer Form auftreten (niemand ist das negative Gegenstück zu jemand, nichts ist das negative Gegenstück zu etwas). Das gilt auch bereits für das Alt- und Mittelhochdeutsche, wie die folgende (etwas vereinfachte) Darstellung zeigt. Das jeweils erste Indefinitum in einer Spalte ist positiv, das zweite dagegen negativ: Ahd. Mhd. Nhd. Person ioman - nioman ieman - nieman(d) jemand - niemand Sache (io)wiht - ni(o)wiht iht - niht etwas - nichts Zeit io - nio ie - nie je(mals) - nie(mals) Determination ein - nihein ein - ne(c)hein (irgend)ein - kein Indefinita im Alt-, Mittel- und Neuhochdeutschen (nach Jäger 2008: 178, 182, 252) Während die Indefinita, die in der Tabelle mit „Person“, „Sache“ und „Zeit“ umschrieben sind, alleine vorkommen, treten die mit „Determination“ bezeichneten Indefinita in der Regel als Attribut zu einem Substantiv auf ((irgend)ein Buch - kein Buch). Da Indefinita sowohl positiv als auch negativ sein können, bestehen in negierten Sätzen mit einem Indefinitum grundsätzlich drei Möglichkeiten, wie die Negation realisiert werden kann: • Negationspartikel + positives Indefinitum • Negationspartikel + negatives Indefinitum (Negationskongruenz, „doppelte Negation“) • negatives Indefinitum Diese drei Möglichkeiten sind in den verschiedenen Sprachstufen des Deutschen alle bezeugt, sie werden in den folgenden Abschnitten etwas eingehender besprochen. Wenn ein eigenständiger Negationsträger zusammen mit einem negativen Indefinitum auftritt, kommen in einem Satz zwei Negationsträger vor, die einander in ihrer Bedeutung aber nicht aufheben, wie man aus der Logik vermuten würde. Da sowohl das Indefinitum als auch die Negationspartikel negative Bedeutung aufweisen, wird bei dieser Konstruktion häufig von „Negationskongruenz“ gesprochen (die beiden negativen Elemente stimmen miteinander überein). Häufig wird diese Konstruktion aber einfach auch, wie die in 13.1.2 behandelte Struktur, als „doppelte Negation“ bzw. „doppelte Verneinung“ bezeichnet. In Sätzen, in denen zwei oder noch mehr Indefinita auftreten, können alle Indefinita miteinander „kongruieren“, d.h. negativ sein. Falls noch eine weitere <?page no="236"?> Die Negation 236 Negationspartikel hinzutritt, finden sich drei (oder noch mehr) Negationsträger. In einem solchen Fall spricht man häufig von der „Mehrfachnegation“. Sätze mit mehr als einem Indefinitum werden in 13.3.3 behandelt. 13.3.1 Negationspartikel + positives Indefinitum In 13.1 haben wir gesehen, dass die Negation in Sätzen ohne Indefinitum zunächst durch ein vor dem Verb stehendes klitisches ni (ahd.) bzw. ne/ en/ n (mhd.) realisiert wird und später durch das freistehende niht (mhd.) bzw. nicht, nit (frnhd., nhd.) ersetzt wird. In Sätzen mit Indefinita kann im Alt- und Mittelhochdeutschen die Negation zunächst durch die jeweilige Negationspartikel zusammen mit einem positiven Indefinitum ausgedrückt werden: mih ér íó ni gisáhi (Otfrid II 7,60) mich früher je NEG sahst ‘sahst du mich früher nie? ’ er sprach ein wort nicht und lieff in ein ander kammer zuhant (Prosalancelot 89,5-6) er sprach ein Wort nicht und lief in ein anderes Zimmer sofort ‘er sprach kein Wort und lief sofort in ein anderes Zimmer’ Das positive Indefinitum kann dabei auch mit zwei Negationspartikeln verbunden sein: Im folgenden Beleg tritt zusammen mit dem positiven Indefinitum ein sowohl en als auch nicht auf. Dies in praktisch demselben Kontext (ein wort sprechen) wie das eben angeführte Beispiel, wo aber als Negationspartikel nur nicht vorhanden ist: Phariens schweig das er ein wort nicht ensprach (Prosalancelot 105,31) Phariens schwieg dass er ein Wort nicht NEG =sprach ‘Phariens schwieg, sodass er kein Wort sprach’ Noch im Neuhochdeutschen können Sätze gebildet werden, in denen eine Negationspartikel und ein positives Indefinitum auftreten, etwa er sagte nicht ein Wort. Dieser Negationstyp, bei dem die Negationspartikel mit einem positiven Indefinitum verbunden wird, ist schon im Althochdeutschen belegt. Er ist in Tatian relativ selten (insgesamt 6 Beispiele, das entspricht 9 % aller negierten Sätze mit Indefinitum), bei Otfrid (zu dem allerdings nur 17 negierte Sätze mit Indefinitum ausgewertet wurden) dagegen etwas häufiger (vgl. Jäger 2008: 208). Im Mittelhochdeutschen macht dieser Typus (aufgrund einer Analyse von jeweils hundert negierten Sätzen in drei mittelhochdeutschen Texten) nur noch einen verschwindend geringen Prozentsatz aus (zwischen 0 % und 4 %; vgl. Jäger 2008: 284). Dieser Typus der Verneinung bei Indefinita besteht somit zwar bis heute, hat aber spätestens seit mittelhochdeutscher Zeit nur noch marginalen Status. <?page no="237"?> Negation in Sätzen mit Indefinita 237 13.3.2 Negationspartikel + negatives Indefinitum (Negationskongruenz) In Sätzen mit einem Indefinitum kann die Negation auch durch eine Negationspartikel in Verbindung mit einem ebenfalls negativen Indefinitum realisiert werden. Ist dies der Fall, liegt sogenannte „Negationskongruenz“ (engl.: negative concord) vor: Die Negationspartikel und das Indefinitum „kongruieren“, indem sie in der negativen Bedeutung übereinstimmen. Die beiden Negationen heben einander nicht auf, wie man dies aus dem Satz „Minus mal Minus gibt Plus“ erwarten würde, sondern der Satz ist insgesamt verneint. Auch diese Struktur wird in der Literatur häufig als „doppelte Verneinung“ bezeichnet. Anders als bei der in 13.1.2 behandelten Konstruktion, in der zwei Negationspartikeln als Negationsträger auftreten, ist hier aber einer der Negationsträger ein Indefinitum, insofern liegt also ein anderer Typus vor. Der Begriff „Negationskongruenz“ hat den Vorteil, dass er genauer ist, weil damit nur Sätze mit Indefinita bezeichnet werden, wogegen „doppelte Negation“ sowohl Sätze mit als auch Sätze ohne Indefinita umfassen kann. Der Begriff „Negationskongruenz“ hat außerdem den Vorteil, dass er zudem auf Sätze angewandt werden kann, in denen mehrere Indefinita miteinander „kongruieren“ (vgl. 13.3.3). Der in 13.1.2 diskutierte mittelhochdeutsche Typus der doppelten Verneinung mittels en/ ne/ n + niht geht letztlich auf die Negationskongruenz zurück: niht ist aus einem negativen Indefinitum, ahd. niowiht ‘nichts’ entstanden. Bei bestimmten Belegen ist es schwer zu entscheiden, ob niht die Bedeutung der Negationspartikel (also ‘nicht’) oder des negativen Indefinitums (also ‘nichts’) aufweist. Negationskongruenz ist bereits im Althochdeutschen belegt. Im folgenden Beleg aus dem althochdeutschen Tatian sind syntaktische Strukturen möglicherweise vom lateinischen Original beeinflusst (vgl. Kapitel 2). Es ist deshalb bemerkenswert, dass im althochdeutschen gegen den lateinischen Text auch die Verneinungspartikel ni neben dem negierten Indefinitum (dem lateinischen nemo ‘niemand’ entspricht das althochdeutsche nioman) auftritt. Dies ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass es sich bei der Negationskongruenz um eine genuin althochdeutsche Struktur handelt. Nioman nimag zuuein herron thionon (Tatian 69,29) niemand NEG =kann zwei Herren dienen ‘niemand kann zwei Herren dienen’ lat.: N emo potest duobus dominis seruire Entsprechende Beispiele finden sich auch in althochdeutschen Texten ohne lateinische Vorlage. Außerdem ist die Konstruktion im Mittelhochdeutschen, Frühneuhochdeutschen und älteren Neuhochdeutschen belegt, wie die folgenden Beispiele zeigen: Thaz níaman thar ni ríafi (Otfrid IV 29,47) dass niemand da NEG rufe ‘dass da niemand rufe’ <?page no="238"?> Die Negation 238 Joch enwart nie reyner ritter dann er ist an allem sinem thund (Prosalancelot 505,31-32) und NEG =wurde nie reinerer Ritter als er ist an allem seinem Tun ‘und es gab nie einen in all seinem Tun reineren Ritter als er es ist’ Im ist ouch nit zu geben keyn artzzeny (Brunschwig, Cirurgia; zit. n. Pensel 1976: 296) ihm ist auch nicht zu geben keine Arznei ‘ihm ist auch keine Arznei zu verabreichen’ Auch die Negationskongruenz gilt in vielen Handbüchern als typisch für das Mittelhochdeutsche. Wie Jäger (2008) zeigt, ist sie allerdings wesentlich charakteristischer für das Althochdeutsche: Während etwa in Tatian 87 % aller negierten Sätze mit Indefinitum Negationskongruenz aufweisen (vgl. Jäger 2008: 208), macht sie in den ausgewerteten mittelhochdeutschen Texten nur zwischen 9 % und 37 % aus (vgl. Jäger 2008: 284). Im älteren Neuhochdeutschen ist dieser Typus nur noch marginal vorhanden: In einem Korpus von 875 negierten Sätzen, die aus dem Zeitraum von 1670 bis 1730 stammen, weisen nur 7 Negationskongruenz auf (vgl. Pensel 1976: 314-315). Damit ist dieser Typus allerdings nicht völlig aus dem Deutschen verschwunden: Noch im 19. Jahrhundert finden sich in Auswandererbriefen, d.h. in einer Textsorte, die der gesprochenen Sprache nahesteht, zahlreiche Belege, wie Elspaß (2005: 275-283) zeigt. Interessant ist dabei, dass die meisten Beispiele aus dem oberdeutschen Sprachraum stammen (vgl. Elspaß 2005: 280), obwohl auch Belege aus dem mitteldeutschen und niederdeutschen Gebiet vorhanden sind. Das folgende Beispiel zeigt diese Struktur: Noch eins seid nur nicht bange hier ist kein Krieg nicht und ich brauche nicht zu streiten. (Auswandererbrief 1864; zit. n. Elspaß 2005: 278) Auch in zahlreichen modernen Dialekten tritt Negationskongruenz auf. Am bekanntesten ist vielleicht das Bairische, doch finden sich entsprechende Belege auch für andere Dialekte, etwa im Nordniederdeutschen: Koa Mensch is ned kema (Bairisch; Weiß 1998: 179) kein Mensch ist nicht gekommen ‘kein Mensch ist gekommen’ De Hund hett em narms nich sehn (Nordniederdeutsch; Lindow et al. 1998: 285) der Hund hat ihn nirgends nicht gesehen ‘der Hund hat ihn nirgends gesehen’ Da sich die Negationskongruenz in Texten, die der gesprochenen Sprache nahekommen, und in modernen Dialekten noch findet, stellt sich die Frage, weshalb sie aus dem Neuhochdeutschen verschwunden ist. Es scheint denkbar, dass sich hier normative Vorstellungen durchgesetzt haben (vgl. 14.3.1). <?page no="239"?> Negation in Sätzen mit Indefinita 239 13.3.3 Negierte Sätze mit mehreren Indefinita Einen interessanten Sonderfall stellen Sätze mit mehreren Indefinita dar. Hier kann entweder nur ein Indefinitum negiert werden, doch kommt es auch vor, dass mehrere negative Indefinita nebeneinander stehen. Bisweilen finden sich bis zu drei (selten mehr) Negationsträger in einem Satz (etwa zwei negative Indefinita und ein weiterer Negationsträger). Auch hier liegt Übereinstimmung in der Negation, also „Negationskongruenz“, vor. Solche Strukturen werden gelegentlich auch als „Mehrfachnegation“ bezeichnet, man kann auch von „Negationsausbreitung“ sprechen (in der englischsprachigen Literatur ist häufig von negative spreading die Rede). Für das Althochdeutsche gilt es als typisch, dass nur ein Indefinitum negiert ist (vgl. Jäger 2008: 213). Im folgenden Beispiel ist nihein ‘kein’ ein negatives Indefinitum, íó ‘je(mals)’ dagegen ein positives, dazu tritt noch die präverbale Negationspartikel: mih íó gómman nihein· in min múat ni biréin (Otfrid I 5,38) mich je Mann kein in meinem Geist NEG berührte ‘mich hat kein Mann in meinem Geist je berührt’ Doch gibt es auch Sätze mit zwei negativen Indefinita, etwa im folgenden spätalthochdeutschen Beleg (niemals + niemand) oder in dem mittelhochdeutschen Beispiel (nie + kein). Auch in diesen Sätzen tritt neben den Indefinita noch die klitische Negationspartikel en auf: Tíu nîom-er nîomanne guís neuuírdet (Notker, Consolatio 45,16) die niemals niemandem gewiss NEG =wird ‘die niemals jemandem bekannt sein wird’ Ich enwart nie keins dinges so fro (Prosalancelot 512,4) ich NEG =wurde nie keines Dinges so froh ‘ich wurde nie eines Dinges so froh’ Mehrere negative Indefinita können allerdings auch ohne zusätzliche Negation durch en/ ne/ n bzw. niht auftreten. Dies zeigen die folgenden Beispiele für das Mittelhochdeutsche und ältere Neuhochdeutsche. Entsprechende Belege finden sich auch schon in althochdeutscher Zeit (Jäger 2008: 213 führt beispielsweise einen Beleg aus dem Tatian an): daz umbe ir reise und umbe ir vart / nie nieman nihtes innen wart (Tristan 9503- 9504) dass um ihre Reise und um ihre Fahrt nie niemand nichts inne ward ‘dass von ihrer Reise und ihrer Fahrt nie jemand etwas erfuhr’ daß gleichwol sonst niemand nichts darvon wuste (Grimmelshausen, Simplicissimus 482) ‘dass dennoch sonst niemand etwas davon wusste’ <?page no="240"?> Die Negation 240 Belege für das Auftreten zweier (oder mehrerer) negativer Indefinita werden in schriftlichen Texten des Neuhochdeutschen zunehmend selten. Doch lassen sich Belege für diese Struktur in Auswandererbriefen des 19. Jahrhunderts durchaus finden: de ] es braucht ja Niemand nichts davon zu wissen (Auswandererbrief 1854; zit. n. Elspaß 2005: 278) ‘denn es braucht ja niemand etwas davon zu wissen’ Auch in modernen Dialekten, beispielsweise im Bairischen, gibt es diese Konstruktion noch. Im folgenden Beispiel tritt neben zwei negativen Indefinita die Verneinungspartikel ned ‘nicht’ auf: Mia hod neamad koa stikl broud ned gschengd (Weiß 1998: 179) mir hat niemand kein Stück Brot nicht geschenkt ‘mir hat niemand ein Stück Brot geschenkt’ Die sehr auffällige Mehrfachnegation bzw. das Auftreten zweier negativer Indefinita hat sich also, wie die doppelte Negation in Sätzen mit einem Indefinitum, in der gesprochenen Sprache nahestehenden Texten und in Dialekten teilweise noch erhalten. Aus dem geschriebenen Standard ist sie jedoch vollständig verschwunden (vgl. 14.3.1). 13.3.4 Negation durch negatives Indefinitum In negierten Sätzen mit einem Indefinitum kann die Negation auch ausschließlich durch ein negatives Indefinitum als einzigem Negationsträger realisiert werden. Entsprechende Beispiele gibt es schon in althochdeutscher und mittelhochdeutscher Zeit. Im althochdeutschen Tatian finden sich zahlreiche entsprechende Belege, die dem lateinischen Text folgen (vgl. Donhauser 1998b: 287). Das unten angeführte Tatian-Beispiel ist jedoch insofern gegen die lateinische Vorlage konstruiert, als im lateinischen Text ein positives Indefinitum (quisquam ‘jemand’) vorliegt, im althochdeutschen dagegen ein negatives (níoman ‘niemand’); als Negationsträger im lateinischen Text tritt stattdessen nondum ‘noch nicht’ auf: In themo noh nu níoman Ingisezzit uuas (Tatian 322,5-6) in dem noch nun niemand eingesetzt war ‘in welchem noch niemand eingesetzt war’ lat.: In quo nondum quisquam positus fuerat und weind so sere das sie nymant getrosten kunde (Prosalancelot 636,10-11) und weinte so sehr dass sie niemand trösten konnte ‘und sie weinte so sehr, dass niemand sie trösten konnte’ Dieser Typus ist im Althochdeutschen sehr selten, im Mittelhochdeutschen dagegen sehr häufig: Jäger (2008: 208 bzw. 284) nennt als relative Zahlen 3 % bzw. <?page no="241"?> Literaturhinweise 241 77 %. Im Frühneuhochdeutschen dürfte dieser Typ ebenfalls weit verbreitet sein. In der neuhochdeutschen Standardsprache handelt es sich um eine gut etablierte Konstruktion. Literaturhinweise Die Entwicklung der Negation im Deutschen ist in zahlreichen Arbeiten behandelt worden. Am aktuellsten sind der Artikel und die Monographie von Jäger (2005, 2008). Diese beziehen sich vor allem auf das Alt- und Mittelhochdeutsche und sind in einem generativen Rahmen geschrieben, doch können die Abschnitte zu den einzelnen Konstruktionen auch mit geringen Vorkenntnissen gelesen werden. Gut zu lesen und methodologisch sehr anregend ist der Artikel von Donhauser (1998b) zum Althochdeutschen. Eine in Bezug auf die Analyse nach verschiedenen Regionen, Epochen und Textsorten vorbildliche Arbeit ist die Untersuchung von Pensel (1976). Sehr materialreich, aber nicht besonders aktuell ist die Darstellung von Behaghel (1918), deren Daten und Ergebnisse auch in Behaghels Syntax (1924: 65-92) zu finden sind. Der Jespersen-Zyklus wird mit Bezug auf deutsche Daten im gut lesbaren Artikel von Lenz (1996b) behandelt. Eine aktuelle Diskussion des Jespersen-Zyklus aufgrund von Daten aus einer ganzen Reihe verschiedener Sprachen bieten die Artikel von van der Auwera (2009, 2010). <?page no="243"?> Teil III: Erklärungen In diesem letzten Teil geht es um Erklärungsansätze für syntaktischen Wandel. Sprachwandel - und somit Syntaxwandel - wird auf zwei grundlegend verschiedene Ursachen zurückgeführt: einerseits auf „interne“, andererseits auf „externe Faktoren“. Die internen Faktoren sind im Sprachsystem selbst begründet, die externen Faktoren liegen dagegen außerhalb des Sprachsystems. Entsprechend können Erklärungen bestimmter Wandelerscheinungen auf interne oder externe Faktoren (oder eine Kombination von beidem) Bezug nehmen. Beispielsweise wird der Verlust des Genitivs als Objektkasus im Deutschen von manchen Autoren mit dem Verlust der grammatischen Kategorie Aspekt in Zusammenhang gebracht (vgl. 6.3.2). Diese Erklärung stützt sich auf eine andere Entwicklung, die im Sprachsystem selbst angelegt ist, also auf interne Faktoren. Wenn sie korrekt ist, ist der Verlust des Genitivs als Objektkasus in der internen Entwicklung, der Entwicklung des Sprachsystems begründet. Dagegen wird beispielsweise der Verlust der Negationskongruenz in der Standardsprache mit präskriptivem Druck, d.h. mit Normierungen, in Zusammenhang gebracht (vgl. 13.3.2, 13.3.3). Wenn diese Erklärung korrekt ist, liegt der Grund für den Verlust der doppelten Verneinung außerhalb des Sprachsystems. Bei vielen Phänomenen der historischen Syntax des Deutschen ist umstritten, ob sie intern oder extern motiviert sind. Interne und externe Motivationen können auch gemeinsam wirken; dann stellt sich die Frage, wie hoch ihr jeweiliger Anteil ist bzw. in welchem Verhältnis genau sie zueinander stehen. In der historischen Linguistik wird kontrovers diskutiert, wie interne und externe Faktoren (und deren eventuelle Interaktion) bei der Erklärung bestimmter Wandelerscheinungen gewichtet werden sollen. Manche Linguisten sind grundsätzlich geneigt, interne Faktoren als wichtiger und zentraler anzuschauen, andere sehen eher externe Faktoren als den Hauptmotor von Sprachwandelerscheinungen an. In den fünf folgenden Kapiteln werden externe und interne Erklärungsansätze für syntaktischen Wandel etwas eingehender vorgestellt und diskutiert. Unter externe Erklärungen für syntaktischen Wandel fallen unter anderem präskriptive Normierungen und Sprachkontakt. Diese werden in den Kapiteln 14 bzw. 15 behandelt. Innerhalb der internen Erklärungen gibt es eine grundlegende Unterscheidung zwischen „funktionalen“ und „formalen“ Ansätzen: Funktionale Ansätze argumentieren mit der jeweiligen Funktion einer sprachlichen Struktur, dagegen sind für formale Ansätze die jeweiligen strukturellen Gegebenheiten ausschlaggebend. Mit diesen beiden Ansätzen befassen sich die Kapitel 16 bzw. 17. In Kapitel 18 wird mit der Optimalitätstheorie ein Ansatz vorgestellt, der sich unter anderem zur Darstellung und Modellierung von diachronen Veränderungen gut eignet. <?page no="245"?> 14 Präskriptive Normierungen Für die neuhochdeutsche Standardsprache existiert eine ganze Reihe von präskriptiven Grammatiken, die unter anderem auch zu syntaktischen Phänomenen Regeln für den „richtigen“ Sprachgebrauch enthalten. Grammatiken des Deutschen bzw. präskriptive Äußerungen zur Sprachverwendung gibt es in größerem Umfang erst seit vergleichsweise kurzer Zeit, nämlich seit dem älteren Neuhochdeutschen. Es ist möglich, dass sich präskriptive Normen auf die Entwicklung des Deutschen auswirkten. Im Folgenden wird zunächst auf die Geschichte und den Kontext von präskriptiven Normierungen im Deutschen eingegangen. Dabei spielt die sogenannte „Vertikalisierung“ eine besondere Rolle (14.1). Dann wird die Tradition der grammatischen Literatur zum Deutschen behandelt (14.2). Die mögliche Auswirkung von Stigmatisierungen - negativen Bewertungen bestimmter Konstruktionen - verlangt besondere Aufmerksamkeit (14.3). Abschließend wird die Rolle präskriptiver Normierungen bei der Entwicklung syntaktischer Konstruktionen zusammengefasst (14.4). 14.1 Die Vertikalisierung „Präskriptive“ (zu lat. praescribere ‘vorschreiben’) Normierungen sind explizite Äußerungen zu oder Festlegungen von bestimmten Aspekten der Sprache. Für das Deutsche existieren sie in größerem Umfang erst seit neuhochdeutscher Zeit. Peter von Polenz, Autor der modernsten Darstellung zur externen Sprachgeschichte des Frühneuhochdeutschen und Neuhochdeutschen, formuliert dies folgendermaßen: Ab dem 17. Jahrhundert „haben Sprachexperten und Sprachfreunde metasprachliche Aktivitäten entfaltet, mit denen sie aufstiegs- und bildungsbeflissene Deutsche auf die Dauer erfolgreich davon überzeugen konnten, daß man eine richtige, gehobene deutsche Sprache mit kulturellem Prestige brauche“ (Polenz 1994: 135). Bisweilen wird die Existenz von Normen (bzw. die Tatsache, dass eine gewisse sprachplanerische Aktivität im Hinblick auf Normierungen festgestellt werden kann) sogar zur Datierung des Neuhochdeutschen herangezogen. Generell hat die normierte, „richtige“, „gehobene“ Form der Sprache gegenüber allen anderen Varietäten ein höheres Prestige. Die Herausbildung der Hochsprache mit ihren phonologischen, morphologischen, syntaktischen und lexikalischen Charakteristika ist eine der wichtigsten Forschungsfragen zur Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen. Nach Reichmann (1990) ist für die neuhochdeutsche Sprachstufe die Herausbildung einer „Leitvarietät“ entscheidend. Dieser Terminus bezieht sich auf das Prestige von Varietäten und damit auf das soziolinguistische Gefüge: Unter einer Sprache ohne Leitvarietät ist eine Sprache zu verstehen, in der die verschiedenen Varietäten (Dialekte, Soziolekte etc.) allesamt das gleiche Prestige haben, also einander weder übernoch unterlegen sind. Bei einer Sprache ohne Leitvarietät <?page no="246"?> Präskriptive Normierungen 246 sind die einzelnen Varietäten - metaphorisch gesprochen - „horizontal“ angeordnet. Das folgende Schema illustriert dies (‘V’ steht für „Varietät“): V 1 V 2 V 3 V 4 V n Sprache ohne Leitvarietät (nach Reichmann 1990: 141) Demgegenüber existiert bei Sprachen mit Leitvarietät eine Varietät, die gegenüber allen anderen Varietäten ein höheres Prestige aufweist (vgl. Reichmann 1990: 141). Man kann deshalb - wiederum metaphorisch gesprochen - von einer „vertikalen“ Anordnung sprechen (‘V 1 ’, die „höchste“ Varietät, ist im folgenden Schema die Leitvarietät): V 1 V 2 V 3 V 4 V 5 V 6 V 7 V 8 V n Sprache mit Leitvarietät (nach Reichmann 1990: 141) Den Übergang von einer Sprache ohne zu einer Sprache mit Leitvarietät bezeichnet Reichmann (1990) als „Vertikalisierung“, da nach dem angeführten Schema aus einer horizontalen eine vertikale Varietätenanordnung entsteht. Jüngstes und am besten erforschtes Beispiel einer solchen Vertikalisierung, d.h. der Entstehung einer Leitvarietät, sind die Veränderungen beim Übergang vom Frühneuhochdeutschen zum Neuhochdeutschen. Im Gegensatz zum Neuhochdeutschen ist das Frühneuhochdeutsche - namentlich in der älteren Zeit - durch eine breite Variation in praktisch jeder Hinsicht gekennzeichnet. Demgegenüber liegt gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine einheitliche Schriftsprache vor, die weitgehend schon dem modernen Standard entspricht. Für die jüngere deutsche Sprachgeschichte ist die Herausbildung dieser (Leit-)Varietät aus der in frühneuhochdeutscher Zeit beträchtlichen „Sprachverwirrung“ das zentrale Thema (vgl. Davies/ Langer 2006: 73). Vertikalisierung bedeutet dabei, dass Varianten ausgewählt, d.h. in die Hochsprache aufgenommen, andere dagegen aus der Hochsprache ausgeschlossen werden. Unter anderem wird diskutiert, inwiefern sich Grammatiken und Grammatiker, insbesondere wenn Stigmatisierungen bestimmter sprachlicher Phänomene vorliegen, in den Dienst der Vertikalisierung stellen. Diese Frage wird im Folgenden ausführlicher behandelt. Es scheint wahrscheinlich, dass bestimmte syntaktische Konstruktionen aufgrund von stigmatisierenden Äußerungen aus der neuhochdeutschen Standardsprache verschwunden sind (vgl. 14.3). <?page no="247"?> Die Tradition der grammatischen Literatur 247 14.2 Die Tradition der grammatischen Literatur Für die moderne neuhochdeutsche Standardsprache existieren zahlreiche Grammatiken, in denen Regeln für den „richtigen“ Sprachgebrauch - die beispielsweise in Textsorten wie Seminararbeiten, Bewerbungsschreiben oder offiziellen Dokumenten tunlichst beachtet werden sollten - gegeben werden. Am bekanntesten dürfte die seit mehreren Jahrzenten immer wieder neu aufgelegte und jüngst umfassend überarbeitete Duden Grammatik (2009) sein (deren programmatischer Untertitel lautet: „Unentbehrlich für richtiges Deutsch“). Grammatiken wie die Duden Grammatik sind „präskriptiv“: Sie schreiben für die Standardsprache bestimmte Regeln vor. Dagegen versteht man unter einer „deskriptiven“ Grammatik eine Grammatik, die sich darum bemüht, sprachliche Strukturen wertneutral zu beobachten und zu beschreiben (lat. describere = ‘beschreiben’). Während man im alltagssprachlichen Gebrauch unter „Grammatik“ in der Regel die präskriptive Grammatik versteht, geht es in der Linguistik in erster Linie um deskriptive Grammatik (die die Grundlage für Erklärungen sprachlicher Strukturen darstellt). Dabei ist es allerdings in der Regel so, dass auch präskriptive Grammatiken viele deskriptive Elemente enthalten: Um Empfehlungen für den Sprachgebrauch abgeben zu können, ist es sinnvoll und notwendig zu beschreiben, welche Alternativen zu einer bestimmten Konstruktion überhaupt auftreten. Da Grammatiken (oder auch popularisierende Literatur zu sprachlichen Themen) häufig Passagen enthalten, die für syntaktische Phänomene relevant sind, handelt es sich dabei um eine für die historische Syntaxforschung potentiell sehr interessante Quelle. Bereits in frühneuhochdeutscher Zeit entsteht für das Deutsche eine Tradition der Grammatikschreibung. Erste „Grammatiken“ wurden bereits im 15. Jahrhundert verfasst. Bei diesen handelt es sich allerdings im Wesentlichen um Orthographielehren, sie sind deshalb in Bezug auf die Syntax wenig ergiebig. Im 16. und 17. Jahrhundert nimmt die Anzahl grammatischer Werke immer mehr zu. Bereits für das 18. Jahrhundert ist es nahezu unmöglich, sich einen Überblick über die grammatische Literatur des Deutschen (mit ihren zahlreichen Nachdrucken und Neuauflagen) zu verschaffen. Es ist nicht klar, wie die älteren Grammatiken des Deutschen in Bezug auf die in ihnen enthaltenen Daten zu bewerten sind: Handelt es sich um deskriptive oder präskriptive Grammatiken, d.h. wird in ihnen eine Beschreibung der Sprache gegeben, wie sie von den Autoren beobachtet wurde (liegt also die Beschreibung eines Ist-Zustands vor), oder handelt es sich eher um eine Beschreibung eines als mustergültig erachteten Zustands, der aber so (noch) nicht vorliegt (also die Beschreibung eines Soll-Zustands)? Falls eine Grammatik eher präskriptive Ansprüche hat, d.h. bestimmte Regeln für den „guten“ oder „richtigen“ Sprachgebrauch formuliert, stellt sich die Frage nach der Wirkung: Inwieweit ist es einer Grammatik gelungen, ihre Vorstellungen zum Sprachgebrauch durchzusetzen? Die Frage nach Wirkung und Einfluss der Grammatiker im Rahmen der Vertikalisierung wird in jüngster Zeit kontrovers diskutiert, und sie ist auch in syntaktischer Hinsicht relevant. Umstritten ist etwa die Rolle präskriptiver Vorstellungen für die Herausbildung der absoluten Verbendstellung im Nebensatz: In bestimmten Grammatiken wird ab der Mitte des 18. Jahrhunderts die absolute <?page no="248"?> Präskriptive Normierungen 248 Endstellung des flektierten Verbs im Nebensatz gefordert (vgl. 9.6), also dasjenige Muster, das sich in der neuhochdeutschen Standardsprache durchgesetzt hat - wenn man von bestimmten Drei- und Mehr-Verb-Clustern absieht (etwa dass er hat 1 kommen 3 wollen 2 ; vgl. 9.5.2). Die Frage, ob Grammatiken und Grammatiker im Rahmen der Vertikalisierung die Strukturen der Hochsprache tatsächlich beeinflusst haben, wird von verschiedenen Sprachwissenschaftlern unterschiedlich beantwortet. So geht von Polenz (1994: 136-137) davon aus, dass die Grammatiker „den in sozial einflußreichen, gebildeten Kreisen und Institutionen üblichen Sprachgebrauch nur nachträglich kodifiziert, nach bestimmten Sprachbewertungsprinzipien systematisiert und begründet und damit zu dessen Verbreitung beigetragen“ hätten. Direkte Wirkungen von Grammatikern und Lehrbuchautoren seien nur in Einzelfällen konkret nachzuweisen. Demgegenüber messen etwa Davies/ Langer (2006) solchen präskriptiven Grammatiken eine größere Wirkung bei. Insgesamt kann die Frage nach dem Einfluss der Grammatiken und Grammatiker wohl nicht generell, sondern nur in Bezug auf einzelne Erscheinungen beantwortet werden (vgl. Konopka 1996: 230). Das grundlegende empirische Problem bei der Frage, ob die Grammatiker und ihre Regeln eine Wirkung auf die Sprachentwicklung ausgeübt haben, kann mit Takada (1998) folgendermaßen formuliert werden: Laufen die grammatischen Kodifizierungen parallel mit dem herrschenden Sprachgebrauch oder laufen sie ihm hinterher oder voraus? Anders formuliert: stehen die Vorschriften der Grammatiker zeitlich hinter, vor oder in der Sprachwirklichkeit? (Takada 1998: 15) Nur wenn im Einzelfall konkret gezeigt werden kann, dass die präskriptiven Normen der Grammatiken dem Sprachgebrauch vorangehen, kann von einer „Wirkung“ im kausalen Sinn gesprochen werden. Wenn die Grammatiker dagegen dem allgemeinen Sprachgebrauch nachfolgen, liegt eine Kodifizierung ex post, eine „nachträgliche“ Kodifizierung, vor, die auf die eigentliche sprachliche Entwicklung keinen direkten Einfluss hatte. 14.3 Stigmatisierungen Im Prozess der Vertikalisierung kommt es zu einer Variantenauswahl: Vertikalisierung bedeutet, dass bestimmte Formen und Konstruktionen zur Norm werden, andere dagegen nicht in diese Norm integriert werden. Die Frage, wie es zur Variantenauswahl kommt, wie sie eingeführt und durchgesetzt wird und welche Rolle dabei die Grammatiker und ihre Grammatiken spielen, wird in der jüngeren Forschung intensiv diskutiert. Dabei wird insbesondere auf die Rolle von Stigmatisierungen eingegangen. Die „Stigmatisierung“ sprachlicher Formen und Konstruktionen ist im Prinzip nichts anderes als die Kehrseite der Vertikalisierung: Wenn bestimmte Varianten zur Norm erhoben werden, fallen dafür andere <?page no="249"?> Stigmatisierungen 249 notwendigerweise aus der Norm heraus, sie sind weniger hoch angesehen als die Formen, die der Leitvarietät angehören. Stigmatisierungen manifestieren sich am auffälligsten in präskriptiven Äußerungen, die bestimmte sprachliche Formen oder Konstruktionen als für die gehobene Sprache (die Leitvarietät) unangemessen charakterisieren. Meist ist mit der Beschreibung der stigmatisierten Struktur eine Aussage darüber verbunden, dass die entsprechende Konstruktion in bestimmten (beispielsweise gesprochenen) Varietäten existiert und dass sie für die Hochsprache nicht statthaft ist. Sofern Grammatiken Stigmatisierungen enthalten (dies ist ab dem 18. Jahrhundert verstärkt der Fall), haben diese einen klar präskriptiven Charakter. Hier besteht kein Zweifel darüber, dass der Grammatiker eine bestimmte Struktur aus der Hochsprache ausschließen möchte. Auf Stigmatisierungen bestimmter syntaktischer Strukturen wurde in dieser Einführung bereits mehrfach hingewiesen, allerdings wurde der Aspekt der „Ächtung“ meist nur kurz gestreift. Im Folgenden werden einige mögliche Beispiele - die doppelte Verneinung, der possessive Dativ und Genitiv sowie die tun-Periphrase - unter diesem speziellen Aspekt noch einmal aufgegriffen. Darüber hinaus wird die Syntax von Pronominaladverbien, hinsichtlich der in präskriptiven Grammatiken ebenfalls ablehnende Äußerungen gefunden werden können, etwas umfassender behandelt. Dabei kommen präskriptive Grammatiker ausführlich zu Wort, unter anderem werden die Stigmatisierungen im Folgenden durch Zitate von Johann Christoph Gottsched (1700-1766) und Johann Christoph Adelung (1732-1806), den beiden wichtigsten präskriptiven Grammatikern des 18. Jahrhunderts, illustriert. Besonders Adelungs Werke sind zentral: Auf ihn geht die erste im Auftrag eines Kultusministeriums verfasste Grammatik zurück, die Deutsche Sprachlehre. Zum Gebrauche der Schulen in den Königl. Preuß. Landen (Adelung 1781) sowie das darauf aufbauende, ausführlichere Umständliche Lehrgebäude der Deutschen Sprache, zur Erläuterung der Deutschen Sprachlehre für Schulen (Adelung 1782). Außerdem verfasste er ein sehr wichtiges Wörterbuch, das Grammatisch-kritische Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen (Adelung 1793- 1801). Die Deutsche Sprachlehre fand in den preußischen Gymnasien (und schon bald auch anderswo, z.B. in Österreich) weite Verbreitung; man kann sich vorstellen, dass durch die Integration in den Lehrplan für die Durchsetzung der präskriptiven Vorstellungen gute Voraussetzungen geschaffen wurden. 14.3.1 Doppelte Negation Bei der „doppelten Negation“ treten zwei (oder mehr) Negationsträger zusammen, ohne sich in ihrer Bedeutung aufzuheben. In der Spielart der „Negationskongruenz“ (d.h. in Sätzen mit einem oder mehreren negativen Indefinita) tritt die doppelte Verneinung bis ins ältere Neuhochdeutsche (und auch in modernen Dialekten) häufig auf (vg. 13.3.2, 13.3.3). Dies illustriert das folgende Beispiel aus dem älteren Neuhochdeutschen: <?page no="250"?> Präskriptive Normierungen 250 Dann er stellte sich gar freundlich und demütig / und gar mir niemalen kein sauern Blick (Grimmelshausen, Courasche 117) Schon früh ist die Vermutung aufgestellt worden, dass der Verlust dieser Konstruktion „nicht das Ergebnis einer bodenständigen Entwicklung sein kann“ (Behaghel 1918: 242). Behaghel (1918: 242-243) macht die „Schulung am Lateinischen“ für das Zurückgehen der Negationskongruenz verantwortlich. Auch nach Polenz (1994: 267) wurde die doppelte Negation aufgrund der logischen Auffassung, dass sich zwei Negationen aufheben müssten, „seit dem Humanismus nach lat. Vorbild zurückgedrängt […]“. In deutschen Grammatiken wird die Negationskongruenz ab der Mitte des 18. Jahrhunderts deutlich stigmatisiert, sie gilt als unlogisch und unkultiviert (vgl. Langer 2001: 160-172, Davies/ Langer 2006: 246). Die folgenden Zitate, in denen die doppelte Negation mit dem „Pöbel“ bzw. mit „rohen Völkern“ assoziiert wird, zeigen dies in drastischer Art und Weise: Die verdoppelte Verneinung, die noch im vorigen Jahrhunderte bey guten Schriftstellern gewöhnlich war, […] muß itzo in der guten Schreibart ganz abgeschaffet werden. Man sagte z[um] E[xempel] damals: ich habe ihn niemals nicht gesehen; Es wird ihm dadurch nichts nicht entgehen; Es kann es keiner nicht so gut. […] Allein heut zu Tage spricht nur noch der Pöbel so. Artige Leute vermeiden es, und zierliche Scribenten noch mehr. (Gottsched 1762: 500) Die rohen Völkern so natürliche Begierde, Nachdruck durch leere Schälle zu erhalten, hat in manchen Sprachen die Häufung der Verneinung eingeführet, und in der Deutschen war sie ehedem sehr allgemein. […] Diese Gewohnheit hat sich nicht allein im Oberdeutschen, sondern auch in anderen gemeinen Mundarten bis auf die neuesten Zeiten erhalten: sie haben kein Glück nicht mehr […] Im Hochdeutschen ist diese Verdoppelung der Verneinung fehlerhaft […] (Adelung 1782,2: 467-468; kursiv: im Original größere Drucktype) Die doppelte Negation scheint aufgrund der beträchtlichen Stigmatisierung, aufgrund normativer Vorstellungen, aus der Hochsprache verschwunden zu sein. Dass diese Konstruktion noch heute in dialektalen Varietäten des Deutschen verbreitet ist, widerspricht dieser Annahme keineswegs. Möglicherweise begünstigten die präskriptiven Aktivitäten der Grammatiker aber auch nur eine Entwicklung, die schon früher eingesetzt hatte. Die Grammatiker äußerten sich nämlich erst, als die doppelte Negation in der Schriftsprache im Prinzip bereits verschwunden war, ab der Mitte des 18. Jahrhunderts. 14.3.2 Possessiver Dativ und Genitiv Beim „possessiven Dativ“ werden anstelle eines standardsprachlichen attributiven Genitivs ein Dativ und ein Possessivpronomen miteinander verbunden, <?page no="251"?> Stigmatisierungen 251 etwa dem Lehrer sein Hut. Der possessive Dativ ersetzt in nahezu allen deutschen Dialekten den morphologisch gebildeten Genitiv (vgl. 6.2). Die Standardsprache, in der der Genitiv als morphologischer Kasus erhalten ist, ist insofern archaisch und atypisch für die deutschen Varietäten. Der „possessive Genitiv“ (vgl. 6.4.2) weist die gleichen strukturellen Eigenschaften auf wie der possessive Dativ, nur tritt dabei anstelle eines Dativs der Genitiv auf. Das folgende Beispiel (aus einem 1685 gedruckten Roman) illustriert diese Konstruktion: des Schulmeisters sein Jung (Beer, Sommer-Täge 162) Beide Konstruktionen, der possessive Dativ ebenso wie der possessive Genitiv, gelten in präskriptiven Grammatiken seit dem 18. Jahrhundert als Konstruktionen, die für die Hochsprache unangemessen sind. Dies wurde unter anderem wiederum damit begründet, dass diese Konstruktionen „unlogisch“ seien (vgl. Davies/ Langer 2006: 157-169, Weiß 2008: 392). Im folgenden Zitat aus einer Abhandlung über die deutsche Sprache zum Nutzen der Pfalz wird der possessive Dativ explizit behandelt (und abgelehnt): Es gehen noch gewisse Redensarten hier zu Lande im Schwange, welche ebenfalls einen offenbaren Misbrauch der Fürwörter in sich enthalten; indem man dieselben hinsetzet, wo sie keineswegs hingehören. Es heist z.B. das ist meinem Herrn sein Sohn, das ist meiner Schwester ihr Erbteil, u.d.gl. Hier sind nicht allein die Fürwörter sein und ihr überfliesig; indem man sagen sollte: Meines Herrn Sohn, meiner Schwester Erbtheil, oder der Sohn meines Herrn, der Erbtheil meiner Schwester: sondern die Hauptwörter Herr und Schwester stehen auch ganz unrichtig in der dritten Endung, welches die zweyte seyn muß. (Hemmer 1769: 170; zit. n. Davies/ Langer 2006: 163-164) Interessanterweise finden sich in präskriptiven Grammatiken ebenso wie in Texten wesentlich mehr Erwähnungen bzw. Beispiele für den possessiven Genitiv als für den possessiven Dativ, was wahrscheinlich damit zusammenhängt, dass diese Konstruktion noch eher Eingang in schriftliche Texte fand als der possessive Dativ (vgl. 6.4.2). In unserem Zusammenhang ist aber vor allem relevant, dass auch der possessive Genitiv in der präskriptiven Tradition klar abgelehnt wird. Das folgende Zitat aus Adelungs Deutscher Sprachlehre zeigt eine eindeutige Verurteilung des possessiven Genitivs: Die Conjunctiva der dritten Person mit dem Genitiv der Person zu verbinden, meiner Mutter ihr Bruder, meines Freundes sein Garten, ich meine nicht Homers Gedichte, sondern des Horaz seine, ist eine sehr widerwärtige Eigenheit gemeiner Mundarten. Man lasse entweder das Pronomen gar weg, oder lasse sich die Wiederhohlung des Hauptwortes oder auch eine kleine Umschreibung nicht dauern. (Adelung 1781: 245-246; kursiv: im Original größere Drucktype) <?page no="252"?> Präskriptive Normierungen 252 Der possessive Dativ und Genitiv wurden seit dem 18. Jahrhundert in präskriptiven Grammatiken als für die Hochsprache unangemessene Konstruktionen angesehen (vgl. Davies/ Langer 2006: 157-169). Als „schöner“ bzw. „besser“ gilt der attributive Genitiv. Die Duden Grammatik (2009: 827 = § 1275) spricht davon, dass der possessive Dativ trotz seiner weiten Verbreitung im gesamten deutschen Sprachraum „eigenartigerweise nicht als standardsprachlich“ gilt. Eigenartig ist dies tatsächlich, wenn man bedenkt, wie weit verbreitet diese Konstruktion auf dialektaler Ebene ist. Doch die starke Stigmatisierung scheint sich hier auf die Gestalt der Standardsprache ausgewirkt zu haben. 14.3.3 Tun -Periphrase Bei der tun-Periphrase wird eine flektierte Form des Verbs tun mit dem Infinitiv eines Vollverbs verbunden, das den lexikalischen Gehalt ausdrückt - ähnlich, wie dies auch bei anderen periphrastischen Verbformen (etwa dem Perfekt oder Futur) der Fall ist. Allerdings kann die tun-Periphrase eine ganze Reihe unterschiedlicher Funktionen erfüllen, die sich in den verschiedenen Varietäten des Deutschen teilweise auch voneinander unterscheiden. In den modernen deutschen Dialekten ist die tun-Periphrase (wenngleich in verschiedenen Funktionen) weit verbreitet. In einer bestimmten Ausprägung, bei der der Infinitiv zur Topikalisierung ins Vorfeld gestellt wird (lesen tun wir nicht gerne), ist sie sogar Teil der Standardsprache (vgl. 8.6). In den präskriptiven Grammatiken des Deutschen weist die tun-Periphrase eine lange Stigmatisierungsgeschichte auf (vgl. Langer 2001: 176-213, Davies/ Langer 2006: 211-224). Die folgenden Zitate von Gottsched und Adelung 26 zeigen dies deutlich: Man höret in einigen Reichsstädten unter Handwerksleuten, noch eine Art die Zeitwörter abzuwandeln, die vorzeiten auch in Schriften gewöhnlich war, und die bey den Engländern noch diese Stunde im Schwange geht. Man bedienet sich hier des Wortes thun mit seiner Abwandelung, alle Zeiten, Zahlen und Personen zu bilden: das hauptsächliche Zeitwort aber, bleibt unverändert in der unbestimmten Art. Z[um] E[xempel] anstatt ich esse, ich gehe, ich reise, sagt man, ich thue essen, gehen, reisen; und so ferner, ich that essen, gehen, reisen. […] Doch diese Art zu reden und zu schreiben, ist heutiges Tages lächerlich geworden, und gilt kaum unter Handwerksburschen und in altväterischen Reichsstädten noch. (Gottsched 1762: 373; kursiv: im Original größere Drucktype) In den niedrigen Hoch- und Oberdeutschen Mundarten gehet man in dem Gebrauche dieses Zeitwortes noch weiter, wo es als ein wahres Hülfswort ________ 26 Das Zitat von Adelung stammt aus dessen Wörterbuch. In seinen grammatischen Werken findet sich nur folgende, vergleichsweise wenig drastische Stigmatisierung der tun-Periphrase: „er thut schlafen, er that spielen, für er schläft, er spielte, ist im Hochdeutschen längst veraltet, und kommt nur noch in einigen niedrigen Sprecharten vor.“ (Adelung 1782,2: 409; kursiv: im Original größere Drucktype). <?page no="253"?> Stigmatisierungen 253 gebraucht wird, alle Zeitwörter, auch Neutra damit zu conjugieren. Essen thun, essen. Ich that gehen, ich ging. […] Im Englischen ist diese Art des Ausdruckes gleichfalls völlig gangbar. I do believe, ich glaube. How do you do, wie befinden sie sich, eigentlich, wie thut ihr thun. Dieser Gebrauch ist freylich sehr bequem, weil man nur das Zeitwort thun darf conjugiren können, um alle übrige Zeitwörter damit abzuwandeln […] Allein im Hochdeutschen klingt er überaus niedrig und widerwärtig. (Adelung 1793-1801, 4: 591-592; Kursivierungen J.F.) Da die tun-Periphrase in den modernen Dialekten weit verbreitet ist (für eine bestimmte Ausprägung gilt dies, wie ausgeführt, sogar für die Standardsprache), liegt es nahe zu vermuten, dass Stigmatisierungen zum Verschwinden der tun- Periphrase aus dem Standard (aber nicht aus anderen Varietäten) führten. 14.3.4 Syntax von Pronominaladverbien Unter Pronominaladverbien (oder: Präpositionaladverbien) werden Zusammensetzungen aus da(r)-, wo(r)bzw. hier- und einer Präposition verstanden, also beispielsweise davon, d(a)ran, wovon, woran, hiervon, hieran etc. Pronominaladverbien können unter bestimmten Bedingungen für von Präpositionen abhängige pronominalisierte Nominalphrasen stehen, wie das folgende Beispiel zeigt. Der Terminus „Pronominaladverb“ bezieht sich auf diese spezifische Funktion. Dagegen nimmt der Terminus „Präpositionaladverb“ nur auf die formale Bildung Bezug. ich habe das Buch genommen und bin damit [= mit dem Buch] zur Universität gegangen In der neuhochdeutschen Standardsprache handelt es sich bei Pronominaladverbien um nicht trennbare Einheiten. In anderen Varietäten des Deutschen ist dies allerdings durchaus möglich: da weiß ich nichts von Diese im Folgenden als „Spaltungskonstruktion“ bezeichnete Konstruktion wird von der Duden Grammatik (2009: 581 = § 860) der gesprochenen Sprache, vor allem im Norden Deutschlands, zugeschrieben. Die Spaltungskonstruktion ist zwar in der modernen Standardsprache normativ geächtet, sie verfügt aber über eine lange und kontinuierliche Geschichte in der Überlieferung des Deutschen. Bereits in den ältesten althochdeutschen Texten finden sich entsprechende Belege, etwa aus dem als archaisch geltenden Muspilli (Anfang 9. Jh.): dar pagant siu umpi (Muspilli 5) da kämpfen sie um ‘darum kämpfen sie’ <?page no="254"?> Präskriptive Normierungen 254 Die Spaltungskonstruktion ist bis in die frühneuhochdeutsche Zeit hinein gut belegt. Die folgenden Beispiele zeigen dies für das Mittelhochdeutsche und Frühneuhochdeutsche: dane zwîfel ich niht an (Iwein 560) da= NEG zweifle ich nicht an ‘daran zweifle ich nicht’ Vnd was er thet / da gab der HERR glück zu (Luther, Biblia 1545, 24r [Gen 39,23]) und was er tat da gab der Herr Glück zu ‘Und was er auch tat, der Herr ließ es gelingen’ In neuhochdeutscher Zeit wird die Konstruktion seltener. Beispielsweise sind im gesamten Abentheuerlichen Simplicissimus (Erstdruck 1668/ 69) nach Fleischer (2008a: 215) nur zwei Belege nachzuweisen, unter anderem da der liebe GOtt vor seyn wolle (Grimmelshausen, Simplicissimus 687). Allerdings treten noch beim jungen Goethe in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einige Belege für die Spaltungskonstruktion auf. Häufig angeführt wird etwa der folgende (vgl. Mattausch 1965: 111): Verlorne Liebe, wo ist da Ersatz für! (Goethe, Werke 4, 547 [Stella, 1. Fassung, 2. Akt]) Wiewohl die Spaltungskonstruktion im neuhochdeutschen Standard fehlt, ist sie in den modernen deutschen Mundarten und in der Umgangssprache durchaus noch verbreitet, und zwar kommt sie vor allem im Norden des deutschen Sprachgebiets vor, also im niederdeutschen Gebiet (vgl. Fleischer 2002). Interessanterweise scheint die Spaltungskonstruktion schon im 16. Jahrhundert eher typisch für den Norden gewesen zu sein. Dies legt jedenfalls ein Vergleich der Luther- Bibel mit der sogenannten „Bugenhagen-Bibel“, einer niederdeutschen Übersetzung der Luther-Bibel, nahe: Nach Schröder (1991: 298) tritt die Spaltungskonstruktion in der Bugenhagen-Bibel in Bezug auf bestimmte Textausschnitte insgesamt 38 Mal auf, in den gleichen Textpassagen findet sie sich in der hochdeutschen Luther-Bibel dagegen nur fünf Mal. Die folgende Gegenüberstellung der gleichen Textstelle (Gen 3,17) zeigt, dass einem einfachen Pronominaladverb in der hochdeutschen Luther-Bibel eine Spaltungskonstruktion in der niederdeutschen Bugenhaben-Bibel entspricht: Luther: du sollt nich dauon essen (zit. n. Schröder 1991: 293) Bugenhagen: Du schalt dar nicht van ethen (zit. n. Schröder 1991: 293) Der folgende Beleg aus dem Nordniederdeutschen zeigt die Spaltungskonstruktion in einer modernen niederdeutschen Mundart: <?page no="255"?> Stigmatisierungen 255 dor weet ik nix fun (Goltz/ Walker 1990: 52) da weiß ich nichts von ‘davon weiß ich nichts’ In den hochdeutschen Dialekten findet man anstelle der Spaltungskonstruktion häufig eine andere Struktur. Das pronominale Element da wird verdoppelt, es tritt sowohl isoliert als auch unmittelbar vor der Präposition auf (mit der es ein „einfaches Pronominaladverb“ bildet). Diese Konstruktion wird im Folgenden als „Distanzverdoppelung“ bezeichnet. Sie wird durch den folgenden bairischen Beleg illustriert (der abgesehen von der Verdoppelung dem nordniederdeutschen Beispiel genau entspricht): Dǫ woas i nix davon (Zehetner 1985: 148) da weiß ich nichts davon ‘davon weiß ich nichts’ Die Spaltungskonstruktion und die Distanzverdoppelung sind in den letzten Beispielen durch eine konsonantisch anlautende Präposition (von) illustriert worden. Auch bei vokalisch anlautenden Präpositionen finden sich beide Konstruktionen (sie stammen aus den gleichen Dialektgebieten wie die eben angeführten Belege, nämlich aus dem Nordniederdeutschen und aus dem Bairischen). Bei der Distanzverdoppelung tritt bei vokalisch anlautenden Präpositionen in der Regel die „gekürzte“ Form des Pronominaladverbs auf: Dar hebb ik nät an docht (Wiesenhann 1936: 44) da habe ich nicht an gedacht ‘daran habe ich nicht gedacht’ då howi gor ned dro n denkt (Bayerisches Wörterbuch I: 387) da hab=ich gar nicht dran gedacht ‘daran habe ich gar nicht gedacht’ Im Nordniederdeutschen tritt generell, d.h. bei konsonantisch wie vokalisch anlautenden Präpositionen, die Spaltungskonstruktion auf, im Bairischen dagegen die Distanzverdoppelung. In den Dialekten des Deutschen zeigen die beiden Konstruktionen bei konsonantisch und vokalisch anlautenden Präpositionen ein sehr ähnliches Verbreitungsbild. Die Spaltungskonstruktion tritt im Niederdeutschen und im westlichen Westmitteldeutschen auf, die Distanzverdoppelung dagegen im Hochdeutschen unter Ausschluss der westlichsten westmitteldeutschen Dialekte (vgl. Fleischer 2002, mit Karten 1 und 2). Die Spaltungskonstruktion und die Distanzverdoppelung haben also eine ungefähr komplementäre areale Verteilung. In modernen umgangssprachlichen Varietäten zeichnet sich stattdessen eine andere Distribution ab: Bei konsonantisch anlautenden Präpositionen tritt eher die Spaltungskonstruktion auf (da weiß ich nichts von, eher nicht da weiß ich nichts davon), bei vokalisch anlautenden Präpositionen dagegen eher die Distanz- <?page no="256"?> Präskriptive Normierungen 256 verdoppelung (da denke ich nicht dran, kaum *da denke ich nicht an). Gegenüber den Dialekten scheint sich also ein anderes System etabliert zu haben. Angesichts der Tatsache, dass in allen deutschen Dialekten entweder die Spaltungskonstruktionen oder die Distanzverdoppelung belegt sind und die Spaltungskonstruktion zudem eine lange Kontinuität in den älteren Sprachstufen des Deutschen aufweist, ist es erstaunlich, dass in der Standardsprache beide Konstruktionen fehlen. Eine mögliche Erklärung dafür könnte erneut der zunehmende normative Druck sein. In vielen präskriptiven Werken ab dem 18. Jahrhundert werden nämlich die Spaltungskonstruktion und/ oder die Distanzverdoppelung stigmatisiert, d.h. für die Hochsprache als unangemessen angesehen (vgl. Fleischer 2008a: 228-231). Die folgenden Zitate stammen aus Adelungs Deutscher Sprachlehre und aus Heyses Theoretisch-praktischer deutscher Grammatik (einer der wichtigsten und einflussreichsten Schulgrammatiken des 19. Jahrhunderts): Diese Zusammensetzungen dürfen auch nicht getrennet werden; nicht, da gebe Gott Glück zu, sondern dazu; so wie das da auch nicht wiederhohlet werden darf, da sorge nicht dafür, für dafür sorge nicht. (Adelung 1781: 370; kursiv: im Original größere Drucktype) Die durch Zusammensetzung mit da und wo gebildeten Nebenwörter dürfen weder getrennt, noch das da und wo doppelt gesetzt werden. (Heyse 1838: 554; Hervorhebungen J.F.) Die Stigmatisierung der Spaltungskonstruktion zeigt sich auch in anderer Hinsicht: In der aus der Mitte des 18. Jahrhunderts stammenden Komödie Der Witzling von Luise Adelgunde Victorie Gottsched 27 wird die arrogante Halbbildung von Leipziger Studenten aus dem Besitzbürgertum durch sprachliche Merkmale bloßgestellt. Wie Polenz (1994: 220-221) ausführt, werden zu diesem Zweck einer Figur unter anderem Spaltungskonstruktionen in den Mund gelegt: Wenn er aber so dumm gewesen ist, und hat meinen Namen nicht darzu drucken lassen: Da habe ich nicht schuld an! Da kann ich nichts vor. (Gottsched, Witzling 23 [5. Auftritt]) Es scheint also möglich, dass die Spaltungskonstruktion aufgrund von präskriptivem Druck aus der Standardsprache verdrängt wurde und die historisch jüngere Distanzverdoppelung gar nicht erst in diese hineingelangte. Erste Belege für die Distanzverdoppelung stammen aus dem 14. Jahrhundert, doch bleibt sie in schriftlichen Quellen bis ins 18. Jahrhundert selten (vgl. Fleischer 2008a: 218-219). Ausschlaggebend war wahrscheinlich die Auffassung, dass es „unlogisch“ sei, zusammengehörige Elemente, wie es der pronominale Teil und die Präposition eines Pronominaladverbs sind, „auseinanderzureißen“: Beide beanstandeten ________ 27 Die Schriftstellerin Luise Adelgunde Victorie Gottsched(in) (1713-1762) war übrigens die Frau Johann Christoph Gottscheds, der in diesem Kapitel als Autor der Deutschen Sprachkunst schon ausführlich zitiert wurde. Zur Syntax der Pronominaladverbien äußert sich Gottsched allerdings nicht. <?page no="257"?> Präskriptive Normierungen: Fazit 257 Konstruktionen sind „diskontinuierlich“, d.h. syntaktisch zueinander gehörende Elemente erscheinen im Satz nicht beieinander. Allerdings sind auch periphrastische Verbalformen im Hauptsatz dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht beieinander stehen, sondern durch die Konstituenten des Mittelfelds voneinander getrennt sind (vgl. 9.1). An der Verbalklammer störte sich die deskriptive grammatische Tradition allerdings nie - das präskriptive Urteil gegen die „diskontinuierlichen“ Strukturen mit Pronominaladverbien scheint insofern wenig reflektiert. Wie bei der Verbalklammer handelt es sich auch bei diesen um Konstruktionen, die für das Deutsche (aber eben mit Ausnahme der Standardsprache) charakteristisch sind. In gewissen Ansätzen wird zwischen den diskontinuierlichen Strukturen mit Pronominaladverbien und der Verbalklammer eine funktionale Parallele gesehen, entsprechend werden die diskontinuierlichen Konstruktionen mit Pronominaladverbien manchmal als „Adverbialklammer“ bezeichnet (vgl. 16.3). Für das Verschwinden der diskontinuierlichen Strukturen bei den Pronominaladverbien mag allerdings neben der präskriptiven Stigmatisierung auch die Tatsache eine Rolle gespielt haben, dass sich die niederdeutschen und die hochdeutschen Dialekte stark unterscheiden. Dass im neuhochdeutschen Standard weder die Spaltungskonstruktion noch die Distanzverdoppelung auftritt, kann insofern auch als „Null-Kompromiss“ zwischen der niederdeutschen Spaltungs- und der hochdeutschen Verdoppelungskonstruktion angesehen werden (vgl. Fleischer 2008a: 230). 14.4 Präskriptive Normierungen: Fazit Im Rahmen der Forschungen zu Stigmatisierungen stellt sich immer wieder die Frage, aufgrund welcher Kriterien eine Struktur überhaupt zum Ziel stigmatisierender Äußerungen wird. Einerseits kann hier darauf verwiesen werden, dass es sich dabei grundsätzlich um eine Frage des Geschmacks handelt - über welchen man bekanntlich nicht streiten kann. In Bezug auf die oben behandelten Konstruktionen ist allerdings auffällig, dass sie häufig eine Verdoppelung eines bestimmten sprachlichen Elements enthalten, die den an der Logik geschulten Grammatikern „unlogisch“, „überflüssig“ oder „pleonastisch“ vorgekommen sein mag. Bei der doppelten Verneinung wird dies unmittelbar deutlich (hier ist auch der Bezug zur Logik am klarsten gegeben). Doch auch beim possessiven Dativ bzw. Genitiv wird der Possessor scheinbar zweimal ausgedrückt (einerseits durch die Nominalphrase im Dativ bzw. Genitiv, andererseits durch das Possessivpronomen). Das gilt in gewissem Sinn auch für die tun-Periphrase, bei der die Verbform auf das flektierte tun einerseits und das infinite lexikalische Verb andererseits aufgeteilt wird. Eine Verdoppelung liegt natürlich ebenso bei der Distanzverdoppelung von Pronominaladverbien vor; hier (und das gilt auch für die Spaltungskonstruktion) schlägt wohl auch zu Buche, dass eine Aufteilung „logisch“ zusammengehörender Elemente auf verschiedene Positionen im Satz vorliegt. Alle hier behandelten Konstruktionen weisen in präskriptiven Grammatiken des Deutschen eine längere Geschichte der Stigmatisierung auf. Es scheint des- <?page no="258"?> Präskriptive Normierungen 258 halb gut denkbar, dass diese Konstruktionen zunächst aus der Hochsprache (d.h. aus der Leitvarietät) und dann - je nach weiterer Entwicklung - vielleicht auch aus weiteren Varietäten verschwunden sind. Wenn dies tatsächlich der Fall ist, kann von einer klaren Wirkung der Grammatiken gesprochen werden. Um dies allerdings zweifelsfrei nachzuweisen, müsste jeweils die Stigmatisierungsgeschichte mit der tatsächlich festzustellenden Verwendung verglichen werden: In manchen Fällen könnte die Stigmatisierung dem Verschwinden einer Konstruktion aus der Hochsprache eher nachfolgen als vorausgehen. Zur Zeit ist das letzte Wort zur Frage nach der Wirkung von präskriptiven Normierungen sicher noch nicht gesprochen. Es gibt jedoch Konstellationen, bei denen aufgrund der Datenlage eine (Mit-)Wirkung der Grammatiker besonders plausibel erscheint: Wenn eine Konstruktion, die eine gewisse Stigmatisierungsgeschichte aufweist und die in der modernen Standardsprache ausgeschlossen ist, bis zu einem gewissen Zeitpunkt in den älteren Sprachstufen gut belegt ist und auch in der Mehrzahl der modernen gesprochenen Varietäten (Dialekte und Umgangssprachen) vorkommt, scheint es besonders wahrscheinlich, dass die Stigmatisierungen tatsächlich eine Wirkung entfalten konnten. Die Standardsprache zeigt gerade in solchen Fällen, in denen sie sowohl von den älteren Sprachstufen als auch von den modernen gesprochenen Varietäten abweicht, eine „künstliche“ Entwicklung (zu diesem Problem, insbesondere zum Status der neuhochdeutschen Standardsprache, vgl. Weiß 2005, bes. 295-297). Allerdings ist die Beurteilung nicht immer eindeutig. Um die Frage nach der Wirkung besser beurteilen zu können, scheinen Untersuchungen, die die Stigmatisierungsgeschichte einer bestimmten Konstruktion in den Grammatiken mit dem tatsächlichen Sprachgebrauch der Zeit vergleichen, besonders sinnvoll. Derartige Untersuchungen können unser Verständnis des Vertikalisierungsprozesses in syntaktischer Hinsicht präzisieren, es eröffnet sich hier ein interessantes Forschungsfeld. Literaturhinweise Einen konzisen Überblick über die verschiedenen älteren Grammatiken des Deutschen in ihrem historischen Kontext gibt das entsprechende Kapitel in der Sprachgeschichte von Polenz (1994: 135-180). Die Frage, inwieweit Grammatiker und Grammatiken eine Wirkung auf die Sprachverwendung hatten, wird ausführlich von Takada (1998) thematisiert, der die Angaben in Grammatiken mit dem tatsächlichen Sprachgebrauch in zeitgenössischen Texten vergleicht und dabei neben der Syntax auch auf andere Ebenen der Grammatik eingeht. Nach der Wirkung präskriptiver Normierungen fragen auch Davies/ Langer (2006) in einer inspirierenden Monographie. Sie stellen die Stigmatisierungsgeschichten mehrerer syntaktischer Konstruktionen dar. Elspaß (2005) zeigt auf sehr gut nachvollziehbare Weise, dass zahlreiche stigmatisierte Konstruktionen in Textsorten, die der gesprochenen Sprache nahe stehen, im 19. Jahrhundert durchaus noch belegt sind. In diesem Zusammenhang geht er auch auf die Stigmatisierungsgeschichte ein. <?page no="259"?> 15 Sprachkontakt Ein wichtiger externer Erklärungsansatz für Sprachwandel ist der Sprachkontakt: Bestimmte Strukturen können aus der einen Sprache in die andere übernommen werden. Allerdings wird seit dem 19. Jahrhundert darüber gestritten, inwiefern es gerechtfertigt ist, Sprachkontakt auch für grammatische Phänomene anzunehmen. Als Einführung in dieses Thema ist deshalb ein kurzer Blick auf die Geschichte der Sprachkontaktforschung sinnvoll (15.1). Da die Wirkung von Sprachkontakt in syntaktischer Hinsicht stark umstritten ist, werden danach zunächst Varietäten des Deutschen vorgestellt, in denen syntaktischer Einfluss besonders wahrscheinlich und auffällig ist. Dies sind einerseits sogenannte „Sprachinseln“, die vom deutschsprachigen Binnengebiet abgeschnitten sind, aber in dauerndem Kontakt zu anderen Sprachen stehen (15.2). Andererseits werden Varietäten des binnendeutschen Gebiets behandelt, die dadurch geprägt sind, dass Sprecher einer anderen Sprache einen Wechsel zum Deutschen vollzogen, dabei aber bestimmte Merkmale der ursprünglichen Sprache beibehalten haben. Man spricht in einem solchen Fall häufig von einem „Substrat“ (15.3). Schließlich werden mögliche Einflüsse von Sprachen behandelt, die in der Geschichte des Deutschen zu bestimmten Zeiten kulturell dominant waren bzw. sind (man spricht in einem solchen Fall von einem „Superstrat“): Auch aus solchen Sprachen könnten syntaktische Strukturen ins Deutsche gelangt sein (15.4). In einem Fazit wird erörtert, inwiefern Sprachkontakt syntaktische Strukturen des Deutschen beeinflusste (15.5). 15.1 Sprachkontakt: Forschungsgeschichte und Methodologie Sprachkontakt ist auf der Ebene des Lexikons am offensichtlichsten. Es dürfte keine Sprache geben, die nicht Lexeme aus einer anderen Sprache übernommen hat. Im Deutschen gibt es beispielsweise zahlreiche lexikalische Entlehnungen aus dem Latein (z.B. Ziegel < tēgula, studieren < lat. studēre), dem Französischen (z.B. Onkel < oncle, Garderobe < garderobe) und dem Englischen (z.B. Streik < strike, Hockey < hockey). Dagegen war lange umstritten, ob Entlehnungen auch auf grammatischer und damit syntaktischer Ebene sehr wahrscheinlich sind. Im 19. und teilweise noch im 20. Jahrhundert wurde die Möglichkeit des grammatischen Sprachkontakts bisweilen prinzipiell geleugnet. So war beispielsweise das Umfeld der sogenannten „Junggrammatiker“, als deren wichtigster Exponent Hermann Paul (1846-1921) gelten kann, bezüglich des Sprachkontaktes eher skeptisch. Umgekehrt gab es schon im 19. Jahrhundert Linguisten, die Fälle von grammatischem Sprachkontakt dokumentierten und darin einen wichtigen Mechanismus von Sprachwandel sahen. Der wichtigste Vertreter dieser frühen Sprachkontaktforschung ist Hugo Schuchardt (1842-1927). <?page no="260"?> Sprachkontakt 260 Heute wird die Möglichkeit des grammatischen (und damit syntaktischen) Sprachkontakts nur noch selten grundsätzlich bestritten. Bereits Behaghel nimmt in seiner Deutschen Syntax (1923-1932) bei der Entstehung bestimmter deutscher Konstruktionen nicht selten Einflüsse anderer Sprachen an. Allerdings wird bei ihm häufig nicht klar, ob es sich dabei um Übersetzungssyntax (die auf bestimmte Textsorten beschränkt bleibt) oder um wirkliche Lehnsyntax handelt (vgl. 2.2.1, 2.3). Die Sprachkontaktforschung hat mit dem 1953 erschienenen Klassiker Languages in contact von Uriel Weinreich (1926-1967) einen bedeutenden Aufschwung genommen. Weinreich, der selbst zweisprachig (mit Jiddisch und Englisch) aufwuchs und damit für die Sprachkontaktforschung besonders prädestiniert war, führte für dieses Werk unter anderem Feldforschungen in dem Gebiet der Schweiz durch, in dem das Rätoromanische mit dem Deutschen in Kontakt steht (vgl. 15.3.1). Prägend für die Diskussion war auch die 1988 erschienene Monographie Language Contact, creolization, and genetic linguistics von Sarah Grey Thomason und Terrence Kaufman. In dieser programmatischen Studie wird die Auffassung untermauert, dass Sprachkontakt unter bestimmten Bedingungen eine wesentlich wichtigere Rolle spielen und weiter gehen kann, als dies frühere Ansätze angenommen hatten. Aus den Arbeiten von Weinreich (1953) und Thomason/ Kaufman (1988) geht unter anderem hervor, dass auch grammatische (und damit syntaktische) Entlehnungen grundsätzlich möglich sind. Heute sind aus den verschiedensten Regionen der Welt zahlreiche gut dokumentierte Fälle bekannt, in denen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine grammatische Entlehnung vorliegt. Dass mit Sprachkontakt auch auf der Ebene der Grammatik zu rechnen ist, kann heute nicht mehr ernsthaft bezweifelt werden. Allerdings bestehen bis heute Unterschiede in der Gewichtung: Da klare Fälle von Sprachkontakt auf syntaktischer Ebene in vielen Sprachen der Welt belegt sind, neigen manche Sprachwissenschaftler dazu, Kontakt als Erklärung für syntaktische Wandelphänomene zuzulassen und ihm eine wichtige Rolle zuzuschreiben. Andere gehen dagegen davon aus, dass Sprachkontakt auf grammatischer Ebene ein insgesamt zwar mögliches, aber eher seltenes Phänomen darstellt, das im Zweifelsfall eher nicht zur Erklärung eines konkreten Falls von Sprachwandel auf grammatischer Ebene herangezogen werden sollte. Als Repräsentanten der verschiedenen Richtungen können beispielsweise Thomason/ Kaufman (1988) bzw. Lass (1997) angeführt werden. Die Ansicht von Thomason/ Kaufman (1988) kann kurz mit dem Slogan „anything goes” charakterisiert werden: As far as the strictly linguistic possibilities go, any linguistic feature can be transferred from any language to any other language […] This assertion flatly contradicts most older views on the subject and some newer ones as well, but solid evidence has been available and in print for many years. (Thomason/ Kaufman 1988: 14) <?page no="261"?> Sprachkontakt: Forschungsgeschichte und Methodologie 261 Demgegenüber bestreitet Lass (1997) zwar nicht grundsätzlich die Möglichkeit von Sprachkontakt auf der Ebene der Grammatik - wie dies im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch häufig der Fall war -, er wendet sich aber gegen eine zu hohe Gewichtung dieses Faktors. Er versteht diese Skepsis insbesondere auch als methodologisches Postulat: I am not trying in any way to rule out syntactic borrowing; but merely suggesting how any suspect case ought to be investigated. […] The conclusion might be that anything can be borrowed, and often is; but in a given case it’s always both simpler and safer to assume that it isn’t, unless the evidence is clear and overwhelming. (Lass 1997: 200-201) Es stehen einander also zwei verschiedene Standpunkte gegenüber: einerseits die Bereitschaft, Sprachkontakt auch auf der Ebene der Grammatik (und damit der Syntax) eine wichtige Rolle zuzuschreiben, andererseits eine diesbezügliche Skepsis. Diese grundsätzliche Uneinigkeit muss bedacht werden, wenn man sich mit konkreten möglichen Fällen von Sprachkontakt aus der Geschichte des Deutschen beschäftigt. Dazu kommt für die Geschichte des Deutschen noch eine praktische Schwierigkeit: Wenn man sich mit der Frage beschäftigt, ob eine bestimmte syntaktische Struktur durch Entlehnung entstanden sein könnte, hat man für ältere Sprachstufen häufig das Problem, dass die Datenlage alles andere als eindeutig ist. Für ältere Sprachstufen sind nur schriftliche Quellen vorhanden, wir können deshalb in der Regel nicht feststellen, ob eine bestimmte Konstruktion „im Mittelhochdeutschen“ (verstanden als die Gesamtheit der Varietäten des Mittelhochdeutschen, von denen die allermeisten schriftlich gar nicht fassbar sind) auftrat, oder ob sich eine bestimmte Konstruktion nur in den schriftlichen Dokumenten findet. Bei nur schriftlich bezeugten Sprachstufen ist sodann die Entscheidung, ob bei einer bestimmten, aus einer anderen Sprache übernommenen Konstruktion Lehn- oder Übersetzungssyntax vorliegt oder nicht (vgl. 2.2.1, 2.3), schwierig: Nur bei Lehnsyntax, d.h. bei fremden Strukturen, die sich nicht nur in Übersetzungstexten (oder anderen, z.B. von fremdsprachigen Vorbildern geprägten Textsorten) finden, kann von einer Wirkung des Sprachkontakts im eigentlichen Sinn gesprochen werden. Es ist angesichts dieser Schwierigkeiten sinnvoll, die mögliche Wirkung von Sprachkontakt auf syntaktische Strukturen zunächst anhand von möglichst eindeutigen Situationen zu behandeln. Es existieren bestimmte moderne Varietäten des Deutschen, die durch eine klare, mehr oder weniger gut dokumentierte Sprachkontaktsituation geprägt sind. Derartige Varietäten und Beispiele für syntaktische Sprachkontakterscheinungen werden in den folgenden Abschnitten zunächst behandelt. <?page no="262"?> Sprachkontakt 262 15.2 Syntaktische Entlehnungen in Sprachinseln Ein besonders interessantes Studienobjekt für die Sprachkontaktforschung bieten sogenannte „Sprachinseln“. Darunter versteht man nach einer verbreiteten Definition „punktuell oder areal auftretende, relativ kleine geschlossene Sprach- und Siedlungsgemeinschaften in einem anderssprachigen, relativ größeren Gebiet“ (Wiesinger 1983: 901). Sprachinseln entstehen in der Regel durch Auswanderung aus dem Binnengebiet, etwa infolge ökonomischer Not oder religiöser Verfolgung. In einer Zeit, in der es noch kein Telefon, keinen Rundfunk und keine elektronische Kommunikation gab, brach der Kontakt einer Sprachinsel zur alten Heimat in der Regel ab oder war auf seltene Besuche und - ab moderner Zeit und falls die Auswanderer alphabetisiert waren - den Briefverkehr beschränkt. Umgekehrt gelangten die Mitglieder einer Sprachinsel natürlich in Kontakt mit den Sprechern der Umgebungssprache, was sich auf die sprachlichen Strukturen der mitgebrachten deutschen Varietät auswirken konnte. Deutsche Sprachinseln bildeten sich schon im Mittelalter, verstärkt dann in der Neuzeit, etwa in Norditalien und Osteuropa, ab dem 17. Jahrhundert auch in Amerika. In den folgenden Abschnitten werden syntaktische Entlehnungen in zwei verschiedenen deutschen Sprachinselgruppen diskutiert. 15.2.1 Sprachinseln in Norditalien In Norditalien gibt es verschiedene deutsche Sprachinseln. Sie gehören, was die Zugehörigkeit zu den deutschen Dialektverbänden betrifft, zum Alemannischen und zum Bairischen. Unter den alemannischen Sprachinseln sind in Bezug auf Syntax und Kontakterscheinungen die Mundarten von Rimella im Piemont (Bauen 1978) und von Gressoney und Issime im Aostatal (Zürrer 1999, 2009) besonders gut untersucht. Diese Sprachinseln sind im Hochmittelalter durch Auswanderung aus dem Wallis (dem südwestlichsten Teil der deutschsprachigen Schweiz) entstanden. In der Syntax dieser Sprachinseln finden sich zahlreiche Strukturen, die an das Italienische erinnern, im modernen Deutschen aber eher ungewöhnlich sind. Im folgenden Beispiel fehlt die für das Deutsche ansonsten typische Verbalklammer bzw. das Mittelfeld ist nicht besetzt (vgl. 9.1): Auxiliar und Partizip stehen unmittelbar nebeneinander, sie „umklammern“ also nichts, jedoch steht das Subjekt nach dem Partizip im Nachfeld, ist also „ausgeklammert“. Man kann sich hier die Frage stellen, ob es überhaupt noch sinnvoll ist, von einer „Klammer“ auszugehen. Die für eine deutsche Varietät ungewöhnliche Struktur ist jedoch im Italienischen (das keine Verbalklammer kennt) völlig üblich, wie die zum Vergleich angeführte italienische Entsprechung zeigt: e fard i š g š id e maa (Bauen 1978: 52) ein Mal ist gewesen ein Mann ‘es war einmal ein Mann’ vgl. it.: una volta c’è stato un uomo <?page no="263"?> Syntaktische Entlehnungen in Sprachinseln 263 Im modernen Standarddeutschen darf das Subjektpronomen nicht fehlen, von bestimmten Konstruktionen (Imperativ, unpersönliches Passiv etc.) abgesehen, und das gilt auch bereits für die älteren Sprachstufen des Deutschen (vgl. Kapitel 11). In den alemannischen Sprachinselmundarten Norditaliens fehlt das Subjektpronomen dagegen häufig. Hierin liegt ein auffälliger Unterschied zu deutschen Binnenvarietäten, aber auch eine auffällige Parallele zum Italienischen (das, anders als das Deutsche, als „Pro-drop-Sprache“ charakterisiert werden kann; vgl. 11.1). In den folgenden Beispielen (denen wiederum zum Vergleich eine italienische Entsprechung beigegeben ist) fehlt das Subjektpronomen sowohl im Vorfeld als auch im Mittelfeld: Ø ess š i š uffus (nach Bauen 1978: 47, Ø hinzugefügt) ist gewesen besoffen ‘er/ sie ist betrunken gewesen’ vgl. it.: Ø è stato ubriaco/ -a mi dscheini achtzg joa troat Ø dschi wol (nach Zürrer 1999: 350, Ø hinzugefügt) mit seinen achtzig Jahren trägt Ø sich wohl ‘mit seinen achtzig Jahren geht es ihm/ ihr gut’ vgl. it.: con i suoi ottant’anni Ø si porta bene Bei der fehlenden Verbalklammer und beim nicht gesetzten Subjektpronomen scheint es sich um relativ klare Fälle von Lehnsyntax zu handeln. Zwar sind Nachfeldbesetzungen in älteren Sprachstufen und in (Binnen-)Dialekten des Deutschen wesentlich weiter verbreitet als in der Standardsprache, und das gilt auch für das fehlende Subjektpronomen. Doch sind Nachfeldbesetzungen durch Subjekte schon in althochdeutscher Zeit sehr selten (vgl. 9.4), und das Subjektpronomen fehlt - wenn man von den als „Topic-Drop“ erklärbaren Fällen im Vorfeld absieht - in den jüngeren Sprachstufen und in den (Binnen-)Dialekten vor allem in der 2. Person Singular (vgl. 11.3), also in anderen Kontexten als bei den oben angeführten Belegen. Dennoch sind diese Beispiele vielleicht weniger eindeutig, als sie auf den ersten Blick scheinen. Alternativ zu einem Kontaktszenario kann man die Auffassung vertreten, dass in diesen Sprachinseln ein älterer Zustand des Deutschen in der Kontaktsituation bewahrt ist (vgl. etwa Zürrer 2009: 149, Fußnote 197). Bemerkenswert bleibt aber auch dann, dass in anderen modernen binnendeutschen Varietäten derartige Strukturen nicht auftreten. Eine andere deutsche Sprachinsel in italienischsprachiger Umgebung stellt das sogenannte „Zimbrische“ dar. Es handelt sich dabei um eine bairische Varietät, die heute fast nur noch in der südtrentinischen Ortschaft Luserna gesprochen wird und die stark vom Italienischen beeinflusst ist. Besonders auffällig ist, dass im Zimbrischen die Verbzweitstellung des Deutschen (vgl. 9.1) nicht gilt. Während in den allermeisten deutschen Varietäten und in den älteren Sprachstufen das flektierte Verb jeweils an zweiter Stelle stehen muss, können im Zimbrischen auch mehrere Konstituenten vor dem flektierten Verb auftreten. Das Zimbrische hat somit seine Verbzweit-Eigenschaften verloren (vgl. Bidese/ Tomaselli 2007, Bidese 2008) und ähnelt in dieser Hinsicht mehr dem <?page no="264"?> Sprachkontakt 264 Italienischen (das keine Verbzweit-Regel kennt) als dem Deutschen. Die folgenden Beispiele aus Luserna zeigen jeweils mehr als eine Konstituente vor dem flektierten Verb. Im zweiten Beispiel, in dem eine zusammengesetzte Verbform auftritt, fehlt außerdem wie beim oben angeführten Beleg aus Rimella auch die Verbalklammer: Da huam di måma lest in ǧornal (Bidese 2008: 38) daheim die Mutter liest die Zeitung ‘die Mutter liest zu Hause die Zeitung’ Af de noin Oarn de Klocka hat get Avviso (Bidese/ Tomaselli 2007: 219) auf die neun Uhr die Glocke hat gegeben Nachricht ‘um neun Uhr hat die Glocke Alarm geschlagen’ In älteren Sprachstufen des Deutschen finden sich entsprechende Konstruktionen kaum, allenfalls noch in frühalthochdeutschen Texten (vgl. 9.2.3). Hier scheint es ziemlich eindeutig, dass durch den Einfluss des Italienischen eine neue, dem Deutschen zuvor unbekannte Struktur entstanden ist. 15.2.2 Pennsylvaniadeutsch Die vielleicht bekannteste Sprachinsel des Deutschen ist das sogenannte „Pennsylvaniadeutsche“ (englisch: Pennsylvania Dutch), das sich in Nordamerika ab dem späten 17. und dann vor allem im 18. Jahrhundert zunächst in Pennsylvania, dann auch in anderen Staaten verbreitete. Beim Pennsylvaniadeutschen handelt es sich um einen auf pfälzischer Grundlage beruhenden deutschen Dialekt, der seit der Ankunft in der Neuen Welt gegenüber dem Binnenpfälzischen gewisse Veränderungen erfahren hat. Auch in der Syntax des Pennsylvaniadeutschen finden sich mögliche Beispiele für Übernahmen aus dem Englischen. Bemerkenswert ist etwa die Relativsatzbildung: Im Pennsylvaniadeutschen werden Relativsätze unter anderem mit der (unveränderlichen) Konjunktion ass ‘dass’, die vom deutschen dass herstammt, eingeleitet. Dies erinnert an die (amerikanisch-)englischen that-Relativsätze: der Mann, ass der Schtorkipper is (Haag 1982: 225) der Mann dass der Ladenbesitzer ist ‘der Mann, der der Ladenbesitzer ist’ vgl. engl.: the man that is the store keeper Beim Relativsatz besteht eine große Ähnlichkeit zwischen englischer und pennsylvaniadeutscher Syntax, jedoch keine Identität: Beispielsweise können im Pennsylvaniadeutschen keine Relativsätze ohne overte Einleitung gebildet werden, wie dies im Englischen möglich ist (the man Ø I see). Auffällig im Vergleich zu den binnendeutschen Dialekten ist aber, dass in letzteren kaum dass-Relativsätze zu finden sind (vgl. Fleischer 2004: 77). Da in den binnendeutschen Dialekten offensichtlich kein analoger Relativsatz-Typ entstanden ist, wird es für das <?page no="265"?> Syntaktische Entlehnungen in Sprachinseln 265 pennsylvaniadeutsche Muster umso wahrscheinlicher, dass Sprachkontakt eine gewisse Rolle spielte. Weniger eindeutig ist der in bestimmten Varietäten des Pennsylvaniadeutschen auftretende vollständige Verlust des Dativs. Wie im Englischen ist dieser Kasus mit dem Akkusativ zusammengefallen: Er hot mich zwelf Dollar gewwe (Louden 1994: 85) er hat mich zwölf Dollar gegeben ‘er hat mir zwölf Dollar gegeben’ vgl. engl.: He gave me twelve dollars Ich hap sie gholfe geschder (Huffines 1994: 150-151) ich habe sie geholfen gestern ‘ich habe ihnen gestern geholfen’ vgl. engl.: I helped them yesterday Jedoch ist umstritten, ob dieser Verlust des Dativs, der auch in anderen amerikadeutschen Varietäten beobachtet werden kann, ausschließlich auf den Kontakt zum Englischen zurückzuführen ist: Keel (1994: 94-95, 99-100) führt an, dass hier auch interne Faktoren eine Rolle spielen könnten, und verweist darauf, dass in deutschen Binnenmundarten teilweise ähnliche Entwicklungen auftreten (allerdings sind es vor allem die niederdeutschen Mundarten, in denen Akkusativ und Dativ zusammengefallen sind; vgl. 6.2). Außerdem gibt Keel zu bedenken, dass sich ähnliche Entwicklungen auch in deutschen Sprachinseln finden, die mit dem Russischen in Kontakt stehen, das über ein reichhaltigeres Kasussystem als das Deutsche verfügt. Die dortigen Entwicklungen können also nicht mit Sprachkontakt erklärt werden (vgl. Keel 1994: 100-101). Manche der hier diskutierten Beispiele aus Sprachinseln machen es sehr wahrscheinlich, dass sich Sprachkontakt grundsätzlich auch auf syntaktische Strukturen auswirken kann. Wie sich allerdings gerade am Beispiel des Dativs im Pennsylvaniadeutschen zeigt, wurden auch Zweifel an einer (ausschließlichen) Erklärung durch Sprachkontakt geäußert. Es ist also (hier und bei anderen Beispielen) umstritten, wie weit die Erklärungsmächtigkeit von Sprachkontakt reichen kann. In der jüngeren Forschung zu Kontakterscheinungen in Sprachinseln wird häufig der Begriff der „Konvergenz“ verwendet: Nach den Worten Zürrers (2009: 149) bedeutet dies „den Ausbau von Ähnlichkeiten und den Abbau von Unterschieden zwischen den beteiligten Varietäten“. Konvergenzphänomene sind dadurch gekennzeichnet, dass eine im System angelegte Prädisposition unter dem Einfluss einer Kontaktsprache verstärkt wird. Insofern können also sowohl interne als auch externe Faktoren bei einer konkreten Konstruktion in einer Sprachinsel eine Rolle spielen: „Spendersprachliche Züge werden aufgenommen, weil sie im System der Empfängersprache bereits angelegt sind.“ (Zürrer 2009: 119). Da die Sprachinselmundarten außerhalb des binnendeutschen Gebietes liegen und in der Regel kein Kontakt zum Binnengebiet mehr besteht, haben die dortigen Sprachkontakterscheinungen kaum Einfluss auf die Entwicklung des <?page no="266"?> Sprachkontakt 266 Deutschen insgesamt. Sprachinseln sind deshalb zwar interessant, um die grundsätzlichen Möglichkeiten von Sprachkontakt anhand deutscher Varietäten zu illustrieren, doch sagen die entsprechenden Entwicklungen wenig über andere deutsche Varietäten aus. 15.3 Durch Sprachwechsel geprägte Varietäten Neben Sprachinseln existieren auch Kontaktvarietäten des Deutschen im Binnengebiet. Besonders interessant sind Varietäten, die dadurch entstanden sind, dass die Sprecher einer anderen Sprache zum Deutschen übergegangen sind, dabei aber noch bestimmte Merkmale ihrer ursprünglichen Sprache beibehalten haben. Man spricht in einem solchen Fall häufig von einem sprachlichen „Substrat“. Innerhalb des deutschen Sprachgebiets gibt es mehrere Fälle, in denen Substrateinflüsse festgestellt werden können. Im Süden des Sprachgebiets spielen in gewissen Gebieten romanische Varietäten die Rolle eines Substrats, im Norden kommen das Friesische und das Dänische in Frage, im Osten sind es vor allem slavische Sprachen. Substrate äußern sich in der Regel vor allem im Wortschatz. Am häufigsten sind sie bei geographischen Namen zu erkennen: So gehen die Städtenamen Berlin und Leipzig auf slavische Wurzeln zurück, beide Städte liegen im slavischen Substratgebiet. Aber auch in anderen Wortschatzbereichen kommen Substrateinflüsse vor. Ein unter anderem für Berlin typisches, aus dem Slavischen stammendes Wort ist Kie(t)z, das ursprünglich eine Bezeichnung für eine (ärmliche) Fischersiedlung war (vgl. Bielfeldt 1963: 163). Dagegen sind Substrateinflüsse im Bereich der Syntax seltener. Wie die folgenden Abschnitte zeigen, kommen sie jedoch in bestimmten, noch besonders stark durch die ursprünglich gesprochene Sprache geprägten Varietäten durchaus vor. 15.3.1 Deutsch auf rätoromanischem Substrat Das Rätoromanische besteht aus drei verschiedenen Gruppen von romanischen Dialekten, die in Italien und in der Schweiz gesprochen worden. Das in der Schweiz gesprochene Rätoromanisch ist im Südosten des Landes, im Kanton Graubünden, beheimatet, es wird deshalb auch als Bündnerromanisch bezeichnet. Das in sich stark zersplitterte Bündnerromanische steht seit Jahrhunderten in Kontakt zum Deutschen. In bestimmten Gegenden wurde bzw. wird es durch das Deutsche (in Gestalt der in der deutschsprachigen Schweiz üblichen alemannischen Mundarten) verdrängt. Doch können bestimmte Merkmale der auf rätoromanischem Gebiet entstandenen deutschen Varietäten durch das rätoromanische Substrat erklärt werden. In der stark von rätoromanischem Substrat geprägten deutschen Varietät von Bonaduz, einer südwestlich von Chur (der Hauptstadt Graubündens) gelegenen Ortschaft (zum Zeitpunkt der Untersuchung in den 1960er Jahren war die Zweisprachigkeit noch weit verbreitet), tritt wie in deutschen Sprachinselmundarten im italienischen Sprachgebiet (vgl. 15.2.1) teilweise keine Verbklammer auf (bzw. das Mittelfeld bleibt unbesetzt, das Nachfeld wird dagegen besetzt): <?page no="267"?> Durch Sprachwechsel geprägte Varietäten 267 i muos heeba der Batal (Cavigelli 1969: 505; Transkription vereinfacht) ich muss halten den Glockenschwengel ‘ich muss den Glockenschwengel halten’ vgl. rätorom.: eu stos tenir igl batagl ds Werg isch khoo schneewiiss im Wasser (Cavigelli 1969: 507; Transkr. vereinfacht) das Werg ist geworden schneeweiß im Wasser ‘das Werg ist im Wasser schneeweiß geworden’ In Relativsätzen kann das flektierte Verb teilweise an zweiter Stelle stehen, womit im Nebensatz, wie in den romanischen Sprachen üblich, die gleiche Verbstellung auftritt wie im Hauptsatz. Dies illustriert das folgende Beispiel (der Relativsatz wird durch wo eingeleitet, wie dies im Alemannischen, der unmittelbaren Kontaktvarietät des Rätoromanischen, üblich ist - aber natürlich mit dem Verb an späterer Stelle): das sin klina Gempli, wu gon ds nehscht Joor in d Schuol (Cavigelli 1969: 507; Transkription vereinfacht) das sind kleine Kinder, wo gehen das nächste Jahr in die Schule ‘das sind kleine Kinder, die (wörtl.: wo) nächstes Jahr in die Schule gehen’ Besonders interessant ist auch die Syntax von Präpositionen: Während im Deutschen teilweise die gleichen Präpositionen sowohl Akkusativ als auch Dativ vergeben können, je nachdem, ob Richtung oder Ortsruhe ausgedrückt werden soll (ich gehe in die Schule - ich bin in der Schule), kennt das Rätoromanische (wie auch die übrigen romanischen Sprachen) diese Unterscheidung nicht. In den folgenden Beispielen aus der Varietät von Bonaduz tritt der Dativ in der Bedeutung der Richtung auf: i gon ufem Feld (Cavigelli 1969: 499) ich gehe auf=dem Feld ‘ich gehe auf das Feld’ ma loot d Milh durhem Siib (Cavigelli 1969: 500) man lässt die Milch durch=dem Sieb ‘man lässt die Milch durch das Sieb’ Auch in anderen deutschen Varietäten Graubündens findet sich dieses meist durch Kontakt mit dem Romanischen erklärte Phänomen, etwa me n tuet’s im salzwasser ‘man tut es ins Salzwasser’ (vgl. Szadrowsky 1930: 95). Die angeführten Beispiele zeigen, dass das durch rätoromanisches Substrat geprägte Deutsch zahlreiche, auf ebendieses Substrat zurückgehende syntaktische Eigenheiten aufweist. Viele solcher Eigenheiten finden sich nur bei der ersten Generation, die den Sprachwechsel vollzieht. Cavigelli (1969) weist hinsichtlich mehrerer Strukturen darauf hin, dass auch Alternativen auftreten, die dem Deutschen entsprechen. <?page no="268"?> Sprachkontakt 268 15.3.2 Deutsch auf dänischem Substrat Im Nordwesten seines Verbreitungsgebiets, in Schleswig, grenzt das Deutsche an das Dänische und an das Friesische. In historischer Zeit kann man in Bezug auf beide Sprachen Sprachwechsel zum Deutschen (und zwar in Form einer niederdeutschen Varietät) beobachten, wobei sich allerdings bestimmte Substrateinflüsse feststellen lassen. Als besonders charakteristisch für bestimmte deutsche Varietäten Schleswigs gilt der Ersatz von zu durch und: Im Dänischen sind ‘zu’ (at) und ‘und’ (og) lautlich zusammengefallen (at wie og werden als [ɔ: ] realisiert). Beim Sprachwechsel zum Niederdeutschen wurde dann und auch in der Bedeutung von ‘zu’ verwendet. Dies illustriert das folgende Beispiel: dad nüdsd nich un klong (Bock 1933: 97; Transkription vereinfacht) das nützt nicht und klagen ‘es nützt nicht zu klagen’ Diese syntaktische Eigenheit gilt unter anderem auch als typisch für die hochdeutsche Varietät Flensburgs, für welche Sätze wie es ist nicht angenehm und reisen bei der Hitze oder das ist interessant und sehen Ende des 19. Jahrhundert als typisch galten (vgl. Wasserzieher 1892: 566). Bei den mit und eingeleiteten Infinitiven liegt eine weitere syntaktische Eigenheit darin, dass Verbalpartikeln oft nicht vor, sondern nach dem Verb stehen, wie dies ebenso im Dänischen der Fall ist. ig hef lusd un lobm wech (Bock 1933: 107; Transkription vereinfacht) ich habe Lust zu laufen weg ‘ich habe Lust wegzulaufen’ Auch die schleswigschen Varietäten weisen also syntaktische Eigenheiten auf, die auf das dänische Substrat zurückgeführt werden können. 15.3.3 Deutsch auf slavischem Substrat Für die Geschichte des Deutschen ist ein Fall von Substrateinfluss besonders wichtig und gut dokumentiert: Im Rahmen der sogenannten „Ostkolonisation“ entstanden im Mittelalter im ehemals slavischsprachigen Gebiet neue deutschsprachige Dialektlandschaften, unter anderem der größte Teil des ostmitteldeutschen und ostniederdeutschen Sprachgebiets. Ein gut dokumentiertes Zeugnis des Slavischen findet sich noch heute in Gestalt des Sorbischen in der Lausitz. Das Sorbische ist eine (west-)slavische Sprache, die mit dem Polnischen und Tschechischen verwandt ist. In den Bundesländern Brandenburg und Sachsen genießt es einen von den Landesverfassungen anerkannten Status als Minderheitensprache. Heute ist es bedroht, weil es immer mehr Sprecher an das Deutsche verliert. Zweisprachigkeit hat dabei eine lange Tradition: Schon in älterer Zeit sprachen zumindest bestimmte Personen der sorbischen Gemeinschaft auch Deutsch. Heute ist durchgängige Zweisprachigkeit praktisch die Regel. Die von Sorben gesprochene deutsche Varietät wird häufig als „Neulausitzisch“ bezeichnet. Das Neulausitzische weist bestimmte syntaktische Erschei- <?page no="269"?> Durch Sprachwechsel geprägte Varietäten 269 nungen auf, die für eine deutsche Varietät auffällig sind, die aber durch die Grammatik des Sorbischen erklärt werden können. Beispielsweise gab es im Sorbischen ursprünglich keinen Artikel. Entsprechend lassen sich im Neulausitzischen Fälle von fehlendem Artikel beobachten. Beim zweiten der nachfolgenden Belege handelt es sich um eine neulausitzische Übersetzung eines Wenkersatzes (vgl. 8.2.3); wie Stone (1989) aufzeigt, können in den deutschen Wenkersätzen aus der Lausitz zahlreiche Substraterscheinungen festgestellt werden. Nee, den Gewinn hat man ja von eignes Vieh (Michalk/ Protze 1967: 121) In Winter fliegen trockne Blater in Luft rimm. (Stone 1989: 142) ‘Im Winter fliegen die trockenen Blätter in der Luft herum’ (= Wenkersatz 1) Für das Sorbische (und andere slavische Sprachen) ist es charakteristisch, dass das Reflexivpronomen sich nicht nur bei der 3., sondern auch bei der 1. und 2. Person oder zur Bildung anderer Konstruktionen verwendet werden kann. Auch im Neulausitzischen finden sich entsprechende Beispiele: Jetzt mußt du auch in die Stellung und sich Stelle suchen (Michalk/ Protze 1974: 90) Es hört sich glei uf zu schneen (Stone 1989: 143-144) ‘es hört gleich auf zu schneien’ (= Wenkersatz 2) Das Expletivum bzw. Pronomen es wird im Neulausitzischen oft nicht gesetzt (vgl. Michalk/ Protze 1974: 95). Auch dies entspricht der slavischen Struktur. Wie die folgenden Belege zeigen, betrifft dies die expletive (vgl. Kapitel 12), aber auch die pronominale Verwendung von es (die Position, an der es entfällt, wird durch ‘Ø’ hervorgehoben): Dort hat Ø mir dann sehr gut gefallen (Michalk/ Protze 1974: 95) der hat gedacht, Ø kommt der Oberster (Michalk/ Protze 1974: 95) Da mußt du Ø mir aber zeigen (Michalk/ Protze 1974: 95) Im Neulausitzischen lassen sich zahlreiche syntaktische Einflüsse der ursprünglich in der Lausitz gesprochenen slavischen Sprache, des Sorbischen, feststellen. Aufgrund dieses Kontakteinflusses unterscheidet sich das Neulausitzische signifikant von anderen deutschen Varietäten. Die in diesen Abschnitten angeführten Beispiele aus verschiedenen Substratsituationen zeigen, dass syntaktische Konstruktionen im Rahmen von Substratbeziehungen durchaus eine Rolle spielen können. In der Regel beschränkt sich die Verbreitung derartiger Erscheinungen auf das unmittelbare Kontaktgebiet. Grundsätzlich wäre es denkbar, dass sich durch Substrateinfluss entstandene Strukturen auch auf Varietäten des Deutschen ausdehnen, die eine andere Entstehung haben - etwa dann, wenn die Sprecher einer durch Substrateinfluss ge- <?page no="270"?> Sprachkontakt 270 kennzeichneten Varietät besonders zahlreich oder besonders einflussreich sind. Die Sprachverwendung der Mehrheit könnte sich mit der Zeit auch auf die Sprache insgesamt ausdehnen (also in sämtliche Varietäten einer Sprache verbreitet werden). Im Fall der Substratgebiete des Deutschen ist dies jedoch nicht passiert, eher das Gegenteil ist der Fall: Die Sprecher der Substratvarietät orientieren sich an anderen Varietäten und geben die abweichenden, durch das Substrat geprägten Merkmale mit der Zeit auf. Für die Geschichte des Deutschen sind keine gesicherten Fälle von syntaktischen Substratwirkungen bezeugt, die sich auf das Deutsche insgesamt, also auf alle Varietäten des Deutschen erstrecken würden. 15.4 Einflüsse von kulturell dominierenden Sprachen Im Verlauf der deutschen Sprachgeschichte gab es immer wieder Perioden, in denen eine kulturell dominierende Sprache Einfluss auf das Deutsche ausübte. Man spricht in einem solchen Fall häufig von einem „Superstrat“: Darunter versteht man eine dominante, prestigebesetzte, sozial höher bewertete Sprache, die eine andere Sprache beeinflusst. Ein Superstrat kann sich dadurch durchsetzen, dass ein dominantes Volk ein unterlegenes Volk unterwirft und ihm seine kulturellen Normen aufzwingt (wie dies etwa in der Neuzeit in kolonialistischen Kontexten oder in der Antike bei der Ausdehnung des Römischen Reiches der Fall war). Doch kann eine Sprache in einer Gesellschaft auch eine dominierende Stellung einnehmen, ohne dass damit eine Unterwerfung der autochthonen Bevölkerung einhergeht. In diesem Fall spricht man manchmal von einem „kulturellen Superstrat“. Im Lauf der dokumentierten Geschichte des Deutschen übten insbesondere Latein, Französisch und Englisch einen gewissen Einfluss als (kulturelle) Superstrate aus. Bei Sprachinseln und Substratvarietäten kommt es zum Sprachkontakt im täglichen Umgang, er erstreckt sich nicht selten auf die gesamte Sprachgemeinschaft, insbesondere auf die sozial niedrigeren Schichten. Beim Kontakt zu einem Superstat sind häufig zunächst die höheren sozialen Schichten involviert, wobei die schriftliche Sphäre eine besondere Rolle spielt. Beispielsweise war (und ist) Latein die prestigebesetzte Sprache einer (Bildungs-)Elite, zu der nur ein keiner Prozentsatz der Bevölkerung Zugang hat(te). Entsprechend müssen Einflüsse des Lateins zunächst in den Kreisen auftreten, die tatsächlich einen gewissen Kontakt zum Latein haben, doch können sie sich von dort aus natürlich weiterverbreiten. Im Folgenden werden mögliche syntaktische Einflüsse aus zwei kulturellen Superstraten des Deutschen, dem Latein und dem Englischen, eingehender behandelt. 15.4.1 Latein Keine andere Sprache hat das Deutsche so lange und so nachhaltig beeinflusst wie das Latein. Allerdings war der Kontakt in verschiedenen Phasen der deutschen Sprachgeschichte unterschiedlicher Art (vgl. Henkel 2004: 3171-3172). Zu berücksichtigen ist, dass Latein in der Zeit, ab welcher wir Zeugnisse des Deut- <?page no="271"?> Einflüsse von kulturell dominierenden Sprachen 271 schen besitzen, bereits eine „tote“ Sprache war: Im Mittelalter hatte es zwar in der Kirche und in der Verwaltung eine dominierende Stellung inne, war aber niemandes Muttersprache. Man unterscheidet deshalb das im Mittelalter gepflegte „Mittellatein“, das für die älteren Sprachstufen des Deutschen von besonderem Interesse ist, vom „klassischen Latein“, das etwa durch die Sprache Cäsars oder Ciceros repräsentiert wird. Mittellatein unterscheidet sich gerade in grammatischer Hinsicht teilweise erheblich vom klassischen Latein, unter anderem, weil es Einflüsse der von den Schreibern gesprochenen Muttersprachen aufweist. Es wurde deshalb lange gegenüber dem klassischen Latein als eine verderbte und wenig interessante Sprachform angesehen. Bereits die Gelehrten des Humanismus versuchten, in ihren Texten wieder den Normen des klassischen Lateins gerecht zu werden. Die von ihnen geprägte Form des Lateins wird als „Neulatein“ bezeichnet. Mittellatein und Neulatein sind für das Deutsche im Mittelalter und in der frühen Neuzeit wichtiger und kommen als Kontaktsprache eher in Frage als das klassische Latein. Allerdings muss man sich immer darüber im Klaren sein, dass Latein im Mittelalter und in der frühen Neuzeit (wie auch in der Gegenwart) jeweils nur einem kleinen Prozentsatz der Bevölkerung wirklich zugänglich war. Aufgrund der wichtigen Stellung der lateinischen Schriftlichkeit im Mittelalter und in der beginnenden Neuzeit (beispielsweise war das gesamte Bildungssystem zunächst lateinisch geprägt, erst im Spätmittelalter etablierte sich daneben recht zögerlich auch ein deutsches Bildungssystem) sind Einflüsse auf das Deutsche sehr wahrscheinlich. Allerdings äußern sich diese Einflüsse zunächst ausschließlich in der schriftlichen Sphäre (Latein war ja schon zu althochdeutscher Zeit eine „tote“ Sprache), etwa in Übersetzungen. Deshalb ist es sinnvoll, von „Übersetzungssyntax“ (und nicht von „Lehnsyntax“) zu sprechen, wenn bestimmte syntaktische Strukturen nur in Textsorten auftreten, die direkte Übersetzungen sind oder die stark unter dem Einfluss anderer Sprachen stehen (vgl. 2.2.1, 2.3). In bestimmten Fällen können aber natürlich Übergänge zwischen Übersetzungs- und Lehnsyntax vorliegen. Die ältere Forschung hat in vielen syntaktischen Strukturen des Deutschen lateinische Einflüsse vermutet. Ein besonders prominentes Beispiel wurde bereits bei der Durchsetzung der Verbendstellung im Nebensatz behandelt: Behaghel (1892) und zahlreiche weitere Sprachwissenschaftler in seinem Gefolge sahen in der zunehmenden Verbreitung der Verbendstellung im Nebensatz lateinischen Einfluss - allem Anschein nach zu Unrecht (vgl. 9.6). Als eine Struktur, bei der lateinischer Einfluss dagegen wahrscheinlich scheint, wird häufig das erweiterte Partizipialattribut erwähnt. Unter dem erweiterten Partizipialattribut versteht man attributive Partizipien, die in Verbindung mit vom Partizip abhängigen Objekten oder adverbialen Bestimmungen verwendet werden (im folgenden Beispiel wird das Partizip einfach unterstrichen, die Erweiterung, hier ein Akkusativobjekt, doppelt): die das Buch lesenden Studenten <?page no="272"?> Sprachkontakt 272 Entsprechende Belege finden sich schon in althochdeutscher und dann vermehrt in frühneuhochdeutscher Zeit. Sie treten teilweise in Abhängigkeit von lateinischen Texten auf, teilweise aber auch ohne lateinisches Vorbild. Das folgende Beispiel zeigt diese Konstruktion zusammen mit ihrem möglichen lateinischen Vorbild, der lateinische Text ist hier zusammen mit seiner althochdeutschen Übersetzung überliefert: dés óbe houbete hángênten suértes (Notker, Consolatio 130,30) des über Haupt hängenden Schwertes ‘des über dem Haupt hängenden Schwertes’ lat.: gladii pendentis supra uerticem (130,26-27) Vom Nomen gladii ‘des Schwertes’ ist das Partizip Präsens pendentis ‘hängend’ abhängig, das ebenfalls im Genitiv steht, und davon wiederum die adverbiale Bestimmung supra uerticem ‘über dem Haupt’. In der althochdeutschen Übersetzung tritt praktisch die gleiche Struktur auf, allerdings ist hier die Reihenfolge gegenüber dem Latein umgedreht worden. Der lateinischen Abfolge Substantiv - Partizip - adverbiale Angabe entspricht die althochdeutsche Abfolge adverbiale Angabe - Partizip - Substantiv, wobei allerdings noch der für das Deutsche charakteristische Artikel hinzukommt. Bei diesem zusammen mit dem lateinischen Text überlieferten althochdeutschen Beleg tritt die genau gleiche Struktur wie im Latein auf. Die folgenden Beispiele stammen dagegen aus frühneuhochdeutschen bzw. neuhochdeutschen Texten, die keine direkten Übersetzungen sind: Johannes von Tepl (ca. 1350-1414), von dem das erste Beispiel stammt, ist der Autor des Ackermanns aus Böhmen, einer der wichtigsten Prosadichtungen des Spätmittelalters; das zweite Beispiel, das von Johann Gottfried Schnabel (1692-1751/ 58) stammt, ist der Anfang des Titels eines 1738 erschienenen Romans: die … allerlei meisterschaft wol vermugenden leut (zit. n. Weber 1971: 89) ‘die allerlei Meisterschaft wohl vermögenden Leute’ Der im Irrgarten der Liebe herumtaumelnde Kavalier (zit. n. Lötscher 1990: 14) Dass sich das erweiterte Partizipialattribut „unter dem Einfluß des Lat. ausgebildet“ habe, vertritt etwa Behaghel (1924: 376). Allerdings verselbständigte sich das erweiterte Partizipialattribut offensichtlich, ausgehend von den reinen Übersetzungstexten: Es kommt auch ohne lateinische Vorlage vor und ist sicher noch weiter verbreitet als etwa der sogenannte „Accusativus cum Infinitivo“ (vgl. 2.3), auch wenn es in der gesprochenen Sprache sehr selten sein dürfte. Es scheint hier deshalb gerechtfertigt, von „Lehnsyntax“ (und nicht mehr von „Übersetzungssyntax“) zu sprechen. Verschiedene Autoren weisen jedoch darauf hin, dass die Eigenschaften des erweiterten Partizipialattributs im deutschen System bereits angelegt waren: Die übliche Stellung eines attributiven Partizips ist wie beim attributiven Adjektiv vor <?page no="273"?> Einflüsse von kulturell dominierenden Sprachen 273 dem Substantiv, und attributive Adjektive konnten von jeher beispielsweise mit vorangestellten Adverbien erweitert werden: das sehr gute Buch Admoni (1964) relativiert deshalb die Rolle des Lateins und prägt die folgende Formel (vgl. ebenso Weber 1971: 148): Aber dieser Einfluß ist nicht als eine Aufzwingung gewisser dem deutschen Satzbau ferner oder sogar feindlicher Formen zu verstehen, sondern als Ansporn zur Entwicklung von Formen und Fähigkeiten, die im deutschen Sprachbau potentiell enthalten waren. (Admoni 1964: 324) Auch Lötscher (1990) kommt zu einer ähnlichen Beurteilung und folgert, dass - in Bezug auf diese Konstruktion - der Begriff der Lehnsyntax, obwohl das Latein bei der Entstehung der Konstruktion einen Einfluss gehabt haben könnte, „überflüssig“ sei, eben weil sich die Konstruktion aus den strukturellen Möglichkeiten des deutschen Sprachsystems problemlos ableiten lasse (vgl. Lötscher 1990: 20, mit Fußnote 10). Man kann also sagen, dass das erweiterte Partizipialattribut unter lateinischer Einwirkung entstanden ist, dass sich aber durch den lateinischen Einfluss nur intern bereits vorhandene Tendenzen verfestigt haben. In dieser Hinsicht kann man also auch hier eine Konvergenz von internen und externen Faktoren annehmen. Die Frage des lateinischen Einflusses ist in der Forschung nach wie vor nicht endgültig geklärt. Die syntaktischen Einflüsse des Lateins auf das Deutsche sind zwar wohl weniger zahlreich, als in älteren Darstellungen oft angenommen wird, aber dass etwa bei der Entstehung des erweiterten Partizipialattributs Latein eine Rolle gespielt hat (wenn auch vielleicht nicht die zentrale, die ihm früher oft zugeschrieben wurde), scheint unumstritten. Auf eine mögliche indirekte lateinische Beeinflussung soll allerdings noch hingewiesen werden: Es scheint denkbar, dass manche der in Kapitel 14 behandelten präskriptiven Normierungen, insbesondere die Stigmatisierungen (vgl. 14.3), durch das Vorbild des Lateins inspiriert sind, da sich gerade die ältere Tradition der deutschen Grammatikographie häufig an der lateinischen Grammatikschreibung orientierte. Insofern könnte hier in manchen Fällen indirekter Einfluss des Lateins vorliegen. 15.4.2 Englisch In der jüngeren Zeit, verstärkt seit 1945, ist Englisch zum wichtigsten „kulturellen Superstrat“ des Deutschen geworden. Dies führt in sprachpflegerischen Kreisen zu teils heftigen Äußerungen. In Bezug auf syntaktische Entlehnungen zeigt sich ein ähnlicher Befund wie beim Latein. Zwar ist der Einfluss des Englischen auf das Deutsche in lexikalischer Hinsicht unbestritten. Die Frage, ob auch syntaktische Einflüsse des Englischen festgestellt werden können, ist dagegen viel weniger klar zu beantworten. <?page no="274"?> Sprachkontakt 274 Eine Konstruktion, die gerade auch aus sprachpflegerischer Sicht immer wieder mit englischem Einfluss in Verbindung gebracht wird (etwa in jüngster Zeit von Bastian Sick; vgl. Meinunger 2008: 147), ist die Verwendung der Präposition in ohne Artikel bei der Angabe von Jahreszahlen: In 1962 (Carstensen 1975: 28) vgl. engl.: in 1962 Allerdings trat die Temporalangabe in bereits um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf. Sie wurde bereits in dieser Zeit kritisiert - damals allerdings als Einfluss des Französischen gegeißelt (vgl. franz. en 1899). Außerdem wurde auch schon zu dieser Zeit auf gesprochene deutsche Varietäten hingewiesen, aus denen die Konstruktion ebenfalls stammen könnte (vgl. Davies/ Langer 2006: 134). Wenn also das Englische für diese Konstruktion eine Rolle spielt, dann vielleicht eher in einem verstärkenden als in einem auslösenden Sinn - etwa dahingehend, dass sie sich ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter englischem Einfluss besonders stark verbreitete, aber bereits zuvor existierte. Im Folgenden werden einige mögliche Beispiele für syntaktische Entlehnungen aus dem Englischen angeführt: • analytische Adjektivsteigerungen mit ‘mehr’: das mehr normale Verhalten (Glahn 2002: 57) • Anwendung des Possessivpronomens bei Körperteilen: er stützte seinen Kopf in seinen Arm (Glahn 2002: 57) • transitiver Gebrauch ursprünglich intransitiver Verben: einen Wagen fahren, einen Angriff fliegen (Glahn 2002: 57), etwas erinnern (Meinunger 2008: 98) Wie Glahn (2002: 58) ausführt ist ein direkter Nachweis, dass diese Konstruktionen auf das Englische zurückgehen, schwierig. In vielen Fällen können die Entwicklungen auch auf interne Faktoren zurückgehen oder es kann ein Zusammentreffen interner und externer Faktoren vorliegen. In Bezug auf die transitive Verwendung von erinnern erklärt Meinunger (2008: 98), dass es zahlreiche deutsche Verben gibt, die sowohl mit Reflexivpronomen und Präpositionalobjekt als auch transitiv verwendet werden können: Reflexivpronomen + Präpositionalobjekt Akkusativobjekt er fürchtet sich vor seiner Schwiegermutter er fürchtet seine Schwiegermutter er hat sich mit Bernd getroffen er hat Bernd getroffen er erinnert sich an etwas er erinnert etwas Es gibt neben erinnern und den angeführten analogen Beispielen noch eine ganze Reihe derartiger „Wechsel-Verben“, etwa entschuldigen, beklagen oder vorbereiten. Auch wenn im Fall von transitivem erinnern englischer Einfluss vorliegen sollte, entsteht also eine Struktur, die im System des Deutschen gut verankert ist. <?page no="275"?> Einflüsse von kulturell dominierenden Sprachen 275 Viele der „syntaktischen Anglizismen“ bringen eher kleinere Änderungen mit sich und fallen teilweise auch mehr in den Bereich der Stilistik. Beispielsweise spricht von den Strukturen der deutschen Grammatik aus nichts dagegen, dass ein Verb wie fahren auch transitiv verwendet werden kann. Vielfach entstehen durch den Einfluss des Englischen keine grundsätzlich neuen Muster und die syntaktischen Veränderungen bleiben auf bestimmte Lexeme beschränkt. Sprachpuristischer Alarmismus ist deshalb nicht angebracht: Konstruktionen wie etwas erinnern oder Sinn machen kommen zwar tatsächlich im konkreten Fall durch den Einfluss der englischen Sprache ins Deutsche, aber unsere Grammatik ist dadurch keinesfalls bedroht. Die typischen Strukturen ändern sich dadurch nicht. Diese Wortverbindungen nutzen lediglich Muster, die es schon immer gibt. (Meinunger 2008: 100) Bestimmte, sehr offensichtlich aus dem Englischen stammende Konstruktionen scheinen übrigens nie über das Stadium einer übersetzungssyntaktischen Struktur hinausgekommen zu sein. In den nachstehenden Belegen beginnt ein deklarativer Hauptsatz jeweils mit dem flektierten Verb. Darauf folgt direkte Rede. Diese Konstruktion wird für das „Deutsche“ der 1960er Jahre beschrieben, sie hat eine klare Parallele im Englischen. Es könnte aber sehr gut sein, dass sie nie in größerem Ausmaß über den Spiegel hinausgekommen ist (aus diesem Presseerzeugnis stammen die im Folgenden angeführten Beispiele; Vorbild ist, wie Carstensen 1975: 14 ausführt, das amerikanische Magazin Time): Befand SPD-Sprecher Blasig in Bonn: … (Spiegel; Carstensen 1975: 27) vgl. engl.: Said an official spokesmen: … Urteilte die Ostberliner Wochenpost: … (Spiegel; Carstensen 1975: 27) vgl. engl.: Commented the New York Times: … Diese zwischenzeitlich in bestimmten (dem Einfluss englischer Vorbilder folgenden) Textsorten feststellbare Konstruktion ist in Bezug auf ihr Verbreitungsmuster durchaus dem „althochdeutschen“ Dativus absolutus vergleichbar: Der Dativus absolutus tritt fast ausschließlich in Übersetzungen aus dem Latein auf und kann nach althochdeutscher Zeit nicht mehr festgestellt werden (vgl. 2.2.1). Ebenso findet sich diese Verberst-Stellung zur Wiedergabe von Statements nur in bestimmten pressesprachlichen Textsorten des Deutschen aus der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts, die von englischen Mustern stark beeinflusst sind. Die Konstruktion kann nur dort und nur eine gewisse Zeit lang festgestellt werden. Es handelt sich also um ein Beispiel für Übersetzungssyntax, das sich nicht weiterverbreitet hat, es liegt kein Übergang zur Lehnsyntax vor. Auch dies ist ein Hinweis darauf, dass die englischen Einflüsse auf die deutsche Syntax eher gering zu sein scheinen. <?page no="276"?> Sprachkontakt 276 15.5 Lehnsyntax im Deutschen: Fazit Wie die vorangehenden Abschnitte gezeigt haben, gibt es in bestimmten Varietäten des Deutschen gute Evidenz für Lehnsyntax, so etwa in Sprachinselmundarten oder in von einem Substrat beeinflussten Varietäten. Für diese vergleichsweise klaren Fälle ist jedoch charakteristisch, dass sie sich kaum in andere Varietäten verbreitet haben. Gleiches gilt bei Superstrateinflüssen, bei denen häufig die Unterscheidung zwischen Lehn- und Übersetzungssyntax Schwierigkeiten bereitet: Auch wenn sich eine syntaktische Konstruktion aus einer anderen Sprache über gewisse Register hinaus ausdehnt, bleibt sie doch häufig auf bestimmte Register beschränkt. Lehnsyntaktische Erscheinungen, die sich auf „das Deutsche“ insgesamt (also die Gesamtheit aller deutschen Varietäten) ausgebreitet hätten, sind demgegenüber seltener, und in den meisten Fällen bestehen auch gewisse Zweifel, ob sie (nur) durch lehnsyntaktische Einflüsse erklärbar sind. Damit erscheint das Deutsche als eine Sprache, die in bestimmten Varietäten durchaus über kontaktinduzierte syntaktische Konstruktionen verfügt, für deren Syntax insgesamt jedoch Sprachkontakt kein dominierender Faktor ist. In vielen Fällen scheinen neben dem Sprachkontakt auch interne Faktoren am Werk zu sein. Generell gilt, dass in vielen Fällen ein Zusammenspiel von externen und internen Faktoren nicht ausgeschlossen werden kann bzw. sogar ziemlich wahrscheinlich ist. Wenn bei einer bestimmten Entwicklung beide Faktoren in dieselbe Richtung weisen, kann man umgekehrt vielleicht davon ausgehen, dass eine Wandelerscheinung besonders leichtes Spiel hat - es scheint hier Konvergenz von internen und externen Faktoren vorzuliegen. Literaturhinweise Zur Frage der Lehnsyntax im Deutschen fehlt bis jetzt eine zusammenfassende Übersicht. Lehnsyntaktische Strukturen werden oft in Untersuchungen zu bestimmten Varietäten bzw. Kontaktsituationen behandelt, allerdings sind solche Untersuchungen häufig nicht auf die Syntax spezialisiert. Für entsprechende Arbeiten sei auf die in den einzelnen Abschnitten des vorliegenden Kapitels zitierten Artikel und Monographien verwiesen. Dagegen gibt es zahlreiche Darstellungen zur Sprachkontaktforschung. Eine gut lesbare Einführung, in der auch kurz auf syntaktische Entlehnungen eingegangen wird und in der zur Hauptsache deutsche Daten betrachtet werden, bietet Riehl (2010). Die Einführung von Winford (2003) ist nicht speziell auf das Deutsche ausgerichtet, gibt dafür jedoch einen guten Überblick über Sprachkontaktphänomene generell, darunter auch über syntaktische Phänomene. Gut lesbar ist auch Weinreich (1953), der „Klassiker“ der Sprachkontaktforschung. Thomason/ Kaufman (1988) stellen eine sehr interessante Theorie der Sprachkontaktforschung vor. Dieses materialreiche und inspirierende Buch ist als Einführung aber nur bedingt geeignet. Eine als Einführung konzipierte Darstellung derselben Theorie bietet Thomason (2001). <?page no="277"?> 16 Funktionale Erklärungen Funktionale Erklärungen gehen davon aus, dass ein sprachlicher Wandel dazu führt, dass eine bestimmte Funktion besser erfüllt wird, als dies zuvor der Fall war. Syntaktischer Wandel kann als Reaktion auf sprachliche Zustände gesehen werden, in denen bestimmte Funktionen nicht optimal erfüllt werden. Funktionale Ansätze zur Erklärung von syntaktischem Wandel sind das Thema dieses Kapitels. Zunächst wird auf das Wesen funktionaler Erklärungen generell eingegangen (16.1). Dann werden verschiedene funktionale Erklärungen anhand bestimmter syntaktischer Entwicklungen des Deutschen behandelt: Wurzels Theorie des natürlichen grammatischen Wandels wird anhand des Wandels im Selektionsraster von zwei- und dreiwertigen Verben illustriert (16.2). Die Funktion und diachrone Entwicklung diskontinuierlicher Konstruktionen, insbesondere der „Nominalklammer“, wird im Rahmen der Theorie Ronneberger-Sibolds dargestellt (16.3). Schließlich wird auf den Ansatz der funktionalen Sprachtypologie anhand der Wortstellung des attributiven Genitivs eingegangen (16.4). Ein Fazit zu den funktionalen Ansätzen beschließt das Kapitel (16.5). 16.1 Zum Wesen funktionaler Erklärungen Funktionale Erklärungen sehen - wie der Name sagt - die Motivation eines sprachlichen Wandels in der Funktion, die die neue Form erfüllt. Gerade syntaktische Wandelerscheinungen werden als Reaktion auf Veränderungen in anderen sprachlichen Teilsystemen gesehen. Ein häufig anzutreffendes funktionales Erklärungsmotiv besagt, dass sich Lautwandel auf die morphologische Struktur so auswirken kann, dass bestimmte morphologische Distinktionen (z.B. Unterscheidungen zwischen verschiedenen verbalen oder nominalen Endungen) wegfallen, worauf dann auf der Ebene der Syntax reagiert wird. Ein altes und häufig (beispielsweise im Lateinunterricht) tradiertes Beispiel für eine funktionale Erklärung eines syntaktischen Wandels bezieht sich auf die Festlegung der Wortstellung in den romanischen Sprachen. Während Latein durch weitgehende Wortstellungsfreiheit geprägt ist, haben die modernen romanischen Sprachen, die aus dem Latein hervorgegangen sind, eine feste Wortstellung: Das Subjekt (S) tritt in fast allen syntaktischen Kontexten vor dem Verb (V) auf, das Objekt (O) dagegen nach dem Verb. Dieses als „SVO“ bezeichnete Muster ist in den modernen romanischen Sprachen ziemlich rigide. Die folgenden Beispiele illustrieren die Wortstellungsfreiheit im Latein und die festgelegte Wortfolge in einer romanischen Tochtersprache, dem Französischen: Antonius Claudiam amat (Latein) Antonius- NOM Claudia- AKK liebt (Subjekt-Objekt-Verb) ‘Antonius liebt Claudia.’ <?page no="278"?> Funktionale Erklärungen 278 Claudiam Antonius amat (Latein) Claudia- AKK Antonius- NOM liebt (Objekt-Subjekt-Verb) ‘Antonius liebt Claudia.’ Antonius amat Claudiam (Latein) Antonius- NOM liebt Claudia- AKK (Subjekt-Verb-Objekt) ‘Antonius liebt Claudia.’ Antoine aime Claudine (Französisch) Antoine liebt Claudine (Subjekt-Verb-Objekt) ‘Antoine liebt Claudine.’ Wie die angeführten Beispiele zeigen, unterscheiden sich Latein und die modernen romanischen Sprachen (für die hier exemplarisch das Französische steht) nicht nur in ihrer Wortstellung voneinander: Eines der wichtigsten Ereignisse der romanischen Sprachgeschichte ist der Abbau von Kasusformen, der seinerseits zumindest teilweise durch den phonologischen Wandel verursacht ist. Im Latein gibt es verschiedene Kasusformen (im Beispiel ist Antonius die Nominativform, der Akkusativ würde dagegen Antonium lauten; Claudiam ist die Akkusativform, der Nominativ würde dagegen Claudia lauten). In den modernen romanischen Sprachen ist dies (vom Rumänischen abgesehen) nur noch beim Personalpronomen der Fall (Antoine bzw. Claudine sind im Französischen bezüglich Kasus nicht markiert). Im Latein dient Kasus dazu, die grammatischen Relationen zu markieren (das Subjekt wird immer durch den Nominativ markiert, das direkte Objekt durch den Akkusativ). Dies verhält sich in den romanischen Sprachen aufgrund des Kasuszusammenfalls nicht mehr so, deshalb müssen die grammatischen Relationen auf andere Art und Weise angezeigt werden. Die „Lösung“ dieses Problems, die in der Entwicklung der romanischen Sprachen realisiert wurde, liegt in der Festlegung der Wortstellung. Im konkreten Fall bedeutet dies, dass das Subjekt immer vor, das Objekt dagegen immer nach dem Verb stehen muss. In dieser Erklärung wird der syntaktische Wandel - Entwicklung einer festgelegten aus einer freien Wortfolge - als Reaktion auf den Kasusabbau aufgefasst. Der Festlegung der Wortfolge kommt, wenn diese Erklärung korrekt ist, eine bestimmte Funktion zu, nämlich die, das Subjekt und das Objekt eindeutig zu markieren. Die Abfolge Claudine aime Antoine wäre im Französischen auch möglich, doch bedeutet sie etwas anderes als der oben angeführte Satz, nämlich dass Claudine (Subjekt) Antoine (Objekt) liebt. Für manche der in Teil II besprochenen Wandelerscheinungen sind in der Forschung funktionale Erklärungen vorgeschlagen worden. Diese wurden teilweise zusammen mit den einzelnen Phänomenen schon kurz angesprochen. So wurde etwa das Verschwinden des Präteritums im Rahmen des Präteritumschwundes in älteren Arbeiten häufig dadurch erklärt, dass durch „Apokope“ bei den schwachen Verben ein Zusammenfall der 3. Person Singular Präsens und Präteritum auftrat: Vor der Apokope waren die Formen aufgrund des auslautenden ə („Schwa“) im Präteritum voneinander unterschieden (Präs. er macht - Prät. er machte), nach der Apokope wurden die beiden Formen dagegen homonym <?page no="279"?> Zum Wesen funktionaler Erklärungen 279 (Präs./ Prät. er macht). Die funktionale Motivation für die Perfekt-Ausdehnung liegt nach dieser Erklärung darin, dass eine Distinktion, die aufgrund eines Lautwandels verloren gegangen ist oder verloren zu gehen droht, durch das „Einspringen“ des Perfekts anstelle des Präteritums aufrechterhalten wird; allerdings bestehen für diese Erklärung gewisse Probleme (vgl. 8.2.3). Eine funktionale Erklärung wurde auch für die zunehmend obligatorische Setzung des Subjektpronomens im Deutschen vorgeschlagen: Demnach sind viele verbale Endungen aufgrund der lautlichen Entwicklung zusammengefallen, das Subjektpronomen wurde zunehmend obligatorisch gesetzt, um die durch die verbale Endung nicht mehr eindeutig markierten Informationen zu Person und Numerus des Subjekts zu kennzeichnen. Die funktionale Motivation für die zunehmende Obligatorizität des Subjektpronomens liegt nach dieser Erklärung in einer Kompensation für verloren gegangene Distinktionen der Verbalformen; allerdings ist auch diese Erklärung nicht ohne Probleme (vgl. 11.4). Auch für die in dieser Einführung nicht näher behandelte Entstehung des Artikels im Deutschen wird von vielen Forschenden eine funktionale Erklärung vertreten. Aufgrund der lautlichen Entwicklung sind die Kasusendungen des Substantivs in vielen Fällen zusammengefallen, weshalb eine eindeutigere Bezeichnung des Kasus notwendig wurde. Dies konnte vom Artikel geleistet werden. Beispielsweise lautet der Akk. Sg. des Substantivs boto ‘Bote’ im Althochdeutschen boton, der Dat. Sg. dagegen boten. Im Mittelhochdeutschen werden beide Formen aufgrund der Nebensilbenschwächung (vgl. 6.5, 11.4), zu boten. Durch den Artikel den bzw. dem wird der Kasus jedoch dennoch nach wie vor eindeutig bezeichnet (Akk. Sg. den boten - Dat. Sg. dem boten). Wenn diese Erklärung korrekt ist, liegt die funktionale Motivation für die Entstehung des Artikels also darin, eine Kompensation für die beim Substantiv verloren gegangenen morphologischen Distinktionen zu gewährleisten. Die drei hier kurz behandelten Entwicklungen können alle in den weiteren Kontext des Übergangs von synthetischen zu analytischen Formen (vgl. vor allem Kapitel 8) gestellt werden, der als zentral für die Geschichte des Deutschen gilt. Auch diese generelle Tendenz ist nach der Überzeugung vieler Linguisten funktional motiviert: Durch Lautwandel gehen bestimmte morphologische Distinktionen verloren, was dann eine Reaktion auf der Ebene der Syntax nach sich zieht. In Bezug auf die hier kurz diskutierten Phänomene zeigt sich allerdings in der jüngeren Forschung, dass die Lage nicht so eindeutig ist, wie sie hier dargestellt wurde: Gegen die hier vorgestellten Argumentationen wurden verschiedene, teilweise bereits diskutierte Einwände erhoben, die gegen eine einfache funktionale Erklärung sprechen (vgl. 8.2.3, 11.4). Funktionale Erklärungen syntaktischen Wandels werden gerade in älteren syntaktischen Arbeiten und in Handbüchern häufig geäußert. Meist handelt es sich dabei um Erklärungen bestimmter konkreter syntaktischer Veränderungen, die nicht in einen größeren Kontext gestellt werden. In den folgenden Abschnitten werden umfassendere funktionale (Sprachwandel-)Theorien vorgestellt und, damit verbunden, Phänomene diskutiert, die im jeweiligen Rahmen eine funktionale Erklärung finden. <?page no="280"?> Funktionale Erklärungen 280 16.2 Syntaktische Natürlichkeit Einen funktionalen Erklärungsansatz für Sprachwandel bieten die sogenannte „Natürlichkeitstheorie“ bzw. davon abgeleitete Theorien. Die Natürlichkeitstheorie wurde zunächst in der Phonologie entwickelt und dann in den 1980er Jahren auf die Morphologie ausgedehnt (Mayerthaler 1980, Wurzel 1984). Auch die hier vorgestellte Theorie des „natürlichen grammatischen Wandels“ (Wurzel 1994) befasst sich in erster Linie mit phonologischen und morphologischen Phänomenen, wie die folgende Diskussion zeigen wird. Doch wird in diesem Rahmen auch ein syntaktisches Phänomen berücksichtigt, der Selektionswandel zwei- und dreiwertiger Verben, und die Theorie kann grundsätzlich auch bei syntaktischen Phänomenen zur Anwendung kommen. Das Kernprinzip der Theorie des natürlichen grammatischen Wandels besagt, dass die „Markiertheit“ grammatischer Phänomene durch sprachlichen Wandel abgebaut wird. In der Formulierung von Wurzel (1994): Natürlicher grammatischer Wandel verläuft in Richtung der Ersetzung von hinsichtlich eines Markiertheitsparameters M i stärker markierten grammatischen Erscheinungen durch hinsichtlich M i schwächer markierte grammatische Erscheinungen. (Wurzel 1994: 28) Zentral für die Theorie des natürlichen Sprachwandels ist also der Begriff der „Markiertheit“. Dieser Terminus stammt aus der strukturalistischen Linguistik und bezieht sich auf die Eigenschaften minimal unterschiedlicher sprachlicher Elemente. Wurzel (1994: 32-34) illustriert den Begriff der Markiertheit an einem phonologischen Beispiel: Wenn man die Sprachen der Welt in Bezug auf ihre Vokale vergleicht, fällt auf, dass es Sprachen gibt, in denen nur ungerundete hohe und mittlere Vordervokale vorkommen (/ i/ -/ e/ ), sowie Sprachen, in denen es sowohl ungerundete als auch gerundete hohe und mittlere Vordervokale gibt (/ i/ - / y/ - / e/ -/ ø/ ). Bemerkenswerterweise existieren aber keine Sprachen, in denen nur gerundete, aber keine ungerundeten hohen und mittleren Vordervokale auftreten (*/ y/ -/ ø/ ), obwohl rein kombinatorisch auch dieses System möglich sein müsste. Dieser Sachverhalt wird durch die folgende Darstellung schematisiert (das Fehlen gerundeter bzw. ungerundeter Vokale wird durch ‘[ ]’ verdeutlicht): System 1 System 2 *System 3 ung. (ger.) ung. ger. (ung.) ger. hoch i [ ] i y [ ] y mittel e [ ] e ø [ ] ø Systeme von hohen und mittleren Vordervokalen Ein Beispiel für System 1 ist etwa das Spanische oder Russische, ein Beispiel für System 2 das Standarddeutsche oder das Französische. Für System 3 gibt es in den Sprachen der Welt dagegen keine Beispiele. Es scheint also so zu sein, dass <?page no="281"?> Syntaktische Natürlichkeit 281 die ungerundeten Vokale / i/ und / e/ gegenüber den gerundeten, aber ansonsten am jeweils gleichen Artikulationsort gebildeten Vokalen / y/ und / ø/ in einer bestimmten Hinsicht „einfacher“ oder „ursprünglicher“ sind. Dieses Verhältnis wird mit dem Begriff der Markiertheit gefasst: / i/ und / e/ sind gegenüber den gerundeten Vorderzungenvokalen / y/ und / ø/ „unmarkiert“, / y/ und / ø/ sind gegenüber / i/ und / e/ dagegen „markiert“. Gerundete hohe und mittlere Vordervokale „implizieren“ also ungerundete hohe und mittlere Vordervokale, aber nicht umgekehrt. Die Markiertheit der gerundeten hohen und mittleren Vordervokale äußert sich in verschiedener Hinsicht (vgl. Wurzel 1994: 33- 34): • Aufbau phonologischer Systeme: Wie erläutert treten gerundete hohe und mittlere Vordervokale nur dann auf, wenn auch die entsprechenden ungerundeten hohen und mittleren Vordervokale vorhanden sind, aber nicht umgekehrt • Spracherwerb: Ungerundete hohe und mittlere Vordervokale werden vor den gerundeten hohen und mittleren Vordervokalen erworben • Sprachpathologie: Bei Menschen, die an bestimmten Sprachstörungen leiden, gehen die gerundeten hohen und mittleren Vordervokale vor den ungerundeten hohen und mittleren Vordervokalen verloren • Analyse von Versprechern: Bei Versprechern treten eher ungerundete anstelle von gerundeten hohen und mittleren Vordervokalen auf als umgekehrt; / ti: r/ anstelle von / ty: r/ ‘Tür’ ist also häufiger als / ty: r/ anstelle von / ti: r/ ‘Tier’ • Sprachwandel: Bei spontanem Lautwandel (d.h. bei Lautwandelerscheinungen, von denen unabhängig vom lautlichen Kontext jedes Vorkommnis eines Phonems betroffen ist) werden gerundete Vordervokale durch ungerundete ersetzt, aber nicht umgekehrt. Für den letzten angeführten Punkt bieten gerade die deutschen Dialekte gutes Anschauungsmaterial: Die gerundeten hohen und mittleren Vordervokale des Mittelhochdeutschen, die in der Standardsprache als solche erhalten sind, sind in den allermeisten hochdeutschen Dialekten durch ungerundete Vokale ersetzt worden. So lauten etwa die Wörter für ‘dünn’ und ‘böse’ in einer rheinfränkischen Mundart din und bēs. Die mittelhochdeutschen gerundeten hohen und mittleren Vordervokale sind nur im Ripuarischen, in Teilen des Ostfränkischen und Thüringischen sowie im Hochalemannischen erhalten (vgl. Schirmunski 1962: 205). Wie dieses Beispiel zeigt, besteht im Sprachwandel die Tendenz, dass markierte Erscheinungen durch unmarkierte ersetzt werden. „Natürlicher Sprachwandel“ bedeutet, dass markierte Strukturen abgebaut werden. Auch syntaktischer Wandel ist nach den Annahmen der Theorie des natürlichen grammatischen Wandels durch den Abbau markierter Strukturen geprägt. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass nach Wurzel (1994: 71) „die für syntaktischen Wandel relevanten Fakten und Zusammenhänge im allgemeinen wesentlich komplexer sind als die für phonologischen und morphologischen Wandel relevanten Fakten und Zusammenhänge“. Wurzel (1994) präsentiert aus <?page no="282"?> Funktionale Erklärungen 282 diesem Grund keine voll ausgebildete Theorie syntaktischen Wandels, sondern begnügen sich damit, am Beispiel der Entwicklung des Selektionsrasters zwei- und dreiwertiger Verben die Prinzipien einer Theorie des natürlichen Syntaxwandels zu veranschaulichen. In diesem Zusammenhang formulieren sie für syntaktischen Wandel das folgende „Prinzip der syntaktischen Klassenzugehörigkeit“ (wobei mit dem Begriff der „Klasse“ bei Wurzel 1994 in erster Linie verschiedene Valenzmuster gemeint sind): Konkurrieren in einer Sprache zwei oder mehrere syntaktische Klassen, die sich semantisch nicht unterscheiden, so ist ein Wort hinsichtlich seiner Klassenzugehörigkeit umso weniger markiert, je größer diejenige Klasse ist, der es angehört. (Wurzel 1994: 72) Der Begriff der syntaktischen Markiertheit wird damit also dergestalt präzisiert, dass markierte Klassen diejenigen sind, die weniger häufig sind. Das Wirken des Prinzips der syntaktischen Klassenzugehörigkeit kann zunächst anhand der zweiwertigen Verben, d.h. anhand derjenigen Verben, die neben dem Subjekt ein Objekt aufweisen, illustriert werden. Für zweiwertige Verben existieren im Deutschen insgesamt vier verschiedene Muster, d.h. das Objekt kann vier verschiedene Formen aufweisen (vgl. Wurzel 1994: 72): Akkusativobjekt: Anna liebt ihren Mann. Dativobjekt: Anna glaubt ihrem Mann. Genitivobjekt: Anna nimmt sich ihres Mannes an. Präpositionales Objekt: Anna denkt an ihren Mann. Von diesen vier Mustern sind Verben mit einem Akkusativobjekt und Verben mit einem präpositionalen Objekt am zahlreichsten, Verben mit einem Dativobjekt dagegen seltener, während Verben mit einem Genitivobjekt in dieser Hinsicht am seltensten sind (Wurzel 1994: 72-73 geht von ca. 150 zweiwertigen Dativverben und von ca. 15 zweiwertigen Genitivverben aus). Zweiwertige Verben mit einem Genitivobjekt sind somit hochgradig markiert, solche mit einem Dativobjekt sind ebenfalls markiert, aber nicht so stark wie Verben mit einem Genitivobjekt. Die Theorie des natürlichen grammatischen Wandels sagt bei einer derartigen Konstellation voraus, dass die beiden markierten Klassen dazu tendieren, ihre Rektion aufzugeben, beispielsweise indem sie sich einer der unmarkierten Klassen anschließen. Wie bereits an anderer Stelle (allerdings nicht speziell auf zweiwertige Verben bezogen) ausgeführt wurde, ist dies für das Genitivobjekt korrekt: Das ursprünglich verhältnismäßig häufige Genitivobjekt wird in der Entwicklung des Deutschen zusehends ersetzt, und zwar in der Regel durch das Akkusativ- oder das Präpositionalobjekt (vgl. 6.3). Der Rückgang des Genitivobjekts kann auch synchron im modernen Deutsch verfolgt werden: Wie in 6.1 bereits diskutiert wurde, zeigen viele Verben, die überhaupt noch die Möglichkeit haben, den Genitiv als Objekt zuzuweisen, Variation mit einem anderen Objekttyp, wobei dieser meist wesentlich häufiger auftritt. <?page no="283"?> Syntaktische Natürlichkeit 283 Eine ähnliche Entwicklung kann auch bei zweiwertigen Verben mit Dativrektion beobachtet werden. Der Übergang von der Dativrektion zu einem anderen Rektionsmuster wird bei manchen Verben im Vergleich zwischen dem Deutschen des 18./ 19. Jahrhunderts mit der Gegenwartssprache offensichtlich: So kann etwa rufen noch im 18./ 19. Jahrhundert mit einem Dativobjekt verwendet werden, was in der modernen Standardsprache kaum mehr möglich ist (vgl. Wurzel 1994: 74). Das folgende Beispiel stammt aus Goethes Götz von Berlichingen: Ruft der Mutter, sie soll Blutwurzel bringen und Pflaster (Goethe, Werke 4, 378 [Götz von Berlichingen, 5. Akt]) In der Gegenwartssprache kann bei manchen zweiwertigen Verben Schwanken zwischen Dativrektion und einem anderen Muster beobachtet werden. Beispielsweise können die Verben schreiben oder weglaufen mit einem Dativobjekt konstruiert werden, ebenso möglich sind aber auch präpositionale Objekte (jemandem/ an jemanden schreiben, jemandem/ vor jemandem weglaufen). Diese Variation kann als Stufe zwischen einem Zustand, in dem diese Verben ausschließlich den Dativ zu sich nehmen, und einem Zustand, in dem die Dativrektion vollständig durch andere Muster ersetzt ist, verstanden werden. Bei zweiwertigen Verben zeigen sich also in Bezug auf die Dativ- und die Genitivrektion ähnliche Phänomene. Dativ- und Genitivrektion unterscheiden sich allerdings dahingehend, dass der Genitiv noch wesentlich stärker markiert ist als der Dativ. Entsprechend ist die Tendenz zur Aufgabe des Genitivs wesentlich deutlicher ausgeprägt als die Tendenz zur Aufgabe des Dativs. In einer ähnlichen Art und Weise können auch die Veränderungen bei dreiwertigen Verben erklärt werden, d.h. bei Verben, die neben einem Subjekt zwei Objekte zu sich nehmen. Bei dreiwertigen Verben kommen im Neuhochdeutschen die folgenden drei Rektionsmuster vor (vgl. Wurzel 1994: 75): Dativobjekt + Akkusativobjekt: Anna gibt ihrem Mann einen Kuss. Akkusativobjekt + Präpositionalobjekt: Anna fleht ihren Mann um Liebe an. Akkusativobjekt + Genitivobjekt: Anna beschuldigt ihren Mann des Ehebruchs. Von diesen drei Klassen sind die ersten beiden sehr groß, die dritte dagegen sehr klein: Wurzel (1994: 75) geht von ca. 140 Verben mit Akkusativ-Dativ-Rektion und ca. 200 Verben mit Akkusativ-Präpositional-Rektion aus, dagegen nur von 15 Verben mit Akkusativ-Genitiv-Rektion. Diese Klasse ist gegenüber den anderen beiden also wesentlich kleiner und damit markiert. Entsprechend besteht die Tendenz, dass sich diese Verben einer der beiden anderen Klassen anschließen. Auch hier kann in der Gegenwartssprache bei bestimmten Verben Variation zwischen verschiedenen Rektionsmustern beobachtet werden, z.B. jemanden einer Aufgabe entbinden > jemanden von einer Aufgabe entbinden, jemanden des Vertrauens versichern > jemandem das Vertrauen versichern (vgl. Wurzel 1994: 76). Dies kann als Vorstufe des Übergangs zu einer der beiden weniger markierten Klassen gedeutet werden. <?page no="284"?> Funktionale Erklärungen 284 Bei zweiwie bei dreiwertigen Verben sind die Rektionsmuster mit einem Genitivobjekt jeweils markiert, dieses Muster wird deshalb abgebaut, was insgesamt zum Schwund des adverbalen Genitivs führt (vgl. 6.3). Kein einheitliches Verhalten zeigt dagegen das Dativobjekt. Hier ist der Vergleich der zwei- und der dreiwertigen Verben für den Begriff der Markiertheit besonders illustrativ: Während bei den zweiwertigen Verben die Verben mit Dativrektion relativ stark markiert sind (und eine Tendenz zur Aufgabe besteht), ist dies bei den dreiwertigen Verben nicht der Fall. Markiert ist also nicht der Kasus Dativ an sich, sondern markiert sind bestimmte Rektionsmuster in bestimmten Verbalklassen. Die Theorie des natürlichen grammatischen Wandels kommt deshalb in Bezug auf den Dativ zur Voraussage, dass er sich bei dreiwertigen Verben viel besser halten kann als bei zweiwertigen. Beim hier angesprochenen Beispiel des Rektionsmusters von Verben ist wichtig, dass eine Markiertheitsbeziehung nur dann besteht, wenn die verschiedenen Objekttypen semantisch gleichwertig sind. Dies wird im „Prinzip der syntaktischen Klassenzugehörigkeit“ formuliert: „syntaktische Klassen, die sich semantisch nicht unterscheiden“ (Wurzel 1994: 72). Wenn man davon ausgeht, dass das Genitivobjekt in den älteren Sprachstufen noch eine andere Bedeutung als das Akkusativobjekt hatte und dass diese spezifische Bedeutung mit dem Verlust der Aspektkategorie nicht mehr gegeben war, so besteht die semantische Gleichwertigkeit zwischen Genitivobjekt und anderen Objekttypen erst seit dem Zeitpunkt, ab dem die Aspektkategorie verloren gegangen ist (diese Erklärung des Genitivschwunds gilt nach Donhauser 1998a: 83 allerdings nur für einen Teil der althochdeutschen Verben, die den Genitiv zu sich nehmen können; vgl. 6.3.2). Erst ab diesem Zeitpunkt ist damit zu rechnen, dass das nun „markierte“ Genitivobjekt zugunsten der unmarkierten Objekttypen in großem Maß aufgegeben wird. Dies ist nach gängiger Auffassung erst nach mittelhochdeutscher Zeit der Fall. Bereits oben wurde darauf hingewiesen, dass bis jetzt - anders als in der Phonologie und Morphologie - keine ausführliche und umfassende „Theorie des natürlichen syntaktischen Wandels“ existiert. Die besprochenen syntaktischen Beispiele sind bisher die einzigen, die in diesem theoretischen Rahmen eine Behandlung erfahren haben. Es gibt deshalb in Bezug auf diese Theorie noch einige offene Fragen. Beispielsweise erscheint der Begriff der syntaktischen Markiertheit, die in den von Wurzel (1994) angeführten Fällen ausschließlich über die Frequenz definiert wird, etwas unbestimmt. Wurzel (1994) versteht darunter offensichtlich die „Typenfrequenz“, d.h. die Frage, wie viele Repräsentanten eine bestimmte Klasse aufweist. Dies ist teilweise unabhängig von der Frage nach der „Tokenfrequenz“, d.h. der Frage, wie häufig ein bestimmtes Muster auftritt (worauf Wurzel 1994 gar nicht eingeht). Außerdem kann eingewendet werden, dass der Akkusativ gegenüber dem Dativ bei zweiwertigen Verben nicht nur dadurch gekennzeichnet ist, dass er häufiger ist: Der Akkusativ kann auch durch bestimmte syntaktische Operationen erfasst werden, die dem Dativ nicht offen sind. So kann ein Akkusativobjekt eines zweiwertigen Verbs bei Passivierung zum Subjekt werden (ihr Mann wird gesehen), ein Dativobjekt bleibt dagegen als solches erhalten (*ihr Mann/ ihrem Mann wird geholfen). Es scheint also sinnvoll zu <?page no="285"?> Funktion von Klammerstrukturen 285 erörtern, ob das Wesen der syntaktischen Markiertheit nicht auch intrinsisch statt nur über die (Typen-)Frequenz gefasst werden kann (wie dies bei der phonologischen und morphologischen Markiertheit getan wird). 16.3 Funktion von Klammerstrukturen Eine interessante funktionale Erklärung für mehrere Entwicklungen des Deutschen, die insgesamt zu diskontinuierlichen, „aufgebrochenen“ syntaktischen Strukturen führen, bietet Ronneberger-Sibold (1991, 2010). Ein wichtiges funktionales Prinzip besagt, dass syntaktische Teile, die strukturell zueinander gehören, auch möglichst nahe beieinander stehen. Dieses Prinzip wurde bereits von Behaghel (1932: 4) angenommen, seine Formulierung besagte, „daß das geistig eng Zusammengehörige auch eng zusammengestellt wird.“ Allerdings existieren im Deutschen mehrere Konstruktionen, die diesem Prinzip widersprechen: • Satzklammer: Besteht das Prädikat aus mehreren verbalen Teilen oder aus einem Verb mit einem trennbaren Präfix, ist der Hauptsatz dadurch gekennzeichnet, dass die zusammengehörigen verbalen Teile gerade nicht beieinanderstehen, sondern die Satzklammer bilden: sie sind heute Morgen angekommen (vgl. 9.1) • Spaltungskonstruktion bzw. Distanzverdoppelung: Pronominaladverbien erscheinen in älteren Sprachstufen, aber auch in modernen Varietäten des Deutschen häufig „aufgespalten“, indem der pronominale Teil und die dazugehörige (allenfalls um da erweiterte) Präposition getrennt sind: da weiß ich nichts (da)von (vgl. 14.3.4) • Artikel und Substantiv: Der Artikel steht nicht unmittelbar vor dem Substantiv, sondern tritt vor (erweiterbare) Adjektive und Partizipien. Im Fall des erweiterten Partizipialattributs sind Artikel und Substantiv besonders weit auseinandergerissen: die das Buch in der Mensa bei Kaffee und Kuchen lesenden Studenten (vgl. 15.4.1) Für diese drei Konstruktionen ist charakteristisch, dass das „geistig eng Zusammengehörige“ gerade nicht zusammensteht, sondern weit auseinander liegt. Sie sind mit anderen Worten durch Diskontinuität gekennzeichnet. In allen Fällen kann von einer „Klammerkonstruktion“ gesprochen werden. Bei der „Satzklammer“ bzw. „Verbalklammer“ ist der Klammerbegriff allgemein etabliert. Ronneberger-Sibold (1991, 2010) bezeichnet analog die gespaltenen Pronominaladverbien als „Adverbialklammer“ und die durch Artikel und Substantiv gebildete Klammer als „Nominalklammer“. Sie gibt die folgende Definition: Das klammernde Verfahren besteht darin, dass bestimmte Bestandteile eines Satzes so von zwei Grenzsignalen umschlossen werden, dass der Hörer/ Leser aus dem Auftreten des ersten Signals mit sehr großer Wahrscheinlichkeit schließen kann, dass der betreffende Bestandteil erst dann <?page no="286"?> Funktionale Erklärungen 286 beendet sein wird, wenn das passende zweite Signal in der Sprechkette erscheint […]. (Ronneberger-Sibold 2010: 87) Der Sinn des klammernden Verfahrens liegt nach Ronneberger-Sibold (2010: 95) „in einer speziellen Erleichterung der syntaktischen Dekodierung: Dadurch, dass die jeweils zueinander passenden Klammerränder die Grenzen von (verschieden definierten) Konstituenten klar markieren, weiß der Hörer/ Leser während des Dekodierprozesses jederzeit, ob er sich am Anfang, im Inneren oder am Ende einer Konstituente befindet.“ Das Markieren von Grenzen ist ein generelles Charakteristikum des Deutschen, das sich auch in phonologischer und morphologischer Hinsicht zeigt (vgl. Ronneberger-Sibold 1991: 232, 2010: 94-95). Für das Deutsche ist diese Funktion demnach offenbar wichtiger als das Zusammenstellen des Zusammengehörigen. Kennzeichen aller Klammerstrukturen ist, dass das die Klammer eröffnende Element die grammatische Information enthält, das die Klammer schließende Element dagegen eher semantische Information. Bei der Satzklammer enthält das erste Element - das flektierte Verb in der linken Satzklammer - Informationen zu Person, Numerus, Tempus und Modus des Prädikats. Besteht die Verbalform nur aus einem Verb, so findet sich auch die lexikalische Information in der linken Satzklammer. Besteht die Verbalform dagegen aus mehreren Verben, so findet sich die lexikalische Information in der rechten Satzklammer. Bei der Nominalklammer enthält das erste Element, der Artikel, Informationen zu Kasus, Numerus, Genus und Definitheit des Substantivs. Dieses bildet den zweiten Klammerteil und enthält kaum grammatische, dafür jedoch semantische Information. Bei der Spaltungskonstruktion bzw. bei der Distanzverdoppelung schließlich, deren erster Teil durch da (oder wo) gebildet wird, der zweite durch die (allenfalls um da erweiterte) Präposition, enthält ebenfalls der erste, „pronominale“ Teil eher grammatische, der zweite mit der Präposition dagegen eher semantische Information. Im Folgenden werden die Nominalklammer und ihre historische Entwicklung etwas genauer betrachtet. Die Nominalklammer wird durch einen Artikel (oder durch ein stark flektiertes Adjektiv oder Pronomen) eröffnet und durch das Kernsubstantiv abgeschlossen. Wichtig ist, dass nur mit dem Kernsubstantiv kongruierende Elemente zur Nominalklammer gerechnet werden, beispielsweise attributive Adjektive und Partizipien. Elemente, die vom Kernsubstantiv abhängig sind, mit diesem aber nicht kongruieren, werden nach Ronneberger-Sibold (2010) nicht zur Nominalklammer gezählt. Das betrifft insbesondere das (nachgestellte) Genitivattribut (z.B. der Hut des Lehrers): Das Genitivattribut kann zwar ein Substantiv modifizieren, das seinerseits das Kernsubstantiv einer Nominalklammer bildet, doch kongruiert es nicht mit diesem und zählt deshalb nicht zur Nominalklammer. In der Geschichte des Deutschen können drei syntaktische Wandelerscheinungen beobachtet werden, die dazu führen, dass sich die Nominalklammer immer deutlicher herausbildet (vgl. Ronneberger-Sibold 2010: 99): <?page no="287"?> Funktion von Klammerstrukturen 287 • Verschiebung attributiver Adjektive und Partizipien vor das Kernsubstantiv • Verschiebung des Genitivattributs hinter das Kernsubstantiv • Integration der Erweiterungen attributiver Adjektive und Partizipien in die Nominalklammer Diese drei Entwicklungen werden im Folgenden etwas genauer betrachtet. Das attributive Adjektiv und Partizip steht im Deutschen schon seit Beginn der Überlieferung überwiegend vor dem Kernsubstantiv (vgl. Behaghel 1932: 199). Es finden sich allerdings auch Beispiele für die Nachstellung. Die Nachstellung eines - häufig unflektierten - attributiven Adjektivs ist einerseits ein Merkmal poetischer Sprache. Bekannt ist etwa Goethes Röslein rot (Goethe, Werke 1, 278 [Heidenröslein, V. 6]). Andererseits kommt die Nachstellung attributiver Adjektive in älterer Zeit auch in Prosatexten (und in poetischen Texten außerhalb des Reims) vor, wobei sich hier gelegentlich Beispiele finden, in denen das Adjektiv flektiert wird. Der folgende Beleg stammt aus spätalthochdeutscher Zeit: in êinemo félde scônemo (Notker, Martianus Capella 39,8) in einem Feld schönem ‘auf einem schönen Feld’ In diesem Beispiel liegt nur eine unvollkommene Umklammerung vor, weil das attributive Adjektiv nach dem Kernsubstantiv auftritt. Die Konstituente wird mit dem Kernsubstantiv nicht abgeschlossen, die Struktur ist aus der Sicht der Grenzerkennung also suboptimal. So scheint es folgerichtig, dass das nachgestellte attributive Adjektiv in der Entwicklung des Deutschen fast völlig verschwunden ist. Während beim attributiven Adjektiv schon zu Beginn der deutschen Überlieferung Voranstellungen, die ja mit der Klammerstruktur konform sind, die große Mehrheit ausmachen, kann bei der Entwicklung der Stellung des Genitivattributs ein Übergang zur Nachstellung beobachtet werden; Prosatexte vollziehen diese Entwicklung zuerst (vgl. 3.4). Wie in 5.4 diskutiert wurde, lässt sich ein mehrere Jahrhunderte dauernder Übergang vom einen zum anderen Stellungsmuster beobachten, wobei die Semantik der Substantive eine wichtige Rolle spielt. Im Althochdeutschen überwiegt noch klar die Voranstellung des Genitivattributs. Das folgende Beispiel zeigt einen attributiven Genitiv, der zwischen Artikel und Kernsubstantiv steht. Im Neuhochdeutschen ist eine solche Struktur nicht mehr möglich, an dieser Stelle könnte nur noch ein Artikel im Genitiv, der sich auf das genitivische Substantiv bezieht, auftreten. Ein dativischer Artikel, der sich auf das Kernsubstantiv bezieht, wäre dagegen ausgeschlossen. Bemerkenswert ist, dass die Stellung des Genitivattributs in diesem Beispiel aus dem althochdeutschen Tatian (vgl. 2.2) gegen den lateinischen Text gewählt wurde: then liohtes kindon (Tatian 176,24) den Lichtes Kindern ‘des Lichtes Kindern, den Kindern des Lichtes’ lat. Text: filiis lucis <?page no="288"?> Funktionale Erklärungen 288 Eine solche Struktur widerspricht dem klammernden Verfahren, weil das Genitivattribut mit dem Kernsubstantiv nicht kongruiert. Die Klammer wird durch das vorangestellte Genitivattribut „aufgebrochen“. Dass sich in der Geschichte des Deutschen zunehmend die Nachstellung des attributiven Genitivs durchsetzt, ist dagegen mit dem klammernden Verfahren konform. Eine Motivation für die zunehmende Nachstellung des Genitivattributs kann nun darin gesehen werden, dass dadurch das Klammerprinzip konsequent realisiert wird. Die dritte Entwicklung, die zu einer Konsolidierung der Nominalklammer führt, betrifft das erweiterte Adjektivbzw. Partizipialattribut. Während im Neuhochdeutschen die Erweiterungen links vom Adjektiv bzw. Partizip und damit innerhalb der Nominalklammer stehen müssen, finden sich in älterer Zeit Beispiele, in denen die auf das Adjektiv bzw. Partizip bezogenen Erweiterungen nach dem Kernsubstantiv auftreten. Das folgende Beispiel stammt aus dem Spätalthochdeutschen: díu níder rínnenta áha ába demo bérge (Notker, Consolatio 40,23) der niederrinnende Bach ab dem Berg ‘der von dem Berg herunterfließende Bach’ lat.: defluus amnis qui uagatur altis montibus (40,22) In diesem Beispiel ist ába demo bérge abhängig vom attributiven Partizip níder rínnenta, dennoch steht diese Erweiterung nach dem Substantiv áha und damit außerhalb der Nominalklammer. Das Auftreten der Erweiterungen vor dem Partizip (oder Adjektiv) setzt sich nach Weber (1971: 199) ab dem 16. Jahrhundert durch. Auch diese Entwicklung führt zu einer konsequent durchgeführten Klammerkonstruktion. Alle drei Entwicklungen - die Stellung des attributiven Adjektivs vor dem Substantiv, die Positionierung der das Adjektiv oder das Partizip erweiternden Konstituenten vor dem Substantiv und die Positionierung des Genitivattributs hinter dem Substantiv - führen dazu, dass sich das Muster der Nominalklammer durchsetzt: Die Nominalklammer wird immer mit dem Kernsubstantiv abgeschlossen, womit ein Grenzsignal gesetzt wird. Nach Ronneberger-Sibold (2010) kann in diesem Prinzip die Motivation für die drei oben behandelten, auf den ersten Blick keine direkten Gemeinsamkeiten aufweisenden Entwicklungen gesehen werden. Ronneberger-Sibold (1991, 2010) legt dadurch, dass sie die Entwicklung verschiedener Klammerstrukturen zueinander (und auch mit morphologischen und phonologischen Eigenschaften des Deutschen) in Beziehung setzt, eine interessante funktionale Erklärung für eine dem Deutschen eigene Entwicklung vor. Allerdings bedürfen einige Punkte noch der weiteren Klärung: Ronneberger- Sibold (1991: 207) selbst weist darauf hin, dass der von ihr gewählte Begriff der Konstituente als „Bestandteil (eines Satzes)“ in einem sehr weiten Sinn verwendet wird, der nicht unbedingt auf strukturelle Gegebenheiten Bezug nimmt. Beispielsweise sind bei der Adverbialklammer die von den beiden Klammerteilen umschlossenen Elemente syntaktisch nicht von der Präposition abhängig, beim (erweiterten) Adjektiv oder Partizip, das in der Nominalklammer zwischen Arti- <?page no="289"?> Funktional-typologische Erklärungen 289 kel und Substantiv steht, ist dies dagegen der Fall: Es hängt syntaktisch vom Substantiv (dem „rechten Klammerteil“) ab. Umgekehrt wird das Genitivattribut nicht zur Nominalklammer gezählt, obwohl es in einer syntaktischen Analyse unzweifelhaft vom Kernsubstantiv abhängig ist, das die rechte Nominalklammer darstellt. Insofern bleibt unklar, was für eine „syntaktische Grenze“ durch die Nominalklammer gebildet wird. Es könnte von einer Rezipientenperspektive aus ja ebenso wünschenswert sein, mit dem Kernsubstantiv alles, was davon abhängig ist, „abgearbeitet“ zu haben, wie ja auch die vom Partizip abhängigen Ergänzungen vor dem Partizip stehen. In dieser Perspektive scheinen der Übergang zur Nachstellung des attributiven Genitivs und jener zur Voranstellung der vom Partizip abhängigen Ergänzungen sogar eher gegenläufige Tendenzen zu sein. Ein weiteres Problem stellt sich beim Vergleich der Entwicklungen in verschiedenen Varietäten: Die Nominalklammer tritt in allen deutschen Varietäten auf, findet aber im erweiterten Partizipialattribut, das eher die Schriftsprache (und darin bestimmte Stilebenen) kennzeichnet, einen besonders auffälligen Ausdruck. Für die Adverbialklammer ist es dagegen gerade charakteristisch, dass sie aus der Standardsprache verschwunden, in sämtlichen gesprochenen Varietäten dagegen erhalten ist. Die Entwicklung des „Deutschen“ zeigt sich hier in Bezug auf die Herausbildung von Klammerstrukturen also uneinheitlich. Schließlich ist eine empirische Untersuchung zur Frequenz der Klammerstrukturen ein Desiderat. Die rechte Satzklammer kann in der gesamten Sprachgeschichte des Deutschen unbesetzt bleiben, in diesem Fall markiert kein Grenzsignal den Abschluss der Konstituente. Doch wird verschiedentlich darauf hingewiesen, dass die Anzahl von „vollständigen“ Klammern unter anderem durch das Entstehen der periphrastischen Verbalformen zunimmt. Allerdings gibt es dafür bis jetzt kaum belastbare Zahlen. Falls sich herausstellen würde, dass die vollständigen Verbalklammern jeweils nur einen kleinen Prozentsatz ausmachen und in der Entwicklung des Deutschen in Bezug auf die Frequenz nicht wesentlich zunehmen, fällt die Beurteilung des klammernden Verfahrens, dessen prominenteste Verkörperung die Satzklammer ist, unter Umständen anders aus, als wenn festgestellt würde, dass von Althochdeutsch bis Neuhochdeutsch die relative Anzahl vollständiger Satzklammern immer weiter zunimmt. 16.4 Funktional-typologische Erklärungen Ab der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die sogenannte „funktionale Sprachtypologie“ immer wichtiger geworden. Dieser Ansatz hat einige beeindruckende Resultate erbracht. Die Sprachtypologie untersucht und vergleicht sprachliche Strukturen in den „Sprachen der Welt“; dabei macht sie sich sehr häufig funktionale Ansätze zunutze. Ein Anliegen vieler typologischer Untersuchungen ist es, die areale und genetische Zugehörigkeit der untersuchten Sprachen ausgewogen zu gestalten, d.h. eine ausbalancierte Stichprobe, ein „Sample“, zu erstellen. Das bedeutet in der Praxis, dass neben europäischen auch sogenannte „exotische“ Sprachen einbezogen werden müssen. Nur wenn möglichst verschiedenartige Sprachen untersucht werden, so die Argumentation, besteht die Chance, wirklich <?page no="290"?> Funktionale Erklärungen 290 allgemeingültige Aussagen zur Struktur menschlicher Sprache machen zu können. In verschiedenen sprachtypologischen Untersuchungen ist beispielsweise festgestellt worden, dass bestimmte Phänomene, die in den europäischen Sprachen häufig sind, in den übrigen Teilen der Welt kaum vorkommen. In der Sprachtypologie werden deshalb diese für die europäischen Sprachen typischen, in den Sprachen der Welt insgesamt aber seltenen Merkmale mit einem auf Benjamin Lee Whorf (1897-1941) zurückgehenden Begriff gelegentlich als Standard Average European (abgekürzt: „SAE“) bezeichnet (vgl. Haspelmath 2001: 1492). Entsprechende Merkmale sind etwa das haben-Perfekt, das mit einem Partizip gebildete Passiv, die Existenz negativer Indefinita und der unter anderem im Deutschen vorkommende Typ des Relativsatzes, der ein Pronomen aufweist (vgl. Haspelmath 2001: 1492-1499). Diese syntaktischen Merkmale werden im Folgenden für drei Sprachen illustriert, die dem Standard Average European angehören, nämlich für Deutsch, Französisch und Englisch: Deutsch Französisch Englisch haben-Perfekt ich habe gesagt j’ai dit I have said Passiv mit Part. ich werde geliebt je suis aimé I am loved neg. Indefinita ich sage nichts je ne dis rien I say nothing Relativpr. der Mann, der kommt l’homme qui vient the man who comes Ein zentrales Ziel sprachtypologischer Untersuchungen besteht darin, durch den Sprachvergleich „Universalien“ zu formulieren, die für das grammatische System menschlicher Sprache generell Gültigkeit besitzen. Für die Entwicklung der Sprachtypologie als eigene Disziplin waren die Arbeiten von Joseph Greenberg (1915-2001), insbesondere der erstmals 1963 erschienene Artikel Some universals of grammar with particular reference to the order of meaningful elements (Greenberg 1963), von entscheidender Bedeutung. Aufgrund eines Samples von 30 Sprachen, die verschiedenen Arealen und Sprachfamilien angehören, formulierte Greenberg insgesamt 45 Universalien, die Generalisierungen des typologischen Vergleichs zusammenfassen. Ein Beispiel dafür ist die Universalie Nr. 2. Sie formuliert einen Zusammenhang zwischen der Stellung von Adpositionen 28 und attributiven Genitiven: In languages with prepositions, the genitive almost always follows the governing noun, while in languages with postpositions it almost always precedes. (Greenberg 1963: 78) Eine Sprache, die Präpositionen aufweist, ist etwa das Deutsche: Die Präposition steht vor dem Substantiv, dessen Kasus sie bestimmt. Damit korreliert die Tatsache, dass der von einem Substantiv abhängige attributive Genitiv (dieser ist mit Greenbergs Formulierung ausschließlich gemeint) im Neuhochdeutschen über- ________ 28 „Adposition“ ist ein Oberbegriff zu Präposition und Postposition: Damit werden Elemente bezeichnet, die den Kasus eines von ihnen abhängigen Substantivs bestimmen, unabhängig von der relativen Stellung von Substantiv und Adposition. <?page no="291"?> Funktional-typologische Erklärungen 291 wiegend dem Substantiv nachfolgt (in den folgenden Beispielen werden die jeweils abhängigen Konstituenten unterstrichen): Adposition attr. Genitiv hinter dem Haus das Haus des Mannes Eine Sprache, die Postpositionen aufweist, ist dagegen das Finnische. Im folgenden Beispiel tritt takana ‘hinter’ nach dem Substantiv auf, dessen Kasus es bestimmt, es handelt sich deswegen um eine Postposition. Damit korreliert nach Greenbergs Universalie Nr. 2 die Eigenschaft, dass der attributive Genitiv im Finnischen in der Regel vor dem Substantiv steht, von dem er abhängt. Dies zeigt das zweite Beispiel: Adposition attr. Genitiv talon takana Haus- GEN hinter ‘hinter dem Haus’ miehen talo Mann- GEN Haus ‘das Haus des Mannes’ Greenbergs Universalie Nr. 2 ist zunächst nichts weiter als eine empirische Generalisierung aufgrund von Beobachtungen in einem Sample von verschiedenen Sprachen. Es werden zwei voneinander unabhängige Eigenschaften - Position des attributiven Genitivs, Position des von einer Adposition abhängigen Substantivs - miteinander verglichen. Rein kombinatorisch sind vier verschiedene Typen möglich. Erstaunlich ist aber, dass in den Sprachen der Welt nur zwei der vier möglichen Kombinationen verbreitet sind, wie folgende Darstellung zeigt: Substantiv - Genitiv Genitiv - Substantiv Präposition - Substantiv häufig [z.B. Deutsch] selten Substantiv - Postposition selten häufig [z.B. Finnisch] Kombinatorisch mögliche Verteilungen der Abfolgen Adposition - Substantiv sowie attributiver Genitiv - Substantiv Die Tatsache, dass zwei der möglichen Typen häufig, zwei dagegen selten belegt sind, kann, so die funktional-typologische Argumentation, kein Zufall sein. Tatsächlich kann hinter dieser Verteilung eine funktionale Motivation gesehen werden: In dem Verhältnis Adposition - Substantiv ist die Adposition das Element, von dem das Substantiv abhängig ist. In gleicher Weise modifiziert der attributive Genitiv das Substantiv, auf das er sich bezieht. Im Deutschen, wo Präpositionen auftreten und das Genitivattribut gewöhnlich nach dem Substantiv steht, tritt also das bestimmende Element jeweils vor dem abhängigen Element auf. Im Finnischen dagegen steht das bestimmende Element jeweils hinter dem abhängigen Element. Die beiden häufigen, hier durch das Deutsche und Finnische illustrierten Muster sind also in Bezug auf die Abfolge von abhängigem und bestimmendem Element jeweils konsistent. Die beiden anderen kombinatorisch möglichen Typen sind dagegen inkonsistent. Der empirische Befund, dass diese Typen kaum <?page no="292"?> Funktionale Erklärungen 292 vorkommen, kann dahingehend interpretiert werden, dass sprachliche Systeme in Bezug auf die Abfolge von bestimmenden und bestimmten Konstituenten offenbar nach Konsistenz streben. Interessant ist in diesem Zusammenhang die historische Entwicklung des Deutschen: Schon in den ältesten Zeugnissen treten überwiegend Präpositionen auf, Postpositionen sind dagegen wesentlich seltener und auch historisch jünger (eine Adposition, die sowohl vor als auch nach dem von ihr abhängigen Substantiv stehen, also als Präposition wie als Postposition auftreten kann, ist wegen: wegen des Wetters - des Wetters wegen). Dagegen steht der attributive Genitiv in den älteren Sprachstufen des Deutschen noch sehr häufig vor dem Substantiv, auf das er sich bezieht. Ab mittelhochdeutscher Zeit kann beobachtet werden, wie sich die Stellung des attributiven Genitivs wandelt: Die Nachstellung wird immer häufiger (vgl. 3.4, 5.4). Prell (2000: 38) spricht davon, dass das Deutsche „durch die Nachstellung des Genitivs Greenbergs Universalie Nr. 2 sozusagen nachträglich ‘eingelöst’“ hat. Der Wandel in der Stellung des attributiven Genitivs führt also zu einem konsistenten Typ, worin seine funktionale Motivation liegen könnte. Die sprachtypologische Forschung hat aber auch weitere Prinzipien formuliert, die für die Entwicklung der Stellung des attributiven Genitivs im Deutschen interessante Erklärungen liefern. Für die Sprachen der Welt ist im Hinblick auf verschiedenste grammatische Phänomene die Wirksamkeit der sogenannten „Belebtheitshierarchie“ (engl.: animacy hierachy) festgestellt worden. Dabei geht es um die Konzeptualisierung von Belebtheit in natürlichen Sprachen, dies hat insofern nur indirekt mit dem biologischen Begriff des Lebens zu tun. Anders als in der Natur, wo es nur eine Unterscheidung von belebt und unbelebt gibt, geht es bei der linguistischen Belebtheit um eine Skalierung von mehr oder weniger belebt, wobei besonders häufig eine Unterscheidung zwischen Mensch und Tier gemacht wird. Eine einfache Version der Belebtheitshierarchie (es gibt auch wesentlich detailliertere Versionen) ist etwa die folgende: human > animat > inanimat (vgl. Comrie 1989: 185) Das Wirken der Belebtheitshierarchie zeigt sich in vielen Sprachen etwa bei der Kasusmarkierung. Besonders bekannt ist der Fall des Russischen: Dort tritt, je nachdem, ob ein maskulines Substantiv „belebt“ oder „unbelebt“ ist, eine andere Akkusativform auf. Die „unbelebte“ Akkusativform ist mit dem Nominativ homonym (er verfügt über keine overte Endung), die „belebte“ Akkusativform dagegen mit dem Genitiv. Die folgenden Beispiele zeigen ein menschliches, ein tierisches und ein unbelebtes Akkusativobjekt: otec(-Ø) vidit syn-a Vater- NOM sieht Sohn- AKK = GEN ‘Der Vater sieht den Sohn.’ otec(-Ø) vidit slon-a Vater- NOM sieht Elephant- AKK = GEN ‘Der Vater sieht den Elephanten.’ <?page no="293"?> Funktional-typologische Erklärungen 293 otec(-Ø) vidit dom-Ø Vater- NOM sieht Haus- AKK = NOM ‘Der Vater sieht das Haus.’ Die funktionale Erklärung für diese Distribution wird darin gesehen, dass bei belebten Substantiven eine eindeutige Kennzeichnung des Akkusativobjekts als Akkusativ (d.h. als Patiens der Verbalhandlung) notwendig ist, weil es bei sehr vielen Verben grundsätzlich auch als Subjekt in Frage kommt (sowohl der Vater als auch der Sohn können lieben). Wenn sich der Akkusativ nicht vom Nominativ unterscheiden würde, wäre eine eindeutige Interpretation dagegen nicht mehr gewährleistet. Bei einem unbelebten Gegenstand, der als Subjekt in diesem Satz kaum in Frage kommt, ist eine besondere Kennzeichnung des Objekts dagegen nicht notwendig (ein Haus kann nicht lieben). Diachron gesehen ist der „belebte“, mit dem Genitiv homonyme Akkusativ die jüngere Form. Sein Aufkommen wird damit erklärt, dass dadurch eine eindeutige Kennzeichnung des Objekts, d.h. des Patiens einer Handlung, ermöglicht wurde. Das Wirken der Belebtheitshierarchie zeigt sich somit gerade auch bei Sprachwandelprozessen, d.h. in der Diachronie. Auch bei der Entwicklung der Stellung des attributiven Genitivs im Deutschen kann das Wirken der Belebtheitskategorie beobachtet werden. In vielen Sprachen der Welt ist bei der Serialisierung von Konstituenten eine Tendenz festzustellen, nach der stärker belebte Konstituenten vor weniger stark belebten stehen (vgl. Koptjevskaja-Tamm 2002). Noch im Neuhochdeutschen gibt es eine bestimmte Klasse von Substantiven, die Eigennamen, die in der Regel dem Kernsubstantiv vorangestellt werden (Olivers Buch), wogegen ansonsten heute die Nachstellung wesentlich üblicher ist (das Buch des Lehrers). Interessant ist nun, dass mit einem gewissen zeitlichen Abstand verschiedene semantische Klassen den Übergang von der Voranstellung zur Nachstellung des Genitivattributs vollzogen haben: Substantive, die Menschen bezeichnen, bewahren die Voranstellung länger als Substantive, die sich auf unbelebte Entitäten beziehen (vgl. 5.4). Die Belebtheit spielt interessanterweise auch bei den Genitivperiphrasen eine Rolle: Wie in 6.2 dargestellt wurde, ist der Genitiv in den meisten deutschen Dialekten vollständig verschwunden und durch Periphrasen ersetzt worden, und zwar einerseits durch den possessiven Dativ (dem Vater sein Hut), andererseits durch die Umschreibung mittels der Präposition von (die Stoßstange vom Auto). Die beiden Konstruktionen unterscheiden sich unter anderem in Bezug auf ihre relative Stellung zum Substantiv, auf das sich die Genitivperiphrase bezieht: Beim possessiven Dativ steht diese vor, bei der präpositionalen Umschreibung dagegen nach dem Substantiv. Es ist nun, wie beispielsweise Zifonun (2003: 122-123) ausführt, besonders interessant, dass der possessive Dativ vor allem bei belebten Substantiven auftritt, bei unbelebten dagegen kaum möglich ist (*dem Auto seine Stoßstange), wogegen die präpositionale Umschreibung eher bei unbelebten Substantiven typisch ist. Die beiden Genitivperiphrasen sind unter dieser Perspektive also nicht gleichwertig. Die Tatsache, dass der possessive Dativ die Voranstellung des attributiven Elements ermöglicht, macht es wahrscheinlich, dass diese Konstruktion vor allem bei belebten Nominalphrasen auftritt. <?page no="294"?> Funktionale Erklärungen 294 Bei der Stellung des Genitivattributs spielen also funktional motivierte Prinzipien eine wichtige Rolle für die historische Entwicklung. Dabei verhält es sich durchaus so, dass funktional motivierte Prinzipien miteinander in einem inhärenten Konflikt stehen können: So wird das Deutsche zwar durch die Nachstellung des Genitivattributs insofern konsistenter, als nun bei Genitivattribut wie bei Adpositionen die syntaktische Abhängigkeit jeweils in die gleiche Richtung geht. Doch wird dadurch teilweise die im Einklang mit der Belebtheitshierarchie stehende Serialisierung unterlaufen. Dass also die Entwicklung der Voranstellung des Genitivs gerade bei den Eigennamen aufgehört hat, scheint nicht zufällig. 16.5 Funktionale Erklärungen: Fazit Funktionale Ansätze zur Erklärung von Sprachwandel erfreuen sich großer Beliebtheit. Die Grundidee, dass eine bestimmte Wandelerscheinung zur „Verbesserung“ einer sprachlichen Struktur beiträgt, ist attraktiv und kann als wichtiger Faktor angesehen werden. „Verbesserung“ muss allerdings immer als „lokale Verbesserung“ verstanden werden: Was für den einen Teil des Sprachsystems gut ist, kann für einen anderen Teil schlecht sein. Beispielsweise „erkauft“ sich das Deutsche das Markieren von Konstituentengrenzen durch Klammerstrukturen damit, dass syntaktisch eng zusammengehörige Teile nicht beieinander stehen, d.h. eine „Verbesserung“ in einem Bereich der Grammatik kann zu einer „Verschlechterung“ in einem anderen Bereich führen. Die „perfekte“ Syntax (oder die „perfekte Sprache“) gibt es deshalb nicht. Wie gerade anhand des zuletzt besprochenen Beispiels klar wird, können funktional motivierte Prinzipien auch in einen inhärenten Widerspruch zueinander treten. Bestimmte funktionale Erklärungsmuster sind in der historischen Linguistik entwickelt worden, doch gibt es auch Beiträge aus anderen Disziplinen. Gerade in der Sprachtypologie sind verschiedene Ansätze anhand synchroner Generalisierungen formuliert worden. Für die diachrone Linguistik ist es eine interessante Perspektive, zu untersuchen, inwieweit die von der Sprachtypologie festgestellten funktionalen Generalisierungen sich auch beim Sprachwandel auswirken. Literaturhinweise Bisher fehlt eine Überblicksdarstellung zu funktionalen Theorien des syntaktischen Wandels. Die Einführung von Nübling et al. (2010) geht in ihrem Syntax- Kapitel auch auf einige funktionale Ansätze ein. Die Theorie des natürlichen grammatischen Wandels ist in Wurzel (1994) gut zugänglich aufbereitet. Der Ansatz zur Entstehung diskontinuierlicher Strukturen wird von Ronneberger- Sibold (1991, 2010) in einer auch für Anfänger geeigneten Form dargestellt. Zu von der Sprachtypologie inspirierten diachronen Ansätzen gibt es bisher keine einführende Darstellung, doch gehen viele Einführungen in die Sprachtypologie auch auf diachrone Aspekte ein, allerdings nicht mit speziellem Bezug auf das Deutsche. Besonders empfehlenswert ist in dieser Hinsicht Comrie (1989). <?page no="295"?> 17 Formale Ansätze Dieses Kapitel beschäftigt sich mit formalen Erklärungen für syntaktischen Wandel. Darunter kann man im weiteren Sinn solche Erklärungsansätze zusammenfassen, die syntaktische Regeln und Prinzipien einer Sprache ohne Bezug auf Faktoren wie Semantik, Diskurs oder Sprachverwendung formulieren. Zuerst wird anhand eines konkreten Beispiels veranschaulicht, was man sich unter Formalisierung vorstellen kann. Hier geht es insbesondere auch um Besonderheiten der generativen Grammatik als Beispiel einer formalisierten Grammatiktheorie (17.1). Danach wird anhand verschiedener Phänomene ausführlich darauf eingegangen, wie syntaktischer Wandel in der generativen Grammatik beschrieben und erklärt wird (17.2). Abschließend wird eine kurze Einordnung solcher Erklärungsansätze in den allgemeinen Forschungskontext vorgenommen (17.3). 17.1 Zum Wesen formaler Ansätze Wenn man die zu Beginn von Teil III diskutierte Unterscheidung zwischen internen und externen Faktoren berücksichtigt, dann sind formale Erklärungen für syntaktischen Wandel eine Teilmenge von Theorien, die sich auf interne Faktoren berufen, und zwar jene, die sich ohne Rückgriff auf semantische oder diskurspragmatische Bedingungen formulieren lassen. Ein Beispiel für eine solche syntaktische Regel, das im Folgenden weiter aufgenommen wird, ist die sogenannte „Verbzweit-Eigenschaft“ des Deutschen: Damit ist die Eigenschaft gemeint, dass in einem Aussagesatz (Deklarativsatz) das finite Verb immer in der zweiten Position steht (vgl. 9.2.1); davor kann eine beliebige Phrase stehen: [Das Fahrrad] hat Max in den Keller gestellt. [In den Keller] hat Max das Fahrrad gestellt. [Max] hat das Fahrrad in den Keller gestellt. Die Verbzweit-Eigenschaft, die übrigens für alle germanischen Sprachen (mit Ausnahme des Englischen) gilt, ist ein rein syntaktisches (und damit formales) Prinzip. Es lassen sich keine plausiblen semantischen oder diskurspragmatischen Gründe angeben, die das Verb in diese Position nötigen würden. In einem engeren Sinn sind formale Ansätze solche Ansätze, die auf die Beschreibungswerkzeuge bzw. Konzepte einer formalisierten Grammatiktheorie zurückgreifen. Ein Beispiel für eine solche formalisierte Grammatiktheorie ist die „generative Grammatik“, die von Noam Chomsky in einer Reihe von Arbeiten entwickelt wurde (z.B. Chomsky 1957, 1965, 1981, 1986) und um die es im Folgenden gehen wird. Was man sich unter Formalisierung genau vorstellen kann, soll anhand eines einfachen Beispiels demonstriert werden: Der Aufbau von Phrasen (Konstituenten) kann durch sogenannte „Phrasenstrukturregeln“ explizit <?page no="296"?> Formale Ansätze 296 beschrieben werden, wobei es zwei grundsätzliche Regeltypen gibt, nämlich Phrasenstrukturregeln (PS-Regeln) und lexikalische bzw. terminale Regeln (vgl. Grewendorf et al. 1989: 174). Die folgende Phrasenstrukturregel beschreibt den Aufbau von Nominalphrasen wie beispielsweise das Auto oder das alte Auto, wobei der Pfeil jeweils bedeutet: „Ersetze das Symbol auf der linken Seite durch jene auf der rechten Seite.“ Im konkreten Fall bedeutet dies, dass das Symbol ‘NP’ (= Nominalphrase) durch die beiden Symbole ‘Art’ (= Artikel) und ‘N’ (= Nomen) substituiert wird. 1. NP → Art N [Phrasenstrukturregeln] 2. NP → Art Adj N Ersetzungsregeln stellen sozusagen die Verbindung her zwischen den Kombinationsregeln der Grammatik und den basalen Einheiten, die sie verwendet, nämlich syntaktische Wörter, die für die syntaktische Struktur notwendige Informationen (z.B. Flexionsendungen) enthalten. 3. N → Auto [lexikalische Regeln] 4. Art → das 5. Adj → schöne Mit diesen beiden Regeltypen lassen sich einige Aspekte des Aufbaus von Nominalphrasen im Deutschen sehr einfach fassen. So ergibt sich die Nominalphrase das schöne Auto direkt durch das Zusammenspiel der beiden Regeltypen; insbesondere lexikalische Regeln wie N → Auto lassen sich dahingehend verallgemeinern, dass sie für jedes beliebige deutsche Nomen (also Haus, Wolke, Auspuff usw.) gelten. Nicht wohlgeformt wären Phrasen wie die folgenden, da sie nicht den oben angeführten Phrasenstrukturregeln entsprechen. Eine nicht-erlaubte lexikalische Ersetzungsregel bestünde darin, das Kategoriesymbol N(omen) wie unten durch ein lexikalisches Element, z.B. ein Adjektiv (Adj) oder einen Artikel (Art) zu ersetzen, das der jeweiligen syntaktischen Kategorie offensichtlich nicht entspricht. Vereinfacht gesprochen, hätte diese Regel die Wortart einfach falsch bestimmt. *das Auto schöne [Verletzung von (2.): *NP → Art N Adj] *das schöne schöne [Verletzung von (3.): *N → schöne] Solche Regeln sagen natürlich noch nichts über Kongruenzbeziehungen aus, wie sie beispielsweise im Deutschen zwischen das, schöne und Auto bestehen, d.h. eine Phrase wie [die schönes Auto] wäre nach den obigen Regeln erlaubt; ihre Ungrammatikalität müsste über zusätzliche Regeln beschrieben werden. Unabhängig davon können mit solchen Regeln beliebig große syntaktische Einheiten modelliert werden, also auch ganze Sätze. Phrasenstrukturregeln sind ein sehr mächtiges Werkzeug, und in modifizierter Form gehören sie zum Inventar jeder formalen Grammatiktheorie; überdies werden sie auch in der maschinellen Sprachverarbeitung eingesetzt. Ihre große <?page no="297"?> Zum Wesen formaler Ansätze 297 Stärke liegt darin, dass sie explizit festlegen, was in einer bestimmten Sprache als wohlgeformte Struktur gilt und was nicht: Eine ungrammatische Struktur ist dadurch gekennzeichnet, dass es keine Phrasenstrukturregel gibt, mit der sie abgeleitet werden kann. 17.1.1 Phrasenstrukturregeln und das X’-Schema Eine wichtige Verallgemeinerung von Phrasenstrukturregeln wurde im Rahmen des sogenannten „X’-Schemas“ (sprich: „X-Strich“, engl. X-bar) formuliert, das den abstrakten Aufbau jedes beliebigen Phrasentyps (Nominalphrase, Adjektivphrase usw.) festlegt und das hier wiedergegeben ist (‘P’ steht jeweils für „Phrase“, ‘X’, ‘Y’ und ‘Z’ fungieren in der Darstellung unten als Variablen für den Phrasentyp, z.B. NP = Nominalphrase): 1. XP → YP (Spezifikator) X’ 2. X’ → X° ZP (Komplement) 3. X’ → X’ ZP, XP → XP ZP (Modifikatoren, Adjunkte) Phrasenstrukturen, wie sie durch das X’-Schema modelliert werden, lassen sich auf zwei Arten darstellen. Einerseits in Form von Klammernotationen, wobei die einzelnen eckigen Klammern jeweils eine Konstituente symbolisieren, deren Namen per Konvention in Form von Tieferstellung an der linken Klammer angeführt wird, z.B. [ AP ] = „Adjektivphrase“. Die einzelnen Bestandteile einer Konstituente werden, sofern man nicht weiter auf ihren Aufbau eingeht, in den Klammern aufgereiht, z.B. [ AP [ NP der Aufgaben] A° überdrüssig]. Der vom X’- Schema beschriebene allgemeine Strukturaufbau von Phrasen würde in Form von Klammernotationen folgendermaßen wiedergegeben: [ XP (Adjunkt) [ XP YP (Spezifikator) [ X’ X° (Kopf) ZP (Komplement)]]] Eine alternative Darstellungsweise bieten Baumdiagramme. Sie haben den Vorteil, dass sie um einiges übersichtlicher sind und sich insbesondere zur Veranschaulichung von Transformationen sehr gut eignen. Überdies sind wichtige syntaktische Mechanismen über das Verhältnis einzelner Positionen im Baum bestimmt, für die sich verschiedene Bezeichnungen etabliert haben, die weiter unten ausführlicher diskutiert werden und hier nur mit einem Beispiel vorweggenommen werden. So sind beispielsweise Spezifikatoren immer „Töchter“ des Abschlussknotens einer Phrase (XP), d.h. sie werden von diesem unmittelbar dominiert (es liegt kein anderer Knoten dazwischen). Als Baumstruktur sieht das X’-Schema folgendermaßen aus: <?page no="298"?> Formale Ansätze 298 Mit dem X’-Schema sind ganz konkrete Strukturannahmen verbunden: Dieser syntaktischen Blaupause zufolge besteht jede Phrase aus einem Kopf (X°), der ihren zentralen Bestandteil bildet und gewisse Merkmale (z.B. semantische Eigenschaften wie Valenz oder morphologische Merkmale wie Kongruenz) an die Phrase weitergibt. Da der Kopf die kleinste syntaktisch relevante Einheit ist und daher die niedrigste Projektionsstufe darstellt, wird er mit dem Index ‘°’ versehen; die Weitergabe von im Kopf angelegten Merkmalen wird „Projektion“ genannt. Weitere Teile des Schemas sind Adjunkt (Modifikator), Spezifikator und Komplement, die bestimmte Positionen in der Struktur beschreiben. Eine wichtige zusätzliche Annahme besagt, dass Bäume immer nur binär verzweigen, d.h. nur jeweils zwei Knoten pro Verzweigung vorhanden sein dürfen. Unten ist ein Beispiel für eine komplexe (Nominal-)Phrase und ihre einzelnen strukturellen Bestandteile angeführt. Der Grundaufbau besteht aus dem Kopf Gedanke, der zusammen mit seiner Ergänzung (Komplement), d.h. dem Satz dass Geld nicht stinkt, eine Projektion der Stufe N’ bildet (nach Regel (2.) des X’-Schemas). Diese Projektion ist größer als ein Kopf, aber noch kleiner als eine Phrase (NP), die ja die maximale Projektionsebene darstellt (schließlich muss noch der Artikel ergänzt werden), weshalb man hier auch von „Zwischenprojektion“ redet. Mit der Adjektivphrase sehr beruhigende bildet diese N’-Kategorie gemäß Regel (3.) wiederum eine neue N’-Kategorie. Weil diese Phrase in der Valenz des Kopfes nicht angelegt ist, sondern semantisch gesehen dessen Bedeutung modifiziert, spricht man auch von „Modifikatoren“ bzw. „Adjunkten“. Da solche Elemente syntaktisch gesehen weglassbar sind (sowohl der sehr beruhigende Gedanke als auch der Gedanke sind wohlgeformte Nominalphrasen), haben sie keinen Einfluss auf die Sättigung der im Kopf angelegten Argumentstruktur und erhöhen damit auch nicht das Komplexitätsniveau der Phrase. Diesem Umstand wird durch die Regel (3.) Rechnung getragen, die erlaubt, dass X’-Kategorien durch sich selbst ersetzt werden können. Mit seinem Spezifikator, dem bestimmten Artikel das, bildet diese komplexe X’-Kategorie schließlich die vollständige Nominalphrase NP, die den Abschlussknoten und damit das höchste Niveau der Projektion bildet. [ NP der [ N’ [ AP sehr beruhigende] [ N’ N o Gedanke, [ S dass Geld nicht stinkt]] <?page no="299"?> Zum Wesen formaler Ansätze 299 Eine Anmerkung zur Notation: Wie oben bereits erwähnt, ist es üblich, die Unterbestandteile einer Phrase mit eckigen Klammern und dem jeweiligen tiefgestellten Kategoriesymbol zu versehen; diese Konvention wird im Folgenden beibehalten, wobei Zwischenprojektionen (X’) der Einfachheit halber in der Regel weggelassen werden (wie dies auch bei dem oben in Klammernotation angeführten Beispiel im Falle des dass-Satzes gemacht wurde, der einfach das Kategoriesymbol ‘S’ trägt). An dem obigen Beispiel lassen sich zwei weitere wichtige Eigenschaften von Phrasen veranschaulichen: Erstens sind Phrasen, wie bereits angedeutet, in diesem Sinn Projektionen ihres Kopfes, dass alle weiteren Bestandteile bestimmten Anforderungen des Kopfes genügen müssen. So stimmen beispielsweise der in der Spezifikator-Position beheimatete Artikel oder die in der X’-Projektion enthaltene Adjektivphrase morphologisch mit dem Kopf überein, d.h. sie „kongruieren“. Ersetzt man Gedanke etwa durch ein feminines Nomen wie Vermutung, ändert sich auch die Form der anderen Phrasenbestandteile. Auch verfügt nicht jeder nominale Kopf über eine eigene Valenz (in der generativen Grammatik redet man auch von „Argumentstruktur“), wovon man sich anhand von nicht-wohlgeformten Beispielen wie *Hans, dass Geld allein nicht unglücklich macht oder *das Auto, dass Geld allein nicht unglücklich macht überzeugen kann. Zweitens zeigt der Objektsatz im obigen Beispiel, dass Sätze ebenfalls Phrasen sind (erkennbar an dem Kategoriesymbol S) und wie andere Phrasentypen auch als Bestandteile von übergeordneten Phrasen auftreten können. Dieses Verschachtelungs- oder Einbettungsprinzip eignet sich sehr gut, um zu beschreiben, dass wir als Sprecher einer natürlichen Sprache eine intuitive Vorstellung davon haben, welche Einheiten einer Äußerung zusammengehören und welche nicht. 17.1.2 Transformationsregeln Eine Besonderheit generativer Modelle besteht in der Annahme von Transformationsregeln (deshalb wird ein solches Modell auch „generative Transformationsgrammatik“ genannt), die verschiedene Phrasenstruktur-Repräsentationen miteinander in Beziehung setzen. Wie das folgende Beispiel zeigt, gibt es im Deutschen unterschiedliche Satztypen, die sich durch die Position des finiten Verbs unterscheiden lassen. In Nebensätzen steht das finite Verb üblicherweise in der letzten Position (1.), während es sich bei Entscheidungsfragesätzen an der Spitze des Satzes (2.) und bei Deklarativsätzen in Zweitposition befindet (3.): 1. … weil sich jeder ein Stück abschneidet. 2. Schneidet sich jeder ein Stück ab? 3. Ein Stück schneidet sich jeder ab. In Kapitel 9.1 wurde bereits das sogenannte „Satzklammer- oder Feldermodell“ eingeführt, mit dem sich solche Verbstellungsregularitäten auf einfache Weise beschreiben lassen. Der Unterschied zwischen diesen drei Satztypen besteht darin, dass das finite Verb im einen Fall von der Subjunktion weil in die rechte Satzklammer (im unten angeführten Schema als ‘RSK’ abgekürzt) verdrängt wird, während es in den beiden anderen Satztypen in der linken Satzklammer steht <?page no="300"?> Formale Ansätze 300 (vgl. die Abkürzung ‘l. Satzkl.’ unten); dieser Position geht im Falle eines Deklarativsatzes das Vorfeld voran, das jeweils nur von einer Konstituente besetzt werden kann. Vorfeld l. Satzkl. Mittelfeld r. Satzkl. Nachfeld - weil sich jeder ein Stück abschneidet - - Schneidet sich jeder ein Stück ab? - Ein Stück schneidet sich jeder ab. - Felderdarstellung der verschiedenen deutschen Satztypen Wenn man sich überlegt, wie eine Phrasenstruktur-Repräsentation der deutschen Satzstruktur aussehen könnte, dann gibt es einige Gründe für die folgende Wiedergabe (wobei vorläufig die Frage offengelassen wird, welchen Phrasentypen die einzelnen Klammerabschnitte entsprechen): [ S Vorfeld [l. Satzkl. [Mittelfeld + r. Satzkl.]] Nachfeld] Mit diesem Schema haben wir den Aufbau von Sätzen wie (3.) oben erfasst, nicht jedoch den von (1.) und (2.), da bei ihnen das Vorfeld nicht besetzt ist. Offensichtlich besteht auch ein systematischer Zusammenhang zwischen der Anwesenheit einer Subjunktion und dem Auftreten des finiten Verbs in der linken oder rechten Klammerposition. Weiter sticht ins Auge, dass Verbzusätze wie ab bei den Sätzen (2.) und (3.) vom finiten Verb im rechten Satzrand zurückgelassen werden. Diese Beobachtung war es vor allem, die dazu geführt hat, dass man in generativen Modellen der deutschen Satzstruktur die Hauptsatzstellung üblicherweise aus jener des Nebensatzes ableitet. Benötigt werden hierfür die folgenden beiden Transformationsregeln: 1. Bewege das finite Verb in die linke Satzklammer (wenn diese leer ist). 2. Bewege eine beliebige Konstituente aus dem Mittelfeld ins Vorfeld. Beide Regeln sind kontextabhängig in dem Sinn, dass Regel (1.) nur dann angewendet werden darf, wenn die linke Satzklammer nicht von einem lexikalischen Element (d.h. einer Subjunktion wie dass oder weil) besetzt ist. Analog darf Regel (2.) nur dann zur Anwendung kommen, wenn die linke Satzklammer bereits vom finiten Verb besetzt ist, siehe dazu die folgenden Beispiele: *weil abschneidet sich jeder ein Stück [gemäß Regel (1.)] *ein Stück weil sich jeder abschneidet [gemäß Regel (2.)] Mit diesen beiden Regeln lassen sich die wesentlichen Eigenschaften der deutschen Verbstellung auf einfache Weise ableiten. Die bewegten Elemente werden mit ihrer Grundposition durch eine sogenannte „Spur“ oder „Lücke“ (die Abkürzung ‘t’ kommt von engl. trace ‘Spur’) in Beziehung gesetzt, die mit einem tiefgestellten Index (i, j, …) versehen wird, um Verwechslungen auszuschließen: <?page no="301"?> Zum Wesen formaler Ansätze 301 … [ S [ LSK weil [ MF Alexander Schinken [ RSK mag]]]] [Grundabfolge] [ S [ LSK Mag i [ MF Alexander Schinken [ RSK t i ]]]]? [Regel (1.)] [ S [ VF Alexander j ] [ LSK mag i [ MF t j Schinken [ RSK t i ] [Regel (1.) & (2.)] Die Nebensatzstellung wird überdies als Indikator dafür gesehen, dass Deutsch eine SOV-Sprache ist (erkennbar an der Abfolge Alexander = Subjekt, Schinken = Objekt und mag = Verb). Warum ausgerechnet die Hauptsatzstellung aus der Nebensatzstellung abgeleitet sein soll, lässt sich einerseits durch theorieinterne Überlegungen motivieren, da unter dieser Annahme viel weniger Transformationen angenommen werden müssen als im umgekehrten Fall (siehe zur Illustration solcher Überlegungen Wöllstein-Leisten et al. 1997: 29-32). Andererseits sprechen aber auch gewisse empirische Beobachtungen wie beispielsweise das Verhalten von präfigierten Verben (z.B. abschneiden oben) dafür, die quasi die Basisposition des Verbs am Ende des Satzes markieren. Ein Aspekt, der bisher ausgespart wurde, ist die Nachfeldbesetzung, die im Gegenwartsdeutschen praktisch nur durch Präpositionalphrasen bzw. Nebensätze möglich ist, aber in älteren Sprachstufen relativ häufig vorkommt, und zwar auch bei nominalen Ergänzungen (vgl. Kapitel 9). Auch diesen syntaktischen Prozess kann man mittels Transformationen darstellen, wie dies im folgenden Beispiel veranschaulicht ist: Sie hat den ganzen Nachmittag t i gewartet [ NP auf ihn] i Die Präpositionalphrase auf ihn wurde aus ihrer Basisposition im Mittelfeld ins Nachfeld verschoben. Eine solche Analyse trägt dem Sonderstatus der Nachfeldbesetztung im Neuhochdeutschen Rechnung, jedoch kann man die ungleich höhere Anzahl von Nachfeldbesetzungen im älteren Deutschen auch als tiefergreifenden syntaktischen Unterschied betrachten. Hier liegt mit Blick auf die Stellung von Verb und Ergänzung nämlich eine Abfolge vor, die man auch vom Englischen kennt (vgl. she has waited for him), d.h. die Ergänzung könnte auch direkt im Nachfeld „erzeugt“ worden sein (man redet in diesem Zusammenhang auch davon, dass sie an dieser Stelle „basisgeneriert“ wurde). Ein Problem für den bisher eingeführten Regelapparat stellen die folgenden Strukturen dar, wo offensichtlich keine Phrase aus dem Mittelfeld ins Vorfeld verschoben wurde, sondern sich ein semantisch leeres Pronomen es (sogenanntes „Vorfeldexpletiv“) dort befindet, das nicht im Mittelfeld auftreten kann. Dies kann dann der Fall sein, wenn aus Gründen der Informationsstrukturierung keine Konstituente aus dem Mittelfeld ins Vorfeld bewegt wird (vgl. Kapitel 12). Beim ersten Beispiel steht der Asterisk ‘*’ vor dem geklammerten Expletiv - das bedeutet, dass der Satz ohne das Expletivum ungrammatisch wäre. Im zweiten Beispiel hingegen signalisiert das eingeklammerte Symbol ‘*’, dass der Satz mit dem Expletivum an dieser Stelle nicht wohlgeformt ist. *(Es) kamen nur drei Leute zur Preisverleihung. Nur drei Leute kamen (*es) zur Preisverleihung. <?page no="302"?> Formale Ansätze 302 Wir benötigen also zusätzlich eine Einsetzungsregel, die sicherstellt, dass in Deklarativsätzen (Aussagesätzen) das Vorfeld immer besetzt ist, denn andernfalls wäre der obige Satz nicht wohlgeformt. 29 3. Das Vorfeld muss obligatorisch besetzt sein. Wird Regel (2.) nicht angewendet, muss dort ein expletives Element (es) eingefügt werden. Ein Problem solcher Transformationsregeln besteht darin, dass sie sehr „mächtig“ sind. Sie müssen restriktiv genug formuliert werden, denn sonst besteht die Gefahr, dass sie übergenerieren und somit Strukturen erzeugen, die nicht wohlgeformt sind. Ihr unbestreitbarer Vorteil liegt aber darin, dass sehr viele Besonderheiten der deutschen Satzstruktur mit einer kleinen Zahl von Grundannahmen gemacht werden können. 17.1.3 Funktionale Projektionen und syntaktische Merkmale Phrasenstruktur-Repräsentationen und Transformationsregeln sind ein sehr flexibles, aber auch mächtiges Werkzeug zur Beschreibung von syntaktischen Strukturen. Allerdings bedürfen insbesondere Transformationsregeln einer Motivation, denn andernfalls wäre jede beliebige Wortkette durch solche Regeln ableitbar. Transformationen müssen also, vortheoretisch gesprochen, einem bestimmten Zweck dienen. Hier kommen zwei weitere wichtige Konzepte der generativen Grammatik ins Spiel, nämlich erstens die Unterscheidung zwischen lexikalischen und funktionalen Kategorien und zweitens das Merkmalskonzept. In der generativen Grammatik wird grundsätzlich zwischen lexikalischen und funktionalen Phrasenkategorien unterschieden, wobei nur erstere über eine eigene Argumentstruktur verfügen (traditionell nennt man diese Eigenschaft auch Valenz), die in deren Kopf semantisch angelegt ist. Typische Beispiele für lexikalische Phrasenkategorien sind die Nominalphrase (NP), die Adjektivphrase (AP), die Verbalphrase (VP) und die Präpositionalphrase (PP): [ NP das Seeungeheuer vom Bodensee] [ AP des Krankseins überdrüssig] [ VP dem Lehrer das Buch geben] [ PP in die Nesseln] Funktionale Phrasen steuern demgegenüber viel abstraktere Informationen bei, aber auch sie können lexikalisch besetzt sein, z.B. von subordinierenden Konjunktionen; in diesem Fall spricht man auch von einer CP („Complementizer Phrase“, engl. complementizer = Subjunktion), die kategorial einem ganzen Satz entspricht und die Merkmale wie Einbettung (Subordination) in Nebensätzen oder Satzmodus (Deklarativ, Imperativ usw.) in Hauptsätzen „verwaltet“. Eine ________ 29 Zumindest wäre er dann nicht als Deklarativsatz möglich. Deklarative Verberstsätze kommen im heutigen Deutschen nur in speziellen pragmatischen Kontexten vor, z.B. als Anfang von Witzen (Treffen sich zwei Jäger …), sie sind in älteren Sprachstufen des Deutschen aber relativ häufig (vgl. Kapitel 9). <?page no="303"?> Zum Wesen formaler Ansätze 303 weitere Aufgabe von solchen Phrasen besteht darin, funktional relevante Merkmale in die Satzstruktur einzubringen. So wird in der generativen Grammatik gemeinhin eine IP („Inflectional Phrase“) angenommen - in neuerer Diktion auch TP („Tense Phrase“), welche die Finitheits- und insbesondere die Kongruenzmerkmale bereitstellt (also die Übereinstimmung von Subjekt und finitem Verb in Merkmalen wie Person oder Numerus). Eine solche Phrase ist in der Regel nicht primär lexikalisch besetzt, sondern durch Transformationen (Bewegungen) gelangen bestimmte syntaktische Elemente dorthin, um funktionale Merkmale aufzunehmen bzw. zu überprüfen. [ CP dass ich nicht lache] [ CP dass [ IP ich nicht lach-e]] Wie ein solcher Mechanismus im Deutschen funktionieren kann, ist unten veranschaulicht. Das höchste Verb in der VP wandert im Nebensatz in eine kopffinale funktionale Phrase, um dort seine Finitheitsmerkmale aufzunehmen, während die CP als weitere funktionale Phrase von der Subjunktion besetzt wird. Das Subjekt wird ebenfalls in die IP angehoben (und zwar in deren Spezifikator). [ CP weil [ IP man [AGR] [ VP sie gestern gesehen t i ] hat i [AGR] I° [AGR] ]] Dadurch befinden sich finites Verb und Subjekt in einer ganz bestimmten syntaktischen Relation (Kopf-Spezifikator-Relation), die die Zuweisung der Kongruenzmerkmale (Nominativ als Subjektkasus, Person-Numerus-Kongruenz) sichert. Dies wird dadurch bewerkstelligt, dass Finitum und Subjekt jeweils ihr AGR- Merkmal überprüfen können ( AGR = agreement, engl. für Kongruenz). Dies wird im obigen Beispiel durch das durchgestrichene AGR-Merkmal veranschaulicht. 17.1.4 Parametrische Unterschiede zwischen Sprachen Die generative Grammatik macht sehr umfassende Annahmen über die Struktur menschlicher Sprachen. Der wohl bekannteste Begriff hierbei ist jener der „Universalgrammatik“ („UG“). Die Grundidee ist dabei, dass alle Sprachen der Welt über grundlegende gemeinsame Eigenschaften verfügen, die zur genetischen Ausstattung des Menschen gehören. Ein Argument hierfür ist, dass Kinder ihre jeweilige Muttersprache weitgehend ohne explizite Instruktion und innerhalb eines sehr kurzen Zeitraums (ca. in den ersten drei Lebensjahren) erwerben, und das auf der Grundlage eines sehr unvollständigen Inputs: Man denke nur an die zahlreichen Satzbrüche bzw. Ellipsen, die sich in der gesprochenen Sprache finden. Überdies ist jeder Sprachverwender in der Lage, Sätze zu produzieren, die er oder sie vorher noch nie gehört hat, d.h. unser sprachliches Wissen umfasst offensichtlich mehr, als unser sprachlicher Erfahrungshintergrund (die Menge aller Äußerungen, die wir bisher gehört haben) bereitstellt. Diese Unvollständigkeit der Inputdaten wird auch poverty of the stimulus genannt und sich darauf beziehende Argumentationen poverty of the stimulus-Argument. <?page no="304"?> Formale Ansätze 304 Wie solche universalen Eigenschaften genau aussehen, ist hingegen Gegenstand von teilweise heftigen Debatten. Ein wichtiges und weitgehend akzeptiertes grammatisches Prinzip ist die im vorherigen Abschnitt erwähnte Verschachtelungseigenschaft; vereinfacht ist damit Folgendes gemeint: Innerhalb einer linearen Wortkette (d.h. den einzelnen, zeitlich aufeinanderfolgenden Schallereigenissen, die diese Wortkette ausmachen) gibt es Abhängigkeiten, die sich nicht durch Bezug auf die lineare Struktur erklären lassen. Im ersten unten angeführten Beispiel ist es möglich, die beiden Pronomina er bzw. ihn nur jeweils für sich auf die Nominalphrase Max zu beziehen, nicht jedoch beide zugleich. Es ist also nur möglich, entweder Max und er oder Max und ihn als auf den gleichen Referenten beziehend, also „koreferent“, zu interpretieren. Im zweiten Beispiel hingegen ist eine solche doppelte Referenz ohne Probleme möglich. Max i behauptet, dass er i nicht bei ihr für ihn i interveniert habe. 30 Max i behauptet, dass er i meine Nachricht an ihn i nicht erhalten habe. Die Universalgrammatik enthält nun offene Bestimmungsstücke (sogenannte „Parameter“), die durch den kindlichen Spracherwerb erst gesetzt (fixiert) werden, und diese Setzung kann je nach der Sprache, die ein Kind erwirbt, unterschiedlich ausfallen. Eine parametrische Eigenschaft von Sprachen besteht beispielsweise darin, welchem der von Greenberg (1963) beschriebenen Grundwortstellungstypen sie angehört. Innerhalb der germanischen Sprachen gibt es zwei große Typen, nämlich S(ubjekt) V(erb) O(bjekt) (= SVO), wie er durch das Englische repräsentiert wird, oder aber S(ubjekt) O(bjekt) V(erb) (= SOV). Wie im vorherigen Abschnitt bereits behandelt, kann man das Deutsche dem letzteren Stellungstyp zuordnen. Wir sprechen diesen Parameter im Folgenden als „Kopfparameter“ an, da er sich auf die Position des Kopfs in der Verbalphrase (VP) bezieht. Je nach der sprachlichen Umgebung, in der ein Kind aufwächst, kann ein Parameter auf den einen Wert (= OV) oder aber auf den anderen Wert (= VO) gesetzt werden. Es ist nicht schwer, [ VP das Buch V° zu verstehen] (OV: Deutsch) Its is not difficult [ VP V° to understand the book] (VO: Englisch) Ein weiteres Beispiel für einen Parameter ist die Frage, ob eine Sprache die Auslassung des pronominalen Subjekts erlaubt oder nicht. In dieser Hinsicht unterscheiden sich das Deutsche und das Italienische voneinander, denn nur das Italienische erlaubt die Auslassung des pronominalen Subjekts, während in den entsprechenden deutschen Übersetzungen das Subjekt obligatorisch gesetzt werden muss. Im Falle des Italienischen wird von einem „leeren“, d.h. phonologisch nicht realisierten Subjekt ausgegangen, das als „pro“ wiedergegeben wird; daher rührt auch die Bezeichnung „Pro-drop-Parameter“ (vgl. Kapitel 11). ________ 30 Hochgestellte Indizes sollen hier bedeuten, dass die markierten Phrasen sich auf denselben Referenten beziehen, also koreferent im obigen Sinn sind. Sie sind nicht zu verwechseln mit Spuren, die durch tiefgestellte Indizes markiert werden. <?page no="305"?> Syntaktischer Wandel in der generativen Grammatik 305 Das Konzept einer Universalgrammatik mit offenen Bestimmungsstücken (Parameter) wurde von Chomsky erstmals Anfang der 1980er Jahre (Chomsky 1981; vgl. auch Chomsky/ Lasnik 1993) vorgeschlagen und hat seitdem zahlreiche Adaptionen erfahren. Weitgehend unverändert geblieben ist allerdings die Kernidee, wonach sprachliche Variation vor allem auf die „Oberfläche“, d.h. auf Aspekte wie den Wortschatz bzw. die Phonologie, beschränkt ist, während das zugrunde liegende Verrechnungssystem nur wenige Optionen (= Parameter) offen lässt. Die stärkere Wahrnehmung von Erkenntnissen aus der Sprachvariation - seien sie nun aus der diachronen Betrachtung verschiedener Sprachstufen oder aus der Untersuchung von Varietäten (beispielsweise Dialekte) - hat zu einer erheblichen Verfeinerung des Parameterbegriffs geführt. So hat die Diskussion in Kapitel 11 gezeigt, dass Nullsubjekte in älteren Sprachstufen des Deutschen und in modernen Dialekten durchaus belegt sind, aber nur unter bestimmten Bedingungen auftreten (z.B. treten sie am häufigsten in der 2. Person Singular auf). In diesem Fall scheint es so zu sein, dass ihre syntaktische Distribution nicht von einem globalen, sondern mehreren kleineren Parametern gesteuert wird. Solche feineren Unterschiede, für die sich die Bezeichnung „Mikroparameter“ eingebürgert hat, werden in Kapitel 18 genauer behandelt. 17.2 Syntaktischer Wandel in der generativen Grammatik Wenn Unterschiede zwischen einzelnen Sprachen und - auf der Mikroebene - zwischen einzelnen Varietäten bzw. Sprachstufen derselben Sprache als Reflex unterschiedlicher Parameterwerte gedeutet werden, stellt sich die Frage, wie diese überhaupt zustande kommen. David Lightfoot hat in einer Reihe von Arbeiten die Hypothese entwickelt, dass zumindest makroparametrische Veränderungen der Effekt eines „katastrophischen“ syntaktischen Wandels sind. Dieser wird dadurch ausgelöst, dass eine neue Generation von spracherwerbenden Kindern zu einer alternativen Setzung von Parametern kommen kann, sofern der Input für einen bestimmten Wert eine kritische Schwelle erreicht hat, d.h. in den Primärdaten nicht mehr robust genug vorhanden ist. Zugespitzt formuliert ist der „Ort“ des Sprachwandels in der generativen Grammatik der Spracherwerb, während graduelle Veränderungen nur insofern einen Effekt haben, als sie die Evidenz für die Setzung eines bestimmten Parameters allmählich verunklaren können. Prominentestes Beispiel für einen solchen parametrischen Wandel sind das Englische und das Isländische, die im Verlauf ihrer Sprachgeschichte vom OVzum VO-Typ übergegangen sind (vgl. Hróarsdóttir 2000, Pintzuk 1999). In beiden Fällen kann allerdings oberflächlich betrachtet keineswegs von einem katastrophischen Wandel ausgegangen werden, denn im Falle des Englischen dauerte er mehr als 200 Jahre (14./ 15. Jahrhundert), beim Isländischen sogar über 400 Jahre (14.-18. Jahrhundert). Geht man für die damalige Zeit von einer durchschnittlichen Lebenserwartung von ca. 40 Jahren aus (was keinesfalls untertrieben ist), so sind fünf bzw. zehn Sprechergenerationen an diesem Übergang beteiligt. Lightfoot (1999: 149) begegnet diesem Problem, indem er davon ausgeht, dass jeder Parameter auf einen bestimmten Hinweis (engl. cue) <?page no="306"?> Formale Ansätze 306 im Input angewiesen ist: „Cues“ sind Strukturfragmente, an denen sich spracherwerbende Kinder gewissermaßen entlanghangeln, um die offenen Bestimmungsstücke ihrer Universalgrammatik zu schließen. Die dem bisherigen Typ widersprechende Neusetzung eines bestimmten Parameters kann dann geschehen, wenn die für seine Setzung relevanten Hinweise unter eine kritische Schwelle fallen. Dieser Prozess kann durchaus graduell verlaufen und externe Faktoren wie beispielsweise Sprachkontakt involvieren. Eine solche Schwelle ist aber gleichsam auch der point of no return, d.h. wird sie unterschritten, verläuft der restliche Wandelprozess sehr rapide. Wie Lightfoot (1997: 174) bemerkt, spricht für diese Sichtweise unter anderem die Beobachtung, dass eine alternative Parametersetzung mit einer Reihe weiterer, parallel auftretender Veränderungen einhergeht. Überdies zeigen solche Veränderungen ein ganz charakteristisches Verlaufsprofil, indem die Häufigkeit eines innovativen Musters (z.B. VO-Abfolgen) von einem relativ niedrigen Anfangswert in eine Phase massiven Anstiegs übergeht, um dann einen stabilen Endzustand zu erreichen. Leider bleibt Lightfoot in seinen verschiedenen Arbeiten zu diesem Thema insgesamt recht vage, er präzisiert nicht, wie ein solcher „cue“ genau aussieht. Aber zumindest für die oben erwähnte Verbzweit-Eigenschaft, die ebenfalls als Parameter betrachtet werden kann, macht er detailliertere Angaben (1999: 151f.); der entsprechende Hinweis ist demzufolge (und in vereinfachter Form) so wie im ersten Beispiel unten beschaffen. Das relevante Strukturfragment besteht darin, dass in einer Verbzweit-Sprache Sätze (bzw. Äußerungen) mit einer beliebigen phrasalen Kategorie beginnen können, der sich unmittelbar das finite Verb anschließt. Für den Kopfparameter könnte man wiederum ein Fragment wie das zweite Beispiel unten annehmen: Scanne deine Inputdaten nach einem Strukturfragment der Art „Objekt-nicht finites Verb“ (den Ball gekauft, den Ball kaufen usw.). … [Nicht-Subjekt] V fin … Den Ball kriegst du nicht. … [Objekt] V infin Du musst den Ball kaufen. Aus Lightfoots Perspektive sind Spracherwerb und Sprachwandel also auf innige Weise miteinander verknüpft, und das Konzept von „cues“ (Hinweise, Signale) für einen bestimmten Parameterwert ermöglicht es, dem graduellen Charakter von Sprachwandel gerecht(er) zu werden. Allerdings zeigen neuere Untersuchungen zum Spracherwerb, dass der Input, also die dem Kind zugänglichen Sprachdaten, viel vollständiger ist und weniger Störgeräusche umfasst, als dies im Rahmen des poverty of the stimulus-Arguments angenommen wird. Nicht nur verwenden Kinder verschiedene Lernstrategien nebeneinander (so muss beispielsweise der Erwerb des Wortschatzes ohne Zweifel mithilfe „klassischer“, d.h. kognitiver Lernstrategien ablaufen), sondern es zeigen sich auch für einzelne Sprachen bzw. Sprachfamilien mitunter ganz spezifische Erwerbsverläufe (vgl. dazu den Überblick bei Stoll 2009). Unklar ist außerdem, wie mikroparametrische Veränderungen, die ja rein quantitativ betrachtet viel häufiger sind, im Einzelnen verlaufen und was die dafür relevanten Auslöser sind (vgl. Kap. 18). <?page no="307"?> Syntaktischer Wandel in der generativen Grammatik 307 17.2.1 Ein parametrischer Wandel im Deutschen? Wie wir gesehen haben, lassen sich im älteren Deutschen Verbstellungsunterschiede sowohl am linken als auch am rechten Satzrand ausmachen: Ein Beispiel für den ersten Typ wäre das viel häufigere Auftreten von deklarativen Verberst- Sätzen, der letztere Typ zeigt sich in den recht zahlreichen Fällen von Nachfeldbesetzungen: an demo man bechennet tia starchi (Notker, Consolatio 92,12) an dem man erkennt die Stärke ‘an dem man die Stärke erkennt’ tanne sie burg-reht scûofen demo liute (Notker, Consolatio 64,13-14) da sie Burgrecht schufen dem Volk ‘als sie dem Volk das Stadtrecht verliehen’ Blickt man aus einer typologischen Perspektive auf diese „Ausklammerungen“ bzw. „Späterstellungen“ im Althochdeutschen, stellt sich die Frage, ob die beiden obigen Belege, die das Stellungsmuster „Verb > Objekt“ umfassen, nicht auch in einem größeren Zusammenhang gesehen werden können, und zwar dem bereits angesprochenen Unterschied zwischen VO- und OV-Sprachen. Die heutigen germanischen Sprachen lassen sich in zwei große Gruppen einteilen, je nachdem ob sie über eine kopf-initiale VP (= VO) oder eine kopf-finale VP (= OV) verfügen. Zur ersteren Gruppe gehören Englisch und die ganzen nordgermanischen Sprachen (Dänisch, Schwedisch, Norwegisch, Isländisch), zum letzteren Typ Niederländisch, Afrikaans, (West-)Friesisch und Deutsch. Zur Illustration sind hier einige Beispiele für diese beiden Typen angeführt: Germanische OV-Sprachen (nach Vikner 2001: 16): Johan heeft [ VP een appel gegeten] (Niederländisch) Johan hat in apel iten (Friesisch) Johann hat einen Apfel gegessen (Deutsch) Germanische VO-Sprachen (nach Vikner 2001: 16): John has [ VP eaten an apple] (Englisch) Johan har spist et æble (Dänisch) Jón hefur borðað epli (Isländisch) Ausgangspunkt bildet also die Abfolge innerhalb der VP (genauer: die Abfolge von Objekt und Vollverb), während andere charakteristische Eigenschaften der germanischen Sprachen wie beispielsweise die Verbzweit-Eigenschaft, also die Faktoren, die die Vorfeldbesetzung steuern, in diesem speziellen Ansatz nur eine untergeordnete Rolle spielen. Ein wirkliches Problem für diese Klassifikation stellt allerdings das Jiddische dar, denn dort finden sich sowohl VOals auch OV-Abfolgen; überdies gibt es Abfolgemuster, die keinem der beiden Stellungstypen ohne Weiteres zugeordnet werden können (vgl. Diesing 1997: 402) und die unten als „OV/ VO-Stellungstyp“ <?page no="308"?> Formale Ansätze 308 angesprochen werden. Vergleichbar dazu ist die Situation in den einzelnen altgermanischen Sprachen (z.B. Altenglisch), wo sich relativ häufig Belege für diesen Typ finden. Diese Beobachtung wird bei Schallert (2006) und Haider (2010b) so gedeutet, dass „OV/ VO“ sozusagen den Urzustand in den germanischen Sprachen darstellt, während die heute dominanten Typen OV und VO das Ergebnis einer jüngeren Entwicklung darstellen. Diese Überlegungen sollen im aktuellen Zusammenhang anhand des Althochdeutschen veranschaulicht werden, sie gelten aber neben dem Altenglischen auch für weitere altgermanische Sprachen (z.B. das ältere Isländische). Betrachtet man die folgenden Beispiele, so zeigt sich, dass es im Althochdeutschen nicht nur einen bloßen Parallelismus von eindeutigen OV-Strukturen und eindeutigen VO-Strukturen gibt, sondern dass auch „hybride“ Strukturen zu finden sind, die es in dieser Form in keiner der heutigen OV- oder VO-Sprachen innerhalb der Germania gibt. Beispiele für diesen Strukturtyp sind unten unter der Rubrik „OV/ VO-Mischtyp“ angeführt. So befindet sich etwa im ersten der dortigen Beispiele die Objektphrase nîoman ‘niemand’ im Mittelfeld (mit Bezug auf den verbalen Kopf liegt also eine OV-Abfolge vor), die andere Objektphrase des chóufes ‘des Kaufs’ ist hingegen ins Nachfeld gestellt (und somit liegt eine VO-Abfolge vor). OV-Typ: Úbe dû dero érdo dînen sâmen beuúlehîst (Notker, Consolatio 47,4) Wenn du der Erde deinen Samen belehnst ‘Wenn du der Erde deinen Samen gibst’ VO-Typ: Tisêr ûzero ordo […] mûoze duingen mit sînero . unuuendigi diu uuendigen ding (Notker, Consolatio 217,20) diese äußere Ordnung […] muss zwingen mit ihrer Unveränderlichkeit die veränderlichen Dinge ‘diese äußere Ordnung muss mit ihrer Unveränderlichkeit die veränderlichen Dinge zwingen’ OV/ VO-Mischtyp: táz sie nîoman nenôti des chóufes (Notker, Consolatio 22,13) dass sie niemanden NEG -nötigen des Kaufes ‘dass sie niemand zwingen, Getreide zu kaufen’ tánne sie búrg-réht scûofen demo líute (Notker, Consolatio 64,13) dass sie Stadtrecht verliehen dem Volke ‘dass sie dem Volk das Stadtrecht verliehen’ Haider hat in einer Reihe von Arbeiten eine generative Erklärung für die syntaktischen Unterschiede zwischen (germanischen) OV- und VO-Sprachen ausgearbeitet (vgl. besonders Haider 2005). Eine VO-Sprache wie Englisch unterscheidet sich von einer OV-Sprache wie Deutsch durch zwei wichtige Eigenschaften: (1) Die Position des Kopfes ist bei VO kopf-initial, bei OV kopf-final; (2) die Rek- <?page no="309"?> Syntaktischer Wandel in der generativen Grammatik 309 tionsrichtung des Kopfes ist im ersteren Fall progressiv, d.h. alle weiteren Ergänzungen müssen nach rechts angelagert werden, im zweiteren Fall regressiv und mit Linksanlagerung der weiteren Ergänzungen (im Folgenden symbolisiert durch Pfeile). [ VP V o read → the book …] [ VP … das Buch ← lesen V o ] Kopf-initiale Phrasen unterscheiden sich allerdings durch eine wichtige Eigenschaft von kopf-finalen Phrasen: Sind mehrere Ergänzungen vorhanden, muss der Kopf angehoben (also nach links bewegt werden) werden, denn sonst würde er sich nicht in einer strukturell höheren Position als seine Ergänzungen befinden: [ VP give i the book [ VP t i to the girl]] [ VP dem Mädchen das Buch geben] Warum ist diese Anhebung nötig? Ein wichtiges empirisches Argument für diese unterschiedliche Struktur von OV und VO lässt sich aus dem Verhalten von präfigierten (d.h. trennbaren) Verben gewinnen. Wie in Haider (1997) ausführlich untersucht, zeigen sich zwischen einer prototypischen VO-Sprache wie Englisch und einer prototypischen OV-Sprache wie Deutsch die folgenden Kontraste: Im Deutschen gibt es nur eine Position für die Partikel, und diese ist in Nebensätzen links vom Stamm; diese Position ist in VO ungrammatisch. In Verbzweit-Kontexten wird das finite Verb in eine funktionale Position (= linke Satzklammer) verschoben und die Partikel bleibt in der Basisposition zurück. dass er die Information nachschlägt Er schlägt die Information nach *that he uplooks the information In VO-Sprachen wie Englisch oder Norwegisch hingegen ist die Partikel auch in der Basisposition immer links vom Stamm, und hier sind zwei Abfolgemuster festzustellen, nämlich „Verb + Partikel + Objekt“ und „Verb + Objekt + Partikel“; das letztere dieser beiden Muster kommt dadurch zustande, dass die Partikel optional in der Basisposition des Verbs zurückgelassen werden kann. Auch in Doppelobjektkonstruktionen zeigt sich eine analoge Verteilung, d.h. die Partikel kann auch hier zurückgelassen werden. He has looked up the information He has looked the information up He has [ VP sent i (out) all stockholders [ VP t i out their paychecks ]] Fassen wir kurz zusammen: Diese generative Analyse von VO-Mustern ist insofern „komplexer“, als sie eine zusätzliche Verbposition umfasst, erkennbar an der variablen Position der Partikel im Englischen. Im Sinne des Parameter-Konzepts <?page no="310"?> Formale Ansätze 310 können wir den Unterschied zwischen OV und VO als „Direktionalitätsparameter“ charakterisieren, der die folgende Form hat: Direktionalitätsparameter (nach Haider 2005: 14-15): a. variable Lizenzierungsrichtung: ‘ ← ‘ (OV); ‘ → ’ (VO) b. invariante Kopfposition (OV); variable Kopfposition mit Bewegung (VO) Unter „Lizenzierung“ bzw. „Lizenzierungsrichtung“ versteht man Anforderungen des Verbs (als Kopf der VP) bezüglich der Anlagerung seiner Ergänzungen: in OV müssen beispielsweise alle Ergänzungen nach links angelagert werden (symbolisiert durch den Linkspfeil ‘ ← ‘), während dies bei VO genau umgekehrt ist. Wie kann man nun mit den oben angeführten Daten aus dem Althochdeutschen umgehen? Haider (2005: 18) und Schallert (2010) gehen davon aus, dass der Direktionalitätsparameter (oben durch Pfeile dargestellt) in dieser Sprache unterspezifiziert ist. Dies bedeutet, dass unter bestimmten Umständen die Lizenzierungsrichtung im Verlauf der Strukturprojektion geändert werden kann. OV mit invarianter Kopfposition: ter [ VP imo selbemo dia zungûn [V o aba/ beiz]] (Notker, Consolatio 16,12) der sich (selbst) die Zunge abbiss ‘der sich die Zunge abbiss’ VO + mit Anhebung des Verbs: taz er [ VP beiz i imo selbemo [ VP t i aba dia zungûn]] (Notker, Consolatio 91,3) dass er biss sich (selbst) ab die Zunge ‘dass er sich die Zunge abbiss’ Verschränkung OV/ VO: tánne [ VP sie búrg-réht [ VP ← V o → scûofen demo líute]] (Notker, Consolatio 64,13) dass sie Stadtrecht verliehen dem Volk ‘dass sie dem Volk das Stadtrecht verliehen’ Die beiden ersten Strukturen entsprechen jeweils der VP-Struktur von OV-Sprachen bzw. VO-Sprachen. Man beachte, dass im zweiten Fall auch eine VP-typische Partikeldistribution vorliegt. Erklärungsbedürftig ist die OV/ VO-Variante, denn hierbei handelt es sich um eine „hybride“ Struktur, die weder eindeutig dem OVnoch dem VO-Typ zugeordnet werden kann: Der Kopf dieser Struktur scûofen ‘schufen’ ist in der Lage, das untere Segment seiner Projektion demo líute ‘dem Volk’ nach rechts zu regieren (= VO), das obere Segment búrg-réht ‘Bürgerrecht’ hingegen nach links (= OV), ohne dass er in eine höhere Kopfposition gehoben werden muss, wie dies normalerweise für kopf-initiale Phrasen gefordert ist. In diesem Fall liegt also eine dritte Option vor, die aus der Verschränkung der beiden anderen Optionen besteht. Als Erklärung für den allmählichen Zurückgang des VO- und des Mischtyps zugunsten des OV-Typs schlägt Haider (2010b: 21-27) ein Wandelszenario vergleichbar demjenigen von Lightfoot vor, das an dieser Stelle in modifizierter <?page no="311"?> Syntaktischer Wandel in der generativen Grammatik 311 Form nachgezeichnet werden soll. Vergegenwärtigen wir uns dazu nochmals kurz die empirische Situation, wie sie vor allem in 9.4 ausführlich dargestellt wurde. Demnach ist festzustellen, dass schon in althochdeutscher Zeit Belege für den „reinen“ VO-Typ - erkennbar etwa an Verb-Partikel-Kombinationen oder mehreren Objekten im Nachfeld - verhältnismäßig selten sind, während der „reine“ OV-Typ sehr zahlreich belegt ist. Interessant sind nun jene Fälle von „einfacher“ Extraposition, bei denen sich genau eine Phrase im Nachfeld befindet (und nur das Subjekt im Mittelfeld steht), denn diese sind sowohl mit dem Parameterwert „VO“ als auch dem Parameterwert „OV/ VO“ (Mischtyp) kompatibel. an demo man bechennet tia starchi (Notker, Consolatio 92,12) an dem man erkennt die Stärke ‘an dem man die Stärke erkennt’ [ VP bechennet → [ NP tia starchi]] [ VP … ← bechennet → [ NP tia starchi]] Im Sinne des am Beginn von 17.2 diskutierten Reanalyse-Szenarios von Lightfoot kann man davon ausgehen, dass das Auftreten einer NP in einer Position vor und nach dem Kopf der VP als relevanter „cue“ fungiert, d.h. als Strukturhinweis für den Spracherwerb. NP V° {PP, NP } [„cue“ für den Mischtyp] NP V° YP [„cue“ für den OV-Typ] Hingegen gibt es bei Präpositionalphrasen, die schon im Althochdeutschen den wichtigsten postverbalen Konstituententyp darstellen und die auch im Gegenwartsdeutschen relativ problemlos extraponiert werden können, gute Gründe, die dafür sprechen, diesen Phrasentyp nicht als „cue“ zu betrachten: Erstens tritt dieser Phrasentyp wesentlich häufiger in Form von Adverbialen (z.B. er hat das Kapitel mit großer Sorgfalt gelesen) denn als Präpositionalobjekt (z.B. er hat auf sie gewartet) auf. Zweitens fungiert bei diesem Phrasentyp der präpositionale Kopf als Kasuszuweiser, während bei „echten“ (also nominalen) Objekten der Kasus direkt vom Kopf der Verbphrase zugewiesen wird. Veranschaulichen lässt sich dieser Unterschied anhand der folgenden Beispiele: [ VP [ PP auf den Artikel] warten] [ VP [ NP den Artikel] lesen] Das Verb warten verlangt ein Präpositionalobjekt, das Verb lesen hingegen ein Akkusativobjekt. Obwohl die NP den Artikel in beiden Fällen mit dem Akkusativ markiert ist, ist im ersten Fall die Präposition der Kasuszuweiser (auf wen warten? ), während es im zweiten Fall direkt das Verb ist (wen/ was lesen? ). Wenn also nur die Position nominaler Ergänzungen relativ zum Kopf der VP als Strukturhinweis für den Mischtyp gewertet werden kann, ist zu erwarten, dass sich Veränderungen dann ergeben, wenn der Hinweis für diesen Typ in den Inputdaten <?page no="312"?> Formale Ansätze 312 unter eine kritische Schwelle fällt. Dieser Punkt scheint schon in frühneuhochdeutscher Zeit erreicht zu sein, denn obwohl auch in dieser Periode die meisten syntaktischen Funktionen noch ausklammerbar sind, entfällt der Löwenanteil gerade auf Präpositionalphrasen (z.B. 78 % bzw. 84 % in den Offenbarungen der Adelheid Langmann und Der Nonne von Engelthal Büchlein von der Gnaden Überlast, vgl. 9.4.2). Auch hier haben wir es also mit einem „katastrophischen“ Wandel zu tun, der dazu führt, dass ein bestimmter Parameterwert nicht mehr gesetzt wird, sobald es für ihn keine hinreichende empirische Grundlage in den Erwerbsdaten mehr gibt. Den syntaktischen Wandel vom Althochdeutschen zum heutigen Deutschen kann man sich anhand der folgenden Stadien und der jeweiligen Setzung des Kopfparameters vergegenwärtigen (‘ ← ’ = OV, ‘ → ’ = VO, ‘*’ = Mischtyp OV/ VO): ahd.: V [unterspezifiziert] = {V [ ← ] , V [ → ] , V [*] } mhd.: V [ ← ] , V [*] , V [ → ] (Verlust der VO-Option) fnhd.: V [ ← ] , V [*] (Verlust der OV/ VO-Option) nhd.: V [ ← ] (OV-Option) Althochdeutsch verfügt demnach über das reichhaltigste System, da in dieser Sprachstufe der Direktionalitätsparameter unterspezifiziert ist (und damit die drei Werte ‘ ← ’, ‘ → ’ und ‘*’ annehmen kann). In mittelhochdeutscher Zeit schwindet die Evidenz für „reine“ VO-Strukturen, sodass nur noch die Werte ‘ ← ’ und ‘*’ übrig bleiben. Der entscheidende Schritt vollzieht sich schließlich in frühneuhochdeutscher Zeit, wo die ‘*’-Option abhanden kommt - der Kopf der VP ist ab dieser Zeit auf die regressive Rektionsrichtung festgelegt, da dies der einzige Parameterwert ist, der durch die Inputdaten hinreichend gestützt wird. 17.2.2 Syntax oder Stilistik? Veränderungen in der Verbstellung Die ersten Arbeiten im Rahmen der generativen Grammatik, die sich ausführlich mit der diachronen Entwicklung der Verbstellung beschäftigen, sind Lenerz (1984, 1985). Lenerz’ Grundidee ist, dass man vom Althochdeutschen bis zum Gegenwartsdeutschen nicht viel syntaktischen Wandel anzunehmen habe: Für die betreffende syntaktische Entwicklung seit dem Ahd. müssen keine wesentlichen strukturellen Veränderungen angenommen werden. Lediglich die vor dem Ahd. neu aufkommende Erstbzw. Zweitstellung des finiten Verbs ist möglicherweise als struktureller Wandel aufzufassen (Lenerz 1984: 145-146, vgl. auch Lenerz 1985: 103). Etwaige Wandelerscheinungen in diesem Bereich wie die höhere Frequenz von Verberst-Deklarativen, aber auch Ausklammerungen oder Umgestaltungen im Verbalkomplex betreffen laut Lenerz nicht den Kernbereich der Syntax - man redet in diesem Zusammenhang auch von der „Kerngrammatik“ -, sondern die stilistische Ebene, die sogenannte „Peripherie“. In diesem Zusammenhang äußert Lenerz (1985: 105) die These, dass solche Erscheinungen auch in modernen Dia- <?page no="313"?> Syntaktischer Wandel in der generativen Grammatik 313 lekten des Deutschen zu finden seien, die damit das gesamte diachrone Potential des Deutschen repräsentierten. Die einzige Ausnahme bilden Verbendsätze ohne Subjunktion, ein Verbstellungsmuster, das bereits in Kapitel 9 als ein Fall von sogenannten „Späterstellungen“ diskutiert wurde. Auch wenn dieser Stellungstyp im Verlauf der deutschen Sprachgeschichte eindeutig ausstirbt und im heutigen Deutschen nur noch relikthaft in poetischen Texten anzutreffen ist, bestehen nach Lenerz (1985: 108) keine Zweifel daran, dass er zuminest in alt- und mittelhochdeutscher Zeit eindeutig zum kerngrammatischen System des Deutschen zählte. Dort repräsentierte er aber gleichsam eine archaische, aus dem Germanischen ererbte Struktur, die mehr und mehr von den „innovativen“ Verbstellungsmustern Verberst und Verbzweit ersetzt wurde. Eine Übersicht zu den einzelnen Stadien der Analyse findet sich bei Lenerz (1985: 126); hier ist sie mit einigen Anpassungen an den heutigen Theoriestand wiedergegeben: 1. [ IP Subjekt [ VP … t i ] I o V i [=fin] ] („germanisches Erbe“) 2. [ IP XP [ IP Subjekt [ VP … t i ] I o V i [=fin] ] („optionale Phrasenvoranstellung“) 3. [ IP V i [=fin] [ IP Subjekt [ VP …t] I o t i ]] („optionale Verbvoranstellung“) Im Germanischen war (1.) die „normale Struktur“ für deklarative Haupsätze, und auch noch im Althochdeutschen finden sich Belege für dieses Muster (bei diesem Beispiel sind allerdings verschiedene Auffassungen möglich, in welcher strukturellen Position das Verb steht; vgl. 9.1): erino portun ih firchnussu (Isidor 6,1-2) eherne Tore ich zerschlage ‘eiserne Tore zerschlage ich’ Das finite Verb wurde, wie auch in subjunktional eingeleiteten Nebensätzen, in den Kopf der IP angehoben (vgl. 17.1.3). Als stilistische Option konnte eine beliebige Konstituente „topikalisiert“, d.h. an IP adjungiert werden. Eine dieser Voranstellungsmöglichkeiten umfasste auch das finite Verb, ähnlich wie auch im Gegenwartsdeutschen Verben (allerdings gilt dies nur für nicht-finite) ins Vorfeld gestellt werden können: Albert hat den Rasen noch nicht gemäht. Gemäht hat Albert den Rasen noch nicht. Genau diese Strukturen haben dazu geführt, dass das vorangestellte Verb als Bestandteil einer kopf-initialen IP reanalysiert wurde. Damit zeigt das Althochdeutsche ein großes Maß an struktureller Variation. Neben einer kopf-finalen IP verfügt es als Innovation auch über eine kopf-initiale IP. Die letztere strukturelle Möglichkeit ist in (4.) angeführt. Man beachte, dass in der Version der generativen Grammatik, mit der Lenerz arbeitet, noch ternäre Verzweigungen erlaubt sind (in restriktiveren Versionen der X’-Theorie sind nur binäre Verzweigungen zulässig), d.h. der einzige relevante Unterschied zwischen beiden IP-Typen besteht in der Position des Kopfes: [ IP I o Subjekt VP], [ IP Subjekt VP I o ]. Auch bei <?page no="314"?> Formale Ansätze 314 diesen Mustern ist es wiederum möglich, eine Phrase voranzustellen, wodurch sich die bereits in althochdeutscher Zeit fest etablierten Verbstellungsmuster Verberst und Verbzweit ergeben. 4. [ IP XP i [ IP I o V fin Subjekt [ VP t i …]]] Zusätzlich gibt es in dieser Sprachstufe auch eindeutige Hinweise auf das Vorhandensein einer „Complemetizer Phrase“ (CP), die etwa im Falle von subjunktional eingeleiteten Nebensätzen zu finden ist: Úbe er óuh sîna snélli skéinen uuólta (Notker, Consolatio 197,9) ob er auch seine Tapferkeit scheinen wollte ‘dass er auch seine Tapferkeit zeigen wollte’ Durch einen weiteren Wandel wird die kopf-initiale I-Position, die in bestimmten Strukturen das finite Verb beheimatet, als C-Position reanalysiert. 5. [ CP dass [ IP I o Subjekt [ VP …]]] [ CP V fin [ IP Subjekt [ VP …]] Der Auslöser für diese Reanalyseschritte liegt laut Lenerz (1985: 117, 119) darin, dass die beiden funktionalen Projektionen CP und IP zwar universell vorhanden sind, aber die mit ihnen verknüpften syntaktischen Merkmale jeweils einzelsprachlicher Variation unterliegen. Überdies können diese Merkmale von einer funktionalen Position an die jeweils nächste weitergegeben werden. Genau dies ist in der älteren Sprachgeschichte des Deutschen mit den Finitheitsmerkmalen, also den oben eingeführten AGR-Merkmalen, geschehen, die von der I-Position an die höher liegende C-Position gewandert sind. Somit kann die C-Position immer dann vom finiten Verb besetzt werden, wenn sie von keiner Subjunktion als an dieser Position basisgeneriertem Element belegt ist. Dies führt im Weiteren dazu, dass diese Position auch die typischen Funktionen des Vorfelds übernehmen und z.B. als Zielposition für mittels Transformationen vorangestellte Phrasen oder „w-Ausdrücke“ (Fragepronomen wie wer, wie, was) dienen kann. Der Ansatz von Lenerz (1984, 1985) ist darum bemüht, eine ganze Reihe von Erscheinungen im Zusammenhang mit der Verbstellung in einen kohärenten Erklärungszusammenhang zu bringen. Die tragende Idee ist dabei, dass die Grammatik ein relativ enges strukturelles Korsett - nämlich universal vorgegebene Positionen im Strukturbaum, die für die Kodierung bestimmter syntaktischer Merkmale verantwortlich sind - vorgibt, wobei syntaktischer Wandel immer als lokale Reanalyse von benachbarten Positionen im Strukturbaum gedeutet wird. Die Annahme, dass syntaktischer Wandel das Ergebnis von Reanalyseprozessen darstellt, wurde übrigens auch in anderen Zusammenhängen (und außerhalb der generativen Grammatik) vorgebracht. Ein einschlägiges Beispiel hierfür ist etwa die in 6.4.1 diskutierte Umschreibung des adnominalen Genitivs mittels einer von-Phrase. Vor diesem Hintergrund ist es nicht nur die Idee, syntaktischen Wandel als Reanalyse zu deuten, die den Ansatz von Lenerz (1984, 1985) neben seinem Pioniercharakter aus heutiger Perspektive noch immer interessant macht. <?page no="315"?> Syntaktischer Wandel in der generativen Grammatik 315 Insbesondere ist es die Überlegung, den Wandel auf eine universale Satzstruktur zu beziehen. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass man in der heutigen Forschung manche Bestandteile dieses Ansatzes durchaus kritisch sieht. So zeigt etwa Axel (2007: 68-79), dass die Evidenz für deklarative Verbend-Hauptsätze in den beiden ältesten Sprachstufen des Deutschen, also Alt- und Mittelhochdeutsch, lange nicht so eindeutig und überzeugend ist, wie Lenerz dies glauben macht. Viele Belege lassen sich entweder nicht eindeutig interpretieren oder sind durch extragrammatische Faktoren wie beispielsweise den Einfluss des Reimes oder Metrums zu erklären (siehe dazu auch Kapitel 3). Überdies ist nicht ganz ersichtlich, nach welchen Kriterien Lenerz zwischen Kerngrammatik und Stilistik unterscheidet. So können die durchaus gravierenden Unterschiede bei der Extraposition von Konstituenten, wie dies eingangs veranschaulicht wurde, auch als Indiz für tiefergreifende Veränderungen des grammatischen Systems gewertet werden. Dagegen haben die bei Lenerz im Fokus stehenden deklarativen Verbend-Muster, wie oben diskutiert, schon in althochdeutscher Zeit einen eher marginalen Status. Im nächsten Abschnitt soll der bei Lenerz zentrale Gedanke der Reanalyse anhand einer wichtigen diachronen Veränderung in der Syntax des Deutschen veranschaulicht werden, nämlich anhand des Verlusts der sogenannten „Doppelnegation“ zugunsten der Einfachnegation. 17.2.3 Veränderungen in der Negation Einen interessanten generativen Ansatz zur Diachronie der Negation liefert Jäger (2005, 2008). Vergegenwärtigen wir uns dazu nochmals kurz die einzelnen Stadien, die sich in der Entwicklung der Negation feststellen lassen und die in der folgenden Übersicht zusammengefasst sind: Stufe I: klitische Negationspartikel, später Verstärkung durch zusätzliches Element ni láz thir nan ingángan (Otfrid IV 37,11) NEG lass dir ihn entgehen ‘lass ihn dir nicht entgehen! ’ Stufe II: „doppelte Negation“, bestehend aus Klitikum plus freiem Negationsträger als Verstärkung daz ich drîzic pfunt niht ennaeme (Berthold 30,176) dass ich dreißig Pfund nicht NEG -nähme ‘dass ich 30 Pfund nicht nehmen würde’ Stufe III: einfache Negation mit freiem Negationsträger wan die kungin zu im nicht komen mocht (Kottanerin 10,27) weil die Königin zu ihm nicht kommen konnte ‘weil die Königin nicht zu ihm kommen konnte’ Im Althochdeutschen wird Satznegation mittels der proklitischen Negationspartikel ni am finiten Verb realisiert. Überdies erscheint die Partikel ni in Verbindung mit negierten Indefinitpronomina aller Art, z.B. nih(h)ein, nioman ‘kein, niemand’ oder niowih(t) ‘nichts’, was zu einer mehrfachen Kennzeichnung der Negation führt. Gegen Ende der althochdeutschen Zeit wird die Negationspartikel phono- <?page no="316"?> Formale Ansätze 316 logisch zu ne oder en abgeschwächt. Gelegentlich tritt sie mit einem verstärkenden Adverb wie nieht auf (das auf das negierte Indefinitum niowiht ‘nichts’ zurückgeht). Im weiteren Entwicklungsverlauf wird ni(e)ht als zweites Element einer mittelhochdeutschen „Negationsklammer“ grammatikalisiert, die mit der enklitischen Verbindung en + Verb aufgespannt wird. Bereits im Mittelhochdeutschen ist die Partikel en im Schwinden begriffen, sodass sich im Frühneuhochdeutschen schon das bekannte einfache Negationsmuster mit nicht ergibt. Diese drei Stadien entsprechen dem „Jespersen-Zyklus“ (siehe dazu 13.2). Jäger (2005: 237) nimmt die folgende Struktur für das Mittelhochdeutsche an: en/ ne bildet demnach den Kopf einer Negationsphrase (NegP), die unterhalb der Tempusphrase (TP) situiert ist, die die Finitheitsmerkmale „verwaltet“: [ TP [ T’ [ NegP niht [ Neg’ [ VP …] Neg o en] T o ] Ein Argument für diese Analyse lässt sich anhand von Strukturen wie der unten angeführten gewinnen, die das präfigierte Verb ána-sehen ‘ansehen’ enthält: daz er siê fúrder ána ne-sêhe (Notker, Psalter 33,1) dass er sie weiter an NEG -sehe ‘dass er sie nicht weiter anschaue’ Die „Durchbrechung“ von ana und sêhe durch die Negationspartikel kann als Indiz dafür gesehen werden, dass sich das finite Verb in eine Position weiter rechts im Strukturbaum bewegt hat und die Partikel in ihrer Basisposition als Kopf der VP zurücklässt. [ CP daz [ TP er [ NegP [ VP siê fúrder/ ána t i ] Neg o t i ] T o ne-sêhe]] Um Stufe II abzuleiten, sind insgesamt drei Transformationen nötig: Das Verb als Kopf der Verbalphrase (VP) wird zum Kopf der Negationsphrase angehoben und dockt an das klitische ne an, das dort bereitgestellt wird; in einem nächsten Schritt wird der Komplex en+Verb in die T-Position angehoben, um in Kongruenz mit dem Subjekt, das sich in der Spezifikatorposition dieser Phrase befindet, seine Finitheitsmerkmale (zu denen Tempus-, Modus- und Personenmerkmale gehören) zu bekommen. [ CP daz [ TP ich [ T’ drîzic pfunt [ T’ [ NegP niht [ VP t j t i ] Neg o ] T o ennaeme]]]] In einem Verbzweit- oder Verberstsatz würde dieser Komplex noch weiter angehoben, und zwar in die C-Position, aber da diese in Nebensätzen von der Subjunktion eingenommen wird, ist die Transformation an dieser Stelle der Struktur abgeschlossen. Der letzte Ableitungsschritt, der beim obigen Beispiel noch nötig ist, ist die Herausbewegung der Objektphrase drîzic pfunt ‘dreißig Pfund’ aus der VP und deren Adjunktion an die TP. Dieser Prozess ist für Sprachen wie das Deutsche, die eine relativ freie Abfolge von Ergänzungen im Mittelfeld haben, typisch und hängt mit einer Reihe von syntaktischen bzw. infor- <?page no="317"?> Fazit: formale Ansätze 317 mationsstrukturellen Eigenschaften der von diesem Prozess erfassten Phrasen zusammen. Motivieren lässt sich dieser Schritt durch Belege wie die folgenden, die jeweils die VP-interne und die VP-externe Position eines Präpositionalobjektes zeigen: Im ersteren Fall befindet sich die Phrase ab in in ihrer Basisposition rechts zur Negation, während ihr Auftreten vor der Negation als Indiz dafür gewertet werden muss, dass diese Phrase bewegt wurde und sich daher in einer abgeleiteten Position befindet. swaz ich frivntliche niht [ VP [ PP ab in] erbit] (Nibelungelied A 58,2; Analyse von Jäger 2008: 130) Warumb wart ir [ PP an im] i nicht [ VP t i ] verliben? (Prosalancelot 8,33-34; Analyse von Jäger 2008: 132) Wie wir gesehen haben, weist ein solcher Ansatz wie der von Jäger (2008) einige Stärken auf. Unter der Annahme, dass die Partikel ahd. ni, mhd. en ein Kopfelement darstellt, das vom finiten Verb aufgelesen werden muss, können die komplexen Distributionsbedingungen der Negation in diesen beiden Sprachstufen ohne weitere Annahmen erklärt werden. Die einzelnen Stufen in der Entwicklung der Negation lassen sich nun folgendermaßen zusammenfassen: Stufe I: ne fungiert als Kopf von Neg°, nieht wird als Spezifikator von NegP grammatikalisiert (Jäger 2008: 78) Stufe II: beide Positionen von Neg°, nämlich Kopf und Spezifikator, werden offen realisiert („Doppelnegation“); der Kopf von Neg° wird allmählich nicht mehr overt („offen“) realisiert Stufe III: (Satz-)Negation wird allein durch niht als phrasales Element in Spec- NegP ausgedrückt Was in diesem Ansatz jedoch offen bleibt, ist die Frage des Auslösers, d.h. welche Mechanismen beispielsweise dazu führen, dass nieht als Spezifikator reanalysiert wird oder der Kopf von Neg° nicht mehr offen realisiert wird. Hier ergeben sich Anknüpfungspunkte für andere Ansätze, die diese Lücke schließen können. So ist es durchaus denkbar, dass infolge von Stigmatisierungen (vgl. Kapitel 14) die Gebrauchsfrequenz des Doppelnegationsmusters innerhalb relativ kurzer Zeit so weit zurückging, dass diese syntaktische Eigenschaft nicht mehr hinreichend in den Inputdaten vorhanden war und somit aus dem grammatischen System der Folgegeneration verschwand. 17.3 Fazit: formale Ansätze Der Vorteil von formalen Ansätzen liegt darin, dass sie es ermöglichen, präzisere strukturelle Bedingungen für syntaktischen Wandel anzugeben: Veränderungsprozesse verlaufen somit nicht chaotisch, sondern im Rahmen dessen, was ein grammatisches System überhaupt an offenen Bestimmungsstücken (= Parameter) <?page no="318"?> Formale Ansätze 318 bzw. strukturellen Positionen ermöglicht. Ein Problem für formale Ansätze wie den der generativen Grammatik liegt vor allem in dem engen Zusammenhang zwischen Spracherwerb und Sprachwandel. Zwar gibt es verschiedene Hinweise darauf, dass es durchaus syntaktische Veränderungen gibt, die innerhalb kurzer Zeit verschiedene Bereiche von grammatischen Systemen erfassen, aber in der Regel ist Sprachwandel (syntaktischer Wandel eingeschlossen) ein äußerst langsam bzw. graduell verlaufender Prozess. Somit liegt die Herausforderung für diese Ansätze darin, eine plausible Verbindung zwischen graduellen Veränderungen in den Inputdaten und den durch sie ausgelösten strukturellen Veränderungen herzustellen. Literaturhinweise Generative Arbeiten zur historischen Syntax des Deutschen gibt es inzwischen in relativ großer Zahl, jedoch sind diese nicht immer leicht miteinander vergleichbar. Da dieser theoretische Ansatz immer wieder Veränderungen durchgemacht hat, gibt es teilweise gegensätzliche Auffassungen in Bezug auf gewisse Strukturannahmen (z.B. wie viele funktionale Phrasen im Deutschen anzusetzen sind). Als Pionierarbeiten können auf jeden Fall Lenerz (1984, 1985) gelten, die sich vor allem mit der Verbstellung im linken Satzrand auseinandersetzen und eine Reihe weiterer Untersuchungen zu diesem Bereich angeregt haben (z.B. Axel 2002, Petrova 2009); gut untersucht ist außerdem die diachrone Entwicklung der Negation im Deutschen (Jäger 2005, 2008). Die Forschungsaktivität im Rahmen dieses Paradigmas hat sich in den vergangenen Jahren vor allem auf das Althochdeutsche konzentriert, und so ist es kaum verwunderlich, dass es zu dieser Sprachstufe auch die meisten Arbeiten gibt. Als wichtigste jüngere Arbeit ist hier Axel (2007) zu nennen. Gute allgemeine Einführungen in die generative Grammatik sind Grewendorf (2002) und Philippi (2008). Eine ausgezeichnete Übersicht zur generativen Syntax des Gegenwartsdeutschen, die Bezug auf die wichtigsten Forschungsfragen und offene Probleme nimmt, ist Haider (2010a). <?page no="319"?> 18 Optimalitätstheoretische Ansätze Besonders gut zur Modellierung und Erklärung von syntaktischer Variation (und diachrone Variation ist ein Typ davon) eignet sich die Optimalitätstheorie. Dieser Ansatz spielt insbesondere in der aktuellen Diskussion um sogenannte „Mikroparameter“, d.h. subtilere Unterschiede zwischen verschiedenen Varietäten, eine große Rolle. Er soll hier in Ergänzung zu funktionalen und formalen Ansätzen behandelt werden, da er in gewissem Sinne Einsichten aus diesen beiden Ansätzen verbindet. Zuerst wird auf einige Besonderheiten von optimalitätstheoretischen Ansätzen wie etwa das „Wettbewerbskonzept“ eingegangen (18.1). Außerdem wird gezeigt, wie die Optimalitätstheorie dazu genutzt werden kann, kleinere Unterschiede zwischen grammatischen Systemen („Mikroparameter“ im obigen Sinn) zu erklären, wie sie in Dialekten des Deutschen, aber auch in älteren Sprachstufen auftreten. Abschließend soll eine kurze Einordnung solcher Ansätze in den allgemeinen Forschungskontext vorgenommen werden (18.3). 18.1 Zum Wesen optimalitätstheoretischer Ansätze In gewissem Sinne beschreibt die Optimalitätstheorie einen eigenen Bereich unseres sprachlichen Wissens, nämlich ein Modul, das Konflikte zwischen verschiedenen Bereichen der Grammatik und ihren öfter konfligierenden Anforderungen löst. Diese Anforderungen werden in Form von geordneten Beschränkungen ausgedrückt, die unter bestimmten Bedingungen verletzt werden können. Welcher Art diese Beschränkungen sind, d.h. ob diese formal wie im Falle der Verbzweit-Eigenschaft des Deutschen (9.1) oder funktional wie im Falle der Belebtheitshierarchie (16.4) motiviert sind, spielt keine Rolle. Daher kann man dieses Modell in gewissem Sinne als Bindeglied zwischen dem formalen und dem funktionalen Asnatz betrachten. Die Optimalitätstheorie (im Folgenden auch abgekürzt als „OT“) wurde Anfang der 1990er Jahre im Rahmen der (generativen) Phonologie entwickelt (Prince/ Smolensky 1993), aber inzwischen gibt es auch außerhalb dieses Paradigmas zahlreiche Arbeiten, in denen optimalitätstheoretische Modelle verwendet werden - ein konkretes Beispiel aus der diachronen Linguistik ist etwa Haspelmath (1999). Ab Mitte/ Ende der 1990er Jahre begann man damit, OT-Analysen für syntaktische Phänomene zu entwickeln, die in einschlägigen Grundlagendarstellungen wie Müller (2000) nachzulesen sind. Die Optimalitätstheorie hat einige Eigenschaften, die sie von klassischen generativen Ansätzen unterscheidet; die wichtigsten dieser Annahmen sind (vgl. Müller 2000: 9): 1. Verletzbarkeit: Beschränkungen können verletzt werden. 2. Geordnetheit: Beschränkungen sind geordnet. 3. Wettbewerb: Die Grammatikalität eines Kandidaten ergibt sich im Wettbewerb mit anderen Kandidaten. <?page no="320"?> Optimalitätstheoretische Ansätze 320 In der Optimalitätstheorie werden grammatische Regeln in Form von Beschränkungen ausgedrückt, die in einer bestimmten, hierarchischen Ordnung zueinander stehen; überdies dürfen sie unter bestimmten Bedingungen verletzt werden, wobei sich eine Verletzung höhergeordneter Beschränkungen als fataler erweist als eine von niedrigergeordneten. In diesen beiden Annahmen unterscheidet sich OT am radikalsten von anderen Grammatikmodellen, denn dort sind alle grammatischen Regeln bzw. Beschränkungen gleich wichtig (sie sind also nicht geordnet) und unverletzbar (d.h. eine entsprechende Regelverletzung führt zu Ungrammatikalität). 31 Strenggenommen ist die OT kein eigenes Grammatikmodell, sondern eine Art Zusatzmodul, das Konflikte innerhalb eines Teilsystems der Grammatik oder zwischen Teilsystemen der Grammatik löst, und diese Eigenschaft lässt sich am besten anhand der dritten zentralen Annahme erklären, nämlich der des Wettbewerbs zwischen verschiedenen Kandidaten. Als Eingabe-Einheiten für die OT dienen je nach Zweck der Modellierung verschiedene grammatische Einheiten, die Gegenstand des Optimierungsverfahrens sein sollen (z.B. morphologische Wörter, Silbenstrukturen, Konstituentenstrukturen). Diese werden in einem grammatischen Verfahren, das sich „Harmonie-Evaluation“ oder schlicht „Optimierung“ nennt, darauf geprüft, wie gut oder wie schlecht sie hinsichtlich einer bestimmten Zahl von geordneten Beschränkungen abschneiden. Als Gewinner geht jener Kandidat hervor, der die geringste Zahl von Verletzungen hinsichtlich der höchstgeordneten Beschränkungen aufweist. Man redet auch davon, dass ein bestimmter Kandidat das beste „Beschränkungsprofil“ hat. Ein einfaches - und sehr originelles - Beispiel für ein optimalitätstheoretisches System (im übertragenen Sinn kann man auch hier von einer „Grammatik“ reden) wird bei Müller (2002) diskutiert: Es handelt sich um nichts anderes als die (deutsche) Straßenverkehrsordnung. Hier gelten unter anderem die folgenden Vorfahrtsregeln, die nach ihrer Wichtigkeit angeführt werden; das Zeichen ‘ ’ bedeutet im Folgenden soviel wie „ist wichtiger als“ und dient als Ordnungssymbol für die einzelnen Beschränkungen. Vorfahrtsregeln: a. BL(AULICHT)-EIN(SATZHORN) (StVO §§ 35, 38): Fahrzeuge des Rettungsdienstes und der Polizei dürfen blaues Blinklicht zusammen mit einem Einsatzhorn verwenden; dies ordnet an: „Alle übrigen Verkehrsteilnehmer haben sofort freie Bahn zu schaffen.“ b. L(ICHT)-ZEI(CHEN) (StVO § 37): An Kreuzungen bzw. Einmündungen bedeuten Grün: „Der Verkehr ist freigegeben“; Gelb: „Vor der Kreuzung auf das nächste Zeichen warten“; Rot: „Halt vor der Kreuzung“. („Lichtzeichen gehen Vorrangregeln [und] vorrangregelnden Verkehrsschildern […] vor.“) ________ 31 Der Unterschied zwischen grammatischen Regeln und grammatischen Beschränkungen spielt in der Grammatiktheorie eine große Rolle, aber er ist nicht immer leicht zu erklären. Am ehesten hilft hier der Leitsatz, dass Regeln das beschreiben, was erlaubt ist, während Beschränkungen sich darum drehen, was verboten ist. Da es immer wieder Überschneidungen zwischen diesen Typen gibt, werden die Kennzeichnungen „Regel“ und „Beschränkung“ im Folgenden weitgehend synonym verwendet. <?page no="321"?> Zum Wesen optimalitätstheoretischer Ansätze 321 c. R(ECHTS) V(OR) L(INKS) (StVO § 8): An Kreuzungen und Einmündungen hat die Vorfahrt, wer von rechts kommt. Straßenverkehrsregeln müssen verletzbar sein, denn es kann schnell zu Situationen kommen, wo sie Unvereinbares verlangen. Solche Regelkonflikte lassen sich durch Regelgewichtung auflösen, und zwar immer zugunsten der höher geordneten, stärkeren Regel. Tiefer geordnete, schwächere Regeln können unter diesen Bedingungen verletzt werden, sofern ihre Verletzung sozusagen einem höheren Zweck dient, nämlich der Erfüllungen einer höhergeordneten Regel. Optimalitätstheoretische Wettbewerbe werden mithilfe von Tabellen (sogenannten „OT charts“, öfter liest man auch „OT tableaux“, Sg. „tableau“) veranschaulicht (siehe unten). Als Kandidaten können wir uns im aktuellen Zusammenhang zwei Verkehrsteilnehmer denken, die an eine Kreuzung kommen und dort eine bestimmte Verkehrsituation vorfinden. Welche Bedingungen für diese beiden Verkehrsteilnehmer (unsere Kandidaten) gelten, kann man auch ausdrücken wie folgt: • Kandidat A: nähert sich von links; Ampel rot, Einsatzfahrzeug mit Blaulicht und Sirene. • Kandidat B: kommt von rechts, Ampel grün. Zusätzlich ist für unser Szenario das weitere Verhalten der beiden Kandidaten von Relevanz, d.h. die möglichen Auflösungen der Verkehrssituation. Hier gibt es prinzipiell drei Möglichkeiten, und diese machen die Kandidatenmenge aus: • Kandidat A hat Vorfahrt („A vor B“) • Kandidat B hat Vorfahrt („B vor A“) • beide Kandidaten dürfen fahren. Der dritte Fall mag konstruiert wirken, es sind aber durchaus ihm entsprechende Verkehrssituationen zu finden, etwa im Falle des sogenannten „tangentialen Abbiegens“, wenn sich zwei Linksabbieger an einer Kreuzung treffen. Für diese beiden Verkehrsteilnehmer sind die folgenden drei Regeln relevant, die von rechts nach links gemäß ihrer Ordnung angeführt sind. OT-Wettbewerbe werden anhand von Tabellen veranschaulicht, wobei in den einzelnen Zeilen der Tabelle das jeweilige Beschränkungsprofil der einzelnen Kandidaten angeführt ist. Der optimale Kandidat wird mit ‘ ’ gekennzeichnet; suboptimale Kandidaten erhalten ein ‘! ’ bei jener Beschränkung, die sie fatal verletzen (Verletzungen werden mit einem ‘*’ markiert). A: links, rot, Sirene B: rechts, grün BL-EIN LI-ZEI RVL S 1 : A vor B * * S 2 : B vor A *! S 3 : A und B *! * * <?page no="322"?> Optimalitätstheoretische Ansätze 322 Stellen wir uns nun vor, das Einsatzfahrzeug (also Teilnehmer A) wäre nicht im Dienst, d.h. die Sirene ist abgeschaltet und es fungiert als normaler Verkehrsteilnehmer. In diesem Falle ist natürlich S 2 die optimale Auflösung der Verkehrssituation, d.h. B hat Vorfahrt. Zwar gilt die Einsatzfahrzeug-Regel nun weder für A noch für B (bzw. für beide gemeinsam), aber nur B verletzt die nächsthöhere Ampel-Beschränkung („Wer grün hat, darf fahren“) nicht. A: links, rot B: rechts, grün BL-EIN LI-ZEI RVL S 1 : A vor B * *! * S 2 : B vor A * S 3 : A und B * *! * Verletzbare und geordnete Beschränkungen, wie sie die OT annimmt, sind also eine sehr gute Ergänzung zu den unverletzbaren Beschränkungen der Standardgrammatik. In Sonderheit ist dieser Ansatz dazu geeignet, zwischen konfligierenden Anforderungen des grammatischen Systems (bzw. innerhalb seiner Teilbereiche) zu vermitteln, und solche Konflikte sind auch außerhalb des Straßenverkehrs häufiger, als man vielleicht glauben möchte. Allein schon die bekannten Sprecher-Hörer-Asymmetrien deuten darauf hin, dass grammatische Systeme mitunter konfligierenden Erfordernissen ausgesetzt sind, denn was von Sprecherseite durchaus ökonomisch sein kann (z.B. Ellipsen oder phonologische Verkürzungen bzw. Kontraktionsformen), muss von Hörerseite nicht unbedingt von Vorteil sein (z.B. erhöhter Verarbeitungsaufwand, Ambiguitäten). Auch aus einer kognitiven Perspektive lassen sich beide Regeltypen gut begründen: Während unverletzbare Regeln dazu beitragen, dass die grammatischen Systeme einzelner Sprecher in hinreichendem Maße homogen sind (also einen möglichst großen Überlappungsbereich haben), tragen verletzbare Beschränkungen zur Flexibilität und Anpassungsfähigkeit dieses Systems bei. 18.1.1 Konfliktlösung: ein Beispiel Eine Konfliktlösung par excellence, bei der Morphologie und Syntax einander widerstrebende Anforderungen stellen, ist der in Kapitel 10 diskutierte Ersatzinfinitiv. Demnach ist etwa bei Modalverben die Partizipform ungrammatisch, wenn von diesem ein weiteres Verb abhängig ist: Sie hat das gewollt/ *wollen. Sie hat das tun wollen/ *gewollt. In der OT kann man diesen Kontrast als Zusammenspiel der folgenden beiden Beschränkungen ausdrücken; es handelt sich dabei um die bereits in Kapitel 10 informell eingeführten Beschränkungen von Schmid (2005). Sie sind nach dem Schema *V-P ARTIZIP M ORPH geordnet. <?page no="323"?> Zum Wesen optimalitätstheoretischer Ansätze 323 Beschränkungen für den Ersatzinfinitiv: a. *V-P ARTIZIP : Ein Partizip II darf kein Verb einbetten, das im Infinitiv steht b. M ORPH : Morphologische Anforderungen des einbettenden Verbs müssen erfüllt werden. Wenn das Modalverb wollen keine weitere Verbform einbettet, ist nur die Partizipform zulässig, der Ersatzinfinitiv verletzt die Beschränkung M ORPH auf fatale Weise. *V-P ARTIZIP M ORPH K 1 : Sie hat das gewollt K 2 : Sie hat das wollen *! Bei den komplexeren Fällen, wo wollen eine weitere Verbform zu sich nimmt, drehen sich die Verhältnisse jedoch um. Hier verletzt die Partizipform die höhergeordnete Beschränkung *V-P ARTIZIP , und nur der Kandidat mit dem Ersatzinfinitiv ist wohlgeformt, obwohl er die niedrigergeordnete M ORPH -Beschränkung verletzt. *V-P ARTIZIP M ORPH K 1 : Sie hat das tun gewollt *! K 2 : Sie hat das tun wollen * Wir sehen also, dass Beschränkungsordnungen eine Art Konfliktlösungsstrategie darstellen, die zwischen widersprüchlichen grammatischen Bedingungen vermitteln. Die Verletzung von morphologischen Anforderungen an Verbformen kann in manchen Fällen fatal sein, in anderen aber quasi durch einen höheren Zweck legitimiert sein, indem dadurch die Erfüllung einer höhergeordneten Beschränkung („Partizipien dürfen keine weiteren Verben einbetten“) möglich ist. Abschließend soll uns eine aus Variationsgesichtspunkten sehr wichtige, aber gleichermaßen umstrittene Annahme der OT beschäftigen. Sie besagt, dass Beschränkungen an sich universal sind, nicht jedoch ihre Ordnung. Grammatische Unterschiede zwischen Sprachen (bzw. Varietäten) können durch Beschränkungsumordnung modelliert werden. Nehmen wir zur Veranschaulichung wieder den Ersatzinfinitiv. Wie in Kapitel 10 diskutiert, kann in älteren Sprachstufen des Deutschen, aber auch in manchen modernen Dialekten der Ersatzinfinitiv fehlen. ‘[…] er ist selbs einer und hat mich auch gewelt darzG bringen’ (Rollwagenbüchlein 57) er ist selber einer und hat mich auch gewollt dazu bringen ‘er ist selber einer und hat mich auch dazu bringen wollen’ är hod schwimme gekennd (Neckarsteinach; Durrell/ Davies 1990: 236) ‘er hat schwimmen können’ <?page no="324"?> Optimalitätstheoretische Ansätze 324 Dieser Typ kann in der OT mittels einer alternativen Beschränkungsordnung modelliert werden, wobei in diesem Fall M ORPH höher geordnet ist als *V- P ARTIZIP . Veranschaulicht ist dies in der unten angeführten Tabelle. Es zeigt sich, dass unter dieser Beschränkungsordnung der Kandidat 1 (ohne Ersatzinfinitiv) als Gewinner hervorgeht: M ORPH *V-P ARTIZIP K 1 : Sie hat das tun gewollt * K 2 : Sie hat das tun wollen *! Unterschiede wie diese können in der OT also sehr einfach durch Beschränkungsumordnungen ausgedrückt werden, und solche Umordnungen haben meistens einen viel kleineren Einfluss auf das grammatische System, als dies etwa bei den klassischen „Parametern“ der generativen Grammatik (z.B. Pro-Drop, OV/ VO) der Fall ist. Fasst man unter diesem Blickwinkel etwa die verschiedenen Varietäten einer Gesamtsprache wie des Deutschen ins Auge, stellt man fest, dass kleine (aber feine) Unterschiede äußerst häufig sind, während parametrische Unterschiede die absolute Ausnahme darstellen. So sind, um ein konkretes Beispiel zu nennen, alle binnendeutschen Dialekte auf die Parameterwerte „VP = kopf-final“ (OV) gesetzt (z.B. das Buch lesen gegenüber engl. to read the book). Nur einige Sprachinseldialekte wie beispielsweise das in Norditalien gesprochene Zimbrische zeigen klare Hinweise für den entgegengesetzen Parameterwert, d.h. „VP = kopf-initial“ (VO). Dies ist auch keine große Überraschung, befindet sich dieser ursprünglich bairische Dialekt schon seit Jahrhunderten in intensivem Sprachkontakt zum Italienischen, das wie alle romanischen Sprachen dem (S)VO- Typ angehört (vgl. 15.2). 18.1.2 Mikroparameter Ein weiteres einschlägiges Beispiel für kleine, aber feine grammatische Unterschiede ist die Variation bei der Abfolgevarianz in der rechten Satzklammer. Wie die Diskussion in 9.5 gezeigt hat, gibt es in diesem syntaktischen Bereich ein großes Maß an diachroner Variation, und in ähnlicher Weise zeigen sich bei den heutigen Dialekten des Deutschen mitunter erhebliche regionale Unterschiede. Betrachten wir dazu zwei mögliche Abfolgen bei der Ersatzinfinitiv-Konstruktion, die durch das Schweizer Alemannische (1-2-3) bzw. das Bairische in Österreich (3-1-2) illustriert sind; diese stellen sozusagen die bevorzugten Abfolgevarianten in diesen Dialekten dar: S Telefon hät grad glüütet, woni han 1 welle 2 gaa 3 (Seiler 2004: 372) ‘das Telefon hat geläutet, als ich habe gehen wollen‘ da ma wås leana 3 hettn 1 soin 2 (Patocka 1997: 278) ‘dass wir etwas hätten lernen sollen’ <?page no="325"?> Zum Wesen optimalitätstheoretischer Ansätze 325 Nun ist aber bekannt, dass in den meisten Dialekten mehrere Abfolgen im Verbalkomplex möglich sind, und auch in den beiden hier illustrierten Dialektgruppen können alternative Serialisierungen auftreten, wobei diese spezifischeren Gebrauchsbedingungen unterliegen bzw. einfach weniger häufig sind. Auch gibt es bestimmte Abfolgen, die in den betreffenden Dialekten ungrammatisch sind. Die verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten sind in der unten stehenden Tabelle angeführt: Demnach ist 1-2-3 die bevorzugte Variante im Schweizer Alemannischen, während sie im Bairischen-Österreichischen möglich, aber nicht präferiert ist, und umgekehrt. In beiden Dialekten ist hingegen die Abfolge 3-2-1 bei dieser Konstruktion ungrammatisch. Eine bloße Auflistung von Varianten (z.B. „in den Dialekten A und B gibt es die Abfolgevarianten 1-2-3 und 3-1-2“) würde die feineren Kontraste überdecken, die in jedem der einzelnen Dialekte im Arrangement dieser Varianten bestehen. Dialekt A (~ CH) Dialekt B (~ Ö) 1-2-3 (bevorzugt) 3-1-2 (möglich) *3-2-1 (unmöglich) 3-1-2 (bevorzugt) 1-2-3 (möglich) *3-2-1 (unmöglich) Präferenzmuster für Abfolgevarianten in der rechten Satzklammer im Vergleich Kayne (1996) spricht in diesem Zusammenhang von „Mikroparametern“ (microparameters), die erst durch den Vergleich nah verwandter Sprachen (bzw. Dialekte) entdeckt werden können: […] the technique of examining a large number of closely related languages promises to provide a broad understanding of parameters at their findestgrained (microparameters), i.e., to provide a handle on the question: what are the minimal units of syntactic variation? (Kayne 1996: xiii) Solche minimalen Einheiten syntaktischer Variation lassen sich nicht nur durch den synchronen Varietätenvergleich, sondern auch - und dies ist für unseren Zusammenhang von zentraler Bedeutung - anhand diachroner Untersuchungen zu unterschiedlichen Stufen einer einzelnen Sprache studieren: It is also clear that the study of minimal syntactic variation is bound to provide crucial evidence bearing on questions of diachronic syntax (which involves the study of the minimally different stages in the evolution of the syntax of a language). (Kayne 1996: xiv) Eine interessante Folgefrage, die aber bisher nur wenig erforscht ist, ist die, wie sich das Verhältnis zwischen Makroparametern wie z.B. OV/ VO (also dem sogenannten „Kopfparameter“) und verschiedenen Mikroparametern genau gestaltet. Auf der intuitiven Ebene ist jedenfalls klar, dass Letztere nicht nur größer an der Zahl sind, sondern auch anfälliger für diachrone Veränderungen. Im Zusammenhang mit Beschränkungen und Beschränkungsumordnungen lässt sich ein weite- <?page no="326"?> Optimalitätstheoretische Ansätze 326 rer wichtiger, aber auch umstrittener Aspekt der OT veranschaulichen, und zwar das Postulat der „faktoriellen Typologie“. Es besagt, dass jeder möglichen Beschränkungsordnung auch eine mögliche Sprache bzw. Varietät entsprechen muss. Mit Blick auf diachrone Veränderung lässt sich diese Annahme dazu nutzen, Vorhersagen zum Verlauf gewisser Wandelerscheinungen zu machen: Ein bestimmter syntaktischer Wandel A ist dieser Logik nach wahrscheinlicher als ein anderer B, weil er weniger Beschränkungsumordnungen involviert. Wie dies konkret funktioniert, soll uns im nächsten Abschnitt beschäftigen. 18.2 Syntaktischer Wandel in der Optimalitätstheorie Mit dem bisher eingeführten OT-Instrumentarium und dem Konzept der Mikroparameter haben wir alle nötigen Voraussetzungen, um uns nun abschließend nochmals der in Kapitel 9 (und teilweise auch in Kapitel 5) diskutierten Abfolgevarianz in der rechten Satzklammer zuzuwenden. Wir beschränken uns im Folgenden auf die Diskussion von zweigliedrigen Verbketten. Wie wir gesehen haben, nimmt die Anzahl von 1-2-Abfolgen, wie sie mit dem unten angeführten Beispiel illustriert sind, im Verlauf der deutschen Sprachgeschichte immer weiter ab, wobei sie im Gegenwartsdeutschen nur noch in dialektalen Varietäten anzutreffen ist: uuanta her nazareus uuirdit ginemnit (Tatian 42,7) weil er Nazarener wird genannt ‘weil er Nazarener genannt wird’ lat.: quoniam Nazareus vocabitur Diesen Wandel kann man mittels zweier konfligierender OT-Beschränkungen modellieren, die im Folgenden unter „Verbalkomplex“ zusammengefasst sind. Verbalkomplex: a. V- PERIPHER : Das lexikalische Verb muss nach seinen Ergänzungen stehen. b. A UX - RECHTS : Auxiliarartige Verben (sein, haben, werden, Modalverben) müssen am Ende des Verbalkomplexes stehen. 32 Im Althochdeutschen kann man angesichts der starken Dominanz von 1-2-Abfolgen von folgender Beschränkungsordnung (1.) ausgehen, während (2.) die Situation im Gegenwartsdeutschen (genauer: im Standarddeutschen) abbildet: 33 ________ 32 Diese Beschränkung entspricht der von Greenberg (1963: 67) formulierten Universalie Nr. 16: „In languages with dominant order SOV, an inflected auxiliary always follows the main verb.“ Auch das Gegenwartsdeutsche (als OV-Sprache) entspricht dieser Bedingung, wie man am folgenden Beispiel sehen kann: dass er das Buch gelesen hat. 33 Die Situation ist natürlich um einiges komplexer, denn auch zwischen einzelnen Auxiliartypen können sich Unterschiede zwischen der Zahl von 1-2-Abfolgen ergeben. Zumindest aber für das ältere Althochdeutsche ist 1-2 eindeutig die dominante Abfolge (vgl. z.B. Robinson 1997: 68-69 zum Isidor). <?page no="327"?> Syntaktischer Wandel in der Optimalitätstheorie 327 1. V- PERIPHER A UX - RECHTS 2. A UX - RECHTS V- PERIPHER 1-2-Abfolgen, wie sie etwa der oben zitierte Beleg aus dem Althochdeutschen repräsentiert, ergeben sich demnach aus der in der ersten Tabelle angeführten Kandidatenevaluation, während für das Gegenwartsdeutsche jene in der zwiten Tabelle maßgeblich ist. V- PERIPHER A UX - RECHTS K 1 : weil er N. genannt wird (2-1) *! K 2 : weil er N. wird genannt (1-2) * Situation im Althochdeutschen A UX - RECHTS V- PERIPHER K 1 : weil er N. genannt wird (2-1) * K 2 : weil er N. wird genannt (1-2) *! Situation im Gegenwartsdeutschen Wie kann man die Zwischenstufen modellieren, bei denen beide Abfolgen auftreten konnten? In der klassischen OT kann man in solchen Fällen mit „gekoppelten“ Beschränkungen arbeiten. Darunter versteht man zwei Beschränkungen, die gleich stark gewichtet sind, d.h. ihre relative Ordnung zueinander spielt in diesem Fall keine Rolle, sondern nur die jeweilige Zahl ihrer Verletzungen. Mit gekoppelten Beschränkungen (unten mit dem Symbol ‘ ○ ’ dargestellt) lässt sich der längere Zeit herrschende Zwischenzustand ableiten, bei dem beide Abfolgen, also 1-2 und 2-1, anzutreffen waren. 3. V- PERIPHER ○ A UX - RECHTS Koppelung bedeutet technisch gesprochen, dass die in (1.) und (2.) angeführten Beschränkungsordnungen im grammatischen System parallel verfügbar sind, und aus ihnen geht jeweils die Abfolge 1-2 bzw. 2-1 als Gewinner hervor. In der unten angeführten Tabelle wird Koppelung mit einer gestrichelten Linie zwischen den beiden Beschränkungen symbolisiert. A UX - RECHTS V- PERIPHER K 1 : weil er N. genannt wird (2-1) * K 2 : weil er N. wird genannt (1-2) * Übergangsstadium mit beiden Varianten Der Übergang von 1-2 zu 2-1 kann also in einem OT-Szenario als Übergang von einer Grammatik mit der Beschränkungsordnung (1.) zu einer mit der Ordnung <?page no="328"?> Optimalitätstheoretische Ansätze 328 (2.) modelliert werden; als Zwischenstadium fungiert die Grammatik in (3.) mit gekoppelten Beschränkungen. Mit diesem Modell kann allerdings nicht erklärt werden, warum die Häufigkeit der Variante 1-2 auf dem Weg zum Neuhochdeutschen von 50 % in mittelhochdeutscher Zeit hin zu nur noch 8 % im 17. Jahrhundert sukzessive abnimmt (vgl. die folgende Tabelle). Zeitpunkt Anteil 1-2-Abfolgen Mhd. 50 % 14. Jh. 28 % 15. Jh. 20 % 16. Jh. 22 % 17. Jh. 8 % Anteil von 1-2-Abfolgen in der Sprachgeschichte des Deutschen (Weber 1971: 132) Solche Asymmetrien in der Verteilung von konkurrierenden Varianten lassen sich mithilfe der „stochastischen Optimalitätstheorie“ (StOT) beschreiben und erklären. Dieses Modell wurde von Boersma (1998) bzw. Boersma/ Hayes (2001) entwickelt und vereinigt Ideen aus der Linguistik sowie der Theorie neuronaler Netze, wie sie in den Kognitionswissenschaften entwickelt wurde. Die stochastische Optimalitätstheorie unterscheidet sich von der Standard-OT in zwei Aspekten: • Beschränkungen sind als Mittelwerte auf einer kontinuierlichen Skala geordnet (d.h. sie werden als Normalverteilungen gedeutet) und können sich teilweise überlappen. • Bei jeder Kandidatenevaluation wird der reele Zahlenwert der Beschränkungen mit einem Störwert (also einer Art „Hintergrundrauschen“) aus der Normalverteilung dieser Mittelwerte versehen. Dies kann beispielsweise dazu führen, dass eine Beschränkung mit dem Mittelwert 102 als 100,1 oder 103,1 evaluiert wird. Eine OT-Grammatik mit stochastischer Evaluation kann sowohl strikte (nur ein Kandidat geht als Gewinner hervor) als auch variable Outputs (mehrere optimale Kandidaten, etwa bei gekoppelten Beschränkungen) generieren, je nachdem, wie nahe beieinander die relevanten Beschränkungen liegen. Bei Beschränkungsordnung (1.) oben (V- PERIPHER A UX - RECHTS ) kann man davon ausgehen, dass die beiden relevanten Beschränkungen ziemlich weit auseinanderliegen und somit keine Überlappungen aufweisen. Diese Situation wird durch die folgende Abbildung veranschaulicht (C 1 = V- PERIPHER , C 2 = A UX - RECHTS ): <?page no="329"?> Fazit: optimalitätstheoretische Ansätze 329 Strikte Beschränkungsordnung (Bresnan et al. 2007: 333) Der interessante Fall ist nun eine Grammatik wie in (2.) oben (A UX - RECHTS V- PERIPHER ). In diesem Fall ginge man davon aus, dass die Normalverteilungen der beiden Beschränkungen C 1 und C 2 zu einem gewissen Grad überlappen (siehe Abbildung unten), wobei diese Überlappung im Mittelhochdeutschen am größten ist (mit jeweils 50 % 1-2- und 2-1-Abfolgen), danach aber immer kleiner wird, indem C 2 weiter nach links driftet und C 1 weiter nach rechts. Überlappende Beschränkungen (Bresnan et al. 2007: 334) Auch in diesem Szenario kann sich bei stochastischen Evaluation eine Beschränkungsordnung C 1 C 2 wie in der Grammatik (1.) ergeben. Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit kann aber auch ein Wert aus dem rechten Randbereich von C 1 sowie einer aus dem linken Randbereich von C 2 gewählt werden, und dies kann temporär zu einer alternativen Beschränkungsordnung C 2 C 1 und damit zu einem alternativen Output führen. Die Grundidee ist also, dass Beschränkungen als Zahlenwerte kontinuierlich geordnet sind und mehr oder wenig stark überlappen können. Als Evaluation kann man jeden Produktionsbzw. Perzeptionsvorgang betrachten, bei dem die interessierenden Varianten verarbeitet werden. Die stochastische OT ist ein sehr flexibles Werkzeug im Umgang mit syntaktischer Variation, sei sie nun synchron (etwa im Falle verschiedener dialektaler Varietäten) oder diachron wie in den von uns diskutierten Fällen. Überdies gibt es Computerprogramme (z.B. „OT Soft“, vgl. Hayes et al. 2002), mit denen man den Einfluss von Inputfrequenzen (d.h. die Häufigkeit einer bestimmten Variante) auf eine Beschränkungsordnung simulieren und ihre Stabilität (bzw. Labilität) testen kann. Dadurch sind auch Prognosen möglich, in welche Richtung ein bestimmter syntaktischer Wandel geht. Allerdings sind solche Vorhersagen ähnlich wie beim Wetter nur sehr grob und reichen nicht weit in die Zukunft. 18.3 Fazit: optimalitätstheoretische Ansätze Ein unbestreitbarer Vorteil der Optimalitätstheorie ist ihre Flexibilität: Auch kleinere grammatische Unterschiede zwischen verschiedenen Varietäten (seien sie <?page no="330"?> Optimalitätstheoretische Ansätze 330 nun auf der synchronen oder der diachronen Ebene) können mithilfe des Konzepts geordneter und verletzbarer Beschränkungen ausgedrückt werden. Dieses ist überdies neutral in Bezug auf die Art der Beschränkungen, d.h. ob diese formaler Natur (z.B. die hier erklärte Bedingung A UX - RECHTS ) oder eher funktionaler Natur sind, ist unerheblich. Die Optimalitätstheorie kann somit als Bindeglied zwischen dem formalen und dem funktionalen Ansatz betrachtet werden. Allerdings ist auch dieses Modell mit gewissen Problemen konfrontiert (siehe dazu grundlegend Müller 2000: Kap. 7 und 8). So ist es immer möglich, weitere (und womöglich höhergeordnete) Beschränkungen zu erfinden, um eine bestimmte Struktur auszuschließen. Ein anderes, damit verwandtes Problem besteht darin, dass sich Aussagen über absolut ausgeschlossene (also ungrammatische) Strukturen in diesem Kontext nur schwer formulieren lassen, denn am Ende jedes Wettbewerbs steht ein lokal wohlgeformter Kandidat. Die Leistungsfähigkeit bzw. die Aussagekraft eines OT-Ansatzes steigt in dem Maße, in dem es gelingt, möglichst allgemeine, auch außerhalb des betrachteten Phänomens wirksame und empirisch gut abgesicherte Beschränkungen zu formulieren. Idealerweise sollen diese Beschränkungen überdies dem Postulat der faktoriellen Typologie genügen, indem jede mögliche Beschränkungsordnung auch empirisch belegbar ist, etwa in Form einer Varietät, für die genau diese Beschränkungsordnung gültig ist. Literaturhinweise Eine ausgezeichnete deutschsprachige Einführung in die optimalitätstheoretische Syntax ist Müller (2000). Zwar setzt diese Grundkenntnisse in generativer Syntax voraus, aber viele der dort diskutierten Analysen sind auch ohne entsprechendes Hintergrundwissen nachvollziehbar. Zur diachronen Syntax des Deutschen im Speziellen gibt es noch keine optimalitätstheoretischen Arbeiten, aber viele traditionelle Analysen lassen sich ohne größere Schwierigkeiten in dieses Modell übersetzen, d.h. auf diesem Gebiet bieten sich noch einige Entfaltungsmöglichkeiten. Einen kritischen Überblick zu den Möglichkeiten und Problemen der Optimalitätstheorie bei der Analyse diachroner Phänomene bietet der Artikel von Haspelmath (1999) und die verschiedenen Gegenreaktionen, die alle in derselben Sondernummer der Zeitschrift für Sprachwissenschaft erschienen sind. Die Grundgedanken der stochastischen Optimalitätstheorie (StoT) und ihre Anwendung auf Verbalkomplex-Variation in verschiedenen Schweizer Dialekten werden sehr anschaulich und gut verständlich bei Seiler (2004) dargestellt. <?page no="331"?> Literaturverzeichnis Quellentexte Abraham a Sancta Clara: Neun neue Predigten von Abraham a Sancta Clara. Aus der Wiener Handschrift cod. 11571. Herausgegeben von Karl Bertsche. (Neudrucke deutscher Literaturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts 278-281.) Halle an der Saale: Niemeyer. [zitiert nach Seiten der Edition] Althochdeutsche Glossen II: Die Althochdeutschen Glossen. Gesammelt und bearbeitet von Elias Steinmeyer und Eduard Sievers. Zweiter Band: Glossen zu nichtbiblischen Schriften. Bearbeitet von Elias Steinmeyer. Berlin 1882: Weidmann. [Nachdruck Dublin/ Zürich 1969: Weidmann.] [zitiert nach Seiten und Nummern] Augsburger Chronik: Die Chroniken der schwäbischen Städte. Sechster Band: Augsburg. Auf Veranlassung Seiner Majestät des Königs von Bayern herausgegeben durch die historische Commission bei der Königlichen Akademie der Wissenschaften. (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis 16. Jahrhundert 29.) Leipzig 1906: Hirzel. Ava, Leben Jesu: In: Die religiösen Dichtungen des 11. und 12. Jahrhunderts. Nach ihren Formen besprochen und herausgegeben von Friedrich Maurer. Band II: 398-491. Tübingen 1965: Niemeyer. [zitiert nach Seiten der Edition und nach Versen] Bavngart: Geistlicher Herzen Bavngart. Ein mittelhochdeutsches Buch religiöser Unterweisung aus dem Augsburger Franziskanerkreis des 13. Jahrhunderts. Untersuchung und Text von Helga Unger. (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 24.) München 1969: Beck. [zitiert nach Seiten der Edition] Beer, Kurtzweilige Sommer-Täge: Johann Beers Kurtzweilige Sommer-Täge. Abdruck der einzigen Ausgabe (1683). Herausgegeben von Wolfgang Schmitt. (Neudrucke deutscher Literaturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts 324.) Halle an der Saale: Niemeyer. Beheim, Evangelienbuch: Des Matthias von Beheim Evangelienbuch in mitteldeutscher Sprache 1343. Herausgegeben von Reinhold Bechstein. Leipzig 1867. [Nachdruck Amsterdam 1966: Rodopi.] [zitiert nach Seiten der Edition und nach biblischen Büchern, Kapiteln und Versen] Benediktinerregel: Die lateinisch-althochdeutsche Benediktinerregel Stiftsbibliothek St. Gallen Cod. 916. Herausgegeben von Achim Masser. (Studien zum Althochdeutschen 33.) Göttingen 1997: Vandenhoeck & Ruprecht. [zitiert nach Seiten und Zeilen der Handschrift; elektronisches Faksimile zugänglich über: www.cesg.unifr.ch] <?page no="332"?> Literaturverzeichnis 332 Berthold: Berthold von Regensburg: Vollständige Ausgabe seiner Predigen mit Anmerkungen und Wörterbuch von Franz Pfeiffer. [2 Bände] Wien 1862, 1880: Braunmüller. [Nachdruck mit einem Vorwort von Kurt Ruh. 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Phonologie, Orthographie, Morphologie) niederschlägt. In der Syntax wird auf das Klammerprinzip abgehoben. Diesem übergreifenden Prinzip und einigen weiteren Prinzipien gehen die Autorinnen anhand zahlreicher Beispiele nach und ermöglichen so ein tieferes Verständnis der deutschen Sprachgeschichte. „Insgesamt haben Damaris Nübling und ihre Mitarbeiterinnen mit dem vorliegenden Werk eine ebenso informative und anspruchsvolle wie originelle und zukunftsweisende Sicht der deutschen Sprachgeschichte vorgelegt.“ Torsten Leuschner in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 111810 Auslieferung Dezember 2010.indd 2 02.12.10 17: 28 <?page no="362"?> Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.narr.de · E-Mail: info@narr.de Dieses Studienbuch betrachtet das komplexe Phänomen »deutscher Wortschatz« aus verschiedenen inhaltlichen und methodischen Perspektiven. Anhand zahlreicher Beispiele wird veranschaulicht, dass das Lexikon keine bloße Anhäufung von Fakten, Merkmalen und Idiosynkrasien ist. Es wird gezeigt, dass das richtige Verstehen und Bilden sowie die angemessene Verwendung von Wörtern mit Regeln und Konventionen verknüpft ist. Das Studienbuch stellt eine Verbindung zwischen den aktuellen wissenschaftlichen Diskussionen zum Wortschatz und dem tatsächlichen Wortwissen in Sprachgebrauch und -lernen her. Es eignet sich für das Selbststudium genauso wie als Grundlage für Lehrveranstaltungen zum Wort und dem deutschen Lexikon. Spezielle linguistische Vorkenntnisse werden nicht vorausgesetzt. Jedes Kapitel enthält Aufgaben und weiterführende Literaturangaben. Christine Römer Brigitte Matzke Der deutsche Wortschatz Struktur, Regeln und Merkmale narr studienbücher 2010, XII, 240 Seiten €[D] 19,90/ SFr 35,90 ISBN 978-3-8233-6503-7 003610 Auslieferung Januar 2010.indd 3 21.01.10 13: 41 <?page no="363"?> Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.narr.de · E-Mail: info@narr.de Die Grammatik des Deutschen verändert sich ständig. Grammatische Strukturen kommen und gehen. Dieses Studienbuch führt zum einen in die aktuelle Grammatikalisierungsforschung und ihre Theorien ein. Zum anderen hat es die Entstehung und weitere Entwicklung der wichtigsten grammatischen Kategorien des Deutschen zum Gegenstand, u.a. den Negationswandel, die Herausbildung des Artikels und die Entwicklung neuer Hilfsverben wie haben , werden und bekommen . Auch die Entstehung der Konjunktionen dass und weil sowie der Präpositionen wegen, im Vorfeld und im Laufe wird auf verständliche Weise dargestellt. An solchen und weiteren Beispielen werden verschiedene Aspekte und Modelle der Grammatikalisierung diskutiert, darunter die kognitiven Grundlagen des Bedeutungswandels sowie das Phänomen der Reanalyse. Renata Szczepaniak Grammatikalisierung im Deutschen Eine Einführung narr studienbücher 20 , €[D] 19,90/ SFr 35,90 ISBN 978-3-8233-6 - 058909 Auslieferung Juli 2009.indd 5 23.07.2009 11: 40: 42 Uhr <?page no="364"?> Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.narr.de · E-Mail: info@narr.de Das vorliegende Buch gibt einen Überblick über die germanistische Korpuslinguistik. Die linguistische Arbeit mit digitalen Textsammlungen hat sich in den letzten Jahren von einer Methode zu einer eigenen Disziplin der Linguistik entwickelt. Im Zentrum des Buches stehen methodische Fragen, die Darstellung deutschsprachiger Korpora und die Diskussion von jüngeren Arbeiten mit korpuslinguistischem Bezug. Die Autoren wenden sich dabei insbesondere an Lehrende und Studierende der Germanistik, die Korpora in ihre eigenen Forschungsarbeiten einbeziehen möchten, und an theoretische Linguisten, die ihre Theorien an authentischen Sprachdaten überprüfen wollen. Lothar Lemnitzer Heike Zinsmeister Korpuslinguistik Eine Einführung narr studienbücher 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage 2010 IV, 220 Seiten, zahlr. Abb. und Tab. €[D] 19,90/ SFr 35,90 ISBN 978-3-8233-6555-6 022510 Auslieferung März 2010.indd 5 17.03.10 14: 18 <?page no="365"?> Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.narr.de · E-Mail: info@narr.de Mit diesem Band lieg t erstmals eine Einführ ung in die Germanistische Linguistik vor, die speziell für die neuen modularisierten Studiengänge konzipiert wurde. Das Buch ist in 14 Einheiten gegliedert, die sich an einem typischen Semesterplan orientieren und somit direkt für Lehrveranstaltungen im Rahmen eines „Basismoduls Ger manistik“ bz w. „Ger manistische Linguistik“ verwendet werden können. Die einzelnen Einheiten dienen zum einen der Vermittlung von Basiswissen, zum anderen dem Erwerb der Kompetenz, dieses Wissen selbständig anzuwenden. Auf der begleitenden Homepage www.bachelor-wissen.de finden sich zudem bonus tracks , ergänzende Angebote, mit denen die Kompetenzen vertieft werden können. „Das Buch bietet für Anfangssemester eine sehr gut verständliche Einführung.“ ekz-Informationsdienst Albert Busch Oliver Stenschke Germanistische Linguistik Eine Einführung bachelor-wissen 2., durchgesehene und korrigierte Auflage 2008 VIII, 256 Seiten €[D] 14,90/ SFr 26,00 ISBN 978-3-8233-6414-6 022707 Auslieferung April.indd 3 22.04.2008 15: 45: 43 Uhr <?page no="366"?> Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@narr.de • www.narr.de NEUERSCHEINUNG FEBRUAR 2011 JETZT BESTELLEN! Björn Rothstein Wissenschaftliches Arbeiten für Linguisten narr studienbücher 2011, 218 Seiten €[D] 19,90/ SFr 30,50 ISBN 978-3-8233-6630-0 Wenn es um „linguistisches Arbeiten“ geht, bestehen bei den Studierenden oftmals große Unsicherheiten bezüglich Inhalt, Form und Methode. Dieses Studienbuch vermittelt Schritt für Schritt die notwendigen Arbeitstechniken, um erfolgreich sprachwissenschaftliche Studien durchführen, präsentieren und verschriftlichen zu können. Klassische Bereiche wie Themenfindung, Informationsbeschaffung, Besonderheiten wissenschaftlicher Textsorten und bibliographische Konventionen werden genauso thematisiert wie die Probleme, vor denen Studierende üblicherweise im Bereich der Linguistik stehen: Lektüre und Überprüfung von linguistischen Texten, Argumentationstechniken, Beweisführungen und die Datenerhebung, -verwaltung und -notation. Zahlreiche Schaubilder und Beispiele veranschaulichen den Text. Für die praktische Anwendbarkeit sorgen die am Ende jedes Kapitels angefügten Checklisten. 013411 Auslieferung Februar 2011.indd 2 10.02.11 12: 00 <?page no="367"?> Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@narr.de • www.narr.de NEUERSCHEINUNG AUGUST 2011 JETZT BESTELLEN! Claudia Meindl Methodik für Linguisten Eine Einführung in Statistik und Versuchsplanung narr studienbücher 2011, 302 Seiten €[D] 22,90/ SFr 32,90 ISBN 978-3-8233-6627-0 Wie erhebt man linguistische Daten und wertet sie professionell aus? Mit der Umstellung auf Bachelor und Master haben viele Universitäten Lehrveranstaltungen zur Methodik in die Module ihrer Studiengänge aufgenommen. Das Studienbuch gibt dazu passend eine anwendungsorientierte Einführung in die Versuchsplanung und in die beschreibende und erklärende Statistik. Neben Tipps aus der Praxis werden auch die Grundlagen methodischen Arbeitens wie die Erkenntnis-, Mess- und Wahrscheinlichkeitstheorie vermittelt. Mathematikkenntnisse werden nicht vorausgesetzt. Die Autorin erklärt den Umgang mit Formeln, führt aber auch in die gängigen Statistikprogramme (SPSS und R) ein. Durch anschauliche Beispiele und Übungsaufgaben ist das Lehrbuch auch zum Selbststudium geeignet. Zielgruppen: Studenten der Linguistik und der angrenzenden Disziplinen, Lehrende im Bereich Methodenlehre. 077211 Auslieferung August 2011.indd 4 16.08.11 14: 57 <?page no="368"?> Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@narr.de • www.narr.de NEUERSCHEINUNG DEZEMBER 2010 JETZT BESTELLEN! Karin Pittner / Judith Berman Deutsche Syntax Ein Arbeitsbuch narr studienbücher 4., aktualisierte Auflage 2010 200 Seiten, €[D] 19.90/ SFr 30.50 ISBN 978-3-8233-6610-2 Dieses Lehrbuch führt in die Grundbegriffe und Methoden der syntaktischen Analyse des Deutschen ein. Behandelt werden syntaktische Kategorien und Funktionen, Valenz und Argumentstruktur, die Formen des Passivs, die Wortstellung, der Aufbau von komplexen Sätzen, Besonderheiten bei der Verwendung der Pronomina sowie Grundbegriffe der Informationsstruktur. Jedes Kapitel enthält Übungen mit Lösungshinweisen und Literaturtipps zum Weiterlesen, die den Studierenden die Möglichkeit geben, sich den Stoff weitgehend selbständig zu erarbeiten. „Die Verfasser haben ihr im Vorwort angegebenes Ziel vollauf erreicht: Sie haben ein Arbeitsbuch mit Überblickscharakter vorgelegt, das sich als Einführung vorzüglich eignet.“ Gerhard Helbig in Deutsch als Fremdsprache 111810 Auslieferung Dezember 2010.indd 4 02.12.10 17: 28