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Kleine Schriften

Eine Auswahl zum 10. Todestag

0119
2011
978-3-8233-7569-2
978-3-8233-6569-3
Gunter Narr Verlag 
Brigitte Schlieben-Lange
Sarah Dessì Schmid
Andrea Fausel
Jochen Hafner

Brigitte Schlieben-Lange (1943 - 2000) studierte Romanistik, Germanistik, Allgemeine Sprachwissenschaft und Philosophie. 1970 promovierte sie bei Eugenio Coseriu in Tübingen und ging als Assistentin an das Romanische Seminar der Universität Freiburg im Breisgau. 1974 erhielt sie einen Ruf an die Universität Frankfurt /Main. 1991 wurde sie auf den Lehrstuhl für Romanische Philologie und Allgemeine Sprachwissenschaft der Universität Tübingen berufen, den sie bis zu ihrem Tod im Jahr 2000 innehatte. Sie war Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Prorektorin und langjährige Frauenbeauftragte der Universität Tübingen. Mit ihrem umfangreichen Schaffen hat Brigitte Schlieben-Lange viele Spuren hinterlassen - in der Romanistik und weit darüber hinaus, in Wissenschaft und Hochschulpolitik. Sie war, so Jürgen Trabant in einem Nachruf, "eine der produktivsten deutschen Geisteswissenschaftlerinnen", die als Mitbegründerin verschiedener Forschungsrichtungen gelten kann. Dabei verstand sie es, die traditionellen Fachgrenzen immer wieder aufs Neue zu überschreiten. "Für Brigitte Schlieben-Lange war Linguistik nicht Arbeit, sondern reines Vergnügen. Nur dies vermag die außerordentliche Kreativität ihres sprachwissenschaftlichen Denkens zu erklären. Bestechend war ihre Fähigkeit, über scheinbar einfache Fragen Innovationen in Gang zu setzen. Unbegrenzt schien ihre Arbeitskraft, und unglaublich [...] vielfältig waren ihre Tätigkeitsfelder: als leidenschaftliche Forscherin und als mitreißende Lehrerin, aber auch als richtungweisende Wissenschaftsorganisatorin und als Hochschulpolitikerin." (Peter Koch) Aus Anlass des 10. Todestages von Brigitte Schlieben- Lange erscheint 2010 eine Auswahl von kleineren Schriften aus den vielfältigen Forschungsgebieten der großen Romanistin. Die Auswahl umfasst grundlegende Beiträge sowie Artikel, die bislang nur schwer zugänglich waren und darüber hinaus zwei noch unveröffentlichte Texte aus Themenbereichen, die ihr besonders am Herzen lagen: - Französische Revolution und Idéologie - Okzitanisch und Katalanisch - Sprachtheorie, Semiotik und Pragmatik - Sozio- und Varietätenlinguistik - Diskurstraditionen und Sprachgeschichtsschreibung - Hochschulpolitisches Engagement Wesentlicher Bestandteil des Bandes ist zudem die vollständige Bibliographie von Brigitte Schlieben- Lange. Der Band wird herausgegeben und eingeleitet von Sarah Dessì Schmid, Andrea Fausel und Jochen Hafner.

<?page no="0"?> Brigitte Schlieben-Lange Kleine Schriften Herausgegeben und eingeleitet von Sarah Dessì Schmid, Andrea Fausel und Jochen Hafner <?page no="1"?> Brigitte Schlieben-Lange: Kleine Schriften Eine Auswahl zum 10. Todestag <?page no="2"?> Brigitte Schlieben-Lange <?page no="3"?> Brigitte Schlieben-Lange Kleine Schriften Eine Auswahl zum 10. Todestag Herausgegeben und eingeleitet von Sarah Dessì Schmid, Andrea Fausel und Jochen Hafner <?page no="4"?> Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH & Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Satz: Informationsdesign D. Fratzke, Kirchentellinsfurt Druck und Bindung: Laupp & Göbel, Nehren Printed in Germany ISBN 978-3-8233-6569-3 <?page no="5"?> Tabula Commemoratoria I SOLDE B URR Köln J EAN C LAUDE C HEVALIER Paris J EAN -L UC C HEVILLARD Paris M ARLENE C ONÇALVES M ATTES Cidade Baixa L ONY D AUBER Tübingen S ARAH D ESSÌ S CHMID Tübingen W OLF D IETRICH Münster F RANÇOISE D OUAY Aix-en-Provence H ANS -D IETER D RÄXLER S-o Paulo T ORSTEN D REHER Maintal A NDREAS D UFTER Erlangen C HRISTIANE D ÜMMLER Worms J EAN -P IERRE D URAFOUR Tübingen V ERA E ILERS Nehren B ASTIAN A HRENS Frankfurt (Main) R AFAEL A RNOLD Paderborn H EIDI A SCHENBERG Tübingen S YLVAIN A UROUX Paris M ARLOS DE B ARROS P ESSOA Recife M ARIE -J OSÉ B ÉGUELIN Neuchâtel T ILMAN B ERGER Tübingen G ABRIELE B ERKENBUSCH Zwickau G ERALD B ERNHARD Bochum C HRISTINE B LAUTH -H ENKE Tübingen K LAUS B ÖCKLE Tübingen S ONIA B RANCA -R OSOFF Paris T HOMAS B REMER Halle (Saale) E LISABETH B URR Duisburg <?page no="6"?> Tabula Commemoratoria K ONRAD E HLICH Berlin und München V ERONIKA E HRICH Tübingen A NNETTE E NDRUSCHAT Regensburg J ÜRGEN E RFURT Frankfurt (Main) A NDREA F AUSEL Wendlingen A NNA F ERRARI Rom L IA F ORMIGARI Rom Rita Franceschini Bozen B ARBARA F RANK -J OB Bielefeld K ARSTEN G ARSCHA Frankfurt (Main) H ANS -M ARTIN G AUGER Freiburg i. Br. J OACHIM G ESSINGER Potsdam J ACQUES G UILHAUMOU Aix-en-Provence H ANS U LRICH G UMBRECHT Stanford M ARGIT G UTMANN Heidelberg J OCHEN H AFNER München R AINER E NRIQUE H AMEL México F RIEDERIKE H ASSAUER Wien G ERDA H ASSLER Potsdam M ARIE -C HRISTINE H AZAËL - M ASSIEUX Aix-en-Provence H ELMUT H ENNE Braunschweig E RNEST W. B. H ESS -L ÜTTICH Bern B ERNHARD H URCH Graz D ANIEL J ACOB Freiburg i.Br. F RANK J ODL Stuttgart K ONSTANZE J UNGBLUTH Frankfurt (Oder) J OHANNES K ABATEK Tübingen D OROTHEE K AISER Rottenburg R OLF K EMMLER Vila Real F RITZ P ETER K IRSCH Wien W OLFGANG K LEIN Nijmegen P ETER K OCH Tübingen U RSULA K OCHER Wuppertal K URT K OHN Tübingen G ERHARD K OMAR München <?page no="7"?> Tabula Commemoratoria T HOMAS K REFELD München G EORG K REMNITZ Wien F RANZISKA K ÜENZLEN Speyer H ANS P ETER K UNERT Guardia Piemontese J UTTA L ANGENBACHER -L IEBGOTT Paderborn A RACELI L ÓPEZ S ERENA Sevilla R OBERT L UG Frankfurt (Main) D ANIELA M ARZO Stuttgart T RUDEL M EISENBURG Osnabrück H OLGER M ICHELFEIT Tübingen W ILTRUD M IHATSCH Bochum P ETER VON M OOS Béon J EAN -C LAUDE M ULLER Luxemburg K LAUS -D ETLEF M ÜLLER Tübingen M ICHAEL N ERLICH Charroux A NTONIA N EU Tübingen I RMELA N EU München R OSINA N OGALES T UDELA Barcelona J AN N OORDEGRAAF Amsterdam W ULF O ESTERREICHER München F RANCISCO O ROZ Tübingen A DELHEID O TT Esslingen M AX P FISTER Saarbrücken F RANÇOIS P IC Toulouse J OCHEN R EHBEIN Ankara M ARGA R EIS Tübingen U RSULA S CHAEFER Dresden B ARBARA S CHÄFER -P RIESS München E BERHARD S CHAICH Kirchentellinsfurt J ÜRGEN S CHIEWE Greifswald R AINER S CHLÖSSER Jena W ILHELM S CHMIDT -B IGGEMANN Berlin R OLAND S CHMIDT -R IESE Eichstätt R ALF S CHNELL Berlin A XEL S CHÖNBERGER Frankfurt (Main) M ARIA S ELIG Regensburg <?page no="8"?> Tabula Commemoratoria G ERD S IMON Tübingen P ATRICK O. S TEINKRÜGER Berlin W OLF -D IETER S TEMPEL München E VA S TOLL München D OMERGUE S UMIEN Ais de Provença P IERRE S WIGGERS Leuven R OBERT T ANZMEISTER Wien D IETMAR T ILL Berlin J ÜRGEN T RABANT Berlin und Bremen M IORITA U LRICH Bamberg B URGHART W ACHINGER Tübingen R ICHARD W ALTEREIT Newcastle E DELTRAUD W ERNER Halle (Saale) J ÜRGEN W ERTHEIMER Tübingen H ARALD W EYDT Frankfurt (Oder) G EORG W IELAND Tübingen L ARS -G EORG W IGGER Tübingen E SME W INTER -F ROEMEL Tübingen J OHANNA W OLF Regensburg I SABEL Z OLLNA Marburg Bibliothèque universitaire, Toulouse Le Mirail Fachbereich Romanistik der Universität Salzburg Forschungsbibliothek „Jakob Jud“ der Universität Zürich Freie Universität Berlin Institut für Linguistik/ Romanistik der Universität Stuttgart Institut für Romanische Philologie der Ludwig-Maximilians- Universität München Institut für Romanische Philologie der Philipps-Universität Marburg Romanisches Seminar der Albert- Ludwigs-Universität Freiburg Romanisches Seminar der Eberhard-Karls-Universität Tübingen Romanisches Seminar der Universität Zürich Universitätsbibliothek Bamberg <?page no="9"?> Inhalt Tabula Commemoratoria Dem Denken Raum geben - Einleitung der Herausgeber. . . . . . . . . . . . XI Perlokution. Eine Skizze (1974) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Metasprache und Metakommunikation. Zur Überführung eines sprachphilosophischen Problems in die Sprachtheorie und in die sprachwissenschaftliche Forschungspraxis (1975) . . . . . . . . . . . . . . . 19 Von Babel zur Nationalsprache (1976) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Ai las - que planhs? Ein Versuch zur historischen Gesprächsanalyse am Flamenca-Roman (1979) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Wie kann man eine Geschichte der (Minderheiten-)Sprachen schreiben? Überlegungen zu Décadence und Renaissance des Okzitanischen und des Katalanischen (1985) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Die indétermination des mots - Ein sprachtheoretischer Topos der Spätaufklärung (1987) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 La théorie des activités communicatives de Habermas et la linguistique (1990) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Die Sprachpolitik der Französischen Revolution - Uniformierung in Raum, Zeit und Gesellschaft (1990). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Das Okzitanische zwischen Katholizismus und Reformation (1990) . . 141 Die Namen von Raum und Zeit (1991). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Die diskursive Verfaßtheit von Periodisierungen (1995) . . . . . . . . . . . . . 171 Über die Notwendigkeit des Diskurs-Begriffs in der Sprachwissenschaftsgeschichte (1996). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Der Torsimany und die scholastische Grammatik (1996) . . . . . . . . . . . . 197 <?page no="10"?> X Inhalt Préhistoire de la romanistique: la contribution des Méridionaux avant Raynouard (1997) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Ernst Cassirer und Karl Bühler (1997). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Les hypercorrectismes de la scripturalité (1998) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Alterität als sprachtheoretisches Konzept (1998) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Die deutsche Romanistik - ein Modell für die Zukunft? (1999) . . . . . . . 267 Humboldts Idee der Universität im Lichte seiner Sprachtheorie (2000) . 277 Per distantiam locorum. Die Modellierung sprachlicher Varietät in der europäischen Tradition (2000) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Grammaire idéologique et logique scolastique: la réussite des Idéologues en Italie et en Espagne (1998) . . . . . . . . . . . . . 305 Das Portugiesische im Mund der schwarzen Amme (1999). . . . . . . . . . . 329 Schriftenverzeichnis Brigitte Schlieben-Lange . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 <?page no="11"?> Dem Denken Raum geben - Einleitung der Herausgeber Im September 2010 wäre Brigitte Schlieben-Lange 67 Jahre alt geworden. Wir hätten unserer geschätzten Lehrerin und Doktormutter, die ihre Schülerinnen und Schüler so sehr für das Denken, die Wissenschaft und die Romanistik begeistern konnte, viel lieber einen Band zu ihrer Emeritierung gewidmet. Einen Band, der hätte zeigen können, dass ihr Abschied von der Universität nur ein formaler Akt gewesen wäre und kein intellektueller und menschlicher. Nun erscheint dieser Band anlässlich ihres 10. Todestages und er ist alles andere als ein Abschied. Vielmehr zeigt er, wie relevant und wegweisend ihre Gedankenwelt, ihre menschliche Größe und Kreativität sowie ihr hochschulpolitisches Engagement für die heutige Generation von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sind. Der Band versammelt Artikel aus den verschiedenen Schaffensphasen und den unterschiedlichen Themenbereichen, denen ihr besonderes Interesse galt: Okzitanisch und Katalanisch, das Mittelalter, die Traditionen des Sprechens, Sprachtheorie und Sprachphilosophie, Sprachgeschichte und Sprachgeschichtsschreibung, Soziolinguistik und Pragmatik, die Französische Revolution und die Idéologie. Es sind Texte, die einerseits ihre profunden Kenntnisse der einzelnen Themenbereiche zeigen, andererseits aber deutlich machen, dass sie ihren Forschungsgegenstand nie isoliert betrachtete, sondern stets Verbindungslinien - sowohl innerhalb der Romanistik als auch interdisziplinär - schuf. Ihr originelles, traditionsbegründendes und zugleich brückenschlagendes Denken lebt in diesen Texten. Der Umfang und die Vielfalt ihres Werkes lassen sich freilich nicht in den engen Grenzen eines Bandes abbilden, ein vollständiges Schriftenverzeichnis von Brigitte Schlieben-Lange rundet daher diese Auswahl ab und gibt einen Überblick über ihre Arbeit. Die Zusammenstellung der Artikel folgt drei Kriterien: Zum einen ging es uns darum, die thematische Bandbreite des Schaffens von Brigitte Schlieben- Lange nachzuzeichnen. Zum Zweiten galt es, bekannte und weniger bekannte, nicht zuletzt auch schwer zugängliche Artikel auszuwählen, schließlich sollten noch nicht publizierte Texte in den Band aufgenommen werden. <?page no="12"?> XII Dem Denken Raum geben - Einleitung der Herausgeber Die beiden bislang unveröffentlichten Beiträge sind der Ideologen- Rezeption in Spanien und Italien sowie der Sprachgeschichte des brasilianischen Portugiesisch gewidmet. Der erste Beitrag, Grammaire idéologique et logique scolastique, basiert auf dem Manuskript eines Vortrags, den Schlieben-Lange im Herbst 1998 in Cerisy gehalten hat und zu dessen Überarbeitung für den Druck es leider nicht mehr kam. Er entstammt einem Kernbereich des wissenschaftlichen Interesses und Schaffens von Brigitte Schlieben-Lange, der Sprachtheorie der Idéologues, einer Gruppe von (Sprach-)Philosophen der Spätaufklärung, denen sie sich auch als Leiterin zweier DFG-Projekte widmete. 1 Neben der Vorstellung methodologischer Überlegungen zu Serie, Diskursanalyse, Klassifikatoren (Selbst- und Fremdklassifikation), Intertextualität etc., die ja auch zu wissenschaftshistorischen Leitfragen in den beiden genannten DFG-Projekten geworden waren, geht der Artikel vor allem der Frage nach, wie sich die unterschiedliche Rezeption ideologischer Sprachphilosophie und Grammatiktheorie in Spanien und Italien erklären lässt. Schlieben-Lange macht hierfür unter anderem die jeweils historischen, geistesgeschichtlichen und letztlich bildungspolitischen Voraussetzungen in den beiden Ländern verantwortlich - zu denken wäre etwa an die starke Tradition der scholastischen Logik in Spanien. Der Vortragsstil des Beitrags wurde bewusst beibehalten, auch wurden die von Brigitte Schlieben-Langes Hand angefertigten Schaubilder, die der damals in Cerisy verteilten Tischvorlage entstammen, in den Aufsatz integriert - nicht zuletzt auch deshalb, weil Schlieben-Lange bei den Vorbereitungen für die Drucklegung der Cerisy-Akten darauf bestanden hatte, dass die Graphiken als Faksimile übernommen werden sollten. Im zweiten Beitrag, Das Portugiesische im Mund der schwarzen Amme, werden die Hauptlinien von Gilberto Freyres Interpretation der Geschichte des brasilianischen Portugiesisch rekonstruiert und analysiert, wobei das Werk Freyres nicht nur inhaltlich, sondern auch in seiner sprachlichen Gestaltung diskutiert wird. Der Text basiert auf dem Manuskript eines Vortrags, den Schlieben-Lange am 14. Januar 1999 im Rahmen der Studium Generale-Ringvorlesung Brasilien - Entwicklungsland oder tropische Großmacht des 21. Jahrhunderts? an der Universität Tübingen gehalten hat. Es handelt sich um einen nationalen Diskurstraditionen gewidmeten Beitrag, der die enge, unauflösliche Verbindung zwischen Sprachgeschichte, 1 „Ideologenrezeption“ Universität Frankfurt/ Main 1986-91; „Diskursformation: Die Grammaire générale an den Ecoles centrales (1795-1803)“ Universität Tübingen 1997 bis zu ihrem Tod. In den Jahren 2004-2009 fand das Ecoles centrales-Projekt seinen Abschluss (Corpus de la Grammaire générale dans les Écoles centrales, 1795-1802) unter der Leitung von Jürgen Trabant und Ilona Pabst an der FU Berlin, vgl. hierzu: http: / / www.geisteswissenschaften. fu-berlin.de/ v/ grammaire_generale/ Corpus/ index. html [15.10.2010]. <?page no="13"?> Dem Denken Raum geben - Einleitung der Herausgeber XIII Sprachwissenschaftsgeschichte und Sprachgeschichtsschreibung aufzeigt, mithin um einen für Schlieben-Langes Arbeitsweise typischen Beitrag. Eine Skizze der brasilianischen Varietät des Portugiesischen und ihrer Geschichte, die die Fragen der Periodisierung und der Normierung andeutet, stellt den ersten Teil des Beitrags dar. Der zweite Teil dringt dann direkt zum Kern von Freyres Theorie vor: Behandelt werden größere Passagen eines seiner wichtigsten Werke, Casa-Grande e Senzala (1933), das als ein „Gründungsdiskurs der brasilianischen nationalen Identität“ interpretiert wird (Schlieben-Lange 2010, 311 2 ). ‚Mischkultur‘ und ‚Mischsprache‘ sind die Schlüsselbegriffe Freyres zur Entstehung der brasilianischen Gesellschaft und der Herausbildung des brasilianischen Portugiesisch. So wie die brasilianische Gesellschaft und Kultur als Ort der Vermischung von Portugiesen und Afrikanern interpretiert werden, „ist die brasilianische Sprache, die von Gilberto Freyre a nossa lingua nacional oder brasileiro genannt wird, eine Mischsprache: das Portugiesische im Mund der schwarzen Amme.“ (Schlieben-Lange 2010, 340) Sprachlich wird eine solche Theorie durch die Verwendung eindrucksvoll sinnlicher und naturevozierender Bilder dargestellt sowie durch lexikalische und grammatische Gegenüberstellungen, die stets im Zeichen einer besonderen Verbindung stehen, einer Verbindung, deren konstituierende Gegensätzlichkeit nicht aufgelöst, sondern dialektisch aufgehoben wird: „Die beiden Lebenswelten sind miteinander verknüpft, sind ineinander verschlungen. Es gibt im Grunde nur eine Lebenswelt mit zwei Polen, eine brasilianische Persönlichkeit mit zwei gleichermaßen gegensätzlichen wie harmonisierenden Hälften.“ (Schlieben-Lange 2010, 341) In einem Interview mit Helen Leuninger 3 nach ihrem linguistischen Werdegang befragt, machte Brigitte Schlieben-Lange selbst deutlich, wie ihre Forschungsthemen zusammenhängen und sich eines zum andern fügte. Ihre Studienzeit sei geprägt gewesen von einer traditionell philologischen Ausbildung einerseits und einer Hochphase des europäischen Strukturalismus andererseits. Schon während ihres Studiums habe sie sich zudem sehr für das Okzitanische und allgemein für Minderheitensprachen interessiert. Zurecht kann man diesen Schwerpunkt als jene Konstante betrachten, aus der sich die weiteren Entwicklungen ihrer Gedankenwelt ergeben haben. Denn das Interesse am Okzitanischen und an der spezifischen sprachlichen und politischen Situation dieser Sprache habe sie - so Schlieben-Lange in besagtem Interview - zur Soziolinguistik und zur Beschäftigung mit der Französischen Revolution gebracht. Und diese bei- 2 Sämtliche Verweise auf Schlieben-Lange 2010 beziehen sich auf den vorliegenden Band. 3 Vgl. Schlieben-Lange, Brigitte (1990): Interview: „Die Französische Revolution: Ein Kampf der Wörter,“ in: Frankfurter Linguistische Forschungen 9, 89-104. <?page no="14"?> XIV Dem Denken Raum geben - Einleitung der Herausgeber den im Werk Schlieben-Langes oftmals untrennbar miteinander verbundenen Bereiche sollten weitere wichtige Schwerpunkte ihres Schaffens darstellen: „So bin ich dann bei der Französischen Revolution gelandet. D.h. also, dieses Interesse für die Minderheiten über die Soziolinguistik über die Einstellungsforschung hat mich dann zur Französischen Revolution, also wieder zu historischer Arbeit zurückgebracht, und damit habe ich mich eigentlich so die letzten zehn Jahre beschäftigt; und zwar einerseits unter sprachpolitischen Gesichtspunkten […] und andererseits unter sprachwissenschaftsgeschichtlichen Gesichtspunkten.“ (Schlieben-Lange 1990, 91) Als erstes Zeugnis von Schlieben-Langes Beschäftigung mit der Französischen Revolution kann Von Babel zur Nationalsprache gelten, wo die oben beschriebene Einbindung der sprachhistorischen Thematik in die soziolinguistische Diskussion der 1970er Jahre, aber auch der Anschluss an die Thematik der Minderheitensprachen und -sprecher exemplarisch gelang. Die Jahre um das Bicentenaire können auch bei Brigitte Schlieben-Lange als eine Hochphase der Beschäftigung mit der Sprachpolitik und Sprachphilosophie der Französischen Revolution betrachtet werden. Während sie im Aufsatz über die indétermination des mots zur Erforschung der historischen Semantik und der Wissenschaftsgeschichte der Idéologues beigetragen hat, sind die beiden Aufsätze Die Sprachpolitik der Französischen Revolution und Die Namen von Raum und Zeit der jakobinischen Uniformierungstendenz gewidmet. Die Sprachpolitik der Französischen Revolution versucht dies in einem eher populärwissenschaftlichen Duktus; das revolutionäre Grundprinzip der uniformité wird in den Mittelpunkt der Untersuchungen gestellt. Schlieben- Lange kündigt gegen Ende dieses aus einer Ringvorlesung hervorgegangenen Aufsatzes eine eingehende Beschäftigung mit der revolutionären Kalender- und Nomenklaturreform an. Dies wurde dann in Die Namen von Raum und Zeit eingelöst, wo detailliert auf den Facettenreichtum und die sprachliche Bedeutung der Gestaltung von Wirklichkeit in der Französischen Revolution eingegangen wird. Brigitte Schlieben-Langes Blick auf die Minderheitensprachen wiederum verbindet Sprachgeschichte und politische Geschichte, interne und externe Perspektiven, so etwa in ihrem der Entwicklung und Bedeutung des Okzitanischen gewidmeten Beitrag Das Okzitanische zwischen Katholizismus und Reformation. Basis sind philologische Erhebungen zur konfessionellen Schriftlichkeit. Einmal mehr werden die Wechselfälle der Geschichte deutlich: das Französische als Nationalsprache, so Brigitte Schlieben-Lange, sei auch Sprache der schriftgeprägten Reformation. Zu Zeiten der Revolution seien es dann häufig reformierte Autoren gewesen, die für eine Wiederbelebung des Okzitanischen eintraten, und ebenso spielten protestantische Intellektuelle eine große Rolle in den Regionalbewegungen der 1960er und 1970er Jahre. Der Artikel schließt mit zwei Fragen, die viel Raum zur Diskussion lassen: „War die protestantische Schule mit ihrer Erziehung zu <?page no="15"?> Dem Denken Raum geben - Einleitung der Herausgeber XV Schriftlichkeit und Französisch doch nicht effektiv genug? Oder aber hat sich das protestantische Bewußtsein in der longue durée in ein protestantischprotestierendes Selbstbewußtsein gewandelt, das sich auch gegen die zentralstaatliche Bevormundung richtet, auch wenn die Einheit von Zentralstaat und Schriftsprache einmal gerade den Weg des Protestantismus in die Moderne leitete? “ (Schlieben-Lange 2010, 151) Wie die Wechselfälle der Geschichte, Dekadenz und Renaissance, als Paradigma für die Geschichtsschreibung der Minderheitensprachen profiliert werden können, stellt Brigitte Schlieben-Lange anhand eines Vergleichs zwischen Okzitanisch und Katalanisch dar in Wie kann man eine Geschichte der (Minderheiten-)Sprachen schreiben? Gerade im Kontrast zeigt sich, wie unterschiedlich sich die Sprachen entwickelt haben und welche strukturellen Aspekte jeweils entscheidend für diese Entwicklungen waren. Einmal mehr werden mit dieser Diskussion eine Reihe von Themen und Fragestellungen deutlich, die sich durch Schlieben-Langes ganzes Werk ziehen und immer wieder aufgegriffen werden: Der Begriff der Epoche und des Diskurses, die Frage der Traditionen des Sprechens und der Möglichkeiten von Periodisierungen. Im Zusammenhang einer Linguistik der Minderheitensprachen sind auch das Spannungsfeld von Varietäten und Dialekten sowie die Problematik der Kategorisierung und Abgrenzung von Sprachen zu sehen. Auch stellt Schlieben-Lange die Frage nach den historischen Bedingungen der Mündlichkeits-Schriftlichkeitsforschung und rezipiert in ihrem Aufsatz Les hypercorrectismes de la scripturalité in kritischer Weise das von Peter Koch und Wulf Oesterreicher bereit gestellte Modell des Nähe-Distanz-Kontinuums. Wie sprachliche Variation modelliert wird und inwiefern sie historisch bedingt ist, welche Modelle in der Reflexion über die romanischen Sprachen dabei schließlich zum Tragen kommen, zeigt Brigitte Schlieben-Lange in ihrem Beitrag Per distantiam locorum. Im Bereich der französischen Kultur, so ein Ergebnis ihrer Untersuchung, werde deutlich, dass der Blick für sprachliche Vielfalt und Variation sukzessive verstellt worden sei, was auch in der modernen sprachwissenschaftlichen Diskussion seinen Niederschlag finde. Sprachgeschichte und Sprachwissenschaftsgeschichte sind an diesen Stellen eng miteinander verknüpft. Die wissenschaftsgeschichtliche Dimension spielt im Spätwerk von Brigitte Schlieben-Lange eine immer gewichtigere Rolle, zum einen mit Blick auf die konkrete Genese und Entwicklung der Idéologie als einer Forschungsrichtung oder Schule, zum anderen auf der Metaebene hinsichtlich der grundlegenden Möglichkeiten der Erfassung und Beschreibung von wissenschaftsgeschichtlichen Prozessen. Hier wird der Begriff des Diskurses für sie wesentlich: Über die Notwendigkeit des Diskurs-Begriffs in der Sprachwissenschaftsgeschichte ist ihr Programm überschrieben. Der Diskurs-Begriff habe deutliche Vorteile gegenüber anderen Beschreibungsgrößen, wie etwa dem Begriff des Paradigmas, den sie im Bereich der Sprachwissenschaft für problematisch hält, da er eine „Be- <?page no="16"?> XVI Dem Denken Raum geben - Einleitung der Herausgeber arbeitung von Gleichzeitigkeiten und Ungleichzeitigkeiten, die doch in der Geschichte aller Kulturgegenstände so wichtig sind“, ausschließe. In für sie typischer, offener Weise fährt sie fort: „Wenn ich nun für die Arbeit mit dem Diskurs-Begriff plädiere, so tue ich dies in vollem Bewußtsein, daß er - in anderer Hinsicht - nicht minder problematisch ist als der Paradigma-Begriff.“ (Schlieben-Lange 2010, 189) Brigitte Schlieben-Lange skizziert weiter wesentliche Eckpunkte, die ihren diskursiven Zugriff ausmachen. Eine Weiterentwicklung und Operationalisierung des Begriffs stellt sie als Desiderat in den Raum. Die Forschungsarbeit und theoretische Diskussion im Bereich der Minderheitensprachen ist häufig zurückverwiesen auf ein philologisches Textstudium im besten Sinne. Ein besonderes Interesse Schlieben-Langes galt hierbei den mittelalterlichen Grammatiktraktaten - wie dem katalanischen Torsimany - und immer wieder dem altokzitanischen Flamenca-Roman: Wer sie über diesen Text sprechen hörte, konnte viel von ihrer Begeisterung und Lust am Lesen und Analysieren spüren. Zur philologischen gesellte sich die theoretische Sichtweise, die auf der einen Seite ihre Interpretation des Torsimany in die Forschungen zur Grammatiktheorie und Kategorisierung einbindet, auf der anderen Seite den berühmten Dialog - Ai las! - Que planhs? … - aus der Flamenca vor dem Hintergrund moderner Kategorien und Ansätze aus dem Bereich der Pragmatik beschreibt. Diesen Zugang einer letztlich historisch gewendeten Pragmatik hatte Schlieben-Lange ja auch in ihren Traditionen des Sprechens (1983) ausführlich theoretisch dargelegt. Brigitte Schlieben-Lange war von der Notwendigkeit überzeugt, die - wie sie sagte - in ihren Anfängen stark universalistisch orientierte Pragmatik historisch zu vertiefen; eine Position, die sie in mehreren Aufsätzen aus den 1970er Jahren sowie später in ihrer Analyse der Theorie des Kommunikativen Handelns von Habermas bekräftigte. Es sind die Jahre, in denen Schlieben- Lange zu der Entstehung und Verbreitung der Beschäftigung mit der Pragmatik als linguistischer und romanistischer Disziplin in Deutschland entscheidend beitrug. Die Skizze Perlokution - die dem, „falls es einen gibt“, „genuinen Gegenstand“ der Pragmatik gewidmet ist - ist ein interessanter historischer Zeuge ihres Engagements: „Die linguistische Pragmatik beginnt sich zu konstituieren als Beitrag zur Sprachwissenschaft, der hermeneutische und handlungstheoretische Ansätze vereint. Wo nun genau der Gegenstandsbereich einer solchen linguistischen Pragmatik liegt, ist keineswegs völlig geklärt.“ (Schlieben Lange 2010, 1). Auch hier wird ihre die Grenzen der Disziplinen überschreitende Arbeitsweise evident: Gerade am Beispiel der perlokutiven Akte deutet sie die Beziehungen zu den angrenzenden Wissenschaftsbereichen an, zur Soziologie und zur Textlinguistik, zur Rhetorik und Medienforschung aber auch zur Psycholinguistik, Psychologie und zur Theorie der Psychoanalyse. <?page no="17"?> Dem Denken Raum geben - Einleitung der Herausgeber XVII Mit ihren Überlegungen zu Sprache und Kommunikation stößt Schlieben- Lange zugleich in anthropologisch zentrale Bereiche vor. Denn Sprache und Kommunikation sind menschlich, sie machen den Menschen erst zum Menschen, sie sind zugleich individuelle und soziale, universale und historische Realitäten. Sie sind die ‚geteilten‘ Realitäten des ‚Ich‘ und des ‚Alter‘, des ‚Du‘. Humboldts Sprachtheorie spielt eine zentrale Rolle in den theoretischen, ebenso wie in den hochschulpolitischen Schriften Schlieben-Langes. Als prägende Elemente sind in mehreren der hier versammelten Arbeiten - etwa in Alterität als sprachtheoretisches Konzept - Reflexionen über die idealistische Sprachphilosophie Humboldts zu finden. Diese lässt sich durch die Definition der Sprache als Arbeit des menschlichen Geistes, als „bildendes Organ des Gedankens“ charakterisieren, aber zugleich auch durch ihre dezidiert dialogischen Züge. Denn wenn Denken und Sprechen - überaus eng verbundene Gefährten -, um überhaupt erfasst und weiter entwickelt werden zu können, des Äußerlichen, des Materiellen bedürfen, so bedürfen sie klar auch der Alterität, der Differenz: „unsere eigenen Bedeutungen, die wir für unsere Beziehung der Welt und zu uns selbst brauchen, sind uns nur als geteilte gegeben […] Die Beschaffenheit der Sprachen als historisch veränderbare, immer wieder interaktiv zu bestätigende läßt es also als geraten erscheinen, ihre Alterität in der herausgearbeiteten Doppelgesichtigkeit zu reflektieren. Dies gilt a fortiori für das jeweilige Sprechen und für eine Linguistik des Sprechens. Im Sprechen ist der Andere als ähnlicher und ganz anderer unausweichlich. Wir sprechen nicht nur über die Welt, sondern auch immer mit einem Anderen. Wir müssen also zwei Typen von Grundaktivitäten durchführen, die konkret dann eng miteinander verwoben sind: die des Referierens und die des Alterisierens. Wir sprechen immer, so Bühler und weiterführend Coseriu in Determinación y entorno, unter Einbeziehung der Umfelder. Welches die jeweils relevanten Umfelder sind, welcher Grad der Determinierung erforderlich ist, können wir immer nur im Blick auf den/ die anderen entscheiden.“ (Schlieben-Lange 2010, 263) Schütz, Bühler, Mead, Cassirer, Habermas, Coseriu: Auch mit moderneren Denkgebäuden, welche die Symbolhaftigkeit der Welt des Menschen behaupten, beschäftigte sich Brigitte Schlieben-Lange konstant. Erneut zeigte sie dabei ihre Fähigkeit, Themen zu entdecken und ins Zentrum des wissenschaftlichen Gesprächs zu rücken, noch bevor sie zu ‚Klassikern‘ wurden: So widmete sie sich etwa dem Werk Ernst Cassirers schon zu einer Zeit, als von der später so genannten Cassirer-Renaissance noch gar keine Rede war. Begeistert las und diskutierte sie mit ihren Schülern Cassirers Konzeption von Sprache, Mythos, Erkenntnis und Kunst, seine Definition vom Menschen als animal symbolicum, seine originelle Weise, Wissenschaftsgeschichte und Geschichte der Philosophie zu schreiben. Die Wissenschaftsgeschichte lässt sich in mehrere Dimensionen aufgliedern: zum ersten die Geschichte wissenschaftlicher Theorien, die vielfälti- <?page no="18"?> XVIII Dem Denken Raum geben - Einleitung der Herausgeber ge Anknüpfungspunkte zu anderen Disziplinen wie der Philosophie, der Geschichtswissenschaft, Soziologie oder Ethnologie aufweist. Zum zweiten die Fachgeschichte im engeren Sinn, die Entwicklung der Romanistik. Drittens schließlich, und eng damit verbunden, die institutionelle Geschichte, die sich mit Verankerung und Ausstrahlung des Faches im universitären Kontext, auch im hochschulpolitischen Rahmen beschäftigt. Die Romanistik hat bereits recht früh ihre Fachgeschichte aufgearbeitet - und sie ist gerade aufgrund der Breite des Faches immer wieder in die Kritik geraten. Zunächst beschäftigte sich Brigitte Schlieben-Lange in der Préhistoire de la romanistique mit der Frühgeschichte unseres Faches und der Rolle, die die Méridionaux in diesem Zusammenhang spielten. Dieser Artikel war ein Beitrag zur belebten Debatte, die sie mit Wulf Oesterreicher um Vor- oder Frühgeschichte führte. Doch nicht allein für die Vergangenheit des Faches hat sie sich interessiert: Auf der Suche nach Antworten auf die Frage, ob die deutsche Romanistik ein Modell für die Zukunft sein könne, betrachtet Schlieben-Lange die historischen Anfänge des Faches und profiliert den Vergleich als bis heute wesentliches Charakteristikum der Romanistik. Eine gewisse Breite des Faches sei vor diesem Hintergrund auch künftig notwendig: „Man mag gegen die hier skizzierte Verteidigung der deutschen Romanistik Einwände erheben. Der gewichtigste und am häufigsten geäußerte Einwand ist der, daß im Zuge der Professionalisierung (die v.a. mit Spezialisierung identifiziert wird) ein solch ‚monströses‘ Gebilde wie die Romanistik nicht aufrechterhalten werden kann. Hier würde ich klar antworten, daß eine Identifikation von Professionalisierung und Spezialisierung nur teilweise richtig ist, und daß eine Wissenschaft, die ihre Identität ausschließlich aus Spezialisierung bezieht, in größter Gefahr ist, unprofessionell zu werden.“ (Schlieben-Lange 2010, 274) Die Diskussion über das Selbstverständnis ihres eigenen Fachs fügt sich in den Rahmen einer allgemeineren, für Brigitte Schlieben-Lange wichtigen Diskussion um die Hochschulpolitik ein. Ihr Beitrag Humboldts Idee der Universität im Lichte seiner Sprachtheorie zeigt wohl exemplarisch, dass hochschulpolitische Überlegungen von sprachtheoretischen und sprachgeschichtlichen nicht zu trennen sind. Auch hier wird Humboldt in einem neuen Lichte gesehen, seine Relevanz für die Gegenwart der Wissenschaft im Allgemeinen und der Universität im Besonderen beleuchtet und diskutiert. „Auffällig“ an Humboldts Universitätsideal ist für Schlieben-Lange, „daß an zwei wesentlichen Punkten der Soziabilität, dem geselligen Forschen ein entscheidendes Gewicht zugemessen wird: einmal im Austausch und der gegenseitigen Begeisterung zwischen den Kollegen, dann in der Verbindung von Forschung und Lehre, dem Gespräch mit den Jüngeren.“ (Schlieben-Lange 2010, 280) Humboldts Universität definiert sie im Wesentlichen als eine „Gesprächsuniversität“: Mit Humboldt hält sie fest, dass die Wissenschaft als etwas nie <?page no="19"?> Dem Denken Raum geben - Einleitung der Herausgeber XIX ganz Aufzufindendes, als etwas noch nicht ganz Gefundenes, als Tätigkeit und nicht als Produkt zu betrachten und zu behandeln sei. Sie betont zudem, dass, wenn es einerseits „immer das einzelne denkende Subjekt [ist], das die Wissenschaft vorantreibt“ - und zwar in eigener Verantwortung, in Einsamkeit und Freiheit -, andererseits „das geistige Wirken nur als ‚Zusammenwirken‘ gedeiht, zunächst kompensatorisch ergänzend (jeder einzelne kann nur Teilfragen bearbeiten und ist auf Ergänzung angewiesen, Community of Investigators), dann aber vor allem, um sich durch gelingende intellektuelle Tätigkeit gegenseitig zu begeistern.“ (Schlieben-Lange 2010, 279) Insofern scheint die ‚Einheit von Forschung und Lehre‘ die Wissenschaft besonders zu befördern: Würde sich der einsam-freie Forscher nicht immer wieder „ungezwungen und absichtslos“ mit seinen Kollegen zusammenfinden, und nicht seine Fragen und seine Resultate der Diskussion durch die Jüngeren aussetzen, würde die Wissenschaft ihr Ziel verfehlen. Dabei vergisst Brigitte Schlieben-Lange nicht, auch die Rolle des Staates im wissenschaftlichen Kontext hervorzuheben, denn es sei Aufgabe des Staates, einen Freiraum zu schaffen und diesen zu finanzieren. Gerade durch den Respekt und zugleich durch die Garantie dieses Freiraums könne der Staat von seinen Wissenschaftlern die besten Ergebnisse erwarten, die letztlich auch ihm nützen. Indem Schlieben-Lange die „Schizophrenie“ aufzeigt (Schlieben-Lange 2010, 277), die darin bestehe, dass das Humboldtsche Universitätsideal einerseits als überholt abqualifiziert wird, es andererseits für das Verhalten und die Entscheidungen in der Universität die Richtschnur bleibt, und gleichzeitig einen Ausweg aus dieser zwiespältigen Situation entwirft, erweist sich ihr Denken heute als aktueller denn je. Neben der Auswahl der Schriften von Brigitte Schlieben-Lange sahen wir uns auch vor die Aufgabe gestellt, die an verschiedenen Orten in verschiedenen Sprachen erschienenen Originalschriften - was die Formalia betrifft - behutsam zu vereinheitlichen. Wir haben die alte Rechtschreibung der deutschen Texte beibehalten, da sie orthographisch die Entstehungszeit der Artikel repräsentiert. Bei den Anmerkungen und bibliographischen Angaben jedoch haben wir uns für eine Vereinheitlichung entschieden: alle Endnoten wurden in Fußnoten konvertiert und vereinheitlicht, bibliographische Angaben nach dem Modell der Gesamtbibliographie gestaltet. Anmerkungen und Aktualisierungen der Herausgeber werden durch eckige Klammern im Text respektive in den Fußnoten angezeigt. Ein Hinweis auf die Erstveröffentlichung des jeweiligen Beitrags findet sich stets zu Beginn und ist mit (*) gekennzeichnet. Über die von ihr und von uns geliebten Themen hätten wir mit unserer Lehrerin gern weiter diskutiert. Oft hat uns ihr Rat und ihr Urteil gefehlt, oft haben wir uns überlegt, was sie zu den Fortschritten unserer Arbeit, zur <?page no="20"?> XX Dem Denken Raum geben - Einleitung der Herausgeber Herausbildung unserer wissenschaftlichen Profile, zu den neueren Entwicklungen und Tendenzen der Sprachwissenschaft - etwa was die Rolle der neuen Medien in Sprache, Kommunikation und Kultur angeht -, zu den Umwälzungen in der Hochschulpolitik, zu der Möglichkeit, wissenschaftliche Karriere und Familienleben zu versöhnen, gesagt hätte. Denn das Gespräch ist wesentlich für das Gelingen von Wissenschaft: Nur im Austausch mit anderen, im kollegialen wissenschaftlichen Diskurs, mit Jüngeren und Älteren, mit Menschen, die bereit sind, fest gefügte Grenzen zu überschreiten und sich auf Freiräume des Denkens, auf die Verschiedenheit der Weltansichten einzulassen, - so hat sie es uns vorgelebt - findet man Antworten. Wir freuen uns sehr, dieses Buch der Familie Schlieben, der wir herzlich verbunden sind, überreichen zu dürfen. Unser Dank gilt allen, die zum Gelingen des Bandes und der akademischen Feier, in der im Dezember 2010 des 10. Todestages von Brigitte Schlieben-Lange an der Universität Tübingen gedacht wird, in verschiedenster Weise beigetragen haben, insbesondere: Lony Dauber, Vitória Gondim Jacoby, Anna Hinz, Peter Hofmann, Johannes Kabatek, Peter Koch, Wulf Oesterreicher, Daniel Schmid und Marie Rose Schoppmann. Dem Verlag Gunter Narr danken wir für die Publikation und Mareike Reichelt für die kompetente und freundliche verlegerische Betreuung. Tübingen/ Wendlingen/ München, im Oktober 2010 Sarah Dessì Schmid, Andrea Fausel und Jochen Hafner <?page no="21"?> Perlokution*. Eine Skizze 1 Die linguistische Pragmatik beginnt sich zu konstituieren als Beitrag zur Sprachwissenschaft, der hermeneutische und handlungstheoretische Ansätze vereint. 2 Wo nun genau der Gegenstandsbereich einer solchen linguistischen Pragmatik liegt, ist keineswegs völlig geklärt. Man könnte z. B. erwägen, einerseits eine Theorie sprachlicher Handlungen in eine ‚allgemeine Handlungstheorie‘ einzubringen (vgl. dazu Maas 1972), andererseits handlungstheoretische Überlegungen für die ‚Sprachtheorie‘ fruchtbar zu machen 3 , und zum dritten als Bereich empirischer Untersuchungen eine Art ‚Interaktionslinguistik‘ (vgl. dazu Hartmann 1970, 35) zu schaffen, die es mit verschiedenen Typen von Kommunikation zu tun hätte 4 (Dialog, Gruppenkommunikation, Telefon, Text, Massenkommunikation‘). 5 Diese Dreiteilung der Ansätze der vorerst noch recht orientierungslosen Pragmatik erschiene mir als sinnvoll. 6 Das zur Zeit noch schwankende Selbstverständnis der linguistischen Pragmatik bezieht sich, wie gezeigt, auf das ‚Was‘ dieser neuen Richtung, die sich vor einer umfassenden ‚Linguistisierung‘ der Gesellschaftswissenschaften * Zuerst erschienen 1974 in: Sprache im Technischen Zeitalter 51, 319-333. 1 Diese Skizze ist im November 1972 geschrieben worden. Mittlerweile ist Dieter Wunderlichs Sammelband Linguistische Pragmatik (1972) erschienen mit seinen Beiträgen über ‚indirekte‘ Sprechakte und die Kategorie der ‚Intention‘. Beides müßte im Zusammenhang meiner Fragestellung diskutiert werden. Trotzdem möchte ich meine Skizze eines bestimmten Typs von Sprechhandlungen, der mir für unsere Kommunikationsformen als charakteristisch erscheint, auf der Folie von Habermas’ Idealklassifikation zur Diskussion stellen. Auf der Bezeichnung ‚Perlokutive Akte‘ würde ich nicht insistieren. Man könnte das, was ich meine, auch ‚Anti-Sprechakte‘ nennen. 2 Die Idee der pragmatischen Zeichenrelation wurde zunächst von den amerikanischen Pragmatisten (Peirce, Morris) entwickelt; ursprünglich waren beide Komponenten (Handeln, Verstehen) mitangelegt (Mead). 3 In diesem Rahmen wäre z. B. zu fragen, inwiefern Bedeutungen nicht ein statisches System bilden, sondern durch Sprechhandlungen konstituiert und verändert werden. 4 Diese Disziplin ginge damit über die weithin technizistische Kommunikationsforschung hinaus. 5 Existierende Wissenschaftszweige müßten gegeneinander abgegrenzt werden, nicht im Sinne einer umfassenden Linguistisierung, sondern einer Standortsbestimmung. 6 Diese Dreiteilung würde natürlich nicht eine Verbannung der Theorie aus dem empirischen Teil implizieren … <?page no="22"?> 2 Perlokution. Eine Skizze und einem Anspruch, den sie nicht einlösen kann, hüten und ihren eigenen Gegenstand erst finden und abgrenzen muß. Ebensosehr aber schwankt das Selbstverständnis in Hinsicht auf das ‚Wie‘. Zweifellos ist die linguistische Pragmatik ein Sammelpunkt verschiedenster wissenschaftstheoretischer Ansätze, deren Unvereinbarkeit oder zumindest Gegensätzlichkeit bis zu einem gewissen Grade, im gemeinsamen Bewußtsein der Modernität, überspielt wird, aber auf lange Sicht doch im Rahmen der linguistischen Pragmatik, soll sie Zukunft haben, diskutiert werden muß. Drei solche grundlegenden Fragen, die noch nicht ausdiskutiert sind, sollen vorweg klar formuliert werden. 1. Sprachkritik in philosophischer Absicht - Beschreibung grammatischer Sätze Die Theorie der Sprechakte, wie sie in der Ordinary Language Philosophy 7 entwickelt worden ist, scheint mir nicht ohne weiteres überführbar 8 in eine Sprachtheorie, die es mit der Erzeugung grammatischer Sätze aufgrund bestimmter Regeln zu tun hat. 9 Weithin war der Gegenstand der linguistischen Pragmatik aber die Beschreibung des Funktionierens performativer Verben 10 im Rahmen einer TG, die nur eine weitere Menge von Sätzen beschreibbar machen wollte, im übrigen aber ihre Prämissen nicht änderte. 2. Universalpragmatik - Empirische Pragmatik Sowohl Searles 11 als auch - nun ganz explizit - Habermas’ Sprechakttheorie (Habermas 1971) sind auf der Suche nach dialogkonstitutiven Universalien. 12 Die Bedingungen der Möglichkeit der Kommunikation in einer herrschaftsfreien Gesellschaft und ihre kontrafaktische Vorwegnahme in jedem Dialog sollen in einer Universalpragmatik (vgl. dazu Apel 1972) erfaßt werden. Der erkenntniskritische und utopische Anspruch läßt jede empirische 7 Als Einführung in die Problematik der Ordinary Language Philosophy eignet sich Bubner 1968. 8 Bei einer solchen Überführung ginge der kritische Ansatz der Ordinary Language Philosophy verloren. 9 Ein Überblick über die Entwicklung der TG zeigt ja, daß eine reine Syntax-Theorie zunächst durch die nachträgliche Einvernahmung der Semantik akzeptabler werden sollte. Nun soll solch ein zweiter Nachtrag in Richtung Pragmatik aus neuen Schwierigkeiten herausführen. 10 Der Begriff der ‚performativen‘ Verben (vs. ‚konstativ‘) wurde von Austin eingeführt. 11 Searle 1971 (darin: Das Prinzip der Ausdrückbarkeit, 34 ff.). 12 Zur häufigen Verwechslung von Generalien (solchen Zügen, die sich empirisch in allen bekannten Sprachen nachweisen lassen) und Universalien (Wesensbestimmungen von Sprache) vgl. Coseriu 1972 [1974]. <?page no="23"?> Handlung - Verstehen 3 Pragmatik, die gerade die Grenzen der Sagbarkeit in einer bestimmten historischen Sprache, in einer bestimmten historischen Gesellschaft thematisieren müßte, als pedester und affirmativ erscheinen. 13 3. Handlung - Verstehen Die linguistische Pragmatik befindet sich insgesamt in dem Zwiespalt, ob sie sich als Handlungswissenschaft oder als hermeneutische Wissenschaft verstehen soll. 14 Jede Reduktion auf eine der beiden Positionen erscheint mir als unvertretbar. 15 Auch eine klare Abgrenzung der beiden Bereiche, wie sie z. B. Habermas trifft 16 , scheint mir nur methodisch vertretbar zu sein. Vielmehr beruht ja alles Handeln auf Verstehen, auf einer vorgängigen Interpretation der Wirklichkeit in gesellschaftlich bereitgestellten, etwa sprachlichen, Formen 17 , die ihrerseits handelnd modifiziert werden können. 18 Den Habermas’schen Diskurs (Habermas 1971, 114-122) wird man also auch nicht als eine grundsätzlich andere Form der Kommunikation sehen dürfen, sondern lediglich als Explizitierung der Sinnfrage, der reflexiven Tätigkeit (vgl. Apel 1972), die - auch unexpliziert - allem Handeln unterliegt. Anders gesagt: Propositionaler und illokutiver Akt 19 sind im kommunikativen Handeln untrennbar verbunden, ebenso das Verstehen einer Äußerung und ihr Relevantwerden für den Handlungsfortgang. 20 Im Diskurs aber treten diese Dinge auseinander und werden selbst zum Gegenstand des Redens. Trotz dieses ungeklärten Selbstverständnisses der linguistischen Pragmatik (was Gegenstandsbereich und Anspruch einerseits und wissenschaftstheoretischen Status und Methode andererseits angeht) möchte ich auf eine Art von Sprachhandlungen hinweisen, die meines Erachtens einen zentralen Forschungsgegenstand der linguistischen Pragmatik ausmachen und doch 13 Es gibt tatsächlich Fälle von Untersuchungen von Alltagverhalten, bei denen man den theoretischen und kritischen Ansatz vermißt (auch wenn sie eine Fülle von wichtigem Material ausbreiten), so z. B. die Arbeiten von Erving Goffman. 14 Zur Fragestellung im allgemeinen: Habermas 1970. 15 Eine Verabsolutierung in Richtung auf die Handlungstheorie scheint mir bei Maas 1972 vorzuliegen. 16 Ansätze dazu in Habermas 1968. Zum Problem (und der Berechtigung der Habermas’schen Trennung) ausführlich Kilian 1971. 17 Zur Interpretation der Wirklichkeit in Common-Sense-Begriffen findet sich Wichtiges im Symbolic Interactionism, besonders bei Schütz 1962-1966, 1971 und Berger/ Luckmann 1970. 18 Ein Beispiel solcher Veränderungen von Kommunikationsformen im Handeln wäre die Entstehung der Gattung Teach-in. 19 Searle betont immer, daß beide Arten von Sprechhandeln eng verbunden sind, Habermas trennt zu stark. 20 Zur Unterscheidung ‚Verstehen‘ - ‚Akzeptieren‘ vgl. Maas/ Wunderlich 1972, 286 ff. Maas lehnt die von Wunderlich eingeführte Unterscheidung aufgrund seines handlungstheoretischen Ansatzes ab. <?page no="24"?> 4 Perlokution. Eine Skizze bisher durch die Maschen ihres weitgeknüpften Programms fielen: die ‚perlokutiven Akte‘. Falls es einen genuinen Gegenstand der linguistischen Pragmatik gibt, so wären sie es. Und mir scheint auch, als könnten von ihrer Untersuchung klärende Impulse für die allgemeine Problematik der linguistischen Pragmatik, wie sie oben kurz skizziert wurde, ausgehen. Kurz zur Geschichte des Begriffs der ‚perlokutiven Akte‘. Der Begriff wurde von Austin eingeführt 21 , und zwar zunächst zur besseren Abhebung des Sonderstatus der illokutionären Akte, um die es ihm vorrangig geht. Er umkreist den Begriff der Perlokution und versucht, ihn von drei Seiten in den Griff zu bekommen, durch die Bestimmungen intention, effect und convention: Saying something will often, or even normally, produce certain consequential effects upon the feelings, thoughts or actions of the audience, or of the speaker, or of other persons: and it may be done with the design, intention, or purpose of producing them (…) We shall call the performance of an act of this kind the performance of a perlocutionary act or perlocution. (Austin 1962, 101) Die Bestimmung durch intention verfolgt er nicht weiter, wohl aber die durch effect. Es erweist sich, daß auch illokutionäre Akte effects haben, und zwar solche ganz bestimmter Art: So the performance of an illocutionary act involves the securing of uptake […] So here are three ways in which illocutionary acts are bund up with effects; and these are all distinct from the producing of effects which is characteristic of the perlocutionary act. (Austin 1962, 116 f.) Die perlokutionären effects und consequences scheinen zufälliger zu sein, und so wird schließlich die ‚Konventionalität‘ zum wichtigsten Unterscheidungsmerkmal: „[…] yet the former (= ill.) may, for rough contrast, be said to be conventional, in the sense that at least it could be made explicit by the performative formula.“ (Austin 1962, 103) We distinguished in the last lecture some senses of consequences and effects in these connexions, especially three senses in which effects can come in even with illocutionary acts, namely, securing uptake, taking effect, and inviting responses. In the case of the perlocutionary act we made a rough distinction between achieving an object and producing a sequel. Illocutionary acts are conventional acts: perlocutionary acts are not conventional. (Austin 1962, 120) Bei seinen Versuchen zur Unterscheidung der beiden Arten von Sprechakten schlägt Austin einige Unterscheidungsprozeduren vor, die sehr wichtig sind: die Ersetzbarkeit der illokutionären Akte durch performative Verben (vgl. Austin 1962, 130), die Verwendung der illokutionären Akte in der 21 Einen guten Überblick über die Entwicklung der Sprechakttheorie und eine Aufstellung über die divergierende Terminologie gibt Wunderlich in Maas/ Wunderlich 1972, 116-161. <?page no="25"?> Handlung - Verstehen 5 1. Person Sg., die bei perlokutionären Akten nicht möglich ist (dagegen dort die Verwendung in Fragen) (vgl. Austin 1962, 124). Austins Bestimmung der illokutionären Akte wurde in einem wichtigen Aufsatz: „Intention and Convention in Speech Acts“ (Strawson 1964) von Strawson diskutiert. Wichtig für uns ist die Bestimmung der illokutionären Akte durch ihre overtness und essential avowability (Strawson 1964, 454). Es liegt nahe, die perlokutionären Akte 22 vor allem durch ihre essential nonavowability Strawson (1964, 454) zu bestimmen. Searle gibt zwar in seiner Sprechakttheorie (Searle 1971) zu, daß es so etwas wie perlokutionäre Akte gibt: Eng verbunden mit dem Begriff der illokutionären Akte sind die Konsequenzen oder Wirkungen, die solche Akte auf die Handlungen, Gedanken, Anschauungen usw. der Zuhörer haben. Zum Beispiel kann ich jemanden durch Argumentieren überreden oder überzeugen, durch Warnen erschrecken oder alarmieren, durch Auffordern dazu bringen, etwas zu tun, durch Informieren überzeugen (aufklären, belehren, anregen, dazu bringen, etwas zu begreifen). Die in dieser Aufzählung kursiv gedruckten Ausdrücke bezeichnen perlokutionäre Akte. (Searle 1971, 42) Er lehnt es jedoch ab, dieser Art von Sprechakten einen Sonderstatus zuzuerkennen - vor allem wehrt er sich gegen eine Reduktion illokutionärer Akte auf perlokutionäre Akte. 23 Er verschärft damit noch Austins Bestimmung der perlokutionären Akte als nicht-konventionell, indem er diese ‚zufälligen‘ und ‚nicht-klassifizierbaren‘ Sprechakte ausdrücklich aus seiner Untersuchung ausklammert. Maas und Wunderlich (1972) setzen sich erstaunlicherweise in ihrem Beitrag zur linguistischen Pragmatik auch nicht ausführlicher mit den perlokutiven Akten auseinander. Sie bestimmen sie als „Effekte oder Konsequenzen von vorangehenden illokutiven Akten“ (Maas/ Wunderlich 1972, 132). Sie führen einige perlokutive Akte und Unterscheidungsprozeduren zur Abgrenzung von illokutiven Akten an. 24 Sie sehen aber meines Erachtens nicht deutlich genug die Eigengesetzlichkeit perlokutiver Akte, die weit über die in ihrem Zusammenhang verwendeten illokutiven Akte hinausgeht. Nach diesem Exkurs in die Geschichte des Begriffs zurück zu einer genaueren Bestimmung unseres Untersuchungsgegenstands: Es geht also um eine ganz bestimmte Gruppe 25 von sprachlichen Handlungen, die nicht mit Hilfe von performativen Verben (Kennzeichen: „ich … hiermit“) (Strawson 22 - um die es Strawson nicht geht: Er macht die angeführten Aussagen in Hinsicht auf Intentionen. 23 Auf die interne Diskussion mit Grice soll hier nicht eingegangen werden. 24 Diese basieren auf Äußerungen von Austin 1962, 321. 25 Diese Präzision erfolgt gegen Austin, der mit den perl. Akten (im Gegensatz zu den ill. Akten) unbestimmte effects, die sich nicht weiter systematisieren lassen, da sie nicht konventionalisiert sind, sah. <?page no="26"?> 6 Perlokution. Eine Skizze 1964, 445) stattfinden, die aber gleichwohl als gesellschaftlich fixierte und angebotene Möglichkeiten bestehen. 26 Ihr Charakteristikum ist, daß sie im Gegensatz zu den illokutiven Akten, die Status und Modus der Äußerung festsetzen, Intention und Wirkung in einem beinhalten. Also ist die Form des performativen „ich-hiermit“ nicht möglich, da es ja zum Vollzug der perlokutiven Akte einer bestimmten Wirkung bedarf, die nicht vom Sprechenden mitgesetzt werden kann, ja deren Intendierung er meist nicht einmal zugeben könnte. 27 Was er, der Sprecher, tut, ist eine bestimmte Äußerung in einer bestimmten Intention. Was notwendig (damit von perlokutiven Akten die Rede sein kann) hinzukommen muß, ist die beabsichtigte Wirkung beim Hörer. Erst dann ist der perlokutive Akt vollständig. Diese Doppelgesichtigkeit kann uns gut eine Auffindungsprozedur für die gesuchten Sprechakte liefern. Es handelt sich immer dann um solche Akte, wenn die Intention ‚durchschaut‘ werden kann. 28 Es müßten also sprachliche Handlungen sein, die sich in Sätze folgenden Typs einfügen ließen: 29 „Jetzt verstehe ich. Er wollte mich also …“ „Willst Du mich eigentlich …“ „Sei nicht böse. Es war doch als (nicht als) … gemeint.“ Ich schlage nun folgendes vor: Sprechakte des in Frage stehenden Typs sollen gesammelt, klassifiziert und auf ihre Bedingungen in unserer bestehenden Gesellschaft hin untersucht werden. Abschließend werde ich dann versuchen, den Typ der perlokutiven Handlungen in der pragmatischen Gesamtproblematik, wie sie oben aufgezeigt wurde, einzuordnen. Es scheint mir naheliegend, bei der Darstellung der perlokutiven Akte von Habermas’ Klassifizierung der illokutiven Akte (Habermas 1971, 109- 114) auszugehen. Diese Anlehnung kann selbstverständlich nur den Status einer Diskussionsgrundlage haben - meist wird sie geradezu antitypisch ausfallen. Die Übertragung der Kategorien mag gewagt erscheinen, geht es doch bei Habermas um dialogkonstitutive Sprechakte, die in herrschaftsfreier Kommunikation unverzichtbar sind, und die - was eng zusammenhängt mit der antizipatorischen Annahme idealer Kommunikation - universell sind. 30 Unser doppelter Sprung: einerseits von unverzichtbaren Dialogkonstitutiva 31 zu Verfahrensformen, die Dialog und Diskurs gerade weithin ausschließen 32 , andererseits von der universellen auf die einzelgesellschaftliche Ebene je stark 26 Es geht hier um den Begriff der convention, wie ihn Austin und Strawson im Sinn von explizitem Übereinkommen verwenden. Perlokutive Akte wären demnach nicht konventionell. Dieser Begriff der Konvention scheint mir zu eng zu sein. 27 Non-avowability im Sinne von Strawson, vgl. oben. 28 Zur Unterscheidung ‚verstehen‘ - ‚durchschauen‘ vgl. unten. 29 Hinweise darauf finden sich bereits bei Austin, vgl. oben. 30 Vgl. Fn. 12; Diskussion vgl oben. 31 - die die Möglichkeit zum Dialog erst schaffen. 32 Non-avowability im Sinne von Strawson, vgl. oben. <?page no="27"?> Handlung - Verstehen 7 tabu- und hierarchiegebundener Sprechhandlungen, scheint aber doch sinnvoll: Es will mir nämlich scheinen, als lägen in den einzelnen perlokutiven Akten eben gerade Pervertierungen der dialogkonstituierenden Sprechakte vor, wie sie nur in nicht-herrschaftsfreier Situation auftreten können, insofern nämlich nicht Dialog hergestellt werden soll, nicht die Bedingungen für Diskurs geschaffen werden sollen: Die perlokutiven Akte sind ja wesentlich 33 nicht hinterfragbar; insofern auch, als die enge Bindung an Tabus und Hierarchien für ihr Vorkommen dringend nötig ist. Bei dem folgenden Versuch einer Systematisierung sollen zwei Fragen im Vordergrund stehen: 34 1) Läßt es sich vertreten, die perlokutiven Akte als Perversionen, quasi als ‚defizienten Modus‘ illokutiver Akte aufzufassen? Sind sie gerade dadurch gekennzeichnet, daß die ‚Intention‘ des Sprechers vom Hörer nicht als verbindlich ‚anerkannt‘ wird, da sie überhaupt nicht ‚erkannt‘ wird? Gehört es zum ‚Glücken‘ der perlokutiven Akte, daß sie nicht ‚durchschaut‘ (vgl. unten) werden? Ist der Effekt 35 gebunden an die Nicht- Sagbarkeit 36 , und wird er gefährdet, wenn der Hörer den perlokutiven Akt verbalisiert (wenn also Sätze dieser Art vorkommen: „Du willst mich ja nur …“)? 2) Inwieweit sind perlokutive Akte ‚konventionell‘? Daß keine Konvention im Sinne eines ‚Als-verbindlich-Anerkennens‘ der gleichen Formel vorliegt 37 , geht aus dem bisher Gesagten hervor. Konventionen in dem Sinne 38 , daß die Verfahren bis zu einem gewissen Grade gesellschaftlich verankert und vereinheitlicht sind und aufgrund dieser Tatsache auch richtig interpretiert werden 39 , liegen aber zweifellos vor. Daß sie möglicherweise flexibler sind 40 als die illokutiven Akte, soll zugegeben wer- 33 Es ist wohl die Frage möglich: „Willst du mich eigentlich …“; aber damit kann der perlokutive Akt bereits mißglücken. Die Abweisung erkannter perlokutiver Akte erfolgt ähnlich wie bei illokutiven Akten: „Du kannst mich nicht …“ - nur war diese Möglichkeit eben im Fall der perlokutiven Akte gerade nicht eingeplant. 34 Bei diesen Gesichtspunkten liegt eine Anlehnung an Strawsons Fragepaar intention - convention vor. 35 Bestimmung durch Austin. 36 Non-avowability im Sinne von Strawson, vgl. oben. 37 Vgl. Fn. 26. 38 In diesem Sinne sind alle sprachlichen Zeichen konventionell. 39 Bei der richtigen Interpretation gibt es einen gewissen Unsicherheitsfaktor; aber den gibt es auch bei Wortbedeutungen. Der Unterschied ist nur graduell. Eine Schwierigkeit ist die Abgrenzung gegen die Behabitives (Austin), eine Art von illokutiven Akten, gegen alle Formen des Rituals, vgl. unten. 40 Dazu gehört auch, daß sie nicht restlos verfügbar sind. Wohl gibt es bestimmte konventionalisierte Verfahren; aber es läßt sich nicht vorherbestimmen, ob solch ein Verfahren nicht auch dort vermutet wird, wo es gar nicht vorlag, z. B. bei Beleidigungen. <?page no="28"?> 8 Perlokution. Eine Skizze den, ebenso auch, daß sie häufiger gegen nicht-sprachliche Handlungen ausgetauscht werden können. 41 Die Habermas’schen Klassen von Sprechakten stehen in der nun folgenden Skizze in Anführungszeichen, da es sich ja gerade um ihre perlokutiven Verkehrungen handeln soll. Die meisten Schwierigkeiten macht eine Trennung zwischen ‚Kommunikativa‘ und ‚Konstativa‘, da in der negativen Form - es soll der Sinn als Äußerung oder Aussage gerade nicht offengelegt werden - der Unterschied zwischen Äußerung und Aussage häufig verwischt ist. A. KOMMUNIKATIVA Die erste Klasse von Sprechakten, die ich Kommunikativa nennen will, dient dazu, den pragmatischen Sinn der Rede überhaupt auszusprechen. Sie expliziert den Sinn von Äußerungen qua Äußerungen. Jede Rede setzt ja eine faktische Vorverständigung darüber voraus, was das heißt, in der Sprache zu kommunizieren, Äußerungen zu verstehen und möglicherweise mißzuverstehen. (Habermas 1971, 111) Der pragmatische Sinn der Rede kann aber auch nicht ausgesprochen werden. Dann läßt er sich entweder im oben zitierten Verständnis explizieren, oder aber er soll gar nicht ausgesprochen werden, sondern gerade im Unklaren gelassen werden. In diesem letzteren Fall kann es sich einfach um eine Unsicherheit des Sprechers handeln (die er zuweilen auch taktisch zu seinen Gunsten uminterpretieren mag 42 ); oder aber der Status der Rede soll intentional verschleiert werden. A.1 ablenken Kommunikation über einen bestimmten Gegenstand ist nicht erwünscht und soll entweder gar nicht zustande kommen oder abgebrochen werden. Solche Ablenkungsmanöver können glücken oder scheitern, etwa wenn das Gespräch vielleicht folgende Wendung nimmt: „Versuch doch nicht immer abzulenken, sondern sag mir klar, was mit X los ist! “ Dazwischen liegt die Möglichkeit, daß der Abzulenkende das Manöver zwar nicht durchschaut, sondern aus Neugierde, Taktlosigkeit usw. insistiert. 43 Dann ist zwar der perlokutive Effekt des Ablenkens nicht eingetreten, aber nicht an einem ‚Durchschauen‘ gescheitert. Ganz ohne Zweifel ist die Zahl nicht-sprachlicher Ablenkungstaktiken außerordentlich groß (man bietet etwas an, stößt etwas um …); zudem ist ‚Ablenkung‘ ein Verfahren, das auch von Handlungen usw. ablenken soll, 41 Hinweise auf die Ersetzbarkeit finden sich bereits bei Austin. 42 Z. B. Unterschied: ‚zitieren-meinen‘, ‚fragen-meinen‘. 43 ‚Insistieren‘ wäre einer eigenen Untersuchung wert. <?page no="29"?> Handlung - Verstehen 9 nicht nur von unliebsamen Kommunikationsgegenständen. Zweierlei sollte aber doch bedacht werden: 1) daß nicht-sprachliche Ablenkungsmanöver auch ihren ‚Sinn‘ haben, also von einer Handlungstheorie, die nicht ‚verstehend‘ ist, überhaupt nicht angemessen interpretiert werden können; 2) daß es ein breites Repertoire sprachlicher Ablenkungsmanöver gibt, die durchaus eine wohletablierte Klasse sprachlicher Verfahren bilden. 44 A.2 ausweichen Hier handelt es sich um eine zu ‚ablenken‘ komplementäre Sprechhandlung. Derjenige, der ausweicht, ist in der Defensive. Nimmt das Gespräch eine für ihn günstige Wendung, so wird er ‚aktiv‘ abzulenken versuchen. A.3 andeuten, zu verstehen geben Es ist schwer zu sagen, ob diese Art perlokutiver Handlungen nicht besser zur nächsten Gruppe zu rechnen wäre. Das liegt daran, daß es gerade nicht um offenliegende Äußerungen mit einem bestimmten Status geht (weshalb auch Habermas‘ Klassifizierung für unsere Zwecke nur antitypisch sein kann). Im Fall von ‚andeuten‘/ ‚zu verstehen geben‘ sollen gewisse Feststellungen, die tabuisiert sind (entweder innerhalb einer ganzen Gesellschaft oder Schicht oder aber nur innerhalb eines bestimmten Rollenverhältnisses), in abgeschwächter Form doch gemacht werden. Man kann ‚zu verstehen geben‘, daß man jemanden für einen Trottel hält, daß man sich bei einer Party entsetzlich gelangweilt hat, daß man einen Mitarbeiter unausstehlich findet, daß man wünscht, einen Besuch abzubrechen oder einen Besucher zum Gehen zu bewegen. Dazu gibt es mehrere Möglichkeiten: Man ignoriert die Vorschläge von jemandem, den man für nicht kompetent hält; man urteilt neutral statt positiv. Eine Schwierigkeit ist zweifellos, daß hier Wert darauf gelegt wird, daß der Hörer, sei es nun der Betroffene selbst, oder ein Dritter, mit dem man sich über den Betroffenen verständigt, die verklausulierte ‚uneigentliche‘ Rede ‚durchschaut‘ und damit versteht. Das bringt uns auf die grundsätzliche Frage, ob nicht zwischen solchen sprachlichen Handlungen unterschieden werden müßte, die dann geglückt sind, wenn sie nicht durchschaut werden, und jenen anderen, die dann geglückt sind, wenn eine Verständigung auf einer anderen Ebene gelingt. 45 44 In Hinblick darauf könnten Familientechniken untersucht werden, unangenehme Themen zu vermeiden, einen privaten Bereich zu bewahren. Prüfungsgespräche wären ebenfalls ein dankbarer Untersuchungsgegenstand. Bei Sitzungen und Konferenzen ist ebenfalls ein breites Spektrum von Ablenkungsmanövern vorhanden, ehe es zum Eklat kommt. 45 In diesem Zusammenhang müßte auch das Verfahren der ‚Ironie‘ neu gesehen werden. Vgl. unten. <?page no="30"?> 10 Perlokution. Eine Skizze Strawsons non-avowability hätte also zwei grundsätzlich verschiedene Seiten. Zweifellos sind Verfahren des ‚Zu-verstehen-Gebens‘ weitgehend konventionalisiert. Man denke nur an die Gutachtentechnik, wie sie überall praktiziert und - ohne explizite Anweisungen - auch richtig dechiffriert wird. Manche ‚Andeutungen‘ sind in einem Ausmaß stereotypisiert, daß sie fast als beliebig austauschbar mit dem Satz gelten können, der ‚zu verstehen gegeben‘ wird: eine Erklärung ‚man sei jetzt müde‘ wird wohl in den meisten Fällen als Abbruch eines Besuchs auch richtig interpretiert. 46 B. KONSTATIVA Die zweite Klasse von Sprechakten, die ich Konstativa nennen will, dient dazu, den Sinn der kognitiven Verwendung von Sätzen auszudrücken. […] Die Verwendung der Konstativa ermöglicht die Unterscheidung einer öffentlichen Welt intersubjektiv anerkannter Auffassungen von einer privaten Welt bloßer Meinungen (Sein und Schein) (Habermas 1971, 111 ff.) Was aber geschieht, wenn der Status von Sätzen nicht klargelegt wird, wenn nicht unterschieden wird zwischen ‚einer öffentlichen Welt intersubjektiv anerkannter Auffassungen‘ und ‚einer privaten Welt bloßer Meinungen‘? In diesem Fall wird es vermieden, den Status des Satzes überhaupt festzulegen; neben dem ‚ernsten Sprechen‘ in verbindlichen Sätzen taucht die Möglichkeit ‚unernsten‘ Sprechens auf. 47 Schon anläßlich der ‚Kommunikativa‘ haben wir uns gefragt, wie alles ‚doppelbödige‘ Sprechen, die Verständigung unter Eingeweihten auf einer zweiten Ebene zu interpretieren sei im Rahmen der Problematik der perlokutiven Akte. Es müßte diskutiert werden, in welchem Verhältnis Ironie zu solchen sprachlichen Handlungen steht, die gerade die Konstatierung vermeiden. Hierher würden solche sprachliche Handlungen gehören, wie ‚Spaß machen‘, ‚verschleiern‘, ‚im unklaren lassen‘. Sie sollen hier nicht ausführlicher behandelt werden. C. REPRÄSENTATIVA Die dritte Klasse von Sprechakten, die ich Repräsentativa nennen will, dient dazu, den pragmatischen Sinn der Selbstdarstellung eines Sprechers vor einem Hörer auszusprechen. Sie expliziert den Sinn des zum Ausdruckbringens von Intentionen, Einstellungen, Expressionen des Sprechers. […] Die Verwendung der Repräsentativa ermöglicht die Unterscheidung zwischen dem vollständig individuierten Wesen, auf dessen Anerkennung die sprach- und handlungsfähigen 46 Unter dieser pragmatischen Fragestellung müßten Goffmans Beobachtungen interpretiert werden. 47 Vgl. oben ‚zu verstehen geben‘. Austin scheidet diese Art der Rede von vornherein aus seiner Klassifikation aus. <?page no="31"?> Handlung - Verstehen 11 Subjekte wechselseitig mit dem Vollzug eines jeden Sprechaktes Anspruch erheben, und den sprachlichen Äußerungen, Expressionen und Handlungen, in denen das Subjekt erscheint und die ihrerseits zum Gegenstand von Aussagen werden können (Wesen und Erscheinung). (Habermas 1971, 112 f.) Es ist auffällig, welche große Zahl von hochkonventionalisierten Sprechhandlungen perlokutiver Art sich auf dem Gebiet der ‚Persondarstellung‘, und zwar der Darstellung des Angesprochenen, aufführen läßt. Bereits die Zahl der Repräsentativa illokutiver Art, die Habermas anführt als Mittel der Selbstdarstellung 48 , ist sehr hoch. Es liegt die Frage nahe, inwieweit es sich hier tatsächlich um Universalien des Dialogs handelt, oder ob Habermas nicht in seinen Entwurf des vollentwickelten Dialogs in einer utopischen Redegemeinschaft hochindividualisierte Dialogpartner einbringt und damit die Grundannahme einer personorientierten Gesellschaftsform einfließen läßt, deren Anspruch auf Universalität noch hinterfragt werden müßte. 49 Letztlich teile ich Habermas’ Meinung, daß ein Dialog, wie er ihn konzipiert, nur zwischen Individuen möglich ist, die vollständig in der Lage sind, ihre Intentionen und Einstellungen zu verbalisieren. Die Diskussion dieser Sorte von Sprechakten macht aber deutlich, welcher Art Habermas’ Universalien sind: Nicht um Generalien 50 aller Dialoge in allen Gesellschaftsformen handelt es sich, sondern um die idealtypische Formulierung der Bedingung der Möglichkeit von Dialog zwischen mündigen Individuen, wie er rein nur in einer herrschaftsfreien Redegemeinschaft möglich wäre, kontrafaktisch aber in jedem Dialog vorweggenommen wird. Die geschichtliche Bedingtheit dieser Utopie steht in Diskussion. Daß die Darstellung von Personen, Schmälerung oder Anhebung ihres persönlichen Werts, in unserer Gesellschaft eine ungeheure Rolle spielt, läßt sich an der Zahl und Art hochkonventionalisierter perlokutiver Akte zu diesem Zweck ablesen. Die Ambivalenz der illokutiven Repräsentativa, wie sie oben angedeutet wurde, wird durch die Zahl und Raffinesse ihrer Perversionen beleuchtet. Wenn in einer Gesellschaft soviel Wert darauf gelegt wird, den Dialogpartner als Person zu schmälern, zu annullieren, zu bestätigen, so müssen auch die Formen der Selbstdarstellung bis zu einem gewissen Grad gesellschaftsbedingt sein. 48 ‚Verbergen‘, ‚verheimlichen‘ in der nicht negierten Form würden bei uns wohl eher zu den ‚Konstativa‘ zählen. 49 Vgl. die Diskussion der ‚Kritischen Theorie‘ insgesamt. 50 Vgl. Fn. 12. <?page no="32"?> 12 Perlokution. Eine Skizze C.1 beleidigen Im Fall einer Beleidigung wird der Wert einer Person explizit angegriffen. Beleidigungen sind (oder waren zumindest) stark ritualisiert 51 und stehen damit in der Nähe der Sprechakte, die Austin „Behabitives“ (Austin 1962, 159 f.) nennt. In einer gewissen Gesellschaftsform, in der die persönliche Ehre einen Spitzenplatz in der Werthierarchie einnimmt, können das Beleidigungsritual und die Formen der Wiederherstellung der Ehre ähnlich konventionalisiert sein wie z. B. Taufe und Eheschließung. Solche Sprachhandlungen mit Beleidigungsmächtigkeit waren die Anzweiflung persönlicher Tapferkeit bei Männern und eines untadeligen Lebenswandels bei Mädchen. Beleidigungen müssen - wenn es sich um diese stark ritualisierte Form handelt - angenommen werden, um zu glücken. Werden sie übergangen und nicht verstanden, so ist die Folge, daß der Angesprochene aus der entsprechenden Gesellschaftsschicht ausgeschlossen wird, da er ihre Regeln nicht kennt oder nicht als gültig für sich anerkennt. All das rückt Beleidigungen in die Nähe illokutiver Akte, die explizit gemacht werden und die explizit angenommen werden. Trotzdem können wir in unserer Gesellschaftsform von einem perlokutiven Akt ‚beleidigen‘ sprechen, der nicht mehr so hochkonventionalisiert ist wie das „Behabitive“ (Austin) ‚beleidigen‘, sondern durch die Differenzierung der Werthierarchien und die Auflösung des Ehrbegriffs wesentlich subtiler sein muß und vor allen Dingen gerade wegen der Verbannung der persönlichen Ehre aus den offiziell vertretbaren Werthierarchien die „overtness“ (vgl. oben) und „avowability“ verloren hat. Die ehrenrührigen Punkte sind weithin in das Unterbewußtsein abgedrängt worden, so daß Beleidigungen, Sticheleien und Herausforderungen (vgl. die nachstehenden Ausführungen) nicht mehr unbedingt bewußt erlebt und durchschaut werden können. In einer Gesellschaftsform, wo es zu den höchstbewerteten Eigenschaften gerade gehört, umgänglich zu sein, offen für Kritik und grundsätzlich tolerant und bereit zur Diskussion, bildet sich eine neue, wiederum gesellschaftlich fundierte, subtilere Art der Beleidigung heraus, die gerade diese grundsätzliche - auferlegte - Toleranz in Zweifel zieht oder zu ihrem Gegenstand macht. Daneben sind aber durchaus noch die alten Themen in abgedrängter und ambivalenter Form weiter verwendbar, da die entsprechenden Wertvorstellungen noch nicht restlos abgebaut sind. Grundsätzlich arbeiten Beleidigungen durch Wertminderungen, die mit mangelnder Normenkonformität begründet werden. In einer Gesellschaft, die sich als offen und in einer breiten Normentoleranz fundiert geriert, geht die Offenheit und Durchschaubarkeit 51 Vgl. dazu ethnologische Untersuchungen, besonders der „Ethnography of Communication“, z. B. in: Gumperz/ Hymes 1972. <?page no="33"?> Handlung - Verstehen 13 verloren, wächst aber möglicherweise die Verletzbarkeit (durch den Mangel an Explizierbarkeit und Wiedergutmachungsmöglichkeiten). C.2 herausfordern In enger Nachbarschaft des Typs ‚beleidigen‘ liegt ‚herausfordern‘. Die ritualisierte Form ist ebenfalls abgelöst durch subtilere sprachliche Handlungen. Im Gegensatz zu ‚beleidigen‘ liegt hier eher ein perlokutiver Akt vor, der durchschaut werden kann („Du willst mich ja nur reizen“), oder der glükken kann, wenn sich jemand tatsächlich zu Unvorsichtigkeiten hinreißen läßt. C.3 hochnehmen Anders als im Fall von ‚beleidigen‘ und ‚herausfordern‘ wird dem Angesprochenen nicht ein Teil seines Verhaltens oder sein Verhalten als Ganzes zum Zweck der Wertschmälerung als nicht normenkonform vorgehalten, sondern seine Ernsthaftigkeit wird insgesamt angezweifelt, zum Vergnügen Dritter, bis das Objekt die Taktik 52 durchschaut und sich dagegen verwahrt, wobei diese beiden Phasen der Reaktion durchaus auseinanderliegen können. Die Anzweiflung der Ernsthaftigkeit in diesem Fall ist aber verhältnismäßig gutmütig und harmlos. Anders verhält es sich im Fall von C.4 bloßstellen Wieder wird vor Dritten eine Person als nicht annehmbar dargestellt. Diesmal allerdings ist es nicht möglich, den Akt harmlos als unernst abzutun - es werden massive Fehlverhalten und Verstöße gegen die geltenden Normen oder völlige Unvereinbarkeit mit den Wertvorstellungen der Gesellschaft - scheinbar unabsichtlich - offenbar gemacht. Ein Vergleich mit ‚beleidigen‘ zeigt, daß weitgehend die gleichen Themen zum Gegenstand gemacht werden können, daß im einen Fall aber der Angesprochene direkt in seinem Eigenwertgefühl beschnitten werden soll, im anderen seine ‚Minderwertigkeit‘ Dritten bekanntgemacht wird. Dieser Serie von Sprechakten, die in irgendeiner Weise den personalen Wert des Angesprochenen in Frage stellen, steht eine Reihe von anderen Sprechhandlungen gegenüber, die das Selbstwertgefühl des Angesprochenen heben oder wiederherstellen sollen (bei unterschiedlicher - altruistischer oder eigennütziger Motivation). Solche - näher zu analysierende - perlokutive Akte wären ‚trösten‘, ‚aufmuntern‘, ‚bestätigen‘, ‚Komplimente machen‘, ‚schmeicheln‘ (vgl. dazu Goffman 1971). 52 Vgl. ‚Spaß machen‘, als nicht person-, sondern themenbezogen. <?page no="34"?> 14 Perlokution. Eine Skizze D. REGULATIVA Die vierte Klasse von Sprechakten, die ich Regulativa nennen will, dient dazu, den Sinn der praktischen Verwendung von Sätzen auszudrücken. Sie expliziert den Sinn des Verhältnisses, das Sprecher/ Hörer zu Regeln einnehmen, die sie befolgen oder verletzen können. […] Die Verwendung der Regulativa ermöglicht die Unterscheidung zwischen empirischen Regelmäßigkeiten, die beobachtet, und geltenden Regeln, die intentional befolgt oder verletzt werden können (Sein und Sollen). (Habermas 1971, 112 ff.) Als perlokutive Akte, die den Regulativa entsprechen, wären solche Sprachhandlungen denkbar, die nicht das Verhältnis zu gewissen Regeln erst herstellen, sondern die Gültigkeit gewisser Regeln unbefragt annehmen und ihre Verletzung beanstanden. Solche Sprechakte wären etwa (ohne daß sie hier näher analysiert werden sollen) ‚beschimpfen‘, ‚verantwortlich machen‘, ‚zurechtweisen‘, ‚vorwerfen‘. Mit dieser Skizze sollte keine vollständige Systematisierung perlokutiver Akte vorgelegt werden; vielmehr sollte die Analyse einiger weniger Sprachhandlungen vor der antitypischen Folie eines Idealsystems einige Schwierigkeiten linguistischer Pragmatik überhaupt aufzeigen. 53 Meiner Ansicht nach ergeben sich für eine linguistische Pragmatik mehrere zentrale Fragen: 1. Zur hermeneutischen Komponente der Pragmatik Die Unterscheidung verstehen - akzeptieren, wie sie Maas/ Wunderlich (1972, 116-161) diskutieren 54 , müßte ergänzt werden durch eine Unterscheidung verstehen - durchschauen. Sprechhandlungen gelingen weithin nur dann, wenn sie nicht durchschaut werden. Das widerspricht der idealen und kontrafaktischen Annahme der grundsätzlichen Explizitierbarkeit aller Sprechhandlungen (Searle/ Habermas). Von solch einer grundsätzlichen Verschiedenheit von Intention/ Verbalisierung einerseits und Analyse andererseits geht Badura (1972) bei seiner Auffächerung der kommunikativen Kompetenz in eine taktisch-rhetorische einerseits und eine analytisch-hermeneutische andererseits aus. Diese Zweiteilung wird meiner Ansicht nach der Einheit der kommunikativen Kompetenz 55 nicht gerecht. Tatsache aber ist - und das zeigt die Analyse einzelner perlokutiver 53 Viele perlokutive Akte sind in unserer Klassifikation überhaupt nicht aufgetaucht: ‚überreden‘, ‚überzeugen‘, ‚unterstellen‘, ‚verunsichern‘, ‚beschwichtigen‘, ‚herunterspielen‘, ‚überraschen‘, ‚verblüffen‘, ‚jem. etwas vormachen‘, ‚aufmerksam machen‘. 54 Vgl. Fn. 20. 55 Die Einheit der kommunikativen Kompetenz ist meines Erachtens in ihrer Reflexivität begründet (vgl. Apel), und diese fällt bei der Annahme zweier getrennter Fähigkeiten durch die Maschen. <?page no="35"?> Handlung - Verstehen 15 Akte deutlich -, daß beide Faktoren in der gesellschaftlich-sprachlichen Wirklichkeit weit auseinanderklaffen können. 2. Zum empirischen Status der Pragmatik Eine linguistische Pragmatik hätte es also empirisch weithin mit dem Aufweis der Nicht-Sagbarkeit zu tun. Die Grenzen der Sagbarkeit werden u. a. bestimmt durch Schranken des Takts 56 und Achtung der Person. 57 . Der universalen Annahme der grundsätzlichen Verbalisierbarkeit stünde die empirische Untersuchung der vielfältigen Einschränkungen dieser Sagbarkeit gegenüber. Diese Einschränkungen können sich auf zweierlei Weise manifestieren: 58 a) Die Intention soll im dunkeln gelassen werden - ihre Aufdeckung kommt dem Mißlingen einer Sprechhandlung gleich. b) Die nicht-aussprechbaren Themen werden doch behandelt, allerdings in einer stark verklausulierten Form. Beidseitige Beherrschung dieses Hyper-Codes ist Voraussetzung des Gelingens. 3. Zur Konventionalität Die linguistische Pragmatik hätte zu unterscheiden zwischen solchen Sprechhandlungen, die offen konventionell sind und deren Verwendung Verbindlichkeiten für die Beteiligten beinhalten, die auch im Diskurs auf ihre Geltung hin befragt werden können 59 , und jenen anderen Sprechhandlungen, die ebenfalls konventionell (nicht arbiträr) sind, insofern, als bestimmte Gegenstände und Verfahren ihre bestimmten Effekte haben oder durchschaut werden können. Diese Sprechhandlungen entziehen sich jedoch weithin der intersubjektiven Diskutierbarkeit. Ihre Anwendung und ihr Verständnis 60 gehören aber auf jeden Fall zur Sprachhandlungskompetenz. Inwieweit und auf welche Weise diese Art von Sprechhandlungen auf gesellschaftlichen Schichtungen beruhen und nur im Rahmen bestimmter gesellschaftlicher Wertvorstellungen denkbar sind und funktionieren (vgl. Goffman 1971), müßte ein zentrales Thema linguistischer Pragmatik sein. 56 ‚Takt‘ wäre eine näher zu untersuchende gesellschaftliche Kategorie, die bei einer Common-Sense-Interpretation kommunikativen Verhaltens gewiß eine sehr große Rolle spielt. 57 Hier handelt es sich um Goffmans zentrale Kategorie, die er allerdings keiner Untersuchung unterzieht (vgl. Fn. 13). 58 Zur taktischen Dunkelheit, die noch vor dem Einsetzen perlokutiver Akte liegt, vgl. oben. 59 Was z. B. auch für Ritualien und ihre Bedingungen möglich ist. 60 Wobei hier Verständnis ambivalent ist: es kann im ‚Getroffensein‘ und im ‚Durchschauen‘ bestehen. <?page no="36"?> 16 Perlokution. Eine Skizze Am Beispiel der perlokutiven Akte läßt sich auch die Relation zu den angrenzenden Wissenschaftsbereichen andeuten: - zur Soziologie: Nur in Zusammenarbeit mit ihr und insbesondere mit der Wissenssoziologie, wenn sie dynamisch Innovation und Dezession 61 gewisser Wertvorstellungen untersucht, kann die Wirksamkeit von Sprechhandlungen erklärt werden. - zur Psycholinguistik: Der tatsächliche Effekt bestimmter Sprechhandlungen könnte empirisch durch Versuchsanordnungen, wie sie die Psycholinguistik zu entwickeln begonnen hat, nachgeprüft werden. - zur Psychologie und insbes. zur Theorie der Psychoanalyse: Grenzen der Sagbarkeit und Gründe dafür sowie Zwänge des Sagens müßten unbedingt in Zusammenarbeit mit psychologischen Richtungen untersucht werden. 62 - zur Rhetorik: Das Verhältnis der linguistischen Pragmatik zur literarischen und forensischen Rhetorik müßte überprüft werden. Die Rhetorik könnte in solch einer Zusammenarbeit sich ihrer Grenzen als präskriptive (forensisch) und deskriptive (literarisch) Wissenschaft bewußt werden und emanzipatorische Qualitäten freilegen. - zur Medienforschung: Fälle verzerrter Kommunikation werden von der ‚Massenkommunikationsforschung‘ bereits untersucht und müßten herangezogen werden. - zur Textlinguistik: Hier dürfte es am schwersten fallen, Grenzen zu ziehen. 63 Zwar können im Fall der perlokutiven Akte einzelne Sprachhandlungen isoliert und typisiert werden; grundsätzlich aber müßte sich die linguistische Pragmatik davor hüten, auf die Untersuchung längerer Sequenzen (Texte) zu verzichten; umgekehrt müßte auch die Möglichkeit im Auge behalten werden, Texttypen nach pragmatischen Gesichtspunkten zu klassifizieren. Bibliographie Apel, Karl-Otto (1972): „Die Kommunikationsgemeinschaft als transzendentale Voraussetzung der Sozialwissenschaften“, in: Neue Hefte für Philosophie 2/ 3, 1-40. Austin, John L. (1962): How to Do Things with Words, London: Oxford University Press. Badura, Bernhard (1972): „Kommunikative Kompetenz, Dialoghermeneutik und Interaktion. Eine theoretische Skizze“, in: Badura, Bernhard/ Gloy, Klaus (Hrsg.), 61 Ansätze zu einer solchen Innovations- und Dezessionsforschung finden sich besonders in der Agrarsoziologie (vgl. dazu Katz/ Levin/ Hamilton 1972) und der Volkskunde (besonders Hermann Bausinger). 62 Daß auch die Psychologie und die Psychoanalyse auf linguistische Begriffe verwiesen sind, zeigen einige Versuche zum Brückenschlag aus dieser Richtung. Vgl. Watzlawick/ Beavin/ Jackson 1971; Lorenzer 1970. 63 Zum Entwurf einer Textpragmatik: Dressler 1972. <?page no="37"?> Bibliographie 17 Soziologie der Kommunikation, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 246-264. Berger, Peter/ Luckmann, Thomas (1970): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit - Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt/ Main: Suhrkamp. Bubner, Rüdiger (Hrsg.) (1968): Sprache und Analysis, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Coseriu, Eugenio (1974): „Les universaux linguistiques (et les autres)“, in: Heilmann, Luigi (Hrsg.), Proceedings of the Eleventh International Congress of Linguists, Bd. 1, Bologna: Il Mulino, 47-73. Dressler, Wolfgang (1972): Einführung in die Textlinguistik, Tübingen: Niemeyer. Goffman, Erving (1971): Interaktionsrituale, Frankfurt/ Main: Suhrkamp. Gumperz, John/ Hymes, Dell (1971): Directions in Sociolinguistics - The Ethnography of Communication, New York: Holt, Rinehart and Winston. Habermas, Jürgen (1968): Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie‘, Frankfurt/ Main: Suhrkamp. Habermas, Jürgen (1970): Zur Logik der Sozialwissenschaften, Frankfurt/ Main: Suhrkamp. Habermas, Jürgen (1971): „Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz“, in: Habermas, Jürgen/ Luhmann, Niklas: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt/ Main: Suhrkamp, 101-141. Hartmann, Peter (1970): Aufgaben und Perspektiven der Linguistik, Konstanz: Universitätsverlag. Katz, Elihu/ Levin, Martin/ Hamilton, Herbert (1972): „Geschichte und Stand der Diffusionsforschung“, in: Badura, Bernhard/ Gloy, Klaus (Hrsg.), Soziologie der Kommunikation, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 25-56. Kilian, Hans (1971): Das enteignete Bewußtsein, Neuwied: Luchterhand. Lorenzer, Alfred (1970): Sprachzerstörung und Rekonstruktion, Frankfurt/ Main: Suhrkamp. Maas, Utz (1972): „Sprechen und Handeln - zum Stand der gegenwärtigen Sprachtheorie“, in: Sprache im Technischen Zeitalter 41, 1-20. Maas, Utz/ Wunderlich, Dieter (1972): Pragmatik und sprachliches Handeln, Frankfurt/ Main: Athenäum. Schütz, Alfred (1962-1966): Collected Papers I-III, Den Haag: Nijhoff. Schütz, Alfred (1971): Das Problem der Relevanz, Frankfurt/ Main: Suhrkamp. Searle, John (1971): Sprechakte, Frankfurt/ Main: Suhrkamp. Strawson, Peter (1964): „Intention and convention in speech acts“, in: Philosophical Review 73/ 4, 439-460. Watzlawick, Paul/ Beavin, Janet/ Jackson, Don (1971): Menschliche Kommunikation, Bern/ Stuttgart: Huber. Wunderlich, Dieter (1972): Linguistische Pragmatik, Frankfurt/ Main: Athenaeum. <?page no="39"?> Metasprache und Metakommunikation. Zur Überführung eines sprachphilosophischen Problems in die Sprachtheorie und in die sprachwissenschaftliche Forschungspraxis* Thema dieses Beitrags 1 sind ‚Metasprache und Metakommunikation‘, die Fähigkeit also des Menschen, ‚über seine Sprache und sein Sprechen zu sprechen‘. Sie selbst kann und soll zum Gegenstand wissenschaftlicher Beschäftigung werden. 2 Der Untertitel ‚Zur Überführung eines sprachphilosophischen Problems in die Sprachtheorie und in die sprachwissenschaftliche Forschungspraxis‘ soll meine Absicht erläutern. Er entspricht der Reihenfolge meines Vorgehens: 1) Darstellung der sprachphilosophischen Problematik im Umkreis von Metasprache und Metakommunikation; 2) Überführung des Problems in eine Sprachtheorie, die sich als Theorie einer hermeneutischen Wissenschaft versteht; 3) Konkrete Vorschläge für die sprachwissenschaftliche Forschungspraxis, die sich daraus ergeben könnten. 1. Das sprachphilosophische Problem Das Problem der Metasprache wurde erstmals explizit in der scholastischen Sprachphilosophie formuliert. 3 In der Auseinandersetzung zwischen pla- * Zuerst erschienen 1975 in: Schlieben-Lange, Brigitte (Hrsg.), Sprachtheorie, Hamburg: Hoffmann und Campe, 189-205. 1 Dieser Beitrag ist entstanden als Vortrag im Rahmen des Freiburger Linguistenkreises (Juni 1973); er wurde noch einmal auf dem Kolloquium des Österreichischen Linguistischen Programms über „Wissenschaftstheorie und Linguistik“ (Januar 1974, Salzburg) gehalten. Den beiden sich anschließenden Diskussionen sowie Gesprächen mit meinen Freunden und Kollegen Werner Stegmaier, Wulf Oesterreicher und Winfried Busse verdanke ich viele Anregungen. 2 Eine interessante Frage soll hier ausgeklammert werden, nämlich welche besonderen Regeln die Metasprache - oder besser das metasprachliche Reden, der discours métalinguistique - enthält (z. B. die Möglichkeit des substantivischen Gebrauchs sämtlicher Wortarten, bestimmte Fragetypen, vgl. dazu Schmidt-Radefeldt 1973). 3 Die Suppositionenlehre ist bereits bei Augustinus angelegt, besonders in De magistro, vgl. Coseriu 1969. <?page no="40"?> 20 Metasprache und Metakommunikation tonischer und aristotelischer Tradition wurde die Frage der ‚Bedeutung‘ in unglaublich differenzierter Weise gestellt. Ein zentraler Begriff in der mittelalterlichen Bedeutungsdiskussion ist der der suppositio. 4 Es handelt sich um die Frage, wofür ein denominatives Zeichen (z. B. ein Substantiv oder ein Pronomen) steht und in welcher Hinsicht und mit welcher ‚Voraussetzung‘ oder ‚Annahme‘ dieses Zeichen gebraucht wird. (Coseriu 1969, 134) Es geht also nicht einfach um die Verwendung eines Worts, sondern um bestimmte sehr abstrakte Bedingungen der Verwendung. Die wichtigste Unterscheidung, die hier im Mittelalter getroffen wird, ist die zwischen der suppositio materialis, in der Zeichen in ihrer Eigenschaft als Zeichen bezeichnet werden, der metasprachlichen Verwendung also (z. B. „homo est nomen“), und der suppositio formalis, in der Zeichen sich auf etwas Außersprachliches beziehen (z. B. „ille homo currit“), der objektsprachlichen Verwendung also. Die Geschichte dieser Unterscheidung und ihrer weiteren Entfaltung in der mittelalterlichen Sprachphilosophie von Wilhelm von Shyreswood über Petrus Hispanus bis Vinzenz Ferrer soll hier nicht weiter nachgezeichnet werden. Ein erstaunliches Faktum der Wissenschaftsgeschichte ist es, daß diese außerordentlich elaborierte Theorie so vollständig in Vergessenheit geraten konnte und daß die Tatsache, daß nicht nur Sprache ein Thema der Philosophie ist (und es auch weiterhin war), sondern daß die Möglichkeit des Sprechens über Sprache ein Kernpunkt aller Sprachphilosophie sein muß, erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder in den Blick kam. Mir will scheinen, daß diese 500jährige Verschüttung der Tradition in engstem Zusammenhang mit dem Primat der Bewußtseinsphilosophie zu sehen ist, daß Sprachphilosophie als Dienerin des zentralen Bewußtseinsthemas galt und daß die Problematik der Reflexivität, welche ja die Problematik der Metasprache letztlich ist, in das Bewußtseinsthema verlagert wurde. 5 So ist zwar oft festgestellt worden, daß die Philosophie im 20. Jahrhundert von der Sprachthematik beherrscht wird und daß die Sprachproblematik die Bewußtseinsproblematik abgelöst hat. Es müßte jedoch hervorgehoben werden, daß es bei dieser Ablösung vornehmlich um die Frage der Reflexivität, der Selbstrückbezüglichkeit, geht. So wird also das Problem der sprachlichen Reflexivität nach 500-jähriger 4 Einen knappen Überblick dazu gibt Coseriu 1969. Ausführliche Gesamtdarstellungen mit bibliographischen Hinweisen zu Einzelproblemen sind Bochénski 1956, Pinborg 1967, Pinborg 1972. 5 Gipfelpunkt dieser Verlagerung des Sprachthemas in das Bewusstseinsthema und gleichzeitig Beginn des Umschwungs zur Aufhebung des Bewusstseinsthemas im Sprachthema sind durch Hegel und Marx markiert. Die im folgenden angegebenen Stellen markieren diesen Umschwung: Hegel 1807/ 1970, VI B Ia; Hegel 1830/ 1970, §458 ff.; vgl. dazu Simon 1971, Liebrucks 1964-1970; Marx/ Engels 1845-46/ 1960, 356 f. <?page no="41"?> Das sprachphilosophische Problem 21 Unterbrechung wieder aufgenommen, und zwar zunächst in zwei radikal verschiedenen Ansätzen, deren Vermittlung kaum möglich schien. 6 Um noch einmal unsere Fragestellung an die moderne Philosophie zu verdeutlichen: Es geht nicht darum, festzustellen, ob die Sprache als Organon oder Petrifizierung des Bewußtseins thematisiert wird (das war auch im 19. Jahrhundert der Fall; vgl. Liebrucks 1964 ff.), sondern darum, ob die Problematik der Reflexivität nun vom Bewußtsein zur Sprache verlagert wird. 7 Die moderne Philosophie ging bei der Behandlung dieser Frage zwei zunächst grundsätzlich getrennte Wege: 1.1. Trennung von Objekt- und Metasprache bei den Logikern (Russell, Carnap u. a. 8 ) Durch die Unterscheidung einer objektsprachlichen und einer (oder mehreren) metasprachlichen Ebene soll die Reflexivität natürlicher Sprachen aus der Wissenschaftssprache eliminiert werden. Sie (= die Objektsprache) enthält keine sprachlichen Mittel, insbesondere keine Prädikate, die sich auf irgendwelche ihrer sprachlichen Gegenstände - Symbole, Formeln, Sätze, Ausdrücke - beziehen. Man braucht dann eine andere Sprache, die als Metasprache bezeichnet wird und in der über die Objektsprache gesprochen wird. (Frey 1965, 25) […] in der Unterscheidung von Objekt- und Metasprache haben wir ja die in der formalen Logik sich manifestierende reflexive Struktur der Sprache erkannt. (Frey 1965, 28) Es soll also getrennt werden zwischen Sätzen über Sachverhalte einerseits und der Einführung der Form dieser Sätze und den Urteilen über diese Sätze andererseits. Die Aporie dieses Verfahrens weist Wittgenstein am Ende seines Tractatus auf. Sein Leiterparadox meint genau diese Aporie: 6.53 Die richtige Methode der Philosophie wäre eigentlich die: nicht zu sagen, als was sich sagen läßt, als Sätze der Naturwissenschaft - also etwas, was mit Philosophie nichts zu tun hat -, und dann immer, wenn ein anderer etwas Metaphysisches sagen wollte, ihm nachzuweisen, daß er gewissen Zeichen in seinen Sätzen keine Bedeutung gegeben hat. Diese Methode wäre für den anderen unbefriedigend […], aber die wäre die einzige streng richtige. 6 Daß es bei beiden Ansätzen um ein ähnliches Problem geht, weist Apel 1965 und Apel 1967 nach; vgl. Fahrenbach 1970/ 1971. 7 Aus meinen Ausführungen klammere ich die Rolle der Sprachphilosophie Cassirers aus. 8 Vgl. dazu Heintel 1972; Simon 1971; Frey 1965. <?page no="42"?> 22 Metasprache und Metakommunikation 6.54 Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie - auf ihnen über sie hinausgestiegen ist. (Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.) Er muß diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig. (Wittgenstein 1921/ 1966) 9 1.2. Grundsätzliche Unhintergehbarkeit der Sprache (Hermeneutik) Für Heidegger gehört Sprache zu den unhintergehbaren Vorfindlichkeiten und bekommt damit quasi-transzendentalen Stellenwert. Sie ist für ihn grundsätzlich unbewußt gegeben. Damit wird Wittgensteins Aporie von der anderen Seite beleuchtet, nicht aber die reflexive Struktur der Sprache, wie sie die Logiker undialektisch in Objekt- und Metasprache auseinandergenommen hätten. Erst Gadamer entwickelt seine Hermeneutik innerhalb des transzendentalen Rahmens der Sprache. Ermöglicht wird das Verstehen und damit auch die Theorie des Verstehens, die Hermeneutik, durch die fundamentale Reflexivitätsstruktur des Bewußtseins und der Verständigung. Man mag noch so sehr betonen, daß das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein gleichsam in die Wirkung selbst eingelegt ist. Als Bewußtsein scheint es wesensmäßig in der Möglichkeit, sich über das zu erheben, wovon es Bewußtsein ist. Die Struktur der Reflexivität ist grundsätzlich mit allem Bewußtsein gegeben. (Gadamer 1960/ 1965, 324) Der ganze dritte Teil von Gadamers Wahrheit und Methode mit dem Titel Ontologische Wendung der Hermeneutik am Leitfaden der Sprache gilt dann gerade dem Aufweis, daß das wirkungsgeschichtliche Bewusstsein seinen Ort in der Sprache hat. Es ergibt sich also für Gadamer, daß die Sprache die reflexive Struktur des Bewußtseins teilen muß. Das Problem ist in Logik und Hermeneutik im Grunde das gleiche, nur wird es aus entgegengesetzten Richtungen angegangen (vgl. Apel 1965 und 1967). Im einen Fall wird die Reflexivität aus der Sprache durch die Einführung der Trennung von Objekt- und Metasprache auszutreiben versucht - doch beim unendlichen Regreß der denkbaren Metasprachen stößt man auf die unhintergehbare Umgangssprache, die ihrerseits alle Objektsprachen in sich schließt. Im anderen Falle ergibt sich das geschichtliche Bewußtsein als viel- 9 Dazu Habermas 1967/ 1970, 225: „Die in der Universalsprache erlaubten Sätze korrespondieren ausschließlich Sachverhalten, die, wenn sie existieren, Tatsachen in der Welt sind. Sätze, die, wie die Sätze des Tractatus, die logische Form ausdrücken sollen, unter der wir Sachverhalte sinnvoll darstellen können, beziehen sich reflexiv auf Universalsprache als solche und können deshalb ihr nicht angehören. Sie erfüllen nicht die logischen Bedingungen empirisch sinnvoller Aussagen. Indem sie das Unaussprechliche formulieren, machen sie auf den transzendentalen Stellenwert der Sprache aufmerksam“. <?page no="43"?> Überführung in die Sprachtheorie 23 fache Negation und Horizontverschmelzung im Rahmen der transzendentalen Sprache. 1.3. Vermittlung beider Positionen im Rahmen einer Transzendentalpragmatik (Apel) Beide Positionen sind vermittelt in Apels Versuch einer transzendentalen Pragmatik, wo das Sprachthema und besonders der Aspekt der Selbstrückbezüglichkeit in die transzendentale Frage eingelagert wird. 10 Die reflexiven Elemente lassen sich nicht aus der Sprache isolieren. Vielmehr ist die Reflexivität bereits durch das Nebeneinander verschiedener Sprachspiele mitgegeben 11 , die innerhalb des transzendentalen Rahmens der Umgangssprache bestehen. Die einzelnen Sprachspiele werden gerade in ihrer Reflexivität relativiert. 12 Darin liegt die Chance der Veränderung, daß die petrifizierten Normen bekannter Sprachspiele im Gespräch, also im Bekanntwerden mit neuen Sprachspielen, aufgelöst werden können. 13 Diese Chance der Veränderung hatte Wittgenstein in seinen Philosophischen Untersuchungen übersehen; aus ihr leitet Habermas seine Utopie des Diskurses ab (Habermas 1971). 2. Überführung in die Sprachtheorie 14 Soweit die Skizzierung der sprachphilosophischen Problematik im Umkreis von Metasprache und Metakommunikation. Wenn die Umgangssprache wesentlich durch ihre Reflexivität konstituiert ist, die sich in metakommunikativen Äußerungen manifestieren kann oder aber zumindest implizit immer mitvorhanden ist, so müßte es Aufgabe einer umfassenden Sprachtheorie sein, diese Tatsache an grundlegender Stelle zu berücksichtigen. Ehe ich dazu übergehe, Elemente einer solchen Sprachtheorie aufzuzeigen, sei noch vorausgeschickt, daß auf die Wichtigkeit der metasprachlichen Funktion der Sprache bereits mehrfach innerhalb der Sprachwissenschaft eindringlich hingewiesen worden ist. Einige Sprachwissenschaftler gehen soweit, die metasprachliche Funktion als Grundfunktion der Sprache zu 10 Vgl. die in Apel 1973 enthaltenen Aufsätze, insbes. Apel 1972 und Apel 1972/ 1974. Vgl. Simon 1971, 77 f. 11 Diese Idee war bei Gadamer und vor allem auch bei Winch angelegt; bei Wittgenstein kommt sie implizit in seinem Umschwung zur Spätphilosophie zum Tragen. 12 Vgl. dazu Frey 1965, Die Herkunft der Normen (109-112). Durch Teilnahme an jedem Sprachspiel werden Normen petrifiziert, die sich erst durch die Teilnahme an einem neuen Sprachspiel modifizieren lassen. 13 „Bewußtes Menschsein ist ohne unterredende Sprache, ohne Gespräch im allgemeinen Sinne, nicht möglich“ (Frey 1965, 62). Vgl. Frey 1973a, Frey 1973b. 14 Zum Begriff der Sprachtheorie: Oesterreicher 1975. <?page no="44"?> 24 Metasprache und Metakommunikation bezeichnen, und zwar vor allem aufgrund ihrer Bedeutung in sprachlichen ‚Grenzsituationen‘, bei Spracherwerb und Sprachverlust. Der Spracherwerb beim Kleinkind 15 vollzieht sich weithin metasprachlich, nämlich durch Feststellungen der Art, daß Verfahren und Bedeutungen im eigenen Gebrauch nicht mit dem der Erwachsenen übereinstimmen. 16 Die metasprachliche Fähigkeit liegt am Schnittpunkt von Kreativität und Sozialisation. Dieser Schnittpunkt beim Spracherwerb des Kleinkindes ist gekennzeichnet durch eine Phase ausgeprägter sprachkritischer Aktivität (vgl. Weisgerber 1972). Sprachverlust kann in einem bestimmten Fall Verlust der Fähigkeit zur Metasprache sein. Der Aphasiker nimmt in diesem Fall nicht mehr wahr, daß andere Menschen Sprache anders verwenden als er. Er setzt seinen Sprachgebrauch, seinen Idiolekt, absolut und kann ihn nicht mehr in der Kommunikation reflektieren, und das heißt: relativieren und modifizieren. 17 Daß der Verlust der Fähigkeit zu metasprachlichen Äußerungen nicht nur eine Form vollständiger Aphasie ist, sondern neurotisches und präneurotisches Verhalten weithin prägt, weisen Watzlawick u. a. Nach (vgl. Watzlawick u. a. 1967). Die Theorie des double bind 18 , die Schizophrenie und ihre Genese erklären soll, besagt gerade, daß Objekt- und Metaaussage einander negieren und keine Möglichkeit zur Auflösung auf der Metaebene besteht. 19 Diese 15 Das gleiche gilt auf einer anderen Ebene für den Fremdsprachenerwerb; vgl. Weinrich 1974. 16 Jakobson 1963, 218: „Tout procès d’apprentissage du langage, en particulier l’acquisition par l’enfant de la langue maternelle, a abondamment recours à des semblables opérations métalinguistiques“. Vgl. auch den Aufweis dieser Phase der Sozialisation (von der Privatsprache Eve zum Französischen) bei Tabouret-Keller 1969. 17 „Le recours au métalangage est une nécessité à la fois pour l’acquisition du langage et pour son fonctionnement normal. La carence aphasique de la ‚capacité de nommer‘ est proprement une perte du métalangage. Il est de fait que les exemples de prédication équationnelle vainement demandés aux malades cités plus haut sont des propositions métalinguistiques qui se rapportent à la langue française. […] Un aphasique de ce type ne peut ni passer d’un mot à ses synonymes et aux circonlocutions équivalentes, ni à ses hétéronymes, c’est-à-dire ses équivalents dans d’autres langues. La perte de l’aptitude polyglotte et la limitation à une seule variation dialectale d’une seule langue est une manifestation symptomatique de ce désordre. […] pour un aphasique qui a perdu la capacité de ‚commutation de code‘ (codeswitching), son ‚idiolecte‘ devient, à la verité, la seule réalité linguistique“ (Jakobson 1963, 54 f.). 18 Die ‚double bind theory‘ ist zuerst von Bateson u. a. 1956 entwickelt worden. 19 „1. Zwei oder mehrere Personen stehen zueinander in einer engen Beziehung, die für einen oder auch alle von ihnen einen hohen Grad von physischer und/ oder psychischer Lebenswichtigkeit hat. […] 2. In diesem Kontext wird eine Mitteilung gegeben, die a) etwas aussagt, b) etwas über ihre eigene Aussage aussagt und c) so zusammengesetzt ist, daß diese beiden Aussagen einander negieren bzw. unvereinbar sind. […] 3. Der Empfänger dieser Mitteilung kann der durch sie hergestellten Beziehungsstruktur nicht dadurch entgehen, daß er entweder über sie metakommuniziert (sie kommentiert) oder sich aus der Beziehung zurückzieht“ (Watzlawick u. a. 1967, 196). <?page no="45"?> Überführung in die Sprachtheorie 25 Grenzfälle sprachlichen Verhaltens sind nicht als extreme Möglichkeiten oder Kuriosa hier angeführt worden. Vielmehr müssen Theoriebildungen über ‚normales‘ Verhalten oft bei gestörtem Verhalten einsetzen, da dort die konstitutiven Elemente der untersuchten Verhaltensform in unübersehbarer Vergrößerung sich präsentieren. 20 Das bisher Skizzierte hätte für eine adäquate Sprachtheorie folgende Konsequenzen: 2.1. Es muß davon ausgegangen werden, daß Sprache sich gesellschaftlich konstituiert, daß sie nur im Dialog zum System wird. 21 Die Kompetenz des Sprechers ist wesentlich multilingual in dem Sinne, daß er aufgrund der reflexiven Struktur der Sprache, die in der metasprachlichen Funktion festgemacht ist und in metakommunikativen Äußerungen explizit gemacht wird, andere Sprachspiele erkennen und erlernen kann. Abzulehnen sind also alle Sprachtheorien, die eine homogene Kompetenz ansetzen, da sie sich aller Möglichkeiten zur Erklärung von Sprachwandel und Transzendierung von einzelnen Sprachspielen in Verstehensprozessen begeben und Jakobsons Aphasiker zum Ausgangspunkt ihrer weitergehenden Überlegungen machen. Daß die linguistische Kompetenz in der kommunikativen Kompetenz aufgehoben werden muß, ist in letzter Zeit vielfach gefordert worden. Diese Forderung muß aber für die Sprachtheorie noch radikalisiert werden: Nicht die ‚Anwendung‘ von Sprache in sozialen Situationen muß mitthematisiert werden, sondern die ‚Konstitution‘ der Sprache als System, wie sie sich in Dialog und Reflexion vollzieht. 22 Es verhält sich nicht so, daß der einzelne Sprecher ‚auch‘ Anwendungsregeln kennt, sondern dass seine Sprache sich erst in der Kommunikation bildet, und zwar gerade aufgrund der reflexiven Struktur von Kommunikation. 2.2. Durch die Kommunikation bildet sich das heraus, was man mit Heger „verwissenschaftlicht metasprachliches Begleitbewusstsein“ nennen könnte (Heger 1971). Das Verhältnis zwischen Kommunikation und Sprachbewußtsein ist also ein durchaus dialektisches: Die Kommunikation wird erst möglich gemacht durch die metakommunikativen Fähigkeiten der Beteiligten, die sich entweder explizit metakommunikativ äußern (z. B.: „Wie hast du das gemeint? “ - „Wie verwendest du dieses Wort? “) oder die durch 20 So kann zum Beispiel Lorenzers Analyse systematisch gestörter Kommunikation (Lorenzer 1971) Hinweise geben für Kommunikationsschwierigkeiten ganz allgemein. 21 Dieser Zusammenhang ist sehr treffend von Coseriu formuliert worden: „Lo que se intenta hacer con esos expedientes impropios es destacar el carácter de alteridad que el lenguaje tiene para la propia conciencia individual (que es ella misma ‚social‘), el hecho de que a toda conciencia la lengua se presenta como siendo ‚también de otros‘. […] Se desprende de lo dicho que en la lengua real coinciden lo sistemático, lo cultural, lo social y lo histórico …“ (Coseriu 1958, 35). 22 Es handelt sich hier im Grunde um einen Humboldtschen Gedanken; vgl. Apel 1972/ 1974. <?page no="46"?> 26 Metasprache und Metakommunikation die Reflexion auf ihr eigenes Sprachspiel andere Sprachspiele identifizieren und verstehen können. 23 In der Kommunikation aber erst konstituiert sich die eigene Sprache als System, das jederzeit reflektiert werden kann. In der Kommunikation wird das Kind zum Sprecher einer bestimmten Sprache, um die er als solche weiß und die er in weiteren Kommunikationsakten transzendieren und modifizieren kann. Dieser Hinweis auf den Spracherwerb soll nicht ontogenetisch verstanden werden - es geht vielmehr um die Seinsweise von Sprache überhaupt. 24 Die Seinsweise dieses in der Kommunikation konstituierten „metasprachlichen Begleitbewusstseins“ müßte Gegenstand weiterer Überlegungen sein. Wir wollen dieses ‚Sprachbewusstsein‘ von jetzt ab ‚Wissen‘ des Sprechers (saber lingüístico) um seine Sprache nennen, um die Problematik des Bewußtseinsbegriffs zu umgehen. 25 2.2.1. Coseriu nennt das Wissen des Sprechers über seine Sprache in Anlehnung an Leibniz „klar konfus“ (Coseriu 1958, 33). Jeder Sprecher verfügt darüber, sonst könnte er gar nicht sprechen; 26 aber er kann keine Auskunft geben über das Funktionieren, über ‚Wie‘ und ‚Warum‘. Er weiß nur sicher, daß er so und so sagen muß, kann aber dieses Wissen nicht weiter erklären. 27 Das Wissen über die Sprache ist also unmittelbar und primär, ähnlich dem Alltagswissen, das die symbolischen Interaktionisten als „taken-forgranted“ bezeichnen. 28 2.2.2. Dieses Wissen ist jederzeit ‚bewusstseinsfähig‘, d. h. in Explikationen abrufbar, sei es in einfachen Ja-Nein-Entscheidungen (auf Fragen nach Grammatikalität usw.) 29 , sei es in der Weiterentwicklung zum distinktadäquaten Wissen des Linguisten. Gauger (1970) zieht eine interessante Parallele zur Theorie der Psychoanalyse. Die Sprache würde in das Reich des Vorbewußten gehören, das prinzipiell bewußtseinsfähig ist. Das implizite Wissen um die Sprache kann prinzipiell explizit werden in metasprachlichen Äußerungen. 23 Es besteht allerdings auch die Möglichkeit der Fehlinterpretation durch falsche implizite Hypothesenbildung (vgl. die Arbeiten Labovs zu diesem Thema). 24 Für die Formulierung von Sprachtheorien besagt das Ausgeführte, daß jeder Versuch, Sprache als Naturgegenstand zu beschreiben, fehlschlagen muß. 25 Der Begriff des ‚Bewußtseins‘ müßte im Rahmen philosophischer, psychologischer und soziologischer Theoriebildung abgeklärt werden. 26 „La verdad es que los hablantes tienen plena conciencia del sistema y de las llamadas ‚leyes de la lengua‘. No sólo saben qué dicen, sino también cómo se dice (y cómo no se se dice); de otro modo no podrían siquiera hablar“ (Coseriu 1958, 34). 27 Das fällt dem Grammatiker zu, der vor der Aufgabe steht, ein distinktadäquates Wissen über die Sprache zu entwickeln. 28 Vgl. Schütz 1964- 66; Schütz 1971. 29 Vgl. 195 [Es handelt sich um einen Querverweis der Autorin auf die Seite 195 der Originalausgabe; hier vgl. 28 f.]. <?page no="47"?> Überführung in die Sprachtheorie 27 2.2.3. Die Struktur der Sprache ist aufgrund ihrer kommunikativen Konstitution und der damit gegebenen Reflexivität ‚imperativisch‘. 30 Das ist die Idee, die der Instruktionssemantik zugrunde liegt. Jede sprachliche Äußerung enthält implizit ein Interpretationsangebot. Das heißt: jede sprachliche Äußerung ist in sich gedoppelt: Sie sagt sich selbst und stellt sich zur Debatte, etwa in der Form: „Wenn du den Satz richtig verstehen willst, interpretier ihn so und so.“ Diese imperative Struktur ist nicht einzelnen sprachlichen Einheiten zu eigen, wie Weinrich vorschlägt, sondern sie ist erst auf der Ebene der Äußerungen, des Sinns 31 , angesiedelt. Damit ist auch die prinzipielle Zurückweisbarkeit der Äußerungen mitgegeben. 32 2.2.4. Innerhalb des Wissens über Sprache lassen sich drei Ebenen unterscheiden: - die konstitutive Ebene der Kommunikation im Vollzug; - die Ebene der Unterscheidung von sprachlichen Einheiten; - die Ebene der Konstitution von Identitäten (Ich - Gruppe - Nation). 2.2.5. Die ‚Konventionalität der Zeichen‘ ist gebunden an ihre Selbstreflexivität. Bei jedem Gebrauch wird der ‚Kontrakt‘ neu zur Diskussion gestellt. Die Zeichen, die wir verwenden, haben wir meist im Gebrauch, nicht in der ausdrücklichen Vereinbarung erlernt. Konventionell bleiben aber auch sie, insofern sie in die Diskussion ihres Gebrauchs zurückgeholt werden können. 2.2.6. Eine große Schwierigkeit, möglicherweise das zentrale Problem bei der Behandlung des Wissens über Sprache, sei nicht verschwiegen. Es ist das ‚Problem der Differenz zwischen Wissen um die Sprache‘ (wie es sich in konkreten sprachlichen Äußerungen manifestiert) und ‚Sprechen über Sprache‘, anders gesagt: das Problem eines ‚falschen Sprachbewußtseins‘. Das implizite Wissen des Sprechers, das allem Sprechen zugrunde liegt, ist sicher. 33 Wo aber sind die Grenzen der Explizierbarkeit? Was geschieht auf dem Weg zwischen cognitio clara confusa und cognitio distincta adaequata? Ein Beispiel für die Problemstellung: Häufig bestreiten Sprecher des Französischen, das Passé surcomposé zu verwenden; dieselben Sprecher verwenden jedoch das Passé surcomposé in bestimmten Kontexten völlig sicher und widerlegen so ihre Meinung über ihr eigenes Sprechen. Welche anderen Normensysteme beeinflussen hier die Explizierung des Wissens um 30 Zum Verhältnis von Metasprache und Instruktionssemantik: Weinrich 1974. 31 Zur Ebene des ‚Sinns‘: Coseriu 1970, Trabant 1975. 32 Wenn die zweite Ebene von Äußerungen, nämlich die des Interpretationsangebots, explizit aufgegriffen und thematisch gemacht wird, treten die Kommunikationspartner in den Diskurs ein (vgl. Habermas 1971). 33 Wenn es unsicher wird, ist das Funktionieren der Sprache gefährdet. Dieses Phänomen tritt immer bei aussterbenden Sprachen auf (Schlieben-Lange 1974 [vgl. Schlieben-Lange 1977]). <?page no="48"?> 28 Metasprache und Metakommunikation die Sprache? Wie geht die Auseinandersetzung zwischen widersprüchlichen Normsystemen vor sich? Welche Schwierigkeiten hat der Sprecher bei der Explikation seiner Intuitionen? Wie kann der Sprachwissenschaftler diese Schwierigkeiten bei der Theoriebildung überhaupt eliminieren? 34 Wie wirken schließlich die sekundären (außen-determinierten) Meinungen auf das primäre Sprachverhalten zurück? 35 Hegers Begriff ‚Begleit‘bewußtsein ist ambivalent und verdeutlicht die Problematik, von der hier die Rede ist. Ist es das ursprüngliche Wissen, das dem Sprechen zugrunde liegt; oder aber ist es bereits eine - für Täuschungen anfällige - Theoriebildung eines Sprechers, der nicht ganz ‚bei sich‘ ist? 36 2.3. Von diesen Beiträgen zu einer Sprachtheorie zu unterscheiden wären die Konsequenzen für eine Theorie der Sprachwissenschaft (vgl. Oesterreicher 1975). Die Bedeutung des „metasprachlichen Begleitbewusstseins“ für die Methodologie der Sprachwissenschaft sei nur umrissen: Das Problem linguistischer Datengewinnung ist letztlich ein metasprachliches Problem. Die gesamte Diskussion, ob mit einem Korpus sprachlicher Äußerungen gearbeitet werden soll oder aber aufgrund von Explizierungen über das Sprecherbewußtsein, sei es durch den Linguisten, sei es durch den native Speaker, dreht sich im Grunde um die Frage, ob die Reflexivität sprachlicher Äußerungen aus der Sprachwissenschaft eliminiert werden kann. Bei der Korpusanalyse (vgl. Schank 1973) interferiert mit Sicherheit nicht das Bewußtsein des Sprechers, und dasjenige des Sprachwissenschaftlers soll durch allerlei Verfahren ausgeschlossen werden, die gewährleisten sollen, daß das Sinnverstehen keine Rolle spielt. Doch eine genauere Analyse dieser Verfahren (bei Bloomfield, Harris usw.) würde zeigen, daß diese Eliminierung kaum oder nur sehr gewaltsam gelingt. Bei der Bejahung der anderen Möglichkeit, also: Sprachwissenschaft als Explizierung von Sprecherintuitionen zu betreiben, wird meist das Problem des Übergangs von der cognitio clara confusa zur cognitio distincta adaequata und seiner Fallstricke 37 zu leicht genommen: Einmal besteht ein qualitativer Unterschied zwischen den Explizierungen des native Speaker, der nur eine bestimmte Art von Fragen beantworten kann (Typ: „Ist das spanisch? “; „Ist das grammatikalisch? “) 38 , und denen des Sprachwissenschaftlers, der über ei- 34 Das Problem der Obersetzung von Alltagswissen in theoretisches Wissen beschäftigt die Soziologie schon lange (Mannheim, Schütz usw.). Vgl. Gross 1972. 35 Die Frage des Verhältnisses von Attitude und Commitment ist auch im Rahmen der Soziologie umstritten. Bei einer Untersuchung müßten die Ergebnisse der Vorurteilssoziologie befragt werden. 36 Die soziologische und politische Diskussion um das sogenannte ‚falsche‘ Bewußtsein müßten herangezogen werden. 37 Vgl. oben 194 [Es handelt sich um einen Querverweis der Autorin auf die Seite 194 der Originalausgabe; hier vgl. 26 f.]. 38 Vgl. Coseriu 1958, 33, zur Identifizierung nicht-spanischer Phonemdistribution durch Spanischsprecher. <?page no="49"?> Überführung in die sprachwissenschaftliche Forschungspraxis 29 gene metasprachliche Termini verfügt; 39 zum anderen können auf dem Weg vom klar-konfusen zum distinkt-adäquaten Wissen andere Normsysteme einwirken, so daß gesellschaftliche Stereotype oder sprachwissenschaftliche Traditionen an die Stelle von Aussagen über die Sprache treten. Schließlich würde ich im Rahmen der sprachwissenschaftlichen Methodologie noch eine weitere Frage stellen: die der Zuordnung zu einzelnen Forschungsbereichen. Wenn Heger (1971) den Begriff des „vorwissenschaftlichen metasprachlichen Begleitbewusstseins“ prägt, dann aber die Untersuchung dazugehöriger Phänomene der Sprachpsychologie zuweist, so scheint er mir die Austreibung des Sprachbewußtseins aus der Sprachwissenschaft auf einer höheren Reflexionsstufe neuerdings zu beginnen. Eine Sprachwissenschaft auf der ersten, nicht-metasprachlichen Ebene (n-Ebene) kann es gar nicht geben; sie muß auf jeden Fall die Reflexivität der Sprache mitberücksichtigen; Gegenstände, die Heger der Sprachpsychologie zuweist, müßten im Rahmen einer Ideologiekritik des Sprecher- und des Sprachwissenschaftlerbewußtseins behandelt werden. 3. Überführung in die sprachwissenschaftliche Forschungspraxis In einem dritten Teil sollen nun konkrete Gegenstände metasprachlicher und metakommunikativer Forschung aufgezeigt werden. Die Sprachtheorie und die Methodologie der Sprachwissenschaft müssen davon ausgehen, dass das Sprechen reflexiv und zumindest bewußtseinsfähig ist und daß Sprache gerade mit dadurch definiert ist. Das Problem für die Orientierung von empirischen Forschungen in diesem Bereich ist aber nun, in welcher geschichtlich begründeten Weise das Wissen über die Sprache im jeweiligen Sprechen aufgehoben ist. Es scheint mir sinnvoll, drei Ebenen des metasprachlichen Wissens analytisch zu trennen: 40 1) das Wissen um die Kommunikationssituation, in der sich verschiedenartige Sprachspiele begegnen, in der die Interpretationsangebote des Kommunikationspartners akzeptiert oder zurückgewiesen werden können und in der das eigene Sprachspiel transzendiert und modifiziert werden kann; 2) das Wissen über sprachliche Einheiten, die als systembildend gegenwärtig sind; 3) das Wissen um sprachliche Gemeinschaften, das ähnlich komplex ist wie das Identitätsbewußtsein des Individuums. 39 Wie kommt der Sprachwissenschaftler zu seinen metasprachlichen Termini? Bildet er sie neu, oder verwendet er Alltagstermini und definiert sie neu? 40 Vgl. oben 194 [Es handelt sich um einen Querverweis der Autorin auf die Seite 194 der Originalausgabe; hier vgl. 26 f.]. <?page no="50"?> 30 Metasprache und Metakommunikation 3.1. Wissen um die Kommunikationssituation Die Thematisierung der Kommunikation selbst erfolgt in derjenigen Art von Sprechen, die Habermas ‚Diskurs‘ nennt (Habermas 1971). Es ist davon auszugehen, daß allem sprachlichen Handeln die Meta-Ebene des Sinnverstehens zugrunde liegt. Sie ist auch im kommunikativen Handeln implizit vorhanden, sonst fänden ja keine kommunikativen Handlungen statt (vgl. Gross 1972) - im Diskurs wird diese Ebene explizit. Im Diskurs können sowohl die sprachlichen als auch die Handlungsvoraussetzungen des kommunikativen Handelns zum Gegenstand gemacht werden. 41 Diese Unterscheidung zwischen kommunikativem Handeln und Diskurs ist verwandt mit der zwischen konfusem und adäquatem Wissen. 42 kommunikatives Handeln ⎧ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎨ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎩ 1. Kommunikationspartner 2. Kommunikationspartner Intention Verbalisierung Verstehen Akzeptieren DISKURS Alles Sprechen enthält bereits die Möglichkeit, zum Gegenstand des Sprechens und damit bewußtseins- und theoriefähig zu werden. Wenn das Sprechen über den Kommunikationsakt zum Forschungsgegenstand werden soll, müßte wahrscheinlich dreierlei unterschieden werden: - das Sprechen über die Verwendung von Einheiten 43 (Typ: „Wie verwendest du …“; „Was meinst du mit …? “) Dazu gehören Bitten um Definitionen; Einführung von Begriffen; - das Sprechen über das Vorliegen und die Legitimation von illokutiven Akten 44 (Typ: „Soll das ein … sein? “; „Wie kommst du dazu, mich zu …“); - das Sprechen über Intentionen und perlokutive Akte 45 (Typ: „Willst du mich eigentlich …? “). 41 Im folgenden geht es vor allen Dingen um die sprachlichen Bedingungen. Der Zusammenhang zwischen Handlungs- und Sprachvoraussetzungen müsste thematisiert werden. 42 Die symbolischen Interaktionisten würden diese Art von Wissen „commonsense- Wissen“ nennen, das „taken-for-granted“ ist; vgl. oben. 43 Zu dieser Ebene der Referenz Searle 1969, Rey-Debove 1969 und 1972. 44 Vgl. Austin 1962, Strawson 1964, Searle 1969, Habermas 1971, Maas/ Wunderlich 1972. 45 Vgl. Strawson 1964, Schlieben-Lange 1972/ 1974. <?page no="51"?> Überführung in die sprachwissenschaftliche Forschungspraxis 31 Diese Art metakommunikativen Sprechens ist zum Teil bereits im Rahmen der linguistischen Pragmatik untersucht worden, allerdings mehr als Indikator für das Vorliegen einer bestimmten Sprechhandlung 46 denn als fundamentale Art des Sprechens. Besonders wichtig scheint mir zu sein, daß alle Versuche emanzipatorischer Spracherziehung sich ausführlich mit der Möglichkeit metasprachlicher und metakommunikativer Äußerungen befassen müßten. Ihre grundlegende Bedeutung für alle Veränderung müßte erkannt und ihre Verwendung eingeübt werden. 3.2. Wissen um sprachliche Einheiten Diese Ebene des Sprachbewußtseins liegt den Theoriebildungen des Sprachwissenschaftlers und den präskriptiven Äußerungen des normativen Grammatikers zugrunde (vgl. Schlieben-Lange 1971b [vgl. Schlieben-Lange 1976]). Es handelt sich um das systematische Wissen über eine bestimmte Sprache (die Identität einer bestimmten historischen Sprache, die auf der dritten Ebene thematisiert wird, ist hier implizit vorausgesetzt) und damit auch die Möglichkeiten von Sprache überhaupt (vgl. Coseriu 1972/ 1975). Die Einheiten auf den verschiedenen Ebenen der Sprache lassen sich weithin gar nicht anders bestimmen als als Einheiten im Bewußtsein der Sprecher. So sind sie auch in der Sprachwissenschaft weithin - zumindest implizit - bestimmt worden, und meist sind die Versuche, die Intuitionen der Sprecher in Hinblick auf die Einheiten zu vermeiden, nichts anderes als Explikationen eben dieser Intuitionen (die in sich einfach, jedoch schwer zu explizieren sind) oder aber inadäquate quasi-naturwissenschaftliche Definitionsversuche. Nehmen wir als Beispiel den Phonembegriff, der zunächst von Trubetzkoy als kleinste bedeutungsdifferenzierende Einheit gefaßt worden war (vgl. Szemerényi 1971, 58 ff.). Erst in einer zweiten Phase wurde versucht, das Phonem als Bündel distinktiver Züge aufzufassen und damit seine Einheitlichkeit für die Intuition des Sprechers aufzulösen. In Wirklichkeit handelt es sich aber um eine komplementäre Definition, und die Sprecherintuition ist keineswegs daraus vertrieben: Der Sprecher weiß eben, dass nur diese oder jene Züge ein Phonem konstituieren und andere beliebig austauschbar sind. 47 Qualvoll muten die verschiedenen Versuche an, das ‚Wort‘ ohne Rückgriff auf die Sprecherintuition zu bestimmen. Operationale Definitionen wie 46 So behandeln Austin 1962, Strawson 1964, Searle 1969 metakommunikative Fragen als Indikatoren zur Differenzierung von Sprechakten. Ebenso behandelt Posner 1972 den Kommentar als Indikator für pragmatische Informationsgewichtung, nicht als Grundform metasprachlichen Sprechens. 47 Ebenso wie der Sprecher um die Abgrenzungen der Phoneme weiß, weiß er auch um die Distributionsmöglichkeiten; vgl. Coseriu 1958, 33. <?page no="52"?> 32 Metasprache und Metakommunikation die „der Einheit, die zwischen zwei Drucklücken steht“, können nur schlecht ihre Herkunft aus der Sprecherintuition verleugnen. Gauger tritt entschieden für eine bewußtseinsnahe Bestimmung des Wortes ein. 48 Zu ähnlichen Feststellungen käme man bei der Untersuchung der Definitionsversuche zu ‚Satz‘ und ‚Text‘, die hier nicht weiter verfolgt werden sollen. Noch deutlicher wird die Rolle des metasprachlichen Bewußtseins im Bereich der Bedeutungen. Die Unterscheidung zwischen ‚Homonymen‘ und ‚Polysemen‘ z. B. wäre ohne ein solches Sprecherbewußtsein völlig gegenstandslos. Sprachwissenschaftliche Erklärungen bei der Analyse von Wortbildungsverfahren (Gauger 1971), von Metaphern und Volksetymologien (Coseriu 1970, 15-52), von Analogie und Systemzwang sind stets auf das Wissen des Sprechers von seiner Sprache verwiesen. Nur ein Beispiel: Historische Sprachwissenschaft muß weitgehend derart verfahren (und tut es auch), daß sie annimmt, ein bestimmtes Verfahren sei zu einer bestimmten Zeit als systembildend „empfunden“ worden und habe deshalb analogiebildend gewirkt und weitere Elemente angezogen (vgl. unten). Was ist das anderes als eine Erklärung durch das Sprecherbewußtsein? 3.3. Wissen um die sprachliche Identität 49 Bereits für die Feststellung bestimmter sprachlicher Einheiten als Möglichkeiten und als Verfahren einer je bestimmten historischen Sprache lag implizit die Intuition einer solchen Sprachgemeinschaft zugrunde. Auf einer weiteren Ebene wird jedoch dieses System als historisch gewordenes, als Sprachgemeinschaft ins Bewußtsein gerückt. Das Wissen über die eigene Sprache ist ‚dynamisch‘. 50 So ist es dem Sprecher möglich, Archaismen und Neologismen zu unterscheiden als zu einer anderen geschichtlichen Phase seiner Sprache gehörig. Weiterhin macht das Bewußtsein der sprachlichen Identität den Unterschied zwischen ‚Norm‘ und ‚System‘, zwischen dem, was bereits gesagt worden ist und üblicherweise gesagt wird, und dem, was möglich ist. 51 Nur so sind Sprachschöpfungen und Wirkungen solcher Sprachschöpfungen als ‚neu‘, ‚gewagt‘ usw. möglich. 48 Gauger 1970. Bei all diesen Bestimmungen darf nie aus den Augen verloren werden, daß das Sprecherbewußtsein historisch geworden ist und in einer ganz bestimmten jeweiligen Tradition steht. Wenn im Französischen der Artikel als Wort gilt, im Rumänischen dagegen eine Einheit mit dem Nomen bildet, so hat das historische Gründe, ist aber kein Argument gegen die Existenz einer Einheit ‚Wort‘. 49 Zum schwierigen Begriff der Identität in der Sozialpsychologie vgl. de Lavita 1971. 50 Der Begriff der Kopräsenz (Gauger 1970) trifft gut diesen Sachverhalt. 51 Es handelt sich um Coserius Unterscheidung (Coseriu 1952/ 1962). <?page no="53"?> Überführung in die sprachwissenschaftliche Forschungspraxis 33 Ein weiteres Problem ist, inwieweit sich in Sprachgemeinschaften mit einer kodifizierten Norm das präskriptive Normbewußtsein dem Bewußtsein einer Norm im Coseriuschen Sinne substituieren kann (vgl. Schlieben- Lange 1976). Hier begegnen wir dem Problem der Interferenz verschiedener Normsysteme 52 , wenn nämlich das originäre Systembewußtsein bestimmte Möglichkeiten eröffnet, die das Kodifizierungsbewußtsein durch metasprachliche Urteile wie ‚gut‘ und ‚schlecht‘ oder ‚richtig‘ und ‚falsch‘ zensiert. 53 Das Bewußtsein der sprachlichen Identität manifestiert sich vor allem im Bewußtsein, „nicht so zu sprechen wie die anderen“(vgl. Schlieben-Lange 1971). Es ist das griechische Bewußtsein der barbaries. So ist es dem Sprecher möglich, Barbarismen zu erkennen, Unterschiede zu anderen Dialekten anzugeben 54 , andere Sprachen zu charakterisieren. In der Abgrenzung gegen die anderen konstituiert sich die Identität einer In-Group im Gegensatz zur Out-Group, wie sich Gruppen überhaupt durch die Innen-Definition zugleich gegen die Außenwelt abgrenzen. 55 Das Gewicht der sprachlichen Identifikation kann verschieden stark wiegen, von der Identität der Nation (vgl. Schlieben-Lange 1973) bis zur Identität der Minorität, die zur Identifikation häufig gerade nur über ihre Sprache verfügt (vgl. Coseriu 1958, 67). Die Einheit der Sprachgemeinschaft konstituiert sich nur in der Identifikation. Es gibt keine Sprachgemeinschaften, wenn es keine Sprecher gibt, die sich als ihre Mitglieder betrachten. Die Unterscheidung von Sprache und Dialekt hat nur als Unterscheidung im Identitätsbewusstsein einen Sinn (vgl. Heger 1969). Solange das Bewußtsein einer Gemeinschaft besteht, besteht die Gemeinschaft. Das ist das Problem von language loyalty und language maintenance (vgl. Fishman 1966). Wenn aber das Bewußtsein der sprachlichen Identität verlorengeht, stirbt die Sprache aus. 56 Diese Ebene des Sprachbewußtseins ist am offensten für die Interferenz anderer Norm- und Wertsysteme - sie ist der günstigste Ort für ein falsches Sprachbewußtsein. 57 Abschließend soll betont werden, daß das Wissen um Sprache auf drei Ebenen, denen verschiedene Forschungsgegenstände zugewiesen wurden, im Grunde einheitlich ist. So besteht kein prinzipieller Unterschied zwischen 52 Vgl. oben 194 [Es handelt sich um einen Querverweis der Autorin auf die Seite 194 der Originalausgabe; hier vgl. 26 f.]. 53 Die Grammaire des fautes von Henri Frei ist in diesem Sinne eine Zusammenstellung des systematisch Richtigen, präskriptiv Falschen. 54 Inwieweit solche Unterschiedsangaben und globalen Charakterisierungen allerdings spontan sind oder zum kulturellen Stereotypenvorrat gehören, müßte untersucht werden; vgl. Ninyoles 1971. 55 Vgl. Bausinger 1969. Der Gesichtspunkt der in-group-bildenden Kraft des restricted code ist auch in der Sprachbarrieren-Diskussion wiederholt behandelt worden. 56 Vgl. Sala 1962, Schlieben-Lange 1974. 57 Vgl. oben 194 f. [Es handelt sich um einen Querverweis der Autorin auf die Seite 194 der Originalausgabe; hier vgl. 26 f.]. <?page no="54"?> 34 Metasprache und Metakommunikation dem Bewußtsein des Kommunikationsprozesses und der metakommunikativen Thematisierung dieses Prozesses (1.) einerseits und dem Bewußtsein von systematischen Einheiten (2.) und Sprachgemeinschaften (3.) andererseits. Dieser Unterschied ist nur graduell. Wohl ist die erste Ebene metasprachlichen Bewußtseins vollständig prozeßbezogen, während es sich auf den beiden anderen Ebenen um Petrifizierungen, um geronnene Erfahrungen handelt. Doch auch diese Ebenen des metasprachlichen Bewußtseins sind prinzipiell zurückholbar in den Vollzug. Gerade darin, daß die Sprache reflexiv ist, also die skizzierte metasprachliche Struktur aufweist, liegt ja ihre Offenheit für Veränderung. In der reflexiven Struktur der Sprache ist ihre Geschichtlichkeit begründet. Bibliographie Apel, Karl-Otto (1965): „Die Entfaltung der sprachanalytischen Philosophie und das Problem der ‚Geisteswissenschaft‘“, in: Philosophisches Jahrbuch 72, 239-289. Apel, Karl-Otto (1967): „Wittgenstein und Heidegger“, in: Philosophisches Jahrbuch 75, 56-94. Apel, Karl-Otto (1972): „Die Kommunikationsgemeinschaft als transzendentale Voraussetzung der Sozialwissenschaften“, in: Neue Hefte für Philosophie 2/ 3, 1-40. Apel, Karl-Otto (1972/ 1974): „Noam Chomskys Sprachtheorie und die Philosophie der Gegenwart. Eine wissenschaftstheoretische Fallstudie“, in: Gerhardt, Marlis (Hrsg.), Linguistik und Sprachphilosophie, München: List, 87-140, wiederabgedruckt in: Schlieben-Lange, Brigitte (Hrsg.) (1975), Sprachtheorie, Hamburg: Hoffmann und Campe, 13-51. 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Zwei Positionen zeichnen sich ab: 1 im einen Fall wird so argumentiert, daß, liegt erst eine „Theorie der Bildungsprozesse“ vor, auch universell 2 gültige Aussagen darüber möglich sein werden, welche sprachlichen Verfahren und Fertigkeiten das mündige Individuum zu seiner Selbstverwirklichung braucht, das heißt letztlich, daß sprachpolitische Zielsetzungen von einer solchen Theorie der Bildungsprozesse ableitbar und legitimierbar seien. Im anderen Fall wird erklärt 3 , daß verschiedene Sprachformen „funktionell äquivalent“ seien, das heißt: für ihre Sprecher das gleiche leisteten. Ihre „Verschiedenheit“ sei die der unterschiedlichen Beurteilung durch die Öffentlichkeit, welche ihrerseits auf je historischen Voraussetzungen beruhe. Sprachpolitik bestünde dann in der - historisch gebundenen - Perpetuierung oder Beseitigung solcher Urteile. Für alle an der Diskussion um Sprachbarrieren und deren Beseitigung Beteiligten stellt sich die Frage, ob es eine universell gültige Rationalität von Sprachpolitik außerhalb der jeweiligen historischen Situation geben kann oder aber, ob sprachpolitische Argumentation vollständig situationsgebun- * Zuerst erschienen 1976 in: Lendemains 4, 31-44. 1 Die beiden sprachpolitischen Positionen sind verbunden mit soziolinguistischen Richtungen: Defizitbzw. Differenzkonzeption; vgl. Schlieben-Lange 1976. 2 An einer „Theorie der Bildungsprozesse“ arbeitet zur Zeit Ulrich Oevermann. Die Universalität ist eine normative, keine empirische. Sie ist nicht gänzlich unhistorisch, da sie selbstverständlich vom gegenwärtigen Entwicklungsstand der Gesellschaft abhängt. 3 Vgl. Labovs Arbeiten zum afroamerikanischen Englisch. <?page no="58"?> 38 Von Babel zur Nationalsprache den ist, was implizieren würde, daß ein Argument, das in einer, historischen Situation ‚richtig‘, d. h. adäquat, war, in einer anderen ‚falsch‘ sein kann. Die Frage nach der Gültigkeit sprachpolitischer Argumentation drängt nach historischen Untersuchungen, die es überhaupt ermöglichen, Argumente und Situationen zu vergleichen. Der zweite Diskussionszusammenhang, in dem die Frage nach der Sprachpolitik der Französischen Revolution auftaucht, ist das wachsende Bemühen der sprachlichen Minderheiten in Frankreich um ein historisch erhelltes Selbstverständnis. Daß die Revolution in der französischen Minderheitenpolitik eine entscheidende Rolle gespielt hat, steht außer Zweifel. Umso ambivalenter ist die Beurteilung dieser Rolle in den Schriften der Minderheitenvertreter. Die Sympathie wird stark überschattet durch die Einsicht, daß die jakobinische Sprachpolitik am Ursprung sprachpolitischer Entscheidungen des 20. Jahrhunderts steht. Wenn die kommunistische Partei sich bei der Vorbereitung der späteren Loi Deixonne 4 bemüht, minutiös nachzuweisen, daß es auch in den Minderheitengebieten stets gute Demokraten gegeben hat, kämpft sie gegen das jakobinische Gespenst der feudalistisch gesonnenen Minderheiten. 5 In jüngster Zeit ist in Frankreich, möglicherweise angeregt durch das regionale Selbstbewußtsein, eine lebhafte Diskussion der Sprachpolitik der Französischen Revolution entstanden. Wenn man die älteren Darstellungen hinzuzieht, ergibt sich ein interessantes Spektrum von Gesichtspunkten und Wertungen, das seinerseits Gegenstand der Untersuchung sein könnte: - die minutiös und wohlwollende Darstellung bei Brunot (die übrigens für die Geschichte der Revolution in sprachpolitischer Hinsicht unersetzt ist); - die fraglose Selbstverständlichkeit bei Cohen; - die mit dem Begriff des ‚Sprachkolonialismus‘ operierende, etwas pauschale Ablehnung bei Calvet; - die Verurteilung bei Balibar/ Laporte, die ihr Hauptgewicht auf die ökonomischen Gründe der sprachpolitischen Maßnahmen der Revolution legen und auf die Ambivalenz der ‚bürgerlichen‘ Revolution und damit auch ihrer bildungspolitischen Vorstellungen hinweisen; - und schließlich die semiotisch angelegte, brillante Interpretation der Antworten auf die Enquête des Abbé Grégoire durch de Certeau u. a., in denen der Prozeß der Selbstdefinition der Provinzen aufscheint. Der Reiz dieser verschiedenartigen Darstellungen, jenseits des Interesses an den res gestae, liegt in den je historisch verschiedenen Interpretationen, den unterschiedlich geschriebenen historiae rerum gestaru. 4 Vgl. dazu: Langue française 25 = L’enseignement des langues régionales. 5 Vgl. zum Beispiel Lafont 1968. <?page no="59"?> Von Babel zur Nationalsprache 39 Wenn ich mich entschlossen habe, den Rapport sur la necessité et les moyens d’anéantir les patois et d’universaliser l’usage de la langue française in das Zentrum meiner Skizze zu stellen, so keineswegs deswegen, weil diese Rede besonders einschneidende Folgen gehabt hätte. 6 Sie ist eher theoretisch, ein Akt der Selbstverständigung, von geringem tagespolitischem Interesse, endet in sehr maßvollen Forderungen und ebenso maßvollen Beschlüssen. Wichtig ist sie, weil sie das geschlossenste Dokument jakobinischer Sprachpolitik darstellt: 7 En dépit du fait que la Convention n’ait pas repris entièrement à son compte les conclusions du rapport de Grégoire, il faut tenir celui-ci pour le document qui systématise le mieux les fragments de théories idéologiques de la langue des Jacobins, et pour le document qui manifeste le plus clairement le rôle des formations idéologiques bourgeoises liées à l’uniformisation linguistique en ce qu’il développe notamment une idéologie de la nation et de la langue nationale. (Balibar/ Laporte 1974, 101 f.) Nachdem zu Beginn der Revolution eine Sprachpolitik der Übersetzungen der französischen Dekrete in die anderen Sprachen betrieben worden war 8 , beschlossen die Jakobiner 1793 - bedrängt von außen und im Inneren - die Ausrottung der sogenannten patois. Während Barère, ein anderer Vertreter dieser Sprachpolitik, politisch argumentiert, ist der Abbé Grégoire der Ideologe und Moralist. Es ist der Augenblick, wo der Abbé Grégoire 9 , der sich seit Beginn der Revolution mit dem Sprachproblem beschäftigt hatte, seine langjährigen Überlegungen und die Ergebnisse seiner großangelegten Enquête, auf die 49 Personen geantwortet hatten 10 , zusammenfaßte. Die Beschäftigung mit dem Rapport soll in zwei Phasen erfolgen: - einer Nachzeichnung des Hauptstrangs der Argumentation; - einer Skizze der Geschichts- und Sprachtheorie des Abbé Grégoire, wie sie sich aus dem Rapport erschließen läßt. 6 Die einschneidenden Entscheidungen waren bereits im Jahre 1793 gefallen. Vgl. dazu: Brunot 2 1967. 7 Das von Balibar/ Laporte in diesem Zusammenhang zitierte Urteil von Brunot bezieht sich allerdings nicht auf den Rapport, sondern auf eine Intervention des Abbé Grégoire im Juli 1793. 8 Brunot erwähnt das Übersetzungsunternehmen von Dugas für Südfrankreich, dessen Übersetzungen, die von außerordentlichem Interesse für eine Geschichte des Provenzalischen sein dürften, meines Wissens bis heute nicht untersucht sind. 9 Über den Abbé Grégoire vgl. de Certeau u. a. 1975. 10 Details über die Korrespondenten bei de Certeau u. a. 1975. <?page no="60"?> 40 Von Babel zur Nationalsprache Argumentationslinie des Rapport 11 Der Rapport beginnt mit der Feststellung, daß das Französische im - monarchistischen - Europa hochgeschätzt wird. Der Wettbewerb der Berliner Akademie, bei dem Rivarols Discours sur l’universalité de la langue française ausgezeichnet wurde, wird zitiert. Diese internationale Anerkennung verdankt das Französische seiner „marche claire et méthodique“ (291), seinem „caractère de raison, de probité“ (291). 12 Französisch ist also Universalsprache - aber in Frankreich wird es nicht gesprochen. Dieses Problem wird in zwei überraschten Fragen formuliert: Wenn Tyrannen und Höfe das Französische schätzen, wie sehr müßte das erst das republikanische Frankreich tun? Es wird überall Französisch gesprochen - welche fatalité verhindert, daß es in Frankreich gesprochen wird? Die Argumentationsform dieser beiden Fragen ist das wichtigste Verfahren im ganzen Rapport und typisch dafür. Die allgemeinste Formel dafür ist etwa: 1. Es ist normal (vernünftig), daß; 2. Wenn x (im allgemeinen), folgt y (im besonderen). Die Normalität und Vernünftigkeit dieses Nexus ist die Voraussetzung für das Verständnis der in Frage stehenden Juxtapositionen; sie müssen vom Hörer erschlossen werden. Die Vernünftigkeit des Nexus ist die Voraussetzung für die Sinnhaftigkeit der Sätze; gleichzeitig zeigt sich, daß diese vernünftige Vorbedingung nicht gegeben ist. So folgt als Handlungsanweisung, diese Übereinstimmung herzustellen. Zum Beispiel: Wenn überall Französisch gesprochen wird, folgt daraus vernünftigerweise, daß auch in Frankreich Französisch gesprochen wird. So ist es aber nicht. Folglich müßte dafür gesorgt werden, damit der Satz: Wenn x, dann auch y, erfüllt wird. Auf die beiden Figuren, die dieser Logik folgen, schließt sich ohne eine Ausführung zum argumentativen Zusammenhang eine Skizze der Geschichte Frankreichs von der Einheit der Keltenzeit 13 über die Eroberungen durch Römer, Franken usw. bis zur Zerstückelung durch den Feudalismus. Die Sprachgrenzen entsprechen noch den alten Herrschaftsgrenzen (292): „Nous n’avons plus de provinces, et nous avons encore trente patois qui en rappellent les noms.“ Die Argumentationsform ist wieder die oben erläuterte, also: 1. Es ist vernünftig, daß; 2. wenn nicht mehr x, auch nicht mehr y. 3. Aber nicht mehr 11 Die Seitenzahlen beziehen sich auf die Lettres à Grégoire 1880/ 1969. Der Rapport ist ebenfalls abgedruckt in de Certeau u. a. 1975, Teile davon in Brunot 2 1967 und Balibar/ Laporte 1974. 12 Diese Charakterisierung beruht wohl auf Rivarol, der seinerseits in der Tradition der philosophischen Grammatik steht. 13 Die Lokalisierung einer sprachlichen aetas aurea vor aller Zersplitterung in der Keltenzeit gehört zu den Topoi der französischen sprachpolitischen Literatur von du Bellay bis Court de Gébelin. <?page no="61"?> Argumentationslinie des Rapport 41 x, und noch y. Durch die Unterstellung der Implikation: Wenn nicht mehr x, auch nicht mehr y, wird der Vorwurf erhoben, daß eine rationale Notwendigkeit noch auf ihre Einlösung wartet. Verschärft wird dieser Vorwurf durch die Aufzählung der Namen der alten Provinzen 14 , die ja durch die Aufteilung in Départements beseitigt worden waren, in der Aufzählung aber als latente Gefahren evoziert werden. Die Aufzählung steigert sich in der Nennung derjenigen Mundarten, die über die Grenzen reichen (Kollaborationsgefahr! ), und der Sprache der „Nègres de nos colonies“. Alle drei Gruppen werden, besonders aus der Perspektive der letztgenannten, als „très-dégénérés“ bzw. „pauvres“ charakterisiert. Die Konklusion ist (293): „Ainsi, avec trente patois différents, nous sommes encore, pour le langage, à la tour de Babel, tandis que, pour la liberté, nous formons l’avant-garde des nations! “ Wieder ist die Argumentationsform die gleiche: Nicht y, aber x (impliziert ist, daß aus x vernünftigerweise y folgen müßte). Die Beseitigung dieser Unstimmigkeit bleibt eine offene Aufgabe. Die Erwähnung des Turmbaus von Babel läßt die Möglichkeit assoziieren, diese Entwicklung wieder aufzuheben: Pfingsten. So ist in der Aufklärung auch die Möglichkeit einer Universalsprache ein wichtiges Thema gewesen. 15 Die Einheit der Vernunft kann nicht in verschiedenen Sprachen verwirklicht werden: Depuis longtemps la quête de l’origine combine la volonté de fonder une raison (par exemple une langue universelle) à celle d’effacer la faute (ou le crime) que, d’après le mythe biblique de Babel, le pluriel traçait en lettres de feu sur les parlers humains. Poser une origine unique, principe explicatif de langues, et surmonter ou contourner la culpabilité inscrite dans la prolifération des différences sont les composantes d’un même travail - celui qui, hier, affirmait le triomphe d’une „vérité“ sur le désordre de l’histoire, et celui qui, sous la Révolution, assure à une „raison“ le pouvoir de refaire l’histoire et constitué en hétérogénéités „féodales“, „superstitieuses“ ou „patoisantes“ les résistances qu’il rencontre. […] En face d’une politique de la raison, le pluriel apparaît „criminel“; il figure le retour du „multiple“, de l’historique et de l’anti-raison. (de Certeau u. a. 1975, 83) Hier konvergiert die Auseinandersetzung mit drei verschiedenen Arten von Verschiedenheit bzw. Einheit, die als homolog angesetzt werden: Vielheit Einheit Vernunft superstition raison Politik féodalisme nation une et indivisible Sprache Babel Universalsprache 14 In Anlehnung an Court de Gébelin. 15 Man denke an Leibniz und Condorcet. <?page no="62"?> 42 Von Babel zur Nationalsprache Nation und Nationalsprache sind dabei die - politisch möglichen - Zwischenstufen auf dem Weg zum Weltbürgertum und zur Universalsprache. In dieser Richtung verläuft auch die weitere Argumentation des Abbé Grégoire: Eine Universalsprache wäre etwas wie der ‚Stein der Weisen‘, ein utopisches Ziel, eine Nationalsprache 16 dagegen Möglichkeit und Aufgabe für die französische Nation, die an der Spitze des Fortschritts steht. Nun folgt der zentrale Argumentationsstrang, der diejenigen überzeugen sollte, die wohl mit den politischen Zielen der Revolution einverstanden waren, aber noch zögerten, den Zusammenhang von Freiheit und Nationalsprache als zwingend anzusehen. Die Nationalsprache ist Grundlage der Freiheit: Alle membres du souverain, also alle Bürger, müssen alle Posten einnehmen können. Gibt es weiterhin ungebildete Bürger, so kann zweierlei passieren: entweder sie führen aufgrund ihrer Unbildung ihre Aufgaben schlecht aus; oder eine Oberschicht reißt diese Aufgaben an sich (295): „Ainsi l’ignorance de la langue compromettrait le bonheur social ou détruirait l’égalité.“ Als nächstes nimmt der Abbé Grégoire die Argumente derjenigen voraus, die für Übersetzungen plädieren könnten (wie sie ja in der ersten Phase der Revolution tatsächlich durchgeführt worden waren). Sein Gegenargument (296): „[…] la majeure partie des dialectes vulgaires résistent à la traduction […].“ Es folgt eine Aufzählung der Eigenschaften von Dialekten, die Übersetzungen unmöglich machen: „sentimental“, „lourd“, „grossier“, „sans syntaxe déterminée“ usw. Genau diese Charakterisierungen gehören noch heute zum Klischeevorrat des sprachpolitischen discours in Frankreich. 17 Grégoire appelliert an die Erfahrungen der Anwesenden mit konterrevolutionären Bewegungen im Innern (die Gleichung patois = Konter-Revolution beschäftigt noch im 20. Jh.) und den Bedrohungen an den Grenzen. Der Aufklärer im Revolutionär wird angesprochen durch Ausführungen über préjugés und superstition, die mit den patois verschwinden würden. Danach setzt er sich mit den möglichen Gegenargumenten, die er wohl vor allem von den Korrespondenten seiner Enquête bezogen hat, auseinander, die utilité und possiblité seines Plans in Frage stellen würden. Die beiden Hauptargumente gegen die utilité sind die Altehrwürdigkeit der in Südfrankreich gesprochenen Sprache und die mögliche „altération des mœurs“ (301) bei Ausrottung der ländlichen Dialekte. Das erste versucht er dadurch zu entkräften, daß auch das Französische durchaus auf die „expressions en- 16 Das Französische ist nicht nur als Nationalsprache eine Zwischenstufe zur Universalsprache, sondern einer Universalsprache der Vernunft ziemlich nahe, was aufgrund der parallelen Entwicklung einer logisch-universellen Grammatik à la Port-Royal und der Beschreibung des Französischen sehr plausibel schien. Man beachte auch die Verwendung von universalité, universaliser bei Rivarol und dem Abbé Grégoire. 17 Im Sommer 1972 habe ich eine Enquête in der südfranzösischen Kleinstadt Bagnolssur-Cèze durchgeführt, wo all diese Klischees verwendet wurden. Ähnliche Ergebnisse hat M. Otten bei einer Enquête auf Martinique erhalten. <?page no="63"?> Argumentationslinie des Rapport 43 flammées, des tours naifs“ (301) des Provenzalischen verwiesen sei 18 , daß es also in geläuterter Form im Französischen aufgehoben sei; das zweite durch die Äußerung der Hoffnung, daß ein Volk von gebildeten Gleichen auf das Land zurückströmen würde: Tout ce qu’on vient de dire appelle la conclusion, que pour extirper tous les préjugés, développer toutes les vérités, tous les talents, toutes les vertus, fondre tous les citoyens dans la masse nationale, simplifier le méchanisme et faciliter le jeu de la machine politique, il faut identité de langage. (302 f.) Was die possibilité angeht, so sollte man keine Zweifel haben: aus Einsicht in den Zusammenhang zwischen Freiheit und Nationalsprache gewonnener revolutionärer Wille würde einen ohnehin bereits in Gang befindlichen Prozeß der Aufgabe der patois beschleunigen. Möglichkeiten dazu gibt es viele: vom Militärdienst bis zur Ehegesetzgebung. Abschließend entwickelt er sein Projekt, das nach allem argumentativen Aufwand zur Beseitigung der patois überraschend wirkt: „révolutionner notre langue“. Das Französische selbst sollte gewaltigen normativen Bemühungen unterworfen werden: Syntax und Orthographie sollen vereinfacht und vereinheitlicht und Mißverständlichkeiten benannt werden. Eine neue Grammatik und ein neues Wörterbuch sollen die Umwälzungen der Revolution berücksichtigen usw. So wird schließlich folgendes Dekret vorgeschlagen: La convention nationale, après avoir entendu le rapport de son comité d’instruction publique, décrète: Le Comité d’instruction publique présentera un rapport sur les moyens d’exécution pour une nouvelle grammaire et un vocabulaire nouveau de la langue française. Il présentera des vues sur le changement qui en faciliteront l’étude et lui donneront le caractère qui convient à la langue de la liberté. La Convention décrète que le rapport sera envoyé aux autorités constituées, aux Sociétés populaires et à toutes les communes de la République. Die Inkonsistenz der abschließenden Forderungen mit der vorher entwikkelten Argumentation bedarf noch der Erläuterung: 1. Dieses Auseinanderklaffen bestätigt den Eindruck, daß es sich nicht um eine Rede mit bestimmten politischen Zielen handelt (vgl. oben), sondern um eine Entfaltung der jakobinischen Sprachpolitik und Sprachtheorie. Am Ende stehen Forderungen, die nicht die Durchsetzung, sondern die Form des Französischen betreffen. Diese sprachtheoretische und -politische Selbstverständigung hat vor allem einen Gesprächspartner, der, wiewohl nicht gegenwärtig, doch der Autor der Gegenargumente und 18 Hier liegt ein typischer Fall von Folklorisierung vor, wie sie die Selbsteinschätzung der Minderheitensprecher stark beherrscht. Ninyoles hat für Valencia eine interessante Theorie aufgestellt, die gerade diese kompensatorische Charakterisierung von Sprachen zum Gegenstand hat. <?page no="64"?> 44 Von Babel zur Nationalsprache Adressat der Widerlegung ist: die Korrespondenten der Enquête. Ging es für diese in den Antworten noch darum, sich und ihre Sprache aktiv in Hinsicht auf Paris einzuordnen und zu definieren 19 , so werden sie in dieser Rede vollständig vereinnahmt als Teil der Argumentation, der aber nicht mehr antworten und keine Neu-Interpretation mehr anbieten kann. Der lokale discours bekommt andere Dimensionen: In der Enquête ging es um das Verhältnis Paris/ Regionen. Nun geht es vor allem um die Beziehung Frankreich (einschließlich der marginalisierten Regionen)/ Ausland. Der discours über die Definition der Regionen gehört der Vergangenheit an. War in der Enquête das Selbstverständnis der Korrespondenten noch schwankend, so werden sie in dieser Rede zum Schweigen gebracht, ihre Sprachen zu absurden, wiewohl manchmal pittoresk-rührenden Relikten einer abgeschlossenen feudalen Vergangenheit deklariert. Später im Direktorium ist dann der Haß verflogen: die Relikte werden als solche archiviert. 2. Die Inkonsistenz existiert nur insofern, als man auf die gesamte Argumentation hin andere Folgerungen erwarten könnte. In Hinsicht auf die Normierungsabsichten ist jedoch die vorausgehende Argumentation stimmig; denn Normierungsabsichten sind immer in einer bestimmten Geschichtstheorie und einer bestimmten Sprachtheorie begründet. Geschichtstheorie Bei dem ersten Durchgang durch den Rapport waren wir bereits auf Fragmente einer ‚Geschichtstheorie‘ gestoßen: - eine ursprüngliche Einheit, repräsentiert durch das Keltische („le celtique, qui fut le premier idiome de l’Europe“ (291)), wird zerstückelt durch den Eingriff des Feudalismus („la féodalité qui vient ensuite morceler ce beau pays […]“ (291)); - die Zersplitterung der „tour de Babel“ (gleichgesetzt mit dem Feudalismus) ist politisch aufgehoben, nicht aber sprachlich (293). Das sind Elemente einer zyklischen Geschichtstheorie, wie sie bis in die Neuzeit vorherrschend war. Eine aetas aurea wird durch einen Sündenfall zerstört. Die Menschen leben in der Erwartung der Wiederherstellung des Goldenen Zeitalters. In christlicher Interpretation ist die Geschichte der Menschen Heilsgeschichte zwischen Sündenfall und Ende der Zeiten oder - sprachlich gesehen - zwischen Babel und Pfingsten. Dieses Geschichtsbild ist hier säkularisiert und in Richtung Fortschritt umgedeutet. Die Zeitgenossen der Franzosen wohnen der Beseitigung der Zersplitterung und Wiederherstellung der Einheit (der Vernunft, der Nation, der Sprache) bei. Ge- 19 Zu diesem Prozeß vgl. die ausgezeichnete Analyse von de Certeau u. a. 1975. <?page no="65"?> Sprachtheorie 45 schichte ist nicht Ausharren in der Zersplitterung, sondern Herbeiführung von ‚Pfingsten‘ durch Aufklärung und Revolution. Ein zyklisches Weltbild wird evolutionistisch uminterpretiert, weil vor allem die Beseitigung von Zersplitterung und Verdunkelung der Vernunft interessiert. Heil (aetas aurea) Sündenfall (Babel) Pfingsten Menschengeschichte aetas aurea Zersplitterung durch den Feudalismus Geschichte der Wiederherstellung von Einheit und Vernunft Autoren der Geschichte sind die Menschen. So bekommt die Geschichtstheorie einen stark voluntaristischen Zug, der beim Abbé Grégoire auch in Hinsicht auf Sprachpolitik offenbar wird (299): „Les Français, si redoutables aux Anglais par leurs baionnettes, doivent leur prouver encore qu’ils ont sur eux la supériorité du génie, comme celle de la loyauté: il leur suffit de vouloir.“ Allerdings ist dieses Wollen eingeschränkt durch die feste Richtung auf Fortschritt und Einheit hin. Wenn also die Einsicht in den Zusammenhang von Einheit der Sprache und politischer Freiheit den Willen erwachen läßt, diese Einheit herbeizuführen, so ist er im Einklang mit der Geschichte: „La réussite est infaillible.“ (303). Es wäre also auch nicht möglich, den Willen gegen den Fortschritt der Geschichte zu richten. Sprachtheorie Die Rede des Abbé Grégoire enthält viele sprachtheoretische Argumente, und zwar in zweierlei Hinsicht: einerseits den Gebrauch von Sprache und andererseits das Verhältnis von Sprache als System zu Denken und Sitten betreffend. Auf diese zwei Teile der Sprachtheorie des Abbé Grégoire haben Balibar/ Laporte hingewiesen: Or, sur le front de l’idéologie, le rapport de Grégoire et avec lui la plupart des publications jacobines sur la question développe simultanément deux formes d’ idéologie de la langue: d’une part une idéologie de la langue au sens strict (idéologie de sa forme), d’autre part une idéologie de sa pratique (pratique uniformisée dans le cadre de l’Etat-Nation). (Balibar/ Laporte 1974, 102 f.) <?page no="66"?> 46 Von Babel zur Nationalsprache Gebrauch von Sprache Von einer allgemeinsten Funktion des Sprechens („se communiquer leurs pensées“, 293) ausgehend, werden vor allem zwei Aspekte entwickelt, ein ökonomischer und ein politischer. Das Sprechen verschiedener Sprachen verhindert Handel und Wirtschaft (297): „[…] tant de jargons sont autant de barrières qui gènent les mouvements du commerce et atténuent les relations sociales.“ Die Vereinheitlichung der Sprache wäre die Voraussetzung für die Beseitigung von Handelsschranken und für einen freien Austausch von Arbeitskräften. Dieser Argumentation entspricht im übrigen die Politik der Französischen Revolution im Hinblick auf Vereinheitlichung von poids et mesures und Beseitigung von Sonderzöllen (vgl. 304). Im selben Sinne wäre auch eine Vereinheitlichung der Sprache erforderlich. Darin sehen Balibar/ Laporte das Hauptmoment der gesamten Sprachpolitik der Revolution: Die gesellschaftliche Entwicklung war auf einem Stand angelangt, der die Herstellung und Konsolidierung eines „inneren Marktes“ erforderte (vgl. Balibar/ Laporte 1974, 57 f.). Weiterhin ist das Verständnis wissenschaftlicher Literatur dringend notwendig zur Verbesserung der landwirtschaftlichen Produktion (298). Der Gebrauch von Sprache, und zwar einer einheitlichen Nationalsprache, ist außerdem Voraussetzung für die Teilnahme am politischen Leben: Ausfüllung von politischer Verantwortung (vgl. oben); „connaître les lois“ (295); Teilnahme an „instruction“, „lumières“. Daß Teilhabe an politischer Verantwortung und an Aufklärung an die Nationalsprache gebunden sein sollen, ergibt sich wohl auch aus praktischen Erwägungen: Übersetzungen behindern und verlangsamen die Verbreitung von Dekreten und Erlassen. Dieser Praktibilitätsaspekt scheint auf in der Formulierung „simplifier le méchanisme et faciliter le jeu de la machine politique […]“ (303). Diese Möglichkeiten des Gebrauchs von Sprache werden nun hypostasiert in einer bestimmten historischen Einzelsprache. Soziale Mobilität und Teilhabe an der Volkssouveränität ist gebunden an die nationale Sprache. Alle anderen Sprachformen erlauben keinen Zugang zu diesen Errungenschaften des bürgerlichen Staats. Sprachpraxis (ök.; pol.) patois le français nation féodalisme (contrerévolution) bedroht <?page no="67"?> Verhältnis Sprache/ Denken/ mœurs 47 Die anderen Sprachen und Dialekte verhindern die Entwicklung eines inneren Marktes und erschweren die politische Verständigung. Sie werden als Symbol der überwundenen Zersplitterung marginalisiert. Das Französische als langue nationale erhält eine zusätzliche Weihe als Sprache der cité révolutionnaire und als Stufe auf dem Weg zur Universalität (vgl. oben). Sie ist der Garant der, wenn noch nicht universalsprachlichen, so doch in dieser Situation am weitesten entwickelten Rationalität: die Wörter der französischen Sprache sind die „vraies dénominations“ (309) gegenüber den vielen verschiedenen, und in ihrer Verschiedenheit als verdunkelnd erwiesen, ‚falschen‘ Bezeichnungen der Dialekte. Das Französische, einmal als Sprache von Vernunft und Einheit herausgehoben, ist nicht mehr eine von vielen verschiedenen Sprachen, sondern die wahre. Verhältnis Sprache/ Denken/ mœurs Wenn auch die Begründung hauptsächlich über die Nation läuft, so deutet das zuletzt Gesagte bereits darauf hin, daß den Sprachen Einfluß auf Denken und mœurs zugesprochen wird. In der Sprache mit wahren Bezeichnungen kann auch leichter ‚wahr‘ gedacht werden. Eine solche Parallelisierung zieht sich durch den ganzen Rapport (310): „Les mots étant les liens de la société et les dépositaires de toutes nos connaissances, il s’ensuit que l’imperfection des langues est une grande source d’erreurs.“ Charakteristik raison mœurs français clair raison probité méthodique vérité vertu patois sentimental préjugé simplicité lourd superstition innocence vertueuse grossier Diese Parallelisierung von Sprachformen, die sich gegenüber der Sprachverwendung verselbständigt haben, macht schließlich auch die zuletzt geforderten Normierungsmaßnahmen möglich und nötig. Auch das Französische, wiewohl die Sprache der cité révolutionnaire, bedarf der Reinigung von feudalistischen Denkgewohnheiten und der Bereicherung, die die Grundlage des klaren Denkens ist. Dabei wird die Beziehung von Sprachform und Denken durchaus doppelseitig gesehen: Umwälzungen des Denkens ziehen Änderungen der Sprache nach sich; die Sprache ermöglicht umgekehrt das klare Denken. Ein klarer Determinismus in der einen oder anderen Richtung kann dem Abbé Grégoire sicher nicht zugeschrieben werden. Bei der Parallelisierung von Sprachformen und Sitten gerät der Abbé Grégoire in eine Schwierigkeit, die näher erläutert werden soll. Einerseits muß <?page no="68"?> 48 Von Babel zur Nationalsprache er der Landbevölkerung - was gerade in der asketischen jakobinischen Phase der Revolution schwer ins Gewicht fällt - simplicité, innocence, probité zugestehen und fürchtet, daß eine Änderung der Sprache einen Verfall der Sitten nach sich ziehen könnte: „la crainte de voir les mœurs s’altérer dans les campagnes“ (301, vgl. oben). Umgekehrt befürchtet er, daß auch die Änderung der Sprache nichts an der prinzipiellen Borniertheit der Landbevölkerung ändern könnte: […] d’ailleurs, l’homme des campagnes, peu accoutumé à généraliser ses idées, manquera toujours de termes abstraits; et cette inévitable pauvreté de langage, qui resserre l’esprit, mutilera vos adresses et vos décrets, si même elle ne les rend intraduisibles. (296) Hier schlägt, mitten in der parallelisierenden Argumentation, die über die Hypostasierung von Sprachformen läuft, das Gebrauchsargument durch: daß Sprache etwas mit Sprechen und Sprechen etwas mit Handeln und Arbeit zu tun habe. Diese Unsicherheit zeigt, daß der Abbé Grégoire hier vor einer Schwierigkeit stand, die eine Schwierigkeit der gesamten Revolution war: Daß es eine bürgerliche und städtische Revolution war, die insbesondere mit der Landbevölkerung nichts Rechtes anzufangen wußte. 20 Die vorstehende Skizze hat vor allem auf die Geschichtstheorie und die Sprachtheorie des Abbé Grégoire abgehoben. Die von ihm vorgeschlagenen Eingriffe sind begründet in einer evolutionistisch-voluntaristischen Geschichtsauffassung und der Annahme der Interdependenz von Sprachform und Denken: Sprache muß zuweilen auf den Stand der politischen und geistigen Entwicklung gebracht werden, um wiederum vernünftiges Denken zu ermöglichen. Es zeigt sich auch, daß zur Interpretation einer solchen sprachpolitischen Position vielerlei herangezogen werden muß: die monokausale Interpretation durch Balibar/ Laporte bedürfte sicher der Ergänzung durch Berücksichtigung der Staatsphilosophie und Geschichtstheorie der Aufklärung und der Geschichte der französischen Revolution selbst. Die Argumentation des Abbé Grégoire scheint plausibel und im Rahmen der geschichtlichen Entwicklung auch notwendig. Rechtfertigt sie aber, daß unter dem Druck ihrer Wiederholung Generationen von Minderheitensprechern ihrer Sprache und Kultur entfremdet und dem Selbsthaß überantwortet werden? Aber wiederum: hätte damals eine andere Möglichkeit bestanden? Die Frage nach Universalität und Geschichtlichkeit von sprachpolitischen Argumenten bleibt offen. Diesem Aufsatz gingen Seminardiskussionen voraus. Den daran beteiligten Studenten habe ich für Anregungen zu danken, besonders Christine Bierbach, Claudia Hartmann und Manfred Otten. 20 Besonders Balibar/ Laporte 1974 weisen immer wieder auf diese Ambivalenz hin. <?page no="69"?> Bibliographie 49 Bibliographie Quellen Lettres à Grégoire sur les patois de France; suivis du Rapport de Grégoire à la Convention, 1790 -1794. Documents inédits sur la langue, les mœurs et l’ état des esprits dans les diverses régions de la France, au début de la Révolution. Avec une introduction et des notes par Augustin Gazier, Fac-sim. de l’édition de Paris 1880 (1969), Genève: Slatkine Reprints. Forschungsliteratur Balibar, Renée/ Laporte, Dominique (1974): Le français national. Politique et pratiques de la langue nationale sous la Révolution française, Paris: Hachette. Brunot, Ferdinand ( 2 1967): Histoire de la langue française des origines à nos jours, Bd. 9, Paris: Colin. Calvet, Louis-Jean (1974): Linguistique et colonialisme. Petit traité de glottophagie, Paris: Payot. Certeau, Michel de/ Julia, Dominique/ Revel, Jacques (1975): Une politique de la langue. La Révolution française et les patois, Paris: Gallimard. Cohen, Marcel ( 3 1967): Histoire d’une langue, le français, Paris: Éditions sociales. Guiomar, Jean-Yves (1974): L’ idéologie nationale. Nation, représentation, propriété, Paris: Éditions Champ libre. Labov, William (1972): „Some features of the English of Black Americans“, in: Bailey, Richard W./ Robinson, Jay L. (Hrsg.), Varieties of Present-Day English, New York: MacMillan, 236-255. Lafont, Robert (1968): Sur la France, Paris: Gallimard. Maas, Utz (1974): Argumente für die Emanzipation von Sprachunterricht und Sprachstudium, Frankfurt/ Main: Athenäum-Fischer. Otten, M. (1976): Sprechplanung und Sprecherbewußtsein (am Beispiel des DOM Martinique), Staatsarbeit Frankfurt/ Main. Robin, Régine (1973): Histoire et linguistique, Paris: Colin. Schlieben-Lange, Brigitte (1976): „Soziolinguistik“, in: Stocker, Karl (Hrsg.): Taschenlexikon der Sprach- und Literaturdidaktik, Kronberg/ Frankfurt/ Main: Scriptor und Hirschgraben, 405-409. <?page no="71"?> Ai las - que planhs? Ein Versuch zur historischen Gesprächsanalyse am Flamenca-Roman* Die Frage nach den kulturellen und historischen Unterschieden im Vollzug sprachlicher Handlungen beschäftigt mich seit längerer Zeit; 1 allerdings habe ich mich bislang mehr auf einzelne Sprechakte oder Sequenzen beschränkt. Dabei ging es mir vor allem um zwei Fragestellungen: 1) die Existenz sprachlicher Handlungen (und entsprechender sprechaktbezeichnender Verben) in der betreffenden Sprache/ Kultur; 2) die Zuordnung der Ebene der Bedeutung zur Ebene des Sinns und das Ausmaß der einzelsprachlichen/ einzelkulturellen Fixierung dieser Zuordnung. Durch die breite Rezeption der Konversationsanalyse und die Ausarbeitung von Analyseverfahren für ganze Gespräche 2 wird auch die Frage nach kulturspezifischen und epochenspezifischen Ausprägungen von Gesprächsstrategien ungleich komplexer. Einmal müssen neben der Ebene der sprachlichen Handlung zumindest auch die Ebene der Reziprozitätsherstellung (Verständigung) und die Ebene der formalen Organisation berücksichtigt werden; 3 zum anderen ist die Datenbasis, zumindest was die historische. Fragestellung angeht, ganz anders geartet: wir sind auf die überliefer- * Zuerst erschienen 1979 in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 2, 1-30. 1 Schlieben-Lange 1976; Schlieben-Lange/ Weydt 1979a [1979]; Schlieben-Lange/ Weydt 1979b [1978]. 2 Als Einführung in die Konversationsanalyse: Kallmeyer/ Schütze 1976. Diese beiden Autoren haben ihr Beschreibungsinstrumentarium in einigen weiteren Aufsätzen entfaltet, vgl. Literaturverzeichnis. Etwas andere Ansätze bei Henne/ Rehbock 1979 und Behrens u. a. 1976. 3 Diese drei Ebenen entsprechen der Systematik bei Kallmeyer und Schütze. Bei der ersten Ebene der Reziprozitätsherstellung geht es um die Begründung der Möglichkeit von Kommunikation, z. B. in der Form von Basisregeln wie in der verstehenden Soziologie (z. B. Cicourel) oder in der Form von Konversationsmaximen (Grice). Die zweite Ebene der Gesprächsorganisation, wird im Anschluß an die amerikanische Konversationsanalyse, besonders die Arbeiten von Sacks, Schegloff und Jefferson beschrieben. Bei der dritten Ebene der Handlungskonstitution geht es um die Dinge, die bisher vor allem die Sprechakttheorie beschäftigt haben. <?page no="72"?> 52 Ai las - que planhs? ten Texte verwiesen. 4 Dies impliziert zum ersten ein methodisches Problem. Wir müssen mit dem vorlieb nehmen, was überliefert ist, allenfalls nach vergleichbaren Erscheinungen im Umfeld forschen. Wie immer bei hermeneutischem Vorgehen sind wir auf die Rekonstruktion des Sinnzusammenhangs des betreffenden - einmaligen - Texts angewiesen. Die Möglichkeiten der Gesprächsanalyse an aktuellen Texten entfallen: es ist nicht möglich, durch geeignete Versuchsanordnungen, mit systematischer Variation der verschiedenen Variablen, ein aussagekräftiges Korpus zu erstellen. Weiterhin liegen die Gespräche bereits in „aufbereiteter“ Form vor, sei es in literarischer Form, sei es in der Form halb-literarischer Gesprächsbücher, sei es, in seltenen Fällen, als Mitschrift natürlicher Gespräche. 5 Das Problem des Transkribenten, ‚gemäß seiner Intention‘ eine geeignete Transkription zu entwickeln, entfällt also. In literarischen Texten sind die Gespräche meist stilisiert und pointiert, also gerade gefiltert durch die Intention des Autors, nicht einfach Mitschriften des zu seiner Zeit Üblichen. Wenn man dies berücksichtigt, kann man trotzdem versuchen, die in einer Epoche üblichen Gesprächstechniken zu rekonstruieren. Neben der Frage nach ‚den tatsächlich verwendeten Verfahren der Gesprächsführung‘ müssen wir auch die Frage stellen, ob ‚explizit Regeln für die Führung von Gesprächen formuliert‘ oder diskutiert werden. Damit kommt neben in einem engen Sinn literarischen Texten (wo häufig Verfahren und Regelformulierung nebeneinanderstehen), die ganze Gattung des Gesprächskodizes wieder in den Blick. 6 Und diese Tatsache, nämlich daß parallel zu den zur Anwendung kommenden Verfahren häufig die Regeln thematisiert werden (oder separat in eigenen Textsorten), die die Verfahren leiten (oder leiten sollten), macht eine weitere Besonderheit literarischer Texte aus. 7 4 Auf die methodischen Schwierigkeiten mit der Datenbasis von historischen Gesprächsanalysen gehen Henne/ Rehbock 1979: 235 f. ein. Vgl. Henne 1979. 5 Solche Mitschriften liegen z. B. in den verschiedenen Veröffentlichungen der Debatten der Französischen Revolution vor (zur Analyse vgl. Gumbrecht 1978), wobei es sich selbstverständlich um stark vorbereitete und stilisierte Gesprächsformen handelt. Einen seltenen Glücksfall stellen die Mitschriften von natürlichen Gesprächen im 19. Jh. durch einen Frankfurter Lehrer dar (Vgl. Schanze 1979). 6 Vgl. Strosetzki 1978. 7 Die Regeln, die Alltagsgespräche leiten, bleiben weithin unexpliziert, da die Unterstellung geteilten Wissens in dieser Hinsicht gerade eine Grundlage alltagsweltlicher Kommunikation ist. In literarischen Texten werden dagegen gerade häufig diese zugrundeliegenden Regeln thematisiert. In diesen Zusammenhang gehört auch, dass in literarischen Texten häufig Kommunikationskonflikte und -zusammenbrüche dargestellt werden. Dadurch werden sie zu wertvollen Informationsquellen über Aspekte der Kommunikation, deren alltagsweltliche Ausprägungen nur schwer zugänglich und insbesondere nicht in Versuchsanordnungen zu simulieren sind. Zur Problematik der Kommunikationskonflikte und ihrer Untersuchung an literarischen Texten Schütze 1976 [1980]. Zur Untersuchung von Kommunikationskonflikten in Alltagsgesprächen Kallmeyer 1979b. <?page no="73"?> Ein Versuch zur historischen Gesprächsanalyse 53 Schließlich ergibt sich noch eine dritte Frage für eine Gesprächsanalyse in historischer Absicht: Sie betrifft nicht einzelne Verfahren oder Regeln, die in Gesprächen wirksam sind oder für sie formuliert werden, sondern die ‚Bewertung von Gesprächen‘ im allgemeinen. 8 Ich fasse die drei Fragestellungen einer historischen Gesprächsanalyse noch einmal zusammen: 1) Welche Verfahren der Gesprächsführung auf verschiedenen Ebenen (Verständigung; formale Organisation; Handlungssinn; eventuell auch noch Interaktionsmodalitäten; Sachverhaltsdarstellungen) sind aus den vorliegenden Texten zu erschließen? 2) Werden in den Texten explizit Regeln für Gesprächsführung formuliert? 3) Läßt sich die gesellschaftliche Bewertung des Gesprächs oder bestimmter Formen des Gesprächs aus den zugänglichen Texten erschließen? An einem mittelalterlichen literarischen Text möchte ich zwei komplementäre Fragestellungen erläutern: - nach allgemeinsten Techniken der Lösung komplexer verbaler Aufgaben; - nach kulturspezifischen und epochenspezifischen Unterschieden bei eben diesen Lösungsversuchen. Der Text, dem ich gesprächsanalytisch zu Leibe rücken will, ist der altprovenzalische Flamenca-Roman. Es handelt sich um einen faszinierenden, schillernden Text, der der Romanistik aufgrund seiner Einzigartigkeit immer große Schwierigkeiten bereitet hat. Mit wenigen Ausnahmen haben die Provenzalisten auch einen großen Bogen darum gemacht. Zunächst kurz der Inhalt: Die schöne Flamenca wird mit dem edlen Ritter Archimbaut verheiratet. Auf einem Turnier erweckt die Königin Archimbauts Eifersucht dadurch, daß sie ihn auf die Tatsache hinweist, daß der König Flamencas Ärmel trägt. Er tut dies jedoch aus einem allgemeinen Lebensgefühl heraus, nicht weil er zu Flamenca ein spezielles Verhältnis hätte. Zu Hause verfällt Archimbaut zusehends dem Eifersuchtswahn, meidet alle gesellschaftlichen Ereignisse, vernachlässigt sich und sperrt Flamenca in einen Turm ein. Nun hört der ebenfalls edle Ritter Guillem de Nevers von Flamencas Schönheit und Schicksal und mietet sich in der Nähe ein. In einem Traum verrät ihm Flamenca, wie sie zueinanderkommen könnten. Er folgt ihren Ratschlägen: Er dient sich dem Ortsgeistlichen als Diakon an und darf in dieser Eigenschaft an jedem Sonn- und Feiertag Flamenca den Psalter zum Kuß reichen. Bei dieser Gelegenheit können sie jeweils eine zweisilbige Äußerung tun. Nach drei Monaten (mit insgesamt 22 Gesprächs-turns) haben sich die Liebenden in den Thermalbädern verabredet. Guillem hat mittlerweile ei- 8 Vgl. Henne/ Rehbock: 236 ff. <?page no="74"?> 54 Ai las - que planhs? nen unterirdischen Gang vom Bad zu seinen Gemächern graben lassen. Und dort haben sie „gran joi e deport“, zunächst in Form von Gesprächen und Zärtlichkeiten, schließlich auch in der vollständigen körperlichen Vereinigung. Nun beschließt Flamenca, Archimbaut von seiner Eifersucht zu heilen und ins gesellschaftliche Leben zurückzukehren. Sie schwört Archimbaut, daß sie von nun an ebenso gut auf sich aufpassen wollte, wie bisher er auf sie. Archimbaut geht dann auf Abenteuerreise, wird wieder zum guten Ritter, lernt unterwegs Guillem kennen und lädt ihn zum Turnier auf seiner, Archimbauts, Burg ein. Zum ersten Mal seit zwei Jahren findet hier wieder gesellschaftliches Leben statt. Archimbaut führt Flamenca in aller Form Guillem zu, sie können sich öffentlich sprechen und kosen. Guillem trägt Flamencas Ärmel im Turnier, diesmal kein leeres Symbol wie im ersten Turnier. Hier bricht der Roman ab. Für die Enthaltsamkeit der Romanistik in Hinsicht auf den Flamenca- Roman gibt es viele Gründe: 1) die geringe Zahl von überlieferten Romanen im provenzalischen Kulturraum: Dadurch stellt sich das Problem der Eigenständigkeit oder Abhängigkeit des provenzalischen Romans in Vergleich mit dem altfranzösischen Roman. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Kulturraum ist für die Flamenca besonders schwer zu beantworten. Zwar requiriert R. Nelli (1966) die Flamenca als Manifestation okzitanischer Denkweise; doch allein die Tatsache, daß sämtliche Personen und Schauplätze gerade nicht dem okzitanischen Kulturraum angehören, lassen die Stellung der Flamenca in der okzitanisch-französischen kulturellen Auseinandersetzung wesentlich problematischer erscheinen. 2) der verhältnismäßig späte Abfassungszeitpunkt: Sicher können nicht die gleichen Produktionsvoraussetzungen wie für den klassischen, höfischen Roman etwa eines Chrétien de Troyes angenommen werden; sondern sowohl der sogenannte ‚Sitz im Leben‘, wie auch das Selbstverständnis der Gattung dürften sich in den dazwischenliegenden Jahren grundlegend verändert haben. So ist z. B. gerade im Verhältnis der beiden großen Kulturräume (1) durch die Albigenserkriege eine vollständige Veränderung eingetreten. Weiterhin liegt in diesem Zeitraum die gesamte Theoretisierung der Minneauffassung. Der Bezugspunkt eines gattungsgeschichtlichen Vergleichs ist schwer auszumachen. Sind es die späteren höfischen Romane etwa eines Jean Renart oder eher allegorische Romane wie der Rosenroman? Je nachdem, wie die Beantwortung dieser Frage ausfällt, könnte erst die Frage nach dem konservativen oder innovativen Charakter der Flamenca gestellt werden. <?page no="75"?> Ein Versuch zur historischen Gesprächsanalyse 55 3) die Eifersuchtsthematik im Roman: Das Problem des eifersüchtigen Ehemanns und des Unterschieds zwischen Ehe- und Minne-Beziehung - in dieser Hinsicht ist die Zugehörigkeit zum okzitanischen Kulturraum unverkennbar - ist ein in der altprovenzalischen Lyrik vieldiskutiertes Problem. Aber die Thematik ist eben gerade an ein anderes Gattungssystem: die lyrischen Genera, und hier wieder besonders an die dialogischen Genera (joc partit, tenzo) gebunden. Die drei genannten Problemkreise (Zugehörigkeit zum okzitanischen oder französischen Kulturkreis, späte Abfassungszeit, Thematik, die traditionell in einer anderen Gattung behandelt wird) machen in ihrem Zusammentreffen aus der Flamenca ein vollständig isoliertes, schwer zugängliches Werk. In den älteren Arbeiten wird der Roman vor allem als Sittengemälde verstanden, aus dem eine Fülle von Details über höfische Verhaltensweisen entnommen werden konnte. Die erste große Auseinandersetzung mit den kompositorischen Gesichtspunkten lieferte Kurt Lewent (1933), der als entscheidendes Thema die Eifersucht, allerdings unter psychologischem Gesichtspunkt, identifizierte. Drei neuere Interpretationen scheinen mir sehr wichtige Aspekte zu behandeln. Ilse Nolting-Hauff (1959) behandelt den Flamenca-Roman unter dem Gesichtspunkt der ‚Liebeskasuistik‘ und rückt ihn damit in die Nähe der mittellateinischen Streitgespräche (conflictus). Sie sieht von allen Forschern am deutlichsten die zentrale Stellung (auch im wörtlichen Sinne) 9 der verschiedenen Formen des Redens und die Bedeutung des Sprechens auf zwei Ebenen (Gemeintes/ Gesagtes). Der Roman beinhalte die „Entdeckung einer terra incognita nicht der Sprache, sondern des gesellschaftlichen Sprechens“ (154). Sie betont die „Überlegenheit der sprachlich-rationalen über die ‚realistische‘ Tendenz“. (98). Weiterhin lenkt sie die Aufmerksamkeit auf die starke Selbstliterarisierung des Gesprächs im Roman. Christoph Schwarze (1967) kommt, aufgrund einer verfeinerten Strukturanalyse, zu der Auffassung, daß das zentrale Thema die ‚Eifersucht‘, und zwar ‚in ihren gesellschaftlichen Auswirkungen‘, ist. Die höfische Lebensform wird gestört, wenn Ehe und amor verwechselt werden. Sie kann restitutiert werden, wenn beides wieder klar geschieden wird. Alberto Limentani (1977) hebt noch stärker als Nolting-Hauff den Aspekt der Selbstliterarisierung hervor. Der gesamte Flamenca-Roman, so ergibt seine semiotische Analyse, sei ein kunstvolles ‚Verweissystem auf Elemente verschiedener literarischer Kodes‘. Dadurch bringe der Roman als summa der Traditionen eine dynamische Komponente in die vorgeblich ahistorische Geschichtsauffassung des Mittelalters. 9 Vgl. unten Schema zum Aufbau. <?page no="76"?> 56 Ai las - que planhs? Diese drei Interpretationen weisen jeweils auf für das Verständnis der Flamenca zentrale Punkte hin. Ich möchte jedoch auf einem Gesichtspunkt insistieren, der auch in der Arbeit von Nolting-Hauff noch nicht der zentrale Rang zuerkannt wird, den er meiner Meinung nach für das Verständnis des Flamenca-Romans hat und den ich einmal den ‚konversationellen‘ Aspekt nennen möchte. Gerade die drei genannten Arbeiten suggerieren implizit durch Verweise auf dialogische Gattungen ebenfalls eine solche Interpretation: Schwarze durch den Verweis auf die dialogischen Genera, in denen die gelos-Thematik traditionell verhandelt wird, Nolting-Hauff durch den Verweis auf den minnetheoretischen Diskurs, Limentani durch Verweis auf die provenzalische Tradition der tenzo. Ich möchte also behaupten, daß die Flamenca vor allem ein ‚Konversationsroman‘ ist, ein Roman über das höfische Sprechen, das Interpretieren höfischen Sprechens, und das Regelwerk, das Sprechen und Verstehen leitet. Diese Interpretation scheint sich bei einer genaueren Analyse des Aufbaus der Flamenca geradezu aufzudrängen. Es ist ja bekannt, wie streng mittelalterliche Texte aufgebaut sind und welche wichtigen Hinweise für die Interpretation die Berücksichtigung der genauen numerischen Verhältnisse geben können. 10 Es wäre verwunderlich, wenn ein - aufgrund der letzten Interpretationen unbezweifelbar - stark theoretischer Roman keine solche Zahlenhinweise oder strukturellen Gesetzmäßigkeiten aufzuweisen hätte. Die Suche nach solchen Hinweisen wird im Fall der Flamenca etwas erschwert dadurch, daß nur ein einziges Manuskript und dieses in unvollständiger Form überliefert ist. Es lassen sich keine genauen Zahlenhinweise entnehmen, weil die Lücken am Anfang und am Ende (hier besonders hinderlich) sowie einzelne fehlende Blätter dies unmöglich machen. Trotzdem zeichnet sich sehr klar folgender Aufbau ab: 1. Teil 2. Teil 3. Teil 60-991 826-991 992-1560 1561-3844 2804-2959 2960-3844 3845-5734 5735-6655 5844-5927 6656-7181 6685-… 7182-8095 7715-7808 1. Fest 1. Ärmelszene Archimbauts Eifersucht Wilhelms Einführung; sein Plan Traum Plan Dialog Erfüllung Erster ausführlicher Dialog Bekehrung Archimbauts Schwur 2. Fest 2. Ärmelszene 10 Vgl. Rieger 1975 und die darin enthaltenen Verweise. <?page no="77"?> Ein Versuch zur historischen Gesprächsanalyse 57 Der 1. Teil und der 3. Teil sind vollständig spiegelbildlich gebaut. Dem ersten Turnier (1000 Verse), auf dem das gesellschaftliche Leben durch Erregung der Eifersucht zerstört wird, entspricht auch im Umfang genau das letzte Turnier (1000 Verse), in dem das gesellschaftliche Leben wieder aufersteht. Der Verwahrlosung Archimbauts durch Eifersucht im 1. Teil (in 600 Versen) entspricht seine Rückkehr ins gesellschaftliche Leben im 3. Teil (in 600 Versen). Nicht spiegelbildlich, sondern parallel, da jeweils am Ende des Turniers angesiedelt, sind die beiden Ärmelszenen: der Ärmel als leeres Symbol für allgemeine Lebensfreude ohne Konkretisierung in einem speziellen Verhältnis im 1. Teil und im 3. Teil dann das signifikante Ärmelsymbol für die Aufnahme des Liebespaars in den größeren gesellschaftlichen Kontext der Turniergemeinschaft. Weiterhin scheint mir bemerkenswert, daß sowohl das Ausscheiden Archimbauts aus der Gesellschaft als auch seine Reintegration eingeleitet wird durch ein Gespräch, nicht durch ein Ereignis. Beide Male kommen die Wandlungen Archimbauts in Gang ‚durch eine sprachliche Handlung, der jeweils in der Wirklichkeit nichts entspricht‘. Die Königin löst absichtlich/ unabsichtlich die Eifersucht Archimbauts aus durch die Vermutung/ Unterstellung, das Ärmelsymbol könnte auf ein konkretes Minneverhältnis zwischen dem König und Flamenca hinweisen, das tatsächlich nicht besteht. Die Reintegration Archimbauts in die höfische Gesellschaft wird ausgelöst durch den Schwur Flamencas, daß sie in Zukunft selbst auf sich genau so gut aufpassen werde, wie es Archimbaut bislang getan hat, was ja faktisch gerade nicht der Fall war. Die Ärmelszene mit anschließendem Dialog im 1. Teil ist also strukturell zweiwertig. Einmal ist sie parallel zur 2. Ärmelszene als Abschluß der jeweiligen Turniere (leeres/ erfülltes Symbol). Dann ist sie aber auch parallel zum Eid, der den dritten Teil einleitet, zu sehen. Beides sind die jeweils auslösenden Momente für Archimbauts Desintegration bzw. Reintegration in die höfische Gesellschaft. Der mittlere Teil, insgesamt dreimal so lang wie der erste und der dritte Teil, besteht aus einer Exposition zur Person Guillems, dem zentralen Dialog, und der Entwicklung der Liebesbeziehung. Die einzige zahlenmäßige Ungleichgewichtigkeit, die ich uninterpretiert lassen muß, ist die zwischen der Exposition und der weiteren Entwicklung der Beziehung. Dagegen scheint es mir ganz unbestreitbar, daß der 3-monatige Dialog das Herzstück des ganzen Romans ist. Dieser zentrale Dialog ist spiegelbildlich eingerahmt durch zwei Gespräche, in denen - im Gegensatz zum Zentraldialog - nichts rekonstruiert und geplant werden muß, sondern die beide ‚Idealfälle‘ höfischen Gesprächs sind: das Traumgespräch und das Gespräch der Liebenden beim ersten Treffen. Diese beiden Gespräche stehen wohl - in einem vagen säkularen Verständnis - auch im Verhältnis von Antityp und Typ. Diese beiden ausgeführten Gespräche bilden zusammen mit dem rudimentären Zentraldialog eine Trias, wobei die beiden Rahmengespräche Fälle höfischer <?page no="78"?> 58 Ai las - que planhs? Dialoge sind, während der Zentraldialog die den höfischen Dialogen zugrundeliegenden Interpretationsprozesse und Verhaltensnormen offenlegt. Es ist also nicht eigentlich ein ‚unhöfischer Dialog‘ 11 , sondern die komplementäre Seite des höfischen Dialogs, die hier einmal thematisiert wird. Die körperliche Erfüllung, übrigens auch in Form einer Entscheidung über einen Sprechakt (Nein-/ Ja-Sagen) präsentiert, hat vom Aufbau des gesamten Romans her gesehen eher eine marginale Position: das Konstruktionsprinzip scheint mir eher zirkulär als endbetont zu sein. Die spiegelbildliche Verklammerung der Teile (Turnier/ Turnier; Archimbaut/ Archimbaut; Traumgespräch/ Liebesgespräch) spricht dafür, daß der Höhepunkt jeweils in der Mitte, nicht am Ende einer Gliederungseinheit zu suchen ist. Nun befindet sich ziemlich genau in der Mitte des Zentraldialogs eine Stelle, in der die sprachliche Verständigung in gewisser Weise als Inbegriff des amour partagé präsentiert wird. 12 Die körperliche Vereinigung erscheint daneben mehr als Zugabe. Jedoch fehlen mir für diese Interpretation eindeutige Stützen: einmal sind die Zahlenverhältnisse, wie eingangs ausgeführt, nicht hundertprozentig zuverlässig. Zum anderen will ich zugeben, daß auch hier ein - wieder säkularisiertes - Antityp-Typ-Verhältnis vorliegen könnte: sprachliche Verständigung geht der körperlichen Vereinigung antitypisch voraus. Die eine Form der Vereinigung wäre in der Mitte, die andere Form am Ende des Hauptteils lokalisiert. In diesem Fall würde die Entscheidung zugunsten der Präponderanz des endbetonten Strukturschemas über das zyklische ausfallen. Ich meine jedoch, daß, der Gesamtaufbau eher auf die Präponderanz des zyklischen Prinzips hinweist und eine Kernstelle, falls es eine solche unterhalb der Ebene des Zentraldialogs als Gesamteinheit gibt, eher in dessen Mitte zu suchen sein müßte. Diese Bemerkungen zum Gesamtaufbau und zum Gewicht von Gesprächen innerhalb der Gesamtstruktur des Flamenca-Romans sollten meine These stützen, es handle sich insgesamt um einen ‚Konversationsroman‘. In meiner weiteren Analyse werde ich mich nicht auf die ‚normalen‘ Dialoge beziehen, sondern nur mehr auf den zentralen rudimentären Dialog, der sich aus 22 zweisilbigen Gesprächsbeiträgen zusammensetzt, die an 22 verschiedenen Sonn- und Feiertagen gesprochen werden. Die Wochen dazwischen sind ausschließlich ausgefüllt mit der Interpretation des letzten turn 13 und 11 Dies wird von Schwarze 1967, 292 f. gesagt. Es trifft auch zu, für Umstände und Form des Dialogs, ist aber eben nur eine Seite des Dialogs, der andererseits geradezu durch seine Mangelform Einsichten in die höfischen Dialogen zugrundeliegenden Prozesse erlaubt. 12 Vgl. unten bei V: D’Amor. 13 Unter turn versteht die Konversationsanalyse einen vollständigen Gesprächsbeitrag, von der Übernahme bis zum Abschluß. In Sacks u. a. 1974 wird das Regelsystem, das die Übernahme von turns in natürlichen Gesprächen leitet, entwickelt. Dieser auch methodologisch interessante Aufsatz eignet sich sehr gut als Einstieg in die Fragestellungen der Konversationsanalyse. <?page no="79"?> Ein Versuch zur historischen Gesprächsanalyse 59 der Planung des nächsten turn, wobei Interpretation und Planung manchmal ineinander übergehen. Die Situation unterscheidet sich für die beiden Dialogpartner insofern, als Guillem seine Überlegungen allein oder in einer Art Selbstgespräch mit dem fiktiven Ratgeber Amor anstellt, während Flamenca in ihren beiden Damen Alis und Margarida zwei sehr aktive Interpretations- und Planungspartnerinnen zur Seite hat. Ich werde im folgenden die 22 Gesprächsbeiträge und die dazwischenliegenden Planungs- und Interpretationstätigkeiten in zwei Durchgängen analysieren. In einem ersten Durchgang erläutere ich die entscheidenden Aspekte jeder turn-Einheit, d. h. des turn samt seiner Vor- und Nachbereitung. Der zweite Durchgang hat schematische Form, wobei ich für jeden turn eine Vorbereitungsphase, die eigentliche Realisierung und eine Nachbereitungsphase (in der entweder der Sprecher die möglichen Konsequenzen reflektiert oder der Angesprochene den turn interpretiert) unterscheide. In dieser schematischen Darstellung wird jeweils durch ein Stichwort notiert, welche Aktivitäten in den verschiedenen Phasen hinsichtlich verschiedener Ordnungsebenen 14 entwickelt werden. Ich unterscheide dabei folgende Gesichtspunkte: 1) Ebene der Reziprozitätsherstellung (REZ): Wird diese Ebene ausdrücklich thematisiert durch antizipierende bzw. rekonstruktive Überlegungen? 2) Ebene der formalen Gesprächsorganisation (GO): Geht es um die formalen Aspekte des Beginns oder der Fortführung des Dialogs? 3) Ebene der Sprechakte (SA): Welcher Sprechakt wird tatsächlich ausgeführt? Beziehen sich die planerischen oder interpretatorischen Tätigkeiten auf die elementaren Sprechakte? 4) Ebene der Handlungsmuster (HM): Oder beziehen sich die planerischen und interpretatorischen Tätigkeiten auf komplexere Handlungsmuster? 5) Ebene der Normen (NORM): Werden in irgendeiner der Phasen hinsichtlich einer der vier vorausgehenden Ordnungsebenen explizit Normen formuliert? 14 Die Vorstellung der Organisation von Gesprächen auf verschiedenen Ordnungsebenen entnehme ich den verschiedenen Arbeiten von Kallmeyer und Schütze. Sie schlagen neben den Ebenen der Reziprozitätsherstellung, der Gesprächsorganisation und der Handlungskonstitution (vgl. oben Anm. 3), die ich im folgenden berücksichtige, noch weitere Organisationsebenen zur Untersuchung vor: Konstitution der Sozialbeziehungen, Konstitution von Schemata der Sachverhaltsdarstellung (Erzählen, Argumentieren; Kallmeyer/ Schütze 1977); Konstitution von Interaktionsmodalitäten (Scherz vs. Ernst usw.; Kallmeyer 1979a). Zu diesem Modell: Schütze 1977; Kallmeyer/ Schütze 1977; Kallmeyer 1978. <?page no="80"?> 60 Ai las - que planhs? I. Ai las! Die unmittelbare Vorbereitung Guillems auf den ersten Gesprächsbeitrag besteht in zwei Anrufungen Amors um Inspiration für den entscheidenden Augenblick. Sein Plan ist für ihn klar: er will Flamenca seine Liebe offenbaren und sie - längerfristig - zu einem Treffen (in den Bädern, zu denen der Verbindungsgang bereits gegraben ist) überreden. Für ihn geht es mehr um ein organisatorisches Problem, nämlich das Problem des ‚Anfangs‘. 15 Wie kann er seinen Gesprächsbeitrag so formulieren, daß er als ‚Anfang‘ (summons) interpretierbar wird, der eine Fortsetzung (answer) erfordert. Für einen guten Anfang formuliert er normativ folgende Erfordernisse: Quar ben a obs que sia leu So que dirai, e bon e breu, E tal com posca leu entendre Cella que-m fai lo cor encendre. (v. 3867-3870) Diese Erfordernisse sind teils durch die kommunikative Situation (Kürze), teils durch das Problem des Anfangs (bon, leu a entendre) gegeben. Was den Wortlaut angeht, so verläßt er sich vollständig auf die Inspiration durch Amor, der ihm im entscheidenden Moment die Klage „Ai las“ eingibt. Anschließend beginnt er mit Amor zu hadern, ob dies ein guter Beginn war. Nun schaltet Guillem eine Phase der Antizipation der Verstehensmöglichkeiten von Flamenca ein. Amor behauptet es sei keine inhaltliche Aussage geplant gewesen, das Problem des Anfangs sei in optimaler Weise gelöst, das Gespräch habe begonnen. Guillem wirft Amor die Inhaltsleere dieses Anfangs vor. Be-m conoc per homen estrang, E dis ben leu: „D’aicest clergang Que-m dis „ai las! “ eu enten so Que cuja dir, mas s’alcun pro De mi aver el no-s pesses Non cug qu’en tal luc mi parles, E son dig voil eu.bon entendre, Mas car ve c’om mi vol defendre E tener presa et enclausa Que negus hom parlar non m’ausa Ni-m pot, em pla ni en carriera, El a trobat cesta maniera De parlar am mi si com pot, Cais per descug e per desnot.“ (v. 4083-4096) 15 Zur Behandlung des Problems des Anfangs in der Konversationsanalyse: Schegloff 1972. <?page no="81"?> Ein Versuch zur historischen Gesprächsanalyse 61 Er nimmt an, daß sie annimmt, daß er weiß, daß sie streng bewacht wird. 16 Folglich muß die Tatsache, daß er eine Möglichkeit ausfindig gemacht hat, sie anzusprechen, bedeutungsvoll sein. Vermutlich will er eine Gunst von ihr erhalten (pro aver). Nur ist sich Guillem der Wertung unsicher, die diese antizipierte Rekonstruktion erfahren wird. Könnte es nicht sein, daß sie den Vorgang als Gedankenlosigkeit und Verspottung auffaßt („per descug e per desnot“). Flamenca ist bei ihrer Interpretation des unerwarteten Geschehens in einer gänzlich anderen Lage als Guillem. Sie kennt nicht das gesamte angestrebte Handlungsmuster, kann also auch die Worte Guillems nicht als Anfang eines längerfristigen Dialogs deuten, sondern muß verschiedene Verstehensmöglichkeiten durchspielen. Zunächst scheint ihr der Widerspruch zwischen der Klage Guillems und ihrer beklagenswerten Lage nur eine Deutung zuzulassen: derjenige, der weiß, daß sie beklagenswert ist, und sich selbst beklagt, kann nur die Intention haben, sie zu verspotten (escarnir): E dis: „Eu dei ben dir: Ai lassa! Mas cel que dis „ai las“! non-s lassa E non es malautes ni pres, Ans (es) bels e gra(n)s, mais cortes No s’es ges trop quar m’esquarni. Peccat i fes, e pesa mi car no-l pesa del mieu enfern. […]“ (v. 4131-4137) Nun nimmt sie aber ihre Rekonstruktionsarbeit wieder auf und zieht zusätzlich eine Reihe von situationellen Umständen heran, die die Äußerung in anderem Licht erscheinen zu lassen. Die Auswahl des Ortes, die Tatsache, dass Guillem sehr leise sprach, daß er blaß wurde und seufzte, passen nicht zu der Intention der Verspottung. Aufgrund der Zuziehung dieser Begleitumstände revidiert sie ihre erste Interpretation. Volria-ra ges aissi enquerre? Autr’amor il cove aquerre: (v. 4157-4158) Zumindest besteht auch die Möglichkeit einer Werbung (enquerre). Bei beiden Interpretationsversuchen entfaltet Flamenca eine Aufeinanderfolge praktischer Schlüsse. 17 Nun zieht sie ihre beiden Damen heran und trägt ihnen zunächst nur das Faktum und die erste Interpretation vor. Quar us vassalz, non sai qui s’es, Ni mais no-l vi que-l conogues M’a hui laiamen escarnida. (v. 4183-4185) 16 Dieser Dreierschritt (ich nehme an, daß du annimmst, daß ich annehme) wird in der verstehenden Soziologie und der daraus entstehenden Konversationsanalyse als konstitutiv für Verstehens- und Planungsprozesse angenommen. 17 Zur Rekonstruktion des Gemeinten in Form von praktischen Schlussverfahren Wunderlich 1976a und b. <?page no="82"?> 62 Ai las - que planhs? Sie läßt sich, obwohl sie bereits das gleiche Räsonnement vollzogen hat, langsam überreden, daß es noch eine zweite Deutungsmöglichkeit gibt. Zunächst wenden sich die beiden Damen intuitiv gegen den Verdacht der vilanesa bei einem so schönen, gebildeten Herrn. Dann liefert Flamenca auf Befragen nach und nach die Anhaltspunkte für die zweite Interpretation: er habe die Augen gesenkt, geseufzt, sei rot geworden, so daß Alis zu dem Schluß kommt: - No-us o qual dir, per qu’en doptas? En vos enten, so sapias. (v. 4227-4228) Flamenca verlagert also ihren Selbstverständigungsprozeß ins Gespräch mit ihren Gespielinnen und überprüft gezielt, ob diese - bei gleichen Informationen - dieselben Schlüsse ziehen, was dann schließlich auch eintritt. II. Que planhs? Alis geht dann von der Interpretation gleich sehr gezielt zur Planung der Fortsetzung des Gesprächs über. Für sie ist aus der akzeptierten zweiten Interpretation klar, daß es sich bei „Ai las“ um einen Anfang handelt, der zunächst auf einer ganz formalen Ebene - eine Sequenzierung erfordert: 18 Mais vos fares gran cortesia S’adrejamen li respondes. (v. 4230-4231) Flamenca geht auf diesen Vorschlag ein, legt aber Wert darauf, daß die Fortsetzung auf der formalen Ebene bleibt und keine inhaltlichen Rückschlüsse zuläßt. Sie begründet das, indem sie sich auf die Norm bezieht, daß eine Dame ihr Herz verbergen muß, bis sie Gewißheit über die Absichten des Herrn hat. - Amiga, ben ieu o dises, Ans (nos) coven, so sai, trobar Tal mot que puescam acordar A so que-m dis prumierament; Quar ges fort ben adreitamen No-il puesc en escofet respondre, E donna deu son cor resconre, Sivals de primas, tan o quant, 18 Nachdem die Sprechakttheorie zunächst isolierte Sprechakte untersucht hatte, ging man dazu über, die Einbettung in größere Zusammenhänge, zunächst vor allem in Sprechaktpaare zu untersuchen. Dafür repräsentativ sind einzelne Arbeiten in Wunderlich 1972. Dies traf sich mit Ansätzen in der Konversationsanalyse, wo von Anfang an das sequencing, also die Organisation der Abfolge von Gesprächsbeiträgen eine große Rolle spielte (Schegloff 1972 und Schegloff/ Sacks 1973). <?page no="83"?> Ein Versuch zur historischen Gesprächsanalyse 63 C’om non conosca son talan; E deu motz dir d’aital egansa Que non adugon esperansa. (v. 4232-4243) Die Antwort muß also das rechte Maß zwischen Hervorrufung von Hoffnung und Hoffnungslosigkeit halten, formal die Fortsetzung ermöglichen, ohne inhaltlich eine Festlegung zu beinhalten. Der Vorschlag von Alis, „Que planhs“ zu fragen, findet die Zustimmung Flamencas, da er den ausgeführten Normen genügt. Der Sprechaktstatus von „Que planhs“ wie auch der darauffolgenden turns von Flamenca bedarf einer Erläuterung. Es handelt sich mit zwei Ausnahmen um Fragen, die aber nicht wie Fragen im allgemeinen initiativ sind, sondern eher reaktiv als zweiter Teil eines adjacency pair fungieren. 19 Die inhaltlichen Initiativen gehen von Guillem aus, und Flamencas Fragen haben eher die Funktion der formalen Fortführung. Oberflächlich stehen wir also vor einer Sequenzierungsserie F - A - F - A (Frage, Antwort), ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ der jedoch eher folgende Sequenzierung unterliegt: ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ S - A - S - A - S (Summons = Appell-Antwort). Erst in der zweiten Hälfte des Dialogs, nachdem eine Einigung auf das gemeinsame Handlungsmuster ‚Vereinbarung eines Termins‘ erfolgt ist, erhalten die Fragen von Flamenca initiativen Charakter und die soeben skizzierte Doppelstruktur löst sich auf. Die Interpretationsarbeit Guillems (in Form eines Disputs Guillems mit allen Körperteilen) bezieht sich genau auf die von Flamenca intendierte egansa zwischen esperansa und desesperar. Guillem kommt zu dem Schluß, daß es keinerlei Anhaltspunkte dafür gibt, aus „Que planhs“ etwas anderes als die Bereitschaft zur formalen Fortsetzung des Gesprächs zu entnehmen. Si Flamenca non resposes Cujera si c’om la tengues Per sorda e per erguillosa; Ges per tan non es amorosa. Se dis „que plans“ a ton „ai las“, Ja per also no-m proaras Que t’ame ni que-t voill’amar; D’al re ti coven a pensar. (v. 4453-4460) 19 Der Begriff des adjacency pair für zwei zusammengehörige Sprechakte, deren erster den zweiten notwendig macht (Frage - Antwort; Gruß - Gegengruß; Vorwurf - Rechtfertigung) stammt aus der Konversationsanalyse (Schegloff/ Sacks 1973). <?page no="84"?> 64 Ai las - que planhs? III. Mor mi Ohne weitere Planung äußert Guillem als nächsten turn „Mor mi“. Es ist überhaupt festzustellen, daß er, zunächst aufgrund seines fertigen Plans, wohl aber auch in einer spezifischen Rollenverteilung, seine Äußerungen meist unvorbereitet, intuitiv tut, während Flamenca und ihre Damen die jeweils nächste Äußerung unter Berücksichtigung ihrer Interpretationsergebnisse und unter Reflexion der geltenden Normen sorgfältig planen. Parallel dazu sind Guillems Nachbereitungsphasen stark emotional, während die Rekonstruktionen der drei Damen nach strengen Schlußregeln verlaufen. Die drei Damen erkennen der neuen Äußerung Guillems das Prädikat cortesa zu und einigen sich darauf, daß nun jede Ambivalenz der Einschätzung des übergeordneten Handlungsmusters beseitigt sei und von nun an nur mehr die zweite Interpretation (Werbung) als handlungsleitend gelten solle. Domna, fort vos deves penedre E vaus Amors colpavol rendre Quar hanc pensest qu’el si penses Causa que a vos enujes. (v. 4541-4544) IV. De que? Für die Vorbereitung und Nachbereitung des vierten turns gelten die Prinzipien, die bei II erörtert wurden, unverändert: die Damen suchen nach einer Antwort, wobei Einverständnis darüber besteht, daß sie dieselben Tugenden haben muß wie II; die Frage selbst ist, was ihren Sequenzcharakter betrifft, in der gleichen Weise zu interpretieren wie II und Guillem ist froh, daß durch Flamencas Äußerung die Fortsetzung ermöglicht ist. V. D’amor Die Vorbereitungsüberlegungen von Guillem zu diesem turn, die direkt aus der Interpretation von IV hervorgehen, scheinen mir zentralen Stellenwert zu haben. Die Charakterisierung des Gesprächs als gelungene Angleichung der Gesprächsbeiträge aneinander, als Prozeß der Verständigung deutet auf eine Vorwegnahme des amour partagé. Diese Annäherung ist so perfekt, wie sie sich ein einzelner nie ausdenken könnte: Quar be-il mou de gran gentilesa Qu’il ja pense tal sotilesa que sos motz ab los mieus acort. On plus los pessi ni-l(z) recort Melz los trop juns et aresatz (v. 4857-4862) Es ist dies eine sehr schöne Beschreibung der Grundstruktur des Dialogs: <?page no="85"?> Ein Versuch zur historischen Gesprächsanalyse 65 1) Die Gesprächsbeiträge werden miteinander auf formaler und inhaltlicher Ebene angeglichen (acort, juns e aresatz); 2) Die Rekonstruktions- und Planungstätigkeit der beteiligten Subjekte erfordert Aufmerksamkeit, Einfühlungsvermögen und Überlegung (solitesa, rason); 3) Ein Dialog hat durch die Beteiligung und Verschmelzung (1+2) zweier Subjekte eine andere Qualität als die Fiktion eines einzelnen. Aus Form (respon) und Inhalt (rason) der Beteiligung Flamencas am Dialog, die die oben erwähnte idealtypische Beschreibung ermöglicht, schließt Guillem, daß Flamenca nicht uninteressiert an ihm ist. Er bezeichnet diese Überlegungen selbst als „argumen“. Poiria esser ja per ren Ques el mi volgues negun ben? Quar mi respon si a rason Semblera que volgues mon pron. Si nom pesses, ja non parlera, E per so fas tal argumen: Cesta m’a donc a pessamen. (v. 4863-4870) Dieser praktische Schluß bezieht sich nicht auf die Verbindung von äußeren Umständen und Gesprächsbeiträgen, sondern auf die Tatsache, daß überhaupt sinnvoll miteinander geredet wird. Es handelt sich also um eine andere Art von praktischem Schluß, als wir ihn aus den Beschreibungen sog. ‚indirekter Sprechakte‘ 20 oder besser gesagt: als Beschreibung des Verfahrens der Zuordnung von Bedeutung und Sinn kennen. Dort wird ja unterstellt, daß grundsätzlich Kooperationsbereitschaft da ist, und diese Unterstellung ermöglicht, aus der Verbindung von Gesagtem einerseits und Verletzung von Redemaximen andererseits den Sinn von Redebeiträgen zu erschließen. Hier dagegen wird aus der - perfekten - Beobachtung von Kooperationsprinzipien auf eine zugrundeliegende Kooperationsbereitschaft geschlossen. Das Erschlossene ist also nicht sprachlicher Sinn, sondern eine Disposition des Dialogpartners. Es handelt sich also in gewisser Hinsicht um eine Umkehrung des bekannten Verfahrens, der wohl auch alltagsweltlich große Bedeutung zukommt. Die Art der Beteiligung Flamencas am Dialog wird von Guillem mit einem wertenden Ausdruck aus der höfischen Werteskala bedacht: „gentilesa“. Die 20 Die sog. ‚indirekten Sprechakte‘ wurden in der Sprechakttheorie zunächst als Sonderfall (vgl. die Beiträge in Wunderlich 1972), dann mehr und mehr im Rahmen der allgemeineren Frage nach der Zuordnung von sprachlicher Bedeutung und Sinn und unter Heranziehung von Konversationsmaximen im Sinne von Grice behandelt (Wunderlich 1976a und b). Weitere Literaturhinweise zum Problem der ‚indirekten Sprechakte‘ in Schlieben-Lange 1975/ 1979 und Meyer/ Hermann 1976. Zur Zuordnung von Bedeutung und Sinn: Schlieben-Lange/ Weydt 1979b [1978]. <?page no="86"?> 66 Ai las - que planhs? Eröffnung der Liebe Guillems bewirkt bei den drei Damen keine besonderen Gefühlsbewegungen, sondern wird lediglich als Bestätigung der früher geleisteten hermeneutischen Arbeit (I, III) aufgenommen. Die Schlußverfahren bei der Interpretation des ersten turn und die Veranschlagung des turn III als Beseitigung der Ambivalenz von konkurrierenden Deutungsmöglichkeiten haben sich also bewährt. VI. Per cui? Eigentlich ist diese Frage fast überflüssig, da es wohl zu dem damaligen wie heutigen Normenvorrat gehört, solche weitreichenden Geständnisse wie das Guillems nicht einem völlig Unbeteiligten zu machen. Flamenca besteht jedoch auf der Vervollständigung der inhaltlichen Informationen, die dann als Grundlage ihrer weiteren Entscheidungen dienen sollen. Sie will sich völlige Sicherheit (serai certa) über die Intentionen ihres Dialogpartners verschaffen. Guillem empfindet dagegen sehr stark die Unangebrachtheit der Frage und versteht die Suche nach Sicherheit als Zweifel. Und Zweifel nach solch weitgehenden Offenbarungen kommt einer Verspottung sehr nahe (abetz). E dis soven quan fo soletz; „Bel sener Dieus, es so abetz Quan dis: „Per cui? “ e dopta y […]“ (v. 4943-4945) Man kann hier sehen, wie ein eindeutig bestimmbarer Sprechakt, in diesem Fall eine Frage nach einem bestimmten noch fehlenden Element eines Informationssets, seinerseits bestimmten anderen Handlungsmustern hierarchisch untergeordnet ist. In diesem Fall können wir sogar eine dreistufige Hierarchie annehmen: Beschaffung von Sicherheit über einen Sachverhalt Frage Zweifel Hohn (nach einer Teilinformation, die aus der Situation erschlossen werden kann). Auch diese Hierarchisierung kann kulturspezifisch verschieden ausfallen. Mir scheint, daß das Erfragen von aus der Situation evidenten Informationen relativ generell als unpassend angesehen und nicht als Informationsfrage, sondern als besondere Art der Frage, als Insistieren oder als Zweifel interpretiert wird. Die Zuordnung dieses ‚Zweifels‘ auf einer dritten Ebene zu dem Bereich ‚Hohn-Spott‘ scheint mir aber kulturspezifisch zu sein. Es handelt sich dabei um einen im Mittelalter besonders differenzierten und in vielen Sprechaktverben ausgefalteten Bereich. <?page no="87"?> Ein Versuch zur historischen Gesprächsanalyse 67 VII. Per vos Die letzte noch fehlende (aber bereits vorher erschließbare; S. VI) Information, nämlich daß Flamenca die Angebetete ist, gibt Guillem gewissermaßen als Offenbarung (tot dire): er hat nun in dieser Hinsicht kein privates Wissen mehr; all es ist ausgesprochen. Für Flamenca schließt sich damit das Handlungsmuster enquerre, das bei der Interpretation des turn I als Interpretationsmöglichkeit aufgetaucht war. Der Punkt ist erreicht, wo die Realisierung des ersten Ziels von Guillem (seine Liebe gestehen) und die Identifizierung des Handlungsmusters ‚Werben‘ (enquerre) durch Flamenca aufgrund systematischer Nachfragen zusammenfallen. Guillem hat seine Intention verwirklicht; Flamenca hat sich eine mögliche Interpretation erarbeitet und sie systematisch verifiziert. VIII. Que puesc? Beide haben nun den gleichen Kenntnisstand, und durch Abschluß des Handlungsmusters ‚Offenbarung der Liebe‘ ist Flamenca wieder im Zugzwang, und zwar nicht nur was die turn-Abfolge angeht, sondern die Initiierung eines neuen übergreifenden Handlungsschemas. Das Problem der Sequenzierung stellt sich für sie also in zweierlei Hinsicht. Sie muß, will sie eine Fortsetzung des Gesprächs, sich einen nächsten turn ausdenken, der seine Sequenzierung ermöglicht (turn-by-turn) 21 . Sie muß aber auch bei der Auswahl dieses turns die weitere Entwicklung des Gesamtdialogs (overall) im Auge behalten, da eine erste Phase (Sammeln von Informationen zur Verifizierung der Annahme, daß es sich um das Handlungsmuster ‚Werbung‘ handelt) abgeschlossen ist. Sie entschließt sich, als nächsten turn ein mot doptos‘ zu wählen, das Guillem im Gleichgewicht zwischen Hoffnung und Verzweiflung halten soll. Respondet li un mot’deptos Qui-l fassa bon entendement E-l don amor ab espavent. (v. 5024-5026) Zu dieser Entscheidung führt die Reflexion über zwei konkurrierende Normen: Alis rät, nun schnell zu handeln, denn allzu langes Hinhalten verdirbt die Liebe. Flamenca vertritt dagegen die Norm, daß die Dame nicht allzu offen sein darf, sondern ‚verdeckt‘ (cubert) sprechen muß: 21 Die Unterscheidung zwischen turn-by-turn-Organisation und over-all-structure spielt in den unveröffentlichten Lectures von H. Sacks eine Rolle, vgl. Schlieben-Lange 1979a [1980]. Dieses Problem der Hierarchisierung von Kommunikationsmustern und einzelnen turns bzw. Sprechakten (je nach betrachteter Organisationsebene), ist jedoch bislang innerhalb der Sprechakttheorie und Konversationsanalyse nicht hinreichend behandelt, ja nicht einmal zulänglich formuliert worden. <?page no="88"?> 68 Ai las - que planhs? - „Bell’amigueta, si-us plasia Sol qu’en pues(c)? li demandaria Car cest motz es aissi cubertz que ja per lui non sera certz Qu’ieu l’ami ni dese(s) peratz.“ (v. 5027-5031) Die Entscheidung fällt zugunsten eines turn, der ambivalent ist und ganz gegensätzliche Deutungen ermöglicht: Die Frage „Que puesc“ kann auf der Ebene der Handlungsmuster als Ermunterung oder Abweisung interpretiert werden (amor - espavent; certz - desesperatz; conortar - esglaiar). Guillem akzeptiert diese Zweideutigkeit (doptansa) zwischen Trost (conort) und Erschrecken (esglai): E dis: „cest motz aitan m’aporta Que daus una part mi conorta E daus l’autra part si m’esglaia Que non sai cal conort m’en traia En qu’en puesc? non ai dan ni pron; Ab qu’en puesc? non dis hoc ni non Pero qui ben (i) vol entendre Ben sembla que mais deja penre Vaus hoc que vaus non tal deptansa Ben atrobet mot de balansa; Veramens es domna reials Que motz faitisses naturals Atroba dese contra-ls mieus. (v. 5043-5055) Er bestätigt sogar, daß die Sequenzierung des Gesprächs durch ein „mot de balansa“ (ausgewogenes Wort), also einen Sprechakt, der ganz gegensätzliche Sinnzuweisungen ermöglicht, besonders gelungen ist. Der Ambivalenz wird hoher Wert zuerkannt: nur eine perfekte Dame kann in dieser Ausgeglichenheit antworten. Die Begeisterung über die Wahl des ambivalenten Sprechakts verstärkt sich bei Guillem zur Sicherheit, daß die für ihn positive Interpretation zutrifft. Die Tatsache der Fortsetzung und zwar der Fortführung in dieser perfekten normgerechten Weise ermöglicht ihm den Schluß, daß er ermuntert werden soll, seine Werbung fortzuführen, und zwar konkreter und zielgerichteter. Das gemeinsame Wissen ist nun hergestellt, das beiderseitige Einverständnis kann erschlossen werden. Es kommt nun darauf an, Realisierungsmöglichkeiten zu finden. Quan dis: „Qu’en pusc? “ atertan val, con si disia: Eu en farai Tot so que ja far en poirai. Non fail volontatz ni sabers Ab sol que-l ters fassa poders.“ (v. 5078-5082) <?page no="89"?> Ein Versuch zur historischen Gesprächsanalyse 69 Das Gespräch tritt in eine neue Phase ein: die Vorverständigung über Voraussetzungen und Intentionen ist abgeschlossen. Eine gemeinsame Interpretationsbasis für zukünftige Aktionen ist hergestellt. Die Gesprächszüge lassen von nun ab, von dieser Basis gemeinsamer Interpretationen aus, weniger Interpretationsspielraum zu und sind nicht mehr verständigungs-, sondern stärker handlungsorientiert. IX. Garir Guillem antwortet auf die perfekt zweideutige Frage mit einem weitgehenden Vorschlag. Ich erinnere an die bei II analysierte durchgängige Struktur, daß die scheinbar reaktiven Antworten jeweils Appelle enthalten. X. Consi Flamenca fühlt sich nicht verpflichtet, sich direkt zu dem Vorschlag zu verhalten, da die Situation ihr keine Realisierungsmöglichkeit zuzulassen scheint. Die Einbettung in die Situation läßt ihr den Vorschlag verhältnismäßig unverbindlich erscheinen. So sieht sie auch keine Notwendigkeit, ihn zurückzuweisen, sondern fragt - unter anderem aus Neugierde - nach Realisierungsmöglichkeiten. Mit dieser Frage, die aus ihrer zu unrecht negativen Einschätzung der Realisierungsmöglichkeiten herrührt, hat sie sich eine vollständige Zurückweisung des Antrags verbaut oder zumindest sehr erschwert. So kann Guillem diese Frage auch als Einverständnis interpretieren. XI. Per gein Die Antworten bzw. Vorschläge Guillems kommen (wie auch IX) ohne vorherige Überlegung, da er sich jetzt einer gemeinsamen Verstehensbasis, nämlich des Einverständnisses darüber, daß sich beide im Handlungsmuster ‚Werbung‘ befinden, sicher ist und also seinen längst durchdachten Plan ablaufen lassen kann. XII. Pren l’i Hier wird zum ersten Mal die bisherige Struktur des Dialogs durchbrochen (nur noch einmal beim allerletzten turn): Flamenca stellt nicht eine Frage, sondern äußert eine Aufforderung. Während die Fragen Flamencas vor allem eine Funktion auf der Organisationsebene hatten, nämlich die Sequenzierung zu ermöglichen, liegt die Funktion der hier vorliegenden Aufforderung auf der Handlungsebene: sie hat den Sinn einer Zustimmung <?page no="90"?> 70 Ai las - que planhs? auf Guillems Vorschlag. Die Zustimmung zu dem Vorschlag hat im Gesamthandlungsmuster ‚Werbung‘ die Funktion eines Liebesgeständnisses (confes, descobri). Mais tot apertamen confes En aquest mot qu’ieu voil s’amor. (v. 5252-5253) Während die turns I-VII der Identifizierung und Etablierung des Handlungsmusters ‚Werbung‘ dienten, ist es nun nach VIII-XII durch das Geständnis Flamencas zu einem vorläufigen Abschluß gebracht. Flamenca äußert noch leise Zweifel, ob sie durch die schnelle Zustimmung nicht die Normen verletzt: Non sai si m’i ai deisonor Car en aissi leujaramen Amor d’aital home consen. (v. 5254-5256) Ihre Damen reden ihr jedoch die Bedenken unter Hinweis auf die besonderen Umstände aus. XIII. Pres l’ai XIV. E cal Guillem ist nun, da alles nach Plan verläuft, jeder hermeneutischen und planerischen Tätigkeit enthoben. Flamencas und ihrer Gespielinnen Überlegungen beziehen sich mehr auf die vergangene Ungemach und die zukünftigen Freuden als auf die Dialogstruktur. Mit „E cal“ wird die alte Frage-Antwort-Struktur wieder aufgenommen, diesmal jedoch nicht, um zu einer Verständigung über die Situation zu gelangen, sondern in der Absicht, eine Verabredung zu treffen. XV. Iretz XVI. Es on XVII. Als banz XVIII. Cora XIX. Jorn breu Das von beiden getragene Handlungsmuster ‚Terminvereinbarung‘ läßt wenig Platz für hermeneutische Anstrengungen, sondern läuft mechanisch <?page no="91"?> Ein Versuch zur historischen Gesprächsanalyse 71 ab. Ort und Zeit des Treffens müssen geklärt werden. Die Fragen und Antworten sind klar dem Handlungsmuster ‚Terminvereinbarung‘ untergeordnet. XX. Plas mi Ein letztes Mal überlegt Flamenca, ob sie endgültig zustimmen soll: „autrejar o escondir“. Mit der abschließenden Zustimmung durchbricht sie zum zweiten Mal die durchgehende Dialogstruktur. Sie schließt damit den gesamten Dialog, das gesamte Handlungsmuster ‚Werbung‘ und das Teilhandlungsmuster ‚Terminvereinbarung‘. An der nachfolgenden schematischen Darstellung lassen sich die entscheidenden Überlegungen und Realisierungen in Hinsicht auf die einzelnen oben unterschiedenen Ebenen ablesen. REZ GO SA HM NORM I Ai las V. G. 3845-3879 - 3935-3946 R. 3949 N. G. 3992-4108 N. F. 4123-4228 Verstehensmöglichkeiten F.s Rekonstruktion Anfang Summons Klage 1. escarnir 2. enquerre „bon e breu“ II Que planhs V. F. 4229-4313 R. 4344 N. G. 4359-4462 N. F. 4463-4492 Sequenzierung Answer Formale oder inhaltl. Forts. technische Probl. Frage „cor rescondre“ „egansa“ III Mor mi R. 4503 N. F. 4531-4560 N. G. 4589-4730 Summons Behauptung Ambivalenz beseitigt „cortesa“ IV De que V. F. 4562-4579 R. 4761 N. F. 4778-4838 N. G. 4839-4845 „respondre“ Answer Forts. Forts. Frage <?page no="92"?> 72 Ai las - que planhs? V D’amor V. G. 4846-4872 R. 4878 N. F. 4888-4911 acord argumen Bestät. früherer Vermutungen Antwort „gentilesa“ VI Per cui V. F. 4912-4936 R. 4940 N. G. 4941-4950 Ergänzungsfrage Frage Zweifel Hohn VII Per vos V. G. 4951-4958 R. 4968 N. F. 4970-4980 Antwort „tot dire“ „enquerre“ VIII Qu’en puesc V. F. 4984-5036 R. 5039 N. G. 5043-5082 Sequenz. turn-by-turn over-all Basis hergestellt „mot doptos“ Frage „conortar“ „esglaiar“ „cubertz“ „mot de balansa“ IX Garir R. 5096 N. F. 5099-5114 Antwort (Vorschlag) X Consi V. F. 5119-5148 R. 5155 N. G. 5176-5198 Frage (nach Mitteln) Einverständnis XI Per gein R. 5204 Antwort (Vorschlag) XII Pren l’i V. F. 5210-5272 Aufforderung (= Zustimmung; Geständnis) „confes“ „descobri“ „desonor? “ XIII Pres l’ai 5309 N. F. 5315-5400 Behauptung <?page no="93"?> Ein Versuch zur historischen Gesprächsanalyse 73 XIV E cal V. F. 5401-5456 R. 5458 Frage Terminvereinbarung XV Iretz R. 5460 Antwort XVI Es on R. 5466 Frage XVII Als banz R. 5467 Antwort XVIII Cora V. F. 5476-5482 R. 5487 Frage XIX Jorn breu R. 5499 N. F. 5524-5526 Antwort XX Plas mi V. F. 5527-5648 R. 5721 „autrejar o escondir“ Zustimmung Aufgrund des vorstehenden Schemas sei der Verlauf des Dialogs noch einmal zusammengefaßt: Er zerfällt in drei Teile: I-VII: Hier wird das Handlungsmuster ‚Werbung‘ etabliert und von Flamenca als solches identifiziert. In dem Augenblick wo der gemeinsame Kenntnisstand und damit die gemeinsame Interpretationsbasis hergestellt sind, endet diese Phase. VIII-XII: In diesem mittleren Teil geht es darum, ob sich Flamenca auf das im 1. Teil identifizierte Handlungsmuster ‚Werbung‘ als Mithandelnde einläßt. XIII-XX: Aufgrund der gemeinsamen in der ersten Phase hergestellten Interpretation und des in VII-XII hergestellten Einverständnisses kann schnell die Terminvereinbarung durchgeführt werden. Je nach der spezifischen Aufgabenstellung der einzelnen Phasen steht die eine oder andere Gesprächsebene im Vordergrund: in der ersten Phase spielt die Ebene der Reziprozitätsherstellung eine große Rolle, da in der ersten Phase ja erst die Verständigungsbasis hergestellt wird. Weiterhin wird in der ersten Phase breit die Ebene der Gesprächsorganisation diskutiert, also ob überhaupt der Dialog fortgesetzt wird und wenn ja, wie. Hier spielt sich auch schnell die fast durchgängige Grundstruktur des Dialogs ein: daß nämlich die vordergründig initiativen Gesprächsbeiträge vor allem Sequenzierungsfunktion haben, während die vordergründig reaktiven Beiträge Guillems auf der Handlungsebene Initiativen darstellen. Die zweite Phase (der Entscheidung Flamencas) ist vor allem der Ort der <?page no="94"?> 74 Ai las - que planhs? Normendiskussion: wie sind die Gesprächsbeiträge einer höfisch sich verhaltenden Dame beschaffen? Wir kehren nun zu den eingangs formulierten Fragestellungen einer historischen Gesprächsanalyse zurück und versuchen die Ergebnisse unserer Analyse in Hinsicht darauf zusammenzufassen. Wir tun dies in zweifacher Absicht: 1) um die in der Sprachwissenschaft vernachlässigte Frage nach der Historizität von Sprechakten zu entfalten; 2) um die literaturwissenschaftlich allgemein akzeptierte Spezifizität des Flamenca-Romans zu präzisieren. Wir erinnern an die Fragestellungen: 1) Universalität und historische Spezifizität der für Gesprächsverfahren; 2) Universalität und historische Spezifizität der für Gesprächsführung formulierten Normen; 3) Bewertung von ‚Gesprächen‘ in der betreffenden historischen Epoche. 1. Gesprächsverfahren Bei dieser Fragestellung geht es um die von uns unterschiedenen ersten vier Ebenen und die Verknüpfung zwischen ihnen. In der ersten Phase des Dialogs spielt die Ebene der Reziprozitätsherstellung eine große Rolle. Der Dialog selbst als synthetisierende Tätigkeit zweier Subjekte, deren gemeinsame Bemühungen um ‚Anverwandlung‘ (acord) etwas Neues gegenüber der Fiktion eines einzelnen entstehen lassen, ist selbst Thema der Reflexion der Gesprächspartner (V). Die Grundstruktur des Dialogs, in dem der eine die Verstehensmöglichkeiten des anderen antizipiert, der andere die Intentionen des ersten rekonstruiert auf der Basis der Annahme, daß dieser seine Beiträge aufgrund der Verstehensmöglichkeiten des anderen plant, wird wieder und wieder illustriert. Die Reflexionen zum allerersten Gesprächsbeitrag sind fast ausschließlich dieser antizipativrekonstruktiven Dialogstruktur gewidmet. Guillem antizipiert die Verstehensmöglichkeiten Flamencas. Flamenca rekonstruiert die verschiedenen möglichen Intentionen von Guillem, wobei sie unterstellt, daß er ihre Verstehensmöglichkeiten antizipiert hatte (I). Der erste Teil des Dialogs mutet vielfach wie eine Exemplifizierung von Basisregeln der Gesprächsführung an. Unter Basisregeln versteht man in der Konversationsanalyse und der verstehenden Soziologie allgemein die Regeln, die konsumtiv für das Zustandekommen von Verständigung sind und deshalb von allen Gesprächspartnern wechselseitig als befolgt unterstellt werden. 22 So wird als selbstverständlich angenommen, daß die Gesprächsbeiträge sinnvoll und aufeinander bezogen sind. Angesichts des geringen Umfangs der 22 Vgl. Cicourel 1972/ 1975, Schütze 1976 [1980], Schlieben-Lange 1979a [1980]. <?page no="95"?> Ein Versuch zur historischen Gesprächsanalyse 75 zu interpretierenden Äußerungen muten die hermeneutischen Bemühungen der beiden, insbesondere von Flamenca, häufig an wie die Anstrengungen der Versuchspersonen von Garfinkel (1967), die die Zufallsantworten eines Tonbands als sinnvoll vereinnahmen und interpretieren. Auch eine andere wichtige Basisregel, die Annahme eines retrospektiv-prospektiven Ereignissinns, die darin besteht, daß unterstellt wird, daß spätere Äußerungen gegenwärtige klären werden bzw., daß frühere Äußerungen eine gegenwärtige Äußerung verstehbar machen, und die damit alltäglicher Kommunikation Kontinuität verleiht, wird ständig als wirksam unterstellt. 23 So nehmen Flamenca und ihre Freundinnen an, daß spätere Äußerungen die Interpretation der gegenwärtigen eindeutig machen werden, und kommen dann bei späteren Äußerungen auf die früheren zurück und legen im nachhinein eine gültige Interpretation fest (z. B. V). Auch die Schlußverfahren (argumen), die dazu dienen, aus der Bedeutung einer Äußerung ihren Textsinn zu erschließen, nehmen breiten Raum in den Reflexionen der ersten Gesprächsphase ein. Wir hatten zwei verschiedene Verfahren vorgefunden, bei denen eine Kooperationsregel je verschiedenen Status hatte. Das eine Mal wurde aufgrund der Annahme, daß kommuniziert werden soll, und unter Berücksichtigung der Umstände der Äußerung der Sinn dieser Äußerung erschlossen. Besonders auffallend ist, daß die Verbindlichkeit des Schlußverfahrens auch dadurch demonstriert wird, daß verschiedene Personen (einmal Flamenca und dann ihre Gespielinnen) aufgrund der gleichen Unterstellungen und Informationen zum selben Ergebnis kommen. Im anderen Fall wird aus der Tatsache, daß eine Äußerung erfolgt und diese nicht nur sinnvoll, sondern sogar äußerst passend ist, auf die zugrundeliegende Kooperationsbereitschaft geschlossen. (Dieser zweite Fall hat in der Konversationsanalyse bislang kaum Aufmerksamkeit gefunden). Die Form der Schlussverfahren - nicht ihr Inhalt - dürfte wie die Basisregeln zu den Universalien des Sprechens gehören. Wir sehen also, daß die erste Phase des Dialogs so etwas wie eine Einführung in die allgemein gültigen Regeln der Gesprächskonstitution und Interpretation ist. Es ist anzunehmen, daß die bislang erwähnten Regeln tatsächlich konstitutiv für das Zustandekommen von Dialogen und mithin Universalien des Sprechens sind. Einem, anderen Verfahren der Kontinuitätsbildung in Gesprächen scheint ein hohes Maß an Allgemeinheit zuzukommen: durch Akzeptieren eines Teils wird ein ganzes Handlungsmuster akzeptiert. Es spielt eine große Rolle in dem Dialog: durch Detailfragen wird das Handlungsschema als ganzes akzeptiert; ein späteres Zurückweisen der so akzeptierten Verpflichtungen ist nicht oder nur schwer möglich (z. B. X). Was dagegen kulturspezifisch ist, ist die Festlegung einer bestimmten Gruppe (domna) gerade auf dieses - indirekte - Verfahren der Zustimmung. 23 Cicourel 1972/ 1975, 34. <?page no="96"?> 76 Ai las - que planhs? Das führt uns zur Ebene der Gesprächsorganisation. Besonders bemerkenswert scheint uns das Verhältnis zwischen der Ebene der Gesprächsorganisation und der Ebene der Handlungskonstitution zu sein. Wir haben oben gezeigt (II), daß die beiden Ebenen ständig gegeneinander verschoben sind, und daß diese Grundstruktur den ganzen Dialog bestimmt. Die Fragen Flamencas, die Initiativen auf der Handlungsebene zu sein scheinen (als solche sind Fragen auch stets im Rahmen der Sprechakttheorie behandelt worden), sind auf der Gesprächsorganisationsebene Reaktionen auf Appelle von Guillem. In dieser Weise werden die Fragen auch von Flamenca und ihren Freundinnen diskutiert: es geht in erster Linie darum, das Gespräch aufrechtzuerhalten und die Fortführung zu ermöglichen. Diese Möglichkeit der Verschiebung der beiden Ebenen Gesprächsorganisation und Handlungskonstitution (was auf der einen Ebene reaktiv ist, ist auf der anderen initiativ und umgekehrt) ist in der konversationsanalytischen Diskussion noch nicht behandelt worden. Die Frage, ob dies ein allgemein mögliches Verfahren ist, ist mangels Vorarbeiten nicht zu beantworten. Wenn man jedoch das zuletzt beschriebene Verfahren (Informationsfragen verpflichten zur Akzeptierung des Handlungsschemas) mit dem hier besprochenen (Fortführung des Gesprächs wird rein formal interpretiert) zusammensieht, so ergibt sich, daß auf der einzelkulturellen Ebene für die Rolle der domna ein ganzer Set von Gesprächsregeln verbindlich ist. In diesem Zusammenhang gehört auch die nächste Auffälligkeit, diesmal auf der Ebene der Handlungskonstitution. Wiederholt werden von Flamenca Gesprächsbeiträge ausgewählt, deren Handlungssinn nicht eindeutig identifizierbar ist. Diese Ambivalenz ist beabsichtigt, besonders deutlich in VIII. Die Möglichkeit der Indirektheit von Sprechakten ist eine prinzipielle, die sich ergibt aus der offenen Zuordnung der Ebene der primären Bedeutung zur Ebene des Sinns. 24 Im allgemeinen verläßt man sich jedoch - wechselseitig - darauf, daß diese Zuordnung erschlossen werden kann (s. o. zu den Schlußverfahren). Es gibt aber auch die Möglichkeit, für den Hörer die Zuordnung von Bedeutung und Sinn zu erschweren oder unmöglich zu machen. Diese Möglichkeit scheint nur auf ganz bestimmte kulturelle Kontexte beschränkt zu sein. 25 Das mot de balansa, das mot doptos, deren Handlungssinn nicht erschlossen werden kann, ist in dem hier besprochenen kulturellen Kontext eine anerkannte Möglichkeit, die auch vom Hörer (Guillem) identifiziert und geschätzt wird. Die Präferenz für dieses Verfahren gehört zusammen mit den oben erwähnten Verfahren zu dem rollenspezifischen sprachlichen Handeln der domna. Eine nächste Bemerkung betrifft das Verhältnis der Ebene der Sprechakte zur Ebene der Handlungsmuster. An diesem Dialog wird sehr deut- 24 Vgl. Schlieben-Lange/ Weydt 1979b [1978] und 1979a [1979]. 25 Vgl. Schlieben-Lange 1975/ 1979: Zur Ambivalenz von Sprechakten, 92 f. <?page no="97"?> Ein Versuch zur historischen Gesprächsanalyse 77 lich, daß sich Sprechakte weithin nur im Zusammenhang übergeordneter Handlungsmuster interpretieren lassen. Dies ist in unserem Fall die Werbung, die in drei Schritte zerfällt: Vortrag durch den Werbenden, Zustimmung der Dame, Konkretisierung in der Terminvereinbarung. So wird die Antwort IX: ‚Garir‘ nur im Zusammenhang des Ablaufs der Werbung als Liebesbitte, Antrag und Vorschlag verständlich. Ebenso sind die turns des dritten Teils nur als Teilschritte in einem übergreifenden Handlungsmuster ‚Terminvereinbarung‘ sinnvoll. Dieses Problem der Hierarchisierung von Sprechakten und Handlungsmuster ist bis jetzt nur sehr unzulänglich behandelt worden. 26 Es scheint mir ein zentrales Problem der Sprechakttheorie zu sein, das auch von besonderer Bedeutung für die richtige Fragestellung in Hinsicht auf Kulturspezifizität von sprachlichen Handlungen ist. Man kann annehmen, daß die elementaren Sprechakte einen großen Allgemeinheitsgrad haben, während die übergreifenden Handlungsmuster wohl eher kulturspezifisch sind. Dies affiziert aber auch die Interpretation der elementaren Sprechakte, die im allgemeinen gerade in übergreifenden Handlungsmustern ihre Konkretisierung erfahren. Meine letzte Bemerkung zum Sprachverhalten betrifft die sprachlichen Ausdrücke für Sprechhandlungen in der Flamenca. Während die Sprechakttheorie versuchte, allgemeine Möglichkeiten sprachlichen Handelns in Form von Regeln zu beschreiben, bin ich gerade an den je historischen Konkretisierungen interessiert. Diese sind zugänglich über die sprachlichen Ausdrücke für sprachliche Handlungen in der betreffenden Zeit. Die Forderung nach der Erforschung der sprechaktbezeichnenden Verben ist in letzter Zeit wiederholt erhoben worden. 27 Nur so gewinnen wir Zugang zum ‚Sprechhandlungsuniversum‘ einer Epoche. Dies ist ausgeschlossen über eine Deduktion aus allgemeinen Regeln sprachlichen Handelns. In der Flamenca spielen die beiden Bereiche enquerre und escarnir eine besondere Rolle. Bei beiden handelt es sich um Bereiche, bei denen wir vermuten dürfen, daß sie in einer Vielzahl von sprechaktbezeichnenden Verben entfaltet wurden. 2. Normen Eingangs hatten wir gesagt, daß das besondere Interesse literarischer oder halb-literarischer Texte darin besteht, daß die zu einer bestimmten Zeit geltenden Gesprächsnormen gelegentlich explizit gemacht werden. Dies ist auch in der Flamenca in besonders starkem Ausmaß der Fall. Streckenweise mutet der Roman geradezu an wie ein Gesprächsbüchlein für die Dame. Die darin formulierten Normen sind vollständig kulturspezifisch, und inner- 26 Ansätze zur Behandlung des Problems finden sich in den Untersuchungen alltagsweltlicher Erzählungen, z. B. Quasthoff 1979. 27 Vgl. Gülich 1978; Meyer-Hermann 1978b; Ansätze in dieser Richtung auch in Rehbein 1977. <?page no="98"?> 78 Ai las - que planhs? halb dieser Kultur sind sie wieder standes- und geschlechtsspezifisch (cortes, domna). Die normativen Aussagen über gute Gesprächsführung treten in zwei verschiedenen Formen auf: entweder wird einer bereits erfolgten oder einer geplanten Äußerung eine bestimmte Bewertung zugeschrieben (cortes, gentil, bon e breu) oder aber es werden explizite Normen formuliert („die höfische Dame soll so und so reden“). Die in dieser Weise expliziten Normen betreffen immer das höfische Gespräch, meist die Rolle der Dame darin. So werden als Normen für die Gesprächsführung der Dame angegeben: sie soll ihr Herz verbergen (cor rescondre), nur formal, nicht inhaltlich antworten, ihre Worte so wählen, daß sie ambivalent sind, daß sie den Werbenden nicht zu sehr ermutigen, aber auch nicht völlig verzweifeln lassen (esgansa, mot de balansa). Wenn man die Gesamtheit dieser geschlechtsspezifischen Gesprächsnormen betrachtet, hat man fast den Eindruck, als hätten sie als eine Art gesunkenes Kulturgut ein zähes Leben bis in unser Jahrhundert gehabt. Sicher hat diese Tradition die Erziehung von Mädchen nachhaltiger beeinflußt als die Gesprächsnormen, die in der Aufklärung formuliert wurden. 28 Wenn wir das zu den Verfahren und den Normen Gesagte in Hinblick auf die historische Gesprächsanalyse zusammenfassen, so läßt sich feststellen: 1) Es gibt einen Bereich von Universalien des Miteinander-Sprechens (Basisregeln); 2) Weiterhin lassen sich Gesprächs- und Interpretationstechniken von hohem Allgemeinheitsgrad feststellen, deren Nutzung aber kulturspezifischen Präferenzen unterworfen ist; 3) Handlungsmuster sind in ihrer konkreten Form über die historischen Begriffe zu ihrer Bezeichnung zugänglich. Einzelne Sprechakte, auch solche von hohem Allgemeinheitsgrad (wie z. B. Frage-Antwort) gewinnen erst in den Handlungsmustern ihre Bestimmtheit; 4) Gesprächsnormen können entweder Universalien (1) explizieren, oder aber auch stark kulturspezifische Festlegungen treffen. 3. Die Bedeutung des Gesprächs Es bleibt die Frage, weshalb nun hier in der Mitte des 13. Jahrhunderts dem Gespräch diese zentrale Position zugewiesen wird. Das gesamte höfische Leben kulminiert in der Flamenca im Dialog. Höfische Feste und Aventiuren-Suche geben lediglich den Hintergrund ab, vor dem Dialoge geführt werden. Andere Epochen, in denen Gespräche gesellschaftlich hoch bewertet wurden, sind in dieser Hinsicht besser, wenn auch nicht zulänglich untersucht. So war die Gesprächskultur ein zentraler Bestandteil der 28 Vgl. Henne/ Rehbock 1979; Schlieben-Lange 1979b [1979]. <?page no="99"?> Bibliographie 79 Lebensform des honnête homme im 17. Jahrhundert. 29 Im 18. Jahrhundert wird die hohe Bewertung des Gesprächs fortgeführt, allerdings unter anderen Gesichtspunkten: für die Herausbildung der bürgerlichen Öffentlichkeit spielen der Austausch von Argumenten und die öffentlich geführte Diskussion eine zentrale Rolle. Weshalb aber treten in diesem späten höfischen Roman die Taten völlig in den Hintergrund? Weshalb steht die Vereinigung im Dialog im Mittelpunkt und nicht die körperliche Vereinigung? Um diese Fragen beantworten zu können, müßte man genauer Bescheid wissen über Entstehungszeit, Entstehungsort und Autor der Flamenca und ihre Einbettung in eine bestimmte Gesellschaftsform und Kultur, oder, um eine bibelexegetische, unter Mediävisten akzeptierte Formel zu benützen, über ihren ‚Sitz im Leben‘. Auf der Suche nach diesem ‚Sitz im Leben‘ kann aber gerade das Verständnis der Flamenca als Konversationsroman hilfreich sein. Sie muß wohl in einer Umgebung angesiedelt sein, in der dem Gespräch hoher Wert zugemessen wurde. Die Suche nach solchen möglichen Umgebungen wird dadurch noch komplizierter, daß die meisten bekannten Gesprächsformen, die solche Umgebungen charakterisieren könnten, eine Kontroverse zum Thema haben. So hatte I. Nolting-Hauff auf das mittelalterliche Streitgespräch (conflictus) hingewiesen, Chr. Schwarze und A. Limentani auf die verschiedenen Formen des lyrischen Streitgesprächs. In der Flamenca ist aber gerade ein Gespräch Gegenstand, in dem es um Vereinigung, nicht Konflikt geht. Der Dialog wird aufgefaßt als Vereinigung zweier Subjekte, als Inbegriff des amour partagé. Die Frage ist also, ob diese Bewertung des Gesprächs nur isoliert im Flamenca-Roman auftritt oder ob wir Parallelen in anderen Schriften finden. Die Beantwortung dieser Frage wird sowohl die Lokalisierung des Flamenca- Romans als auch die Geschichte der kulturellen Kategorie ‚Gespräch‘ einen guten Schritt weiter bringen. 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Überlegungen zu Décadence und Renaissance des Okzitanischen und des Katalanischen* Wenn wir von einer ‚Geschichte der Minderheitensprachen‘ sprechen, so ist dies zweideutig. Die Zweideutigkeit ist intendiert: es soll gerade um das Verhältnis von historia rerum gestarum und res gestae gehen. Die Geschichtsinterpretation durch die okzitanische und die katalanische Bewegung im 19. Jahrhundert soll überprüft werden. Dabei geht es um die Frage, was uns dazu berechtigt, diese Geschichtsinterpretation zu kritisieren (d. h. zu beurteilen, sei es positiv oder negativ) und ihr andere gegenüberzustellen. Nach einer kurzen Skizze der Geschichtsinterpretation der Renaissance/ Renaixença (1) werde ich meine Auffassung begründen, daß eine Betrachtungsweise, die seriell und konstruktiv ist, sich am besten dazu eignet, die Auseinandersetzung mit anderen Geschichtsinterpretationen zu ermöglichen (2). Im dritten Teil werde ich etwas ausführlicher darlegen, was ich unter einem konstruktiven Verfahren verstehe (3) und dies auf die eingangs skizzierte Geschichtsinterpretation zurückwenden (4). 1. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehen in Okzitanien und Katalonien ‚nationale‘ Bewegungen, deren Ziel es ist, die Renaissance der beiden Sprachen zu befördern und ihre Décadence zu beenden. 1 Im okzitanischen Bereich beschränkt sich das Félibrige als literarisch-kulturell orientierte Organisationsform der ‚nationalen‘ Erneuerung auf das provenzalische Gebiet und weist nur in sehr vager Form auf die anderen Gebiete des Okzitanischen hin. Die herausragende Gestalt des Félibrige ist Frédéric Mistral, der mit seinen Epen Mirèio, Calendau u. a. literarische Vorbilder für die Renaissance des Provenzalischen schafft. Mit dem Tresor dóu Felibrige * Zuerst erschienen 1985 in: Gumbrecht, Hans Ulrich/ Link-Heer, Ursula (Hrsg.), Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie, Frankfurt/ Main: Suhrkamp, 324-340. 1 Zur Geschichte der okzitanischen Renaissance: Ripert 1918, 1924; zur katalanischen Renaixença vgl. bald die Disseration von I. Neu-Altenheimer zur Sprachdiskussion im 19. Jahrhundert, die derzeit in Frankfurt entsteht [vgl. inzwischen Neu- Altenheimer 1987-1989]. <?page no="104"?> 84 Wie kann man eine Geschichte der (Minderheiten-)Sprachen schreiben? stellt er ihnen ein großes lexikographisches Komplement zur Seite. Das Félibrige entscheidet sich auf Drängen Roumanilles zur Festlegung einer stark am Französischen orientierten Orthographie, die auf der Mundart des Rhône-Delta beruht und im Gesamtgebiet des Okzitanischen nicht anerkannt wird. 2 Es bleibt eine sprachlich-literarische Bewegung, die zu den gerade im 19. Jahrhundert in Südfrankreich dramatischen ökonomischen Veränderungen schweigt. Ganz anders die Renaixença in Katalonien. Auch hier gibt es bedeutsame Dichter (Verdaguer u. a.), Sprachwissenschaftler (vor allem P. Fabra zum Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts, der das Katalanische mit einer modernen Erfordernissen entsprechenden Norm ausstattet) und Philologen (Milà i Fontanals). Es war jedoch auch eine ausgesprochen politische und an der Herstellung einer opinion publique interessierte Bewegung, die in katalanischer Sprache zu allen Bereichen des öffentlichen Lebens Stellung nahm. Sie wurde abgelöst von der Strömung des Modernisme, mit der Katalonien alles Provinzielle hinter sich läßt: Das Barcelona des Modernisme ist eine der großen europäischen Hauptstädte des Jugendstils. Die okzitanische Renaissancebewegung ist gescheitert; die katalanische Renaixença bewirkte die Anerkennung des Katalanischen als Schrift- und Kultursprache. 2. In den beiden Bewegungen 3 werden systematisch Dekadenz und - die neu zu schaffende - Renaissance gegenübergestellt. Das nun im 19. Jahrhundert zu beendigende Zeitalter der Dekadenz beginnt für die Okzitanen mit den Albigenserkreuzzügen, für die Katalanen mit dem Verlust der Selbständigkeit Katalonien-Aragons nach der Heirat von Ferdinand von Aragon und Isabella von Kastilien: Es sieht so aus, als sei dies eine Periodisierung in zwei Termen. In Wahrheit handelt es sich natürlich wie immer bei diesem Typ von Periodisierungen (vgl. den Beitrag von N. Luhmann in diesem Band [vgl. Luhmann 1985]) um drei „Zustände“: ‚klassisches‘ Zeitalter (= Mittelalter) - Dekadenz (13. (bzw. 16.) - 18. Jh.) - Renaissance (19. Jh.) 2 Zur Normproblematik in Okzitanien: Kremnitz 1974. 3 Selbstverständlich müssen die okzitanische und die katalanische Erneuerungsbewegung im größeren Rahmen der nationalen Bewußtwerdung im Europa des 19. Jahrhunderts gesehen werden, insbesondere in ihren Beziehungen zur deutschen Romantik, zur italienischen Nationbildung und zu den pankeltischen und panslawischen Bewegungen. <?page no="105"?> Überlegungen zu Décadence und Renaissance 85 Diese Periodisierung soll kurz mit anderen Periodisierungstypen verglichen werden, die Ende des 18. Jahrhunderts in der Sprachgeschichtsschreibung konkurrieren. 4 Die politisch wirksamste ist zweifellos die ideologische Geschichtsinterpretation, die der Abbé Grégoire in der Französischen Revolution auf die Geschichte(n) der Sprachen anwendet. In Umwandlung der christlichen Zeitinterpretation: Paradies Menschenzeit Endzeit Sündenfall für die Sprache Turmbau von Babel Jüngstes Gericht Pfingsten analogisiert er politische und Sprachgeschichte Einheit Zersplitterung féodalité patois Einheit nation une et indivisible langue une et indivisible (statt der unerreichbaren langue universelle) Die meisten Sprachgeschichten des 18. Jahrhunderts haben demgegenüber eine zweischrittige Struktur: origine und progrès, wobei der Begriff des progrès nicht notwendigerweise die Komponente ‚zum Besseren‘ enthält. Es ist interessant, daß Papon in seiner provenzalischen Sprachgeschichte von 1786 diesen Titel zu einem Dreischritt erweitert, der zumindest, was den dritten Term betrifft, die revolutionäre Periodisierung vorwegnimmt: „Origine, progrès et universalité de la langue provençale“. 5 Eine besonders interessante Variante der Sprachgeschichtsschreibung ist die Unterscheidung der Sprachen unter dem Gesichtspunkt von nature und art und die Erzählung ihrer Geschichte als die eines Übergangs von nature zu art. Eine Sprache, die ihren Naturzustand verlassen hat, ist eine solche, die über eine ‚Kunst‘-Lehre, art verfügt, d. h. also eine Sprache mit schriftlich fi- 4 Was mögliche Geschichtsmentalitäten angeht, so sollte klarer unterschieden werden zwischen ‚zyklischen‘ und ‚teleologischen‘/ eschatologischen Geschichtsinterpretationen. 5 Vgl. Schlieben-Lange 1984a. Dabei ist allerdings zu beachten, daß der Begriff der universalité im 18. Jahrhundert einer genaueren Untersuchung bedürfte. Es scheint so, daß die traditionelle Vorstellung der Koiné (als lingua geral/ general ein Kernbegriff der Sprachpolitik in Lateinamerika) noch virulent ist und erst allmählich die beiden zusätzlichen Bedeutungskomponenten ‚Weltsprache‘ und ‚philosophische/ Wissenschaftssprache‘ bekommt. <?page no="106"?> 86 Wie kann man eine Geschichte der (Minderheiten-)Sprachen schreiben? xierter Grammatik, eine Sprache, über die reflektiert wird, wobei klare konfuse in klare distinkte Ideen ausformuliert werden. 6 Die Bewertung dieses Übergangs vom Naturzustand zur Selbstreflexion in Form von Grammatiken ist Ende des 18. Jahrhunderts nicht einheitlich. Die positive Bewertung ist seit langem üblich. Eine Sprache „debajo de arte“ (Nebrija) hat eine besondere Dignität. 7 Die ars macht die Sprache erst zur Sprache; nur eine Sprache mit Grammatik ist eine richtige Sprache. Demgegenüber gibt es auch Stimmen, die gerade den Naturzustand des Okzitanischen lobend hervorheben, so Puget und Fabre d’Olivet (vgl. dazu Schlieben-Lange 1984b). Kommen wir zu der Geschichtsinterpretation der Minderheiten zurück. Sie finden zu einer Zeit statt, zu der - im Gefolge der Französischen Revolution - die Geschichte mit offenem Ende an Stelle aller totalisierender Geschichtsinterpretationen getreten war (vgl. Gumbrecht 1983). Diese neue Geschichte war offen, partikular 8 und machte autonome Periodisierungen (vgl. den Beitrag von N. Luhmann in diesem Band [vgl. Luhmann 1985]) möglich, z. B. auch die Aufwertung des Mittelalters. 9 In diesem Zusammenhang wirkt der hier besprochene Typ der Geschichtsdarstellung anachronistisch: Die Geschichte der Renaixentisten hat ein geschlossenes Ende und war auf einen gewollten Endzustand gerichtet. Zudem ist es eine Geschichte ohne autonome Periodisierung. Die Dekadenz ist das Tal zwischen Klassik und Renaissance, nicht eine Epoche sui generis. Es ist die Fixierung einer anachronistischen Geschichtsauffassung, die aber um 1800 gerade dadurch innovativ war, daß sie die geschlossenen Geschichtsinterpretationen gegeneinandersetzte und dadurch relativierte. 10 Klassik Dekadenz Renaissance Antike - Mittelalter - Renaissance Mittelalter - Decadència - Renaixença Klassik Dekadenz Renaissance 6 Zu dieser Unterscheidung Coseriu 1958, 1974, 29 ff. Eine solche Anwendung der Ideenlehre auf den Unterschied von action/ art/ science findet sich beispielsweise bei Destutt de Tracy (Elémens d’Idéologie, I, 255 ff.). 7 Diese Formulierung scheint eine Analogisierung zum ‚Gesetz‘ (AT und NT: debajo de la ley) nahezulegen. 8 Zu diesen Veränderungen des Geschichtsverständnisses um 1800: Koselleck 1979. 9 Vgl. zum Beispiel die erstmalige umfassende Bearbeitung der mittelalterlichen Philosophie durch den ehemaligen Ideologen Degérando in seiner Histoire comparée des systèmes de philosophie. 10 Diese Relativierung der Perioden, wie sie eben auch in der deutschen Romantik durchgeführt wurde, half dazu, die ‚Ursprungsfrage‘ durch die Frage nach der ‚Geschichte‘ (die genetische durch die historische) zu verdrängen. <?page no="107"?> Überlegungen zu Décadence und Renaissance 87 3. Welcher Realität entspricht die Periodisierung der Renaixentisten (wie ich sie einmal einfachheitshalber in der katalanischen Art nennen will)? Wie dekadent war die Dekadenz? Was erneuerte sich in der Renaissance? Um diese Art von Fragen beantworten zu können, müssen wir kurz innehalten und uns fragen, ob wir überhaupt die Möglichkeit haben, die von den Renaixentisten vorgeschlagene Periodisierung zu überschreiten und wenn ja welche. Wir würden uns ja in diesem Falle eine historische Meta- Metakompetenz zusprechen und hätten es mit zwei Reflexionsstufen zu tun: - Ereignisse; - Periodisierung der Renaixentisten, also Vollzug einer metahistorischen Reflexion; - Kritik dieser Periodisierung. Was unterscheidet uns von den Renaixentisten? Zunächst einmal kennen wir das - vorläufige - Ende der Geschichte. Weiterhin sind wir - im Gegensatz zu den Renaixentisten - nicht auch damals Handelnde: die Periodisierungen sind ja nicht nur historiographische Tätigkeiten, sondern auch die Projektion von Hoffnungen und Absichten in die historische Konstruktion, bisweilen sogar explizite Absichtserklärungen. In dieser Perspektive ist das Unterscheidende allemal augenfälliger als die Kontinuität. Unser Abstand und unsere Entbindung aus Handlungsverpflichtungen läßt uns lange Zeiträume überblicken und genauer das Notwendige vom Zufälligen scheiden. Freilich kann auch der Handelnde lange Zeiträume überblicken und eine Analyse der in seiner Gegenwart wirksamen Zwänge und Möglichkeiten vornehmen. Es fehlt ihm aber stets die Geschichte, die er erst als Handelnder schaffen muß. Aus dieser Differenz können wir zwei methodologische Perspektiven entwickeln, die uns den Schritt von der Meta-Geschichte zur Meta-Meta- Geschichte ermöglichen, die ich a) den ‚seriellen Blick‘ und b) den ‚konstruktiven Blick‘ nennen möchte. Das heißt einmal, daß wir die in der französischen Geschichtswissenschaft entwickelte Konzeption der longue durée auf sprachwissenschaftliche Gegenstände anwenden sollten. 11 Das heißt, daß wir versuchen sollten, Dokumentenreihen zu finden, die uns über bestimmte Traditionen von Sprechaktivitäten Auskunft geben, um zu vermeiden, daß das allgemein Übliche mit dem tatsächlich Neuen verwechselt wird. Implizit ist das von der historischen Sprachwissenschaft oft gemacht worden (z. B. Skriptafor- 11 Zur Anwendung serieller Verfahren auf die ‚Mentalitäts‘-geschichte Reichardt 1978; zur Anwendung auf sprachgeschichtliche Fragestellungen: Reichardt 1982. <?page no="108"?> 88 Wie kann man eine Geschichte der (Minderheiten-)Sprachen schreiben? schung); es sollte jedoch auch für die anderen (unten zu entwickelnden Traditionen) versucht werden. Es wird nicht immer einfach sein, solche Serien zu finden, aber es ist doch möglich, wobei sich die Eigenschaften der Serien und die Interpretationsprobleme selbstverständlich je nach der untersuchten Tradition unterscheiden. Da ich mich an anderer Stelle ausführlich mit dieser Problematik beschäftige, beschränke ich mich auf diese Hinweise (vgl. Schlieben-Lange 1984c, 1984d). Andererseits sollte uns der konstruktive Blick (zur Begründung des ‚konstruktiven‘ Verfahrens vgl. Schlieben-Lange 1983a, 1983b) ermöglichen, 1. die konstitutiven Elemente der Sprechtätigkeit im Ganzen und der einzelnen unterschiedenen Teilaspekte der Sprechtätigkeit herauszuarbeiten, auf die wir unsere Aussagen beziehen können und 2. auch jede Innovation wieder auf ihre Konstitutiva und mithin auf ihre Möglichkeiten und Zwänge zu befragen. Die Verbindung von seriellem und konstruktivem Blick läßt uns ein sprachgeschichtliches Instrumentarium erstellen, das uns erlaubt, das Neue vom Üblichen sicher zu scheiden (seriell) und die Neuerungen zu hierarchisieren und ihre Tragweite zu beurteilen (konstruktiv). Im folgenden will ich versuchen, eine Konstruktion der Sprechtätigkeit und der in ihr wirksamen Traditionen in dem hier entwickelten Sinne zu entwerfen, sozusagen als Suchraster für den Sprachhistoriker. Dieses Suchraster ist nicht additiv gedacht als Aufzählung all dessen, was interessant und untersuchenswert wäre, vielmehr zielt die Systematik von ihrer Anlage her darauf, die konstitutiven Elemente der Sprechtätigkeit möglichst vollständig zu erfassen, was auch besagt, daß sie nicht ohne weiteres beliebig erweiterbar wäre. Welche Aufgaben müssen wir lösen, wenn wir sprechen und welche Traditionen stehen uns zur Lösung dieser Aufgaben zur Verfügung? 12 Wenn wir mit jemandem über etwas sprechen, so führen wir einige Aktivitäten aus, die immer gleich sind, welche Sprache wir auch benutzen. Wir wollen diese Verfahren Techniken des Sprechens nennen. Mit ihnen lösen wir die Aufgaben, die uns aus der zweifachen Ausrichtung auf die Welt und auf die Gesprächspartner erwachsen. Wir nehmen durch Verfahren der ‚Referentialisierung‘ auf die Welt Bezug. Die jeweilige Einzelsprache (von ihr wird gleich die Rede sein) gibt uns eine bestimmte Gliederung der Wirklichkeit an die Hand, und die Aufgabe des Sprechens besteht darin, Elemente der empirischen Welt oder gedachter Welten diesen einzelsprachlichen Zeichen zu subsumieren, oder, in der anderen Richtung formuliert, die sprachlichen Zeichen in Hinblick auf das intendierte Referenzobjekt zu determinieren. Wir sprechen mit anderen: um uns auf als gemeinsam unterstellte Wissensbestände be- 12 Vgl. dazu Schlieben-Lange (1983a). Diese Systematisierung geht von der Sprachtheorie E. Coserius aus. <?page no="109"?> Überlegungen zu Décadence und Renaissance 89 ziehen zu können, benutzen wir Verfahren der ‚Alterisierung‘ 13 Und schließlich hat unsere Rede einen Zweck: wir verfolgen ihn durch Verfahren der ‚Finalisierung‘. Diese Verfahren bedienen sich der verschiedenen Umfelder des Sprechens: 14 Situation, Region, Kontext, Diskursuniversum. Es ist nicht ein Mangel der natürlichen Sprachen, daß sie ‚vage‘ sind. Dies ermöglicht gerade, durch Nutzung der Umfelder und in der Synthese des Dialogs immer wieder Neues zu sagen. Immer wenn wir sprechen, tun wir dies im Modus einer bestimmten historischen ‚Einzelsprache‘. Wir sprechen so wie die anderen Mitglieder dieser Sprachgemeinschaft und anders als die ‚Barbaren‘. Die Finalität der Sprachen ist es, Bedeutung zu haben/ sein, d. h. durch die sprachliche Gestaltung die Welt ‚verfügbar‘ zu machen. Was eine Sprache ist, ist allen Sprechern fraglos gegeben. Insofern stellt sich für den Sprachwissenschaftler nicht das Problem der Gegenstandsbestimmung, das zuweilen die Literaturwissenschaftler beschäftigt. Und schließlich sprechen wir auch in einer bestimmten Absicht, mit einer bestimmten praktischen Zwecksetzung (oder auch in der Absicht, praktische Zwecke zu suspendieren): wir sprechen in ‚Texten‘. Die Finalitäten der Texte fallen nicht mit denen der Sprache zusammen. 15 Auch hier gibt es Traditionen der Zwecksetzungen und der Form zu ihrer Erreichung. Wir können hier Einheiten verschiedener Komplexität unterscheiden: Sprechakte, Texte, Diskursuniversen. Wenn wir also sprechen, bedienen wir uns der Traditionen der Einzelsprachen und der Texttraditionen. Wir verstehen, was wir meinen (welche Gegenstände und welche Zwecke), indem wir uns der allgemeinen Techniken des Sprechens bedienen, die gleichzeitig auch solche des Verstehens sind. Als Sprecher einer Einzelsprache sind wir Mitglieder einer Sprachgemeinschaft, als Verfasser eines Textes sind wir, könnte man sagen, Mitglieder einer Textgemeinschaft, und sofern wir bestimmte Techniken des Sprechens verwenden, sind wir Mitglieder einer Kultur. Das Problem der Historizität stellt sich für die drei hier unterschiedenen Ebenen jeweils anders: Die ‚Techniken des Sprechens‘ haben einen hohen Allgemeinheitsgrad. Die Veränderungen in diesem Bereich haben gewissermaßen den Status universalgeschichtlicher Veränderungen. Solche Veränderungen waren die Erfindung der Schrift und ihre Folgeerscheinungen. Mündlichkeit und Schriftlichkeit 13 Die Verfahren der wechselseitigen Interpretation spielen in neueren sprachphilosophischen und sprachsoziologischen Arbeiten als Konversationsmaximen, Basisregeln der Interaktion o. ä. eine Rolle (Grice, Garfinkel, Cicourel). 14 Damit beziehe ich mich auf Bühlers Feldtheorie und vor allem auf Coserius Klassifikation der ‚Umfelder‘. Zum Vergleich von beiden s. Schlieben-Lange 1983a. 15 Ein Problem der Sprachtheorie der ‚Prager Schule‘ ist es, diese beiden Finalitäten nicht klar genug getrennt zu haben. Vgl. dazu Horálek 1964. <?page no="110"?> 90 Wie kann man eine Geschichte der (Minderheiten-)Sprachen schreiben? haben weitgehend unterschiedene Konstitutionsbedingungen. So machen beide Modalitäten des Sprechens einen unterschiedlichen Gebrauch von den verschiedenen Umfeldern. Für das Sprechen hat immer die Situation den Vorrang. Deixis und Ostension spielen eine große Rolle. Schriftlichkeit verlangt die Übersetzung deiktischer Ausdrücke in definitorische. Die lebendigen Personen mit Mimik, Gestik und Stimmcharakteristika verschwinden aus dem schriftlich verfaßten Text. Demgegenüber erhält der Rede-Kontext beim Schreiben ein viel stärkeres Gewicht. In ihm werden neue Text-Situationen aufgebaut, in denen sich Autor und Leser bewegen können wie in realen Situationen. Die Bezugnahme auf die Region verändert sich durch räumliches und zeitliches Auseinandertreten der Kommunikationspartner. Dies wird durch die Erfindung des Buchdrucks zum Massenproblem. Diese wenigen Hinweise mögen genügen, um anzudeuten, daß Erfindung und Ausbreitung der Schrift universalgeschichtliche Einschnitte ersten Ranges sind 16 , mit großer Bedeutsamkeit für die Systematisierung und Verarbeitung von Wissen, für die Übermittlung von Tradition, für die Planung von Handlungen. Dies impliziert auch: wann und wo immer Schrift eingeführt wird, entstehen strukturell die gleichen Probleme. 17 Die Geschichte der ‚Sprachen‘ ist in der Form der ständigen Wiederschöpfung gegeben. Hier gibt es kaum Traditionsbrüche: die jeweilige Sprache scheint den Sprechern die gleiche zu bleiben, und sie verändert sich doch ständig. Wir können nicht aufhören zu sprechen und uns nur mit Mühe davon distanzieren; deshalb kann der Prozeß der Sprachschöpfung nicht unterbrochen werden. Dagegen können wir aufhören, Romane zu schreiben und es dreißig Jahre später wieder versuchen, jedoch ganz anders. So haben die einzelnen ‚Texte‘ auch keine Geschichte, es sei denn die ihrer Produktion oder ihrer Rezeption. Nur die Traditionen der Zielsetzungen und der dafür einzusetzenden Formen haben Geschichte, ebenso auch die Typisierung der Texttraditionen in Diskursuniversen. Anders stellt sich das Problem allerdings in oraler Literatur, in der die Texte Geschichte haben, weil sie sich im Gebrauch ständig gleich bleiben und verändern. Sie haben also in gewisser Hinsicht an der historischen Gegebenheit von Sprache teil. Insgesamt müssen die Veränderungen auf allen drei Ebenen mit den jeweiligen Zeitauffassungen zusammengesehen werden. Wenn Traditionsbindung als kultureller Wert gilt, wird dies auch auf den Umgang mit Traditionen in unserem Bereich (zumindest mit Texttraditionen) Einfluß haben. Das Bewußtsein von und der Wille zu Bruch, Diskontinuität, Innovation wird auch hier nicht folgenlos sein. Die drei unterschiedenen Aspekte der mensch- 16 Als solche wertet sie emphatisch Condorcet in seiner Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain von 1793. Vgl. dazu auch den Beitrag von N. Luhmann in diesem Band [vgl. Luhmann 1985]. 17 Solch ein Problem ist z. B. das der Wahrheit der Dichter: vgl. dazu Rösler 1980 und Schlieben-Lange 1983a. <?page no="111"?> Überlegungen zu Décadence und Renaissance 91 lichen Sprechtätigkeit sind durch ihre - je unterschiedlichen - Funktionen bestimmt worden. Die Sprecher gehören in Hinsicht auf diese drei Arten von Aktivitäten unterschiedlichen Traditionsgemeinschaften an. Und schließlich stellt sich in den drei Fällen das Problem der Tradition (Kontinuität/ Bruch) anders. Wenn wir nun die drei Ebenen aufgrund ihrer unterschiedlichen Konstitutiva unterschieden haben, können wir die Frage stellen, in welcher Weise die verschiedenen Ebenen die Gestaltung der jeweils anderen beeinflussen. Die Einführung der Schriftlichkeit verändert die Sprachen: „Die Schrift, welche die Sprache zu fixieren scheint, ist es genau, die sie verändert“. Rousseaus pointierte Formulierung ist wohl so zu verstehen, daß das Schreiben einen anderen Gebrauch von den Umfeldern macht, expliziter sein muß als die mündliche Rede. Dies war gerade ein Konstituens des Schreibens. Die Sprachen müssen dafür aber auch die Mittel bereitstellen. Außerdem verändern sich auch die Sprachgemeinschaften. Wenn eine Sprachgemeinschaft einmal über die Schriftsprache als solch eine nicht jederzeit veränderbare Bezugsgröße verfügt, erscheinen alle anderen Varietäten demgegenüber als instabil. Auch die Texte ändern sich im Rahmen der Schriftlichkeit. Dies betrifft die Möglichkeiten der Komplexierung und die Entbindung aus dem Zwang der Memorisierbarkeit. Dies impliziert aber auch, wie wir gesehen haben, die Isolation des schriftlichen Einzeltexts, der in anderer Art Geschichte hat als die mündlichen Traditionen. Die Texttraditionen schaffen Bedürfnisse für die einzelsprachliche Gestaltung. Dies gilt besonders für die Diskursuniversen. So macht etwa die Wissenschaft eine bestimmte Art der Sprachgestaltung notwendig, die sogar die Bedeutungskonstitution selbst betrifft: die Terminologie mit eindeutigen (nicht vagen), gesetzten (nicht gewachsenen) Bedeutungen. 18 Wir haben gesehen, daß die Schriftkultur die Sprachgemeinschaft verändern kann. In etwas anderer Weise tun dies auch die Textgemeinschaften, die zur Vergrößerung der Sprachgemeinschaften zwingen können (Verwaltung; Recht; Wissenschaft) oder aber die Enklaven inmitten anderer Sprachgemeinschaften bilden. Diese wenigen Hinweise mögen genügen, um zu zeigen, in welche Richtungen Überlegungen zum Wechselverhältnis der drei Ebenen gehen müßten. Es scheint mir jedenfalls sinnvoll zu sein, anzunehmen, daß politische, soziale, ökonomische, aber auch andere kulturelle Gegebenheiten nicht direkt auf die Sprachen einwirken, sondern über die Vermittlung der Texte und des Sprechens. Die Geschichte der Sprechtraditionen wird nun gedoppelt durch die Geschichte der Reflexionen auf die einzelnen Ebenen. Da die Sprechtätigkeit 18 Die bewußte Schaffung wissenschaftlicher Terminologien, die diesen Prinzipien der Bedeutungskonstitution folgen, setzt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein (Lavoisier, Cabanis, Butet de la Sarthe). <?page no="112"?> 92 Wie kann man eine Geschichte der (Minderheiten-)Sprachen schreiben? nicht bewußtlos ist, können alle Sprecher über ihre Sprache und über ihre textuellen Verfahren reflektieren und Aussagen machen. 19 In einem weiteren Schritt können die Reflexionen der Sprecher in Beschreibungen systematisiert und ausformuliert werden (vgl. Anm. 6). Das Verhältnis der Beschreibungen zur Ebene der primären Traditionen läßt sich wohl ganz allgemein so bestimmen, daß die Beschreibung zur Bewältigung von Komplexität eingesetzt wird. Diese kann etwa durch den Grad der Differenzierung entstanden sein, möglicherweise auch durch Konflikte, die durch andere Bedingungen entstanden sind. Die Entfaltung der Ebene expliziter Beschreibungen (nicht der Sprecherreflexion) ist übrigens eng an Schriftlichkeit gebunden. 20 Das Sprechen/ Schreiben ist kaum zum Gegenstand der Reflexion geworden, wenn man einmal von Lese‚künsten‘ absieht, die Ende des 18. Jahrhunderts eine gewisse Rolle gespielt haben (z. B. Viard 1763). Die Sprachen sind dagegen in unzähligen Grammatiken und Wörterbüchern beschrieben, die Texttraditionen in Poetiken, Rhetoriken usw. Die Beschreibungen können wieder das von ihnen Beschriebene verändern. Die Grammatiken können den Sprachwandel verzögern, die Gattungslehren den Wandel der Texttraditionen. Die Beschreibungsebene ist doppelgesichtig. Indem festgestellt wird, wie es ist, ist auch die zukünftige Geschichte nicht mehr ganz frei in ihrer Entwicklung. Dies gilt in besonderem Maße für normative Aussagen, in geringerem Maße aber auch für deskriptive. Durch die Beschreibungen wird die Geschichte zerhackt; sie sind Zäsuren oder Kristallisationspunkte. Die Ebenen der Reflexivität und der Beschreibung sind auch anfällig für Stereotypisierungen (Rekurrenz) und Ideologisierungen (Verwendung durch andere Bereiche). 21 Da die Beschreibung nicht jederzeit im Vollzug kontrolliert wird, d. h. ihre Geschichte nicht mit dem Vollzug des Beschriebenen zusammenfällt, kann sie über lange Zeiträume selbständig und abgekoppelt von der beschriebenen Ebene eigene Traditionen haben. Fixierung und Abkopplung führen dazu, daß die Beschreibungen sich in einem anderen Rhythmus entwickeln als die durch sie beschriebenen Elemente der Primärebene. Schematisch dargestellt sähe die entworfene Systematik so aus: 19 Vgl. dazu die von Coseriu (1981) angenommenen Arten von Urteilen über die Korrektheit. 20 Es ist augenfällig, daß ein enger Zusammenhang zwischen der Verbreitung des Buchdrucks und der Beschreibung der Volkssprachen besteht. Vgl. Settekorn 1979. 21 Hier setzt beispielsweise die Anbindung der Sprache an eine bestimmte gesellschaftliche Organisationsform an (z. B. Sprache-Nation in der Französischen Revolution). <?page no="113"?> Überlegungen zu Décadence und Renaissance 93 Skizze der Teilaktivitäten des Sprechens Ebene I: Handlung und Erfahrung Sprechen Kultur Universalgeschichte Einzelsprache Sprachgemeinschaft Ununterbrochene Tradition Text Textgemeinschaft Einzelexemplare Ebene II: Reflexivität - Sprecher - Theoretiker ? Grammatik (Sprachgeschichte) Poetik Rhetorik (Literaturgeschichte) Wir können noch vermuten, daß solche Veränderungen hierarchisch höher anzusiedeln sind, die mehrere Ebenen gleichzeitig betreffen oder durch eine Wechselwirkung mehrerer Ebenen induziert werden. 4. Nachdem wir diese konstruktive Systematik entworfen und uns mit dem seriellen Blick (zumindest prophylaktisch, die Forschungsarbeit bleibt zu tun) 22 ausgerüstet haben, können wir zur Geschichte unserer Minderheitensprachen zurückkehren. Ich werde mich nun aufs Okzitanische beschränken, da ich die Quellen dafür besser überblicke. Vergegenwärtigen wir uns auf einer Zeitleiste die Ereignisse, die für einen Bruch in der okzitanischen Sprachgeschichte in Frage kommen: 12. Jh. 13. Jh. 14. Jh. 1539 1610 1789 Klassik Albigenserkreuzzüge Jeux Floraux Toulouse Villers- Cotterêts Tod Heinrichs IV. Französische Revolution Gehen wir nun unsere verschiedenen Ebenen durch: Eine besonders schwerwiegende Entwicklung in der Geschichte des Okzitanischen ist die Ausbreitung von Schriftlichkeit, insbesondere bei Ausbreitung des Buchdrucks. Diese Entwicklung begünstigt die Nationalsprachen und geht fast völlig am Okzitanischen vorbei. Nicht von ungefähr fallen Expansion des Buchdrucks und Ausbreitung des 22 So ist die Geschichte des Okzitanischen zwischen dem 13. und 19. Jahrhundert sehr schlecht erforscht, sieht man einmal von den Arbeiten von A. Brun über die Einführung des Französischen in Südfrankreich ab. Wichtige Schritte wurden auf den Kolloquien von Sommières und Lunel im Jahre 1983 fürs Okzitanische getan. <?page no="114"?> 94 Wie kann man eine Geschichte der (Minderheiten-)Sprachen schreiben? Französischen im Rechts- und Verwaltungsbereich im 16. Jahrhundert zusammen. Diese Entwicklung beschleunigt sich im 18. Jahrhundert mit der Verbreitung des Lesens und der Veränderung der Lesetechniken (vgl. dazu LiLi 57/ 58, vor allem die Arbeiten von Chartier und Darnton). Das Okzitanische wird zunehmend auf Oralität reduziert. Dies impliziert auch eine Charakterisierung als Sprache ‚sans grammaire‘. Wir stellen also die Verbindung der Ebenen und fest. Was die Sprache angeht, so können wir feststellen, daß sie sich im Vergleich zum Französischen wenig verändert. Auch die Verwendung bleibt stabil. Bis ins 18. Jahrhundert ist sie im allgemeinen Gebrauch auch bei den ‚honnêtes gens‘, wie Boissier de Sauvages 1756 schreibt. Wir können feststellen, daß ein Diskursuniversum nach dem anderen dem Okzitanischen verlorengeht oder es gar nicht erst erreicht: Das beginnt mit dem Bereich von Recht und Verwaltung, der 1539 per Erlaß dem Französischen zugeschlagen wird. Im 17. Jahrhundert nimmt das Okzitanische nur mehr an der karnevalesken Literatur, nicht an der Stilisierung und Vereinheitlichung der klassischen Hochliteratur teil. Das Diskursuniversum Wissenschaft bleibt vom 15. Jahrhundert an dem Französischen vorbehalten, insbesondere die Dynamisierung und auch Versprachlichung von Wissenschaft um 1800. - Das Okzitanische wird als erste moderne Sprache in Form von Grammatiken im 13. und 14. Jahrhundert beschrieben, die teilweise von Poetiken (vgl. ) begleitet sind. Dieses Faktum ist nicht einfach zu interpretieren: Das Okzitanische scheint außerhalb Okzitaniens (Italien und Katalonien vor allem) als literarisches Modell betrachtet worden zu sein, und die Grammatiken scheinen dieser Modellfunktion zu dienen. Gehen wir zum 18. Jahrhundert über: Hier scheint ein entscheidender Einschnitt auf der Ebene der Reflexivität zu liegen. Von der Mitte des Jahrhunderts an verbreitet sich das patois-Bewußtsein. Die Fülle der deskriptiven Aktivitäten werden von einem ähnlichen Wandel betroffen (vgl. Schlieben-Lange 1984b). Eine langfristige Analyse der Intentionserklärungen der Wörterbücher zeigt, daß in der 2. Hälfte des Jahrhunderts die praktische Finalität (Hilfe beim Erlernen einer allgemein üblichen Sprache) durch eine selbst-korrektive abgelöst wird. Von den Poetiken des Mittelalters war schon die Rede. In der Neuzeit folgt ihnen nichts Vergleichbares. Wir können als Ergebnis unserer Hinweise auf die verschiedenen Arten von Traditionen thesenartig festhalten: a) Die Periodisierung, die die Renaissance-Bewegung des 19. Jahrhunderts vornimmt, hat einen deskriptiven Gehalt, der nur teilweise gültig ist, außerdem einen deklarativen Aspekt der Wiederherstellung der ‚Klassik‘ <?page no="115"?> Überlegungen zu Décadence und Renaissance 95 durch Epos und Sprachnormierung. Der Annahme einer einheitlichen Dekadenzphase ist eine vielsträngige Entwicklung gegenüberzuhalten. Wir kehren zu unserer Zeitleiste zurück und tragen einige der oben erwähnten einschneidenden Veränderungen ein: ; ; ; 1200 1500 1800 Wir können zwei wichtige Einschnitte feststellen: das 16. Jahrhundert und die 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts. Entscheidende Veränderungen sind erst zwei Generationen vor den Minderheitenbewegungen eingetreten. Sie betreffen allerdings nicht die Sprache, sondern Oralität, Texte und vor allem Sprachbewußtsein. b) Diese Entwicklung des Okzitanischen entspricht einer allgemeineren, bedeutsamen Veränderung der Sprachen um 1800: - als Folge der wachsenden Alphabetisierung (1.) und der daraus folgenden Umstrukturierung des Gebrauchs der Umfelder und der sprachlichen Mittel zum Verweis darauf; - als Folge der auf Sprache gerichteten Reflexion (5.), insbesondere durch das Mißtrauen gegenüber dem abus des mots, das, im Verein mit der Auffassung der Menschheitsgeschichte als Geschichte der Entwicklung der Zeichensysteme (Condillac → Ideologen), zu einer sehr differenzierten Betrachtung sprachlicher Inhalte geführt hat; - eng verbunden damit, durch die Entwicklung der Wissenschaftssprachen durch systematische Nutzung von Wortbildungselementen (vgl. Anm. 18). ( , , ) Keine Sprache konnte sich den Folgen dieser Entwicklung entziehen. c) Die Renaissance der Félibres hat die Bedingungen ihres Handelns, die durch diese allgemeinen Entwicklungen vorgegeben waren, nicht richtig analysiert. Ihre dichterischen Anstrengungen orientierten sich an antiken Modellen; ihre deskriptiven Tätigkeiten waren untheoretisch; ihre normativen Überlegungen zielten auf eine Schrift mit nur lokaler Verwendbarkeit. Die katalanische Renaixença hat die Probleme besser verstanden und gelöst: das Katalanische sollte auch Wissenschaftssprache sein; die Norm verstand sich als überregional. d) Eine Renaissance, die sich als Renaissance versteht und aufgrund einer ungenügenden Situationsanalyse scheitert, beschleunigt die Dekadenz. e) Die Frage nach der Möglichkeit der Periodisierung in der Sprachgeschichte bleibt offen. Wir haben vor allem auf die Entwicklungen hingewiesen, die von größerer Reichweite sind, gewissermaßen der Universal- <?page no="116"?> 96 Wie kann man eine Geschichte der (Minderheiten-)Sprachen schreiben? geschichte angehören (deren Unmöglichkeit uns seit der Französischen Revolution bewußt ist), weil sich die Vermutung aufdrängt, daß die Geschichte einer bestimmten Einzelsprache etwas mit diesen Entwicklungen und der Art, wie die Mitglieder der betreffenden Sprachgemeinschaft die daraus resultierenden Probleme lösen, zu tun hat. Bibliographie Coseriu, Eugenio (1958): Sincronía, diacronía e historia, Montevideo. (Dt. Übersetzung (1974): Synchronie, Diachronie und Geschichte, München: Fink.) Coseriu, Eugenio (1974): Synchronie, Diachronie und Geschichte, München: Fink. [Dt. Übersetzung Sincronía, diacronía e historia (1958).] Coseriu, Eugenio (1981): „La socioy la etnolinguistica: sus fundamentos y sus Tareas“, in: Annuario de letras 19, 5-30. 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Zunächst erschien die Alltagssprache in der Charakterisierung als vage und unbestimmt durch die logischen Semantiker jeder logisch normierten Sprache als heillos unterlegen. Mittlerweile ist das Problem jedoch von vielen Seiten beleuchtet worden, vor allem natürlich weiter in der Auseinandersetzung um Alltags- und Logiksprachen, verschärft durch die Probleme der Artificial Intelligence, modifiziert im Rahmen der Philosophie selbst durch Wittgensteins Philosophische Untersuchungen und durch Grices Konversationslogik, relativiert als Problem von Bedeutung und Bezeichnung etwa in der Kontroverse Labov-Faust (vgl. dazu Weydt/ Schlieben-Lange 1981) und gänzlich uminterpretiert durch die Wiederbelebung der Tropen-Diskussion im französischen Post-Strukturalismus. Nachdem zu Beginn der Diskussion die Alltagssprache infolge ihrer Vagheit als fast unbrauchbar erschienen war, gerät ihr dieser Makel mittlerweile fast zur nunmehr positiv gewerteten wichtigsten Eigenschaft. Ihre Leistungen, ihre Flexibilität beruhten gerade auf der von den Logikern geschmähten Vagheit. Diese aktuelle Diskussion hat bereits - mit ähnlicher Ausprägung der kontroversen Positionen - einmal stattgefunden, und zwar in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Die indétermination (indeterminazione/ vaghezza, indeterminación, Unbestimmtheit) der Wörter ist ein Topos in der Sprachtheorie der Spätaufklärung. Wie diese Ähnlichkeit der Themen, ja sogar der Positionen, historisch zu erklären sei, ist schwer zu sagen. Vielleicht trägt der Versuch der Rekonstruktion der historischen Bedingungen der ersten Diskussion etwas zur Erhellung der modernen Problematik bei. Das Hauptgewicht dieser Skizze wird auf der Thematisierung der indétermination durch die französischen Ideologen liegen (Kap. 1), in deren Programm diese Problematik eine Schlüsselrolle hat. * Zuerst erschienen 1987 in: Neumann, Werner/ Techtmeier, Bärbel (Hrsg.), Bedeutungen und Ideen in Sprachen und Texten. Werner Bahner gewidmet, Berlin: Akademie Verlag, 135-146. <?page no="120"?> 100 Die indétermination des mots Für die französische Spätaufklärung soll die Frage nach den Elementen der sprachtheoretischen Tradition, die in die neue Problemformulierung eingehen (Kap. 2), und die nach den historischen Bedingungen für die Formulierung des Problems in dieser Zeit (Kap. 3) gestellt werden. Im Kapitel 4 soll abschließend auf die gänzlich andere Bewertung der Unbestimmtheit in der italienischen Sprachtheorie der gleichen Zeit hingewiesen werden. Ich widme diese Skizze sehr gern Werner Bahner, dem ich viele Anregungen und persönliche Ermutigung für die Beschäftigung mit der Geschichte der Sprachwissenschaft verdanke. 1. Die Ideologen und die indétermination des mots Die indétermination des mots wird in der einen oder anderen Weise von den meisten Ideologen erwähnt. 1 In einer Theorie, in der idées als Niederschlag der sensations im Zentrum stehen, muß die Frage, ob die mots die idées klar repräsentieren und, falls dies nicht der Fall sein sollte, wie und mit welcher Reichweite Ungenauigkeiten und Fehlerquellen beseitigt werden können, eine zentrale Rolle spielen. Hier seien exemplarisch drei Positionen kurz dargestellt. 1.1. Cabanis: Die indétermination als Problem der Wissenschaftssprache Cabanis thematisiert die indétermination in seinen Révolutions et réforme de la médecine (an III). Sein Anliegen ist es, die medizinische Wissenschaft systematisch neu zu ordnen. Sein großes Vorbild ist die Neuordnung der Chemie durch Lavoisier, deren Modellcharakter ohnehin in der Zeit eine große Rolle spielt, bis in die Debatten der Revolution hinein. 2 Gemeinsamer Ansatzpunkt für diese sämtlichen Reformen von Wissenschaftssprachen ist Condillacs Programm, in Cabanis’ Worten das Programm der „langue bien faite, et réforme analytique des langues“ (Cabanis 1956, II, 169). Es sei mir erlaubt, seine Vorschläge zur Reinigung der medizinischen Wissenschaftssprache ausführlich zu zitieren: Une langue est destinée à transmettre et à retracer les idées, ou les images de tous les objets qui s’offrent à nos sens. Ces idées doivent d’abord être claires et précises: ainsi, le premier vice des mots d’une langue sera d’être confus, vagues, ou susceptibles, de plusieurs sens. En second lieu, les idées doivent être enchaînées dans un ordre naturel, et classées de manière à faire sentir distinctement et sans effort, les rapports qui les lient entr’elles: le second vice d’une langue est donc que ses mots n’aient point été formés suivant le plan de la formation même des 1 Zum sprachtheoretischen Programm der Ideologen: Histoire Epistémologie Langage 4/ 1 1982, Schlieben-Lange 1984, Busse/ Trabant 1986. 2 Vgl. dazu Schlieben-Lange 1993 [im Original zitiert die Autorin diesen Artikel als Schlieben-Lange 1985a; die Publikation hat sich jedoch sehr lange verzögert.] <?page no="121"?> Die Ideologen und die indétermination des mots 101 idées, qu’on les y transporte d’un objet à l’autre, qu’on les modifie, ou les combine sans règle fixe; que l’usage constant de la règle n’y lève pas toute incertitude par rapport à leurs transformations de sens, et ne montre pas, dans les analogies, ou dans les relations grammaticales des mots, celle même des objets. La troisième qualité des idées est de se réveiller et de se transmettre facilement: le troisième vice d’une langue est donc d’être difficile à apprendre et à retenir. Enfin cette peinture parlée de nos sensations, ou plutôt des idées qu’elles font naître en nous, doit être capable de rendre par l’harmonie, la couleur, l’élégance, la force et la vivacité de l’expression, les différens caractères de ces mêmes idées: elle doit pouvoir en suivre tous les mouvemens, en faire sentir toutes les nuances, et s’adresser avec le même succès, à la raison, à l’imagination et à la sensibilité. Ce n’est pas seulement le désir de plaire, ou le besoin d’être ému, qui impose cette dernière condition; ce sont la netteté, la rapidité, l’énergie et la durée des impressions qui l’exigent: c’est par-là seulement, que l’intérêt et l’attention peuvent être toujours soutenus. Les langues qui sont tout à la fois exactes et brillantes, réagissent sur les esprits: elles leur impriment une activité nouvelle, et deviennent ainsi la cause directe de beaucoup d’idées qui n’eussent point été produites sans ce nouveau genre d’impressions. On pourroit croire que la langue des sciences doit se borner à l’exactitude, à la précision, à la clarté; ces qualités y sont les plus essentielles sans doute: mais, non-seulement les sciences ont leur genre d’élégance et d’agrément; elles ont aussi leur éloquence; elles ont leur manière d’ébranler l’imagination; et quelquefois même elles peuvent, sans sortir des limites que trace un goût sévère, parler à la sensibilité du lecteur. Il seroit inutile d’expliquer ce qu’on doit entendre par un mot précis. Pour être tel, il suffit que ce mot désigne clairement un objet déterminé, et qu’il ne puisse en aucune manière, réveiller l’idée d’un objet différent. (Cabanis 1956, II, 163 ff.) Besonders aus der vierten Forderung wie auch aus dem gesamten Kontext geht klar hervor, daß es ausschließlich um die Konstruktion einer Wissenschaftssprache geht, wobei Cabanis’ positive Beurteilung der éloquence in der Wissenschaft von der seiner Zeitgenossen erheblich abweicht. 3 Es bleibt offen, wie die indétermination in der Alltagssprache beurteilt wird. Da insgesamt die Verwissenschaftlichung aller Lebensbereiche angestrebt wird, schrumpft freilich der Raum, wo indétermination eine Daseinsberechtigung hätte. 1.2. Lancelin: Die indétermination als Übel der Alltagssprache Im Gegensatz zu Cabanis beschränkt Lancelin in seiner Introduction à l’analyse des sciences (an IX) das Problem nicht auf Terminologien, sondern radikalisiert es als eines, das die gesamte Sprache betrifft. Es tritt nicht bei den idéees simples auf, wo alle über die gleichen sensations verfügen, sondern bei den idées complexes. In dieser Hinsicht stellt es sich vor allem als ein 3 Ganz anders etwa Destutt de Tracy im Band II, Teil 6 der Elémens d’Idéologie. Zur Behandlung des Problems der Wissenschaftssprache bei Humboldt, vgl. Trabant 1983. <?page no="122"?> 102 Die indétermination des mots Problem der étendue dar, die durch neue Wissensbestände erweitert werden kann (im Gegensatz zu Cabanis, wo die indétermination ein Ergebnis unzureichender Analyse war): L’on voit donc que l’étendue de chaque terme général exprimant une notion complexe de substance, d’art ou de science, etc., est indéterminée, variable, et susceptible de croître continuellement par l’addition de nouvelles idées, naissantes de nouvelles découvertes: ainsi, chacun de ces noms généraux, or, fer, argent, etc.; quadrupèdes, oiseaux, poissons, etc.; astronomie, physique, chimie, botanique, horlogerie, gravure, peinture, morale, éducation, législation, etc., ont deux sens, l’un désignant la somme de nos connoissances actuelles, l’autre la somme totale des connoissances qu’il est possible à l’homme d’acquérir sur chacun des objets précités, […]. (Lancelin an IX, 203) Dieses Problem der unterschiedlichen Wissensbestände, je nach dem historischen Ort der Sprecher, betrifft die gesamte Alltagssprache, insbesondere den moralischen und politischen Bereich. Möglicherweise läßt sich das Problem überhaupt nicht aus der Welt schaffen: Voilà une des principales sources de l’imperfection des langues, un des plus puissans obstacles qui s’opposent et s’opposeront éternellement peut-être à ce qu’elles acquièrent une précision mathématique. (Lancelin an IX, 180) Insgesamt formuliert Lancelin jedoch immer wieder das Ziel der uniformisation und homogénéisation 4 der Gesellschaft, in der die Ungleichheit der Wissensbestände, mithin die indétermination der Wörter keinen Platz mehr haben wird. 1.3. Destutt de Tracy: Die indétermination: ein konstitutiver Zug der Alltagssprache Destutt hebt in seinen Elémens d’Idéologie (Bd. I, an IX; Bd. II, an XI) noch sehr viel nachdrücklicher als Lancelin hervor, daß die Unbestimmtheit ein Wesensmerkmal der menschlichen Sprachen ist. […] que l’incertitude de la valeur des signes de nos idées est inhérente, non pas à la nature des signes, mais à celle de nos facultés intellectuelles; et qu’il est impossible que le même signe ait exactement la même valeur pour tous ceux qui l’emploient, et même pour chacun d’eux, dans les différens momens où il l’emploie. Cette triste vérité est ce qui constitue essentiellement le vice radical de l’esprit de l’homme; et qui le condamne à ne jamais arriver complètement à l’exactitude, excepté dans quelques cas fort simples, ou considérés sous un rapport particulier; et ce qui fait que presque tous ses raisonnemens sont nécessairement fon- 4 Dieses Programm beherrscht die revolutionäre Programmatik und Praxis in einem bisher nicht voll gewürdigten Ausmaße. Man denke an die Sprachpolitik, die Vereinheitlichung der Maße und Gewichte, der Einteilung der Départements usw. Dazu Schlieben-Lange 1987. <?page no="123"?> Die Ideologen und die indétermination des mots 103 dés sur des données incertaines et variables jusqu’à un certain point. (Destutt de Tracy II, 405) Diesem Übel könne nur in Teilbereichen, jenen der normierten Wissenschaftsterminologien abgeholfen werden, die Alltagssprache bleibe davon jedoch unberührt. Dies unterscheidet ihn deutlich von dem Wissenschaftsoptimismus eines Lancelin, der von der allmählichen Verwissenschaftlichung aller Lebensbereiche ausgegangen war. Die maßvolle Beschränkung der Normierung der Sprache auf den Bereich wissenschaftlicher Terminologien äußert Destutt im Rahmen seines Plädoyers gegen eine Universalsprache und für die allgemeine Alphabetisierung. Während jene Wissen hermetisch verschließen würde (wie einst die Hieroglyphen das Wissen der Priester), würde diese zu einer Demokratisierung aller Lebensbereiche führen. 5 Welche Gründe führt nun Destutt für die notwendige Vagheit der Begriffe an? Die Begriffe bilden sich aufgrund der Erfahrungen. Diese aber sind im Grunde für jedes Individuum verschieden, ja sogar für unterschiedliche Lebensphasen desselben Individuums. Dazu kommt, daß jeder einzelne die historisch gewordenen Wortzeichen übernimmt und erst ex post erschließt, welche sensations und idées ihnen wohl zugeordnet sein könnten. Der Zeichengebungsprozeß ist sozusagen durch das Gewicht der historisch überkommenen Zeichen umgekehrt. D’abord nous avons déjà remarqué que quand une fois l’usage des signes est introduit entre les hommes, nous n’en inventons presque plus, nous n’en faisons plus d’après nos idées propres, nous les recevons tout faits de ceux qui s’en servent avant nous, et nous avons presque toujours la perception du signe avant celle de l’idée qu’il est destiné à représenter. À la vérité ce signe n’a aucune signification pour nous avant que nous ayons acquis la connaissance personnelle de cette idée; mais lorsque l’idée est fort composée, et c’est le plus grand nombre, cette connaissance est souvent difficile à se procurer; elle exige un travail long, qui ordinairement reste imparfait. Nous pouvons rarement y parvenir par des expériences directes; nous sommes réduits le plus souvent à des conjectures, à des inductions, à des approximations; enfin nous n’avons presque jamais la certitude parfaite de cette idée, que nous nous sommes faite sous ce signe par ces moyens, soit exactement et en tout la même que celle à laquelle attachent ce même signe celui qui nous l’a appris et les autres hommes qui s’en servent. De là vient souvent que des mots prennent insensiblement des significations différentes, suivant les temps et les lieux, sans que personne se soit apperçu du changement: ainsi il est vrai de dire que tout signe est parfait pour celui qui l’invente, mais qu’il a toujours quelque chose de vague et d’incertain pour celui qui le reçoit; or c’est le cas où nous sommes presque toujours. C’est donc avec cette imperfection que nous y attachons nos idées, et qu’ensuite nous les manifestons. 5 Dazu Labarrière 1986 und Schlieben-Lange 1986a. <?page no="124"?> 104 Die indétermination des mots Il y a plus, je viens d’accorder que tout signe est parfait pour celui qui l’invente; mais cela n’est rigoureusement vrai que dans le moment où il l’invente, car quand il se sert de ce même signe dans un autre temps de sa vie, ou dans une autre disposition de son esprit, il n’est point du tout sûr que lui-même réunisse exactement sous ce signe la même collection d’idées que la premiere fois; il est même certain que souvent, sans s’en appercevoir, il y en a ajouté de nouvelles, et a perdu de vue quelques unes des anciennes. (Destutt de Tracy I, 314 ff.). Destutts Begründung der Vagheit ist sehr weitreichend und heute noch bemerkenswert: Unterschiedlichkeit der Erfahrungen; notwendige Differenz zwischen Sprecher und Hörer; das Individuum als Ort der Bestimmtheit der Zeichen und schließlich die Macht des historisch gewordenen Zeichenvorrats, der den ‚natürlichen‘ Prozeß der Zeichengenese umkehrt. Destutt stellt dies alles mit leichter Resignation fest: „[…] nous devons donc renoncer à la perfection.“ (II, 406). Von einer positiven Wertung der Eigenschaften natürlicher Sprachen, die er sehr gut diagnostiziert hat, ist er weit entfernt. 2. Elemente aus der sprachtheoretischen Tradition In dem Diskurs über die Unbestimmtheit der Wörter können die Ideologen selbstverständlich auf vielfältige Traditionselemente zurückgreifen, allem voran auf Condillacs Methode, die er im Essai sur l’origine des connoissances humaines entwickelt. Das zweite Kapitel des Methodenteils ist unserem Problem gewidmet: De la manière de déterminer les idées ou leurs noms. Condillac empfiehlt, die Bezeichnungen für die idées complexes radikal zu überprüfen, indem man in jedem Fall auf die idées simples, aus denen sie zusammengesetzt sind und ihrerseits durch die sensations gesichert sind, zurückgeht. Allerdings nimmt Condillac an, daß die Erfahrungen, die den idées simples zugrundeliegen, für alle in ihrem Kern gleich sind. Die ideologischen Autoren entwickeln also Condillacs Programm in verschiedener Weise: die einen, indem sie die Klärung der Ideen und Wörter auf die wissenschaftlichen Terminologien beschränken, die anderen, indem sie seine Überlegungen zur möglichen Verschiedenheit der Erfahrungen skeptisch weiterentwickeln (dazu Trabant 1986). Condillac seinerseits kann sich einerseits auf Locke und seine Vorstellungen vom abus des mots beziehen. Andererseits schöpft er aus den Formulierungen der Ideenlehre, wie sie in der Logik von Port-Royal und bei Leibniz niedergelegt sind und wie sie im ganzen 18. Jahrhundert Gemeingut waren (vgl. Artikel „idée“ in der Encyclopédie). Die Unterscheidungen konnten beibehalten werden; sie bedurften lediglich einer sensualistischen Uminterpretation, die die idées an die sinnlichen Erfahrungen anband. Besonders wichtig sind die Unterscheidungen von clarté und distinction, obscurité und confusion als <?page no="125"?> Bedingungen für die Verbreitung des indétermination-Themas 105 Modi der Repräsentation der Objekte durch die Ideen. 6 Im Encyclopédie- Artikel finden wir die Systematik in der Formulierung von Leibniz: zunächst muß unterschieden werden zwischen idées obscures und idées claires; letztere können ihrerseits confuses oder distinctes sein. Die distinction kann weiterentwickelt werden in die idées complètes und die idées adéquates: complète distincte claire adéquate idée confuse obscure (Encyclopédie, s. v. idée, 35, 157 ff.) In der Logik von Port-Royal sind weiterhin Unterscheidungen angelegt, die im 18. Jahrhundert allgemein verbreitet gewesen sind und zur Beschreibung von Mehrdeutigkeit eingesetzt wurden, so die Unterscheidung von étendue und compréhension (Kap. VI), die Unterscheidung von mots univoques und mots équivoques, wobei hier besonders die équivoques analogues, sozusagen die Polyseme, bedeutsam waren (Kap. VI), und schließlich der Begriff der idées accessoires, die zur idée principale hinzutreten, wie er besonders in der Synonymie eine Rolle spielte. Andererseits enthielt die Rhetorik und hier besonders die Tropenlehre viele Ansatzpunkte zur Beschreibung von Mehrdeutigkeit. Während in der Logik die Mehrdeutigkeit als Übel betrachtet wird, das durch verschiedene Verfahren ausgeschlossen werden muß, ist sie in der Rhetorik gerade der Normalfall, die Grundlage der Möglichkeit figurierter Rede. 7 Der Diskurs über die Unbestimmtheit kann sich also einerseits auf die Art der Repräsentation der Objekte durch die Ideen beziehen: als obskur oder klar, konfus oder distinkt, andererseits auf die Reichweite, die étendue der Ideen, und schließlich auf die idées accessoires, die Konnotationen, die die idées principales überlagern. 3. Bedingungen für die Verbreitung des indétermination-Themas bei den Ideologen Wir haben gesehen, daß die begrifflichen Elemente für den Diskurs über die indétermination des mots mit unterschiedlicher theoretischer Einbettung (rationalistisch und sensualistisch) im 17. Jahrhundert vorlagen. Unter wel- 6 Über die Rolle dieser Begrifflichkeit in der theologischen Auseinandersetzung um die Jansenisten (Port-Royal! ) vgl. Artikel „Jansénisme“ in der Encyclopédie. 7 Zur Behandlung von Mehrdeutigkeit im 18. Jahrhundert Delesalle 1986 und Schlieben-Lange 1986b. In gewissem Umfang hat sicher auch die Unterscheidung von détermination und explication, die in der Logik von Port-Royal (Kap. VIII) entwickelt wird, eine Rolle gespielt. Vgl. dazu Auroux 1980. <?page no="126"?> 106 Die indétermination des mots chen Bedingungen aber, so würde die uns interessierende historische Frage lauten, ist dieser Diskurs in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts 1) so weit verbreitet gewesen, 2) in einer spezifischen Weise, nämlich als eine Rede über den unumgehbaren Makel der natürlichen Sprachen, weiterentwickelt worden. Zu dieser historischen Frage kann man zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur Vermutungen äußern, die allerdings durch die Kontexte der uns interessierenden Stellen nahegelegt werden. 3.1. Die Wissenschaft Die theoretische Bestimmung der Eigenheiten der Alltagssprache als des ‚Anderen der Fachsprache‘ 8 ist sicherlich durch die sprunghafte Entwicklung der Wissenschaften notwendig geworden. Dabei handelt es sich um einen dialektischen Prozeß. In dem Maße wie die gesellschaftlichen Bedingungen für eine Institutionalisierung der Wissenschaften und damit auch für eine Ausgliederung der Einzeldisziplinen sich entwickelten, stellte sich für die einzelnen Fächer das Problem der Formulierung von Theorien und Methoden und - was uns besonders interessiert - von Terminologien. Umgekehrt löste die Theoretisierung des Terminologieproblems wie etwa bei Condillac („une science est une langue bien faite“) die Entwicklung von neuen Terminologien und damit auch die Freisetzung von neuen Systematisierungen, kurz: wissenschaftlichen Fortschritt aus. Das berühmte Beispiel für eine solche Terminologieerneuerung im Rahmen des Condillacschen Programms ist Lavoisiers Entwurf einer neuen chemischen Terminologie, der eine ungeheure Resonanz hatte: in Übersetzungen, als Modell für ähnliche Bemühungen in anderen Wissenschaften und auch als Exempel für die revolutionäre Debatte um die Wörter (Schlieben-Lange 1993 und 1986b). Diese Entwicklung wurde beschleunigt durch die Ablösung des Lateinischen als Wissenschaftssprache, die d’Alembert noch in der Einleitung zur Encyclopédie beklagt (dazu Pörksen 1984). Infolge der stürmischen Entwicklung der Wissenschaften und ihrer Terminologien erscheint die Alltags-Sprache sozusagen als Rest, der vor allem durch seine indétermination gegenüber der Bestimmtheit der Termini charakterisiert ist. Im Frankreich des späten 18. Jahrhunderts mit seiner Tendenz zur Uniformisierung und Verwissenschaftlichung aller Lebensbereiche, die sicher auch ein starker Antrieb der Revolution war, mußte diese indétermination als Makel interpretiert werden. 8 Trabant 1983 und Schlieben-Lange/ Kreuzer 1983. <?page no="127"?> Bedingungen für die Verbreitung des indétermination-Themas 107 3.2. Die Schrift Im Selbstverständnis der Zeitgenossen war die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts durch eine massive Ausbreitung von Schriftlichkeit und, einhergehend damit, tiefgreifende Veränderungen des Leseverhaltens gekennzeichnet. 9 Man kann vermuten, daß auch diese Entwicklung die indétermination der Wörter spürbar machte. In der mündlichen Rede ist häufig die détermination durch die Situation, die deiktisch und ostensiv in die Rede einbezogen werden kann, mitgegeben oder kann erfragt werden. Erst in den schriftlich verfaßten Texten, die andernorts und andernzeits ohne die Anwesenheit eines Autors, der befragt werden könnte, gelesen werden, drängt sich die Frage der Abgrenzung der Wortbedeutungen auf. In diesem Zusammenhang muß auch die Abwertung der Rhetorik in Frankreich (nicht in Italien und Spanien) gesehen werden (vgl. Sermain 1986), die selbstverständlich in engem Zusammenhang mit dem Ideal der langue analytique der Wissenschaften (vgl. oben) steht. Die Polemik gegen figure und allégorie, image und tropes ist bei den Ideologen, aber auch in Revolutionsreden allgegenwärtig. Diese Polemik trifft natürlich auch, sozusagen nebenbei, die Alltagssprache, die durch Mehrdeutigkeiten und kreative Nutzung von Sinnverschiebungen gekennzeichnet ist. 3.3. Die Revolution Ganz sicher standen die Ideologen auch unter dem Eindruck der Logomachie, der Auseinandersetzung um Wortbedeutungen in der Revolution (dazu Guilhaumou 1986). Nachdem in den vorrevolutionären Debatten um den abus des mots noch davon ausgegangen worden war, daß es auch eine proprietas der Wörter in Hinblick auf die Sachen gebe, die nur von interessierten sozialen Schichten außer kraft gesetzt sei, war im Verlauf der Revolution der Eindruck entstanden, daß die Festlegungen der Wortbedeutungen den Zufälligkeiten parteiischer Beliebigkeit überlassen sei, ohne daß irgendeine Instanz die Kontrolle über die Wortbedeutungen habe. 10 So beruht die oben zitierte Klage, die Wortbedeutungen seien im Bereich von Moral und Gesetzgebung besonders unscharf, sicher auf den jüngsten Erfahrungen. Eine Terminologie, ähnlich der von Lavoisier soeben entworfenen chemischen, für Politik und Gesellschaft tut not. Wieder erscheint angesichts dieser Forderung die nicht normierte Alltagssprache als unbestimmt. 9 Dazu einige Beiträge in Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 57/ 58 1985, außerdem Schlieben-Lange 1983. 10 Dazu Reichardt 1985 und Schlieben-Lange 1986b. <?page no="128"?> 108 Die indétermination des mots 4. Die positive Wertung der Unbestimmtheit in Italien Während in Frankreich aufgrund der soeben umrissenen Umstände die indétermination der Alltagssprache als Makel gewertet wird, als das, was sie negativ von der Wissenschaftssprache unterscheidet, kommen die italienischen Theoretiker der gleichen Zeit - unter Verwendung derselben Theorieelemente - zu entgegengesetzten Wertungen. 11 So stellen etwa zur gleichen Zeit Beccaria und Genovesi fest, daß die Unbestimmtheit der Wörter gerade ein konstitutives Merkmal natürlicher Sprachen ist. Das Funktionieren natürlicher Sprachen beruht gerade darauf, daß die einzelnen sprachlichen Elemente erst in der Rede ihre Bestimmtheit gewinnen: […] non vi è in nessuna lingua quasi nessuna parola, ch’abbia un’idea chiaro-distinta di per sé; ma l’idee delle parole cosí isolatamente prese son tutte indefinite e confuse; né vengono determinate che per uso dello Scrittore, e per quella limitazione che loro danno l’antecedenti, le consseguenti, la giacitura, l’aria e il tuono, con cui l’autore le pronuncia. La medesima parola unita con alcune, ti mostra un dato aspetto d’idee, con altre, un altro; piú indietro te ne farà vedere degli altri: detta con un tuono asseverante ha un senso: con un tuono di meraviglia, un altro: con irrisione un terzo: con interrogazione un quarto, ec. E delle parole, quel che dei colori del collo di un colombo; variando secondo il moto del sole e del colombo. È un’ignoranza, dunque, fissare l’idee delle parole isolate e astratte. (Genovesi 1766, 249-250, in: Pennisi 1984, 95) Beccaria geht in seinen Ricerche intorno alla natura dello stile sogar noch weiter: nur die idee accessorie, die Mitverständnisse, ermöglichen ästhetische Texte, indem sie die Sensibilität der Zuhörer ansprechen. Die Stilistik von Beccaria ist die Synthese sensualistischer Philosophie Condillacscher Prägung mit einer durchaus traditionelle Elemente verwendenden sensibilité-Rhetorik, wie sie in Frankreich meines Wissens nie versucht worden ist. Die Unbestimmtheit ist also die notwendige Basis der Bestimmbarkeit in Situation und Text und die Grundlage jeder ästhetischen Sprachverwendung. 50 Jahre später greift Leopardi in seiner Literaturtheorie diese Überlegungen wieder auf und radikalisiert sie in der programmatischen Gegenüberstellung der universellen, ahistorischen termini und der allein künstlerischen Ausdruck möglich machenden parole (dazu Gensini 1983): Le parole, come osserva Beccaria […] non presantano la sola idea dell’ogetto significato, ma quando meno, immagini accessorie. Ed è pregio somme della lingua l’aver di queste parole. Le voci scientifiche presentano la nuda circoscritta idea di quel tale oggetto, e perciò si chiamano abbonda di parole, tanto piú è adattata alla letteratura e alla bellezza ec. ec. e per lo contrario quanto piú abbonda di termini, dico quando questa abbondanza noccia a quella delle parole, perché l’abbondanza di tutte due le cose non fa pregiudizio. (zitiert nach Gensini 1983, 50) 11 Ähnliches ließe sich auch für Spanien (Jonama, Alea) und Deutschland (Humboldt, dazu Trabant 1983) nachweisen. <?page no="129"?> Bibliographie 109 Bei allen drei italienischen Autoren zeigt die verwendete Begrifflichkeit, daß die französische Tradition vollständig bekannt ist und daß damit gearbeitet wird. Die Akzente sind jedoch anders gesetzt. Die Bestimmung der Unbestimmtheit der Sprachbedeutungen als Konstituens der Sprache, besonders ihrer kreativen Verwendung, resultierend aus der Bindung der Sprache an Zeit und Ort, ist gerade auch heute wieder beherzigenswert. Wieder einmal ist die Stunde kontextfreier wissenschaftlicher zeit- und ortsloser Bedeutungen gekommen; die Alltagssprache erscheint demgegenüber als vage und fransig. Die Analyse der historischen Bedingungen des Diskurses von der indétermination des mots könnte Anhaltspunkte geben, die uns vielleicht helfen, nicht wieder die Wesensbestimmung der Sprache zu verfehlen. 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Studia linguistica in honorem Eugenio Coseriu 1921-1981, Bd. 5: Geschichte und Architektur der Sprachen, Berlin/ New York/ Madrid: de Gruyter/ Gredes, 117-145. <?page no="131"?> La théorie des activités communicatives de Habermas et la linguistique* 1. Aux origines de la linguistique pragmatique en Allemagne Dans les années 1971/ 72, années qui suivent immédiatement la révolte des étudiants en 1968, la linguistique allemande a profondément changé: les méthodes linguistiques valables alors, de provenance soit néo-grammairienne, soit structuraliste, soit générativiste étaient radicalement critiqués au nom de la sociolinguistique et de la pragmatique linguistique; c’est-à-dire dans le sens du social et de la praxis. En 1972, Pragmatik und sprachliches Handeln de Dieter Wunderlich et Utz Maas, et un ouvrage collectif Linguistische Pragmatik sous la direction de Dieter Wunderlich, étaient les manifestes d’une nouvelle linguistique largement suivie par la génération des jeunes linguistes de l’époque. En 1975 paraissait toute une série d’introductions à la nouvelle discipline qui, de la sorte, se présentait en tant que science mûrie qu’on pouvait enseigner sous forme de manuels. Comment se fait-il que cette nouvelle linguistique née dans le cadre de la révolte estudiantine se soit appuyée largement sur des modèles philosophiques qui n’étaient pas enracinés dans une critique de la société? La philosophie des actes de langages formulée par Austin et d’autres visait tout d’abord à une critique interne de l’empirisme logique et de la prépondérance, voire de l’exclusivité, attribuée par celui-ci au langage descriptif appliqué à un monde purement empirique. Pour mieux comprendre ce moment historique de la formation d’une linguistique nouvelle, il faut se rendre compte du rôle central qu’a joué Habermas dans les discussions de l’époque. C’était l’article Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz (1971) écrit en polémique avec la théorie des systèmes de N. Luhmann qui était en quelque sorte la plaque tournante entre linguistique, Ordinary Language Philosophy et théorie marxiste, et ceci dans toutes les directions. Habermas lui-même s’est inspiré des travaux de Dieter Wunderlich, et, d’autre part, les jeunes linguistes de la mouvance révolutionnaire apprenaient de lui qu’on ne pouvait ignorer la philosophie anglo-saxonne du langage, de l’action, de la convention. La compétence communicative comprise, en un sens kantien, en tant que condition * Zuerst erschienen 1990 in: Cahiers de praxématique 14, 9-19. <?page no="132"?> 112 La théorie des activités communicatives de Habermas nécessaire de toute communication, consiste dans la possibilité universelle d’établir des rapports avec le monde empirique (par des actes constatifs), avec la société (par des actes régulatifs) et avec soi-même (par des actes représentatifs). En plus, elle implique la possibilité de quitter le niveau des activités pour entamer un ‚discours‘ sur le sens et la validité des actes performés. Ceux qui avaient lu Erkenntnis und Interesse (1968), un des textes centraux du mouvement de 68 en Allemagne, comprenaient cette esquisse d’une théorie de la compétence communicative comme un essai de suppléer au déficit constaté par Habermas: l’homme qui avait su dominer la nature ne savait toujours pas établir des rapports d’égalité dans l’interaction humaine. C’était un moment de communication intense et accélérée: beaucoup d’articles (comme celui de Grice sur les maximes de conversation) circulaient sous forme de photocopies; les groupes d’étudiants et de jeunes linguistes débattaient pendant de longues nuits le contenu ‚pratique‘ (dans un sens emphatique) des thèses habermassiennes. On a aussi beaucoup critiqué l’essai: - la ‚situation de communication idéale‘ était confrontée à la réalité sociale qui était une réalité à distribution asymétrique des actes de langage. - l’idéal d’un sujet parlant qui sait expliciter ses intentions appartenait à l’idéologie historiquement déterminée de l’individu ‚bourgeois‘. 2. Theorie des kommunikativen Handelns L’esquisse de 1972 était parue à un moment historique où le renouement d’une théorie de la société avec une théorie du langage promettait des voies nouvelles à la recherche linguistique et, plus généralement, aux sciences humaines. Les conditions de vie et de recherche ont rapidement changé en Allemagne Fédérale dans les années 70; ce qui a fait que la réception de l’œuvre élaborée, comportant deux volumes épais, n’équivalait pas du tout à celle de l’esquisse. La linguistique s’était de nouveau effondrée en disciplines et écoles et l’effort totalisateur que demandait la lecture de l’opus magnum n’était plus à l’ordre du jour à une époque marquée par l’échec des mouvements de gauche et la résignation des jeunes chercheurs en chômage. C’est pourquoi il ne s’est pas formé une linguistique habermassienne à large échelle; on avait à peine commencé à s’interroger sur les perspectives et les problèmes d’une recherche empirique s’inspirant de la philosophie habermassienne. La théorie de l’activité communicative repose sur les mêmes idées fondamentales qui, déjà, étaient à la base de l’esquisse (a). Le sujet parlant, membre d’une société développée, doit établir un triple rapport: celui au monde, celui à la société et finalement un rapport intra-personnel. L’activité communicative se distingue des activités partielles en ceci qu’elle met en jeu la double structure des activités linguistiques: d’être performance et de permettre en <?page no="133"?> Theorie des kommunikativen Handelns 113 même temps de prendre une distance par rapport à la performance; ce qui ouvre la voie au ‚discours‘. Mais en même temps elle dépasse largement l’esquisse en élargissant le sujet à une éthique philosophique fondée sur les possibilités discursives de l’humanité (b) et en proposant une histoire universelle de la rationalité (c) prolongeant de la sorte le projet des Lumières qui, pour Habermas, n’était pas terminé ni n’avait échoué, mais était à la limite interrompu. La double structure attribuée à la compétence communicative se répète dans le processus scientifique: c’est une double structure qui caractérise l’objet de la recherche des sciences sociales et en même temps sa méthodologie (d), fait qui explique que Habermas présente son ouvrage sous forme d’histoire des sciences sociales (e). (a) Partant de l’idée de trois mondes: le monde objectif, le monde social et le monde intérieur, Habermas développe le système des activités correspondantes qui reposent sur des normes différentes. L’activité verbale établissant le rapport avec le monde objectif repose sur la vérité (Wahrheit), celle concernant le monde social sur la convenance aux normes (Richtigkeit), celle ayant affaire au monde intérieur sur la véracité (Wahrhaftigkeit). En plus, et ceci est le propre de l’activité communicative opposée aux activités téléologiques (monde objectif), normatives (monde social) et dramaturgiques (monde intérieur), la compétence communicative permet d’établir un rapport réflexif aux activités des différents types en cours et d’expliciter si nécessaire ce qui reste implicite dans le déroulement des activités. C’est ce que Habermas appelle les universaux formels pragmatiques en s’inspirant dans cette expression des discussions universalistes de la linguistique générative. De la sorte, il arrive au schéma développé: Aspects de la rationalité de l’action Types d’action Types de savoir incorporé Forme de l’argumentation Mode typique de traduction du savoir Agir téléologique: instrumental stratégique Savoir techniquement et stratégiquement exploitable Discours théorique Technologies/ stratégies Actions langagières constatives (conversation) Savoir empricothéorique Discours théorique Théories Agir régulé par des normes Savoir moral-pratique Discours pratique Représentation de droit et de morale Agir dramaturgique Savoir esthétiquepratique Critique thérapeutique et esthétique Œuvres d’art (Habermas 1987, I, 342; Habermas 1981, I, 448) <?page no="134"?> 114 La théorie des activités communicatives de Habermas Types purs d’interactions médiatisées par le langage Caractères pragmatiquesformels Types d’action Actes de parole caractéristiques Fonctions langagières Orientations d’action Attitudes de fond Prétentions à la validité Rapports au monde Agir stratégique Perlocutions Impératifs Influence sur le partenaire Succès Objectivante (Efficacité) Monde objectif Conversation Constatifs Présentation d’états de chose Inter-compréhension Objectivante Vérité Monde objectif Agir régulé par des normes Régulatifs Instauration de relations interpersonnelles Inter-compréhension Conforme aux normes Justesse Monde social Agir dramaturgique Expressifs Auto-représentation Inter-compréhension Expressive Véridicité Monde subjectif (Habermas 1987, I, 337; Habermas 1981, I, 439) Une culture doit présenter à ses membres la possibilité d’établir ces rapports et, de plus, elle fournit les moyens pour mener le ‚discours‘ sur les activités en cours. (b) En dernière instance la théorie de l’activité communicative est une contribution à l’éthique philosophique, se basant sur la rationalité inhérente et explicable des activités humaines de différents types. Les normes de vérité, convenance et véracité doivent être suivies, et on fait comme si elles étaient suivies à chaque instant. Les sujets qui accomplissent des activités peuvent recourir à chaque instant à la possibilité en entamant une argumentation sur les critères nommés. Habermas admet que la supposition que tous les membres d’une société suivent ces critères de rationalité est souvent contra-factuelle mais en même temps on ne peut renoncer à cette supposition: si on y renonçait, on laisserait tomber toute possibilité de rationalité. (c) Le développement de l’humanité entière et en même temps celui de chaque individu tendrait vers une distinction toujours plus nette des différents mondes et à une explication toujours croissante des rapports et des critères en jeu. La différence entre une vision du monde à base mythique et celle du monde moderne serait justement une différence de degré de distinction <?page no="135"?> Une linguistique habermassienne? 115 et d’explication. L’ontogenèse de chaque individu doit parcourir différents états et différents degrés d’explication sur cette échelle de la rationalité inhérente (Piaget, Kohlberg). Avec cela, Habermas est très proche, et il le ressent lui-même, de la conception du progrès dans les Lumières. Ces ressemblances vont jusque dans le détail: analogie de la phylogenèse et de l’ontogenèse, les cas pathologiques en tant qu’indicateurs d’une rationalité universelle. (d) La compétence communicative n’est pas seulement ‚l’objet‘ du chercheur en sciences sociales, elle fournit aussi la base méthodologique pour son travail. Le chercheur doit supposer nécessairement, tout comme le participant à l’interaction sociale, la rationalité sous-jacente des interactions sociales. Cette supposition implique une critique de la sociologie empiriste qui ignore le problème de l’interprétation des faits sociaux d’une part et de l’herméneutique d’autre part qui s’oppose à des procédés systématiques. Le procédé favorisé par Habermas est celui de la reconstruction qui essaie de retracer les interprétations valables dans une société, tout en étant basée sur la supposition de la présence et de l’évolution des universaux formels pragmatiques. (e) Vu la double structure de l’activité communicative et de la recherche ayant pour objet cette activité communicative, on ne peut s’étonner de la présentation des réflexions sous forme d’histoire de la science sociale. L’ouvrage est organisé suivant les étapes fondamentales de la ‚découverte‘ de la rationalité moderne et de ses fragmentalisations: Max Weber, Adorno, Durkheim, Mead, Parsons. 3. Une linguistique habermassienne? Habermas lui-même discute intensément les possibilités de valider son système universel de pragmatique formelle par la recherche empirique. Il propose trois procédés: - le développement d’une pragmatique reconstructive; - les recherches de communication pathologique, de l’anthropogenèse et de l’ontogenèse de la compétence communicative; - la reconstruction de l’histoire de la théorie des sciences sociales, voie qu’il choisit lui-même dans son ouvrage. Voyons quels sont les chemins déjà suivis ou à suivre. 3.1. Une pragmatique empirique Habermas a développé sa pensée en interaction étroite avec la théorie des actes langagiers; avec Austin et Searle d’abord, mais ensuite aussi avec la pragmatique linguistique et l’analyse de la conversation telles qu’elles ont été développées en Allemagne et aux Etats-Unis. Je pense que toute recherche <?page no="136"?> 116 La théorie des activités communicatives de Habermas dans le domaine de la pragmatique empirique est, que cela soit l’intention de l’auteur ou non, une validation ou une critique de la pensée habermassienne. La recherche ethnométhodologique seule a un statut problématique à cet égard, puisqu’elle part de la présupposition que toute interaction part de zéro et ne repose pas sur des traditions culturelles. Par conséquent, le chercheur doit éviter de travailler avec des hypothèses reconstructives universelles. La recherche des actes langagiers, surtout de la classification des illocutions, des principes d’organisation des conversations, etc., peuvent, d’une manière ou de l’autre, contribuer au développement critique de la pensée habermassienne. A mon avis, la valeur de la recherche pragmatique croît à mesure qu’on observe deux distinctions: celle de l’universel et de l’historique, et celle entre l’activité et la dénomination de l’activité dans une culture concrète. Personnellement j’opterais très clairement pour les points de vue de l’histoire et de la dénomination. D’ailleurs Habermas même voit l’avantage d’un tel procédé: Les forces illocutionnaires constituent les points nodaux dans les réseaux de socialisation communicationnelle; le lexique illocutionnaire est pour ainsi dire la coupe où le langage et les ordres institutionnels d’une société se frayent un passage. (Habermas 1987, I, 329; Habermas 1981, I, 430). Seule une certaine rigueur dans ce domaine permet de valider les implications universalistes de la thèse habermassienne. Si on fait un dictionnaire des verbes allemands désignant des forces illocutoires pour les traduire ensuite en anglais tout en pensant qu’on fait un lexique des forces illocutoires universelles, comme l’ont fait le regretté Th. Ballmer et W. Brennenstuhl, la clarté exigée ne peut survenir. 3.2. Une linguistique de l’argumentation Le propre de la théorie habermassienne, ce qui la distingue radicalement de Lyotard et ce qui est à la base des réflexions éthiques, c’est le poids qu’attribue Habermas au ‚discours‘, c’est-à-dire à l’argumentation qui met en jeu les critères de vérité, de convenance et de véracité. Une linguistique qui s’occupe d’argumentations quotidiennes, ou bien scientifiques, juridiques ou esthétiques, telle que l’a propagée W. Klein (1980), doit se développer en coopération étroite avec une théorie comme celle de Habermas. Les argumentations, tout comme le ‚discours‘ habermassien, sortent du cadre des activités nonproblématisées et doivent arriver en dernière instance à des critères semblables à ceux de Habermas. 3.3. La communication pathologique La recherche sur la communication pathologique, très vivante dans le cadre de la pragmatique allemande, est une contribution de premier ordre au dé- <?page no="137"?> Les problèmes 117 veloppement de la théorie habermassienne. Les différentes formes d’interaction pathologique, non-rationnelle devraient correspondre aux rapports fondamentaux établis par Habermas. 3.4. L’ontogenèse de la communication Les recherches de Piaget sur l’évolution des facultés cognitives, celles de Kohlberg et Miller sur la genèse des jugements moraux étaient dès le commencement des moteurs puissants du développement de la théorie habermassienne; et on peut constater qu’on se trouve devant une recherche assez avancée dans ce domaine. 3.5. Phylogenèse et histoire On ne peut en dire autant de la recherche phylogénétique. Tout comme les Idéologues, Habermas envisage les cas pathologiques et les peuples lointains en tant qu’objets d’une recherche empirique pouvant contribuer à l’éclaircissement des processus phylogénétiques. Tout comme les Idéologues, il hésite devant l’histoire empirique, si on fait abstraction du travail historique de Max Weber sur l’éthique protestante. Habermas préfère l’histoire conjecturale, basée sur les données ethnologiques, à la confrontation directe avec les sources et documents historiques. A mon avis, il faut chercher cette confrontation pour pouvoir mieux déceler le statut de la théorie habermassienne sur la rationalité et la modernité. Même si on ne veut pas contribuer immédiatement à ces discussions, les recherches en pragmatique historique qui, depuis six années environ, prennent un essor considérable en Allemagne, ne pourraient que gagner en employant une hypothèse du type de celle de Habermas comme fil conducteur à travers les documents. 4. Les problèmes La transformation d’un système philosophique en programme de recherches empiriques ne peut se faire sans quelques difficultés. La première difficulté à surmonter est celle de la particularisation nécessaire. On peut très bien travailler sur les dénominations des actes langagiers dans telle ou telle période sans, pour cela, adopter aussi les implications éthiques de la pensée habermassienne. Il faut uniquement faire attention à mener la recherche de manière à pouvoir la re-traduire dans un cadre plus large. Le problème central qui s’oppose à une empirisation facile est le statut ambivalent des critères de rationalité: ce sont des normes et en même temps, Habermas les entend comme descriptifs. Tous ceux qui participent à la communication les suivent ou font ‚comme s’ils étaient suivis‘: souvent ils nous paraissent contra-factuels. Ils partagent ce sort d’être localisés entre norma- <?page no="138"?> 118 La théorie des activités communicatives de Habermas tivité et descriptivité avec d’autres constructions philosophiques et peut-être méthodologiques, avec les maximes conversationnelles de Grice et les règles de base pour tout dialogue formulées par Cicourel. Mais comment travailler avec ce type de suppositions dans une recherche empirique? Comment décider si les critères de vérité, de convenance et de véracité sont mis en œuvre? Comment trouver le ‚vrai dans le faux‘? Que faire si l’analyse des données empiriques ne nous montre que des communications systématiquement déformées? Verrons-nous à la fin que ce n’est que la science (naturelle, sociale et culturelle) qui correspond aux exigences de Habermas (et soit dit entre parenthèses qu’elle ne le fait que très rarement)? Le quotidien est-il abandonné au stratégique? Il faudra revenir de la pragmatique formelle à l’analyse des sociétés et des moments historiques pour prévenir ce danger. Bibliographie Habermas, Jürgen (1968): Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/ Main: Suhrkamp. Habermas, Jürgen (1971): „Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz“, in: Habermas, Jürgen/ Luhmann, Niklas, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt/ Main: Suhrkamp, 101-141. Habermas, Jürgen (1976): Connaissance et intérêt, Paris: Gallimard. [= Frz. Übers. von Habermas 1968] Habermas, Jürgen (1981): Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt/ Main: Suhrkamp. Habermas, Jürgen (1983): Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt/ Main: Suhrkamp. Habermas, Jürgen (1984): Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/ Main: Suhrkamp. Habermas, Jürgen (1987): Théorie de l’agir communicationnel, 2 Bde., Paris: Fayard. [= Frz. Übers. von Habermas 1981] Habermas, Jürgen (1988): „Zwecktätigkeit und Verständigung“, in: Stachowiak, Herbert (Hrsg.), Pragmatik. Handbuch pragmatischen Denkens, Bd. 3, Allgemeine philosophische Pragmatik, Hamburg: Meiner, 32-59. Klein, Wolfgang (1980): „Argumentation und Argument“, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 10, 38/ 39, 9-57. Kohlberg, Lawrence (1981): Essays on moral development, San Francisco: Harper & Row. Maas, Utz/ Wunderlich, Dieter (Hrsg.) (1972): Pragmatik und sprachliches Handeln, Frankfurt/ Main: Athenäum. Miller, Max/ Klein, Wolfgang (1981): „Moral argumentations among children“, in: Linguistische Berichte 74, 1-19. Wunderlich, Dieter (Hrsg.) (1972): Linguistische Pragmatik, Frankfurt/ Main: Athenaeum. <?page no="139"?> Die Sprachpolitik der Französischen Revolution - Uniformierung in Raum, Zeit und Gesellschaft* Bis vor wenigen Jahren konnte man den Eindruck haben, daß die Französische Revolution wohlerforscht ist, und zwar vor allem in ereignisgeschichtlicher, in sozialgeschichtlicher und verfassungsgeschichtlicher Hinsicht. Die vielfältigen kulturpolitischen Aktivitäten waren kaum in den Blick gekommen; die Archive waren in dieser Hinsicht noch kaum ausgewertet worden. Eine historische Epoche, die ansonsten als gut erforscht gelten konnte, bot hier noch Stoff für eine Fülle von neuen Fragestellungen. Die Forschungslage hat sich jedoch in den letzten Jahren gründlich verändert. Dank der Aktivitäten vor allem von Gumbrecht, Koselleck und Reichardt in Deutschland und denen von Ozouf, Vovelle, Guilhaumou u. a. in Frankreich sind für den Bereich der Kulturpolitik und der Sprachpolitik der Französischen Revolution ganz neue Fragen formuliert und teilweise bereits auch an Archivmaterial bearbeitet worden. 1 Meine These in diesem Zusammenhang ist, daß in diesem Bereich der Kulturpolitik zwar Ansätze der Aufklärung aufgenommen werden, die sich aber vor allem in der Terreur verdichten zu einem Projekt der Uniformierung der Gesellschaft und vor allem der Wahrnehmungsweisen in Raum, Zeit und Sprache. 2 Diese These möchte ich in mehreren Schritten entfalten. In einem ersten Schritt möchte ich eine - stark selektive - Liste kulturpolitischer und sprachpolitischer Ereignisse vorstellen und interpretieren. In einem zweiten Schritt soll das Begriffspaar uniformité und diversité als Element des politischen Diskurses, wie er sich bereits in den ersten Jahren der Revolution anbahnt und dann in der jakobinischen Zeit generalisiert, vorgestellt werden. Besonders erhellend ist in diesem Zusammenhang eine Konfrontation * Zuerst erschienen 1990 in: Die Französische Revolution - Impulse, Wirkungen, Anspruch. Vorträge im Sommersemester 1989 (Sammelband der Vorträge des Studium Generale der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg im Sommersemester 1989), Heidelberg: Heidelberger Verlagsanstalt, 75-92. 1 Wichtige Arbeiten sind: Gumbrecht 1978 und 1980, Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 41 (1981 = Sprache und Literatur in der Französischen Revolution), Reichardt 1985, Koselleck/ Reichardt 1988, Busse/ Trabant 1986, Ozouf 1976 und 1984, Vovelle 1985, Guilhaumou 1989, Lengas 17/ 18 (1985 = La question linguistique au sud au moment de la Révolution Française). 2 Diese Auffassung habe ich dargelegt in: Schlieben-Lange 1987a. <?page no="140"?> 120 Die Sprachpolitik der Französischen Revolution des Begriffes uniformité mit konkurrierenden Begriffen: analogie, nature und universalité. Im dritten, zentralen Teil meiner Ausführungen soll das Projekt der Uniformierung in Raum, Zeit und Sprache dargestellt werden. Und schließlich möchte ich abschließend, mehr in Form von Fragen, noch zwei Gesichtspunkte kurz andeuten, nämlich: einmal die Entdeckung und Exteriorisierung der Geschichte während der Französischen Revolution und zum anderen die Frage, ob es sich bei dem Projekt der Uniformierung um eine ‚evolutionäre Errungenschaft‘ im Sinne der soziologischen Theorie handelt. 1. Ausgewählte Ereignisse im Bereich von Sprach- und Kulturpolitik 22. Dezember 1789 Beginn der territorialen Umstrukturierung 14. Januar 1790 Dekret über die Übersetzungen August 1790 Grégoire verschickt und veröffentlicht seinen Fragebogen über die patois Oktober 1790 Bildung der Commission des monuments 19. Januar 1791 Dugas erhält den Auftrag für die Übersetzungen in die idiomes méridionaux 10. September 1791 Rapport Talleyrand über das Erziehungswesen 14. Oktober 1791 Gründung des Comité de l’Instruction Publique 20. April 1792 Rapport Condorcet über das Erziehungswesen 18. Oktober 1792 Neugründung der Commission des monuments 4. November 1792 Debatte über die Übersetzungspolitik 20. Februar 1793 Vereinigung der Archive an einem Ort (Louvre) 4. Juni 1793 Rapport Lakanal fordert Strafen für Vandalismus 10. Juni 1793 Rapport Lakanal über die Einrichtung eines Muséum d’ histoire naturelle 13. Juni 1793 Eröffnung eines Wettbewerbs für Elementarbücher 13. Juli 1793 Plan d’Education nationale (Lepelletier) 18. Juli 1793 Auflösung der Académie Française 19. Juli 1793 Gesetz über geistiges und künstlerisches Eigentum: Déclaration des droits de l’ intelligence 1. August 1793 Gesetz über die Démolition des tombes de Saint-Denis 1. August 1793 Rapport Arbogast über die Vereinheitlichung der Maße und Gewichte 8. August 1793 Auflösung aller Akademien 10. August 1793 Eröffnung des Musée du Louvre 28. August 1793 Ernennung der Commission des arts 5. Oktober 1793 Vorstellung des neuen Kalenders 18. Oktober 1793 Neuorganisation der Bibliothèque Nationale <?page no="141"?> Ausgewählte Ereignisse im Bereich von Sprach- und Kulturpolitik 121 30 vendémiaire II (21. Oktober 1793) Dekret über die Ecoles Primaires 2 brumaire II (23. Oktober 1793) Gesetz zur Erhaltung der Kunstschätze 3 brumaire II (24. Oktober 1793) Erläuterung des neuen Kalenders durch Fabre d’Eglantine 11 brumaire II (31. Oktober 1793) Gesetz über die Verpflichtung zum Duzen 21 brumaire II (11. November 1793) Rapport sur la bibliographie générale (Domergue) 21 nivôse II (10. Januar 1794) Rapport sur les inscriptions des monuments publics (Grégoire) 4 pluviôse II (21. Januar 1794) Rapport sur les bibliothèques 8 pluviôse II (27. Januar 1794) Rapport Barère über die Regionalsprachen 9 pluviôse II (28. Januar 1794) Neueröffnung des Wettbewerbs für die Elementarbücher (Grégoire) 21 pluviôse II (9. Februar 1794) Wettbewerb für die Anpassung der Uhren an das Dezimalsystem 23 pluviôse II (11. Februar 1794) Adresse aux communes et aux sociétés populaires (Domergue) 21 ventôse II (11. März 1794) Forderung nach Einrichtung einer Ecole centrale des travaux publics 22 germinal II (11. April 1794) Rapport sur la bibliographie (Grégoire) 16 prairial II (6. Juni 1794) Rapport sur la nécessité et les moyens d’anéantir les patois (Grégoire) 18 messidor II (6. Juli 1794) Jury des livres élémentaires 14 fructidor II (31. August 1794) 1 er Rapport sur les destructions opérées par le vandalisme (Grégoire) 6 vendémiaire III (27. September 1794) Einrichtung der Ecole Normale 7 vendémiaire III (28. September 1794) Einrichtung der Ecole centrale des travaux publics 8 vendémiaire III (29. September 1794) Einrichtung des Conservatoire des arts et métiers 24 frimaire III (14. Dezember 1794) 2 nd et 3 e rapport sur le vandalisme (Grégoire) 27 brumaire III (17. November 1794) Loi Lakanal über die Ecoles Primaires 7 ventôse III (25. Februar 1795) Organisation der Ecoles Centrales (Daunou) <?page no="142"?> 122 Die Sprachpolitik der Französischen Revolution 18 germinal III (7. April 1795) Gesamtheit der neuen Maße und Gewichte obligatorisch 16 thermidor III (3. August 1795) Eröffnung des Institut Central de Musique 15 fructidor III (1. September 1795) Musée des monuments français (Lenoir) 23 vendémiaire IV (15. Oktober 1795) Rapport sur l’ instruction publique (Daunou) 3 brumaire IV (24. Oktober 1795) Neuordnung des Erziehungswesens, Beschluß zur Gründung des Institut National Wenn wir uns die vorstehende Liste sprach- und kulturpolitischer Ereignisse in der Französischen Revolution ansehen, die zwar selektiv ist, aber insgesamt wohl doch repräsentativ für Schwerpunkte und Verteilung während der Revolutionsjahre, so lassen sich verschiedene Beobachtungen anstellen. Insgesamt kann man feststellen, daß es sich bei vielen Projekten um Pläne handelt, die bereits Vorläufer im Ancien Régime hatten. Weiterhin ist es auffällig, daß die Personen, die an den verschiedenen Projekten als Kommissionsmitglieder oder als Rapporteure beteiligt sind, immer wieder die gleichen sind. Offensichtlich gibt es einen Kreis von etwa fünfzehn bis zwanzig Naturwissenschaftlern, die bereits vor der Revolution, dann aber auch während aller Phasen der Revolution an der Konkretisierung und Durchsetzung ihrer Projekte gearbeitet haben. Wenn man diese Beobachtungen auf die aktuelle Frage nach Bruch und Kontinuität zwischen Ancien Régime einerseits und Revolution andererseits und zwischen den einzelnen Phasen der Revolution bezieht, so ist man versucht zu sagen, daß, wenn es überhaupt Kontinuität gegeben hat, dann gerade im Bereich der kulturpolitischen Maßnahmen. Wenn wir uns nun die einzelnen Phasen genauer ansehen, so sehen wir, daß die wichtigsten kulturpolitischen Probleme in der ersten Phase der Französischen Revolution bereits diagnostiziert waren. Eine der ersten Maßnahmen ist im Winter 1789/ 90 die territoriale Neuordnung Frankreichs. Die Sprachproblematik, also das Problem, die Gesetze und Erlasse der revolutionären Gremien an die Provinzen zu vermitteln, ist bekannt: man versucht ihm durch Übersetzungen zu begegnen. Auch ein anderes Problem ist diagnostiziert, nämlich die Tatsache, daß aufgrund der Enteignung, zunächst der Klöster, später auch der Adligen im Exil, Kunstschätze zirkulieren, über deren Wert und Konservierung man sich verständigen mußte. Und schließlich, gab es erste und sehr elaborierte Versuche, die aufklärerischen Ideen der Perfektibilität des Menschen in Erziehungsprogramme umzusetzen. Nach Gründung der Republik werden die verschiedenen Projekte und Kommissionen zunächst weitergeführt. Erst nach der Ausschaltung der Gironde zeichnet sich dann eine ungeheure Konzentration der Kräfte ge- <?page no="143"?> Uniformité und diversité als Elemente des politischen Diskurses 123 rade auch auf kultur-, sprach- und bildungspolitische Aktivitäten in der Jakobinerzeit ab: Die elitäre Kultur und ihre Reste (die Akademien) sollen endgültig zugunsten einer egalitären Kultur verschwinden, die alle Kategorien der Erkenntnisse, Raum, Zeit und Sprache grundsätzlich neu ordnet. Diese gemeinsame Fokussierung auf ein Uniformierungsprojekt ist einzigartig und folgenreich. So mag man Nicole Dhombres nicht recht folgen, wenn sie in ihrem Katalog zu der Jubiläumsausstellung La Révolution a besoin de savants anmerkt, daß die jakobinische Zeit wohl einen Niedergang von Kultur und Bildung beinhalte. Das mag wohl für die Formen elitärer Kultur zutreffen; andererseits ist die Konzentration der Energien auf das Projekt der Uniformierung und die klare Formulierung der Grundsätze dieses Projekts ein unerhörtes Ereignis, das auf der Ebene des kulturellen und sprachlichen Bewußtseins folgenschwere Spuren hinterlassen hat. Bemerkenswert ist weiterhin, daß gerade in der jakobinischen Zeit die Diskussion um die frei zirkulierenden Kunstschätze intensiv wiederaufgenommen wird und die ersten Museen gegründet werden. Wir werden uns abschließend noch einmal fragen müssen, wie das Uniformierungsprojekt und diese Bewußtwerdung der Geschichte zueinander passen. Wenn wir uns schließlich die Maßnahmen des Konvents nach Thermidor und des Direktoriums ansehen, so können wir feststellen, daß das Projekt der Uniformierung in Raum und Zeit energisch und teilweise sogar mit größerer Effektivität weiterbetrieben wird. Ein großer Teil der nachthermidorianischen Energien gilt der Neuordnung des Bildungssystems. Es ist unübersehbar, daß die egalitären Bildungsvorstellungen der Jakobinerzeit durch die Neugründung neuer elitärer Institutionen abgelöst werden. So bezieht sich der nachthermidorianische Konvent einerseits auf die ‚gute‘ Revolution und auf die Aufklärung und bricht mit der Terreur und ihren egalitären Bestrebungen, andererseits versteht sie sich aber doch auch unverkennbar, vor allem auf der uns hier interessierenden symbolischen Ebene, als Revolution und als Teilhaber an der ‚neuen Zeit‘. 3 2. Uniformité und diversité als Elemente des politischen Diskurses Die unité und indivisibilité gehören von Beginn der Revolution an zu den Verfassungsgütern (vgl. Debbasch 1988). So heißt es im Artikel 1 der Konstitution der konstitutionellen Monarchie la souveraineté est une, indivisible, inaliénable et impréscriptible und später dann, seit dem 25.9.1792: La République est une et indivisible. Darüber hinaus hat sich aber der Begriff der uniformité zu einem Oberbegriff für die verschiedenen politischen Errungenschaften der Revolution entwickelt. Er erlaubt es, die Ver- 3 So haben die Versuche, den Revolutionskalender durchzusetzen, nach Thermidor zugenommen, vgl. Ozouf 1984. Zu Thermidor vgl. Baczko 1989. <?page no="144"?> 124 Die Sprachpolitik der Französischen Revolution änderungen auf ökonomischem, juristischem und politischem Gebiet auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Auf ökonomischem Gebiet steht der Vielzahl der feudalen Unfreiheiten die Einheit der liberté gegenüber, die zunächst vor allem als ökonomische Freiheit der Zirkulation von Waren und Arbeitskräften, dann erst als emphatischer Überbegriff für alle Teilfreiheiten verstanden wurde. 4 So sind in einem instrumentellen Sinn auf dieser Ebene tatsächlich die Vereinheitlichung der poids et mesures mit der Vereinheitlichung der Sprache zu parallelisieren, wie Balibar und Laporte angenommen haben (vgl. Balibar/ Laporte 1974). Diese Parallelisierung erfolgt jedoch noch zwingender auf der Ebene der Uniformierung der Kategorien der Erkenntnis. Juristisch wird die Verschiedenheit der Rechtssprechung und die damit implizierte Ungleichheit durch die égalité, zunächst die Gleichheit vor dem Gesetz, später auch die soziale Gleichheit, abgelöst. Die neue politische Organisationsform ist die nation une et indivisible, die der diversité der Provinzen und ihrer vielgestaltigen Verwaltungsformen eine neue uniformité entgegensetzt. In dieser Sichtweise erweisen sich uniformité und diversité als Schlüsselworte, die es erlauben, die Revolution und ihre vielfältigen Neuerungen einerseits und das Ancien Régime und seine überwundenen Erscheinungsformen andererseits auf den Begriff zu bringen. ⎧ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎨ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎩ féodalité - ökonomisch - liberté ⎧ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎨ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎩ (Zölle, Abgaben) inégalité - juristisch - égalité diversité (droit uniformité coutumier) provinces - politisch - nation une et indivisible Schema 1 Welchen Status hat nun diese uniformité? Ist es lediglich ein Begriff, der erlaubt, die Gemeinsamkeit der revolutionären Bemühungen auf verschiedenen Gebieten zusammenzufassen? Ganz sicher ist dies zunächst seine Funktion: wie die eine liberté die vielen Freiheiten (Handel, Arbeit, Presse, Religion …) zusammenfaßt, so die uniformité die Erscheinungsweisen der Einheit: liberté, égalité, nation. Ebenso aber wie die liberté wird auch die uniformité zum emphatischen Begriff, der über die einzelnen Gleichförmigkeiten hinausweist. Auf der Ebene der kognitiven Muster und der Mentalitäten überschießt die uniformité ihre einzelnen Manifestationen: die Neuordnung der 4 Dies wäre im Licht von Kosellecks Ausführungen zur ‚Sattelzeit‘ zu interpretieren. <?page no="145"?> Uniformité und diversité als Elemente des politischen Diskurses 125 Erkenntnisse in Raum und Zeit und ihre symbolische Fixierung gemäß den Gesetzmäßigkeiten der uniformité wird zum Programm. An dieser Stelle ist es recht aufschlußreich, den Begriff der uniformité mit jenen Begriffen zu konfrontieren, die häufig in seiner Umgebung auftauchen, sei es konkurrierend, sei es ergänzend. Es sind dies die Begriffe der analogie, nature und universalité. In welchem Verhältnis stehen die Begriffe zueinander? Die uniformité, die noch in der Encyclopédie als ein naturwissenschaftlicher Begriff ausgewiesen war, bezeichnet die Gleichförmigkeit der Prinzipien, die eine Organisationsform oder ein Zeichensystem leiten. Der Begriff der analogie enthält ebenfalls diesen Aspekt der Gleichförmigkeit, darüber hinaus aber auch noch einen zweiten Aspekt, nämlich die Abbildung der nature. Ein Zeichensystem erfordert dann die Ansprüche der analogie, wenn es einerseits gleiche Beziehungen durch gleiche Morpheme kennzeichnet und andererseits die in der Natur bestehenden Verhältnisse abbildet. So erhebt z. B. Condillac in seiner Langue des Calculs die analogie zum Hauptkriterium einer gelungenen Wissenschaftssprache, wie übrigens auch Lavoisier und seine Mitarbeiter die analogie zum Hauptkriterium bei der Entwicklung der chemischen Terminologie gemacht hatten, die ein so wichtiger Referenzpunkt für die Sprachdiskussionen während der Französischen Revolution werden sollte (dazu Schlieben-Lange 1989a). Die nature, die von Zeichensystemen oder Organisationsformen abgebildet werden soll, ist zweifelsohne die ‚große‘ Natur, die Natur der Naturwissenschaftler. Es wäre ein Mißverständnis, anzunehmen, hier liege ein rousseauistischer oder gar lebensweltbezogener Naturbegriff vor. Viele der Diskussionen um die kulturpolitischen Maßnahmen können gerade auch als Auseinandersetzungen zwischen der Natur der Naturwissenschaftler und der ‚kleinen‘ Natur der Lebenswelten interpretiert werden. Entspricht nun ein Zeichensystem oder eine Organisationsform den Erfordernissen der uniformité und der analogie, so hat es/ sie ein Anrecht auf universalité. Wenn also ein Zeichensystem nach den Erfordernissen der Gleichförmigkeit der Prinzipien und der Angemessenheit an die Natur konstruiert ist, so kann es legitimerweise universalisiert werden, ja es braucht nicht einmal besonders propagiert zu werden, sondern wird sich gewissermaßen ‚naturwüchsig‘ durchsetzen. uniformité analogie nature universalité Schema 2 <?page no="146"?> 126 Die Sprachpolitik der Französischen Revolution 3. Das Projekt der Uniformierung in Raum, Zeit und Sprache Wie wir anhand der Liste sprach- und kulturpolitischer Ereignisse gesehen haben, findet in der jakobinischen Zeit eine Konzentration der Kräfte auf ein einheitliches Projekt der Uniformierung statt. Wir wollen sehen, welche Bereiche des kulturellen Lebens davon ergriffen werden. Sehen wir uns z. B. einen Karton mit Einsendungen an das Comité d’Instruction publique (Archives Nationales de France F 17/ 1135) an. Er enthält Dokumente [in der unten stehenden Tabelle als d. bezeichnet] zu folgenden Bereichen: d. 1: Poids et mesures d. 2: Calendrier républicain d. 3: Académie des Sciences d. 4: Changements des noms de communes d. 5: Poids et mesures d. 6: Maßstabstabellen d. 7: Système horaire d. 8: Calendrier d. 9: Education républicaine […] d. 12: Überblick über den Kalender Wir sehen also in zeitlicher und darauf basierend in archivarischer Nachbarschaft Dokumente zur Vereinheitlichung der Maße und Gewichte, zur Vereinheitlichung des Kalenders, zu Sprachproblemen (die Umbenennung von Gemeinden) und zu Erziehungs- und Bildungsinstitutionen. Das heißt, daß der Überschuß des Begriffs der uniformité als utopischen und noch zu verwirklichenden Wertbegriffs ausfließt in ein Projekt der Uniformierung der Kategorien der Erkenntnis: Raum, Zeit und Sprache; dies alles garantiert durch ein einheitliches, egalitäres Erziehungswesen. espace diversité uniformité temps langue Schema 3 Daß es sich hierbei nicht nur um eine archivarische Nachbarschaft handelt, sondern daß die verschiedenen Teilprojekte als Bestandteile ein und desselben Gesamtprojektes wahrgenommen worden sind, ließe sich an vielen Texten des Winters [17]93/ 94 belegen. Nehmen wir als Beispiel die Einleitung zu einem handschriftlichen, nie veröffentlichten Projets D’une Nouvelle forme D’orthographe à l’usage Des Sans culottes: <?page no="147"?> Das Projekt der Uniformierung in Raum, Zeit und Sprache 127 Au moment où les français cherchent à remonter à tous les principes pour perfectionner chaque point de leur existence phisique et morale; au moment où la convention s’occupe à nous former une constitution et un code fondés sur les bases éternelles de la justice; au moment où une troupe de savants vient d’extraire des éléments mêmes de la nature, une mesure commune de la pesanteur et des distances, pour servir aux besoins de notre commerce journalier; au moment où un nouveau calendrier va diviser d’une manière plus égale les différentes parties du temps qui règle nos destinées; au moment enfin, où toutes les institutions humaines sont brisées et rejetées au moule pour être reconstruites sur les principes immuables de la raison: la plus belle des inventions, la plus utile des sciences, celle dont toutes les autres tirent leur perfection, restera-t-elle imparfaite elle même? et la verrons-nous couverte de la rouille et de la poussière des siècles dont elle aura aidé les autres à se secouer? je veux ici parler de l’écriture, cette ingénieuse image de la parole; cet art précieux au quel notre révolution doit presque tous ses succès, et qui peut seul les propager dans les générations futures et les régions éloignées. (Archives Nationales de France F 17/ 1135) In dieser kurzen Intentionserklärung finden wir die meisten der oben systematisch skizzierten Diskurselemente. Die politische Einheit ruft auch nach Einheit in Raum und Zeit und schließlich auch nach der Vereinheitlichung der Sprache, in diesem Fall der Orthographie. Die Prinzipien bei der Neugestaltung von Raum und Zeit werden der Natur entnommen und gewinnen daraus ihre besondere Dignität. Und schließlich verdienen diese neuen, naturgemäßen Organisationsformen auch Universalität in Raum und Zeit. Sie werden die entferntesten Gebiete und die zukünftigen Generationen erreichen. Ähnlich äußert sich auch der Citoyen Chomel-Midon, der gleichzeitig an Maßen und Gewichten, Kalender, Orthographiereform und noch einigen anderen Projekten sitzt: J’ê abandonné momantanément mèz afêrez, Citoyenz Reprézantans, pour porter à la Qonvansion lêz ouvrajez dont il êt fait mansion danz lez 3 einpriméz sijouenz, qoncernanz le qode nasional, la qontribusion foncière, lêz poiz é mesurez; lêz ponz é chòcéez, lez chemeins é leurz tournanz, lez défrichemanz dez montaniez, la chôcure é la marche du soldat, la manière dadicioner lêz livrez, souz é denierz, piéz, poucez, liniez, é leurz fraqsionz. Je revienz à mon alfabet, pour vous observer qu’expériance faite, ma manière d’écrire sera plus courte d’un sinqieme, qu par l’àqtuèle. Plus j’égzamine le calendrier national, et plus je l’admire quounque je préferaz de n’y pas voir de latin. (Archives Nationales de France F 17/ 1135) Die Uniformierung kann auch andere Bereiche ergreifen. So empfiehlt etwa der Citoyen Vaureix aus der Auvergne die Uniformierung der Bekleidung im Zusammenhang der Uniformierung der Sprache: Le meilleur moyen d’anéantir le patois dans les campagnes serait de convertir cette adresse en Décrèt, de rendre uniforme le costume de tous les français en général et de l’adapter aux mœurs républicaines, sauf aux riches à user d’étoffes <?page no="148"?> 128 Die Sprachpolitik der Französischen Revolution plus fines selon les climats. L’uniformité consisterait seulement dans la couleur et la forme des habillemens. Les enfants seraient jusqu’au sortir des Ecoles costumés aussi uniformément. Ils seraient solennellement révêtus du costume national à quatorze ans. L’uniformité de costume amènerait plus facilement l’uniformité de langage surtout si l’adresse du 16 prairial était convertie en décrèt. (Archives Nationales de France F 17/ 1135) Lagrange, der selbst maßgeblich an der Ausarbeitung der verschiedenen Entwürfe beteiligt war, macht einen deutlichen Unterschied zwischen der Vereinheitlichung der Maße und Gewichte, der er soziale Nützlichkeit zuerkennt, und der Vereinheitlichung in der Zeit, die seiner Ansicht nach gerade ein Ausfluß des generalisierten Strebens nach uniformité wäre: […] ainsi on peut dire que l’introduction de l’échelle décimale dans les mesures du temps est plutôt fondée sur des raisons de convenance, de simplicité et d’uniformité, que sur les grands motifs d’utilité générale, qui ont fait adopter cette échelle dans la mesure de toutes les autres quantités. (Archives Nationales de France F 17/ 1135) 3.1. Die Uniformierung des Raums Die uniforme Neuordnung des Raums war eine der ersten großen revolutionären Unternehmungen, unmittelbar nach der Abschaffung der Feudalrechte 1789 (dazu Ozouf-Marignier 1989). Die Diskussion um die neue räumliche Gliederung beherrschte den Winter 1789/ 90. Thouret schlägt am 29.9.1789 die Schaffung von 80 Départements völlig gleichen Umfangs vor. Die großen kartographischen und geometrischen Errungenschaften des 18. Jahrhunderts lassen eine solche uniforme Neuordnung möglich erscheinen: „Je commencerais par me procurer la grande carte des triangles de Cassini […] Je la partagerais d’abord géométriquement d’après les proportions adoptées par le Comité de Constitution“ (nach Berlet 1913, 193). Die Neuordnung des Raums ist eine Notwendigkeit der neuen Zeit: „effacer tout souvenir d’histoire […] Tout doit être nouveau en France et nous ne voulons dater que d’aujourd’hui.“ (Barère) Gegenstand der Auseinandersetzungen des Winters 1789/ 90 ist die Aushandlung eines Kompromisses zwischen geometrischer Neuordnung und Durchsetzung menschlicher Maße (die Hauptorte sollten in einer Tagesreise von allen Teilen des Départements aus erreichbar sein), zwischen vollständiger Gleichförmigkeit und geographischer bzw. historischer Diversität. In diesem Zusammenhang müssen auch die Erstellung von neuen Kartenwerken (z. B. Mentenelle 1791) und sogenannten Statistiken gesehen werden. Die räumliche Neuordnung sollte jedoch nicht nur die Einteilung in Départements betreffen, sondern bis in die alltäglichen Lebensformen vorangetrieben werden. Ab 1790 arbeitete eine Kommission mit den Mitgliedern Monge, Borda, Lagrange, Laplace, Condorcet an der Entwicklung des metrischen Systems. <?page no="149"?> Das Projekt der Uniformierung in Raum, Zeit und Sprache 129 Am 1.8.1793 wurde der Vorschlag der Kommission vom Konvent angenommen. Am 18 germinal an III (= 7.4.1795) wurde das vollständige neue System der Maße und Gewichte auf einheitlicher dezimaler Basis vom Konvent beschlossen. Sehen wir uns die Begründung von Arbogast bei der Vorstellung des neuen einheitlichen Systems an: L’idée de rapporter toutes les mesures à une unité de longueur prise dans la nature s’est présentée aux mathématiciens, dès l’instant où ils ont connu l’existence d’une telle unité et la possibilité de la déterminer. Ils ont vu que c’était le seul moyen d’exclure tout arbitraire du système des mesures et d’être sûr de le conserver toujours le même, sans qu’aucune révolution dans l’ordre du monde pût y jeter de l’incertitude. Ils ont senti qu’un tel système n’appartenant exclusivement à aucune nation, on pouvait se flatter de le voir adopter par toutes. (Despois 1868, 304) Auch hier begegnen uns also wieder die bereits bekannten Diskurselemente: die Neuordnung entnimmt ihre Prinzipien der Natur. Dies garantiert die Uniformität des Systems und verschafft ihm Universalität: die anderen Nationen können es übernehmen. Damit hat die Durchsetzung eines einheitlichen, den Menschen und der Geschichte äußerlichen, lediglich mathematisch begründeten Maßsystems begonnen. 3.2. Die Uniformierung der Zeit Daß eine ‚neue Zeit‘ angebrochen war, beherrschte das Bewußtsein des revolutionären Frankreichs ab 1789. Das Ancien Régime, der ancien style gehörten der Vergangenheit an. Ein neues Zeitalter, ère française, war angebrochen. So wurde 1789 bereits vereinzelt als an I de la liberté bezeichnet. Am 5.10.1793 wurde dann der Beginn der neuen Zeitrechnung im Jahre 1792 verordnet. Es ging jedoch jetzt nicht mehr nur um den Beginn, sondern auch um eine Neuordnung der Zeit. Eine Kommission, bestehend aus Monge, Fourcroy, Lakanal, Marie-Joseph Chenier und Fabre d’Eglantine, bereitete diese Neuordnung vor und unterbreitete am 4 frimaire an II (= 4.11.1793) dem Konvent ihren Entwurf. Die Länge der Monate wurde vereinheitlicht, die Monate erhielten sprechende Namen (man beachte den Zusammenhang von zeitlicher und sprachlicher Neuordnung! ), an die Stelle der Wochen traten die - wieder auf Dezimalsystem beruhenden - Dekaden: Die Tage wurden in zehn Teile eingeteilt, diese zehn Teile wieder in hundert Untereinheiten. Am 21 pluviôse an II (= 9.2.1794) wird ein Wettbewerb ausgeschrieben: es sollten Vorschläge eingereicht werden, wie die Uhrzifferblätter auf die neue Zeitberechnung umgestellt werden könnten, und zwar in möglichst einfacher und kostensparender Weise. Die Uniformierung der Zeit auf dezimaler Basis wurde, nur durch die astronomischen Tatbestände begrenzt: Jahr und Tag waren die unabänderlichen Rahmenbedingungen der Neuordnung. Die neue Zeit war eine Zeit ohne Geschichte, ihre Struktur war mathema- <?page no="150"?> 130 Die Sprachpolitik der Französischen Revolution tisch bestimmt, nicht aus lebensweltlichen Zusammenhängen begründet. Sie konnte sich - im Gegensatz zur räumlichen Neuordnung - auch nicht durchsetzen (vgl. Meinzer 1988). Sie war - so auch die Kritik des Citoyen Lagrange (vgl. oben) - den Lebensverhältnissen zu äußerlich. Ein neues Zeitverständnis, das durch die Uniformität bestimmt ist, kann sich erst im 19. Jahrhundert durchsetzen: Industrialisierung und neue Verkehrsmittel haben dann die Zeit dafür reif gemacht (vgl. Schivelbusch 1977). 3.3. Die Uniformierung der Sprache Wir hatten gesehen, daß die räumliche und zeitliche Vereinheitlichung in engem Zusammenhang mit der sprachlichen gesehen wurde, mehr noch: daß der neue Raum und die neue Zeit selbst sprechen sollten. In diesem Zusammenhang müssen die Monatsnamen und die Entwürfe für eine neue Festordnung des Jahres (an Stelle der christlichen Feste und der Heiligentage) gesehen werden, weiterhin aber auch die Umbenennungen der Kommunen, der Straßen, der Inschriften und öffentlichen Gebäude. Die Vereinheitlichung der Sprache sollte aber über diese raum-zeitlich gebundenen Symbole weit hinausgehen. Sie betrifft drei Bereiche: einmal die Beseitigung der Minderheitensprachen, vielleicht den Aspekt der jakobinischen Sprachpolitik, der am besten bekannt ist 5 , die Ablösung des Lateinischen in den Domänen, in denen es noch eine Rolle spielte, also in dem Erziehungssystem und in der Kirche (dazu Thielsen 1987), und schließlich vor allem die Reform des Französischen selbst. Wenn man Grégoires berühmten Rapport über die Vernichtung der Patois liest, so wundert man sich, daß er am Schluß bei Gesetzesvorschlägen anlangt, die die Verfassung einer neuen französischen Grammatik und eines neuen französischen Wörterbuchs vorsehen. Sicher handelt es sich hier um kein Versehen Grégoires (dazu Schlieben-Lange 1988), sondern um eine beabsichtigte Schlußfolgerung: Das Französische selbst soll zunächst auf den Stand der Revolution gebracht werden, ehe es universalisiert wird. Wir sehen uns also hier vor der gleichen Gedankenbewegung, wie wir sie auch schon für Raum und Zeit kennengelernt haben: ein uniformes, analoges System wird sich legitimerweise quasi naturwüchsig durchsetzen. Sehen wir uns nun an, welche Bereiche der Sprache Grégoire vereinheitlichen will: er fordert die Revision der Orthographie, der Grammatik, ein neues Wörterbuch, das von den Ideen der justesse des mots und richesse geleitet wird, die systematische Ausnutzung von Wortbildungsverfahren und schließlich die Uniformierung des Stils als Ausdruck einer egalitären Gesellschaft. Diese 5 Balibar/ Laporte 1974, de Certeau/ Julia/ Revel 1975, Schlieben-Lange 1976 und 1988, Trabant 1981, Busse 1985 und 1986. <?page no="151"?> Das Projekt der Uniformierung in Raum, Zeit und Sprache 131 von Grégoire und übrigens auch von Domergue 6 formulierten Forderungen nach Vereinheitlichung auf sprachlichem Gebiet beschreiben im Grunde nur, was tatsächlich zur gleichen Zeit fieberhaft in ganz Frankreich betrieben wurde und mehrere Jahre ganz Frankreich umtreiben sollte. uniformité espace temps langue universalité Minderheiten Latein Französisch ⎧ ⎪ ⎪ ⎨ ⎪ ⎪ ⎩ Orthographie Grammatik Wörterbuch Wortbildung Stil Schema 4 3.3.1. Orthographie Wir hatten bereits die Intentionserklärungen zweier Vorschläge zur Orthographiereform kennengelernt, die die Einheitlichkeit und die Bewußtheit des Projekts der Uniformierung in besonders schöner Weise deutlich machten. Die Zahl der Einsendungen auf diesem Gebiet ließe sich verlängern. Wir müssen uns auch klarmachen, daß diese Vorschläge zur Reform der Orthographie dadurch besonderen systematischen Stellenwert haben, daß sie an die Alphabetschrift geknüpft sind, die im Verständnis der Zeitgenossen als die vollkommenste und demokratischste Schriftform gilt. Sie vereinigt die Vorzüge der Doppelung der Arbitrarität, mithin die Abkoppelung vom Bildlichen, und der leichten Erlernbarkeit. Sie ist in gewisser Hinsicht eine unerwartete Lösung des Problems der Universalsprache (vgl. Zollna 1990). Domergue formuliert im Vorwort zu seiner Orthographie (an V) den weitestgehenden Vereinheitlichungsvorschlag: Vingt prononciations différentes, nées des dialectes féodaux, semblent former vingt idiomes français. L’égalité a effacé les provinces, la politique commande l’abolition des patois; la raison, le goût, un saint respect pour la langue de la liberté, nous pressent d’adopter une prononciation uniforme et pure, dont l’orthographe sera un jour l’image fidèle. (Domergue an V) Die Vereinheitlichung darf also nicht bei der Orthographie haltmachen, sondern muß auch die prononciation erfassen, die andernfalls zum Refugium der diversité werden könnte. 6 Zum Vergleich der beiden Texte: Busse 1985. <?page no="152"?> 132 Die Sprachpolitik der Französischen Revolution 3.3.2. Grammatik Die Forderung nach einer neuen Elementargrammatik war bereits in dem Wettbewerb für neue Elementarbücher konkretisiert worden. Auch hier finden wir eine Fülle von Vorschlägen in den Archiven. Das Bedürfnis nach einer neuen Beschreibung der Grammatik des Französischen wird um 1800 mit einer Vielzahl von ausgezeichneten großen neuen Grammatiken beantwortet: Sicard, de Sacy, Thiébault und Destutt de Tracy veröffentlichten in dichter Folge ihre Beschreibungen des Französischen (vgl. Schlieben-Lange 1989b). 3.3.3. Wörterbücher Bereits 1790 erschienen die ersten Wörterbücher mit Artikeln über den neuen revolutionären Wortschatz. In den Jahren 1791/ 92 verallgemeinerte sich diese Diskussion um die Bedeutung einzelner Wörterbücher zu einer sehr viel grundlegenderen Diskussion um die Bedeutungskonstitution und um Subjekt und Garantie von Bedeutungsbeschreibungen. 7 Wenn Grégoire ein Wörterbuch fordert, das die justesse des mots zum Gegenstand hat, so vertritt er genau die robespierristische Position einer Auseinandersetzung, die weiterhin an einer möglichen justesse, mithin auch einem möglichen abus festhält und für die die choses weiterhin als Garant für justesse fungieren, die im Gegensatz zu anderen Positionen, die aus der Erfahrung von Bedeutungskonflikt und Bedeutungswandel den Schluß der allgemeinen Relativität und Standortgebundenheit von Bedeutungsbeschreibungen ziehen. 8 Im Winter 1793/ 94 hat sich die Wörterbuchdiskussion auch insofern verallgemeinert, als nicht nur der politische Wortschatz als definitionsbedürftig erscheint, sondern das Französische in seiner Gesamtheit. Alle Wortbedeutungen müssen neu einheitlich festgelegt werden: Das erste Beispiel eines solchen umfassenden revolutionären Wörterbuchs ist das von Rodoni (dazu Schlieben-Lange 1987c). Das Bedürfnis wird aber allgemein empfunden: von allen Seiten werden Projekte für ein neues umfassendes Wörterbuch formuliert, vom Institut National, von Pougens, Rivarol, Mercier, eine Forderung, die schließlich erst im 19. Jahrhundert von Littré eingelöst wird. Freilich werden auch Stimmen laut, die in Frage stellen, ob eine genaue Definition der Wortbedeutungen und die Beseitigung der indétermination der Wörter überhaupt möglich ist und ob nicht vielmehr eine Uniformierung nach naturwissenschaftlichem Vorbild an der Beschaffenheit der menschlichen Sprache scheitert (Schlieben-Lange 1987b und 1989a). 7 Dazu Reichardt 1985 und Schlieben-Lange 1985. 8 Zur Bedeutungsdiskussion Guilhaumou 1986 und 1989. <?page no="153"?> Das Projekt der Uniformierung in Raum, Zeit und Sprache 133 3.3.4. Wortbildung Die Flut der neuen Wörter in der Revolution 9 ließ nicht nur das Bedürfnis nach Neudefinition entstehen, sondern in gleichem Maße auch das nach systematischer Nutzung der formalen Verfahren zur Bildung neuer Wörter. In der alten sprachtheoretischen Auseinandersetzung um Analogie und Anomalie (moderner: System und Norm) war mit Macht die Stunde der analogie gekommen. Das große Vorbild lieferte die kurz vor der Revolution vorgeschlagene Neuordnung der chemischen Terminologie durch Lavoisier u. a. In vielen Revolutionswörterbüchern finden wir den Eintrag nomenclature (wie übrigens auch aérostat) neben politischen Begriffen. Die wissenschaftlichen Errungenschaften wurden auf einer Ebene mit den politischen der constitution, liberté, égalité, civilisation gefeiert. Sollte es nicht möglich sein, den politischen und sozialen Wortschatz, ja sogar den Alltagswortschatz ähnlich transparent und systematisch zu gestalten wie die Terminologien der Naturwissenschaften? Pougens unternimmt mit seinem Dictionnaire des nouveaux privatifs (1794) einen Schritt in diese Richtung, indem er systematisch den Wortschatz des Französischen durch Anwendung der Negationspräfixe in-, mé-, déusw. erweitert. Diese Entwicklung sollte einen Höhepunkt in der Lexikologie des Butet de la Sarthe (1802) haben, die die erste große Wortbildungslehre des Französischen ist (vgl. Bourquin 1980). Aber auch hier muß hervorgehoben werden, daß die Vereinheitlichung der Wortbildung durch eindeutige Verfahren und deren Ausnutzung innerhalb der verschiedenen Wortfamilien ein Gegenstand der Erörterung vieler Korrespondenten des Comité d’Instruction Publique ist. Erinnern wir uns an Lagranges Vorschlag der Vereinheitlichung der Zeit-Terminologie. 3.3.5. Stil Schließlich hat auch die Pluralität der Stile in einer egalitären Gesellschaft keinen Platz mehr. Grégoire begründet dies so: Il y a dans notre langue, disait un royaliste, une hiérarchie de style parce que les mots sont classés comme des sujets dans une monarchie. Cet aveu est un trait de lumière pour quiconque réfléchit. En applicant l’inégalité des styles à celle des conditions, on peut tirer des conséquences qui prouvent l’importance de mon projet dans une democratie. […] Il est temps que le style mensonger, que les formules serviles disparaissent, et que la langue ait partout ce caractère de véracité et de fierté laconique qui est l’apanage des républicains. (Grégoire, Rapport, zitiert nach de Certeau/ Julia/ Revel 1975, 316) So wird das lakonische Sparta als Ideal dem gesprächigen Athen gegenübergestellt (Schlieben-Lange 1986), und der lakonische Stil, der die Sachen so 9 Dazu Frey 1925, Brunot 1967 und das umfangreiche lexikographische Projekt in St.- Cloud. <?page no="154"?> 134 Die Sprachpolitik der Französischen Revolution nennt, wie sie sind, als einzig möglicher propagiert. Im Direktorium wird dies dann auch fester Bestandteil der ideologischen Doktrin, die damit die Kritik an Bildhaftigkeit, Figürlichkeit und Allegorie verbindet, Logik gegen Rhetorik propagiert. Lassen Sie mich noch einen letzten Gesichtspunkt zu dem skizzierten Uniformierungsprojekt nachtragen. Es ist auffällig, daß auch in den Texten, das heißt also schriftlichen Begründungstexten, Reden und Diskussionsbeiträgen, die die Uniformierung in Raum und Zeit propagieren, sprachtheoretische Diskussionen den größten Raum einnehmen. Es wird weniger darüber geredet, ob nun eine Einteilung des Tags in zehn Einheiten sinnvoll ist oder nicht, als darüber, welchen Grad an Bildhaftigkeit die Namen der neuen Monate und neuen Tage haben sollen und dürfen. Es scheint also, daß den Revolutionären, die das Uniformierungsprojekt vorwärtsgetrieben haben, die Bedeutung der Sprache als übergeordnet erschien. Die Bezeichnungen der neuen Organisationsformen und ihre Einheiten machten Raum und Zeit erst verfügbar. Dies hatte sich bereits während der Diskussion um die Neueinteilung des französischen Territoriums im Winter [17]89/ 90 abgezeichnet, wo ebenfalls lange um die Benennung der Départements gerungen worden war, wobei die Alternative war, teilweise alte, historische Bezeichnungen beizubehalten oder aber diese radikal durch geographische Bezeichnungen zu ersetzen. Zwei Beispiele für diese von mir angeführte Beobachtung seien kurz zitiert. So formuliert beispielsweise Arbogast in der Rede, mit der er das neue System der Maße und Gewichte vorstellt, eine terminologische Alternative: Les commissaires de l’Académie ont proposé deux sortes de nomenclature pour les différentes mesures: dans l’une, qui est méthodique et composée d’un petit nombre de termes à retenir, les subdivisions des mesures portent des noms qui indiquent le rapport décimal qu’elles ont entre elles et avec leur unité principale; dans l’autre, les noms sont simples, monosyllabiques, indépendants les uns les autres, mais au nombre de plus de 24, et par conséquent difficiles à retenir. Le comité d’instruction publique a cru devoir préférer la première nomenclature, fondée sur les principes suivants qui paraissent incontestables: 1° Les nouvelles mesures étant différentes de toutes les mesures connues, leurs noms doivent, autant qu’il est possible, être différents des noms des mesures employées par tous les peuples anciens et modernes. En effet, si on appliquait aux nouvelles mesures des noms déjà usités, ou l’on exposerait souvent à des erreurs et des fautes graves, ou il faudrait, pour éviter l’équivoque, ajouter à la plupart des noms une phrase explicative qui indiquerait qu’ils appartiennent au nouveau système des mesures décimales françaises, ce qui causerait des longueurs fastidieuses. 2° Pour soulager la mémoire, le nombre des noms nouveaux doit être le plus petit possible. C’est à quoi l’on parvient, en ne donnant des noms indépendants qu’aux unités principales, et en indiquant les sous-multiples par des mots composés qui rappellent leur rapport décimal avec ces unités. <?page no="155"?> Das Projekt der Uniformierung in Raum, Zeit und Sprache 135 3° En introduisant dans les arts et les sciences des mesures nouvelles, il convient aussi d’enrichir la langue de mots nouveaux et simples. (Archives parlementaires, 1.8.1793) Im Zusammenhang der Diskussion um den republikanischen Kalender, in der sehr viele sprachtheoretische Überlegungen formuliert werden, die einer eigenen Analyse wert wären, formuliert der Abgeordnete Duhem seine Bedenken gegen eine zu bildhafte Benennung der Tage und Monate. Er schlägt demgegenüber eine rein numerische Bezeichnung vor und beruft sich dabei ebenfalls auf die Natur, die eigentlich nichts als Zahlen zur Benennung an die Hand gibt: Duhem. Citoyens, la révolution française n’a point encore touché au terme marqué par la philosophie, et déjà cependant elle a présenté des époques mémorables, qu’il serait doux aux législateurs de consacrer; mais qui peut leur répondre que ce qu’ils inscriront, sera ce qu’elle aura produit de plus grand. Ne faisons pas comme le pape de Rome; il remplit son calendrier de saints; et quand il en survint de nouveaux, il ne sut plus où les placer. Sous ce point de vue seul, je vous invite à renoncer à la dénomination morale, et je vous propose de vous en tenir à la dénomination ordinale qui est la plus simple. Il en résultera l’avantage que vous cherchez. Votre calendrier qui n’eût été que celui de la nation française, deviendra celui de tous les peuples. Ils ne s’écarteront jamais de l’ordre numérique qui est celui de la nature. Vous éviterez l’écueil où sont venus échouer tous les législateurs qui vous ont précédés. Le peuple, et j’entends par ce mot ceux que l’instruction n’a pas encore éclairés; le peuple est toujours porté vers une superstition quelconque; il cherche toujours à réaliser les idées métaphysiques qu’on lui présente. Voyez quel exemple les Egyptiens ont donné au monde; les hiéroglyphes ne retraçaient d’abord à leurs yeux que les époques mémorables. Bientôt des imposteurs, s’érigeant en ministres du ciel, firent de ces signes une science particulière et des objets sacrés qu’ils offrirent à l’adoration des peuples; ainsi la nation la plus sage de l’antiquité devint par ses ridicules superstitions la fable du monde. Craignez, à son exemple, de fournir un aliment à la sottise des fanatiques à venir; craignez qu’ils ne servent un jour des emblèmes dont vous surchargez votre calendrier, pour en faire l’objet d’un culte superstitieux. Je vote pour nommer les divisions du temps par leur ordre numérique. Alors votre calendrier philosophique pourra devenir la base de la République universelle. (Applaudissements.) Romme. Mais aussi vous n’imprimerez pas à votre calendrier le cachet moral et révolutionnaire qui le fera passer aux siècles à venir. Duhem. Il est vrai qu’il ne présentera pas un tableau moral; mais êtes-vous sûrs que ce tableau serait jugé tel par notre postérité, dont les idées seront plus saines et les mœurs plus pures que celles de la génération présente? Etes vous sûrs qu’il ne servirait pas un jour de canevas aux sottises que les prêtres civiques et inciviques pourrait y attacher! Citoyens, n’avez-vous pas vu déjà les prêtres constitutionnels vouloir religionner notre révolution? J’insiste sur ma proposition. (Archives Parlementaires, 5.10.1793) <?page no="156"?> 136 Die Sprachpolitik der Französischen Revolution 4. Exteriorisierung der Geschichte Wir hatten gesehen, daß einerseits die ‚neue Zeit‘ eine natürlich begründete, aus kulturellen Traditionen entbundene ‚universelle‘ Zeit ist. Andererseits kann man aber auch feststellen, daß gerade in der Revolution ein neues Geschichtsbewußtsein entsteht. Das hat einerseits zu tun mit der vorromantischen Komponente eines endzeitlichen Geschichtsbewußtseins, die in zerdehnter Form zur révolution permanente wird. Andererseits - und davon soll hier noch kurz die Rede sein - entsteht auch dadurch, daß Kunstwerke aus ihrem lebenspraktischen Zusammenhang in Klöstern und Schlössern entfernt werden und frei zirkulieren, eine neuartige Problematisierung des Geschichtsverständnisses. Welche Kunstobjekte sind es wert, geschützt zu werden? Welches Geschichtsbild entsteht dadurch? Und wie soll mit dieser, nun den handelnden Subjekten äußerlichen, endgültig vergangenen Geschichte verfahren werden? Das Problem wird bereits 1790 diagnostiziert. Der Höhepunkt der Diskussionen wird im Sommer 1793 erreicht. C’est aux livres que nous devons la Révolution française. Eh bien! Il y a des livres très républicains qui sont dédiés à des princes […] Faudra-t-il les brûler? […] Il pourrait se trouver des Vandales ou des Wisigoths qui supléent à votre silence. (Chénier am 22.10.1793, zit. in: Bonnet 1988, 44) Die mutwillige Zerstörung von Kunstwerken wird verboten. Il est défendu d’enlever, de détruire, mutiler ni altérer en aucune manière, sous prétexte de faire disparaître les signes de la féodalité et de la royauté dans les bibliothèques, les collections, cabinets, musées publics ou particuliers, non plus que chez les artistes, ouvriers, libraires ou marchands, les livres imprimés ou manuscrits, les gravures et dessins, les tableaux, bas-reliefs, statues, médailles, vases, antiquités, cartes géographiques, plans, reliefs, modèles, machines, instruments et autres objets qui intéressent les arts, l’histoire et l’instruction. (Gesetz der Convention vom 2 brumaire an II [= 23.10.1793], Despois 1868, 259). Der Vorwurf des Vandalismus wird zum stereotypen Vorwurf gegen den jeweiligen politischen Gegner. 10 Das Museum erscheint als der geeignete Ort, die Geschichte aufzubewahren. Die Revolution, die die ‚neue Zeit‘ schaffen wollte, erfindet die Institution, die es ermöglicht, die ‚alte Zeit‘, frei vom lebenspraktischen Zugriff, zu erhalten. Über die Funktionsbestimmung der neuen Institution gibt es heftige Diskussionen: sind die Museen Ort der Nachlaßverwaltung, Pranger einer überholten Gesellschaft, oder ein neuer, heiliger Ort, in dem die äußerlich gewordene Geschichte Objekt der Meditation ist? Nous avons à recueillir une succession immense, mais délabrée, obérée mais brillante. Une nation qui se gouverne elle-même doit se conduire, dans l’arrangement d’une telle affaire, par les principes d’ordre que des héritiers sages 10 Dazu Sprigath 1980 und Baczko 1989. <?page no="157"?> Die Uniformierung - eine evolutionäre Errungenschaft? 137 mettraient dans le recouvrement d’une succession qui leur laisserait un mob[i]lier immense, mais épars, dans un grand nombre de châteaux qu’ils seraient contraints de vendre pour se liquider. Ces héritiers ne laisseraient pas ça et là les tableaux précieux, les statues antiques, les médailles, les bronzes, les marbres, les bibliothèques: ils réuniraient dans celle des maisons qu’ils voudraient conserver, ces objets dont la collection accroît la valeur, et dans [sic! ] la conservation exige des soins. (Kersaint am 15.12.1791, zit. in: Bonnet 1988, 104) Sans doute il faut que tout parle aux yeux le langage républicain. Mais on calomnierait la liberté en supposant que son triomphe dépend de la conservation ou de la destruction d’une figure où le despotisme a laissé quelque empreinte; et lorsque des monuments offrent une grande beauté de travail, leur conservation, ordonnée par la loi du 3 frimaire, peut simultanément alimenter le génie et renforcer la haine des tyrans, en les condamnant par cette conservation même à une espèce de pilori perpétuel. (Grégoire am 14 fructidor an II [= 1794], zit. in: Bonnet 1988, 137) Il invite les citoyens qui y travaillent à s’abstenir de tous jeux, de tous chants, de tous badinages: un lieu d’étude n’étant point une arène ni un théâtre mais le sanctuaire du silence et de la méditation. (Cantarel-Besson am 12.5.1794, zit. in: Bonnet 1988, 113) Somit ist mit dem Museum ein Ort geschaffen, der Geschichte aufbewahrt und ihr zugleich einen neuen Status gibt: sie wird den Menschen äußerlich. So wiederholt sich mit dem Museum, was Plato an der Schrift kritisiert hatte: eine Institution, die Erinnerung garantieren sollte, vernichtet diese im gleichen Zug, weil sie sie aus den Menschen herausverlagert. 5. Die Uniformierung - eine evolutionäre Errungenschaft? Wir hatten eingangs festgestellt, daß die Bestrebungen zur Uniformierung von Raum, Zeit und Sprache bereits auf die Aufklärung zurückgehen und daß in diesem Bereich die Revolution keinen absoluten Bruch darstellt. Sie kristallisiert bereits bestehende Einzelunternehmungen um den emphatischen Begriff der Uniformität und schafft einen Diskurs der Uniformität, der fester Bezugspunkt für das 19. Jh. wird. In dieser Hinsicht besteht auch Kontinuität von der Revolution bis heute: die Uniformierung des Raums war ja gleich angenommen worden. Die Bedingungen für die Uniformierung der Zeit entstanden im 19. Jahrhundert: Industrialisierung und Verkehrsmittel (dazu Schivelbusch 1977) machten die Vereinheitlichung der Zeit unausweichlich. Die Sprachen nehmen, gedrängt durch die neuen Techniken, immer mehr die Form an, die die Ideologen ihnen während der Revolution gewünscht hatten. Die Orientierung an der naturwissenschaftlichen Natur hat die Bezugnahme auf die Natur der Lebenswelt marginalisiert. Wird sich die Uniformierung mit der Gewalt evolutionärer Errungenschaften im Sinne der Soziologie durchsetzen? Die Tatsache, daß <?page no="158"?> 138 Die Sprachpolitik der Französischen Revolution der Diskurs der diversité und daran orientierte Handlungen wenig durchsetzungskräftig sind, läßt es fast befürchten. Bibliographie Quellen Domergue, François-Urbain (an V): De l’orthographie française, Paris. [Vgl. auch: (an V; 1796/ 97) La Prononciation française déterminée par des signes invariables, avec application à divers morceaux, en prose et en vers, contenant tout ce qu’ il faut savoir pour lire avec correction et avec goût; suivie de Notions orthographiques, et de la nomenclature des mots à difficultés, Paris; sowie: (an V; 1797/ 98) Le Mémorial du jeune orthographiste suivi des distiques moraux, propre à exercer les élèves à la classification des mots et aux différentes règles d’orthographe, Paris - beide Titel zitiert bei: Busse, Winfried/ Dougnac, Françoise (1992): François-Urbain Domergue. Le grammairien patriote (1745-1810), Tübingen: Narr, 230.] Forschungsliteratur Baczko, Bronisław (1989): Comment sortir de la Terreur. Thermidor et la Révolution, Paris: Gallimard. Balibar, Renée/ Laporte, Dominique (1974): Le français national. Politique et pratiques de la langue nationale sous la Révolution française, Paris: Hachette. Berlet, Charles (1913): Les provinces au XVIII e siècle et leur division en départements. Essai sur la formation de l’unité française, Paris: Bloud. Bonnet, Jean-Claude (Hrsg.) (1988): La Carmagnole des muses. L’ homme de lettres et l’artiste dans la Révolution, Paris: Colin. Bourquin, Jacques (1980): La dérivation suffixale, théorisation et enseignement, au XIX e siècle, Lille/ Paris: Champion. Brunot, Ferdinand (1905-53): Histoire de la langue française des origines à nos jours, 13 Bde., Paris: Colin. Busse, Winfried (1985): „Cassons ces instruments de dommage et d’erreur: glottophagie jacobine? “, in: Lengas 17/ 1, 127-144. 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Dieser Beitrag enthält keine endgültige Antwort, dazu wären wohl noch weitergehende Archivstudien notwendig. Er versucht aber doch eine Annäherung an das Verhältnis von Konfessionen und Minderheitensprachen in der Reformationszeit am Beispiel des Okzitanischen im 16. und frühen 17. Jahrhundert. 1. Die Fakten Nach vorreformatorischen Bemühungen, etwa durch Lefèvre d’Étaples, der in engem Kontakt mit Erasmus und Luther stand, setzte die eigentliche Einführung der Reformation in Frankreich und die Durchsetzung des Calvinismus von Genf aus ein. So ist es auch kein Wunder, daß zuerst das Rhônetal reformiert wurde, dann die Cevennen und das Languedoc. Die languedocschen Reformierten vereinigten sich 1532 auf der Synode von Chamforan mit den Waldensern, die seit dem 14. Jahrhundert ein schwieriges Dasein gefristet hatten. Im Béarn schließlich führt Jeanne d’Albret den Calvinismus als Staatsreligion ein. Die Karte (s. Seite 174 [vgl. Anhang]) zeigt deutlich die Konzentration der Reformation auf Südfrankreich, auf das Languedoc und auf den Béarn. Was die soziologische Zusammensetzung angeht, so schlägt hier die Trennung zwischen Stadt und Land durch. In den meisten Regionen ist es die städtische Handwerks- oder Handelsbevölkerung, die die Reformation annimmt, sozusagen also der spätere Tiers-État, während das Land unverändert katholisch bleibt. Als Beispiel gebe ich hier die Aufstellung der Statistik der * Zuerst erschienen 1990 in: Dahmen, Wolfgang/ Holtus, Günter/ Kramer, Johannes/ Metzeltin, Michael (Hrsg.), Die romanischen Sprachen und die Kirchen. Romanistisches Kolloquium 3,1, Tübingen: Narr, 173-185. <?page no="162"?> 142 Das Okzitanische zwischen Katholizismus und Reformation Reformierten von Montpellier von 1560 wieder, die erkennen läßt, daß es gerade die Handwerker sind, die die Reformation annehmen. Profession Nombre Pourcentage % Artisans 387 69,0 Professions intellectuelles 87 15,4 Marchands 24 4,3 Bourgeois 23 4,2 Nobles 13 2,3 Cultivateurs 27 4,8 TOTAL des huguenots à profession connue 561 100,0 TOTAL général 817 Statistique générale des Réformés de Montpellier, 1560 (Leroy Ladurie 1969, 180) Diese handwerkliche städtische Bevölkerung ist auch sehr stark schulorientiert. So zählt man Ende des 16. Jahrhunderts 14 protestantische Collèges in Frankreich: Châtillon Montpellier Othez Saumur Orange Die Sedan Privas Castres Anduze Montauban Béziers Nîmes Jargeau Es ist also diese städtische handwerkliche, schulorientierte Elite, die sich der Reformation zuwendet: „Le Languedoc protestant est le Languedoc scolarisé. Maximum de Huguenots, maximum d’écoles“ (Laget 1971, 1416-1417). 1560 bricht der Bürgerkrieg zwischen den protestantischen Bevölkerungsteilen und der katholischen Bevölkerung und dem katholischen Königshaus aus. Dieser Krieg gipfelt in der Bartholomäusnacht 1572, als gerade die Hochzeit des calvinistischen Königs von Navarra Heinrich, des späteren Heinrich IV., mit Margherite von Valois, einer der Töchter Catarinas von Medici, gefeiert wird. Die übrigen Stationen der Auseinandersetzung sind wohlbekannt: Heinrich IV. wird König von Frankreich, muß aber zum Katholizismus konvertieren; er erläßt 1598 das Toleranzedikt von Nantes, das 1685 widerrufen wird, worauf die blutige Vertreibung der Hugenotten aus Frankreich und vor allem der Cevennenkrieg einsetzen. <?page no="163"?> Die Fragestellungen 143 2. Die Fragestellungen Zum Verhältnis zwischen Okzitanisch und den beiden Konfessionen gibt es erstaunlich wenige Arbeiten. Zudem werden ziemlich allgemein die verschiedenen Sprachen den Konfessionen zugeordnet, so daß es vielleicht sinnvoll ist, erst einmal eine Annäherung an die Problematik zu versuchen, indem wir unterschiedliche Fragestellungen auseinanderhalten. Ich möchte hier die Unterscheidung zwischen Sprechen, Sprache und Text einführen, die mein Lehrer Coseriu vorgeschlagen hat und die ich mit einigen Modifikationen übernommen habe (Schlieben-Lange 1983 und 1988). Wenn wir sprechen, so führen wir Aktivitäten verschiedener Arten durch. Zunächst einmal wenden wir sehr allgemeine Techniken an, die nicht einzelsprachlich sind, die sich jedoch mit dem zugrundeliegenden Medium verändern. Es sind dies Techniken des Referierens, des Alterisierens und des Finalisierens. Weiterhin sprechen wir eine bestimmte Einzelsprache und folgen ihren systematischen Regeln. Mit der Einzelsprache befinden wir uns in einer Sprachgemeinschaft mit einer bestimmten Architektur, das heißt in der es Varietäten unterschiedlicher Art gibt. Und schließlich produzieren wir in bestimmtenSituationenindividuelleTexte,diejedochauchaufDiskurstraditionen beruhen können. Für die externe Sprachgeschichtsschreibung sind gerade die erste und die dritte Ebene besonders bedeutsam, weil die Einführung der Schrift und die Ausgestaltung verschiedener Diskurstraditionen entscheidende Einschnitte in der Geschichte einer Sprache darstellen. Jeder dieser drei Ebenen der Sprachbetrachtung entspricht ein spezifisches Bewußtsein, das ggf. noch durch ein theoretisches Bewußtsein derjenigen, die sich professionell mit der betreffenden Sprache beschäftigen, ergänzt werden kann. Aktivität Sprechen (Schrift, andere Zeichensysteme) Sprache Texte Bewußtsein Struktur Architektur/ Kontakt Theorie Im folgenden versuche ich mich also dem Verhältnis der Konfessionen zu den Sprachen in Frankreich während der Reformationszeit anzunähern, indem ich die oben eingeführten Ebenen unterscheide, und zwar in der Reihenfolge: Sprache, Sprechen (inklusive Schrift), Text. <?page no="164"?> 144 Das Okzitanische zwischen Katholizismus und Reformation 3. Sprache In unserem Zusammenhang klammere ich zunächst Fragen der Sprachstruktur und Sprachbeschreibung aus, sondern frage nach der Einstellung der Konfessionen zu den Sprachen und Sprachvarietäten. Es ist also eine Frage, die auf der Ebene des Sprachbewußtseins und hier wieder der Bewertungen von unterschiedenen Sprachen und Varietäten angesiedelt ist. Die Einstellung der verschiedenen reformierten Kirchen ist bekannt: Sie bevorzugen die Volkssprachen gegenüber dem zwar internationalen, aber für das Volk unverständlichen Latein, um das Wort Gottes für alle zugänglich zu machen (dazu zuletzt Ehlich 1989). So äußert sich Luther zu seiner Übersetzungspraxis: Denn man muß nicht die Buchstaben in der lateinischen Sprache fragen, wie man sol deudsch reden, wie diese Esel thun, sondern man muß die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markt drümb fragen, und denselbigen auf das Maul sehen, wie sie reden, und darnach dolmetschen. So verstehen sie es denn, und merken, daß man deudsch mit ihn redet. Auch Calvin hat dieselbe Einstellung: die Gläubigen müssen verstehen, was sie beten, denn sonst sind ihre Gebete sinnlos: III, 15, 33 Das Gebet soll in der Volkssprache geschehen Daraus ergibt sich auch deutlich, daß man die öffentlichen Gebete nicht etwa bei den Lateinern in griechischer und bei den Franzosen und Engländern in lateinischer Sprache halten darf - wie das bis heute durchweg im Schwange ging! -, sondern daß sie in der Volksprache abgefaßt sein müssen, die allgemein von der ganzen Versammlung verstanden werden kann. Denn diese Gebete sollen zur Erbauung der ganzen Kirche geschehen; ihr kann aber aus einem unverständlichen Klang keinerlei Frucht erwachsen! Wer aber weder auf die Liebe, noch auf das menschliche Empfinden Rücksicht nimmt, der sollte sich wenigstens einigermaßen vom Ansehen des Paulus bewegen lassen, dessen Worte durchaus eindeutig sind: „Wenn du aber segnest im Geist, wie soll der, so an des Laien Statt steht, Amen sagen auf deine Danksagung, sintemal er nicht weiß, was du sagst? Du danksagest wohl fein; aber der andere wird nicht davon gebessert! “ (1. Kor. 14, 16, 17). Wer kann sich doch genugsam über den zügellosen Mutwillen der Papisten verwundern, die sich trotz dieses offenen Widerspruchs des Apostels nicht scheuen, die wortreichsten Gebete in einer fremden Sprache widerhallen zu lassen, Gebete, von denen sie selbst zuweilen nicht eine einzige Silbe begreifen und auch nicht wollen, daß andere sie verstehen? Allgemein ist anerkannt, daß die Reformatoren durch ihre volkssprachliche schriftstellerische Tätigkeit entscheidend zur Ausbildung der modernen Sprachen beigetragen haben und daß ihre Texte bedeutsame Einschnitte in der Verfestigung der modernen Nationalsprachen sind. Das gilt zweifellos für Luthers Bibelübersetzung, für das Book of Common Prayer, in geringerem Maße auch für Calvins religiöse Schriften. Man denke aber auch an Bifruns Leistung für das Rätoromanische. <?page no="165"?> Sprache 145 Sehen wir uns nun die Praxis der katholischen Kirche an, wie sie vor allem durch das Konzil von Trient festgelegt wurde, wobei hier freilich an eine traditionelle ältere Praxis angeknüpft wurde. Je nach Situation kann die Verkündigung auch vernacula lingua erfolgen: Les vérités de la religion seront enseignées, etiam vernacula lingua, si opus sit et commode fieri poterit; et de même les prônes: sacra eloquia et salutis monita eadem vernacula lingua singulis diebus festis vel solemnibus explanent. (Brun 1923/ 1973, 458) In der ans Tridentinum anschließenden Gegenreformation mit ihren großen volksmissionarischen Anstrengungen, wie sie in Italien etwa von Karl Borromäus, in Südfrankreich von François Régis unternommen werden, nimmt man auf diese situationsflexible Bestimmung Bezug. Freilich stellt sich nun das Problem der Interpretation von lingua vernacula: Or il faut traiter ces matières gravement, et devotement, s’accomodant a la portée du Peuple, et digerant devant Dieu durant la semaine, les verites saintes qu’on doit enseigner au peuple, afin de s’en edifier et nourrir soy-même, et les pouvoir ainsi persuader efficacement aux autres: Et afin de rendre la Doctrine plus saine et plus uniforme, il la faut prendre dans le Catéchisme qui a este imprimé a cet effet suivant l’Ordre dans lequel les matières y sont traittés à moins que le Seigneur Evesque leur marque expressement quelque autre sujet. Les Conciles, nommement celuy de Trente veulent qu’on instruise le peuple en langue vulgaire. L’on tient que N. S. en usoit de la sorte parlant ordinairement le langage Syriaque qui estoit le vulgaire de la Judée, et il est dit des Apotres: Audiebat unusquique linguâ suâ illos loquentes (Actor. 2.v.6). En effet l’experience fait voir que le peuple n’entend presque point le François. (Anatole 1967, 7) So ergibt sich im Katholizismus eine flexible Praxis: das Lateinische wird als heilige Sprache für die Gottesdienste verwendet, für die Katechese und die Seelsorge die Vulgärsprache, wobei man sich hier den örtlichen Gegebenheiten anpaßt. Latein Nationalsprache Nicht-Latein Volkssprache (vernacula lingua/ langue vulgaire ) Übrigens entspricht dies auch der gleichzeitigen Praxis in Lateinamerika: die Missionare müssen die Indianersprachen lernen, damit sie in der Katechese einen direkten Zugang zum Volk haben. Demgegenüber verpflichtet sich die Reformation auf die durchgängige Aufgabe des Lateinischen zugunsten der Volkssprache, die nun ihrerseits die Funktion der heiligen Sprache übernimmt. Im 16. Jahrhundert ist noch offen, was unter Volkssprache <?page no="166"?> 146 Das Okzitanische zwischen Katholizismus und Reformation verstanden werden soll. So übersetzt beispielsweise Zwingli die Bibel ins Alemannische. Jedoch stellt sich bald eine Tendenz zur Identifikation von Volks- und Nationalsprache heraus. Latein Nationalsprache Sehen wir uns nun die Praxis des Calvinismus im okzitanischen Sprachgebiet im 16. Jahrhundert an. Wir finden beides: Sowohl gascognische Bibelübersetzungen als auch französische Bibelübersetzungen und Katechismen. Die gascognischen Bibelübersetzungen entstehen in Béarn im Auftrag von Jeanne d’Albret: Pey DE GARROS (1565), Psaumes de David, viratz en rhythme gascon; Arnaud DE SALETTE (1583), Las Psalmes de David metuts en rima bernesa. Diese Masse der calvinistischen Bibelübersetzungen und Katechismen (diese gestaffelt nach Schultypen in allen Schwierigkeitsgraden) ist jedoch in französischer Sprache verfaßt: (Auswahl) LEFÈVRE D’ÉTAPLES (1523), Nouveau Tetament. ders. (1525), Les Psaumes. OLIVÉTAN (= Pierre-Robert OLIVIER) (1535), Bible. Neuchâtel. CALVIN, Jean (1536 lat./ frz. 1541, Bâle), Institution de la religion chrétienne. ders. (1541), Formulaire d’ instruire les enfants en la chrétienté. MAROT, Clément (1541), Trente Pseaulmes de David mis en françoys. ders. (1543), Cinquante Pseaulmes en françoys. BEZE, Théodore de (1559), Confession de la foy chrestienne, faite par Theodore de Besze, contenant la confirmation d’ icelle & Ja refutation des superstition contraires. ders. (1582), Chrestienes Meditations sur huict Pseaumes du Prophète David. ders. (1583) Méditations Sur le Psalme XXIII Traduictes de Latin en François. In beiden Fällen liegt hier doch die gleiche Grundstruktur vor. Die Übersetzer entscheiden sich jeweils für die „langue du prince“. Cuius regio, eius religio, das gilt auch hier. Was passiert, wenn die Volkssprache nicht gleichzeitig auch Staatssprache ist? Hier ist der Fall der Waldenser sehr lehrreich. Es hatte bereits eine Reihe von eigenständigen okzitanischen Bibelübersetzungen im waldensischen Umkreis gegeben (dazu Cornagliotti im Druck [vgl. Cornagliotti 1995]). Nach der Vereinigung mit den Calvinisten werden jedoch auch die Waldenser auf die französische Bibelübersetzung von Olivétan verpflichtet: Vos estants assemblez (comme est de coustume) pour conferer & traicter de l’escriture saincte pour & affin que le peuple soit toujours sainctement instruict & enseigné entre plusieurs bons propos & sainctes conferences advisastes que <?page no="167"?> Sprache 147 tant de sectcs et heresies, tant de troubles et tumultes sordoient en ce temps au monde, & que tout cela venoit pour l’ignorance de la parolle de Dieu: voyans aussi les exemplaires du Vieil & Nouveau Testament en langue vulgaire qui estoient entre nous escrits a la main depuis si longtemps, qu’on en a point souvenance ne pouvoit servir sinon a peu de gens, admonestastes tous les autres freres pour l’honneur de Dieu & bien de tous les chrestiens ayant cognoissance de la langue françoyse & pour la ruine de toute faulse doctrine repugnante a Verité: qu’il seroit grandement expedient & necessaire de repurger la Bible selon les langues Ebraicques & Grecques en languaige françoys. A quoy iceulx nos freres se sont joyeusement & do bon coeur accordez, eulx employans & evertuans a ce que ceste entreprise vinst a effectt … (Seguin 1968, 322). Auffällig ist, daß auch hier von der Nichtübereinstimmung zwischen langue vulgaire und langue françoyse die Rede ist, genauso wie bei der oben zitierten Äußerung aus der Gegenreformation. Die Entscheidung ist jedoch gegenläufig. Es sei am Rande darauf hingewiesen, daß gleichzeitig dieselbe Interpretationsschwierigkeit in Südfrankreich im Zusammenhang des Edikts von Villers-Cotterêts 1539 diskutiert wird. Auch hier geht es darum, ob die langue vulgaire oder die langue maternelle etwas anderes als das Französische sein kann. Es zeigt sich also, daß die beiden Modelle des Calvinismus, von denen eingangs die Rede war, sich auf ein Modell zurückführen lassen: es wird in jedem Fall die Entscheidung für die Staatssprache, für die langue du prince, getroffen, die Volkssprache (= langue du peuple) wird abgelehnt, sofern sie nicht mit der Staatssprache identisch ist, wie im Fall der Waldenser. In der katholischen Gegenreformation gab es offensichtlich keine solchen Vorbehalte gegen die Volkssprachen, die keine Staatssprachen waren. Wir finden eine ganze Reihe von Übersetzungen einzelner Texte und von Erbauungstexten, die in languedocschem oder provenzalischem Okzitanisch verfaßt sind, wobei das Zentrum der Herstellung solcher Texte ganz offensichtlich in Toulouse liegt: AMILHA, Le tableau de la bido del parfét crestia, que represento l’exercici de la fe, etc. è un dicciounari per l’esclarcissomen des mots les plus dificilles de nostro lenguo explicats en Frances, fait per le P. A. N. C., reg. de l’ordre de S.-Aug. Toulouse, Jean Boudo, 1673. ASTROS (J.-G. d’), La scolo deu chrestian idiot, ou petit cathachisme gascoun, heit en rithme, per J.-G. d’Astros, caperan de Sant-Cla de Loumagne, en dioceze de Leitouro. Toulouso, J. Boude, 1645. Cantiques provençaux, où les psaumes, les hymnes et les prières de l’Eglise sont exposées d’une manière proportionnée à l’intelligence des plus simples. Aix, G. Legrand, 1688. Catechisme abrégé de la doctrine et institutions du S. concile de Trente. Traduit en langue vulgaire pour l’usage du diocèse de Vabres. Tolose, F. Boude, 1648. La Douctrino crcstiano meso en rimos, per poude estre cantado sur diberses ayres: et per atal ajudo la memorio del popple de Thoulouso. Dediado à <?page no="168"?> 148 Das Okzitanische zwischen Katholizismus und Reformation Mounseignou l’illustre è reberend Charles de Mountchal, archebesque. Per un de sous missiounaris, douctou en teoulougio. Toulouse, Arnaud Couloumiès, 1641. 4. Sprechen und Schreiben In der protestantischen Theologie ist das Wort Gottes nur über die Schrift zugänglich. Das Prinzip der sola scriptura, die sich selbst auslegt und immer wieder auf ihre Auslegung hin befragt werden muß, wird gegen das orale Prinzip der Tradition von Mund zu Mund, von Generation zu Generation, verabsolutiert. Zu dieser Schriftorientierung gehört auch eine Lesekultur, die wohl die Basis dessen bildet, was seit Engelsing ‚intensive Lektüre‘ genannt wird und so charakteristisch für das 17. und 18. Jahrhundert in Deutschland ist. Chartier bezweifelt, ob dies für Frankreich in gleicher Weise gültig ist, und betont die Konfessionsgebundenheit dieser Art des Lesens (Chartier 1985). Die Schriftorientierung der reformierten Theologie impliziert einen Zug zur Intellektualisierung, mithin auch zur Entsinnlichung (man denke etwa an die Bildersturm-Bewegungen). Dies alles erleichtert die Entbindung aus Raum und Zeit, den Übergang von der lokalen Einbindung in die nationale. So ist in dieser Hinsicht die Reformation durchaus eine Wegbereiterin der Moderne, die dann in der Französischen Revolution einen entscheidenden Anstoß bekommt. Es ist sehr auffällig, in welchem Maß sich der Alphabetisierungsstand reformierter Südfranzosen von dem katholischer unterscheidet. Die nachfolgenden Ziffern sind übrigens auch im Vergleich mit den von Leroy Ladurie angeführten interessant: es wären also gerade die reformierten Handwerker, die auch alphabetisiert sind. Dieser Unterschied ist umso markanter, je näher der Untersuchungszeitraum bei der Reformation liegt. Später nivellieren sich dann die Unterschiede zwischen reformierten und katholischen Gemeinden. Marques Initiales Signatures Ouvriers agricoles 90 % 7 % 3 % Laboureurs 66 % 24 % 10 % Artisans 33 % 33 % 34 % Bourgeois et marchands 2 % 5 % 93 % Or, dans le pays de Montpellier comme dans celui de Béziers, la Réforme ne séduit que les gens des villes, notables, intellectuels ou artisans et ne gagne quasi pas la masse paysanne (…). Est-ce l’alphabétisation qui fait le calviniste ou la religion réformée l’alphabétisé? II est difficile de trancher mais ici pauvreté matérielle, dénuement culturel et refus de la novation religieuse sont tout un. En Dauphiné, au siècle suivant, B. Bonnin retrouve l’avance protestante en comparant deux communautés de plaine. Saint-Ismier la catholique et Saint-Jeand’Hérans la réformée. Bien que plus eloignés de la capitale provinciale, artisans <?page no="169"?> Sprechen und Schreiben 149 et paysans de Saint-Jean d’Hérans sont des privilégiés de l’écriture, même si au fil du siècle l’artisanat catholique de Saint-Ismier connaît une très remarquable progression […] Vers 1630 Vers 1690 Saint-Jean-d’Hérans artisans 70 % 65 % paysans 38 % 44 % Saint-Ismier artisans 7 % 55 % paysan 1 % 10 % (aus: Chartier/ Compère/ Julia 1976, 105) Diese ausschließliche Schriftorientierung ist auch Gegenstand einer Parodie von Guilhaume de Reboul von 1599 Actes du Synode Universel de la Saincte Réformation. Guilhaume de Reboul ist aus der Kirche ausgeschlossen worden „pour avoir masqué et dansé“. Der Text, aus dem ein kurzer Ausschnitt zitiert werden soll, handelt von einem Gärtner, der von einem reformierten Geistlichen Auskünfte über Glaubensinhalte haben möchte. Dieser Geistliche kann jedoch auf den okzitanischen Wortschwall des Gärtners nur den kargen französischen Hinweis auf die Schrift und ihre Selbstexplikation geben. LE JARD. You pouretos! E que disez vous homé de Diou, qu’you, mesmo esaminé per la sancto Escritura sé vostro douttrino es plus bono qu’aquello des autrsé? Et ont avez vous lou sén, dé diré à quo daquy? Non sabez vous pas qu’you soui un pauré Jardinié que non sabe fairé hautro causo, qué semena mon Jardin, et l’arrousa. Car incaros que you siegé du Consistori, et de Ion tens, si sabez vous ben qu’you non sabé ne a, ne b, autan pau que ma miolo? Et perqué voulez vous qu’you jugé de la douttrino des uns et des autrez? You vené à vous per estre enstruch, comme un ignorent qu’you soui, et vous voulez qu’you fasse l’office de jugé. Eiço sarie ben lou mondé renversat, s’you prené un baston. Veramen seiço ero materio dé poupons, ou dé cougourlos vous aurias rezon de me fairé aquest honnou de me renvoya à l’Escrituro per ne jugea, car beleau y diriey you mon avriz, aussi ben qu’un autré. May amb’aquestous affairez se vous pensas qu’you ly entendé quauquo causo, per ma fé, Moussur man amic, vous vous trompas, et poudez ben jugea qué se you l’entendiou ren, qu’you non vendriou pas à vous per aprené, non mai grammercis. LE MINIST. Rien, rien, c’est faute de Foy, il n’y a rien de plus facile que l’Escriture. (Anatole 1968, 389). Die Schriftorientierung steht auch in engem Zusammenhang mit der oben erläuterten Entscheidung für die Nationalsprache, gegen die nicht-nationalen Volkssprachen, z. B. gegen die Waldenser. Hier trägt das Argument der zu geringen Verbreitung von Schrifttum in kleinen Sprachgemeinschaften, <?page no="170"?> 150 Das Okzitanische zwischen Katholizismus und Reformation ein Argument, das bei der gleichzeitigen Verbreitung des Buchdrucks eine entscheidende Rolle spielt. Wir sehen also, daß die Reformation bei einer Reihe von gleichzeitig anfallenden Entscheidungen, der Einführung des Buchdrucks, der Verwaltungsreform in dem sich herausbildenden Nationalstaat, auf der Seite der nationalen Schriftsprache steht. 5. Die Texte Zunächst einmal müssen wir festhalten, daß auf der Ebene der Texte die Reformation eine ganze Reihe von neuen Diskurstraditionen schafft. Die Bibelübersetzungen nehmen einen großen Aufschwung. Es bilden sich reformierte Traditionen für Gebete und Lieder heraus. Die Predigt, als Verkündigung des - schriftfixierten - Worts wird der wichtigste Bestandteil im Gottesdienst, im Gegenzug zu der Liturgie, die den katholischen Gottesdienst beherrscht und handlungs- und sinnenbetont ist. Man kann auch davon ausgehen, daß diese neuen oder zumindest veränderten reformatorischen Diskurstraditionen weit verbreitet waren und mithin zur Verbreitung der Sprachen beitrugen, in der sie verfaßt waren. Sehen wir uns abschließend noch eine Auswahl von okzitanischen Texten des 16. und 17. Jahrhunderts an, die von calvinistischen und katholischen Autoren verfaßt wurden. Calvinistische Autoren: ADER, Guillaume (1610), Lou gentilome gascoun e lous heits de guouerre deu gran e pouderons Henric Gascoun; Rey de Franse et de Noouarre. Tolose. BARTAS, Guillaume de Saluste du (1579), Poème dressé par G. de Saluste, seigneur du Bartas, pour l’accueil de la Reine de Navarre, faisant son entrée à Nerac, auquel trois Nymphes debatent qui aura l’ honneur de saluer Sa Majesté. GAJLLARD, Auger (1583), Lou banquet d’Augié Gailliard (sic), roudiè de Rabastens, en Albigez, al cal banquet, a belcop de sortos de meises per so que tout lou moun n’es pas d’un goust. Le tout dediat à Moussur de Seré, seignour de Courronsac. Paris. Katholische Autoren: ASTKOS, J.-G. d’ (1643), Lou triumfe de la lengouo gascouo. Aus playdeiats de las quoúate Sasous, et deoús quoúate Elomens, daoúant lou Pastou de Loumaigno, per J. G. d’Astros de Sent-Cla de Loumaigno. Toulouso. BELLAUDIERE, Louis Bellaud de La (1595), Obros et Rimos provençalos, revioudados per Pierre Paul, escuyer de Marseillo, dedicados al vertuoux et generoux seignour Louis d’Aix et Charles de Cazaulx, premiers consous, capitnais de doues-galeros, gubernatours de l’antiquo villo de Marseillo. GOUDELIN, Pierre (1634), Passotens de Carmantran, en formo de tragecomedio mudo. Les acteurs (sic) soun dansayres. Poliphèmo, Ulisses, les Cyclopos. <?page no="171"?> Bibliographie 151 Ulisses et sous Coumpagnous que passon per de Moutous, et les melisses que danson un bale de rejouissenço. SABOLY, Nicolas (1670), Recueil des Noels provençaux composés par le sieur Nicolas Saboly, Beneficier et Maître de Musique de l’Eglise de Saint-Pierre d’Avignon. Avignon. Offensichtlich gibt es in beiden Konfessionen Dichter, die höfische Literatur, das heißt also Literatur, die für den Vortrag bei Hofe bestimmt war, schreiben. Darüber hinaus gibt es aber im katholischen Umkreis auch noch ausgesprochen populäre Gattungen, und zwar neben religiösen populären Genres wie den Noels vor allem karnevaleske Literatur. Diese karnevaleske Tradition überlebt also nur im katholischen Languedoc, das den Reformierten in dieser Verbindung von Mündlichkeit, Katholizismus und populären Traditionen als Hort der Unordnung, des Chaos gelten mußte. 6. Die longue durée Wenn man die weitere Entwicklung im okzitanischen Sprachgebiet ansieht, so könnte man vermuten, daß die Reformation entscheidend zur Durchsetzung des Französischen beigetragen hat. Nun ist es aber überraschend zu sehen, daß die Forderung nach einer Wiederbelebung des Okzitanischen gerade aus alten Zentren der Reformation oder von reformierten Autoren kommt. Man denke etwa an die Forderung von Montauban von 1791, endlich wieder den Unterricht auf Okzitanisch durchzuführen, damit die Volksmassen an den revolutionären Errungenschaften teilnehmen können. Auch in den Regionalbewegungen der 60er und 70er Jahre spielen reformierte Intellektuelle eine führende Rolle. War die protestantische Schule mit ihrer Erziehung zu Schriftlichkeit und Französisch doch nicht effektiv genug? Oder aber hat sich das protestantische Bewußtsein in der longue durée in ein protestantisch-protestierendes Selbstbewußtsein gewandelt, das sich auch gegen die zentralstaatliche Bevormundung richtet, auch wenn die Einheit von Zentralstaat und Schriftsprache einmal gerade den Weg des Protestantismus in die Moderne leitete? Bibliographie Anatole, Christian (1967): „La réforme tridentine et l’emploi de l’occitan dans la pastorale“, in: Revue des langues romanes 77, 1-29. Anatole, Christian (1968): „Aux origines d’un type littéraire“, in: Annales de l’Institut d’Etudes Occitanes 3, 361-394. Brun, Auguste (1923/ 1973): Recherches historiques sur l’ introduction du français dans les provinces du Midi, Paris/ Genf: Slatkine. Chartier, Roger (1985): „Ist eine Geschichte des Lesens möglich? Vom Buch zum Lesen: einige Hypothesen“, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 57/ 58, 250-273. <?page no="172"?> 152 Das Okzitanische zwischen Katholizismus und Reformation Chartier, Roger/ Compère, Marie-Madelaine/ Julia, Dominique (1976): L’ éducation en France du XVIème au XVIIIème siecle, Paris: Société d’Education d’Enseignement Supérieur. Cornagliotti, Anna (1995): „Sprache der Waldenser“, in: Holtus, Günter/ Metzeltin, Michael/ Schmitt, Christian (Hrsg.), Lexikon der Romanistischen Linguistik (LRL), Bd. 2,2, Die einzelnen romanischen Sprachen und Sprachgebiete vom Mittelalter bis zur Renaissance, Tübingen: Niemeyer, 467-473. Lafont, Robert (1974): Baroques occitans: anthologie de la poésie en langue d’oc, 1560 - 1660, Avignon: Aubanel. Laget, M. (1971): „Petites écoles en Languedoc au XVIIIème siècle“, in: Annales E. S. C. 26, 1398-1418. Leroy Ladurie, Emmanuel (1969): Les paysans du Languedoc, Paris: Flammarion. Mours, Samuel (1958): Les Eglises réformées en France, Paris/ Strasbourg: Librairie Protestante. Mours, Samuel (1959): Le Protestantisme en France au XVIème siècle, Paris: Librarie Protestante. Nicolas, Michel (1885): Histoire de l’ancienne Académie protestante de Montauban et de Puylaurens, Montauban: E. Forestié. Noulet, Jean-Bapliste (1859/ 1971): Essai sur l’ histoire littéraire des patois du Midi de la France aux XVIème et XVIIème siècles, Paris/ Genf: Slatkine (Reprint). Seguin, Jean-Batista (1968): „La reforma pròtestanta del sigle XVI et las ,lenguas vulgaras‘“, in: Annales de l’Institut d’Etudes Occitanes 3, 315-327. Schlieben-Lange, Brigitte (1983): Traditionen des Sprechens. Elemente einer pragmatischen Sprachgeschichtsschreibung, Stuttgart: Kohlhammer. Schlieben-Lange, Brigitte (1988): „Die Traditionen des Sprechens und die Traditionen der klar-konfusen und klar-distinkten Ideen über das Sprechen“, in: Lüdtke, Jens (Hrsg.), Energeia und Ergon. Studia in honorem Eugenio Coseriu, Bd. 3, Tübingen: Narr, 451-462. Wunderli, Peter (1969): Die okzitanischen Bibelübersetzungen des Mittelalters, Frankfurt/ Main: Klostermann. <?page no="173"?> Anhang 153 Anhang Les Eglises réformées en France, de Samuel Mours, Librairie Protestante, Librairie Oberlin, 1958. <?page no="175"?> Die Namen von Raum und Zeit * 0. Das Projekt der Uniformierung Die Französische Revolution ist eine Zeit intensiver Sprachdiskussionen. Die Reflexion über Sprache, die ja schon in der Aufklärung eine Schlüsselstellung in der philosophischen Diskussion hatte, wird allgemein (d. h. sie ist nicht mehr nur Sache der Philosophen), und sie wird praktisch (d. h. sie ist nicht mehr ein Gegenstand des theoretischen Diskurses). Diese verallgemeinerte, praktisch gewordene Sprachreflexion erreicht ihren Höhepunkt im Jahr II. Nun nämlich wird die Veränderung der Sprache zu einem zentralen Programmpunkt im umfassenden Projekt der Uniformierung von Raum, Zeit und Sprache. Dieses Projekt habe ich schon ausführlich dargestellt (Schlieben-Lange 1987 und 1990) und will hier nur auf einen Aspekt und auf eine Quellengruppe hinweisen, die bisher nicht systematisch behandelt worden sind, nämlich die Rolle der Sprache bei der Neuordnung von Raum und Zeit. Ich komme kurz auf meine Thesen zurück: die Pläne, den Raum neu zu ordnen, gehen in die vorrevolutionäre Zeit zurück. Bereits hier war die Notwendigkeit gesehen worden, einerseits die Verwaltungsräume Frankreichs zu vereinheitlichen und andererseits das System der Maße und Gewichte einheitlich neu zu strukturieren. Beides wurde mit der Aufteilung Frankreichs in Departements und mit der Berufung einer Kommission, die Maße und Gewichte vereinheitlichen sollte, zügig in Angriff genommen. Aber erst in der Konventszeit wurden diese Pläne in den Rahmen eines übergeordneten Projekts der Uniformierung eingeordnet, in dem vor allem Raum, Zeit und Sprache grundlegend neu geordnet werden sollten. Die uniformité erschien als gemeinsamer Nenner von liberté, égalité und nation une et indivisible, der die diversité des Ancien Régime gegenüberstand. Sie wurde als Prinzip überhöht, das nun die gesamte gesellschaftliche Organisation, ja, die Strukturen der Wahrnehmung neu ordnen sollte. Dieses Ideal der uniformité besagt, daß die gleichen Prinzipien innerhalb der Gesamtheit eines Bereichs gelten sollen. Dem Begriff der uniformité steht der der analogie zur Seite, der einer- * Zuerst erschienen 1991 in: Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung 44/ 5, 585-596. Der Beitrag wurde Werner Neumann zum 60. Geburtstag gewidmet. <?page no="176"?> 156 Die Namen von Raum und Zeit seits ebenso wie die uniformité die Gleichheit der Prinzipien enthält, darüber hinaus aber auf die Grundlage dieser gleichförmigen Prinzipien verweist, nämlich die nature. Die nature ist selbstverständlich nicht die Natur der Lebenswelten, sondern die der Naturwissenschaftler. Besteht nun ein nach den Prinzipien von uniformité und analogie konstruiertes System, so wird es sich durchsetzen, d. h. universalité gewinnen. Wie schon angedeutet: das Projekt der Neuordnung der Zeit und die sogenannte jakobinische Sprachpolitik (Domergue, Barère, Grégoire) ordnen sich mit dem Projekt der Neuordnung des Raums zu einem als Einheit empfundenen Gesamtprojekt zusammen. Die Kriterien zur Beurteilung der einzelnen Pläne sind die oben skizzierten: (1) sind die vorgeschlagenen Systeme nach gleichbleibenden Prinzipien konstruiert (uniformité), (2) bilden sie die Natur ab (analogie) und schließlich (3) enthalten sie Hindernisse für die Verallgemeinerung (universalité). Nun gibt es aber bei den Debatten um die Raum- und Zeitprojekte noch einen Gesichtspunkt, dessen Diskussion in den revolutionären Gremien mehr Raum einnimmt als die der Projekte selbst: nämlich die Frage nach der Benennung der neu gewonnenen Maßeinheiten. Unter diesem Blickwinkel verschiebt sich die Parallelität der drei Teilprojekte. Die Sprache erscheint in dieser Optik als nebengeordnet und gleichzeitig aber auch übergeordnet: auch Raum und Zeit müssen ja, wie die Welt insgesamt, sprachlich zugänglich gemacht werden. Mit diesem Aspekt möchte ich mich im folgenden beschäftigen, wobei ich eine Gruppe von Quellen zugrundelege, deren Bedeutung auch in der fieberhaft gesteigerten Publikationstätigkeit der beiden letzten Jahre noch nicht ganz richtig eingeschätzt wurde, nämlich die zentralen Debatten um die Raum- und Zeit-Projekte und die darin enthaltenen sprachtheoretischen Diskussionen. 1 Ich werde zunächst die einzelnen Diskussionen nachzeichnen, um abschließend die Grundpositionen herauszuarbeiten. 1. Die Namen des Raums Die Neuordnung des Raums hat verschiedene Aspekte. Eines der ältesten revolutionären Projekte ist die Aufteilung Frankreichs in gleichförmige Verwaltungseinheiten, ein weiteres die Neuordnung des urbanen Raums und schließlich als grundlegendstes Projekt die Vereinheitlichung der Maße und Gewichte. 1.1. Die Namen der Départements Die Aufteilung Frankreichs in Départements war eine der ersten Maßnahmen nach der Abschaffung des Feudalismus. Die Diskussion darüber 1 Andere wichtige kulturpolitische Texte sind veröffentlicht in Deloche/ Leniaud 1989. <?page no="177"?> Die Namen des Raums 157 dauerte den ganzen Winter 1789/ 90 und bewegte sich zwischen den extremen Polen einer vollständig abstrakten geometrischen Aufteilung einerseits und einer Aufteilung, die sich an historischen und kulturellen Grenzen orientierte andererseits (vgl. Ozouf-Marignier 1989). Die Vertreter der gewachsenen historischen Grenzen waren in dieser Situation in der schwächeren Position, ging es doch neben der Erleichterung der Verwaltung vor allem um die Vernichtung der Erinnerung an die alten (feudalen) Strukturen. Die Benennung der neuen Einheiten ist ein unverzichtbarer Bestandteil der Verwaltungsreform: La division du royaume est à l’ordre du jour, la dénomination des départements fait partie de la division du royaume. (AP 11, 711) Daß die Namen der neuen Einheiten nicht an die alten Einheiten erinnern dürfen, darüber besteht weitgehend Einigkeit. Der Abbé Maury, der der Namensfrage nur untergeordnete Bedeutung beimißt, isoliert sich mit dieser resignativen Haltung („cette dénomination ne pourra jamais être bien faite“): die Frage der Namen ist eben gerade „à l’ordre du jour“. Aber sollen die Départements nach den Hauptstädten heißen? Auch dagegen gibt es Widerspruch; denn so würden ja die Hegemonieansprüche der Städte bestätigt: […] il n’est pas moins important de détruire l’aristocratie des villes qu’il ne l’était de détruire celle des ordres. (AP 11, 711) Mirabeau umreißt klar die Alternative, eine Alternative, die uns immer wieder begegnen wird: entweder man bezeichnet die Départements mit Nummern, oder man gibt ihnen neue Namen. Er plädiert für die zweite Lösung mit der Begründung, daß Namen als Kristallisationspunkte für den Verstand dienen („une dénomination fixe la raison“). Die heute noch gültigen geographischen Namen sind ein Kompromiß zwischen einer völlig abstrakten (numerischen) und einer historisch-konkreten (mithin unerwünschten) Benennung. 1.2. Die Namen der Städte und Straßen Ein Aspekt der Neuordnung des Raums hat bisher kaum Beachtung gefunden. Genauso wie auf der Ebene des Staats der Wildwuchs des Ancien Régime einer neuen, rationalen Ordnung Platz gemacht hatte, sollte diese Rationalisierung bis in die Kommunen hinein fortgesetzt werden. Der Zusammenhang dieser Neuordnung des Raums auf der Ebene der Kommunen mit Maßnahmen zur Verbesserung der Hygiene, aber auch der polizeilichen Überwachung, ist offenbar. Als Ideallösung, die freilich nirgends ins Werk gesetzt wurde, erschien die Ersetzung der alten unordentlichen Städte durch neue übersichtliche, geometrisch konstruierte Städte. Man beschränkte sich auf Bereinigungen des allzu Chaotischen. Und hier stellte <?page no="178"?> 158 Die Namen von Raum und Zeit sich wieder das Problem der Benennungen. Man muß sich klar machen, daß das Bedürfnis nach neuen Namen für Kommunen, für Straßen, für Kinder allgemein war; alle Namen, die an das Ancien Régime erinnerten, sollten verschwinden. Man denke an die große Welle der Umbenennung der Kommunen 1793/ 94 (vgl. Vovelle 1985). Wenn der Abbé Grégoire also Prinzipien für Namensgebung im kommunalen Bereich zu formulieren versucht, ordnet er diese Bedürfnisse dem Uniformierungsprojekt zu. Die Namen, die an féodalité und superstition erinnern, haben keine Daseinsberechtigung mehr: „on doit tout républicaniser“ (vgl. Deloche/ Leniaud 1989, 120). Neue Straßen werden in alte, unhygienische, unkontrollierbare Viertel gebrochen, nun geht es darum, auch auf der Ebene der Namen republikanisch zu handeln, „d’établir un système combiné de nomenclatures républicaines“ (vgl. Deloche/ Leniaud 1989, 120). Die Prinzipien dieser neuen republikanischen Nomenklaturen benennt Grégoire nun: 1. Die topographischen Bezeichnungen sollen kurz und klangvoll sein. 2. Sie sollen nützlich für Verstand und Herz sein, d. h. einen Gedanken übermitteln: „chaque nom doit être véhicule d’une pensée“. (vgl. Deloche/ Leniaud 1989, 124) Grundlagen einer solchen topographischen Nomenklatur könnten geographische Verhältnisse sein oder aber - und dafür spricht sich Grégoire aus - Bezeichnungen für objets moraux. Eine idée-mère würde die Bezeichnung für einen Platz abgeben, die idées accessoires 2 würden die Namen für die davon abgehenden Straßen liefern, z. B. justice mit sévérité, impartialité und loi. Solche Bezeichnungen würden den Menschen als sensibles Wesen berühren, glückliche Assoziationen und bewegende Überlegungen auslösen, vor allem wenn sie gepaart sind mit einem System nationaler Feste; außerdem wären sie eine Stütze des Gedächtnisses. Die Kommunen sollen die Freiheit der Auswahl des Prinzips der Nomenklatur haben; auch könnten einzelne herausragende Monumente einmal die Systematik durchbrechen. Insgesamt soll aber gelten, daß die Nomenklatur in sich kohärent ist und daß die Neubenennung der Straßen Hand in Hand geht mit der Neuvermessung, mit der Numerierung der Häuser, mit der Auszeichnung der Richtungen und Entfernungen, also mit einer umfassenden Rationalisierung des Straßennetzes selbst. 1.3. Die Namen der Maße und Gewichte Das grundlegendste Raumprojekt war das der Neuordnung der Maße und Gewichte, das in die vorrevolutionäre Zeit zurückgeht und von 1790 bis 1793 2 Mit der Unterscheidung von idée-mère (= idée principale) und idées accessoires befindet sich Grégoire mitten in der semantischen Begrifflichkeit des 18. Jahrhunderts, wie sie vor allem in der Synonymik entwickelt wurde. <?page no="179"?> Die Namen des Raums 159 im Rahmen der Académie betrieben wurde. 3 Im Verlaufe der Arbeit waren immer mehr Stränge zusammengeführt worden (auch die Vereinheitlichung des Geldes), so daß Arbogast am 1.8.[17]93 dem Konvent, nunmehr in seiner montagnardischen Phase (fast gleichzeitig mit der Auflösung der Akademie), ein umfassendes und in seiner Einfachheit überwältigendes System der Neuordnung vorstellen konnte, das sich die Jakobiner auch gerne zueigen machten und das zu einem Eckpfeiler ihres kulturpolitischen Programms wurde. Die Prinzipien des neuen Systems waren der Natur entnommen; es präsentierte sich in vollkommener Uniformität; der Universalisierung in Raum und Zeit stand nichts mehr im Wege (es sei denn die Namen für die neuen Einheiten): Législateurs, c’est sur un objet de bienfaisance universelle que votre comité d’instruction publique vient fixer quelques moments les regards de la Convention nationale. L’uniformité des poids et mesures était depuis longtemps un des vœux des philanthropes; elle est réclamée à la fois par les sciences et les arts, par le commerce et par l’homme utile qui vit du travail de ses mains, et qui, le plus exposé aux fraudes, est le moins en état d’en supporter les effets. Ce nouveau moyen de cimenter l’unité de la République en présente encore un d’estime et de liaison entre les Français et les autres peuples, entre la génération présente qui offre ce bienfait, et la postérité qui en jouira ou en vérifiera les bases. (AP 70, 71) Die Neuordnung ist geradezu eine symbolische Überhöhung der revolutionären Errungenschaften: La Philosophie amènera un jour à contempler, dans l’étendue des pays et l’écoulement des siècles, le génie des sciences et de l’humanité, traversant les orages des révolutions et des guerres, riche du fruit des paisibles travaux et des méditations profondes d’hommes modestes et célèbres, donner aux nations l’uniformité des mesures, emblème de l’égalité et gage de la fraternité qui doit unir les hommes. (AP 70, 71) Der einzige Punkt, der noch der Erörterung bedurfte, war die Entscheidung für eine Nomenklatur. Die Kommission hatte zwei konkurrierende Vorschläge vorgelegt: 1) eine systematische Nomenklatur auf der Basis weniger Einheiten, die die Verhältnisse zwischen den Maßen bezeichnen (milli-, déci-, kilo-…); 2) eine größere Anzahl einfacher, einsilbiger, voneinander unabhängiger Namen: Les commissaires de l’Académie ont proposé deux sortes de nomenclature pour les différentes mesures: dans l’une, qui est méthodique et composée d’un petit nombre de termes à retenir, les subdivisions des mesures portent des noms qui indiquent le rapport décimal qu’elles ont entre elles et avec leur unité principale; dans l’autre, les noms sont simples, monosyllabiques, indépendants les uns des 3 Hinweise auf die Vorläuferprojekte finden sich in AP 70, 73. <?page no="180"?> 160 Die Namen von Raum und Zeit autres, mais au nombre de plus de 24, et par conséquent difficiles à retenir. (AP 70, 72) Es ist offensichtlich, daß das erste der vorgeschlagenen Systeme dem Ideal einer rational konstruierten Nomenklatur, wie es sich in der chemischen Terminologie von Lavoisier u. a. präsentierte, die während der gesamten Revolution als große Errungenschaft gefeiert wurde, sehr genau entsprach (vgl. dazu Schlieben-Lange 1989). Es war nach den Gesetzen der Analogie konstruiert und setzte der Universalisierung keine Hindernisse entgegen. Es war auch dieser Vorschlag, der angenommen wurde, wobei als Argument angeführt wurde, daß 1) man nicht - wie beim zweiten System - auf alte Namen zurückgreifen müsse; 2) daß die geringe Zahl der in verschiedenen Teilsystemen wiederkehrenden Elemente eine Erleichterung für das Gedächtnis bedeute; 3) daß dem Unternehmen eine Verpflichtung zur Bereicherung des Französischen innewohne. In diesem Falle hatte sich eine völlig systematische Nomenklatur durchgesetzt, deren Einheiten keine ‚sensiblen‘ Qualitäten hatten, d. h. also beim Benutzer keine Gefühle oder Erinnerungen auslösen, sondern ausschließlich durch ihre Systematizität und Gedächtnisfreundlichkeit bestechen konnten. 2. Die Namen der Zeit Die weitaus interessanteste Debatte in diesem Zusammenhang hat um die Benennungen der Einheiten des neuen republikanischen Kalenders stattgefunden. Man hatte allgemein den Eindruck, daß man mit der Ausweitung der Uniformierungsbestrebungen auf die Zeit Neuland betreten hatte. Der Beginn der neuen Zeit, der ère française, war auf den 22.9.1792 festgelegt worden, den Tag der Proklamation der Republik und mithin der égalité, den Tag aber auch der Tag- und Nachtgleiche, also der égalité in der Natur. Die Zeit war neu: „Le temps ouvre un nouveau livre à l’histoire“ (AP 74, 550) 4 , und sie wurde in neue Einheiten zerlegt, wobei lediglich die Natur mit der Einheit von Jahr und Tag einen Rahmen setzte. Auch hier sollte das Dezimalsystem, wie schon bei den Maßen und Gewichten, eine neue Ordnung schaffen. Man hatte den Bereich der Notwendigkeit und der Nützlichkeit verlassen und sich auf das Gebiet der freien revolutionären Gestaltungsmöglichkeiten begeben. Freilich ging es auch hier um die Eroberung eines symbolischen 4 So auch der Titel eines Buchs über die Kalenderreform, das 1989 in der DDR erschienen ist (Seifert 1989). <?page no="181"?> Die Namen der Zeit 161 Vakuums, um die endgültige Vertreibung der Priester aus der Verwaltung der Zeit, so daß Barère am Schluß der Debatten triumphierend ausrufen konnte: „Elle fera plus de mal aux prêtres que la confiscation de leurs biens. Les saints sont les derniers émigrés de la révolution.“ (AP 77, 508). Aber die Zeiteinteilung selbst war völlig neu, und es ging darum, völlig neue Namen für eine völlig neue Sache zu finden: die Monate, die Wochenbzw. Dekadentage, die einzelnen Tage des Jahres und die bei der neuen Zeiteinteilung verbleibenden fünf bzw. sechs Tage vor der Herbst-Tag- und Nachtgleiche warteten auf Namen. Romme macht am 20.9.1793 einen Vorschlag, der vollständig auf Ereignissen und Werten der Revolution aufgebaut ist: O RDRE DES MOIS DE LA R ÉPUBLIQUE . 7 e du 21 mars au 19 avril. Les Français fatigués de 14 siècles d’oppression, et alarmes des progrès effrayants de la corruption dont une cour, depuis longtemps criminelle, donnait et provoquait l’exemple, sentent le besoin d’une ………….…….. régénération. 8 e du 20 avril au 10 mai. Les ressources de la Cour étaient épuisées, elle convoque les Français, mais leur ……….………………………….. réunion 9 e du 20 mal au 18 juin. fait leur salut. Ils se nomment des représentants dont le courage irrite le tyran. Ils sont. menacés, mais rassemblés au ………………………………… jeu de paume. 10 e du 19 juin au 18 juillet. et sous la sauvegarde du peuple, ils prononcent le serment d’arracher le peuple á la tyrannie ou de périr. Ce serment retentit dans la France, partout on s’arme, partout on veut étre libre. la Bastille 11 e du 19 juillet au 17 août tombe sous les coups d’un …………. Peuple. 12 e du 18 août au 16 septembre. souverain et courroucé. Les malveillants se multiplient, des trahisons éclatent, la cour forme des complots, des représentants parjures sacrifient les intérêts de la nation à des vues sordides mais …….…………… la Montagne 1 er du 22 septembre au 21 octobre. toujours fidéle, devient l’Olympe de la France; entourée de la nation et en son nom la Convention nationale proclame les droits du peuple, la Constitution et. la République 2 e du 22 octobre au 20 novembre. ……………………………….………… L’unité <?page no="182"?> 162 Die Namen von Raum und Zeit 3 e du 21 novembre au 20 décembre. ……………………………….………… la fraternité 4 e du 21 décembre au 19 janvier. sont la force des Français et …….….. la liberté 5 e du 20 janvier au 18 janvier. par un acte souverain de …………… la justice 6 e du 19 février au 20 mars. nationale qui fait tomber la tète du tyran est à jamais unie à la sainte …… égalité Le mois de la Régénération est le premier du printemps, où toute la nature se régénère. Le mois de la Réunion est celui qui est consacré par l’acte constitutionnel pour les assemblées primaires. Le mois du Jeu de paume consacre le serment qui a sauvé la France. Celui de la Bastille renferme l’époque où elle fut prise par le peuple. Le mois du Peuple renferme les deux époques immortelles du 10 août. Le mois de la Montagne vient immédiatement après la sanction solennelle donnée par la nation aux efforts des représentants fidèles du peuple. Le mois de la République commence à l’époque où elle fut décrétée. Les mois de l’Unité et de la Fraternité sont ceux où les hommes, après avoir recueilli dans les champs tous les fruits de la terre, se retirent sous leurs toits, et jouissent ensemble et fraternellement, des bienfaits de la nature et d’une bonne organisation sociale. Le mois de l’Egalité et celui de la Liberté sont liés par celui de la Justice du peuple qui, par ses représentants, jugea et condamna à mort le dernier de ses rois. Les cinq derniers jours répondent aux 17, 18, 19, 20 et 21 septembre et pourront étre consacrés à des fêtes nationales. Nous croyons que leurs noms peuvent être pris dans l’exposé succinct du but moral de nos nouvelles institutions. N OMS DES E PAGOMÉNES . Tous les enfants de la République aprés une ………………………. adoption solennelle répétée tous les ans, seront protégés, soignés, élevés comme enfants de la grande famille. Par une mème éducation ils se formeront ensemble à tous les genres d’ industrie. Ils seront examinès comme artistes ou soldats, et ils recevront les récompenses qui leur seront dues ……………………………………………….…. la paternité sera encouragée et considérée, ……………………………….…...… la vieillesse sera honorée. Tous les quatre ans …………………………………………………… la Révolution sera célébrée dans les jeux olympiques. <?page no="183"?> Die Namen der Zeit 163 N OMS DES JOURS DE LA DÉCADE . Tout citoyen, tout ami de la patrie et des arts qui la font fleurir, doit s’entourer journellement des attributs de l’industrie et de la liberté. C’est de cette réflexion que sorten[t] les noms que nous vous proposons pour les jours de la décade. 1 Le jour du Niveau, symbole de l’égalité. 2 - du Bonnet, symbole de la liberté. 3 - de la Cocarde, symbole des couleurs nationales. 4 - de la Pique, symbole de l’arme de l’homme libre. 5 - de la Charrue, symbole de l’instrument de nos richesses terriennes. 6 - du Compas, symbole de l’instrument de nos richesses industrielles. 7 - du Faisceau, symbole de la force qui nait de l’union. 8 - du Canon, symbole de l’instrument de nos victoires. 9 - du Chêne, symbole de l’emblème de génération et le symbole des vertus sociales. 10 - du Repos. (AP 74, 552 f.) Die Archives Parlementaires drucken im Anhang (74, 556 f.) eine Synopse der konkurrierenden Vorschläge ab, wobei sich zeigt, daß (wieder einmal) zwei unterschiedliche Prinzipien im Widerstreit liegen: die numerischen Vorschläge einerseits und solche, die ‚moralische‘ Bezeichnungen zugrundelegen. In dieser zweiten Gruppe gibt es wieder Unterschiede zwischen Ausdrücken, die sich auf die Revolution beziehen, und solchen, die dem ländlichen Leben zugehören, also einer physiokratischen Tradition zuzuordnen sind (siehe Abbildung 1 am Ende dieses Artikels). Die Debatte über Rommes Vorschlag am 5.10.[17]93 betrifft ausschließlich die Benennung der neuen Zeiteinheiten; die Zeiteinteilung als solche steht außer Diskussion. Die Kontroverse entzündet sich genau an der Alternative zwischen numerischer und ‚moralischer‘ Benennung. Die Vertreter der Zahlenalternative warnen eindringlich vor einer Remythisierung der Zeit. ‚Moralische‘ Namen würden unweigerlich zu Kristallisationspunkten für eine solche unerwünschte Sakralisierung. Außerdem stellen solche Namen ein schier unüberwindliches Hindernis für die - als erwünscht unterstellte - Universalisierung dar und tragen letztlich zur Isolierung Frankreichs bei. Hören wir die beiden Hauptvertreter dieser Position: B ENTABOLE . La Convention nationale, en fixant l’ère française, a fait tout ce qu’elle devait faire; je pense qu’elle doit s’arrêter à cet article. II est inutile et même dangereux de changer les subdivisions du temps et leur dénomination. Lorsque Mahomet, conquérant et législateur, donna une autre ère aux peuples soumis à sa puissance, son but fut de les séparer du reste des hommes, et de leur inspirer un respect superstitieux pour le culte qu’il leur prescrivait. Notre but est contraire à celui de cet imposteur; nous voulons unir tous les peuples par la fratenité; ainsi, loin de rompre nos communications avec eux, nous devons, s’il se peut, les multiplier encore. Je demande qu’on ajourne le reste du projet. (AP 76, 122) <?page no="184"?> 164 Die Namen von Raum und Zeit D UHEM . Citoyens, la révolution française n’a point encore touché au terme marqué par la philosophie, et déjà cependant elle a présenté des époques mémorables, qu’il serait doux aux législateurs de consacrer; mais qui peut leur répondre que ce qu’ils inscriront, sera ce qu’elle aura produit de plus grand. Ne faisons pas comme le pape de Rome; il remplit son calendrier de saints; et quand il en survint de nouveaux, il ne sut plus où les placer. Sous ce point de vue seul, je vous invite à renoncer à la dénomination morale, et je vous propose de vous en tenir à la dénomination ordinale qui est la plus simple. Il en résultera l’avantage que vous cherchez. Votre calendrier qui n’eût été que celui de la nation française, deviendra celui de tous les peuples. Ils ne s’écarteront jamais de l’ordre numérique qui est celui de la nature. Vous éviterez l’écueil où sont venus échouer tous les législateurs qui vous ont précédés. Le peuple, et j’entends par ce mot ceux que l’instruction n’a pas encore éclairés; le peuple est toujours porté vers une superstition quelconque; il cherche toujours à réaliser les idées métaphysiques qu’on lui présente. Voyez quel exemple les Egyptiens ont donné au monde; les hiéroglyphes ne retraçaient d’abord à leurs yeux que les époques mémorables. Bientôt des imposteurs, s’érigeant en ministres du ciel, firent de ces signes une science particulière et des objets sacrés qu’ils offrirent à l’adoration des peuples; ainsi la nation la plus sage de l’antiquité devint par ses ridicules superstitions la fable du monde. Craignez, à son exemple, de fournir un aliment à la sottise des fanatiques à venir; craignez qu’ils ne servent un jour des emblêmes dont vous surchargerez votre calendrier, pour en faire l’objet d’un culte superstitieux. Je vote pour nommer les divisions du temps par leur ordre numérique. Alors votre calendrier philosophique pourra devenir la base de la République universelle. (Applaudissements) R OMME . Mais aussi vous n’imprimerez pas à votre calendrier le cachet moral et révolutionnaire qui le fera passer aux siècles à venir. D UHEM . II est vrai qu’il ne présentera pas un tableau moral; mais êtes-vous sûrs que ce tableau serait jugé tel par notre postérité, dont les idées seront plus saines et les mœurs plus pures que celles de la génération présente? Etes-vous sûrs qu’il ne servirait pas un jour de canevas aux sottises que les prêtres civiques et inciviques pourraient y attacher! Citoyens, n’avez-vous pas vu déjà les prêtres constitutionnels vouloir religionner notre révolution? J’insiste sur ma proposition. (AP 76, 122) Romme und andere Vertreter der ‚moralischen‘ Namen betonen dagegen vehement die Notwendigkeit, durch sprechende Bezeichnungen Orientierungspunkte, ja eine Elementarerziehung zu geben. Sie weisen den Vorwurf der Lächerlichkeit und der schlechten Memorierbarkeit entschieden zurück. In dieser verfahrenen Situation bietet Fabre d’Eglantine an, einen neuen Entwurf auszuarbeiten. Diesen Entwurf stellt er am 24.10.[17]93 vor. Es handelt sich um den wohlbekannten Revolutionskalender, der fast unverändert angenommen wird. Ich verzichte darauf, ihn hier noch einmal abzudrucken. 5 Es lohnt sich aber, sich mit Fabre d’Eglantines sprachtheore- 5 Es sei hier aber auf die von Seifert 1989 herausgegebene deutsche Übertragung von 1794 hingewiesen. <?page no="185"?> Die Namen der Zeit 165 tischen Erörterungen bei der Präsentation zu beschäftigen. Offensichtlich handelt es sich ja um ein Mischsystem, das für die Dekadentage numerisch verfährt (Primidi, etc.), bei den Monatsnamen eine analogisch konstruierte Nomenklatur (gleiche Jahreszeit - gleiches Suffix), allerdings auf der Basis von Bildern, wählt und außerdem noch jedem einzelnen Tag des Jahres einen Namen aus der Landwirtschaft zuordnet (normale Tage: Früchte, Quintidis: Tiere, Decadis: Werkzeuge). Die Monatsnamen begründet Fabre d’Eglantine besonders eindringlich: er geht aus von der „nécessité de l’empire des images sur l’intelligence humaine“ (AP 77, 500). Er geht also aus von der Notwendigkeit der Bilder (images) für die Sensibilität und damit letztlich Erkenntnisfähigkeit des Menschen. Damit vertritt er eine Position, die in der sensualistischen Erkenntnistheorie angelegt war und die in Versuchen zu einer sensualistischen Ästhetik weiterentwickelt worden war (Mercier, Beccaria), die aber von den Hauptvertretern des Sensualismus während der Französischen Revolution, den Ideologen, sehr entschieden abgelehnt wurde (dazu Zollna 1988). La Commission que vous avez nommée pour rendre le nouveau calendrier plus sensible à la pensée et plus accessible à la mémoire, a donc cru qu’elle remplirait son but, si elle parvenait à frapper l’imagination par les dénominations, et à instruire par la nature et la série des images. (AP 77, 501) Was die images angeht, so hat sich die physiokratische Tradition durchgesetzt: die Bilder entstammen dem landwirtschaftlichen Erfahrungsbereich; die revolutionären Benennungen bleiben auf die 5 bzw. 6 Resttage beschränkt. An die Seite der Bilder tritt die Lautsymbolik. Auch hier handelt es sich wieder um eine aktuelle sprachtheoretische Diskussion 6 , und wieder vertritt Fabre d’Eglantine nicht die herrschende Meinung von der vollständigen Beliebigkeit der Laute: Nous avons cherché même à mettre à profit l’harmonie imitative de la langue dans la composition et la prosodie de ces mots et dans le mécanisme de leurs désinences; de telle manière que les noms des mois qui composent l’automne ont un son grave et une mesure moyenne, ceux de l’hiver un son lourd et une mesure longue, ceux du printemps un son gai et une mesure brève, et ceux de l’été un son sonore et une mesure large. (AP 77, 501) So besteht jeder Monatsname aus drei Elementen: - dem Laut und seiner Symbolik; - dem Bild; - der Bedeutung: 6 Interessant in diesem Zusammenhang ist die Auseinandersetzung Humboldts mit der Lautsymbolik. <?page no="186"?> 166 Die Namen von Raum und Zeit Il résulte de ces dénominations, ainsi que je l’ai dit, que, par la seule prononciation du nom du mois, chacun sentira parfaitement trois choses, et tous leurs rapports, le genre de saison où il se trouve, la température et l’état de la végétation. C’est ainsi que dès le premier de Germinal, il se peindra sans effort à l’imagination, par la terminaison du mot, que le printemps commence, par la construction et l’image que présente le mot, que les agents élémentaires travaillent, par la signification du mot, que les germes se développent. (AP 77, 501) Es ist besonders hintersinnig, daß der Teil der Nomenklatur, der dem Ideal einer analogisch konstruierten Terminologie perfekt entspricht, die Analogie auf images und harmonie imitative stützt, d. h. also das natürliche Maß der analogischen Beziehungen nicht außen, sondern im Menschen, seiner Einbildungskraft und seinen Fähigkeiten zur Symbolisierung findet. Diese Kombination von Systematizität, images und harmonie verfehlen bis heute ihre Wirkung nicht. Man wird nicht wenige Zeitgenossen finden, die den Revolutionskalender für die reinste Inkarnation der revolutionären Ästhetik halten (z. B. Arno Schmidt, Michel Vovelle). 3. Sprachtheoretische Positionen In den hier kurz vorgestellten Texten geht es darum, die Wirklichkeit einschneidend zu verändern, und zwar in Richtung auf Vereinheitlichung und Rationalisierung. Diese Veränderung der Wirklichkeit ist untrennbar verbunden mit der Veränderung der Wörter. Die neuen Bezeichnungen sind dann am besten, wenn sie jede Erinnerung an frühere Organisationsformen auslöschen: die Namen der Départements dürfen nicht an die alten Provinzen erinnern, die topographischen Nomenklaturen nicht an die alten Orts- und Straßennamen, die neuen Bezeichnungen für Maße und Gewichte nicht an die alten Maße, und der neue Kalender sollte die Erinnerung an die Herrschaft der katholischen Kirche über das Jahr, seine Feste und seine Heiligen vernichten. Dabei mißt man den neuen Namen eine ungeheure Bedeutung bei: die Veränderung der Sachen verläuft ohne Debatte - umkämpft sind die Namen. Dies entspricht der allgemeinen Tendenz in der Französischen Revolution, politische Debatten als Debatten über Wortdefinitionen zu führen (vgl. Schlieben-Lange 1985), der Tendenz zur logomachie. Da es sich bei allen hier besprochenen um systematische Veränderungen handelt, müssen auch kohärente (ihrerseits uniforme) Nomenklaturen entwickelt werden. Dies ergibt sich einerseits aus dem Projekt der Uniformität (das die Uniformität der Terminologien einschließt), außerdem aus der Forderung nach leichter Memorierbarkeit (gerade auch im Zeichen der Breitenaufklärung) und aus dem Ideal der Universalisierbarkeit. Zu der Frage, wie solche kohärenten Terminologien am besten zu konstruieren sind, gibt es zwei unterschiedliche Positionen, die in allen Teildebatten vertreten werden. Eine Gruppe spricht sich für numerische Nomenklaturen <?page no="187"?> Bibliographie 167 aus, die am direktesten der Natur entnommen sind und keine Hindernisse für die Universalisierbarkeit darstellen. Die andere Gruppe setzt sich für konkrete, bildhafte oder ‚moralische‘ Namen ein, die Kristallisationspunkte für ein neues Selbstverständnis bieten: Städte, Tugenden, alte Maße und schließlich revolutionäre Ereignisse, Gegenstände aus dem landwirtschaftlichen Leben. Die Entscheidungen fallen unterschiedlich aus: am erfolgreichsten ist - auf der Ebene der Terminologie - die Kalenderterminologie, die sich explizit auf Bilder und Lautsymbolik stützt, wenn auch in einer systematischen Weise. Vielleicht ist diese sprachtheoretische Auseinandersetzung ein Schlüssel zum Verständnis der in sich widersprüchlichen Kultur der Revolution, die einerseits vom geometrisierenden und klassifizierenden Zugriff der Wissenschaftler geprägt war, andererseits ständig aus der Konkretheit der Lebenserfahrung der durch die Breitenaufklärung mobilisierten Subjekte der Revolution schöpfte. Bibliographie Die Revolutionstexte sind, wenn nichts anderes angegeben ist, nach den Archives Parlementaires [AP im Text] zitiert. Deloche, Bernard/ Leniaud, Jean-Michel (Hrsg.) (1989): La culture des sans-culottes. Le premier dossier du patrimoine 1789-1798, Paris/ Montpellier: Éditions de Paris/ Presses du Languedoc. Ozouf-Marignier, Marie-Vic (1989): La formation des départements. La représentation du territoire français à la fin du 18 e siècle, Paris: Éditions de l’École des Hautes Études en Sciences Sociales. Schlieben-Lange, Brigitte (1985): „Die Wörterbücher in der Französischen Revolution (1789-1804)“, in: Reichardt, Rolf/ Schmitt, Eberhard (Hrsg.), Handbuch politischsozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680 -1820, Heft 1/ 2, München: Oldenbourg, 149-196. Schlieben-Lange, Brigitte (1987): „Das Französische - Sprache der Uniformität“, in: Zeitschrift für Germanistik 8, 26-38. Schlieben-Lange, Brigitte (1989): „Wissenschaftssprache und Alltagssprache um 1800“, in: Cherubim, Dieter/ Mattheier, Klaus (Hrsg.), Voraussetzungen und Grundlagen der Gegenwartssprache. Sprach- und sozialgeschichtliche Untersuchungen zum 19. Jahrhundert, Berlin/ New York: de Gruyter, 123-138. Schlieben-Lange, Brigitte (1990): „Die Sprachpolitik der Französischen Revolution - Uniformierung in Raum, Zeit und Gesellschaft“, in: Die Französische Revolution - Impulse, Wirkungen, Anspruch. Sammelband der Vorträge des Studium generale der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg im Sommersemester 1989, Heidelberg: Heidelberger Verlagsanstalt, 75-92. Seifert, Siegfried (1989): Die Zeit schlägt ein neues Buch in der Gesellschaft auf. Zum französischen Revolutionskalender und zu seiner Aufnahme in Deutschland, Weimar: Nationale Forschungs- und Gedenkstätten der Klassischen Deutschen Literatur in Weimar. Vovelle, Michel (1985): La mentalité révolutionnaire. Société et mentalités sous la Révolution française, Paris: Éditions sociales. Zollna, Isabel (1990): Einbildungskraft („imagination“) und Bild („image“) in den Sprachtheorien um 1800, Tübingen: Narr. <?page no="188"?> 168 Die Namen von Raum und Zeit PREMIER PROJET SECOND PROJET TROISIÈME PROJET NOMS DES JOURS DE LA DÉCADE OU DE LA DÉÇAINE. ⎧ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎨ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎩ Premier jour. Second jour. Troisième jour. Quatrième jour. Cinquième jour. Sixième jour. Septième jour. Huitième jour. Neuvième jour. Dixième jour. Le Niveau. Le Bonnet. La Cocarde. La Pique. La Carrue. Le Compas. Le Faisceau. Le Canon. Le Chéne. Le Repos. Les Vertus. Les Époux. Les Mères. Les Enfants. La Carrue. Le Commerce. L’Union. La Force. Le Chène. Le Repos. NOMS DES MOIS ⎧ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎨ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎩ Premier mois. Second mois. Troisième mois. Quatrième mois. Cinquième mois. Sixième mois. Septième mois. Huitième mois. Neuvième mois. Dixième mois. Onzième mois. Douzième mois. La République. L’Unité. La Fraternité. La Liberté. La Justice. L’Egalité. La Régénération. La Réunion. Le Jeu de Paume. La Bastille. Le Peuple. La Montagne. La Fondation. L’Unité. La Fraternité. La Liberté. La Justice. L’Egalité. La Régénération. La Réunion. La Fermeté. La Vigueur. Le Peuple. La Fidélité. NOMS DES ÉPAGO- MÉNES OU DES ULTIMES. (1) ⎧ ⎪ ⎪ ⎨ ⎪ ⎪ ⎩ Premier mois. Second mois. Troisième mois. Quatrième mois. Cinquième mois. Sixième mois. L’Adoption. L’Industrie. Les Récompenses. La Paternité. La Vieillesse. L’Olympique. L’Adoption. Les Aris. Les Récompenses. La Paternité. La Vieillesse. La Révolution. (2) (1) Le texte reproduit par M. Guillaume porte „ultièmes“. (2) Le texte reproduit par M. Guillaume porte „l’Olympique“. Tableau de divers projets de nomenclatures du calendrier de la république pour faire suite au rapport sur l’ère française, fait le 20 septembre, au nom du Comité de l’Instruction nationale, par Gilbert Romme: <?page no="189"?> Tableau 169 QUATRIÈME PROJET _____ NOMEN- CLATURE pour TOUT L’RÉMISPUÉ BORÉAL CINQUIÉME PROJET POUR TOUT LE GLOBE SIXIÉME PROJET SEPTIÉME PROJET CORRESPONDANCE DES NOUVEAUX JOURS ET DES NOUVEAUX MOIS avec les anciens en 1790 et 1794. Primile. Bisile. Trisile. Quatrile. Quintile. Sextile. Septile. Octile. Novile. Décile. Prime-di. Deux-di. Tri-di. Quatre-di. Cinq-di. Six-di. Sept-di. Huit-di. Neuf-di. Dix-di. Soldi. Lundi. Mardi. Mercredi. Jeudi. Vendredi. Samedi. Terredi. Herscheldi. Cieldi. Revol-di. Libre-di. Fedre-di. Egal-di. Républe-di. Révol-di. Libre-di. Fedre-di. Egaldi. Républe-di. Dimanche. Lundi. Mardi. Mercredi. Jeudi. Vendredi. Samedi. Dimanche. Lundi. Mardi. L’Automne. Les Semailles. Les Nuits. L’Hiver. Les Frimats. Les Vents. Le Printemps. Les Fleurs. Les Jours. L’Été. Les Moissons. Les Fruits. La Balance. Le Scorpion. Le Sagittaire. Le Capricorne. Le Verseau. Les Poissons. Le Bélier. Le Taureau. Les Jumeaux. Le Cancer. Le Lion. La Vierge. L’Égalité. La Victoire. Les Belges. Le Jugement. L’Exemple. L’Espérance. La Régénération. Le Bonheur. La Fraternité. La Révolution. La Liberté. La Souveraineté L’Égalité. Les Semailles. Le Repos. La Glace. La Justice. La Victoire. Les Fleurs. La Réunion. Le Relâche. La Liberté. La Récolte. Les Fruits. Du 22 septembre au 21 octobre. Du 22 octobre au 20 novembre. Du 21 novembre au 20 décembre. Du 21 décembre au 19 janvier. Du 20 janvier au 18 février. Du 19 février au 20 mars. Du 21 mars au 19 avril. Du 20 avril au 19 mai. Du 20 mai au 19 juin. Du 19 juin au 18 juillet. Du 19 juillet au 17 août. Du 18 août au 16 septembre. Premier mois. Second mois. Troisième mois. Quatrième mois. Cinquième mois. Sixième mois. ⎧ ⎪ ⎪ ⎨ ⎪ ⎪ ⎩ Idem. Idem. Idem. 17 18 10 ⎧ ⎪ ⎨ ⎪ ⎩ septembre 20 21 (AP 74, 556/ 557) <?page no="191"?> Die diskursive Verfaßtheit von Periodisierungen* 0. Einleitung Daß die Entwicklung der Literaturen sich in Epochen und Perioden vollzieht, ist eine Selbstverständlichkeit der Literaturwissenschaften. Fragen wie die, ob Kleist ‚eigentlich‘ ein Romantiker sei, die Frühromantik nicht eine Form der Spätaufklärung, wie die Grenze zwischen Realismus und Naturalismus zu ziehen sei und wie viele Spielarten der ‚klassischen‘ Moderne es gebe, gehören zum literaturwissenschaftlichen Alltag. Noch selbstverständlicher gehen die Sprachwissenschaften mit überkommenen Periodisierungen um und fragen selten nach deren Fundiertheit. Wieso ist das Französische die einzige romanische Sprache, für die wir eine mittlere Periode ansetzen, die wir Mittelfranzösisch nennen? Entspricht dieses ‚Mittlere‘ des Mittelfranzösischen dem Mittleren des Deutschen und des Englischen? Wieder ein anderes ‚Mittleres‘ scheint in der Geschichte des Katalanischen und des Okzitanischen vorzuliegen, in der eine Epoche der Decadència mittelalterliche Hochzeit und romantische Wiedergeburt voneinander trennt. Gelegentlich wird versucht, die Kriterien aufzuhellen, die solchen Periodisierungen zugrundeliegen. So stellt etwa Mattos e Silva (1994) eine Liste von phonologischen Kriterien auf, um die widersprüchlichen Periodisierungen des Portugiesischen zu überprüfen; Gabriele Eckert (1991) schlägt eine Liste von internen Kriterien für das Mittelfranzösische auf, die sie den üblichen externen Eckdaten gegenüberstellt; ich habe (1985) für das Okzitanische und Katalanische einen Kriterienkatalog vorgeschlagen, der mediale Übergänge, Diskurstraditionen und reflexive Beschäftigung mit den jeweiligen Sprachen einschließt. Eine naheliegende Antwort auf die Frage nach den Grundlagen der Periodisierung kommt bei den meisten dieser Versuche nicht in den Blick: Wir wissen, daß es eine Zäsur zwischen mittelfranzösischen Texten und Texten der Renaissance gibt, weil du Bellay es uns mit ungewöhnlicher Deutlichkeit gesagt hat: die Ablehnung der eigenen französischen literarischen Traditionen - als vieilles épiceries, damit gleichzeitig an eine veraltete Geschmacksausrichtung erinnernd, das scharf Gewürzte, das einer neuen * Zuerst erschienen 1995 in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 100, Epoche, 58-76. <?page no="192"?> 172 Die diskursive Verfaßtheit von Periodisierungen Vorliebe für das maßvolle Würzen Platz gemacht hat - und die Orientierung an den antiken Vorbildern. Und wenn heute ein Spezialist des Mittelfranzösischen sich, befragt nach der Grenze zwischen Mittelfranzösisch und modernem Französisch, für eine Grenze in der ersten Hälfte des 16. Jh. aussprechen, vertrauen sie sich du Bellay an. 1 Und wenn die katalanische Sprachgeschichte zwischen klassischer Zeit (Mittelalter), Decadència und Renaixença Brüche ansetzt, so deshalb, weil die Renaixentisten sie gelehrt haben, dies zu tun. Wäre es in Hinsicht auf Katalonien sinnvoller, statt dessen von sprachlichen oder literarischen Jahrhunderten zu sprechen? Ich stelle die Frage zunächst zurück. Halten wir auch fest, daß diese sprachgeschichtlichen Periodisierungen häufig zunächst von Literaten in Umlauf gebracht wurden, für die die Sprache vorrangig das Medium der Texte war, und nur durch die Sprache hindurch konnten sie ihre textuellen Intentionen realisieren. In der Sprachwissenschaftsgeschichte ist ihre Gegebenheit in Perioden erst in den letzten Jahren ein zentrales Thema geworden. Nicht so als hätte es vorher keine Periodisierungen gegeben; nur sind sie erst jetzt problematisch geworden, und zwar einerseits durch Kuhns Begriff der wissenschaftlichen Revolutionen wie auch durch die von Bachelard, Canguilhem und schließlich Foucault entwickelten Überlegungen zu epistemologischen Brüchen. Ganz gleich, ob nun die Brüche oder aber die epistemischen oder paradigmatischen Zentren zum Ausgangspunkt der Überlegungen gemacht werden, geht es wieder darum, über die Kriterien Klarheit zu gewinnen. Welche Möglichkeiten des Zugangs haben wir zur Annäherung an unsere Fragestellung? Wenn wir davon ausgehen, daß es unterschiedliche Aspekte des Wissenschaftsprozesses gibt, so müssen die verschiedenen Blickwinkel ja verschiedene Zugänge zu unserem Problem ermöglichen. Sylvain Auroux’ (1987) Unterscheidung zwischen drei Komponenten des Wissenschaftsprozesses scheint dafür besonders geeignet: der praktischen (wobei ein emphatischer Praxis-Begriff zugrundeliegt und hierunter alle politischen, historischen Bedingungen der wissenschaftlichen Arbeit verstanden werden, der gesellschaftliche ‚Abforderungsrahmen‘), der sozialen (d. h. in einem engeren Sinne der institutionellen) und der internen Komponente. Aber wie sorgfältig wir auch immer die Befunde hinsichtlich solcher Kriterien befragen, unsere ersten Intuitionen über die Perioden kommen dabei nicht zum Tragen. Wir wissen nämlich schon vorher, wo die Brüche liegen und wie die Zentren sich definieren. Wieder sind es die Autoren selbst, die hier keinen Zweifel aufkommen lassen. Mit Nebrija beginnt die neuzeitliche Grammatikschreibung, und zwar sowohl die lateinische (Institutiones latinae) wie die volkssprachliche (Gramática Castellana). Wir wissen es, weil 1 Vgl. die Diskussion zur Limitierung eines mittelfranzösischen Wörterbuchs in Wunderli (Hrsg.) 1982. <?page no="193"?> Die ‚praktische‘ Komponente: Das Problem der Generationen 173 Nebrija es uns selbst sehr deutlich gesagt hat, daß er mit der Tradition brechen will. Was er uns nicht gesagt hat, ist, daß er einen Strang dieser Tradition, nämlich die Priscian-Tradition, vermittelt über Balbis Catholicon nahtlos fortsetzt (vgl. dazu Codoner/ González Iglesias 1994). Die sensualistischen Grammatiker um 1800, von denen gleich noch ausführlicher die Rede sein wird, betonen ihren neuartigen semiotischen Ansatz und führen doch - mit anderen Nuancen und Pointierungen - die semiotische Tradition aus De Doctrina Christiana von Augustin fort. Die Junggrammatiker haben uns deutlich in ihrem Manifest von 1879 gesagt, daß sie alles anders machen wollen als die ‚Alt‘-Grammatiker. Saussure (bzw. seine Herausgeber) und Chomsky haben ebenfalls sogenannte discours fondateurs verfaßt. Nun soll nicht behauptet werden, die Wissenschaft selbst habe sich jeweils nicht geändert. Es sei nur die zugespitzte Frage gestellt, ob nicht eine solche Geschichte der faktischen Veränderungen eine Geschichte der kleinen Schritte, der graduellen Übergänge wäre und nicht eine solche der großen Umbrüche. Ich möchte das Problem der Identifizierung sprachwissenschaftlicher Gruppen, der Periodisierung sowie des Zusammenspiels der verschiedenen Faktoren an einem Beispiel erläutern: dem der Idéologues, einer Gruppe von Spätaufklärern, die während der Französischen Revolution eine kohärente sensualistische Zeichen- und Sprachtheorie entwickelt haben, die für Italien und Spanien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr bedeutsam wurde. 2 Es springt ins Auge, daß wir dem Zirkel periodisierender Aussagen nicht entgehen. Wenn ich die Gruppe, um die es im folgenden geht, verorten will, so komme ich nicht darum herum, Klassifikatoren wie ‚Spätaufklärung‘, ‚Sensualismus‘ zu verwenden, um überhaupt einen Einstieg zu ermöglichen. An dieser Gruppe nun sollen also die verschiedenen Kriterien, die in einer Periodisierung eine Rolle spielen können, durchgespielt werden. 1. Die ‚praktische‘ Komponente: Das Problem der Generationen Geht man unsere Fragestellung von der praktischen Komponente her an, so müßte entscheidend für die Abgrenzung die Gleichheit historischer Erfahrungen und, damit einhergehend, ein Konsens über die Aufgaben und Bedingungen von Wissenschaft sein, darüber was Wissenschaft in der konkreten historischen Situation tun muß und was sie tun kann. Übrigens ist genau dies der Zugang, den Kunsthistoriker wie Wölfflin als Königs- 2 Zur Frage der Rezeption der Idéologues habe ich ein umfangreiches Forschungsprojekt durchgeführt, dessen erste Überlegungen und Ergebnisse in vier Sammelbänden festgehalten sind (Schlieben-Lange u. a. (Hrsg.) 1989-1994). Die Mitarbeiter dieses Forschungsprojektes, aus deren Recherchen teilweise auch die hier verwendeten Texte stammen, waren: Roland Bernecker, Hans-Dieter Dräxler, Ilona Pabst, Elisabeth Volck-Duffy, lsabel Zollna. <?page no="194"?> 174 Die diskursive Verfaßtheit von Periodisierungen weg kunsthistorischer Arbeit gewählt haben, wenn sie dem Konzept der ‚Generation‘ so große Bedeutung zumaßen. Karl Mannheim hat 1928 ‚Generation‘ als soziologischen Begriff problematisiert und verschiedene Traditionen der Bearbeitung der Generationenproblematik in der Soziologie gegenübergestellt. Eine zentrale These ist für uns besonders bedenkenswert, daß nämlich Kultur überhaupt nur ‚generationsförmig‘ tradiert werden kann. Das heißt, daß stets ‚neue Kulturträger‘ mit einem ‚neuen Zugang‘, nämlich dem unter den speziellen Bedingungen ihrer historischen Situation ausgebildeten, die kulturelle Tradition übernehmen und daß mit dem ‚steten Abgang früherer Kulturträger‘ notwendigerweise Vergessensprozesse einhergehen. 3 Besonders interessant wäre es, einmal über den Zusammenhang von longue durée und Generationen in der Wissenschaftsgeschichte nachzudenken. Die ‚neuen Zugänge‘ betreffen ja wahrscheinlich nur einen Ausschnitt der jeweiligen Wissensbestände, während andere unproblematisch weiter tradiert werden. Auch die ruptures können sicher gewinnbringend mit besonders einschneidenden Generationserfahrungen in Beziehung gesetzt werden. Im gleichen ‚Generationszusammenhang‘ können sich übrigens durchaus verschiedene ‚Generationseinheiten‘ herausbilden, die die Anforderungen und Bedingungen der historischen Situation verschieden interpretieren. 4 Aufgrund dieser Überlegungen könnte die Gruppe der Ideologen sicher als eine Generation mit einheitlichen Generationserfahrungen, nämlich der Revolution und ihrer Exzesse in der Jakobinerdiktatur verstanden werden. Konsolidierte die Erfahrung der Jakobinerdiktatur die Gruppe zu prospektiv-pädagogischer Orientierung, so leitete das zweite Scheitern der Revolution durch Napoleon eine zweite resignative Phase ideologischer Tätigkeit ein. Das Generationenkonzept wird problematisch, sobald wir uns aus Frankreich hinausbewegen. Es kann dann sicher nicht mehr zur Abgrenzung verwendet werden. Freilich erweist sich seine Leistungsfähigkeit in anderer Weise: wir können auf diesem Hintergrund und in Kombination mit nationalen (oder regionalen) Traditionen besser verstehen, weshalb die Rezeption sich gerade für bestimmte Aspekte der ‚ideologischen‘ Theorie interessierte und andere dem Vergessen preisgab. 3 Interessant wäre auch der Versuch, das sozialwissenschaftliche Konzept der Generation zu konfrontieren mit neueren Aufsätzen in der Sprachwandelforschung. Dabei denke ich vor allem an die Übertragung der Prinzipien- und Parameter- Theorie auf die historische Sprachwissenschaft durch Lightfoot und Roberts. 4 Mannheim 1928 erläutert das am Gegensatz liberaler und romantischer Konsequenzen aus der gleichen Generationserfahrung. <?page no="195"?> Die ‚interne‘ Komponente: Programme und Klassifikationen 175 2. Die ‚soziale‘ Komponente: Salon und Pädagogik Versuchen wir es mit einer Abgrenzung der Ideologen als sozialer Gruppe! Hier bieten, wie oben dargestellt, zwei verschiedene soziale Zusammenhänge Identifikationsangebote, nämlich einerseits der Salon der M me Helvétius und M me Condorcet in Auteuil samt den damit verbundenen sozialen Aktivitäten und andererseits die nach Thermidor neu geschaffenen pädagogischen Institutionen: allen voran das Institut National, dann die Ecole Normale und schließlich auch die Ecoles Centrales. Es sollte nicht aus dem Blick verloren werden, daß die uns interessierende Gruppe auch noch in anderen Organisationsformen auftrat: Man denke an die Zeitschrift Décade und die Société des Observateurs de l’Homme. Diese verschiedenen Gruppierungen sind nicht deckungsgleich; es gibt jedoch eine Kerngruppe, die mehreren dieser Institutionen angehört, d. h. daß wir im Falle der Idéologues tatsächlich von einer starken sozialen Kohärenz ausgehen können. Bemerkenswert übrigens, daß die verschiedenen Institutionen im Grunde unterschiedlichen Zeiten angehören: der Salon als höfische Sozialform dem 18. Jahrhundert, Société und Zeitschrift als revolutionäre, jedoch im Wissenschaftsbetrieb zukunftsträchtige Organisationsformen, die Schulen als ins 19. Jahrhundert weisende Institutionen eines zentralistisch verwalteten Nationalstaats. Freilich trägt die soziale Abgrenzung bei dem Versuch, eine Identität ‚ideologischer‘ Gruppierungen in Italien oder Spanien auszumachen, nicht weit. Allerdings ist doch auffällig, daß auch in Italien und Spanien ein deutlicher Zusammenhang zwischen liberalen pädagogischen Orientierungen und der Aufnahme ‚ideologischer‘ Ansätze besteht. In Deutschland ist dieser Nexus nicht nur durch inhaltliche (Durchsetzung der idealistischen Philosophie), sondern auch durch institutionelle andersartige Festlegung auf dialogische Lehrformen (im Gegensatz zu ‚doktrinären‘) in Seminar und Universität blockiert. 3. Die ‚interne‘ Komponente: Programme und Klassifikationen Wenden wir uns nun der internen Komponente zu, um zu sehen, welche Möglichkeiten zur Abgrenzung von Einheiten sich ergeben. Wir müssen hier zwei Ebenen unterscheiden, nämlich einmal die Ebene der argumentativen Handlungen selbst, auf der sich eine gewisse Einheitlichkeit des Forschungsprogramms erweisen könnte, zum zweiten sodann die Metaebene, von der aus die Aktivitäten der ersten Ebene kommentiert, identifiziert und klassifiziert werden. Bleiben wir nämlich nur auf der Ebene der Aktivitäten, so erscheinen uns die einzelnen Aktivitäten in der chronologischen Linearisierung als Serie, im synchronischen Nebeneinander als Interdiskurse, ohne daß sich auf dieser Ebene die Möglichkeit ergäbe, Brüche, Abgrenzungen oder Identitäten <?page no="196"?> 176 Die diskursive Verfaßtheit von Periodisierungen festzustellen. Erst aus der Perspektive der kommentierend-zuschreibenden Meta-Ebene werden Serien zu Traditionen, synchronische Interdiskurse zu Manifestationen eines Stils, der auch die Grenzen zwischen verschiedenen Künsten, zwischen Kunst und Wissenschaft, zwischen verschiedenen Wissenschaften überschreiten kann. Ebene der Zuschreibungen Tradition Stil Interdiskurs Ebene der Aktivitäten Serie 3.1. Das Forschungsprogramm Was die erste Ebene, nämlich die der wissenschaftlichen Aktivitäten angeht, so haben wir für unser Projekt einen Auswertungsleitfaden entworfen, der von unseren Intuitionen über das ‚ideologische‘ Forschungsprogramm ausging: daß nämlich Erkenntnistheorie, Semiotik, Sprachtheorie, alle drei in genetischer Orientierung, und schließlich das Selbstverständnis als Meta- Wissenschaft entscheidende Komponenten sind. Diese aus unserem Vorverständnis gewonnenen Komponenten der wissenschaftlichen Aktivitäten haben wir um die möglichen Anschlüsse in Richtung auf Geschichte, Varietät, Rhetorik und Ökonomie. Moral und Ethik ergänzt. So sollte es möglich sein, die Konsistenz eines ‚ideologischen‘ Forschungsprogramms und seine Verschiebungen zu erfassen. Bei dieser Vorgehensweise waren also neue Kombinationen, etwa 1 - 6 + 7 (das ideologische Kernprogramm + Geschichte) oder 1 - 6 + 8 (das … + Rhetorik) durchaus vorgesehen. So entstand der Auswertungsleitfaden in der Form, wie er für die Arbeit an den Texten verwendet wurde (vgl. Tab. S. 177). Besonders deutlich wird die Problematik einer Abgrenzung ausschließlich auf der Basis des Forschungsprogramms, wenn man sich mit dem Anfang einer Bewegung beschäftigt. Waren Condillac und Locke, Beccaria und Genovesi Idéologues? Wir machten uns in unserem Projekt eine Möglichkeit der französischen Sprache zunutze und sprachen von den Idéologues avant la lettre. Wir hatten damit nicht nur eine praktische Sprachregelung für einen Dauerkonflikt, <?page no="197"?> Die ‚interne‘ Komponente: Programme und Klassifikationen 177 1. Erkenntis- Theorie 2. Zeichentheorie 3. Semantik 4. Sprachtheorie 5. Sprachbeschreibung 6. Sprachgeschichte 7. Logik 8. Rhetorik 9. Ökonomie, Politik Moral, Ethik 10. Methodologie & Wissenstheorie 0. Definition 0. Definition v. Zeichen 0. Definition 0. Definition 0. Definition 0. Definition 0. Definition 0. Definition 0. Definition 0. Definition 1. Anthropologie Ethnologie 2. Fertigkeiten: sentir, juger, souvenir, désir, volonté, imagination, comparer, identifier, inventer… 3. habitude 4. Sensualismus/ Rationalismus Monismus/ Dualismus 5. Ideen: - 1. obscures/ confuses/ claires/ distinctes - 2. simples/ complexes - 3.principales/ accessoires - 4.individuelles/ générales 6. Ideologie- Grammatik- Logik- Rhetorik- Ethik- 1. Notwendigkeit der Zeichen f. Erkenntnis idées complexes 2. Les monstres: Taubstumme, Wilde, Kinder, Außereuropäische Wilde, Automat 3. Sinnliches Substrat v. Zeichensystemen (taktil, olefaktisch, Geschmack, visuell, akustisch) 4. Artikulierter Laut double articulation 5. Mögliche Zeichenrelationen: signe naturel/ image s. arbitraire/ s. artificiel 6. Universalsprache Pasigraphie- Pasilalie 7. Schrift (Hieroglyphen Alphabet) 8. Genese der Zeichensysteme 1. Verhältnis ‚mot‘/ ‚chose‘: mot/ choses (einseitiges Zeichen) mot/ idée (valeur)/ chose (zweiseitiges Zeichen) 2. étendue/ compréhension 3. acceptions des mots 4. indétermination des mots 5. Synonymie/ Homonymie/ Polysémie 1. Wortbildung/ Néologie 2. analogie/ anomalie 3. Terminologie (Fachsprachenproblematik) 4. Beurteilung von Sprachen: clarté, richesse, énergie, harmonie 5. Norm/ Subj.d. Sprache/ usage 6. Universalsprache/ Einzelsprache/ Individuum 7. génie de la langue 1. Einteilung der Grammatik Phonetik, Orthographie… 2. Prinzipien der Einteilung 3. Parties du discours description: Nom, verbe, adjectif, etc. 4. Morphologie/ Formenlehre 5. Syntax/ Logik 6. Syntax: ordre des mots (ordre naturel/ Inversion) 7. Analyse grammaticale les mots dans le discours 1. Genese Phylog.- Ontog. 2. Geschichte (Sprachwandel) interne Geschichte 3. externe Geschichte 4. Sprachtypologie (Bewertung) 5. Ursprache(n) - langue mère 6. étymologie 7. langues mixtes Konvergenz Divergenz 8. Soziale und dialektale Variation 1. raisonner 2. la méhode vérité, clarté, certitude, fidélité, évidence 3. argumenter syllogisme, sophismes 1. Sprache der Wissenschaft/ Poesie 2. rhétorique oratoire poétique 3. Rhetorik/ éloquence 4. Stil 5. Redefiguren figures, tropes 6. Sensualistische Ästhetik, Literaturwissenschaft (génie) 1. Funktion Solidarität v. Ausdruck u. Inhalt 2. observation/ expériment - Deduktion/ Genetik 3. fait positif 4. Einheitswissenschaft/ Wissenschaftstypologie/ Metawissen-schaft 5. art/ sciences 6. analyse/ synthèse/ éléments 7. Organisation (organisme) 8. Institution 9. Geschichte der Erkenntnistheorie 9. Geschichte der Zeichentheorie 9. Geschichte der Semantik 9. Geschichte der Sprachtheorie 9. Geschichte der Grammatik 9. Geschichte der Sprachgeschichte 9. Geschichte der Logik 9. Geschichte der Rhetorik 9. Geschichte der Ökonomie etc. 9. wissensch./ gesch. Klassifikation <?page no="198"?> 178 Die diskursive Verfaßtheit von Periodisierungen sondern die zugrundeliegende Problematik tatsächlich auf einen glücklichen Begriff gebracht. Die Formulierung avant la lettre besagt nämlich folgendes: dass trotz weitgehender Übereinstimmungen im Forschungsprogramm entscheidende praktische (Generationserfahrung) und institutionelle Voraussetzungen für die Kristallisation der Gruppe noch nicht gegeben waren und daß es noch keine klassifizierende Bezeichnung dafür gab, die es erlaubte, eindeutig darauf Bezug zu nehmen. 3.2. Die Klassifikation auf der Meta-Ebene Damit sind wir wieder bei der zweiten Ebene angelangt, von der vorhin schon die Rede war, der Ebene der Kommentare, und Zuschreibungen. Auf dieser Ebene wird viel mit sprachlichen Ausdrücken gearbeitet, die ich ‚Klassifikatoren‘ nennen möchte (vgl. Lüdtke 1984). Es sind generische Ausdrücke, die es erlauben, gleichförmige Aktivitäten in einem klassifizierenden Zugriff zu erfassen. Übrigens ist dieses Bedürfnis der Klassifikation tief verwurzelt, und unklassifizierte Gegenstände und Individuen sind schwer zu ertragen. Das Problem der Klassifikation ist gerade in den letzten Jahren von der Kognitionswissenschaft als Schlüssel zum Verständnis der Arbeitsweise des menschlichen Denkens identifiziert worden. Die Soziologie hat sich mit der Erscheinung unter dem Namen Labelling befaßt. Gibt es einmal ein Label, einen Klassifikator, so werden identifizierende Zuschreibungen möglich. Man kann sich im Prozeß der Auto-Identifikation einer Gruppe, die durch den Klassifikator greifbar geworden ist, zuordnen; es sind aber auch Prozesse der Fremdzuschreibung, der Hetero-Identifikation möglich. Zuschreibungen sind Gegenstand von Aushandlungsprozessen; man kann Hetero-Identifikationen zurückweisen oder Bedingungen für Auto- Identifikationen formulieren. Der symbolische Interaktionismus und die Ethnomethodologie stellen diese prinzipielle Aushandelbarkeit von Zuschreibungen ins Zentrum ihrer theoretischen Bemühungen; die Labelling-Soziologen beurteilen die Möglichkeiten der Zurückweisung von Klassifikatoren eher pessimistisch. Wenn nun die Klassifikatoren auf Textpassagen angewendet werden, so könnte man, Jens Lüdtke folgend, von Interpretatoren sprechen. In diesen Interpretationszusammenhängen sind die Aushandlungsmöglichkeiten am größten. In der interpretatorischen Verwendung verändern sich die Klassifikatoren. Die Ausdrücke, um die es hier geht, Ausdrücke wie Idéologues und ‚ideologisch‘, ‚Romantiker‘ und ‚romantisch‘, ‚Junggrammatiker‘ und ‚junggrammatisch‘ können also in dreierlei Weise verwendet werden: - klassifizierend (die Gruppe betreffend); - identifizierend (auf einzelne Personen bezogen); - interpretierend (auf Texte und Textteile bezogen). <?page no="199"?> Die ‚interne‘ Komponente: Programme und Klassifikationen 179 Klassifikatoren ermöglichen die abkürzende Strukturierung der Aktivitäten einerseits und der geschichtlichen Wahrnehmung andererseits. Wenn das Kontinuum möglicher wissenschaftlicher Tätigkeiten durch den klassifizierenden Zugriff unterbrochen und in separate Einheiten (Traditionen, Stile, o. ä.) aufgegliedert ist, kann der einzelne Wissenschaftler seine Tätigkeiten zuordnend lokalisieren. Er kann beschließen, innerhalb eines klassifikatorisch bestimmten Programms zu arbeiten oder aber sich mit seiner Arbeit außerhalb der benennbaren Programme anzusiedeln und damit die Gefahr der Marginalisierung in Kauf zu nehmen. Und auch die Betrachtung der Geschichte einer Wissenschaft (einer Kunst) ex post läßt sich bei der Periodisierung von den Klassifikatoren leiten und nimmt nicht-klassifizierte Wissenschaft kaum mehr wahr. Wenden wir uns nun der Geschichte des Klassifikators Idéologie zu. Es handelt sich dabei um einen Beitrag zur Begriffsgeschichte, allerdings mit zwei Präzisierungen. Einerseits muß die Grundannahme der strukturellen Semantik, daß Bedeutungen nur durch Differenz ihre Bestimmtheit gewinnen, hinreichend berücksichtigt werden, und zum zweiten müssen vor allem die sprachlichen Handlungen, die mit der Verwendung von Idéologie durchgeführt werden, also die Handlungen der Identifikationen, der Distanzierung, der Interpretation rekonstruiert werden. 3.2.1. Auto-Identifikation: Setzung und Definition Die Geschichte von Idéologie beginnt mit einem Akt der Setzung, einem Begründungsdiskurs (discours fondateur). In seinem Mémoire sur la faculté de penser führt Destutt de Tracy am 2. floréal an IV, idéologie als Klassifikator für die analyse des sensations et des idées ein. Dies tut er in dem Bewußtsein, daß er eine neue Wissenschaft begründet („[…] la science qui nous occupe est si neuve, qu’elle n’a point encore de nom […]“), und daß eine Nomenklatur, eine langue bien faite die Grundlage einer Wissenschaft ist. Toute science se réduit à une langue bien faite; et avancer une science n’est autre chose qu’en perfectionner sa langue, soit en changeant les mots, soit en précisant leur signification. (Destutt, an IV, 326) Diese Setzung erfolgt explizit durch die Formulierung von Gegensätzen zu anderen bereits existierenden Bezeichnungen, die abgelehnt werden, weil die durch sie mitgegebenen Implikationen nicht geteilt werden. Setzung durch Aufzeigen und Benennung von Gegensätzen, durch Entgegensetzung also, dies ist das Verfahren in Destutts Gründungsdiskurs, wie sich meist Gründungsdiskurse durch diesen entgegensetzenden Gestus erkennen ließen, wenn sie nicht schon von vornherein als solche gekennzeichnet wären. Dies ist übrigens auch ein altes Prinzip der Hermeneutik, nach solchen Stellen zu suchen, wo der Autor selbst die Gegensätze ausformuliert und so die vom Hermeneutiker gesuchte Bestimmtheit schafft: <?page no="200"?> 180 Die diskursive Verfaßtheit von Periodisierungen Die erste Bezeichnungsmöglichkeit, die Destutt vehement ablehnt und damit als unmöglich erklärt, ist métaphysique: Il [le produit de l’analyse des sensations et des idées] ne peut être appelé métaphysique. Ce mot désigne une science qui traite de la nature des êtres, des esprits, des différents ordres d’intelligence, de l’origine des choses, de leur cause première. Or ce ne sont certainement pas là les objets de vos recherches. Je ne sais même de quelle analyse une telle science peut être le résultat. D’ailleurs, métaphysique veut dire rigoureusement autre chose que la physique: et la connaissance des facultés de l’homme est certainement, comme l’a pensé Locke, une partie, et une partie bien importante de la physique […]. […] et ce mot est si cruellement discrédité, que je verrois avec peine qu’on s’en servît pour désigner la science de la pensée. Je crois même qu’il est essentiel que l’on sache bien que vos travaux n’ont rien de commun avec ce que l’on entendoit autres fois par métaphysique. (Destutt, an IV, 322/ 323) Der zweite Kandidat ist psychologie: On pourroit lui donner celui de psychologie. Condillac y paroissoit disposé. Mais ce mot, qui veut dire science de l’âme, paroit supposer une connaissance de cet être que sûrement vous ne vous flattez pas de posséder; et il auroit encore l’inconvénient de faire croire que vous vous occupez de la recherche vague des causes premières, tandis que le but de tous vos travaux est la connaissance des effets et de leurs conséquences pratiques. (Destutt, an IV, 324) Damit sind zwei klare Grenzen gezogen, die zu einer Lehre vom Übernatürlichen, das unterschieden wäre vom Natürlichen, und die zur Seele, soweit sie als Entität oder als verursachende Größe mehr sein sollte als ihre beobachtbaren Effekte. Anschließend wendet Destutt seine Setzung noch einmal ins Positive: nicht die causes premières werden gesucht, sondern die Fertigkeiten und Operationen des denkenden Menschen: Ce mot a encore un avantage: c’est qu’en donnant le nom d’idéologie à la science qui résulte de l’analyse des sensations, vous indiquez en même temps le but et le moyen; et si vôtre doctrine se trouve différer de celle de quelques autres philosophes qui cultivent la même science, la raison en est donné d’avance: c’est que vous ne cherchez la connaissance de l’homme que dans l’analyse de ses facultés; vous consentez d’ignorer tout ce qu’elle ne vous découvre pas. (Destutt, an IV, 325) Während der Gründungsdiskurs mit Gegensätzen arbeitet, enthalten die Elémens d’Idéologie später auch positive Aussagen darüber, was idéologie ist. An die Stelle des die Unterschiede betonenden Diskurses für Spezialisten und Gleichgesinnte tritt ein totalisierender Diskurs der Präsentation für Außenstehende, für die jeunes gens, an die sich die Elémens richten. Stärker treten nun auch traditionelle Definitionsverfahren in den Vordergrund, die mit genus proximum und diferentia specifica arbeiten, also Hierarchien und Spezifitäten bestimmen. <?page no="201"?> Die ‚interne‘ Komponente: Programme und Klassifikationen 181 „L’idéologie est une partie de la zoologie“ heißt es gleich auf der ersten Seite der Elémens hierarchisierend. Einige Seiten später wird sie dann mit anderen Wissenschaften identifizierend nebeneinandergestellt, die sich nur hinsichtlich ihrer je spezifischen Perspektive unterscheiden. Cette science peut s’appeler idéologie si l’on ne fait attention qu’au sujet; grammaire générale, si l’on n’a égard qu’au moyen; et logique, si l’on considère que le but. […] Idéologie me paraît le terme générique, parce que la science des idées renferme celle de leur expression, et celle de leur combinaison. (Destutt 1801, 19) In den übrigen Bänden erfolgen dann positive Spezifizierungen: „la science de nos perceptions“ (III, VI), „la science de l’entendement“ (III, 148). Mehr und mehr verschiebt sich in der Logik dann das Gewicht auf affirmativ-totalisierende Bestimmungen der idéologie als „philosophie première“ (III, 81, 397, 521), als „base de l’édifice philosophique“ (III, 397), als Wissenschaftstheorie. Bei Destutts Gründungsdiskurs war ja schon die Fokussierung auf Operationen des Denkens und ihren prozeßhaften Nachvollzug in der analyse aufgefallen. Die Definition bei einem Idéologue der zweiten Reihe, Mongin, ist nun gänzlich prozessual, und zwar wieder in der doppelten Hinsicht, daß der Untersuchungsgegenstand selbst dynamisch ist und ebenso auch die analyse, die sich mit diesen Operationen beschäftigt. […] on voit les idées de la sensation se dégager insensiblement de ce qu’elles avaient de matériel, et prendre ces formes intellectuelles qu’on désigne sous les noms générales de pensée. (Mongin 1803, I, 25). C’est ce développement (de la pensée, des sensations aux activités rendues possible par les signes) dont s’occupe l’idéologie. (Mongin 1803, I, 54) 3.2.2. Hetero-Identifikation: Distanzierung, Umbesetzung/ Vernichtung Gibt es einmal den Klassifikator, so lädt er auch zur Distanzierung ein, die von der Formulierung einer Gegenposition bis zur verzerrenden Polemik reichen kann. Zwei solcher Identifikationen von außen, die mit einer Distanzierung einhergehen, sollen hier kurz besprochen werden. Mercier entwirft 1801 seine Vorstellungen von der ‚wilden‘ Sprache, die vom Geist durchweht ist, voller Bilder und ohne Syntax, ganz offensichtlich im Gegenzug zu den Idéologues. Diese Distanzierung strukturiert sein langes Vorwort zur Néologie. Sie erfolgt allerdings nur an einer Stelle explizit. Dort spricht er von den Idéologues und verändert den Namen polemisch: „Je dis idiologues au lieu d’idéologues pour me moquer de leur déplorable doctrine“ (Mercier 1801, LII). Angesichts der Bedeutung, die von beiden Seiten den Namen zugewiesen wird, von Mercier als mit göttlicher Kraft versehen, von den Idéologues als Grundlage jeder Erkenntnis, gewinnt dieser Akt der beleidigenden Ver- <?page no="202"?> 182 Die diskursive Verfaßtheit von Periodisierungen änderung des Klassifikators noch besonderes Gewicht. Anschließend erfolgt die inhaltliche Distanzierung: „Les idiologues, en niant le souffle divin, ou en le soumettant à une multitude d’opérations materielles […].“ (Mercier 1801, LII) Damit verweist er auf zwei Elemente des Begründungsdiskurses, nämlich die Ablehnung der Metaphysik und die Operationalität des ideologischen Zugriffs, und distanziert sich von beiden. Die politische Distanzierung Napoleons von den Idéologues, die ihn zuerst als Retter der Revolution nach Thermidor begleitet hatten, dann aber als Verräter der Revolution kritisierten, war ungleich folgenreicher. Hier ging es nicht um die distanzierend polemische Formulierung einer Gegenposition, sondern um die politische Diffamierung einerseits und die Veränderung der Bedeutung des Klassifikators andererseits. Beschäftigen wir uns zuerst mit dem ersten Aspekt: wenn eine Gruppe unter einer bestimmten Bezeichnung als unerwünscht erklärt wird, so ermutigt dies sicher nicht zu Akten der Auto-Identifikation. Allenfalls wird das Forschungsprogramm fortbestehen; der Klassifikator, der es ermöglicht hatte, pädagogik- und wissenschaftsstrukturierend zu wirken, wird vermieden werden. Dieser Einschnitt in der Geschichte der Idéologie, durch den eine positive Identifikation erschwert, wenn nicht gar unmöglich gemacht wurde, war den Zeitgenossen, ja darüber hinaus den Intellektuellen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wohl bewußt: Gli studii di filosofia in Italia, nella prima ventina del secolo nostro, erano […] più che trasandati inviliti, quasi fossero stati incolti anch’essi nell’anatema che per ragioni politiche, aveva fulminato in Francia contro gl’ideologi il conquistatore delle piramidi. (Baldassare Poli in Giornale Euganeo IV, 1847, 278). Ebenso folgenreich war aber auch die Veränderung der Bedeutung, nämlich die Identifikation der Idéologie mit der métaphysique, die gerade deshalb so vernichtend war, weil sie genau die Unterscheidung negiert, die für die Setzung der Idéologie fundierend war: C’est à l’idéologie, à cette ténébreuse métaphysique, qui, en cherchant avec subtilité les causes premières, veut sur ces bases fonder la législation des peuples, au lieu d’approprier les lois à la connaissance du cœur humain et aux leçons de l’histoire, qu’il faut attribuer tous les malheurs de notre belle France. Die Neu-Definition von Ideologie durch Napoleon sollte folgenreich sein: Der marxistische kritische Ideologie-Begriff geht nämlich von dieser Umdefinition der Ideologie als praktisch folgenlosen Theoretisierens aus, während die Idéologues selbst ja gerade die Fundierung der Erkenntnis in der Erfahrung und die praktisch-pädagogische Orientierung dieser neuen Philosophie betont hatten. <?page no="203"?> Die ‚interne‘ Komponente: Programme und Klassifikationen 183 3.2.3. Die Dynamik Wir hatten gesehen, daß Klassifikatoren strukturierend in den Wissenschaftsprozeß eingreifen. Sie werden in einem Gründungsdiskurs gesetzt und laden ein zur Auto-Identifikation, stabilisieren und fördern also die Durchsetzung eines Forschungsprogramms. Sie laden aber, gibt es sie erst, ebenso ein zur Hetero-Identifikation, die meist mit einer Distanzierung einhergeht. Von Anfang an also entsteht eine Dynamik der Zuschreibungen. Zwei Typen von Prozessen die eine große Rolle in dieser Dynamik spielen, wollen wir noch genauer beleuchten, nämlich: - Prozesse der Annahme bzw. Verweigerung der Annahme des Klassifikators; - Prozesse der Bedeutungsveränderung. Es sei hier am Rande darauf verwiesen, daß für die uns interessierenden Prozesse zeitgenössische Rezensionen ausgezeichnete Quellen sind. Dort werden die Periodisierungen, die Bezugspunkte, die Bewertungen offengelegt, die die Geschichte verschüttet hat. Sie haben gewissermaßen die Funktion, die Intensivinterviews in der empirischen Sozialforschung haben, daß sie uns nämlich den Zugang zu dem Untersuchungsgegenstand in members’ categories eröffnen und somit dem Forscher helfen, seine vorgefaßten Kategorisierungen zu relativieren. Annahme vs. Verweigerung Sollen Klassifikatoren ihre Funktion als fester Bezugspunkt für den wissenschaftlichen Diskurs und damit als Stabilisatoren von Forschungsprogrammen erfüllen, müssen sie angenommen werden. Die hetero-identifizierende Verwendung bestätigt, auch wenn sie distanzierend oder polemisch ist, die Existenz des mit dem Klassifikator bezeichneten Forschungsprogramms und konstituiert auch in der Ablehnung seine Legitimität. Wenn aber die Verwendung des Klassifikators verweigert wird, so wird damit dem Forschungsprogramm die Anerkennung als ‚benennbare Schule‘ versagt, was letztlich einer Versagung von Würde und Legitimität gleichkommt. Diese Verweigerung kann verschiedenen Motivationen entsprechen, etwa einem tatsächlichen Desinteresse, wie es sich in Deutschland um 1800 im Bewußtsein der Überlegenheit der Kantschen Philosophie manchmal äußert. So schreibt der Rezensent der Neuen Leipziger Literaturzeitung von 1804 über Mongins Philosophie élémentaire: Die von der französischen Regierung beliebte Amalgamierung der Logik mit der Grammatik, das einzige dem Lehrer noch übrige Mittel, die in Ungunst gesunkene Philosophie von den Gegenständen des Unterrichts nicht ganz auszuschließen, scheint auch diesem Werke das Daseyn gegeben zu haben. (Neue Leipziger Literaturzeitung 1804, 1527) <?page no="204"?> 184 Die diskursive Verfaßtheit von Periodisierungen Manchmal aber kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß der Klassifikator, gerade im Bewußtsein der skizzierten Funktionsweise, verweigert wird. Wäre die Forschungsrichtung erst benannt, so erhielte sie dadurch eine Legitimität, die ihr gerade vorenthalten werden soll. So erscheint z. B. in Manzonis theoretischem Werk nie der Klassifikator ideologia, obwohl dieses Werk aber gerade über weite Strecken nur angemessen gelesen werden kann, wenn man es als Auseinandersetzung mit eben dieser Nicht- Genannten versteht. Eine andere Form der Nicht-Annahme eines Klassifikators kann darin bestehen, daß man zwar nicht die Sinnhaftigkeit des Forschungsansatzes in Zweifel zieht, aber auf die Übernahme des Klassifikators verzichtet, da man der Ansicht ist, daß die gleichen Fragestellungen bereits mit einem anderen Etikett angemessen klassifiziert werden. So scheint uns das Forschungsprogramm der Idéologues, oder Teile davon, in Deutschland und Italien durchaus auf Interesse zu stoßen, jedoch der etablierten Disziplin der empirischen Psychologie, psicologia empirica, Erfahrungsseelenlehre, zugeordnet zu werden. Das Wort Philosophie wollen wir überall, wo es Hr. Cabanis gebraucht, in empirische Psychologie übersetzen und auch unter dieser Rubrik nichts Großes oder Neues in seiner Art verstehen. (aus: Rez. Cabanis Rapport. In: Gött. Gel. Anz. 31. Juni 1803, 187) In diesem Fall werden zwar die Fragestellungen akzeptiert, jedoch in einer anderen Wissenschaftstradition vereinnahmt, so daß die strukturierende, traditionsbildende Funktion des Klassifikators nicht zum Zuge kommt. Die Veränderung der Bedeutung des Klassifikators Wir hatten oben bereits Verfahren der Bedeutungsveränderung anläßlich von Napoleons Polemik gegen die Idéologues kennengelernt. Ein von Napoleon verwendetes Verfahren besteht in der Umdefinition, d. h. der Einführung neuer Unterschiede, im Falle Napoleons die Gegenüberstellung von Theorie (Idéologues) und Praxis (Napoleon). Ein anderes, besonders weitreichendes und perfides Verfahren war die Gleichsetzung der idéologie mit der métaphysique, weil dadurch gerade der Setzungsakt, den Destutt vorgenommen hatte, negiert wurde. Solche Identifizierungen kommen im weiteren Verlauf der Rezeptionsgeschichte häufig vor, z. B. die explizite Gleichsetzung von Ideologie und Psychologie, etwa in der Form, daß psicologia und ideologia gleichgesetzt und gemeinsam als scienza delle operazioni mentali definiert werden, oder die Annäherung an die filosofia razionale oder sogar die Gleichsetzung mit der Ontologie: „[…] dall’Ontologia ovvero dalla Ideologia e dalla Psicologia debbano cominciare le filosofiche ricerche“ (Manfredini, Giornale Euganeo III, 1846, 598). Dieses Verfahren hat zwei Funktionen, einmal eine vermittelnd-übersetzende, andererseits eine nivellierende. Die neue Forschungsrichtung und ihre <?page no="205"?> Mehrdimensionale Wissenschaftsgeschichte 185 Anliegen sollen in den Termini der eigenen Traditionen verständlich und akzeptabel gemacht werden. Damit geht aber auch ein Verlust an Trennschärfe, an Potenz zur Neustrukturierung der Wissenschaften einher. Eine besondere Ausprägung der Gleichsetzung finden wir in Italien. Hier geht nämlich die Gleichsetzung häufig mit einer Umwertung Hand in Hand, und zwar einer auf die Zeitachse bezogenen ‚Umwertung‘ Metaphysik und Ideologie sind im Grunde identisch; Ideologie ist jedoch der neuere, modernere Ausdruck und daher positiv bewertet. Seine Verwendung aktualisiert die Konnotation der Modernität und verleiht dem Benutzer die Aura der Progressivität: „La scienza un dí appellata metafisica, e che oggi appellasi ideologia.“ (Antonio Sareo, 1845, BI XI, 329). Die ideologia wird auf dem Wege dieser konnotativen Umwertung häufig zur Bezeichnung für moderne Philosophie überhaupt. Das weitaus häufigste Verfahren dürfte jedoch die Generalisierung des Klassifikators sein. Dies finden wir in Deutschland, wenn etwa Baader von der ‚platonischen Ideologie‘ spricht, besonders häufig aber in Italien, wo von der ideologia di Aristotele oder, mit Bezug auf Kant, von den ideologisti tedeschi die Rede ist. 4. Mehrdimensionale Wissenschaftsgeschichte Wir haben gesehen, daß keines der diskutierten Kriterien allein genügt, um eine Gruppe von Wissenschaftlern zu identifizieren und abzugrenzen. Im Verlauf unserer Überlegungen hat sich auch die Frage der Abgrenzung dynamisiert. Es geht ja gerade darum, zu rekonstruieren, wie und unter welchen Bedingungen sich wissenschaftliche Gruppen und ihre Fragestellungen durchsetzen, verändern und vergessen werden. Darum geht es unter anderem, weil wir die Bedingungen unseres wissenschaftlichen Handelns in der Gegenwart besser verstehen wollen. Zweifellos spielen in dieser Dynamik die Prozesse auf der Meta-Ebene, Prozesse der Klassifikation, der Zuschreibung (sei es identifizierend oder distanzierend), der Verweigerung und Veränderung von Klassifikation, eine wichtige Rolle. Auf dieser Ebene werden wissenschaftliche Aktivitäten gebündelt und pointiert, verlangsamt und beschleunigt. 1) Daß Aktivitäten und Klassifizierungen (lassen wir hier einmal die praktische und die soziale Komponente und deren Dynamik außer Betracht) im selben Rhythmus verlaufen, dürfte, zumindest in den Geisteswissenschaften, eher die Ausnahme sein: K A <?page no="206"?> 186 Die diskursive Verfaßtheit von Periodisierungen Wenn über längere Zeit ein Forschungsprogramm auch als solches identifiziert wird, haben wir es mit einem ‚starken‘ Paradigma zu tun: Die idéologie war vom Jahr IV bis 1803 ein solches starkes Paradigma. 2) Es sind jedoch auch andere Fälle denkbar, und wir sind ihnen bei unserer Rekonstruktion der Geschichte des Klassifikators idéologie begegnet: K A Dies wäre der Fall, daß das Forschungsprogramm weiterbetrieben wird, jedoch nicht unter dem Klassifikator idéologie, sondern entweder unklassifiziert oder unter einem anderen Namen, etwa dem der empirischen Psychologie, wodurch sich dann auch andere disziplinäre Schnitte und Zuordnungen ergeben. 3) Ein anderer Fall wäre der, daß der Klassifikator idéologie weiterverwendet wird, die wissenschaftlichen Aktivitäten sind aber, trotz des dadurch erzeugten Anscheins von Kontinuität, vollständig verändert. Ein solches Auseinanderdriften charakterisiert die italienische Situation in einigen Phasen. K A 4) Der Normalfall in den Geisteswissenschaften scheint uns jedoch der zu sein, daß Aktivitäten und Klassifikationen, zeitlich gegeneinander versetzt, eine gewisse Eigendynamik entwickeln. In Zuschreibungs- und Interpretationsprozessen werden die beiden Ebenen wieder aufeinander bezogen und parallelisiert, um dann aufs neue ihre eigene Dynamik zu entfalten. K A 5) Systematisch möglich und in der Geschichte häufig ist auch der Fall, daß bestimmte, gleichgerichtete Aktivitäten nicht durch einen eigenen Klassifikator unterschieden werden. Sie erscheinen dann als Ausfaltungen bereits bestehender, identifizierbarer Forschungsrichtungen; wenn von ihnen die Rede ist, muß mit umständlichen Paraphrasen gearbeitet werden. Vermutlich ist dieser Fall recht häufig; das Fehlen eines Klassifikators schwächt jedoch die Möglichkeiten aggressiver Durchsetzung des nichtklassifizierten Forschungsprogramms. <?page no="207"?> Summary 187 K (fehlt) A Man mag es bedauern, daß viele ausgezeichnete sprachwissenschaftliche Texte nicht geschichtsmächtig wurden, vielleicht auch deshalb, weil sie nicht im Duktus des discours fondateur auftraten und keinen Klassifikator schufen: man könnte etwa an Bernhardis Sprachlehre (1801/ 1803) oder an Bühlers Sprachtheorie denken. Offensichtlich entspricht es der Verfaßtheit des menschlichen Denkens, und das wissenschaftliche ist hier nicht ausgenommen, daß es auf Reduktion von Komplexität verwiesen ist. Die vorfindlichen Aktivitäten werden gebündelt, Kristallisationspunkte werden ausgemacht. Jede Generation von Wissenschaftlern und Wissenschaftshistorikern nimmt nun weitere Reduktionen vor, vergißt, verdrängt. Aber auch dort, wo sie sich erinnert und Vorfindliches unter neuen Relevanzgesichtspunkten reanalysiert, ist sie schon gefangen im Netz der historisch überlieferten Kategorisierungen. Manche Kategorisierungen der Zeitgenossen mögen ihre differenzgenerierende Kraft verloren haben, besonders diejenigen, die parallele Strömungen unterscheiden. Wahrnehmbar bleiben aber die Differenzsetzungen in der Zeit, die Generationskonflikte und Vatermorde. So gerät uns die Geschichte unserer Wissenschaften, unserer Literaturen und unserer Sprachen zu einer linearen Abfolge von Perioden, die ihre Mehrdimensionalität eingebüßt hat und keinen Ort aufweist für Richtungen ohne Klassifikator. 5. Summary The Discursive Constitution of Periodisation The history of linguistic thought is normally thought to consist of periods with more or less well-defined ruptures. What are the criteria that lead us to believe that a new period begins, that we can identify a new school of thought? Is a new epoch defined by the progress of science itself, or rather by the authors’ claim to novelty? Following Sylvain Auroux, three components of the epistemic process, and hence for criteria to subdivide it into periods, are distinguished: practical (i. e., political, historical and other conditions of research), social (i. e., interaction with the relevant group), and internal (i. e., ideas and the way in which these are classified). Based on findings from a larger research project, it is then discussed how these three sets of criteria might allow us to identify the French group of Idéologues as a novel school of linguistic thought. <?page no="208"?> 188 Die diskursive Verfaßtheit von Periodisierungen Bibliographie Quellen Destutt de Tracy, Antoine Louis Claude (1803/ 1977): Elémen[t]s d’Idéologie. Faksimile- Neudruck der Ausgabe Paris 1801-1815, Bd. II, Nachdruck. Stuttgart: Frommann- Holzboog. Mercier, Louis-Sébastien (1801): Néologie, ou vocabulaire de mots nouveaux: à renouveler ou pris dans des acceptions nouvelles, Paris: Moussard. Mongin, François [-B.] (1803): Philosophie élémentaire, ou Méthode analytique appliquée aux sciences et aux langues, Nancy: Haener et Delahaye. Forschungsliteratur Auroux, Sylvain (1987): „Histoire des sciences et entropie des systèmes scientifiques. Les horizons de rétrospection“, in: Schmitter, Peter (Hrsg.), Zur Theorie und Methode der Geschichtsschreibung der Linguistik, Tübingen: Narr, 20-42. Codoñer, Carmen/ González Iglesias, Juan Antonio (1994): Antonio de Nebrija. Edad Media y Renacimiento, Salamanca: Ediciones Universidad de Salamanca. Eckert, Gabriele (1990): „Französisch: Periodisierung“, in: Holtus, Günter/ Metzelin, Michael/ Schmitt, Christian (Hrsg.), Lexikon der Romanistischen Linguistik (LRL), Band 5,1, Französisch, Tübingen: Niemeyer, 816-829. Lüdtke, Jens (1984): Sprache und Interpretation. Semantik und Syntax reflexiver Strukturen im Französischen, Tübingen: Narr. Mannheim, Karl ( 2 1929): Ideologie und Utopie, Bonn: Cohen. Mattos e Silva, Rosa Virginia (1994): „Para uma caracterizaç-o do período arcaico do português“, in: Revista de Documentaç-o de Estudos em Lingüistica Teórica e Aplicada 10, 247-276. Schlieben-Lange, Brigitte (1985): „Wie kann man eine Geschichte der (Minderheiten-) Sprachen schreiben? Überlegungen zu Décadence und Renaissance des Okzitanischen und des Katalanischen“, in: Gumbrecht, Hans Ulrich/ Link-Heer, Ursula (Hrsg.), Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie, Frankfurt/ Main: Suhrkamp, 324-340. Schlieben-Lange, Brigitte (1989): „Überlegungen zur Sprachwissenschaftsgeschichtsschreibung“, in: Schlieben-Lange u. a. (Hrsg.), Bd. 1, 11-23. Schlieben-Lange, Brigitte (1990): „Mongin, Idéologue de la Meurthe“, in: Niederehe, Hans-Josef/ Koerner, Konrad (Hrsg.), History and Historiography of Linguistics. Papers from the Fourth International Conference on the History of the Language Sciences (ICHoLS), Trier, 24 -28 August 1987, Bd. 2, Amsterdam/ Philadelphia: Benjamins, 541-557. Schlieben-Lange, Brigitte u. a. (Hrsg.) (1989-1994): Europäische Sprachwissenschaft um 1800. Methodologische und historiographische Beiträge zum Umkreis der „idéologie“, 4 Bde., Münster: Nodus. Wunderli, Peter (Hrsg.) (1982): Du mot au texte. Actes du III e Colloque International sur le Moyen Français, Tübingen: Narr. <?page no="209"?> Über die Notwendigkeit des Diskurs-Begriffs in der Sprachwissenschaftsgeschichte* 1. Der Paradigma-Begriff ist, wenn auch inflationär gebraucht (‚das kognitive Paradigma‘, ‚das Labovsche Paradigma‘, ‚das minimalistische Paradigma‘), für die Sprachwissenschaftsgeschichte problematisch. Das liegt einmal daran, daß er ungenau ist, zum anderen und vor allem aber daran, daß er Exklusivität impliziert: ein Paradigma löst das jeweils vorhergehende vollständig ab. Dadurch ist die Bearbeitung von Gleichzeitigkeiten und Ungleichzeitigkeiten, die doch in der Geschichte aller Kulturgegenstände so wichtig sind, ausgeschlossen. Wenn ich nun für die Arbeit mit dem Diskurs- Begriff plädiere, so tue ich dies in vollem Bewußtsein, daß er - in anderer Hinsicht - nicht minder problematisch ist als der Paradigma-Begriff. So ist er mindestens ebenso vieldeutig: Dominique Maingueneau weist in seinem einführenden Werk L’analyse du discours (1991) sieben verschiedene Verwendungsweisen nach, wobei er die im deutschen wissenschaftlichen Umfeld entstandenen (z. B. Habermas’ Gegenüberstellung von Diskurs und kommunikativem Handeln) noch nicht einmal berücksichtigt: Il faut reconnaître que le terme discours est lui-même susceptible d’une multitude d’emplois. En particulier: - discours 1: équivalent de la „parole“ saussurienne, toute occurrence d’énoncé; - discours 2: unité de dimension supérieure à la phrase, énoncé appréhendé globalement; c’est l’objet que se donne la „grammaire de texte“, qui étudie la cohérence des énoncés; - discours 3: dans le cadre des théories de l’énonciation ou de la pragmatique on appelle „discours“ l’énoncé considéré dans sa dimension interactive, son pouvoir d’action sur autrui, son inscription dans une situation d’énonciation (un sujet énonciateur, un allocutaire, un moment, un lieu déterminés); - discours 4: par une spécialisation du sens 3, „discours“ désigne la conversation, considérée comme le type fondamental d’énonciation. - discours 5: on oppose parfois langue et discours, comme un système virtuel de valeurs peu spécifiées, à une diversification superficielle liée à la variété des * Zuerst erschienen 1996 in: Brekle, Herbert Ernst/ Dobnig-Jülch, Edeltraut/ Weiß, Helmut (Hrsg.), A Science in the Making. The Regensburg Symposia on European Linguistic Historiography, Münster: Nodus, 233-241. <?page no="210"?> 190 Über die Notwendigkeit des Diskurs-Begriffs usages qui sont faits des unités linguistiques. On distingue ainsi l’étude d’un élément „en langue“ et son étude „en discours“; - discours 6: on utilise souvent „discours“ pour désigner un système de contraintes qui régissent la production d’un ensemble illimité d’énoncés à partir d’une certaine position sociale ou idéologique. Ainsi, lorsqu’on parle du „discours féministe“ ou du „discours de l’administration“ on ne réfère pas à un corpus particulier mais à un certain type d’énonciation, celui que sont censés tenir de manière générale les féministes ou l’administration; - discours 7: traditionnellement l’AD définit son objet en distinguant l’énoncé et le discours: L’énoncé, c’est la suite des phrases émises entre deux blancs sémantiques, deux arrêts de la communication; le discours, c’est l’énoncé considéré du point de vue du mécanisme discursif qui le conditionne. Ainsi un regard jeté sur un texte du point de vue de sa structuration „en langue“ en fait un énoncé; une étude linguistique des conditions de production de ce texte en fera un „discours“. (Maingueneau 1991, 15) Es wäre also gut, wenn man den Diskurs-Begriff umgehen könnte. Man braucht ihn (oder einen vergleichbaren Begriff) aber doch, wozu, soll im folgenden erläutert werden. 2. Die meines Erachtens in der Sprachwissenschaftsgeschichte unverzichtbare Leistung des Diskurs-Begriffs (oder eines vergleichbaren) ist, daß damit Ensembles von Fragestellungen und Argumentationen in ihren rekurrenten sprachlichen Ausprägungen, die zu einer bestimmten Zeit im Horizont der Zeitgenossen befindlich und erwartbar sind, erfaßt und identifiziert werden. Das impliziert auch, daß Diskurse keine Konstrukte ex post, sondern in der Geschichte identifizierte und wirksame Systeme sind. Mit dieser spezifischen Passung des Diskurs-Begriffs haben wir bereits eine bestimmte Festlegung getroffen, die so z. B. nicht in der gesamten Diskursanalyse gemacht wird. Unser Verständnis entspricht der von D. Maingueneau unter 6) aufgeführten Verwendungsweise. Ausgangspunkt für das soeben formulierte Verständnis von Diskurs ist, wie leicht erkennbar ist, Foucaults frühe Auffassung vom Diskurs, so wie sie in Les mots et les choses (1967) (das für die Sprachwissenschaftsgeschichte eine ganz besondere Bedeutung hat) und in L’ordre du discours (1975) entwickelt wurde. Die französische Diskursanalyse legt dagegen gerade häufig Wert auf die énonciation, die émergence eines einzelnen Textes in einer bestimmten Situation. Andererseits ist ihr aber auch die Rekurrenz, die Regelhaftigkeit wichtig. Anders gesagt: die Diskursanalyse unterscheidet nicht systematisch zwischen dem Ensemble von Rekurrenzen und Regeln einerseits und der Produktion eines Einzel‚diskurses‘ in einer bestimmten Situation. Die hängt mit einer bestimmten Auffassung des Einzel‚diskurses‘ als vom Subjekt unabhängig, ihm äußerlich ab: Diese Auffassung formulieren J. J. Courtine und M. Marandin folgendermaßen: <?page no="211"?> Über die Notwendigkeit des Diskurs-Begriffs 191 Les discours se répètent, ou mieux, les répétitions font le discours. (Courtine/ Marandin 1981, 28) Trotz dieser aus prinzipiellen Gründen vorgenommenen Gleichsetzung von Einzel‚diskurs‘ und System von Regelhaftigkeiten stellt sich für die Diskursanalyse immer wieder das Problem der Unterscheidung. Ein Verfahren besteht z. B. darin, das in einem Einzel‚diskurs‘ Vorausgesetzte, bereits Bekannte zu identifizieren; dazu dienen Begriffe wie déjà-dit, préconçu. Damit ist aber noch nicht die Regelhaftigkeit des dem Einzel‚diskurs‘ Vorausgehenden erfaßt. Soll dies geschehen, so werden Begriffe wie Diskursstrategien oder Diskursformation eingeführt. Silvana Serrani spricht in einer neuen Arbeit von esquemas interdiscursivos da repetibilidade (interdiskursive wiederholbare Schemas) (1993). Unzweifelhaft ist, daß gute Diskursanalysen gerade das Zusammenspiel von Wiederholung und Neuerung sichtbar machen: „L’analyse […] met avant tout l’accent sur le nouveau dans la répétition“, so schreiben Jacques Guilhaumou und Denise Maldidier in ihrem Aufsatz Effets de l’archive (1994), der als Musterbeispiel für eine gelungene Diskursanalyse gelesen werden kann. Allerdings fehlt eben meist, aus den erwähnten prinzipiellen Gründen, eine explizite Unterscheidung zwischen dem Ensemble von Rekurrenzen einerseits und der Anwendung (und Überschreitung) des Ensembles im Einzel‚diskurs‘ andererseits. Im folgenden soll Diskurs immer für das Ensemble verwendet werden (wobei es mir nicht um terminologische Festlegungen, sondern um die Unterscheidung von für die Sprachwissenschaftsgeschichte relevanten Perspektiven geht). 3. Im Zentrum des Diskurs-Begriffs, so wie ich ihn hier vertrete, stehen also die sprachlichen/ textförmigen Rekurrenzen in Äußerungen zur Sprache (und darüber hinaus zu anderen Gegenständen). Soziale und kulturelle Bedingungen der Sprachwissenschaft (des Sprachdenkens) (in der Terminologie von Sylvain Auroux (1986): die composante pratique) sowie institutionelle Bedingungen (composante sociale) sind insoweit mit aufgehoben, als sie auf die Texte durchschlagen. Wenn z. B. im Diskurs der Idéologues häufig von der séduction des voix et des images die Rede ist und damit die Überlegenheit der Schrift und der Kampf gegen die Rhetorik begründet werden, so geht in diese Formulierung die Erfahrung der Revolutionsrhetorik ein. Dialogische Formen sind Reminiszenzen an die Sozialform der Salons; der dem ‚ideologischen‘ Diskurs eigene pädagogische Gestus ist ein Niederschlag der Einbindung der Idéologues in die Neuordnung des Unterrichtswesens nach Thermidor. Vor allem aber enthält der Diskurs Rekurrenzen hinsichtlich Themen, Fragestellungen, Präsentation von Daten und Resultaten, Argumentationsverfahren und Metaphern (composante interne). Er umschließt also auch das ‚Forschungsprogramm‘ (ein Begriff, der in der Wissenschaftstheorie einge- <?page no="212"?> 192 Über die Notwendigkeit des Diskurs-Begriffs führt worden ist, um die Probleme des ‚Paradigma‘-Begriffs zu vermeiden), wobei allerdings besonderer Wert auf die rekurrente sprachliche Gestaltung gelegt wird, der gegenüber sich das Konzept des ‚Forschungsprogramms‘ neutral verhält. 4. Der Begriff des Diskurses, so wie ich ihn verstehe, ist ein Begriff, der die horizontale Achse, die Synchronie, betrifft: ein Ensemble von Rekurrenzen, das von den Zeitgenossen als zusammengehörig und systematisch aufeinander bezogen interpretiert wird. Freilich darf man hier keine klaren Abgrenzungen erwarten, und die von Foucault in L’ordre du discours behandelte Schwierigkeit, Diskurse abzugrenzen, entspricht den Konstitutionsbedingungen des Diskurses als Produkt der systematisierenden Wahrnehmung der Wirklichkeit durch die Zeitgenossen unter unterschiedlichen Perspektiven. Die Bestimmung als Ensemble von Rekurrenzen, das als zusammengehörig interpretiert wird, macht einen quantitativen und einen interpretativen Zugang möglich. Einerseits können Diskurse über die Frequenz der Rekurrenzen abgegrenzt werden, wie wir es teilweise in unserem Ideologen-Projekt versucht haben. Bei diesem Verfahren ergibt sich das Bild eines Kontinuums mit Kernen von hoher Frequenz, die als diskursverdächtig gelten können. Andererseits entspricht den hohen Frequenzen auch eine einheitliche ‚Gestalt‘-Wahrnehmung durch die Zeitgenossen, die oft (immer? ) durch einen klassifikatorischen Zugriff abgesichert wird. Hier können sich freilich Verschiebungen zwischen Frequenzen einerseits und Interpretation andererseits ergeben, und jede Generation muß aufgrund ihrer spezifischen Erfahrungen hier neue Interpretationen und Zuordnungen vornehmen. Das zuletzt Gesagte bestärkt die vorher vorgenommene Zuordnung zur Achse der Synchronie (‚Ko-Präsenz‘). 5. Die Intuition des Sprachwissenschaftshistorikers über das Vorliegen von Diskursen kann also einerseits durch Frequenzen und andererseits durch (Selbst- und Fremd-)Zuschreibungen in Form von Klassifikatoren überprüft werden. Der Diskurs-Begriff gewinnt aber seine Leistungsfähigkeit erst aus seiner Kontrastierung mit anderen Begriffen und aus der komplementären Bearbeitung der mit den verschiedenen Begriffen verbundenen Perspektiven. Besonders wichtig erscheint mir das Zusammenspiel mit zwei Begriffen (und der damit verbundenen Perspektivierung): ‚Serie‘ und ‚Text‘. Der Diskurs ist unserem Verständnis nach ein in der Synchronie funktionierendes Ensemble: er erfaßt die Gleichförmigkeiten in einem bestimmten Zeitraum. Demgegenüber rekonstruiert der serielle Zugriff Traditionslinien in der longue durée. In diesem Punkt weiche ich von Foucault ab, der in L’ordre du discours die Serie als Erscheinungsweise des Diskurses bezeichnet. Die Zielvorstellung bei der Einführung des seriellen Verfahrens in der <?page no="213"?> Über die Notwendigkeit des Diskurs-Begriffs 193 Geschichtswissenschaft (zuerst für ökonomische und demographische Daten, dann auch für Mentalitäten) war ja gerade, langfristige Entwicklungen, solche der longue durée sichtbar zu machen, die einem auf die moyenne durée oder das évènementiel fixierten Blick entgehen. Die Sprachwissenschaftsgeschichte ist voll von solchen langlebigen Traditionslinien, die als Serien der longue durée erfaßt werden können: es wäre hier etwa an die Tradition des arbitraire du signe zu denken, die E. Coseriu (1967) rekonstruiert hat, an die Tradition des Zusammenhangs von Sprache und Weltbild, die H. H. Christmann (1967) aufgezeigt hat, an die Langlebigkeit des usage-Begriffs (J. Albrecht), an die zweitausendjährige Tradition der Auflistung und Definition von Wortarten, die zur Zeit in Paris unter Leitung von Auroux systematisch erfaßt werden, an die Bewertung von Texten in der rhetorischen Tradition in Termen von perspicuitas, energeia, abundantia und harmonia, die dann zur Bewertung von Sprache verwendet wird (Schlieben-Lange 1992). Die Sprachwissenschaftsgeschichtsschreibung müßte gerade das Zusammenspiel von Traditionen (die in Form von Serien erfaßt werden können) und Diskursen erforschen. Brüche in Serien können in dieser Perspektive gerade als Erscheinungsform des diskursiven Zugriffs gelesen werden: die Serien verändern sich, wenn sie in den Sog der Diskurse als je neuer Systematisierungen des sprachlich formulierten Wissens (z. B. über Sprache) geraten. Der zweite wichtige komplementäre Begriff zu dem des Diskurses ist der des Texts. Der Autor verfaßt jeweils Einzeltexte, die einerseits den Diskursen angehören, sie aber auch überschreiten. Mit diesem Gegensatzpaar soll die auch allen guten Diskursanalysen zugrundeliegende Intuition konzeptualisiert werden, daß die je einzelnen ‚Diskurse‘/ Texte Exemplare von Diskursen sind und so die Diskurse erst konstituieren, andererseits sie aber auch überschreiten und in the long run zerstören. Aus dem soeben Gesagten geht hervor, daß meines Erachtens bestimmte Implikationen des Diskurs-Begriffs, wie ihn der französische Strukturalismus und Neo-Strukturalismus verwenden, nicht übernommen werden müssen: die Diskurse vernichten die Subjekte nicht, sondern stellen ihnen (analog zum Funktionieren der Sprachen) das Übliche und Erwartbare in interpretierter Form zur Verfügung, das die Subjekte in neuen Texten verändern und überschreiten können. Diese neuen Texte können freilich ihrerseits wieder zur Grundlage der Systematisierung neuer Diskurse werden. So teile ich Manfred Franks emphatische Verwendung des Text-Begriffs als Korrektiv der ‚neostrukturalistischen‘ Fassung des Diskurs-Begriffs, des Texts (und damit auch der Hermeneutik) als Manifestation des vom ‚Neostrukturalismus‘ totgesagten Subjekts. Dies schließt aber nicht aus. daß Texte wiederum die Grundlage von diskursiven Systematisierungen werden. Ich habe es eben bereits betont: mir kommt es nicht so sehr auf einzelne Termini an, sondern auf inhaltliche Unterscheidungen. Der Text-Begriff scheint mir als korrektiver und komplementärer Gegenbegriff zum Diskurs gut geeignet zu sein. <?page no="214"?> 194 Über die Notwendigkeit des Diskurs-Begriffs Freilich muß bedacht werden, daß K. Ehlich in letzter Zeit nachdrücklich mit guten Gründen dafür eingetreten ist, den Text-Begriff für schriftlich ausformulierte und festgelegte Texte zu reservieren. Dies würde im Zusammenhang der Wissenschaftsgeschichte kein Problem darstellen, müßte jedoch bei einer weitergehenden Verwendung des Diskurs-Begriffs (‚rassistischer Diskurs‘, ‚feministischer Diskurs‘) mitbedacht werden. Eine weitere Achse der sprachwissenschaftshistorischen Betrachtung, die freilich nicht das gleiche Gewicht wie die beiden vorhergehenden hat, könnte durch die Einführung der Biographie entstehen. Ein Subjekt verfaßt im Laufe seiner Biographie eine Reihe von Einzeltexten. Es hat teil an mehreren Diskursen und leistet Beiträge zu mehreren Serien. Es unterliegt den Zwängen von Diskurs und Serie, die er jeweils durch neue Texte anreichert und überschreitet, wobei ihm gleichzeitig aufgegeben ist, auch die Konsistenz innerhalb der Biographie aufrechtzuerhalten und zu gestalten. 6. Aus mehreren Gründen scheint mir der Diskurs-Begriff (oder ein anderer, der das leistet, worum es mir hier geht) unverzichtbar zu sein. 6.1. Er trägt wichtigen Intuitionen über das Fortschreiten von (Sprach-) Wissenschaftsgeschichte Rechnung, und zwar in mehrerlei Hinsicht: einerseits nimmt man Perioden großer Gleichförmigkeit wahr; andererseits stellt man die Gleichzeitigkeit mehrerer konkurrierender ‚Richtungen‘ fest, und schließlich muß man mit Verschiebungen und Ungleichzeitigkeiten rechnen, wenn man räumliche oder institutionelle Grenzen überschreitet. Ein flexibel eingesetztes Diskurs-Konzept ist m. E. am besten dazu geeignet, diese Intuitionen bearbeitbar zu machen. 6.2. Die Leistung eines bestimmten Texts kann nur auf dem Hintergrund des zeitgenössischen Diskurses, also des Üblichen und Erwartbaren, des bereits Formulierten, angemessen verstanden und bewertet werden. Eine Sprachwissenschaftsgeschichte, die sich nur mit ‚Höhenkamm‘-Texten beschäftigt, muß zu gravierenden Fehleinschätzungen kommen. 6.3. Der Diskurs-Begriff impliziert eine Orientierung an der sprachlichen Gestaltung und vermeidet Kurzschlüsse, die bei einer reinen Inhaltsanalyse entstehen können. 6.4. Der Diskurs-Begriff bietet eine Möglichkeit, Widersprüche innerhalb ein und desselben Textes oder aber innerhalb einer Debatte zu erschließen. 6.5. Der Verfasser eines Texts setzt bei der Textgestaltung die Kenntnis des Diskurses voraus (vgl. die Rolle des ‚Diskursuniversums‘ als oberstes Umfeld in Coserius Determinación y entorno). Das heißt, daß das im Text explizit Gesagte weniger ist als das durch Kenntnis des Diskurses Ergänzbare. Oder anders gesagt: die Formulierungen, die im Einzeltext verwendet werden, sind Abkürzungen für Hinweise auf im Diskurs verankerte Zusammenhänge. Sie lösen ein diskursiv gespeichertes Wissen aus. Guilhaumou/ Maldidier geben in dem oben erwähnten Artikel ein ausgezeichnetes Beispiel dafür: die <?page no="215"?> Über die Notwendigkeit des Diskurs-Begriffs 195 revolutionäre Formel „du pain et la liberté“ impliziert ein Wissen um die Entwicklung über die Notwendigkeit des Diskurs-Begriffs in der Sprachwissenschaftsgeschichte der revolutionären Forderungen und betont die Gleichzeitigkeit und Vereinbarkeit der beiden Forderungen, also nicht: Brot oder x, Brot um den Preis von x, sondern: Brot und x. Ein Beispiel aus der Sprachwissenschaftsgeschichte: wenn in der sensualistischen Sprachtheorie, auch der der Idéologues, das hohe Lob der Alphabetschrift gesungen wird, so verweist dies auf die Sprachursprungsdebatte, in der die Erfindung der Alphabetschrift durch Menschen in historisch zugänglicher Zeit zu einem starken Argument für die semiotische Selbstkonstruktion des Menschen (gegen den göttlichen Ursprung) wurde. Es fragt sich freilich, wie lange und für welche Gruppen solche Verweise wahrnehmbar bleiben. Hier muß der Begriff des horizon de rétrospection, der von Auroux (1986) in die Sprachwissenschaftsgeschichte eingeführt wurde, weiter ausgearbeitet werden. Die Verweise funktionieren nämlich nur auf dem Hintergrund der Überlieferung des diskursiven Gesamtzusammenhangs. Ist diese unterbrochen, werden sie ornamental. 7. Aus dem bisher Gesagten geht hervor, daß eine diskursorientierte Sprachwissenschaftsgeschichte sich Analyseverfahren zu eigen machen und diese weiter entwickeln kann, die in anderen textorientierten Disziplinen entwickelt worden sind. Das ist natürlich vor allem, trotz der oben skizzierten Kritikpunkte, die Diskursanalyse selbst; weiterhin sind aber auch die Bereiche der Intertextualitätsforschung, der Argumentations- und Präsuppositionsforschung (sofern diese nicht schon in die Diskursanalyse eingeschlossen sind) und der Kollektivsymbolik vielversprechend. 8. Die Notwendigkeit des Diskurs-Begriffs und nicht nur des Begriffs, sondern der theoretischen Bearbeitung des Zusammenhangs von Diskurs, Text und Tradition (erschlossen als Serie) scheint mir intuitiv zwingend zu sein. Freilich ist der Diskurs-Begriff (trotz der vorgenommenen Präzisierungen) schwer zu operationalisieren. Ein bereits angesprochenes Problem (4.) ist das der Identifikation und Abgrenzung von Diskursen: wir haben im Rahmen unseres Ideologen-Projekts versucht, einen Beitrag zu dieser Problematik zu leisten. Diese Identifikationsproblematik hat etwas zu tun mit dem gegenwärtig in der Kognitionswissenschaft diskutierten Problem der Klassifikation (von den Rändern oder vom Zentrum her). In unserem Fall der Wissenschaftsgeschichte spitzt sich die Frage darauf zu, ob nur solche Diskurse bearbeitbar sind, die bereits von den Zeitgenossen als homogen wahrgenommen und womöglich mit einem Klassifikator versehen worden sind. Was führt nun dazu, daß Ensembles von Formulierungen als einheitlich und systematisch wahrgenommen und damit produktiv werden? <?page no="216"?> 196 Über die Notwendigkeit des Diskurs-Begriffs Es handelt sich dabei um mehr als nur ein methodologisches Problem. In der Sprachwissenschaft ist jüngst im Zusammenhang der Anwendung der Principles and Parameters auf die Sprachgeschichte das Problem der ‚Re-Analyse‘ von Daten durch eine neue Generation wieder neu in den Blick gekommen, wobei für die Generativisten freilich die Basis der Re-Analysen in Form einer angeborenen Universalgrammatik feststeht. Für denjenigen, der Diskurse in der Geschichte rekonstruiert, stellt sich das Problem anders: werden möglicherweise nur solche Ensembles als Diskurse wahrgenommen und dadurch auch produktiv, die bestimmte ‚Gestalt‘-Eigenschaften haben? Der diskursive Zugriff muß also, soll er in der Sprachwissenschaftsgeschichtsschreibung nützlich sein und zur Bearbeitung der unter 6. genannten Probleme tatsächlich taugen, nicht nur methodologisch (quantitativ und interpretativ), sondern auch theoretisch weiterentwickelt werden. In dieser letzten Hinsicht scheinen mir die Konzepte des ‚Horizonts‘ (Phänomenologie) und der ‚Gestalt‘ besonders vielversprechend zu sein. Auch eine Wieder-Aufnahme des kunsthistorischen ‚Stil‘-Begriffs scheint mir unter diesen Gesichtspunkten vielversprechend - aus der historischen Entfernung überwiegen nämlich die gemeinsamen ‚Stil‘-Züge, die von den Zeitgenossen wohlgeschieden nach konkurrierenden Diskursen wahrgenommen wurden. Bibliographie Auroux, Sylvain (1986): „Histoire des sciences et entropie des systèmes scientifiques. Les horizons de rétrospection“, in: Archives et Documems de la SHESL 1, 1-26. [ebenso in: Schmitter, Peter (Hrsg.), Zur Theorie und Methode der Geschichtsschreibung der Linguistik, Tübingen: Narr, 1987: 20-43]. Christmann, Hans Helmut (1967): „Beiträge zur Geschichte der These vom Weltbild der Sprache“, in: Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse, 441-469. Coseriu, Eugenio (1967): „L’arbitraire du signe. Zur Spätgeschichte eines aristotelischen Begriffes“, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 204, 81-112. Courtine, Jean-Jacques/ Marandin, Jean-Marie (1981): „Quel objet pour l’analyse du discours? “ In: Conein, Bernard/ Courtine, Jean-Jacques/ Gadet, Françoise Marandin, Jean-Marie (Hrsg.), Matérialités discursives, Lille: Presses Universitaires de Lille, 20-33. Foucault, Michel (1967): Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris: Gallimard. Foucault, Michel (1975): L’ordre du discours. 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Der Torsimany des Lluís d’Averçó Der Torsimany des Lluís d’Averçó ist ein umfangreicher Text, welcher der Tradition der Leys d’Amors zugerechnet wird, also der Tradition jener Kompendien der Sprache und Dichtkunst der Trobadors, die zunächst in Toulouse, dann aber auch in Barcelona diese in der Distanz der Zeit und schließlich auch des Raums verschwindende Kunst präsent halten und lehren sollte. 1 Der Torsimany ist lediglich in einem Manuskript vorhanden, das 1956 von Casas Homs ediert wurde. Die Einleitung von Casas Homs rekonstruiert das Umfeld des Autors, seine Familie und seine Person, die Abfassungszeit (die nicht genau fixiert werden kann, jedoch mutmaßlich um 1370 liegt), die Quellen und auf diesem Hintergrund Finalität und Originalität des Werks. Der Torsimany verdient aufgrund seiner Komplexität auf jeden Fall unsere Beachtung. Es handelt sich um ein Werk, das auf Katalanisch geschrieben ist und die okzitanische Grammatik und Poetik behandelt. Es geht darum, für die homens no sabens ne enteses die gaya sciencia de trobar zugänglich zu machen: enteniment, subtilesa und enginy sollen entwickelt werden. Der Autor begründet ausführlich den Titel seines Werks: die Trobadordichtung bedarf eines Dolmetschers (Torsimany), da sie ohne dessen Hilfe unzugänglich ist: Al prezent libre he jo mes scientment nom TORSIMANY, per tal com aquest nom es posat a hom declarador de languatge no entés, e per tal com en la dita art de trobar en alsguns [! ] pases […] es vista alguna obscuritat de seny […], la qual obscuritat […] pusch jo anomenar lenguatge no entés; e com a lenguatge no entés […] haja obs trocimany per declarar aquelh, aquest prezent libre, lo qual jo fas per declaració de cosas no enteses per obscuritat en aquesta art posadas, pot eser vertederament e apta nomenat TORSIMANY, axí com a declarador d’aquest leguatge no entés … (Prolech, V) Die Sprache charakterisiert er als escriptura prosaicha: er erklärt also in Prosa die Sprache der Dichtung; nicht zufällig taucht hier auch escriptura * Zuerst erschienen 1996 in: Zeitschrift für Katalanistik 9, 7-19. 1 Zum kulturellen Umfeld Massó Torrents 1922. Zur Würdigung des Torsimany unter lexikographischen Gesichtspunkten Colon-Soberanas 1985. <?page no="218"?> 198 Der Torsimany und die scholastische Grammatik auf: die ungebundene Rede muß zum Zweck der Überlieferung der Schrift überantwortet werden. Den Gegensatz Prosa/ Dichtung bringt der Autor in einen engen Zusammenhang mit der Sprachenwahl: das Katalanische ist die Sprache der Prosa, das Okzitanische das der gebundenen Rede: Jo no’m servesch en la prezent obra, per duas raons, dels lenguatges que los trobadors en lurs obras se servexen; la pnmera es com prosaichament lo present libre jo pos, e en lo posar prosaich no ha necesitat a servir-se dels lenguatges ja ditz, per tal com no son diputatz de servir sinó en obras compassadas; l’altra rahó es que si jo.m servia d’altre lenguatge sinó del catalá, que es raon lenguatge propri, he dupte que no.m fos notat a ultracuydament, car pus jo son catalá, no.m dech servir d’altre lenguatge sinó del meu. (Prolech, VI) Interessant ist außerdem, daß das Okzitanische, das in der Form von grammatica beschrieben wird, dadurch in die Nähe des Lateinischen gerät, das ja im Mittelalter häufig einfach mit grammatica gleichgesetzt wurde: beide sind Sprachen, die nicht natura, sondern arte gelernt werden (vgl. Dantes De vulgari eloquentia): So ergibt sich im Prolog des Torsimany ein interessantes Geflecht von Beziehungen zwischen den beteiligten Sprachen: es gibt einerseits die Zuordnung zu verschiedenen Diskurstypen (prosaich vs. compassat), damit verbunden zu Schriftlichkeit und Mündlichkeit, andererseits die Anspielung auf den natura/ ars-Gegensatz. 1. Die okzitanischen Grammatiker und ihre Vorbilder Doch nicht um diese Aspekte des Werks soll es im folgenden gehen, sondern um eine andere Frage, nämlich die, welche Kenntnis die okzitanischen und katalanischen Grammatiker von der universitären, scholastischen Sprachtheorie hatten. Eine naheliegende Vermutung ist ja, daß die universitäre Sprachtheorie und die Sprachbeschreibung, die im Rahmen der Vermittlung der Trobadorlyrik betrieben wird, wenig Berührungspunkte haben. Erstere wäre an universellen Eigenschaften von Sprache interessiert und nicht an deren partikulären Ausprägungen; 2 letzterer ginge es um die Vermittlung einer einfachen Sprachbeschreibung im Zusammenhang mit der wichtigeren Poetik, einer Sprachbeschreibung, die sich allenfalls an schulgrammatischen Modellen (Donat) orientiert. Diese einfache dichotomisierende Unterscheidung zwischen zwei Grammatikmodellen, zwischen denen keine Durchlässigkeit besteht, versagt jedoch bei den Leys d’Amors und ihren Folgetexten. 2 Vgl. Bossong 1990. Eine intensive Auseinandersetzung zu dieser Frage hat in Italien stattgefunden: Corti 1981, Lo Piparo 1986 (zur Kenntnis modistischer Autoren bei Dante). Zu den Überlegungen der scholastischen Grammatiker zu den Einzelsprachen vgl. Fredeborg 1980. <?page no="219"?> Die okzitanischen Grammatiker und ihre Vorbilder 199 In einigen neueren Arbeiten ist deutlich geworden, daß Guilhem Molinier die universitäre Grammatik gekannt haben muß. Wenn man der Frage genauer nachgeht, welche universitären Autoren Guilhem Moliniers Gewährsleute sein könnten, muß man sich davor hüten, solche Formulierungen einzelnen Autoren zuweisen zu wollen, die Allgemeingut der Tradition sind, also vor allem der Grammatik-Tradition in der Nachfolge von Priscian, der Logik- Tradition in der Nachfolge von Aristoteles und vor allem vermittelt durch die Kommentare des Boethius, und schließlich der semiotischen Tradition, die von Augustinus im zweiten Buch von De doctrina christiana begründet wurde. Gérard Gonfroy warnt eindringlich vor einem solchen Verfahren: […] ces définitions sont reproduites et glosées dans l’ensemble de la tradition grammaticale médio-latine; ainsi les rédacteurs des Leys ont très bien pu en avoir connaissance grâce à Isidor de Séville où à des commentateurs médiévaux de Priscien comme Pierre Hélie, Vincent de Beauvais ou Jean de Gênes. C’est pourquoi nous pensons que, hormis les cas de parallèles textuels portant sur un ensemble et non sur des généralités, ces attributions n’ont pas une valeur absolue, d’autant plus que les Leys relèvent d’une tradition savante et que leurs auteurs maîtrisent parfaitement la terminologie et les méthodes de la grammaire la plus novatrice de leur époque. (Gonfroy 22 s.) Ähnlich wie Gérard Gonfroy weist Irène Rosier auf die Gesamtheit der universitären Tradition und die Kontinuität in den Priscian-Kommentaren (z. B. bei Petrus Hélias) hin. Sie geht aber auch darüber hinaus, indem sie das Augenmerk darauf lenkt, daß die Leys d’Amors sich an einer Art von Grammatik orientieren, die die Funktion in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen stellt. Hier erwähnt sie die Behandlung der Kasus: 3 L’argument invoque dans le traitement du cas, que la Variation n’a pas nécessairement de marque formelle - n’est donc pas nécessairement voce - fait donc partie d’un système explicatif d’ensemble, dont on a su mesurer toutes les conséquences, et n’est donc pas un simple argument ad hoc destiné a justifier les discrépances du latin et français [! ] (Dahan/ Rosier/ Valente 1995, 299) Sie weist darüber hinaus auf einige terminologische Parallelen hin, die auf den modistischen Kontext verweisen, wobei es sich jedoch in den meisten Fällen um solche Termini handelt, die Gemeingut der Grammatiker auch vor den Modisten waren: z. B. die Unterscheidung von „première et seconde imposition“ (297; auf diese weist auch Canettieri 1995 unter Bezugnahme auf die Begrifflichkeit in der Logik hin), überhaupt die Rede von den „modes de signifier“ (manieras de significar, 298), die determenada. apprehensio 3 Die mittelalterlichen okzitanischen Grammatiken sind in den letzten Jahren mehrfach behandelt worden: Law 1986, Swiggers 1988 und 1991, Schlieben-Lange 1991, Dahan/ Rosier/ Valente 1995. Besonders Law und Rosier weisen nachdrücklich auf die Behandlung der Kasus hin. <?page no="220"?> 200 Der Torsimany und die scholastische Grammatik bei der Unterscheidung von Nomen und Pronomen (298; hier mit ausdrücklichem Hinweis auf die Modisten). Aufgrund der Hinweise von Gonfroy, Law, Rosier und Canettieri verdichtet sich die Annahme, daß eine direkte Beziehung zwischen der tolosanischen Grammatikschreibung und universitären Vorbildern bestanden hat. Allerdings betonen die angeführten Autoren, daß es sich bei den festgestellten Ähnlichkeiten um solche handelt, die die gesamte grammatische und logische Tradition des 12. und 13. Jahrhunderts betreffen. Bei dem Versuch, die möglichen Modelle für die Leys d’Amors noch weiter einzuengen, kommen also nur solche Termini oder Theorieelemente in Frage, die in der spätantik-mittelalterlichen Tradition nicht allgemein verbreitet sind, sondern gerade nur in der Leys d’Amors-Gruppe und einer weiteren, näher zu identifizierenden Gruppe von Texten vorkommen. 2. Die Behandlung von Kasus in den Leys d’Amors Die Grammatik der Leys d’Amors unterscheidet sich in mehrerlei Hinsicht auffällig von den anderen okzitanischen Grammatiken. Das beginnt schon mit der bildlichen Einführung einer Konzeption vom Satz, in der dem Verb eindeutig die zentrale Stellung eingeräumt wird: die Herrschafts- Metaphorik ist eine Verbildlichung der im Begriff der Rektion angelegten semantischen Potentiale: Enayssi cum la us en aquest mon es regitz e governatz per l’autre, ayssi meteysh fan aquestas partz d’oratio; quar le noms e.l participis a maniera de savi home volon regir e governar et esser regit e governat; le verbs, a maniera d’emperador o de gran rey, vol regir e no vol esser regitz; le pronoms, a maniera d’ome fat o d’efan, no sab ni pot regir, ans cove que sia regitz e governatz; la prepozitios, a maniera d’escudier o d’ome gentil, azaut e cortes, vol tostemps servir; le adverbis, la conjunctios e la interjectios, a maniera d’ome fol, no riejo ni volon esser regidas ni governadas. (Anglade 1919, III, 9) Besonders interessant ist, wie schon oben angedeutet, die Behandlung der Kasus bei den Leys d’Amors. Und hier ist besonders auffällig die Verwendung des Terminus (h)abitut im Zusammenhang mit den Kasus. Schon Heinimann hatte im Zusammenhang mit der Behandlung des Artikels in den Leys d’Amors auf diesen Terminus und seine mögliche modistische Herkunft hingewiesen (vgl. Heinimann 1965). Aus zwei Gründen lohnt es sich, diese Fährte noch einmal aufzunehmen: die modistischen Quellen sind heute viel besser bekannt als zur Abfassungszeit von Heinimanns Artikel (er verweist auf Michel de Marbais), zum anderen scheint mir die vollständige Identifikation von abitut und Artikel (wie sie auch Gonfroy für die Leys d’Amors und Casas Homs für den Torsimany annimmt) problematisch zu sein. Sehen wir uns zunächst die entsprechenden Stellen in den Leys d’Amors genauer an: <?page no="221"?> Die Behandlung von Kasus in den Leys d’Amors 201 Cas es variamens de dictios cazuals. per habitutz. o per votz. o per la maniera del significar. o en autra maniera pot esser enayssi diffinitz. cas es variamens o mudamens de dictios de nom de pronom o de particip. lequals variamens se fay per habitutz. o per votz. o per la maniera del significar. (Gatien-Arnoult 1842, II, 3: 102 f.) Die Kategorie des Kasus kann also auf drei Arten realisiert werden: durch habitut, votz oder durch die maniera del significar. Bei votz geht es um die lautliche Markierung von Kasus, wie sie im Altfranzösischen und Altokzitanischen in der Zweikasusflexion in Resten erhalten war und wie sie etwa der Autor selbst mit der s-Markierung des Nominativs des Maskulin Singular abundant gebraucht; bei der maniera del significar geht es um eine semantische Modifikation, der keine lautliche Markierung entspricht. Was aber hat man sich unter habitut vorzustellen? Der Kopist der Handschrift C bemüht sich um Eindeutigkeit: Cas es variamens de dictios cazuals per habitutz, coma: le, del, al, et enayssi de las autras, sian masculinas o femininas, o per votz, coma le doctors, li doctor, o per la maniera del significar coma fals, pers, bres, cas, dona, Iona, Garona, porta, gleyza, bela, clara, e lor semblan ses habitut. (Anglade 1919, III, 51) Hier wird also eine Identifikation der rätselhaften habitutz mit Artikel (+ Präposition) vorgenommen. Guilhem Molinier charakterisiert sehr nachdrücklich das Okzitanische als eine Sprache, die im Grunde keine Deklination mehr hat: Segon Romans nos no havem declinatio en lo nom […]. (Gatien-Arnoult 1842, II, 3, 110) Insbesondere fehlen die Markierungen für Genitiv und Dativ. Bei den Kasusmarkierungen über votz handle es sich um isolierte Erscheinungen, die schwer zu systematisieren seien und für deren Einübung der Grammatiker auf die Lektüre der alten Texte („legir o far legir los bos dictatz dels antics e dels aproatz trobadors“) verweist. Charakteristisch ist aber andererseits die Verwendung der habitutz: Donx cove que vejam ayssi de las habitutz pusque autra declinatio no havem. segon ques dig dessus. (Gatien-Arnoult 1842, II, 3, 112) Auf die Nähe zu den Präpositionen weist Guilhem Molinier ausdrücklich hin: Pero en Romans noy fam gran diversitat sian pauzadas per habitutz cazuals. o per prepositios. (Gatien-Arnoult 1842, II, 3: 118) Die Funktion der habitut erläutert Guilhem Molinier in der Manier des mittelalterlichen Etymologisierens, das nicht dem Aufweis eines historischen Ursprungs dient, sondern der Freilegung von Sinnpotentialen (vgl. oben zu regir, in der Poetologie zu vers, sirventesc; vgl. Schlieben-Lange 1996) in folgender Weise: <?page no="222"?> 202 Der Torsimany und die scholastische Grammatik E vol dire habitutz. aytant coma habit. quar habitz es senhals que dona conoysshensa dom. e de femna. Quar si hom e femna portavo. i. meteysh habit. o tug li religios. ja hom no conoyssheria leumen quals es homs. ni quals es femna. ni poyria saber de qual orde ni de qual religio es aquest. ni aquel. perque a labit so es a la diversitat et a la proprietat del abit. hom pren conoysshensa dome e de femna. e de lor estamen. (Gatien-Arnoult 1842, II, 3, 112 f.) Die anderen Ausgaben der Leys d’Amors stimmen im wesentlichen mit dem hier Entwickelten überein. Wir können also feststellen, daß zwar einerseits eine Identifikation mit dem Artikel erfolgt, aber andererseits doch nur insofern er (gemeinsam mit Präpositionen) zur Markierung von Kasusverhältnissen verwendet wird. 3. Habitudo bei den Modisten Diesem Gebrauch liegt eindeutig die modistische Grammatik zugrunde, in der der Begriff der habitudo (= Verhältnis) besonders häufig im Zusammenhang der Kasusrelationen verwendet wird. Ich habe kürzlich gezeigt, daß der Gebrauch von habitudo auch in den modistischen Grammatiken nicht eindeutig und einheitlich ist (vgl. Schlieben-Lange 1996b). Ich möchte diese Argumentation hier nicht im einzelnen wiederholen. Sicher scheint mir zu sein, daß der Terminus aus der Logik übernommen worden ist: (Questio 19) […] utrum eaedem in re sint proprietates, a quibus dialecticus accipit habitudines locales et grammaticus modos significandi (Boethius de Dacia, 69) Die Modisten haben dann auf mehrfache Weise versucht, ihn für die Grammatik fruchtbar zu machen, unter anderem eben bei der Behandlung der Kasusrelationen: Et ad distinctionem casuum addebant voces quasdam ad denominandum determinatas habitudines casuales, quemadmodum adhuc Gallici faciunt, et illas additiones vocales vocaverunt articulum, propter quod Priscianus dixit in minori volumine, quod articulus est secundum notitiam suppositorum demonstrans, id est modorum significandi. Sed nos Latini ut plerumque habemus nomina distincta distinctas habitudines casuales importantia, propter quod non indigemus articulo […] (Johannes de Dacia, 55 f.) Diese Stelle ist in mehrerlei Hinsicht bemerkenswert. Wie bei Guilhem Molinier geht es um die Kategorie des Kasus (leider bricht Johannes de Dacias Summa, Gramatica vor der eigentlichen Behandlung der Kasus ab); dort wie hier geht es um die Verschiedenheit der Sprachen, dort wie hier um die Übernahme der Funktionen der Flexion durch den Artikel. Und Johannes de Dacia selbst weist auf die Parallele zum Französischen/ Okzitanischen hin, wenn er sagt: „quemadmodum adhuc Gallici faciunt.“ Der Unterschied <?page no="223"?> Abitut im Torsimany 203 ist lediglich der, daß es bei Johannes de Dacia keine Identifikation zwischen habitudines und Artikeln gibt: die Artikel dienen dazu, habitudines casuales zu benennen. Sie werden eingesetzt ad denominandum determinatas habitudines casuales. Gegenüber der monosemierenden Verwendung in den Leys d’Amors gibt es hier also einen terminologischen Überschuß, der verschieden ausgedeutet werden kann. 4. Abitut im Torsimany Die Frage, die sich nun stellt, ist die, wie selbständig der Torsimany mit seinen tolosanischen Vorlagen umgeht. Casas Homs verweist in seiner Einleitung auf Robert Kilwardby und Petrus Helias als mögliche Quellen des Torsimany. Andererseits wird aber seine Treue zu den tolosanischen Vorlagen betont. Da Lluís d’Averçó den Terminus abitut ebenso wie die Leys d’Amors verwendet, und dies wieder im Zusammenhang mit der Beschreibung der Kasus, scheint mir dieser Terminus sehr geeignet zu sein für eine Wiederaufnahme der Frage nach den Quellen des Torsimany. Hält sich der katalanische Autor einfach an seine tolosanische Vorlage und deren Monosemierungsversuch des bei den Modisten schillernden Terminus oder aber kennt er selbst die lateinischen Quellen? Insgesamt scheint mir der Torsimany ein hohes Maß an Originalität aufzuweisen, was Auswahl und Anordnung der Themen angeht. Die Grammatik im zweiten Teil steht ganz im Zeichen der congruitat (233), ganz wie bei den Modisten, nur daß hier die Abgrenzung vor allem gegen die Rhetorik (die es mit dem ornament zu tun hat) erfolgt, und nicht gegen die Logik wie bei den Modisten. Lluís d’Averçó löst sich von der üblichen Einteilung in Wortarten und organisiert seine Grammatik anhand von fünf Akzidentien: cas, nombre, temps, jendre, persona. 4 Innerhalb des Abschnitts, der den casos gewidmet ist, behandelt er auch andere Themen, die traditionellerweise zu den Nomen besprochen werden: er beginnt mit der impositio nominum und der Behandlung der Eigennamen. Dann kommt er auf die Kasus und ihre Kennzeichnung zu sprechen, wobei er zunächst das Wort senyal verwendet und erst anläßlich des Vokativs erstmals abitut erwähnt, und zwar in Abgrenzung gegen senyal: Al cas vocatiu, con parla de cosa masculina o femenina, va devant aquest senyal o. E aquest o no es abitut, ans es adverbi. (179) 4 Ich beschränke mich hier auf die Frage der Verwendung von abitut. Eine andere interessante Erscheinung im Torsimany ist die ausdrückliche Behandlung der Verbalperiphrasen va jauzens und esta jauzens, auf die es sich lohnte im Zusammenhang einer Wiederaufnahme der Geschichte der Verbalperiphrasen unter grammatikalisierungstheoretischen Gesichtspunkten zurückzukommen. <?page no="224"?> 204 Der Torsimany und die scholastische Grammatik Erst nach der Vorstellung der verschiedenen Kasus wird dann eine allgemeine Bestimmung von abitut versucht: E per general concluzió de tots los senyals demunt ditz […] sapiatz que be alguns d’elhs sien de natura preposicional, o adverbial, o quäl que altra natura vulhes que hajen totz o cascú d’elhs, deuen esser apelhatz abitut, com aquesta dicció abitut, a mon petit viarés, als no vol dir sinó designació de alguna cosa. E com aquesta abitut […] sia designatoria de la dicció casual qui pres de la dita abitut ve, ço es, que demostra e designe aquelha dicció casual propiament de qual cas es, per ço deuen los ditz senyals mils eser nominatz per aquest vocable abitut que no per altre, per tal com, per la dita abitut, las diccions casuals son conegudas vertederament de qual cas […] propiament es lur natura. (181 f.) Es folgen dann wieder die etymologischen Erklärungen wie in den Leys d’Amors. Offensichtlich ist also abitut gegenüber dem allgemeineren Begriff des senyal terminologisch gebraucht. Und hier verwickelt sich der Autor in Widersprüche zwischen einer engen Definition (die der der Leys d’Amors entsprechen würde) als Artikel (oder etwas Artikelähnliches) und einer weiteren als Bezeichnung für Kasusrelationen (die dann auch Präpositionen und Adverbien einschließen würde, sofern sie der Kasusbezeichnung dienen. Diese weitere Definition ist meines Erachtens nur verständlich auf dem Hintergrund der modistischen Tradition, in der die Adaption des logischen habitudo-Begriffs sehr weit gefaßt ist und vielen Schwankungen unterliegt. Die Vermutung, abitut bedeute allgemein designacio, ist bei alleiniger Kenntnis der tolosanischen Quellen, die sich doch sehr stark festlegen auf eine artikelnahe Definition, nicht zu erklären. In den weiteren Ausführungen bleibt der Autor denn auch bei dem weiteren Verständnis, z. B. per lo Rey, ab lo Rey, sens lo Rey, en lo Rey. E axí de las altras abitutz del ablatiu […] (183) und ähnlich: Así clarament podetz veure grans diversificacions de veus, ço es, de abitutz, per tal com aquestas abitutz, per lo Rey, ab lo Rey […] (185) Wir haben also gesehen, daß der Torsimany gegenüber den Leys d’Amors wieder offener mit dem Begriff abitut/ habitudo umgeht, also wohl einen irekten Zugang zu den modistischen und/ oder logischen Quellen hatte. In dieser Hinsicht unterscheidet er sich auch eindeutig von Joan de Castellnou, der sich sowohl in seinem Compendi de la coneixença dels vicis en eis dictats del Gai Saber (84) wie auch im Glosari al Doctrinal de Ramon Cornet (170) ganz eng an den Gebrauch der Leys d’Amors anschließt. In der lateinischen Grammatikographie in Katalonien, der sogenannten grammatica proverbiandi findet sich der Terminus habitudo bis zum Ende des 15. Jahrhunderts, nun in der Bedeutung construccion habitual en lengua romance. Möglicherweise ist diese eindeutige Zuweisung zum ‚Romanischen‘ <?page no="225"?> Bibliographie 205 durch die Spezialisierung auf den Artikel (als einer romanischen, nicht lateinischen, Erscheinung) induziert. Bibliographie Quellen Boethius de Dacia: Modi significandi sive Quaestiones super Priscianum Maiorem, hrsg. von Jan Pinborg u. Henricus Roos, Kopenhagen: Det Danske Sprogog Litteraturselskab, 1969. Joan de Castellnou: Obres en prosa, hrsg. von Josep M. 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Swiggers Pierre (1991): „La méthode grammaticale d’Uc Faidit dans le Donat proensals“, in: Revue des langues romanes 95, 343-350. <?page no="227"?> Préhistoire de la romanistique: la contribution des Méridionaux avant Raynouard * Le sujet dont je vais vous parler a été traité magistralement par Jean Stéfanini, chez qui j’ai fait mes études ici à Aix. Cette Conférence est un acte de souvenir et d’hommage. Il s’agit de montrer à quel degré les études de philologie romane créées par Raynouard (et approfondies dans la suite par Diez) avaient été préparées par d’autres chercheurs méridionaux. Voici les quatre thèses que je vais défendre: 1) La romanistique est une invention méridionale. 2) Elle est issue d’une accumulation de savoir historique, philologique et lexicographique. 3) Ces éléments seront transformés pendant la deuxième moitié du 18 e siècle en un savoir cohérent en raison des nécessités apologétiques. 4) Il en résultera une linguistique comparée qui se sera défaite de la quête des origines. Thèse I: La romanistique est une invention méridionale Dans quel sens? J’entends par romanistique les études comparées des langues et littératures telles qu’elles se sont formées dans les universités allemandes à la suite de la proclamation d’une philologie romantique par August Wilhelm Schlegel (1803/ 1804) et telles qu’elles continuent à être enseignées dans les universités allemandes. Il s’agit d’études comparées (les romanistes étudient deux ou plusieurs langues et littératures romanes) et philologiques (les études de langue et de littérature restent conjointes). Dans les études de langue, les points de vue historique et synchronique restent intégrés. Ce moindre degré de spécialisation distingue nettement la romanistique des autres philologies (germanistique et anglistique). Selon le point de vue, la romanistique peut paraître anachronique ou novatrice. 1 * Zuerst erschienen 1997 in: Lengas. Revue de sociolinguistique 42 (CNRS, Université Paul-Valéry - Montpellier III), 27-43. 1 A mon avis, la romanistique de ce type comprend des virtualités comparatistes d’une haute actualité. Je viens de défendre ce point de vue lors du Congrès, 150 Jahre Erste Germanistenversammlung in Frankfurt am Main, Francfort 1996. [Erschienen als: Schlieben-Lange 1999] <?page no="228"?> 208 Préhistoire de la romanistique Je vais essayer de démontrer que ce type d’étude est né dans le sud de la France. La romanistique allemande (Schlegel, Diez) ne va faire que reprendre et élaborer un savoir déjà organisé dans les conditions spécifiques du Midi de la France aux alentours de 1800. Cette thèse amoindrit nullement les mérites des Italiens (tels que Cittadini, Varchi, Muratori …) et des Français du Nord (tels que Bonamy, Lacurne de Ste-Palaye …) dans la formation des études romanes. Elle ne fait qu’insister sur une constellation méridionale qui a contribué à la formation spécifique des études comparées des langues et littératures romanes. Thèse II: La romanistique est issue d’une accumulation de savoir dans plusieurs domaines. Ce savoir se prêtait à l’élaboration et à la systématisation II y a accumulation de savoir philologique qui, certes, ne sera pas restreint seul au Midi de la France. 2 La recherche des documents historiques et, par la suite, littéraires avait été entamée par les Mauristes pour aboutir aux discussions de 1’Académie des Inscriptions et Belles Lettres et à l’Histoire Littéraire de la France. 3 Si ces études ne se restreignent pas au Midi, la Provence en constitue néanmoins un carrefour et un centre important. Des savants provençaux sont à la recherche des manusrits des troubadours: Nostredame, Peiresc, Haitze, Gallaup de Chasteuil, Thomassin de Mazaugues. Chabaneau et Bauquier ont dressé l’inventaire de ces recherches dans la Revue des Langues Romanes. 4 Ces documents montrent clairement que, pendant la première moitié du 18 e siècle, la Provence constituait le carrefour d’un réseau européen de recherche des manuscrits des troubadours dont les membres étaient des savants tels que Lacurne de Ste-Palaye à Paris, Muratori à Modena et Mayans i Siscar à Valencia. Rappelons-nous l’état des recherches en relisant quelques-unes des lettres publiées par Bauquier. Caumont, 16 novembre 1735 On doit lire des traductions de la Bible en provençal-catalan, qui est à peû préz le langage des Troubadours. M. de Mazaugues en a un ms., j’en possède un autre infol. Il faudroit lire aussi les poésies catalanes d’Auzias March et celles de Jaime Roig; ces deux livres sont rares en France; je les ay fait venir d’Espagne, où l’on a eu quelque peine à les trouver. Ce sont là à peû préz les moyens de parvenir à l’intelligence de notre ancien provençal. Il ne faut pas se flatter de trouver sans épines un champ qui n’a jamais été défriché. On se trouveroit bien payé de son travail par les découvertes curieuses et peut-être utiles qui en résulteroient. (Bauquier 1880, 180s.) 2 Avant tout, il faut penser à l’œuvre de Lacurne de Sainte-Palaye qui, malheureusement, est restée longtemps inédite (v. Gossman 1968). 3 Voir Droixhe 1978, Albrecht 1975/ 1984 et Lüdtke 1984. 4 Bauquier 1880 et Chabaneau 1885. <?page no="229"?> Thèse II 209 La Bastie, 6 octobre 1737 D’ailleurs, l’autheur est dans le faux de penser que l’affinité qu’il y a entre le catalan et le provençal vienne de ce que le provençal est dérivé du catalan et de ce que les comtes de Barcelone, étant devenus souverains de Provence, y portèrent la grammaire et la poésie de leur pays. C’est tout le contraire, et une seule réflexion suffit pour détruire cette idée: c’est que le plus ancien des poëtes catalans dont nous ayons connoissance est à peine contemporain des derniers poëtes provençaux compris sous le nom de Troubadours. Mais, pour montrer les équivoques où chacun est tombé en voulant attribuer à sa nation une certaine primauté d’invention et de génie, il faudroit une longue dissertation que je n’ay pas le temps de faire à présent. (Bauquier 1880, 195) Nous pouvons constater que l’un des points controversés était la thèse émise par Bastero de la priorité linguistique et littéraire du catalan par rapport au provençal. Accumulation d’un savoir historique ensuite. Rappelons-nous les idées de Cazeneuve de Toulouse sur la bipartition linguistique de la France qui, par la suite, seront intégrées dans le Dictionnaire étymologique de Ménage (1694) et qui seront reprises par Raynouard (voir Albrecht 1984). Viennent ensuite Astruc et Dom de Vic et Dom Vaissète. Astruc dans ses Mémoires pour l’histoire naturelle de la Province du Languedoc de 1737, traite des questions linguistiques dans la 3 e partie de son ouvrage (Mémoires de littérature) durant cent pages (v. Annexe). Et finalement accumulation d’un savoir lexicographique. Ces activités ont été étudiées largement par Auguste Brun et par Jean Stéfanini. 5 J’ai dressé l’inventaire des dictionnaires occitans des 16 e , 17 e et 18 e siècles connus jusqu’ici (Schlieben-Lange 1991). Dans notre contexte, il suffit de rappeler que, souvent, ces dictionnaires contiennent des renvois à des langues romanes autres que le français. Regardons par exemple Barrigue de Montvallon (ca. 1750) qui, d’une façon peu systématique, donne les équivalents italiens: Cou Countàr reciter, conter, raconter Countàr faire un compte, compter./ ital. contare/ lat. computare Countinên dabord, sur le champ, incontinent./ lat. continenter Countoir bureau, comptoir,/ du lat. computare Countrádo (etendue de pays) contrée/ ital. contrada/ du lat. tractus Countrastár resister, faire obstacle./ lat. contra stare de countùni de suite, continuellement./ ital. di continuo (f. 63) Cette accumulation de savoir continue dans la 2 e moitié du 18 e siècle, par exemple dans la grande synthèse faite par Achard et dans d’autres grands projets de dictionnaire qui ont eu moins de succès (Bonnet, Rey). 6 Para- 5 Brun 1958, 1959, 1960, Stéfanini 1964, 1969. 6 Brun 1958 et Bertrand 1985. <?page no="230"?> 210 Préhistoire de la romanistique doxalement, elle continue même dans la volonté de détruire les objets du savoir: ne pensons qu’aux Enquêtes de l’Abbé Grégoire 7 et de Coquebert de Montbret. 8 Thèse III: Tout ce stock de savoir est élaboré et systématisé dans une perspective apologétique au cours de la deuxième moitié du 18 e siècle Vers 1750/ 1760, plusieurs changements brusques s’opèrent qui forcent à repenser les identités, entre autres, les identités provinciales. Les changements des mentalités religieuses sont bien connus grâce aux travaux de Michel Vovelle (Vovelle 1978). En même temps, la situation linguistique stable (bilinguisme des élites, monolinguisme du menu peuple) commence à se transformer, transformation qui, par ailleurs, est perceptible dans les préfaces des dictionnaires qui passent d’une finalité pratique (Pellas) à des finalités correctives et apologétiques. 9 A la veille de la Révolution, on essaie même de renforcer les pouvoirs provinciaux, à la suite de cette prise de conscience d’un changement profond. 10 La volonté apologétique du Midi qui se manifeste sous plusieurs formes oppose une perspective égalitaire et horizontale à la perspective de la France du Nord qu’on pourrait qualifier de verticale et d’unitaire. Je m’explique: Dans les discussions de l’Académie des Inscriptions et Belles Lettres, il s’agit de reconstruire les origines (celtes ou latines) du français. 11 Les grands ouvrages de référence partent de l’unité linguistique du royaume. 12 Par contre, dans la perspective méridionale, il s’agit de défendre l’égalité des langues et littératures de la France, voire la priorité littéraire du Midi. Cette position, défendue à l’unisson par les historiens et les philologues du Midi provoque les protestations de ceux du Nord. 13 Je voudrais insister sur le fait que la défense de l’occitan se devait d’adopter une perspective différentielle et égalitaire. A cette fin, on a essayé de réinterpréter plusieurs éléments traditionnels. La distinction entre les langues qui n’ont qu’un seul usage légitime (latin et français) et les langues à dialectes (grec et italien) avait été reprise par Beauzée, dans l’article „Langue“ de l’Encyclopédie. Les savants méridionaux réclament pour l’occitan le statut d’une langue à dialectes, comme l’était le grec. La dichotomie nature/ art est fonctionnalisée dans ce débat, et ceci de manière contradictoire: l’occitan était le domaine de l’art avant le français (la lyrique des trou- 7 Pour l’analyse du contenu: de Certeau et al. 1975. 8 Voir les travaux concernant Coquebert de Montbret, p. e. Keller 1974. 9 Voir Schlieben-Lange 1991 et Kremnitz 1988. Il serait intéressant de relire dans cette perspective les ouvrages d’Auguste Brun et de Pierre Pansier. 10 Voir Fournier 1982 et Furet/ Ozouf 1977. 11 Albrecht 1975 et Lüdtke 1987. 12 C’est par exemple le cas de l’Histoire littéraire de la France. 13 Je pense à Legrand d’Aussey. <?page no="231"?> Thèse III 211 badours) et le français s’était éloigné de la nature pendant le siècle classique, qui l’avait rendue artificielle. Voyons de plus près comment les trois historiens de la Provence des années [17]80 ont argumenté dans ces conditions: 14 Achard répète les vues généralement répandues à son époque: La Langue Provençale fut long-tems celle des Cours de l’Europe. Elle a la gloire d’avoir donné naissance au François, à l’Espagnol, à l’Italien & à plusieurs Langues analogues à celles ci. Cette vérité incontestable semble avoir échappé aux connoissances de plusieurs Auteurs qui font dériver ces idiomes de la Langue Latine; des personnes instruites croient que l’Italien est un Latin corrompu; d’autres s’imaginent que l’Italien a enfanté le Provençal, & que ce dernier est un jargon formé d’un mélange informe du François, de l’Italien & du Turc, &c. La Langue Latine n’est point la Langue mère des idiomes que nous avons cités. Les Articles que l’on emploie dans ces différens idiomes démontrent évidemment qu’il y a eu une Langue intermédiaire qui les leur a transmis; or cette Langue ne peut être que la Provençale qui les tenoit du Grec. (Achard 1785, XI) Nous pourrions rendre ses idées par le schéma suivant: latin grec „langue intermédiaire“ romance = provençal français espagnol italien Bouche, par contre, préfère un modèle de convergence: 15 Il faut nécessairement embrasser l’opinion du plus grand nombre des Savans, qui est, que les Celtes ou Gaulois Provençaux, les Saliens, Bourguignons, Angevins, Poitevins, Normands, Bretons, parloient dans les tems les plus reculés, une langue à eux propre, que les Phocéens, les Romains, les Peuples du Nord, dénaturèrent & anéantirent enfin. (Bouche 1785, XXIV) celte grec latin espagnol français allemand italien provençal 14 Pour une argumentation approfondie Schlieben-Lange 1984. 15 La linguistique comparative du 19 e siècle a diffusé le modèle de divergence. Ce n’est qu’avec les études créoles qu’on ressent la nécessité de repenser ce type de représentation. <?page no="232"?> 212 Préhistoire de la romanistique Papon est ici, selon nous, l’auteur le plus intéressant. Evidemment, il connaît très bien les discussions de l’Académie des Inscriptions et intègre les idées de Bonamy sur la provenance du français (du latin vulgaire) qu’il oppose aux celtomanes (voir Albrecht 1975): Il est donc certain que le latin vulgaire qu’on parloit dans les Gaules a produit le provençal, & ajoutons quelques autres langues, telles que l’italienne, la française, & l’espagnole. Mais les deux dernieres sortirent de ses débris avec plus de mélange, parce que les maures en Espagne, & les francs dans les Gaules, les infecterent de leur jargon. (Papon 1786, 460) latin vulgaire provençal italien français espagnol De plus, Papon élabore une distinction qui est nommée déjà dans le titre: 16 la distinction entre origine et progrès. Les origines sont le domaine de la nature, le progrès se fait sous les auspices de l’art. Quant à l’origine, c’est le latin vulgaire qui précède toutes les langues romanes; quant aux progrès, c’est le provençal qui l’emporte sur les autres langues romanes. 17 Cette distinction explicite nous aide à mieux comprendre les débats du 18 e siècle: la plupart des auteurs qui défendent la priorité du provençal et sa qualité de langue-mère parlent de cette priorité sous le règne de l’art. 18 Nous avons vu toute une gamme de propositions en ce qui concerne les rapports entre les langues romanes et les langues qui les précédèrent. Raynouard n’avait qu’à faire le choix, et il aurait pu faire mieux. Thèse IV: Le modèle de la linguistique comparée contribue à la formation d’une linguistique comparée romane Ce modèle existait dans la forme proposée par Court de Gébelin dans son Monde primitif. Ce modèle, encore ancré dans la quête des origines, était un des modèles les plus importants de la linguistique du 18 e siècle 19 et dans lequel se situent, au moins en partie, trois grammairiens géniaux du Midi de la France. Court de Gébelin, originaire de Nîmes était fasciné par l’occitan au- 16 D’ailleurs, il s’agit d’un titre traditionnel (Aldrete, Nunes Le-o). 17 C’est, d’ailleurs, aussi l’arrière-fond de la position de Raynouard (Baum 1971, Rettig 1976, Kremnitz 1988). Je pense que le temps est venu de réinterpréter ce débat à la lumière des publications récentes sur le latin tardif (Wright, Banniard, McKitterick, Uytfanghe). 18 C’est aussi le cas de Féraud (Stéfanini 1957 et 1969). 19 Sylvain Auroux a mis en relief ce courant de la linguistique au 18 e siecle, dans plusieurs travaux. <?page no="233"?> Thèse IV 213 quel il a dédié une grammaire manuscrite. 20 C’est, de cette langue, le caractère d’entre-deux qui fascinait Court de Gébelin: l’occitan était à la fois une langue vivante et une langue morte: 21 La Langue Romance ou Romane-vulgaire, intermédiaire entre le Celte, le Latin & le François, fut bientôt perfectionnée dans les Provinces méridionales. La Poësie, d’accord avec la galanterie chevaleresque des Peuples du Midi, produisit cet effet. Elle remonte au delà des langues françoise et italienne. Déjà elle subsistoit lorsque les Wisigoths se rendirent maitres des contrées où on le parle, et elle n’a point changé depuis lors. […] langue abondante par le moyen de ses composés elle multiplie ses mots à l’infini et elle leur donne telle forme qu’elle veut. Ce qui procure à sa poésie l’avantage de faire des mots precisement pour la place ou ils doivent être. Les terminaisons nombreuses et dont chacune a sa valeur et son énergie particulière lui donnent une concision et une force qu’on ne peut transporter dans d’autres langues. Sa marche etant en grande partie celle des Langues transpositives, elle en est plus hardie, plus vive, moins languissante. Enfin ses nombreux dialectes sont un exemple vivant de tout ce que l’on peut dire sur cette matiere. Cette langue etant aussi ancienne, tenant d’une main aux plus anciennes de l’Europe, et de l’autre à celles de notre temps, devant tout à celles-là et etant si fort mêlées avec celles-cy, on ne pouvoit parler pertinemment de son origine, sans avoir approfondi toutes les autres et cest ce que l’on n’avoit point encore fait. D’un autre côté, cette langue nous représentant encore une partie considérable des langues anciennes, sa connoissance auroit la plus grande utilité pour debrouiller ces langues elles-même. C’est un des chaînons d’un cercle immense qui conduit à tous les autres, tandis que tous ceux-cy ramenent à celui-là. Il faut donc passer avec autant de facilité que de promptitude à travers tous ces chaînons, si l’on veut connoître les causes qui ont produit ces langues […] (cité d’après Stéfanini 1969, 264ss.) A la suite des travaux de Court de Gébelin, tout un réseau comparatiste s’établit. Nîmes était un des centres de ce réseau. Voyons une lettre que le baron de Servières adressait à Joseph Séguier, le 21 février 1773: Je suis faché de n’être point dans mes montagnes afin de recueillir tous les mots et vous les envoyer pour completer le dictionaire languedocien auquel je sai que vous travaillés depuis quelques années. Jose pourtant vous assurer que sans cela il sera très imparfait vu que les Cevenes et le Gevaudan contienent des mots tres singuliers et primitifs. Un bon dictionaire languedocien serait très utile pour conaitre parfaitement l’origine de notre langue et en particulier il servirait beaucoup a Mr Gebelin […] pour son ouvrage du monde primitif … […] Je désirerais cependant si cela est possible que vous fissiés plutôt un dictionaire gascon que languedocien y ajoutant, l’auvergnat, le limousin, le perigourdin, l’agenais &c. 20 Sylvain Auroux prépare une édition de cette grammaire. 21 Cette distinction n’est pas nouvelle (Varchi l’emploie déjà dans le Cinquecento); Fabre d’Olivet l’utilise dans le même contexte (v. Kremnitz 1988). <?page no="234"?> 214 Préhistoire de la romanistique Joseph Séguier est le deuxième des grands grammairiens dont je viens de parler. Malheureusement, son œuvre est pratiquement inconnue à ce jour. La vague comparatiste atteint aussi l’abbé Féraud à Marseille, un grammairien et lexicographe beaucoup plus indépendant, bien connu grâce aux travaux de Jean Stéfanini. Féraud et Séguier ne s’intéressent plus à la question des origines; ils dépassent cette question, qui avait encore été celle de Court de Gébelin, pour pratiquer un comparatisme ancré dans les parlers modernes. Jetons un coup d’œil dans l’Essai de glossaire de Féraud (s. Abb. S. 219) et dans sa Grammaire provençale: […] subjonctif ou conjonctif Il faut que j’aie, tu aies, il ait; nous ayions, vous ayiez; ils aient. Imparfait: il fallait que j’eusse, tu eusses, il eut; nous eussions, vous eussiez, ils eussent Prov. Faou qué agui, aguès, agué; aguen, agués, agoun. Foulié qué aguéssi, aguéssés, aguesse; aguéssian, aguéssias, aguéssoun. Ital. Bisogna ché abbia, abbia ou abbi, abbia, abbiamo, abbiate, abbiano. Bisogna ché avessi, avessi, avesse; avessimo, aveste, avessero. Esp. es menester que áya, áyas, áyá, ayamos, ayáis, ayan. era menester que uviesse, uviesses, uviesse; uviessemos, uviessedes, uviessan (Stéfanini 1969, 292s.) En résumé: un stock de savoir s’était accumulé; on avait ressenti le besoin de défendre l’occitan à la suite des transformations qui s’étaient opérées dans la deuxième moitié du 18 e siècle; la linguistique comparée telle que Court de Gébelin l’avait conçue avait servi de modèle. Ces conditions avaient été favorables à l’émergence d’une linguistique comparée des langues romanes. Nous pouvons constater, à la fin du siècle, l’existence d’une telle linguistique comparée qui s’est défaite de la hantise des origines (celtes, tudesques…) justement parce qu’elle est sûre de l’histoire qui mène du latin vulgaire, en passant par la formation des langues littéraires, à la réalité menacée des parlers contemporains. Epilogue Face à ces acquis, Raynouard fait quelques pas en arrière: - il ne fait pas la distinction (formulée explicitement par Papon) entre l’ancienneté des origines et les progrès littéraires; <?page no="235"?> Annexe 215 - il ne s’occupe pas des variétés modernes, et la linguistique historique élaborée en Allemagne va faire de même: il faudra attendre les Neo- Grammairiens qu’apparaisse de nouveau un intérêt pour les langues et les variétés modernes. Mais, par contre, Raynouard a transmis l’héritage de la philologie/ linguistique méridionale et ses perspectives comparatives et différentielles à la romanistique allemande qui, tout en le critiquant, a assumé ce legs. II vaudrait la peine d’étudier les prédécesseurs de Raynouard qui sont en partie encore très peu connus. Je pense que, à la lumière de discussions récentes, leurs travaux méritent un intérêt renouvelé. Je ne fais qu’énumérer quelques aspects: - le rôle du grec dans la formation des langues romanes; - les modèles de convergence (par opposition aux modèles de divergence dominants dans la linguistique historique) nécessaires par exemple dans les études créoles; - la distinction entre origine et progrès (formation et élaboration); - la diglossie latine/ romanes qui, selon des recherches nouvelles (McKitterick, Wright, Banniard), paraît avoir duré beaucoup plus longtemps que ne le pensaient la plupart des romanistes. Annexe Astruc, Jean (1737): Mémoires pour l’ histoire naturelle de la province de Languedoc, divisés en trois parties, orné de figures, et de cartes en tailledouce, Paris: G. Cavelier. Troisième partie: Mémoires de Littérature Chap. 1: Des différentes langues qu’on a parlé en differens tems dans le Languedoc. p. 419 p. 422 ss. Des noms celtiques de quelques lieux. p. 458 ss. Des mots actuellement en usage dans le Languedoc qui sont d’origine Celtique. Chap. 6: Des changemens, que la domination des Romains, des Goths & des Sarrasins a successivement apportez dans la langue Celtique. p. 491 ss. De quelques mots languedociens qui paroissent venir de la langue Germanique ou Gothique. p. 494 ss. De quelques mots usitez en Languedoc qui paroissent venir de l’Arabe. p. 498 ss. De plusieurs mots communs à l’Espagnol & au Languedocien. <?page no="236"?> 216 Préhistoire de la romanistique p. 500 Des changemens arrivez dans la langue du Languedoc depuis que cette province. -508 est unie à la Couronne de France, & de l’état présent de cette langue. Bibliographie Historiographische Quellen Cazeneuve, Pierre de (1659): L’origine des Jeux Floraux de Toulouse, Toulouse: Raimond Bosc. Cazeneuve, Pierre de (1694): „Les origines françoises“, in: Ménage, Gilles: Dictionnaire étymologique ou Origines de la langue Françoise […] avec les Origines de M. de Cazeneuve, Paris: J. Anisson. 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In dieser Sektion legte Bühler selbst einen umfangreichen Entwurf seiner späteren ‚Sprachtheorie‘ vor: Das Ganze der Sprachtheorie, ihr Aufbau und ihre Teile; Cassirer faßte seine ‚Philosophie der symbolischen Formen‘ unter Fokussierung auf die Sprache und auf sprachpsychologische Fragestellungen (Spracherwerb, Aphasie) zusammen: Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt. 1 Ähnlich wie bei dem unter Philosophen bekannteren Davoser Treffen von Cassirer und Heidegger fand hier ein großer Dialog statt zwischen zwei sprachtheoretischen Konzeptionen, der bereits entwickelten, jedoch für Ausbau offenen der ‚symbolischen Formen‘ Cassirers und der im Entstehen begriffenen ‚Axiomatik‘ Bühlers. Cassirer (*1874) war ein umfassend gebildeter Philosoph, der im Neukantianismus wurzelte, diesen jedoch tiefgehend transformierte, indem er, wie ähnlich schon Humboldt vor ihm (der für ihn ständiger Referenzpunkt bleibt) einen blinden Fleck der kantischen Philosophie bearbeitet, die transzendentale Rolle nämlich der Sprache. Er kannte ausgezeichnet die neuesten Entwicklungen der Naturwissenschaften und begleitete diese philosophisch. In Hamburg verlagerten sich seine Interessen aufgrund des Kontakts mit der Sammlung Warburg und deren Leiter Franz Saxl, später auch mit Aby Warburg selbst (der zur Zeit der Berufung Cassirers im Sanatorium Kreuzlingen in Behandlung war) 2 in Richtung auf die Fundierung einer allgemeinen Kulturtheorie, die die verschiedensten Erscheinungsformen menschlicher Gestaltung unter einem einheitlichen Gesichtspunkt erhellen könnte. Bühler (*1879) war Psychologe und entwickelte auf dem Hintergrund der Gestaltpsychologie 3 immer stärkere Interessen an sprachtheoretischen Fragestellungen. Entscheidend war für ihn die Zusammenarbeit mit der Pra- * Zuerst erschienen 1997 in: Hassler, Marianne/ Wertheimer, Jürgen (Hrsg.), Der Exodus aus Nazideutschland und die Folgen, Tübingen: Attempto, 274-285. 1 Ich zitiere hier nach dem Abdruck in Cassirer 1927-33/ 1985, hrsg. von Orth und Krois 1985. In den Kongreßakten 1932 war eine kürzere Fassung veröffentlicht worden. Zur Geschichte des Texts vgl. in: Cassirer 1927-33/ 1985, 210. 2 Vgl. Gombrich 1970. Vgl. auch Ferretti 1989. 3 Zur Gestaltpsychologie vgl. auch Sarris 1997 und Lewin 1997. <?page no="242"?> 222 Ernst Cassirer und Karl Bühler ger Schule, vor allem mit Trubetzkoy und Jakobson, deren Arbeiten er begleitete und die er in Hinblick auf eine psychologische Untermauerung ihrer Arbeiten beriet. 4 Für beide Autoren war auch Husserls Phänomenologie ein wichtiger Bezugspunkt. 5 So herrschte also zu Beginn der 30er Jahre ein stimulierendes intellektuelles Klima, das die semiotische und sprachtheoretische Weiterentwicklung von Ansätzen aus der Gestaltpsychologie, der Kulturanthropologie, dem beginnenden Strukturalismus (v. a. Prager Schule und damit auch der Russische Formalismus) und der Phänomenologie nahelegte. In seinem Kongreßbeitrag legte Cassirer die zentrale Idee seiner Philosophie der symbolischen Formen dar, daß Sprache nämlich (wie die anderen symbolischen Formen) nicht ‚abbildend‘, sondern ‚bildend‘ sei. Das gegenständliche Vorstellen sei das Ziel der Sprachbildung, der Weg gehe über den Ausdruck zur Darstellung und schließlich zur (überindividuellen) Bedeutung. Durch die Sprache öffne der Mensch den Handlungsraum zum Blickraum. Nicht nur die Weltkenntnis sei der Sprachbildung unterworfen, sondern auch die Herausbildung des Ich, indem die Affekte sich der Sprache unterwerfen. Die Sprache schaffe Zuwendung und Abwendung gleichermaßen; sie ermögliche das Innehalten bei der Handlungsplanung. 6 Sie sei schließlich auch das Fundament der sozialen Welt. 7 Spracherwerb sei aktive Aneignung der Welt und Einübung in die Gemeinschaft. Die Sprachgemeinschaften seien notwendige Durchgangsetappen auf dem Weg zur Humanität. Bühler skizzierte das, was er später zur Axiomatik weiterentwickelte die auch, in leicht veränderter Form, das Eingangskapitel der Sprachtheorie wurde (vgl. Bühler 1934, Bühler 1933/ 1969): Sprache sei ein Organon, das drei Funktionen erfülle: Kundgabe, Appell, Darstellung. Die sprachlichen Ein- 4 Die Prager Schule fand 1938 ein jähes Ende: Trubetzkoy wurde in Wien ermordet; Roman Jakobson emigrierte in die USA, wo er einige Elemente des sprachtheoretischen Wissens der Prager Schule in die Diskussion der 50er Jahre einbringen konnte. 5 Husserls Phänomenologie war der Ausgangspunkt für Schütz’ soziologische Theorie der Lebenswelten, die er, ebenfalls in der Emigration, in den USA entwickelte. 6 Diese Idee der ‚Verzögerung‘ des Menschen durch die Symbolsysteme entfaltet Cassirer später im Zusammenhang mit Johannes von Uexkülls biosemiotischen Theorien (Cassirer 1944 bzw. 1990, hierin insb. Kapitel 2). 7 Zum Stellenwert der Alterität/ Sozialität in Bühlers Gesamtkonzeption vgl. Schwemmer 1992, 226-249. Schwemmer rekonstruiert aus dem Text über Basisphänomene, der während der Göteborger Zeit entstanden ist, Cassirers Ansätze zu einer nicht nur philosophischen, sondern auch sozialen Grundlegung der symbolischen Formen. Besonders interessant sind die - diffusen - Ausführungen zum Du, zur Rolle des Widerstands. Vielfach erinnern die Überlegungen an Humboldts Schwanken zwischen sozialer und erkenntnisorientierter Leistung der Sprache. Es wäre interessant, die Struktur der Argumentation mit der des Symbolischen Interaktionismus zu vergleichen. Insbesondere die aktuelle Diskussion um einen Radikalen Konstruktivismus, die die Rolle der Sozialität eindeutig als nachgeordnet einschätzt, täte gut daran, Cassirer endlich zur Kenntnis zu nehmen. <?page no="243"?> Ernst Cassirer und Karl Bühler 223 heiten gewinnen ihre Bestimmtheit in bestimmten Feldern (dies die entscheidende Übernahme aus der Gestaltpsychologie), wobei dem Zeigfeld und dem Symbolfeld die größte Bedeutung zukommt. In der abschließenden Diskussion 8 ging es vor allem um wissenschaftstheoretische Fragen: 1. Welche Wissenschaft ist geeignet, die Grundaxiome der Sprachtheorie zu sanktionieren oder durch welche Wissenschaft kann die Sprachtheorie Festlegung ihrer Fragestellung und Richtunggebung der Beantwortung dieser Fragestellung erhalten? (vgl. Cassirer 1927-33/ 1985, 152) Cassirer und Bühler vertraten hier unterschiedliche Positionen: Cassirer sprach sich für eine erkenntnistheoretische (und zwar im Kantschen und Humboldtschen Sinne idealistische) Fundierung aus; Bühler optierte für die induktive Gewinnung der Zeichennatur der Sprache als ‚höchster Induktionsidee der Sprachforschung‘. 2. Wie weit ist die Empirie imstande, etwas von der Beziehung der Sprache zu ihrem Gegenstand zu sagen, oder welche Quellen gibt es, welche Zugänge für den Erfahrungswissenschaftler, sich dem Problem ‚Sprache und Gegenstandswelt‘ zu nähern? (Vgl. Cassirer 1927-33/ 1985, 153) Hier betonen beide wie auch Charlotte Bühler die Bedeutsamkeit der Entwicklungspsychologie und der Psychopathologie. 9 3. Wie weit stecken wir im muttersprachlichen Medium drinnen und was gibt es für Methoden, psychologische Erkenntnisse von Allgemeingültigkeit zu gewinnen, d. h. sie von den Bindungen zu befreien, die sie durch die Muttersprache erhält? (vgl. Cassirer 1927-33/ 1985, 154) Bühler erhofft sich für die Beantwortung dieser Frage Hilfe von einer psychologisch orientierten Phänomenologie. 4. Was ist der Ursprung dieser Verschiedenheit der muttersprachlichen Welten? Welches Erklärungsprinzip ist hier erfolgreich anwendbar? (vgl. Cassirer 1927-33/ 1985, 155) Cassirers Antwort: Die Verschiedenheit der Welten ist für den erkenntnistheoretischen Idealisten nicht nur kein Problem, sondern eine Selbstverständlichkeit. Wie Brechlinsen, durch deren verschiedene Brechungsflächen der Gegenstand, den man betrachtet, immer verschieden erscheint, sind die Sprachen Medien, durch die das Durchgesehene sich von stets neuen Seiten präsentiert. (vgl. Cassirer 1927- 33/ 1985, 155) 8 Ich zitiere hier nach der von Orth und Krois hrsg. Ausgabe: Cassirer, 1927-33/ 1985, 152-156 (vgl. Anm. 1). 9 Die hier formulierte Auffassung, Spracherwerb und Aphasie könnten - komplementären - Aufschluß über das Funktionieren der Sprache geben, spielt eine zentrale Rolle in Roman Jakobsons Sprachtheorie. Auch m der generativen Grammatik gelten bis heute diese beiden Bereiche als zentral, für die Gewinnung von Evidenzen hin; sichtlich einer biologischen Verankerung des ‚Sprach-Organs‘. <?page no="244"?> 224 Ernst Cassirer und Karl Bühler So weit der Dialog, der stattgefunden hat. Man könnte den Dialog fortsetzen und insistieren auf die Frage nach der Übersetzbarkeit zwischen den Kulturen und Sprachen, die bis heute ein theoretisch wie praktisch ungelöstes Problem ist (und zu dem der Konstruktivismus keine Antwort gibt). Man könnte auch insistieren auf die Frage nach der Wahrnehmung außerhalb der Sprachen, eine Frage, die die kognitive Psychologie mit der Annahme zweier Ebenen der Bedeutung, einer in einem engen Sinn sprachlichen und einer wahrnehmungspsychologisch fundierten, gerade erst wieder aufwirft. Man könnte weiter fragen, ob die beiden Autoren eigentlich das gleiche meinen, wenn sie von Darstellung reden. Cassirer bildet eine Reihe Ausdruck, Darstellung, Bedeutung: für das sprechende Subjekt gewinnt das Symbol durch die Materialisierung Objektivität; in der Darstellung wird ihm die Idee äußerlich; in der Bedeutung als sozial geteilter gewinnt sie eine noch höhere Stufe an Objektivität. 10 Für Bühler dagegen ist es das Sprachzeichen, das hinsichtlich des Sprechers (Kundgabe), des Hörers (Appell) und hinsichtlich der Welt (Darstellung) eine Leistung erbringt. Die Fokussierung ist also eine jeweils andere: bei Cassirer geht es um Stufen der Objektivierung, bei Bühler um Leistungen der Sprache. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die unterschiedliche theoretische Verarbeitung des ‚Du‘, bzw. der Sozialität. Für Bühler ist das ‚Du‘ eine gleichartige sichere Größe, für Cassirer bedeutet es einerseits eine Steigerung der Objektivität, andererseits begründet es Sozialität und schließlich ist es auch die große Unbekannte, das Unverfügbare (vgl. dazu Schwemmer 1992). Sind die beiden Modelle aufeinander beziehbar, wenn ja, wie? Man könnte weiter fragen, ob eigentlich Cassirers ‚Blickraum‘ (den die Sprache durch die bildförmige Darstellung eröffnet und wodurch sie die Beschränkung auf den Handlungsraum ermöglicht) identisch ist mit Bühlers ‚Zeigfeld‘. Hier wären wieder die unterschiedlichen gestaltpsychologischen und phänomenologischen Voraussetzungen zu klären. Diese Frage wäre zu erweitern in Richtung auf die unterschiedlichen (oder vergleichbaren) Implikationen der Begriffe ‚Rahmen‘ (den Cassirer später häufig verwendet) 11 und ‚Feld‘. Weiter: Cassirer betont stärker die Bildhaftigkeit der Symbole, Bühler ihre diakritische Konstitution; lassen sich diese beiden Schwerpunktsetzungen aufeinander beziehen? 10 Diese Überlegungen finden sich ähnlich wiederholt und in verschiedenen Formulierungen bei Humboldt, besonders klar auch bei Bernhardi 1801/ 1803. 11 Besonders eindrücklich ist das Beispiel der Linie, die in unterschiedlichen ‚Rahmungen‘, d. h. symbolischen Formen völlig unterschiedlich interpretiert werden kann. Das erinnert wiederum an Bühlers Erwähnung geometrischer Formen, die, wiewohl gänzlich der Darstellungsfunktion unterworfen, sich doch nicht ganz der Ausdrucksfunktion entziehen können. <?page no="245"?> Ernst Cassirer und Karl Bühler 225 Und schließlich ließe sich die Diskussion hinaustragen in die Phänomenologie: zum Verhältnis von Lebenswelten und symbolischen Formen, in den Strukturalismus: zur Systemhaftigkeit der symbolischen Formen oder zur Inselhaftigkeit diakritischer Relevanzsetzungen. Diese und weitere mögliche Dialoge haben nicht mehr stattgefunden. Ernst und Toni Cassirer (vgl. Toni Cassirer 1981). verließen am 12. März 1933 Hamburg, gingen zunächst nach Oxford, fanden dann in Schweden (Uppsala und Göteborg) eine etwas dauerhaftere Bleibe, freilich in einem Zustand der Isolation und dann zunehmender Angst vor einer möglichen Invasion. 1941 zogen sie weiter in die USA, wo Cassirer zunächst in Yale, dann an der Columbia University lehrte. Cassirer arbeitete sich in Oxford ins Englische ein, hielt seine Vorlesungen und schrieb seine Veröffentlichungen in exzellentem Englisch. 12 Er fand sich trotz aller Belastungen gut in das amerikanische Universitätssystem ein. Toni Cassirer berichtet: 13 Die neuen Freunde, die Ernst in den amerikanischen Jahren kennenlernte, glaubten mir kaum, wenn ich ihnen erzählte, daß er früher ein stiller Gelehrter gewesen wäre. Sie konnten es sich nicht denken, daß er Diskussionen niemals gesucht oder gar geliebt hatte; daß er kein geselliges Leben geführt hatte; daß er 12 „Ernst beschloß, die nächste Vorlesung in englischer Sprache zu halten, und erreichte durch die große Anspannung, die dies erforderte, eine weitgehende Beherrschung der Sprache. In Oxford ging ein Bonmot herum, das folgendermaßen lautete: Ein ausländischer Student wandte sich an den Professor, um zu erfahren, wo er in Oxford das beste Englisch lernen könne - worauf ihm der Professor geantwortet haben soll: „Das tun Sie am besten bei Cassirer; denn so wie der beherrscht keiner von uns die Sprache.“ Trotzdem blieb es für mich immer ein sehr schmerzliches Erlebnis, wenn ich Ernst Englisch sprechen hörte. Seine höchst differenzierte deutsche Sprache gehörte für mich unmittelbar zu seiner ganzen Persönlichkeit. Sein Englisch, sicherlich erstaunlich gut, besonders für die kurze Zeit, die er darauf verwandt hatte, konnte seine Muttersprache nicht ersetzen. Seine Aussprache blieb im übrigen weit hinter der Kenntnis der Sprache zurück. Ihn störte das viel weniger als mich, weil er das Gefühl hatte, das für ihn Wesentliche ausdrücken zu können. Nie aber habe ich das Wort „Le style c’est l’homme“ besser begreifen gelernt als damals.“ (Toni Cassirer 1981, 213). 13 Toni Cassirer hatte auch über Saxls Vorschläge in den 20er Jahren berichtet, Cassirer möge seine Konzentrationen auf Reisen zur Diskussion stellen und anreichern: „Saxl - ein äußerst lebhaftes Wesen, stets auf dem Sprung, seinen Standort aufzugeben, wenn es galt, einem Problem nachzuspüren - wollte Ernst immer davon überzeugen, daß es ein Fehler sei, daß er so seßhaft wäre. Er wollte, daß er reisen solle, daß er sich mit fremden Ländern, neuen Situationen auseinandersetzen solle. Er übersah dabei, daß diese Lebensweise Ernstens Arbeitsweise widersprach; daß Ernst ununterbrochen in fremden Ländern reiste, sich mit neuen Situationen auseinandersetzte, ohne seinen Standort zu verlassen. Später, als das Schicksal Ernst aufgescheucht hatte, als er gezwungen war, zu wandern, fanden beide Freunde voneinander, daß der andere damals recht gehabt hätte. Ernst empfand die Bereicherung durch die Auseinandersetzung mit der neuen Situation, und Saxl fand, daß Ernstens Werk in der Abgeschlossenheit doch wohl seine Vollendung gefunden hätte.“ (Toni Cassirer 1981, 127-128). <?page no="246"?> 226 Ernst Cassirer und Karl Bühler seine Tage in möglichster Abgeschlossenheit mit mir und den Kindern verbracht hatte. Jetzt war er sehr lebhaft geworden, nahm Anteil an allem und jedem, was um ihn vorging, interessierte sich für die jungen Menschen, die ihm begegneten, in ganz anderer Weise als früher. (Toni Cassirer 1981, 307) In An Essay on Man (1944) faßte Cassirer die Symbolischen Formen für das amerikanische Publikum zusammen; The Myth of the State (1946 postum erschienen) ist seine Deutung totalitärer Systeme als solcher, die die symbolischen Formen der Technik und des Mythos in unheilvoller Weise verknüpfen (vgl. dazu Lübbe 1975). Karl Bühler, selbst Kind einer badischen evangelischen Pfarrersfamilie, folgte seiner Frau 1938 von Wien aus in die Emigration. 14 Beide begannen wieder, als Psychologen zu praktizieren. In der amerikanischen Universitätslandschaft konnte Bühler trotz einiger Versuche nicht mehr Fuß fassen. Es gibt Manuskripte aus der amerikanischen Zeit; über deren Umfang und Bedeutung können wir, solange die von Achim Eschbach angekündigte Gesamtausgabe noch nicht vorliegt, nichts sagen. 15 Man hat jedoch den Eindruck, daß Bühler in Amerika ein gebrochener Mann war, möglicherweise auch in der englischen Sprache nie richtig heimisch wurde. Das sprachtheoretische Werk von Cassirer und Bühler blieb in Deutschland lange Zeit völlig unbeachtet. Für Bühler veränderte sich das etwas in den 60er Jahren. Vor allem durch das Wirken einiger Sprachwissenschaftler (wie E. Coseriu, H. Weinrich, K. Heger), die sich als europäische Strukturalisten verstanden, also dort anknüpften, wo der Nationalsozialismus die Wissenschaftslandschaft verwüstet hatte, wurde seine Sprachtheorie doch allmählich bekannt 16 , wenn auch nicht in allen ihren Anregungen voll ausgeschöpft. Ein 14 Lebzeltern 1969, 7-70; Bühler, Charlotte 1984, 25-30. 15 Eschbach 1984. [Inzwischen ist der erste Band (Die Krise der Psychologie, Werke 4) der oben genannten Werkausgabe von Bühlers Werken erschienen. Die Ausgabe ist auf acht Bände angelegt, vgl. Bühler, Karl (2000-)]. 16 Eschbach 1984, I, 10: „Wir waren bei unserem Spaziergang an der Anjou-Bastei angelangt, von wo aus sich der Blick auf die umliegenden Berge, den János Hegy, den Hármashatár Hegy und den Rázsadomb öffnet, als ich die Frage stellte, was denn wohl die ausschlaggebenden Gründe dafür gewesen seien, daß Bühler so in Vergessenheit geraten konnte. Einige naheliegende Gründe waren schnell benannt: der beginnende Naziterror in den dreißiger Jahren, Bühlers Emigration in die Vereinigten Staaten, sein Alter (immerhin war er bei seiner Ankunft in Amerika sechzig Jahre alt), die für ihn ungünstige wissenschaftspolitische Landschaft in den USA, usw. So gravierend die einzelnen Umstände für Karl Bühler selbst auch gewesen sein mochten, erklären sie doch noch nicht in befriedigendem Maße, weshalb es nach dem Zweiten Weltkrieg bei gelegentlichen Allusionen auf Bühlers Organon- Modell blieb, seine sonstigen bedeutenden Leistungen wie z. B. zur Deixis, zur Symbolentwicklung in der Kindheit, zur Feldtheorie, zur Handlungstheorie, zur allgemeinen und speziellen Zeichentheorie, zur Kybernetik, zur Axiomatik, zur Denkpsychologie, zur Gestalttheorie usw. auch weiterhin keine Beachtung fanden. Als besonders bezeichnend erschien uns die Tatsache, daß in der neueren Literatur <?page no="247"?> Ernst Cassirer und Karl Bühler 227 wichtiger Schritt war auch die Edition der Axiomatik durch Elisabeth Ströker im Jahr 1969. Zumindest das Organonmodell gehört zum Handbuchwissen der Sprachwissenschaft, in einem geringeren Maße auch die Unterscheidung von vier Bereichen der Sprachforschung anstelle der Saussureschen langue/ parole-Dichotomie (Sprechhandlung, Sprechakt, Sprachwerk, Sprachgebilde) und die Unterscheidung zwischen verschiedenen Feldern, in denen die sprachlichen Zeichen ihre Bestimmtheit gewinnen, besonders die wichtige Unterscheidung von Zeigfeld und Symbolfeld. Cassirer aber bleibt weiterhin für die Sprachwissenschaft unerschlossen. Während sein philosophisches Werk in den USA breit rezipiert wurde (u. a. durch die Vermittlung von Susanne Langer) und einige Monographien über sein philosophisches Werk entstanden, so daß er zumindest im Horizont der semantischen und erkenntnistheoretischen Bemühungen von Philosophen wie Goodman, Putnam oder Rorty war, gab es im Deutschland der Nachkriegszeit bis vor wenigen Jahren keine nennenswerte Rezeption. So stellt Andreas Graeser (1994) in einer ganz neuen Gesamtdarstellung noch fest: 17 Doch fand Cassirer auch in solchen Zusammenhängen keine angemessene Erwähnung, die im besonderen Maße als seine Domäne angesehen werden könnten. So ist es mehr als erstaunlich, daß sein Name im Kontext der Diskussion hermeneutischer Fragestellungen so gut wie nicht erscheint. Auch in den inzwischen recht umfangreichen Publikationen zum Interpretationismus nur eine Handvoll Arbeiten zu nennen ist, in denen der komplexe Bühlersche Ansatz eigens thematisiert wurde.“ 17 Orth denkt ebenfalls über die Folgenlosigkeit von Cassirers Werk in Deutschland nach: „Man muß sich fragen, warum die Philosophie Ernst Cassirers, des profilierten Marburger Neukantianers, der sich 1906 in Berlin habilitierte und 1919 seinen ersten philosophischen Lehrstuhl an der Universität Hamburg übernahm, in Deutschland so wenig studiert wird. Zwar ist Cassirer ein durchaus bekannter Philosoph, doch wurde sein Werk über lange Zeit eher vernachlässigt. Die Gründe dafür können nicht allein in den äußeren Lebensschicksalen liegen: die erzwungene Emigration aus dem nationalsozialistischen Deutschland und die Wanderschaft durch drei Exilländer - England, Schweden und die USA. Man könnte versucht sein, das mangelnde Interesse in der vermeintlichen Überholtheit der - akademischen - neukantianischen Philosophie zu sehen. Doch gerade hier erweist sich Cassirer als ein Denker, der den Kantianismus entscheidend vertieft und modifiziert hat, indem er eine kritische Kulturphilosophie entwickelte, die den ‚Formalismus‘ - zumal Neukantianischer Provenienz - zu einer konkreteren Betrachtung der Wirklichkeit führte. Mit seiner nicht wie bei Ricken am Wertbegriff, sondern am Sinnbegriff ansetzenden Kulturphilosophie widerlegt Cassirer auch die allzu einseitige Differenzierung in einen Marburger logizistischen und einen südwestdeutschen, kulturtheoretisch eingestellten Neukantianismus. Vielleicht sind es gerade die Vorzüge des Autors Cassirer, die ihn zu relativer Wirkungslosigkeit verurteilten. Diese Vorzüge sind seine Offenheit für die unterschiedlichsten Entwicklungen in Geschichte und Gegenwart sowohl der Kultur im allgemeinen als auch der Wissenschaften im besonderen.“ (Orth 1988, 7). <?page no="248"?> 228 Ernst Cassirer und Karl Bühler taucht sein Name nicht auf, obwohl in den unmittelbar zurückliegenden Jahren Sammlungen wichtiger Aufsätze Cassirers erschienen und auch Bände mit Arbeiten zu Cassirer publiziert wurden. (Graeser 1994, 190) Dieses Gesamtbild hat sich in den letzten Jahren durch das Erscheinen einiger Sammelbände und Monographien etwas geändert. 18 Dieses allmählich erwachende Interesse gilt aber ausschließlich dem Philosophen Cassirer, nicht dem Sprachtheoretiker. Hier bleibt noch so gut wie alles zu entdecken. Die Ermordung und Auswanderung der fruchtbarsten Sprachtheoretiker der 20er und 30er Jahre ließ die Entwicklung der Sprachtheorie in Deutschland völlig stagnieren. Die semiotischen, semantischen und funktionalen Ansätze, die um 1930 begannen, Gestalt anzunehmen, wurden im - durch die vielen Verluste drastisch reduzierten - Europäischen Strukturalismus 19 weitergeführt, durch die Schule von Kopenhagen vor allem und ihre französischen Fortsetzer, unter großen Beschränkungen durch die zweite Generation der Prager Schule. In Deutschland wurde das Erbe des Europäischen Strukturalismus zwar in einigen Schulen (Coseriu, Weinrich, Heger) integriert, blieb jedoch für die Entwicklung der deutschen Sprachtheorie eher marginal. Der oben skizzierte fiktive Dialog, der in den 30er Jahren hätte entstehen können, müßte erst wiederaufgenommen werden, unter völlig veränderten Bedingungen zwar, wobei die Veränderungen - ich denke vor allem an die Hinwendung zum Konstruktivismus und zur Kognitiven Psychologie - die Wiederaufnahme durchaus favorisieren. Aus folgenden Gründen scheint mir eine intensive Beschäftigung mit Cassirer und Bühler unabdingbar (wobei ich mich vor allem auf Cassirer beziehen werde, der unter Sprachwissenschaftlern noch viel weniger bekannt ist als Bühler): 1. Cassirer bestimmt den Menschen als animal symbolicum und entfaltet diese Bestimmung in Form einer semiotisch fundierten Kulturtheorie. Die semiotische Fundierung müßte mit Peirces und Meads Zeichentheorie verglichen werden. Auf dieser Basis könnte ein Fundament für die Kulturwissenschaften gelegt werden, die, so unverzichtbar sie sind, doch Schwierigkeiten mit ihrem Selbstverständnis haben (Frühwald 1991). Auf dieser Basis könnten auch die nativistischen Annahmen der Generativen Grammatik sinnvoll diskutiert werden. Gibt es eine angeborene Grammatik oder ‚nur‘ Prinzipien symbolischen Handelns? In dieser Hinsicht müßte auch Cassirers Theorie der symbolischen Formen (insbes. der unveröffentlichte 18 Göller 1986; Braun 1988; Knoppe 1992; Figal/ Rudolph 1992; Paetzold 1993, 1995; Graeser 1994. 19 Dazu einführend Albrecht 1988. <?page no="249"?> Ernst Cassirer und Karl Bühler 229 vierte Band; vgl. auch dazu Schwemmer 1992) 20 noch genauer auf die Rolle der Sprache in seinem Entwurf befragt werden (vgl. Göller 1988). Ein großer Vorteil einer solchen Fundierung der Kulturwissenschaften wäre der, daß Cassirer gerade nicht von vorne herein die Naturwissenschaften ausschließt, im Gegenteil seinen Entwurf gerade in engem Zusammenhang mit dem Fortschreiten von Technik und Naturwissenschaft entwickelt. Damit ergäbe sich die Perspektive einer Überwindung der Zwei-Kulturen-Trennung. 21 Cassirers Theorie der symbolischen Formen ist auch der Entwurf einer Einheitswissenschaft, aber nicht einer technizistisch reduzierten Unified Science, sondern einer solchen, die der symbolischen Konstituiertheit des Menschen und all seiner Hervorbringungen, gerade auch der Technik und der Naturwissenschaften Rechnung trägt. 2. Symbolische Formen sind geteilte Formen. Sie konstituieren Erkenntnis, Individualität und gerade auch Sozialität. Hier gibt es Ansatzpunkte einerseits zum symbolischen Interaktionismus (Mead, Cicourel) und andererseits zu der - ebenfalls in der Emigration - aus der Phänomenologie heraus entwickelten Theorie der Konstruktion der Lebenswelt (Schütz). Nicht nur spielt die Sozialität von Sprache in der Generativen Grammatik keine Rolle; auch in den meisten konstruktivistischen Ansätzen (die es doch besser wissen müssen) ist die Geteiltheit, ja soziale Konstitution der Konstruktionen kaum thematisch (Schmidt 1987). 3. Die aktuelle semantische Diskussion um die Vorzüge bzw. Nachteile von merkmalsorientierten (differentiellen) vs. holistischen/ prototypischen Modellen könnte durch die Beschäftigung mit Bühler und Cassirer entscheidend gewinnen. Während Bühler - mit guten Argumenten - die diakritische Funktion der Sprachzeichen betont, zeigt Cassirer überzeugend, 20 [Inzwischen sind sowohl der hier genannte vierte Band als auch weitere Texte aus dem Nachlass erschienen; vgl. Cassirer (1950/ 2000).] 21 Ich beziehe mich damit auf Snow 1959. Zur Stellung Cassirers zu dieser Trennung: Orth 1985. Cassirers Entwurf müßte auch im Gegenzug zum Entwurf der Unified Science des Wiener Kreises (dessen Hauptvertreter ja ebenfalls emigrieren mußten) diskutiert werden. Während es dort gerade darum ging, die Sprache zu normieren und zu reduzieren, geht es Cassirer darum, symbolische Formen in allen Ausprägungen ernstzunehmen. Charakteristisch ist z. B. seine Äußerung: „It is easy to point out the lacks, the defects, the ambiguities that are unavoidable and that seem to be ineradicable in every use of language. But these evils can not be cured by mysticism, by intuitionism, or sensationalism. Language may be compared with the spear of Amfortas in the legend of the Holy Grail. The wounds that language inflicts upon human thought cannot be healed except by language itself. Language is the distinctive mark of man - and even in its development, in its growing perfection it remains human - perhaps too human. It is anthropocentric in its very essence and nature. But at the same time it possesses an inherent power by which, in its ultimate result, it seems to transcend itself.“ Cassirer 1942, 327. <?page no="250"?> 230 Ernst Cassirer und Karl Bühler daß und wie beides untrennbar zusammengehört. Die Sprachen treiben - unter Relevanzgesichtspunkten, auch dies ein höchst aktueller Gedanke 22 - Unterscheidungen hervor 23 , konstruieren aber im Zuge dieses ‚Konzentrations- und Verdichtungsvorgangs‘ (Versuch über den Menschen 1990, 208) auch Bilder 24 , die zwischen uns und der Welt vermitteln. 25 Die Relevanzsetzungen führen zu Fokussierungen, Verdichtungen 26 , an die sich die Vorstellungen heften. Sie tendieren aber andererseits auch zu - je sprachverschiedenen - distinktiv ausgerichteten Klassifikationssystemen. 27 22 Sperber und Wilson machen die Relevanz (im Sinne von Grice) zur zentralen Kategorie ihrer Semantiktheorie, vernachlässigen allerdings demgegenüber die in den Sprachen verankerten Bedeutungen. 23 Der erste Band der Philosophie der symbolischen Formen (vgl. Cassirer 1923/ 2001), der der Sprache gewidmet ist, exemplifiziert diese Ausgliederungsleistung der Sprache, im Gegensatz zum Mythos, dessen Grundduktus gerade nicht differenzierend, sondern vereinend ist. 24 Zur Rolle der bildlichen Verdichtung Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt (1932) und An Essay on Man (1944), hierin vor allem das Kapitel Language. 25 Die Frage nach der Rolle der imaginatio ist ein altes Thema der abendländischen Kunst und Sprachtheorie. So betont etwa der Humanist Gianfrancesco Pico della Mirandola (der Neffe des großen Florentiner Platonikers Giambattista Pico della Mirandola) in seiner Schrift De Imaginatione, bei aller Warnung vor den vitia der imaginatio, doch deren für die Erkenntnis konstitutive, zwischen Sinnen und Geist vermittelnde Leistung. 26 Vgl. Cassirer 1990, 207: „Das wird besonders deutlich an den Klassifikationsmethoden, die in verschiedenen Sprachen, vor allem solchen von unterschiedlichem Sprachtypus, verwendet werden. Die Klassifikation ist eine der fundamentalen Leistungen der Sprache. Der bloße Akt der Benennung beruht bereits auf einem Klassifikationsvorgang. Einem Gegenstand oder einer Handlung einen Namen geben, bedeutet, ihn einem bestimmten Begriff unterzuordnen. Stünde diese Unterordnung aufgrund der Natur der Dinge ein für allemal fest, so wäre die Klassifikation überall gleich und einförmig. Aber die Namen, die in der menschlichen Sprache vorkommen, lassen sich nicht so unveränderlich deuten. Sie sollen keine substantiellen Dinge, unabhängige Wesenheiten bezeichnen, die aus sich selbst existieren. Sie werden vielmehr durch menschliche Interessen und menschliche Zielsetzungen bestimmt. Diese Interessen sind nichts Stabiles, Unwandelbares. Und auch die Klassifikationen, die in der Sprache vorkommen, sind weder zufällig noch willkürlich; sie gründen in bestimmten konstanten und wiederkehrenden Elementen unserer Sinneserfahrung. Ohne solche wiederkehrenden Elemente fänden unsere sprachlichen Konzepte keinen Halt, keinen Stützpunkt. Aber welche Daten der Wahrnehmung miteinander verbunden und welche voneinander getrennt werden, das hängt von der freien Wahl eines Referenzrahmens ab. Es gibt kein strenges, unveränderliches Schema, nach dem Gliederungen und Untergliederungen ein für allemal vorgenommen werden könnten. Selbst in nahe verwandten und in ihrer Struktur übereinstimmenden Sprachen finden wir keine identischen Namen.“ 27 Menschliche Klassifikationssysteme sind ein zentraler Gegenstand der kognitiven Psychologie (E. Rosch). <?page no="251"?> Ernst Cassirer und Karl Bühler 231 4. Die Menschen eignen sich die symbolischen Formen und durch sie die Welt je neu aktiv an. Dies ist ein zentraler Punkt (der eigentlich ‚idealistische‘) der Argumentation Cassirers. Diese aktive Aneignung ist auch notwendigerweise systematisch. 28 Zu einem Zeitpunkt, wo sowohl in der Grammatikalisierungstheorie als auch neuerdings in der Sprachwandeltheorie, die auf dem Prinzipien- und Parameter-Modell der Generativen Grammatik beruht (Lightfoot) 29 , der Begriff der Re-Analyse oder Re- Interpretation eine entscheidende Rolle spielt, läge es nahe, über die philosophische und psychologische Fundierung der re-interpretierenden Tätigkeit nachzudenken. 5. Und schließlich enthält Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, besonders der erste Band über die Sprache, eine ‚Evolutionstheorie‘ der menschlichen symbolischen Systeme. Die Entfaltung der symbolischen Formen (Auseinanderentwicklung von Magie und Sprache, sinnliche Erfahrung > abstrakte Kategorien, Entwicklung der Begriffe für Raum und Zeit, Entwicklung des Ich-Begriffs, Entwicklung der reinen Beziehungsbegriffe und damit der Grundlage von Mathematik und Naturwissenschaften) folgt einer bestimmten Gesetzmäßigkeit, und bestimmte Schritte sind notwendige Voraussetzung der folgenden, wobei immer die vorhergehenden Schritte in den nachfolgenden aufgehoben sind. Diese Annahmen müßten in der aktuellen Perspektivierung ‚evolutionärer Errungenschaften‘ 30 diskutiert werden. Und schließlich enthalten Cassirers Ausführungen eine große Zahl von Anregungen und Fundierungen für eine Theorie von Grammatikalisierungskanälen und deren Gerichtetheit, die ja implizit auf der Annahme bestimmter kognitiver Affinitäten und Implikationen aufruht. 31 Cassirers Schriften enthalten also ein sprachtheoretisches Programm, dessen Potential überhaupt erst entfaltet werden muß, am besten im Dialog mit dem verstummten Dialogpartner von 1931, Karl Bühler. 28 Die Rekonstruktion der Cassirerschen Sprachtheorie müßte diesem Punkt besondere Aufmerksamkeit schenken, ist hier doch ein Anschlußpunkt zu strukturalistischen Richtungen. 29 Besonders interessant z. B. die Entwicklung einer parametrischen diachronischen Linguistik in Brasilien. 30 Die Idee, daß bestimmte Errungenschaften in der Geschichte der Menschheit Schwellencharakter haben und, einmal vorhanden, nicht mehr ‚vergessen‘ werden können (z. B. Monotheismus, Schrift, Geld), spielt eine große Rolle in systemtheoretischen Ansätzen (Parsons, Luhmann). 31 So z. B. zur Rolle der Körpermetaphern bei der Entwicklung von Raumbegriffen: Philosophie der symbolischen Formen, Bd. I, Kapitel III, einem Thema, das neuerdings von Thomas Stolz umfänglich behandelt wurde. <?page no="252"?> 232 Ernst Cassirer und Karl Bühler Bibliographie Albrecht, Jörn (1988): Europäischer Strukturalismus. Ein forschungsgeschichtlicher Überblick, Tübingen: Francke. Bernhardi, August Ferdinand (1801/ 1803): Sprachlehre, Berlin: Frölich. Braun, Hans-Jürg u. a. (Hrsg.) (1988): Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Frankfurt/ Main: Suhrkamp. Bühler, Charlotte (1984): „Karl Bühler“, in: Eschbach, Achim (Hrsg.), Bühler-Studien 1/ 2, Frankfurt/ Main: Suhrkamp, 25-30. Bühler, Karl (1934): Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Jena: Fischer. 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(1959): The Two Cultures and the Scientific Revolution, Cambridge: Cambridge University Press. <?page no="255"?> Les hypercorrectismes de la scripturalité* Dans ma communication, j’aimerais bien vous proposer une interprétation médiale d’un type de phénomènes pour lequel j’ai proposé, en allemand, le nom de Bemühte Schriftlichkeit. 1 Les phénomènes sont connus depuis longtemps et on les attribue, d’habitude, à certaines traditions discursives, surtout aux traditions juridiques. 2 J’ai l’impression qu’il s’agit d’un phénomène d’une portée beaucoup plus large qui dépasse le cadre d’une seule tradition discursive et qui peut surgir de façon polygénétique. Comment traduire l’expression Bemühte Schriftlichkeit en français? Il s’agit des techniques de la formulation par écrit qui exagèrent justement ce qui a été identifié comme appartenant typiquement à l’écrit. On pourrait donc parler d’une scripturalité forcée, affichée, voyante, exagérée. On pourrait qualifier ce type d’écriture d’hypercorrect. Mais il ne s’agit pas d’une hypercorrection de la langue, mais plutôt d’une hypercorrection de la technique de la formulation par écrit. 1. Position du problème Je vous propose de donner corps à une intuition qu’on a souvent en lisant des textes écrits par des novices en écriture (semi-colti). 3 En gros, il y a deux possibilités: - Ou bien on se trouve face à des textes illisibles, non compréhensibles pour les lecteurs qui n’ont pas connaissance de la situation de discours (ce * Zuerst erschienen 1998 in: Cahiers de Linguistique Française 20 (= Le discours écrit: qualité(s), spécificités, et acquisitions. Actes du VII ème Colloque de Pragmatique de Genève, 27-29 mai 1998), 255-273. 1 Depuis le début des années [19]80 j’emploie le terme de semi-oralité en tant que terme heuristique pour désigner le champ dans lequel s’insère notre question (Schlieben- Lange 1983a et 1983b). Dans mes travaux sur les conjonctions (Schlieben-Lange 1991 et 1992), je parle explicitement du phénomène que j’appelle en allemand bemühte Schriftlichkeit. 2 Raible 1985 donne une excellente mise à point du problème. En ce qui concerne l’importance du phénomène dans l’histoire des langues romanes voir Selig 1992. 3 Le terme de semi-colti est tout à fait courant dans l’histoire sociale en Italie. Il a été repris en linguistique par Wulf Oesterreicher 1994a et 1994b et son élève Eva Stoll 1997 dans le contexte de la description des textes historiographiques des conquistadores. <?page no="256"?> 236 Les hypercorrectismes de la scripturalité qui est notre cas en tant que lecteurs de textes historiques), et cela aussi bien à cause d’une référentialisation manquée (on ne sait pas de quoi l’auteur parle) qu’à cause du fait que les rapports entre les différentes propositions ne sont pas élaborés. Si c’étaient des textes oraux, prononcés dans une situation spécifique pour des interlocuteurs spécifiques, ils seraient parfaitement compréhensibles. - Ou bien, et c’est le cas qui nous intéresse maintenant, on se trouve confronté à une grande abondance, voire une surabondance, d’éléments qui sont censés assurer le caractère écrit du texte. Nous avons affaire soit à des techniques défectueuses de l’écrit soit à une surabondance dans l’emploi de certains moyens amenant la cohésion textuelle. Le premier type est représenté par quelques textes qui récemment ont retenu l’intérêt des linguistes, tels que les journaux intimes écrits par des participants de la Révolution Française ou les récits de voyage des conquistadores espagnols. 4 Le deuxième type se rencontre souvent dans des traditions discursives 5 un peu plus élaborées, telles les livres de familles ou les chroniques officielles. Mais les textes ne sont pas homogènes à cet égard: le même texte peut être défectueux et hypercorrect à la fois. 6 Afin de bien fixer les idées, je commencerai par donner quelques exemples à propos des phénomènes que je me propose d’étudier. J’en cernerai ensuite le statut théorique. Enfin, dans une dernière partie, je présenterai quelques arguments qu’on pourrait avancer contre la thèse que je vais défendre. 2. Les exemples Prenons d’abord un texte qui se trouve dans un nouveau corpus établi par Gerhard Ernst, daté de 1619, écrit à Poligny, en Franche-Comté. Souvenance des actes heroiques des Jeunes gens de Poligny et de leur depourtement tant de iour que de nuict, et des larrecins qu’il ont faict, et de ce qui en est ensuivy. Premier iour de la nostre Dame de mars de l’an mil six cens dix neuf les venerables voleurs s’en allerent à la Doit ou illec monsieur Matal avoit une serve en 4 C’est surtout le journal du vitrier Ménétra, édité par Daniel Roche en 1982, qui est un texte emblématique de ce genre de manuscrits (v. Schlieben-Lange 1995). Pour d’autres textes révolutionnaires v. Koselleck/ Reichardt 1988. Gerhard Ernst 1995 et 1999 vient de présenter le projet d’une (ré-)édition de textes français du 17 e et 18 e siècles qui représentent ce type d’écriture [vgl. auch die inzwischen erschienenen Publikationen Ernst 2003 und 2004]. Pour d’autres exemples Stoll 1997. Il faudrait ajouter la tradition des analyses de lettres écrites par des semi-colti initiées par Leo Spitzer, représentée de nos jours par Carla Cristilli 1993. 5 Voir les exemples dans Jungbluth 1996, Pessoa sous presse [inzwischen erschienen als: Pessoa 2003]. Voir en plus la tradition allemande de recherche en syntaxe historique: Betten 1987 et 1990. 6 C’est le cas de beaucoup de textes publiés par Jungbluth 1996, Stoll 1997, Pessoa sous presse [inzwischen erschienen als: Pessoa 2003]. <?page no="257"?> Les exemples 237 laquelle il y-avoit bonne quantite de poisson, comme mere carpes bruchet ses venerables vont de nuict rompre l’arche ou estoient lesdict poisson et prindre ce que leur estoit necessaire et des plus beau les fesant transpourter dehors de Poligny comme à Chamole et aultre part, pour savoir des nouvelle des poisson point mais le Sieur Matal qui navoit point faute d’esprit recour a monsieur L’official pour luy donner une excommunication pour savoir la verite, ce que luy fust octroye/ / et estant publie, il y at tousiour des gens de bien l’on treuve les mal facteurs, id est les larrons et pour les nommer c’est Leonel Michiel filz de mestre Claude Michiel Procureur, l’autre c’est Benoit bernard, lautre est bernard Hugonnet filz de la fille bernard choux et lautre est le filz du Jeune folin qu’est courdier Lautre est antthoine Benoit filz de feu Francois Benoit pour qui estoit le vicaire qui publia leur communication [sic] c’estoit messire Jaques Febvret dict Guychard deplus iavois oublie que ses vouleurs de poisson me firent un traict devant ma maison ou illec il y at une anonciade ces meschant nuictamment ietarent de la fange en derision et il y en avoit un nomme Callignere lors que lon me deroboit c’est un larron de son estat sans point faire de punition. (Journal de Guillaume Durand, Poligny, 1619) Ce texte est un excellent représentant du type de textes qui nous intéresse. D’une part, il porte les empreintes de l’oralité: l’écriture suit le rythme du parlé: l’auteur ne fait pas un emploi conséquent des moyens de ponctuation, bien qu’il les connaisse. Les références sont souvent incertaines: „luy, les venerables voleurs, ses venerables …“ En plus, il n’y a pas de cohérence en ce qui concerne l’origo du texte: à la fin du passage un je prend la parole qui ne se faisait pas entendre avant. Mais d’autre part, l’auteur affiche une certaine culture: il emploie des latinismes, tels que id est, illec et des graphies latinisantes. Et avant tout, il fait des efforts très marqués, probablement avec une attitude ironique, pour rendre clairs les rapports anaphoriques: une serve en laquelle, lesdict poisson. De plus, l’auteur essaie d’enchaîner les propositions, soit par des syntagmes relatifs (ce que, en laquelle) et conjonctionnels (pour qui), soit par des constructions gérondives: les fesant transpourter, estant publie. Notons qu’il ne s’agit pas encore ici d’interpréter les données, mais bien de concrétiser une intuition. Toutefois, une observation relative à la terminologie doit être faite. Nous verrons qu’il ne s’agit pas seulement de terminologie, mais du point de vue qu’on adopte. J’avais proposé, en 1983, le terme de semi-oralité pour désigner le type de phénomènes qui nous occupe ici. 7 Par la suite, on a pris l’habitude de parler de textes de semi-colti, semi-cultos dans le but d’éviter une confusion entre les aspects médiaux et les aspects conceptionnels de l’oralité. 8 Je reviendrai plus bas sur le sens de ces termes et de cette distinction. Mais de toute évidence, les deux terminologies (semi-oralité vs. semi-colti) ne couvrent pas les mêmes aspects des phénomènes. Le terme de semi-colto se réfère à la formation des auteurs/ scribes et, par la 7 Voir note 1. 8 Voir note 2. Il s’agit ici de la terminologie qu’emploient Koch et Oesterreicher 1985. <?page no="258"?> 238 Les hypercorrectismes de la scripturalité suite, à leur aisance dans le maniement des techniques de l’écriture. Le terme de semi-oralité, par contre, se réfère au fait que les textes en question changent de médium, même plusieurs fois. 9 Or, en ce qui concerne notre exemple, nous ne connaissons pas la formation de l’auteur 10 (son statut de semi-colto); mais sans doute dispose-t-il d’une certaine formation, d’où les graphies latinisantes, d’où, peut-être, aussi les techniques anaphoriques et intégratives. Mais, d’un autre côté, et ce serait le côté semi-oralité, il faut prendre en considération l’aspect médial. Probablement le texte intégral est basé sur des récits oraux; en tout cas, des parties ont changé de médium, à savoir tout ce qui relève du témoignage direct. Les extraits suivants sont empruntés à un corpus de récits de voyage des conquistadores espagnols du 16 e siècle. 11 Il s’agit dans notre cas du conquistador Andrés de Tapia: El cual salió de la isla de Cuba, que es en las dichas Indias […] Llevaba el dicho marqués una bandera de unos fuegos blancos y azules é una cruz colorada en medio […] Salió de la dicha isla de Cuba el dicho señor marques […] (AT, 554) […] e entrando por la cibdad salio la demas gente que en ella avie por sus escuadrones saludando a los españoles que topavan los cuales ybamos en nuestra orden e luego tras esta gente salie toda la gente ministros de los que siruien a los ydolos vestidos con ciertas vestimentas algunas çerradas por delante como capuzes e los braços (sacados) fuera de las vestiduras e muchas madexas de algodon filado por orr(nrra)la de las dichas vestiduras e otros vestidos de otras mañas muchos de ellos llevaban cornetas e flavtas tañendo e ciertos ydolos cubiertos e muchos ençensarios. (AT, 573) Dans ces textes-là, tout comme dans l’exemple français, nous trouvons, à côté de quelques incohérences (los cuales ybamos), un soin très marqué pour garantir la cohésion du texte par des moyens anaphoriques (el cual, el/ la dicho/ a). En outre, de nouveau, nous rencontrons des constructions gérondives, lesquelles sont hautement intégratives. Le procédé anaphorique est exagéré à un degré extrême dans un texte édité et interprété par Konstanze Jungbluth dans sa thèse. Il s’agit d’un livre de famille écrit en 1730 en Catalogne (Sant Pere Pescador): En lo Dit Temps que lo Dit mon para estige en St. Pera Pescador Com he Dit encara que la Dita Sa mara estiges en esta casa, Ja ell se va enpenyar la aretat de torroella afrancesch y Jauma oliva […] tanve en Dit temps se va enpanyar Dos camps que te an Torro lo un es lo Camp Dit de la Confradia y lo altra lo Camp de 9 Dans mes travaux sur la Révolution Française (Schlieben-Lange 1983b et 1996), j’ai donné quelques exemples de ,textes‘ qui changent plusieurs fois de médium. 10 J’ai pris le texte dans l’exemplier de Gerhard Ernst qui, lui, sans doute, pourrait nous donner des renseignements plus précis [vgl. Ernst 1995 und die inzwischen erschienenen Publikationen Ernst 2003 und 2004]. 11 Oesterreicher 1984b, 162 et 166. Voir aussi Oesterreicher 1984a et Stoll 1997. <?page no="259"?> Les exemples 239 Devant de la Casa de dit Torre Dit lo Camp Buach per Ser estat de un tal Buach y altras Cosas. (Sebastià Casanovas 1730 Sant Pere Pescador) Tout comme dans les autres textes, il s’agit d’un texte sans ponctuation. Ce passage ne présente pas de difficultés d’interprétation. Malgré une syntaxe assez simple, un certain soin est apporté à l’enchaînement syntaxique (encara que) et surtout à l’emploi hautement répétitif de lo dit/ la dita pour garantir la cohésion du texte (coréférence); de façon que très peu de mots en soient dépourvus. L’emploi de lo dit/ la dita devient, en quelque sorte, le signe même de la textualité. Regardons maintenant un texte portugais, écrit au Brésil par un chef de police qui rend compte de ses efforts pour retrouver des esclaves fugitifs. Il s’agit là d’un exemple emprunté à un corpus établi par Marlos Pessoa et qui porte sur des documents conçus à Recife dans la première moitié du 19 e siècle. Il s’agit d’un texte qui pose peu de problèmes: Artigo d’Officio Ilm. Snr. - Sendo hum dos meos deveres vigiar sobre os Quilombos na conformidade da Ley mormente por se ter sumariado Vicente Ferreira pardo, e outros negros pela morte feita no dia 26 do p. p. Agosto deste presente anno no lugar de Aguasinha neste Destricto no preto forro de nome Joaco’ de Angolla, que foi escravo do Convento de Santa Theresa de Olinda e pelo depoimento das testemunahs forao’ sugeitos a prisao’ e livramento. Depois q’ entrarao’ as tropas para baterem as mattas evadirao se este Vicente e o negro Bento escravo de Vicente Caetano, e mais dois que ainda os nao’ pude pegar, e aquilombarao’ se nas capoeiras deste Destricto, e tendo já officiado ao Commandante da Forsa que existe no Catucá, vime nas circunnstancias de pôr emboscadas até os pegar, os quaes os remetto a disposiçao’ de V. S. na conformidade da Ley a fim de conservar a paz, e o socego neste Destricto, pois que nao’ ignoro os meios de dar as providecias uma vez q’ a trinta e cinco annos tenho servido a Naçao. Deos Guarde a V. S. Beberibe 6 de Desembro de 1835. Ilm. Snr. Dr. Joaquim Nunes Machado, Juiz de Direito e Chefe da Policia - Antonio Jeronimo Lopes Vianna, Juiz de Paz. (3-4) (Recife 1850) Il est évident que cet auteur, lui aussi, essaie de marquer la coréférence par des procédés anaphoriques: este Vincente. La cohésion textuelle doit être garantie par des relatives (os quaes) et des constructions gérondives (sendo, tendo). Un phénomène qui frappe dans ce texte, c’est la reprise pronominale des objets dans le but d’améliorer la compréhensibilité: mais dois que ainda os nâo pude pegar, os quaes os remetto. Voyons encore très brièvement comment un auteur allemand résout le problème de la coréférence, en 1609: Der Marchese di Carravagio thut von Maylandt nach Polen reisen bey welchem der König in Spannia demselben König und Königin stattliche praesenten zuschickt / >S< und gehet noch die sag / weil der Niderlendische anstand beschlossen / so werden die Spanier ihre Kriegsmacht auff Algieri oder Arace, den entwichenen König von Feez einzusetzen / anwenden. >P< Auß Malta wirdt geschrie- <?page no="260"?> 240 Les hypercorrectismes de la scripturalité ben / daß selbiger Großmeister / als er vernommen / das sich zu Constantinopoli bey dem general vber die Armada permare, ein Ritter Malteser ordens / so zu einem Mammelucken worden / befinde / so sich offerirt, wofern man ihm 100 Galleren vntergeb / so wolt er Malta mit einnemen / […] (Relation 99,36-110,5) Tout comme les auteurs français, espagnol et catalan, l’auteur allemand s’efforce de marquer la coréférence par un procédé anaphorique. Mais le moyen d’expression est différent: au lieu de le dit, el dicho, lo dit nous trouvons derselbe/ selbiger. Les cinq textes que nous venons d’examiner appartiennent à des langues différentes, à des époques différentes et même, dans une certaine mesure, à des traditions discursives différentes (journal, récit historique, livre de famille, rapport). Et pourtant, nous constatons en plus d’un point des ressemblances étonnantes. Les cinq textes font une impression ambigüe. Par endroits, les textes manifestent des incohérences et des faiblesses de référentialisation, comme c’est souvent le cas dans des textes de ce type. Mais, en même temps, nous pouvons constater des efforts très marqués, même exagérés pour rendre claires les références et pour forcer l’intégration des propositions. Dans tous les textes, avec des préférences et des fréquences variées, bien sûr, il s’agit des mêmes procédés. La coréférence est établie par des pronoms démonstratifs, par la reprise pronominale et, avant tout, par des procédés anaphoriques explicites (le dit, derselbe). L’intégration syntaxique se fait au moyen de constructions gérondives, par des conjonctions et des syntagmes relatifs, notamment du type lequel, el cual. Tous ces procédés sont employés avec une fréquence très haute, extrême même comme chez Sebastià Casanovas, qui n’emploie guère de substantif sans lo dit/ la dita. 3. Remarques théoriques Les réflexions relèvent du cadre théorique que Eugenio Coseriu a élaboré. Coseriu distingue trois aspects dans l’activité langagière: le parler, la langue, le discours ou texte. Mes réflexions concernent les techniques universelles du parler. Nous disposons d’un savoir universel en ce qui concerne ces techniques; ce type de savoir, Coseriu l’appelle le „savoir élocutionnel“ (Coseriu 1988). Ce sont avant tout les techniques de référentialisation et d’altérisation. On sait comment il faut parler des choses de façon que les autres comprennent. Ces techniques du parler font usage des champs/ entours (Umfelder) qui entourent les sujets en interaction (Coseriu 1955/ 56). Or, ces techniques sont liées étroitement aux média dans lesquels nous formulons. En parlant (oralement) et en écrivant, nous faisons une analyse de la constitution des média employés. Il n’en va pas autrement: avec le téléphone, le télégramme, le dictaphone, l’E-mail, etc. Imaginons-nous un téléphone muni de télévision. Pour l’employer adéquatement, il nous faudrait analyser la nouvelle situation. Elle nous impo- <?page no="261"?> Remarques théoriques 241 serait par exemple des contraintes de vêtement et de comportement. Mais surtout, nous pourrions montrer quelque chose et parler des expériences visuelles communes. Peu à peu, nous prendrions des habitudes à l’égard du nouveau médium, lesquelles, comme une seconde nature, fonctionneraient presque automatiquement et auraient un statut quasi-universel. 12 Dans ce cas-là, comme du reste dans tous les cas de changement médial, on fait une nouvelle analyse qui, une fois faite, nous permet de maîtriser le médium dans n’importe quelle langue. C’est-à-dire que nous ne changeons pas ces habitudes si nous changeons de langue. Nous avons la possibilité de perfectionner nos analyses pour mieux saisir les possibilités du médium et pour mieux échapper a ses contraintes. 13 Mais avant de prendre ces habitudes et avant d’aboutir à cette perfection, notre emploi du nouveau médium sera marqué par des hésitations et par des irritations. Nos analyses seront encore insuffisantes, ou bien, nous croyons avoir compris le fonctionnement tandis que, en fait nous n’avons saisi que quelques aspects partiels que nous exagérons. Revenons maintenant à l’oral et à l’écrit, dans la perspective d’une analyse de constitution. Quelles sont les différences essentielles? 14 Qui écrit au lieu de parler (ou parle au lieu d’écrire) devra faire implicitement une telle analyse. C’est dans la perspective du semi-colto et de la semi-oralité (pour la différence v. ci-dessus) que nous abordons la question. Quels moyens employer? D’abord la production. Quand nous parlons nous mettons en œuvre le corps entier: les gestes et la mimique en même temps que la voix, qui sera une voix jouant sur les possibilités des éléments suprasegmentaux: accent, intonation, rythme, hauteurs, vocalité… Quand nous écrivons, nous ne disposons plus que de la main et de ses prolongations mécaniques ou électroniques. Quant à la réception, nous percevons des signaux visuels et auditifs, voire d’autres encore. Le lecteur, par contre, est réduit à ses yeux. On pourrait affiner cette analyse en parlant des formes intermédiaires, telles la lecture à haute voix ou le téléphone, qui, eux aussi, sont susceptibles d’une analyse de constitution. Pour quelqu’un qui ne fait que sonder les possibilités du nouveau médium, l’analyse des moyens mènera à la question de savoir comment on peut suppléer à la perte d’information visuelle et suprasegmentale. Comment rendre un froncement ironique des 12 J’ai essayé de donner une interprétation en termes d’histoire universelle de ce que Coseriu appelle les universaux du parler (Schlieben-Lange 1983a). 13 Michael Giesecke a très bien montré que l’exploration du fonctionnement de l’imprimerie s’est faite pendant une période qui correspond à trois générations (Giesecke 1991). 14 Pour des analyses antérieures Schlieben-Lange 1983a et 1990b, et Klein 1985. Ce serait très intéressant d’essayer d’intégrer notre approche et celle de Konrad Ehlich 1983 et 1994, basée sur la théorie des actes de parole. Les paramètres formulés par Koch et Oesterreicher (Koch/ Oesterreicher 1985, Koch 1986, Koch/ Oesterreicher 1990, Koch/ Oesterreicher 1994) se réfèrent aux situations de communication et non pas au fonctionnement des média. <?page no="262"?> 242 Les hypercorrectismes de la scripturalité sourcils; comment sauver l’intonation montante qui indique une question, dans le médium de l’écriture? Vient ensuite la temporalité différente, et ceci sous deux aspects: la permanence et la linéarité. L’oral est fugitif, par contre, l’écriture est permanente, ce qui entraîne des stratégies tout à fait différentes de planification et de correction. Cette permanence de l’écrit sera très vite ressentie comme un gain. La soumission de l’oral au temps est aussi à la base de sa linéarité, linéarité pluriforme comme nous avons vu. Par contre, l’écrit réduit la pluralité corporelle, il est, à cet égard, plus linéaire encore. Mais il offre une possibilité nouvelle, celle d’une lecture (et d’une planification) qui surmonte la linéarité et joue sur plusieurs dimensions. Les possibilités de cette organisation pluridimensionelle ne seront explorées que lentement. 15 En ce qui concerne le sujet, il est en présence dans l’oralité, avec toutes ses émotions, son savoir, son autorité et sa responsabilité. Il peut être interrogé et il peut être pris en charge. Par contre, dans la scripturalité, c’est le texte même qui doit répondre à toutes les questions. Le texte doit être autonome; la productivité du lecteur jouera là où le texte le demande. Pour un novice en écriture se pose le problème de formuler le texte tel qu’il contienne toutes les informations requises, en vue d’une interprétation autonome (Schlieben-Lange 1994). Ceci nous amène à l’emploi différent des entours (entornos) que font l’oral et l’écrit. Cela concerne avant tout la situation et le contexte. De plus, des stocks de savoir locaux devront faire place à des savoirs plus généralisés. Ce sera surtout la perte de la situation comme espace de référence qui sera ressentie. Le problème se pose alors aux auteurs de savoir à quel degré ce qui est sous-entendu doit être explicité. La tendance est celle d’ancrer les points de référence dans le texte même, donc de remplacer la deixis qui renvoie à la situation par la deixis textuelle, anaphorique. oralité scripturalité moyens production réception le corps entier les gestes la voix les yeux/ les oreilles la main et ses prolongations les yeux temps - linéarité - durée linéaire fugitif linéaire + holistique permanent sujet garantit le texte autonomie du texte les entours situation savoirs locaux contexte savoirs généralisés 15 Je renvoie aux discussions intenses qui ont été consacrées à la temporalité des systèmes sémiotiques pendant le 18 e siècle (Lessing, Idéologues, Mercier). <?page no="263"?> Remarques théoriques 243 Les problèmes que pose une mise par écrit sont donc les suivants: - Comment suppléer aux informations perdues? Les processus d’exploration mèneront non pas au remplacement des procédés perdus, mais à la découverte d’une richesse de possibilités jusqu’alors inconnues. - Comment construire le texte de sorte qu’il ,tienne‘ sans la présence de l’auteur (autonomie)? - A quel degré rendre explicites les entours? Les textes que nous avons présentés nous font entrevoir un stade intermédiaire: le déficit de la ponctuation nous fait entrevoir une situation dans laquelle n’a pas encore été établi un système supplémentaire à l’intonation. La volonté de rendre autonome le texte et d’expliciter les entours est le résultat de l’analyse de la constitution de l’écrit, pourvu qu’elle ait été faite. Le cas échéant, nous nous trouvons face à des textes équivalents aux discours oraux, et par conséquent incompréhensibles. Si l’analyse a été faite, les auteurs accorderont une attention élevée aux procédés de référence et aux procédés de jonction; en résultera une fréquence élevée de tous les procédés susceptibles de rendre plus claires les coréférences et les jonctions. L’analyse que nous venons de présenter correspond en partie aux propositions de Peter Koch et de Wulf Oesterreicher, propositions que nos deux collègues et amis ont formulées à partir de 1985, surtout en ce qui concerne la distinction entre les aspects universaux (qui, à mon avis, font partie d’une linguistique du parler, parler basé sur une analyse constitutive de ses conditions médiales) 16 et les phénomènes appartenant à telle ou telle langue historique. Toutefois, au sujet d’autres propositions, faites par ces auteurs, je serai plus hésitante. Les deux auteurs font une distinction stricte entre les aspects médiaux et les aspects conceptionnels de l’oralité et de la scripturalité; ils suivent en cela les propositions de Ludwig Söll. Il y aurait un choix binaire en ce qui concerne le côté médial, tandis que le côté conceptionnel serait organisé de façon scalaire: conceptionnel oral (proximité) graphique phonique conceptionnel écrit (distance) 16 On ne saurait trop insister sur la nécessité de cette distinction comme l’a fait Johannes Kabatek 1994 concernant Schlieben-Lange 1983a. <?page no="264"?> 244 Les hypercorrectismes de la scripturalité Quant au côté conceptionnel, les deux auteurs énumèrent une liste de paramètres situationnels - auxquels correspondrait une gamme de choix de stratégies linguistiques. On voit très bien pourquoi la distinction entre médium et conception est raisonnable: tout d’abord, on se trouve souvent face à des ,discours mixtes‘ qui, tout en employant un médium, ont des traits conceptionnels opposés (un discours élaboré lu à haute voix; une lettre écrite, mais relâchée du point de vue conceptionnel). De plus, cette distinction permet de concevoir une oralité élaborée 17 et une oralité fictive. Cette distinction utile amène les deux auteurs à éviter les concepts d’oral et d’écrit quand il s’agit du domaine conceptionnel: ils préfèrent parler de proximité et de distance. De là, la critique du concept de semi-oralité qui effacerait la distinction acquise entre médium et conception. Sur la base de cette distinction les deux auteurs établissent une systématique des transitions possibles: 18 oral → écrit Verschriftung proximité → distance Verschriftlichung écrit → oral Verlautung distance → proximité Verlautlichung qu’on pourrait rendre par mise en lettres mise en écrit vocalisation oralisation Malgré l’utilité évidente du travail de systématisation entrepris par les deux collègues, j’aimerais formuler ici quelques remarques: 1) La séparation stricte du médial et du conceptionnel amène les auteurs à qualifier les rapports qui existent entre oral (médial) et proximité (conceptionnel), d’un côté, et écrit et distance, d’un autre côté, de simple affinité. A mon avis, ce rapport est beaucoup plus étroit: les contraintes et les possibilités conceptionnelles émanent justement des traits constitutifs du médium. C’est ce que j’ai essayé de démontrer et d’illustrer dans la première partie de mon exposé. Bien sûr, il ne s’agit pas d’une détermination absolue, mais d’un savoir élocutionnel issu d’une analyse constitutive des conditions médiales de la parole. Si on coupe ce lien, les paramètres des stratégies conceptionnelles deviennent arbitraires. 2) J’ai des doutes au sujet de la scalarité dans le domaine du conceptionnel. Il s’agit, bien sûr, de situations complexes qu’on peut essayer de classifier par une combinaison de paramètres situationnels. Mais en ce qui concerne les décisions conceptionnelles, il s’agit tout aussi bien de décisions binaires: ou bien je dispose de la voix et de ses possibilités supraseg- 17 J’avais déjà émis en 1983 l’idée que l’oralité simple et naïve n’est que le résultat d’une réduction de l’oralité à l’informel, historiquement récente. 18 Cette systématique proposée par Koch 1987 a été reprise par Oesterreicher 1993. <?page no="265"?> Remarques théoriques 245 mentales ou bien je dois trouver d’autres solutions. Ou bien je me trouve enfermé dans la linéarité uni-directionnelle de l’oral avec toutes les contraintes conceptionnelles que cela implique ou bien je peux disposer des stratégies de planification que la permanence de l’écriture m’ouvre, avec toutes les possibilités de correction que cela implique. Ou bien je peux défendre en personne mon texte ou bien je dois le formuler de manière qu’il s’explique lui-même. Ou bien je peux me référer à la situation ou bien cela m’est impossible. 19 Il est bien possible, que je n’arrive pas à une bonne solution tout de suite, que j’aie des hésitations et des doutes - ainsi que nos textes le prouvent -, mais il ne s’agit pas là d’une décision scalaire, mais bien de la recherche d’une solution cohérente et adéquate. 3) En ce qui concerne la systématique des transitions, les transitions médiales ne posent pas de problème: on peut lire un texte écrit à haute voix, et on peut transcrire un discours oral. Le cas des ,transitions‘ conceptionnelles est beaucoup plus problématique: rares sont les cas où il y a transformation stricte de quelque chose qui existait avant. 20 Dans la plupart des mises par écrit et des oralisations, on crée quelque chose de nouveau, et ceci parce qu’on se livre aux possibilités du médium et on se soumet à ses contraintes. Et c’est justement le problème (et la chance) des semi-colti que d’explorer ces conditions. 4) Les défauts des textes dont il s’agit ici, en général, ne sont pas des défauts de langue (il peut y en avoir aussi, mais ce ne sont pas les traits les plus saillants), il s’agit bien d’un défaut de cohérence (le critère de l’activité de parler, selon Coseriu). Il faut se méfier, dans ce contexte, du critère de correction. 21 Le discours parlé (ou de proximité) fonctionne dans les entours, de la situation, de la pratique 22 et du savoir local. Si on essaie de restituer la situation et les conditions de performance, en lisant les textes à haute voix, ils deviennent souvent parfaitement compréhensibles et cohérents. Souvent, il y a cohérence du parlé là où il y a incohérence de l’écrit. 19 Les deux auteurs admettent d’ailleurs la non-scalarité du paramètre „raum-zeitliche Nähe oder Distanz der Kommunikationspartner“, Koch/ Oesterreicher 1994, 588; Oesterreicher 1993, 270. 20 Ces cas existent comme le démontrent les explications de la Constitution pendant la Révolution Française (Schlieben-Lange 1990a et 1994). Mais là aussi les transformations conceptionnelles s’accompagnent d’un processus de Aufklärung. 21 Quelques fois Oesterreicher 1994b a tendance à parler de correction grammaticale là où il s’agit plutôt de défauts de cohérence (au plan de l’activité de parler). 22 J’emploie le concept de pratique ici dans le sens de Bühler, tel qu’il a été repris par Ehlich 1983 et Schlieben-Lange 1983a. <?page no="266"?> 246 Les hypercorrectismes de la scripturalité 4. Les objections possibles Pour terminer, j’essaierai de répondre à deux objections possibles. 4.1. Pourquoi les textes en question sont-ils si hétérogènes en ce qui concerne les techniques de référentialisation et de jonction? Je répondrai que la production d’un texte écrit, de tout acte de formulation est un travail complexe. Tant qu’on n’a pas acquis un maniement sûr (l’habitude) d’un médium, il faudra se concentrer sur les activités requises. Ceci implique qu’on va se concentrer sur tel ou tel aspect (en en négligeant d’autres, qui échappent à l’attention). On fait attention à ce qu’on juge pertinent, en vue d’un emploi cohérent du nouveau médium. On se concentre alors sur quelques problèmes et procédés qu’on juge être cruciaux, et cela à un tel point qu’on en fait un emploi hypercorrect. 4.2. Les phénomènes relevés ne proviennent-ils pas de traditions discursives, telles les traditions des textes juridiques et administratifs, comme on l’avait supposé dans la tradition? (voir Stoll 1997, 81ss.) A cette question, je répondrai deux choses: - Il est tout à fait possible que les auteurs aient eu sous les yeux de tels modèles. Mais alors la question se déplace et se pose de nouveau: pourquoi ces traditions-là se sont-elles constituées de cette manière? Ce seraient alors les agents de ces traditions qui auraient éprouvé le besoin de garantir l’autonomie du texte écrit. 23 - Mais même si on ne connaissait pas ces traditions-là, l’analyse de la constitution amènerait les mêmes interrogations. Une polygénèse des hypercorrectismes en question serait parfaitement possible, et le fait que nos exemples proviennent de lieux et de siècles tout à fait différents suggère des origines polygénétiques. Dans tous les cas, il s’agira de clarifier les choses et de faire les distinctions nécessaires. Par ailleurs, on peut supposer qu’il existe aussi des phénomènes d’oralité affichée, comme l’a proposé Isabel Zollna (1997 ms.) 24 , qui a constaté un usage très marqué, voire hyper-correct, de quelques procédés suprasegmentaux dans des discours de type rituel et répétitif. 23 Tout récemment, Wulf Oesterreicher a fait une proposition très pertinente à cet égard: on pourrait constater l’émergence des stratégies discursives très générales qui visent à l’autonomisation du texte écrit ou, à l’inverse, à la contextualisation. Les phénomènes que nous avons traités appartiendraient aux stratégies d’autonomisation. Il en résulte la question théorique troublante si on peut maintenir la distinction entre les niveaux du parler et du discours/ texte. 24 [Inzwischen erschienen als Zollna 2003]. <?page no="267"?> Bibliographie 247 Note: J’ai exposé mes réflexions sur la ,scripturalité affichée‘ lors du colloque Langue écrite et langue parlée dans le passé et dans le présent à Naples, en mars 1997. 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Durch einen Fehler im Druck ist der Titel des Beitrags im Original missverständlich („1. Die Dialektik von Identität und Alterität“), was Brigitte Schlieben- Lange selbst monierte. 1 Der vorliegende Aufsatz geht zurück auf den Festvortrag, den ich anläßlich der Überreichung des Bandes Die Sachen sagen, wie sie sind (Kabatek/ Murguía 1997) am 29.6.98 in Tübingen zu Ehren von Eugenio Coseriu gehalten habe. Dieser Band mit Gesprächen mit E. Coseriu enthält übrigens ein ganzes Kapitel zum Begriff ‚Alterität‘. Dieser Vortrag ging wiederum aus von einem Gespräch mit Eugenio Coseriu über die philosophischen Grundlagen und Implikationen seines Begriffs von Alterität, in dem ich die sozialpsychologischen und wissenssoziologischen Aspekte des Begriffs ins Spiel brachte. Auch die hier vorliegende Fortführung unseres Gesprächs möchte ich Eugenio Coseriu widmen. 2 Diese Formulierung übernehme ich aus Hans Robert Jauß’ Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur (Jauß 1977, 10), das nicht unwesentlich zur Propagierung des Begriffs der ‚Alterität‘ in der heute üblichen Verwendung beigetragen haben dürfte. Interessant ist jedoch, daß Jauß den Terminus durchaus als doppelgesichtigen einführt, der Andersheit und Gleichheit umfaßt: „Ich folge in seinem Gebrauch zugleich der Sprachtheorie Eugenio Coserius, um im Blick auf das hermeneutische Problem der mittelalterlichen Literatur die eigentümlich gedoppelte Struktur eines Diskurses zu benennen, der uns als Zeugnis einer fernen, historisch abgeschiedenen Vergangenheit in befremdender ‚Andersheit‘ erscheint, gleichwohl aber als ästhetischer Gegenstand dank seiner sprachlichen Gestalt auf ein ‚anderes‘, versiebendes Bewußtsein bezogen ist, mithin auch mit einem späteren, nicht mehr zeitgenössischen Adressaten Kommunikation ermöglicht.“ (Jauß 1977, 14) Dieser ‚hermeneutische‘ Begriff von Alterität ist dann in den letzten Jahren besonders mit Elementen der Philosophie von Lévinas aufgeladen worden, die die Unverfügbarkeit des Anderen in den Mittelpunkt stellt (dazu Hermes 1998). 3 Dazu zusammenfassend Oesterreicher 1979. Hier wird ausführlich diskutiert, welche Bedeutung die verschiedenen konstitutiven Eigenschaften von Sprache (oder in Termini von Coseriu: ‚essentiellen Universalien‘, s. u.) für die ebenfalls von Coseriu unterschiedenen Ebenen des Sprechens, der Sprachen und der Texte haben. Wenn ich im folgenden bei der Rekonstruktion von Coserius Begriff der Alterität von Sprechen und Sprache(n) rede, so verwende ich die Begriffe im Sinne dieses systematischen Zusammenhangs. <?page no="272"?> 252 Alterität als sprachtheoretisches Konzept Im folgenden soll nun der Frage nachgegangen werden, ob es bei diesen unterschiedlichen Auffassungen von Alterität einfach um verschiedene Definitionen geht, oder aber um unterschiedliche Akzentsetzungen am gleichen Gegenstand, eben am Anderen. So soll es in meinen Ausführungen zunächst um eine Rekonstruktion des Begriffs der Alterität in Coserius Sprachtheorie gehen. In einem zweiten Teil werde ich dem Begriff der Alterität in anderen theoretischen Zusammenhängen nachgehen, um schließlich zu fragen, welche Konsequenzen diese Überlegungen für verschiedene Bereiche der Sprachwissenschaft haben. 1. Der Begriff der Alterität in der Sprachtheorie von Eugenio Coseriu In Coserius großer Arbeit zur Theorie des Sprachwandels aus dem Jahr 1958 Sincronía, diacronía e historia ist der Begriff der Alterität bereits weitgehend entfaltet. In Auseinandersetzung mit Durkheims Idee des fait social als des Außer-Individuellen betont Coseriu, daß die Alterität/ Sozialität von Sprache eine Dimension des je individuellen Sprechens und des individuellen Sprachbesitzes ist. Schon und gerade als Individuen sprechen wir ‚wie andere‘ und ‚für andere‘. Die Sprache ist von vornherein eine solche, ‚die auch anderen gehört‘. Diese Bestimmung von Sprechen und Sprache hat weitreichende Konsequenzen für sprachliche Varietät und Sprachwandel. Wenn Sprache von vornherein ‚geteilt‘ ist, ist es sinnlos, von ‚Idiolekten‘ zu sprechen (hier berührt sich Coserius Auffassung mit Wittgensteins Kritik der ‚Privatsprache‘). Dies impliziert auch, daß sprachlicher Wandel erst dann vorliegt, wenn eine - individuelle - Innovation von einem zweiten übernommen worden ist. Erst als ‚geteilte‘ gehen die Neuerungen in die Sprache ein. Dies ist nicht nur eine äußerliche Bestimmung. Die Innovationen durchlaufen bei der Übernahme auch ein Verfahren der Re-Interpretation, der Systematisierung. Sie werden ‚regel‘haft in dem doppelten Sinne, daß Regeln nur gemeinschaftliche sein können, und daß sie systematisierend in das Sprachsystem integriert worden sind. Das Konzept der Alterität in Sincronía, diacronía e historia (1958) ist ein sehr differenziertes: man spricht wie andere, aber doch nicht völlig identisch: Doch ist die Sprache des Sprechers (das sprachliche Wissen) nie vollkommen identisch mit der des Hörers, während das gesprochene Wort - nach Montaigne - immer „zur Hälfte vom Sprecher und zur Hälfte vom Hörer“ ist. Daher die ständige Anstrengung, daß die beiden ‚Hälften‘ möglichst gleich werden, die Neigung, zu sprechen wie der andere […] damit der andere versteht. (Coseriu 1974a, 65) Die beiden Bestimmungen des Wie-Andere-Sprechen und des Für-Andere- Sprechen können sogar zueinander in Widerspruch geraten: die Solidarität <?page no="273"?> Der Begriff der Alterität in der Sprachtheorie von Eugenio Coseriu 253 mit der Tradition (‚wie‘ andere) kann unter Umständen zugunsten der Solidarität mit dem Gesprächspartner, ‚für‘ den man spricht und dem man sich verständlich machen will, suspendiert werden. Die theoretischen Bezugspunkte sind in Sincronía, diacronía e historia Hegel, der besonders den Nexus von Alterität und Exteriorität betont (die Sprache muß, um ‚für andere‘ sein zu können, aus dem Individuum heraustreten, sich materialisieren) 4 , Merleau-Ponty und damit die phänomenologische Tradition der Diskussion von Intersubjektivität, Pagliaro (von dem Coseriu den Begriff der Alterität übernimmt) und Calogero, der gegen Croces Betonung der Kreativität die intrinsische Kommunikabilität betont: Sprechen ist „evasione dal chiuso carcere di sé stessi“. 5 Soweit zu Sincronía, diacronía e historia. In zahlreichen Aufsätzen der 60er und 70er Jahre setzt Coseriu dann die Bestimmung der Alterität zu anderen konstitutiven Merkmalen von Sprache in Beziehung, auf dem Linguistenkongreß in Bologna 1972 in direkter Auseinandersetzung mit der damaligen Diskussion um substantielle und formale Universalien. Er unterscheidet in einer Art Konstitutionsanalyse zwischen begrifflichen und essentiellen (also solchen, die zur Definition von Sprache gehören) Universalien einerseits und Aussagen über empirische Generalitäten andererseits. Essentielle Universalien sind also solche, die zur Definition von Sprache gehören. Coseriu nennt fünf solcher Universalien: Kreativität, Historizität, Alterität (hier so definiert: „Alterität meint den Umstand, daß jeder sprachliche Akt von einem sprachlichen Subjekt an ein anderes Subjekt gerichtet ist“, Coseriu 1975b: 154), Exteriorität und Semantizität. Später reduziert er diese fünf Universalien auf drei, insofern Historizität und Exteriorität als aus den fundierenden drei Universalien der Kreativität, der Alterität und der Semantizität abgeleitet gelten können: 4 Der Zusammenhang von Sozialität und Exteriorisierung in der Sprache wird von Hegel mehrfach erläutert, so zum Beispiel in der Phänomenologie des Geistes VI B: „Diese Entfremdung aber geschieht allein in der Sprache, welche hier in ihrer eigentümlichen Bedeutung auftritt. In der Welt der Sittlichkeit Gesetz und Befehl, in der Welt der Wirklichkeit erst Rat, hat sie das Wesen zum Inhalte und ist dessen Form; hier aber erhält sie die Form, welche sie ist selbst zum Inhalte und gilt als Sprache […] in ihr tritt die für sich seiende Einzelheit des Selbstbewußtseins als solche in die Existenz, so daß sie für andere ist.“ (Hegel 1807/ 1970, 376). 5 Calogero 1947, 244. Gegen Vico und Croce, die der poetischen Sprache die Priorität geben, betont Calogero die comunicabilità intrinseca: „[…] giacché non si fanno segni se non al fine che vengano intesi, o almeno nella speranza che vengano intesi. Una coscienza che significhi presuppone una coscienza che interpreti, che cioè accolga il segno e lo capisca. L’esperienza linguistica non ha luogo, con ciò, senza una dualità di coscienze, la quale non è meno reale per il fatto […]“ (Calogero 1947, 240). <?page no="274"?> 254 Alterität als sprachtheoretisches Konzept Kreativität Alterität Semantizität Historizität Exteriorität Wenn das Sprechen gleichermaßen frei (Kreativität) wie auch an andere gerichtet (Alterität) ist, so folgt daraus, daß Sprachen sich notwendigerweise verändern müssen, da die jeweilige freie Tätigkeit immer wieder in das Sprechen ‚wie andere‘ eingebunden werden muß. Wenn andererseits das Wesen der Sprache darin besteht, ‚für andere‘ (Alterität) zu bedeuten (Semantizität), so ist die Übermittlung der Bedeutungen auf Exteriorisierung verwiesen. Durch diese Zuordnung rückt die Alterität in die Mitte des Systems von Universalien, denn als einzige Universale ist sie in zwei Beziehungen eingebunden. So bekommt nach und nach der soziale Charakter von Sprache eine gewisse Präponderanz gegenüber dem Weltbezug und dem Selbstbezug. In späteren Arbeiten von Eugenio Coseriu tritt dann eine andere Frage in den Vordergrund, nämlich ob nicht eigentlich Historizität und Alterität zusammenfallen. In Lenguaje y política (1987) steht diese Überlegung im Zentrum. Als politische und historische Gemeinsamkeit (mit Bezug auf Aristoteles: das politische Wesen ist dasjenige, das über logos verfügt oder, besser, weil es über Sprache verfügt, ist es ein politisches Wesen) verbindet und trennt Alterität, hier festgelegt auf das ‚Sprechen wie andere‘: la alteridad une y opone (die Alterität verbindet und trennt), und dies auf verschiedenen Ebenen: die Gemeinschaft der Sprecher eines Dialekts steht einer anderen solchen Gemeinschaft gegenüber; auf der Ebene der Sprachgemeinschaft werden diese Unterschiede unerheblich: die Sprachgemeinschaft als ganze steht wieder einer anderen gegenüber, wobei die beiden Pole dieses Vexierspiels das Individuum und die Menschheit sind. 6 Und schließlich, und damit komme ich zu einem vorläufigen Ende meiner kurzen Rekonstruktion, spielt der Begriff der Alterität auch eine große Rolle in Coserius wissenschaftsgeschichtlichen Arbeiten, insbesondere in der Aufarbeitung der Geschichte des Theorems des arbitraire du signe und der physei-thesei-Diskussion. Denn was ist das beneplacitum, die institutio anderes als die Einführung der Dimension der Alterität in die Arbeit der Erfassung der Welt, die sich als physis, Natur zurückzieht? 7 6 Die Idee einer Stufung von Verschiedenheit und Gleichheit vom Individuum bis zur gesamten Menschheit, wobei die mittlere Zone von verschiedenen historischen Manifestationsweisen von Sprache, besonders den ‚Nationen‘ (und anderer Gruppen) besetzt wird, ist zuerst von Humboldt ausgearbeitet worden. Eine sehr schöne Rekonstruktion dieser Aufstufung findet sich in Trabant 1997. 7 Coseriu 1967. Die Geschichte der Sprachphilosophie kann als eine Geschichte der Problematisierung der Identifikation von Welt und Sprache (wie sie einem magischen Sprachverständnis zugrundeliegt: wer über die Namen verfügt, verfügt über die Welt) verstanden werden. Während dies Allgemeingut ist, hat Coseriu in beson- <?page no="275"?> Der Begriff der Alterität in der Sprachtheorie von Eugenio Coseriu 255 Ich komme zurück zu meiner Ausgangsfrage: wie steht der soeben skizzierte Coseriusche Begriff von Alterität zu dem, wie er in der aktuellen Diskussion verwendet wird, der Alterität als dem ganz Anderen, Unzugänglichen? Erinnern wir uns, daß Coseriu, trotz der gelegentlichen Betonung des Gemeinschaftlichen der Sprache, bis hin zur Überlegung, ob nicht Alterität und Historizität zusammenfallen, immer wieder nachdrücklich die Doppelgesichtigkeit von Alterität hervorgehoben hat: das Sprechen ‚wie andere‘ und das Sprechen ‚für andere‘. Anläßlich von Sincronía, diacronía e historia war schon die Rede von den beiden Hälften des Sprechens und der ständigen Anstrengung, diese beiden Hälften zusammenzubringen. Noch deutlicher steht in Determinación y entorno (1955-56) zu lesen: Zudem ist in jedem Augenblick das wirklich Gesagte weniger als das Ausgedrückte und Verstandene. (Coseriu 1975a, 276) Letztlich sprechen eben doch unvereinbare Individuen miteinander, die zwar als Individuen Anteil an der mit anderen geteilten Sprache haben (so Coseriu gegen Durkheim), deren Individualität jedoch nie vollständig in der gemeinsamen Sprache aufgeht. Es ist vielleicht nicht überflüssig, einmal mehr Humboldts unübertroffene Formulierung dieses Sachverhalts in Erinnerung zu rufen: Erst im Individuum erhält die Sprache ihre letzte Bestimmtheit. Keiner denkt bei dem Wort gerade und genau das, was der andre, und die noch so kleine Verschiedenheit zittert, wie ein Kreis im Wasser, durch die ganze Sprache fort. Alles Verstehen ist daher immer zugleich ein Nicht-Verstehen, alle Uebereinstimmung in Gedanken und Gefühlen zugleich ein Auseinandergehen. (Humboldt 1822-1835/ 1963, 439) Bis in die jüngsten Schriften hält Coseriu diese Doppelgesichtigkeit von Alterität präsent, zuletzt wieder in dem wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhang der physei-thesei-Kontroverse: Die -Lösung verbirgt ihrerseits die Intuition, daß die Sprache eine Grundform der schöpferischen Freiheit des Menschen ist, und unter der Idee der ‚Übereinkunft‘ hinsichtlich der Bedeutungen die Intuition der ‚Alterität‘ der Sprache, also die Tatsache, daß die Sprache ursprünglich schon auf einen Anderen ausgerichtet ist und als auch Anderen gehörend angesehen wird, sowie der daraus resultierenden Historizität (Einzelsprachlichkeit) der Bedeutungen und der Sprache überhaupt. (Coseriu/ Matilal 1996, 888) ders deutlicher Weise hervorgehoben, daß bei der Auflösung des Nexus von Welt und Sprache die Alterität entscheidendes Gewicht bekommt. Wenn die Sprache nicht mehr einfach die Strukturen der Natur widerspiegelt, so muß die nichtwiderspiegelnde Kategorisierung von Welt sozial ausgehandelt werden. Eine weitere Stufe auf diesem Weg ist dann die Theoretisierung der ‚Verschiedenheiten‘ dieser Kategorisierungen, wie sie zuerst bei Locke und dann bei Humboldt und in dessen Tradition vorgenommen wird. <?page no="276"?> 256 Alterität als sprachtheoretisches Konzept Alter ist immer beides: der virtuell Gleiche, das Ko-Subjekt, ein Subjekt wie ich, und der zweite, nicht alius, alter, nicht ein beliebiger Anderer, sondern der für mich relevante, mir aufgegebene und doch ganz Andere, ganz nie Einzuholende. Und diese antinomische Bestimmung von Alterität muß ausgehalten werden. Der Andere muß als Gleicher und Anderer erkannt werden. Dies wird übrigens auch in der Metapher der ‚Geteiltheit‘ (participation) deutlich, die im Laufe der Wissenschaftsgeschichte für das hier interessierende Problem immer wieder herangezogen wurde: 8 das Geteilte ist das Gemeinsame, aber auch das Trennende („wir sind geteilter Meinung“). Partizipation und Partialisierung gehen Hand in Hand. 2. Ego und Alter bei George Herbert Mead und Alfred Schütz Im Verlauf der Rekonstruktion der Kategorie der Alterität im sprachtheoretischen Werk von Eugenio Coseriu habe ich bereits beiläufig auf einige Traditionsstränge hingewiesen, die bei der Herausbildung des Konzepts eine Rolle gespielt haben. 9 In den zwanziger Jahren werden die Probleme der Alterität in zwei bis zu einem gewissen Grade auch verwobenen theoretischen Zusammenhängen entfaltet, auf die ich nun kurz zu sprechen kommen möchte, ehe ich auf die Konsequenzen des Konzepts für die Sprachwissenschaft eingehe, nämlich bei G. H. Mead und in der phänomenologisch inspirierten Wissenssoziologie, besonders bei Alfred Schütz. Was George Herbert Mead betrifft, so darf die behavioristische Terminologie keinesfalls den Zugang zur Relevanz seiner Arbeiten für den uns interessierenden Fragenkomplex verstellen. Ähnlich wie Saussures Cours de Linguistique Générale sind auch seine Werke postum veröffentlicht worden, und dann behavioristisch reformuliert worden. 10 Meads Rekonstruktion des Übergangs von der Lautgebärde und der signifikanten Geste zum sprachlichen Symbol expliziert die Wirkungsweise der Alterität: das lautliche Symbol klingt für mich genauso wie für den anderen; ich kann also seine Verstehensmöglichkeiten antizipieren, und indem ich dies tue, taking the 8 So zum Beispiel schon von James Harris in seinem Hermes (1951). Von „geteiltem Wissen“ ist in der gesamten wissenssoziologischen Literatur die Rede. 9 Besonders wichtig ist natürlich Humboldt, der als erster die Dialogizität von Sprache in den Mittelpunkt der Sprachtheorie gestellt hat. Dies hat Jürgen Trabant in den letzten Jahren sehr überzeugend herausgearbeitet (Trabant 1985, 1986). Vgl. oben Anm. 6. Weiterhin ist vor allem an das Gesamtwerk von Ernst Cassirer zu denken. Besonders möchte ich auf Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt hinweisen. (1932-33/ 1985). Dort wird das Verhältnis zwischen der Ich-Du-Beziehung im Sprechen (als wechselseitiger und jederzeit umkehrbarer) und dem Weltbezug einerseits (der ursprünglich nach dem Modell der Ich-Du-Beziehung interpretiert wird) und dem Selbstbezug andererseits (erst - geteilte - Symbole ermöglichen Subjektivität) thematisiert. Zu Cassirers Konzeption jetzt auch Habermas 1997. 10 Zu Mead vgl. Joas 1980 und 1985, Habermas 1981. <?page no="277"?> Ego und Alter bei George Herbert Mead und Alfred Schütz 257 part (attitude/ role) of the other, stelle ich eine gemeinsame Bedeutung her, die durch ihre gleichzeitig wahrnehmbare Materialität für mich noch größere Bestimmtheit gewinnt. In mehreren weiteren Schritten (über play und game) generalisiere ich diese dyadisch erarbeiteten Symbole. Other wird zum generalized other. Er bleibt aber, so können wir in Fortsetzung unserer vorherigen Ausführungen hinzusetzen (obwohl dies in der Mead-Exegese nicht unumstritten ist), als other mit seiner - andersartigen - Perspektive bestehen. Der generalisierte Andere (generalized other) umfaßt also ego und alter, die zwar in ihm aufgehoben sind, aber als solche weiterbestehen und vielfältige und mehrdimensionale andere Beziehungen eingehen. gen. A.1. = wir ego | | alter ich du gen. A. 2. ihr Zu der gleichen Zeit, in der in den USA Mead den Übergang von der signifikanten Geste zum Symbol und weiter die Entstehung eines generalisierten Anderen rekonstruiert, befaßt sich ein junger Denker, den das Alteritäts- Problem sein ganzes Leben nicht mehr loslassen sollte, mit der Konstitution der Sprache in der Ich-Du-Beziehung: Alfred Schütz. Besonders bemerkenswert ist ein früher Text, der 1925 fertiggestellt wurde, dem Schütz selbst den Titel Spracharbeit gab. Die Symbolrelation entsteht allererst dadurch, daß ich einen anderen als Du erlebe, d. h. als Schnittpunkt zweier Dauern, in dem wir wechselseitig unsere Perspektiven übernehmen. Das Du steht am Schnittpunkt zweier Dauern, zweier Gedächtnis-, zweier Handlungsabläufe: des meinen, von der ich primäre evidente Kenntnisse habe, des seinen, als welchen ich mir meine Erlebnisse von ihm deute. Und diese Symbolrelation führt dazu, daß ich dasselbe Erlebnis, welches mir vom Du kommt, beim Du für die Erlebnisse, die ihm von mir kommen, voraussetze; daß ich das Du für von mir verstehbar und mich und mein Leben vom Du verstanden annehme; daß ich also Handlungen setzen kann, welche vom Du nicht nur wahrgenommen, sondern auch gedeutet zu werden die Chance haben, und Bewegungen des Du als dessen Handlung aufzufassen fähig bin, die ich mir zu deuten imstande bin, wie ich mir meine eigenen Handlungen deute. (Schütz 1924-1927/ 1981, 212) Diese im Ich-Du-Verhältnis konstituierte Symbolrelation verändert unsere Möglichkeit, die Welt zu erfassen, nachhaltig: Nicht also, daß ein visuelles oder akustisches Erlebnis in Relation zu einem andersartigen Erlebnis gebracht wird, ist das Wunder der Sprache, sondern, daß durch das Symbol des Wortes das symbolisierte Erlebnis von Grund auf verän- <?page no="278"?> 258 Alterität als sprachtheoretisches Konzept dert, nämlich notwendig in die Dubeziehung eingestellt wird. Ja, die Macht dieser Veränderung geht so weit, daß das Wort eine Neugestaltung der Welt vornimmt, hinter deren Primat alle anderen Erlebnisse wie von Schleiern bedeckt verschwinden. (Schütz 1924-1927/ 1981, 213 f.) Ganz ähnlich wie Cassirer, der in dieser Hinsicht Humboldt radikalisiert, arbeitet Schütz heraus, wie diese Symbolrelation unser Weltverhältnis verändert. Der direkte erlebnishafte Zugang zur Welt ist uns durch die Sprache verstellt und gleichzeitig auf andere Weise eröffnet: Das Wort stellt sich vor das Ding und macht es unerlebbar. Nur mehr benannte Dinge gibt es, nur mehr Gruppen von Dingen, die unter ein und dasselbe Wort fallen. Erst die Sprache ermöglicht die Vergleichbarkeit von Erlebnissen, die Zusammenfassung heterogenster Phänomene, die notwendig schon deshalb heterogen sind, weil das, was das Wort, und zwar ein Wort bezeichnet, in verschiedenen Ichs reales Erlebnis wird. (Schütz 1924-1927/ 1981, 214) Das Wort hat zum erstenmal in meine Welt des erlebenden Ich den Tod gebracht. Aber es hat diese Welt, die nicht nur mir, sondern auch dem Du zugehört, recht eigentlich erst mit Leben erfüllt. (Schütz 1924-1927/ 1981, 214) In der Folge hat sich Alfred Schütz intensiv mit Husserl auseinandergesetzt, insbesondere mit der fünften cartesianischen Meditation (1931), in der Husserl den Versuch der transzendentalen Begründung der Intersubjektivität macht. Die schwierigen erkenntnistheoretischen Probleme will ich hier nicht weiterverfolgen, da es hier ausschließlich um die sprachtheoretische Entfaltung des Konzepts der Alterität geht. Vielleicht nur so viel: möglicherweise hat man Husserls schwierigen Text zu schnell beiseitegelegt: die Überlegungen, daß gerichtete Intentionalität zum transzendentalen Ego gehört und es gleichzeitig überschreitet, daß Paarung appräsentierende, d. h. analogiegesteuerte (vs. originäre) Erfahrung aufdrängt, scheinen mir noch nicht voll in ihrem sprachtheoretischen Gehalt ausgeschöpft zu sein. 11 Für Schütz jedenfalls führt die Auseinandersetzung mit Husserl (auch mit der Husserl-Nachfolge bei Heidegger und Sartre 12 ) zur Formulierung seiner Theorie der Lebenswelt, in der bereits eine mundane (nicht transzendentale) Intersubjektivität, die sich im gemeinsamen Handeln konstituiert hat, gegeben ist. In dieser bereits vorgängig interpretierten Welt gilt grundlegend die Annahme der Reziprozität der Perspektiven: wir unterstellen idealisierend 11 Zu Schütz’ Auseinandersetzung mit Husserls egologischem und erst nachträglich intersubjektiv ergänzten Ansatz Schütz 1957 und vor allem der faszinierende Briefwechsel mit Aron Gurwitsch (Grathoff 1985). Weiterhin Carr 1987. 12 Die verschiedenen Ausprägungen und Weiterführungen der Phänomenologie müßten im Zusammenhang auf unsere sprachtheoretische Fragestellung hin gelesen werden: Merleau-Ponty, Sartre, Ricœur in Frankreich, Heidegger und Gadamer in Deutschland, und schließlich die Philosophie und Soziologie der Lebenswelt in den USA. <?page no="279"?> Alterität als sprachtheoretische Kategorie 259 die Vertauschbarkeit der Standorte und die Kongruenz der Relevanzsysteme. In dieser zweiten, amerikanischen Phase des Schützschen Denkens hat die Wir-Beziehung (auch in Form synchronisierter vorsprachlicher Erlebnisse) die Ich-Du-Beziehung abgelöst. Wir befinden uns in einer bereits interpretierten Welt und nehmen (anstelle des konkreten Perspektiventauschs wie bei Mead) bestimmte Idealisierungen vor. 13 Die interpretative Soziologie übernimmt wesentliche Elemente aus den Theorien von Mead und Schütz, wobei die Akzentuierungen unterschiedlich sind: während etwa bei Cicourel und Luckmann die lebensweltliche Fundierung der Wir-Beziehung und die sprachfundierenden Idealisierungen im Vordergrund stehen, betont die Ethnomethodologie im Anschluß an Garfinkel die Notwendigkeit der je lokalen Aushandlung von Bedeutungen, in einem, wie es Habermas ausdrückt, „Vortasten von einem problematischen Augenblickskonsens zum nächsten“ (Habermas 1981, I, 180). Beide Perspektivierungen sind notwendig und komplementär: genetisch wird Sprache in der Ich-Du-Beziehung durch die wechselseitige Übernahme der Perspektiven begründet, und diese Ebene der Bedeutungskonstitution bleibt jederzeit aktualisierbar; historisch befinden wir uns in einer bereits vorfindlichen wir-förmig interpretierten Welt. 3. Alterität als sprachtheoretische Kategorie: Sprechen wie andere und Sprechen für andere Damit sind wir wieder bei der Doppelgesichtigkeit von alter und damit auch des für Sprache konstitutiven Zugs der Alterität angelangt, die in der Sprachtheorie von Coseriu, wie oben gezeigt, eine zentrale Rolle spielt. Mit alter teilen wir bereits - scheinbar unproblematisch - eine sprachlich inter- 13 Zur Genese dieser Interessenverschiebung von der transzendentalen zur mundanen Perspektive und von der Intersubjektivität zur Lebensweltanalyse vgl. den in Anm. 11 erwähnten Briefwechsel (Grathoff 1985) und auch das Nachwort des Herausgebers Grathoff. „Ich und Du sind mundane Phänomene und stellen mundane Probleme.“ (Schütz, in Grathoff 1985, 369) „Nicht Kommunikation fundiert Wirhaftigkeit und Intersubjektivität, sondern andersherum: Im Vorsprachlichen (Hören z. B.) liegen die Fundierungen des Sprachlichen, im Intersubjektiven die Fundierung von Kommunikation und Sozialität.“ (Grathoff 1985, 485) Die Ausarbeitung der Lebensweltanalyse findet sich in Schütz/ Luckmann 1975 und 1984. Allerdings kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Soziologen Luckmann und Grathoff in ihren Überarbeitungen und Kommentaren die Priorität der lebensweltlichen Perspektive glättend vereinheitlichen. Interessant sind in diesem Zusammenhang die in Schütz/ Luckmann 1984 veröffentlichten Materialien von Schütz’ Hand. Insgesamt müßten Schütz’ Arbeiten, vor allem auch die verstreuten Bemerkungen in den verschiedenen Korrespondenzen und die nachgelassenen Materialien, in sprachtheoretischer Perspektivierung noch einmal gründlich bearbeitet werden. Vgl. weiterhin Sprondel/ Grathoff 1979, Habermas 1981, Grathoff/ Waldenfels 1983, Grathoff 1995. <?page no="280"?> 260 Alterität als sprachtheoretisches Konzept pretierte Welt. Diese sprachliche Interpretiertheit ist so selbstverständlich, daß wir dazu neigen, sie zu übersehen. Gadamer spricht in diesem Zusammenhang von der ‚Selbstvergessenheit‘ der Sprache. Selbst Husserl glaubt, in der Konstitutionsanalyse des transzendentalen Ego von der sprachlichen Vorinterpretiertheit, die sich in die eidetische Konstitution der cogitata einmischt, absehen zu können. Und auch die Wissenssoziologie Schützscher Prägung minimiert schließlich (in allmählicher Entfernung vom oben besprochenen Schützschen Text von 1925) die Rolle der Sprache auf die Fixierung von lebensweltlich relevanten Typisierungen. Andererseits aber wird uns diese Welt in alter stets von neuem problematisch. Im jeweiligen Sprechen wird das ‚Wie-Andere‘ brüchig: die Aufgabe des Sprechens ist das ‚Für-Andere-Sprechen‘ um den Preis der Gefährdung des Ausgangs- Konsenses. Das bereits garantiert Geglaubte muß in jedem Augenblick wieder garantiert werden, mit dem Risiko der zeitweiligen Aufkündigung. Diese stetige Gefährdung des Wie-Andere durch das Für-Andere (und auch durch das ‚Anringen‘ an die Welt) 14 wird wiederum von jenen vernachlässigt, die gegen das Verschwinden der Sprache in der Selbstverständlichkeit (und Sprachvergessenheit) des Denkens und der Lebenswelt die fundierende Rolle der Sprache hervorheben und diese zum Angelpunkt ihres Philosophierens machen wie die sprachanalytische Philosophie und die Transzendentalpragmatik. Zwar ist jede Bestätigung und jede Aufkündigung von sprachlicher Gemeinsamkeit im Sprechen in ein übermächtiges Netz von Gemeinsamkeiten eingebettet, aber dieses Netz selbst besteht eben nur aufgrund eines in jedem Punkt immer wieder gefährdeten und zu bestätigenden Konsenses. Die beiden Gefährdungen der Sprachphilosophie: die Minimierung der Rolle der Sprache wie auch ihre Absolutsetzung können nur durch eine rigorose Alteritäts-Reflexion vermieden werden. 4. Konsequenzen der Alteritätsüberlegungen für die Sprachwissenschaft Nachdem wir uns nun einige Probleme der Alterität als zentraler sprachtheoretischer Kategorie, durch eine knappe Lektüre von Mead und Schütz hindurch, verdeutlicht haben: die Unterscheidung von Anderem und generalisiertem Anderem 15 , die Entfernung von der Welt durch Sprache, die 14 Ich wähle hier bewußt das Humboldtsche Wort des ‚Anringens‘, um die Gewichtigkeit des Weltbezugs des Sprechens deutlich zu machen, der in der Konzentration auf die Alteritäts-Dimension aus den Augen zu geraten droht. Vgl. dazu auch Trabant 1997. 15 Ein zentrales Problem, das wir zunächst im Interesse der Herausarbeitung der Doppelgesichtigkeit von Alterität ausgeklammert haben, ist die Erhellung des Sprungs von other zu generalized other, von der Dyade zur Gruppe oder, anders gewendet, von der Mikro-Ebene zur Makro-Ebene. Dieses Problem wird unter dem <?page no="281"?> Konsequenzen der Alteritätsüberlegungen für die Sprachwissenschaft 261 Komplementarität von genetischer und historischer Perspektive, wollen wir uns abschließend fragen, inwiefern das Ernstnehmen des Universale der Alterität, und zwar gerade im Aushalten des Anderen als des prinzipielle Gleichen und des ganz Anderen, die Sprachwissenschaft selbst verändern könnte. Zunächst einmal müssen wir feststellen, daß viele aktuelle Richtungen der Sprachwissenschaft wie auch der Sprachphilosophie gänzlich ohne Reflexion der Alteritäts-Dimension auszukommen glauben. Dies gilt für die analytische Sprachphilosophie 16 , es gilt für den Großteil der kognitiven Linguistik; und wenn wir über die Sprachwissenschaft hinaussehen, so gilt es erstaunlicherweise sogar für weite Bereiche des Konstruktivismus, der die Kompatibilität je individueller Weltinterpretationen nur in Termini von Viabilität und Kompatibilität thematisiert. 17 Welche Fragestellungen der Sprachtheorie und der Sprachwissenschaft können sich nun durch die Alteritäts-Reflexion verändern? Coserius mittlerweile 40 Jahre alten Überlegungen zum ‚Sprachwandel‘ in Sincronía, diacronía e historia scheinen mir nach wie vor für eine angemessene Erfahrung von Sprachgeschichte unverzichtbar zu sein und müssen gerade in der aktuellen Diskussion wieder zu Gehör gebracht werden. 18 Wir schlagen uns nicht einsam Trampelpfade durch das Dickicht und wundern uns, daß sie, von unsichtbarer Hand geleitet, zu einer Straße werden, sondern wir schaffen diese sprachliche Straße gemeinsam und in ständigem Bezug aufeinander. Wenn nun also die Reflexion der Alterität für das Verstehen der Sprachgeschichte unabdingbar ist, gilt dies in gleicher Weise auch für die ‚Beschreibung der Sprachen‘? Ganz sicher gilt es für die Ebene der Norm (im Sinne von Coseriu), auf der sich das subtile Spiel der Konstitution von Wir- Identitäten (generalisierten Anderen) in Abgrenzung gegen andere generalisierte Andere vollzieht. Ganz sicher gilt es für den ganzen Bereich des materiell Manifesten, insofern es darum geht, so zu sprechen wie die anderen oder anders als die anderen. Wie aber können wir sicher sein, daß auch die ‚Bedeutungen‘ geteilt sind? Dies ist ein zentrales Problem der Sprachphilosophie von Locke bis Schlagwort der invisible hand zur Zeit in der Sprachwandeltheorie behandelt. Eine produktive Rezeption der soziologischen Theoriebildung zu diesem Problem ist für eine an Alterität interessierte Sprachtheorie unverzichtbar. 16 Habermas 1981 spricht von der Intersubjektivität als von einem „in der analytischen Philosophie vergessenen Thema“ (I, 164). 17 Vgl. zum Beispiel von Glasersfeld 1996. 18 Coseriu hat diese Überlegungen im Laufe der Jahrzehnte weiter vertieft und radikalisiert, bis hin zu solchen Formulierungen wie „Language change doesn’t exist“ und zur Forderung, daß, in Abwandlung von Saussures Diktum, daß die langue die Basis der Sprachwissenschaft sein müsse, die parole der Ausgangspunkt der Sprachwissenschaft sein müsse. All diese Überlegungen stehen in engstem Zusammenhang mit der Alteritäts-Reflexion. <?page no="282"?> 262 Alterität als sprachtheoretisches Konzept Humboldt 19 , wo immer wieder grundsätzliche Zweifel an der Verbindlichkeit und damit an der Möglichkeit von Repräsentation geäußert werden. In der Formulierung vom glissement du signifié sous le signifiant ist der Zweifel auch in der poststrukturalistischen Diskussion wieder thematisch geworden. Und doch müssen wir, trotz der immer wiederkehrenden Erfahrung von Alterität als dem ganz Anderen an der Unterstellung von Alterität als dem Gemeinsamen festhalten. Wir sprechen so, als hätten wir geteilte Bedeutungen, auch wenn uns die Lebenserfahrung immer wieder eines anderen belehrt. Wir müssen an der stets gefährdeten, brüchigen Unterstellung eines geteilten Systems von Bedeutungen festhalten, sonst würden wir, wie Grice es für seine Konversationsmaximen formuliert, let ourselves down (Grice 1975). Es wäre sinnlos zu sprechen, wir gäben uns selbst als sprechende Wesen auf, wenn wir nicht diese Unterstellung geteilter Bedeutungen machten. Ja, noch stärker: unsere eigenen Bedeutungen, die wir für unsere Beziehung der Welt und zu uns selbst brauchen 20 , sind uns nur als geteilte gegeben. Die Gefährdung dieser Konstitutionsweise von Bedeutung sieht Humboldt überaus deutlich: Es bleibt zwischen dem Wort und seinem Gegenstande eine so befremdende Kluft, das Wort gleicht, allein im Einzelnen geboren, so sehr einem blossen Scheinobject, die Sprache kann auch nicht vom Einzelnen, sie kann nur gesellschaftlich, nur indem an einen gewagten Versuch ein neuer sich anknüpft, zur Wirklichkeit gebracht werden. (Humboldt 1827/ 1985, 125) 21 Wenn es nun so ist, daß wir, um mit Saussure zu sprechen, dem „Wirbel der Zeichen“ ausgeliefert sind 22 , und daß die Konstitution von Bedeutungen nur in immer neuen und aufeinander bezogenen ‚gewagten Versuchen‘ erfol- 19 In der Sprachphilosophie der Aufklärung wird das Problem vor allem in Frankreich (verstärkt in und unmittelbar nach der Revolution, z. B. bei Destutt de Tracy) als Problem des abus und der indétermination des mots behandelt. 20 Vgl. oben Anm. 9 zu Cassirer und das zu Schütz Gesagte. 21 Zu diesen Aspekten der Humboldtschen Sprachtheorie Trabant 1985 und 1986. 22 Die jüngste Saussure-Interpretation durch Fehr 1997 zeigt, daß für Saussure die Reflexion über die ‚Zirkulation‘, über den ‚Wirbel der Zeichen‘ und vor allem über Konstanz und Wandel der ‚signifié-Seite‘, eine ständige Beunruhigung und ein starkes Movens seiner sprachtheoretischen Überlegungen war, interessanterweise angeregt durch die intensive Beschäftigung mit der Existenz weise mündlicher Überlieferung; „Wer mit Zeichen zu tun hat - und für jeden, der spricht, ist dies unausweichlich der Fall -, kommt mit etwas haltlos Abgründigem in Berührung. In der Bemerkung, Zeichen hätten nicht einmal die Konsistenz ‚einer Seifenblase‘, schwingt etwas mit, was über den Ton einer sachlich neutralen Feststellung hinausgeht, und wenn Saussure gar ‚vom semiologischen Individuum‘ spricht, das im Gegensatz zum ‚organischen Individuum‘ kein ‚Mittel habe, um zu beweisen, daß es dasselbe geblieben ist‘, und damit die Inkonsistenz der Zeichen personifiziert, ist spätestens klar, daß hier nicht einfach etwas beschrieben wird, was nur die sprechenden Subjekte im allgemeinen betrifft, sondern vielmehr eine Struktur, in der sich Saussure als sprechendes Subjekt in dramatischer Weise involviert sieht.“ (Fehr 1997, 162) <?page no="283"?> Konsequenzen der Alteritätsüberlegungen für die Sprachwissenschaft 263 gen kann, müssen wir uns dieser Geteiltheit immer wieder versichern und tun es auch in den verschiedensten Formen: durch Synonymenscheidung, durch Antonyme, Definitionen, Evokation prototypischer Bilder. Dieser Sachverhalt kann nicht ohne Folgen für die Beschreibung von Bedeutung sein: eine Semantiktheorie wird sich u. a. daran zu bewähren haben, wie sie dieser Verfaßtheit von Bedeutungen in der Sorge um ihre Geteiltheit, gerade auch unter dem Gesichtspunkt ihrer mentalen Repräsentation, Rechnung trägt. 23 Die Beschaffenheit der Sprachen als historisch veränderbarer, immer wieder interaktiv zu bestätigender läßt es also als geraten erscheinen, ihre Alterität in der herausgearbeiteten Doppelgesichtigkeit zu reflektieren. Dies gilt a fortiori für das jeweilige Sprechen und für eine Linguistik des Sprechens. Im Sprechen ist der Andere als ähnlicher und ganz anderer unausweichlich. Wir sprechen nicht nur über die Welt, sondern auch immer mit einem Anderen. Wir müssen also zwei Typen von Grundaktivitäten durchführen, die konkret dann eng miteinander verwoben sind: die des Referierens und die des Alterisierens. 24 Wir sprechen immer, so Bühler und weiterführend Coseriu in Determinación y entorno, unter Einbeziehung der Umfelder. Welches die jeweils relevanten Umfelder sind, welcher Grad der Determinierung erforderlich ist, können wir immer nur im Blick auf den/ die anderen entscheiden. 25 Wir müssen unsere Einschätzungen über gemeinsame Wissensbestände/ Umfelder häufig revidieren und tun dies in Form von Reformulierungen, die keineswegs nur dem kognitiven oder interaktiven Zeitgewinn nützen, sondern vermutlich sogar vorrangig der Herstellung von Alterität. So entsteht auch die Kohärenz, die Coseriu als Kriterium für geglücktes Sprechen nennt, nicht nur aus dem Durchhalten einer einheitlichen Referenzwelt, sondern auch aus der Durchgängigkeit der Einbeziehung des Anderen durch Aktualisierung bestimmter Wissensbestände. Nicht jede Sprache stellt für diese Aufgabe des Alterisierens eigene Verfahren zur Verfügung, wie es das Deutsche mit den Abtönungspartikeln tut; die Anforderung, für den ande- 23 Vgl. dazu z. B. Lüdi 1991. Ob das Gesagte nur für das Lexikon gilt oder auch für den Bereich der grammatischen Bedeutungen, müßte Gegenstand weiterer Überlegungen sein. 24 Diese Unterscheidung habe ich 1983 vorgeschlagen: „Während die Verfahren der Referentialisierung die Semantizität des Sprechens betreffen, gibt es auch andere Verfahren, die mit der Alterität des Sprechens zu tun haben. Wir wollen sie Verfahren der ‚Alterisierung‘ nennen“. (Schlieben-Lange 1983, 14) 25 Kleiber 1994 hat vorgeschlagen, die Entscheidung für einen bestimmten Spezifikationsgrad semantischer Genauigkeit aus kontextuellen Parametern zu erklären. Das in der Prototypentheorie so genannte basic level wäre dann die Nullstufe semantischer Spezifikation, von der man, je nach Kontext nach oben oder nach unten ausweichen kann. Möglicherweise könnten diese Überlegungen in Richtung auf ‚Alterisierung‘, das heißt also Antizipation von Verstehensmöglichkeiten und -dispositionen weitergeführt werden. <?page no="284"?> 264 Alterität als sprachtheoretisches Konzept ren zu sprechen, bestimmt jedoch, unabhängig von den sprachlichen Mitteln, die uns die jeweilige Sprache bietet, unser Sprechen in jedem Augenblick. In Hinsicht auf die Medialität des Sprechens besteht vor allem die Anforderung, die Verstehensmöglichkeiten des Anderen unter bestimmten medialen Bedingungen zu antizipieren bzw. überhaupt erst einen möglichen Anderen mit einem bestimmten Generalisierungsgrad zu konstruieren. Mein Kollege Harald Weydt und ich haben uns einmal überlegt, was ein ‚gutes Gespräch‘ (Weydt 1993) ausmacht. Meine erste Vermutung war, es sei ein solches, in dem ein hohes Maß an Einverständnis herrscht. Harald Weydt hielt dagegen, es sei doch nötig, daß, sollen die Beteiligten den Eindruck haben, ein gutes Gespräch geführt zu haben, Widerstände überwunden werden, Wege der Annäherung zurückgelegt werden. Wir näherten einander an: Einverständnis ja, aber ein errungenes, in dem die Arbeit zweier prinzipiell unvereinbarer Individuen, diese Unvereinbarkeit im Gespräch auf Zeit aufzuheben, erfahrbar wird. 26 Abschließend sei noch einmal kurz auf den Weltbezug von Sprache und vor allem von wissenschaftlichem Sprechen verwiesen. Die Annäherung an die Wirklichkeit, und zwar unabhängig davon, wie man diese Annäherung im einzelnen konzipiert, kann nur in der Synthese verschiedener Perspektiven erfolgen. 27 Der Welt, die uns, wie Humboldt, Schütz und Cassirer gezeigt haben, durch die geteilte Sprache entrückt und gleichzeitig verfügbar wird, können wir uns nur in der Triangulation von Ego und Alter annähern. 5. Summary Alterity as a category in linguistic thinking The author argues for an integration of the category of alterity in linguistic thinking. For this aim, she reconstructs Coseriu’s language theory in which alterity has a central place. She shows the importance of Mead’s and Schütz’ thinking for this type of linguistic reflection. Above all, she stresses the con- 26 Dies führt uns wiederum in die Nähe von Trabants Humboldt-Interpretation (Trabant 1985 und 1986), die auf die starken Analogien zwischen Humboldts Auffassung von den Geschlechterverhältnissen und seiner Sprachidee verweist. In beiden Fällen geht es auch um die Überwindung der Grenzen zwischen den je einzelnen und endlichen Individuen. 27 Diesen Gedanken hat vor allem Collingwood nachdrücklich vertreten. In dieser Hinsicht sind sich die unterschiedlichsten wissenschaftstheoretischen Positionen einig: ganz gleich ob man als Ziel der Wissenschaft formuliert, „die Sachen so zu sagen, wie sie sind“ (so der Titel des Bands mit Gesprächen mit Eugenio Coseriu, herausgegeben von Kabatek/ Murguía 1997) oder eine wissenschaftstheoretische Position des Falsifikationismus wie Popper vertritt, Wissenschaft kann auf jeden Fall nur in der Auseinandersetzung und Synthese verschiedener Positionen vorangetrieben werden. Das ist auch der Sinn der Redeweise von der Community of investigators. <?page no="285"?> Bibliographie 265 stitutive ambiguity of the concept of alterity: it means as well speaking ‚for‘ the other as sharing the ‚same‘ language. Are there any consequences of such a concept of alterity for linguistics? The author makes some propositions for further linguistic research based on alterity. Bibliographie Berger, Peter/ Luckmann, Thomas (1970): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt/ Main: Fischer. Calogero, Guido (1947): Estetica, semantica, istorica, Turin: Einaudi. Cassirer, Ernst (1932-33/ 1985): „Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt“, in: Cassirer, Ernst, Symbol, Technik, Sprache, hrsg. von Ernst W. Orth und Michael Krois, Hamburg: Meiner. Carr, David (1987): Interpreting Husserl. Critical and Comparative Studies, Dordrecht: Nijhoff. Coseriu, Eugenio (1955/ 56): „Determinación y entorno“, in: Romanistisches Jahrbuch 1, 24-54. Coseriu, Eugenio (1958): Sincronía, diacronía e historia, Montevideo: Cordón. Coseriu, Eugenio (1967): „L’arbitraire du signe. Zur Spätgeschichte eines aristotelischen Begriffs“, in: Archiv für das Studium der Neueren Sprachen 204, 81-112. Coseriu, Eugenio (1974a): Synchronie, Diachronie und Geschichte, München: Fink. [= Dt. 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Dies ist sie in zweierlei Hinsicht, einmal insofern es Romanische Seminare und romanistische Lehrstühle vor allem in deutschsprachigen Ländern gibt, d. h. also in Deutschland, in Österreich, in der Schweiz (und wenn es sie außerhalb des deutschen Sprachraums gibt, so sind sie nach deutschem Vorbild eingerichtet worden), und zweitens insofern die Romanistik ihren Ursprung in der deutschen Frühromantik hat. Davon soll gleich noch ausführlicher die Rede sein, doch zunächst einmal will ich ganz knapp skizzieren, was das Spezifische der deutschen Romanistik ist. Zunächst einmal, und am wichtigsten, ist die Romanistik nicht ausgegliedert in Einzelphilologien. Alle Studiengänge, sowohl Lehramtsstudiengänge als auch Magisterstudiengänge verpflichten die Studierenden zum Studium mindestens zweier romanischer Sprachen (es gibt natürlich Ausnahmen, z. B. Nebenfachstudiengänge oder die zur Zeit im Aufbau befindlichen kulturwissenschaftlichen Studiengänge; bisher handelt es sich hier jedoch um die Ausnahme, nicht die Regel). Dies bedeutet, daß in den romanistischen Studiengängen von vornherein ein komparatistisches Potential angelegt ist. Die Ausdifferenzierung zwischen Sprachwissenschaft und Literaturwissenschaft ist weniger weit fortgeschritten als in einigen Einzelphilologien wie etwa der Germanistik. Dies impliziert, daß Überschreitungen dieser weniger stark ausgeprägten Grenze in der Romanistik wahrscheinlicher sind als etwa in der Germanistik. Weiterhin ist auch die Ausdifferenzierung zwischen Synchronie und Diachronie in der Sprachwissenschaft wesentlich weniger fortgeschritten als in der germanistischen Linguistik. Häufig sind es gerade die Linguisten, die sich auch für die älteren Sprachstufen (und die in diesen Sprachstufen verfaßten Dokumente) und für die Sprachgeschichte interessieren. Von dieser spezifischen Form der Romanistik soll also nun die Rede sein. In einem ersten Schritt wird es darum gehen, die Genese dieser ‚deutschen‘ Wissenschaft zu rekonstruieren. In einem zweiten Schritt soll dann die Frage * Zuerst erschienen 1999 in: Fürbeth, Frank/ Krügel, Pierre/ Metzner, Ernst E./ Müller, Olaf (Hrsg.), Zur Geschichte und Problematik der Nationalphilologie in Europa. 150 Jahre Erste Germanistenversammlung in Frankfurt am Main (1846 -1996), Tübingen: Niemeyer, 847-854. <?page no="288"?> 268 Die deutsche Romanistik - ein Modell für die Zukunft? gestellt werden, ob die spezifische Verfaßtheit der Disziplin Potentiale enthält, die zu erhalten und zu nutzen sich lohnt. Zunächst also soll die Genese rekonstruiert werden. Die Romanistik ist ein Produkt der deutschen Frühromantik. In seinen Vorlesungen über schöne Literatur, die er in Berlin 1801 bis 1804 abgehalten hat, begründet August Wilhelm Schlegel die von ihm so genannte romantische Philologie, eine Philologie, der die gleiche Dignität zukommen soll wie der klassischen Philologie, zu der sie ein Gegenstück darstellt. Im zweiten Teil der Vorlesung soll es also gehen um die ‚Geschichte und Charakteristik der eigentümlichen Poesie der Hauptnationen des neueren Europa oder der Romantischen‘. Diese romantische Philologie ist keine Nationalphilologie: den behandelten Literaturen wird die gleiche Dignität zugesprochen wie den klassischen: Den Zweifel, welcher sich hie und da noch regt, ob es denn wirklich eine romantische, d. h. eigenthümlich moderne, nicht nach den Mustern des Alterthums gebildete, und dennoch nach den höchsten Grundsätzen für gültig zu achtende, nicht bloß als wilde Naturergießung zum Vorschein gekommene, sondern zu ächter Kunst vollendete, nicht bloß national und temporär interessante, sondern universelle und unvergängliche Poesie gebe: diesen Zweifel, sage ich, hoffe ich befriedigend zu heben. (Schlegel 1803/ 1884, 7) Wohl aber ist die so begründete Philologie von vornherein eine Philologie der Differenz, und zwar in zweierlei Hinsicht: einmal wird sie der klassischen Philologie als gleichberechtigt zur Seite gestellt; wir haben es also mit zwei Typen von Literatur zu tun, die gerade im Vergleich charakterisiert und voneinander unterschieden werden. Und andererseits besteht die romantische Philologie im Vergleich unterschiedlicher Literaturen; der Typus der romantischen Literatur und der dazugehörigen Philologie wird vergleichend entwickelt. Es handelt sich um eine im Vergleich aufgehobene Differenz, die den Gegenstand der romantischen Philologie ausmacht. Unter Philologie ist ganz im Sinne der Handbücher der Zeit (Ast, Boeckh und später Schleiermacher) die Einheit von Sprache, Literatur und Sachkultur zu verstehen. Dazu gehört auch, daß der Ausgangspunkt philologischen Bemühens, eben in der Tradition der Hermeneutik, das Nichtverstehen ist, gerade nicht die verstehende Identifikation mit dem untersuchten Gegenstand. Der universelle Charakter der romantischen Phiologie wird auch ex negativo nachdrücklich als ein nicht-nationaler bestimmt: im Gegensatz zur Literaturbetrachtung anderer, sich selbst gewisserer Nationen, soll hier eine nationenübergreifende (und so vielleicht angemessenere) Philologie betrieben werden: Ist es denn ein so großer Mangel, keinen National-Stolz zu haben? Sehen wir nicht, daß er bey andern Völkern häufig auf Einseitigkeit, Beschränktheit, ja auf bloßen Einbildungen beruht? Wenn nun dagegen das Unbewußtseyn der eignen Vorzüge, die Unbekümmertheit um sich selbst, die Bescheidenheit und Demuth ächt Deutsche Züge wären? (Schlegel 1803/ 1884, 22) <?page no="289"?> Die deutsche Romanistik - ein Modell für die Zukunft? 269 Ein Kernstück der neubegründeten romantischen Philologie ist die Dichtung der provenzalischen Trobadors. Es sei nicht verschwiegen, daß sich an dieser Stelle bei August Wilhelm Schlegel auch antifranzösische Ressentiments einschleichen: Aus dieser allgemeinen Verbreitung wird der große Einfluß begreiflich, so wie jene wieder nur durch die Universalität des Charakters, worin die verschiednen Nationen die Keime und Elemente ihrer einheimischen Poesie wieder erkannten, möglich ward. Denn Übereinstimmung, Sympathie muß da seyn, wenn etwas im Auslande gefallen soll. Man wird hingegen vielleicht die in ganz Europa gesprochne und doch so bornirt einseitige Französische Sprache anführen. Allein fast alle Nationen haben auch mehr oder weniger einen geheimen oder offenbaren Haß auf sie, und wozu sie eigentlich gebraucht wird, die flache Geselligkeit der heutigen großen Welt, die in ganz Europa eine und dieselbe ist, drückt sie wirklich vollkommen aus. (Schlegel 1803/ 1884, 185 f.) Wenn also auch die Bestimmungen der romantischen Philologie eine universelle und eine in der Differenz begründete ist, so soll dies nicht heißen, daß sie völlig frei von nationalen Motivationen gewesen sei. So formuliert z. B. August Wilhelm Schlegel immer die Vermutung, die komparatistische romantische Vorgehensweise sei einer rein national-stolzen überlegen. Die Überlegenheit der (deutschen) romantischen Philologie läge also gerade in der Vermeidung einer nationalen Perspektivierung begründet. Und die Betonung der historischen Leistung der Provenzalen schafft einen Kontrapunkt zur französischen nationalen Literaturgeschichtsschreibung. Diese Konzentration auf die provenzalische/ okzitanische Sprache und Literatur wird übrigens eine Konstante der deutschen Romanistik bleiben. Sie erlaubt, auch dann noch über Frankreich zu sprechen, wenn das deutsch-französische Verhältnis äußerst schwierig geworden ist. Man kann z. B. feststellen, daß die Veröffentlichungen deutscher Romanisten über provenzalische Themen immer dann sprunghaft ansteigen, wenn das deutsch-französische Verhältnis kritisch ist: zu Beginn der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts, während des ersten Weltkriegs, während der Zeit des Nationalsozialismus. Auf die Nähe von romantisch und romanisch verweist August Wilhelm Schlegel ausdrücklich: er bezieht sich auf romanz als Bezeichnung für in romanischer Sprache verfaßte Dichtung, also v. a. die spanischen Romanzen, aber auch die altfranzösischen Romane. Die Einheit der romantischen Philologie besteht noch über die napoleonischen Kriege hinaus: so tritt Jakob Grimm als Herausgeber einer Silva de romances viejos (1815) in Erscheinung; zu einer bestimmten Zeit seines Wirkens schätzt er die altfranzösische Epik, etwa den Raynouard de Montauban, höher ein als das Nibelungenlied. Tieck arbeitet über Cervantes, Uhland über die altfranzösischen Epen. In den nun folgenden Jahrzehnten differenziert sich die Germanistik aus dem Verbund der romantischen Philologie aus, wohl vor allem infolge der Schärfung des Nationalbewußtseins während der Befreiungskriege. Gleich- <?page no="290"?> 270 Die deutsche Romanistik - ein Modell für die Zukunft? zeitig und im Gegenzug konstituiert sich die romanische Philologie, wobei sich August Wilhelm Schlegel und dann auch Diez gleichermaßen an den Arbeiten von Raynouard inspirieren und sich davon absetzen. Mit dieser - sich distanzierenden - Orientierung an Raynouard wird auch die provenzialische Sicht der Sprach- und Literaturgeschichte übernommen. Man muß sich deutlich machen, daß bereits Ende des 18. Jahrhunderts in der Provence ein sehr komplexes Wissen über die Geschichte der romanischen Sprachen und Literaturen vorhanden war. In verschiedenen Diskursuniversen hatten sich beträchtliche Wissensbestände akkumuliert, die dann unter dem Gesichtspunkt der Differenz gegen die französische Vereinnahmung systematisiert wurden. Entscheidend war dabei auch der Sprachvergleich, wie ihn Court de Gebelin angeregt hatte. Freilich unterschied sich der Vergleich der romanischen Sprachen, wie er Ende des 18. Jahrhunderts in Südfrankreich betrieben wurde (z. B. von Féraud und Séguier) dadurch von Court de Gebelins Modell, als sich der Vergleich der romanischen Sprachen in der Gewißheit der vulgärlateinischen und provenzalischen Ursprünge der mythischen Ursprungsfrage entledigen konnte. Diese Gewißheit über die Ursprünge und die damit verbundene Emanzipation von der Frage nach den Ursprüngen ist ein Vorteil der Romanistik, die sie gegenüber anderen vergleichenden Philologien, etwa der Indogermanistik oder der Keltologie, immer hatte. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ging dann der Ausdifferenzierungsprozeß weiter: wenn bis dahin die Inhaber der Lehrstühle für Neuere Philologie oder Moderne Philologie meist die Romanistik und die Anglistik in Personalunion vertreten hatten, so wurden nun in großer Zahl Lehrstühle für Anglistik neu geschaffen. Bei dieser Entwicklung spielte sicher die Gründung der Realschulen und der erhöhte Bedarf an Lehrpersonal für die modernen Fremdsprachen eine Rolle. Wir könnten uns diesen Ausdifferenzierungsprozeß der Philologien an den deutschen Universitäten während des 19. und des 20. Jahrhunderts folgendermaßen veranschaulichen: Romantische Philologie Romanische Philologie Germanistik Anglistik Skandinavistik Die Geschichte der Romanistik bis heute war dann die Geschichte einer Ausschöpfung und Selbstverständigung über das in der romantischen Philologie angelegte Potential, in wechselhaften und widersprüchlichen Aushandlungsprozessen: <?page no="291"?> Die deutsche Romanistik - ein Modell für die Zukunft? 271 Diese - im Alltag von Forschung und Lehre nicht selten beschwerliche - doppelte Asymmetrie freilich mag ein heimliches Stimulans für die Romanische Philologie geworden sein: als Anregung zu komparatistischer Arbeit und als Verpflichtung, immer wieder eine in der institutionellen Struktur der Disziplin angelegten Spannung zwischen Hochschullehrern und Studenten in Konsens und wechselseitige Motivation zu überführen. (Gumbrecht 1984, 73) De facto ist die Romanistik bis heute eine Einheit geblieben, auch wenn es seit einiger Zeit doch einen gewissen Druck zur Ausdifferenzierung gibt. Diese neue Tendenz ist zum ersten Mal sichtbar geworden auf dem Romanistentag 1973, auf dem aus Protest gegen eine zu liberale Auslegung des Mitgliedsstatus des Romanistenverbandes dann der Hispanistenverband begründet wurde. Was man als Ergebnis des Drucks zu einer als Spezialisierung verstandenen Professionalisierung interpretieren könnte, erschien zunächst als Bekräftigung eines elitären gegenüber einem liberalen Fachverständnis. Die weitere Ausgliederung eines Italianistenverbandes hat ebenfalls wieder diese eigentümliche Doppelstruktur. Auf die institutionelle Gestaltung der Seminare und der Studiengänge haben jedoch diese Ausdifferenzierungsprozesse auf Verbandsebene bis heute nicht einschneidend durchgeschlagen. Ist also die heutige Romanistik ein Anachronismus? Ist ihre Aufrechterhaltung zurückzuführen auf Reformunwilligkeit oder aber gerade auf die Leistungsfähigkeit des deutschen Modells der Romanistik? Damit komme ich zu meinem zweiten Teil, nämlich zu der Frage, ob das deutsche Modell der Romanistik heute noch sinnvoll ist. Wir haben gesehen, daß von den frühromantischen Ursprüngen an die romantische Philologie sich zwischen Universellem und Nationalem ansiedelte. Ich beziehe mich hier auf die Unterscheidung von drei Ebenen der Betrachtung kultureller Gegenstände, wie sie erstmals von Humboldt in dieser Deutlichkeit formuliert wurde, nämlich die Unterscheidung zwischen einer universellen, einer historisch-einzelsprachlichen und einer individuellen Ebene. universell Identifikation (1) Spannung (2) historisch Präferenz der nationalen Ebenen (3) individuell Die romantische Philologie siedelt sich zwischen der einzelsprachlichen und der universellen Ebene an (2), und dies im Gegenzug zu Frankreich, das in der Revolution Frankreich als Zielpunkt der universellen Entwicklung des Menschengeschlechts betrachtete, also das Universelle mit dem Nationalen identifizierte (1). Die Romanistik behält diese Skalierung auch bei in Beharrung gegenüber der späteren Nationalisierung der Philologien (3). Es <?page no="292"?> 272 Die deutsche Romanistik - ein Modell für die Zukunft? entstand also eine mittlere Ebene der romantischen/ romanischen Philologie, die durch die Betonung der Differenz dezidiert vergleichend wurde. In diese Betonung der Differenz ging einerseits, wie gezeigt, das provenzalische Erbe ein; andererseits wurde natürlich diese Sichtweise vertieft und verfeinert durch die Übernahme der Humboldtschen Sprachtheorie (von der Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus) und durch die Techniken der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft. Dies bedeutet: 1. Die romanische Philologie ist nicht den Gefahren einer Nationalphilologie ausgesetzt, sich als historische und literarische Legitimationswissenschaft in den Dienst der politischen Nation zu stellen. In gewisser Weise gilt das natürlich bereits für jede Auslandsphilologie: sie hat Distanz zu ihrem Gegenstand und kann die unterschiedlichen Perspektiven, die von innen und die von außen gegenüberstellen. Aber auch die Auslandsphilologien sind nicht ganz frei von der Gefahr eines going native, also der übergroßen Identifikation mit dem untersuchten Gegenstand, oder aber auch der komplementären Erscheinung, nämlich der Projektion nationaler Traumata in der Zweierbeziehung. Pointiert werden die Vorzüge der Romanistik durch die Emanzipation von der Ursprungsfrage. Das Lateinische, seine Varietäten und seine Geschichte sind wohlerforscht, so daß hier kein Raum für Spekulation und Mythenbildung gegeben ist. Dies mag heute weniger wichtig erscheinen als es im 19. Jahrhundert war; es lohnt sich aber doch, daran zu erinnern. Freilich muß hier auch eine Einschränkung formuliert werden: völlig frei von Nationalen ist auch eine vergleichende romanische Philologie nicht, wie wir in unserer historischen Skizze gesehen haben: es gibt die Möglichkeit der Identifikation mit den Minderheiten, z. B. einer Distanzierung von Frankreich über die Provence; es gibt auch die Möglichkeit nationaler Überheblichkeit in der Sicherheit, aufgrund der Nutzung der komparatistischen Potentiale die ‚bessere‘ Wissenschaft zu betreiben. 2. Die romanische Philologie ist wenig anfällig für die Gefahren vorschneller Universalisierung. Die Präsenz der Kenntnis zweier oder mehrerer Sprachen machen vorsichtig gegenüber universellen Theoriebildungen, wie sie etwa die Sprachwissenschaft der 70er und 80er Jahre (generative Grammatik, Sprechakttheorie usw.) geherrscht haben. Zusammenfassend aus den Punkten l und 2 läßt sich also sagen: Die Romanistik enthält ein komparatistisches Potential, das unter verschiedenen und sich wandelnden Bedingungen aktualisiert werden kann. Ich möchte hier nur einige aktuelle Diskussionen nennen, in denen genau diese Aktualisierung stattfindet: - Mündlichkeit/ Schriftlichkeit, unter diesem Gesichtspunkt auch die ‚ältesten Sprachdenkmäler‘; <?page no="293"?> Die deutsche Romanistik - ein Modell für die Zukunft? 273 - Grammatikalisierungsphänomene, auch unter dem Gesichtspunkt der ‚abgebrochenen Grammatikalisierung‘; - Sprachphilosophische und sprachpolitische Traditionen: Modisten, Grammatisierung der Nationalsprachen, Übertragung rhetorischer Kategorien auf die Sprache (clarté, énergie, richesse, harmonie), Sprachpolitik der Französischen Revolution, rationalistische und sensualistische Sprachphilosophie. 3. Besonders wichtig scheint mir die spezifische Natur dieses zwischen Universellem und Nationalem Situiertseins, dieses entre deux, zu sein. Es geht nicht nur darum, daß die Sprachgruppe als Zwischenstufe zwischen Universellem und Einzelsprachlichem fokussiert wird, sondern es geht vor allem um den Vergleich selbst. Dadurch werden nämlich die Gefahren der Fixierung nationaler Dichotomisierungen vermieden, die auch in den Auslandsphilologien nicht ganz ausgeschlossen werden können. Hier dagegen geht es sozusagen um eine Triangulation. Dies bedeutet, daß die Mehrperspektivität bereits in der Disziplin angelegt ist. Der Romanist muß sich immer schon mit mindestens zwei Sprachen/ Literaturen auseinandersetzen: er kennt die französische und die provenzalische Geschichte, die spanische und die katalanische Geschichte, der Geschichte der wechselseitigen Vereinnahmungen, Abgrenzungen und Verletzungen. Diese Probleme sind bereits rein inhaltlich hoch aktuell: die Bestimmungen von Sprachen und Dialekten, des Zusammenhangs zwischen Sprache und Nation sind wieder einmal politisch hochbrisant. Darüber hinaus enthält aber die Praxis des Vergleichs erhebliche methodische und theoretische Potentiale: die Sensibilität für Multifaktorialität bei der Entwicklung spezifischer sprachlicher oder literarischer Formen wird geschärft. Die Übernahme mehrerer Perspektiven wird zur Selbstverständlichkeit. Das heißt: man übt sich ein im Aushalten von Widersprüchen; man lebt mit der historischen Verfaßtheit von Interpretationen und lernt, diese historischen Interpretationen ständig in Frage zu stellen und mit anderen möglichen Interpretationen zu konfrontieren. Mir scheint, dies sei am Rande vermerkt, überhaupt die Triangulation ein erkenntnistheoretischer Königsweg zu sein. Wie kann man der Gefangenheit in einer Weltsicht (Humboldt) oder in einer symbolischen Form (Cassirer) entgehen? Wie kann man überhaupt aus dieser Gefangenheit ausbrechen? Beide Autoren raten, andere Sprachen zu lernen und vor allem zu übersetzen. Auf dem Hintergrund der Lehren des Konstruktivismus könnte man also formulieren: das Universelle (oder das Reale) ist nicht direkt zugänglich; wir nähern uns ihm immer über Übersetzungsprozesse an. 4. Und schließlich: Die romanische Philologie ist im Kern interdisziplinär: sie hat nie das alte Verständnis von Philologie, wie es zu Beginn des 19. Jahrhunderts bestimmend war, aus den Augen verloren, daß nämlich <?page no="294"?> 274 Die deutsche Romanistik - ein Modell für die Zukunft? Philologie auf drei Pfeilern aufruht, Sprache, Literatur und Sachkultur. Man mag sich fragen, ob mit dieser Gewißheit, bereits in einem beschränkten Rahmen interdisziplinär zu arbeiten, eine gewisse Selbstgenügsamkeit einhergeht, die Interdisziplinarität in größerem Rahmen verhindert. Hier geht es also darum, den disziplinären Kern, bestehend aus der professionellen Behandlung von Sprachen und Texten, klarer auszumachen und sich, ausgehend von dieser Basis, für interdisziplinäre Abenteuer zu öffnen. Übrigens scheint mir in dieser Sicht auch das in der Romanistik immer wieder diskutierte Landeskunde-Problem zu verschwinden. Selbstverständlich gehören auch politische Texte zum Gegenstand der Romanistik und können dort dann in ihrer diskursiven Verfaßtheit untersucht werden, und andererseits gehen historische, philosophische, soziologische Theorien in die Philologien ein, die stets dort auf ihre Brauchbarkeit überprüft werden. Und in dieser Hinsicht hat die Romanistik auch eine wichtige Vermittlerfunktion, insofern ihr solche Texte aus Frankreich, Italien, Spanien, Lateinamerika rein sprachlich näher sind als anderen Disziplinen. Man mag gegen die hier skizzierte Verteidigung der deutschen Romanistik Einwände erheben. Der gewichtigste und am häufigsten geäußerte Einwand ist der, daß im Zuge der Professionalisierung (die v. a. mit Spezialisierung identifiziert wird) ein solch ‚monströses‘ Gebilde wie die Romanistik nicht aufrechterhalten werden kann. Hier würde ich klar antworten, daß eine Identifikation von Professionalisierung und Spezialisierung nur teilweise richtig ist, und daß eine Wissenschaft, die ihre Identität ausschließlich aus Spezialisierung bezieht, in größter Gefahr ist, unprofessionell zu werden. Man mag weiterhin einwenden, daß die Romania doch letztlich eine Entität mit arbiträren Grenzen sei. Man mag sich fragen, ob nicht eine europäische Sprach- und Literaturwissenschaft sinnvoller und unter komparatistischen Gesichtspunkten zu bevorzugen sei. Darauf ist mehrerlei und Widersprüchliches zu antworten. Einerseits sind ja die Grenzen nicht ganz arbiträr: unter sprachhistorischen Gesichtspunkten ist die Einheit der Romania begründet und hat sich auch wissenschaftsgeschichtlich als Forschungsrahmen bewährt. Andererseits aber ist die Einheit der Romania keine solche, die sich für eine Ideologisierung anbieten würde (dies ist zwar gelegentlich unter dem Schlagwort ‚Latinität‘ versucht worden, bleibt aber doch gegenüber anderen Ideologisierungen harmlos), so ist gerade einer der Vorzüge der Romanistik, daß sie sich nicht auf Europa beschränken muß, sondern daß sie ausgreifen kann auf Lateinamerika und auf Afrika. Wenn sich also eine Reihe von sich aufdrängenden Einwänden leicht entkräften lassen, so muß sich die Romanistik trotzdem vor selbstgefälliger Selbstgenügsamkeit hüten. Das komparatistische Potential muß denn auch tatsächlich entwickelt und methodisch geleitet ausgeschöpft werden. So haben ja die anderen Philologien: Germanistik, Anglistik, kompensatorisch zum Verlust der komparatistischen Möglichkeiten die Allgemeine (verglei- <?page no="295"?> Bibliographie 275 chende) Literaturwissenschaft und die Allgemeine Sprachwissenschaft entwickelt, die den Verlust der Vergleichsmöglichkeiten ausgleichen sollen und dies mit einem verfeinerten Methoden- und Theorienvorrat auch tun. Hier gilt es zu beachten, daß die Romanistik nicht im Stadium der naiven Freude an der Möglichkeit des Vergleichens verharrt, sondern die sentimentalische Verlusterfahrung der anderen Philologien und den daraus entwickelten Methodenreichtum sich zueigen macht und, wie in Kleists Marionettentheater, zu einer neuen Naivität, die durch die sentimentale Phase hindurchgegangen ist, findet. Die komparatistischen Potentiale müssen eröffnet und ausgebaut werden. Eines dieser Potentiale ist es, Geschichte und Vielfalt präsent zu halten. Ist also die Romanistik ein Anachronismus? Sie werden sich denken können, wie meine Antwort ausfällt. Ganz im Gegenteil: Anachronistisch ist die weitere Ausdifferenzierung von Nationalphilologien. Es geht im Gegenteil darum, in die bereits ausdifferenzierten Nationalphilologien komparatistische Potentiale zurückzuführen. Anachronistisch ist auch die Identifikation von Professionalisierung und Spezialisierung. Auf die Gefahr hin, nun in den bereits August W. Schlegel angekreideten Fehler der Besserwisserei zu verfallen: Gäbe es die Romanistik nicht, man müßte sie erfinden. Bibliographie Gumbrecht, Hans Ulrich (1984): „Un souffle d’Allemagne ayant passé“, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 53/ 54, Wissenschaftsgeschichte der Philologien, 37-78. Schlegel, August Wilhelm (1803-1804/ 1884): Vorlesungen über schöne Litteratur und Kunst. Dritter Teil, Heilbronn: Henninger. <?page no="297"?> Humboldts Idee der Universität im Lichte seiner Sprachtheorie* Liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen, lieber Herr Pfarrer Edel, zunächst möchte ich der Stiftskirchen-Gemeinde sehr herzlich danken, daß sie uns die Stiftskirche für diese Veranstaltung überlassen hat. Dieser Vortrag versteht sich als der Beitrag der Sprachwissenschaftlerin zu den Selbstverständigungsprozessen in dieser Streikwoche. Es geht darum, Humboldts Universitätsidee und seine Sprachtheorie aufeinander zu beziehen. Möglicherweise kann ich Ihnen damit einige Materialien an die Hand geben, die Sie in Ihre Überlegungen zur Lage der Universität einbeziehen und weiterentwickeln können. Ich möchte dies in drei Schritten tun: 1) Zunächst möchte ich in einer gemeinsamen Lektüre die wichtigsten Elemente von Humboldts Idee der Universität in Erinnerung rufen. 2) In einem zweiten Schritt will ich dann diejenigen Elemente von Humboldts Sprachtheorie, die geeignet sind, die prägnanten, aber nicht weiter erläuterten Formulierungen der Universitätsschrift zu erhellen, vorstellen. 3) Und abschließend will ich dann fragen, ob Humboldts Ideen tatsächlich so unzeitgemäß sind, wie häufig zu hören ist. Damit komme ich zu meinem ersten Punkt: ‚Humboldts Idee der Universität‘. Es ist ein Stereotyp des medialen und politischen Diskurses über die Universität, daß die Humboldtschen Ideen im Zeitalter der Massen- Universität nicht mehr realistisch seien. Sie kennen diese Äußerungen alle zur Genüge. Sie werden sogar gelegentlich von Professoren gemacht, besonders dann, wenn sie wichtige Ämter in der Wissenschaftsverwaltung bekleiden. Dies führt zu einer Art Schizophrenie: das Humboldtsche Universitätsideal wird einerseits als überholt abqualifiziert; andererseits bleibt es für das Verhalten und die Entscheidungen in der Universität die Richtschnur. Man muß zumindest hoffen, daß dies so ist. Denn ohne eine/ die- * Es handelt sich um einen Vortrag, den Brigitte Schlieben-Lange am 10. Dezember 1997 in der Tübinger Stiftskirche gehalten hat. Als Beitrag ist dieser zuerst erschienen 2000 in: Kodikas/ Code - Ars Semeiotica: An International Journal of Semiotics 23/ 1-2, 9-16. <?page no="298"?> 278 Humboldts Idee der Universität im Lichte seiner Sprachtheorie se regulative Idee könnte die Universität nicht weiterbestehen, und sie wäre sicher nicht den enormen Belastungen der letzten 20 Jahre gewachsen gewesen. Viele Kollegen wissen und betonen das: Bubner, Langewiesche, Frühwald u. a., Mittelstraß. Der öffentliche (mediale und politische) Diskurs bleibt davon jedoch unberührt. Zu vermuten ist, daß Humboldts Idee der Universität auch nur sehr vage bekannt ist: verschwommene Ideen von Humanität und Bildung, allenfalls noch die Freiheit der Forschung, die polemisch als Rückzugsargument ‚fauler Professoren‘ anzitiert wird. Wollen wir uns zunächst einmal mit den konstitutiven Elementen von Humboldts Universitätsidee befassen. Humboldt hat sie in mehreren Schriften der Jahre 1809 und 1810 niedergelegt, vor allem in: Ueber die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin von 1810, dessen ersten Teil (im zweiten geht es dann vor allem um die Akademien) Sie in Händen halten. Ein zweiter äußerst lesenswerter Text besonders was die Auffassung der Schule angeht, ist Der Königsberger und litauische Schulplan von 1809. Der Text beginnt mit der Formulierung des Prinzips von Einsamkeit und Freiheit: Da diese Anstalten ihren Zweck indess nur erreichen können, wenn jede, soviel als immer möglich, der reinen Idee der Wissenschaft gegenübersteht, so sind Einsamkeit und Freiheit die in ihrem Kreise vorwaltenden Principien. (X, 251) 1 Dieses Prinzip wird jedoch sogleich ergänzt durch ein anderes: daß nämlich die universitas ein Ort gemeinschaftlicher Bemühungen ist: Da aber auch das geistige Wirken in der Menschheit nur als Zusammenwirken gedeiht, und zwar nicht bloss, damit Einer ersetze, was dem Anderen mangelt, sondern damit die gelingende Thätigkeit des Einen den Anderen begeistere und Allen die allgemeine, ursprüngliche, in den Einzelnen nur einzeln oder abgeleitet hervorstrahlende Kraft sichtbar werde, so muss die innere Organisation dieser Anstalten ein ununterbrochenes, sich immer selbst wieder belebendes, aber ungezwungenes und absichtsloses Zusammenwirken hervorbringen und unterhalten. (X, 251) Es folgt dann eine erste Formulierung des Prinzips, daß die Wissenschaft als unabgeschlossener Prozeß aufzufassen sei: Es ist ferner eine Eigenthümlichkeit der höheren wissenschaftlichen Anstalten, dass sie die Wissenschaft immer als ein noch nicht ganz aufgelöstes Problem behandeln und daher immer im Forschen bleiben […]. (X, 251) Daran schließt sich die Begründung der Einheit von Forschung und Lehre an: 1 Zitiert wird hier und im folgenden nach Humboldt 1903-36. <?page no="299"?> Humboldts Idee der Universität im Lichte seiner Sprachtheorie 279 Das Verhältniss zwischen Lehrer und Schüler wird daher durchaus ein anderes als vorher. Der erstere ist nicht für die letzteren, Beide sind für die Wissenschaft da; sein Geschäft hängt mit an ihrer Gegenwart und würde, ohne sie, nicht gleich glücklich von statten gehen; er würde, wenn sie sich nicht von selbst um ihn versammelten, sie aufsuchen, um seinem Ziele näher zu kommen durch die Verbindung der geübten, aber eben darum auch leichter einseitigen und schon weniger lebhaften Kraft mit der schwächeren und noch parteiloser nach allen Richtungen muthig hinstrebenden. (X, 251-252) Sodann wird die Rolle des Staates bestimmt, der die auch in seinem Sinne besten Resultate zu erwarten hat, wenn er einen diesen Prinzipien verpflichteten Freiraum garantiert, ohne darauf direkt Einfluß zu nehmen: Er muss sich eben immer bewusst bleiben, dass er nicht eigentlich dies bewirkt noch bewirken kann, ja, dass er vielmehr immer hinderlich ist, sobald er sich hineinmischt, dass die Sache an sich ohne ihn unendlich besser gehen würde […]. (X, 252) Und schließlich wird noch einmal ausführlicher das Prinzip der Unabgeschlossenheit formuliert: Dies vorausgeschickt, sieht man leicht, dass bei der inneren Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten Alles darauf beruht, das Princip zu erhalten, die Wissenschaft als etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes zu betrachten, und unablässig sie als solche zu suchen. (X, 253) Der weitere Text enthält noch viele interessante Überlegungen; die wichtigsten Prinzipien sind jedoch bereits auf diesen ersten zwei Seiten enthalten. Wollen wir also die Ergebnisse unserer Lektüre noch einmal festhalten: 1) Die Wissenschaft ist „als etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes zu betrachten“. Sie kann nur als ‚Tätigkeit‘, ‚Prozeß‘ vorangetrieben und aufgesucht werden. 2) Es ist immer das einzelne denkende Subjekt, das die Wissenschaft vorantreibt, in ‚Einsamkeit und Freiheit‘, das heißt auch in eigener Verantwortung. 3) Dieses Prinzip wird aber sogleich relativiert durch ein anderes: daß nämlich das geistige Wirken nur als ‚Zusammenwirken‘ gedeiht, zunächst kompensatorisch ergänzend (jeder einzelne kann nur Teilfragen bearbeiten und ist auf Ergänzung angewiesen, Community of Investigators), dann aber vor allem, um sich durch gelingende intellektuelle Tätigkeit gegenseitig zu begeistern. 4) Die Wissenschaft wird in besonders glücklicher Weise befördert durch die ‚Einheit von Forschung und Lehre‘, insofern die Lernenden den prozessualen Charakter der Forschung erfahren und insofern das Denken des Forschers seine letzte Bestimmtheit gerade durch die Auseinandersetzung mit der „schwächeren und noch parteiloser nach allen <?page no="300"?> 280 Humboldts Idee der Universität im Lichte seiner Sprachtheorie Richtungen muthig hinstrebenden“ geistigen Kraft der Jüngeren gewinnt. 5) ‚Der Staat‘ schafft und finanziert einen Freiraum, in dem sich alle der Idee der Wissenschaft als einer noch nicht ganz Gefundenen und nie ganz Aufzufindenden verpflichten und kann, gerade durch Respektierung und Garantie dieses Freiraums, die besten Ergebnisse erwarten, die letztlich auch ihm zugutekommen. Auffällig an diesem Konzept ist, daß an zwei wesentlichen Punkten der Soziabilität, dem geselligen Forschen ein entscheidendes Gewicht zugemessen wird: einmal im Austausch und der gegenseitigen Begeisterung zwischen den Kollegen, dann in der Verbindung von Forschung und Lehre, dem Gespräch mit den Jüngeren. Humboldts Universität ist also wesentlich eine Gesprächsuniversität, in der die einsam-freien Forscher immer wieder „ungezwungen und absichtslos“ zusammenfinden, sich den Jüngeren aussetzen und, täten sie beides nicht, die Wissenschaft verfehlen würden. Warum ist das Gespräch so zentral für das Gelingen von Wissenschaft? Damit komme ich zu meinem zweiten Punkt, zu Humboldts Sprachtheorie: Kann sie die prägnanten Formulierungen der Universitätsschrift erhellen? Vorweg muß gesagt werden, daß Humboldts sprachphilosophische Tätigkeit in keinem zeitlichen Konnex zur bildungspolitischen Tätigkeit steht. Humboldt hatte sich in den 90er Jahren während seines Paris-Aufenthalts intensiv mit der Sprach- und Zeichentheorie der sensualistischen Idéologues beschäftigt, einerseits enttäuscht von deren Unkenntnis der Kantschen Philosophie, andererseits doch auch fasziniert von der zentralen Stellung, die die Idéologues den Zeichen und der artikulierten Sprache in ihrer Erkenntnistheorie einräumen. Das Interesse an Sprache hatte sich dann zunächst in der Beschäftigung mit dem Baskischen konkretisiert. Während seiner diplomatischen und politischen Tätigkeiten ruhte die Sprachforschung, allerdings sammelte Humboldt bereits in dieser Zeit weiter Informationen über Sprachen (so bei seinem Bruder Alexander, bei Hervás y Panduro, Adelung, Pallas, Klaproth). Erst 1820 und von da an bis zu seinem Lebensende arbeitete Humboldt dann seine Sprachphilosophie aus. In unserem Zusammenhang sind folgende Texte besonders wichtig: - Ueber den Dualis (1827): gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 26. April 1827; - Ueber die Verwandtschaft der Ortsadverbien mit dem Pronomen in einigen Sprachen (1829); - Ueber die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues (1827-29); - Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts (1830-35). Zunächst fällt auf, daß Humboldt sowohl von der Wissenschaft als auch von der Sprache als prinzipiell unabgeschlossenem Prozeß spricht. In bei- <?page no="301"?> Humboldts Idee der Universität im Lichte seiner Sprachtheorie 281 den Fällen haben wir es mit der freien Tätigkeit von Subjekten zu tun, die einen unendlichen Stoff bearbeiten. Für die Wissenschaft bedeutet dies, wie wir gesehen haben, daß sie als „noch nicht ganz Gefundene und nie ganz Aufzufindende“ aufgefaßt wird. Auch die Sprache ist „eine Verrichtung, ein geistiger Process“ (VI, 146), eine Arbeit des Geistes „[…] weil sich das Daseyn des Geistes überhaupt nur in Thätigkeit und als solche denken lässt“ (VII, 46). Oder ausführlicher in der klassischen Formulierung: Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Thätigkeit (Energeia). Ihre wahre Definition kann daher nur eine genetische seyn. Sie ist nemlich die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den articulirten Laut zum Ausdruck des Gedanken fähig zu machen. (VII, 46) Freilich schaffen sich die Menschen/ Nationen bestimmte Verfahren, eben die (historischen Einzel-)Sprachen, innerhalb derer die Freiheit des jeweiligen Sprechens sich bewegen muß. Die Sprechtätigkeit ist also „nicht rein erzeugend, sondern umgestaltend“ (VII, 47). Das bereits historisch Verfaßte begrenzt also nicht die freie Tätigkeit im jeweiligen Sprechen, sondern eröffnet ihr Entdeckungsprozeduren, „Methoden, die Arbeit des Geistes, welcher sie die Bahn und die Form vorzeichnet, weiter fortzusetzen“ (VII, 62). Die einmal fest geformten Elemente bilden zwar eine gewissermassen todte Masse, diese Masse trägt aber den lebendigen Keim nie endender Bestimmbarkeit in sich. (VII, 62) Die Sprache hat, so Humboldt „nirgends, auch in der Schrift nicht, eine bleibende Stätte, ihr gleichsam todter Theil muss immer im Denken aufs neue erzeugt werden“ (VII, 63). Analoges gilt für die Wissenschaft, in der die junge Generation sich das bereits gewonnene Wissen aneignen und es transformieren muß, mit einem mittelalterlichen Bild sprechend, als Zwerge auf Schultern von Riesen eine neue, weitere Perspektive sich erarbeiten muß. Sprache wie auch Wissenschaft sind also freie Tätigkeiten, wobei die Freiheit nicht eine der völligen Neuschöpfung, sondern eine solche der Aneignung und Überschreitung des Überlieferten ist. Der Horizont der Überschreitung ist prinzipiell unabgeschlossen, in der Sprache wie in der Wissenschaft: Wie aber der Stoff des Denkens und die Unendlichkeit der Verbindungen desselben niemals erschöpft werden, so kann dies ebensowenig mit der Menge des zu Bezeichnenden und zu Verknüpfenden in der Sprache der Fall seyn. (VII, 62) Der Zusammenhang zwischen Sprechen und Denken/ Forschen ist aber ein viel engerer als nur der einer Strukturanalogie oder aber der von unterschiedlichen Manifestationsweisen der gleichen Quelle, eben der freien Tätigkeit des Subjekts oder Geistes (in dem soeben skizzierten Sinn). Diesen überaus engen Zusammenhang von Denken und Sprechen in Humboldts Sprachtheorie will ich nun in zwei Schritten entfalten: <?page no="302"?> 282 Humboldts Idee der Universität im Lichte seiner Sprachtheorie - die Notwendigkeit der Materialisierung für das Denken; - die Notwendigkeit des ‚Du‘ für das Denken. Das Denken muß, um überhaupt erfaßt und weiterentwickelt werden zu können, materialisiert werden: Die Sprache ist das bildende Organ des Gedanken. Die intellectuelle Thätigkeit, durchaus geistig, durchaus innerlich und gewissermassen spurlos vorübergehend, wird durch den Laut in der Rede äusserlich und wahrnehmbar für die Sinne. Sie und die Sprache sind daher Eins und unzertrennlich von einander. Sie ist aber auch in sich an die Nothwendigkeit geknüpft, eine Verbindung mit dem Sprachlaute einzugehen; das Denken kann sonst nicht zur Deutlichkeit gelangen, die Vorstellung nicht zum Begriff werden. (VII, 53) Das subjektive Denken muß seine Vorstellungen in eine objektive, das heißt, äußerliche, materiell faßbare Form bringen: Subjective Thätigkeit bildet im Denken ein Object. Denn keine Gattung der Vorstellungen kann als ein bloss empfangendes Beschauen eines schon vorhandenen Gegenstandes betrachtet werden. Die Thätigkeit der Sinne muss sich mit der inneren Handlung des Geistes synthetisch verbinden, und aus dieser Verbindung reisst sich die Vorstellung los, wird, der subjectiven Kraft gegenüber, zum Object und kehrt, als solches auf neue wahrgenommen, in jene zurück. Hierzu aber ist die Sprache unentbehrlich. Denn indem in ihr das geistige Streben sich Bahn durch die Lippen bricht, kehrt das Erzeugniss desselben zum eigenen Ohre zurück. Die Vorstellung wird also in wirkliche Objectivität hinüberversetzt, ohne darum der Subjectivität entzogen zu werden. Dies vermag nur die Sprache; und ohne diese, wo Sprache mitwirkt, auch stillschweigend immer vorgehende Versetzung in zum Subject zurückkehrende Objectivität ist die Bildung des Begriffs, mithin alles wahre Denken unmöglich. (VII, 55) Das Sprechen ist also eine „nothwendige Bedingung des Denkens des Einzelnen in abgeschlossener Einsamkeit“ (VII, 55). Humboldts Sprachtheorie ist vor allem aber auch eine Theorie des Dialogs, wie besonders Jürgen Trabant in seinen Humboldt-Interpretationen herausgearbeitet hat (E mâra und Apeliotes). Ist nun der Dialog notwendig zum Denken oder aber erfolgt das Denken einsam, und die Mitteilung an einen Zweiten (alter) ist dem nur nachgeordnet? Die Antwort auf diese Frage reformuliert Humboldt in seinen Texten immer wieder: Schon das Denken ist wesentlich von Neigung zu gesellschaftlichem Daseyn begleitet, und der Mensch sehnt sich, abgesehen von allen körperlichen und Empfindungs-Beziehungen, auch zum Behuf seines blossen Denkens nach einem dem Ich entsprechenden Du, der Begriff scheint ihm erst seine Bestimmtheit und Gewissheit durch das Zurückstrahlen aus einer fremden Denkkraft zu erreichen. (VI, 25) Es erlangt erst seine Bestimmtheit und Klarheit, wenn es auch als aus einer fremden Denkkraft zurückstrahlend angesehen werden kann. (VI, 304) <?page no="303"?> Humboldts Idee der Universität im Lichte seiner Sprachtheorie 283 Im Menschen aber ist das Denken wesentlich an gesellschaftliches Daseyn gebunden, und der Mensch bedarf, abgesehen von allen körperlichen und Empfindungsbeziehungen, zum blossen Denken eines dem Ich entsprechenden Du. Dies ist schon oben (§. 41.) erinnert worden, bedarf aber hier einer weiteren Ausführung. Der Begriff erreicht seine Bestimmtheit und Klarheit erst durch das Zurückstrahlen aus einer fremden Denkkraft. (VI, 160) Wir haben gesehen, dass der Begriff der Geselligkeit nicht entbehrt werden kann, wenn man den einfachen Act des Denkens zu zergliedern versucht, dasselbe wiederholt sich aber auch im geistigen Leben des Menschen unaufhörlich; die gesellige Mittheilung gewährt ihm Ueberzeugung und Anregung. Die Denkkraft bedarf etwas ihr Gleiches und doch von ihr Geschiedenes. Durch das Gleiche wird sie entzündet, durch das von ihr Geschiedne erhält sie einen Prüfstein der Wesenheit ihrer innern Erzeugungen. (VI, 174) […] und der Mensch versteht sich selbst nur, indem er die Verstehbarkeit seiner Worte an Andren versuchend geprüft hat. Denn die Objectivität wird gesteigert, wenn das selbstgebildete Wort aus fremdem Munde wiedertönt. (VII, 55-56) Die Denkkraft bedarf etwas ihr Gleiches und doch von ihr Geschiednes. Durch das Gleiche wird sie entzündet, durch das von ihr Geschiedne erhält sie einen Prüfstein der Wesenheit ihrer innren Erzeugungen. (VII, 56) Ich zitiere in diesem Zusammenhang abschließend Jürgen Trabant: Darin daß der Sprechende den Gedanken als Wort des Anderen „wirklich ausser sich erblickt“ - bzw. genauer: hört -, liegt das über die Synthesen der künstlerischen Einbildungskraft hinausgehende Moment, die größere Objektivität der Sprache. Den Sprachsinn durch den Sprachsinn entzünden, ist mehr als die Einbildungskraft durch die Einbildungskraft entzünden: Während die Kunst in der Alterität oder Inter-Subjektivität ihre Vollendung findet, schließt sich der Kreis der sprachlichen Synthesen über das Betrachten, Zuhören, Verstehen des Anderen hinaus erst durch die Reziprozität der Sprache. Hierdurch überwindet die Sprache die für die Kunst konstitutive Scheinhaftigkeit. Denn der Hörer muß nicht nur „gleichsam“ ein Künstler, der Leser en quelque façon ein Dichter, sondern der Hörer muß wirklich ein Sprecher sein, d. h. seinerseits das Wort materiell produzieren, damit die Scheinhaftigkeit des von mir erzeugten Objekts, meines Worts, überwunden werden kann. (Trabant 1986, 33) Sie sehen, daß wir uns unserer Ausgangsüberlegung wieder annähern: warum bedarf die Wissenschaft, um fortschreiten zu können, des kollegialen Austauschs; warum müßte der Forscher die Studenten, kämen sie nicht zu ihm, von den Straßen hereinholen? Das Denken bedarf eines ‚Du‘, um Klarheit und Bestimmtheit zu gewinnen, als Prüfstein der inneren Überzeugungen. Dieses ‚Du‘ ist eines, das versteht und mißversteht, ein dem ersten Subjekt Gleiches und von ihm Verschiedenes. Die Differenz ist konstitutiv für den Fortgang des Denkens: ohne sie würde es vage, verlöre an Bestimmtheit. Die vermutete und tatsächliche Gleichheit ist Ausgangspunkt für Harmonie und <?page no="304"?> 284 Humboldts Idee der Universität im Lichte seiner Sprachtheorie Begeisterung. Die Wahrheit, um die es in der Wissenschaft geht, liegt gewissermaßen zwischen den Subjekten, und wir können uns ihr nur in gemeinschaftlicher Arbeit annähern. Obgleich der Erkenntnissgrund der Wahrheit, des unbedingt Festen, für den Menschen nur in seinem Inneren liegen kann, so ist das Anringen seines geistigen Strebens an sie immer von Gefahren der Täuschung umgeben. Klar und unmittelbar nur seine veränderliche Beschränktheit fühlend, muss er sie sogar als etwas ausser ihm Liegendes ansehn; und eines der mächtigsten Mittel, ihr nahe zu kommen, seinen Abstand von ihr zu messen, ist die gesellige Mittheilung an Andre. Alles Sprechen, von dem einfachsten an, ist ein Anknüpfen des einzeln Empfundenen an die gemeinsame Natur der Menschheit. (VII, 56) Ein weiteres wesentliches Element klingt hier an: die Erfahrung der Beschränktheit und Endlichkeit jedes Einzelnen, der diese Isolation (‚Verinselung‘) zu überwinden strebt, in der Begeisterung für das ‚Du‘ in der Liebe und im Gespräch, in der Begeisterung für die Wahrheit, im „Anringen“ an sie im wissenschaftlichen Gespräch. Und schließlich ist die Sprache, ebenso wie die auf ihr aufruhende Wissenschaft als symbolische Form überhaupt nur als soziale Konstruktion haltbar: Es bleibt zwischen dem Wort und seinem Gegenstande eine so befremdende Kluft, das Wort gleicht, allein im Einzelnen geboren, so sehr einem blossen Scheinobject, die Sprache kann auch nicht vom Einzelnen, sie kann nur gesellschaftlich, nur indem an einen gewagten Versuch ein neuer sich anknüpft, zur Wirklichkeit gebracht werden. (VI, 26) Lassen Sie mich diese letzten Überlegungen Humboldts zum Ausgangspunkt für eine Zwischenfrage nehmen, nämlich die, ob Humboldts bewußtseins- und sprachtheoretische Positionen überhaupt noch zeitgemäß seien. Dieser Zwischenfrage (es geht mir ja vorrangig um die Erhellung der Bildungstheorie Humboldts durch seine Sprachtheorie) kann ich hier nicht ausführlich nachgehen. Nur so viel: viele von Humboldts Überlegungen sind bis heute nicht in ihrer ganzen Reichweite erfaßt und erweisen sich als ungewöhnlich weitsichtig. Gerade die Formulierung im letzten Zitat könnte eine Anregung sein, wie mit der poststrukturalistischen Problematisierung des Zeichenverhältnisses umzugehen wäre (eine vergleichbare Krise gab es übrigens schon um 1800, wie Foucault in Les limites de la représentation diagnostiziert (vgl. Foucault 1966, 229-261); möglicherweise antwortet Humboldt auf diese Krise): der zerbrechliche Konsens über Bedeutung muß in jedem Gespräch von neuem hergestellt werden: „nur indem an einen gewagten Versuch ein neuer sich anknüpft“. Eine solche Sprachtheorie/ Semantik auf der Basis von Alterität (alter als der Gleiche und ganz Andere) müßte erst noch ausformuliert werden. Doch zurück zu unserer Ausgangsfrage: Warum ist Humboldts Universität eine Gesprächsuniversität? Was hat wissenschaftlicher Fortschritt <?page no="305"?> Humboldts Idee der Universität im Lichte seiner Sprachtheorie 285 mit der universitas (Community of Investigators), was mit der Einheit von Forschung und Lehre zu tun? Humboldts Antworten auf diese Fragen klingen uns aus seiner Sprachtheorie entgegen: - Erst durch die „gesellige Mitteilung“ erhält das Denken Bestimmtheit und Klarheit; - Das Anringen an die Wahrheit kann nur gesellig erfolgen: Begeisterung (Gleichheit) und Verschiedenheit sind konstitutiv für den Fortgang des Denkens; - Die Wahrheit kann nur perspektivisch erschlossen werden; - Die Sprache, auch und vor allem die des wissenschaftlichen Sprechens, muß immer aufs neue konsensuell begründet werden. Gestatten Sie mir noch eine letzte Überlegung: wir haben bisher über Humboldts Sprachtheorie als Dialogtheorie gesprochen. Sie ist vor allem aber auch als Theorie der „Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaus“ und entsprechender Weltansichten bekannt, völlig zurecht. Hat auch dies etwas mit dem Fortgang von Wissenschaft zu tun? Humboldts Antwort hierzu: Die Summe des Erkennbaren liegt, als das von dem menschlichen Geiste zu bearbeitende Feld, zwischen allen Sprachen, und unabhängig von ihnen, in der Mitte; der Mensch kann sich diesem rein objectiven Gebiet nicht anders, als nach seiner Erkennungs- und Empfindungsweise, also auf einem subjectiven Wege, nähern. (IV, 27) Wir können zweierlei festhalten: 1. Ebenso wie die Wahrheit je individueller Perspektivierungen bedarf, bedarf sie auch unterschiedlicher sprachlicher Zugänge. In diesem Sinne ist also Wissenschaft auch Triangulation über mindestens zwei Sprachen. 2. Neues wird vor allem durch die intime Kenntnis einer Sprache, die vollständige Nutzung ihrer Möglichkeiten als Entdeckungsprozedur entdeckt (Metaphorik in den Wissenschaften). Ich überlasse es Ihnen, weiter zu überlegen, was dies für die Sprachenpolitik an den Universitäten bedeutet. Sicher bedeutet es nicht, daß wir unser Denken ganz unserem brüchigen Wissenschaftsenglisch überlassen sollten. Ich komme zu meinem dritten, letzten und kürzesten Punkt: Ist ‚Humboldts Universitätsidee‘ (deren Implikationen ich in der Konfrontation mit Humboldts Sprachtheorie herausgearbeitet habe) ‚noch zeitgemäß‘? Sie können sich meine Antwort vorstellen: „Ja! “ Ich will sie aber noch in einigen Punkten entfalten: 1) Humboldts Idee der Universität ist eine regulative Idee, keine Faktenbeschreibung, sozusagen die Richtschnur unseres institutionellen Handelns. Wir haben keine andere, und es ist auch keine bessere in Sicht (Langewiesche). Auf eine solche geteilte regulative Idee können wir nicht verzichten. <?page no="306"?> 286 Humboldts Idee der Universität im Lichte seiner Sprachtheorie 2) Im Zentrum steht die Auffassung der Wissenschaft als eines unabgeschlossenen Prozesses, gültig seit der griechischen Philosophie: „die offene Frage steht höher als die gesicherte Antwort“ (Frühwald). Was bedeutet dies für die universitäre Didaktik? Es kann nicht um die Vermittlung von abgeschlossenem Wissen gehen, sondern um die Verfahren der Verschiebung vom Gewußten zum Wißbaren. Freilich bedarf es hierbei sorgfältiger Überlegungen zum Verhältnis von (einigermaßen) gesicherten Wissensbeständen und Verfahren der Produktion von Wissen. Sicher aber muß es vorrangig um den Prozeß, nicht das Produkt gehen, energeia, nicht ergon. 3) Jedes Gespräch, und in vorzüglicher Weise das wissenschaftliche Gespräch, lebt von der Differenz. Wir erinnern uns: das ‚Du‘ ist ein Gleiches (hier: die gemeinsame Begeisterung für die Wahrheit) und ein Verschiedenes. Die Verschiedenheit der Perspektiven ist konstitutiv für den wissenschaftlichen Fortschritt. Dies bedeutet, daß die Abkapselung (Verinselung) in Schulen diesem Prozeß abträglich ist. Als Forderung für die universitäre Lehre: Dialogvorlesungen, Vorlesungsreihen, systematische Übersetzung und Überprüfung der Leistungsfähigkeit von einem Modell in das andere. 4) Das Verhältnis der Generationen an der Universität: die Alten brauchen die Jungen, weil diese, mutiger und weniger routiniert, sie dazu bringen, vermeintlich sicher Gewußtes zu überprüfen und zu reformulieren. Die Jungen brauchen die Alten, weil sie von ihnen Wissen und Verfahren lernen; sie sind aber echte Ko-Subjekte, insofern sie sich die Anregungen im eigenen Denken anverwandeln und um ihrerseits selbsttätig, das Überlieferte reinterpretierend an die Wahrheit ‚anringen‘ müssen. 5) Sowohl das Prinzip der universitas als auch das Prinzip der Einheit von Forschung und Lehre wirken der Spezialisierung entgegen. Abstraktion ist notwendig, um den Erkenntnisfortschritt zu befördern; die Synthetisierung der Perspektiven ist ebenso notwendig, um den Leerlauf sich völlig einiger Spezialistengemeinden zu vermeiden (Bubner). 6) Humboldt ist (ebenso wie Kant) ein großer Lehrer antinomischen Denkens, des Aushaltens der Widersprüchlichkeit zweier gleichermaßen wahrer Aussagen. Über eine solche Antinomie haben wir gerade gesprochen: Spezialisierung und Synthese. Eine andere formuliert er gleich zu Eingang seiner Universitätsschrift: Einsamkeit und Freiheit des einzelnen Wissenschaftlers und Gemeinschaft, universitas der Wissenschaftler; Selbsttätigkeit des Denkens und Überprüfung und Weiterführung mit dem pluralen ‚Du‘ der Community of Investigators. So muß die Universität auch beides garantieren: Formen der Auseinandersetzung (davon war bereits die Rede) und Zeit und Freiräume zum selbsttätigen Denken, nicht Überfrachtung mit besinnungsloser Geschäftigkeit. Auch dies muß manchmal erst wieder gelernt werden: einen halben Tag denken! <?page no="307"?> Bibliographie 287 7) Dies alles kann nur gelingen, wenn der einzelne Wissenschaftler verantwortlich handelt, wobei das Humboldtsche Universitätsideal als Maßstab des verantwortlichen universitären Handelns nicht ersetzt ist. Seltsamerweise verweist die poststrukturalistische Diskussion, die ausgezogen war, Subjekt und Struktur zu dekonstruieren, stärker als je zuvor auf die Ränder und Falten des Denkens, auf Subjektivität, Differenz und eben die Verantwortlichkeit, die so etwas wie Würde in einer unübersichtlich gewordenen (wissenschaftlichen) Welt aufscheinen läßt. Bibliographie Foucault, Michel (1966): Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris: Gallimard. Humboldt, Wilhelm von (1809): „Der Königsberger und litauische Schulplan“, in: Humboldt, Wilhelm von (1903-1936), Gesammelte Schriften, hrsg. von Albert Leitzmann, u. a., Berlin: Behr. Humboldt, Wilhelm von (1810): „Ueber die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten“, in: Humboldt, Wilhelm von (1903-1936), Gesammelte Schriften, hrsg. von Albert Leitzmann, u. a., Berlin: Behr. Humboldt, Wilhelm von (1827): „Ueber den Dualis“, in: Humboldt, Wilhelm von (1903- 1936), Gesammelte Schriften, hrsg. von Albert Leitzmann, u. a., Berlin: Behr. Humboldt, Wilhelm von (1827-29): „Ueber die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues“, in: Humboldt, Wilhelm von (1903-1936), Gesammelte Schriften, hrsg. von Albert Leitzmann, u. a., Berlin: Behr. Humboldt, Wilhelm von (1829): „Ueber die Verwandtschaft der Ortsadverbien mit dem Pronomen in einigen Sprachen“, in: Humboldt, Wilhelm von (1903-1936), Gesammelte Schriften, hrsg. von Albert Leitzmann, u. a., Berlin: Behr. Humboldt, Wilhelm von (1830-35): „Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts“, in: Humboldt, Wilhelm von (1903-1936), Gesammelte Schriften, hrsg. von Albert Leitzmann, u. a., Berlin: Behr. Trabant, Jürgen (1985): „Nachwort. E mâra“, in: Humboldt, Wilhelm von, Über die Sprache: Ausgewählte Schriften, München: Deutscher Taschenbuch-Verlag, 159-177. Trabant, Jürgen (1986): Apeliotes oder Der Sinn der Sprache. Wilhelm von Humboldts Sprach-Bild, München: Fink. <?page no="309"?> Per distantiam locorum. Die Modellierung sprachlicher Varietät in der europäischen Tradition* In der Varietätenlinguistik der beiden letzten Jahrzehnte diskutierte man heftig über die Frage, ob sprachliche Varietät eigentlich für die Sprecher in Form eines Kontinuums oder aber einer ‚Architektur‘ von Varietäten, Existenzformen oder Gradata gegeben sei. 1 Die folgenden Überlegungen sollen zeigen, daß Modellierungen von Einheit und Varietät in der europäischen Sprachwissenschaft eine lange Tradition haben, vor allem natürlich in Form der großen biblischen Sprachmythen von Adam, Babel und Pfingsten. 2 Daneben gibt es aber auch noch andere - europäische - Modellierungen innersprachlicher Varietät, die je für sich gut bekannt sind, weniger jedoch in ihren Beziehungen und ihrem Zusammenspiel. Dies wäre ein Thema gewesen, über das ich gerne mit Daniel Baggioni gesprochen hätte, der aufgrund seiner Sensibilität für historische - machtgesteuerte - Funktionalisierungen und aufgrund seines europäischen Blicks (vor allem im Dreieck Frankreich- Italien-Deutschland) meinen Überlegungen Pointierung und Schärfe hätte geben können. Ich kann seine möglichen Konkretisierungen und Einwände nur vermuten und kann nur meinen Ausgangspunkt eines Dialogs formulieren, der nicht mehr möglich ist. Ich möchte meine Überlegungen ausgehend von einem bestimmten Raum und einer bestimmten - kurzen - Zeitspanne formulieren, nämlich ausgehend von der französischen Sprachreflexion um 1530. In dieser Zeit konkurrieren * Zuerst erschienen 2000 in: Stein, Peter (Hrsg.), Frankophone Sprachvarietäten. Variétés linguistiques francophones. Hommage à Daniel Baggioni de la part de ses „dalons“, Tübingen: Stauffenburg, 377-392. 1 Die Kontinuumskonzeption wurde zuerst in der Kreolistik vorgeschlagen, dann aber auch zur Grundlage quantitativer Beschreibungen von Variation (z. B. Klein/ Dittmar 1979). Zur Kritik auf dem Hintergrund der Prager Sprachstilistik siehe Linguistische Studien 72, 1 (1980), aus der Perspektive des europäischen Strukturalismus siehe Weydt/ Schlieben-Lange 1981, Stehl 1996. Besonders interessant ist der Vorschlag von Sobrero 1988, in dieser Hinsicht zwischen der Ebene sprachlicher Aktivitäten (die kontinuierlich wären) und der der Kategorisierungen (die Diskretheit schaffen) zu unterscheiden. Freilich fragt es sich, ob nicht die - diskreten - Kategorisierungen zur Homogenisierung und Abgrenzung der Aktivitäten beitragen. 2 Zu Babel siehe Borst 1957- 63; zu Babel und Pfingsten Schlieben-Lange 1976 und vor allem Trabant 1998. <?page no="310"?> 290 Per distantiam locorum zwei Modelle sprachlicher Variation, die ich abkürzend das ‚Dante-Modell‘ und das ‚Koiné-Modell‘ nennen möchte. Es geht mir in meinem Beitrag nicht darum, die historische Filiation der beiden Modelle zu verfolgen 3 , sondern diese erst einmal systematisch zu fassen. Um 1530 ist das Sprachbewußtsein in Frankreich noch schwankend und verhandelbar. Dies betrifft insbesondere das Verhältnis zum Lateinischen. Die mittelalterlichen Vorstellungen vom Lateinischen als Sprache der grammatica und der litterae, kurz: der Sprache, die arte bearbeitet und lehrbar ist, im Gegensatz zur Volkssprache (lingua materna/ vernacula, langue maternelle/ vulgaire), die noch nicht unter die Gesetze der ars in Form von Grammatik und Orthographie gebracht ist, also natura funktioniert, ist noch allenthalben virulent: man denke nur an die Diskussionen im Vorfeld der Ordonnance von Villers-Cotterêts (vgl. dazu Trudeau 1983), an die Verwendung des Lateinischen als Metasprache der Grammatik bei Sylvius, an die Vorstellungen zu Bildung und Erziehung. 4 Für bestimmte Aspekte von Sprachlichkeit und für bestimmte Bereiche der Versprachlichung in Texten ist das Lateinische noch immer ein fester Bezugspunkt, der das Denken über die eigene Sprache eingrenzt. 5 Verhandelbar und schwankend ist auch der Gebrauch der Klassifikatoren für die Volkssprache: Viele der verwendeten Begriffe sind solche, die ihre Bedeutung aus der Opposition zum Lateinischen gewinnen: 6 langue maternelle, langue vulgaire, langue du pays, lingua vernacula, roman. Andere betreffen die horizontale Verschiedenheit der Territorien und zugehörigen Sprachräume: françoys, castellano. Diese volkssprachlichen Bezeichnungen konkurrieren ihrerseits mit den lateinischen Bezeichnungen für Territorien und Sprachen: Gallia (lingua gallica), 3 Diese historische Arbeit ist meines Wissens noch nicht geleistet. Die eindrucksvolle Arbeit von Borst 1957- 63 müßte unter dem Gesichtspunkt der Modellierung von Variation systematisch ausgewertet werden. Die Kommentare zu den einzelnen Autoren (z. B. Mengaldo zu Dante, Colette Demaizière zu Charles de Bovelles) enthalten eine Reihe von Hinweisen (allerdings häufig ohne Blick für den europäischen Gesamtdiskurs), die zusammenhängend interpretiert werden müßten. 4 Hier ist etwa an die von Montaigne berichtete Bildungsgeschichte zu denken. 5 Der von Renée Balibar 1985 programmatisch eingeführte Terminus des colinguisme müßte auf seine Tragfähigkeit für unsere Problematik hin untersucht werden. Zum Sprachbewußtsein im Spätmittelalter: Lusignan 1986; zum Sprachbewußtsein in der Renaissance: Gerighausen 1963 und Trudeau 1983. 6 Zu den Bezeichnungen der romanischen Sprachen: Müller 1996, Söll 1966. Müller arbeitet sehr deutlich heraus, daß die Sprachbezeichnungen ihre Bestimmtheit aus den jeweiligen Oppositionen gewinnen. Diese Perspektive müßte systematisch in die einzelnen Texte hinein weiterverfolgt werden: Es zeigt sich dann, daß die gleichen Autoren, häufig im gleichen Text, verschiedene Bezeichnungen für die gleiche Sprache verwenden, je nach dem im Kontext relevanten Gesichtspunkt. Erst in einem zweiten Schritt erfolgt dann eine Festlegung auf einen bestimmten Sprachennamen, die aus einer bestimmten vorherrschenden Perspektive gewonnen ist (ladino, român etc.). <?page no="311"?> Das Dante-Modell 291 Hispania, Italia. Speziell für das Französische verwenden die Autoren, je nach Sprachenwahl, langue françoyse oder lingua gallica, wobei die mitverstandenen politischen Territorien: France und Gallia natürlich keineswegs ko-extensiv sind. Eng damit hängt die ebenfalls offene Frage zusammen, ob diese beiden Begriffe: langue françoyse und lingua gallica auch das okzitanische Sprachgebiet umfassen, das im Mittelalter als Gebiet der langue d’oc vom Norden, dem Gebiet der langue d’oïl, klassifikatorisch wohlgeschieden war. Sowohl die französische als auch die lateinische Sprachbezeichnung wird historisch-politisch generalisierend verwendet. Dagegen steht die literarisch-diskurstraditionelle Klassifikation, die Norden und Süden unterscheidet, wobei freilich diese diskurstraditionelle Klassifikation auch juristischpolitische Implikationen hat: Sprachgebiete und Gebiete unterschiedlicher Rechtsformen (geschriebenes Recht lateinischen Typs vs. Gewohnheitsrecht/ coutumes) sind fast deckungsgleich. Alles Reden über die Volkssprache(n) und ihre Varietäten um 1530 muß sich hinsichtlich der skizzierten Probleme situieren: Namen müssen gewählt, das Verhältnis zum Lateinischen und zu den ‚anderen‘ romanischen Idiomen müssen bestimmt werden. In diesen Spannungsfeldern siedelt sich auch die Reflexion über die Gegebenheit der sprachlichen Variation an. Das Dante-Modell Das Dante-Modell wird im Frankreich des frühen 16. Jahrhunderts von Charles de Bovelles ausgeführt. Ich nenne es Dante-Modell deshalb, weil Bovelles’ Vorstellungen über sprachliche Variation weithin strukturanalog mit den von Dante in De Vulgari Eloquentia entwickelten sind. Die historische Frage, ob Bovelles Dantes Schrift, die ja bekanntlich zu Beginn des 16. Jahrhunderts wiederentdeckt wurde, gekannt hat, oder aber ob beide Autoren durch Weiterentwickeln weit verbreiteter scholastischer Überlegungen zu in vielerlei Hinsicht vergleichbaren Ergebnissen gekommen sind, soll hier ausgeklammert werden. 7 Erinnern wir uns zunächst an Dantes Vorstellungen über die Variation der Sprachen in Zeit und Raum, wie er sie in De Vulgari Eloquentia (1305) entwickelt. Der Mensch ist, seiner Essenz nach, ein äußerst wandelbares (instabilissimum) und vielfältiges (variabilissimum) Lebewesen, weshalb denn auch seine sämtlichen Hervorbringungen, Sprache wie auch Sitten, diese essentiellen Merkmale teilen müssen. Alle kulturellen Konstruktionen des Menschen, allen voran die Sprache, wandeln sich in der Zeit und variieren im Raum: 7 Vgl. Schmitt 1982, Demonet 1992. Bei einer solchen historischen Fragestellung müßte der jeweilige Bildungshintergrund der beiden Autoren verglichen werden. Vgl. dazu die Diskussion um Dantes möglichen modistischen Hintergrund (Corti 1981, Lo Piparo 1986). Zum Sprachbewußtsein Italiens um Dante siehe Bück 1963; zu Bovelles Dumont-Demaizière 1973 und Demaizière 1983. <?page no="312"?> 292 Per distantiam locorum Dicimus ergo quod nullus effectus superat suam causam, in quantum effectus est, quia nil potest efficere quod non est. Cum igitur omnis nostra loquela - preter illam homini primo concreatama Deo - sit a nostro beneplacito reparata post confusionem illam que nil aliud fuit quam prioris oblivio, et homo sit instabilissimum atque variabilissimum animal, nec durabilis nec continua esse potest, sed sicut alia que nostra sunt, puta mores et habitus, per locorum temporumque distantias variari oportet. (Dante: De Vulgari Eloquentia I, IX, 6) Sprachwandel und sprachliche Variation gehören eng zusammen: Die instabilitas und die variabilitas sind zwei Aspekte des auf seinen Körper und dessen Dauer begrenzten Menschen. Es gehört zu seinem Wesen, sich in Raum und Zeit zu verändern: per locorum temporumque distantias variari. Besonders schwer zu fassen ist die Veränderung in der Zeit, die uns aufgrund der Begrenztheit unserer Lebenszeit nicht zugänglich ist. Übereinkunft (beneplacitum) der Menschen und die örtliche Nähe (congruitas localis) schaffen - stets gefährdete - Sitten und Sprachen: si ergo per eandem gentem semio variatur, ut dictum est, successive per tempora, nee stare ullo modo potest, necesse est ut disiunctim abmotimque morantibus varie varietur, ceu varie variantur mores et habitus, qui nec natura ne consortio confirmantur, sed humanis beneplacitis localique congruitate nascuntur. (Dante: De Vulgari Eloquentia I, IX, 10) Im einzelnen rekonstruiert Dante die Ausgliederung der menschlichen Sprachen folgendermaßen: Gott hat mit dem ersten Menschen eine „certa forma locutionis“ (I, VI, 4) geschaffen, wie sie Adam gesprochen hat. Bei der babylonischen Sprachverwirrung wurde lediglich die Sippe Sems ausgespart: das Hebräische (bis zur Vertreibung) repräsentiere also diese erste Sprache. Die von Babel aus zerstreuten Menschen brachten bei ihren Wanderungen vom Orient in den Okzident eine ydioma tripharium mit sich, eine Sprache in drei Manifestationsweisen: der nördlichen (septentrionalis), der südlichen (meridionalis) und einer dritten „quos nunc Grecos vocamus“ (I, VIII, 2). Der meridionale Zweig wird nun seinerseits Ausgangspunkt eines ydioma tripharium: aus ihm entwickeln sich Yspani (das Okzitanische), Franci (das Französische) und Latini (das Italienische). Diese einzelnen Zweige sind nun ihrerseits wieder in sich variabel: Dante unterscheidet 14 italienische Dialekte. Und auch hier macht die Variation nicht halt: die einzelnen Städte unterscheiden sich sprachlich voneinander, ja sogar die einzelnen Stadtteile ein und derselben Stadt: Quare autem tripharie principalius variatum ist, investigemus; et quare quelibet istarum variationum in se ipsa variatur, puta dextre Ytalie locutio ab ea que est sinistre (nam aliter Paduani et aliter Pisani locuntur); et quare icinius habitantes adhuc discrepant in loquendo, ut Mediolanenses et Veronenses, Romani et Florentini, nec non convenientes in eodem genere gentis, ut Neapoletani et <?page no="313"?> Das Dante-Modell 293 Caetani, Ravennates et Faventini, et, quod mirabilius est, sub eadem civilitate morantes, ut Bononienses Burgi Sancti Felicis et Bononienses Strate Maioris. Hec omnes differentie atque sermonum varietates quid accidant, una eademque ratione patebit. (Dante: De Vulgari Eloquentia I, IX, 4-5) Halten wir noch fest, daß Dante die verschiedenen Stufen der Ausgliederung in einem ersten Zugriff an der jeweiligen Form der Bejahung festmacht: iò im nördlichen Sprachzweig, die bekannte erste Klassifikation der romanischen Sprachen für die zweite Ausgliederung: oc - oïl - sì. Wir könnten also Dantes Vorstellungen über die Variation per locorum temporumque distantias folgendermaßen schematisch festhalten: forma locutionis (Adam) Hebräisch idioma tripharium 1 meridional septentrional graece = idioma tripharium 2 (iò) Yspani Franci Latini (oc) (oïl) (si) … … Toskana Romagna … Imola Bologna Borgo Strada Santo Felice Maggiore Die verschiedenen Varietäten hängen jeweils mit der hierarchisch höheren zusammen, so daß sich im Grunde ein Nexus bis hinauf zu dem ersten idioma tripharium ergibt. Jede Varietät ist nichts anderes als eine Manifestationsweise einer höherrangigen. Die Sprachen sind unendlich verästelt, sie sind aber gleichzeitig auch eins. Es gibt keine von vornherein besonders ausgezeichnete hierarchische Stufe. Erst Grammatik und literarische Texte markieren dann bestimmte Ebenen als hervorragende: Die grammatica (des Lateinischen, aber auch anderer Sprachen) zieht eine Ebene der Stabilität gegenüber den wandelbaren Muttersprachen ein. Die Literatursprachen/ -dialekte liefern textuelle Vorbilder. Umstritten bleibt die Frage, ob die - wandelbaren und variierten - postbabelischen Sprachen <?page no="314"?> 294 Per distantiam locorum teilhaben an der ersten gottgegebenen forma locutionis oder ob dieser Nexus von Dante als völlig zerbrochen vorgestellt wird (Trabant 1998). In Charles de Bovelles’ Liber de differentia vulgarium linguarum et Gallici sermonis varietate (1533) 8 geht es, wie bei Dante, um die unendliche Variation der Sprachen in Raum und Zeit: „[…] loco, tempore, & horoscopo vitient et varient“(4). Wie Dante analogisiert auch Bovelles die Sprache mit den übrigen kulturellen Hervorbringungen des Menschen: 9 Und wie bei Dante macht die sprachliche Variation nirgends Halt: populi, regiones und urbes sind sprachlich unterschieden: A permodica loci distantia: mox vulgi linguam effici variam. Cap. II. Causas enim istic perscrutari cursim, atque adaperire eas nitemur: ob quas Gallica, in qua nati sumus lingua, intra Gallici soli fines, tam diuersa sit & varia. Nam sicut hæc à Latina lingua, cum per inobseruantiam regularium: tum per distantiam locorum, & vitia labiorum, ab homophonia antiqua labascit, ita & in seipsa permagnam illico differentiam habet, adeo vt quot in Gallia populi, quot regiones, quot vrbes, tot & tantos experiamur nunc in ea esse hominum mores & sermones. Innerhalb des Werks tauchen immer wieder in verschiedenen Zusammenstellungen die Faktoren sprachlichen Wandels und sprachlicher Variation auf: - locus - tempus - horoscopus caeli - vitia labiorum. Der Ausdruck horoscopus caeli ist rätselhaft (Dumont-Demaizière 1973, 53), entspricht in gewisser Hinsicht späteren Klimatheorien zur Sprachverschiedenheit. Die vitia labiorum sind wohl ein Kürzel für Sprachveränderungen, die durch Sprachkontakte bedingt sind. 10 Das größte Gewicht legt Bovelles allerdings den distantiae locorum im Verbund mit dem horoscopus caeli zu. In zahlreichen Variationen wiederholt er seine Ansicht, daß minimale Entfernungen zu großen sprachlichen Unterschieden fuhren können: - A permodica loci distantia … per magnam differentiam (5) - a modica et pusilla locorum distantia … (17) - a permodica locorum distantia … (18). 8 Zu Bovelles als sprachwissenschaftlich relevantem Autor siehe Dumont-Demaizière 1973 und Demaizière 1983, Schmitt 1976. 9 „[…] qui linguam, mores, affectos et universos corporis habitus in hominibus immutet“ (17). 10 Bovelles behandelt ausführlich sowohl die früheren Bewohner Galliens (wobei er Caesar folgt) als auch die späteren, vor allem germanischen Einflüsse. <?page no="315"?> Das Dante-Modell 295 Bovelles illustriert diesen großen Grad sprachlicher Verschiedenheit an den Varietäten der lingua gallica. Auch er erfaßt die Varietäten in einem ersten Zugriff über die Bejahungs- und Verneinungspartikeln. Während es im Lateinischen nur je eine Möglichkeit zur Bejahung und Verneinung gab: ita & non, finden wir in den Volkssprachen (wobei Bovelles hier allerdings nicht zwischen germanischen und romanischen Varietäten unterscheidet) eine unübersehbare Zahl von Variationen aufgrund der distantiae locorum. Bovelles kommentiert diese Variationen ausführlich und stellt sie schließlich in einem Schaubild zusammen: Differentiæ significationum Latinarum vocu, ita & non. Latini Ita. Latini Non. Flandri Ia. Germani Nit. Helvetii Ioth. Germani Nyit. Lothoringi Ay. Germani Neyt. Burgundi Oy. Parrhisii Non. Auxitani Auc.oc. Ambiani Nennin. Parrhisii Ouy. Narbonenses Nen. Pictones Ouan. Samarobrini Nain. Ambiani Oue. Hannones Nen. Lauduni Auy. Pictones Nenau. Hannones Au. Hispani Si. Vascones Aia. Auffällig ist, daß die Variation dichter wird, wenn Bovelles von seiner pikardischen Heimat spricht: da werden die Ambiani (Bewohner von Amiens) von den Lauduni (Laon) und Samarobrini (St. Quentin) 11 unterschieden, während andere Varietäten wie Hispani und Vascones sehr summarisch bezeichnet werden. Und schließlich stellt Bovelles fest, daß alle aufgefundenen Varietäten nichts anderes sind als Manifestationen einer idea oder eines archetypus. 12 Wie die ydiomata tripharia des Dante, so manifestieren sich auch Bovelles’ sprachliche Archetypen in Varietäten verschiedener Ausdifferenzierung. Eine zentrale Frage bei Bovelles ist die, auf welcher Ebene dieser archetypus der Varietäten des sermo Gallicus angesiedelt ist. Seine Antwort ist, daß nur 11 Irrtümlicherweise hält Bovelles Samarobriva für den lateinischen Namen seiner Heimatstadt St. Quentin, während dieser Name tatsächlich die Hauptstadt der Ambiani (also Amiens) bezeichnete (vgl. Dumont-Demaizière 1973, 17 ff.). 12 Es müßte geklärt werden, ob Bovelles idea und archetypus völlig identisch verwendet und welche philosophischen Implikationen diese Redeweise für ihn hat. Zum Bildungshintergrund wenig erhellend ist Victor 1978. <?page no="316"?> 296 Per distantiam locorum das Lateinische die uniformitas gewährleisten kann, die dem sermo Gallicus abgeht. Vbinam igitur, & in qua Galliæ regione locabimus totius Gallici sermonis archetypum? Vbi ver illius scrutabimur ideam? Nusquam sanè, nisi quis forte labia linquens vulgi, neglecto etiam quouis Galliæ solo, Latin linguam in doctorum virorum ore, in suo splendore sedentem, & veint Gallici sermonis fontem inspectet: vtpote à locor , temporum, & horoscoporum casibus immunem. Et hanc ideo instituat, Gallici cuiusque sermonis ideam, quam excogitatæ à doctis regulæ à labiorum vitiis, violari non sinant. Imo ad custodiendam vniformitatem illius, nulla non ora seuere castigant, nullum non detergunt & expoliunt labium. Das Lateinische ist die „uniformis idea trium linguarum, Italicae, Gallicae, Hispanae“ (42), der Ort, wo die Sprachidee unvermischt ist: „una, illibata, incorrupta“ (42). 13 Schematisch wären Bovelles’ Überlegungen folgendermaßen zu erfassen: lingua latina archetypus lingua italica lingua hispana lingua gallica [archetypus] [Pikardisch] Amiens Laon St. Quentin Das Dante-Modell sprachlicher Variation, das Bovelles in den grundlegenden Zügen teilt, geht davon aus, daß Wandel und Variation eng zusammengehören und daß die beiden natürlichen, dem Wesen des Menschen entspringenden Bewegungen, die zum Wandel in der Zeit und die zur Ausdifferenzierung im Raum, prinzipiell unabgeschlossen bis in die feinsten Verästelungen weiterwirken. Andererseits sind diese Ausdifferenzierungen aufgehoben in einer Sprachidee, die dem Zugriff von Zeit und Raum entzogen ist und prinzipiell sogar auf die forma locutionis zurückweist. Sprachen sind in diesem Modell gleichermaßen ausdifferenziert und einheitlich. Innerhalb dieses Spiels von Einheit und Differenz können dann unterschiedliche Prioritäten gesetzt werden, und in dieser Hinsicht unterscheiden sich Dante und Bovelles. Während es Dante um eine Aufwertung der Volkssprachen geht, um ihre Natürlichkeit und Literaturfähigkeit, verwahrt sich Bovelles gegen eine solche Konsequenz und verteidigt das Lateinische als archetypus der romanischen Sprachen. 13 Sehr viel deutlicher noch als Dante spricht Bovelles über das Verhältnis von Sprachidee und variierten Manifestationsweisen in Termini trinitarischer Spekulation. <?page no="317"?> Das Koiné-Modell 297 Das Koiné-Modell Gleichzeitig wird jedoch in Frankreich noch ein anderes Modell sprachlicher Variation eingeführt, das ich das Koiné-Modell nennen möchte. In diesem Fall werden innerhalb einer bestimmten historischen Sprache eine bestimmte Anzahl wohlgeschiedener Varietäten benannt. Der Bezugspunkt dieser Vorstellung von sprachlicher Variation in Form einiger weniger benennbarer Varietäten innerhalb einer bestimmten Sprache ist selbstverständlich das Modell des Griechischen. Bereits in der Antike war die Annahme, daß das Griechische sich in drei Haupt-/ Literaturdialekten manifestiert, allgemein verbreitet: Ionisch (einschließlich Attisch), Dorisch und Äolisch. Dazu kam dann, hierarchisch gleichgeordnet in der Aufzählung der griechischen Dialekte, in hellenistischer Zeit die Koiné als Kompromißdialekt auf attisch-ionischer Basis. In Frankreich ist es Geofroy Tory, der diese traditionelle Modellierung des Griechischen und seiner Dialekte aufnimmt und auf das Französische überträgt: […] faire de nous, ne de ce que pouuons scauoir. Nostre langue est aussi facile a regles et mettre en bon ordre, que fut iadis la langue Grecque, en la quelle ya cinq diuersites de l ngage, qui sont la langue Attique, la Dorique, la Aéolique, la Ionique, & la Comune, qui ont certaines differences entre elles en Declinaisons de noms, en Coniugati s de verbes, en Orthographe, en Accentz, & en Pronunciation. C mme ung Autheur Grec nomine Io nes Gr maticus, & plusieurs autres traictent & enseignent tres amplement. Tout ainsi pourrions nous bien faire, de la langue de Court & Parrhisiene, de la l gue Picarde, de Lionnoise, de la Lymosine, & de la Prouuensalle. I en dirois aucunes differences & accordances; se nestois que ie ne veulx icy estre trop long, et que ie laisse a plus expertz que moy eulx y employer. Als Gewährsmann nennt Tory einen Ioannes Grammaticus, der 832 bis 842 Patriarch von Byzanz war. Sein Werk De idiomatibus linguarum war 1512/ 1521 gedruckt worden. 14 Diese spezifische Referenz war für Tory ausschlaggebend; das Wissen über die griechischen Dialekte war aber sicher allgemeiner verbreitet. Bei der Übertragung auf das Französische läßt sich Tory offensichtlich von der Idee der Literaturdialekte leiten: neben der Sprache des Hofs nennt er das Pikardische und die Sprache von Lyon, das Limousinische und das Provenzalische. Diese Vorstellung vom Französischen als Sprache, die in Form von fünf wohlgeschiedenen diversites, Varietäten gegeben ist, hindert jedoch nicht, daß Tory dann in seinen Ausführungen zu den einzelnen Buchstaben und deren Aussprache von sehr viel mehr Varietäten und Sprachen spricht. Hier nennt er neben den von ihm eingangs postulierten: Parisien, Lyonnois, Picard noch andere Varietäten des Französischen: Bourgogne und Forez, Normand, Lorrain, besonders die Sprache seines Heimatorts Bourges, aber auch auf der 14 Dazu G. Cohen in seinen Anmerkungen zu Torys Champ Fleury, Paris 1931/ 1973, 8. <?page no="318"?> 298 Per distantiam locorum gleichen Ebene Gascon/ Tolosain, Allemands, Italiens, Flamands, Bretons. Auffällig ist in diesem Zusammenhang auch die Tatsache, daß er wiederholt von der Aussprache der dames von Paris und Lyon spricht. Die Äquivalenzen, die Tory hier gibt, beziehen sich auf die Aussprache geschriebener Texte (also der Buchstaben, die er für den Buchdruck vereinheitlicht), ganz unabhängig davon, ob es sich um französische oder lateinische Texte handelt. Wir haben es bei Tory also nicht mit einer kohärenten Modellierung sprachlicher Variation zu tun, wie sie bei Dante und Bovelles vorliegt. Gleichwohl entsteht durch die Übernahme des griechischen Modells eine Alternative zur Annahme unendlicher Variation in Raum (und Zeit). Außerdem weisen uns Torys Inkohärenzen ins Zentrum unserer Problematik. Er spricht von den wohlgeschiedenen Varietäten nach griechischem Muster dann, wenn es um die regelhafte Konstruktion der Literatursprache (und ihrer Dialekte) in schriftlicher Form geht. Die Proliferation der Varietäten erfolgt dort, wo Tory als Beobachter der natürlichen Aussprache schreibt. Aufgrund der bisherigen Darstellungen können wir die beiden Modelle sprachlicher Variation, die im 16. Jahrhundert in Frankreich kursieren, hinsichtlich ihrer Implikationen vergleichen. Das Dante-Modell erfaßt die natürliche Sprachvariation, das was mit Sprachen geschieht, wenn sie sich natura, d. h. der Natur des Menschen gemäß, entwickeln. Erst durch das Wirken der ars wird der unendlichen Variation per distantiam locorum et temporum Einhalt geboten, Stabilität geschaffen. Genau hier ist der Ort des Koiné- Modells, das von Tory eingeführt wird, wenn es darum geht, die Sprache in Regeln zu fassen, die nun durchaus, wie im Griechischen der Antike, in einzelne, ihrerseits jedoch stabile Dialekte ausdifferenziert sein können. Ein Korollar dieser Gegenüberstellung von natura und ars, Sprachbetrachtung in natürlicher vs. konstruktiver Einstellung, ist in der Auffassung der Autoren des 16. Jahrhunderts die Zuordnung des mündlichen Sprachgebrauchs zu natura, während die ars-Perspektive (einschließlich des hier angesiedelten Koiné-Modells) mit Schrift, Grammatik und literarischer Textproduktion in Verbindung gebracht wird. Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen den beiden Modellen ist der, daß das Dante-Modell in Verbindung mit der Aufstufung von Sprachmanifestationen formuliert wird. Diese hierarchisch höheren ‚Dachsprachen‘ sind zumindest virtuell noch zugänglich, so daß prinzipiell jede noch so feine Verästelung in direkter Verbindung mit allen hierarchisch höherrangigen Stufen steht. Die Varietät der Strada Maggiore von Bologna steht noch - über die verschiedenen idiomata tripharia - mit der universellen forma locutionis in Verbindung. 15 Entscheidungen hinsichtlich des archetypus können zwar unterschiedlich ausfallen (wie eben bei Dante und Bovelles), sind jedoch gradueller Natur und in Richtung Universalität verschiebbar. Ganz anders im 15 Zu den Problemen der Dante-Interpretation in dieser Hinsicht siehe oben. <?page no="319"?> Das 18. Jahrhundert 299 Falle des Koiné-Modells: Hier erfolgt eine Festlegung auf eine Dachsprache: das Griechische, das Französische. Hierarchisch höherrangige oder gar universelle Formen des Sprachlichen werden dadurch dem Zugriff entzogen. Das Dante-Modell ist also prinzipiell verträglich mit der Annahme einer Universalgrammatik, der gegenüber die Frage der Variation und ihrer hierarchischen Verortung in den Hintergrund tritt. Das Koiné-Modell präferiert demgegenüber klar die Ebene der je einzelsprachlichen Gestaltung. Es wäre an dieser Stelle reizvoll, die soeben herausgearbeiteten CharakteristikaderbeidenModellezudenaktuellenDiskussionenzurGegebenheit sprachlicher Variation in Beziehung zu setzen. 16 Auffällig ist jedenfalls, daß auch heute noch Theorien, die Variation als in Form von Kontinua gegeben auffassen, eine deutliche Affinität zu universalgrammatischen Ansätzen haben, während die Annahme von wohlgeschiedenen Varietäten (Gradata) mit der Betonung der Einzelsprachlichkeit sprachlicher Gestaltung einhergeht. Problematisch scheint mir die vorschnelle Zuordnung der Kontinuums- Auffassung zur Mündlichkeit zu sein. Die Intuition aber, die unterschiedlichen Modellierungen sprachlicher Variation könnten mit einer unterschiedlichen Perspektivierung zu tun haben, ist durchaus bedenkenswert. Die überzeugendste Interpretation dieses Perspektivenwechsels hat meines Erachtens Alberto Sobrero vorgeschlagen, als er die Varietätenproblematik mit der Problematik der Kategorisierung von Sprachlichem in Verbindung brachte: unkategorisierte sprachliche Phänomene können als Kontinuum erscheinen; in dem Augenblick jedoch, wo die Sprecher selbst Arten des Sprechens kategorisieren, schaffen sie damit unterscheidbare Varietäten, die sich tendenziell auf das Zentrum der Kategorie hin orientieren. Das 18. Jahrhundert Wir begegnen in Frankreich im 18. Jahrhundert dem Koiné-Modell an prominenter Stelle wieder, nämlich im von Beauzée verfaßten Artikel Langue der Encyclopédie. L’usage n’est donc pas le tyran des langues, il en est le législateur naturel, nécessaire, & exclusif; ses décisions en font l’essence; & je dirois d’après cela, qu’une langue est la totalité des usages propres à une nation pour exprimer les pensées par la voix. Si une langue est parlée par une nation composée de plusieurs peuples égaux & indépendans les uns des autres, tels qu’étoient anciennement les Grecs, & tels que sont aujourd’hui les Italiens & les Allemans; avec l’usage général des mêmes mots & de la même syntaxe, chaque peuple peut avoir des usages propres sur la prononciation ou sur les terminaisons des mêmes mots: ces usages subalternes, également légitimes, constituent les dialectes de la langue nationale. Si, comme 16 Vgl. Schlieben-Lange/ Weydt 1981, Stehl 1996, Sobrero 1988. <?page no="320"?> 300 Per distantiam locorum les Romains autrefois, & comme les François aujourd’hui, la nation est une par rapport au gouvernement; il ne peut y avoir dans sa maniere de parler qu’un usage légitime: tout autre qui s’en écarte dans la prononciation, dans les terminaisons, dans la syntaxe, ou en quelque façon que ce puisse être, en fait ni une langue à part, ni un dialecte de la langue nationale; c’est un patois abandonné à la populace des provinces, & chaque province a le sien. Hier wird die Reichweite des Koiné-Modells klar eingegrenzt auf bestimmte Nationen, Kultur-Nationen, die politisch nicht geeint sind wie das antike Griechenland, Italien und Deutschland. Frankreich gehört, im Gegensatz zu Torys Vorschlag im 16. Jahrhundert, nicht zum Kreis dieser Nationen: wie das antike Rom ist es politisch geeint. Es gibt also keine politisch legitime Variation, sondern nur die illegitime und damit negativ zu bewertende Variation der patois. In Form der patois scheint zwar wieder die Unendlichkeit der Variation auf, im Gegensatz zum Dante-Modell handelt es sich jedoch nicht um einen Ausfluß aus der Natur des Menschen, sondern um eine politisch illegitime Wucherung. Der Diskurs über sprachliche Variation hat seine Koordinaten vollständig verschoben: von der theologisch inspirierten Anthropologie Dantes, die den Menschen von der Vergänglichkeit und Instabilität der Lebensumstände her denkt, hin zu einer Theorie politischer Legitimität, die auch den Rahmen für die Legitimität der kulturellen Produktionen des Menschen bildet. Politische Einheit impliziert kulturelle Einheit: Die Kulturpolitik der Französischen Revolution kann hier einsetzen und die sprachliche und kulturelle Uniformität zu Richtschnur und Symbol ihres Handelns weiter ausbauen (Schlieben-Lange 1996). Gegenüber dieser variationsfeindlichen Dominante des französischen Sprachdenkens im 18. Jahrhundert verhallten andere Stimmen ungehört. So hat zum Beispiel die Reformulierung des Koiné-Modells durch den Abbé Séguier nie das Archiv verlassen. 17 […] par etrangers j’entends principalement les francais c’est a dire ceux qui ne parlent que la langue francaise comme les parisiens qui sont des etrangers a notre egard. Ils apprennent l’italien l’anglais l’espagnol et ils négligent d’apprendre une langue qui se parle chez eux c’est a dire dans cinq grandes provinces du royaume ou ils sont nes. Il est vray qu’il y a quelque differance entre le language de ces cinq provinces, mais cette differance est comme celle qui se trouvoit autrefois entre les dialectes grecs. On ne parloit pas moins grec qu’on parlat le langage ionien ou le langage athenien […] tous ces differents peuples qui etoint bien plus separes que ne le sont nos provinces s’entendoint les uns les autres comme nous languedociens. Nous entendons les dauphinois les provancaux et meme les auvergnats qui sont a notre egard comme les beotins etoint a l’egard des oeliens et des atheniens. (Séguier o. J., fol. 19 f.) 17 Zur Sprachreflexion im Süden Frankreichs im 18. Jahrhundert siehe Schlieben-Lange 1984, Schlieben-Lange/ Neu 1986, Schlieben-Lange 1997. <?page no="321"?> Bibliographie 301 Eine solche Aufwertung des Okzitanischen/ Provenzalischen als Sprachgemeinschaft, die hinsichtlich der Variation analog der griechischen funktioniert, ist völlig chancenlos in einem Moment, in dem im Zentrum Variation als politisch illegitim erklärt wird. Die französische Kultur, die im 16. Jahrhundert sich noch produktiv mit Modellierungen sprachlicher Variation befaßte, hat sich nach und nach den Blick und Zugang für diesen Aspekt von Sprachlichkeit verstellt, bereits im 16. Jahrhundert durch die Zweideutigkeit im Umgang mit dem Okzitanischen, dann durch die politische Marginalisierung sprachlicher Variation im 18. Jahrhundert und weiter durch eine verdunkelnde Forschungspraxis, was die sprachlichen Unterschiede innerhalb Frankreichs angeht, im 19. Jahrhundert. 18 So ist es nur folgerichtig, daß die Modelle sprachlicher Variation, die heute diskutiert werden, andernorts entwickelt wurden: in den kreolischen Sprachgemeinschaften, in Italien, in Deutschland. Zu diesem Problemkomplex gehört auch, daß die Romanistik, als komparatistische Sprachwissenschaft kat’exochen, entscheidende Impulse aus dem Süden Frankreichs bekam (Schlieben-Lange 1997). Daniel Baggioni vereinte diese auseinanderstrebenden Orientierungen der französischen Kultur in sich: die uniformistisch-laizistische Kultur der III e République, freilich gebrochen in einer korsischen Familiengeschichte, die politische Auffassung der Nationalsprache, die kreolische Erfahrung, die Sensibilität für die verschütteten Formen sprachlicher Variation in Südfrankreich und für die Prozesse der Verschüttung, darüber hinaus die intime Kenntnis der deutschen und der italienischen Sprachwissenschaft. Er war für uns deutsche Romanisten der ideale Gesprächspartner, der so war wie wir und gleichzeitig ganz anders. Bibliographie Quellen Beauzée, Nicolas: „Langue“, in: ENCYCLOPEDIE ou Dictionnaire raisonné des sciences, des ars et des métiers, Bd. 9, Neuchâtel 1765, Reprint Stuttgart: Frommann, 1966, 249-271. Bovelles, Charles de: Liber de differentia vulgarium linguarium et Gallici sermonis varietate, Paris 1533, hrsg. von Colette Dumont-Demaizière, Paris: Klincksieck, 1973. 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Studia linguisticain honorem Eugenio Coseriu, Bd. 5, Geschichte und Architektur der Sprachen, Berlin/ New York/ Madrid: de Gruyter/ Gredos, 117-145. <?page no="325"?> Grammaire idéologique et logique scolastique: la réussite des Idéologues en Italie et en Espagne* Les grands ouvrages de synthèse sur les Idéologues et sur Destutt de Tracy nous suggèrent que l’Idéologie était un phénomène européen (et américain) dans la première moitié du XIX e siècle: on trouve des traductions des auteurs idéologistes dans plusieurs langues; on publie des livres qui renvoient à l’Idéologie dans le titre, et si l’on fait abstraction du titre le phénomène se révèle être encore plus important, de sorte qu’on peut soupçonner un courant idéologique plus ou moins ouvert dans plusieurs nations de l’Europe. 1 C’est cette intuition qui a été à l’origine d’un projet de recherche que j’ai dirigé à Francfort de 1986 à 1991. Le but de ce projet qui portait sur l’Allemagne, l’Italie et l’Espagne était de reconstruire d’une façon systématique ce courant idéologique et ses transformations dans les trois pays en question. 2 Bien sûr, nos travaux sont loin d’épuiser le sujet: nous avons tout juste fait un travail de base qu’il faudra approfondir par des études plus poussées. En plus, il faudrait faire le même travail pour d’autres pays 3 , tels que les pays d’Amérique Latine (dans lesquels l’Idéologie était très vite saisie en tant que philosophie de l’émancipation) et les pays de l’Europe de l’Est (avant tout la Pologne et la Roumanie). 1. Quelques réflexions méthodologiques Permettez-moi de vous exposer très brièvement les réflexions méthodologiques qui ont accompagné notre travail. S’il est vrai qu’il y avait un courant idéologique important il nous fallait une approche quantitative qui nous per- * Bisher unveröffentlichter Vortrag gehalten auf dem Internationalen Kolloquium Les Idéologues (1795-1802) et leur postérité, Cerisy-la-Salle, 1.-8. September 1998. Der Duktus des mündlichen Vortrags wurde von den Herausgebern bewusst beibehalten. 1 Picavet 1891, Kennedy 1978. 2 Pour les résultats: Bernecker 1996 et 1997, Dräxler 1996, Schlieben-Lange u. a. (Hrsg.) 1989, 1991, 1993 et 1994. 3 Le Portugal a été l’objet de plusieurs études, établies en rapport étroit avec notre projet: Schäfer 1991 et 1994. <?page no="326"?> 306 Grammaire idéologique et logique scolastique mettrait de cerner le début, la fin et les points culminants de ce mouvement, bref: une approche sérielle. Si, de l’autre côté, il fallait rendre compte des transformations et des spécificités nationales de ces transformations il fallait regarder de très près les textes nouveaux et leurs rapports intertextuels. La série d’une part et l’intertexte de l’autre étaient les deux approches les plus prometteuses pour notre propos (Schlieben-Lange 1989 et 1991). En ce qui concerne l’approche sérielle qui est à la base d’un travail quantitatif dans l’historiographie il faut bien se rendre compte du fait que les séries qu’on construit dans l’histoire des sciences (ou de la littérature …) ne sont pas des séries dans un sens strict telles que nous les trouvons dans la démographie ou même dans l’histoire des mentalités (comme les testaments de Vovelle). Il n’y a pas de nécessité d’écrire des grammaires ou des logiques qui correspondraient à la nécessité des naissances, des morts et des prix du pain. A la rigueur on pourrait construire une série d’un rigorisme analogue à celle des taux de naissance et de mortalité en prenant comme base l’emploi des livres élémentaires dans l’enseignement ce qui restreindrait considérablement notre accès à la production scientifique. Mais en plus, il y a un autre inconvénient de l’approche sérielle: la construction d’une série implique l’homogénéité de la série: il faut définir un critère invariant qui est à la base de la série. C’est, d’ailleurs, aussi l’idée de Foucault qui nous dit que la série est la forme de manifestation d’un discours (Foucault 1971). Ce postulat d’homogénéité de la série rend invisibles les transitions et les transformations. Ce qui est le plus grave: elle rend inaccessibles la mouvance de la série elle-même et de son critère de définition. Tout cela nous a amené à développer une approche sérielle plus souple qui serait susceptible de rendre compte des transformations. On aurait pu s’imaginer la construction d’une série qui correspondrait à un discours, en occurrence au discours ‚idéologique‘. Mais qu’est-ce que c’est que le programme idéologique? Faut-il être sensualiste pour être idéologue; faut-il adopter le côté physiologique/ zoologique développé par Cabanis pour être idéologue; faut-il abandonner la rhétorique pour être idéologue etc.? Y a-t-il une différence entre sensualisme et idéologie qui serait pertinente pour la réception? Comment distinguer la réception de Condillac et celle des Idéologues et, plus tard, celle de la phrénologie? Y a-t-il une ouverture possible vers l’histoire? Pour rendre compte de toutes ces questions nous avons élaboré une grille de questionnement des textes centrée autour d’un noyau dur idéologique aux limites floues qui permettent de saisir les transformations (Schlieben-Lange 1990 et 1995). Mais en fait une telle grille ouverte tend à englober tout le savoir d’une époque. L’inconvénient de cette ouverture est le fait que les limites des discours qui, par contre, ont une réalité tant pour les contemporains que pour les historiographes tendent à disparaître. Y a-t-il d’autres critères possibles qui pourraient définir une série ‚idéologique‘? On pourrait penser à employer le classificateur même d’idéologie <?page no="327"?> Quelques réflexions méthodologiques 307 en tant que critère définitoire (Schlieben-Lange 1995 et sous presse 4 ). Serait alors membre de la série tout ouvrage qui se dit être ‚idéologique‘, soit dans le titre, soit dans la préface. Voilà un autre inconvénient qui surgit: les transformations même du classificateur qui est déjà atteint sérieusement par la propagande impériale en France et qui, d’un autre côté, tend à se généraliser, en Italie, pour désigner tout système philosophique qui implique une théorie de l’entendement. Le classificateur même est en pleine mouvance. De nouveau, nous nous trouvons en face d’un critère qui, au lieu de garantir l’homogénéité de la série, introduit la mouvance. Une autre possibilité serait celle de sérialiser les horizons de rétrospection (Auroux 1987). Serait membre de la série tout ouvrage qui s’insère dans une tradition d’ouvrages de référence communs qui pourrait être dans notre cas la lignée Bacon - (Descartes) - Locke - Condillac - Destutt de Tracy. Si on applique ce critère on tombe sur de nouvelles difficultés d’opérationnalisation (qui cependant ne sont pas insurmontables). Il faut savoir distinguer les citations centrales et les citations ornementales (qui pourtant sont intéressantes puisque la qualité d’ornement est révélatrice, elle aussi). De l’autre côté, souvent les auteurs ne citent pas, surtout dans des cas de proximité excessive. Vu toutes ces difficultés on peut se demander s’il n’était pas plus sage de choisir un critère de sérialisation étranger au discours qu’on reconstruit. Un critère qui se prêterait dans notre cas serait le genre scientifique. Dans ce caslà, on pourrait établir la série de toutes les grammaires, de toutes les logiques et d’autres genres prometteurs pour cerner, à l’intérieur de ces séries, un groupement idéologique. De cette manière, on éviterait le danger d’une fermeture de discours qui cache les changements proprement historiques. Mais pour un tel projet il faudrait une capacité de travail qui était au-delà de nos possibilités. Nous avons donc essayé d’établir un procédé mixte qui nous permettrait d’obtenir la rigueur quantitative d’une approche sérielle tout en nous permettant d’observer les marges et les transitions, c’est-à-dire la mouvance du discours idéologique. Nous avons établi un groupe central de textes qui se réfèrent visiblement à l’idéologie, soit par l’emploi du classificateur, soit par la citation des principaux auteurs idéologistes tout en observant les textes voisins (appartenant au même genre) et en observant la mouvance à l’intérieur du noyau dur. Ceci nous amène déjà vers le deuxième volet de notre méthodologie. Le discours se manifeste dans la série; chaque élément de la série est un texte qui est écrit en vue du discours idéologique et en vue d’autres textes et discours. 5 C’est-à-dire, ce qui nous intéresse et ce qui nous mène au cœur du problème de l’adaptation, de la transformation et de la transgression du discours idéo- 4 [Inzwischen ist der Band erschienen als Schlieben-Lange 2000.] 5 Je fais une distinction systématique entre discours (système de récurrences) et texte (individu), voir Schlieben-Lange 1996. <?page no="328"?> 308 Grammaire idéologique et logique scolastique logique c’est la qualité intertextuelle des ouvrages en question. 6 À quel degré la lecture et l’intégration des textes idéologiques sont-elles voulues et permises? Est-ce que ce sont les textes individuels ou le discours dénué de toute individualité textuelle qui est repris? Est-ce qu’on suit de très près les textes sous forme de traduction, de résumé ou de commentaire? Les renvois intertextuels sont-ils visibles ou cachés? Y a-t-il dialogue entre plusieurs textes (ou discours) à l’intérieur d’un texte? Les choix de lecture sont-ils préformés par les habitudes des lectures antérieures? Y a-t-il un texte qui domine? Les éléments idéologiques sont-ils insérés dans un texte de base différent, ou bien: le dialogue des textes, dont l’un est idéologique et l’autre appartient à un autre discours, produit-il quelque chose de nouveau? 7 2. Les résultats du travail sériel Après ces quelques remarques méthodologiques je vais essayer de vous donner un résumé de nos résultats qui sera nécessairement sommaire et peu détaillé. Je vais commencer par la présentation des données quantitatives. La quantification pour les trois pays en question porte sur la série de ‚noyau dur‘, c’est-à-dire sur les textes qui portent le titre d’idéologie ou contiennent une partie appelée idéologie ou se disent être idéologiques. Bien sûr, il y a là aussi des décisions à prendre et les chiffres pourraient varier légèrement selon les décisions de celui qui compte. Les expériences de notre projet nous disent que le degré de variation est minime. Il faut dire clairement que l’approche sérielle est un procédé de découverte et non pas d’interprétation. La quantification à l’intérieur des séries homogènes (avec tous les problèmes que cela comporte et dont nous avons parlé) nous montre quand ‚il s’est passé quelque chose‘. Cela permet de poser les questions qui nous mènent sur la voie des conditions, des motivations, des événements qui ont favorisé tel ou tel changement. Dans la suite, je vais représenter les résultats sous forme schématique très simplifiée. Les chiffres détaillés se trouvent en annexe. Nous distinguons entre monographies (A), traductions (B) et textes secondaires (articles, résumés, commentaires, comptes-rendus) (C). 2.1. L’Allemagne 8 Quand on regarde les résultats de la quantification on est frappé par le nombre réduit de traductions et de monographies. 6 Genette 1982, Haßler 1991b, 1996 et 1997. 7 Les discussions infructueuses à propos de l’appartenance intellectuelle de Humboldt et Saussure sont dues en partie au fait que les critères d’évaluation et les rapports intertextuels n’ont pas été traités de façon suffisamment transparente. 8 Voir Dräxler 1991 et 1996. <?page no="329"?> Les résultats du travail sériel 309 A: Les monographies sont rares et insignifiantes. On peut constater que ces quelques monographies ont été publiées hors de la Prusse. Mais le nombre est tellement réduit que l’on ne peut pas établir sur cette base une différence entre les pays allemands. B: On constate que les ouvrages centraux n’ont jamais été traduits en allemand (ce qui reste vrai jusqu’à nos jours). C: Le nombre de comptes-rendus est un peu plus élevé. Dieter Dräxler qui a travaillé sur le corpus allemand a constaté que la connaissance des Idéologues est tout à fait répandue et que les mentions augmentent à mesure qu’on avance dans les petites annonces et dans les manuscrits. Il constate une sorte de réception latente qui n’apparaît que rarement dans les publications autonomes mais qui est assez importante dans le domaine du non-publié (cours, notes de lecture). Dräxler distingue quatre phases distinctes de la réception, les deux premières (1796-1800; 1800-1808) où l’on suit de très près l’actualité des publi- <?page no="330"?> 310 Grammaire idéologique et logique scolastique cations, une phase de silence absolu (1808-1818) et une phase (1818-1836) des manuels. 2.2. L’Italie 9 Les résultats de la quantification sont tout à fait différents pour l’Italie. A: Après quelques textes isolés, mais importants (à la différence de l’Allemagne) pendant les premières quinze années du siècle, on constate l’essor de l’idéologie dans les années 1816/ 17 qui se maintient jusqu’à la fin des années 30. Pendant vingt ans, le discours idéologique est une composante importante, aussi bien d’un point de vue quantitatif que d’un point de vue qualitatif, de la vie intellectuelle en Italie. B, C: Ce mouvement commence avec une série de traductions qui sera tout de suite accompagnée des activités de production et de critique. Les centres de la productivité idéologique se trouvent à Milan et à Naples, mais les grandes lignes valent pour toute l’Italie. A partir de 1840, l’idéologie ne joue plus de rôle. Les données quantitatives sont confirmées par les évaluations des auteurs: l’idéologie est jugée anachronique en ce moment. 10 9 Voir Bernecker 1991, 1994, 1996 et 1997. 10 Bernecker 1997 cite quelques auteurs qui sont de cet avis. <?page no="331"?> Les résultats du travail sériel 311 2.3. L’Espagne 11 Les données quantitatives en ce qui concerne l’Espagne diffèrent à plusieurs égards de ce qu’on a vu jusqu’ici. L’idéologie est sans doute un mouvement important et visible, à la différence de l’Allemagne. Mais à la différence de l’Italie, on peut constater plusieurs phases productives (au lieu d’une) séparées par des phases de silence. Cette répartition de phases correspond très exactement aux phases de la vie politique: les gouvernements libéraux encouragent la réception des Idéologues. Ce qui est très curieux en Espagne, c’est le fait que les différentes phases correspondent aussi à une répartition des genres: pendant la première phase on a affaire à de petits écrits et des comptes-rendus (C). La phase de 1816 jusqu’à 1826 est la phase des traductions (B). Et pendant les années 40 et début 50 on assiste à la publication d’une série de monographies importantes qui n’est presque pas accompagnée des activités critiques (A). Les foyers de l’Idéologie se trouvent à Salamanque, à Cadiz et en Catalogne. 12 11 Voir Volck-Duffy 1991. 12 Sarmiento 1994, 158 donne une liste des principaux foyers de l’Idéologie en Espagne. En ce qui concerne la Catalogne, il faudrait ajouter Elementos de lógica (Palma de Mallorca 1913), Martí de Eixalà (Curso de filosofía elemental, 1841), Miquel Surís i Baster (Curso de filosofía, 1847). <?page no="332"?> 312 Grammaire idéologique et logique scolastique On pourrait aussi proposer une lecture par genres scientifiques, qui fait ressortir encore plus clairement les spécificités dans les différents pays. 2.4. Les monographies Dans le domaine des monographies inspirées par la lecture des Idéologues et le débat avec eux, on en constate l’absence quasi-totale en Allemagne. Par contre, la production monographique a été forte en Italie et en Espagne, toutefois avec un décalage important de presque deux décades. Au moment où le mouvement perd de son importance en Italie, il prend son essor en Espagne. 2.5. Les traductions <?page no="333"?> Les résultats du travail sériel 313 Dans le domaine des traductions, on peut constater une certaine précocité en Allemagne: ou l’on a traduit tout de suite ou plus du tout. Par contre, l’époque des traductions est quasi simultanée en Italie et en Espagne. 2.6. Les textes secondaires <?page no="334"?> 314 Grammaire idéologique et logique scolastique Quand on regarde la quantification dans ce domaine, l’Allemagne est bien représentée, même avant les autres pays et avec deux pics, un qui accompagne les événements, et un deuxième dans les années 20 et 30. En Italie, on peut constater des activités constantes, dès le début du siècle jusqu’aux années 50. Par contre, en Espagne, les activités critiques restent même au-dessous de la production de monographies. 2.7. Résumé Si on compare les trois pays, on peut constater des décalages importants: dans les trois pays il y a une première phase d’un intérêt actuel qui sera interrompue par la guerre ensuite. Après la chute de Napoléon, l’intérêt en Allemagne ne renaît guère; par contre, en Italie et en Espagne, on commence un travail intensif de traductions. Ce travail sera accompagné par des activités de production en Italie qui vit ses décades idéologiques dans les années 20 et 30. La phase productive viendra beaucoup plus tard en Espagne où la décade idéologique se situe dans les années 40 et 50, pendant lesquelles les Idéologues avaient perdu toute leur importance en Italie. 3. Les intertextes Passons maintenant à quelques éléments d’interprétation basés sur la recherche des intertextes. Je vais traiter l’Allemagne et l’Italie très sommairement, puisque nos résultats pour ces deux pays ont déjà été publiés et puisqu’il existe un bon nombre de travaux italiens sur l’ideologia italiana. 13 En ce qui concerne l’Espagne je vais donner quelques détails et émettre une hypothèse. Un résultat de nos recherches qui saute aux yeux est la différence entre le mode de réception des Idéologues en Allemagne d’une part et en Italie et en Espagne d’autre part. Il faut constater que, pour qu’il y ait réception, il faut une certaine disponibilité, l’espoir de trouver des propositions et des solutions qui correspondent aux besoins intellectuels de la situation dans laquelle se trouve celui qui se met à la lecture. Il faut le dire très clairement: on ne trouve guère cette disponibilité en Allemagne. Le ton des comptes-rendus est, en général, très froid: Les Idéologues ne connaissent pas les auteurs allemands; les textes sont superficiels et manquent d’originalité. 14 Si on est un peu plus favorable au programme de recherches des Idéologues, on les intègre dans la tradition de la Psychologia empirica (Erfahrungsseelenkunde) dans la lignée Leibniz/ Wolff. 13 Voir Formigari 1990, Formigari (Hrsg.) 1984, Formigari/ Lo Piparo (Hrsg.) 1988, et les contributions italiennes dans Schlieben-Lange u. a. (Hrsg.) 1991 et 1994. 14 Dräxler 1996, 208 ss. donne une série d’exemples témoignant de ces préjugés. <?page no="335"?> Les intertextes 315 Pendant les dernières années du XVIII e siècle et au début du XIX e siècle on était sûr que la philosophie critique de Kant avait surmonté l’opposition entre rationalisme et empirisme. Cette conviction frappa, d’ailleurs, aussi les philosophes empiristes allemands. La philosophie critique de Kant n’attribua pas de place systématique à la sémiotique ou à la théorie linguistique, ce qui amène Foucault à dire que Kant a franchi les limites de l’épistéme de la représentation. Si on a entrepris de remplir ce qu’on ressentait comme vide dans la théorie kantienne, on l’a fait comme Bernhardi et comme Humboldt en partant de la philosophie de Kant et de Fichte. Il n’y avait pas de retour à une philosophie pré-critique. A cela s’ajoutaient, pendant les guerres napoléoniennes, les préjugés politiques contre les auteurs français. 15 Cette double barrière scientifique et politique n’a pas empêché la connaissance et la lecture des auteurs idéologistes, mais c’était une lecture élémentarisante qui ne s’intéressait pas au programme philosophique dans sa totalité qu’on croyait dépassé, une lecture qui était aveugle pour les éléments qui surpassaient un sensualisme trivial: on croyait trouver un sensualisme dépassé et on le trouvait, ce qui pourtant n’empêchait pas les linguistes allemands d’intégrer dans leurs productions linguistiques des éléments sémiotiques et linguistiques qu’on pouvait puiser dans les écrits idéologiques. 16 Par contre, on trouve la disponibilité de lire sérieusement les auteurs français en Italie et en Espagne. Quelles étaient les conditions qui favorisaient cette lecture? Pour le dire de façon très sommaire: c’est la montée d’une bourgeoisie libérale et intellectuelle qui cherchait des alternatives de formation intellectuelle. Or, les situations sont assez différentes en Italie et en Espagne: en Italie, pendant les années 20 et 30, c’est une couche d’intellectuels qui ont perdu leurs postes dans la Restauration qui s’occupent de l’Idéologie; par contre, en Espagne, c’est pendant les phases libérales que la monarchie éclairée ellemême implante l’idéologie (p.ex. en créant 5 chaires de Ideología, dont 2 à Madrid, une à Barcelona, une à Séville et une à Grenade). Dans les deux pays, ce sont les qualités pédagogiques des écrits idéologiques (qui, en partie, étaient destinés à l’enseignement déjà en France) qui les rendent particulièrement attractives en vue d’un emploi pédagogique virtuel ou réel. On vante souvent l’accessibilité et la clarté des écrits des Idéologues qui font qu’on les préfère aux concurrents allemands. Il s’agit là d’un critère textuel (la qualité des manuels scolaires) et d’un critère linguistique (l’accessibilité du français) difficiles à démêler. 15 Il serait très intéressant d’interpréter cette attitude allemande face aux Idéologues dans le cadre de la théorie de Norbert Elias sur la ré-interprétation des préjugés concernant l’appartenance sociale en termes de préjugés nationaux. 16 Ceci est vrai pour Bernhardi (Schlieben-Lange/ Weydt 1988) et pour Humboldt (Trabant 1990). <?page no="336"?> 316 Grammaire idéologique et logique scolastique Cette approche (recherche d’une alternative libérale à l’enseignement traditionnel, religieux et scolastique) mène à la production de textes qui suivent de très près les textes idéologiques, ou, en termes de la systématisation de Genette, des textes à rapports hypertextuels: traductions, résumés, commentaires. 17 La tendance de ces réécritures est, en général, atténuante. On essaie d’éviter tout ce qui pourrait choquer les lecteurs et de constituer une entrave à l’emploi. 18 A la limite, cela peut mener à une reformulation en termes de dualisme et à une approche à l’éclectisme. 19 Retenons-le: dans ce groupe de textes on a affaire à un rapport hypertextuel du texte nouveau au modèle idéologique ou à un acte de réécriture du texte idéologique. Or, il peut aussi se produire le rapport inverse. On réécrit un modèle traditionnel en intégrant des éléments idéologiques, p.ex. on enrichit et modernise un traité de logique scolastique en y introduisant la discussion des positions idéologiques. Plus rares sont les cas ou il y a vraiment dialogue - intertexte de deux positions différentes et, à partir de ce dialogue l’émergence d’une position nouvelle. A mon avis, c’est surtout le cas en Italie où on assiste à la naissance d’une Ideologia storica qui s’est formée à travers le dialogue de la ‚linguistique sociale‘ de l’Italie du XVIII e siècle d’une part 20 , de Vico d’autre part 21 et des écrits idéologiques. 22 En parlant des conditions et des techniques de la réception des Idéologues dans nos trois pays nous avons développé en passant une typologie des rapports possibles: 1) Le texte nouveau s’approche de l’hypertexte idéologique, en partant d’une perspective ancrée dans la tradition d’origine de l’auteur: Id. E/ I 17 Il vaudrait la peine de comparer les traductions et commentaires italiens et espagnols en vue de la reconstruction des principes d’adaptation aux attentes dans le pays respectif. 18 En ce qui concerne la censure de l’Etat et de l’Eglise: Schwedt 1994. 19 En ce qui concerne la notion d’éclectisme, il faut tenir compte du fait, qu’elle a une longue histoire en Espagne (qui va au-delà de l’éclectisme du XIX e siècle) et qu’elle est valorisée très positivement jusqu’à nos jours. 20 En ce qui concerne cette tradition en Italie voir Formigari (Hrsg.) 1984, Formigari/ Lo Piparo (Hrsg.) 1988, Gensini 1987 et 1989, Pennisi 1987. 21 Moravia 1968, Bernecker 1996, 219 ss. 22 Les deux auteurs les plus intéressants à cet égard sont Cattaneo (voir Marazzini 1989, Bernecker 1991) et Biondelli (voir Santamaria 1981, Bernecker 1997). <?page no="337"?> Les intertextes 317 2) Le texte nouveau s’approche de l’hypertexte d’origine (qui peut être à la limite un architexte/ genre: grammaire/ logique), tout en adoptant des points de vue de l’intertexte idéologique. Id. E/ I 3a) Les deux textes/ discours fusionnent et donnent quelque chose de nouveau. Id. E/ I 3b) Il y a un texte/ discours nouveau qui intègre des éléments du discours idéologique. o o o Je tiens à rappeler que j’utilise les deux notions de texte et de discours de façon systématique pour désigner l’individu (texte) et le système de récurrences (discours). Dans les cas 1) et 2) il s’agit de processus de réécriture de textes, tandis que les cas 3a) et 3b) puisent dans la source de textes et de discours; ils produisent d’abord des textes individuels qui peuvent déboucher sur des discours. Sur la base de la typologie que je viens d’élaborer, je reviens à l’Espagne. Le premier type de rapports (rapport hypertextuel au modèle idéologique) est très présent. Richard Baum a dressé une liste des traductions des œuvres de Destutt de Tracy qu’ou pourrait encore élargir: 23 1817: Principios de economía política (Trad. Manuel-María Gutierrez), Madrid. 1821: Comentario sobre el „Espiritu de las leyes“ (Trad. Ramón Salas), Madrid. 1821: Principios lógicos (Trad. José González Varela), Santiago. 1821: Principios lógicos (Trad. C. J. A. F. V.), Barcelona. 1821: Elementos de la verdadera lógica (Trad. Juan Justo García), Madrid. 23 Voir Baum 1971, Kennedy 1978. <?page no="338"?> 318 Grammaire idéologique et logique scolastique 1821: Lecciones de ideología (Trad. Jaime Pujol), Mallorca. 1822: Gramática general (Trad. Juan Angel Caamaño), Madrid. 1822: Comentario sobre el „Espíritu de las leyes“ (anonyme), Toulouse. 1823: Elementos de ideología (Trad. José Joaquín de Martí) (manuscrit). 1824: Tratado de economía política (Trad. D. M. V. M.), Madrid. 1826: Elementos de ideología (Trad. Mariano S.), Paris. 1829: Lecciones gramaticales de ideología matemática (publié sous le nom de Francisco Pérez del Rivero; en fait, il s’agit d’une traduction). Mais en dehors de ces traductions il existe tout un groupe de livres de divulgation qui sont très proches du corpus idéologique: 1813: Elementos de lógica, Palma de Mallorca. 1834: Elementos de ideología, Palma de Mallorca. 1836: Francisco de Camerino: Lecciones de Ideología, Cadiz. 1841: Melchor Ignacio Díaz: Elementos de ideología y gramática general, arte de pensar e história de la lógica, Granada. En ce qui concerne le troisième type de rapports (les vrais intertextes) il faut mentionner avant tout les petits travaux de la première phase que nous connaissons assez bien grâce aux soins de Gerda Haßler et de Elisabeth Volck- Duffy. Il s’agit des lectures assez indépendantes autour d’Aléa qui sont centrées autour des problèmes de lexicologie. 24 Les collègues espagnols mettent en relief le rôle de catalyseur qu’a joué la grammaire idéologique dans l’élaboration de la grammaire particulière espagnole. 25 Beaucoup plus qu’en Italie et même en France, il s’est formé une tradition grammaticographique largement tributaire des Idéologues et indépendante à la fois. Il suffit de citer les noms de Calleja, Salvà, Gómez Hermosilla et, finalement, Andrès Bello. Il s’agit là d’un développement du type 3. Mais il y a encore un corpus très large pratiquement ignoré jusqu’ici sur lequel notre projet (Elisabeth Volck-Duffy) a travaillé: il s’agit des logiques qui suivent pendant un certain temps le modèle des Eléments d’Idéologie pour ensuite revenir, avec quelques modifications, à la tradition. Permettezmoi de vous présenter d’abord une analyse sérielle de ce corpus: 24 Voir Haßler 1986, 1990, 1991a, Volck-Duffy 1991. 25 Voir Roca Franquesa 1953, Mourelle Lema 1968, Gómez Asencio 1981, Hernández Guerrero 1980, 1981, 1982a et b, García Tejera 1984, Sarmiento 1989 et 1994, Calero Vaquera 1986 a et b, 1994. <?page no="339"?> Les intertextes 319 Auteur ou titre psicología ideología gramática lógica crítica dialéctica parties supplémentaires Elementos de lógica 1813 1x 2x 3x Ballot 1815 1x retórica 2x Herrera Dávila/ Alvear 1828 1x 2x 3x Perez del Rivero 1829 1x Elementos de ideología 1834 1x 2x 3x Camerino 1836 1x 2x 3x arte lógico 4x Diaz 1841 1x 2x 4x retórica 3x história de la filosofía 5x Martí de Eixalà 1841 1x 2x 3x Diaz 1842 1x 2x M. M. y S. 1842 1x 2x García Luna 1843 1x 2x Lopez Uribe 1843 1x 2x ontología 3x moral 4x Arbolí 1844 1x 3x 2x Herreros y Mora 1846 1x 2x 3x 4x 5x Muñoz y Garnica 1846 1x 2x 3x 4x L. T. S. 1846 1x La Rosa y Ascaso 1846 1x 2x 3x ontología 4x Balmes sin año 2x 1x 3x Balmes 1847 5x 3x 4x 1x estética 2x teodicea 6x ética 7x Suris y Baster 1847 1 2x 3x 4x Beato 1x 2x 3x Somoz y Llanos 1848 1x 2x 3x 4x García, B. 1848 1x 2x retórica 3x Monlau/ Rey y Heredia 1849 1x 4x 2x 5x metodología 3x <?page no="340"?> 320 Grammaire idéologique et logique scolastique Vous voyez que les logiques suivent le modèle idéologique, le trivium proposé par Destutt de Tracy, jusqu’à 1842. A partir de cette date, on revient à la psychologie, tout en ajoutant quelquefois une deuxième partie idéologique. Nous assistons donc à un processus de changement d’orientation. L’apparition même du classificateur psychologie nous indique un retour au modèle scolastique. La perspective scolastique et par conséquent la possibilité de réinterprétation de l’idéologie en termes de scolastique était beaucoup plus présente en Espagne que dans les autres pays de l’Europe. Une partie de la réception des Idéologues en Espagne appartient au type 2 et contribue à un enrichissement et une modernisation de la scolastique. C’est ce que José Antonio Hernández Guerrero a constaté pour Balmes qui, d’après lui, aurait visé à une „renovación y actualización de la escolástica“ (Hernández Guerrero 1991, 85). Dans cette perspective, il reste encore beaucoup à faire, puisque nous ne connaissons que mal la tradition de la logique en Espagne immédiatement avant la lecture des Idéologues. Prenons un intertexte exemplaire, le Curso de filosofía elementar (Barcelone 1841) de Martí d’Eixalà. Martí d’Eixalà était un des professeurs catalans qui ont adopté l’idéologie. 26 Il était d’abord professeur à l’université catalane de Cervera, ensuite, de 1835 jusqu’à 1842, professeur de Ideología e Lógica à la Academia de ciencias à Barcelone. Tout en restant assez proche du projet de Destutt de Tracy, il reprend quelques éléments des traités antérieurs. C’est un penseur assez indépendant qui se situe au carrefour de la typologie établie. En ce qui concerne le plan général, il suit le modèle de Destutt de Tracy: 1) Ideología, 2) Gramática general, 3) Lógica. Dans le détail, il prend des décisions indépendantes: dans la première partie, il suit en général la liste des facultés établie par Destutt tout en réintégrant l’attention et l’imagination écartées par Destutt. Dans la grammaire, il adopte le modèle tracyen en faisant le parcours de l’interjection à l’écriture alphabétique. Par contre, dans la logique, il suit les traités traditionnels en donnant beaucoup de place à la critique de la certitude et de l’erreur, partie que Destutt avait jugé superflue. Voyons de plus près sa définition de l’idéologie qui nous permettra de cerner de plus près le mouvement idéologique. Martí d’Eixalà donne d’abord une définition qui délimite un champ de recherche, la science des idées: La ideología es la ciencia que versa sobre las ideas consideradas del modo mas general […] (Martí d’Eixalà 1841, 9) 26 Voir Roura 1980. Roura donne beaucoup d’informations sur les manuels pré-idéologiques (Goudin, Jacquier, Amat, Altieri etc.) ainsi que sur les institutions et organes de diffusion de l’idéologie en Espagne. <?page no="341"?> Les intertextes 321 Mais ensuite, tout comme les Idéologues français, il définit l’idéologie en tant qu’attitude scientifique, théorie des théories. On avait donc bien compris en Espagne qu’il ne s’agissait pas uniquement d’une section du savoir sinon d’une rupture profonde en vue des attitudes scientifiques et du rôle de la philosophie dans cet univers scientifique: El ideólogo se conduce de la misma manera que el que estudia la naturaleza física, el cual examina y calcula las propiedades de los cuerpos, prescindiendo de las causas, agentes ó fuerzas de estas propiedades, mientras no se reduzcan á hechos observables: el ideólogo se limita al papel de mero espectador ante los sistemas mas ó menos atrevidos de los phsicólogos; el ideólogo, en fin, no se compromete en construir la ciencia prima, esperando que el tiempo resuelva el problema de su posibilidad. (Martí d’Eixalà 1841, 10) Dans cette perspective, l’idéologie serait une science qui s’oppose à la psychologie spéculative et qui est pratiquée dans l’esprit de l’observation, qui se concentre sur les effets (au lieu des causes) et qui est sceptique à l’égard de la possibilité d’une philosophie première. Nous voyons le jeu d’oppositions qui est très proche de celui que Destutt de Tracy emploie pour établir l’idéologie. Ce ne sera pas une philosophie première mais une science des sciences: chaque science particulière aura une partie idéologique dans laquelle elle définit ses notions-clé; le système entier des sciences sera dominé par la science des sciences: Luego si debiese formarse una pirámide de todos los conocimientos humanos, la ideología debiera ocupar la cúspide, mientras no hubiesen adquirido el carácter verdaderamente científico las hipótesis que se han vertido acerca la naturaleza del agente ó ser pensador. (Martí d’Eixalà 1841, 11) Pour terminer, il faut constater que les lectures et les réécritures italiennes et espagnoles des ouvrages idéologiques, souvent simplificatrices et atténuantes, étaient loin de comprendre toute la richesse de la réflexion idéologique qui nous fascine aujourd’hui. Mais il faut aussi constater que les auteurs italiens et espagnols avaient parfaitement saisi les possibilités de l’idéologie, comme le montre le texte de Martí d’Eixalà: une scientificité nouvelle libérée des contraintes de l’ancienne métaphysique. Et en plus, ils ont élaboré quelques aspects qui les portaient au-delà de l’idéologie française, tout en partant des virtualités des textes idéologiques: en Italie c’était la réflexion sur l’idéologie historique, c’est-à-dire la génération des idées sous des conditions spécifiques; en Espagne c’était l’application de la grammaire particulière et l’enrichissement de la réflexion scolastique qui ont été facilité par la priorité que Destutt donne à la pensée par rapport à la langue. <?page no="342"?> 322 Grammaire idéologique et logique scolastique 4. Annexe 4.1. Allemagne A B C A B C 1796 - - 1 1817 - - - 1797 - - - 1818 - - - 1798 - - 1 1819 - 1 - 1799 1 2 3 1820 - 2 4 1800 1 1 - 1821 - - 2 1801 - 3 2 1822 - - 5 1802 1 1 - 1823 - 1 1 1803 - - 6 1824 - - 2 1804 - 1 6 1825 - - - 1805 - - 3 1826 - - 2 1806 - 1 3 1827 2 - 2 1807 - - 1 1828 - - 7 1808 - - 1 1829 - 1 3 1809 - - - 1830 - - 1 1810 - - - 1831 - 1 1 1811 - - 1 1832 - - 3 1812 - - - 1833 1 - - 1813 - - - 1834 - 1 - 1814 - - - 1835 - - 2 1815 - - - 1836 1 - - 1816 - - 2 <?page no="343"?> Annexe 323 4.2. Italie A B C A B C 1801 1 - - 1831 3 - 2 1802 - - - 1832 2 1 2 1803 - - 3 1833 5 - 1 1804 1 - - 1834 2 - 5 1805 - - 1 1835 3 - 3 1806 - 1 - 1836 5 - 6 1807 2 - - 1837 7 - 5 1808 - - - 1838 4 2 2 1809 - - 2 1839 5 - 6 1810 - - - 1840 1 - - 1811 - - 2 1841 3 - - 1812 - - - 1842 2 - 2 1813 - - 1 1843 2 - - 1814 - - 1 1844 - - - 1815 1 - - 1845 1 - 2 1816 1 - 5 1846 - - - 1817 - 1 2 1847 - - - 1818 3 1 7 1848 - - - 1819 6 1 5 1849 - - - 1820 2 4 2 1850 - - - 1821 1 - - 1851 - - - 1822 5 1 6 1852 - - - 1823 2 - 7 1853 - - - 1824 5 2 2 1854 - - - 1825 3 - 7 1855 1 - - 1826 2 1 5 1856 - - - 1827 5 - 7 1857 2 - 1 1828 3 - 7 1858 - - - 1829 3 - 3 1859 - - - 1830 1 - 1 1860 - - - <?page no="344"?> 324 Grammaire idéologique et logique scolastique 4.3. Espagne A B C A B C 1801 - - 1 1831 - - - 1802 - - - 1832 1 - 1 1803 - - 1 1833 - - - 1804 - - 2 1834 1 - - 1805 - - 5 1835 1 1 - 1806 1 - 3 1836 1 - - 1807 - - 2 1837 1 - - 1808 - - - 1838 2 - - 1809 - - - 1839 2 - 5 1810 - - - 1840 3 1 - 1811 - - - 1841 3 1 - 1812 - - - 1842 9 - 2 1813 1 - - 1843 6 - 6 1814 - - - 1844 2 - - 1815 - - - 1845 3 - - 1816 - 1 - 1846 9 - 2 1817 - 1 1 1847 4 - - 1818 1 - - 1848 6 - - 1819 - 1 - 1849 2 - - 1820 2 2 - 1850 1 - - 1821 - 5 - 1851 2 - - 1822 - 3 - 1852 - - - 1823 - - - 1853 - - - 1824 - 1 - 1854 1 - - 1825 - - - 1855 - - - 1826 - 2 - 1856 - - - 1827 - - - 1857 - - - 1828 - - - 1858 - - 1 1829 1 - - 1859 - - - 1830 1 - - 1860 - - - <?page no="345"?> Bibliographie 325 Bibliographie Auroux, Sylvain (1987): „Histoire des sciences et entropie des systèmes scientifiques. Les horizons de rétrospection“, in: Schmitter, Peter (Hrsg.), Zur Theorie und Methode der Geschichtsschreibung der Linguistik. Analysen und Reflexionen, Tübingen: Narr, 20-42. 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(Hrsg.), 55-96. Trabant, Jürgen (1990): Traditionen Humboldts, Frankfurt/ Main: Suhrkamp. Volck-Duffy, Elisabeth (1991): „Die Rezeption der ‚Idéologues‘ in Spanien zwischen 1800 und 1830. Bedeutende Vorläufer für die zentrale Rezeption der vierziger und fünfziger Jahre“, in: Schlieben-Lange u. a. (Hrsg.), 241-256. <?page no="349"?> Das Portugiesische im Mund der schwarzen Amme* Im Zentrum der Überlegungen, die ich Ihnen hier vortrage, soll die Interpretation der Geschichte des Portugiesischen in Brasilien durch Gilberto Freyre stehen, und zwar in doppelter Hinsicht. Zunächst soll es um seine Rekonstruktion der Sprachgeschichte unter inhaltlichen Gesichtspunkten gehen, wichtiger aber noch um die Machart, um die sprachliche Gestaltung seiner Vision der portugiesischen Sprachgeschichte in Brasilien. Die Romanisten unter Ihnen werden sich vielleicht durch den Titel an ein Syntagma erinnert fühlen, das in mehreren Variationen in der italienischen Sprachgeschichte eine große Rolle spielt. Da ist die Rede von der lingua fiorentina in bocca romana oder neuerdings: in bocca ambrogiana. Diese Formulierungen sind wohl nicht das Vorbild Gilberto Freyres. Auch verbindet er mit seinen Ausführungen über das Portugiesische im Mund der schwarzen Amme sehr viel sinnlichere Vorstellungen: die portugiesische Sprache, Laute, Konzepte und Syntax gleichermaßen, wird von der schwarzen Amme in den Mund genommen und vorgekaut für die ihr anvertrauten Kinder aus dem Herrenhaus. Es entsteht eine unvergleichlich weiche Sprache, a língua mais doce do mundo. Ich möchte Ihnen eine akustische Kostprobe geben, und zwar ein onomatopoetisches Gedicht von Ascenso Ferreira, einem Zeitgenossen von Gilberto Freyre, der wie er aus Pernambuco stammt. O sino bate, o condutor apita o apito, solta o trem de ferro um grito, põe-se logo a caminhar… - Vou danado pra Catende, vou danado pra Catende, vou danado pra Catende, com vontade de chegar… Mergulham mocambos Nos mangues molhados, * Bisher unveröffentlichter Vortrag gehalten am 14. Januar 1999 im Rahmen der Ringvorlesung Brasilien - Entwicklungsland oder tropische Großmacht des 21. Jahrhunderts? des Studium Generale an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Der Duktus des mündlichen Vortrags wurde von den Herausgebern bewusst beibehalten. <?page no="350"?> 330 Das Portugiesische im Mund der schwarzen Amme moleques, mulatos, vêm vê-lo passar. - Adeus! - Adeus! Mangueiras, coqueiros, cajueiros em flor, cajueiros com frutos, já bons de chupar… - Adeus, morena do cabelo cacheado! Mangabas maduras, mamões amarelos, mamões amarelos, que amostram, molengos, as mamas macias pra a gente mamar… - Vou danado pra Catende, vou danado pra Catende, vou danado pra Catende, com vontade de chegar… Na boca da mata há furnas incríveis que em coisas terríveis nos fazem pensar: - Ali dorme o Pai-da-Mata! - Ali é a casa das caiporas! - Vou danado pra Catende, vou danado pra Catende, vou danado pra Catende, com vontade de chegar… Meu Deus! Já deixamos apraia t-o longe… No entanto, avistamos bem perto outro mar… Danou-se! Se move, se arqueia, faz onda… Que nada! É um partido já bom de cortar… - Vou danado pra Catende, vou danado pra Catende, vou danado pra Catende, com vontade de chegar… <?page no="351"?> Skizze der brasilianischen Varietät des Portugiesischen 331 Cana-caiana, cana-roxa, cana-fita, cada qual a mais bonita, todas boas de chupar… - Adeus, morena do cabelo cacheado! - Ali dorme o Pai-da-Mata! - Ali é a casa das caiporas! - Vou danado pra Catende, vou danado pra Catende, vou danado pra Catende, com vontade de chegar… (Zitiert aus Ferreira 1997, 13-15.) Ein Zug wird abgepfiffen, fährt durch die Mango- und Kokoswälder, durch die Sümpfe, die bevölkert sind von Geistern und Irrlichtern. Den Höreindruck kann ich Ihnen in der schriftlichen Fassung nicht vermitteln: der Autor, der das Gedicht spricht, wird wechselweise zum Zug, zum Meer und zum Waldgeist. Ich komme später zurück auf die onomatopoetische Übersteigerung der ohnehin sehr klangvollen brasilianischen Varietät des Portugiesischen. Im einzelnen will ich so verfahren, daß ich Ihnen zunächst ganz kurz einige Informationen zu Spezifizitäten des Brasilianischen und seiner Geschichte gebe. Im Zentrum meiner Überlegungen soll dann ein Text von Gilberto Freyre stehen, wobei es mir besonders um die sprachliche Machart dieses Texts gehen wird. Und schließlich will ich den Vortrag abschließen mit Überlegungen zu der Frage, ob die Verfahren von Gilberto Freyre eingebettet werden können in allgemeinere Verfahren brasilianischer Autoren, ob es also so etwas gibt wie einen spezifischen brasilianischen Schreibstil oder aber eine brasilianische Sprachtheorie, die sich im Schreiben brasilianischer Autoren manifestiert. 1. Skizze der brasilianischen Varietät des Portugiesischen und ihrer Geschichte 1.1. Die Unterschiede 1 Besonders auffällig ist für denjenigen, der das europäische Portugiesische kennt, die völlig unterschiedliche suprasegmentale Gestaltung. Der Silbentyp Konsonant + Vokal (CV) hat sich fast durchgehend durchgesetzt, was 1 Eine sehr schöne knappe Einführung in das brasilianische Portugiesisch bietet de Castilho 1992. <?page no="352"?> 332 Das Portugiesische im Mund der schwarzen Amme sogar zum Auftauchen von Sproßvokalen führt. Diese Silbenstruktur liegt dem melodiösen Gesamteindruck des brasilianischen Portugiesisch zugrunde. Besonders charakteristische phonetische Züge sind weiterhin: - die Palatalisierung von / t/ und / d/ vor / e/ und / i/ - die Vokalisierung von auslautendem / l/ > / u/ . Dagegen fehlt in den meisten Varietäten (außer dem Carioca, der Varietät von Rio) die Aussprache des auslautenden / s/ > / ∫ / . In der Morphologie ist besonders charakteristisch die Vereinfachung des Systems der Personalpronomen und damit einhergehend der Verbalformen: você hat fast überall in Brasilien tu ersetzt: die zweite Person des Verbs fehlt also in den meisten Regionen. Die brasilianische Syntax unterscheidet sich in einigen entscheidenden Hinsichten von derjenigen des europäischen Portugiesischen. So hat in der gesprochenen Sprache die Proklise der Objektspronomina vollständig die Enklise ersetzt. Häufig fallen die Objektspronomina auch gänzlich weg, auch in Kontexten, wo sie im europäischen Portugiesischen noch obligatorisch sind. Die Setzung der Subjektspronomen ist weitgehend obligatorisch geworden, was sogar manche brasilianische Sprachwissenschaftler dazu veranlaßt hat, von dem brasilianischen Portugiesischen als einer Topik-Sprache zu sprechen Die Verfahren von Frage- und Relativsätzen haben sich im Zusammenhang mit diesen bereits genannten Erscheinungen sehr stark verändert. Die Bewertung dieser Unterschiede geht weit auseinander. Sie wird dadurch erschwert, daß es vergleichsweise wenige Arbeiten zum gesprochenen europäischen Portugiesischen gibt (etwa im Vergleich zum sehr gut untersuchten gesprochenen Französischen), so daß man nicht mit Bestimmtheit auf der Basis empirischer Untersuchungen sagen kann, ob nicht Phänomene, die als typisch für das Portugiesische Brasiliens gelten, in bestimmten Varietäten des europäischen Portugiesischen ebenfalls üblich sind. Wenn das so wäre, so würden sich die Unterschiede als solche der Gestaltung des Varietätenraums darstellen, etwa dergestalt, daß Verfahren, die im europäischen Portugiesischen nur in niedrigen diastatischen Varietäten vorkommen im brasilianischen Portugiesischen stärker generalisiert sind. Auch der Zusammenhang der genannten Erscheinungen mit dem Status des brasilianischen Portugiesisch als lange Zeit ausschließlich im Medium der Oralität vorkommender Sprachform müßte noch genauer untersucht werden. Es gibt aber andererseits Sprachwissenschaftler, die darauf hinweisen, daß die Unterschiede zwischen europäischem und brasilianischem Portugiesisch gerade sehr sensible Bereiche der Grammatik betreffen. So handelt es sich bei der Setzung bzw. Nichtsetzung der Subjekts- und der Objektspronomina gerade um solche Erscheinungen, die in der Theoriebildung der generativen Grammatik eine wichtige Rolle spielen und die als zentral für das Funktionieren der Syntax angesehen werden. Aus dieser Perspektive, nämlich derjenigen der Prinzipien- und Para- <?page no="353"?> Skizze der brasilianischen Varietät des Portugiesischen 333 meterforschung, müssen dann die Veränderungen des brasilianischen Portugiesischen gegenüber dem europäischen Portugiesischen geradezu als „catastrophical change“ wirken (Roberts/ Kato 1996). 1.2. Der Name der Sprache Ist das brasilianische Portugiesische nun lediglich eine Varietät des Portugiesischen, oder aber hat es einen so herausgehobenen Status, daß ihm ein eigener Sprachklassifikator zukäme? 2 Seit Beginn des 19. Jahrhunderts hat es immer wieder Versuche gegeben, das brasilianische Portugiesisch durch einen eigenen Klassifikator deutlich vom europäischen Portugiesischen zu unterscheiden: 1826 ist die Rede vom langage brésilien; 1827 wird der Vorschlag gemacht, übrigens analog zu einer vergleichbaren Diskussion in Argentinien (Alonso 1958) von der língua nacional zu sprechen. 1935 beschließt das Parlament einstimmig die Sprachbezeichnung lingua brasileira; in der Praxis verhalten sich jedoch die Autoren sehr zögerlich, und es wird eine Kommission eingesetzt, die diese Umbenennung überprüfen soll. 1945 entscheidet sich die Kommission gegen diese Umbenennung. Die Bezeichnung des brasilianischen Portugiesisch ist also bis heute im Grunde nicht geregelt: üblicherweise spricht man eben vom brasilianischen Portugiesischen, nicht aber vom Brasilianischen oder Brasilischen. 1.3. Einige Stichpunkte zur Geschichte des brasilianischen Portugiesischen 3 Marlos Pessoa hat in Auseinandersetzung mit älteren brasilianischen Versuchen kürzlich eine neue Periodisierung der brasilianischen Sprachgeschichte vorgenommen. 4 Er schlägt vor, eine erste Phase der brasilianischen Sprachgeschichte von der Entdeckung bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts anzunehmen. Diese Zeit ist die Phase der Capitanias, d. h. daß man im Grunde noch gar nicht von einer gemeinsamen brasilianischen Sprachgeschichte sprechen kann, sondern daß sich in den verschiedenen Capitanias das Portugiesische je nach den lokalen Bedingungen entwickelt hat. Für diese Phase müßte man also aufgrund der Dokumente Detailgeschichten schreiben, eine für Rio, eine für Bahía, eine für Recife usw. Diese Phase ist eine der Mehrsprachigkeit: neben dem Portugiesischen, das auf die Küstenstädte begrenzt ist, wird das Tupí, das als língua geral von der Jesuitenmission kodifiziert und verallgemeinert worden ist, gesprochen, weiterhin die verschiedenen Sprache der afrikanischen Sklaven, die ihrerseits unterschiedlichen 2 Zu diesem Punkt kann man die von Pimentel Pinto 1978/ 1981 zusammengestellten Texte vergleichen, weiterhin das Heft Langages 130 (1998). 3 Ich folge hier dem Vorschlag von Pessoa 1997. 4 Zur Problematik von Periodisierung in der Sprachgeschichte vgl. Schlieben-Lange 1985. <?page no="354"?> 334 Das Portugiesische im Mund der schwarzen Amme Sprachfamilien angehören, einerseits Bantu-Sprachen, dann aber auch westafrikanischen Sprachen verschiedenen Typs. Die zweite Phase setzt Pessoa von der Erschließung der Minas Gerais (Mitte des 18. Jahrhunderts) bis etwa 1900 an. Die gemeinschaftliche Erschließung der Minen ist tatsächlich die erste ‚nationale‘ Unternehmung, bei der Brasilianer aus verschiedenen Küstenregionen teilnehmen; sie ist auch ein starker Antrieb für die sprachliche Vereinheitlichung. Wenn in den ersten Jahren der Erschließung der Minen noch das Tupí die allgemeine Sprache war, setzt sich allmählich immer stärker das Portugiesische durch, und zwar notwendigerweise in einer koineisierten Form. In diese Phase fällt auch die Verlagerung des Königshofs nach Rio. Diese geht einher mit einem starken Impuls zur Relusitanisierung aufgrund der neuerlichen Zuwanderung aus Portugal. In diese Phase fällt schließlich noch zu Ende des 19. Jahrhunderts die Abschaffung der Sklaverei und die damit einhergehenden sozialen Veränderungen. Insgesamt ist diese Phase also eine Phase der Koineisierung, der Entstehung von städtischen Normen, auf denen dann gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine Gemeinsprache aufbaut. Die dritte Phase schließlich wäre die des 20. Jahrhunderts, in dem dann auf der Basis der im 19. Jahrhundert entstandenen Gemeinsprache die Ausarbeitung der Literatursprache erfolgt. Der Gesichtspunkt dieser Periodisierung ist die Herausbildung neuer Normen von verschiedener Reichweite. Woher nun das Material für die jeweiligen Normen kommt und in welchem Verhältnis und mit welcher Hierarchie sich diese Materialien zu dem neuen Brasilianischen zusammenfügen, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Die einen Autoren betonen die indianischen Einflüsse: „Tupí or not Tupí that is the question“ (Raimundo 1926). Die anderen betonen die Bedeutsamkeit der afrikanischen Sprachen (Mendonça 1933). Dagegen argumentieren diejenigen, die auf die parallelen Entwicklungen im europäischen Portugiesisch und in anderen romanischen Sprachen hinweisen. Es würde sich in dieser Perspektive lediglich um interne Entwicklungen handeln, die sich in den verschiedenen Sprachgemeinschaften zu unterschiedlichen Zeiten durchsetzen. Und schließlich hat immer wieder der Gedanke eine Rolle gespielt, daß in der Geschichte des brasilianischen Portugiesischen Kreolisierungsprozesse stattgefunden haben könnten (analog zu denjenigen des Französischen in der Karibik), die zu der Spezifizität des brasilianischen Portugiesischen beigetragen hätten. 5 5 Zusammenfassend dazu Gondim Jacoby 1998. <?page no="355"?> Gilberto Freyres Rekonstruktion der brasilianischen Sprachgeschichte 335 2. Gilberto Freyres Rekonstruktion der brasilianischen Sprachgeschichte Gilberto Freyres Casa-Grande e Senzala, 1933 geschrieben, ist zu einem Gründungsdiskurs der brasilianischen nationalen Identität geworden. 6 Es handelt sich um einen der seltenen Fälle, in denen die Mischung der Kulturen und Rassen gerade als fundierend für eine nationale Identität proklamiert worden ist. Ich werde mich im folgenden auf Casa-Grande e Senzala beschränken, hierbei wieder auf einen bestimmten Ausschnitt, in dem explizit von der Entstehung des brasilianischen Portugiesischen die Rede ist. Tatsächlich würde es sich lohnen auch andere Werke von Gilberto Freyre in dieser Hinsicht gründlich zu untersuchen, so z. B. den Folgeband Sobrados e Mucambos, in dem die städtische Entwicklung, die auf die Phase der Plantagenwirtschaft folgt, rekonstruiert wird, weiterhin aber auch die Sammlung und Auswertung von Archivmaterialien durch Gilberto Freyre in weiteren Werken. 7 Gilberto Freyres Texte, und in besonders ausgezeichneter Weise Casa-Grande e Senzala weisen eine ganz bestimmte Machart auf: die Texte basieren auf umfangreichen und gründlichen Archivrecherchen, die in einem umfassenden Fußnoten-Apparat dargelegt werden, und andererseits werden diese Ergebnisse archivarischer Forschung hochliterarisch verarbeitet, wie wir gleich sehen werden. Die Werke von Gilberto Freyre werden, auch aufgrund seiner politischen Position, sehr kontrovers beurteilt. Ein wichtiger Kritikpunkt ist der, daß eine Generalisierung seiner Analyse der nordöstlichen Pflanzergesellschaft auf die anderen Teile Brasiliens nicht ohne weiteres möglich ist, daß mithin also auch die Konstruktion einer nationalen Identität auf dieser Basis zum Scheitern verurteilt sein muß. Ursula Link-Heer hat kürzlich das inhaltliche Funktionieren des mestiçagem-Diskurses bei Gilberto Freyre rekonstruiert und gezeigt, wie in dieser Umkehrung der Bewertung von Mischung doch rassistische Elemente aufgehoben sind. Sie beschränkt sich in ihren Analysen auf die inhaltlichen Aspekte, während ich mich im folgenden vor allem auch auf die literarische Machart beziehen werde (Link-Heer 1999). Mit diesen verschiedenartigen kritischen Ansätzen zu Gilberto Freyres Werk möchte ich mich im weiteren nicht auseinandersetzen, da es mir vorrangig um eine bestimmte Schreibweise geht und nicht so sehr um die Inhalte, die mit dieser Schreibweise transportiert werden, wobei diese Trennung selbstverständlich künstlich ist und die Schreibweise genau in Hinblick auf die zu transportierenden Inhalte entwickelt worden ist. Welche Position nimmt nun Gilberto Freyre zur Entstehung der brasilianischen Gesellschaft und im Zusammenhang damit zur Herausbildung des brasilianischen Portugiesischen ein? Für ihn ist bereits der portugiesi- 6 Zur Kategorie des ‚Gründungsdiskurses‘ Puccinelli Orlandi 1993. 7 Z. B. Freyre 1963; dazu auch D’Andrea 1992, Chacon 1993. <?page no="356"?> 336 Das Portugiesische im Mund der schwarzen Amme sche Kolonisator ein Mischwesen, das besonders geeignet für die folgende in Brasilien stattfindende weitere Vermischung war. Der indianische Einfluß wird minimiert. Seiner Ansicht nach liegt die Pflanzergesellschaft der brasilianischen Gesellschaft zugrunde: Sie ist der Ort der Vermischung von Portugiesen und Afrikanern. A linguagem infantil também aqui se amoleceu ao contato da criança com a ama negra. Algumas palavras, ainda hoje duras ou acres quando pronunciadas pelos portugueses, se amaciaram no Brasil por influência da boca africana. Da boca africana aliada ao clima - outro corruptor das línguas européias, na fervura por que passaram na América tropical e subtropical. O processo de reduplicaç-o da sílaba tônica, t-o das línguas selvagens e da linguagem das crianças, atuou sobre várias palavras dando ao nosso vocabulário infantil um especial encanto. O „dói“ dos grandes tornou-se o „dodói“ dos meninos. Palavra muito mais dengosa. A ama negra fez muitas vezes com as palavras o mesmo que com a comida: machucou-as, tirou-lhes as espinhas, os ossos, as durezas, só deixando para a boca do menino branco as sílabas moles. Daí esse português de menino que no norte do Brasil, principalmente, é uma das falas mais doces deste mundo. Sem rr nem ss; as sílabas finais moles; palavras que só faltam desmanchar-se na boca da gente. A linguagem infantil brasileira, e mesmo a portuguesa, tem um sabor quase africano: cacá, pipi, bumbum, tentém, nenén, tatá, papá, papato, lili, mimi, au-au, bambanho, cocô, dindinho, bimbinha. Amolecimento que se deu em grande parte pela aç-o da ama negra junto à criança; do escravo preto junto ao filho do senhor branco. Os nomes próprios foram dos que mais se amaciaram, perdendo a solenidade, Auch die Sprache der jüngeren Generation wurde durch den Umgang des Kindes mit seiner Negeramme runder und weicher. Bestimmte Worte, die, von Portugiesen gesprochen, hart und scharf klingen, wurden in Brasilien durch den Einfluß der Negeraussprache weich und sanft. Die afrikanische Zunge ist zusammen mit dem Klima ein weiterer Faktor, der für das Abschleifen europäischer Sprachen in den warmen tropischen und subtropischen Zonen Amerikas sorgte. Die für Primitive und Kinder charakteristische Neigung, tontragende Silben von Worten doppelt zu sprechen, verleiht unserer Kindersprache einen eigenen Charme. Zum Beispiel wird das dói (tut weh) der Erwachsenen bei Kindern zu dodói und klingt viel kindlicher. Die Negeramme verführt mit den Worten oft wie mit dem Essen: Sie entfernte die Knochen und Gräten, weichte sie ein und machte leichtverdaulichen Brei aus ihnen, bis die Silben so sanft und angenehm waren, daß sie dem Kind schmeckten. Daher ist das hiesige Portugiesisch, besonders das von Nordbrasilien, eine der sanftesten Sprachen der ganzen Welt. Es enthält kein Doppel-R, kein Doppel-S, die Endsilben zergehen auf der Zunge, und die Wörter werden fast im Mund verschluckt. Die brasilianische Kindersprache und auch die portugiesische hat beinahe etwas Afrikanisches: cacá (Kot), pipi, bumbum (Krach), tentém oder tem-tem (Bewegungsrhythmus beim Gehenlernen), nenem (Kind), tatá (Papa), papá, papato (Schuh), lili und mimi (Kosenamen), au-au (Hund), <?page no="357"?> Gilberto Freyres Rekonstruktion der brasilianischen Sprachgeschichte 337 dissolvendo-se deliciosamente na boca dos escravos. As Antônias ficaram Dondons, Toninhas, Totonhas; as Teresas, Tetés; os Manuéis, Nezinhos, Mandus, Manés; os Franciscos, Chico, Chiquinho, Chicó; os Pedros, Pepés; os Albertos, Bebetos, Betinhos. Isto sem falarmos das Iaiás, dos Ioiôs, das Sinhás, das Manús, Calús, Bembens, Dedés, Marocas, Nocas, Nonocas, Gegês. (Freyre 1933, 331 f.) bambanho (Bad), cocô (Kot), dindinho (Patenonkel oder Großvater), bimbinha (kindlicher Penis). Dieses Aufweichen der Sprache ist weitgehend dem Einfluß der Negeramme auf das Kind, des schwarzen Sklaven auf den weißen Herrensohn zuzuschreiben. Diese Sanftheit zeigt sich am meisten bei den Vornamen, sie verloren ihre Feierlichkeit und wurden im Munde des Negers zu sanften Zärtlichkeiten. Antonias wurden Dondons, Toninhas, Totonhas; Teresas zu Tetés; Manuels zu Nezinhos, Mandús, Manés; Franciscos zu Chicos, Chiquinhos, Chicós; Pedro zu Pepé; Alberto zu Bebeto, Betinho, ohne die Iaiás, Ioiôs, Sinhás, Manús, Calús, Bembens, Dedés, Marocas, Nocas, Nonocas, Gegês zu erwähnen. (Freyre 1965, 386 f.) Sucedeu, porém, que a língua portuguesa nem se entregou de todo à corrupç-o das senzalas, no sentido de maior espontaneidade de express-o, nem se conservou acalafetada nas salas de aula das casa-grandes sob o olhar duro dos padres-mestres. A nossa língua nacional resulta da interpenetraç-o das duas tendências. Devemola tanto às m-es Bentas e às tias Rosas como aos padres Gamas e aos padres Pereiras. O Português do Brasil, ligando as casas-grandes às senzalas, os escravos aos senhores, as mucamas aos sinhô-moços, enriqueceu-se de uma variedade de antagonismos que falta ao Português da Europa. Um exemplo, e dos mais expressivos, que nos ocorre, é o caso dos pronomes. Temos no Brasil dois modos de colocar pronomes, enquanto o português só admite um - o „modo duro e imperativo“: diga-me, faça-me. Sem desprezarmos o modo português, criamos um novo, Indessen wurde die portugiesische Sprache durch den Einfluß der Negersklaven und ihre plastische und lebendige Ausdruckskraft weder vollkommen verdorben, noch wurden die Flügeltüren der Herrenhaus-Salons unter den strengen Blicken der Patres hermetisch verschlossen. Aus beiden Quellen zusammen ging unsere Nationalsprache hervor, aus den „Mammy Bentas“ und den „Tante Rosas“ ebenso wie aus Pater Gama und Pater Pereira. Das brasilianische Portugiesisch wurde durch die Beziehungen von Herrenhaus zu Sklavenquartier, von Sklaven zu Herren, von Negermädchen zu jungen Herren mit einer Vielzahl von gegensätzlichen Elementen bereichert, die der europäischen Muttersprache fremd sind. Ein überzeugendes Beispiel ist die Stellung der Fürwörter. In Brasilien gibt es zwei Möglichkeiten, Pronomina zu plazieren. Das Portugiesische erlaubt „streng und imperativ“ nur eine einzige: diga-me, <?page no="358"?> 338 Das Portugiesische im Mund der schwarzen Amme inteiramente nosso carateristicamente brasileiro: me diga, me faça, me espere. Modo bom, doce, de pedido. E servimo-nos dos dois. Ora, esses dois modos antagônicos de express-o, conforme necessidade de mando ou cerimônia, por um lado, e de intimidade ou de súplica, por outro, parecem-nos bem típicos das relações psicológicas que se desenvolveram através da nossa formaç-o patriarcal entre os senhores e os escravos: entre as sinhá-moças e as mucamas; entre os brancos e os pretos. „Faça-me“, é o senhor falando; o pai; o patriarca; „me dê“, é o escravo, a mulher, o filho, a mucama. Parecenos justo atribuir em grande parte aos escravos, aliados aos meninos das casas-grandes, o modo brasileiro de colocar pronomes. Foi a maneira filial, e meio dengosa, que eles acharam de se dirigir ao pater familias. Por outro la do o modo português adquiriu na boca dos senhores certo ranço de ênfase hoje antipático: „faça-me isso“; „dême aquilo“. O mestre ilustre que é Jo-o Ribeiro permita-nos acrescentar esta tentativa de interpretaç-o histórico-cultural ao seu exame psicológico da quest-o dos pronomes; e ao mesmo tempo fazermos nossas estas suas palavras: „que interesse temos, pois, em reduzir duas fórmulas a uma única e em comprimir dois sentimentos diversos numa só express-o? “ Interesse nenhum. A força, ou antes, a potencialidade da cultura brasileira parece-nos residir toda na riqueza dos antagonismos equilibrados; o caso dos pronomes que sirva de exemplo. Seguirmos só o chamado „uso português“, considerando ilegítimo o „uso brasileiro“, seria absurdo. Seria sufocarmos, ou pelo menos abafarmos metade de nossa vida emotiva e das nossas necessidades sentimentais, e até de inteligência, que só faça-me, espere-me (sag mir, tu mir, warte auf mich). Ohne die portugiesische Regel zu verachten, haben wir aber nebenbei eine neue, typisch brasilianische Form herausgebracht: me diga, me faça, me espere, und damit eine weichere, verbindlichere Art der „Befehlsform“ gefunden. Wir benutzen je nach Bedarf beide. Es kommt darauf an, ob ein Befehl oder ein offizieller Anlaß die eine Form erheischt oder Vertrautheit und Charakter der Bitte die andere Form erfordert. Mir erscheint gerade dieses Beispiel besonders typisch für die psychologischen Beziehungen, die im Laufe der Bildung unserer patriarchalischen Gesellschaft sich zwischen Herren und Sklaven, den jungen Damen der Herrenhäuser und ihren Zofen, zwischen Weißen und Schwarzen entwikkelten. Faça-me (Tu dies oder jenes) ist die Sprache des Herren, des Vaters, des Patriarchen. Me dê (Gibst du mir [? ]) sagt der Sklave, die Frau, der Sohn, das Hausmädchen. Meines Erachtens ist diese Pronomen-Versetzung hauptsächlich das Werk der Sklaven im Bunde mit der Jugend aus dem Herrenhaus. Es ist die familiäre, halb kindliche Art, sich an den Familienvorstand zu wenden. Im Gegensatz dazu hat die portugiesische Form, deren sich der Herr bediente, für uns heute einen unangenehm harten Ton: Faça-me-isso (tu das [für mich]), dê-meaquilo (gib mir jenes). Der hervorragende Wissenschaftler Jo-o Ribeiro wird mir vielleicht verzeihen, daß ich seiner psychologischen Untersuchung der Pronomenfrage diese meine kulturhistorische Auslegung angefügt habe, und gleichzeitig wollen wir uns seine Worte zu eigen machen: „Warum sollen wir also zwei Formen auf eine reduzieren und zwei verschiedene Gefühle in ein und dieselbe Wendung pressen? “ Nein, das wollen wir auch nicht. Die Stärke oder, <?page no="359"?> Gilberto Freyres Rekonstruktion der brasilianischen Sprachgeschichte 339 encontram express-o justa no „me dê“ e no „me diga“. Seria ficarmos com um lado morto; exprimindo só metade de nós mesmos. N-o que no brasileiro subsistam, como no anglo-americano, duas metades inimigas: a branca e a preta; o ex-senhor e o ex-escravo. De modo nenhum. Somos duas metades confraternizantes que se vêm mutuamente enriquecendo de valores e experiências diversas; quando nos completarmos num todo, n-o será com o sacrifício de um elemento ao outro. Lars Ringbom vê grandes possibilidades de desenvolvimento de cultura no mestiço: mas atingido o ponto em que uma metade de sua personalidade n-o procure suprimir a outra. O Brasil pode-se dizer que já atingiu esse ponto: o fato de já dizermos „me diga“, e n-o apenas „diga-me“, é dos mais significativos. Como é o de empregarmos palavras africanas com a naturalidade com que empregamos as portuguesas. Sem aspas nem grifo. (Freyre 1933, 334 f.) besser, das Potential der brasilianischen Kultur scheint mir allein im Reichtum seiner gegeneinander abgewogenen Antagonismen zu liegen, wofür der Fall der Fürwörter ein gutes Beispiel ist. Sollen wir nur der sogenannten „portugiesischen Regel“ folgen und das Brasilianische als illegitimes Kind betrachten? Das wäre absurd. Es würde uns lähmen oder jedenfalls die Hälfte unseres emotionellen Lebens, unseres Gefühls, ja unseres Verstandes verstopfen, wenn wir nicht mehr me dê und me diga sagen dürften. Ein Teil von uns würde absterben, da wir nur immer dem anderen Ausdruck geben könnten. Nicht, daß im Brasilianer wie im Anglo- Amerikaner zwei feindliche Brüder in einer Brust wohnen, der Weiße und der Schwarze, der frühere Herr und der ehemalige Sklave. Wir bestehen aus zwei einander zugeneigten Hälften, die sich gegenseitig mit diversen Werten und Erfahrungen beschenkt haben, und wenn wir als geschlossenes Ganzes auftreten, dann geschieht das nicht mit Unterdrückung des einen oder anderen Elements. Lars Ringbom gibt der Entwicklung der Mischlingskultur große Chancen, aber nur, wenn erreicht wird, daß eine Persönlichkeitshälfte nicht länger versucht, die andere zu unterdrücken. Von Brasilien darf gesagt werden, daß es diesen Punkt bereits erreicht hat. Der Umstand, daß wir me diga sagen und nicht ausschließlich diga-me, ist ein sicheres Zeichen dafür; ebenso die Tatsache, daß wir inzwischen afrikanische Worte so selbstverständlich wie portugiesische gebrauchen, ohne Anführungsstriche oder abweichenden Druck. (Freyre 1965, 392 f.) Die These, die in dem gesamten Werk Casa-Grande e Senzala vertreten wird, ist die, daß die brasilianische Kultur eine Mischkultur ist. Ebenso ist <?page no="360"?> 340 Das Portugiesische im Mund der schwarzen Amme die brasilianische Sprache, die von Gilberto Freyre a nossa lingua nacional oder brasileiro genannt wird, eine Mischsprache: das Portugiesische im Mund der schwarzen Amme. Wie gestaltet Gilberto Freyre nun seine These sprachlich? Zwei getrennte, aber benachbarte Lebenswelten mit ihrem Personal und ihren Wertorientierungen werden einander gegenübergestellt: Casa-Grande Senzala Personen senhor branco sinhô-moço sinhá-moça padre-mestre padre Gama padre Pereira ama negra escravo preto mucama m-e Benta tia Rosa Sprache duro, acre, solene imperativo mando, ceremônia ênfase encanto, dengoso, mole doce, delicioso corupç-o pedido intimidade, súplica Diese beiden Lebenswelten grenzen aneinander: Es gibt Personen, die ihre Welt nie verlassen, z. B. die weißen Frauen, und es gibt Personen, die besonders mobil zwischen den beiden Welten hin- und hergehen, nämlich die Kinder der weißen Herren und ihre schwarzen Spielgefährten. Es gibt besonders enge und nachhaltige Beziehungen zwischen den Bewohnern der einen und der anderen Welt: Spielbeziehungen zwischen weißen und schwarzen Jungen, liebevolle mütterliche Beziehungen zwischen den Ammen und ihren Schützlingen und natürlich auch, zwar nicht in diesem Absatz erwähnt, aber im gesamten Werk doch immer wieder, Liebesbeziehungen zwischen den weißen Herren und den Sklavinnen. Die beiden Welten sind also auf eine unsichtbare, aber nachhaltige Weise miteinander verknüpft. Was geschieht nun mit den Gewohnheiten und insbesondere mit den Sprachgewohnheiten in diesen vielfältigen Kontakten? Darüber geben eine Reihe von Schlüsselwörtern Aufschluß. Es handelt sich vor allem um Verben, die allesamt dem gleichen Wortbildungsmuster zugehören, nämlich Verben, die von Adjektiven abgeleitet sind und die die Transformation in den durch das Adjektiv bezeichneten Zustand beinhalten: Schlüsselwörter Verben: amaciar amolecer dissolver-se desmanchar-se <?page no="361"?> Gilberto Freyres Rekonstruktion der brasilianischen Sprachgeschichte 341 enriquecer interpenetrar Noch eine weitere Gruppe von zwar unauffälligen, aber doch hoch rekurrenten Schlüsselwörtern fällt ins Auge: es handelt sich um Präpositionen, die gerade die Verbindung von zwei Elementen anzeigen: junto entre Die Syntax steht vollständig im Zeichen des ‚sowohl als auch‘. Es werden lange Reihen von Gegensätzen, die durch eine Konjunktion verbunden sind, aufgeführt, wobei diese Gegensätze gerade nicht aufgelöst werden sollen in einen neuen Begriff, der die Gegensätze verschwinden läßt, sondern als Gegensätze stehenbleiben sollen, die jedoch auf einem höheren Niveau in einer neuen durch diese Gegensätze konstituierten Identität aufgehoben werden. Es ist eine Syntax der antagonismos equilibrados, der metades confraternizantes. Die beiden Lebenswelten sind miteinander verknüpft, sind ineinander verschlungen. Es gibt im Grunde nur eine Lebenswelt mit zwei Polen, eine brasilianische Persönlichkeit mit zwei gleichermaßen gegensätzlichen wie harmonisierenden Hälften. Neben den Schlüsselwörtern und den sowohl-als-auch-Konstruktionen, die ganz im Dienst der Aufhebung der Gegensätze und der damit einhergehenden Transformation des Portugiesen in den Brasilianer stehen, fallen noch weitere sprachliche Verfahren auf. Besonders wichtig ist die Verwendung von starken, eindrucksvollen Bildern. Ein solches Bild ist eben dasjenige, das diesem Vortrag den Titel gegeben hat: die Amme, die ihrem kleinen Schützling das Essen vorkaut, die Gräten und Knochen aus Fisch und Fleisch entfernt und die das gleiche mit der Sprache tut. Das Bild des Kauens und Essens, des Einverleibens spielt in der brasilianischen Kultur eine permanente und fundierende Rolle (Andrade 1928). Lange Synonymenreihungen lassen den Reichtum der brasilianischen Sprache erfahren; sie evozieren eine sinnlich erfahrbare Welt, deren Sinnlichkeit sich noch einmal widerspiegelt in dem lautlichen Effekt der Reihung von klangvollen CV-Silben. Die brasilianische Sprache bekommt einen sabor quase africano. In diesem Syntagma fallen zwei Eigenheiten auf, einmal die Unbestimmtheit des quase, dann aber auch die Annahme einer sinnlichen Erfahrbarkeit von Sprache, die über die rein vokale Sinnlichkeit hinausgeht, die Annahme, daß Wörter nicht nur eine Lautgestalt, sondern auch Geschmack und Geruch haben. Die Sprache wird also zu einem Teil der Natur und ist wie diese auf verschiedenen sinnlichen Kanälen erfahrbar. Mit dieser Naturalisierung von Sprache reiht sich Gilberto Freyre ein in die lange brasilianische Tradition des tropicalismo (Ventura 1987). Ein Gründungstext in dieser Hinsicht ist der Text über den Estilo tropical von Araripe von 1888. <?page no="362"?> 342 Das Portugiesische im Mund der schwarzen Amme O tropical n-o pode ser correto. A correç-o é o fruto da paciência e dos paises frios; nos paises quentes a atenç-o e intermitente. Aqui, aonde os frutos amadurecem em horas, aonde a mulher rebenta em prantos histéricos aos 10 anos, aonde a vegetaç-o cresce e salta à vista, aonde a vida é uma orgia de viço, aonde tudo é extremoso, e extremados os fenômenos; aqui, aonde o homem sensualiza-se até com o contato do ar e o genesismo terrestre assume proporções enormes, vibrando eletricidade que em certas ocasiões parece envolver toda a regi-o circundante em um amplexo único, fulminante - compreende-se que fora de todas as coisas a mais irrisória pôr peias à express-o nativa e regular o ritmo da palavra pelo diapas-o estreito da retórica civilizada, mas muito menos expensiva. O estilo, nesta terra, é como o sumo da pinha, que, quando viça, lasca, deforma-se, e pelas fendas irregulares, poreja o mel dulcíssimo, que as aves vêm beijar; ou como o ácido do ananás do Amazonas, que desespera de sabor, deixando a lingua a verter sangue, picada e dolorida. E esse estilo desprezado pelos rigoristas que justamente me apraz encontrar na mocidade que agora surge no Brasil: e se há um escritor capaz de incorporá-lo a uma literatura nascente, como a nossa, imprimindo-lhe direç-o salutar, isocrônica e frutificante, esse escritor é o autor d’O Mulato, em cujas páginas já encontram-se audácias dignas dos melhores, e que, nos capitulos inéditos d’O Cortiço, vai derramando todo o luxuriante tropicalismo desta América do Sul. (Zitiert aus Pimentel Pinto 1978/ 1981, 233) Auch in diesem Text, so wie später bei Gilberto Freyre, wird die Sprache mit der Natur analogisiert, ist Natur. Der Stil, in der rhetorischen Tradition gerade der Ort der Auswahl und damit der Bestimmtheit, wird hier zum Ort der Gärung. Estilo tropical ist in gewisser Hinsicht ein Oxymoron: stilistische Bestimmtheit und tropisches Wuchern werden miteinander verbunden. Diese Technik der sprachlichen Vereinigung von zunächst als unvereinbar gedachten Gegensätzen spielt eine große Rolle in der Tradition der brasilianischen Kultur. Denken wir nur an die Redeweise von der raza cósmica, an das Zusammendenken von Paradies und Apokalypse. Es sind in gewisser Hinsicht gerade Verfahren des sublimen Stils, in dem Elemente aus unvereinbaren Lebens- und Textwelten zusammengezwungen werden. Mit diesen letzten Überlegungen haben wir bereits die Analyse des Textausschnitts von Gilberto Freyre überschritten und seine Verfahren eines spezifischen, wissenschaftlich-literarischen Stils in den größeren Zusammenhang brasilianischer stilistischer Traditionen eingereiht. 3. Gibt es einen brasilianischen Stil? Gibt es eine brasilianische Sprachtheorie? Um es in Termini der europäischen Tradition zu reformulieren: Gibt es so etwas wie ein génie de la langue brésilienne? Gilberto Freyre und Araripe und viele anderen Autoren weisen literarische Verfahren auf, die miteinander vergleichbar sind. Entspricht der Terminus ‚Stil‘ dem, was wir hier beobachten? Wir zögern etwas, den Begriff des Stils auf eine nationale Tradition des <?page no="363"?> Gibt es einen brasilianischen Stil? 343 Schreibens anzuwenden. Stil ist unserem Verständnis nach ein individuelles Phänomen, eine individuelle Auswahl aus verschiedenen Möglichkeiten sprachlicher Gestaltung. 8 Gibt es auch nationale Stile? Werden in der brasilianischen Tradition sprachlicher Gestaltung bestimmte Verfahren bevorzugt ausgewählt? Mit einer gewissen Vorsicht würden wir aufgrund unserer Beobachtungen dazu neigen, solche Präferenzen festzustellen: die sprachliche Evokation sinnlicher Erfahrung, die Verwendung von gewagten Bildern, die Betonung der lautlichen Seite von Sprache. Oder aber ist es vielleicht sinnvoller, unsere Beobachtungen darauf zurückzuführen, daß die brasilianischen Autoren einer Sprachidee verpflichtet sind, die sich stark von dem europäischen Sprachdenken des 20. Jahrhunderts unterscheidet? Gibt es also so etwas wie eine brasilianische Sprachtheorie von A. Ferreira hin bis zu den Tropicália des Veloso? Eni Puccinelli Orlandi gibt in Discurso fundador einige Anregungen, wie man diese Überlegungen weiter denken könnte. Sie spricht von der primácia do tom à palavra. Die brasilianische Kultur wäre also dem Primat des Lautlichen verpflichtet, was auch nicht Wunder nimmt in Anbetracht der Tatsache, daß die brasilianische Gesellschaft ihre kulturellen Formen über Jahrhunderte im Medium der Mündlichkeit entwickelt hat, kulturelle Formen, die bis heute noch lebendig sind und ständig mit der Hochkultur interferieren. Ein zweiter Hinweis ist der auf die Absicht des fazer a carne voltar a ser verbo: es ginge also den brasilianischen Sprachbenutzern, und besonders den Autoren darum, verschiedene Sinneseindrücke zu versprachlichen: Geschmack, Geruch, Taktiles, also Sinneseindrücke, die in der europäischen Tradition gerade nicht zu den hohen Sinnen gezählt werden. Wir würden also in der brasilianischen Kultur, meist implizit, aber in großer Meisterschaft, wie wir es bei Gilberto Freyre gesehen haben, gelegentlich aber auch explizit Elemente einer Sprachtheorie vorfinden, die nicht reduziert wäre auf Syntax und Konzepte, sondern die Lauten und Bildern Raum geben würde. In der europäischen Tradition waren diese Aspekte von Sprache in der Rhetorik aufgehoben, in der Lehre von pronuntiatio und elocutio. Um 1800 geht in Europa ein Prozeß zu Ende, der diese Aspekte von Sprache verdrängt zugunsten einer Sprachidee, die von Lauten und Bildern gereinigt ist (vgl. dazu Zollna 1990). Diese Sprachidee, in deren Zentrum Konzepte und deren Verknüpfung stehen, ist in der mainstream-Sprachwissenschaft bis heute dominant; in dieser Perspektive beinhaltet die brasilianische Sprachtheorie, wie implizit und fragmentarisch auch immer, die Aspekte, die wir aus unserem Sprachdenken eliminiert haben, und kann zu unserem Korrektiv werden. 8 Zum Stilbegriff vgl. die verschiedenen Arbeiten von Jürgen Trabant, zuletzt Trabant 1998. <?page no="364"?> 344 Das Portugiesische im Mund der schwarzen Amme Bibliographie Alonso, Amado (1958): Castellano, español, idioma nacional: historia espiritual de 3 nombres, Buenos Aires: Losada. Amaral, Amadeu (1920): O dialeto caipira, S-o Paulo: „O livro“. Andrade, Oswald de (1928): „Manifesto antropéfago“, in: Revista de Antropofagia 1. Auroux, Sylvain et al. (Hrsg.) (1998): L’ hyperlangue brésilienne (= Langages 130). 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Übersetzung „História da lingüística e história das línguas“, in: Schlieben-Lange, Brigitte (1993): História do falar e história da lingüistica, Campinas: Ed. da Unicamp, 35- 63.] (1983c): „Vom Glück der Konversation. Bemerkungen zum Flamenca-Roman, zur Konversationsethik des 17. Jahrhunderts und zum Reduktionismus heutiger Gesprächsauffassung“, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 50, 141-156. (1983d): „Schriftlichkeit und Mündlichkeit in der Französischen Revolution“, in: Assmann, Aleida u. Jan/ Hardmeier, Christof (Hrsg.), Schrift und Gedächtnis. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation, München: Fink, 194-211. (1983e) (mit Helmut Kreuzer): „Probleme und Perspektiven der Fachsprachen- und Fachliteraturforschung“, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 51/ 52, 7-26. (1984a): „La ‚longue durée‘ en sociolinguistique“, in: Bouvier, Jean-Claude (Hrsg.), Sociolinguistique des langues romanes. 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Para a reflex-o sobre os sistemas simbólicos no Iluminismo tardio“, in: Schlieben-Lange, Brigitte (1993): História do falar e história da lingüistica, Campinas: Ed. da Unicamp, 219-254). (1988c): „Grégoire neu gelesen“, in: Koselleck, Reinhard/ Reichardt, Rolf (Hrsg.), Die Französische Revolution als Bruch des gesellschaftlichen Bewußtseins. Vorlagen und Diskussionen der internationalen Arbeitstagung am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld, 28. Mai-1. Juni 1985, München: Oldenbourg, 561-570. (1988d): „Introduction“, in: Actes du XVIIIe Congrès International de Linguistique et Philologie Romanes, Trier 1986, Bd. 5, Linguistique pragmatique et linguistique sociolinguistique, Tübingen, Niemeyer: 3-9. (1988e): „Konzeptualisierung, Diffusion und Formierung. Thesen zur Verwiesenheit von Revolution auf Sprache“, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 72, Sprache und Revolution, 7-15. 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(1988i): Diskussions-Statement „Unhistorisches Vokabular und revolutionäres Sprachbewußtsein“, in: Koselleck, Reinhard/ Reichardt, Rolf (Hrsg.), Die Französische Revolution als Bruch des gesellschaftlichen Bewußtseins, München: Oldenbourg, 574-575. <?page no="375"?> Schriftenverzeichnis 355 (1988j) (mit Harald Weydt): „Die Antwort Daniel Jenischs auf die Preisfrage der Berliner Akademie zur ‚Vergleichung der Hauptsprachen Europas‘ von 1794“, in: Heckelmann, Dieter/ Büsch, Otto (Hrsg.), Wissenschaft und Stadt. Publikationen der Freien Universität Berlin aus Anlaß der 750-Jahr-Feier Berlins, Bd. 6: Trabant, Jürgen (Hrsg.), Beiträge zur Geschichte der romanischen Philologie in Berlin, Berlin: Kolloquium Verlag, 1-26. [Portugies. 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Übersetzung 1989 in: „Reflexões a respeito do escrever sobre a história da lingüística“, in: Documentaçao de estudos em linguística téorica e aplicada 5,1, 1-22; wieder in: Schlieben-Lange, Brigitte (1993): História do falar e história da lingüistica, Campinas: Ed. da Unicamp, 135- 149.] (1989i): „Wissenschaftssprache und Alltagssprache um 1800“, in: Cherubim, Dieter/ Mattheier, Klaus (Hrsg.), Voraussetzungen und Grundlagen der Gegenwartssprache. <?page no="376"?> 356 Schriftenverzeichnis Sprach- und sozialgeschichtliche Untersuchungen zum 19. Jahrhundert, Berlin/ New York: de Gruyter, 123-138. (1989j) (mit Rolf Reichardt): „Die Französische Revolution als Revolution der Kommunikation und der Sprache,“ Einleitung zu Jacques Guilhaumou: Sprache und Politik in der Französischen Revolution, Frankfurt/ Main: Suhrkamp, 9-19. (1989k) (mit Wolfgang Geiger): „Freiheit, Gleichheit … Uniformität“, in: Forschung Frankfurt 3, 46-54. (1989l) (mit Hubert Ivo): „Das neue Interesse an den alten Wortarten“, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 76, Wortarten, 7-12. (1989m) (mit Franz-Josef Knapstein): „La théorie sémiotique et linguistique des Idéologues et la position des Langues historiques“, in: Kremer, Dieter (Hrsg.), Actes du XVIIIe Congrès International de Linguistique et Philologie Romanes, Trier 1986, Bd. 7, Tübingen: Niemeyer, 141-147. (1989n) (M. a.): „Vorwort der Herausgeber“, in: Schlieben-Lange, Brigitte/ Dräxler, Hans-Dieter/ Knapstein, Franz-Josef Knapstein/ Volck-Duffy, Elisabeth/ Zollna, Isabel (Hrsg.), Europäische Sprachwissenschaft um 1800. Methodologische und historiographische Beiträge zum Umkreis der „idéologie“, Bd. 1, Münster: Nodus, 7-9. (1990a): Interview: „Die Französische Revolution: Ein Kampf der Wörter,“ in: Frankfurter Linguistische Forschungen 9, 89-104. (1990b): „Zu einer Geschichte des Lesens (und Schreibens). 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Methodologische und historiographische Beiträge zum Umkreis der „idéologie“, Bd. 2, Münster: Nodus, 173-185. (1991h) (mit Axel Schönberger): „Vorwort“, in: Polyglotte Romania. Homenatge a Tilbert Dídac Stegmann, Bd. 1, Frankfurt/ Main: 9-14. (1991i) (M. a.): „Vorwort der Herausgeber“, in: Schlieben-Lange, Brigitte Schlieben- Lange, Brigitte/ Dräxler, Hans-Dieter/ Knapstein, Franz-Josef Knapstein/ Volck- Duffy, Elisabeth/ Zollna, Isabel (Hrsg.), Europäische Sprachwissenschaft um 1800. Methodologische und historiographische Beiträge zum Umkreis der „idéologie“, Bd. 2, Münster: Nodus, 7-8. (1992a): „Einleitung: Die Kolonisierung der Sprachen und Diskurse“, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 85, Sprache und Kolonialismus, 7-11. (1992b): „La Grammaire Générale dans les Ecoles Centrales“, in: Schlieben-Lange, Brigitte/ Bergandi, Marco/ Bernecker, Roland/ Broch, Ilona/ Dräxler, Hans-Dieter/ Elisabeth Volck-Duffy (Hrsg.), Europäische Sprachwissenschaft um 1800. 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A la découverte du morphème“, in: Schmidt-Radefeldt, Jürgen (Hrsg.), Semiótica e linguística portuguesa e românica. Homenagem a José Gonçalo Herculano de Carvalho, Tübingen: Narr, 317-326. [Portugies. Übersetzung „Neologia, terminologia, lexicologia: a descoberta do morfema“, in: Schlieben-Lange, Brigitte (1993): História do falar e história da lingüistica, Campinas: Ed. da Unicamp, 289-306.] (1993d): „Occitan : French“, in: Posner, Rebecca (Hrsg.), Trends in Romance Linguistics and Philology, Bd. 5, Bilingualism and Linguistic Conflict in Romance, The Hague/ Paris: Mouton, 209-229. (1993e): „Vorwort“, in: Bochmann, Klaus/ Brumme, Jenny/ Guespin, Louis (Hrsg.), Die Sprachpolitik in der Romania. Berlin/ New York: De Gruyter, V-IX. (1993f): „Wozu brauchen wir nationale Symbole? “, in: Titzmann, Michael (Hrsg.), Zeichen(theorie) in der Praxis, Passau: Rothe, 265-268. 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Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung, Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft (HSK), Bd. 10,1, Berlin: de Gruyter, 102-121. (1994f): „Letra, figura und força bei Fern-o de Oliveira“, in: Schönberger, Axel/ Zimmermann, Klaus (Hrsg.), De orbis Hispani linguis litteris historia moribus. Festschrift für Dietrich Briesemeister zum 60. Geburtstag, Frankfurt/ Main: Domus Editoria Europaea, 17-28. (1994g): „Promiscue legere und lecture publique“, in: Goetsch, Paul (Hrsg.), Lesen und Schreiben im 17. und 18. Jahrhundert. Studien zu ihrer Bewertung in Deutschland, England, Frankreich, Tübingen: Narr, 183-194 (1994h): „Reflexões sobre as pesquisas em mudança lingüística“, in: Documentaçao de estudos em linguística téorica e aplicada 10, 223-246. (1994i): „Sport als symbolische Form? “ In: Friedrich, Georg (Hrsg.), Sport und Semiotik, Sankt Augustin: Academia-Verlag, 21-29. 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(1997i): „Überlegungen zu einer einfachen Systematik der Zuweisung von (polysemen) Lesarten“, in: Hoinkes, Ulrich/ Dietrich, Wolf (Hrsg.), Kaleidoskop der Lexikalischen Semantik, Tübingen: Narr, 239-247. (1997j) (mit Hans-Dieter Dräxler): „Die Französische Revolution und das deutsche Sprachdenken“, in: Spillner, Bernd (Hrsg.), Französische Sprache in Deutschland im Zeitalter der Französischen Revolution, Frankfurt/ Main: Lang, 11-26. (1998a): „Alterität als sprachtheoretisches Konzept“, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 110, Alterität, 41-57. (1998b): „Aneignung des Fremden oder Entfremdung vom Eigenen? Volneys Gespräche mit Petite-Tortue“, in: Armbruster, Claudius/ Hopfe, Karin (Hrsg.), Horizont-Verschiebungen. Interkulturelles Verstehen und Heterogenität in der Romania. Festschrift für Karsten Garscha, Tübingen, Narr: 63-70. (1998c): „Einleitung“, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 110, Alterität, 5- 6. 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(1998j) (mit Ilona Pabst): „Einleitung zu Jean Rodoni - Dictionnaire Républicain et Révolutionnaire (1793/ 94) sowie ‚Anecdotes Curieuses et Républicaines‘ (1795)“, Tübingen: Niemeyer, 1-76. (1998k) (mit Harald Weydt): „The meaning of dimensional adjectives. Discovering the semantic process“, in: Lexicology 4, 199-236. [= Überarbeitete Fassung von (1995g) (mit Harald Weydt): „Hoch - tief - niedrig. Primäre und metaphorische Bedeutungen von antonymischen Adjektiven“.] (1998l) (mit Jochen Hafner): „Projektbericht: Diskursformation: die Grammaire Générale an den Ecoles Centrales (1795-1803)“, in: Beiträge zur Geschichte der Sprachwissenschaft 8, 133-146. (1998m) (mit Ernest W. B. Hess-Lüttich): „Vorbemerkung“, in: Hess-Lüttich, Ernest W. B./ Schlieben-Lange, Brigitte (Hrsg.), Signs & Time, Zeit & Zeichen. An International Conference on the Semiotics of Time in Tübingen, Tübingen: Narr. (1999a): „Auguste de Gérando oder: Die Möglichkeiten, kulturelle Vielfalt zu modellieren“, in: Förster, Horst/ Fassel, Horst (Hrsg.), Kulturdialog und akzeptierte Vielfalt? Rumänien und rumänische Sprachgeschichte nach 1918, Stuttgart: Thorbecke, 101- 107. (1999b): „Die deutsche Romanistik - ein Modell für die Zukunft? “ In: Fürbeth, Frank/ Krügel, Pierre/ Metzner, Ernst E./ Müller, Olaf(Hrsg.), Zur Geschichte und <?page no="381"?> Schriftenverzeichnis 361 Problematik der Nationalphilologie in Europa. 150 Jahre Erste Germanistenversammlung in Frankfurt am Main (1846 -1996), Tübingen: Niemeyer, 847-854. (1999c): „Einleitung“, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 116, Katechese, Sprache, Schrift, 5-8. (1999d): „Die Frage ist wichtiger als die Antwort - Wie das Studium mit Fichte, Humboldt und Hegel zu sich selbst kommen kann“, in: attempto! 6, 6-7. (1999e): „An den Grenzen der Repräsentation“, in: Bach, Reinhard/ Desné, Roland/ Haßler, Gerda (Hrsg.), Formen der Aufklärung und ihrer Rezeption/ Expressions des Lumières et de leur réception. Festschrift für Ulrich Ricken, Tübingen: Stauffenburg, 333-343. (1999g): „Missionarslinguistik in Lateinamerica. Zu neueren Veröffentlichungen und einigen offenen Fragen“, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 116, Katechese, Sprache, Schrift, 34- 61. (2000a): „A constituiç-o discursiva das periodizações“, in: Línguas e instrumentos lingüísticos 4-5, 45- 67. (2000b): „Per distantiam locorum. Die Modellierung sprachlicher Varietät in der europäischen Tradition“, in: Stein, Peter (Hrsg.), Frankophone Sprachvarietäten. Variétés linguistiques francophones. Hommage à Daniel Baggioni de la part de ses „dalons“, Tübingen: Stauffenburg, 377-392. 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Auflage, Bd. 14, 502-503. - „Tory, Geoffroy Champfleury,/ auquel est contenu l’art et science de la deue et vraye proportion des lettres attiques, qu’on dit autrement lettres antiques et vulgairement lettres romaines proportionnées selon le corps et visage humain“, 2. Auflage, Bd. 16, 727-728. - „Benoît de Sainte More, Chronique des Ducs de Normandie“, 2. Auflage, Bd. 2, 529- 530. - „Farce nouvelle très bonne et fort joyeuse du cuvier“, 2. Auflage, Bd. 18, 566-567. - „Gauthier de Coincy, Les miracles de la Sainte Vierge“, 2. Auflage, Bd. 6, 168. - „La chanson de Roland“, 2. Auflage, Bd. 18, 383-385. - „Petrarca, Francesco (eig. F. Pietro), De sui ipsius et multorum ignorantia“, 2. Auflage, Bd. 13, 176. - „Lancelot“, 2. Auflage, Bd. 3, 980-982. - „Rolandslied/ La chanson de Roland“, 3. Auflage, 2009, Bd. 3, 706-707. - „Petrarca, De sui ipsius et multorum ignorantia“, 3. Auflage, 2009, Bd. 12, 743-744. - „Alexanderroman“, 3. Auflage, 2009, Bd. 1, 248-250. Stammerjohann, Harro (Hrsg.) 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