Chatten mit dem Vorstand
Die Rolle der unternehmensinternen Kommunikation für organisatorischen Wandel im Unternehmen
0721
2010
978-3-8233-7574-6
978-3-8233-6574-7
Gunter Narr Verlag
Heinrike Fetzer
Unternehmensinterne Kommunikation mit Mitarbeitern gewinnt im organisatorischen Wandel von Konzernen eine neue Dimension. Erfahrungswerte und aktuelle Wahrnehmungen der Mitarbeiter treten auseinander, denn Wandel zielt nicht länger nur auf die Optimierung bestehender wirtschaftlicher Verhältnisse. Die Verschiebung globaler ökonomischer Bedingungen erfordert in erster Linie ein strukturell verändertes Wirtschaften. Daraus entstehen neue Kommunikationserfordernisse, zumeist nach Informationen und Handlungsmotiven. Dennoch treffen die Mitarbeiter auf hierarchische Kommunikationsbarrieren - es gibt allerdings Ausnahmen. In diesem Buch wird die erste authentische Chat-Kommunikation zwischen Vorständen und Mitarbeitern in der deutschen Konzernlandschaft vorgestellt. Die linguistische Analyse zeigt, wie die Chat-Teilnehmer organisatorischen Wandel auf der Basis bisheriger Erfahrungswerte aus ihrer eigenen Perspektive wahrnehmen und wie das zu einem vermehrten Auftreten spezifischer Sprachhandlungen führt, z.B. zu Ergänzungsfragen oder Vorschlägen.
<?page no="0"?> Chatten mit dem Vorstand Die Rolle der unternehmensinternen Kommunikation für organisatorischen Wandel im Unternehmen Heinrike Fetzer <?page no="1"?> Chatten mit dem Vorstand <?page no="2"?> Europäische Studien zur Textlinguistik herausgegeben von Kirsten Adamzik (Genf) Martine Dalmas (Paris) Jan Engberg (Aarhus) Wolf-Dieter Krause (Potsdam) Arne Ziegler (Graz) Band 9 <?page no="3"?> Heinrike Fetzer Chatten mit dem Vorstand Die Rolle der unternehmensinternen Kommunikation für organisatorischen Wandel im Unternehmen <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. Titelbild: Businessman surrounded by people’s heads talking, Kain Zernitzky, Stock Illustration Source, Getty Images © 2010 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Druck und Bindung: Ilmprint, Langewiesen Printed in Germany ISSN 1860-7373 ISBN 978-3-8233-6574-7 <?page no="5"?> Für Henrik <?page no="7"?> Vorwort Dieses Buch ist innerhalb von sieben Jahren neben meiner beruflichen Tätigkeit entstanden. In dieser Zeit hat sich das Sprachdatenkorpus, auf dem meine Untersuchungen basieren, erfreulicherweise beständig erweitert. So hatte ich die Gelegenheit, den Beginn und die weitere Entfaltung einer unternehmensinternen Chat-Kommunikation zwischen Vorständen und Mitarbeitern in einer Balance zwischen teilnehmender Involviertheit und erforderlicher Distanz zu untersuchen. Im März 2010 wurde die vorliegende Arbeit von der Fakultät Kulturwissenschaften der Technischen Universität Dortmund als Dissertation angenommen. Meiner universitären Betreuerin, Prof. Dr. Gisela Brünner, bin ich sehr verbunden. Sie hat mich auf das Potenzial des Themas aufmerksam gemacht. Ich danke ihr für die vielen guten Gespräche, fachbezogene und persönliche, und ihren verlässlichen Rat, mit dem sie mich über produktive und über schwierige Zeiten hinweg geleitet hat und mir so besonders im Hinblick auf die Anwendung linguistischer Forschung auf wirtschaftliche und gesellschaftliche Fragen zu einem großen Vorbild geworden ist. An dieser Stelle möchte ich auch allen danken, die die Arbeit mit mir diskutiert und mit kritischen Anmerkungen und Anregungen zu deren Verbesserung beigetragen haben. In der Kommunikation zwischen Vorständen und Mitarbeitern mittels des Mediums Chat hat die Deutsche Telekom AG in Deutschland eine Pionierrolle eingenommen. Den Verantwortlichen im Konzern danke ich für die großzügige Überlassung des Sprachdatenmaterials zur wissenschaftlichen Verwendung im Rahmen meiner Untersuchungen und die damit verbundene Unterstützung meiner Forschungsarbeit. Für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe „Europäische Schriften zur Textlinguistik“ danke ich der Herausgeberin, Prof. Dr. Kirsten Adamzik. Dem Lektor, Jürgen Freudl, danke ich für die stilistische und formale Abrundung des Buchs. Michael Reuter hat aufgrund seiner Wirtschaftskompetenz schon früh die Trends in der Mitarbeiterkommunikation aufgegriffen und vorausschauend den wirtschaftlichen Nutzen des Themas erkannt. Für die Unterstützung an entscheidender Stelle möchte ich ihm und Dr. Helmut Giger in besonderer Weise danken. Meinem Mann, Thomas Preiß, danke ich auf das herzlichste für seine Gesprächsbereitschaft über die wirtschaftlichen Aspekte meines Forschungsthemas und für seine Geduld während der langen Zeit, die ich mit der Arbeit befasst war. Heinrike Fetzer Bad Homburg, Ostern 2010 <?page no="9"?> Ein Überblick über das Buch Als Leser erlaubt es unser Zeitbudget oft nicht, ein Buch von der ersten bis zur letzten Seite zu lesen. Deshalb biete ich hier für „schnelle“ Leser, die sich selektiv über bestimmte Aspekte des Themas oder ausgewählte Untersuchungsergebnisse informieren wollen, einen Überblick über das Buch an. Dieser soll Orientierung geben, wie sich die Fragestellungen entwickelt haben und an welchen Stellen zentrale Ergebnisse zu finden sind. Das Buch besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil enthält die theoretischen Grundlagen. Darin geht es um eine Beschreibung der Rolle und der Funktionen unternehmensinterner Kommunikation für die Ereignisse, in denen sich organisatorischer Wandel für die Mitarbeiter auswirkt. In der Chat-Kommunikation zwischen den Mitarbeitern und der Unternehmensleitung treffen zwei Seiten aufeinander, die unterschiedliche Perspektiven, Einstellungen und Interessen haben, abhängig von ihren hierarchischen und arbeitsteiligen Positionen im Unternehmen. Die Mitarbeiter teilen der Unternehmensleitung ihre Wahrnehmungen mit, besonders bei Veränderungen, und stellen Fragen, um Ereignisse aus ihrem Unternehmensalltag in ihr Bild vom Unternehmen einzuordnen. Die Unternehmensleitung gibt an die Mitarbeiter Informationen über die Unternehmensziele weiter und vermittelt ihre Perspektive auf das Unternehmen. Soweit die Mitarbeiter diese Perspektive auf die Makrostruktur übernehmen und in ihrem Sprachhandeln mikrostrukturell umsetzen, entsteht damit eine Mikro- Makro-Brücke in der Chat-Kommunikation. Der zweite Teil ist der empirischen Untersuchung eines Sprachdatenkorpus gewidmet, das Chat-Kommunikation zwischen den Mitarbeitern und der Unternehmensleitung der Deutschen Telekom AG enthält. Das Sprachdatenkorpus umfasst 263 Chats aus den Jahren 2001 bis 2008 mit insgesamt 591 Stunden Chat- Kommunikation bzw. 51.285 Chat-Beiträgen. Den Gang der Untersuchung und die Ergebnisse habe ich entlang der folgenden Kausalkette dargestellt: Auf das Sprachhandeln der Chat-Teilnehmer wirkt organisatorischer Wandel ein. Dieser zielt heute in Unternehmen nicht länger nur auf die Optimierung bestehender wirtschaftlicher Verhältnisse zur Steigerung von Umsatz und Ertrag. Vielmehr erfordert die Verschiebung der globalen wirtschaftlichen Bedingungen ein strukturell verändertes Wirtschaften. Für die Beteiligten in Unternehmen treten in der Folge ihre Erfahrungswerte und ihre aktuellen Wahrnehmungen auseinander. Von dieser Situation ausgehend, habe ich zu zeigen versucht, wie sich Wandel auf die Kommunikation zwischen den Mitarbeitern und der Unternehmensleitung auswirkt. Ereignisse des organisatorischen Wandels haben auf alle Mitarbeiter im Unternehmen recht ähnliche Auswirkungen: Die Arbeitsabläufe sowie das berufliche Umfeld verändern sich und es werden neue Strukturen im <?page no="10"?> X Ein Überblick über das Buch eigenen Handeln umgesetzt. Daraus entstehen neue bzw. verstärkte Kommunikationsbedarfe bei den beteiligten Mitarbeitern, die entsprechend gleichförmig sind: Informationen im Chat platzieren und erhalten; Veränderungen mitgestalten, verbessern, verhindern und umsetzen sowie die Authentizität der Unternehmensleitung klären und überprüfen, d. h. sich versichern, dass die Unternehmensleitung persönlich chattet und sich glaubwürdig äußert. Das führt zu einem gehäuften Auftreten der folgenden Sprachhandlungen: einem Gesprächstyp Befragung (16.221 Ausprägungen), sowie den sprachlichen Handlungsformen Kritik (5.407), Misstrauen äußern (1.095), Vorschlag (836) und Perspektiven übernehmen (28). Diese Sprachhandlungen mit ihren Handlungsmustern und die ihnen zugrunde liegenden Werthaltungen der Chat-Teilnehmer bilden die zentralen Ergebnisse der empirischen Untersuchung. Damit liegt hier eine präzedenzlos neue Qualität der Unternehmenskommunikation zwischen den Mitarbeitern und der Unternehmensleitung vor. Diese entsteht durch das Zusammentreffen mehrerer Merkmale: der unvermittelte und synchrone Kommunikationsweg von hierarchisch unten nach oben, ein im Chat technisch bedingtes Äußerungsrecht der Mitarbeiter und die in der Organisation des Chats angelegte Bevorrechtigung der Mitarbeiter zu Fragen, sowie ihre Möglichkeit zur anonymen Chat-Teilnahme, aufgrund der Fragen gestellt werden, zu denen sich die Mitarbeiter sonst nicht äußern würden. Die beiden Teile des Buches umfassen zusammen sieben Kapitel. Aufgrund der vielen Kapitelverweise können benachbarte Themen bequem aufgefunden und Wechselwirkungen zwischen den Themen leicht nachvollzogen werden. Die empirisch gewonnenen Ergebnisse werden an Auszügen aus dem Sprachdatenmaterial beispielhaft veranschaulicht. Zunächst habe ich in Kapitel 1 festgelegt, was ich unter den zentralen Begriffen verstehe. Der Begriff Kommunikation wird mit Blick auf die reproduzierende vs. konstituierende und instrumentalisierte vs. vermittelnde Rolle der Kommunikation im organisatorischen Wandel verwendet; der Begriff Unternehmen ist über seine Rolle, auch im organisatorischen Wandel, und über die Unternehmensgrenzen definiert; der Begriff Chat-Kommunikation ist für die Zwecke der Untersuchung schwerpunktmäßig hinsichtlich der Förderung eines beteiligenden Führungsstils bei der Verwendung dieser Kommunikationsform in Unternehmen beschrieben. In Kapitel 2 ist dargestellt, wie die Beteiligten in Unternehmen ihre perspektivenabhängige Wahrnehmung des Unternehmensalltags im Vergleich mit ihren Erfahrungswerten kommunikativ ausdrücken. Dabei konnte die kommunikative Reproduktion der Unternehmensstruktur durch die Beteiligten als Ursache dafür ausgemacht werden, dass organisatorischer Wandel vermehrten Kommunikationsbedarf erzeugt. Es stellte sich ein ursächlicher Zusammenhang heraus zwischen dem mikrostrukturellen Handeln der Mitarbeiter in der Chat-Kommunikation und den Veränderungen ihrer Sichtweise auf die Unternehmensziele. Deshalb habe ich zunächst in Kapitel 3 die Faktoren <?page no="11"?> Ein Überblick über das Buch XI dargestellt, durch die unternehmensinterne Kommunikation zur Darstellung, Unterstützung und Beschleunigung des Wandels dient. Zwischen dem mikrostrukturellen Sprachhandeln der Chat-Teilnehmer und den makrostrukturell festgelegten Unternehmenszielen ließ sich eine Mikro-Makro-Brücke darstellen, anhand derer sich die Verschiebung von Werthaltungen beschreiben lässt und ihre Anpassung an das jeweilige aktuelle Unternehmensbild. Daraus ergeben sich für die empirische Untersuchung des zweiten Teils die Fragen, wie sich durch organisatorischen Wandel bedingte Ereignisse im Unternehmen in der Chat-Kommunikation des vorliegenden Sprachdatenkorpus niederschlagen und wie die Chat-Teilnehmer kommunikativ aufeinander einwirken. Im zweiten, empirischen Teil habe ich den Gang der Untersuchung beschrieben und die Ergebnisse dargestellt. Kapitel 4 beinhaltet die Vorstellung des Sprachdatenkorpus, die Vorgehensweise bei der Datenerhebung und der Analyse sowie die Darstellung der methodischen Verfahren. In der Absicht, die Kausalkette zu belegen, dass organisatorischer Wandel zu neuen Kommunikationsbedarfen führt und diese das vermehrte Auftreten spezifischer Sprachhandlungen erzeugen, habe ich die Untersuchung qualitativ angelegt und versucht, eine Generalisierung durch die Bildung von Kategorien zu erreichen (z. B. zu Einstellungen und Sprachhandlungen), die durch quantitative Ergebnisse unterstützt werden, z. B. zur Verteilung der Ausprägungen der sprachlichen Handlungsformen und zum Maß der Interaktivität. Anschließend habe ich die Formen von Anliegensklärungen weiterverfolgt, mit denen die Chat-Teilnehmer die Ereignisse organisatorischen Wandels kommunikativ bearbeiten. Daraus ergeben sich zwei Schwerpunkte der Untersuchung: Erstens die Untersuchung der perspektivenabhängigen Einstellungen und Interessen der Beteiligten als ihre Werthaltungen, die sie ihrem Sprachhandeln zugrunde legen. Diese Darstellung umfasst das Kapitel 5. Zweitens die Ermittlung der neuen Kommunikationsbedarfe, die aufgrund der Ereignisse des organisatorischen Wandels entstanden, und die Untersuchung des vermehrten Auftretens der ereignisbezogenen Sprachhandlungen, das daraus resultiert. Diese Darstellung schließt sich in Kapitel 6 an. In Kapitel 5 geht es darum, wie die Chat-Teilnehmer Werte vermitteln. Die Werthaltungen, die die Mitarbeiter ihrem Sprachhandeln zugrunde legen, verschieben sich mit den vertikal-hierarchischen und horizontal-arbeitsteiligen Positionierungen, die sie im Unternehmen haben sowie infolge organisatorischen Wandels. Die Verwendung des Mediums Chat schafft einen vertikalhierarchischen Informationsweg, über den die Mitarbeiter interaktionale Dominanz gegenüber der Unternehmensleitung ausüben können, aufgrund ihrer Anonymität und der Rezipientenkontrolle, die das Schreib- und Fragerecht im Chat ermöglicht. Diese Aushandlung von interaktionaler Dominanz und die unterschiedlichen Perspektiven führen dazu, dass die Mitarbeiter und die Unternehmensleitung in der Chat-Kommunikation dauerhaft unterschiedliche <?page no="12"?> XII Ein Überblick über das Buch Interaktionssysteme bilden und somit zwei Seiten darstellen. Dies wird auch in der Themenwahl der Beteiligten manifest. Während die Unternehmensleitung neue Organisationsstrukturen fokussiert, thematisieren die Mitarbeiter vorwiegend Umbrüche in den Strukturen, die durch organisatorischen Wandel bedingt sind. Das veranlasste mich, zu untersuchen, ob und inwieweit die Mitarbeiter die Perspektive der Unternehmensleitung übernehmen und sich damit den Unternehmenszielen anpassen, die die Unternehmensleitung vertritt. Mit der Sprachhandlung Perspektiven übernehmen konnten Fälle belegt werden, in denen Mitarbeiter die Perspektive der Unternehmensleitung auf das Unternehmen, die Unternehmensziele und den organisatorischen Wandel übernommen haben. In Kapitel 6 bin ich dem Zusammenhang nachgegangen zwischen neuen Kommunikationsbedarfen und gehäuft auftretenden Sprachhandlungen sowie deren Zwecken. Dazu habe ich die Sprachhandlungen Befragung, Kritik, Misstrauen äußern und Vorschlag und ihre sprachlichen Handlungsmuster dargestellt. Die Mitarbeiter nutzen diese Sprachhandlungen, um durch Wandel bedingte Veränderungen zu thematisieren, und sie versuchen damit auf die Unternehmensleitung einzuwirken. Das liegt an der Art der Beziehungskonstitution, die die Chat-Kommunikation darstellt. Diese führt dazu, dass die Sprachhandlung Kritik verstärkt auftritt und die Interaktion die Aushandlung interaktionaler Dominanz zeigt, indem einerseits die Mitarbeiter ihre Anonymität und ihr Äußerungsrecht nutzen, während andererseits das hierarchisch bedingte Wissen der Unternehmensleitung auch in der Chat-Kommunikation wirksam ist. Die qualitativ und quantitativ zentrale Sprachhandlung ist jedoch der Gesprächstyp Befragung. Die Bevorrechtigung der Mitarbeiter zu Fragen wird von der Unternehmensleitung durch die Organisation des Chats gefördert. Dazu gehört auch die Frage nach der Authentizität der Unternehmensleitung, die in der Sprachhandlung Misstrauen äußern thematisiert wird. Fragen ist eine Form der Teilhabe der Mitarbeiter am organisatorischen Wandel im Unternehmen. Diese drückt sich noch stärker in der Sprachhandlung Vorschlag aus, als Anspruch und als Chance der Mitarbeiter, organisatorischen Wandel mitzugestalten. Auch Auswirkungen der Chat-Kommunikation auf das Unternehmen sind im Chat kommunikativ sichtbar. Die Durchführung der Chat-Kommunikation begünstigt flache Hierarchien, indem die hierarchische Informationskaskade im Unternehmensalltag mit der Chat-Kommunikation teilweise umgangen wird, und fördert die Bildung sozialer Netzwerke, die bisweilen über einen Chat hinaus fortdauern. Mit Kapitel 7 ist dem Buch ein nach Ergebnissen geordnetes Fazit beigefügt, an das sich ein Ausblick anschließt zur wissenschaftlichen Weiterentwicklung der Ergebnisse sowie Überlegungen zur Anwendung der Ergebnisse auf die wirtschaftliche Praxis. Für die sprachwissenschaftliche Forschung würde die Untersuchung von Wechselwirkungen zwischen der Chat-Kommunikation und <?page no="13"?> Ein Überblick über das Buch XIII anderen Kommunikationsformen im Unternehmen interessieren. Zur weiteren Entwicklung der Frage/ Antwort-Sequenz sollten die Zuordnung der Beiträge der Unternehmensleitung zu denen der Mitarbeiter beibehalten und für längere Sequenzen erweitert werden. Mit Blick auf Unternehmen hat sich die Chat- Kommunikation als geeignete Kommunikationsform herausgestellt, um die Unternehmensleitung in ihrer Leitbildrolle zu präsentieren und den Mitarbeitern das Unternehmensbild zu vermitteln. Zur Förderung dieser beiden Effekte empfehle ich für Unternehmen die Schaffung bestmöglicher Authentizität der Unternehmensleitung und eine nachvollziehbare Organisation der Chat-Kommunikation. <?page no="15"?> Inhaltsverzeichnis Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 I. Theoretische Grundlagen: Die Rolle der unternehmensinternen Kommunikation für organisatorischen Wandel. . . . . . . . . . . . . . . . 13 1 Theoretische Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.1 Unternehmen und Organisation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.2 Kommunikation in Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 1.3 Chat-Kommunikation und andere computervermittelte Kommunikation in Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 2 Die Darstellung und Reproduktion der Organisation im Kommunikationsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 2.1 Reproduktionssituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 2.1.1 Unternehmensalltag und Realität der Organisation . . . . . . . . . . . . . 64 2.1.2 Wahrnehmungen der Organisation: Einstellungen und Perspektiven. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 2.1.3 Reproduktion in Kommunikationssituationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 2.2 Spezifische kommunikative Rahmenbedingungen des Chat . . . . . . 77 3 Die Darstellung und Unterstützung organisatorischen Wandels in der Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 3.1 Beschreibungen organisatorischen Wandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 3.2 Kommunikation des Wandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 3.2.1 Das Bild des Kommunikators . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 3.2.2 Die Vermittlung des Unternehmensbilds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 3.2.3 Mikrostrukturelle Impulse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 3.3 Mögliche Auswirkungen der Kommunikation auf den Prozess des Wandels in Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 3.3.1 Veränderung von Einstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 3.3.2 Das Verhältnis von sprachlichem Handeln und Veränderungen im Unternehmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 3.3.3 Die virtuelle Organisation: Beschleunigung des Wandels. . . . . . . . . 96 <?page no="16"?> 2 Inhaltsverzeichnis II. Empirischer Teil: Unterstützung organisatorischen Wandels im Chat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 4 Datenerhebung und Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 4.1 Die Erhebung der Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 4.2 Beschreibung des Datenkorpus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 4.2.1 Datenmaterial, Chat-Teilnehmer und Organisation . . . . . . . . . . . . . 107 4.2.2 Technische Situation und technische Effekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 4.2.3 Vergleichbarkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 4.3 Analyseschritte und methodische Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 4.4 Charakterisierender Überblick über die Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 5 Die Vermittlung des Unternehmensbilds im Chat. . . . . . . . . . . . . . 147 5.1 Wahrnehmung von Organisationsformen im Chat . . . . . . . . . . . . . . 148 5.1.1 Ein Beispiel für Wahrnehmung der Organisation: „Eine der schwersten Fragen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 5.1.2 Wahrnehmungen organisatorischer Prozesse durch die Chat-Teilnehmer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 5.2 Die Interpretation der Unternehmenswirklichkeit im Chat . . . . . . . 160 5.2.1 Dimensionen der Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 5.2.2 Interpretationen des organisatorischen Wandels . . . . . . . . . . . . . . . . 164 5.3 Positionierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 5.3.1 Das Selbstbild der Mitarbeiter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 5.3.1.1 Selbstpräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 5.3.1.2 Thematisierung von Einstellungen und Perspektiven . . . . . . . . . . . . 178 5.3.2 Soziale Interaktionssysteme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 5.3.2.1 Dimensionen der Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 5.3.2.2 Bildung von zwei Seiten im Chat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 5.4 Exkurs: Auswirkungen politischer und rechtlicher Rahmenbedingungen auf die Chat-Kommunikation . . . . . . . . . . . . 194 5.5 Vermittlung von Wahrnehmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 5.5.1 Vermittlung von Einstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 5.5.2 Die Sprachhandlung Perspektiven übernehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 6 Die Teilhabe der Mitarbeiter: Organisatorischen Wandel erleben, annehmen und mitgestalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 6.1 Thematisierung des Wandels im Chat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 6.1.1 Einstellungen und Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 6.1.2 Die Sprachhandlung Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 6.1.2.1 Ursachen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 <?page no="17"?> Inhaltsverzeichnis 3 6.1.2.2 Musterbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 6.1.2.3 Kritik zu Umbrüchen in den Unternehmensstrukturen . . . . . . . . . . 247 6.2 Dominanz und Deutungshoheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 6.2.1 Interaktionsbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 6.2.1.1 Verhältnis von Dominanz, Deutungshoheit und Macht . . . . . . . . . . 255 6.2.1.2 Beteiligungsrollen: Aufgaben und Rechte der Beteiligung . . . . . . . . 260 6.2.1.3 Sprecher-Hörer-Verhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 6.2.1.4 Situatives Machtverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 6.2.2 Sprechakte, Gesprächsphasen und Gesprächsorganisation . . . . . . . 265 6.2.2.1 Gesprächseröffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 6.2.2.2 Ermuntern zur Chat-Teilnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 6.2.2.3 Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 6.2.2.4 Vorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 6.2.2.5 Gesprächsbeendigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 6.3 Bevorrechtigung in Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 6.3.1 Der Gesprächstyp Befragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 6.3.2 Die ambivalente Macht durch Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 6.3.2.1 Verteilung von Fragerecht und Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 6.3.2.2 Das Fragerecht in der Entwicklung der Chat-Organisation . . . . . . . 295 6.3.2.3 Thematisierung in Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 6.3.3 Die Frage nach Authentizität: Die Sprachhandlung Misstrauen äußern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 6.4 Organisatorischen Wandel mitgestalten: Die Sprachhandlung Vorschlag. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 6.5 Die Auswirkungen des Chats auf das Unternehmen . . . . . . . . . . . . . 333 7 Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 7.1 Die Verständigung der Chat-Teilnehmer über das Unternehmensbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 7.2 Die sprachlichen Handlungsformen in der Chat-Kommunikation als Ausdruck der Einstellungen und Perspektiven der Teilnehmer 346 7.3 Der Chat als Messpunkt für organisatorischen Wandel . . . . . . . . . . 352 7.4 Ausblick und Anwendbarkeit der Ergebnisse in der Praxis . . . . . . . 354 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 <?page no="18"?> Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Veränderungen durch organisatorischen Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Abb. 2: Das erweiterte Schreibrecht der Unternehmensleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Abb. 3: Strukturen und Brüche innerhalb der Dimensionen der Organisation . . . . . . . 68 Abb. 4: Positionierungen und Perspektiven der Mitarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Abb. 5: Sprachliche Manifestation der Wahrnehmung struktureller Umbrüche . . . . . . 71 Abb. 6: Die Mikro-Makro-Brücke in der unternehmensinternen Chat- Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Abb. 7: Übersicht über das erhobene Datenmaterial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Abb. 8: Übersicht über das aufbereitete Datenmaterial - Verteilung der Chats . . . . . . . 108 Abb. 9: Übersicht über das aufbereitete Datenmaterial - Verteilung der Beiträge . . . . . 108 Abb.-10: Typisierte Bildschirmdarstellung der Chat-Typen 1 und 2. . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Abb.-11: Chat-Typ 1 - fortlaufende Beiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Abb.-12: Chat-Merkmal A - verlängerte Chat-Dauer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Abb.-13: Chat-Typ 2 - zugeordnete Beiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Abb.-14: Chat-Merkmal B - asynchrone Beantwortung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Abb.-15: Chat-Merkmal C - moderierter Chat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Abb.-16: Chat-Merkmal D - themenbezogener Chat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Abb.-17: Quantitative Verteilung der Chat-Typen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Abb.-18: Quantitative Verteilung der Chat-Merkmale im Chat-Typ 1 . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Abb.-19: Quantitative Verteilung der Chat-Merkmale im Chat-Typ 2 . . . . . . . . . . . . . . . . 124 Abb.-20: Phasen und Auswirkungen der Chat-Organisation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Abb.-21: Typisierte Darstellung einer technischen Infrastruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Abb.-22: Übersicht über die Verteilung der Beiträge in Sequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Abb.-23: Übersicht über die sprachlichen Handlungsformen im Datenkorpus . . . . . . . . 143 Abb.-24: Wahrnehmung und Thematisierung der Organisationsstrukturen . . . . . . . . . . 154 Abb.-25: Begriffsbildungen der Mitarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Abb.-26: Konvergenz und Divergenz der Perspektiven im Beispiel „Technologieführerschaft“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 Abb.-27: Dimensionen der Interaktion im Chat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Abb.-28: Kategorien der Sprachhandlungen zur Vermittlung von Einstellungen . . . . . . . 198 Abb.-29: Das sprachliche Handlungsmuster Perspektiven übernehmen . . . . . . . . . . . . . . . 210 Abb.-30: Die Varianten der Sprachhandlung Kritik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Abb.-31: Das sprachliche Handlungsmuster Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Abb.-32: Gesprächseröffnungen und -beendigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 Abb.-33: Der Gesprächstyp Befragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Abb.-34: Ablaufstruktur des Beispiels „Eine der schwersten Fragen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Abb.-35: Entwicklung der Bevorrechtigung zu Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 Abb.-36: Die thematischen Formen der Sprachhandlung Misstrauen äußern . . . . . . . . . . 305 Abb.-37: Das sprachliche Handlungsmuster Misstrauen äußern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 Abb.-38: Das sprachliche Handlungsmuster Vorschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Abb.-39: Die thematischen Formen der Sprachhandlung Vorschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 Abb.-40: Überblick über die Kommunikationsbedarfe und die vermehrt auftretenden Sprachhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 <?page no="19"?> Einleitung Seit den frühen neunziger Jahren, einhergehend mit dem Beginn der technologischen Dienstleistungswirtschaft, die in weiten Teilen der Gesellschaft unter dem Begriff New Economy 1 Aufmerksamkeit fand, hat die Ausbreitung der elektronischen Kommunikationsmedien zu einem globalen Massenmarkt umwälzende wirtschaftliche Veränderungen mit sich gebracht, auf die Unternehmen mit organisatorischem Wandel reagieren. Die Verwendung elektronisch unterstützter Kommunikation zieht eine noch immer rasant wachsende Technisierung der Produkte nach sich und forciert die Globalisierung der wirtschaftlichen Märkte. Der zunehmende Anteil, den Dienstleistungen am Wirtschaftsaufkommen verzeichnen, ermöglicht die Bildung einer neuartigen, elektronischen Produktwelt. Das führte und führt noch weiter dazu, dass kommunikatives Handeln in der Wirtschaft stetig mehr Bedeutung zugeschrieben wird und der Anteil der kommunikativen Aufgaben an den Arbeitsinhalten zunimmt. Kommunikation, besonders elektronisch unterstützte Kommunikation, ist heute weltweit ein Schlüsselfaktor im Wettbewerb zwischen Wirtschaftsunternehmen. In der Außendarstellung, gegenüber Geschäftspartnern, Kunden und der Öffentlichkeit, hat Kommunikation unternehmensstrategische Bedeutung bei der Erschließung neuer Geschäftsfelder. Unternehmensintern ist die Kommunikation mit und zwischen den Mitarbeitern immer mehr ein erfolgskritischer Faktor, der über die Flexibilität des Unternehmens in der Anpassung an die Märkte, in denen es agiert, entscheidet. Die zunehmende Bedeutung von Kommunikation in der Wirtschaft hat in der linguistischen wie wirtschaftswissenschaftlichen Forschung zu verstärkter Beschäftigung mit Wirtschaftskommunikation geführt und vielfach zu einer höheren Einschätzung ihres Potenzials, vor allem in den Wirtschaftswissenschaften. In den verschiedenen Wissenschaften sind den Forschungsarbeiten zwar ganz unterschiedliche Definitionen des Begriffs Kommunikation zugrunde gelegt. Dennoch richtet sich das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse sowohl in der linguistischen, soziologischen wie auch in der betriebswirtschaftlichen Forschung auf die wirtschaftlich relevanten Faktoren der Kommunikation. Die Sprachwissenschaft und die Gesprächsforschung konzentrieren sich dabei auf die Anwendbarkeit ihrer Forschungsergebnisse in der wirtschaftlichen Praxis. Die Wirtschaftswissenschaften haben in den achtziger Jahren einen Paradigmenwechsel vom statischen zum funktionalen Organisationsbegriff vollzogen, 1 Zur Definition des Begriffs New Economy finden sich unterschiedliche Ansätze im Sammelband von Schäfer (2003). Übereinstimmend wird mit New Economy die wirtschaftliche Phase bezeichnet, die den Übergang zur Dienstleistungswirtschaft mit Schwerpunkten auf dem informationstechnologischen und dem biotechnologischen Sektor vollzieht. <?page no="20"?> 6 Einleitung der nun auch auf die Relevanz von Kommunikation für Unternehmen abhebt. 2 Auch in der Soziologie findet die Erforschung der Kommunikation in Unternehmen vermehrt Eingang in Forschungsarbeiten. 3 Die unter dem Schlagwort Globalisierung ausgelösten Veränderungen der wirtschaftlichen Situation vieler Unternehmen beziehen sich tiefgreifend auf alle Unternehmensprozesse, was zu Umwälzungen in den Unternehmensstrukturen führt. Der fortgesetzte organisatorische Wandel und die Geschwindigkeit, mit der sich Unternehmen wandeln, sind bestimmende Faktoren im Wettbewerb. Die Vermittlung des Wandels ist Aufgabe der Unternehmensführung und wird im Wesentlichen mit kommunikativen Mitteln umgesetzt. Während Organisationsstrukturen in kürzester Zeit auf neue Ziele ausgerichtet werden können, ist das Handeln der beteiligten Mitarbeiter vom Umdenken des einzelnen abhängig. Wandel wird nur umgesetzt, weil ihn die Menschen mittragen. 4 Als kommunikativer Prozess funktioniert Wandel erst dann, wenn Mitarbeiter die neuen Strukturen und Funktionen in ihrem sprachlichen und außersprachlichen Handeln reproduzieren. Es ist zugleich eine Chance und eine Herausforderung für die sprachwissenschaftliche Forschung, Ergebnisse für die wirtschaftliche Nutzung zur Verfügung zu stellen, die sie auch in Diskurse mit Unternehmensführungen einbringen kann. Vielfach findet sich in der sprachwissenschaftlichen Fachliteratur Bedauern über Berührungsängste zwischen Betriebswirtschaft und Sprachwissenschaft, zwischen Sprachwissenschaftlern und Entscheidern in Unternehmen. 5 Andererseits werden aber auch gezielt Möglichkeiten zur Einbringung sprachwissenschaftlicher Forschungsansätze in die Erforschung von Organisationen gesucht (Menz/ Müller 2008, Becker-Mrotzek/ Fiehler 2002, Brünner 2002). Bislang sind noch wenige sprachwissenschaftliche Forschungsarbeiten zu organisatorischem Wandel und seiner Versprachlichung erschienen. Eine frühe Darstellung aus organisationstheoretischer Sicht geben Kieser/ Hegele (1998). 2 Der Paradigmenwechsel ist bei Kieser (2002) ausführlich dargestellt und einen Überblick über den Einfluss der elektronischen Kommunikationsmedien auf die wirtschaftliche Entwicklung bietet der von Picot (2005) herausgegebene Sammelband. 3 Die neueren Ergebnisse der sozialpsychologischen Chat-Forschung fasst Döring (2002) zusammen. 4 Der bei Becker-Mrotzek/ Fiehler (2002) erweckte Eindruck, es gebe für die Mitarbeiter Alternativen, ist irreführend, da die Mitarbeiter in Unternehmen den Wandel mittragen müssen, um als Arbeitnehmer gefragt zu bleiben. 5 Einen Überblick über das vielfältige Bedauern über Berührungsängste zwischen sprachwissenschaftlichen Forschern und Anwendern in der Wirtschaft gibt Kleinberger Günther (2003, 33 f.). An anderer Stelle klingt eine mögliche Ursache an: „Die Zielsetzung und das Erkenntnisinteresse von Theorie und Praxis, von Wissenschaft und Berufsalltag divergieren indes leider nach wie vor derart, dass es problematisch ist, beides unter einen Hut zu bringen“ (Kleinberger Günther 2003, 122). Brünner beschreibt ein „traditionell […] eher distanziertes Verhältnis“ und begründet fehlende empirische Korpora mit „Abschottung“ auf beiden Seiten (Brünner 2000, 1). <?page no="21"?> Einleitung 7 Indes scheint das Thema nun vermehrt bearbeitet zu werden. In der neueren Forschung gibt es inzwischen ausführliche linguistische Arbeiten zu organisatorischem Wandel, insbesondere Vacek (2009 und 2008), Sachtleber (2008), Wasson (2003) und Habscheid (2003), aber auch Müller (2006) und Kleinberger Günther (2003). Es stehen auch einige empirische Untersuchungen zur Verfügung, die mikrostrukturelle und makrostrukturelle Betrachtungen zur Kommunikation in Unternehmen vornehmen und Zusammenhänge aufzeigen (Wasson 2008, Schmitt/ Heidtmann 2002, Brünner 2002, Kleinberger-Günther/ Thimm 2000) und die unterschiedlichen Wissensstrukturen der Beteiligten einbeziehen (Thörle 2008, Menz 2000, Fraas 1994), sowie ein sozialwissenschaftlicher Erklärungsvorschlag zum Zusammenhang von Mikroebene und Makroebene für die Kommunikation im Internet (Welker 2002, 127 ff.). Für die vorliegende Arbeit wurde ein Sprachdatenkorpus verwendet, das Chat-Kommunikation beinhaltet, die zwischen den Mitarbeitern und dem Vorstand sowie weiteren Mitgliedern der Unternehmensleitung in zwei Unternehmenssparten der Deutschen Telekom AG, Bonn, geführt wurde. Die Chats 6 wurden bislang über einen Zeitraum von acht Jahren, von 2001 bis 2009, kontinuierlich organisiert und werden weiter fortgesetzt. Das Sprachdatenkorpus umfasst 263 Chats aus den Jahren 2001 bis 2008 mit einem Gesamtvolumen von fast sechshundert Stunden. Für die Erhebung des Datenkorpus hat mir die Deutsche Telekom AG das Datenmaterial der in zwei Unternehmenssparten durchgeführten Chat-Kommunikation zur Nutzung für die vorliegende Arbeit überlassen. Das Unternehmen veranstaltet im Intranet als unternehmensintern öffentlichem Raum Chat-Kommunikation zwischen Mitarbeitern und dem Vorstand sowie weiteren Mitgliedern der Unternehmensleitung, und in einigen Chats beantworten eigens hinzugezogene Experten spezifische fachliche Fragen. Der Anlass zum Einsatz von Chat-Kommunikation und ihre Ausbreitung hängen mit den unternehmerischen Aktivitäten der Deutschen Telekom zusammen. Nach weitreichenden Zukäufen anderer Unternehmen und Unternehmensteile startete im Dezember 2001 in einer Unternehmenssparte der erste Chat zwischen dem Vorstand und Vorsitzenden der Geschäftsführung, weiteren Mitgliedern der Unternehmensleitung und interessierten Mitarbeitern. Weitere Unternehmenseinheiten griffen diese Innovation auf, veranstalteten ebenfalls Chats und die Teilnehmerzahlen stiegen kontinuierlich an. Damit breitete sich die Chat-Kommunikation horizontal und vertikal im Unternehmen aus. Die Chat-Kommunikation eröffnet allen Beteiligten Gesprächsmöglichkeiten, die im Unternehmensalltag sonst nicht gegeben sind. Die Chat-Kommunikation zwischen den Mitarbeitern und der Unternehmensleitung ist als Kom- 6 Die Verwendung des Begriffs Chat in der vorliegenden Untersuchung ist in Kap.- 1.3. beschrieben. <?page no="22"?> 8 Einleitung munikationsform in der deutschen Unternehmenslandschaft, besonders als dauerhafte Einrichtung, einzigartig. Es gibt m.W. nur zwei weitere Unternehmen, die kurzzeitig Chats abgehalten, diese jedoch inzwischen wieder eingestellt haben. In einer quantitativen Untersuchung über den Einsatz eines Intranets in Unternehmen stellt Hoffmann „Angebote der Mitarbeiterkommunikation als häufigste Einsatzfelder“ (Hoffmann 2001, 159) fest, merkt aber auch an, „dass die Kommunikation im Intranet nur zu einem geringen Anteil zwischen Geschäftsleitung und Mitarbeitern geführt wird“ (ebd., 225). Andererseits ist fast die Hälfte der Befragten der Meinung, die Kommunikation zwischen Geschäftsleitung und Mitarbeitern sei im Intranet intensiviert (ebd., 227). Die allgemeine Fragestellung der Arbeit ist, wie sich die Ereignisse im Unternehmen in der Chat-Kommunikation niederschlagen. Das betrifft im Wesentlichen die Veränderungen im Unternehmen, die durch organisatorischen Wandel bedingt sind, da in diesem Zusammenhang vermehrt Ereignisse auftreten, die Kommunikationsbedarf auslösen. In der weiteren Spezifizierung ist zu fragen, wie das Unternehmen und die Ereignisse des Unternehmensalltags kommunikativ bearbeitet werden, wobei zwischen den Sichtweisen der Mitarbeiter und der Unternehmensleitung zu unterscheiden ist. Hinsichtlich des Sprachhandelns der Mitarbeiter soll untersucht werden, mit welchen Sprachhandlungen sie versuchen, sich mit der Unternehmensleitung über das Unternehmensbild zu verständigen, inwieweit sie eigene Einstellungen ihrem Sprachhandeln zugrunde legen und inwiefern diese von der Position abhängen, die ein Mitarbeiter im Unternehmen hat. In diesem Zusammenhang ist auch zu fragen, wie sich die Möglichkeit zum anonymen Chatten und das gleiche Recht aller Chat-Teilnehmer sich zu äußern, als Besonderheiten der Chat-Kommunikation, die in der Kommunikation im Unternehmensalltag sonst nicht gegeben sind, auf die Ausübung interaktionaler Dominanz auswirken. Das Sprachhandeln der Unternehmensleitung untersuche ich mit Blick auf die Versuche, sich als Vertreter des Unternehmens adäquat darzustellen und den Mitarbeitern die Sichtweise zu vermitteln, die die Unternehmensleitung auf das Unternehmen und Ereignisse hat, die das Unternehmen betreffen. Weiter gehe ich der Frage nach, was Beteiligte in Unternehmen unter Wandel verstehen und wie Ereignisse organisatorischen Wandels in Unternehmen kommunikativ bearbeitet werden. Für die praktische Nutzung solcher Erkenntnisse ist es auch unabdingbar, zu erfahren, ob und inwieweit Kommunikation ein Messpunkt für den Grad der Umsetzung des Wandels im sprachlichen und außersprachlichen Handeln der Beteiligten ist. Daraus folgt die Frage, welche Möglichkeiten bestehen, mit Hilfe der Unternehmenskommunikation den „Wandel in den Köpfen“ zu fördern. In der vorliegenden Arbeit soll der Versuch unternommen werden, aus der Blickrichtung der Linguistik die Rolle der Chat-Kommunikation für die Kommunikation zwischen den Mitarbeitern und der Unternehmensführung zu ana- <?page no="23"?> Einleitung 9 lysieren, um damit einen Beitrag zur aktuellen Diskussion der Bedeutung der Wirtschaftskommunikation für wirtschaftlichen Wandel zu leisten. Dazu wird methodisch eine Hybridlösung verfolgt, und es soll mit den Methoden der linguistischen Gesprächsforschung und der Textanalyse eine Beschreibung der Schlüsselrolle geliefert werden, die Mitarbeiterkommunikation im Zuge makrostruktureller Veränderungen im Unternehmen innehat. Sie bietet Ergebnisse (Kap.-5 und 6), inwieweit und in welcher Weise makrostrukturelle Veränderungen zwischen der Unternehmensleitung und den Mitarbeitern thematisiert werden. Die Gruppe der Vorstände, Geschäftsführer und leitenden Angestellten, die am vorliegenden Datenkorpus teilgenommen haben, fasse ich unter dem Begriff Unternehmensleitung zusammen, während ich allgemein für die Vorstände und Geschäftsführer als Organe eines Unternehmens den Begriff Unternehmensführung verwende. Als Gesamtnutzen für die sprachwissenschaftliche Forschung soll die vorliegende Arbeit einen Beitrag zur empirischen Erschließung unternehmensinterner Kommunikation, besonders der Chat-Kommunikation, leisten. Die Forschungsliteratur zur Gesprächsforschung thematisiert häufig einen Mangel an quantitativen empirischen Untersuchungsergebnissen aus unternehmensinterner Kommunikation (Brünner 2000, 35, Kleinberger Günther 2003, 28 f.). Da der Bedarf vorhanden ist, sind die im Wesentlichen qualitativen Ergebnisse durch quantitative Analysen ergänzt, die aufgrund des Umfangs des Datenkorpus aussagekräftig repräsentiert sind. Die Arbeit ist in zwei Teile gegliedert, einen theoretischen und einen empirischen Teil. Der erste Teil umfasst theoretische und methodische Überlegungen zur Kommunikation in Wirtschaftsunternehmen, mit dem Schwerpunkt auf der Chat-Kommunikation in der Funktion der Mitarbeiterkommunikation. Dabei wird die Rolle der Kommunikation für Unternehmen, besonders in Phasen des organisatorischen Wandels, dargestellt. Auf der Grundlage dieser theoretischen Ausführungen werden im zweiten Teil das eingangs vorgestellte Sprachdatenkorpus analysiert und die sprachlichen Handlungsformen (Gesprächstyp Befragung in Kap.- 6.3.1., Sprachhandlungen Kritik in Kap.- 6.1.2., Misstrauen äußern in Kap.- 6.3.3., Vorschlag in Kap.- 6.4. und Perspektiven übernehmen in Kap.-5.5.2.) mit ihren sprachlichen Handlungsmustern herausgearbeitet. Die Ergebnisse sollen in den Kontext der sprachwissenschaftlichen Forschung eingeordnet und transdisziplinäre Berührungspunkte zur wirtschaftswissenschaftlichen Organisationstheorie sowie organisationsrelevante Aspekte der Soziologie dazu in Beziehung gesetzt werden. Im Hinblick auf organisatorischen Wandel wird die Rolle der Chat-Kommunikation für die Wahrnehmung und Umsetzung des Wandels und ihre beschleunigende Wirkung auf Prozesse des Wandels betrachtet. Der empirische Teil folgt dem übergeordneten Erkenntnisinteresse, inwieweit organisatorischer Wandel in der Kommunikation zwischen den Mit- <?page no="24"?> 10 Einleitung arbeitern und der Unternehmensleitung thematisiert wird. Dazu wird der Zusammenhang zwischen der im ersten Teil situationsübergreifend dargestellten Makrostruktur und der anschließend an die Erläuterungen der Datenerhebung und des methodischen Vorgehens analysierten mikrostrukturellen Elemente des Datenmaterials für die gegebene Problemstellung belegt. Die vorliegende Arbeit hat den im Folgenden dargestellten Aufbau. Im ersten Kapitel werden die zentral verwendeten Begriffe Unternehmen, Kommunikation und Chat diskutiert und begrifflich abgegrenzt. Dazu werden begriffliche Aspekte aus den Wirtschaftswissenschaften, der Soziologie und der Organisationswissenschaft einbezogen. Die Chat-Kommunikation wird in die Begriffsdimensionen der Unternehmenskommunikation eingeordnet und der Bezug zu den wirtschaftswissenschaftlichen Begriffen Mitarbeiterkommunikation und Organisation sowie zu der in Unternehmen gebräuchlichen Bezeichnung Wandel hergestellt. Dabei werden einige transdisziplinäre Aspekte aus den vielen Berührungspunkten mit anderen Disziplinen, vorrangig relevante Aspekte linguistischer Vorläufer der Forschungen zur Wirtschaftskommunikation (Rhetorik, Fachsprachenforschung), Grenzbereiche zur Chat-Kommunikation (Elektronische Kommunikation, Neue Medien) und interdisziplinäre Forschungsrichtungen (Organisationstheorie, Unternehmenskommunikation, Wissenskommunikation), herausgestellt. Eine theoretische Betrachtung der Rolle der Kommunikation für Unternehmen ist Gegenstand des zweiten Kapitels. Von der Grundannahme ausgehend, dass die Organisation in der Kommunikation der Beteiligten des Unternehmens unterschiedlich dargestellt und reproduziert wird, werden die Wahrnehmungen der Beteiligten in verschiedenen Reproduktionssituationen des Unternehmensalltags diskutiert. Anschließend geht es um die kommunikativen Rahmenbedingungen innerhalb des Kommunikationsprozesses, die für die Chat-Kommunikation spezifisch sind. Im dritten Kapitel folgen theoretische Überlegungen zu Funktionen und Auswirkungen des Wandels auf das Sprachhandeln der Beteiligten in Unternehmen. Es wird die Bedeutung des unternehmensinternen Chats für die Umsetzung organisatorischen Wandels und seine beschleunigende Wirkung auf unternehmensinterne Prozesse herausgearbeitet. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf den möglichen Auswirkungen der Kommunikation für die Einstellungen und Perspektiven der Wahrnehmung neuer Strukturen im Unternehmen. Anschließend an die theoretischen Ausführungen beginnt mit dem vierten Kapitel der empirische Teil. Zunächst werden die im Rahmen der Datenerhebung verwendete Methode und die angewandten Verfahren zur Analyse vorgestellt. Die Beschreibung des Datenkorpus umfasst die Organisation, die Chat-Teilnehmer und das Material sowie einen Überblick über die technische Situation und die technischen Effekte. Schließlich wird die Vergleichbarkeit des <?page no="25"?> Einleitung 11 recht heterogenen Datenmaterials diskutiert und die für die Untersuchung verwendbaren Daten abgegrenzt. Die empirischen Analysen, die in den Kapiteln 5 und 6 vorgenommen werden, schließen an die theoretischen Überlegungen der Kapitel 2 und 3 an. In Kapitel 5 wird im Datenkorpus nachvollzogen, wie sich mit der Chat- Kommunikation das Unternehmensbild der Mitarbeiter verändert und welchen Einfluss das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Perspektiven und Wahrnehmungen darauf hat. Dabei spielen im Wesentlichen die Positionierungen der Chat-Teilnehmer, die Grundlage für Perspektiven und Interpretationen sind und gestaltend auf die sozialen Interaktionssysteme einwirken, eine Rolle. Es wird gezeigt, wie sich die Chat-Teilnehmer gegenseitig beeinflussen, und die Sprachhandlung Perspektiven übernehmen herausgearbeitet. Das sechste Kapitel beinhaltet empirische Analysen, inwieweit die erfolgreiche Umsetzung organisatorischen Wandels im Chat kommunikativ sichtbar ist. Dazu wird zunächst der Frage nachgegangen, wie die Chat-Teilnehmer Wandel erleben und wie sich das in den Sprachhandlungen Kritik, Befragung und Misstrauen äußern ausdrückt. Da sich in der Chat-Kommunikation vertikal-hierarchisch festgelegtes Sprachhandeln neu aushandeln lässt, werden die Interaktion und die Sprechakte, Gesprächsphasen und -organisation unter dem Aspekt der Dominanz und Deutungshoheit analysiert. Die Möglichkeit, in der unternehmensinternen Chat-Kommunikation organisatorischen Wandel mitzugestalten, zeigt sich an der kommunikativen Handlung Vorschlag. Abschließend werden die Auswirkungen der Chat-Kommunikation auf das Unternehmen, soweit sie im Chat kommunikativ sichtbar werden, dargestellt. Die theoretischen und empirischen Ergebnisse werden schließlich in einem Rückblick zusammengefasst. In diesem Zusammenhang werden auch die in den Kapiteln 5 und 6 im Einzelnen gegebenen Handlungsempfehlungen noch einmal in den Gesamtzusammenhang gestellt und ein Ausblick auf mögliche weitere Vorgehensweisen in der unternehmensinternen Chat-Kommunikation gegeben. Die Arbeit richtet sich gleichermaßen an anwendungsorientierte Forscher wie an Unternehmensführungen, die sich mit den sprachlichen Funktionen der Unternehmenskommunikation befassen. Das wesentliche Anliegen ist, die dargestellten sprachwissenschaftlichen Forschungsergebnisse und Ergebnisse aus der Erfahrung in Unternehmen für Leser beider Zielgruppen zur Nutzung zur Verfügung zu stellen. <?page no="27"?> I. Theoretische Grundlagen: Die Rolle der unternehmensinternen Kommunikation für organisatorischen Wandel Diskursivität gehört zu den wesentlichen Merkmalen, die Organisationsprozesse in Unternehmen charakterisieren. Deshalb nimmt die unternehmensinterne Kommunikation bei allen Abläufen und Veränderungen in Unternehmen eine Schlüsselrolle ein, indem die Beteiligten eines Unternehmens Strukturen und Planungen situativ im Diskurs vermitteln oder untereinander aushandeln. Organisationen beruhen auf alltäglichen sozialen Praktiken der symbolischen Interaktion/ Kommunikation, die nur partiell rationaler Planung „von außen“ unterliegen und die in jedem Fall an die immer wieder situativ zu leistende sinnhafte Strukturierung der Ereignisse durch Akteure gebunden sind; in diesem Sinne basieren Organisationen auf symbolischen, insbesondere auch sprachlichen Diskursen. (Habscheid 2003, 123) Die Begrenztheit der Steuerungsmöglichkeiten und die Unabdingbarkeit, Planungen diskursiv auszuhandeln, ist darin begründet, dass die Beteiligten das Unternehmen unterschiedlich wahrnehmen und, abhängig von ihrer Position im Unternehmen und ihrer daraus resultierenden Perspektive auf die Ereignisse, situativ ein eigenes Bild vom Unternehmen entwickeln, an dem sie ihr Sprachhandeln ausrichten. Werden in Unternehmen Kommunikationsformen wie beispielsweise die Chat-Kommunikation neu eingeführt, für die Konventionen noch nicht festgelegt sind, müssen die Beteiligten auch die Konventionen, nach denen sie kommunizieren, gemeinsam aushandeln. Die Menschen, die kommunizieren, haben nämlich selber eine Vorstellung davon, wie Kommunikation funktioniert. Diese Vorstellung beeinflußt aber in erheblichem Maße, wie kommuniziert wird. So beispielsweise, wenn es darum geht herauszufinden, ob ich als Sprecher beim Hörer mein Ziel erreicht habe. (Lenke/ Lutz/ Sprenger 1995, 67) Deshalb könnte für die weitere Entwicklung der Chat-Kommunikation in Unternehmen die Frage nach der Durchsetzbarkeit von Konventionen, die den Diskurs regeln, bedeutsam sein. Wie ausdifferenziert dürfen „Konversationsregularien“ für Chat-Anwendungen in institutionalisierten Kontexten […] sein, damit sie von den Nutzern in ihrer Gesamtheit angeeignet und „im Eifer des Gefechts“ auch eingehalten werden? (Beißwenger/ Storrer 2005b, 22) Denn gerade die Chat-Kommunikation bietet aufgrund der Möglichkeiten, die kommunikative Bearbeitung von Ereignissen im Unternehmen zeitnah und unkonventionell zu gestalten, eine Unterstützung und Schlüsselfunktion für organisatorischen Wandel in Unternehmen. <?page no="28"?> 14 Theoretische Grundlagen Als Grundlage für die im zweiten Teil folgende Analyse des Datenkorpus enthält dieser erste Teil der vorliegenden Arbeit theoretische Überlegungen, welche Rolle unternehmensinterne Kommunikation, besonders die Chat-Kommunikation, für organisatorischen Wandel im Unternehmen hat. Soweit Forschungstheorien, -methoden und -ergebnisse aus Grenzbereichen oder interdisziplinär aus anderen Wissenschaften, meist den Wirtschaftswissenschaften und der Soziologie, einbezogen werden, sind diese ohne den Anspruch einer vollständigen Darstellung eingebunden und den sprachwissenschaftlichen Zielen untergeordnet. Nach der Erörterung der Begriffe und deren funktionaler Einordnung (Kap.-1) wird dargestellt, wie das Unternehmen von den Beteiligten in der Kommunikation abgebildet wird (Kap.-2) und welchen Einfluss die kommunikative Interaktion der Beteiligten auf die Struktur und die Entwicklung des Unternehmens hat (Kap.-3). <?page no="29"?> 1 Theoretische Voraussetzungen Das Kapitel enthält die grundsätzliche Diskussion der im Folgenden verwendeten Begrifflichkeiten Unternehmen und organisatorischer Wandel (Kap.-1.1.) und eine Diskussion der Rolle der Kommunikation in Unternehmen (Kap.-1.2.). Dabei werden auch die Dimensionen dargestellt, in denen sich unternehmensinterne Kommunikation in ihrer reproduzierenden und konstituierenden sowie instrumentalisierten und vermittelnden Rolle bewegt, die Einflussfaktoren, denen sie in der Situation des organisatorischen Wandels unterliegt, und der Beitrag der Kommunikation in Unternehmen zur Ausbildung einer Unternehmenskultur. Von grundsätzlichen Überlegungen zur Chat-Kommunikation ausgehend, wird anschließend (Kap.- 1.3.) die Organisation der Chat-Kommunikation in Unternehmen dargestellt und ihre Einordnung in die Kommunikationsformen in Unternehmen vorgenommen. 1.1 Unternehmen und Organisation Die Entwicklung einer Vorstellung davon, was unter einem Unternehmen zu verstehen und wodurch es gekennzeichnet ist, hat in der Forschungsliteratur zur Organisationstheorie zu einer Vielzahl theoretischer Ansätze geführt. 7 Gemeinsam ist diesen Theorien die zentrale Überlegung, inwieweit ein Unternehmen die kommunikativ konstituierte Beziehung zwischen Individuum und Organisation darstellt. Zur Untersuchung dieser Beziehung hat sich die Kategorisierung nach der Analyseeinheit nach dem folgenden Schema (Kieser 2002, 2 f.) durchgesetzt: Die Ebene der Kommunikationsbeziehungen zwischen den Mitarbeitern eines Unternehmens bildet nach Kieser die Mikroebene, die Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen Organisationseinheiten (Mesoebene) und die Beziehungen zu anderen Organisationen (Makroebene) hat. Aus diesem soziokulturellen Blickwinkel auf das Unternehmen heraus teile ich die Begriffe, die das Unternehmen und mit dem Unternehmen zusammenhängende Situationen und Prozesse beschreiben, nach ihren Auswirkungen in Funktionen ein. Das sind Funktionen, wie Regeln oder Ablaufprozesse, die das System des Unternehmens erhalten, und Funktionen, wie Neuausrichtungen, die dieses System verändern. Die Begriffe Unternehmen, Organisation und Unternehmensgrenzen definieren systematische und strukturelle Einheiten des Unternehmens und die Blickwinkel auf statische, formal festgelegte Elemente, an denen sich die Beteiligten mit ihrem sprachlichen und nonverbalen Handeln orientieren und dadurch das Unternehmen konstituieren sowie durch reprodu- 7 In den Sammelbänden von Weik/ Lang (2005) und Kieser (2002) sind die verschiedenen organisationstheoretischen Ansätze nach dem Erkenntnisinteresse geordnet dargestellt. <?page no="30"?> 16 Theoretische Voraussetzungen zierende Prozesse diachron erhalten. Die unzähligen Begriffe für alle Formen von Unternehmenszusammenschlüssen und unternehmerischen Wandel definieren das dynamische Unternehmen, d. h. die Neukonstituierung systemimmanenter Abläufe und die Verschiebung von Unternehmensgrenzen. Um organisatorische Aspekte der Kommunikation in Unternehmen zu untersuchen, diskutiere ich die begrifflichen Definitionen aus der Perspektive organisationstheoretischer und sozialwissenschaftlicher Theorien, die organisatorische Aspekte in den Mittelpunkt stellen. In der älteren Literatur der Wirtschaftswissenschaften sind Unternehmen (als statischer Strukturbegriff) unterteilt in Systeme, die, in einer Begriffsdopplung, als Unternehmen verstanden und Strukturen, die als Organisation bezeichnet werden (Weik/ Lang 2003, 199). Luhmann sucht die Ursache für die beiden unterschiedlichen Sichtweisen, die den Begriffen Unternehmen und Organisation zugrunde liegen, im Erkenntnisinteresse. Die Doppeldeutigkeit der Verwendung des Begriffs der Organisation zur Bezeichnung des Systems und der Struktur des Systems scheint damit zusammenzuhängen, dass die Betriebswirtschaftswissenschaft [...] die für sie interessanten ‚Organisationen‘ als Unternehmen bezeichnet und sich den Begriff Organisation damit freihält zur Beschreibung der Verteilung von Aufgaben auf Stellen. (Luhmann 2000, 302) Als Organisation wird einerseits die organisatorische Struktur des Unternehmens bezeichnet, die in ökonomischen, organisatorischen und juristischen Regeln für Interaktionen festgehalten ist. Andererseits steht Organisation für tatsächliche Interaktionen, die die Struktur des Unternehmens erhalten, indem sie als Ausprägungen der regelkonformen Interaktionen die Struktur reproduzieren. In der Praxis des Unternehmensalltags sind die sprachlichen und außersprachlichen Interaktionen aller an einem Unternehmen beteiligten Personen nicht alle an die Regeln, Strukturen oder Grenzen des Unternehmens gebunden. Mit der Öffnung der Wirtschaftswissenschaften für kulturelle Forschungsrichtungen, 8 insbesondere die Soziologie, ging auch die Entwicklung eines dynamischen Organisationsbegriffs einher, der den historischen statischen Organisationsbegriff inzwischen abgelöst hat. Während seitens der Kulturwissenschaften noch bis vor einigen Jahren der Organisationsbegriff der Wirtschaftswissenschaften als unter linguistischen Aspekten defizitär kritisiert wurde, da er „nur den Aspekt der Ordnung, des ‚Organisiert-Seins‘ erfasst, nicht jedoch das soziale Gebilde als Ganzes“ (Brünner 2000, 6), haben sich inzwischen neuere organisationstheoretische, wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Ansätze durchgesetzt. In den neueren Forschungsarbeiten finden sozialwissenschaftliche Erkenntnisse in die Definition des Unternehmensbegriffs Eingang. Die strukturorien- 8 Müller (2006, 34) führt das wachsende Interesse der Wirtschaftswissenschaften an der Unternehmenskultur auf die Erforschung der Ursachen des großen Erfolgs Japans auf den Weltmärkten zurück. <?page no="31"?> Unternehmen und Organisation 17 tierte Sichtweise ist zu einer dynamischen Sicht weiterentwickelt, deren Ansätze zur modernen Systemtheorie zusammengefasst werden. 9 Die moderne Systemtheorie der Betriebswirtschaft definiert Organisation als autopoietisches soziales System, das hierarchisch von oben nach unten verlaufende kommunikative Dynamik beinhaltet. Daraus entspringt ein Kommunikationsbegriff, der der Kommunikation die Rolle zuschreibt, die hierarchische Struktur, die von einer Unternehmensleitung vorgegeben wird, zu reproduzieren. Von den Vorgaben abweichende Reproduktionen, wie sie bei einer Kommunikation der gegenseitigen Verständigung vorkommen, stören diese kommunikative Dynamik. Die neuere sozialwissenschaftliche Literatur gewinnt für die Unternehmensdefinition Bedeutung und wird in einen Unternehmensbegriff eingearbeitet, den viele Disziplinen verwenden, vor allem die Kultur- und die Wirtschaftswissenschaften. Zumeist sind Mikrostrukturen der Ausgangspunkt der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung. Die sozialwissenschaftlichen Ansätze dazu setzt Kieser (2002, 16) im Anschluss an Burrell/ Morgan in einen Bezugsrahmen. In diesem lassen sich vier Paradigmen verorten, unter denen das funktionalistische Paradigma dominiert. Diese sind durch die Achsen objektiv vs. subjektiv und Ordnung vs. radikaler Wandel gegeneinander abgegrenzt. 10 Soweit Unternehmensbegriffe aus anderen Disziplinen in der Gesprächsforschung verwendet werden, wurden solche Definitionen ausgewählt, die soziale Kriterien berücksichtigen und zur Beschreibung von Elementen der Mikroebene geeignet sind. Das betrifft hauptsächlich die konstruktivistischen Ansätze aus der Organisationstheorie 11 mit Forschungsarbeiten, die eine Organisation als soziale Konstruktion definieren. Weik/ Lang beschreiben einen kulturell-kognitiven Organisationsbegriff, der inhaltliche Ähnlichkeit mit der Perspektive 9 Die historische Betriebswirtschaftslehre hat eine statische Sichtweise auf die Organisation, wobei Organisation die Struktur des Unternehmens bezeichnet und dynamische Phasen separat gekennzeichnet werden. Auf die Bildung einer Organisation hinwirkende Dynamik wird als Aufbauorganisation bezeichnet, die Organisation beendende Phasen als abmanagen. Weik/ Lang geben eine systematisch-historische Darstellung der Sichtweisen auf die Organisation, die nach dem jeweils im Fokus stehenden Organisationstyp unterschieden werden. (Weik/ Lang 2003, 199 ff.) 10 Burrell/ Morgan (1979, 22) gehen von einem Modell der Systematisierung sozialwissenschaftlicher Paradigmen aus, das von Scherer (2002) modifiziert und weiterentwickelt wurde. Dieses fokussiert die Wandel-Status-Quo-Dimension zwischen dem Paradigma der Ordnungssoziologie, das dem technischen und praktischen Erkenntnisinteresse nach den Bedingungen für den Bestand sozialer Einheiten entspringt, und dem Paradigma der Wandelsoziologie, das, dem emanzipatorischen Erkenntnisinteresse folgend, nach kritischer Verbesserung des gegenwärtigen Zustands strebt. Daraus folgend werden von den vier Paradigmen des Modells, „Radical humanist“, „Radical structuralist“, „Interpretive“ und „Funcionalist“, das funktionalistische Paradigma und die darauf basierenden Annahmen zum Verhältnis von Subjekt vs. Objekt und zur Evolution sozialer Einheiten bevorzugt. 11 Zur Entwicklung konstruktivistischer Ansätze in den Sozialwissenschaften gibt Kieser (2002, 288) einen Abriss. <?page no="32"?> 18 Theoretische Voraussetzungen der Gesprächsforschung aufweist und wirtschaftliche Aspekte, besonders juristische und hierarchische, einbezieht (Weik/ Lang 2005). Die begriffliche Abgrenzung in der Gesprächsforschung ist, abhängig vom Forschungsgegenstand, teils an die betriebswirtschaftliche, teils an die sozialwissenschaftliche Definition angelehnt. Eine „gerichtstaugliche“ Definition von Unternehmen und eine „koordinierende Rolle“ der Kommunikation (Kleinberger Günther 2003, 20) sind sprachwissenschaftlichen Arbeiten zugrunde gelegt worden, und die Konstruktion einer „sozialkonstruktivistischen, handlungsorientierten Ontologie der Organisation“ (Habscheid 2003, 86 ff.) berücksichtigt betriebswirtschaftliche und sozialwissenschaftliche Kriterien. Vorherrschend ist die Sicht auf das Unternehmen als „soziales Gebilde“ (Brünner 2000, 5), das auf marktwirtschaftliche Zwecke orientiert ist. Dieser soziologische Organisationsbegriff ist von dem betriebswirtschaftlichen zu unterscheiden, der nur den Aspekt der Ordnung, des ‚Organisiert-Seins‘ erfasst, nicht jedoch das soziale Gebilde als Ganzes. (Brünner 2000, 6) Das Unternehmen als System ist juristisch gesteuert und reproduziert sich in der Kommunikation, indem es ein juristisch konstituiertes System kommunikativ abbildet. Der Begriff Unternehmen steht für alle Belange, die das Unternehmen ausmachen, und für alle Sprachhandlungen, die das Unternehmen zum einen konstituieren und zum anderen reproduzieren. Das System des Unternehmens formt die Struktur der Organisation und entscheidet damit über die Angemessenheit von Interaktionen der Beteiligten und die neue Festlegung des Systems nach Unternehmenszusammenschlüssen. Der ökonomische Aspekt nimmt eine entscheidende Rolle ein, da er, als Rahmenbedingung, innerhalb der sich kommunikative Interaktion vollzieht, die Inhalte der Kommunikation und ihre Interpretationen einschränkt. Da das Auswahlkriterium für mögliche kommunizierte Inhalte und Interpretationen die ökonomische Zielsetzung des Unternehmens ist, werden von den Beteiligten des Unternehmens in ihrem eigenen ökonomischen Interesse nur ökonomisch sinnvolle Inhalte und Interpretationen akzeptiert (Klöfer/ Nies 2003, 34 ff.). Das Interesse von Sprach- und Wirtschaftswissenschaft ist an diesem Punkt gegenläufig. Während die Sprachwissenschaften die verschiedenen Interpretationen der Belange des Unternehmens, die die Mitarbeiter äußern, als konstituierende Ausprägungen der formalen Vorgaben untersuchen, versuchen die Wirtschaftswissenschaften Systeme zu gestalten, die diese Interpretationen der Mitarbeiter einschränken. Das ökonomische Ziel kann nach Klöfer/ Nies kulturelle Teilziele beinhalten, die das ökonomische Ziel unterstützen. Soweit kulturelle Ziele keinen finanziellen Ertrag erwirtschaften sollen, sind sie in größeren Unternehmen häufig in einer Institution, beispielsweise Stiftungen oder sonstige Non-Profit-Organisationen, innerhalb der Gesamtorganisation des Unternehmens gebündelt. Mit der Auswahl der kulturellen Ziele konform zu den ökonomischen Interessen der Ge- <?page no="33"?> Unternehmen und Organisation 19 samtorganisation unterstützen unternehmensinterne Institutionen mit ihrer kulturellen Arbeit das Unternehmen in der Durchsetzung seiner Interessen gegenüber dem Wettbewerb. Brünner trifft, besonders im Hinblick auf wirtschaftliche Institutionen, keine Unterscheidung zwischen Organisationen und Institutionen. Indem Brünner den „Funktionsgesichtspunkt“ als „steuerndes Prinzip von Institutionen“ in den Mittelpunkt stellt, wird „die Rolle [der Institution] im gesellschaftlichen Funktionszusammenhang akzentuiert“ (Brünner 1987, 20 f.) und in der weiteren Entwicklung als „gesellschaftstheoretisch geprägte Sicht auf Institutionen“ (Brünner 2000, 7) fortgeführt, denn die „Sichtweise, dass Institutionen und Gesellschaftsformen voneinander abhängen und funktional aufeinander bezogen sind, lässt sich an wirtschaftlichen Institutionen besonders gut nachvollziehen“ (ebd., 7). Auch abgesehen von den unternehmensinternen Institutionen unterstreicht die neuere Entwicklung bis hin zur Privatisierung staatlicher Institutionen, wie den bei Brünner für Institutionen beispielhaft genannten Krankenhäusern, diese Sichtweise. Dagegen unterscheidet Müller „trotz der vielen Parallelen“ (Müller 2006, 17) Institutionen von Unternehmen und nennt als signifikantes Merkmal, das die Organisation von der Institution unterscheidet: Die ökonomische Ausrichtung des Unternehmens, die hierarchische Strukturierung der betrieblichen Gesellschaft, die Arbeitsteilung, das ideologische Moment im Verhalten von Führungskräften usw. können als genuine Eigenschaften organisationalen Lebens begriffen werden. (Müller 2006, 17) Die von Müller genannten Kriterien können allerdings auch für Institutionen gelten. Das trifft auch für das Kriterium der ökonomischen Ausrichtung zu, denn zumindest für das Unternehmen als Ganzes haben integrierte institutionelle Einrichtungen in der Bilanz ökonomische Bedeutung, denn sie beanspruchen und verwalten finanzielle Mittel. Auch eine hierarchische und arbeitsteilige Strukturierung findet sich in Institutionen. Deshalb wird der Begriff der Institution im Folgenden nicht weiter verwendet, sondern die betreffenden Unternehmensteile als Organisation betrachtet. Unternehmensgrenzen Die Entwicklung neuer Unternehmensformen hat dazu geführt, dass Unternehmens- und Organisationsgrenzen zunehmend seltener übereinstimmen. So können Organisationen formal mehreren Unternehmen anteilig gehören 12 und Mitarbeiter können als Vertreter ihres Unternehmens auf fachbezogener Basis 12 Eine ausführliche Darstellung der verschiedenen Formen von Unternehmenskooperationen, die auf der Bildung von Gemeinschaftsunternehmen beruhen, d. h. die von mindestens zwei Unternehmen gemeinsam gegründet und gehalten werden, findet sich bei Jansen (1998, 98 ff.). <?page no="34"?> 20 Theoretische Voraussetzungen in Interessenverbänden unternehmensübergreifend mit anderen Mitarbeitern aus verschiedenen Organisationen und Unternehmen zusammenarbeiten. Auf der Mikroebene, aus der Perspektive des Mitarbeiters, sind Unternehmen und Organisation dort zum unklar abgegrenzten Begriff geworden, wo fachliche und disziplinarische Berichtswege auseinandertreten, z. B. wenn der fachliche und der disziplinarische Vorgesetzte eines Mitarbeiters verschiedenen Organisationen angehören. Größere Bedeutung als das Unternehmen haben dann formale und informelle Interaktionssysteme, aus denen sich das soziale Netzwerk eines Mitarbeiters konstituiert. Diese Interaktionssysteme grenzen sich auch sprachlich durch fachsprachliche Kommunikation oder Gruppensprachen ab. Mit der Einteilung nach sozialwissenschaftlichen Kriterien in unternehmensintern und unternehmensextern ändert sich auch die sprachliche Interaktion, indem sie vermehrt Abgrenzungsfunktion hat. Verschiedene Mechanismen und Faktoren der Abgrenzung haben dann vorherrschende Bedeutung. Abgrenzungsfunktion hat dann immer diejenige Fach- oder Gruppensprache, mit der sich das jeweilige Interaktionssystem von seinem Umfeld abgrenzt. Beispielsweise grenzen sich Organisationseinheiten durch Besonderheiten innerhalb der Unternehmenssprache voneinander ab, ein Branchenverband bildet eine Fachsprache aus, der Betriebsrat verwendet eine politisch geprägte Sprache, oder Cliquen, die gemeinsam in die Kantine gehen, entwickeln eigene Sprachmerkmale. Die Abgrenzung des Unternehmens zur Gesellschaft hin entspricht einer Wechselwirkung auf der Makroebene. Die Sozialwissenschaften haben die Wendung von der systemimmanenten Betrachtung des Unternehmens zur Einbeziehung des gesellschaftlichen Umfelds zuerst vollzogen. 13 Inzwischen ist diese Sichtweise auch in den Sprachwissenschaften übernommen worden. Brünner weist darauf hin, wie Unternehmen und Gesellschaftsformen funktional aufeinander bezogen sind. Wie Unternehmen arbeiten, hängt unmittelbar von den ökonomischen Grundbedingungen und Beziehungen ab, die in einer Gesellschaft gelten, von der Rolle des Privateigentums und den Steuerungsprozessen durch den Markt oder die Politik. Umgekehrt hat das, was in den Institutionen der Wirtschaft geschieht, großen Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung und auf politische Prozesse. (Brünner 2000, 7) Die Mitbetrachtung der Gesellschaft wird auch deshalb von stetig zunehmender Bedeutung, da die Verwobenheit von unternehmerischen und gesellschaftlichen Belangen stetig zunimmt. In den Wirtschaftswissenschaften wird diese Entwicklung als Private Public Partnership bezeichnet und beschreibt gemeinsame Unternehmungen von Wirtschaftsunternehmen und der öffentlichen 13 Luhmann (2000, 30 f.) gibt einen Überblick über die Entwicklung der sozialwissenschaftlichen Forschung von der systemimmanenten Betrachtung des Unternehmens zur Mitberücksichtigung der Umwelt. <?page no="35"?> Unternehmen und Organisation 21 Hand, beispielsweise privatwirtschaftlich geführte Krankenhäuser und Schulen oder gemeinnützige Stiftungen innerhalb von Wirtschaftsunternehmen. In den Sprachwissenschaften befassen sich ebenfalls erste Arbeiten mit dem Zusammenwirken von unternehmerischem und gesellschaftlichem Handeln. So bringt Brünner (2002) das Zusammenwirken verschiedener Institutionen in den sprachwissenschaftlichen Diskurs ein. An dem konkreten Beispiel von Konkurrenz beim Verkauf von Lizenzen für UMTS (Universal Mobile Telecommunications System) an Wirtschaftsunternehmen zeigt Brünner die Zusammenhänge und gegenseitige Einflussnahme von wirtschaftlichem, gesellschaftlichem und politischem Handeln. Mit der öffentlichen Versteigerung der Lizenzen und der breiten Berichterstattung in der Presse wurde Wirtschaftshandeln auf einer allgemein verständlichen Weise vollzogen und transparent dargestellt, womit das gesellschaftliche Interesse an dem Verkauf der Lizenzen gefördert wurde. Durch die Transparenz war es jedem möglich, sich involviert zu sehen, möglicherweise als Mitarbeiter eines Unternehmens, das als Bieter teilnahm, zumindest aber als Bürger des Staats, der die Rolle des Verkäufers eingenommen hatte. Organisatorischer Wandel Das Überführen von Prozessen der Makroebene von einer institutionalisierten Situation in eine andere führt zu organisatorischem Wandel. Dieser Vorgang tritt häufig nach Unternehmenszusammenschlüssen auf, ist aber auch eine Auswirkung sich verändernder Anforderungen an ein Unternehmen, die das marktwirtschaftliche oder gesellschaftliche Umfeld stellt (Abb. 1). Wandel kann also durch ein verändertes wirtschaftliches und gesellschaftliches Umfeld des Unternehmens evoziert werden und zusätzlich durch unternehmensinterne Veränderungen infolge von Unternehmenszusammenschlüssen. Abb. 1: Veränderungen durch organisatorischen Wandel <?page no="36"?> 22 Theoretische Voraussetzungen Im Folgenden soll vorwiegend die Situation nach Unternehmenszusammenschlüssen betrachtet und auf die Population-Ecology-Theorie 14 gestützt werden. Organisatorisch bedeuten Unternehmenszusammenschlüsse das Zusammentreffen verschiedener Organisationseinheiten von zwei oder mehr Unternehmen. Eine Spezifizierung orientiert sich begrifflich meist an betriebswirtschaftlichen Unterscheidungskriterien: der Hierarchie der beteiligten Unternehmen, der Art des Zusammenschlusses und der Einvernehmlichkeit der Übernahme. Das vorliegende Datenkorpus, das im empirischen Teil analysiert wird, ist in zwei Unternehmenssparten entstanden, die nach mehreren Unternehmenszukäufen aus Organisationseinheiten unterschiedlicher Unternehmen gebildet wurden (Kap.-4.2.). Für die Fragestellungen meiner Untersuchung ist aber nicht relevant, um welche Art der Unternehmenszusammenschlüsse es sich handelt, so dass die betriebswirtschaftlichen Kriterien von Unternehmenszusammenschlüssen im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht unterschieden und diskutiert werden müssen. Für Unternehmenszusammenschlüsse werden deshalb im Folgenden keine weiteren Unterscheidungen getroffen. 15 Die kommunikative Bedeutung von Wandel liegt im Wesentlichen im Zusammentreffen verschiedener Interaktionsformen, die auf unterschiedlichen Unternehmenskulturen beruhen. Für die unterschiedlichen kommunikativen Stile und ihre Verbreitung im Unternehmen sind die Unternehmenszusammenschlüsse, die in der Geschichte des Unternehmens vollzogen wurden, unabhängig von ihrer formalen Gestaltung bedeutsam. 1.2 Kommunikation in Unternehmen Unter Kommunikation in Unternehmen werden die unterschiedlichsten sprachlichen Formen der Interaktion zusammengefasst, wie z. B. Besprechen, Verhandeln oder Entscheiden, sowie verschiedene Textformen, wie Mitarbeiterzeitungen oder Geschäftsberichte, die in Unternehmen auftreten. 16 In Beschreibungen von Kommunikation in Unternehmen, oder, weiter gefasst, von Wirtschaftskommunikation wird die Vielgestaltigkeit des Begriffs deutlich: 14 Die Population-Ecology-Theorie erklärt Wandel aus Unternehmenszusammenschlüssen und Neugründungen heraus, da sie für bestehende Organisationen eine strukturelle Trägheit annimmt. Die Annahme völliger struktureller Trägheit wurde kritisiert, wobei der Einwand für meine Untersuchungen einer Situation nach Unternehmenszusammenschlüssen nicht relevant ist. Richtungsweisende Literatur zur Population Ecology-Theorie haben Hannan/ Freeman (1977) und Amburgey/ Kelly/ Barnett (1993) herausgegeben. 15 Zu den verschieden Formen von Unternehmenszusammenschlüssen und den Begrifflichkeiten gibt Bubik (2004) einen Überblick. 16 Ein Abriss zur geschichtlichen Entwicklung der wirtschaftslinguistischen Forschung findet sich bei Picht (1998), zur Betriebslinguistik bei Henke (1991), und einen Überblick über das Verhältnis von Wirtschaft und Linguistik geben Brünner (1991) und Becker-Mrotzek/ Fiehler (2002). <?page no="37"?> Kommunikation in Unternehmen 23 Sprachwissenschaftlich gesehen ist Wirtschaftskommunikation also kein geschlossener Gegenstandsbereich. Die kommunikativen und auch die diskursiven Formen sind vielfältig und differenziert, sie reichen von mündlichen Anweisungen bis zu Besprechungen und Verkaufsverhandlungen. Einige werden als berufliche Routine erlebt, andere als zu lösende Probleme, die besonderer Anstrengung bedürfen. Wirtschaftskommunikation besitzt unterschiedliche Facetten auch deshalb, weil sie zugleich institutionelle, fachliche und berufliche Kommunikation ist. Sie ist handlungsbezogen, als Bestandteil fachlich-beruflichen Handelns im institutionellen Zusammenhang zu analysieren. (Brünner 2009b, 159) Unter den sprachlichen Formen ist der Diskurs als mündliche Interaktion die häufigste Form, vor allem, wenn man Hybridformen zwischen mündlicher und schriftlicher Kommunikation wie Chats und E-Mails, die Eigenschaften diskursiver Kommunikation aufweisen, mit einschließt. Texte liegen quantitativ weit hinter den Diskursen (Luhmann 2000, 25). Fiehler (2004) entwickelt eine Definition der mündlichen Kommunikation und stellt ihre Formen dar. Er gibt einen Überblick über die Entwicklung der mündlichen Kommunikation und den aktuellen Stand der Forschungsliteratur. Eine nach Unternehmensformen geordnete grafische Überblicksdarstellung der Kommunikationsformen in Unternehmen aus betriebswirtschaftlicher Sicht findet sich bei Pfannenberg (2003, 21). Zu den diskursiven Formen der unternehmensinternen Kommunikation gibt Meier (2002a, 29 und 48) einen Überblick. Zur diskursiven Kommunikation ist in den letzten Jahrzehnten umfangreiche Forschungsliteratur 17 entstanden, die sich unter den Begriffen Gesprächs-, Konversations-, Diskurs-, Dialog- und Kommunikationsforschung einordnen lässt. Becker-Mrotzek/ Meier (1999, 18) schlagen vor, Diskursforschung „als Oberbegriff für verschiedene Traditionen der Erforschung sprachlich vermittelter Kommunikation und Interaktion“ zu benutzen. Den verschiedenen Ansätzen entspricht ein gemeinsames zentrales Erkenntnisinteresse: Ihr Ziel ist die wissenschaftliche Erforschung der Strukturen und Organisationsprinzipien von Kommunikation sowie der Regularitäten und wiederkehrenden Muster des kommunikativen Handelns in Gesprächen. (Brünner/ Fiehler/ Kindt 1999b, 7) Für alle Äußerungen, die nicht näher bestimmt sind verwende ich im Folgenden die linguistische Definition von Kommunikation als Diskurs von Brünner: Unter Diskursen sind Einheiten und Formen der Rede bzw. der Interaktion zu verstehen, wie sie im alltäglichen sprachlichen Handeln sowie in institutionellen Bereichen auftreten. Mündlichkeit ist zwar keine notwendige Eigenschaft des dis- 17 Fiehler (2005) hat die gesprochene Sprache nach ihren Eigenschaften kategorisiert. Becker- Mrotzek/ Brünner (1999 und 1992) geben einen Überblick über die verschiedenen Forschungsansätze und ordnen sie in die wissenschaftliche Diskussion ein. <?page no="38"?> 24 Theoretische Voraussetzungen kursiven Handelns, jedoch der charakteristische Fall. Systematisch gesehen gehört zum Diskurs die raum-zeitliche Kopräsenz von Sprecher und Hörer (face-to-face- Interaktion); diese kann aber z. B. auf eine zeitliche Kopräsenz (am Telefon, im Chat) reduziert sein. Zugleich wird auch die Gesamtheit der Interaktionen zwischen Angehörigen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen […] oder innerhalb eines gesellschaftlichen Bereiches […] zusammenfassend als Diskurs bezeichnet. (Brünner 2009b, 153) Soweit es um die Untersuchung von Äußerungen geht, die sich als Sprachhandlung kategorisieren lassen, greife ich auch auf die Sprechakttheorie zurück. Über den Interaktionsbereich des Unternehmens als handlungspraktischem Bezugsrahmen hinaus betrifft das auch gesellschaftliche Bezüge. Unter Diskurs sind Einheiten und Formen der Rede, der Interaktion, zu verstehen, die Teil des alltäglichen sprachlichen Handelns sein können, die aber ebenso in einem institutionellen Bereich auftreten können. (Brünner/ Graefen 1994, 7) In dem im empirischen Teil untersuchten Datenkorpus stellen die Chat-Teilnehmer gesellschaftliche Bezüge her, indem sie das Selbstbild, das sie in der Gesellschaft außerhalb des Unternehmens entwickelt haben, im Chat aufrechterhalten wollen (Kap.- 5.3.), ihren Äußerungen im Chat ihre Einstellungen zugrunde legen (Kap.- 5.3.1.2.) und auf gesellschaftliche Ereignisse referieren, die die Unternehmensleitung in ihren Äußerungen beeinflussen (Kap.- 5.4.). Die Einbeziehung des gesellschaftlichen Umfelds in die Gesprächsanalyse erschließt spezifische gesellschaftlich etablierte Zwecke, um die „Konsequenz verengter Fragestellungen und vorschneller Verallgemeinerungen“, die in der traditionellen Linguistik vorgenommen wurden, zu vermeiden. Der wichtigste und folgenreichste Einwand ist, dass die gesellschaftlichen Zusammenhänge ignoriert werden, in denen die kommunikativen Formen und die sprachlichen Mittel für spezifische - wiederum gesellschaftlich bestimmte - Zwecke entwickelt wurden und weiterentwickelt werden. (Brünner/ Graefen 1994, 10) In der Interaktion der Beteiligten eines Unternehmens, die sich an den Konventionen und dem gesellschaftlichen Umfeld als Bezugsrahmen orientieren, entstehen nach Brünner/ Graefen „gesellschaftlich entwickelte, standardisierte Ablaufformen“ (1994, 12). Unternehmenskommunikation war in der linguistischen Forschungsliteratur bis vor wenigen Jahren in mündliche und schriftliche Kommunikation unterteilt. Die häufiger vertretene mündliche Kommunikation wurde in der Gesprächsforschung in ihren Dimensionen systematisch erforscht (Bartsch 1994, Brünner 1987, 1993, 1997 und 2000) und hinsichtlich ihrer Eigenschaften beschrieben (Fiehler 2004). Inzwischen werden mündliche und schriftliche Kommunikation zusammen erforscht, wie beispielsweise die Zusammenstellung der Beiträge in den Sammelbänden von Beißwenger/ Storrer (2005a) und Becker Mrotzek/ Fiehler (2002) zeigt, und es entstehen Begrifflichkeiten für Kommunikationsformen, <?page no="39"?> Kommunikation in Unternehmen 25 wie z. B. Chat-Kommunikation, im Spannungsfeld zwischen mündlicher und schriftlicher Kommunikation (Beißwenger 2007). Die diskursive Unternehmenskommunikation ist gut erforscht, wobei die Forschungsarbeiten häufig nach ihrem Forschungsfeld geordnet werden. Unternehmensinterne Diskurse wirken sozialisierend, indem Unternehmenskultur, berufliche Fähigkeiten und berufsbzw. unternehmensspezifisches Wissen vermittelt werden. Das findet als formaler Diskurs innerhalb der betrieblichen Ausbildung (Brünner 1992 und 1987, Baßler 1996) statt oder als informeller Diskurs der innerbetrieblichen Kommunikation, beispielsweise in Besprechungen (Dannerer 1999). Diskurse zwischen Unternehmen und Gesellschaft sind ausführlich erforscht und werden häufig nach dem Zweck des Diskurses geordnet, mündliche Diskurse z. B. als Reklamationsgespräche (Fiehler/ Kindt 1994, Fiehler/ Kindt/ Schnieders 1999), Verkaufsgespräche (Brünner 2009b, Brons-Albert 1995) oder Diskurse zur Betreuung von Kunden (Matuschek/ Kleemann 2009, Becker-Mrotzek/ Brünner 2002, Becker-Mrotzek 1994) und Beratungsgespräche (Habscheid 2003), Texte (Müller 2006) z. B. als Geschäftsberichte (Bextermöller 2001). Dagegen waren Diskurse, die Auswirkungen auf die Gesellschaft haben, bislang vergleichsweise weniger erforscht. Brünner (2002) stellt die Zusammenhänge von Mikro- und Makroebene als „wirtschaftspolitische Diskurse“ im „Schnittbereich zwischen Unternehmen, Wirtschaftsexperten, Politik und Öffentlichkeit [...], die für die gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen bedeutsam sind“, dar, wobei die Unabdingbarkeit von Kommunikation in der Komplexität der Unternehmen als arbeitsteiliger Systeme liegt (Brünner 2000, 7). Brünner (2009b, 160 und 2000) gibt einen zusammenfassenden Überblick über die Formen der diskursiven Wirtschaftskommunikation und einen umfassenden Literaturüberblick. Schmidt/ Heidtmann (2002) stellen exemplarisch ein Beispiel für eine Mikro-Makro-Brücke in der Kommunikation in Unternehmen dar und Wasson (2004) legt eine Betrachtung der Mikro- und Makroebene als zwei Perspektiven auf einen Sachverhalt vor. Das Zusammenwirken der sprachlichen Reproduktion bestehender und neuer Unternehmensstrukturen stellt Fraas (2004) dar. In den letzten Jahren sind dann Forschungsarbeiten zur Kommunikation in Unternehmen erschienen, die gesellschaftliche und wirtschaftswissenschaftliche Aspekte verstärkt einbeziehen. Angefangen bei den Sammelbänden von Diaz-Bone/ Krell (2009), Niemeier/ Diekmannshenke (2008b) und Müller/ Kieser (2004) wurde ein breites Spektrum meist anwendungsrelevanter sprachwissenschaftlicher Forschungsarbeiten vorgelegt. So stellt Brünner (2009b) am Beispiel von Verkaufsgesprächen die Möglichkeiten der Anwendung der linguistischen Diskursanalyse auf die Wirtschaftskommunikation dar. Dannerer (2008) zieht mit der Betrachtung der Effizienz von Kommunikation ein wesentliches Kriterium der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung heran und Habscheid (2008) geht der Frage nach der Formalisierung von Kommunikation in Organisationen <?page no="40"?> 26 Theoretische Voraussetzungen nach. Mit der Untersuchung von Bextermöller (2001) liegt eine Analyse des Geschäftsberichts als Textform vor, in die wirtschaftswissenschaftliche Kriterien in die Kategorisierung mit eingegangen sind. Thörle (2008) und Meier (2000) liefern Beiträge zu den unterschiedlichen Vorstellungen, die die Kommunikationsteilnehmer vom Unternehmen haben. Zur Kommunikation über organisatorischen Wandel werden mit den Untersuchungen von Vacek (2008 und 2009) und Sachtleber (2008) erstmals sprachwissenschaftliche Arbeiten vorgelegt. Eine Überblicksdarstellung über die Arbeitsfelder in der Unternehmenskommunikation und einen Ausblick auf ihre mögliche weitere Entwicklung gibt Jakobs (2008). Weiterführende aktuelle Überblicksdarstellungen über die sprachwissenschaftliche Erforschung der Kommunikation in Unternehmen bieten Müller (2008) und Niemeier/ Diekmannshenke (2008a). 18 Auch in den Wirtschaftswissenschaften hat sich die Ansicht durchgesetzt, dass die Entwicklung der Unternehmenskommunikation zum Schlüsselfaktor eine Kommunikationsgesellschaft evoziert, in der Kommunikation umfangreicher und folgenreicher ist (Reichertz 2002). In den neueren Forschungsarbeiten ist der Kommunikationsbegriff um soziale Einflussfaktoren ergänzt (Weik/ Lang 2005 und 2003). Die ursprüngliche, in den Sprachwissenschaften kritisierte Auffassung, Kommunikation sei bloßer Informationstransport, ist in der neueren Forschung der Wirtschaftswissenschaften überwunden. Dennoch bleibt die Informationsfunktion die Idealvorstellung der Wirtschaftswissenschaften. Informationstransport wird als „Idealisierung“ der Kommunikation eingeschätzt und gegen eine funktionalistische Sicht eingetauscht, die das konkrete Sprachhandeln zum Gegenstand hat sowie eine „thematische Affinität zur Organisationskultur und zum Organisationalen Symbolismus“. (Weik/ Lang 2005, 245 f.) Diese funktionalistische Sicht schließt kooperationsunabhängige Kommunikation und Kommunikation ohne feste Zielsetzung, beispielsweise homileische bzw. phatische Kommunikation, von Untersuchungen aus, da „diese Überlegungen zu allgemein oder zu wenig systematisch seien, um sie dem Feld des Organisationalen Diskurses zuzuschlagen“ (Weik/ Lang 2005, 253). In der Zusammenfassung der bisherigen Überlegungen bewegen sich die reproduzierende Rolle und die konstituierende Rolle der Kommunikation in Unternehmen in zwei Dimensionen. Indem sich das Unternehmen durch Kommunikation stets erneut bestätigt oder verändert, kann die Rolle der Kommunikation reproduzierend respektive konstituierend sein. In einer zweiten Dimension kann Kommunikation die Funktion des Transports von Informationen haben und damit eine instrumentalisierte Rolle einnehmen oder die Funktion der gemeinsamen Verständigung, also eine vermittelnde Rolle haben. Beide Dimensionen sollen im Folgenden diskutiert und anschließend beispielhaft an der 18 In Kap.-1.3. findet sich ein Literaturüberblick zur Chat-Kommunikation in Unternehmen. <?page no="41"?> Kommunikation in Unternehmen 27 Herausbildung einer Unternehmenskultur und an unternehmerischem Wandel gezeigt werden. Reproduzierende und konstituierende Rolle der Kommunikation Für Unternehmen ist die reproduzierende und konstituierende Rolle der Kommunikation ein Schlüsselfaktor. Unternehmen bestehen aus Kommunikation, indem sie sich durch Kommunikation konstituieren und reproduzieren. Die reproduzierende Funktion ist ein Phänomen der Mikroebene. Danach konstituieren die Beteiligten das Unternehmen erst in der Anwendung ihres Wissens, der gegenseitigen Verständigung und der gestaltenden Umsetzung von Vorgaben. Die mikrostrukturelle Sichtweise hat sich vorwiegend in den Sprach- und Sozialwissenschaften durchgesetzt. Die Zuschreibung einer reproduzierenden Rolle entspricht weitgehend der Perspektive der Wirtschaftswissenschaften, in denen von einer hierarchischen Durchsetzung unternehmerischer Interessen mittels Kommunikation ausgegangen wird. Es handelt sich dabei um ein Geschehen, das sich über die Makro- und Mesoebene bis zur Mikroebene erstreckt. Ziel ist die Durchsetzung von Interessen, die durch einseitige Sanktionsmöglichkeiten unterstützt wird. Die Divergenz zwischen der Sicht der Sprach- und Sozialwissenschaften und der Sicht der Wirtschaftswissenschaften besteht, analog zur Sicht auf das Unternehmen (Kap.- 1.1.), darin, dass die Sprach- und Sozialwissenschaften weitreichende Möglichkeiten der Mitarbeiter für die eigene Gestaltung der Vorgaben des Unternehmens annehmen, während in den Wirtschaftswissenschaften von geringen Gestaltungsmöglichkeiten der Mitarbeiter ausgegangen wird. Die sprachwissenschaftliche Forschung hebt sowohl auf die konstituierende Rolle als auch auf die reproduzierende Rolle der Kommunikation ab. In Bezug auf ihre konstituierende Rolle ist Kommunikation das „grundlegende Konstitutionselement der organisatorischen Wirklichkeit“ (Höflich 1998, 73) und die Organisation als Produkt der sprachhandelnden Beteiligten eine „sprachlichsymbolische Konstruktion“ (Habscheid 2003, 87), die von den Beteiligten konstituiert wird. Die terminologische Verschränkung der statischen mit der aktivistischen Bedeutung des Alltagswortes Organisation erinnert an die oft ausgeblendete Erkenntnis, dass Organisationen nur im fortgesetzten Handlungsvollzug hervorgebracht und gleichsam in der Bewegung als Struktur aufrechterhalten werden. Damit rückt eine Rekonstruktion der Beteiligtenperspektiven, des alltäglichen Denkens und Fühlens, Wollens und Sollens, Verhaltens und Handelns der Organisationsmitglieder, ins Zentrum der Aufmerksamkeit. (Habscheid 2003, 87) Die Organisation entsteht durch die Handlungen der Beteiligten und erhält ihre allgemeine Gültigkeit durch übereinstimmende Perspektiven und Interpretationen, die dem Sprachhandeln der Beteiligten zugrunde liegen. Müller sieht deshalb <?page no="42"?> 28 Theoretische Voraussetzungen die Organisation als eine den interaktiven Ereignissen übergeordnete Makrostruktur und, mehr noch, als eine soziale Ordnung, deren Objektiviertheitscharakter durch sinnstiftende Handlungen der Akteure in der Organisation hervorgebracht wird. (Müller 2006, 6 f.) Bei diesem Ansatz sind juristische und hierarchische Einflussfaktoren des wirtschaftlichen Funktionszusammenhangs ausgeklammert. Die juristischen Vorgaben, die für Mitarbeiter eines Unternehmens gelten, wirken sich hinsichtlich der Konstitution von Unternehmensprozessen hemmend aus, da sie diejenigen Ausprägungen des Sprachhandelns ausschließen, die zwar unternehmerisch sinnvoll sind, aber nicht im Rahmen der juristischen Vorgaben liegen. Die Auffassung der Population Ecology-Theorie, dass strukturelle Trägheit Veränderungen weitestgehend hemmt, wirkt sich in Bezug auf vorgegebene Strukturen voll aus, so dass tatsächlich nur unternehmerischer Wandel Veränderungen konstituiert. Darüber hinaus werden juristische Vorgaben zwar selbst fortwährend neu konstituiert, sie stellen aber ein zeitlich trägeres System dar als die diskursive Kommunikation. Strukturelle Trägheit wird auch durch die Bildung virtueller Organisationen nur begrenzt kompensiert. Die Konstruktionsmöglichkeiten der Beteiligten sind dadurch erheblich eingeschränkt. Damit bildet die Organisation einen vorgegebenen Bezugsrahmen und die Sprachhandlungen sind vorrangig unter einem reproduzierenden Aspekt zu sehen. Die hierarchischen Einflussfaktoren bedingen, dass Handlungen unterschiedlicher Beteiligter unterschiedlich sanktioniert werden können und die Wahrscheinlichkeit für den Einzelnen zu sanktionieren oder sanktioniert zu werden gegenläufig sind. So haben Mitarbeiter unterer Hierarchiestufen ein hohes Risiko aufgrund ihres Verhaltens sanktioniert zu werden, sie haben aber nur begrenzte Möglichkeiten, das Verhalten anderer, gleich welcher Hierarchiestufe, zu sanktionieren. Die Gegenseitigkeit der Kommunikation im Sinn einer wechselseitigen Verständigung, wie sie Fiehler/ Becker-Mrotzek (2002) annehmen, ist dann nicht gegeben. Hierarchisch bedingt einseitige Sanktionsmöglichkeiten bewirken, dass einseitige Kommunikation entsteht oder die Sprachhandlungen abgebrochen werden. Organisationstheoretische Arbeiten gehen von grundsätzlich ungleichen Beteiligungsmöglichkeiten aus. Oftmals können Individuen an der Zwecksetzung oder an der Regelfestlegung gar nicht teilhaben, sondern finden diese schlicht vor. Jedenfalls erleben wir immer wieder, dass die Chancen, die Ziele einer Organisation zu bestimmen, deren Regeln festzulegen und sich denselben zu unterwerfen oder zu entziehen, ungleich verteilt sind. (Scherer 2002, 1) In den neuesten linguistischen Arbeiten zur Wirtschaftskommunikation sind ungleiche Beteiligungsmöglichkeiten als Aspekt einbezogen. Müller (2006) stellt für seine empirischen Daten aus mehreren Unternehmen eine „asymmetrische Partizipationsmöglichkeit“ fest. Die Untersuchung asymmetrischer Diskurse in Unternehmen wird für die Untersuchung von Einzelaspekten schon länger ver- <?page no="43"?> Kommunikation in Unternehmen 29 folgt. In dieser Tradition steht der von Drew/ Heritage (1992) herausgegebene Sammelband, in dessen Beiträgen die asymmetrischen Möglichkeiten der Einflussnahme an der Frage-/ Antwort-Sequenz, bei der einseitige Sanktionsmöglichkeiten besonders deutlich hervortreten, untersucht werden. Aufgrund der juristischen und hierarchischen Einflussfaktoren hat Kommunikation in Unternehmen insgesamt im Wesentlichen eine reproduzierende und instrumentalisierte Rolle. Soweit Kommunikation innerhalb der hierarchischen Dimension direktive Funktion hat, handelt es sich um instrumentalisierte Kommunikation, mit der die Unternehmensleitung nur die Verteilung von Information und Anweisungen anstrebt und in der konstituierende Effekte bei der eigenen Ausgestaltung der Vorgaben durch Mitarbeiter eher als störend gesehen werden. Kommunikation ist nur im Rahmen der juristisch festgelegten Rahmenbedingungen, die das Unternehmen als rechtliches Konstrukt vorgibt, konstituierend. Innerhalb der unternehmerischen Vorgaben findet aber durchaus Kommunikation zur Herstellung gemeinsamer Verständigung statt. Instrumentalisierte und vermittelnde Rolle der Kommunikation Von den beschriebenen formalen juristischen und hierarchischen Einflussfaktoren hängt auch ab, ob die Kommunikation in einem Unternehmen eher eine instrumentalisierte oder eine vermittelnde Rolle hat. Die instrumentalisierte Kommunikation in der Funktion des Informationstransports resultiert aus einer technischen Sicht auf Kommunikation. Die Begrenzung der Kommunikation auf die Informationsfunktion steht vor allem bei der hierarchischen Informationsvermittlung innerhalb der „Informationskaskade“ (Guntrum/ Nusch 1998, 199) im Vordergrund. Auf der Sprachebene wird diese Haltung häufig durch die Formulierung jemandem etwas kommunizieren, „man kommuniziert sozusagen >>eine Sache<<“ (Kleinberger Günther 2003, 23) ausgedrückt. In der Literatur zur Gesprächsforschung ist die hierarchisch geordnete Kommunikation als formale Beschränkung dargestellt. Als „Vorgeformtheit des sprachlichen Handelns durch gesellschaftliche Zwecke und institutionelle Bedingungen“ (Brünner/ Graefen 1994, 13) bezieht sich diese Beschränkung auf alle Handlungen, auch die außersprachlichen. Es fließen Aspekte einer instrumentalisierten Rolle von Kommunikation ein, die auf die Zielorientierung der Handlungen eines arbeitsteiligen Systems, deren Verwirklichung einer Gruppe, der Unternehmensleitung, obliegt (Kleinberger Günther 2003, 18 f.), und auf die „interne Rollendifferenzierung“ (Brünner 2000, 6) abheben. Der instrumentalisierten Rolle steht die vermittelnde Rolle der Unternehmenskommunikation gegenüber. Forschungsansätzen, die darauf abheben, liegt eine interaktionsbezogene Sichtweise zugrunde, mit dem „Fokus [...] der gemeinsamen Hervorbringung und Herstellung von Verständigung“ (Fiehler/ Becker-Mrotzek 2002, 8 f.). Einige Ansätze sehen innerhalb der vermittelnden <?page no="44"?> 30 Theoretische Voraussetzungen Kommunikation einer „Organisation als Kultur“ den Informationstransport als Teilaspekt, da Kommunikation „vor dem Hintergrund einer Zielperspektive [...] als Vehikel zur optimalen Leistungserzielung“ erscheint (Höflich 1998, 73). Diese Sichtweise reicht hin bis zu Ansätzen, die von einer ausschließlich vermittelnden Rolle der Kommunikation ausgehen. In der Kommunikation wird eigentlich nichts übertragen, sondern die Beteiligten ziehen auf der Grundlage eines bestimmten Ich-geprägten Wissens Schlüsse. (Deppermann/ Hartung 2003, 18 f.) Im wesentlichen Aspekt der gemeinsamen Verständigung hat die Gesprächsforschung eine interpretierende Sicht auf Kommunikation. Aufgrund des „vermittelnden Charakter(s) jeglicher sprachlicher Kommunikation“ ist „die sprachliche Kommunikation [...] immer Medium der Verständigung und ist immer das Resultat aller an ihr Beteiligten“ (Fiehler/ Becker-Mrotzek 2002, 8 f.). Daraus ergibt sich folglich die Perspektive auf die Beteiligten als Teilnehmer, die aber keine Steuerungsfunktion in Bezug auf die gesamte Kommunikation haben. Entsprechend erscheinen in systemtheoretischer Sicht die Kommunikationsteilnehmer zwar als relevante Adressen [...] in der Umwelt von Kommunikationssystemen, nicht aber ‚Träger‘, ‚Lenker‘ oder ‚Kontrolleure‘ von Kommunikationsprozessen. (Dollhausen 2000, 113) Die Ursachen für das Auftreten instrumentalisierter respektive vermittelnder Kommunikation, die spezifisch für Unternehmenskommunikation sind, 19 liegen in den sozialen Bedingungen, von denen die Beteiligten abhängig sind. Ob instrumentalisierte oder vermittelnde Kommunikation stattfindet, hängt, wie im Folgenden dargestellt wird, davon ab, ob die Verteilung von Einflussmöglichkeiten unter den Beteiligten symmetrisch oder asymmetrisch ist. Nachdem ich die Bedeutung asymmetrischer Kommunikation zu Beginn des Kapitels ausgeführt habe, gehe ich nun darauf ein, worin die Ursachen für das Auftreten symmetrischer respektive asymmetrischer Kommunikation liegen. Asymmetrische Kommunikation tritt immer dann auf, wenn Kommunikation innerhalb festgelegter Prozesse des Unternehmens (Personalgespräch, Ergebnisberichte) stattfindet. Die Unternehmensleitung macht in diesen Fällen Vorgaben zur Verständigung und Interpretation und sanktioniert abweichendes Kommunikationsverhalten der Mitarbeiter. Die Interpretationen sind von der Unternehmensleitung vorgegeben, was sich daran zeigt, dass ihre Aussagen mehr gelten als die aller anderen Teilnehmer. Müller bezeichnet es als „Teil der Betriebskultur, dass der Diskurs der Mächtigeren eine implementierende Funktion hat“ (Müller 2006, 8). 19 Die Unterscheidung zwischen instrumentalisierter und vermittelnder Kommunikation wurde auch außerhalb der Unternehmenskommunikation getroffen. Herring unterscheidet Informations- und Kulturtransport geschlechtsspezifisch: „male users are concerned primarily with the exchange of information, while female users send e-mail primarily to promote and maintain interpersonal relationships“ (Herring 1996a, 81). <?page no="45"?> Kommunikation in Unternehmen 31 Symmetrische Kommunikation ist meistens in der Kommunikation unter Gleichen festzustellen. In asymmetrischen Beziehungen der Interaktanten wie den Vorgesetzten-Mitarbeiter-Beziehungen im vorliegenden Datenkorpus tritt Kommunikation mit symmetrischen Phasen immer dann auf, wenn ein Diskussionsthema die Unternehmensziele nicht beeinflusst, sondern mehrere Lösungen gewählt werden können, die alle im Rahmen der Unternehmensziele liegen (Beispiel „Mitarbeiterzeitung“ in Kap.-6.4.). Die Beteiligten können sich diskursiv über eine gemeinsame bestmögliche Lösung verständigen und Kommunikation findet mit dem Ziel der gemeinsamen Herstellung von Verständigung in jede Richtung statt. Das betrifft den Teil der reproduzierenden Kommunikation, der Verständigungsfunktion hat. Die Abgrenzung von symmetrischer und asymmetrischer Kommunikation verläuft an der Grenze zwischen Interessendeckung und -konflikt zwischen der Unternehmensleitung und den Mitarbeitern. Der Unterschied im Status zwischen der Unternehmensleitung und den Mitarbeitern erzeugt in Kommunikationsthemen, die frei von Interessenkonflikten sind, keine asymmetrische Kommunikation. Vielmehr stellt sich Kommunikation als Vermittlung von Information und der zugehörigen Interpretationsrichtlinie im Sinne einer Verfahrensanleitung dar (Gesprächstyp Befragung in Kap.- 6.3.1.). Diese Sichtweise trägt der Tatsache Rechnung, dass ein Mitarbeiter, will er im Unternehmen erfolgreich integriert sein, keinesfalls frei in der Herstellung von Verständigung, im Schlussfolgern oder in der Wahl einer Sichtweise ist. Es ist an ihm, vorgegebene Sichtweisen nachzuvollziehen und sie in seinem Umfeld und im Rahmen seiner Aufgabe umzusetzen (Sprachhandlung Perspektiven übernehmen in Kap.-5.5.2.). Zusätzlich zum Transport von Information wird in diesem Zug auch gleich eine Bandbreite möglicher Sichtweisen mitgeliefert. Das kommt funktional einer auf Informationstransport reduzierten Kommunikation gleich und übertrifft diese sogar insofern noch an Restriktion, als auch die Verleihung von Bedeutung vorgegeben ist. Die Mitarbeiter müssen den Interpretationsrahmen des Unternehmens kennen und in ihrem Sprachhandeln berücksichtigen, denn davon hängt ab, inwieweit der Einzelne selbst im Unternehmen Anerkennung und Integrität erreicht. Es handelt sich dabei um ein Spezifikum der Unternehmenskommunikation. Fiehler/ Becker-Mrotzek gehen davon aus, dass immer eine „gemeinschaftliche Hervorbringung“ von Verständigung gegeben ist. (Fiehler/ Becker-Mrotzek 2002, 9) Bei Kollegengesprächen oder homileischer Kommunikation trifft das zu, da Rollenunterschiede und Hierarchie nicht gegeben oder nur schwach ausgeprägt sind. Darin liegt der entscheidende Unterschied, denn beide Kriterien schränken die Voraussetzungen für gemeinsame Verständigung ein. Insofern hat ein Beteiligter eines Diskurses, der zur Unternehmensleitung gehört, zwar nicht „alles allein in der Hand“, aber zumindest mehr als die Mitarbeiter. Dieser Zusammenhang zeigt sich besonders in der diskursiven Mitarbeiterkommunikation. Kommunikation als Informationstransport, wobei Informationen in beide Richtungen weitergegeben werden, ist <?page no="46"?> 32 Theoretische Voraussetzungen deshalb eine häufig vertretene Sichtweise in der Literatur zur Kommunikation. „Die Mitarbeiterkommunikation dient der Förderung betrieblicher Leistungserstellung, indem sie Mitarbeiter einer Organisation informiert“ im Rahmen eines „beteiligenden Führungsstils“ (Klöfer/ Nies 1998, 93). Der Mitarbeiter soll die Informationen während der Arbeitszeit erwägen und in seinem sozialen Umfeld diskutieren (Klöfer/ Nies 1998, 104). Die Ausführungen von Klöfer/ Nies sind einerseits zwar abgegrenzt von einem Führungsstil des Anweisens, andererseits sehen Klöfer/ Nies nur nachrangig vor, dass der Mitarbeiter eigenständig gestaltende Sprachhandlungen vornimmt. Ich gehe davon aus, wie sich auch bei der Analyse des Datenkorpus zeigen wird, dass ein Angebot zur Beteiligung vorrangig auf die Anpassung der Mitarbeiter abzielt und die Mitarbeiter die Ziele der Unternehmensleitung übernehmen. Die moderne Systemtheorie behandelt Organisationen als autopoietische soziale Systeme. Zugleich wird eine provokant anmutende Behauptung mitgeführt: Organisationen bestehen nicht aus Menschen, sondern aus Ereignissen bzw. aus ereignishaften Operationen. Die in der Organisation produzierte Elementareinheit stellt einen besonderen Typ von Kommunikation dar, und zwar: Kommunikation von Entscheidung. Die Organisation unterscheidet sich von anderen kommunikativ produzierten Sinnzusammenhängen durch die Art der elementaren Operationsweise. Die Elemente bzw. die elementaren Operationen, aus denen eine Organisation sich zusammensetzt, sind Entscheidungen. Der Begriff der Autopoiese kommt ins Spiel, weil davon auszugehen ist, dass die Produktion der Elemente des Organisationssystems (Entscheidung) und damit die Prozesse der Grenzziehung im und vom System selbst vollzogen werden. (Weik/ Lang 2003, 154) Soweit Mitarbeiter jedoch innerhalb dieses Interpretations- und Handlungsrahmens Vorschläge machen, sind sie durchaus produktiv Beteiligte und nicht nur Weisungsempfänger (Sprachhandlung Vorschlag). So kommt es zum Transport von Informationen mitsamt den Richtlinien, innerhalb derer eigene Interpretationen möglich und notwendig sind. Der im vorigen Teilkapitel ausgeführte statische Organisationsbegriff muss den Aspekt des Ereignishaften als provokant einordnen, denn die Kommunikation von Entscheidungen steht dem beteiligenden Führungsstil entgegen. Die Berücksichtigung der traditionellen betriebswirtschaftlichen Vorstellung von Kommunikation als Informationstransport ist dennoch unabdingbar. Zumindest die Mitglieder der Unternehmensleitung unter den Chat-Teilnehmern tragen dieses Denken als vorrangig relevanten Teil ihres Weltwissens in den Chat hinein, indem sie ihr Sprachhandeln von der Absicht leiten lassen, Informationen mitzuteilen. Zusammengefasst kommt in Unternehmen instrumentalisierte und vermittelnde Kommunikation vor, die beide unter bestimmten formalen Bedingungen auftreten. Neue Mitglieder des Unternehmens müssen beide Arten zu kommunizieren erlernen und die formalen Bedingungen für die Anwendung einhalten. <?page no="47"?> Kommunikation in Unternehmen 33 Das unterstützt die Sichtweise der handlungstheoretisch orientierten Diskursanalyse, die davon ausgeht, dass sprachliche Handlungsmuster erlernt werden müssen. Die konversationsanalytische Vorstellung von einem per se adäquat handelnden Beteiligten in Unternehmen setzt ein gemeinsames Informiertsein über die Situation voraus, das wegen der spezifischen Beschränkungen in Unternehmen gerade nicht gegeben ist. Spezifische Einflussfaktoren sind die Hierarchie und formale Regeln im Unternehmen. An der Unternehmenskultur und an unternehmerischem Wandel zeigt sich das Zusammenwirken der beiden Einflussfaktoren. Ausbildung einer Unternehmenskultur Der Begriff Unternehmenskultur hat eine weitreichende Forschungsgeschichte, die Müller (2006, 33 ff.) aus soziolinguistischer Perspektive im Überblick darstellt. Für den Begriff Unternehmenskultur verwende ich im Weiteren die folgende Definition von Müller: Vereinfacht könnte man sagen, daß Kulturen durch die Gestaltung verbal-interaktiver Aufeinandertreffen der Mitglieder der Gemeinschaft (mit) konstituiert werden und daß die Eigenschaften der Gestaltung zu einem großen Teil auf automatisierten Prozessen und auf gemeinsamem sozialen Wissen beruhen. Dieses kulturwissenschaftliche Theorem können wir auch auf Organisationen anwenden. Wir können sagen, daß eine Organisationskultur im Zuge der lokalen und regelhaften diskursiven Verwirklichung des kommunikativen Haushalts in der Organisation entsteht. (Müller 2002, 186) Einen „bedeutungs- und wissensbasierten Kultur-Begriff, der Kultur als die in kollektiven Wissensordnungen verankerten, handlungsleitenden Sinnsysteme interpretiert“, vertritt Fraas (2004, 25). „Kollektivität der Wissensordnungen ergibt sich hier - über die mentale Ebene hinaus - aus der Parallelisierung von Verhaltensmustern und Wissensordnungen im Sinne sozialer Praktiken“ (ebd.). Eines der konstituierenden Elemente einer Unternehmenskultur ist also die Unternehmenskommunikation. Umgekehrt wird die Unternehmenskommunikation durch den gemeinsamen kulturellen Hintergrund der Beteiligten des Unternehmens beeinflusst. Die Unternehmenskommunikation bildet ein wesentliches Element der Unternehmenskultur, da ein erinnertes Wissen über bisherige Interpretationen besteht. Die Erwartungshaltung der Kommunikationsteilnehmer, einen „common ground“ zu haben, der als „gemeinsamer Wissensbestand“ „die Summe dessen darstellt, was mutuell gewusst, gemeint und angenommen wird“ (Wintermantel/ Becker-Beck 2000, 181 f.), bildet die Grundlage für die Reproduktion der wahrgenommenen Unternehmenskultur. 20 20 Der beschriebene Ablauf ist auch als allgemeines Schema auf andere Kommunikationssituationen anwendbar. Herring (1996b) stellt in der Beschreibung eines basic schema of electronic message die Absicht der Interaktanten „to establish common ground between the letter writer and the addressee“ als „link to the previous discourse“ fest. <?page no="48"?> 34 Theoretische Voraussetzungen Müller weist auf zwei „gegenläufige Tendenzen“ in der Erforschung der Unternehmenskultur hin, auf die analytische, rekonstruktive Anbindung konkreten, kommunikativen Geschehens an eine gesellschaftliche (kulturelle) Makrostruktur […] und ein gleichsam prädizierendes Moment, in der Annahme, dass sich kulturelle Systeme in der kommunikativen Praxis niederschlagen und dort aufzufinden seien. (Müller 2006, 36) Der Rückschluss auf das Vorhandensein einer Unternehmenskultur ist also aufgrund eines gemeinsamen Erfahrungshintergrunds zulässig, denn die „Analyse der Kommunikation als eines integralen Bestandteils institutionellen Handelns ist [...] gleichzeitig eine Analyse der Mechanismen gesellschaftlicher Reproduktion“ (Brünner 2000, 7). Kommunikation, die auf eine gemeinsame Unternehmenskultur zurückgreift, ist reproduzierend und vermittelnd, indem das Wissen wiederholt und in der Wiederholung an andere weitergegeben wird. Bei den Rezipienten führt die Vermittlung von Unternehmenskultur zur Anpassung und Übernahme der Unternehmenskultur. Das bedeutet, die Rezipienten von Kommunikationsprozessen, die eine bestimmte Unternehmenskultur vertreten und durch stetiges Wiederholen vermitteln, verwenden die Inhalte und die Vermittlungsweisen, die ihnen vermittelt wurden, selbst weiter. Indem sie immer neue Ausprägungen der ihnen vermittelten Unternehmenskultur produzieren werden sie so ihrerseits zu Vermittlern dieser Unternehmenskultur. Kallmeyer sieht in der „Einbindung von Kommunikationsprozessen und Ausdrucksweisen im Rahmen einer spezifischen Mediennutzung in die umfassendere Kommunikationspraxis der Akteure und übergreifende gesellschaftliche Handlungsstrukturen“ (Kallmeyer 2000, 294) ein „Ausstrahlen auf die Kommunikation außerhalb dieses Medienbereichs bis hin zu einem Wandel der Gemeinsprache“ (ebd., 293). Die Herausbildung einer Unternehmenskultur hat damit eine unmittelbare Funktion für die Erhaltung der organisatorischen Struktur des Unternehmens und folglich, wie im nächsten Abschnitt zu zeigen sein wird, für die Veränderung der Unternehmenskultur durch organisatorischen Wandel. Die Rolle der Kommunikation im organisatorischen Wandel Die Entwicklung von Wandel, ob aufgrund äußerer Einflüsse oder als Folge von Unternehmenszusammenschlüssen, wurde im vorhergehenden Kapitel-1.1. bereits dargestellt. Es werden neue Organisationseinheiten gebildet, die teilweise mehrere fusionierte, vormals unterschiedliche Organisationseinheiten umfassen. Dadurch entstehen organisatorische Schnittstellen, Lücken und Überschneidungen. Die Organisation wird neu strukturiert und diese neue Struktur kommunikativ durchgesetzt. Für die instrumentalisierte Kommunikation auf der Meso- und Makroebene bedeutet das, dass neue Sprachhandlungen kommunikativ mitgeteilt, deren systematische Erfassung und Umsetzung erwartet und deren Nichtbefolgung sanktioniert werden. <?page no="49"?> Kommunikation in Unternehmen 35 Wissenschaftliche Untersuchungen zur Rolle der unternehmensinternen Kommunikation im organisatorischen Wandel legt Vacek (2008 und 2009) vor, ein Überblick dazu aus organisationstheoretischer Sicht findet sich bei Kieser/ Hegele (1998). Einen Überblick über die Formen instrumentalisierter Unternehmenskommunikation im Rahmen von Unternehmenszusammenschlüssen gibt Pfannenberg (2003, 58 ff.). Kleinberger Günther (2003, 20 f.) untersucht die Tätigkeiten der Mitarbeiter in mehreren Unternehmen, die aufgrund ihrer Aufgabe oder Position eine Schlüsselrolle in der kommunikativen Vernetzung des Unternehmens haben. Damit führt sie einen empirischen Beleg für die „koordinierende Rolle“ der Kommunikation an. Auf der Mikroebene evoziert Wandel ein häufigeres Auftreten von Verständigungskommunikation, denn zwischen den Beteiligten entstehen neue Interaktionsmöglichkeiten und -bedarfe, vor allem aber neue Interaktionsregeln. In den Dimensionen innerhalb/ außerhalb und formell/ informell werden neue Standpunkte im Unternehmen festgelegt. Bisher informelle Kommunikationswege können nun formell sein und umgekehrt. Kontakte nach außerhalb, beispielweise in der Vertriebskommunikation, können sich nun innerhalb des Unternehmens befinden. So verändern sich Grenzen und auch Abgrenzungskriterien der unternehmensinternen Öffentlichkeiten. Den Begriff Öffentlichkeit verwende ich nach Pöttker: Vorläufig ist festzuhalten, dass unter Öffentlichkeit hier ein soziales Gebilde, eine Gruppe von Personen verstanden wird, für die zwei Merkmale charakteristisch sind: erstens, dass diese Personen relativ frei miteinander kommunizieren können (Unbeschränktheit), und zweitens, dass sie sich durch bestimmte Merkmale von Außenstehenden abheben und dadurch als Gruppenzugehörige kenntlich sind (Gemeinsamkeit). (Pöttker 2008, 19) Die Veränderung der Unternehmensgrenzen erfordert auch in der Interaktion neue Grenzziehungen und es bilden sich neue Fach- und Gruppensprachen. Pöttker weist darauf hin, dass dabei dem Internet als relativ neuem Kommunikationsmedium eine ambivalente Rolle zukommt: Einerseits bezieht der durch das Internet ermöglichte höhere Grad an Unbeschränktheit nun auch Themen in den öffentlichen Diskurs ein, die bisher weitgehend unbeachtet geblieben sind, und bezieht bisher als Subjekte dieses Diskurses ausgeschlossene Gruppen ein. […] Andererseits geht mit der durch das Internet ebenfalls begünstigten weiteren Zersplitterung von Öffentlichkeit(en) in immer kleinteiligere und sich überlagernde Segmente, mit dem Verlust des Diskurses auf wenige gesellschaftliche Probleme […] die Gefahr der Zerstreuung und dadurch bewirkten Abschwächung von öffentlichen Aufmerksamkeits- und Partizipationsenergien einher. (Pöttker 2008, 25) Soweit der organisatorische Wandel Gegenstand der Kommunikation ist, treten zwei Arten auf, darüber zu kommunizieren. Zum einen wird neues Wissen <?page no="50"?> 36 Theoretische Voraussetzungen vermittelt, das Mitarbeiter aus neu hinzugekommenen Organisationseinheiten sich aneignen sollen. Zum anderen findet neuartige Versprachlichung bekannten Wissens statt, das an Mitarbeiter in neu hinzugekommenen Organisationseinheiten weitergegeben oder aber das in den Interaktionssystemen neu gebildet wird. 1.3 Chat-Kommunikation und andere computervermittelte Kommunikation in Unternehmen Die Gesamtheit der Kommunikationsereignisse, die unter Nutzung von Computertechnologien zustande kommen, bildet die computervermittelte Kommunikation. Computer-mediated communication (CMC) is communication that takes place between human beings via the instrumentality of computers. (Herring 1996a, 1) Inzwischen haben die Kommunikationstechnologien eine Vielfalt und Diversifizierung der Nutzungsmöglichkeiten erreicht, die eine weitere Kategorisierung der computervermittelten Kommunikation erfordern. Innerhalb der computervermittelten Kommunikation werden die intranetbasierte und die internetbasierte Kommunikation abgegrenzt. So differenziert Beißwenger (2007, 31 ff.) für die technologisch unterstützten Kommunikationsformen die internetbasierte Kommunikation als Teilklasse aus der computervermittelten Kommunikation aus und definiert internetbasierte Kommunikation als die Gesamtheit aller Nutzungsweisen von Kommunikationstechnologien, deren Distributionsverfahren als IP-kompatibel gelten können und die auf Basis IP-basierter Computernetze realisiert werden. (Beißwenger 2007, 33) Die internetbasierte Kommunikation ist heute die fortschrittlichste und die richtungsweisende technologisch unterstützte Kommunikationsform. In großen Unternehmen wird technische Kommunikation schon aus ökonomischen Gründen über die technische Infrastruktur des Unternehmens unterstützt, ohne dass flächendeckend eine eigene Kommunikationstechnologie eingerichtet wird. Die technologischen Kommunikationsformen sind inzwischen weitgehend internetbasiert mit IP-kompatibler Kommunikationstechnologie. Daneben finden sich aber auch zeitlich früher eingeführte Technologien, die nicht IP-kompatibel sind, beispielsweise Frame Relay und Asynchronous Transfer Mode (ATM). Deshalb beziehe ich mich im Weiteren verallgemeinernd auf die computervermittelte Kommunikation, die weit gefasst alle technologisch unterstützten Kommunikationsformen einschließt. In Unternehmen wird die computervermittelte Kommunikation auch zur Kommunikation mit und unter Mitarbeitern genutzt. Ihre Ausbreitung in Unternehmen resultiert daraus, dass sie mit der Unabhängigkeit von räumlichen Distanzen wesentliche Vorteile in der Kommunikation zwischen Mitarbeitern <?page no="51"?> Chat-Kommunikation 37 bringt, besonders im Vergleich zur face-to-face Kommunikation, die geeignet sind, die spezifischen Probleme der Kommunikation in Unternehmen zu bewältigen. Beißwenger/ Storrer (2008) bieten einen Überblick über die bislang in der sprachwissenschaftlichen Forschung verwendeten Sprachdatenkorpora mit computervermittelter Kommunikation. Eine Überblicksdarstellung über die computervermittelte Kommunikation aus dem soziologischen Blickwinkel unter Einbeziehung sprachwissenschaftlicher Aspekte gibt Görl (2007). Eine Aufstellung der Vorteile der computervermittelten Kommunikation haben Wintermantel/ Becker-Beck (2000, 183 ff.) zusammengetragen. Dort findet sich auch ein Forschungsüberblick über die theoretischen Ansätze zum Vergleich von face-to-face und computervermittelter Kommunikation. Einen frühen Überblick über den medialen Einfluss der Kommunikationstechnologie auf die Sprache gibt Weingarten (1997), ein Überblick über die Ausbreitung technologieunterstützter Kommunikation in Unternehmen findet sich bei Wilkins (1991) und über die computervermittelte Kommunikation allgemein bei Herring (1996a). Zur internetbasierten Kommunikation bieten Androutsopoulos u. a. (2006) einen neueren Forschungsüberblick. Beißwenger/ Hoffmann/ Storrer (2004) haben einen Sammelband zur internetbasierten Kommunikation mit einem Schwerpunkt auf Diskurs- und Textstrukturen zusammengestellt. Die computervermittelte Kommunikation ermöglicht die kurzfristige Bildung virtueller Gruppen und ist zudem geeignet, interessenabhängige Intergruppen- Differenzen zu reduzieren, indem Aspekte, die nicht im Fokus der Gruppe stehen, weitgehend ausgeblendet werden. In Unternehmen hat die computervermittelte Kommunikation, neben der Erleichterung der formalen Geschäftskommunikation, verbesserte Grundlagen für informelle Kommunikation geschaffen. Neben der Ausbreitung der informellen mündlichen Kommunikation infolge der Einführung computervermittelter Kommunikationsmedien fördern auch die schriftlichen Formen computervermittelter Kommunikation die homileische Kommunikation. Es können viel mehr kurze Nachrichten verschickt als kurze Telefonate geführt werden, da die Bedenken, der Empfänger würde dadurch gestört, im Vergleich zum Telefonat gering sind (Kleinberger Günther 2003, 82). Das erleichtert auch die Äußerung von Affekten, so dass emotionale Themen mehr Raum haben als sonst im Unternehmensalltag 21 . Chat-Kommunikation Als recht neue Kommunikationsform erweckt die Chat-Kommunikation das Forschungsinteresse verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen, besonders der Linguistik, der Psychologie (Döring 2003) und der Organisationswissenschaften (Weik/ Lang 2003 und 2005, Kieser 2002). Während zur Chat-Techno- 21 Der Begriff Unternehmensalltag wird in Kap.-2.1.1. diskutiert. <?page no="52"?> 38 Theoretische Voraussetzungen logie 22 sowohl in der Gesprächsforschung als auch in der Computerlinguistik 23 wissenschaftliche Arbeiten vorliegen, befasst sich die linguistische Gesprächsforschung mit der Chat-Kommunikation als neuer kommunikativer Form. Grundlagenforschung zu den kommunikativen Formen, die durch die berufsbezogene Nutzung des Internet als Kommunikationsform entstanden sind, bieten Beißwenger/ Storrer (2005b), Dürscheid (1999), Holly/ Habscheid (2000 und 2001), Jakobs (1998), Meier (2000), Puck/ Exter (2005), Schütte (2000), Storrer (2007) und Wintermantel/ Becker-Beck (2000), spezifisch zur Kommunikation mit Mitarbeitern Harnoncourt (2005) und zwischen Mitarbeitern Otten (2005). In der Literatur wird die Trennung in synchrone und asynchrone computervermittelte Kommunikation als entscheidendes Merkmal der Kategorisierung herausgestellt (Beißwenger 2007, Hess-Lüttich/ Wilde 2004, Schönfeldt 2002, Storrer 2001, Jakobs 1998). Beispielsweise wird Telefonie synchron verwendet, bei den asynchronen computervermittelten Kommunikationsformen stehen E-Mail und Foren im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses. Dagegen findet sich in der Chat-Kommunikation eine Kombination synchroner und asynchroner Elemente. Die Unterscheidung von synchroner und asynchroner Kommunikation weist Unschärfen in der definitorischen Abgrenzung auf. Auch die asynchron konzipierte Kommunikation per E-Mail und in Foren enthält synchrone Elemente, wenn Empfänger und Adressat zur gleichen Zeit kommunizieren. So sind beispielsweise zurzeit E-Mail-Systeme für Unternehmen neu auf dem Markt, bei denen der Nutzer am Bildschirm erkennen kann, welche anderen Nutzer innerhalb des Systems ihr E-Mail-System geöffnet haben, so dass die Nutzer synchron über E-Mails kommunizieren können. Auch die Chats, die im empirischen Teil untersucht werden, enthalten neben synchroner Kommunikation asynchrone Elemente (Kap.- 4.2.). So haben die Chats zwar eine zeitliche Rahmung, indem sie als terminierte Chats für bestimmte Zeitfenster angekündigt und während dieser Zeit abgehalten wurden. Sie weisen aber vage Ränder auf, da sie teilweise zeitlich nach Abschluss des einzelnen Chats ergänzt wurden, soweit während des Chats Fragen aufgeworfen wurden, die nicht im Verlauf des Chats beantwortet werden konnten. Die fehlenden Antworten wurden nachträglich im Chat-Mitschnitt ergänzt und das gesamte Dokument im unternehmensinternen Intranet den Mitarbeitern zur Verfügung gestellt. Ein Chat ist auf zwei Stunden begrenzt. Der zeitliche Rahmen eines Chats hat insofern auch unscharfe Ränder, als die Mitarbeiter teil- 22 Beißwenger (2007, 510) definiert Chat-Technologie als „Kommunikationstechnologie, die einen […] synchronen (nicht […] simultanen) Austausch zwischen mehreren Kommunikanten ermöglicht, der auf einem das Internet Protocol (IP) und das Client-Server-Prinzip des Internet als Infrastruktur nutzenden Distributionsverfahren sowie auf Nutzerseite einem mit einer entsprechenden Client-Software ausgestatteten PC als Kommunikationsmittel basiert“. 23 Einen Überblick über die frühen Anfänge der Computerlinguistik gibt Schmitz (1992). <?page no="53"?> Chat-Kommunikation 39 weise bereits vor Beginn der Sitzung chatten und die Unternehmensleitung in einigen Fällen die Zeit überzieht (Kap.-4.2.1.). Im Hinblick auf meine Untersuchungen im empirischen Teil verwende ich deshalb für Chat, von der Definition von Beißwenger (2007, 70) ausgehend, eine adaptierte Definition. Als Chat bezeichne ich die konkrete Umsetzung einer Interaktion zwischen Interaktanten eines Personenkreises, dem dieser Chat vorher angekündigt wurde respektive von dem er initiiert wurde. Der Chat erhält durch Eröffnungs- und Beendigungsakte eine zeitliche Rahmung, die die Chat-Teilnehmer unter bestimmten organisatorischen Voraussetzungen (Kap.-4.2.1.: Chat-Merkmal A) überschreiten können. Während des Chats begonnene Sequenzen, die außerhalb des zeitlichen Rahmens abgeschlossen und im Chat-Mitschnitt dokumentiert werden, sind Teil des Chats. Die Gesamtheit der Chats des vorliegenden Datenkorpus wird als Chat-Kommunikation bezeichnet. Neben dem Merkmal der Synchronizität wird die Chat-Kommunikation als neue Kommunikationsform beschrieben, die durch graduelle Zwischenschritte zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit gekennzeichnet ist und zwischen der mündlichen und der schriftlichen Kommunikation eingeordnet wird. Eine Einordnung der Chat-Kommunikation als Kommunikationsform zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit haben Jakobs (1998), Schmidt (2000), Storrer (2001) und Thaler (2003) vorgenommen. Die Unterscheidung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit lässt sich auch am Stil festmachen. Eine Analyse der Netikette in der internetbasierten Kommunikation bieten Storrer/ Waldenberger (1998), eine Darstellung zum Stil in der internetbasierten Kommunikation legt Storrer (2009) vor. Mit der Untersuchung von Luckhardt (2009) liegt erstmals eine stilistische Untersuchung der Chat-Kommunikation vor. Chat-Kommunikation in Unternehmen In Unternehmen im deutschsprachigen Raum ist die Chat-Kommunikation seit einigen Jahren eine immer häufiger genutzte kommunikative Form. Auch zur wissenschaftlichen Erforschung der Chat-Kommunikation liegen bereits mehrere Untersuchungen vor. Arbeiten zu verschiedenen Aspekten der Nutzung von Chat-Kommunikation in Unternehmen enthält der von Beißwenger/ Storrer (2005a) zusammengestellte Sammelband. Das Interesse an der Chat- Kommunikation als Kommunikationsform für und in Unternehmen beruht darauf, dass die Chat-Kommunikation besser als die nicht virtuellen Kommunikationsformen in Unternehmen eine Mobilität der Interaktanten auf der Achse zwischen den Polen formaler vs. informeller Kommunikation zulässt. So sendet beispielsweise die Unternehmensleitung unredigierte Beiträge im Chat, während in allen anderen Kommunikationsformen der Mitarbeiterkommunikation die Äußerungen der Unternehmensleitung redigiert, bzw. im Fall von Reden, schriftlich vorbereitet werden (Wachtel 2009, 45). Eine Beschreibung <?page no="54"?> 40 Theoretische Voraussetzungen der Achse formale vs. informelle Kommunikation und die Einordnung in die Dimensionen wirtschaftslinguistischer Kommunikation nimmt Brünner (2000, 7 ff.) vor. Die Kommunikation in Unternehmen bewegt sich zwischen informeller und formeller Kommunikation, wobei sich die Interaktanten situationsabhängig graduell innerhalb dieser Dimension bewegen und die Wahl einer eher formellen oder eher informellen Kommunikation wesentlich von der situativ ausgeführten Tätigkeit abhängt (Brünner 1992). Hinsichtlich der Bedeutung der beiden Pole formell vs. informell sieht Luhmann eine Dominanz der informellen Kommunikation. Während die offizielle Darstellung der Organisation dazu tendieren wird, das formale Gerüst der Kompetenzen und Dienstwege als Bedingung dafür anzusehen, dass auch informale Kommunikation gewählt werden kann, mag die Netzwerkanalyse zeigen, dass informale Kommunikation dominiert und nur, gleichsam für Not- und Grenzfälle, das Zeremoniell der formalen Kommunikation bereithält. (Luhmann 2000, 25) In der computervermittelten Kommunikation in Unternehmen gibt es zwischen der formellen und informellen Kommunikation häufig keine klare Abgrenzung, d. h. es treten Merkmale für beide Formen innerhalb eines Redebeitrags auf. Das hat seine Ursache darin, dass die Teilnehmer oder zumindest Gruppen innerhalb des Teilnehmerkreises auf verschiedenen Kommunikationswegen innerhalb des Unternehmens kommunizieren. In den verschiedenen Diskursen gelten jeweils unterschiedliche Konventionen hinsichtlich der Regeln der formalen bzw. informellen Kommunikation. Diese hängen von den Faktoren Mündlichkeit vs. Schriftlichkeit ab, aber auch von der Zugehörigkeit zu Unternehmensbereichen und der Wirksamkeit der Hierarchie im situativen Zusammenhang eines Diskurses. Alle Faktoren wirken graduell auf die Kommunikation ein. Dabei sind mediale und konzeptionelle Mündlichkeit vs. Schriftlichkeit zu unterscheiden. Nach Koch/ Oesterreicher (1994) bezeichnet mediale Mündlichkeit vs. Schriftlichkeit die phonischen vs. verschrifteten Medien, während konzeptionell die Abgrenzung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit nicht dichotom, sondern, abhängig von den jeweiligen Merkmalen 24 dafür, graduell ist. Beim Medium sind die Begriffe ‚mündlich/ schriftlich‘ dichotomisch zu verstehen […]. Bei der Konzeption bezeichnen die Begriffe ‚mündlich/ schriftlich‘ demgegenüber die Endpunkte eines Kontinuums. (Koch/ Oesterreicher 1994, 587) Dabei gehen Koch/ Oesterreicher von einer Tendenz zur Verwendung konzeptioneller Mündlichkeit in mündlichen und konzeptioneller Schriftlichkeit in schriftlichen kommunikativen Formen aus. 24 Als Merkmale für konzeptionelle Mündlichkeit nennen Koch/ Oesterreicher (1994, 590) „Gesprächswörter und verwandte Verfahren […], die auf Situationseinbettung, geringe Planung, Dialogizität und Emotionalität zugeschnitten sind“. <?page no="55"?> Chat-Kommunikation 41 Die prinzipielle Unabhängigkeit von Medium und Konzeption steht nicht im Widerspruch dazu, daß einerseits zwischen dem phonischen Medium und konzeptionell mündlichen Äußerungsformen, andererseits zwischen dem graphischen Medium und konzeptionell schriftlichen Äußerungsformen eine ausgeprägte Affinität besteht. (Koch/ Oesterreicher 1994, 587) In der Chat-Kommunikation steht der gegebenen medialen Schriftlichkeit konzeptionell vorwiegend Mündlichkeit gegenüber. Das für diese Untersuchung vorliegende Datenkorpus beinhaltet Chat-Kommunikation, die als neue Kommunikationsform im Unternehmen eingeführt wird und einen neuen vertikalen Kommunikationsweg darstellt (Kap. 4.2.1.), so dass also ein Umbruch in der Kommunikationssituation des Unternehmens besteht. für kulturgeschichtliche, pragmatische und sprachgeschichtliche Umbrüche [sind] gerade die gegenläufigen Kombinationen (medial graphisch/ konzeptionell mündlich; medial phonisch/ konzeptionell schriftlich) von besonderem Interesse (Koch/ Oesterreicher 1994, 587) In dem Datenkorpus, das ich im empirischen Teil untersuche, ist medial durchwegs Schriftlichkeit gegeben. Konzeptionell sind die Beiträge im gesamten Bereich zwischen den beiden Polen Mündlichkeit vs. Schriftlichkeit angelegt. Dafür lassen sich zwei Ursachen feststellen: die Situation, dass die Beiträge der Unternehmensleitung nicht redigiert werden und die teilweise offenkundig vor dem Chat vorbereiteten Beiträge der Mitarbeiter. Die Beiträge der Chat-Teilnehmer sind nicht redigiert, wie es andere schriftlich verbreitete Kommunikationsformen in Unternehmen sind, beispielsweise Unternehmensbroschüren und Mitarbeiterzeitungen, wobei das vor allem bei den Beiträgen der Unternehmensleitung auffällt. Im Beispiel 25 „Totale Hitze“ und im Beispiel „E-Business“, das in Kap.-6.4. ausführlich analysiert wird, sind die Beiträge der Vorstände mündlich konzipiert. Totale Hitze 1 V Guten Morgen allerseits. Hier in Frankfurt nach wie vor die totale Hitze. Hoffe, es geht Ihnen gut und die Umsätze laufen ebenso heiß. [Vorstand] Mit „allerseits“, „totale Hitze“ und „die Umsätze laufen ebenso heiß“ verwendet der Vorstand umgangssprachliche Redewendungen, die in schriftlichen Äußerungen der Unternehmensleitung außerhalb des Chats, soweit sie überhaupt vorkommen, unüblich wären. 25 Die Aufbereitung der Daten ist in Kap.-4.2.1. dargestellt. <?page no="56"?> 42 Theoretische Voraussetzungen E-Business (Auszug) 158 V Einkaufsplattform geplant und (sehr langsam) im Roll out begriffen. Viele Kollegen wollen sich davor drücken, weil das alte Bestellverfahren und EK-Verfahren ungern verlassen wird. Freiwilligkeit hört hier jetzt auf. Werden das mit Macht durchdrücken. Mit kurzen, fragmentarischen Sätzen („Freiwilligkeit hört hier jetzt auf “, „Einkaufsplattform geplant“, „Werden das mit Macht durchdrücken“), einer umgangssprachlichen Redewendung („sich davor drücken“) sowie vagen Formulierungen von Emotionen („ungern“) und deiktischen Ausdrücken („hier jetzt“) weist der Beitrag einen sprachlichen Duktus auf, den man mit konzeptioneller Mündlichkeit in Verbindung bringt. Die zweite Ursache für die konzeptionell breite Streuung der Beiträge zwischen mündlich und schriftlich ist die unterschiedliche Vorbereitung der Mitarbeiter auf den Chat. Manche Mitarbeiter bereiten ausformulierte Beiträge, meist Fragen, vor, wie im Beispiel „Amerikanisierung“ (Kap.-6.4.) oder im folgenden Auszug aus dem Beispiel „Bildungsregeln“, das in Kap.-5.2.1. ausführlich besprochen wird. Bildungsregeln (Auszug) 87 MA Sehr geehrter Herr [Vorstand], bei der Vorstellung des mit großer Spannung erwarteten [Marketingaktion] am [Datum] sind Sie und Ihre Kollegen der Frage nach den Bildungsregeln im Vertrieb weitestgehend ausgewichen. Können Sie hierzu heute Näheres bekanntgeben? Mit der Gesprächseröffnung im Briefstil („Sehr geehrter Herr [Vorstand]“) und Detailangaben (Bezeichnung der Marketingaktion, genaue Angabe des Datums) enthält der Beitrag Stilelemente, die eher der konzeptionellen Schriftlichkeit zugeordnet werden. Die Häufung solcher Stilelemente deutet auf eine Vorbereitung des Beitrags vor dem Chat hin, so dass bei diesen Beiträgen Asynchronität in Betracht gezogen werden muss. Die Behandlung belegbar asynchroner Beiträge, die die Unternehmensleitung nach Ablauf des Chat in den Chat-Mitschnitt einfügt, um Fragen zu beantworten und damit Sequenzen zu schließen, ist in Kap. 4.2. dargestellt. Dagegen nehmen andere Mitarbeiter, wie im Beispiel „Pinguin“, das in Kap.- 5.3.1.1. ausführlich besprochen wird, mit spontanen Beiträgen am Chat teil. <?page no="57"?> Chat-Kommunikation 43 Pinguin 23 TUX was ist [Akronym Organisationseinheit]? 24 MA1 [vollständige Bezeichnung Organisationseinheit] 25 MA2 Tux...wie kommst Du auf den Namen? 26 TUX ich bin ein pinguin 27 MA2 was ist das Die Sequenz bildet einen Diskurs zwischen drei Mitarbeitern ab, an dem die Unternehmensleitung nicht beteiligt ist, wobei bei einem Mitarbeiter zum Verständnis des Beispiels das verwendete Pseudonym („TUX“) angegeben ist. Die konzeptionelle Mündlichkeit der Beiträge ist durch kurze, teilweise fragmentarische Sätze, fehlende Interpunktion und die Verschriftlichung von Sprechpausen („Tux...wie“) gekennzeichnet. Hoffmann (2004) fasst die zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit angelegten Diskurse der Chat-Kommunikation im Vergleich zu Texten als Paradiskurse zusammen, wobei das „diskursive Moment“ darin besteht, dass der Chat anders als Texte, nicht primär auf das dauerhafte Konservieren der Äußerungen abzielt, sondern auf „aktuelle Verständigung“. Was jeweils auf den Schirmen entsteht, erhält in der Rezeption diskursive Qualität. Zweck ist eine unmittelbare Kommunikation, die wechselseitige Verständigung aktualgenetisch, im zeitlichen Nahbereich anstrebt. Daher schlage ich vor, von einer PARADISKURSIVEN Form zu sprechen. Funktionieren kann sie nur, weil sie Überlieferungsqualitäten der Textualität nutzt. Dadurch behält sie eine Differenz zum elementaren Face-to-Face-Diskurs. (Hoffmann 2004, 105) Die Manifestation der Chat-Kommunikation zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit ist graduell. Das kommt dem Verwendungszweck des Chats in Unternehmen entgegen, da damit die Absicht, die Grenzen zwischen formeller und informeller Kommunikation fließend zu gestalten, besser verfolgt werden kann. Die Organisation der Chat-Kommunikation in Unternehmen Erste Computernetzwerke wurden bereits in den 1960er Jahren in Unternehmen gebildet. Ab den 1980er Jahren wurde E-Mail eingeführt (Janich 1994), das sich bis Ende der 1990er Jahre zum Standard entwickelte. In den 1990er Jahren setzte sich die Chat-Kommunikation als Kommunikationsform der computervermittelten Kommunikation in Unternehmen durch und begann sich rasch auszubreiten (Boos/ Jonas/ Sassenberg 2000, Thimm 2002a). Einen Überblick über die Schlüsselfunktion, die E-Communication und E-Information zu Beginn des Jahrtausends in Unternehmen einnahmen, gibt Lucke (2003, 33). <?page no="58"?> 44 Theoretische Voraussetzungen Die Verwendung von Chat-Kommunikation in Unternehmen setzte zunächst mit der Einführung des Intranets als dominierender Kommunikationstechnologie ein und die Entwicklung in deutschen Unternehmen folgte der Vorreiterrolle des amerikanischen Marktes nach. Inzwischen sind computervermittelte Kommunikationsformen wie Internettelefonie, Chat-Kommunikation und E-Mail 26 , computeruntervermittelte Wissensdatenbanken, Computerconferencing (Yates 1996, Cornelius 2001), Videoconferencing 27 (Meier 2000 und 2002b) und Netmeeting gängige Kommunikationsformen in Unternehmen. Eine Untersuchung der Kommunikationsformen und Kommunikationsstrukturen der beruflichen computervermittelten Kommunikation stellt Goll (2008) vor. Die Chat-Kommunikation in Unternehmen grenzt sich nach den Kriterien „Teilnehmer“ und „Teilnehmerinteressen“ von anderen Formen der Chat-Kommunikation dadurch ab, dass die Teilnehmer alle dem Unternehmen angehören und die Teilnehmerinteressen Belange des Unternehmens umfassen. Eine Besonderheit stellen die Chats des vorliegenden Datenkorpus dar, in denen die Unternehmensleitung am Chat teilnimmt. Die Abgrenzung der Chat-Kommunikation zwischen der Unternehmensleitung und den Mitarbeitern gegenüber anderen Formen der Mitarbeiterkommunikation beruht auf dem direkten Diskurs der Mitarbeiter mit der Unternehmensleitung, der sonst nur bei Veranstaltungen für Mitarbeiter (Roadshow, Mitarbeiter-Stammtisch) gegeben ist. Gegenüber anderen Veranstaltungen für Mitarbeiter ist die Chat-Kommunikation durch ihre Unabhängigkeit von der räumlichen Verteilung der teilnehmenden Mitarbeiter abgegrenzt, wobei das Merkmal zugleich einen Vorteil des Chats darstellt. Der Chat unterstützt damit den Eindruck von der großen, homogenen Gemeinschaft aller Mitarbeiter des Unternehmens. Chat-Kommunikation wird in Unternehmen für die Mitarbeiterkommunikation genutzt. In großen Unternehmen, deren Internetpräsenz von Bewerbern besucht wird, wird Chat-Kommunikation über das Internet zur Unterstützung der Personalbeschaffung eingesetzt (Puck/ Exter 2005). Innerhalb des Unternehmens wird Chat-Kommunikation als virtueller Raum für die informelle Kommunikation der Mitarbeiter untereinander und in der Kommunikation der Führungskräfte mit Mitarbeitern innerhalb kleinerer Organisationseinheiten genutzt. Neben den weichen Zielen, wie der einfachen sowie schnellen Kontaktmöglichkeit und Eigenwerbung für das Unternehmen aufgrund der Aktualität 26 Eine Begriffsbestimmung und die funktionale Einordnung des Intranet in die Medien der Mitarbeiterkommunikation nimmt Rommert (2002) vor. 27 Die Deutsche Telekom AG setzt seit Mai 2009 ein technologisches System zur Abhaltung von Videokonferenzen für die Kommunikation zwischen Mitarbeitern an vier Standorten ein und nimmt damit, wie bereits mit der Chat-Kommunikation zwischen den Mitarbeitern und der Unternehmensleitung, die in der vorliegenden Arbeit untersucht wird, eine Pionierrolle ein (www.telekom.de, 13.05.2009). <?page no="59"?> Chat-Kommunikation 45 des Mediums, haben diese Nutzungsweisen der Chat-Kommunikation das wirtschaftliche Ziel, die Kosten der Mitarbeiterkommunikation zu reduzieren. Zunehmend wird Chat-Kommunikation als Instrument der Kostensenkung eingesetzt. Kostensenkung lässt sich besonders dann realisieren, wenn Geschäftsfelder neu aufgebaut werden, so dass von Beginn an ausschließlich internetbasierte Kommunikation eingesetzt werden kann oder wenn die virtuelle Kommunikation im Wesentlichen nicht unternehmensintern, sondern über das World Wide Web erfolgt, wie das beispielsweise bei Chats, in denen sich Bewerber vorstellen können, üblich ist. Puck/ Exter resümieren, dass „dieser Weg der Personalbeschaffung insbesondere für diejenigen Unternehmungen preiswerter, aktueller und authentischer als die Nutzung anderer Rekrutierungswege im Internet, die über eine stark frequentierte Homepage verfügen“ sein könnte (Puck/ Exter 2005, 290). Auch der Einsatz von Chats innerhalb kleiner Gruppen wirkt kostensenkend, da diese die Belastung der technischen Infrastruktur nur unerheblich beeinflussen. Beim Einsatz von Chat-Kommunikation für große Teilnehmerzahlen stellt sich die Situation anders dar. Der Chat bedeutet dann eine überdurchschnittliche Belastung der technischen Infrastruktur, die die Schwankungsbreite übersteigt, für die diese ausgelegt ist. Dadurch werden erhebliche zusätzliche Kosten verursacht, sowohl durch die Erhöhung der technischen Kapazitäten als auch durch die Kanalisierung der Datenströme. Nach den Erfahrungen der Unternehmensleitung der Deutschen Telekom AG ist, wie mir im Vorgespräch im Herbst 2002 erläutert wurde, Chat-Kommunikation, die für alle Mitarbeiter einer oder mehrerer Organisationseinheiten angeboten wird, ein kostenintensives Instrument. Die technische Infrastruktur wird nicht nur durch die Chat-Teilnehmer, die Beiträge senden, sondern auch durch die Lurker 28 , als mitlesende, nicht selbst postende Chat-Teilnehmer erheblich belastet. Vergleicht man einen Chat innerhalb einer großen Organisationseinheit mit einer entsprechenden Anzahl lokaler Veranstaltungen, zu denen die Unternehmensleitung anreist, so ist der Chat finanziell erheblich aufwändiger. Diese Mehrkosten werden von der Unternehmensleitung als Investition gesehen, da man sich vom Chat verspricht, bei den Mitarbeitern Hemmschwellen abzubauen, mit der Unternehmensleitung zu kommunizieren. Zudem will die Unternehmensleitung als Repräsentant des Unternehmens im Chat (Kap.-3.2.1.) den Mitarbeitern das Unternehmensbild vermitteln (Kap.-5). Chat-Kommunikation mit der Unternehmensleitung findet in großen Unternehmen im deutschsprachigen Raum wenig statt. Im Rahmen einer telefonischen Erhebung im Oktober 2002 bei den dreißig im Deutschen Aktienindex (DAX) börsennotierten Unternehmen gab außer der Deutschen Telekom AG 28 Wie sich das Phänomen des Lurkens im vorliegenden Datenkorpus darstellt ist in Kap. 4.2.1. beschrieben. <?page no="60"?> 46 Theoretische Voraussetzungen nur ein Unternehmen an, Chats kurzzeitig durchgeführt zu haben. Ein weiteres Unternehmen hatte Chats geplant, das Vorhaben jedoch noch vor der Umsetzung wieder verworfen. Bei einer Wiederholung der telefonischen Erhebung im Februar 2009 gaben neun Unternehmen an, dass sie Blogs für die Kommunikation der Unternehmensleitung mit den Mitarbeitern nutzen, und zwölf Unternehmen gaben an, dass sie anderweitig Chat-Kommunikation als Instrument der Mitarbeiterkommunikation einsetzen oder zwischenzeitlich vorübergehend eingesetzt haben. 29 Als Instrument der Kostensenkung, beispielsweise in Chats für Bewerber oder bei der Verwendung von Chat-Kommunikation durch Projektgruppen, hat sich die Chat-Kommunikation jedoch durchaus in Unternehmen ausgebreitet. Die Einordnung der Chat-Kommunikation in die Kommunikationsformen in Unternehmen In Unternehmen findet die Chat-Kommunikation im Rahmen des Intranet statt, wo sie als Kommunikationsform für den Diskurs zwischen Mitarbeitern angeboten wird. Das Intranet ist für die Mitarbeiter gleichermaßen zum Abruf von Informationen wie zum diskursiven Austausch mittels Dialogmedien vorgesehen. Meier (2002c, 48) unterscheidet bei den internen Medien Dialog- und Informationsmedien, schlägt das Intranet als Orientierungsmedium für die Mitarbeiter aber beidem zu. Die Chat-Kommunikation wirkt strukturbildend auf die Unternehmenskommunikation und prägt neue Kommunikationsverhältnisse, die sich vor allem in der quantitativen Nutzung der verschiedenen Kommunikationsmedien und Kommunikationsformen abbilden. Die daraus resultierenden vielfältigen Bedenken, die computervermittelte Kommunikation könnte bestehende Kommunikationsformen in Unternehmen verdrängen, hat Kleinberger Günther (2003, 79 f.) zusammengetragen. Nach den anfänglichen Beobachtungen verdrängen allgemein die neuen Medien die alten Medien nicht, sondern die bestehenden kommunikativen Aufgaben und Funktionen werden neu verteilt (McLuhan 1995). Auch in den neueren Forschungen haben sich die Befürchtungen nicht bestätigt. Vielmehr ist die computervermittelte Kommunikation in Unternehmen inzwischen, wie vermutet, eine Ergänzung zu den bestehenden Kommunikationsformen und -medien, die in Unternehmen verwendet werden (Kleinberger Günther 2003, 80). Worin die Ergänzung der bestehenden Kommunikationsformen und -medien durch computervermittelte Kommunikation besteht, soll am Beispiel der Chat-Kommunikation gezeigt werden. In den letzten zehn Jahren sind im deutschsprachigen Raum immer wieder Versuche unternommen worden, Chat- 29 Verena Thaler teilte mir freundlicherweise ihre Beobachtungen mit, dass in kleineren Unternehmen in Frankreich die Unternehmensleitung vermehrt über Instant Messaging mit den Mitarbeitern kommuniziert. <?page no="61"?> Chat-Kommunikation 47 Kommunikation in Unternehmen über die homileische Kommunikation unter Mitarbeitern hinaus einzusetzen. In der Personalbeschaffung sowie für Besprechungen hat sich der Einsatz von Chat-Kommunikation durchgesetzt. Mit den Chats, die das vorliegende Datenkorpus umfasst, verfolgt die Unternehmensleitung die Absicht, bestehende kommunikative Aufgaben besser wahrzunehmen. Die Chat-Kommunikation soll als Kommunikationsform eingesetzt werden, die die Unternehmensleitung in direkten Diskurs mit den Mitarbeitern bringt, zu denen in allen übrigen unternehmensinternen Kommunikationsformen nur mittelbarer Kontakt über weitere Personen aus dem Umfeld der Unternehmensleitung besteht. Spranz-Fogasy (2002b, 222) teilt diese Personen ein in „Nah-Personal“, zu dem Assistenten zählen, Führungspersonal und Gruppenvertreter, wie z. B. Betriebsräte. Die Motivation der Unternehmensleitung, unabhängig von den in vielfältigen Kommunikationsformen umgesetzten hierarchischen Informationswegen gerade im Chat den unmittelbaren Diskurs mit den Mitarbeitern zu suchen, ist die Möglichkeit, die Mitarbeiter direkt zu informieren und zu beraten, um für das Unternehmen und die Unternehmensziele zu werben und das eigene Image zu formen. Die Vorgehensweise, die Unternehmensleitungen dabei bevorzugen, beschreibt Spranz-Fogasy im Rahmen seiner Untersuchungen. Führungskräfte operieren in ausgeprägter Weise mit kulturell anerkannten kommunikativen Werten. So z. B. Empathie, Awareness, Involvement, besonders anerkannte Formen der Selbstpräsentation (z. B. bzgl. Kompetenz, Integrität etc.), Dezidiertheit, Prägnanz, Zielführung, syntaktische Korrektheit (im Sinne schriftsprachlicher Standards), variabel adaptierter Wortschatz (elaboriert bis volkstümlich) usw. (Spranz-Fogasy 2002b, 226) Ein großer Teil des beschriebenen kommunikativen Verhaltens kommt nur im Diskurs zum Tragen und geht bei mittelbarer Kommunikation über weitere Personen verloren. Spranz-Fogasy (2002b, 210) folgt in dem von ihm beschriebenen Mannheimer Forschungsprojekt der Grundannahme, dass „Kommunikationsstile die spezifischen Anforderungen reflektieren, denen sich die jeweiligen Gruppen in ihrer sozialen Welt gegenüber sehen“. Diese Anforderungen prägen das Kommunikationshandeln in einer für diese soziale Welt typischen Weise aus. Die spezifische Ausprägung macht das Kommunikationshandeln dann für die Mitglieder der Gemeinschaft erkennbar, lässt sie an der Gemeinschaft teilhaben und separiert sie von anderen sozialen Gruppen. (Spranz-Fogasy (2002b, 226) In der Zusammenschau mit der Forderung von Deekeling nach einer Unternehmensleitung, die das Unternehmen als Führungspersönlichkeit repräsentiert (Kap.- 3.2.1.), ergibt sich mit der Chat-Kommunikation ein Kommunikationsinstrument, mit dem sich die Anforderungen an die Unternehmensleitung, ein Image als Führungspersönlichkeit zu pflegen, umsetzen lassen. Der Diskurs in <?page no="62"?> 48 Theoretische Voraussetzungen der Chat-Kommunikation, unabhängig von Mittelspersonen, bietet den Mitgliedern der Unternehmensleitung die Möglichkeit, sich als Unternehmerpersönlichkeiten zu präsentieren und kommunikative Mittel der Selbstpräsentation einzusetzen. Diese Präsentation der Unternehmerpersönlichkeit wird inzwischen auch in den Wirtschaftswissenschaften als notwendige Funktion erkannt 30 . Das erklärt die eingangs des Kapitels bereits beschriebene Akzeptanz der Investitionskosten für die Durchführung von Chat-Kommunikation und den Vergleich der Chat-Kommunikation mit der face-to-face Kommunikation. Die Absicht, die Chat-Kommunikation für die Bewältigung von kommunikativen Aufgaben zu nutzen, für die bisher andere Kommunikationsformen verwendet wurden, führt zur Weiterführung von Textsorten in der Chat-Kommunikation, die sich auch bisher bei den Mittelspersonen bewährt haben. So werden alle Gesprächsformen in der Wirtschaft, aus denen Sprachhandeln in die Chat-Kommunikation übertragen wird, von den Teilnehmern der vorliegenden Chats verwendet. Ein Überblick über die Vielfalt und Heterogenität der Kommunikationsformen in der Wirtschaft findet sich bei Brünner (2002). In der Chat-Kommunikation zwischen den Mitarbeitern und der Unternehmensleitung verwenden die Mitarbeiter häufig den Briefstil, den sie auch in einem Brief an die Unternehmensleitung mit der Funktion, Anfragen, Kritik oder Vorschläge zu äußern, verwenden würden. Die Unternehmensleitung verwendet in der Chat-Kommunikation den Interviewstil, mit der Funktion, publikumsrelevante Antworten medial aufzubereiten, den sie sonst in anderen für die Mitarbeiter bestimmten Textsorten verwendet. Beide Sprachhandlungen bedeuten ein Ausweichen auf Kommunikationsformen, die ihnen gegenüber ihren Gesprächspartnern vertrauter als die Chat-Kommunikation sind, aber die gleiche Funktion haben. Sprachhandlungskoordination in der Chat-Kommunikation im Unternehmen Der Begriff Turn-taking, wie er von Sacks/ Schegloff/ Jefferson (1974) für mündliche Diskurse geprägt wurde, ist für die synchrone computervermittelte Kommunikation nur eingeschränkt verwendbar. Bereits für elektronische Messages als frühe und einfache Form der synchronen computervermittelten Kommunikation hat Murray die Gesprächsorganisation durch Turn-taking als freiwillige Selbstverpflichtung beschrieben. because of the technical constraints on computer conversation, parties do not have to allocate turns; they can be taken more or less at will. (Murray 1989, 325) 30 Wachtel (2009, 45) beklagt, dass die Vorbereitungsmethoden für Reden von Vorständen für Mitarbeiter keinen „wirklich eigenen Stil gestatten“ und fordert „einen mündlichen, originären Sprachstil, weniger elaboriert als das übliche Manuskript und weniger artifiziell entstanden als der Slogan“. <?page no="63"?> Chat-Kommunikation 49 Vielmehr geht Murray für das Sprachhandeln der Interaktanten von einer Trennung der Gesprächsorganisation von den sequentiellen Handlungsverpflichtungen aus, die aus dem sprachlichen Handlungsmuster entstehen. Because both parties can talk at the same time, there is no need for turn allocation techniques […]. There is no necessary sequencing of adjacency pairs, nor the concept of an adjacency pair as a unit of organization. (Murray 1989, 331) The action begins with the initiating speech act and ends only when both (or all) parties agree that the action has been brought to a successful conclusion. Thus, conversations can be embedded in other ongoing conversations. (ebd., 332) In der Chat-Kommunikation als wesentlich komplexerer Form der computervermittelten Kommunikation bedeutet das, dass die Chat-Teilnehmer Beiträge senden können, die zwar dem Handlungsmuster des Gesprächsstrangs, an dem sie teilnehmen, verpflichtet sind, aber im Verlauf des Chats nach dem Mühlen-Prinzip 31 mit Beiträgen wechseln, die zu anderen Gesprächssträngen gehören. Dabei ist es für den Interaktanten im Hinblick auf die Gesprächsorganisation unerheblich und auch nicht ersichtlich, ob ihm die anderen beteiligten Chat-Teilnehmer ein Schreibrecht, vergleichbar dem Rederecht 32 in den mündlichen Kommunikationsformen, gewähren. Zudem bewirkt die Unsichtbarkeit der Textproduktion in der Chat-Kommunikation, dass Teilnehmer zeitlich parallel Beiträge schreiben und während der Laufzeit der Äußerung keine Abstimmung unter den Interaktanten stattfinden kann. Aufgrund der Abfolge der Beiträge nach dem Mühlen-Prinzip, der parallelen Produktion von Beiträgen, der Unsichtbarkeit der Textproduktion und der daraus resultierend fehlenden Abstimmung der Teilnehmer während der Äußerung wird in der neueren Literatur zur Chat-Kommunikation (z. B. Beißwenger 2007) die Verwendung des Begriffs Turn-taking aufgrund der im Vergleich zur mündlichen Kommunikation unterschiedlichen Rahmenbedingungen als problematisch angesehen. So beruht auch im vorliegenden Datenkorpus die Abfolge der Beiträge der Chat-Teilnehmer nicht auf Sprecherwechsel und Turn-taking, da die strikten Bedingungen dafür nicht abgrenzbar sind. Im Folgenden soll nun festgestellt werden, wie die Interaktion der Chat-Teilnehmer organisiert ist. Bei der Organisation der Chats wurden zunächst Benutzeroberflächen eingesetzt, die alle eingehenden Beiträge nach dem Mühlen-Prinzip nacheinander fortlaufend aufgelistet auf dem Bildschirm darstellen (Chat-Typ 1, Kap.-4.2.1.). In den folgenden Phasen der Organisation (Abb.-20, Kap.-4.2.1.) kamen Chats hinzu, bei 31 Der Begriff Mühlen-Prinzip ist durch Wichter (1991, 78 ff.) geprägt und bezeichnet die technisch bedingte Wiedergabe der Chat-Beiträge der einzelnen Teilnehmer in Sequenzen in der Reihenfolge ihres Eingangs am Zielserver. 32 Unter dem Begriff Rederecht ist nach Zifonun/ Hoffmann/ Strecker (1997, 469) „das Recht eines Sprechers, eine Äußerung den aktuellen kommunikativen Bedingungen entsprechend bis zum geplanten Abschlußpunkt zu realisieren“ zu verstehen. <?page no="64"?> 50 Theoretische Voraussetzungen denen diese Auflistung nur noch für die Beiträge der Mitarbeiter angewandt wurde (Chat-Typ 2, Kap.- 4.2.1.) und die Beiträge (Antworten) der Unternehmensleitung den entsprechenden Beiträgen (z. B. Fragen, Kritik, Vorschläge) der Mitarbeiter zugeordnet wurden. Dabei handelt es sich um Beitragswechsel, da die Beiträge unabhängig davon, ob die anderen Chat-Teilnehmer dem Absender ein Schreibrecht einräumen, gesendet werden, wobei die Interaktanten aber innerhalb der Gesprächsstränge ihren sequentiellen Verpflichtungen, die aus dem Handlungsmuster entstehen, nachkommen. Den Übergang von einem Beitrag zum nächsten bezeichne ich daher als Beitragswechsel und die Berechtigung der Teilnehmer, Beiträge zu schreiben, als Beitragsrecht. Die technische Organisation der Abfolge der Chats im Chat-Typ 2 und die bestehenden Konventionen, die das Rederecht regeln, bewirken, dass die Unternehmensleitung die Gesprächsorganisation beeinflusst und somit ein erweitertes Schreibrecht hat. Als erweitertes Schreibrecht bezeichne ich die Möglichkeit der Unternehmensleitung, ihre Beiträge, unabhängig vom zeitlichen Verlauf des Chat, in die den Beiträgen der Mitarbeiter zugeordneten freien Felder zu schreiben. Das erweiterte Schreibrecht und das Beitragsrecht bezeichne ich übergeordnet als Äußerungsrechte. Die beiden Faktoren, die den Beitragswechsel und das Schreibrecht beeinflussen, sind die von der Unternehmensleitung eingeräumte Bevorrechtigung der Mitarbeiter zu Fragen (Kap.-6.3., Beispiel „Rechtsverbindlich“ in Kap.-6.4., Beispiel „Moderator“ in diesem Kapitel), die durch die Ermunterung zu Vorschlägen und Kritik (Kap.- 6.2.2.2., Beispiel „Moderator“, Beispiel „Mitarbeiterzeitung“ in Kap.-6.4.) ergänzt wird, und die Zuordnung von Antworten in freie Textfelder auf der Benutzeroberfläche, die neben den Fragen der Mitarbeiter eröffnet werden. Bereits im Vorfeld der Organisation der Chats hat die Unternehmensleitung als Zielsetzung (Kap.- 4.2.1.) festgelegt, den Mitarbeitern Fragen zu Ereignissen und Zusammenhängen im Unternehmen zu beantworten und unternehmerische Maßnahmen zu erläutern. Daraus wurden für den Diskurs im Chat die Konventionen abgeleitet, dass den Mitarbeitern grundsätzlich Rederecht eingeräumt ist und die Unternehmensleitung alle Fragen beantwortet und auf Vorschläge und Kritik eingeht. Mit diesem Anspruch begibt sich die Unternehmensleitung in die selbst gewählte sequentielle Verpflichtung, das entsprechende Handlungsmuster zu erfüllen, sobald ein Mitarbeiter einen Beitrag sendet. Wie verbindlich diese Konvention ist, zeigt sich daran, dass in den meisten Chats die Fragen entweder vollständig beantwortet oder, soweit das in stark frequentierten Chats wegen technischer Schwierigkeiten oder der Notwendigkeit, Expertenrat einzuholen, nicht möglich ist, die Antworten asynchron per E-Mail oder im Intranet nachgereicht werden (Abb.-20). In den Chats des Chat-Typ 1, in denen die Beiträge auf der Benutzeroberfläche fortlaufend aufgelistet dargestellt werden, stellt der Übergang von einem Beitrag zum anderen auf der Ebene der Gesprächsorganisation nur einen Beitragswechsel dar, während sich die <?page no="65"?> Chat-Kommunikation 51 sequentiellen Handlungsverpflichtungen nur auf die Erfüllung der Handlungsmuster beziehen. Nachdem jedoch Chats des Chat-Typ 2, in denen die Fragen und Antworten auf der Benutzeroberfläche einander zugeordnet dargestellt sind (Chat-Typ 2, Kap.- 4.2.1.), hinzukommen, erhält das erweiterte Schreibrecht Bedeutung für die Gesprächsorganisation, indem das Mühlen-Prinzip für die Beiträge der Unternehmensleitung aufgehoben ist. Dazu wird auf der Benutzeroberfläche neben jedem Beitrag eines Mitarbeiters ein freies Feld eröffnet, in das die Unternehmensleitung ihre Antwort oder andere Äußerungen einträgt. Die Konvention, dass sich die Unternehmensleitung zu Beiträgen der Mitarbeiter äußert, und die technisch ausgelöste Eröffnung eines freien Feldes kommen auf der Ebene der Gesprächsorganisation zum einen einer vom Handlungsmuster unabhängigen Zuweisung von Äußerungsaufforderungen an die Unternehmensleitung gleich. Zum anderen eröffnet sie der Unternehmensleitung die Möglichkeit, das Gespräch zu organisieren, indem sie jederzeit an jeder Stelle im Chat-Protokoll mittels in die freien Felder eingeschobener Beiträge ihr erweitertes Schreibrecht wahrnehmen kann. So hat die Unternehmensleitung in den Chats des Chat- Typ- 2 auf der Ebene der Gesprächsorganisation eine Möglichkeit Beiträge zu platzieren, die in der Chat-Kommunikation in der Regel nicht gegeben ist. Darüber hinaus können Eintragungen in die freien Felder unabhängig vom zeitlichen Verlauf des Chats vorgenommen werden. Im Hinblick auf die zeitliche Dimension in dieser Form der Chat-Kommunikation sind die Äußerungsmöglichkeiten der Unternehmensleitung im Vergleich zur face-to-face Kommunikation nicht eingeschränkt, sondern durch das Potential der Schriftlichkeit, das mit dem erweiterten Schreibrecht gegeben ist, sogar noch weitreichender Die weitere Konvention, dass die Mitarbeiter in der Chat-Kommunikation explizit aufgefordert sind, Fragen zu stellen, und auch zu weiteren Sprachhandlungen wie Vorschlägen oder Kritik ermuntert werden, bedeutet für die Mitarbeiter eine Bevorrechtigung innerhalb der sprachlichen Handlungsmuster, die ihnen aber auf der Ebene der Gesprächsorganisation kein Beitragsrecht gibt. Während die Beiträge der Mitarbeiter im vorliegenden Datenkorpus nach dem Mühlen-Prinzip fortlaufend aufgelistet werden, kann die Unternehmensleitung aufgrund ihres erweiterten Schreibrechts an jeder Stelle des Chats Beiträge einfügen, wobei die technische Organisation der Beiträge der Mitarbeiter als Grundstruktur für den Verlauf des Chats die Rahmenbedingungen dafür schafft. Die Ausübung des Schreibrechts durch die Unternehmensleitung wird im Chat nicht dauerhaft sichtbar. Zwar können die Chat-Teilnehmer mit verfolgen, wenn im Verlauf des Chats freie Felder mit Beiträgen der Unternehmensleitung besetzt werden. Nach Ablauf des Chats ist aber anhand des Chat-Mitschnitts nicht mehr feststellbar, wann die Unternehmensleitung ihre Beiträge gesendet hat, da die Software nur die Zeiten protokolliert, zu denen die Beiträge der Mit- <?page no="66"?> 52 Theoretische Voraussetzungen 34 [10: 24] MA1 für die Global Accounts soll das [Organisationseinheit 1] nicht arbeiten, oder GF nur teils richtig ; die [Organisationseinheit 2] wird grundsätzlich für alle kunden der fachvertrieb sein ; sie ist nicht das key AM für die global accounts . 35 [10: 25] MA2 gibt es unter der [Organisationseinheit 3] ausser SM und Sales Support auch noch Projekt-bzw. Bidmanager oder bleibt die Struktur wie im jetzigen [Organisationseinheit 2]? GF struktur bleibt wie heute ; d. h. sales support in der [Organisationseinheit 4] : 36 [10: 26] MA3 Herr [GF], Herr [UL], ist der sogenannte Einbringungsvertrag bereits unterschrieben und kann uns zur Verfg. gestellt werden ? UL Der [Organisationseinheit 5]-Vertrag ist unterschrieben. Ich werde klaeren, ob wir den Vertrag asap vom Personalbereich erhalten. ..[UL] 37 [10: 26] MA4 Nochmal im Klartext: Wird der zukünftige Vertrieb von [Organisationseinheit 5] als eigenständiger ”Pflicht-Bereich“ in die Accountpläne integriert-? Würde uns helfen! Die Weichen müssen jetzt gestellt werden, sonst ist die Kooperation mancher [Verantwortliche] eher überschaubar. GF ja wird er ; ist auf der ebene der BL leiter auch bereits geschehen ; 38 [10: 26] MA5 Dürfen in Zukunft noch Angebote aus der [Organisationseinheit 6] direkt an den Kunden gegeben werden oder läuft das alles über den Fachvertrieb GF alles über den FV in abstimmung mit der [Organisationseinheit 7] 39 [10: 26] MA6 Wäre es denkbar, nach VIP-Kontakten (Führungsebene [Organisationseinheit 8]) zu Kunden immer auch vertriebsrelevante Informationen an das Sellingteam weiterzuleiten? GF selbstverständlich ; allerdings dachte ich das passiert auch ! Abb. 2: Das erweiterte Schreibrecht der Unternehmensleitung <?page no="67"?> Chat-Kommunikation 53 arbeiter den Zielserver erreichen. Dennoch gibt es Passagen in den Chats, aus denen das erweiterte Schreibrecht der Unternehmensleitung indirekt ersichtlich ist. Die in Abb.- 2 gezeigten Beiträge 34 bis 39 der Mitarbeiter gehen zwischen 10: 24 Uhr und 10: 26 Uhr, also innerhalb von nur zwei Minuten am Zielserver ein und fünf der sechs Beiträge werden von nur einem Geschäftsführer beantwortet. Es ist an dieser Stelle des Chats offensichtlich, dass das Lesen der fünf Beiträge der Mitarbeiter und deren Beantwortung nicht nur zwei Minuten in Anspruch genommen haben kann. Der Geschäftsführer hat also zumindest einen Teil der für die Unternehmensleitung vorgesehenen Felder mit Zeitverzögerung oder im weiteren Verlauf des Chats mit seinen Beiträgen besetzt und somit sein erweitertes Schreibrecht in Anspruch genommen. Der Beitragswechsel führt im vorliegenden Datenkorpus nicht nur zu der beliebigen Abfolge der Beiträge nach dem Mühlen-Prinzip, sondern auch zu explizitem Ignorieren von Beiträgen durch leer bleibende Antwortfelder (Kap.-4.2.1. und Kap.-6.3.2.). So ist das im Weiteren besprochene Beispiel „Viele Fragen“ einem Chat des Chat-Typ 2 entnommen, jedoch hat die Unternehmensleitung in die ihr zugeordneten Felder keine Antworten eingesetzt. An diesem Chat können mehrere Mitglieder der Unternehmensleitung aufgrund technischer Schwierigkeiten nicht teilnehmen. Ein Auszug aus dem in Kap.-6.2.1.4. vollständig abgebildeten und ausführlich analysierten Beispiel „Serverprobleme“ zeigt, wie ein Geschäftsführer anlässlich des ersten Beitrags eines Mitarbeiters, der an den Vorstand adressiert ist, die Mitarbeiter über die Gründe der Abwesenheit informiert. Serverprobleme (Auszug) 291 GF Da Herr [Vorstand] aus technischen Gründen nicht am Chat teilnehmen kann hier meine Antwort: […] Im weiteren Verlauf des Chats versuchte die Unternehmensleitung mit der geringeren Besetzung möglichst viele Fragen der Mitarbeiter zu Ereignissen im Unternehmen synchron im Chat zu beantworten, während die Beiträge, die im Beispiel „Serverprobleme“ und im aus dem weiteren Verlauf desselben Chats entnommenen Beispiel „Viele Fragen“ (Kap.-1.3.) wiedergegeben sind, nicht beachtet wurden. Es liegt nahe, dass die Unternehmensleitung diese Beiträge aufgrund der bereits gegeben Begründung für die Abwesenheit des Vorstands und zugunsten der Beantwortung inhaltlicher Fragen explizit ignoriert. Zusammenfassend lässt sich für die Äußerungsrechte im vorliegenden Datenkorpus festhalten, dass das Beitragsrecht und das erweiterte Schreibrecht als zwei Formen der Gesprächsorganisation nebeneinander bestehen. Im Chat- Typ- 1 orientieren die Chat-Teilnehmer ihre Beiträge auf der Ebene der Hand- <?page no="68"?> 54 Theoretische Voraussetzungen lungsstruktur an dem durch Konventionen geregelten Beitragsrecht, das die Mitarbeiter bevorrechtigt, und den sequentiellen Verpflichtungen der Handlungsmuster. Auf der Ebene der Gesprächsorganisation findet jedoch nur Beitragswechsel statt, da alle Beiträge nach dem Mühlen-Prinzip fortlaufend aufgelistet werden. In den Chats des Chat-Typ 2 gilt das Mühlen-Prinzip nur noch bedingt. Die Beiträge der Mitarbeiter sind zwar fortlaufend aufgelistet, doch die Unternehmensleitung nimmt ihr erweitertes Schreibrecht in Anspruch. Sie hat, indem sie die neben den Beiträgen der Mitarbeiter angeordneten Felder auf der Benutzeroberfläche beliebig anwählt, erheblichen Einfluss auf die Gesprächsorganisation und ist zudem unabhängig vom zeitlichen Verlauf des Chat. Folglich lässt sich für Chat-Typ 1 und für die Abfolge der Beiträge der Mitarbeiter in Chat-Typ 2 durchgehend Beitragswechsel feststellen, dagegen liegt für die Platzierung der Beiträge der Unternehmensleitung in Chat-Typ 2 ein erweitertes Schreibrecht vor (Kap. 1.3., Abb.-2). Im Folgenden soll nun der Frage nachgegangen werden, wie in der Chat- Kommunikation des vorliegenden Datenkorpus eine Äußerung abgegrenzt ist. In mündlichen Diskursen wird die Äußerung eines Interaktanten, während der er das Rederecht beansprucht und die anderen Interaktanten ihm das Rederecht gewähren, als Turn bezeichnet. Unter einem TURN verstehen wir einen Diskursbeitrag mit propositionalem und illokutivem Gehalt, den ein Sprecher mit Rederecht realisiert, wobei die Grenzen des Beitrags durch einen vorhergehenden Sprecherwechsel bzw. den Gesprächsbeginn und den folgenden Sprecherwechsel bzw. das Gesprächsende gegeben sind. (Zifonun/ Hoffmann/ Strecker 1997, 469) Die Bedingungen, unter denen ein Interaktant in der Chat-Kommunikation einen Beitrag sendet, sind von den Bedingungen in mündlichen Diskursen verschieden. Soweit sich die Teilnehmer eines Chats auf Konventionen verständigen, die dem einzelnen Teilnehmer während des Schreibens eines Beitrags zeitliche Exklusivität sichern, gewähren ihm die anderen Teilnehmer während dieser Zeit das Rederecht. In Chats, die keinen Konventionen unterliegen, entfällt das Rederecht, da die Beiträge nur nach Eingang beim Chat-Server sortiert werden. Für Äußerungen in diesen Chats geht Beißwenger mit Murray (1989) davon aus, dass der Turn eine „psychological unit“ darstellt, die ein Interaktant als „ein aus der Mündlichkeit bekanntes Turn-Konzept […] auf der Ebene der individuellen Koordination von Produktions- und Rezeptionsaktivitäten bei der Chat-Teilnahme“ (Beißwenger 2007, 261) seinem Sprachhandeln zugrunde legt. Im Folgenden wird deshalb eine Sprachhandlung mit abgeschlossenem propositionalem Gehalt (z. B. Frage, Kritik, Antwort) nicht als Turn, sondern als Äußerung bezeichnet. <?page no="69"?> Chat-Kommunikation 55 Im vorliegenden Datenkorpus ist, ein einziger, im Folgenden vorgestellter Fall ausgenommen, eine Äußerung ausschließlich auf einen Beitrag begrenzt. Das Beispiel „Return-Taste“ zeigt den Einzelfall, in dem ein Mitarbeiter seinen Beitrag splittet, wobei es sich um ein versehentlich durchgeführtes Splitting handelt. Return-Taste 26 V Hallo Herr [GF], lt. eines Protokolles vom [Datum] sollte bis zum [Datum] detailliert beschrieben werden, welche Services unter [Servicebezeichung] verstanden werden, insbesondere sollte die Abgrenzung zum IT-Outsourcing beschrieben werden. Könen Sie mir dies 26 GF wir werden das als anlage ins chatprotokoll hängen ! 28 MA 2ter Teil, bin leider auf Return Taste gekommen ; -)...Können Sie mir diese Detaillierung zukommen lassen, da ich zunehmend Querelen mit der [Organisationseinheit] habe ? 28 GF bereits erledigt Der Mitarbeiter fragt bei einem Geschäftsführer die Verfügbarkeit eines Protokolls an, in dem verschiedene Dienstleistungen, die das Unternehmen anbietet, definiert sind. Aus der angeschlossenen Begründung geht hervor, dass er damit vermutlich sein Aufgabengebiet von dem einer anderen Organisationseinheit abgrenzen will („Abgrenzung […] beschrieben“, „da ich zunehmend Querelen mit der [Organisationseinheit] habe“) und dafür das Protokoll benutzen möchte. Die Anfrage ist auf zwei Beiträge verteilt, da der Mitarbeiter während der Erstellung des Beitrags versehentlich den als ersten Beitrag auf der Benutzeroberfläche erscheinenden Beitragsteil gesendet hat („bin leider auf Return Taste gekommen“). Aus diesem Versehen wird deutlich, dass der Mitarbeiter seine Anfrage in einem zusammenhängenden Beitrag senden wollte, denn er bezeichnet seinen folgenden Beitrag (Beitrag 28) als „2ter Teil“. In allen anderen Beiträgen des vorliegenden Datenkorpus fallen die Äußerungsgrenzen mit den Beitragsgrenzen zusammen. Es kann also angenommen werden, dass die Chat-Teilnehmer durchwegs die Vorstellung haben, für jede Äußerung sollte ein Beitrag erstellt werden. Im vorliegenden Datenkorpus schreiben die Konventionen, die das Beitragsrecht regeln, nicht vor, dass eine Äußerung nur einen Beitrag umfassen darf. Nur die sequentiellen Verpflichtungen der Chat-Teilnehmer sind durch das Äußerungsrecht geregelt, während weitere Beiträge nur über das Prinzip des Beitragswechsels platziert werden können, so dass ein Mitarbeiter für weitere Äußerungen dann auch weitere Beiträge sendet. Andererseits wird aber auch in einem Beitrag nicht mehr als ein Handlungsmuster besetzt. Soweit ein Mitarbeiter mehrere Äußerungen sendet, <?page no="70"?> 56 Theoretische Voraussetzungen die aufgrund ihres propositionalen Gehalts nicht demselben Handlungsmuster zuzurechnen sind, erstellt er für jede Äußerung einen neuen Beitrag (Beispiel „E-Business“ in Kap.-6.4.). Da auf der Ebene der Gesprächsorganisation die Grenzen der Äußerung und des Beitrags zusammenfallen und das erweiterte Schreibrecht nur für die Unternehmensleitung in den Chats des Chat-Typs 2 gegeben ist, verwende ich die Bezeichnung Äußerung im Weiteren nur in Bezug auf die Sprachhandlungen innerhalb der Handlungsmuster, während ich mich auf der Ebene der Gesprächsorganisation auf die Beiträge beziehe. Die Doppelrolle der Chat-Teilnehmer, bestehend aus Produzenten- und Rezipientenrolle, die in der Chat-Kommunikation häufig zu beobachten ist, ist im vorliegenden Datenkorpus reduziert, da viele Chat-Teilnehmer nur in einer der beiden Rollen auftreten. An die Stelle des in der Chat-Kommunikation typischerweise entfallenden expliziten Sprecherwechsels treten im vorliegenden Korpus regelmäßig Adressierungen, die die Mitarbeiter verwenden. Benutzernamen finden sich häufig nur einmal in einem Chat (Kap.- 4.2.1.) und Sequenzen mit drei und mehr Beiträgen sind deutlich weniger vertreten als Sequenzen, die aus nur einem Paar bestehen. So liegt die Vermutung nahe, dass die Mehrzahl der Chat-Teilnehmer nur einen Beitrag sendet, wodurch eine Rezipientenrolle für die Mitarbeiter in den meisten Fällen nicht nachweisbar ist. Dagegen beschränkt sich die Unternehmensleitung weitgehend auf die Beantwortung von Fragen und nutzt ihr Äußerungsrecht nur in Einzelfällen für initiative Sprachhandlungen. Beide Vorgehensweisen führen dazu, dass schwer zu belegen ist, in welchen Fällen der Wechsel zwischen Produzenten- und Rezipientenrolle tatsächlich stattgefunden hat. Offen bleibt auch die Anzahl der Lurker (Kap.- 4.2.1.), die ausschließlich eine Rezipientenrolle einnehmen, ohne in der Produzentenrolle Beiträge zu schreiben. Hinsichtlich des Schreibrechts und der Aufforderung sich zu äußern teilen sich die Chat-Teilnehmer innerhalb der Handlungsstruktur, wie in verschiedener Hinsicht beobachtet (Kap.-5.3.2.2.), in zwei Seiten auf: die Mitarbeiter und die Unternehmensleitung. Im Folgenden wird dargestellt, wie die Mitarbeiter und die Unternehmensleitung sich gegenseitig zu Äußerungen auffordern bzw. ermuntern. Die Unternehmensleitung ermuntert die Mitarbeiter, Beiträge zu schreiben oder setzt dazu Moderatoren ein. Die Erwartung, dass die Mitarbeiter in Form von Fragestellungen ihr Beitragsrecht nutzen, äußern die Unternehmensleitung und die Moderatoren in zahlreichen Chats explizit eingangs oder im Rahmen der Begrüßung durch initiative Sprechhandlungen. Im Beispiel „KollegInnen“ bestärkt die Erwartungshaltung der Unternehmensleitung die Mitarbeiter darin, Beiträge zu schreiben. <?page no="71"?> Chat-Kommunikation 57 KollegInnen 5 V Hallo KollegInnen! Freut mich, hier direkt af Fragen antworten zu können und Anregungen entgegen zu nehmen! Der Vorstand äußert implizit seine Erwartungshaltung, indem er aus den möglichen Sprachhandlungen der Mitarbeiter Fragen und Vorschläge („Anregungen“) herausgreift. Zugleich schwächt er seine Forderung durch die Adressierung (Kap.- 6.2.2.1), die die vertikal-hierarchische Asymmetrie zwischen der Unternehmensleitung und den Mitarbeitern ausblendet („Hallo KollegInnen! “), und die Bekundung positiver Emotionen („Freut mich“) in Bezug auf die erwarteten Fragen und Vorschläge ab. Die Unternehmensleitung fordert die Mitarbeiter, verstärkt in den ersten Chats, dazu auf, Beiträge zu schreiben, um Chats mit schleppend verlaufender Chat-Tätigkeit zu beschleunigen (Beispiel „Mitarbeiterzeitung“ in Kap.-6.4.). In neun Chats, an denen die Geschäftsführung einer Unternehmenssparte zahlreich teilnimmt, werden Moderatoren eingesetzt, die die Mitarbeiter im Verlauf des Chats mehrfach auffordern, Beiträge zu schreiben. Im Beispiel „Moderator“ fordert der Moderator 33 die Mitarbeiter wiederholt dazu auf, sich mit Beiträgen am Chat zu beteiligen. Moderator 1 Mod Frau [GF], Herr [Vorstand], Herr [GF], Herr [GF], Herr [GF], Herr [GF], Herr [GF], Herr [GF], Herr [GF], Herr Dr. [GF], Herr [Assistent] für Herrn Dr. [GF] haben den Chat-Room betreten. Sie stehen nun zur Beantwortung Ihrer Fragen zur Verfügung. 6 Mod Schön, dass Sie beim heutigen Live-Chat zum Thema ”[Marketingstrategie]“ dabei sind. Herr [Vorstand] und die Mitglieder des Executive Boards möchten mit Ihnen über die neue Weichenstellung von [Unternehmenssparte] diskutieren. Sie können jetzt Ihre Fragen stellen. Wir bitten Sie, hierbei die Regeln der sachlichen Diskussion zu berücksichtigen. 36 Mod Die Chat-Gemeinschaft umfasst schon jetzt 300 Teilnehmer zwei Minuten nach dem Start. 111 Mod Diskutieren Sie mit den Mitgliedern des Executive Boards über die neue Aufstellung von [Unternehmenssparte]. Wie haben Sie die neuen Strukturen bisher in Ihrem Arbeitsalltag erlebt oder wahrgenommen? Haben Sie Ideen oder Anregungen dazu? Die Chat- Gemeinschaft umfasst nun schon 650 Teilnehmer. 33 Die Rolle des Moderators in den Chats des vorliegenden Datenkorpus ist in Kap.- 4.2.1. (Chat-Merkmal C - moderierter Chat) beschrieben. <?page no="72"?> 58 Theoretische Voraussetzungen 146 Mod Die Chat-Gemeinschaft umfasst nun schon 741 Teilnehmer. Die neu hinzugekommenen Chatter heißen wir hiermit auch herzlich willkommen. Nutzen Sie die Gelegenheit und diskutieren jetzt mit den Mitgliedern des Executive Boards über Ihre Ideen. 185 Mod Bereits 800 Teilnehmer sind online. Nutzen Sie die verbleibenden 15 Minuten: Die Top-Manager freuen sich über Ihre Fragen. Chatten Sie mit! 213 Mod Der Chat geht in die Endrunde. Wir werden Ihre Fragen noch bis 17 Uhr beantworten. Den gesamten Chat können Sie in Kürze hier im [Unternehmenssparte] Intranet nachlesen. 251 Mod Der deutschsprachige Live-Chat ist nun offiziell beendet. Schön, dass Sie dabei waren. Vielen Dank. Bis zum nächsten Chat! Das Beispiel „Moderator“ enthält alle Beiträge des Moderators in einem Chat von zwei Stunden Dauer, wobei die dazwischen liegenden Beiträge aller anderen Chat-Teilnehmer ausgelassen sind. Aus der Nummerierung der Beiträge ist abzulesen, in welchen Abständen der Moderator in das Geschehen eingreift. Im Verlauf des Chats gibt der Moderator mehrfach Hinweise, welche Sprachhandlungen die Unternehmensleitung erwartet („Beantwortung Ihrer Fragen“, „diskutieren“, „Diskutieren Sie“, „erlebt oder wahrgenommen“, „Ideen oder Anregungen“, „diskutieren“, „Chatten Sie mit! “, „nachlesen“). Bereits mit der Begrüßung zum Chat ermuntert der Moderator die Mitarbeiter („Sie stehen nun zur Beantwortung Ihrer Fragen zur Verfügung“). Im Beitrag 6 folgt die erste explizite Ermunterung an die Mitarbeiter, sich mit Beiträgen am Chat zu beteiligen („Sie können jetzt Ihre Fragen stellen.“), die der Moderator durch eine Aufforderung im Beitrag 111 („Diskutieren Sie mit den Mitgliedern des Executive Boards“) und noch einmal verstärkt im Beitrag 146 („Nutzen Sie die Gelegenheit und diskutieren jetzt“) weiter bekräftigt sowie zuletzt bis zu einem exklamativen Appell („Chatten Sie mit! “) steigert. Er unterstützt diese Aufforderungen argumentativ mit dem Hinweis auf die Erwartungshaltung der Unternehmensleitung („Die Top-Manager freuen sich über Ihre Fragen“). Parallel dazu verfolgt der Moderator Strategien, die seine Ermunterungen zum Chatten unterstützen. Er weist auf die wachsende Chat-Gemeinschaft hin, indem er vier Mal eine ansteigende Teilnehmerzahl ansagt (Beiträge 36, 111, 146, 185). Dazwischen wirft er wiederholt auch inhaltliche Fragen an die Teilnehmer ein („Wie haben Sie die neuen Strukturen bisher in Ihrem Arbeitsalltag erlebt oder wahrgenommen? Haben Sie Ideen oder Anregungen dazu? “, „Nutzen Sie die Gelegenheit und diskutieren jetzt mit den Mitgliedern des Executive Boards über Ihre Ideen.“), die zur Chat-Tätigkeit anregen sollen. Für die Chats im vorliegenden Datenkorpus gibt es nur vereinzelt statistische Aufzeichnungen über die Teilnehmerzahlen (Kap.- 4.2.1.). Aus den Äußerungen des Moderators lässt sich aber entnehmen, dass an dem Chat, aus dem das Beispiel „Moderator“ entnommen ist, außeror- <?page no="73"?> Chat-Kommunikation 59 dentlich viele Mitarbeiter teilnehmen („schon jetzt 300 Teilnehmer - zwei Minuten nach dem Start“, „schon 741 Teilnehmer“, „Bereits 800 Teilnehmer“). Das liegt vermutlich daran, dass die vollzählige Teilnahme der Geschäftsführung an diesem Chat eine besonders prominente Vertretung der Unternehmensleitung darstellt. Im Lauf der Entwicklung der Chat-Organisation treten Unterschiede zwischen den Äußerungsrechten im Chat und im Unternehmensalltag auf. Die Möglichkeit, mit der Unternehmensleitung zu chatten, und die Ermunterungen, Beiträge zu schreiben, führen zu einer Vielzahl von Beiträgen, die an die Unternehmensleitung gerichtet sind. In der Entwicklungsphase der Chat-Kommunikation, in der Frage/ Antwort-Sequenzen einander zugeordnet werden, ergibt sich systembedingt ein Beitragswechsel von jedem Beitrag der Mitarbeiter zu einem zugeordneten Beitrag der Unternehmensleitung; selbst wenn die Unternehmensleitung nicht chattet, bleiben die für die Unternehmensleitung vorgesehenen freien Felder auf der Benutzeroberfläche unbesetzt. Mit der darauf eingerichteten graphischen Trennung von Fragen und Antworten wird deutlich, dass die Unternehmensleitung die Vielzahl der Fragen nicht alle sofort, sondern asynchron im Verlauf oder erst nach der Beendigung des Chats beantworten kann. Die Chat-Teilnehmer chatten nicht beliebig unter sich, sondern die Mitarbeiter mit Fokus auf die Unternehmensleitung. Da diese nur einen kleinen Teil der Chat-Teilnehmer ausmacht, wurde im Verlauf der Entwicklung des vorliegenden Datenkorpus eine technisch unterstützte Form der Sequenzierung eingeführt. Dabei werden die Beiträge der Mitarbeiter und die Beiträge der Unternehmensleitung unterschiedlich behandelt und die Unternehmensleitung hat im Gegensatz zu den Mitarbeitern einen exklusiven Zugriff auf bestimmte Positionen in der Bildschirmanzeige (Kap.-4.2). Bei der moderierten Sequenzierung, die Storrer (2002, 13 f.) für Prominenten-Chats beschreibt, werden die beim Server eingehenden Chat-Beiträge durch Moderatoren vorsortiert und sequenziert: Bei der moderierten Sequenzierung wird die Anordnung der Beiträge nicht mehr dem Chat-Server überlassen; vielmehr gibt es einen Moderator, der entscheidet, welche Beiträge in welcher Reihenfolge für alle sichtbar werden. […] Durch die Kontrolle über Auswahl und Reihenfolge der Beiträge kann der Moderator nicht nur […] übersichtliche Strukturen erzeugen; er kann auch unliebsame Beiträge aussortieren. (Storrer 2002, 13) Durch moderierte Sequenzierung geht, wie Storrer (2002) weiter ausführt, für die Nutzer allerdings einiges an Spontaneität verloren. Dafür stehen die Fragen der Nutzer und die zugehörigen Antworten des Prominenten bei solcher Strukturierung des Chat-Aufkommens in der Anzeige jeweils unmittelbar nacheinander. Im vorliegenden Datenkorpus ist die Zuordnung der Chat-Beiträge und die Möglichkeit der Unternehmensleitung, auf die freien Felder rechts neben den Beiträgen der Mitarbeiter exklusiv zuzugreifen, der von Storrer (2002) be- <?page no="74"?> 60 Theoretische Voraussetzungen schriebenen moderierten Sequenzierung sehr ähnlich (insofern einer bestimmten Gruppe von Chat-Teilnehmern eine definitive Platzierung ihrer eigenen Beiträge an bestimmten Stellen in der Anzeige durch eine entsprechende technische Funktion ermöglicht wird). Allerdings bestätigt sich der Nachteil der fehlenden Spontaneität für die einander zugeordneten Chats des Chat-Typs 2, in dem die Anzahl der spontanen Nachfragen der Mitarbeiter im Vergleich zu den vorhergehenden Phasen der Chat-Organisation zurückgeht (Kap.- 6.3.2.1., Abb.-20). Der Vorteil der moderierten Sequenzierung liegt in der Beeinflussbarkeit der Chat-Organisation. Soweit in den vorliegenden Chats die Mitarbeiter die Unternehmensleitung zu Äußerungen auffordern, verwenden sie dazu Fragen, teilweise mit Adressierungen, wenn ein bestimmtes Mitglied der Unternehmensleitung aufgefordert werden soll. Dabei nutzen die Mitarbeiter die Bevorrechtigung zu Fragen und die Möglichkeit, interaktionale Dominanz auszuüben, als besondere Gegebenheiten des Chats. Die Mitarbeiter sind durch das Ziel und die Organisation des Chats (Kap.-4.2.) bevorrechtigt, nach Informationen zu fragen (Gesprächstyp Befragung in Kap.- 6.3.1.). Auch die Sprachhandlungen Kritik (Kap.- 6.1.2.2.), Misstrauen äußern (Kap.- 6.3.3.) und Vorschlag (Kap.- 6.4.) initiieren die Mitarbeiter vielfach durch Frageformulierungen. Das Beispiel „Zusammenarbeit“ zeigt, wie ein Mitarbeiter seine Bevorrechtigung zu Fragen nutzt und die Unternehmensleitung auffordert, sich zu äußern, und wie diese der Aufforderung nachkommt. Zusammenarbeit 3 MA Sehr geehrter Herr [Unternehmensleitung], wie wirken sich die zukünftigen Veränderungen auf die Organisation und Zusammenarbeit im Einkauf aus? 4 UL Wir betreuen als [Organisationseinheit]-Einkauf derzeit die alle wesentlichen Bereiche der zukünftigen IT-Operation und der Sales und Services von [Organisationseinheit]. Ich gehe davon aus, daß sich daran nichts ändern wird. Den Änderungen in der Organisation und dem Zusammenarbeitsmodell unserer internen Kunden werden wir in unserer täglichen Arbeit folgen. Unsere Organisation nach Warengruppen steht derzeit nicht zur Diskussion. Die Ausgestaltung im Detail wird uns in den nächsten Monaten sicherlich noch beschäfftigen. Von der impliziten Annahme ausgehend, dass sich der organisatorische Wandel weiter fortsetzen wird („die zukünftigen Veränderungen“), fragt der Mitarbeiter nach den allgemeinen („die Organisation“) und spezifischen („Zusammenarbeit im Einkauf “) Auswirkungen. In Verbindung mit der Adressierung („Sehr geehrter Herr [Unternehmensleitung]“) stellt die Frage an das angechattete Mitglied der Unternehmensleitung eine Aufforderung dar, sich zu äußern. Das Mit- <?page no="75"?> Chat-Kommunikation 61 glied der Unternehmensleitung, an das der Mitarbeiter seinen Beitrag adressiert hat, gibt dem Mitarbeiter mehrere Informationen zur zukünftigen Umsetzung operativer Maßnahmen („Wir betreuen“, „Den Änderungen in der Organisation […] werden wir in unserer täglichen Arbeit folgen“, „Die Ausgestaltung im Detail wird uns in den nächsten Monaten sicherlich noch beschäfftigen“) und signalisiert, dass er keine strategischen Veränderungen erwartet („Ich gehe davon aus, daß sich daran nichts ändern wird“, „Unsere Organisation nach Warengruppen steht derzeit nicht zur Diskussion“). Damit kommt die Unternehmensleitung der Aufforderung nach, sich zu äußern, macht zugleich aber von ihrer hierarchischen Macht Gebrauch, nur die Informationen weiterzugeben, die für die Mitarbeiter bestimmt sind. An diesem Beispiel wird also deutlich, dass die Unternehmensleitung sich zwar äußert, wenn sie dazu aufgefordert wird, aber nicht alle Informationen preisgibt. Die Möglichkeit zur interaktionalen Dominanz im Chat (Kap.- 6.3.2.1.), die durch die Anonymität und das Beitragsrecht ermöglicht wird (Kap.- 6.3.2.2.), nutzen die Mitarbeiter teilweise, um rhetorische Fragen zu stellen, die Äußerungen der Unternehmensleitung erzwingen sollen. Die Einforderung von Beiträgen der Unternehmensleitung durch die Mitarbeiter bezieht sich durchwegs auf die wahrgenommene Präsenz und die Antworttätigkeit der Unternehmensleitung. Als Reaktion auf ausbleibende Beiträge der Unternehmensleitung wird kritisiert, wenn die Antwort nicht schnell genug erscheint. Technisch bedingte lange Antwortzeiten der Server werden der Unternehmensleitung als Ausübung von interaktionaler Dominanz angelastet. Im vorliegenden Datenkorpus hat die Anonymität für die Ausübung der Äußerungsrechte besondere Bedeutung, da die im Unternehmensalltag geltenden Regeln der interaktionalen Dominanz, die besonders das Rederecht betreffen, umgangen werden können und damit unwirksam sind (Kap.-6.2.1.1.). Ein Chat- Teilnehmer kann sich folglich jederzeit mit Beiträgen an einem Chat beteiligen, ohne sich an die im Unternehmensalltag geltenden Regeln zu halten. Die interaktionale Dominanz der Unternehmensleitung entfällt damit auch für die Sprachhandlung selbst, nicht nur für den propositionalen Gehalt. In den Chats des vorliegenden Datenkorpus orientieren sich die Mitarbeiter bei der Nutzung ihres Beitragsrechts weitgehend an den hierarchischen Regeln und am Rederecht aus dem Unternehmensalltag, so dass die Möglichkeiten des Beitragsrechts, die die Chat-Kommunikation bietet, nicht ausgeschöpft werden. Damit ist die Freiwilligkeit der Nutzung des Beitragsrechts als Implikation des für die computervermittelte Kommunikation modifizierten Turnkonzepts nicht gegeben. So stellt Murray fest, dass in der computervermittelten Kommunikation die Grenzen egalisiert werden, die die Regeln des Turn-taking setzen. Sie merkt aber andererseits an, dass dieselben Sprachhandlungen, die die Regeln des Turn-taking übertreten, in der face-to-face Kommunikation sanktioniert werden. <?page no="76"?> 62 Theoretische Voraussetzungen this conversational style may effect hierarchical patterns of turn-taking (Murray 1989, 336) In face-to-face conversation most of the turn-taking characteristics […] can have negative social consequences. (ebd., 331) In der Chat-Kommunikation des vorliegenden Datenkorpus können die Mitarbeiter wählen, ob sie unter Angabe ihres Namens chatten oder anonym bleiben, indem sie ein Pseudonym als Teilnehmername verwenden. Insofern kommen Belege vor, in denen die Mitarbeiter die Anonymität und Möglichkeit zur interaktionalen Dominanz für unhöfliche, unqualifizierte Kritik nutzen, um die Unternehmensleitung mit der Zuschreibung von Beiträgen herabzusetzen. Die unterschiedlichen Formen von Kritik sind in Kap.-6.1.2. dargestellt. Im Beispiel „Viele Fragen“ äußern Mitarbeiter Kritik mit rhetorischen Fragen, nachdem ein Vorstand, dessen Chat-Teilnahme angekündigt war, wegen eines Serverausfalls nicht am Chat teilnehmen konnte. Viele Fragen 281 MA1 Wo ist Herr [Vorstand]. Ich dachte dies ist ein Chat und keine Datensenke? 284 MA2 Hallo Herr [Vorstand], wir haben viele Fragen an Sie und die GF, welche haben Sie umgekehrt an uns Mitarbeiter oder konkret mich? 286 MA3 [MA1], es braucht viel zeit......... 289 MA1 Herr [Vorstand] nahm ReisAus? 291 MA4 Hat die GF aufgrund der Fülle der Fragen den Chat verlassen ? 292 MA2 oder magels antworten? Wie das Beispiel „Pinguin“ in Kap.- 5.3.1.1. zeigt auch das Beispiel „Viele Fragen“ einen Diskurs zwischen mehreren Mitarbeitern, der hohe Interaktivität aufweist. Der Vorstand wird zu Äußerungen aufgefordert („Wo ist Herr [Vorstand].“, „wir haben viele Fragen an Sie“), um Fragen der Mitarbeiter zu beantworten, und MA2 fordert zudem Fragen an die Mitarbeiter und an sich selbst ein („welche haben Sie umgekehrt an uns Mitarbeiter oder konkret mich? “). Es liegt nahe, dies als böswilligen Hinweis auf die Gruppenunterschiede zwischen den Mitarbeitern und der Unternehmensleitung zu interpretieren und auf die Konvention, dass sich die Mitarbeiter über Fragen die Perspektive der Unternehmensleitung aneignen und sich an die Anforderungen, die aus den Unternehmenszielen entstehen, anpassen. Das Beispiel „Viele Fragen“ ist dabei auch der einzige Beleg für eine solche Erwartung im gesamten Datenkorpus, sonst wird im Gegenteil bisweilen explizit im Plural gesprochen, um die eigene Ein- <?page no="77"?> Chat-Kommunikation 63 zelaussage zu bekräftigen (Beispiel „Eine der schwersten Fragen“ in Kap.-5.1.1. und Kap.- 6.3.1., Beispiele „Amerikanisierung“ und „Gesamter Blumenstrauß“ in Kap.- 6.4.). Zudem wird die Wartezeit auf Antworten kritisiert („es braucht viel zeit“). Als Ursache für die ausbleibenden Antworten des Vorstands vermuten die Mitarbeiter mangelndes Interesse an den Beiträgen der Mitarbeiter („Datensenke“), zu viele Fragen der Mitarbeiter („Hat die GF aufgrund der Fülle der Fragen den Chat verlassen ? “) und dass der Vorstand die Fragen nicht beantworten kann („magels antworten? “). Die Vermutungen haben den gemeinsamen propositionalen Gehalt, dem Vorstand das fehlende Ergreifen des Beitrags aus Desinteresse an den Anliegen der Mitarbeiter oder aufgrund technischer Inkompetenz zu unterstellen. <?page no="78"?> 2 Die Darstellung und Reproduktion der Organisation im Kommunikationsprozess Wie eine Organisation von ihren Mitgliedern dargestellt und reproduziert wird, ist recht heterogen, auch soweit sich die Darstellung im Rahmen von Unternehmensleitbildern bewegt. 34 Das hängt von unterschiedlichen Wahrnehmungen der Organisation und des Unternehmensalltags ab, die wiederum auf verschiedenen Einstellungen und Perspektiven der Beteiligten beruhen. Das Kapitel enthält eine Darstellung verschiedener Formen der Reproduktion einer Organisation im Kommunikationsprozess, ihrer Einflussfaktoren und der Rahmenbedingungen ihrer Konstitution und Aufrechterhaltung. 2.1 Reproduktionssituationen 2.1.1 Unternehmensalltag und Realität der Organisation Den Begriff Unternehmensalltag verwende ich in Anlehnung an die Definition von Kirchhöfer, der den Begriff durch folgende Merkmale abgrenzt. 35 Für die Mitglieder des Unternehmens hat der Unternehmensalltag einen gemeinsamen sozialen Distinktionsgehalt, indem sie den hinsichtlich folgender Kriterien gleichen beruflichen Tagesablauf haben: • Der berufliche Tagesablauf ist durch eine gewohnheitsmäßige Handlungsstruktur geprägt. • Mit dem gemeinsamen, durch normative und ungeschriebene Regeln festgelegten beruflichen Lebensbereich, für den alle entsprechende Handlungskompetenz besitzen, teilen die Mitarbeiter ein gemeinsames Weltbild. • Es besteht eine gemeinsame Form der Welterfahrung und eine gemeinsame Erfahrung des Berufslebens als „normal“. • Durch eine gemeinsame Erkenntnisform werden berufliche Einstellungen als natürliche Einstellungen empfunden. Zugleich ist der Unternehmensalltag in seinen tatsächlichen Ausprägungen unbestimmt und einer zeitlichen Dynamik unterworfen. Was Unternehmensalltag ist, konstruiert sich ständig neu, indem die Mitarbeiter kleine Veränderungen in den Unternehmensalltag integrieren. 34 Die definitorische Abgrenzung der Begriffe Unternehmen und Organisation ist in Kap.-1.1. diskutiert. 35 Begriffsdefinitionen und theoretische Modelle zu „Alltag“ finden sich bei Kirchhöfer (2000, 17), darunter eine ausführliche definitorische Beschreibung zum Begriff „Unternehmensalltag“. <?page no="79"?> Reproduktionssituationen 65 Der Alltag enthält eine ihm eigene Bewegung der Übergänge und Widersprüche, die Fixierungen erschweren. So weist er individuell oder gruppenspezifisch eine Vielzahl von Übergängen aus dem Alltäglichen in das Nicht-Alltägliche und vom Nicht-Alltäglichen in das Alltägliche auf. (Kirchhöfer 2000, 28) Dagegen werden, wie im Folgenden dargestellt wird, von der Unternehmensleitung initiierte größere Umbrüche in den organisatorischen Strukturen des Unternehmens und Abweichungen vom gewohnten Handeln durch neue Vorgehensweisen und Organisationsprozesse als vom Unternehmensalltag abgegrenzte Veränderungen wahrgenommen und als organisatorischer Wandel bezeichnet. Der Betrachtung kommunikativer Reproduktionen einer Organisation als außersprachlichem Sachverhalt geht die Frage voraus, was reproduziert wird, ob und inwiefern eine Art von Realität der Organisation den Reproduktionen zugrunde liegt. In den zahlreichen organisationstheoretischen Untersuchungen, die sich mit dem Organisationsbegriff befassen, findet sich eine Heterogenität der Ansätze, die forschungshistorisch von hierarchischen bis zu funktionalen Ansätzen, erkenntnistheoretisch von subjektiven über Mischformen bis zu objektiven Ansätzen reicht. 36 Aus der Theoriebildung greife ich diejenigen Aspekte heraus, die kommunikative Reproduktionen und die Annahme einer Realität der Organisation bevorzugen oder zumindest zulassen. Die ältere Organisationsforschung geht, wie in Kap.-1.2. dargestellt, von einem Organisationsbegriff aus, der Organisationen als statisch konzipierte Strukturen beschreibt, wobei Sprache eine Bedeutung als konstituierender Faktor hat. Mit dem Paradigmenwechsel in der Organisationsforschung geht eine Annäherung wirtschafts- und sprachwissenschaftlicher Blickrichtungen auf Organisationen einher, da moderne Organisationstheorien durchwegs auf eine Relevanz von Sprache für jede Organisationstheorie abheben. Es zeichnen sich unter diesem Aspekt Berührungspunkte der wirtschaftswissenschaftlichen Organisationsforschung mit der linguistischen Gesprächsforschung ab. Deutlicher wird der gemeinsame Rahmen im Vergleich der Organisationstheorien, die mit linguistischen Sprachmodellen, in denen bereits seit Humboldt das Sprachhandeln auf die außersprachliche Wirklichkeit referiert, basistheoretisch den Kritischen Rationalismus fortführen. 37 36 Forschungsgeschichtliche Abrisse der verschiedenen organisationstheoretischen Forschungsrichtungen haben Weik/ Lang (2003 und 2005) und Kieser (2002) zusammengestellt. 37 Der Kritische Rationalismus verfolgt die Argumentation, dass es eine Wahrheit über die Verhältnisse gibt, das Wissen davon aber immer unsicher und relativ bleibt, d. h. es besteht die Möglichkeit von Wahrheit, aber keine Erkenntnis der Wahrheit. Diese Korrespondenztheorie der Wahrheit ist hinsichtlich der Realität von Organisationen nicht zu überprüfen, noch weniger hinsichtlich der Reproduktionen einer Realität, dennoch sind diese prinzipiell wahr. Eine ausführliche Beschreibung der Theorie des Kritischen Rationalismus bieten Weik/ Lang (2003) und Kieser (2002). <?page no="80"?> 66 Die Darstellung und Reproduktion der Organisation Das Interesse richtet sich in beiden Forschungsbereichen auf die Interpretation einer außersprachlichen Realität, die sprachlich nachvollzogen wird, ohne sie vollständig erfassen zu können. Geht man davon aus, eine Organisation sei ein Produkt von Gestaltungen, so kann ein realer Kern, auf den sich die Reproduktion bezieht, zumindest tautologisch bejaht und somit nicht ausgeschlossen werden. 38 Dazu ist es hilfreich, die Organisation aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und unterschiedliche Organisationstheorien in die sprachwissenschaftliche Untersuchung der Kommunikation in Unternehmen mit einzubeziehen, vorrangig den Konstruktivismus 39 . Hinsichtlich der Diskussion des Zusammenhangs mikrostruktureller und makrostruktureller Beobachtungen geht dieser von der Vorstellung aus, dass „die in Organisationen gültigen Organisationsmuster sich auf dem Wege der Verständigung zwischen Interaktionspartnern herausbilden“ (Kieser 2002, 297). Dies wird exemplarisch in Kap.-3.2.3. in Bezug auf die Chat-Kommunikation zwischen der Unternehmensleitung und den Mitarbeitern untersucht. Mit diesem Ansatz bleiben Theorieprobleme offen, die aus dem Rückgriff auf zwei unterschiedliche organisationstheoretische Richtungen, der konstruktivistischen Organisationstheorie und dem Kritischen Realismus, resultieren. Denn es stellt sich die Frage, inwieweit Fakten selbst nur kommunikative Konstruktionen sind, die sich in einer Gesellschaft etabliert haben und deshalb für außersprachlich bedingte Fakten gehalten werden. Weiter bleibt offen, ob das alle Fakten betrifft und mithin die gesamte Organisation in allen Aspekten ein Produkt sprachlicher Konstruktionen ist. Die Frage kann hinsichtlich des Themas der vorliegenden Arbeit offen gelassen werden, denn die Klärung ist letztlich für die Fragestellung der Arbeit nicht relevant. Im Kern geht es um die Veränderung von Wahrnehmungen, unabhängig davon, ob sie auf sprachlichen Konstruktionen oder einer außersprachlichen Wirklichkeit beruhen. Hinsichtlich der Realität der Organisation ist nur festzuhalten, dass es einen Strukturkomplex gibt, der wahrgenommen und reproduziert wird. Die Realität der Organisation an sich als Resultat interaktionaler Prozesse ist folglich wahr. Damit grenzt sich die Sichtweise von deduktiven Ansätzen ab, indem „Organisation als eine den interaktiven Ereignissen übergeordnete Makrostruktur“ gesehen wird (Müller 2006, 6 f.). Die Vertreter des Kritischen Rationalismus gehen davon aus, dass jeder Beteiligte seine Wahrnehmung der Realität deshalb für wahr hält, weil sie die verbleibende Restmenge nach allen Falsifizierungen darstellt, und folgern daraus, dass Wahrheit nur als Reproduktion stattfindet. Ebenso bleibt die wechselseitige Bedingtheit von Sprache und Denken, Fakt und Idee ein offenes Problem, das hier nicht weiter erörtert werden muss. 38 Dagegen wirft Luhmann (2004, 139) die Frage nach einem „Gedächtnis des Systems“ auf. 39 Einen Überblick über die verschiedenen konstruktivistischen Ansätze in der Organisationstheorie geben Kieser (2002, 296 ff.) und Weik/ Lang (2005, 31 ff.). <?page no="81"?> Reproduktionssituationen 67 Für die Darstellungen zur Realität der Organisation verwende ich die im Folgenden beschriebene Vorstellung. Eine Organisation ist eine reale Ausprägung organisationstheoretischer Vorstellungen und zugleich ein Produkt sprachlicher Gestaltungen, die sowohl die realen Fakten, als auch sprachliche Reproduktionen fortwährend weiter reproduziert. Diese Reproduktionen manifestieren sich im sprachlichen und außersprachlichen Handeln der Beteiligten. Als Wahrheit über die Verhältnisse ergibt sich eine Realität der Organisation, die aus einer Vielzahl sich überlagernder Organisationsstrukturen besteht, von denen jede in sich normativ festgelegt, aber nicht durchgängig mit anderen Organisationsstrukturen logisch verbunden ist. Unterschiedliche Organisationsstrukturen, in denen jeweils eigene, voneinander verschiedene Regeln gelten, begründen Einzelstrukturen, die sich weitgespannt in einer vertikalen und einer horizontalen organisatorischen Dimension, ergänzt durch eine zeitliche Dimension, bestimmen lassen. 40 Die zeitliche Dimension unterscheidet die Gleichzeitigkeit oder Ungleichzeitigkeit bestehender Systeme. In organisatorisch vertikale und horizontale Achsen ordnen sich hierarchische und arbeitsteilige Normen ein, die allerdings nicht polarisiert bestehen. Vielmehr finden sich auch Mischformen, die als vernetzte Funktionen die Bildung von Netzwerken auslösen. Zwischen diesen Elementen bestehen strukturelle Umbrüche auf der Zeitachse und in inhaltlichen Zusammenhängen. Zusammengefasst ist ein Unternehmen in Organisationseinheiten gegliedert, die weiter in kleinere Organisationseinheiten unterteilt sind (Abb.-3). Die Struktur des Unternehmens ist also horizontal-arbeitsteilig und vertikal-hierarchisch ausgerichtet. Sie verändert sich über die Zeitachse sowohl kontinuierlich, bedingt durch die Reproduktion der Struktur, als auch abrupt durch Ereignisse organisatorischen Wandels, die auch zu Umbrüchen in den Strukturen führen (Kap. 1.1., Abb. 1). Die Struktur einer Organisationseinheit gibt also eine Momentaufnahme zu einem bestimmten Zeitpunkt wieder, die sich von den Strukturen dieser Organisationseinheit zu früheren Zeitpunkten unterscheidet (A zu A' bzw. B zu B' und B''). Da die Veränderungen der Organisation nicht unbedingt untereinander koordiniert ablaufen (A' im Vergleich zu B'), entstehen Bruchstellen zwischen den Strukturen verschiedener Organisationseinheiten. Die theoretisch beschriebene Unsicherheit des Wissens um die Realität und die daraus resultierende fortwährende Relativierung jeder Erkenntnis zeigt sich hier konkret. Die durch organisatorischen Wandel entstehenden Umbrüche zwischen und innerhalb der Strukturen machen ein einheitliches Bild der Anschauung unmöglich, da manche Strukturen mitunter genau die Formen von Realität ausschließen, die andere Strukturen abbilden. Die Problematik ver- 40 Eine Definition vertikaler und horizontaler Kommunikation gibt Müller (2006, 17) und eine Beschreibung für die „‚organisationale‘ Kommunikation im engeren Sinne“ findet sich bei Bruhn (1992). <?page no="82"?> 68 Die Darstellung und Reproduktion der Organisation schärft sich weiter aus der Perspektive der beteiligten Mitarbeiter, aus der durch die Prioritäten, die der einzelne in seiner Funktion hat und aus denen sich für ihn ein positionsabhängiges Ordnungssystem der ihn umgebenden Realität der Organisation zeigt, weitere Umbrüche entstehen. Abb. 3: Strukturen und Brüche innerhalb der Dimensionen der Organisation In der Annahme, es sei eine Realität der Organisation nachweisbar, lassen sich insofern objektive Umbrüche nachweisen, die zwischen verschiedenen Strukturen entstehen, wie auch subjektive Umbrüche, die ihren Ursprung im begrenzten Wissen und Überblick des Einzelnen haben. Diese Wahrnehmungen der Organisation sollen im folgenden Kapitel dargestellt werden. 2.1.2 Wahrnehmungen der Organisation: Einstellungen und Perspektiven Die Organisationstheorie klärt den Begriff der Organisation mit einem „Kunstgriff “, indem sie „die für sie interessanten Organisationen als Unternehmen bezeichnet und sich den Begriff Organisation damit freihält zur Beschreibung der Verteilung von Aufgaben auf Stellen.“ (Luhmann 2000, 302) Die klassische Aufteilung der Organisation in ein System und eine Struktur verläuft parallel zur kritisch rationalistischen Auffassung von einer Realität und von Wahrnehmungen der Beteiligten, die in Reproduktionen auf das System Bezug nehmen, wobei sich diese Wahrnehmungen im Handeln der Beteiligten der Organisation manifestieren. Im Weiteren sollen die Wahrnehmungen der Beteiligten der Organisation genauer betrachtet und für eine Einordnung dieser Wahrnehmungen konstruktivistische Ansätze herangezogen werden. Der Konstruktivismus und darauf aufbauende moderne Organisationstheorien gehen von einer sozial konstruierten Wirklichkeit der Organisation aus, die <?page no="83"?> Reproduktionssituationen 69 sich stets selbst reproduziert, ohne von einer Realität abzuhängen. Darstellungen von Fakten sind demnach von Machtverhältnissen beeinflusste Interpretationen. Auf die Interpretation von Wahrnehmung sind besonders die Mitarbeiter in einer Organisation angewiesen, da sie am wenigsten gestaltend in die Struktur der Organisation eingreifen, sondern sich die Ereignisse des Wandels mittels Wahrnehmung und Interpretation aneignen. Im Folgenden werden daher die Mitarbeiter als in die Organisation involvierte Beteiligte betrachtet, sowie die symbolischen Interaktionen, kulturellen Ordnungen und perspektivengeleiteten Wahrnehmungen, die auf die Mitarbeiter einwirken und mittels derer sie ihrerseits auf die Organisation einwirken. Die Wahrnehmung der Beteiligten der Organisation bildet sich aus der Aufnahme der als Fakten bewerteten Kausalzusammenhänge, die die Beteiligten beobachten, sowie deren Ursachen und Wirkungen. Auf der Basis der „Fakten“ versuchen die Mitarbeiter sich mit ihrem eigenen Sprachhandeln einzubringen und reproduzieren damit ihre Wahrnehmung der Organisation auf eine sichtbare Weise, folglich mit gestaltender Wirkung auf ihre Sprachhandlungen innerhalb der Organisation. Sprachhandeln in der Organisation führt systematisch zur Bildung einer neuerlichen Reproduktionssituation. Innerhalb seiner Wahrnehmung bildet ein Mitarbeiter Bezugspunkte, die aus seiner Involviertheit in das System und die begrenzte Möglichkeit der Wahrnehmung des Unternehmens im Ganzen resultieren (Abb.- 4). Steckt man die Dimensionen der Organisation vertikal, horizontal und zeitlich in drei Achsen ab, orientiert sich ein Mitarbeiter horizontal und vertikal an Referenzpunkten, die seiner Positionierung, seinem Kenntnisstand und den Möglichkeiten seiner Erkenntnis entsprechen. Auf der zeitlichen Achse kommt es zur Bildung von Referenzpunkten in Form von Wahrnehmung einer gegenwärtigen Organisationsstruktur und der Wahrnehmung verschiedener Formen von früheren Organisationsstrukturen, die als zeitlich vorgelagerte Formen von Organisationsstrukturen erinnert werden. Also kann ein Mitarbeiter vertikal-hierarchisch und horizontal-arbeitsteilig sowohl durch organisatorischen Wandel als auch durch die Übernahme neuer Aufgaben neu positioniert werden, wobei beides die Perspektiven und die konkreten Handlungen des Mitarbeiters verändert. Für das im empirischen Teil untersuchte Datenkorpus sind die Übernahme neuer Perspektiven und die Umsetzung neuer Handlungsmöglichkeiten im Rahmen der kommunikativen Handlung Perspektiven übernehmen in Kap.-5.5.2. dargestellt. Aus der häufigen Neupositionierung und den Kriterien zur Bestimmung der eigenen Positionierung und des Selbstbilds erklärt sich die bisweilen erhebliche Differenz von Eigen- und Fremdwahrnehmung. In Kap.- 5.3.1. ist dargestellt, dass die Selbstpräsentation (Kap.- 5.3.1.1.) eng an die Thematisierung von Einstellungen und Perspektiven (Kap.-5.3.2.2.) gebunden ist. <?page no="84"?> 70 Die Darstellung und Reproduktion der Organisation Entscheidend für die Bewertung der Organisation ist die Einordnung der länger bestehenden Strukturen als Kontinuitäten innerhalb der Organisation und organisationsstruktureller Bruchstellen. Dominiert bei den Beteiligten die Wahrnehmung struktureller Brüche, führt das zu einer Erschwernis der eigenen Positionierung und der Wahrnehmung der Organisation als unstrukturiert oder eben „chaotisch“, da die eigene Position nicht über Regeln und Strukturen bestimmt werden kann, wenn diese nicht wahrgenommen werden. Die Einschätzung der Organisation als ungeordnet lässt sich im vorliegenden Datenkorpus vermehrt feststellen und zeigt sich beispielhaft in den Beispielen „Praxis“ (Kap.- 6.2.1.1.), „Beständigkeit“ (Kap.- 6.1.2.3.) und „Finale Struktur“ (Kap.- 6.1.2.3.). Die Häufigkeit dieser Einschätzung erklärt sich aus der bevorzugten Hinwendung zur Option „where the action is“ (Luhmann 2004). Abb. 4: Positionierungen und Perspektiven der Mitarbeiter Organisationen im Wandel, in Phasen der Umstrukturierung, sind heute in der Wahrnehmung der Beteiligten, die eine organisationale Funktion innehaben, nur selten koordinierte arbeitsteilige Handlungssysteme. Eher schon werden Organisationen als unüberblickbare Gebilde erlebt, die „festgefahren“ den Wandel blockieren oder „chaotisch“ das Individuum daran hindern, die eigene Funktion mit der individuellen Wahrnehmung der Organisation in einen sinnvollen Kontext zu stellen. Diese Wahrnehmungen manifestieren sich sprachlich in Hinweisen auf strukturelle oder zeitliche Brüche in der formalen Organisationsstruktur, die im kommunikativen Handeln mitunter zu Fragen und Vorschlägen, häufig aber zu Kritik führen (Abb. 5). Die Sprachhandlung Kritik im <?page no="85"?> Reproduktionssituationen 71 vorliegenden Datenkorpus ist in Kap.-6.1.2. dargestellt, die Thematisierung von Umbrüchen mit kritischer Implikation in Kap.-6.1.2.3. Die Art der Wahrnehmung organisationaler Umstrukturierungen, besonders des organisatorischen Wandels, lässt sich in einem breiten Rahmen zwischen den statischen Polen Chance und Verunsicherung und in ihrem funktionalen Verlauf von Herausforderung bis Resignation festlegen. Die Position, die ein Beteiligter darin einnimmt, hängt davon ab, welche Sichtweise und welche Rolle favorisiert werden. Die beiden Pole werden nach Reichertz (2002) von außengeleiteten respektive innengeleiteten Personen repräsentiert. Außengeleitetes Handeln bezeichnet ein Sprachhandeln, das eventorientiert und von Erlebnishunger geprägt ist. Unter innengeleitetem Handeln ist das Sprachhandeln derjenigen Beteiligten zu verstehen, die sich am eigenen inneren Muster orientieren und in Unternehmen mit dem Begriff „Urgestein“ beschrieben werden. Bruchstellen in der Organisationsstruktur Beispiel der sprachlichen Manifestation Wahrnehmung der Organisation strukturelle Umbrüche vertikalhierarchische Dimension „Was bedeuten die Strukturänderungen“ (Beispiel „Sprachregelung“ in Kap. 5.1.2.) „Ich sehe seit geraumer Zeit immer nur virtuelle Strukturen, wechsele laufend mein Aufgabengebiet […]. Können Sie mir den Sinn erklären? “ (Beispiel „Umstrukturierungen“ in Kap. 6.1.2.3.) Auswirkungen des Wandels können nicht eingeordnet werden horizontalarbeitsteilige Dimension „wir erleben bei der Trennung des Vertriebs viele Reibungen“ (Beispiel „Trennung des Vertriebs“ in Kap. 6.1.2.3.) Rückgriff auf unterschiedliche normative Regelungen zeitliche Umbrüche „durch die Trennung NI und TI haben wir uns immer weiter von unseren Kunden entfernt“ (Beispiel „Beauftragung“ in Kap. 6.2.1.1.) Umbruch wird thematisiert „haben Sie in Ihren Überlegungen auch mal an die Mitarbeiter gedacht, […] die dieses Gerede über Reorganisation stark verunsichert? “ (Beispiel „Nomenklatur“ in Kap. 6.3.3.) Umstrukturierung wird abgelehnt Abb. 5: Sprachliche Manifestation der Wahrnehmung struktureller Umbrüche Fraas stellt den Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Strukturen der Wirklichkeit und daraus entstehenden unterschiedlichen Wissensstrukturen der Beteiligten dar, auf die hinsichtlich der Situation in Unternehmen in Kap.-3.2. näher eingegangen werden soll. <?page no="86"?> 72 Die Darstellung und Reproduktion der Organisation Auf der Ebene der kollektiven Sinnmuster kann kulturelle Destabilisierung dadurch entstehen, dass verschiedenartige, inkompatible Systeme kultureller Schemata existieren, die unterschiedliche Sinnoptionen zur Verfügung stellen. Es ist dadurch möglich, dass Akteure über mehrere, miteinander inkompatible Systeme von Sinnmustern verfügen können, die miteinander um die Interpretation der gleichen Handlungssituationen konkurrieren. (Fraas 2004, 27) Im Hinblick darauf, wie Mitarbeiter ihre Wahrnehmungen bewerten, hat die Organisationstheorie das vorrangige Interesse festzustellen, wie „negative Äußerungen“ im Hinblick auf die Gesamtheit der Beschäftigten ins Positive kippen können. Auf die Frage, wie in der Praxis erreicht werden kann, dass Mitarbeiter sich positiv im Sinne der Unternehmensinteressen äußern, muss es aus sprachwissenschaftlicher Sicht zum Erreichen dieses Ziels darum gehen, den Fokus der Mitarbeiter hinsichtlich ihrer sprachlichen Reproduktionen von der Orientierung des eigenen Sprachhandelns an den Bruchstellen der Struktur zur Orientierung an den aktuellen Strukturen des Unternehmens umzulenken. Die Kriterien, die die Mitarbeiter für die Wahrnehmung und Bewertung von Sachverhalten und Veränderungen erstellen, sind so unterschiedlich wie die Vorstellung davon, wie Affinität mit den Zielen des Unternehmens herzustellen ist und zugleich die eigenen Interessen durchgesetzt werden können. Umgekehrt wirkt die Unternehmensleitung auf die Einstellungen der Mitarbeiter zum Unternehmen ein. Die Faktoren für Einstellungsänderungen stellen eine Verbindung zwischen den „beruflichen Handlungsanforderungen“ und der „beruflichen Sozialisation“ her. Die Diskurse in einem Unternehmen wirken auf den Mitarbeiter als „‚sozialisierende‘ Diskurse“ und es stellt sich die „Frage, wie man in ein betriebliches System hinein sozialisiert wird und wie sich das Kommunikationsverhalten in Anpassung an die Arbeitsumgebung und die Gepflogenheiten verändert“ (Brünner 2002, 28). In der Wahrnehmung aller Mitarbeiter einer Organisation finden sich Bruchstellen und homogene Strukturen, die im zeitlichen Verlauf Diskontinuitäten aufweisen oder kontinuierliche Entwicklungen durchlaufen. Nach der Vorgehensweise, wie die Mitarbeiter beobachtete Sachverhalte und Ereignisse wahrnehmen, und den Kriterien, die sie für die Bewertung entwickelt haben, lassen sich nach den Schwerpunkten ihrer Wahrnehmung Cluster von Mitarbeitern bilden. Die Clusterbildung verstärkt sich noch weiter durch Anpassungen an vorherrschende Wahrnehmungen im beruflichen sozialen Umfeld als Auswirkung von kommunikativer Reproduktion der wahrgenommenen Unternehmensrealität. Die individuellen Wahrnehmungen hängen von der Positionierung eines Mitarbeiters ab und von der Perspektive, die er auf das Unternehmen und die Belange des Unternehmens hat. 41 Perspektivik ist aufzufassen als „Gesamtheit 41 Ein Überblick über Definitionen von Perspektive und Theoriebildungen, wie Perspektiven zustande kommen, findet sich bei Keim (1996, 192 ff.). <?page no="87"?> Reproduktionssituationen 73 aller Operationen und Konstellationen, in denen Perspektiven von Beteiligten eine Rolle spielen“ (Keim 1996, 194). Als untergeordneter Begriff bezeichnet Perspektive „die Realisierung einer konkreten, an eine bestimmte soziale Zuständigkeit eines Akteurs gebundene Sichtweise auf einen Sachverhalt“, aus der „eine Einzelaktivitäten überspannende Handlungsorientierung und Handlungsstrukturierung“ resultiert (ebd.). Sind Perspektiven erst einmal gebildet, manifestieren sie sich in der Wiederholung vieler konkreter Interaktionen. Eine Perspektive in unserem Sinne ist nicht über ein rein punktuelles Vorkommen einer linguistischen oder interaktiven Kategorie erfassbar, sondern nur über eine längerfristige Konsistenz im interaktiven Verhalten, die hergestellt wird durch eine Systematik der Selektion aus alternativen äußerungs- und interaktionsstrukturellen Möglichkeiten. (Keim 1996, 194) Diese Äußerungen müssen nicht von einem einzelnen Sprecher stammen, sondern es können viele Sprecher in ihren Äußerungen eine im Wesentlichen übereinstimmende Perspektive reproduzieren. Ein Bestandteil der Perspektive ist also auch, alternative Sichtweisen auszuschließen, um mit anderen in der Perspektive übereinzustimmen und somit eine „Perspektivenabschottung“ (ebd.) zu vollziehen. Keim grenzt die Perspektive von der Position ab, die aus Einstellungen und Interessen entsteht, und bezeichnet mit Position die Werte, die eine Person vertritt. Die Perspektive wird erfassbar über die Position bzw. über Positionen, die das Ergebnis einer systematischen und konsistenten Auswahl aus alternativen Möglichkeiten, einen Sachverhalt zu sehen, darstellen. (Keim 1996, 195) In Unternehmen ist die Perspektive nicht nur durch die Position im Sinn eines Wertekanons definiert, sondern auch durch die vertikal-hierarchische und horizontal-arbeitsteilige Positionierung eines Mitarbeiters. In Kap.-5.5.2. ist anhand der kommunikativen Handlung Perspektiven übernehmen dargestellt, wie die Übernahme neuer Perspektiven mit Veränderungen in der vertikal-hierarchischen und horizontal-arbeitsteiligen Position eines Mitarbeiters einhergeht. Dabei muss zwischen der übergreifenden Sichtweise als abstraktem Denken und der konkreten Äußerung, in der sich diese Sichtweise manifestiert, unterschieden werden. Die Voraussetzung oder Unterstellung der gemeinsamen (fachlichen) Wissensbasis sowie eines gemeinsamen Handlungsziels im Gespräch kann durch entsprechende Interferenzen vereitelt werden. Analog zu dieser ‚Interferenz der Normalformen‘ unterliegen die kommunikativen Praktiken der Teilnehmer einer ‚Divergenz der Interpretationsnormen‘: Innen- und Außenperspektive auf den debattierten Gegenstand können weit auseinanderdriften; was für die beteiligten Gesprächsleiter einen überschaubaren Ausschnitt ihres Reviers darstellen mag, ist für die Arbeiterinnen und Arbeiter der Kernbereich ihrer innerbetrieblichen Lebenswelt. (Müller 2006, 255) <?page no="88"?> 74 Die Darstellung und Reproduktion der Organisation So kann eine Äußerung im Diskurs mit anderen, die eine eingeschränktere Sicht auf die Dinge haben, nur einen Teil der eigenen Perspektive aus der Reproduktion erkennen lassen. Im vorliegenden Datenkorpus versucht die Unternehmensleitung sich auf die Wissensstruktur der Mitarbeiter einzustellen, was am Beispiel „Internetprodukte“ deutlich wird, in dem ein Vorstand die Wissensstruktur eines Mitarbeiters anders einschätzt. Im folgenden Kapitel sollen die Reproduktionen des Unternehmens in Kommunikationssituationen dargestellt werden. 2.1.3 Reproduktion in Kommunikationssituationen Unternehmen konstituieren und reproduzieren sich, wie in Kap.-1.2. ausgeführt, über Kommunikation. Den bisherigen Überlegungen kann man die Richtung entnehmen, in der die Bedingungen für Reproduktionen und deren Abläufe und Wirkungen zu suchen sind. Kommunikationssituationen nehmen eine zentrale Rolle in einem Reproduktionssystem ein, das sich aus dem Austausch von Wahrnehmungen konstituiert und fortsetzt. Das resultiert aus der bereits getroffenen organisationstheoretischen Annahme über die Endlosigkeit dieser Reproduktionen, denn „Kommunikation ist in den Ansätzen, die Organisationen als offene Systeme konzipieren, vor allem im Hinblick auf Systembedürfnisse relevant“ (Theis-Berglmair 2003, 200). Damit ergibt sich aus der Fülle der Kommunikationssituationen ein nahezu unbegrenztes System. Im Folgenden setze ich einen Fokus auf Kommunikationssituationen in der internetbasierten Mitarbeiterkommunikation, die multidirektional angelegt sind und insofern die synchrone Kommunikation zwischen allen Beteiligten ermöglichen. Mit dieser Zielsetzung sollen Reproduktionen betrachtet werden, die, auf ein unternehmerisches Ziel ausgerichtet, Wahrnehmungen steuern, indem sie diese erzeugen oder verändern. Dabei ist nicht nur kooperationsbezogene Kommunikation, sondern auch kooperationsunabhängige Kommunikation einbezogen, soweit sie Steuerungsfunktion hat. 42 Die mikrostrukturelle Betrachtung dieses sprachlichen Handelns folgt weiterhin dem bisher verfolgten subjektivistischen Ansatz mit der Betrachtung der Reproduktionen innerhalb der multidirektionalen Unternehmenskommunikation. Entgegen der in objektivistischen Ansätzen vertretenen Auffassung kann nicht davon ausgegangen werden, dass alle Beteiligten die von der Unternehmensleitung festgelegte Struktur der Organisation nach den Vorstellungen der Unternehmensleitung wahrnehmen und entsprechend handeln. Vielmehr funktionieren Organisationen „entsprechend der Vorstellungen der Beteiligten“ (Kieser 2002, 288). Die Relevanz der Mitarbeiterkommunikation liegt für Unternehmen wesentlich in der Zielerreichung. Es geht darum, eine gemeinsame Ausrichtung 42 Eine begriffliche Einordnung kooperationsabhängiger und kooperationsunabhängiger Kommunikation nimmt Brünner vor (2000, 8 ff. und 1987, 56). <?page no="89"?> Reproduktionssituationen 75 der Mitarbeiter auf eine von der Unternehmensleitung verfolgte Zielsetzung zu erreichen, um sie zu einem gemeinsamen Ziel zu machen. Dazu ist es notwendig, den Mitarbeitern nicht unbedingt eine homogene Wahrnehmung, aber ein Spektrum möglicher Wahrnehmungen zu vermitteln, die eine positive Bewertung des Unternehmensziels beinhalten. Multidirektionale Kommunikationssituationen schaffen einen gemeinsamen sozialen Rahmen und Wahrnehmungen der Organisation, die zueinander ähnliche Bewertungen der Unternehmensziele bewirken und ein gemeinsames Verständnis von Wirklichkeit schaffen (Habscheid 2003, 5 ff.). Daraus entsteht eine auf ein gemeinsames Ziel ausgerichtete sprachliche und außersprachliche Handlungsweise. Die monodirektionale Kommunikation hierarchisch von oben nach unten (top-down), von der Unternehmensleitung an die Mitarbeiter adressiert, fördert so die Häufigkeit der Reproduktion bestimmter Wahrnehmungen. 43 Vor der Überlegung, auf welchen Wegen dieses Ziel zu erreichen und inwiefern die multidirektionale Kommunikation dafür prädestiniert ist, sollen die Ursachen der unterschiedlichen Wahrnehmungen untersucht werden, die in der Struktur der Organisation selbst begründet sind und dem Einfluss der Unternehmenskommunikation unterliegen. Unterschiedliche Kommunikation entsteht aus unterschiedlicher Wahrnehmung der Organisation und unterschiedlichen Kriterien für deren Interpretation. Daraus entstehen Spannungsfelder. Die Kriterien der Wahrnehmung unterliegen wesentlich dem Einfluss der Positionierung und seiner Aufgaben, die ein Mitarbeiter im Unternehmen hat. Daraus entstehen für den Einzelnen Perspektiven auf das Unternehmen, die sich von denen anderer Beteiligter in anderen Positionen und von denen außenstehender Beobachter zwangsläufig unterscheiden. Das ist die Ursache dafür, dass bestimmte Wahrnehmungen und Kommunikationstypen in bestimmten Aufgabenfeldern und Hierarchieebenen gehäuft auftreten oder Cluster bilden. Die Beteiligten haben ähnliche Positionierungen und Funktionen, aus denen sich ähnliche Perspektiven, Wahrnehmungen und letztlich ähnliches Sprachhandeln ableiten. Eine systematische Darstellung dieser Kommunikationshandlungen entsteht mit einer Einordnung in „Dimensionen der Wirtschaftskommunikation“. 44 -Cluster von Wahrnehmungen auf der horizontal-arbeitsteiligen Achse werden von 43 Einen Überblick zur Top-down Kommunikation gibt Theis-Berglmair (2003). 44 Brünner (2000, 17) unterscheidet in der kooperationsbezogenen Kommunikation fünf Dimensionen der Wirtschaftskommunikation, die in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen: formelle und informelle Kommunikation, fachinterne und fachexterne Kommunikation, eigenständige und subsidiäre Kommunikation, empraktische und nicht-empraktische Kommunikation, sachlich-technische und hierarchisch-ökonomisch bezogene Kommunikation. Für die Darstellung von Clusterbildung auf der arbeitsteiligen und der hierarchischen Achse werden hier die beiden Dimensionen fachintern/ fachextern und sachlich-technisch/ hierarchisch-ökonomisch herausgegriffen. <?page no="90"?> 76 Die Darstellung und Reproduktion der Organisation der organisatorischen Struktur beeinflusst, soweit sie auf der Divergenz von fachinterner/ fachexterner Kommunikation oder unterschiedlichen fachinternen Kommunikationsarten beruhen. Cluster auf der vertikal-hierarchischen Achse haben ihre Ursache auf der Ebene der kooperationsabhängigen Kommunikation in der sachlich-technischen und hierarchisch-ökonomisch bezogenen Kommunikation. Dieser Komplex und das daraus resultierende Spannungsfeld (Brünner 2000, 11 f.) sind für die Betrachtung der Chat-Kommunikation zwischen der Unternehmensleitung und den Mitarbeitern bedeutend, da diese Sichtweisen ihre größte Häufigkeit bei Beteiligten in hierarchisch niedrig respektive hierarchisch hoch bewerteten Positionierungen haben. Jakobs (2008, 15) verwendet diese Einordnung spezifiziert für die Kommunikation in der kooperationsbezogenen Arbeit. Sie stellt als alternativen Ansatz zur Diskussion, dass sich Ordnungskategorien der unternehmensinternen Sprachhandlungen an den Tätigkeiten innerhalb der Prozessketten des Unternehmens orientieren (ebd., 15 ff.). Dieser Ansatz berücksichtigt „das Zusammenspiel sich überlappender, vielfach in sich strukturierter Aktionsräume“ (ebd., 15) in und zwischen Unternehmen. In der vorliegenden Untersuchung wird dies nicht weiter verfolgt, da mit der Verwendung von nach betriebswirtschaftlichen Kriterien aufgestellten Geschäftsprozessen als Ordnungskategorien für Sprachhandlungen verschiedene Formen sprachlicher Handlungen, die innerhalb eines Geschäftsprozesses nebeneinander vorkommen, in eine Ordnungskategorie zusammengefasst werden. In einer schematischen Darstellung eines Modells zur sozialen Abstufung von Interaktionsregeln stellt Müller die Ebenen der sozialen Ordnung in Zusammenhang mit den geltenden Interaktionsregeln (Müller 2006, 257). Nach diesem Schema verläuft auch die Kommunikation im Chat zwischen Chat- Teilnehmern mit unternehmensintern situativ unterschiedlichem sozialem Hintergrund abhängig von der Position, die sie im Unternehmen einnehmen. Zusätzlich werden Einordnungen und Beeinflussungen aus dem aktuellen und auch aus dem erinnerten früheren sozialen Umfeld außerhalb des Unternehmens wirksam. Die multidirektionalen Kommunikationsformen, speziell die Mitarbeiterkommunikation in Chats, sind aufgrund ihrer Eigenschaften (synchron, multidirektional) und kommunikativen Möglichkeiten (Anonymität, interaktionale Dominanz) für die Kommunikation und Beförderung des Wandels besonders geeignet. Zunächst ist die Aufgabe der Chat-Kommunikation in der Funktion- als Mitarbeiterkommunikation, analog zur allgemeinen unternehmensinternen Kommunikation, den Beteiligten Orientierungen und Erklärungen anzubieten. Durch die zunehmende Komplexität der Produkt-, Branchen- und Marktabläufe werden ihre Entwicklungen und Veränderungen für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter immer undurchschaubarer und unverständlicher. Sie sind oftmals nicht in der Lage, die Zusammenhänge zwischen den gesamtwirtschaftlichen <?page no="91"?> Spezifische kommunikative Rahmenbedingungen des Chat 77 Entwicklungen und ihrer eigenen Arbeit herzustellen und zu einem schlüssigen Gesamtbild zu verbinden. Diese Aufgabe muss die interne Kommunikation übernehmen. (Meier 2002c, 30 f.) In Kommunikationssituationen wird an die Mitarbeiter eine Reproduktionsweise herangetragen, die für sie vom eigenen Standpunkt aus nicht erreichbar ist, da aus der eigenen Perspektive heraus die entsprechenden Informationen über Sachverhalte nicht verfügbar sind. Die bisher verwendete Definition der eigenen Wahrnehmung und Reproduktion als „richtige“ Wahrnehmung im Sinne einer emotionalen Kategorie wird damit zu den Wahrnehmungen der anderen Interaktanten in Konkurrenz gestellt und muss vom Einzelnen durchgesetzt werden. Die „Durchsetzungsfähigkeit sozialer Selbst- und Weltbeschreibungen“ hängt nach Dollhausen von ihrer virtuellen Darstellbarkeit ab. Daraus folgt, dass gesellschaftlicher Wandel auf „Gebrauchsweisen“ technischer Medien in unterschiedlichen lebensweltlichen Kontexten beruht, die aus der „Überwindung von eingefahrenen sozialen Kommunikationsbarrieren und dadurch ausgelöste Integrationseffekte“ entstehen (Dollhausen 2000, 109 f.). Die bisher möglicherweise erfolgte Ausblendung von Ursachen und Wirkungen der eigenen Wahrnehmung steht damit infrage. Ein Mitarbeiter muss zur weiteren Abgrenzung einer eigenen Wahrnehmung hinterfragen, in Bezug auf welches Ziel er seine Wahrnehmung als „richtig“ bewertet. In einer synchronen multidirektionalen Kommunikationsform wie der Chat- Kommunikation wirken neue Reproduktionen des Unternehmensbilds in hoher Frequenz auf die Teilnehmer ein. Noch deutlicher wird die Notwendigkeit, eigene Wahrnehmungen zu hinterfragen, vor dem Hintergrund, dass die Reproduktionen sich in einem weiteren Spektrum unterscheiden, wenn die Positionierungen der Beteiligten häufiger und stärker differieren als in anderen Kommunikationssituationen und somit als mikrostruktureller Impuls wirken können. In Kap.-5 wird untersucht, wie sich die unterschiedliche Wahrnehmung (Kap.-5.1.) und Interpretation (Kap.-5.2.) auf das Sprachhandeln auswirkt. 2.2 Spezifische kommunikative Rahmenbedingungen des Chat Die aktuelle Organisation eines Unternehmens bildet sich im reproduzierenden Handeln der Beteiligten ab und wird vielfach als „gelebte“ Unternehmenskultur pauschal umrissen. Sie bildet sich aus Konventionen, die von den Interaktanten in der Regel eingehalten werden und den Einzelnen als Beteiligten des Unternehmens erkennbar gemacht werden. Dieses Phänomen zeigt sich sprachlich durch die Verwendung gemeinsamer Fachsprachen, eigener Wortbildungen und Akronyme sowie der häufigen Verwendung bestimmter umgangssprachlicher Redewendungen. Die Trennlinien zum gesellschaftlichen Umfeld außer- <?page no="92"?> 78 Die Darstellung und Reproduktion der Organisation halb des Unternehmens sind unscharf, da sowohl aus der Gesellschaft in das Unternehmen als auch umgekehrt, vom Unternehmen in die Gesellschaft, fachsprachliche Elemente transportiert werden, die für die weitere Entwicklung der Unternehmenskultur konstituierend sind. Entscheidend für eine Unternehmenskultur ist, welche ihrer Elemente konstituierend sind und die weitere Prägung der Unternehmenskultur befördern. Begreift man Gesellschaft als das umfassende System aller sinnhaften Kommunikationen, kann es Organisationen nur innerhalb des Gesellschaftssystems geben. Einzelne Organisationssysteme haben dann eine doppelte Beziehung zur Gesellschaft: Einerseits vollziehen sie mit jeder ihrer Kommunikationen Gesellschaft; andererseits gibt es auch in ihrer Umwelt Kommunikation, also Gesellschaft. Die System/ Umwelt-Differenz, die mit der Organisationsbildung entsteht, kerbt sich gewissermaßen in die Gesellschaft ein. Und: Das Besondere von Organisationen liegt in der Art und Weise, wie sie diese Differenz - organisieren. (Luhmann 2000, 383) Demnach ist ein Unternehmen ein Bestandteil der Gesellschaft, das sich durch Konventionen, die zusätzlich zu den gesellschaftlichen Konventionen gelten, innerhalb der Gesellschaft abgrenzt. Die Chat-Gemeinschaft ist innerhalb des Unternehmens durch weitere Konventionen abgegrenzt, wobei die Chat-Teilnehmer diese Konventionen in die Chat-Gemeinschaft einbringen und untereinander im Diskurs aushandeln. Durch die Bildung einer Chat-Gemeinschaft als virtueller Gruppe bricht die reale Gemeinschaft aller Beteiligten im Unternehmen auf und die konstituierenden Faktoren der Unternehmenshierarchie und der Unternehmenskultur sind in ihrer Wirksamkeit reduziert. Das betrifft besonders die Bedeutung der Hierarchie. Im Aufeinandertreffen von Beteiligten aus verschiedenen Hierarchieebenen im Chat ist die Einordnung des einzelnen Chat-Teilnehmers nach Kriterien wie seiner Funktion, seiner Position innerhalb der Hierarchie und seines sozialen Umfelds innerhalb des Unternehmens weitestgehend aufgehoben. Ebenso wie Einflüsse aus der Gesellschaft an die Organisation herangetragen werden und Fragmente der Gesellschaft in die Organisation eingehen, werden Einflüsse aus dem Unternehmen in den Chat hineingetragen. Diese Fragmente sind noch nicht durch eigene Konventionen, die im Chat gelten, verbunden. Im daraus resultierenden Vakuum handeln die Interaktanten im Diskurs interaktionale Dominanz aus und es entstehen neue Ansätze zur Bildung von Gruppen und Gemeinschaften. Damit geht eine Entgrenzung der sozialen Räume im Chat einher, indem die Anbindung an die soziale Rolle im realen beruflichen Umfeld aufgehoben ist. Aufgrund der vertikal-hierarchischen Strukturierung von Unternehmen ist für die meisten Mitarbeiter die authentische Identitätskonstruktion „Gesprächspartner der Unternehmensleitung“ im Unternehmensalltag nicht gegeben. Im Chat dagegen wird diese Rolle den Chat-Teilnehmern angeboten und zugleich <?page no="93"?> Spezifische kommunikative Rahmenbedingungen des Chat 79 werden die Bedingungen, die im Unternehmensalltag an diese Rolle geknüpft sind, z. B. das Erfüllen einer bestimmten Funktion und die Einhaltung vorgegebener Verhaltensregeln, nur eingeschränkt im Rahmen von Höflichkeitsregeln eingefordert. Diese Situation wird im Chat in Diskursen, in denen die Chat-Teilnehmer interaktionale Dominanz aushandeln, kommunikativ sichtbar (Kap.-6.2.1.1.), indem Diskrepanzen der Wahrnehmungen und Weltsichten offenkundig werden. Hinsichtlich der Bildung einer Unternehmenskultur ergeben sich die Fragen, welche Kriterien für die Teilnehmer zur Bildung von Gruppen relevant sind, welche Ansätze zu Gruppenbildungen erkennbar sind und welche kommunikativen Anstöße Gruppenbildung initiieren. Die Bildung einer Gemeinschaft im Chat bewirkt unter dem Aspekt eines institutionellen Organisationsbegriffs das Aufbrechen der aktuellen Organisation und für die Dauer des Chats die temporäre Bildung eines Interaktionssystems. Beide Wirkungen sind temporär und entsprechen damit dem Anspruch an die Organisation, im Rahmen des Wandels in zeitlich eng begrenztem Rahmen eine Vielzahl einzelner Veränderungen zu vollziehen. Das ermöglicht die kurzfristige Bildung oder Auflösung von Interaktionssystemen, die Aufbauorganisationen ähnlich sind und das Entstehen anderer Formen des Organisiertseins durch Dezentralisierungen, die aufgrund neuer Medien möglich sind. Das bewirkt Veränderungen im Organisationsdenken und hebt die Bedeutung von Sprache, unabhängig von dem in Kap.-1.2. dargestellten Paradigmenwechsel der Organisationsforschung, durch die „interaktive Beziehung zwischen erfahrener Realität und theoretischer Realitätskonstruktion“ (Theis-Berglmair 2003, 155). Im Gegenzug zur nachlassenden Wirksamkeit der Hierarchie infolge der aufbrechenden Strukturen erhöht das fehlende Gegengewicht der Hierarchisierung die Wirksamkeit informeller Netzwerke und forciert die Bildung von Interaktionssystemen. Die Chat-Kommunikation fördert als elektronische Kommunikation „die Bildung von Netzen an Stelle von Top-down- oder Bottom-up-Strukturen“ (Reuter 2003, 245). Es entstehen soziale Netzwerke mit „heterarchischen Strukturen“ (Menz 2002, 234), die sich mittels Kommunikation manifestieren. Für die Chats des vorliegenden Datenkorpus wurden zunächst wenige Vorgaben für den Diskurs gemacht. Die Ursache dafür liegt in den erstmaligen Anwendungen des Mediums in dieser Situation, denn der Unternehmenschat wird nur in drei Unternehmen als Kommunikationsmedium zwischen der Unternehmensleitung und den Mitarbeitern getestet und nur bei der Deutschen Telekom AG über einen längeren Zeitraum durchgeführt (Kap.- 4.2.). Die Situation ist vergleichbar mit der Situation während der Einführung der computervermittelten Kommunikation, denn „wie in der Frühphase des Telefons wird auch beim Computer als Kommunikationsmedium ein enthemmendes Verhalten aufgrund der zunächst unklaren Regeln festgestellt“ (Höflich/ Gebhardt 2003, 8). <?page no="94"?> 80 Die Darstellung und Reproduktion der Organisation Bei der Deutschen Telekom AG kam die Chat-Kommunikation als neue Kommunikationsform zu den bestehenden Kommunikationsformen im Unternehmen hinzu und ersetzt nicht etwa eine andere Kommunikationsform. Allerdings schränkt sie andere Kommunikationsformen ein und verringert deren Wirkungen, beispielweise die Informationsfunktion der Führungskräfte gegenüber ihren Mitarbeitern (Kap.- 6.5.), wie allgemein eine „Vielzahl von Vermittlungskulturen“ bewirkt, dass sich die Funktionen der anderen Medien verändern und teilweise in ihrer Bedeutung reduziert werden (Höflich/ Gebhardt 2003, 9 f.). In seinen Überlegungen zur Risikoverminderung in Interaktionen im Rahmen ethnographischer Studien über Interaktionsverhalten stellt Goffmann fest, dass ein Mitarbeiter in seiner Rolle an ein bestimmtes, von den Interaktionspartnern erwartetes Verhalten gebunden ist. Eine soziale Situation kann [...] als eine Umgebung definiert werden, in der es Möglichkeiten gegenseitiger Kontrolle gibt. (Goffmann 1986, 184) Durch ein angemessenes Benehmen verleiht das Individuum der Interaktionssituation selbst Glaubwürdigkeit und Substanz (Goffmann 1986, 186) Dieses soziale Merkmal ist in der Chat-Kommunikation nur eingeschränkt gegeben, falls ein Chat-Teilnehmer von den anderen Chat-Teilnehmern innerhalb des Chats mit Kritik oder Ignorieren sanktioniert wird. Die eingeschränkte Kontrolle wird in der Chat-Kommunikation zwischen den Mitarbeitern und der Unternehmensleitung besonders augenfällig, weil die geringe soziale Gebundenheit in der Chat-Kommunikation im Kontrast zu umfassenden Kontrollen der Interaktionen im Unternehmensalltag (Konventionen, Arbeitsanweisungen) steht. Nach Goffmann finden Interaktionen entweder in sozialen Situationen statt oder werden, soweit sie isoliert sind, durch Zeugen kontrolliert (Goffmann 1986, 184). Dagegen kann die Kommunikation im Chat durch die Möglichkeit, anonym zu bleiben, weniger Sanktionen nach sich ziehen als in anderen Kommunikationsformen, wie z. B. Mitarbeiterveranstaltungen. Ein Mitarbeiter hat zwar die Möglichkeit, Mitteilungen und Briefe an die Unternehmensleitung anonym zu schicken, allerdings kann der Mitarbeiter als Absender die Reaktion der Unternehmensleitung als Empfänger nicht kontrollieren, so dass keine Möglichkeit zur Rezipientenkontrolle besteht. Somit kann der Mitarbeiter nicht erkennen, welche Wirkung seine Interaktion hat, ohne sich selbst Sanktionen auszusetzen. Das Zusammentreffen von Anonymität und Synchronität macht hinsichtlich der Gebundenheit an soziale Verhaltensnormen den Unterschied der Chat- Kommunikation im Vergleich zu anderen Kommunikationsformen im Unternehmen aus. Ein Mitarbeiter, der Kritik in einer Form äußern will, von der er glaubt, dass sie im Unternehmensalltag so nicht akzeptiert wird und der von der Unternehmensleitung mit Sanktionen bis hin zum Verlust seines Arbeitsvertrags belegt werden kann, gleichzeitig aber sicherstellen will, dass seine Kritik <?page no="95"?> Spezifische kommunikative Rahmenbedingungen des Chat 81 den Adressat auch erreicht, erkennt das Zusammentreffen von Anonymität und Synchronität nach Goffmann als „günstige Gelegenheit“. Der Arbeitsvertrag, als eigener Wetteinsatz, wird nicht bedroht. In dem Maße, wie ein Spiel Mittel ist, einen Preis zu gewinnen, nennt man es eine günstige Gelegenheit. In dem Maße, wie es eine Bedrohung des eigenen Wetteinsatzes bedeutet, stellt es ein Risiko dar. (Goffmann 1986, 167) Die Chats des vorliegenden Datenkorpus bieten den Mitarbeitern, die die Unternehmensleitung kritisieren wollen, eine solche „günstige Gelegenheit“, was besonders deutlich wird, wenn offenkundige Schwierigkeiten mit der technischen Infrastruktur zum Anlass genommen werden, die Unternehmensleitung persönlich zu kritisieren (Beispiel „Viele Fragen“ in Kap.-1.3.). Die Reduzierung der interaktionalen Ungebundenheit an Normen und Kontrolle in der Chat-Kommunikation kann folglich eine erfolgversprechende Zielsetzung des Mitarbeiters sein. Soweit der Mitarbeiter aber eine Kooperation des Gesprächspartners erreichen will, ist er darauf angewiesen, von diesem akzeptiert zu werden. Die „Pöbelei“ kommt folglich nur infrage, wenn es das Ziel des Mitarbeiters ist, Aufmerksamkeit zu beanspruchen und bei der Unternehmensleitung Reaktionen gleich welcher Art zu erzeugen. Zwei weitere Spezifika der Chat-Kommunikation zwischen der Unternehmensleitung und den Mitarbeitern in Unternehmen ist ihre Konzeption zwischen konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit (Storrer 2000, 153), die in Kap.- 1.3. dargestellt ist, und das in Kap.- 1.2. dargestellte Aufeinandertreffen von Expertenmacht und hierarchischer Macht (Brünner 2000, 11 ff.) in der Interaktion im Chat. Letzteres ist, wie in Kap.-5.3.2.2. gezeigt wird, einer der wesentlichen Faktoren, die in der Chat-Kommunikation des vorliegenden Datenkorpus zur Bildung von zwei Seiten, der Seite der Unternehmensleitung und der Seite der Mitarbeiter, führt. Ein System der Variablen für eine Unternehmenskultur zu generieren, ist aufgrund der Vielzahl von Einflussfaktoren ein Vorhaben, das in der Praxis nicht durchführbar ist. Die Vielfalt der Variablen bedingt, dass es für Großunternehmen keine adäquaten wissenschaftlichen Verfahren und Erkenntnisse geben kann, ein solches System zu begründen (Luhmann 1994, 191 ff.). Soweit hier eine Darstellung der Variablen gegeben wird, die in der Chat- Gemeinschaft neu entstehen, hebt diese auf die Differenz zwischen Unternehmenskultur und der Kultur der Chat-Gemeinschaft ab. Es wird also nur um Variablen gehen, die mit Entstehen einer Chat-Gemeinschaft neu hinzukommen oder entfallen und signifikante Auswirkungen auf die Kommunikationsstrukturen haben. Für die Betrachtung der Chat-Kommunikation ist die Differenz zwischen den Kommunikationsformen im betrieblichen Alltag, die in unterschiedlichem Grad in die hierarchische Ordnung eingebettet sind, und der Situation im Chat <?page no="96"?> 82 Die Darstellung und Reproduktion der Organisation relevant. Es gilt neue Variablen zu beschreiben, die Dimensionen aufzuzeigen, innerhalb derer sie sich ausbreiten, und zu zeigen, welche Tendenzen und Verläufe es gibt und was die Einflussfaktoren sind. Unter dem Aspekt eines funktionellen Organisationsbegriffs entstehen zwei neue relevante Variablen in der Chat-Kommunikation. Als eine neue Variable wird die Unternehmenshierarchie auf der Ebene der Sprachhandlungen durchlässig, indem Gesprächspartner zusammentreffen, die sonst nur auf dem Umweg über die Führungskräfte Informationen voneinander erhalten. Eine weitere neue Variable entsteht mit dem Informationsweg hierarchisch von unten nach oben (bottom-up), ein neuer Informationskanal, der Informationen ungefiltert transportiert. Die Mitarbeiterbefragung (Domsch 2003) als bereits längerfristig eingesetzter Informationsweg bottom-up ist nicht vergleichbar, da die Ergebnisse statistisch aufbereitet und interpretiert werden. Zudem ist in Umfragen in der Regel nur eine begrenzte Anzahl freier Antworten möglich. Im Chat besteht dagegen keine Selektion der Inhalte, in unmoderierten Chats auch keine thematische Steuerung. Die verschiedenen Chat-Typen, die im vorliegenden Datenkorpus auftreten, sind in Kap. 4.2.1. dargestellt. Daraus entstehen für die Untersuchung der Chat-Kommunikation zwischen der Unternehmensleitung und den Mitarbeitern die neuen Fragestellungen, welche kommunikativen Beziehungen in der Unternehmenskultur dadurch beeinflusst werden und welche Beziehungen zwischen den neuen und bereits etablierten Variablen entstehen. Die bestehenden Beziehungen zwischen den Mitarbeitern und den Führungskräften der mittleren Managementebenen stehen vor einer Herausforderung, denn Führung mittels Wissensvorsprung und strategischem Verteilen bzw. Zurückhalten von Informationen (information hiding) wird erschwert, da die Mitarbeiter über die Chat-Kommunikation Informationen unmittelbar von der Unternehmensleitung beschaffen und damit ihre direkten Vorgesetzten umgehen können (Kap.-6.5.). Umgekehrt hat die Unternehmensleitung nun die Rolle des Kommunikators (Kap.-3.2.1.) und es liegt in ihrer Hand, welche Informationen in welcher Form im Rahmen der Chat- Kommunikation an die Mitarbeiter gegeben werden. Eine Auswirkung der durchlässigen Unternehmenshierarchie und der synchronen Kommunikation hierarchisch von unten nach oben als neue Variablen ist, dass konkretes Handeln nun in erweitertem Rahmen möglich ist. Mit dem Fehlen arbeitsteiliger Strukturen im Chat und der Abwesenheit der Führungskräfte entsteht ein Handlungsspielraum, der die Bildung bestimmter Interaktionssysteme initiiert. Innerhalb des Chats können sich Interaktionssysteme bilden, die untereinander fachsprachliche Begriffe etablieren, sich damit von der Chat-Gemeinschaft abgrenzen und Nichteingeweihte ausschließen. Interaktionssysteme können im Chat gebildet werden und bereits bestehende Interaktionssysteme können ihre Interaktion im Chat fortsetzen. Umgekehrt können im Chat getroffene Vereinbarungen über gemeinsame Handlungen im Unterneh- <?page no="97"?> Spezifische kommunikative Rahmenbedingungen des Chat 83 mensalltag realisiert werden, beispielweise indem die Mitarbeiter die Angebote der Unternehmensleitung annehmen den Diskurs über den Chat hinaus fortzusetzen. Diese sind in Kap.-5.5.2. zusammengetragen. <?page no="98"?> 3 Die Darstellung und Unterstützung organisatorischen Wandels in der Kommunikation In diesem Kapitel werden unterschiedliche Beschreibungen organisatorischen Wandels vorgestellt (Kap.- 3.1.). Anschließend wird gezeigt, wie Elemente des Wandels kommunikativ vermittelt werden, wobei der Kommunikator als Vermittler, die Übermittlungsweise und bestimmte mikrostrukturelle Impulse in der sprachlichen Interaktion als entscheidende Faktoren erfolgreicher kommunikativer Vermittlung von Wandel fokussiert werden (Kap.-3.2.). Daraus ergibt sich die Frage, welche Auswirkungen erfolgreiche Vermittlung auf den Wandel im Unternehmen haben kann, wobei besonders die Veränderung von Einstellungen und das Verhältnis von verändertem Sprachhandeln zum Handeln im Unternehmen von Interesse sind (Kap.-3.3.). In diesen Zusammenhang wird der für Unternehmen bedeutende Effizienzgedanke mit einer Darstellung einbezogen, inwieweit die virtuelle Organisation, besonders der Chat, die virtuellen Elemente der Organisation unterstützt und damit zur Beschleunigung der Prozesse des organisatorischen Wandels beiträgt (Kap.-3.3.3.). 3.1 Beschreibungen organisatorischen Wandels Für die Betrachtung der Reproduktion organisatorischen Wandels in der Kommunikation werden zwei Aspekte herausgegriffen, die in diesem Zusammenhang bedeutsam sind: der Impuls zum Wandel, der die Veränderung der strukturellen Gegebenheiten des Unternehmens auslöst, und die Wahrnehmung des Wandels, die mit der Veränderung des Handelns einhergeht. Mit der Wahrnehmung der Strukturen und Umbrüche über die zeitliche, hierarchische und arbeitsteilige Dimension (Kap.-2) nehmen die Beteiligten des Unternehmens auch Ereignisse organisatorischen Wandels wahr. Das ist die Voraussetzung für die Reproduktion des wahrgenommenen Wandels im eigenen Sprachhandeln, da das reproduzierende Handeln den Wandel erst vollzieht. Die Abfolge von organisatorischem Wandel und reproduzierendem Sprachhandeln verläuft zirkulär, so dass die Reproduktion vollzogenen Wandels erneut Wandel evoziert, da Reproduktion immer die eigene gestalterische Ausdeutung des Wahrgenommenen einschließt. Die Voraussetzung für das Fortdauern des Systems von Wandel ist die Akzeptanz des Wandels bei den Beteiligten, die wiederum für jeden Beteiligten die Voraussetzung ist, um Reproduktion im eigenen Sprachhandeln zu initiieren. Luhmann beschreibt umgekehrt die Negation des Systems des Wandels. Unbeobachteter Wandel ist kein Wandel, weil das System darauf nicht reagieren kann. Beobachtung ist nötig, weil der Wandel anders nicht in die Autopoiesis des Systems eingearbeitet werden kann und deshalb ohne Erfolg bleibt. (Luhmann 2000, 331) <?page no="99"?> Beschreibungen organisatorischen Wandels 85 Die Problematik in der Beschreibung des Zirkels besteht in der Betrachtungsweise dieses systematischen Verlaufs, die zwischen makrostrukturellen und mikrostrukturellen Beschreibungsmustern wechseln muss. Nach der Zuordnung von Sprachhandlungen zur Makrorespektive Mikrostruktur des Unternehmens sind Makrostrukturen vom Handeln unabhängige Ordnungen, während Mikrostrukturen aus einzelnem Sprachhandeln hergeleitet werden können. Der organisatorische Wandel als Strukturveränderung des Unternehmens ist ein Phänomen der Makrostruktur. Einzelne Sprachhandlungen, die die Makrostruktur reproduzieren, sind mikrostrukturelle Elemente, die aus Einzelentscheidungen einzelner Beteiligter hervorgehen. Somit ist die Voraussetzung für die Umsetzung von Ereignissen organisatorischen Wandels, dass die Beteiligten des Unternehmens diese Ereignisse akzeptieren, indem sie ihr Handeln darauf ausrichten und damit mikrostrukturell diese Ereignisse des Wandels reproduzieren. Die Akzeptanz der Struktur und des organisatorischen Wandels als Strukturänderung ist also dann gegeben, wenn die Beteiligten auf die Wahrnehmung der Makrostruktur mit reproduzierendem Sprachhandeln als sichtbarem Ausdruck von Akzeptanz reagieren. Folglich muss, um Akzeptanz zu belegen, eine Verbindung zwischen Makro- und Mikrostruktur nachweisbar sein, die durch den Nachweis eigenständigen Handelns der Beteiligten des Unternehmens affin zur Makrostruktur belegt werden kann. 45 Schmitt/ Heidtmann (2002) bieten zur Verbindung von Makro- und Mikrostruktur eine exemplarische Lösung an. Bezogen auf Wandlungsprozesse weist Habscheid darauf hin, dass „Wandlungsprozesse in ihrer Gesamtheit i.d.R. nicht Gegenstand gesprächswissenschaftlicher Untersuchungen“ (Habscheid 2003, 103) und Mikrorespektive Makrostruktur „zwei Perspektiven auf einen Sachverhalt“ sind (Habscheid 2003, 104). Allgemeine methodische Überlegungen sind in der Wirtschaftslinguistik noch nicht getroffen worden, es werden jedoch gangbare Wege aufgezeigt. Zwischen Beschreibungen von Institutionen und Organisationsstrukturen einerseits und der mikrostrukturellen Beschreibung konkreter Handlungs- und Kommunikationsabläufe andererseits klafft eine Lücke, abkürzend auch als ‚Mikro-Makro-Problem‘ bezeichnet. [...] Um sie zu schließen, muss die Gesprächsforschung-- in transdisziplinärer Ordnung - ihre Fragestellungen und Ergebnisse auch auf die Modelle und Ergebnisse der Organisationstheorie beziehen. (Brünner 2002, 24) Vergleicht man diese sprachwissenschaftliche Vorgehensweise mit der Vorgehensweise in den Wirtschaftswissenschaften, so fällt auf, wie in der Praxis betriebswirtschaftliche Maßnahmen zur Erfolgskontrolle an der Mikrostruktur 45 Damit ist eine Aussage über Akzeptanz per se getroffen, jedoch noch nicht über die Motivationen zur Akzeptanz. Die Motivation zur Akzeptanz organisatorischen Wandels bleibt hier offen und wäre als separater, soziologischer Aspekt nach emotionalen Kategorien wie Akzeptanz aus Überzeugung oder Unsicherheit zu untersuchen. <?page no="100"?> 86 Die Darstellung und Unterstützung organisatorischen Wandels ansetzen, um die Makrostruktur zu messen. Der umgesetzte Wandel gilt als Messpunkt für den Erfolg der Unternehmenskommunikation (Deekeling/ Barghop 2003a). In verschiedenen wirtschaftswissenschaftlichen Ansätzen wird versucht, mit der Verbindung der Kommunikationswissenschaften und der Strategielehre zielgerichtete Kommunikation und Erfolgskontrolle zu ermöglichen (Arentin 2003, 192 f.). Mit dieser Vorgehensweise ist insoweit Übereinstimmung mit den Sprachwissenschaften gegeben, als auch sprachwissenschaftliche Ansatzpunkte „gesteuerte Veränderungsprozesse in Unternehmen auf der konkreten Handlungsebene rekonstruieren und analysieren“, denn „die Qualität von Kommunikation ließe sich als Indikator für Entwicklungsprozesse nutzen und Mängel in der Kommunikation als Symptome für Organisationsprobleme interpretieren“ (Brünner 2002, 25). Fokussiert auf die Chat-Kommunikation muss folglich untersucht werden, wie mikrostrukturelles Handeln durch die Wahrnehmungen der Makrostruktur angeregt wird und ob anhand der mikrostrukturellen Sprachhandlungen auf die Umsetzung makrostrukturellen Wandels geschlossen werden kann. Die folgenden Kapitel haben deshalb mögliche Verbindungen zwischen der Makro- und der Mikrostruktur zum Gegenstand. 3.2 Kommunikation des Wandels 3.2.1 Das Bild des Kommunikators Mit den Anforderungen an die Unternehmenskommunikation hat sich auch das Verständnis von den Aufgaben des Verantwortlichen für Kommunikation, des „Kommunikators“ (Deekeling 2003, 165), tiefgreifend verändert. In der traditionellen Auffassung der Unternehmenskommunikation werden abgeschlossene Inhalte an die Mitarbeiter kommuniziert. Die Leistung der Unternehmenskommunikation besteht somit darin, Sachverhalte verständlich zu machen und sicherzustellen, dass die Inhalte an die Zielgruppen transportiert werden. Dagegen gestaltet der Kommunikator den Wandel des Unternehmens in der Kommunikation mit und beeinflusst, indem er den Mitarbeitern das angestrebte Unternehmensbild vermittelt, wie die Mitarbeiter Ereignisse organisatorischen Wandels wahrnehmen. Die Vermittlung von Wahrnehmung in den Chats des vorliegenden Datenkorpus ist in Kap.-5.5. beschrieben. Der Paradigmenwechsel von der Vorstellung des Transports von Information zu einer Vermittlung von Informationen und Zusammenhängen kam in den Organisationswissenschaften durch die Forderung zustande, organisatorischen Wandel daran zu messen, inwieweit er ein „Wandel in den Köpfen“ ist und sich in Sprachhandeln, das affin zu den Zielen der Unternehmensführung ist, ausdrückt. Damit nähert dieser Paradigmenwechsel die Wirtschaftswissenschaften <?page no="101"?> Kommunikation des Wandels 87 in der Betrachtung des Sprachhandelns der Auffassung der Gesprächsforschung an, in der die Erforschung des Zusammenhangs zwischen dem Denken und Sprachhandeln eine lange Tradition hat. Die in der sprachwissenschaftlichen, organisationswissenschaftlichen und betriebswirtschaftlichen Forschung vertretenen Auffassungen von den Funktionen kommunikativen Handelns sind in Kap.-1.2. diskutiert. Im Rahmen einer funktionalen Beschreibung der Unternehmenskommunikation sieht Flores im Interview mit Deekeling neue Herausforderungen für den Kommunikator und neue Anforderungen an die Unternehmenskommunikation in dem Bemühen, dem zunehmend beschleunigt verlaufenden organisatorischen Wandel im Unternehmen gerecht zu werden. Bei der Lösung von kommunikativen Problemen stellt man sehr häufig fest, dass es kein originär kommunikatives Problem gibt, sondern ein strukturelles oder ein inhaltliches Problem. Indem Sie darauf hinweisen, wachsen Sie in die Rolle eines internen Sparringpartners, der als Teil der Task Force unternehmensstrategische Entscheidungen und ihre möglichen Auswirkungen bei den Stakeholdern im Vorfeld kritisch durchleuchtet. Im Rahmen dieses Plausibilitäts-Checks können Sie mit Ihrer Erfahrung hinsichtlich Bedürfnissen, Verhaltensmustern und wahrscheinlichen Reaktionen der internen und externen Zielgruppen echten Mehrwert stiften und helfen, frühzeitig mögliche Klippen zu umschiffen. (Deekeling 2003, 165) Es besteht mit dieser Auffassung, wie sich im Folgenden zeigen wird, Übereinstimmung mit grundsätzlichen Überlegungen der wirtschaftslinguistischen Forschung. Kommunikationsmaßnahmen sind meist auf einer Vielzahl von Kommunikationswegen unterschiedlicher Funktionen einer betriebswirtschaftlichen Steuerung unterworfen. Messkriterien sind qualitative und quantitative Erfahrungswerte über die Aufnahme der Information als abfragbares Wissen. Um den neuen Anforderungen an die Unternehmenskommunikation gerecht zu werden, sind Erhebungen der Umsetzung auf der Handlungs- und Kommunikationsebene erforderlich, da letztendlich das kommunizierte und angewandte Wissen relevant ist. 46 Dafür werden neue Messpunkte und Messmethoden angewandt. Die Gesprächsforschung hält für diese Ziele Verfahren vor. Brünner bietet auf der mikrostrukturellen Ebene konkrete Lösungswege an. Mit linguistischen Methoden sollten sich gesteuerte Veränderungsprozesse in Unternehmen auf der konkreten Handlungsebene rekonstruieren und analysieren lassen, so dass sie beurteilbar werden. Die Qualität von Kommunikation ließe sich als Indikator für Entwicklungsprozesse nutzen und Mängel in der Kommunikation als Symptome für Organisationsprobleme interpretieren. (Brünner 2002, 25) 46 In der Zusammenstellung von Interviews und Aufsätzen von Deekeling/ Barghop (2003b) wird durchgängig gefordert, den Fokus in der Mitarbeiterkommunikation von der Verteilung passiven Wissens auf die Vermittlung angewandten Wissens zu lenken. <?page no="102"?> 88 Die Darstellung und Unterstützung organisatorischen Wandels Die Auffassung, sprachliche Kommunikation bleibe „immer Medium der Verständigung zwischen zwei oder mehr Partnern“ und „eine instrumentalistische Auffassung von Kommunikation“ werde der Sache nicht gerecht (Fiehler/ Becker-Mrotzek 2002, 8), bezieht sich auf Sprachhandlungen, die, wie z. B. Arbeitsanweisungen, nach einer Auffassung von Kommunikation als Informationstransport einseitig Wirkung auf den Gesprächspartner haben sollten. 47 Beide Funktionen, die Vermittlung des Unternehmensbilds und die Durchsetzung der Akzeptanz des Unternehmensbilds, müssen im Aufgabenspektrum des Kommunikators nicht in Widerspruch stehen. Der Kommunikator hat die Möglichkeit, das Unternehmensbild zu vermitteln und den Mitarbeitern einen klar abgegrenzten kommunikativen Erfolg anzubieten. Demnach hat Erfolg, wer das Kommunikationsangebot annimmt, und sich mit dem angebotenen Unternehmensbild konstruktiv auseinandersetzt. Die Vermittlung bezieht sich auf ein Angebot zur Einbringung in die Gestaltung eines Unternehmensbilds und die Umsetzung der gemeinsamen Ziele, das zugleich instrumentalisiert wird, indem es Belohnungen respektive Sanktionen in Aussicht stellt. So stellen die Chats des vorliegenden Datenkorpus ein Kommunikationsangebot dar, das die Mitarbeiter mit ihrer Teilnahme am Chat annehmen (Kap.-5.5.2.). Das neue Bild des Kommunikators bedingt auch neue Funktionen der Unternehmenskommunikation. 48 Aus unternehmenspraktischer Sicht besteht Bedarf an übergreifenden Lösungen einer integrierten Kommunikation. Eine ganzheitlich ausgerichtete unternehmensinterne Kommunikationsleitlinie soll Einflussstreitigkeiten verschiedener Kommunikatoren ausschließen und dazu beitragen, ein schlüssiges Unternehmensbild zu erhalten, das die Interessen aller Beteiligten des Unternehmens berücksichtigt. Die Rolle des Kommunikators besteht darin, mittels der Leitlinien der Kommunikation, die aufgrund ihrer Funktion, Wahrnehmungen und Handlungen sowie deren Veränderungen vermitteln, den organisatorischen Wandel im Unternehmen mit zu gestalten. Die Entwicklung von der Vermittlung von Informationen und Einstellungen hin zur Gestaltung des Wandels mittels der Kommunikation bedeutet, dass Prozesse des Wandels, die die Umsetzung der vom Unternehmen angestrebten Veränderungen regeln, als Entsprechungen des Wandels auf der Ebene der Geschäftsprozesse in die Kommunikation mit eingebunden sind. Der Kommunikator nimmt in zweifacher Funktion Einfluss auf den Wandel, indem er Veränderungsprozesse beeinflusst und über die Kommunikation selbst Wandel initiiert. Bei der Bewertung dieser Funktionen liegen die Gemeinsamkeiten in den Vorgehensweisen der Gesprächsforschung und der 47 In diesem Zusammenhang vertreten Fiehler/ Becker-Mrotzek (2002, 8) auch die Ansicht, die individualistische Sicht der Kommunikationsteilnehmer werde überbetont, weil ein „kommunikativer Erfolg“ nicht von nur einem Gesprächspartner abhängen kann. 48 Einen Überblick über die Rolle eines Kommunikators aus praktischer Sicht gibt Deekeling (2003, 163). <?page no="103"?> Kommunikation des Wandels 89 Wirtschaftswissenschaften darin, dass beide sich dabei vorrangig an der „Kategorie des Zwecks“ (Fiehler/ Becker-Mrotzek 2002, 11) orientieren. Dabei ist der Zweck dem Einzelinteresse übergeordnet und zweckmäßige Kommunikation ist vermittelndes Sprachhandeln durch Ausbalancieren eigener und fremder Interessen, wobei Kommunikator und Mitarbeiter der Bedingung unterliegen, sich im Ergebnis konstruktiv zu dem Unternehmensziel hinzuwenden und das wirtschaftlich anzustrebende Unternehmensbild gestalterisch umzusetzen. 3.2.2 Die Vermittlung des Unternehmensbilds Die Vermittlung des Unternehmensbilds besteht heute weitgehend darin, die Unternehmensführung medial zu präsentieren. Die Vorstände oder die Geschäftsführer von Unternehmen werden von den Mitarbeitern als Personen gesehen, die das Unternehmen und dessen Wertekanon symbolisieren sollen. Die bis vor etwa zwanzig Jahren übliche mediale Präsentation des Unternehmens an sich ist damit überholt. Dieser Paradigmenwechsel gleicht einem Wertewandel, der Werte wie Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft neu in die Diskussion einbringt. Früher war alles einfacher: Da gab der CEO den Visionär und überließ die Interpretation den Leitbildprozesslern, Betriebsjournalisten und ‚Führungskräfteleitlinienziehern‘. Heute muß er schon selber sagen, was er meint. Er wird zum Interpreten seiner selbst, und im Publikum sitzen jede Menge Kritiker, die rezensieren und Haltungsnoten geben. Er muß also aufpassen, was er sagt, und wissen, wie er es gemeint haben könnte. Er muß darüber hinaus wissen, wie er es sagt und dass Beweise gefordert werden. Das Publikum ist misstrauisch geworden. [...] Da geht es darum, sich selbst zum Symbol von Veränderung zu machen - also um die Demonstration von Veränderung an sich selbst. (Deekeling 2003, 63) Damit sind auch Kommunikationsformen notwendig geworden, die es den Mitgliedern der Unternehmensleitung erlauben, sich auch innerhalb des Unternehmens allen Mitarbeitern, also einem breiten Publikum, als Persönlichkeiten zu präsentieren und ihr Image zu gestalten. Die Präsentation der Unternehmensleitung als Leitbild wird in den bestehenden Kommunikationsformen als neue Funktion eingebracht, z. B. als Interviews in Mitarbeiterzeitschriften oder Briefe und E-Mails an die Mitarbeiter. Die Anforderung, die Unternehmensleitung als Leitbild zu präsentieren, hat mit der Chat-Kommunikation eine neue Form der Mitarbeiterkommunikation hervorgebracht, deren Funktion im Wesentlichen ist, die Sichtweise der Unternehmensleitung ohne weitere Vermittler zu verbreiten. 3.2.3 Mikrostrukturelle Impulse Im Zusammenhang mit der Betrachtung der Voraussetzungen für organisatorischen Wandel interessiert, weshalb die Beteiligten in Unternehmen auch repro- <?page no="104"?> 90 Die Darstellung und Unterstützung organisatorischen Wandels duzierendes Sprachhandeln zeigen, das an neuen Strukturen des Unternehmens orientiert ist, statt dem gewohnten Sprachhandeln zu folgen. Dabei interessieren besonders Reproduktionen, die affin zum aktuellen Unternehmensbild sind. Zu der Neuorientierung der Beteiligten eines Unternehmens von einer gewohnten Struktur, die bisher reproduziert wird, auf eine neu wahrgenommene Struktur, die fortan reproduziert werden soll, lässt sich ein struktureller Denkprozess beschreiben, der durch ein Ereignis ausgelöst wird, für das ich im Folgenden den Begriff mikrostruktureller Impuls verwende. Mitarbeiter machen in ihrem beruflichen Umfeld stets neuartige Wahrnehmungen, die aber meist nur geringfügig von den gewohnten Wahrnehmungen abweichen. Die Beteiligten tragen in ihrem beruflichen Umfeld Wahrnehmungen an sie heran, die ihren eigenen Wahrnehmungen ähnlich sind, da sie sich in einem ähnlichen Umfeld bewegen und ähnliche Reproduktionen vornehmen. In der virtuellen Kommunikation im Unternehmen besteht eine Unabhängigkeit von räumlicher und, in Kommunikationsformen wie der Chat-Kommunikation zwischen den Mitarbeitern und der Unternehmensleitung, hierarchischer Gebundenheit der Interaktanten. Dadurch treffen ganz unterschiedliche, einander völlig unähnliche Reproduktionen der Unternehmensstruktur aufeinander. Ein mikrostruktureller Impuls entsteht dann, wenn ein Mitarbeiter mit Reproduktionen konfrontiert wird, die seinen eigenen nicht ähnlich sind und die er auch nicht kennt oder unter den ihm bekannten Reproduktionen einordnen kann. Der Mitarbeiter entscheidet dann im Abwägen des Nutzens der bisherigen und neu herangetragenen Wahrnehmungen, ob er das neue Reproduktionsmuster verwirft oder fortan statt des gewohnten Reproduktionsmusters reproduziert. Die Frequenz, mit der mikrostrukturelle Impulse auftreten, lässt sich systematisch innerhalb der „Dimensionen kooperationsbezogener Kommunikation“ (Brünner 2000, 17) festmachen. Mitarbeiter, die im Unternehmen horizontalarbeitsteilig und vertikal-hierarchisch sehr unterschiedlich positioniert sind, produzieren unterschiedlichere Reproduktionen als Mitarbeiter mit wenig unterschiedlicher Positionierung. Da die Wahrnehmungen eines Mitarbeiters von seiner Position im Unternehmen und seinen Aufgaben abhängen, treten innerhalb der horizontal-arbeitsteiligen und der vertikal-hierarchischen Dimension an unterschiedlichen Positionen Wahrnehmungen und reproduzierende Sprachhandlungen auf, die von den Wahrnehmungen und reproduzierenden Sprachhandlungen an anderen Positionen verschieden sind oder im Widerspruch zu diesen stehen. Diese positionsabhängig unterschiedlichen Wahrnehmungen führen zu unterschiedlichen Kommunikationsformen, z. B. der sachlich-technischen Expertenkommunikation oder der hierarchisch-ökonomischen Kommunikation der Unternehmensleitung. Brünner sieht in den unternehmerischen Anforderungen und Verhaltensnormierungen Widersprüchlichkeiten begründet und beschreibt wie diese zu „Brüche(n) in den kommunikativen Formen“ führen. <?page no="105"?> Kommunikation des Wandels 91 Diese zeigen sich in allen Handlungsdimensionen und werden besonders manifest im Verhältnis von sachlich-technisch und hierarchisch-ökonomisch bezogener Kommunikation. (Brünner 2002, 30) Es kann also innerhalb einer Funktion, die ein Interaktant hat, zu einem paradoxen Sprachhandeln kommen, das aus den unterschiedlichen Anforderungen, die an den Interaktant gestellt werden, resultiert. Mit der Chat-Kommunikation des vorliegenden Datenkorpus treten Interaktanten in einen Diskurs, deren Sprachhandeln auf der Achse zwischen dem sachlich-technischen und dem hierarchisch-ökonomischen Pol breit gestreut ist. Insofern wirken auf die Interaktanten viele Reproduktionen ein, die als mikrostrukturelle Impulse wirken, da sie von eigenen Wahrnehmungen erheblich differieren und somit nicht in das eigene Wahrnehmungssystem eingeordnet werden können. In den Wirtschaftswissenschaften sind Verhaltensmuster, in denen das eigene Verhalten im Unternehmen und der persönliche Nutzen in Beziehung gesetzt werden, als „Konzept der Selbstorganisation“ beschrieben, das als „nichttriviales System“ immanent nicht vollständig analysierbar ist (Foerster 1996, 248). Linguistische Arbeiten beschreiben unter Einbeziehung wirtschaftswissenschaftlicher Erkenntnisse Selbstorganisation als „Annahme geteilter Wissens- und Wahrnehmungsmuster“ (Habscheid 2003, 117) aus der Interpretation der sprachlichen Umgebung heraus. Dabei gehen mikrostrukturelle Impulse nicht nur von etablierten Handlungsmustern aus. Kommunikationsprozesse verflechten sich auf diese Art vertikal-hierarchisch (Dichter/ Gagnon/ Alexander 1993, 91), so dass die Übernahme der Reproduktionen anderer durch einen Interaktant noch nicht festlegt, welche Elemente des Sprachhandelns übernommen werden. Im Rahmen eines soziologischen Zugangs wäre zu unterscheiden, wann ein Interaktant motiviert ist, seine gewohnten Reproduktionen durch neuartige Reproduktionen zu ergänzen oder zu ersetzen. Ein Mitarbeiter, der grundsätzlich an seinen gewohnten Reproduktionen festhält, ohne andere Reproduktionen dagegen abzuwägen, folgt nicht dem Prinzip der Nutzenabwägung und wird möglicherweise Sprachhandlungen entwickeln, die nicht zur Struktur des Unternehmens affin sind. Für die Beschreibung mikrostruktureller Impulse kommen deshalb nur Interaktanten in Betracht, die andere Reproduktionen übernehmen, so dass die Übernahme einer Reproduktion, deren Herkunft nachvollziehbar ist, als kommunikativ sichtbarer Beleg für einen mikrostrukturellen Impuls gelten kann. <?page no="106"?> 92 Die Darstellung und Unterstützung organisatorischen Wandels 3.3 Mögliche Auswirkungen der Kommunikation auf den Prozess des Wandels in Unternehmen 3.3.1 Veränderung von Einstellungen Mitarbeiter, die ihr Bild vom Unternehmen durch andere Wahrnehmungen ergänzen oder zugunsten anderer Wahrnehmungen aufgeben, handeln ursächlich nach dem Prinzip der Abwägung von Nutzen im Blick auf persönliche Interessen und Ziele. Dabei vollziehen sie zielorientiert konkrete Sprachhandlungen. Der Mitarbeiter wechselt das Bild, das er sich vom Unternehmen gemacht hat ergebnisorientiert, aus Überzeugung oder um sich anzupassen, wobei es sich funktional um einen Wechsel der Perspektive handelt, aus der er das Unternehmen betrachtet. Das bedeutet, der Mitarbeiter modifiziert den Wertekanon, den er seiner Interpretation der Ereignisse des Wandels und den Ergebnissen daraus zugrunde legt. Da die Werte und Interpretationen im Chat von der Unternehmensleitung an die Mitarbeiter herangetragen werden, übernimmt der Mitarbeiter damit die Perspektive der Unternehmensleitung. Dafür lassen sich konkrete Handlungsweisen feststellen, die den Ablauf einer Perspektivübernahme kennzeichnen. Der Mitarbeiter erhält durch das Sprachhandeln der Unternehmensleitung mikrostrukturelle Impulse. Im folgenden Kap.-3.3.2. ist exemplarisch für die Chat-Kommunikation zwischen der Unternehmensleitung und den Mitarbeitern dargestellt, wie durch diese strukturellen Impulse eine Mikro-Makro-Brücke zustande kommt. Als mikrostrukturelle Impulse können Antworten der Unternehmensleitung auf Fragen der Mitarbeiter wirken, für die ein Mitarbeiter bisher keine zufriedenstellenden Antworten hat, oder er erhält zu einer Denkrichtung, die er nicht weiterführen kann, einen entscheidenden Hinweis. Dadurch ergeben sich für den Mitarbeiter neue Perspektiven, die besser geeignet sind, sein eigenes Handeln und seine Wahrnehmung von der Struktur der Organisation in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen. Insofern mündet die sprachliche Interaktion, die mit einem mikrostrukturellen Impuls beginnt, in ein verändertes Sprachhandeln des Mitarbeiters, vorausgesetzt, der Mitarbeiter bewertet die neu gewonnene Perspektive als nützlich und favorisiert sie fortan gegenüber seinen bisherigen Perspektiven. Damit gibt die Perspektivübernahme eine mikrostrukturelle Erklärung für den makrostrukturell pauschal verlangten Wandel in den Köpfen der Mitarbeiter. Perspektivübernahmen manifestieren sich im Durchbrechen routinierter Reproduktionsschemata, der Übernahme neuartiger Reproduktionen und dem Repriorisieren der Elemente des eigenen Handelns. Als Sonderfall können Mitarbeiter neue Perspektiven entwickeln, die in der Realität nicht durchsetzbar sind, sondern sich an Wunschvorstellungen orientieren. Basieren „soziale Erwartungsstrukturen [...] auf der Virtualität der Identitäten“ (Thiedeke 2000, 43), wird die Perspektivübernahme beeinflussbar, sowohl vom Mitarbeiter selbst als auch von den anderen beteiligten Interaktanten. <?page no="107"?> Mögliche Auswirkungen der Kommunikation 93 Für die Chat-Kommunikation hat das den bedeutsamen Aspekt, dass die virtuellen Perspektiven nicht unbedingt in der Realität eine Entsprechung finden. So kann ein Diskurs zwischen Mitarbeitern und Unternehmensleitung nicht auf alle anderen beruflichen Situationen übertragen und dort weitergeführt werden. Es würde schon den zeitlichen Rahmen sprengen, sollte sich der Vorstand wie im Chat jederzeit in vollem Umfang den Mitarbeitern als Gesprächspartner zur Verfügung stellen. Die Forderung einer persönlichen Leitbildfunktion an die Unternehmensleitung als unabdingbares Zeichen für Glaubwürdigkeit (Deekeling 2003, 162 ff.) kann nicht soweit gelten, dass das Sprachhandeln der Unternehmensleitung im Chat selbst als Leitbild für die Beziehungsgestaltung zwischen der Unternehmensleitung und den Mitarbeitern genommen wird. Im Chat können sich die Mitarbeiter aus einem durch das Medium bedingt vagen Bild, das sich die Mitarbeiter von der Unternehmensleitung als Personen machen, ein konkretes Bild nach ihren eigenen Vorstellungen gestalten. Die Kommunikation, die im Chat mit dem Vorstand, vergleichbar der Kommunikation unter Kollegen, möglich ist, lässt sich in fast allen anderen Situationen im Unternehmen nicht weiterführen. Im vorliegenden Datenkorpus finden sich Angebote der Unternehmensleitung an die Mitarbeiter, den Diskurs außerhalb des Chats weiterzuführen. Diese Angebote sind aber begrenzt und es werden teilweise auch stellvertretende Ansprechpartner genannt, an die sich der betreffende Mitarbeiter wenden kann. Die Bestrebungen der Unternehmensleitung und ihre Leitbildfunktion im Chat bestehen vielmehr darin, mikrostrukturelle Impulse zu geben, die den Mitarbeitern Perspektivübernahmen und die Hinwendung zu neuen Strukturen des Unternehmens ermöglichen. Für die Chat- Kommunikation im vorliegenden Datenkorpus wird in Kap.-5.5.2. eine Sprachhandlung Perspektiven übernehmen dargestellt. Der Anspruch der Unternehmenskommunikation ist, zu steuern, welche Perspektiven die Mitarbeiter übernehmen. Der sozialwissenschaftliche Begriff der „Zukunftsperspektive“ beschreibt eine Abkehr von den strukturellen Bruchstellen in der Unternehmensstruktur und die Hinwendung zu den Kontinuitäten der neu geltenden Strukturen (Luhmann 2004, 140). Nach dieser Auffassung kommt die Unterstützung einer Perspektivenübernahme der Mitarbeiter durch die Unternehmensleitung einer Problemlösung gleich, die eine kommunikative Unterstützung der Neuausrichtung von Unternehmen darstellt, indem die Interpretation neuer Unternehmensstrukturen kommunikativ vermittelt wird. Das Entstehen neuer organisatorischer Lösungen wird in dieser Perspektive als Erwerb neuer Wahrnehmungen der organisatorischen Realität, neuer Ziele, neuer Interpretationen für organisatorisches Handeln und neuer Interaktionsmuster durch die Organisationsmitglieder konzipiert. (Kieser 2002, 297) Hinsichtlich der für das vorliegende Datenkorpus dargestellten kommunikativen Handlung Kritik in Kap.- 6.1.2.2. fällt auf, dass die Antwort der Unterneh- <?page no="108"?> 94 Die Darstellung und Unterstützung organisatorischen Wandels mensleitung auf kritische Äußerungen der Mitarbeiter immer eine Darstellung der Sichtweise der Unternehmensleitung beinhaltet. Nun soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern mikrostrukturelles Sprachhandeln, das zu Perspektivübernahmen führt, mit dem Wandel der Makrostruktur in Zusammenhang zu bringen ist. Im folgenden Teilkapitel soll das Mikro-Makro-Problem der Kommunikation thematisiert und dafür exemplarisch eine Mikro-Makro-Brücke, die am vorliegenden Datenkorpus nachvollziehbar ist, dargestellt werden. 3.2.2 Das Verhältnis von sprachlichem Handeln und Veränderungen im Unternehmen Das Verhältnis zwischen mikrostrukturellen Sprachhandlungen und sozialen Konstruktionen der Makrostruktur gestaltet sich methodisch schwierig. 49 Letztere sind in der Regel nicht aus Handlungen hergeleitet, sondern entspringen theoretischen Konzepten über allgemeine Beobachtungen und darauf basierenden Annahmen. Fokussiert auf die Chat-Kommunikation im vorliegenden Datenkorpus soll im Folgenden eine Verbindung zwischen mikrostrukturellem Kommunikationshandeln von Mitarbeitern und makrostrukturellen Konzepten des organisatorischen Wandels belegt werden. Dazu soll auf die in diesem Kapitel bisher dargestellten Faktoren und Abläufe zurückgegriffen werden. Es gilt auszudifferenzieren, wie die Verbindung der Mikrostruktur der Chat-Kommunikation mit dem Unternehmensbild als Makrostruktur funktioniert. Daran schließt sich die Frage an, ob sich mikrostruktureller Wandel so befördern lässt, dass direkte Auswirkungen in der Makrostruktur nachweisbar sind. Als These nehme ich an, dass die mikrostrukturell beobachtete Perspektivübernahme, die durch einen mikrostrukturellen Impuls ausgelöst wird, Prinzipien folgt, primär dem Nutzenprinzip für die Interaktanten. Daraus kann die Folgerung getroffen werden, dass es sich bei einer Perspektivübernahme um eine Sprachhandlung handelt, die in einer bestimmten Häufigkeit reale Ausprägungen findet, die einander ähnlich sind. Für die Chat-Kommunikation im vorliegenden Datenkorpus ist in Kap.- 5.5.2. eine Sprachhandlung Perspektiven übernehmen dargestellt. Ist der Nutzen aus angepasstem Sprachhandeln für Mitarbeiter eines Unternehmens aufgrund von personellen Anreizsystemen vergleichbar und auf ein gemeinsames Unternehmensziel ausgerichtet, so erfolgen Perspektivübernahmen gehäuft auf Reproduktionen, die affin zur aktuellen Makrostruktur des Unternehmens sind. Für die Situation im vorliegenden Datenkorpus stellt sich folglich die Frage, ob die Häufigkeit der kommunika- 49 Einen Überblick über Konzepte zur Lösung des Mikro-Makro-Problems haben Schmitt/ Heidtmann (2002) zusammengestellt. <?page no="109"?> Mögliche Auswirkungen der Kommunikation 95 tiven Handlung Perspektiven übernehmen mit 28 Ausprägungen bei insgesamt 20.473- Sequenzen (Kap.- 4.4.) so gering ist, da die Anreizsysteme so schwach sind, oder ob in den Chats nur wenige der tatsächlichen Perspektivübernahmen kommunikativ sichtbar werden, worauf mehrere beiläufige Bemerkungen der Chat-Teilnehmer hindeuten (Kap.-5.5.2.). Abb. 6: Die Mikro-Makro-Brücke in der unternehmensinternen Chat-Kommunikation Die Summe der mikrostrukturellen Handlungen, die auf den von der Unternehmensleitung übernommenen Perspektiven basieren, findet damit zwangsläufig in der konzeptorientierten Makrostruktur ihre Entsprechung. Die Ähnlichkeit des Ablaufs von Perspektivübernahmen und Reproduktionen bei verschiedenen Mitarbeitern ist auf der Sprachebene durch die rasche Übernahme von Fachbegriffen und auch Modewörtern im Sprachgebrauch und im Handeln dokumentiert, da mit der Wortwahl auch der damit begrifflich gefasste Handlungskomplex imitierend übernommen wird. Es kann deshalb davon ausgegangen werden, dass die mikrostrukturellen Handlungen bei vielen Mitarbeitern ähnlich sind. Im Folgenden möchte ich anhand der Chat-Kommunikation im vorliegenden Datenkorpus darstellen, wie mikrostrukturelles Handeln zu einer Veränderung der Makrostruktur führen kann und so eine Mikro-Makro-Brücke entsteht (Abb.-6). Das Sprachhandeln der Mitarbeiter reproduziert zunächst die Makrostruktur des Unternehmens, wie sie von den Mitarbeitern wahrgenommen wird. In dieser Situation gibt der Diskurs mit der Unternehmensleitung im Chat den Mitarbeitern Anregungen und neue Perspektiven, da die Informationen und inter- <?page no="110"?> 96 Die Darstellung und Unterstützung organisatorischen Wandels pretierenden Darstellungen von Zusammenhängen, die die Mitarbeiter im Chat von der Unternehmensleitung erhalten, als mikrostrukturelle Impulse wirken. Soweit das Sprachhandeln der Mitarbeiter affin zu einer zeitlich früheren Makrostruktur des Unternehmens ist, können die Mitarbeiter mit den mikrostrukturellen Impulsen ihre Perspektive verändern und ihr Sprachhandeln der aktuellen Makrostruktur des Unternehmens anpassen. Ebenso kann Sprachhandeln mit undifferenzierter Affinität, das nicht der Makrostruktur des Unternehmens angepasst ist, zu affinem Sprachhandeln verändert werden. Unabhängig vom Ausgangspunkt ihres Sprachhandelns sind die Mitarbeiter durch die mikrostrukturellen Impulse, die sie im Chat von der Unternehmensleitung erhalten, in der Lage, ihr Sprachhandeln nach dem Unternehmensbild als der aktuellen Makrostruktur auszurichten. In ihrem Sprachhandeln reproduzieren sie also die aktuelle Makrostruktur. Soweit die Unternehmensleitung in einer Leitbildfunktion im Chat Makrostrukturen reproduziert, die im Unternehmensalltag sonst noch nicht umgesetzt sind, bildet sich aus dem auf die neue Makrostruktur ausgerichteten mikrostrukturellen Sprachhandeln die neue, gewünschte Makrostruktur. Die neu ausgerichteten Sprachhandlungen, die im Unternehmen sonst noch nicht umgesetzt sind und von denen die Mitarbeiter somit nicht anderweitig erfahren haben können, sind der kommunikativ sichtbare Beleg dafür, dass eine Mikro-Makro-Brücke hergestellt ist. 3.3.3. Die virtuelle Organisation: Beschleunigung des Wandels Mit der Einführung von Chat-Kommunikation erhalten virtuelle Organisationen ein Kommunikationsmedium, das die Bildung temporärer Organisationseinheiten, wie sie im Wandel verstärkt auftreten, unterstützen kann. Das Kapitel enthält eine Darstellung, wie sich virtuelle Interaktionssysteme in Organisationen bilden und die Chat-Kommunikation diese Entwicklung unterstützt, sowie Überlegungen dazu, inwieweit Virtualität in der Chat-Kommunikation als Beschleunigungsfaktor für organisatorischen Wandel wirkt. Genese und Charakteristik virtueller Organisationseinheiten und Interaktionssysteme Virtualität ist in den späten neunziger Jahren in großen Unternehmen zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Unternehmenskultur geworden (Kap.-1.1. und 1.2.). Im Folgenden geht es darum, diese Form der Virtualität zu charakterisieren und ihre Bedeutung für die Chat-Kommunikation darzustellen. In diesem Kontext sollen die Begriffe virtuelle Gruppe und Interaktionssystem definiert und gegeneinander abgegrenzt werden. Weiter soll das virtuelle Interaktionssystem, das sich informell in der Virtualität zusammenfindet, von der virtuellen Organisationseinheit, die aufgrund formaler Kriterien virtuell gebildet wird, abgegrenzt werden. <?page no="111"?> Mögliche Auswirkungen der Kommunikation 97 Zur Abgrenzung von Gruppen werden neben kommunikationswissenschaftlichen Gesichtspunkten im Wesentlichen soziologische Kriterien verwendet. 50 Mitarbeiter in Unternehmen können demnach als formale, soziale Großgruppe mit sekundärer subjektiver Bedeutung eingestuft werden (Döring 2003, 490). Innerhalb von Großgruppen sind der formale respektive informelle Charakter und der Grad sozio-emotionaler Bedeutung Kriterien der weiteren Abgrenzung in Organisationseinheiten, Gemeinschaften und Gruppen. Dabei zeichnet sich die Gruppe dadurch aus, dass „Gruppenbeziehungen und -grenzen aufgrund der engen emotionalen Wechselbeziehungen ihrer Mitglieder“ keiner formalen Gestaltung bedürfen (Thiedeke 2000, 36). Zur Abgrenzung von virtuellen Gruppen gegen ihr soziales Umfeld stehen ebenso viele Kriterien zur Verfügung. Funktional ist die formale respektive informelle Konstitution Grenzlinie zwischen virtueller Gruppe und anderen außerhalb der Unternehmenshierarchie gebildeten Gruppen. In diesem Fokus stellt sich dann die Frage nach Mischformen, in denen sich formale und informelle Aspekte überlagern und gemeinsam konstituierend wirken. Ebenso ergibt die Virtualität selbst kein klares Kriterium der Unterscheidung, da virtuelle Gruppen und Offline-Gruppen wie auch andere Unterscheidungen nach sozialen Kontakten eine Vielzahl von Mischformen hervorbringen. Die begriffliche Unterscheidung nach virtueller Organisationseinheit und virtueller Gruppe stützt sich definitorisch auf ein Bündel kommunikativer und soziologischer Kriterien. In der Abgrenzung der virtuellen Gruppe setze ich den Fokus auf die Chat-Gemeinschaft. Eine Chat-Gemeinschaft ist ein informelles Zusammentreffen im virtuellen Raum, hier der eines Unternehmens, das sich durch Chat-Kommunikation zwischen den Beteiligten konstituiert und reproduziert. Die Chat-Kommunikation findet zwischen allen im virtuellen Raum des Chats anwesenden Mitarbeitern und der Unternehmensleitung statt. Die Gruppe unterliegt keiner thematischen Bindung oder Moderation und es steht den Mitarbeitern offen, ausgenommen der Einhaltung der sozialen und konversationalen Strukturierung des Diskurses im Chat (Chatiquette), auf welche Weise sie sich einbringen (Kap.-4.2.). Kommunikation in einer virtuellen Organisationseinheit bezeichnet Kommunikation, Chat-Kommunikation eingeschlossen, in einer Arbeitsgruppe eines Unternehmens, die vorwiegend oder ausschließlich virtuell zusammentrifft. In der formalen Funktion einer Organisationseinheit (Team, Abteilung) mit einer gemeinsamen Aufgabe und Zielvorgabe gibt es zur virtuellen Organisa- 50 Überblicksdarstellungen zur Definition des Gruppenbegriffs finden sich in einer Vielzahl in der Literatur verschiedener Disziplinen und Forschungsrichtungen: kommunikationswissenschaftlich bei Keim/ Schütte (2002), Habscheid/ Fix (2003) und Willems (2003), sozialwissenschaftlich bei Döring (2003), Thiedeke (2000), Stegbauer (2000), zu den Kategorien sozialer Systeme Luhmann (1994) und zur Gruppe als nicht-triviales System Foerster (1996). <?page no="112"?> 98 Die Darstellung und Unterstützung organisatorischen Wandels tionseinheit Mischformen. Unabdingbares Kriterium zur Abgrenzung der virtuellen Organisationseinheit ist die fehlende räumliche Einheit, die sich darin ausdrückt, dass die Gruppenmitglieder keinen gemeinsamen realen Arbeitsort haben. Gegen diese funktionale Abgrenzung der Chat-Gemeinschaften könnte man anführen, dass das als konstituierend angesehene Kriterium der wechselseitigen Unterstützung der Mitglieder eben nicht gegeben ist. Die Chat-Gemeinschaft unterscheidet sich demnach nicht von „flüchtigen Interaktionssystemen“ (Döring 2003, 492). Dagegen ist einzuwenden, dass wechselseitige Unterstützung durch ein gemeinsames Informationsinteresse ersetzt ist. Indem ein Chat-Teilnehmer Informationen nachfragt, nützt er den anderen Mitgliedern, da die entsprechenden Antworten allen zugänglich sind. Für den Chat in Unternehmen ist es deshalb sinnvoll davon auszugehen, dass es sich um ein Interaktionssystem handelt, das nur zufällig Merkmale von Gruppen aufweist, aber flüchtig ist hinsichtlich der zeitlichen Dauer, und in dem die Motivation zur Teilnahme für jeden einzelnen Teilnehmer zwar gegeben ist, häufig aber kein gemeinsames Interesse besteht. Luhmann (2000, 25) ersetzt in seiner „Theorie der Interaktion zwischen Anwesenden“ den Begriff der Gruppe durch die Betrachtung virtueller Gemeinschaften als Interaktionssysteme. Der Gruppenbegriff ist auch insofern nicht zutreffend, als Interaktionssysteme keine binnendifferenzierten sozialen Gebilde sind, sondern ausschließlich aufgabenbezogene Zusammenschlüsse. Für die Chat-Kommunikation in Unternehmen bedeutet das, dass virtuell Interaktionssysteme gebildet werden können, die bei Bedarf in Organisationseinheiten überführt werden und formal verfestigt weiterbestehen können. In der Chat-Kommunikation zwischen den Mitarbeitern und der Unternehmensleitung im vorliegenden Datenkorpus ist ein Weiterbestehen des Interaktionssystems über den Chat hinaus nicht intendiert, sondern wird vielmehr, wie in Kap.- 3.2.1. dargestellt wurde, ausgeschlossen. Aber es gibt Ansätze, einzelne Verbindungen zwischen dem Chat und der Unternehmensstruktur herzustellen. Das sind die Angebote der Unternehmensleitung, den Diskurs mit den Mitarbeitern über den Chat hinaus fortzusetzen, und die Bildung heterarchischer Netzwerke im Chat wie im Beispiel „Mitarbeiterzeitung“ (Kap.-6.4.). Auch Kleinberger Günther stellt bei der Untersuchung ihres empirischen Datenmaterials fest, dass virtuelle Strukturen noch nicht als vollwertiger Ersatz für die tatsächliche Hierarchie gelten (Kleinberger Günther 2002, 40 ff.). Im Folgenden sollen die sprachlichen Merkmale, die diese virtuellen Interaktionssysteme kennzeichnen und die sie gegenüber Gruppen und anderen Interaktionssystemen abgrenzen, dargestellt werden. <?page no="113"?> Mögliche Auswirkungen der Kommunikation 99 Sprachliche Merkmale und Abgrenzung Das primäre linguistische Ziel der Untersuchung des sozialen Handelns bei der Bildung virtueller Interaktionssysteme ist, die sprachlichen Merkmale herauszuarbeiten, mit denen sich virtuelle Gruppen konstituieren und nach außen abgrenzen. Die Bildung einer Gruppe in der Vorstellung der Beteiligten, die Umsetzung in den Köpfen, manifestiert sich in sprachlichen Merkmalen und sprachlicher Abgrenzung. Es entwickelt sich ein Gruppenstil oder zumindest Stilelemente, deren Verwendung für die Beteiligten unabdingbar ist. Wegen der engen Verbindung des Begriffs Stil mit soziologischen Aspekten ist Stil im sprachwissenschaftlichen Diskurs häufig und teilweise heterogen definiert. „Stil entsteht, indem einzelne Gruppen zur Symbolisierung ihrer Identität ein jeweils spezifisches Ausdrucksrepertoire nutzen“ und Stil ist das „Ergebnis einer Selektionslogik“ (Schmitt 2002, 115). Im vorliegenden Kontext der Untersuchung von Wahrnehmungen verwende ich Stil funktional als „Konstruktion eines Handelnden und eines Beobachters, der [...] zu einem Urteil über Regelmäßigkeit und zu einer entsprechenden Unterscheidung (Distinktion) gelangt.“ (Willems 2003, 15). Eine funktionale Auffassung in der Theorie des Habitus als Summe von Handlungsschemata stützt die Annahme, dass sich Einstellungen im Handeln ausdrücken. Sprachliche Hinweise auf Gruppenbildung finden sich in der Deixis, als sprachliche Mittel zur Abgrenzung und Bestätigung der Gruppe. Eine Analyse der Besonderheiten der Deixis in der Chat-Kommunikation hat Storrer (2002) vorgenommen. In Abgrenzung des Begriffs in funktional deiktische Prozeduren und deiktische Ausdrücke finden sich die Merkmale vor allem unter den deiktischen Ausdrücken. Metaphorisch beschriebene Räume sind für virtuelle Gruppen konstituierend. So beziehen sich Ortsbestimmungen ebenso auf den gemeinsamen virtuellen Raum wie die eigenen räumlichen Positionierungen der Gruppenmitglieder. Unter den funktional deiktischen Prozeduren ist nur die Zuweisung von Beiträgen spezifisch für virtuelle Gruppen. Die Herausbildung einer Gruppensprache bis hin zur Fachsprache bezieht sich bei einer allgemein vorhandenen E-Kultur im Unternehmen nicht mehr wie zu Anfangszeiten des Internet auf das technische Medium selbst, sondern beruht auf der gegenseitigen Anpassung der Beteiligten in ihren Wahrnehmungen. Die Beteiligten versuchen zur Integration in „einen gegebenen Adressatenkreis unter verschiedenen Medien und Kommunikationsformen auszuwählen, und darin den Gepflogenheiten entsprechend erfolgreich zu kommunizieren“ (Storrer 2002, 22). Dagegen verwenden virtuelle Organisationseinheiten eine graduell fachbezogenere Lexik. Virtuelle Gruppen sind besonders für organisatorische Querschnittsfunktionen in Unternehmen relevant, so stellt Müller in seinen empirischen Erhebungen in drei Unternehmen fest: <?page no="114"?> 100 Die Darstellung und Unterstützung organisatorischen Wandels Es entsteht eine soziale Einheit zur Verfolgung bestimmter Interessen, die unabhängig von den relativ festen organisationalen Strukturen im Unternehmen (z. B. Abteilungen) existieren kann, bisweilen sogar existieren muss, wenn es sich um abteilungsübergreifende Aufgaben handelt. (Müller 2006, 27) Dabei sind die organisatorischen Querschnittsfunktionen in Unternehmen mit Matrixstruktur inzwischen verfestigt und gelten, obwohl sie vorwiegend virtuell existieren, als fester Bestandteil der Unternehmensstruktur. Die Beschleunigung des Wandels Mit der Eröffnung neuartiger Kommunikationsformen wirken neue Kommunikationsmedien auf Arbeits- und Sozialstrukturen in Unternehmen zurück (Brünner 2002, 26, Kleinberger Günther 2003), wobei die virtuell verwendeten Stile mitunter „weniger Ausdrücke als Generatoren sozialer (Gruppen-) Identität“ (Willems 2003) sind. Damit wirken virtuelle Interaktionssysteme auf die Wahrnehmungen der Unternehmensrealität ein, indem sich die Beteiligten mit verschiedenartigen Wahrnehmungen und Reproduktionen konfrontiert sehen. Reuter sieht für diese Entwicklung die Zielsetzung, mit der weiteren Verbesserung der technischen Möglichkeiten die Virtualität in Unternehmen zu leben (Reuter 2003, 244), so dass die Kommunikation Auswirkungen auf die Unternehmenskultur hat. Eine bedeutende Auswirkung haben virtuelle Interaktionssysteme auf organisatorischen Wandel, denn die Möglichkeit der raschen Veränderung des sozialen Systems durch die Virtualität der neuen Medien bewirkt Effizienz durch eine höhere Geschwindigkeit bei der Einführung neuer Geschäftsprozesse, durch die breitere, schnellere und günstigere Verteilung von Information sowie durch kürzere und schneller veränderbare Abstimmungswege. Lucke führt eine Flexibilisierung von Aufbauorganisationen, flexible Arbeitsteams, Chancen zur Entzerrung und die Neugestaltung von Organisationsstrukturen als Einflussfaktoren an, die eine beschleunigende Wirkung virtueller Interaktionssysteme auf die Organisation haben (Lucke 2003,153). Die schnelle und ungehinderte kommunikative Ausbreitung von Informationen, 51 die aus der Virtualität resultiert, und fortgesetzte Perspektivübernahmen der Beteiligten (Kap.- 3.3.2.) machen Wandel als ständige Anpassung an Erfordernisse des Wettbewerbs zwischen Unternehmen möglich. Die Auswirkungen der Beschleunigung steigern wesentlich die Effizienz aller tangierten Organisationsprozesse und bilden den zentralen Nutzen virtueller Gruppen. Formale Organisationsänderungen, die nur temporär bestehen würden, werden hinfällig, soweit sich die temporären Organisationseinheiten durch virtuelle 51 Eine Darstellung der wirtschaftlich und gesellschaftlich relevanten Beschleunigungsfaktoren findet sich bei Lucke (2003, 144). <?page no="115"?> Mögliche Auswirkungen der Kommunikation 101 Gruppen ersetzen lassen. Mitarbeiter können für die Zeit eines gemeinsamen Arbeitsziels unabhängig von hierarchischen und räumlichen Beschränkungen eine Gruppe bilden und mit Beendigung ihrer Funktion wieder in ihr ursprüngliches Aufgabengebiet zurückkehren. Mitarbeiter, die in wechselnden virtuellen Gruppen eingesetzt sind, erfahren entsprechend verschiedenartigere Reproduktionen des Unternehmensbilds. Es werden vermehrt neuartige Reproduktionen an die Mitarbeiter herangetragen und die Mitglieder dieser Gruppen vollziehen deshalb häufiger Perspektivübernahmen. Offensichtlich ist auch die Beschleunigung, die mit dem Überwinden physischer Begrenzungen entsteht. Da keine räumlichen Distanzen mehr zu überwinden sind, erhöht sich die Mobilität der Interaktanten in der virtuellen Kommunikation bis an die zeitlichen Grenzen. Die räumlich beliebige Zusammenkunft bewirkt „die Ausdehnung des Netzraumes als ein offenes Multiversum einerseits und das Zusammenrücken der Welt auf einen topologischen Punkt“ (Runkehl/ Schlobinski/ Siever 1998, 205). Beschleunigungen, die aus Veränderungen im Handeln der Kooperationspartner entstehen, basieren darauf, dass die Fähigkeit des Sprechers und die Eigenschaft von Sprache, die außersprachliche Welt abzubilden, nutzbar gemacht werden. Der Schritt, den Wandel in der Realität als Reorganisation des Unternehmens umzusetzen, muss bei der Möglichkeit zur Bildung virtueller Organisationseinheiten nicht gegangen werden. Das Sprechen über die außersprachliche Welt dient als Hilfskonstruktion. Dieses systemimmanente Potential entfaltet sich innerhalb zweier Begrenzungen. Eine Systemgrenze liegt dort, wo die Wahrnehmungen keine außersprachlichen Bezugspunkte mehr haben, so dass die Mitarbeiter ihre berufliche Umwelt nur noch über ihr Sprachhandeln definieren können. Eine zweite Grenze bilden außersprachliche Handlungen, in denen die Relevanz von Sprache gering ist. Das betrifft im Unternehmen die konkrete Produktion in ihren Kernprozessen. Die Entwicklung, dass der Anteil der Produktion geringer wird und der Anteil der Dienstleistung als sprachrelevanter Geschäftseinheit zunimmt, wirkt sich darin aus, dass das Sprachhandeln in Unternehmen zunehmende Relevanz erhält. Organisatorischer Wandel lässt sich im Sprachhandeln schneller umsetzen als in den außersprachlichen Abläufen im Unternehmen, wie z. B. Produktionsabläufen. Der Übergang zur Dienstleistungswirtschaft und in der Folge der Übergang zur technologischen Dienstleistungswirtschaft muss also, um seine fortschreitende quantitative Ausbreitung zu gewährleisten, mit einer zunehmenden Bedeutung von Kommunikation in Wirtschaftsprozessen verbunden sein und diese Bedeutung auch fortlaufend steigern. <?page no="117"?> II. Empirischer Teil: Unterstützung organisatorischen Wandels im Chat Die Teilnehmer der unternehmensinternen Chats der Deutschen Telekom AG, die das vorliegende Datenkorpus umfasst (Kap.-4.2.), teilen sich in zwei Gruppen, in die Mitarbeiter und die Unternehmensleitung (5.3.2.2.). Die Handlungsdimensionen, in denen sich die Mitarbeiter und die Unternehmensleitung bewegen, sind, wie im ersten Teil dargestellt ist (Kap.-2 und Kap.-3), unterschiedlich, so dass es im Chat zu einem Zusammentreffen der horizontal-arbeitsteiligen Dimension, auf der die Sprachhandlungen der Mitarbeiter basieren, und der vertikal-hierarchischen Dimension der Unternehmensleitung kommt (Kap.-5.3.2.1.). Während sich die Mitarbeiter an fachlichen Aspekten als bestimmende Kriterien für ihre Wahrnehmung des Unternehmens orientieren und an ihren Einstellungen, die ihrem Sprachhandeln zugrunde liegen (Kap.-5.5.), sind für die Unternehmensleitung wirtschaftliche Erfordernisse und Potentiale bestimmende Faktoren ihres unternehmerischen Handelns (Kap.-5.4. und Kap.-5.5.). Um das Sprachhandeln, das im vorliegenden Datenkorpus dokumentiert ist, zu analysieren, muss die Diskrepanz zwischen den Vorstellungen der Mitarbeiter und der Unternehmensleitung der zentrale Gegenstand der Untersuchung sein, da aus den unterschiedlichen Wahrnehmungen der Mitarbeiter und der Unternehmensleitung Konflikte entstehen. Brünner sieht den Unterschied zwischen der horizontalen und vertikalen Wirtschaftskommunikation als Widersprüchlichkeit, an der die Untersuchung des Zusammenwirkens wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und politischer Kommunikation ansetzen muss. Wenn man Heuristiken der Annäherung an die genannten Fragen sucht, so plädiere ich für die theoretisch-methodische Leitlinie, an den Widersprüchlichkeiten der Wirtschaftskommunikation anzusetzen. Diese zeigen sich in allen Handlungsdimensionen und werden besonders manifest im Verhältnis von sachlich-technisch und hierarchisch-ökonomisch bezogener Kommunikation. Sie entstehen aus dem Widerstreit zwischen einerseits menschlich-sozialen Bedürfnissen, der Notwendigkeit sachlicher Zusammenarbeit, aufrichtiger Kooperation und gemeinsamen Bemühens um Problemlösungen und andererseits beruflichen und finanziellen Zwängen, Effektivitäts- und Zeitdruck, Konkurrenz, Machtdisplay und Selbstpräsentation (bis hin zur Selbstvermarktung). (Brünner 2002, 30) Der bei Brünner beschriebene Widerstreit zwischen unterschiedlichen Interessen ist in allen sprachlichen Handlungsformen des vorliegenden Datenkorpus nachvollziehbar. Es ist zu fragen, inwieweit die Möglichkeit, über interaktionale Dominanz Macht auszuüben, die die Mitarbeiter im Chat haben, die Grundlage für die häufige Ausprägung des Widerstreits unterschiedlicher Interessen ist (Kap.-6.2. und Kap.-6.3.2.1.). Deshalb wird bei der allgemeinen Fragestellung, wie sich Er- <?page no="118"?> 104 Empirischer Teil eignisse, die das Unternehmen betreffen, im Chat kommunikativ niederschlagen, in den folgenden empirischen Untersuchungen von den unterschiedlichen Handlungsdimensionen der Mitarbeiter und der Unternehmensleitung ausgegangen (Kap.-5). Es wird der Frage nachgegangen, wie die Mitarbeiter das Unternehmen wahrnehmen (Kap.-5.1. und Kap.-5.2.) und welche Sprachhandlungen die Unternehmensleitung wählt, um den Mitarbeitern die Ereignisse im Unternehmen nachvollziehbar darzustellen (Kap.- 5.1.2. und Kap.- 5.2.). In diesem Zusammenhang werden die sprachlichen Handlungsmuster der sprachlichen Handlungsformen, die sich gehäuft nachweisen lassen, dargestellt (Gesprächstyp Befragung in Kap.-6.3.1., Sprachhandlungen Perspektivwechsel in Kap.-5.5.2., Kritik in Kap.-6.1.2., Misstrauen äußern in Kap.-6.3.3. und Vorschlag in Kap.-6.4.). Da im Chat vorwiegend aktuelle Ereignisse des organisatorischen Wandels im Unternehmen thematisiert werden, ist im Zusammenhang mit den beschriebenen Fragestellungen (Kap.-5.1., Kap.-5.3.1.2. und Kap.-6.3.2.3.) zu fragen, wie organisatorischer Wandel den Fragebedarf der Mitarbeiter (Kap.- 6.2.2.3. und Kap.-6.3.1.) und Kritik der Mitarbeiter an den Veränderungen in ihrem Arbeitsumfeld befördert (Kap.-6.1.2.3. und Kap.-6.3.3.). Weiter soll den Auswirkungen des organisatorischen Wandels auf das Unternehmen, die im Chat kommunikativ sichtbar sind, nachgegangen werden (Kap.-6.5.). <?page no="119"?> 4 Datenerhebung und Analyse In diesem Kapitel wird die Vorgehensweise bei der Erhebung der Daten ausgeführt (Kap.- 4.1.), das Datenmaterial vorgestellt und strukturiert (Kap.- 4.2.) sowie die Vorgehensweise bei der Analyse der Daten in den folgenden empirischen Untersuchungen (Kap.- 5 und 6) beschrieben (Kap.- 4.3.). Zunächst wird auf die Erhebungssituation eingegangen, dann sollen die Daten, ausgerichtet auf das Ziel der Arbeit, so aufbereitet werden, dass im Folgenden interpretatives empirisches Arbeiten anhand des Datenkorpus möglich ist. In Kap.- 4.2. stelle ich das verwendete Datenkorpus, das Chats zwischen den Mitarbeitern und der Deutschen Telekom AG umfasst, vor und gehe auf die Frage nach der Vergleichbarkeit des unter einigen Aspekten recht heterogenen Datenmaterials ein. Anschließend lege ich die ausgewählten Methoden und die Analyseschritte dar (Kap.-4.3.). Die Vorgehensweise bei der Analyse und die methodischen Verfahren folgen den theoretischen Ausführungen von Brünner (2009a), Brünner/ Fiehler/ Kindt (1999b), Kindt (1999), Becker-Mrotzek/ Brünner (1992 und 1999) und Deppermann/ Hartung (1999). Ein erster charakterisierender Überblick über die Daten schließt das Kapitel ab (Kap.-4.4.). 4.1 Die Erhebung der Daten Obwohl Kommunikation in Unternehmen immer mehr Raum einnimmt und größere Bedeutung gewinnt, wird sie oft vorwiegend nach betriebswirtschaftlichen Kriterien bewertet. Im Rahmen meiner Beratertätigkeit für Wirtschaftsunternehmen erhalte ich vielfach Nachfragen, was Sprachwissenschaft nützt. Obwohl in Unternehmen allenthalben Kommunikation als Instrument für kommunikative Aufgaben eingesetzt wird, sind nach meinen Erfahrungen sprachwissenschaftliche Methoden zum Einsatz von Kommunikation wenig bekannt. Vielmehr wird eine an wirtschaftswissenschaftlichen Methoden orientierte Herangehensweise an kommunikative Aufgaben noch immer als alternativlos gesehen. Vor diesem Hintergrund war es mir ein Anliegen, mit sprachwissenschaftlichen Methoden Ergebnisse für die Wirtschaftskommunikation zu erarbeiten. Die Grundlage dafür bildete ein Sprachdatenkorpus, das aus Chat-Kommunikation 52 zwischen den Mitarbeitern und der Unternehmensleitung bei der Deutschen Telekom AG bestand, mit der im Jahr 2001 begonnen wurde. Da mir die Verantwortlichen bei der Deutschen Telekom AG viel Offenheit gegenüber sprachwissenschaftlichen Forschungen entgegengebrachten und ich so die Ge- 52 Der Begriff Chat-Kommunikation in der Verwendung in der vorliegenden Arbeit ist in Kap.-1.3. definiert. <?page no="120"?> 106 Empirischer Teil nehmigung zur Verwendung der Daten von zwei Unternehmenssparten erhielt, startete das Projekt im Herbst 2002 mit einer ersten Sichtung des Datenmaterials. Abb. 7: Übersicht über das erhobene Datenmaterial Die Erhebungssituation Zunächst begann ich, das Datenmaterial zusammenzutragen, das ich im Vorfeld nur teilweise im unternehmensinternen Intranet eingesehen hatte, und nach der Darstellungsform und den Teilnehmerkreisen (Unternehmenssparten, Ländereinheiten und weitere große Organisationseinheiten wie z. B. Regionaleinheiten) zu sortieren. Da die Durchführung der Chat-Kommunikation fortgesetzt wurde, kamen für den Erhebungszeitraum von 2001 bis 2008 insgesamt 263 Chats zusammen (Abb.- 7). Als Dokumentation der Chats verwendete ich die Excel-Charts, die die Administratoren der technischen Infrastruktur erstellen, indem sie die Log-Protokolle des für die Chat-Kommunikation genutzten Servers kopieren. Für die Chats, in denen nachträglich Antworten ergänzt wurden, verwendete ich zusätzlich die Publikation des jeweiligen Chats im unternehmenseigenen Intranet. Die Zählungen für die Erhebung quantitativer Daten wurden von Hand mit Strichliste vorgenommen. Die unterschiedliche Ausbreitung der Chats, die teilweise für die Mitarbeiter einer gesamten Unternehmenssparte oder für eine oder mehrere Organisationseinheiten organisiert wurden, fällt weitestgehend mit geographischen Regionen zusammen und wurde in der weiteren Analyse nicht berücksichtigt. Für die Erhebung des vorliegende Datenkorpus konnte die Beobachtungssituation unauffällig gestaltet werden, um eine Beeinflussung der Teilnehmer völlig zu vermeiden. Die Untersuchung der Daten wurde erst angefragt und genehmigt, nachdem die Durchführung der Chat-Kommunikation gestartet war und grundlegende Strukturen zur Gewohnheit geworden waren. Damit entstanden keine Beobachtereffekte, so dass die Natürlichkeit der Sprachhandlungen und des Verhaltens in der Chat-Kommunikation erhalten blieb. Zugleich ist die Untersuchung für die am Chat teilnehmende Unternehmensleitung keine Beeinflussung, denn die Motivation für die Abhaltung des Chats und die erwarteten Ergebnisse von Seiten der Unternehmensleitung liegen im Wesentlichen in der <?page no="121"?> Beschreibung des Datenkorpus 107 eigenen unternehmensinternen Auswertung der Inhalte. Die Arbeit ist lediglich von einer vertraglichen Vereinbarung eingeschränkt, die eine strikte Anonymisierung der Daten vorsieht. 4.2 Beschreibung des Datenkorpus 4.2.1 Datenmaterial, Chat-Teilnehmer und Organisation Durch verschiedene Zukäufe von Unternehmen und Unternehmensteilen innerhalb weniger Jahre entstand bei der Deutschen Telekom AG eine recht heterogene Zusammenstellung von Unternehmenskulturen. Hinzu kamen gesamtwirtschaftliche Veränderungen, die den organisatorischen Wandel in Unternehmen beschleunigten. Die Deutsche Telekom AG hat in diesem Zusammenhang eine völlige Neuordnung ihrer Unternehmenssparten vorgenommen. 53 Im Bestreben, bei den bestehenden und den neu hinzugekommenen Mitarbeitern eine neue Unternehmenskultur zu etablieren, wurden umfangreiche Marketingmaßnahmen getroffen. Unter anderem starteten in dieser Zeit die im vorliegenden Datenkorpus untersuchten Chats (Abb.- 7, Abb. 8 und Abb.- 9), mit denen die Deutsche Telekom AG die Pionierrolle beim unternehmensinternen Einsatz von Chat-Kommunikation zwischen den Mitarbeitern und der Unternehmensleitung eingenommen hat. Das Datenmaterial Das Datenkorpus (Abb.-8 und Abb. 9) besteht aus Chats (Definition in Kap.-1.3.), die unternehmensintern in zwei Unternehmenssparten der Deutschen Telekom AG zwischen der Unternehmensleitung und den Mitarbeitern abgehalten wurden. In die Untersuchung sind insgesamt 263 Chats von jeweils einer bis über zwei Stunden Dauer einbezogen, so dass eine Gesamtdauer von ca. 591 Stunden für die Untersuchung zur Verfügung steht. 116 Chats sind in einer der beiden in die Untersuchung einbezogenen Unternehmenssparten abgehalten worden, weitere 147 Chats wurden von einzelnen Organisationseinheiten organisiert (Abb. 8). Die meisten Chats sind im deutschsprachigen Raum auf Deutsch abgehalten, die 15 Chats, die aus Niederlassungen in anderen Ländern stammen, sind in der Landessprache (deutsch, französisch) oder in englischer Sprache abgehalten worden, wobei die Chat-Teilnehmer in diesen Chats teilweise unterschiedliche Sprachen verwenden. 53 Die Neuordnung der organisatorischen Struktur des Unternehmens sowie die Zukäufe und Verkäufe von Unternehmen und Unternehmensteilen im Vorfeld des Beginns der Chat- Kommunikation zwischen den Mitarbeitern und der Unternehmensleitung sind in den unter www.telekom.de abrufbaren Geschäftsberichten der Jahre 2000 bis 2002 dargestellt. <?page no="122"?> 108 Empirischer Teil Abb. 8: Übersicht über das aufbereitete Datenmaterial - Verteilung der Chats Abb. 9: Übersicht über das aufbereitete Datenmaterial - Verteilung der Beiträge Insgesamt beinhalten die 263 Chats 51.285 Beiträge, von denen 28.497 auf die Mitarbeiter, 22.160 Beiträge auf die Unternehmensleitung, 439 Beiträge auf die Moderatoren und 52 Beiträge auf die fachlichen Experten entfallen (Abb.- 9). Unter den Beiträgen der Unternehmensleitung sind 5.130 Beiträge, die Antworten auf Fragen der Mitarbeiter beinhalten, die die Unternehmensleitung asynchron nach Ablauf des Chats in der Dokumentation des Chats im Intranet oder per E-Mail an den betreffenden Mitarbeiter nachgereicht hat (Abb.-22). Die Anzahl der Beiträge und Sequenzen pro Chat variiert stark, abhängig von der Anzahl der Chat-Teilnehmer und deren Chat-Verhalten (Kap.-4.4.). In einzelnen Chats gibt es Zeitspannen von bis zu 20 Minuten, in denen kein Beitrag eingeht. Die Länge der Beiträge ist anfangs auf 254 Zeichen begrenzt, wobei die meisten Beiträge erheblich kürzer sind. Aufgrund der bisweilen verlangsamten Antwortgeschwindigkeit des technischen Systems und bei stark frequentierten Chats mussten teilweise Antworten auf Fragen der Mitarbeiter per E-Mail nachgereicht werden. Die fortlaufenden Bemühungen, die Organisation der Chats zu verbessern, haben zum Entstehen verschiedener Chat-Typen geführt, da die Veränderungen an der Benutzeroberfläche am Bildschirm, die für die Chats genutzt wurde, und in der Chat-Organisation immer auch zu einem veränderten Chat-Verhalten der Chat-Teilnehmer geführt haben. <?page no="123"?> Beschreibung des Datenkorpus 109 Die Darstellung der analysierten Beispiele In den Beispielen der vorliegenden Arbeit sind die Beiträge in der Reihenfolge des Erscheinens im Chat-Protokoll durch die Software des für die Chat-Kommunikation verwendeten Servers (Zentralserver) nummeriert. Für die Darstellung der Beispiele aus Chats, die mit einer Software protokolliert wurden, die eine Nummerierung technisch nicht unterstützt, habe ich die Nummerierung nachträglich manuell vorgenommen. Fragen und Antworten, die einander zugeordnet nebeneinander stehen (im Folgenden unter Chat-Typ 2 beschrieben), erscheinen am Bildschirm in einer Zeile und erhalten deshalb die gleiche Nummer. In der zweiten Spalte erscheint der Benutzername des Absenders. Für die vorliegende Arbeit wurden die Namen anonymisiert. Die Kürzel stehen für: MA-- Mitarbeiter, mit Ziffern (MA1, MA2 usw.) bei mehreren am Diskurs beteiligten Mitarbeitern, V - Vorstand, GF - Geschäftsführer, UL - andere Mitglieder der Unternehmensleitung, Mod - Moderator und Ex - fachliche Experten, die die Unternehmensleitung darin unterstützen, Fragen der Mitarbeiter zu fachlichen Details zu beantworten. Die Mitglieder der Unternehmensleitung sind in Vorstände, Geschäftsführer und andere Mitglieder der Unternehmensleitung differenziert, da die Mitarbeiter diese Gruppen in ihrem Sprachhandeln unterscheiden. So werden z. B. Vorstände häufiger angechattet und der Chat ist stärker frequentiert als bei anderen Mitgliedern der Unternehmensleitung (Beispiel „Moderator“ in Kap.-1.3.). Die Auswahl der Beispiele für die qualitativen Untersuchungen habe ich mit dem Ziel vorgenommen, zu zeigen, wie in einem Beispiel verschiedene Aspekte der Analyse repräsentiert sein können, und dazu Beispiele wiederholt verwendet. Bei Beispielen, die längere Gesprächsstränge enthalten wie das Beispiel „Eine der schwersten Fragen“ (Kap.-5.1.1. und 6.3.1.) hat die mehrfache Verwendung zudem den Vorteil, dass der umfangreiche Kontext, in dem das Beispiel steht, deutlicher wird. Zugleich sollen die Beispiele aber auch einen Einblick in die Vielfalt des vorliegenden Datenkorpus geben, so dass viele Beispiele nur einmal verwendet und einige nur im Hinblick auf einen einzelnen Aspekt erläutert werden. Die Organisation der Chats Für die Teilnahme am Chat ist analog zu den Kommunikationsrichtlinien des Unternehmens eine Kommunikationsanleitung vorgegeben, die beim Eintritt in den Chat passiert und damit zur Kenntnis genommen werden muss. Darin wird die Einhaltung der sozialen und konversationellen Strukturierung des Diskurses im Chat (Chatiquette) verlangt, die auch im Unternehmensalltag 54 üblich ist. Besondere Vorgaben, die auf die Herausbildung eines einheitlichen Stils in der 54 Der Begriff Unternehmensalltag wird in Kap.-2.1. diskutiert. <?page no="124"?> 110 Empirischer Teil Chat-Kommunikation abzielen, werden nicht gemacht. Diese Vorgehensweise führt zu sprachlich heterogenen Chat-Beiträgen hinsichtlich Stil, Wortwahl, Nähe zur Schriftlichkeit respektive Mündlichkeit und zur Anlehnung an Chatiquette anderer Chat-Formen, besonders Politiker- und Ratgeber-Chats. 55 Die zunächst unmoderiert abgehaltenen Chats wurden aus organisatorischen Gründen auf Moderation umgestellt und zeitweise auch mit Themenbezug abgehalten. 21 der 263 Chats wurden nur zur Aufnahme von Fragen der Mitarbeiter verwendet, die dann mit Antworten versehen und ähnlich wie FAQ aufbereitet im Intranet zur Verfügung standen. Diese Chats sind nicht in die qualitative Analyse aufgenommen und werden, soweit sie die in quantitative Untersuchung einbezogen sind, separat betrachtet. Die Unternehmensleitung sieht in den Chats ein Instrument der Mitarbeiterkommunikation, das alle Mitarbeiter aktiv einbezieht. An die Chat-Kommunikation besteht von der Seite der Unternehmensleitung folglich die Erwartung, eine organisatorisch zeiteffiziente Möglichkeit zu haben, alle Mitarbeiter gesprächsähnlich zu kontaktieren. Die Ziele der Kontakte im Chat sind, die Mitarbeiter über aktuelle Belange des Unternehmens zu informieren und spezifische Fragen der Mitarbeiter zu allen Belangen des Unternehmens zu beantworten sowie die Mitglieder der Unternehmensleitung als Leitbilder, die das Unternehmen vertreten, zu präsentieren (Kap.-3.2.1.). Ein zusätzlicher Vorteil bei der Organisation von Chats ist die hohe Affinität eines Konzerns wie der Deutschen Telekom AG als Anbieter von Kommunikationstechnologien zur Chat-Kommunikation als technologiegestützter Kommunikationsform, die eine im Vergleich zu anderen Unternehmen durchgehend hohe Kompetenz der Mitarbeiter für die Benutzung technologischer Kommunikationsmedien mit sich bringt, so dass alle Mitarbeiter für die Teilnahme am Chat hinreichend kompetent sind. Diese Zielsetzung war durch die Eingliederung zugekaufter Unternehmen und Unternehmensteile notwendig geworden, die unter Einsatz verschiedener Kommunikationsformen und Kommunikationsmedien, zu denen auch die Chat-Kommunikation und die Chats des vorliegenden Datenkorpus gehören, zu einer neuen gemeinsamen Unternehmenskultur zusammengeführt werden sollten. Zum Start der Chats am 17.12.2001 wurden Ankündigungen im Intranet und per E-Mail gemacht, die durch die begleitende Vorstellung und Bekanntmachung in allen internen Medien, besonders in der Mitarbeiterzeitung und auf Mitarbeiterveranstaltungen, unterstützt wurden. Die Organisation der Chats und das Chatten selbst wird bei organisatorischen Problemen mit der technischen Infrastruktur des Unternehmens, über die Chats betrieben werden, am häufigsten thematisiert. Quantitativ stellt 55 Die kommunikativen Strukturen in Politiker-Chats hat Diekmannhenke (2002) dargestellt. Einen Überblick über die Formen von Ratgeber-Chats und ihre stilistischen Merkmale gibt Thimm (2002b). <?page no="125"?> Beschreibung des Datenkorpus 111 Hoffmann fest, dass eine „unzureichende technologische Infrastruktur“ von Dreiviertel der Befragten als „Barriere des Intranet-Einsatzes“ angegeben wird (Hoffman 2001, 161). Die Chat-Organisation selbst wird, wie das Beispiel „Chat“ zeigt, von den Mitarbeitern thematisiert. Auf weitere in dieser Arbeit untersuchte Beispiele, in denen die Mitarbeiter und vereinzelt auch die Unternehmensleitung die Chat-Organisation thematisieren, sei hier verwiesen. Thematisiert werden im Zusammenhang mit der Chat-Organisation die technische Bedienung der Software (Beispiel „In eine Zeile“ in Kap.-5.5.2.), die Darstellung auf der Benutzeroberfläche (Beispiele „Seh-Gewohnheiten“ und „Bezug herstellen“ in Kap.- 4.2.2.), die Vorgehensweise beim Chatten (Beispiel „Question“ in Kap.- 6.2.2.2.), technische Störungen und Ausfälle (Beispiele „Serverprobleme“ in Kap.- 6.2.1.4. und „Heute“ in Kap.- 6.1.2.2.), Kritik an der Unternehmensleitung (Beispiele „Viele Fragen“ in Kap.- 1.3., „Chat-Anbindung“, „Zensur“ und „Zuweiser“ in Kap.- 6.3.3.), die Verwendung der Software für andere Zwecke (Beispiel „Chat-Tool“ in Kap.-6.5.) und die Meinung der Chat-Teilnehmer zum Chat (Beispiel „Feedback“ in Kap.-6.4.). Chat 17 MA1 sorry, aber bei dieser chatform ist scheinbar noch einiges zu verbessern. gehe lieber wieder arbeiten. mfg [Name] 18 MA2 Hallöchen 19 MA3 Schönen Guten Morgen 20 MA2 ja das stimmt dieser chat ist nicht grad standard was die qualität betrifft! ! 21 MA4 guten morgen 22 MA5 schaut mal in den [Bezeichnung]-chat der hat eine gute qualität! ! 23 MA4 ist noch wer da? 24 MA3 Verbesserungspotential gibt es wohl überall ein neues Medium (und das ist es in [Organisationseinheit]) muß halt noch optimiert werden Das Beispiel „Chat“ zeigt einen Ausschnitt aus den Eingangssequenzen eines der ersten Chats, die für eine gesamte Unternehmenssparte abgehalten wurden. In diesem Abschnitt chatten die Mitarbeiter unter sich. Der Mitarbeiter MA1 kritisiert die Organisation des Chats und reagiert mit dem Abbruch des Chattens schon zu Beginn des zweistündigen Zeitfensters für den Chat (Beitrag 17). MA2 hatte seinen Gruß (Beitrag 18) vermutlich bereits abgeschickt, <?page no="126"?> 112 Empirischer Teil antwortet dann aber in einem weiteren Beitrag (Beitrag 20) auf den Beitrag von MA1 und stimmt ihm zu, scheint aber dennoch weiter am Chat teilzunehmen. Als Antwort auf MA1 und MA2 („schaut mal“) macht MA5 den Vorschlag, am Chat einer Organisationseinheit der Unternehmenssparte teilzunehmen (Beitrag 22), und stimmt damit deren Bewertungen des laufenden Chat zu, in dem sich die Mitarbeiter im Beispiel „Chat“ befinden. Der Diskurs zwischen MA1, MA2 und MA5 verunsichert MA4, der eingangs gegrüßt hatte (Beitrag 21), darüber, ob alle drei Mitarbeiter den Chat wieder verlassen haben (Beitrag 23). Möglicherweise wollte MA1 mit der Ankündigung, den Chat zu verlassen, aber nur sein Anliegen unterstreichen, eine Verbesserung der Chat-Organisation zu erreichen. Letztendlich ist die Thematisierung der Chat-Organisation auch mit dem Beitrag von MA3 abgeschlossen, der die Bedeutung organisatorischer Unzulänglichkeiten wieder relativiert („gibt es wohl überall“). Die Chat-Teilnehmer Zur Teilnahme am Chat sind alle Mitarbeiter der Unternehmenssparte oder der Organisationseinheit eingeladen, die den Chat veranstaltet (Abb.-8), und es gibt kein weiteres Auswahlkriterium als die Zugehörigkeit zu dieser Unternehmenssparte oder Organisationseinheit. Mitarbeiter, denen kein Zugang zum Intranet am Arbeitsplatz zur Verfügung steht, können sich über Terminals einwählen, die im Unternehmen frei zugänglich aufgestellt sind. Mitarbeiter, die sich im Außendienst befinden oder aus anderen Gründen nicht im Unternehmen präsent sind, können sich über das Internet in das Intranet einwählen, damit die räumliche Unabhängigkeit bei der Teilnahme am Chat vollständig gegeben ist. Durch diese allgemeine Einladung und Zugänglichkeit erfahren die Chats eine starke Betonung und Relevanz des sozialen Charakters. Als Chat-Teilnehmer eines Chats bezeichne ich alle Mitarbeiter, die sich an diesem Chat beteiligen, indem sie eine Hörer- und Sprecherrolle einnehmen oder zumindest Beiträge mitlesen. Mitarbeiter, die die Dokumentation des Chats asynchron nach Ablauf des Chats im Intranet rezipieren, werden nicht als Chat-Teilnehmer bezeichnet. Die meisten Mitarbeiter nehmen pseudonym am Chat teil, indem sie Teilnehmernamen (Nicknames) verwenden, und bleiben somit anonym. Die Wahl eines Nickname ist auch bei der Teilnahme über das Intranet möglich. Eine Rückverfolgung der Beiträge findet nicht statt, die Identität der Chat-Teilnehmer wird weder im Chat angezeigt noch über das Intranet nachvollzogen. Dagegen sind die Namen der beteiligten Mitglieder der Unternehmensleitung immer bekannt, d. h. es besteht für sie keine Anonymität. Aufgrund der Möglichkeit zur anonymen Chat-Teilnahme können für die Chats des vorliegenden Datenkorpus keine Teilnehmerzahlen ermittelt werden. In einigen Chats wurde die Anzahl der Nicknames gezählt und teilweise von den <?page no="127"?> Beschreibung des Datenkorpus 113 Moderatoren im Verlauf des Chats mehrfach bekannt gegeben, was jedoch nur begrenzt aussagekräftig ist, da jeder Mitarbeiter unter verschiedenen Nicknames Beiträge senden kann. Den vermutlich größten Teil der anonymen Chat-Teilnehmer bilden die Mitarbeiter, die sich als Teilnehmer in die Chats einloggen und die Beiträge mitlesen, ohne selbst zu chatten (Lurker), wobei sich der Anteil der Lurker an der Gesamtheit der Chat-Teilnehmer nicht feststellen lässt. In der Forschungsliteratur 56 wird der auf Basis empirischer Daten geschätzte Anteil der Lurker für die bisher durchgeführten Studien mit 25 bis etwa 90 Prozent unterschiedlich angegeben. In den meisten Chats kann ein Anteil von etwa 90 Prozent angenommen werden, niedrige Prozentsätze werden nur in Chats erreicht, in denen die Teilnehmer nicht anonym teilnehmen können. Inwieweit lurken situativ begründet oder eine persönliche Eigenschaft der Lurker ist, ließ sich bisher nicht klären (Mayer-Uellner 2003, 67 f.). Die Dokumentationen der Chats des vorliegenden Datenkorpus stehen nach Ablauf des Chats im unternehmensinternen Intranet zum Nachlesen zur Verfügung. Die Unternehmensleitung geht aufgrund der Ergebnisse aus dem Vergleich der Anzahl der Nicknames und der Anzahl der Abrufe der Chat-Mittschnitte im Intranet davon aus, dass es mehr Leser, die die Chats nachträglich im Intranet lesen, als Chat-Teilnehmer gibt. Möglicherweise bietet das nachträgliche Abrufen eine effizientere Möglichkeit der Selbstinformation für Lurker als das direkte Lurken während des Chats. Da aufgrund der Pseudonymität und Wechselbarkeit der Pseudonyme keine Aussagen über die Anzahl der Teilnehmer gemacht werden können, muss die Gesamtzahl von etwa 154.000 Mitarbeitern in den beiden am Chat beteiligten Unternehmenssparten als größte potentielle Teilnehmerzahl angenommen werden. 57 Als kleinste Teilnehmerzahl können vermutlich 42 bis 1.093-Teilnehmer, die die geringste und die größte Anzahl der Nicknames sind, die für 36 Chats ermittelt wurden, angenommen werden, wobei die Wechselbarkeit der Pseudonyme vernachlässigt wird. Organisatorische Phasen: Die Entwicklung von Chat-Typen und Chat-Merkmalen Im zeitlichen Verlauf wird die Organisation der Chats über mehrere Phasen vielfach weiterentwickelt. So entstehen drei Chat-Typen mit einander ausschließenden Merkmalen (Chat-Typ 1: fortlaufende Auflistung der Beiträge, Chat-Typ 2: 56 Mayer-Uellner (2003) beschreibt das Phänomen des Lurkens ausführlich und gibt einen umfangreichen Überblick über die Forschungsliteratur sowie eine Darstellung der Ergebnisse aus den Untersuchungen mehrerer Datenkorpora. 57 Für die Ermittlung der Gesamtzahl der Mitarbeiter wurden die Angaben zu den Mitarbeiterzahlen aus den Geschäftsberichten, die unter www.telekom.de abrufbar sind, von 2001 bis 2008 verwendet und daraus ein Durchschnittswert gebildet. <?page no="128"?> 114 Empirischer Teil einander zugeordnete Beiträge der Mitarbeiter und der Unternehmensleitung, Chat-Typ 3: zu FAQ aufbereitete Beiträge). Abb.-10: Typisierte Bildschirmdarstellung der Chat-Typen 1 und 2 Daneben entwickeln sich vier organisatorische Chat-Merkmale (verlängerte Chat-Dauer, asynchron beantwortet, moderiert, themenbezogen), die bei den Chat-Typen 1 und 2 auftreten. Die Chat-Typen und Chat-Merkmale, die sich über acht organisatorische Phasen entwickeln (Abb. 20), sind im Folgenden in der Reihenfolge des zeitlich ersten Auftretens einer Ausprägung des entsprechenden Chat-Typs oder Chat-Merkmals im Datenkorpus vorgestellt. 1. Organisationsphase: Chat-Typ 1 - fortlaufende Beiträge Der Ablauf eines Chats beginnt mit der Eröffnung eines Chat-Raums, der für die Chat-Teilnehmer zur Verfügung steht. Über die gesamte Dauer des Chats sind zuvor angekündigte Mitglieder der Unternehmensleitung im Chat-Raum anwesend, die angechattet werden können. Die Beiträge erscheinen zunächst als Textfeld auf der Benutzeroberfläche der Computer und Terminals der Chat- Teilnehmer. In den ersten Chats erscheinen die Sequenzen in fortlaufender Reihenfolge, wobei ältere Beiträge nicht am Bildschirmrand verschwinden, sondern durch Scrollen eingesehen werden können, was einen Überblick über zeitlich verteilte Gesprächsstränge ermöglicht (Abb.-11). Die Sequenzen, vor allem Frage/ Antwort-Sequenzen, sind überkreuzt (Abb.- 11, paarige Beiträge sind: 176 und 181, 177 und 180, 178 und 179), so dass die Chat-Teilnehmer ihre Beiträge an den gewünschten Empfänger adressieren oder das Thema wiederholen müssen (Beiträge 180 und 181), während in Sequenzen mit aufeinanderfolgenden Beiträgen die Antworten keine Adressierung beinhalten (Beitrag 179). Allerdings lassen sich nur in schwach frequentierten Chats Annahmen treffen, wie der eigene Beitrag platziert wird und auch dort kann sich die tatsächliche Sequenzierung dann anders als erhofft darstellen, wenn zwischen Absendung und Erscheinen des eigenen Beitrags am Bildschirm dort schon einer oder mehrere andere Beiträge erscheinen. <?page no="129"?> Beschreibung des Datenkorpus 115 176 MA1 wenn wird den das [Produkt] tool abgeschaltet. man könnte eine menge Geld sparen. es ist eins von vielen Tools, exceltabellen und sonstigen Reports die unter die Kategorie 3Ü-Arbeiten fallen. (überflüssige Arbeiten, damit Überflüssige eine überflüssige Arbeit haben). 177 MA2 Hallo die Damen, Hallo die Herren, werden durch die gesamten Sparmaßnahmen nun auch die Weiterbildungen für die Mitarbeiter gestrichen? Ich bin im [Organisationseinheit 1] tätig und würde gerne die von Herrn [UL2] in den Dialogrunden angekündigte Qualifizierung im second level support nutzen. Stehen dafür Gelder zur Verfügung? 178 MA3 Hallo zu dem Thema Leistungen der [Organisationseinheit 2] und das diese in der Umorganisation stecken, kann ich nur sagen, dass wie die [Organisationseinheit 3] in der Umorganisation gesteckt hat auch keinen interessiert hat. Der Service muss stimmen! 179 UL1 Sie haben Recht. 180 UL2 Hallo [MA2], wir werden die mit Ihren Vorgesetzten geplanten Weiterbildungsmaßnahmen wie schon in [Jahr] begonnen selbstverständlich auch in [Jahr] fortführen. Uns ist trotz aller Einsparungen sehr an der Qualifizierung der [Organisationseinheit 1]-Mitarbeiter gelegen. Nur so werden wir auch unser Ziel der Erhöhung der Erstlösungskompetenz im 1st level support erreichen. 181 UL3 Hallo [MA1], wenn wir unsere Non-Standard Leistungen bezahlt haben wollen gibt es derzeit keine Alternative zu [Produkt]. [Produkt] sichert den Gehaltsscheck am Monatsende. Mit freundlichem Gruß, [UL3] Abb.-11: Chat-Typ 1 - fortlaufende Beiträge 2. Organisationsphase: Chat-Merkmal A - verlängerte Chat-Dauer Für die Chats ist in den meisten Fällen ein Zeitraum von ein oder zwei Stunden vorgesehen. Die Beiträge, die vor oder bis zu zwanzig Minuten nach dem für den Chat vorgesehenen Zeitraum den Zentralserver erreichen, werden in einer zweiten Phase der Organisation auf dem Bildschirm angezeigt und in die Dokumentation des Chats aufgenommen. Somit startet der Chat dann bereits vor dem Eintritt der Unternehmensleitung in den Chat-Raum und endet, wenn keine weiteren Beiträge mehr am Zentralserver ankommen. In 208 Chats (Abb.-18 und Abb.-19) beantwortet die Unternehmensleitung vor dem Beginn und nach dem Ende eines Chats eingehende Beiträge, die auch in das Chat-Protokoll aufgenommen werden. Dabei beantwortet die Unternehmensleitung über das offizielle Ende des Chats hinaus noch Beiträge, bis von den Mitarbeitern keine weiteren Beiträge mehr eingehen, oder reicht die Antworten asynchron nach. Im <?page no="130"?> 116 Empirischer Teil 14 [15: 32] MA1 wann geht es denn los ? ? 15 [15: 34] MA2 Hallo? 16 [15: 35] MA3 Test 17 [15: 39] MA4 ja ! 18 [15: 42] MA5 eigentlich jetzt, oder? 19 [15: 42] MA4 10sec 20 [15: 44] MA6 T 21 [15: 44] MA1 aaahh nu geht los ! 22 [15: 47] MA7 Sehr geehrter Herr [Vorstand], ich arbeite in der [Organisationseinheit 1], die bisher als [Organisationseinheit 2] in der [Unternehmenssparte] aufgestellt ist. Wie und wo wird die [Organisationseinheit 1] in Zukunft aufgestellt sein? 23 [15: 47] MA5 Hallo Herr [Vorstand], kann man den Audiostream irgendwo ”nachhören” , etwa als .wav ? ? 24 [15: 47] MA8 Hallo Herr [Vorstand], hallo Herr [GF]: Bitte stellen Sie kurz dar, wie die Account-Teams der [Bezeichnung]-Kunden in den [Organisationseinheit 3] bzgl. der Delivery und Vertriebsverantwortung aufgestellt sind. Sind die Acc-Teams ähnlich den Global- Accounts aufgestellt? 25 [15: 49] V Die [Bezeichnung] Teams werden sich zusammensetzen aus AM`s und Fachvertrieb der jeweiligen [Organisationseinheit 2]. Die P&L Verantwortung incl. Factura, Debit.mangagement und […] 26 [15: 50] MA9 Was passiert mit den Abteilungen, die vorher virtuell im [Organisationseinheit 1] aufgehängt waren? 27 [15: 52] GF2 Liebe [MA9], die [Organisationseinheit 1] Organisation wird komplett […] Abb.-12: Chat-Merkmal A - verlängerte Chat-Dauer Beispiel „Offene Fragen“ in Kap.-6.2.2.5. verabschiedet sich ein Geschäftsführer aus dem Chat und kündigt die asynchrone Beantwortung von weiteren Fragen an, obwohl die Chat-Dauer bereits überschritten ist. Beiträge, die vor dem offiziellen Beginn eines Chats eingehen, sind meistens der homileischen Kommunikation zuzuordnen, und Fragen an die Unternehmensleitung werden erst nach dem offiziellen Beginn des Chats gestellt. Mitunter entfallen in diesen Chats wie in dem in Abb.- 12 gezeigten Beispiel die Begrüßungen der Chat-Teilnehmer vollständig, wenn bereits kurz nach dem offiziellen Beginn des Chats mehrere Fragen hintereinander eingehen. Im Hinblick auf die Nutzung des Chats, um Fragen zu stellen, lohnt sich die Verlängerung der Chat-Dauer über das Ende hinaus, während die vorzeitige Eröffnung des Chats, keine zusätzlichen Fragen erbringt. <?page no="131"?> Beschreibung des Datenkorpus 117 3. Organisationsphase: Chat-Typ 2 - zugeordnete Beiträge Mit einer einschneidenden Veränderung bei der Darstellung der Beiträge entsteht ein zweiter Chat-Typ. Auf der Benutzeroberfläche werden nun die Beiträ- 47 [10: 33] MA1 nachfrage: gibt es zukünftig im [Organisationseinheit 1] keinen Sales Support mehr? Wandern diese Kollegen ”automatisch” in die [Organisationseinheit 2]? UL1 Die Funktionen gehen 1: 1 in [Organisationseinheit 2] über. 48 [10: 33] MA2 Ändert sich das Portfolio der [Organisationseinheit 3] beim Übergang in [Organisationseinheit 2]? UL2 Das [Organisationseinheit 1] betreffend derzeit keine Änderung. Alles weitere wird in der Vertiebsplanung von Herrn [Mitarbeiter] berücksichtigt werden. 49 [10: 34] MA3 Warum müssen für alle Mitarbeiter, also auch Sekretariate, Ziele vereinbart werden? UL1 Dies ist tarifvertraglich festgelegt worden. 50 [10: 37] MA4 Können Ziele falls Umorganisationen folgen und die Ziele real nicht mehr erreichbar sind angepasst werden? UL1 Grundsätzlich werden Ziele mit der Geltungsdauer von [Zeitraum] festgelegt. Abweichungen müssen im Einzelfall geklärt werden. 51 [10: 39] MA5 @[UL2]: Sind derzeit ”Big-Deals” in der Pipe ? UL3 Jede Menge, wobei bei uns ”Big Deals” ja nicht Milliardengeshcäfte sind, sondern eher im hohen einstelligen Millionenbereich. Einige Beispiele, wo wir auf der Zielgerade sind: [Auflistung der voraussichtlichen Geschäftsabschlüsse] 52 [10: 39] MA6 Wird es beim Wechsel in die [Organisationseinheit 4] eine neue Stellenbeschreibung für die Arbeitsposten geben? UL1 Stellenbeschreibungen werden geändert, wenn sich Aufgaben ändern. Bei gleichem Aufgabeninhalt erfolgen keine neuen Beschreibungen. Abb.-13: Chat-Typ 2 - zugeordnete Beiträge <?page no="132"?> 118 Empirischer Teil ge der Mitarbeiter und der Unternehmensleitung einander paarig zugeordnet, so dass die Fragen und Antworten nebeneinander stehen und die Beiträge der Mitarbeiter und der Unternehmensleitung in verschiedenen Spalten aufgelistet werden (Abb.- 10 und Abb. 13). Die Antworten der Unternehmensleitung werden damit in einer separaten Antwortspalte den Beiträgen der Mitarbeiter zugeordnet, indem die Mitglieder der Unternehmensleitung ihre Antworten im neben der Frage angeordneten Antwortfeld eintragen. Diese Darstellungsweise erleichtert den Chat-Teilnehmern das Auffinden und die Zuordnung der Antworten zu den entsprechenden Fragen, ist aber nicht interaktiv ausgelegt, da nur paarige Sequenzen einander zugeordnet sind, während die Bildung längerer Gesprächsstränge durch die Hervorhebung der Paarigkeit eher behindert wird. 4. Organisationsphase: Chat-Merkmal B - asynchrone Beantwortung Soweit während des Chats Fragen offen bleiben, die bis zum Ende des Chats nicht beantwortet sind, beantwortet die Unternehmensleitung diese Fragen den betreffenden Mitarbeitern asynchron, indem die Mitarbeiter die Antworten, falls sie nicht durch pseudonyme Teilnahme anonym bleiben, nachträglich per E-Mail erhalten und die nachträglich gegebenen Antworten zusammen mit der Dokumentation des Chats im unternehmenseigenen Intranet veröffentlicht werden. Dazu werden die Antworten entweder nachträglich in der Dokumentation des Chats ergänzt oder als Anhang dazu veröffentlicht (Abb.-14). Die nachträglich beantworteten Fragen sind dann zusammen mit der Dokumentation des Chats dauerhaft im Intranet abrufbar. Nr: 54 zugewiesen UL [10: 15] [MA] In meinem Arbeitsvertrag steht ein Betrag für Monatsgehalt, der weit unter dem derzeitigen Niveau liegt. Mit keinem Wort wird erwähnt, wie hoch das tatsächliche garantierte Einkommen ist. Handelt es sich eher um ein Infoblatt als um einen Vertrag? Antwort: Der Arbeitsvertrag kann nicht alle Bestimmungen des Tarifvertrages abdecken. Sofern Ihr neues Monatsgehalt [Es folgt eine ausführliche Erläuterung.] Abb.-14: Chat-Merkmal B - asynchrone Beantwortung <?page no="133"?> Beschreibung des Datenkorpus 119 5. Organisationsphase: Chat-Merkmal C - moderierter Chat Kurzzeitig wurden in einigen Chats Moderatoren eingesetzt, die offen gebliebene Fragen der Mitarbeiter diesen Mitgliedern der Unternehmensleitung zuwiesen, die derzeit nicht von Mitarbeitern angechattet wurden (Abb.- 15). Die Fragen durchliefen so die Stadien „offen“ für nicht beantwortete oder vom Moderator bearbeitete Beiträge (Abb.-15, Beitrag 238), „zugewiesen“, wenn ein 236 [15: 52] beantwortet MA1 […] Wie kommen wir zukünftig zu sauberen und richtigen Abrechnungen (Ist: Zu hoch und damit direkt Ergebnismindernd! ) Welche konkreten Maßnahmen sind angedacht? GF Eine ganze Menge Massnahemen von der Netzoptimierung über Rahmenvertragsverhandlung bis zu höhern Wertschöpfung in der [Unternehmenssparte]. Gruss [GF] 237 [15: 52] zugewiesen MA2 Wir müßen uns international stärker aufstellten. Wieso werden die internationalan [Organisationseinheit] Kunden dann zentralistisch betreut? Was passiert mit den [Organisationseinheit]‘s? V 238 [15: 52] offen MA3 Wann und auf welche Weise soll die Zentrale ”verschlankt” werden? Wissen die betreffenden Personen schon bescheid? 239 [15: 52] beantwortet MA4 Wer koordiniert zukünftig die Zusammenarbeit der Vertriebe bei den Kunden 51aufwärts, damit nicht mehrere VB unabgestimmt mit unterschiedlichen, konkurrieren Geschichten beim Kunden auflaufen? GF 1. Die Kunden werden eindeutig den Regionen zugeordnet. 2. Die [Organisationseinheit], die den grössten Umsatz mit dem jeweiligen Kunden macht, hat den Lead und organisiert das Cross Selling. Auch dies kann eindeutig festgelegt werden. Gruss [GF] Abb.-15: Chat-Merkmal C - moderierter Chat <?page no="134"?> 120 Empirischer Teil Mitglied der Unternehmensleitung vom Moderator in die Antwortspalte eingetragen wird oder das Antwortfeld selbst belegt hat (Abb.- 15, Beitrag 237), und „beantwortet“, wenn im Antwortfeld ein Beitrag angezeigt wird (Abb.- 15, Beiträge 236 und 239). Die Moderatoren übernehmen dann auch die Aufgabe, die Chat-Teilnehmer zu begrüßen, die im Chat-Raum anwesenden Mitglieder der Unternehmensleitung vorzustellen (Beitrag 14 in Abb.-16), im Verlauf des Chats über die Entwicklung der Teilnehmerzahl zu informieren und die Mitarbeiter zur Teilnahme am Chat anzuregen (Beispiel „Moderator“ in Kap.-1.3.). 6. Organisationsphase: Chat-Merkmal D - themenbezogener Chat Nachdem sich die Chat-Kommunikation als Instrument der Mitarbeiterkommunikation im Unternehmen etabliert hatte, wurde begonnen, anlässlich bedeutender Ereignisse im Unternehmen, besonders Veränderungen im Personalwesen, themenbezogene Chats abzuhalten (Abb.- 16). Daran nehmen mitunter auch fachliche Experten teil, die die Unternehmensleitung bei der Beantwortung der Fragen unterstützen (Beispiel „Beauftragung“ in Kap.-6.2.1.1.). 1 MA1 Hallo zusammen, ich hätte eine Frage an Herrn [UL2]. Ich bin im [Organisationseinheit 2] in Regensburg beschäftigt. Eine immer wieder gestellte Forderung von den Vertrieben sind regionale Demorooms, um dort mit Kunden das [Produkt] vorzuführen. Wie ist zu dieser Forderung der derzeitige Sachstand? 2 MA2 Sehr geehrter Herr [GF1], ist geplant, dass die LE Bereiche (Region) an einem Standort künftig arbeiten werden? Dies wäre für die Zusammenarbeit mit allen Bereichen von LE in den Regionen sehr wünschenswert. MfG, [MA2] 3 GF1 Die heutigen Standorte werden beibehalten und gemäß den Fachkonzepten ausgestaltet. Wir streben natürlich an die Zusammenarbeit räumlich so eng als irgend möglich zu gestalten. 4 UL2 Sehr geehrter Herr [MA1], wir führen die regionalen Demo Center die es heute bei [Produkt] gibt wie bisher weiter. In [Bundesland] gibt es derzeit entsprechend ausgestattete Räume in [Ort] und etwas weniger umfangreich in [Ort]. Die Betreuung der regionalen Demo Center erfolgt aus dem Bereich Technik und Lösungen bei [Organisationseinheit 3] in den Regionen. Die Nutzung erfolgt wie heute durch alle Vertriebe die dies wünschen. Eine Anpassung der Inhalte an das neue Portfolio wird im Herbst mit dem Bereich Produktmanagement abgestimmt. Mit freundlichen Grüßen [UL2] 5 MA3 Guten Morgen die Herren, wie sollen die, durch die Neuorganisation (Personalreduzierung / Personalveränderung), eintretenden Wissens- und Verbindungsverluste im Konzern aufgefangen werden? ? ? ? 6 UL6 Durch die Bildung der Neuorganisation [Organisationseinheit 1] werden keine Personalreduzierungen stattfinden. Dies ist auch so <?page no="135"?> Beschreibung des Datenkorpus 121 im Zentralen Interessenausgleich, der mit dem Konzernbetriebsrat der DTAG vereinbart wurden, festgehalten. 7 MA4 Guten Morgen zusammen, wann und wie ist es vorgesehen, in der [Organisationseinheit 4]-Struktur den neu geschaffenen Stellen der ”IT-Hunter” ein entsprechendes Backoffice an die Hand zu geben? 8 GF1 Die IT-Hunter werden in die Vertriebsabteilungen integriert und dort auch mit dem notwendigen Backoffice ausgestattet. Des Weiteren arbeiten wir mit Hochdruck an der Ausgestaltung des Bereiches [Organisationseinheit 4] um die notwendigen Support Strukturen zu schaffen. Halten Sie durch! 9 V Guten Morgen an alle [Organisationseinheit 1]ler ! 10 MA5 Warum ist die Anlage 1 zum [Betriebsratsvereinbarung] nicht im Intranet hinterlegt? 11 MA6 Neuorganisation: Bleiben die Standorte bestehen? 12 UL7 Ja. Das Standortkonzept im [Organisationseinheit 4] sieht vor, dass alle MitarbeiterInnen an den Standorten migrieren, an denen sie z.Zt. arbeiten. 13 UL6 Guten Morgen Herr/ Frau [MA4]. Informationen zur Anlage 1 sind im Intranet in der Präsentation Infoveranstaltung enthalten. Wir nehmen Ihren Hinweis aber gerne auf und werden einen extra Link aufnehmen. 14 Mod Herzlich willkommen zum ersten Live-Chat für alle Mitarbeiter aus dem Bereich [Organisationseinheit]. An der Seite von [Vorstand] stehen Ihnen aus der [Bezeichnung] Führungsmannschaft folgende Kollegen ebenfalls Rede und Antwort: [GF1] ([Organisationseinheit-4]) [GF2] ([Organisationseinheit 5]) [GF3] ([Organisationseinheit 6]) [UL1] ([Organisationseinheit 7]) [UL2] ([Organisationseinheit 2]) Für den Bereich [Organisationseinheit-8] beantwortet [UL3]. Schwerpunktthemen sind die strategischen Projekte [Projektbezeichnung 1] und [Projektbezeichnung 2] sowie alles rund um die neue Organisation. Ihre Fragen zum Projekt [Projektbezeichnung 1] wird Ihnen [UL4] beantworten. Das Thema [Projektbezeichnung 1] übernimmt [UL5]. Darüber hinaus werden [Ex1] und [Ex2] für das Thema Neuorganisation am Chat teilnehmen. Selbstverständlich werden auch alle Fragen aus dem vertrieblichen Tagesgeschäft beantwortet. Nutzen Sie die Gelegenheit, Ihre Fragen, Kritik und Anregungen direkt an [Vorstand] und seine Führungsmannschaft zu stellen und somit Informationen aus erster Hand zu erhalten. 15 MA7 Guten Morgen Herr [Vorstand]. Die [Unternehmenssparte] ist derzeit Umsatz(wachstum)orientiert. Ist es in der Zukunft denkbar eine Margen(optimierungs)orientierung stärker zu berücksichtigen? 16 V Guten Morgen Herr [MA6]: Nun zunächst einmal sollten wir alle Möglichkeiten in Richtung Wachstum ausschöpfen. Das heißt nicht, dass man nicht auf die Marge schaut. Unsere Strategie heißt profitables Wachstum. Dies verbindet beide Komponenten. Abb.-16: Chat-Merkmal D - themenbezogener Chat <?page no="136"?> 122 Empirischer Teil 7. Organisationsphase: Chat-Typ 3 - Frequently Asked Questions Eine Reduzierung des Chats auf das Entgegennehmen von Fragen kennzeichnet den Chat-Typ 3, bei dem die Fragen der Mitarbeiter im Chat entgegengenommen und mit Antworten versehen im Intranet veröffentlicht wurden. Diese Chats sind nicht mit der in Kap.-1.3 dargelegten Definition für Chat zu erfassen und wurden nicht in die qualitativen Untersuchungen aufgenommen. Im Folgenden werden Chats des Chat-Typs 3 als FAQ (Frequently Asked Questions) bezeichnet. 8. Organisationsphase: alle Chat-Typen und Chat-Merkmale Soweit mit dem Einsatz bestimmter Chat-Typen und Chat-Merkmale in den verschiedenen Organisationseinheiten nicht die Erhöhung der Anzahl der Frage/ Antwort-Sequenzen und der Beiträge erzielt werden konnte oder die technischen Gegebenheiten sich veränderten, wurden bereits eingeführte Chat-Typen und Chat-Merkmale wieder abgeschafft, so dass letztendlich Chats aller Organisationsphasen nebeneinander abgehalten wurden. Die quantitativen Daten Die drei Chat-Typen kommen in unterschiedlicher Häufigkeit vor (Abb.-17). Abb.-17: Quantitative Verteilung der Chat-Typen Mit 186 Ausprägungen ist der Chat-Typ 1 am häufigsten vertreten. 56 Chats repräsentieren den Chat-Typ 2 und 21 Chats entsprechen dem Chat-Typ 3. Da der Chat-Typ 3 wegen der Aufbereitung des Datenmaterials zu FAQ nicht weiter verwendet wird, stehen für die qualitative Analyse (Kap.- 5 und Kap.- 6) insgesamt die 242 Chats der Chat-Typen 1 und 2 zur Verfügung, für die quantitativen Darstellungen sind die Chats des Chat-Typs 3 teilweise als Vergleichsmaterial einbezogen. Die Chats der Chat-Typen 1 und 2 differenzieren sich weiter nach den Merkmalen A: verlängerte Chat-Dauer, B: asynchrone Beantwortung, C: moderiert und D: themenbezogen, wobei sich diese Merkmale nicht ausschließen, so dass ein Chat eines, mehrere oder alle Merkmale aufweisen kann und das Datenkorpus nur fünf Chats der Chat-Typen 1 und 2 enthält, die keines der vier Merkmale aufweisen. Die 186 Chats des Chat-Typ 1 weisen zum größten Teil eine verlängerte Chat- Dauer auf (154 Chats) und in den meisten Chats werden offen gebliebene Fra- <?page no="137"?> Beschreibung des Datenkorpus 123 gen asynchron beantwortet (138 Chats). Die Merkmale moderiert und themenbezogen haben weniger Bedeutung, so ist etwa ein Drittel der Chats moderiert (62 Chats) und weniger als die Hälfte der Chats sind themenbezogen (76 Chats). Abb.-18: Quantitative Verteilung der Chat-Merkmale im Chat-Typ 1 Abb.-19: Quantitative Verteilung der Chat-Merkmale im Chat-Typ 2 Von den 56 Chats des Chat-Typs 2 weisen fast alle Chats die Merkmale verlängerte Chat-Dauer (54 Chats) und asynchrone Beantwortung (50 Chats) auf. Moderierte Chats (18 Chats) und themenbezogene Chats (15 Chats) machen dagegen jeweils nur knapp ein Drittel der Chats des Chat-Typs 1 aus. Die unterschiedliche Häufigkeit der Merkmale resultiert vermutlich daraus, dass die Merkmale verlängerte Chat-Dauer, mit vor und nach der angekündigten Chat-Dauer eingegangenen Beiträgen, und asynchrone Beantwortung die gewünschte Wirkung einer ansteigenden Anzahl von Fragen gebracht haben (Kap.- 6.3.2.2.) und folglich weiter eingesetzt wurden, während das Merkmal moderiert sich hemmend auf die Chat-Tätigkeit ausgewirkt hat (Kap.- 6.3.3.). Themenbezogene Chats wurden nur bei besonderen aktuellen Ereignissen zur zusätzlichen Information der Mitarbeiter eingesetzt und wurden nicht als Instrument zur Anregung der Chat-Tätigkeit gesehen. Im Vergleich der Chats der Chat-Typen-1 und-2 hinsichtlich der Verteilung der Merkmale stellt sich heraus, dass die Chats des Chat-Typ 1 an engere Regeln gebunden sind. So wird die festgelegte Chat-Dauer (17 % der Chats im Vergleich zu 3 % der Chats im Chat- Typ 2) häufiger eingehalten und der synchrone Diskurs im Chat weniger durch asynchrone Beiträge (74 % der Chats im Vergleich zu 90 % der Chats im Chat- Typ 2) ergänzt. Da die beiden Chat-Typen nicht nach unterschiedlichen Kriterien organisiert wurden, könnte der Unterschied in der Einhaltung der festgelegten Regeln nur darauf zurückzuführen sein, dass die Chats des Chat-Typs 1 <?page no="138"?> 124 Empirischer Teil früher starteten und die Unternehmensleitung aufgrund ihrer Pionierrolle in der Chat-Kommunikation zwischen Unternehmensleitung und Mitarbeitern anfangs wenig Erfahrung in der Organisation von Chats hatte. Die Organisation des Chats hat qualitative Auswirkungen auf den Chat selbst und auf die Interaktion. Im Folgenden ist dargestellt, wie sich die Interaktion unter dem Einfluss der Chat-Organisation in den verschiedenen Phasen verändert. Mit dem Ziel, die Beiträge besser zusammenzuführen und möglichst auch ein hohes Aufkommen an Fragen vollständig innerhalb des Chats zu beantworten, wurde die Organisation des Chats immer wieder verändert. Die beschriebene organisatorische Entwicklung der Chats und ihre Auswirkungen sind in Abb.- 20 chronologisch in Organisationsphasen dargestellt, wobei keine homogene Zeitachse über alle teilnehmenden Unternehmenssparten und Organisationseinheiten besteht. Die Entwicklungsschritte in den verschiedenen Organisationseinheiten verlaufen zeitlich nicht parallel. Nicht jede Organisationseinheit hat alle Entwicklungsschritte durchlaufen und Organisationseinheiten mit Chats in unterschiedlichem Entwicklungsstand wurden bisweilen zusammengeführt. Abschließend sollen nun die Auswirkungen der organisatorischen Maßnahmen auf den Chat und die Interaktion (Abb.- 20) sowie die Überlegungen, die der Entwicklung des Chats über die verschiedenen Organisationsphasen zugrunde liegen, dargestellt werden. Schon vom ersten Chat des Chat-Typs 1 an stellen die Mitarbeiter überwiegend Fragen. Es gibt keine stringente Ordnung, wie gechattet werden soll, da das Format noch ohne Vorbild innerhalb der Deutschen Telekom AG oder im sonstigen sozialen Umfeld der Mitarbeiter ist. Jeder Chat-Teilnehmer wählt sein Chatverhalten selbst und trägt es in den Chat herein, wobei diese Regelung zu weitreichender stilistischer Divergenz der Beiträge führt, die besonders in den Gesprächseröffnungen und -beendigungen zu beobachten ist (Kap.-6.2.2.1. und Kap.-6.2.2.5.). Da immer wieder Antworten offen bleiben und Gesprächsstränge aus diesem Grund und wegen mangelnden Überblicks abbrechen, lässt die Unternehmensleitung in der weiteren Entwicklung der Chats Fragen und Antworten nebeneinander anordnen (Chat-Typ 2). Eine farbliche Unterscheidung der Sequenzen erwies sich als nicht praktikabel, da der Teilnehmerkreis zu groß ist, so dass die Farbabstufungen so stark nuanciert werden müssten, bis sie nur noch bedingt bedeutungsunterscheidend sind. Diese paarige Zuordnung der Beiträge der Mitarbeiter und der Unternehmensleitung führt zu einer Erleichterung beim Auffinden der offenen Fragen und der Zuordnung von Antworten, erschwert aber Nachfragen, da die Zuordnung nicht weiter verlängert werden kann, wie es beispielsweise für längere Gesprächsstränge notwendig und mit einer Darstellung als Baumdiagramm möglich wäre. <?page no="139"?> Beschreibung des Datenkorpus 125 Organisationsphasen Auswirkungen Chat Interaktion 1 Chat-Typ 1 fortlaufende Auflistung aller Beiträge im angekündigten Zeitfenster unübersichtliche Gesprächsstränge für ungeübte Chat-Teilnehmer Kritik und inhibiting moves wegen fehlender Antworten 2 Chat-Merkmal A Zusätzlich Aufnahme der Beiträge, die vorab oder später eingehen Plauderchats im Vorfeld und Sequenzen am Ende des Chats sind dokumentiert Entstehen und Ausbreitung von Plauderchats; Verlängerung der Sequenzen über das angekündigte Zeitfenster hinaus 3 Chat-Typ 2 Beiträge der MA und der UL getrennt, paarige Zuordnung der Beiträge Ungewohnte Darstellung; mehr Übersichtlichkeit; weniger unbeantwortete Fragen Relativer Anteil der Frage/ Antwort-Sequenz gesteigert; Misstrauensbekundungen der Mitarbeiter verringert 4 Chat-Merkmal B Zusätzlich werden unbeantwortete Fragen nachträglich per E-Mail beantwortet Beantwortung aller Fragen Weiterentwicklung der Antwort-Situation aus Organisationsphase 3 5 Chat-Merkmal C Gesprächsführung durch die Unternehmensleitung ist durch Moderatoren ergänzt Der Moderator übernimmt die Organisation; das Mühlen-Prinzip entfällt Der Moderator hat durch seine Tätigkeit Interpretationsfunktion; Kritik an der Moderation per se 6 Chat-Merkmal D Themenbezogene Chats, Chat-Teilnahme fachlicher Experten Die UL wird bei der Beantwortung der Fragen von fachlichen Experten unterstützt Die Experten nehmen am Chat teil; die UL überträgt ihnen die Beantwortung von Detailfragen 7 Chat-Typ 3 Keine synchrone Chat- Teilnahme der Unternehmensleitung Chat auf Entgegennahme von Fragen begrenzt; diese werden, zu FAQ aufbereitet, ins Intranet gestellt Keine Chat-Tätigkeit; einzige kommunikative Form ist die Frage/ Antwort-Sequenz 8 Paralleler Einsatz aller Chat- Typen und Chat-Merkmale Analog zu den vorigen Organisationsphasen Analog zu den vorigen Organisationsphasen Abb.-20: Phasen und Auswirkungen der Chat-Organisation Die Förderung der Bildung von Frage-Antwort-Sequenzen durch die asynchrone Beantwortung offen gebliebener Fragen bewirkte einen Anstieg der Anzahl der Fragen (Kap.-6.3.2.2.). Dagegen führte der zeitweilige Einsatz von Moderatoren zu Äußerungen von Misstrauen (Kap.-6.3.3.) und einer Verringerung der <?page no="140"?> 126 Empirischer Teil Anzahl der Fragen (Kap.-6.3.2.2.), da die Unternehmensleitung offenbar weniger authentisch wirkte. Der Einsatz von Experten bewirkte, dass weniger Fragen asynchron beantwortet werden mussten (Kap.-6.3.2.2.), vereinzelt aber auch ein Rivalisieren der Mitarbeiter mit den Experten in Bezug auf Fachwissen (Beispiel „Beauftragung“ in Kap.-6.2.1.1.). Mit der Begrenzung der Funktionen des Chats auf das Entgegennehmen von Fragen im Chat-Typ 3 ist die Chat-Tätigkeit eingestellt und die betreffenden Chats werden zu FAQ aufbereitet. Da die Mitglieder der Unternehmensleitung, die die Organisation von Chats initiierten, unterschiedlich über den Einsatz organisatorischer Merkmale entschieden, wurden letztlich Chats aller drei Chat-Typen abgehalten, die unterschiedliche Chat-Merkmale aufweisen, so dass alle Chat-Typen und Chat- Merkmale parallel beobachtet werden konnten. 4.2.2 Technische Situation und technische Effekte Die Deutsche Telekom AG verfügt über ein E-Mail-System, auf das die Chat- Teilnehmer zugreifen können. In Abb.- 21 ist der prinzipielle Aufbau einer unternehmensinternen technischen Infrastruktur typisiert dargestellt. 58 Im Folgenden soll die prinzipielle technische Kommunikationssituation, wie sie sich typischerweise in großen Unternehmen darstellt, beschrieben werden. Die einzelnen Serversysteme sind jeweils durch eine zentrale Datenleitung, den Backbone, verbunden. Das bedeutet, dass das ganze Unternehmen über ein internes E-Mail System verfügt und nicht auf das Internet zurückgegriffen werden muss, um konzernintern E-Mails zu verschicken. Über dieses technische System werden auch die Chat-Beiträge verschickt. Der Chat ist damit abgeschlossen und von äußeren Einflussfaktoren und Störungen unabhängig. Über das Intranet kann die Einstiegsseite des Chats mit Eingabe der zugehörigen Passwörter leicht betreten werden. Für die Übermittlung der einzelnen Chat-Beiträge gelten allerdings unterschiedliche Übermittlungszeiten, resultierend aus der variierenden Anzahl der Server, die passiert werden müssen, wobei die Serverzeiten zudem von der Auslastung abhängig sind. Insgesamt sind die Übermittlungszeiten dadurch sehr heterogen. Für die technischen Kommunikationswege werden Teile der Netzinfrastruktur verwendet, die in unterschiedlicher Weise mit dem Zielserver verknüpft sind. Ausgehend von dem Server, auf dem die Chat-Kommunikation betrieben wird, weist eine schematische Darstellung der Kommunikationswege, die im Serversystem vorkommen, drei Möglichkeiten auf, über die ein Endgerät an das Sys- 58 Eine vergleichende Analyse verschiedener unternehmensintern verwendeter Typen von Informationssystemen bieten Mautsch (2007) und Gaugler (2000), und einen Vergleich verschiedener Typen von Informations- und Kommunikationssystemen aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht leistet Pietsch (1999). <?page no="141"?> Beschreibung des Datenkorpus 127 tem angebunden sein kann: in direkter Anbindung als Client, über ein weiteres Local Area Network (LAN) oder als LAN, dem ein oder mehrere weitere LAN’s zwischengeschaltet sind. Abb.-21: Typisierte Darstellung einer technischen Infrastruktur Der Vorteil der Durchführung von Chats über ein unternehmensinternes Intranet liegt darin, dass damit die technischen Voraussetzungen für repräsenta- <?page no="142"?> 128 Empirischer Teil tive Äußerungen im Chat gegeben sind, da alle interessierten Mitarbeiter eingebunden sind und einen gleichartigen Zugang haben. Dem steht als Nachteil gegenüber, dass keine gleichförmige Anbindung besteht und für die Endgeräte unterschiedliche Zeiten der Erreichbarkeit gelten. In der Praxis führt das regelmäßig zu einem zeitlich verzerrten Erscheinen der Beiträge auf der Benutzeroberfläche. Die Reihenfolge des Mühlen-Prinzips (Kap. 1.3.) gilt damit nur für den Zentralserver selbst, nicht aber für das technische Gesamtsystem, da die einzelnen Beiträge unterschiedlich viele Server mit unterschiedlichen Serverlaufzeiten passieren. Die divergierenden Übermittlungszeiten sind ein Effekt der Zusammenschaltung mehrerer E-Mail-Systeme. Technische Effekte Die meisten technischen Effekte werden durch die Benutzeroberfläche ausgeblendet und die technischen Abläufe im Hintergrund bleiben von den Benutzern unbemerkt. Das betrifft vor allem die Ausblendung der technischen Übermittlungswege, den Wechsel der E-Mail-Systeme und deren Heterogenität. Chatten wird durch die einheitliche Benutzeroberfläche einfach und schnell. Der technisch wenig informierte Benutzer erhält so den durchaus gewünschten Eindruck geringer technischer Distanz zu den anderen Chat-Teilnehmern. Tatsächlich jedoch unterliegt eine gewachsene Serverlandschaft ab einer bestimmten Größe und Heterogenität vielfältigen Systemstörungen. Die meisten davon werden von den Betreibereinheiten eines Unternehmens behoben, bevor den Benutzer auch nur die geringsten Auswirkungen erreichen. Dennoch gibt es einige wenige technische Störungen und Unregelmäßigkeiten, deren Auswirkungen ein Chat-Teilnehmer möglicherweise bemerkt. Technische Effekte, die vom Benutzer als solche bemerkt werden können, sind eine stark variierende zeitliche Dauer der Übermittlung und partielle Systemausfälle, die nicht völlig vermeidbar sind. Der technische Effekt des Erscheinens von Chat-Beiträgen, die nicht in der Reihenfolge der Absendung im Chat eingeordnet sind, ist keine Störung, wirkt sich aber, durch das gewachsene System bedingt, verstärkt aus. Die Reihenfolge könnte zwar technisch korrigiert werden, allerdings würde das die Übertragungszeiten verlängern, weil sich der Zielserver dann an der langsamsten Übertragung orientiert. Mitunter haben technische Effekte, besonders wenn sie nicht als solche erkennbar sind, Auswirkungen auf das Chat-Verhalten der Mitarbeiter. Technisch mit dem Computer wenig versierte Mitarbeiter sind auch bei Unternehmen in größerer Anzahl zu finden, deren Kerngeschäft die Kommunikationstechnik bis hin zu den fortschrittlichsten Ausprägungen ist. Das betrifft im Wesentlichen Geschäftszweige, die mit allgemeinen Unternehmensaufgaben betraut sind. Soweit dann doch Unregelmäßigkeiten auftreten, werden die Ursachen häufig nicht im als problemlos funktionierend erscheinenden System gesucht. <?page no="143"?> Beschreibung des Datenkorpus 129 Auch im vorliegenden Datenkorpus kommt es zu Fehlinterpretationen und Unterstellungen der Mitarbeiter an die Unternehmensleitung. Unterstellt werden eine unzureichende Vorbereitung des Chats, Taktieren der Unternehmensleitung, Manipulation der Beiträge von Mitarbeitern, Löschen von Beiträgen, Abwesenheit angekündigter Mitglieder der Unternehmensleitung aus Desinteresse und Ghostwriting anderer Personen als der vorgegebenen Mitglieder der Unternehmensleitung. Da diese Unterstellungen jeder Grundlage entbehren, wirkt die gewollt problemlos erscheinende Situation im Chat unter diesem Aspekt kontraproduktiv zur Herstellung eines vertrauensfördernden Diskurses. Diesen Einschätzungen steht bei technisch versierten Mitarbeitern die häufige Selbstpräsentation als Fachleute für Telekommunikation entgegen, wie der folgende Auszug aus dem Beispiel „Serverprobleme“, das in Kap.-6.2.1.4. vollständig abgebildet und ausführlich besprochen ist, zeigt. Serverprobleme (Auszug) 362 MA Serverprobleme? ? ? Sind wir IT-Profis oder nicht? 369 MA Wir könnten Ihnen auch kurzfristig einen Server von uns zur Verfügung stellen. Der läuft dann unter OpenSource und funktioniert! Als Reaktion auf Serverprobleme innerhalb der technischen Infrastruktur, die den Chat anhaltend stören, erklären sich die Mitarbeiter als „IT-Profis“ bereit, bei der Lösung des Problems behilflich zu sein („Wir könnten Ihnen auch kurzfristig einen Server von uns zur Verfügung stellen.“). Aus der Argumentation („Der läuft dann unter OpenSource und funktioniert! “) geht aber nicht hervor, ob die Mitarbeiter hinreichendes Wissen über technische Kommunikationssysteme dieser Komplexität haben, denn die Argumente sind allgemein gehalten und greifen nicht die Problematik auf, ein umfangreiches IT-Netzwerk zu betreiben. 4.2.3 Vergleichbarkeit Die Chats sind im Lauf ihrer Durchführung wiederholt modifiziert worden (Kap.-4.2.1.), bis hin zur Aufbereitung des Materials zu FAQ’s, die von der qualitativen Untersuchung ausgenommen werden mussten. Für die in der Untersuchung verwendeten Chats der Chat-Typen 1 und 2 wird im Folgenden gezeigt, dass für die vorliegende Fragestellung vollständige Vergleichbarkeit der verwendeten Chats angenommen werden kann. <?page no="144"?> 130 Empirischer Teil Chat-Reihen Die Chats stammen von verschiedenen Organisationseinheiten, die in sich in Bezug auf den Teilnehmerkreis und die verwendete Benutzeroberfläche relativ gleichförmige Chat-Reihen bilden, wobei die Fluktuation der Mitarbeiter vernachlässigt werden soll. Sie wurden durchwegs von jeweils einem Mitglied der Unternehmensleitung initiiert. Die Vorgehensweise wurde zunächst vom ersten Chat unverändert übernommen, dann wurden im Zuge von Optimierungen und im Bemühen, den Chat noch einfacher bedienbar zu machen, technische und organisatorische Veränderungen vorgenommen. Unter einer Chat-Reihe sind also alle Chats zusammengefasst, die von einem bestimmten Mitglied der Unternehmensleitung für die Durchführung in einer bestimmten Organisationseinheit initiiert wurden. Sieben Chats wurden für Niederlassungen außerhalb des deutschsprachigen Raums mit Englisch als Arbeitssprache durchgeführt. Durch die geringe Anzahl sind diese Chats nicht repräsentativ, die Herangehensweise der Mitarbeiter an den Chat scheint aber von derjenigen der deutschsprachigen Mitarbeiter verschieden zu sein. Es wird wenig Kritik geäußert und es werden mehr konstruktive Fragen gestellt. Ess (2001, 3) stellt im Zusammenhang mit kulturellen Unterschieden in der Einführung zu seinem Sammelband mit Beiträgen zum Umgang mit computervermittelter Kommunikation in verschiedenen Kulturkreisen fest, dass „the role culture plays in forming our fundamental beliefs and value“ zu unterschiedlichen Erwartungen an die Einsatzmöglichkeiten computervermittelter Kommunikation führt. Eine Analyse zur Mehrsprachigkeit in Informationssystemen haben Köstlbacher u. a. (2009) vorgenommen. Dennoch kann, aufgrund des grundsätzlich engen kommunikativen Austauschs zwischen den Mitgliedern der Unternehmensleitung und des im konkreten Fall des Chats erfolgten gegenseitigen Austauschs von Software für die Chat-Kommunikation und von organisatorischen Maßnahmen, für die Chat- Reihen vollständige Vergleichbarkeit angenommen werden. Hinzu kommt, dass die Chat-Teilnehmer aller Chat-Reihen gleichermaßen in die Unternehmenskultur eingebunden sind. Technische Entwicklung Die vielfachen Modifizierungen der technischen Infrastruktur hatten zum Ziel, die technischen Effekte zu verringern, eine einfachere Bedienbarkeit zu schaffen und die Bildung von Frage/ Antwort-Sequenzen zu fördern. Insbesondere die Benutzeroberfläche wurde mehrfach verändert, bis eine geeignete graphische Darstellung gefunden war, auf der die Benutzer sich leicht orientieren und die einzelnen Gesprächsstränge besser auseinander halten können. Statt der anfangs fortlaufenden Auflistung der Beiträge in der Reihenfolge des Eingangs, wie bei Chats üblich, wurden die Beiträge in Frage/ Antwort-Sequenzen neben- <?page no="145"?> Beschreibung des Datenkorpus 131 einander gestellt, so dass sowohl für die fragenden Mitarbeiter als auch für die antwortende Unternehmensleitung sofort sichtbar war, welche Fragen schon beantwortet wurden. Insofern hat die technische Entwicklung Einfluss auf die Inhalte genommen, da von da an die Frage/ Antwort-Sequenz durch eine bessere technische Darstellung begünstigt war. Dadurch ergab sich, wie bei der Darstellung der Entwicklung des Fragerechts in Kap.- 6.3.2.2. zu zeigen sein wird, qualitativ die Auswirkung, dass längere Frage/ Antwort-Sequenzen erschwert wurden; quantitativ ging die Anzahl der längeren Frage/ Antwort-Sequenzen zurück, dagegen stiegen die paarigen Frage/ Antwort-Sequenzen an. Organisatorische Entwicklung Obwohl die Chats in ihrer organisatorischen Entwicklung mehrere Phasen durchlaufen, bleiben die kommunikativen Handlungsmöglichkeiten davon unberührt. Organisatorische Einschränkungen und Erweiterungen beziehen sich auf die Zeiträume, für die der Chat-Raum zur Verfügung steht, und die Benutzerfreundlichkeit der verwendeten Software. Chats, die zu FAQ’s aufbereitet wurden, entsprechen nicht mehr den Kriterien, nach denen sich ein Chat definieren lässt, und sind deshalb nicht in die qualitative Untersuchung eingegangen. Unterschiedliche Initiatoren Prinzipiell können Chats, obwohl sie von verschiedenen Mitgliedern der Unternehmensleitung initiiert werden, miteinander verglichen werden, da diese das Konzept untereinander übernommen haben und auf das gleiche technische System zugreifen, wenn auch abhängig vom Teilnehmerkreis unterschiedliche Bereiche daraus unterschiedlich stark frequentiert werden. Die Nutzung unterschiedlicher Teile des technischen Systems hat nur Auswirkung auf die Häufigkeit technischer Effekte. Zudem unterscheiden sich die Chats in der Intention der Organisation nicht. Unterschiedlich sind nur die Teilnehmerkreise, wobei sich aber die Kriterien für die Auswahl dieser Teilnehmer nicht unterscheiden. Technische Bevorzugung der Frage/ Antwort-Sequenz Die unter dem Chat-Typ 2 zusammengefassten Chats enthalten Beiträge, die so aufbereitet wurden, dass Frage und Antwort einander graphisch zugeordnet werden. Sie erscheinen in getrennten Spalten und die Unternehmensleitung kann ihre Antworten unabhängig von der Reihenfolge des Eingangs am Zentralserver neben der zugehörigen Frage einfügen (Kap.-4.2.1., Abb.-13). Die Darstellung ist zur erleichterten Zuordnung der Antworten zu den Fragen gedacht. Da die graphische Darstellung damit aber vom vorher verwendeten Format (Kap.- 4.2.1., Chat-Typ 1) abweicht, wird teilweise der gegenteilige Effekt erreicht, wie die Beispiele „Seh-Gewohnheiten“ und „Bezug herstellen“ zeigen. <?page no="146"?> 132 Empirischer Teil Seh-Gewohnheiten 51 MA Nur mal am Rande bemerkt: das neue Chat-System scheint funktionaler doch die Aufteilung in zwei Fenster entspricht nicht den üblichen ’Seh-Gewohnheiten‘... : 52 Mod (Intranetadministration): Danke für das Lob! Zur Aufteilung in ein Fragen- und ein Antwortenfenster: Wir haben diese Aufteilung bewusst gewählt, da bei vielen Hundert Teilnehmern die Antworten der Experten in der Fragenlawine untergehen würden - dieser Effekt trat teilweise schon bei den letzten Chats auf. Im Beispiel „Seh-Gewohnheiten“ schätzt der Mitarbeiter das neue Format zwar als „funktionaler“ ein, ärgert sich aber über die Abweichung von der gewohnten Formatierung („doch“) und bewertet die Veränderung deshalb im Ganzen eher negativ, wobei ihm die Darstellung aber auch nicht allzu bedeutsam scheint („Nur mal am Rande bemerkt“). Der Moderator bezieht sich betont auf die scheinbar positive Beurteilung des Mitarbeiters. Offensichtlich teilt er aber die Interpretation des Mitarbeiters, da er im Folgenden die neue Darstellung erklärt und ihren Nutzen rechtfertigt. Deutlich negativ bewertet der Mitarbeiter die veränderte Darstellung im Beispiel „Bezug herstellen“. Bezug herstellen 161 MA Leider sieht man als Teilnehmer gar nicht, welche Frage welche Nummer hat, man kann den Bezug kaum herstellen : 162 Mod (Intranetadministration): Im Antwortenfenster werden die Fragen vor der eigentlichen Antwort jeweils nochmals zitiert, so dass der Bezug eigentlich hergestellt sein sollte. Die Nummerierung ist eher zur Orientierung der Experten evtl. werden wir die Anzeige dieser Nummerierung im nächsten Chat-Release nach außen hin unterdrücken. Danke auf jeden Fall für das Feedback! Der Mitarbeiter versteht die Funktionsweise der neu gestalteten Benutzeroberfläche nicht und äußert sein Bedauern darüber. Darauf reagiert der Moderator mit einer erneuten Erklärung der Funktionsweise, räumt mit seiner Rechtfertigung aber ein, dass die Darstellung auch schwer verständlich sei („Die Nummerierung ist eher zur Orientierung der Experten“) und kündigt Verbesserungen an. In seinem Dank lässt der Moderator noch seine Interpretation erkennen, dass ihm der Beitrag des Mitarbeiters nicht sonderlich weiterhilft („Danke auf jeden Fall“). Für die Analyse des vorliegenden Datenkorpus in Kap.-5 und Kap.-6 hat die Zuordnung von Fragen und Antworten die Auswirkung, dass die Chats des Chat-Typs 2 nur eingeschränkt hinsichtlich der interaktionellen Dominanz <?page no="147"?> Analyseschritte und methodische Verfahren 133 (Kap.-6.2.1.1.) ausgewertet werden können. Chats des Chat-Typs 3, die vollständig nach der Struktur von FAQ geordnet sind, können gesprächsanalytisch nicht mehr bearbeitet werden und gehen deshalb nicht in die qualitative Untersuchung ein. Dagegen ist die organisatorische Entwicklung der Chat-Typen 1 und 2 hinsichtlich der Ursachen und Auswirkungen der in diesem Kapitel beschriebenen organisatorischen Veränderungen interessant, besonders hinsichtlich der Entwicklung der interaktionellen Dominanz (Kap.- 6.2.1.1.), der kommunikativen Handlung Misstrauen äußern (Kap.- 6.3.3.) und der Frage/ Antwort-Sequenzen innerhalb des Gesprächstyps Befragung (Kap.-6.3.). 4.3 Analyseschritte und methodische Verfahren Den Ausführungen zur Analyse soll vorausgeschickt werden, dass die Analyse qualitativ orientiert ist, d. h. „Generalisierungen werden nicht über rechnerische Maße und statistische Verfahren vorgenommen, sondern über die Entwicklung von Kategorien“ (Brünner 2009a, 61). Als Ergänzung der qualitativen Ergebnisse werden zu einzelnen Aspekten quantitative Ergebnisse genutzt. Bei der Vorgehensweise zur Analyse eines Datenkorpus liegt die hauptsächliche Aufmerksamkeit auf der Auswahl geeigneter Daten und der Berücksichtigung des Kontexts. Daneben sind das Rekonstruktionsziel und der Geltungsanspruch für Interpretationen von besonderem Interesse. Von dieser Interessenlage ausgehend, lässt sich mit Blick auf das vorliegende Datenkorpus festhalten, dass die untersuchten Diskurse in Form von Chats zwischen den Mitarbeitern und der Unternehmensleitung aufgezeichnet vorliegen, wobei die Materialsammlung Chats umfasst, die in zwei Unternehmenssparten der Deutschen Telekom AG abgehalten wurden. Das Datenkorpus ist für die Fragestellungen der vorliegenden Arbeit besonders geeignet, da die Besonderheit des Datenmaterials darin liegt, dass in den Chats Beteiligte des Unternehmens im virtuellen Raum aufeinandertreffen, die im Unternehmensalltag nicht reziprok und synchron miteinander kommunizieren. Dadurch kommt es zu einer Konfrontation von Perspektiven, die nicht bereits auf anderweitigen kommunikativen Wegen durch gegenseitige Beeinflussung aneinander angeglichen sind. Teilweise sind den Chat-Teilnehmern die Perspektiven der übrigen Beteiligten nicht einmal bekannt. Zudem muss die Methode der Besonderheit des Datenkorpus gerecht werden, indem die Interpretation unter Berücksichtigung des außergewöhnlichen Kontexts erfolgt. Hinsichtlich des Kontexts besteht die Situation, dass die vorliegenden Chats zwischen der Unternehmensleitung und den Mitarbeitern in der deutschen Unternehmenslandschaft einzigartig vorhanden sind. Somit besteht keine Möglichkeit zum Vergleich mit entsprechenden Chats, die in anderen Unternehmen abgehalten werden. <?page no="148"?> 134 Empirischer Teil Entsprechende Chats aus Unternehmen in anderen Ländern sind nicht vergleichbar, da die Rolle und die Funktionen des Chats in der Kommunikation in Unternehmen vom wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Kontext, in dem Unternehmen stehen, abhängen (Kap.-5.4.). Andere Unternehmenskulturen und andere rechtliche Voraussetzungen, beispielsweise zum Datenschutz, führen dazu, dass der Chat für die Beteiligten ganz unterschiedliche Funktionen haben kann. Deshalb müssen bei der Interpretation der beobachteten Regelmäßigkeiten das Unternehmensumfeld und die spezifische Unternehmenskultur grundsätzlich Teil der Analyseperspektive sein. Die Rolle des wissenschaftlichen Beobachters Die beschriebene Analyseperspektive hängt aber auch von der Rolle ab, die der wissenschaftliche Forscher bei seiner Analyse einnimmt. In einer empirischen wissenschaftlichen Untersuchung ist die Rolle des wissenschaftlichen Forschers einer Beobachterposition ähnlich, in der eine angemessene Balance zwischen Distanz und Involviertheit (Kindt 1999, 71) gegenüber dem erforschten System gefunden werden muss. Als Beobachterin nehme ich nicht an den in der Deutschen Telekom AG durchgeführten Chats teil. Ich bin nicht Angestellte des Unternehmens, aber zeitweise freiberufliche Auftragnehmerin, so dass ich mit der Unternehmenskultur und den Abläufen besser vertraut bin als ein unbeteiligter Außenstehender und zugleich unabhängig von den Unternehmensinteressen. Die Vorarbeit, vor allem die Suche nach einer geeigneten Fragestellung hat gezeigt, dass wissenschaftliches und wirtschaftliches Interesse aufgrund unterschiedlichen Erkenntnisinteresses voneinander abweichen. Diese häufig vorkommende Situation bei empirischem Arbeiten fasst Kleinberger Günther zusammen: Die Zielsetzung und das Erkenntnisinteresse von Theorie und Praxis, von Wissenschaft und Berufsalltag divergieren indes leider nach wie vor derart, dass es problematisch ist, beides unter einen Hut zu bringen. (Kleinberger Günther 2003, 122) Nach meinen Erfahrungen bei der Erhebung der Daten befindet sich ein wissenschaftlicher Beobachter auch in der Rolle des Vermittlers, der die Fragestellung der Arbeit so gestalten muss, dass sie den Themen und Betrachtungsweisen beider Seiten gerecht wird. Die Anforderung an den wissenschaftlichen Forscher, seine eigene Rolle und seine Fragestellungen nach den beschriebenen Erfordernissen und Einschränkungen zu gestalten, wirkt sich auch auf die methodische Vorgehensweise aus. Die Auswahl der Methode ist zum einen durch das Datenkorpus und der damit zusammenhängenden Erhebungssituation bestimmt, zum anderen durch den Beobachter, der sich in der vorhandenen Beobachtungssituation für die geeignetste Art der Beobachtung entscheidet und damit eine bestimmte Distanz <?page no="149"?> Analyseschritte und methodische Verfahren 135 zum Geschehen hat. Die Methode der Interpretation und Rekonstruktion soll ein „nachvollziehendes Verstehen“ der Chat-Teilnehmer sein. Es sollten nicht „diejenigen, die eine Kommunikation analysieren, ihre eigene Interpretation der jeweils interessierenden Äußerung zugrunde legen“ (Kindt 1999, 71), sondern „es gilt den Nachweis zu führen, dass die im Verlauf der Analyse rekonstruierten Verfahrensweisen und Muster für die Beteiligten selbst real sind und dass die Beteiligten selbst sich an ihnen orientieren“ (Becker-Mrotzek/ Meier 1999, 24). Der Beleg für eine erfolgreiche Interpretation erfolgt anhand abweichender Fälle, die den Beteiligten des Chats als inadäquat auffallen. In dieser Funktion hat Kritik, die im Korpus in auffallender Häufigkeit festzustellen ist (Kap.-4.4., Abb.- 23), die Bedeutung, dass in Beschwerden und den Reaktionen darauf Eigen- und Fremdinterpretationen thematisiert werden, die sonst nicht nachweisbar sind. Da umfangreiche Äußerungen der Chat-Teilnehmer zur Bewertung anderer Beiträge meist nicht vorliegen, ist für viele Belege die beschriebene Vorgehensweise jedoch nicht oder nur eingeschränkt möglich. Zur Interpretation werden dann die Indizien aus der Analyse des Belegs verwendet und es wird, soweit möglich, auf die Reaktion des Gesprächspartners zurückgegriffen (Brünner/ Fiehler/ Kindt 1999b). Verfahren und Vorgehensweise In der angewandten Gesprächsforschung konzentriert sich das Erkenntnisinteresse auf das Verständnis von Gesprächsformen und von Gesprächen als ihren konkreten Ausprägungen. Dabei bilden „nicht individuelle Kommunikationsweisen, sondern überindividuelle, gesellschaftliche Formen und Strukturen von Kommunikation und Interaktion“ (Brünner 2009b, 153 f.) den Mittelpunkt. Es geht also um die systematische Erfassung der Strukturen, Regeln, Muster und Stile von Gesprächen. Die Gesprächsforschung analysiert und rekonstruiert die Art und Weise der interpersonalen Verständigung, die kommunikativen Aufgaben, die die Gesprächsteilnehmer dabei zu erfüllen haben, die eingesetzten sprachlichen Handlungsmuster bzw. sprachlichen Mittel und sie beschreibt und erklärt die Probleme, die in Gesprächen typischerweise auftreten. (Brünner 2009a, 52) Zur empirischen Analyse von Gesprächen haben sich die Sequenzanalyse, die Schemaanalyse und die Musteranalyse als Verfahren durchgesetzt. Die Verfahren sind jeweils nach der Gesprächseinheit bezeichnet, die den Ausgangspunkt der Analyse bildet. In einer „Ordnung der Kommunikation“ unterscheidet man „kommunikative Einheiten verschiedener Größe“, also mindestens Diskurse, Sprechhandlungssequenzen und kleinere Einheiten (Becker-Mrotzek/ Brünner 1992, 19). <?page no="150"?> 136 Empirischer Teil Die angewandte Gesprächsforschung beginnt bei den einzelnen Sequenzen als „gekoppelte, von verschiedenen Personen produzierte Äußerungen“ (Becker-Mrotzek/ Meier 1999, 25) und erschließt sich mittels der Sequenzanalyse größere Einheiten. Die Äußerungen einer Sequenz stehen zueinander in konditioneller Relevanz, d. h. einem inhaltlichen oder formalen Bedingungszusammenhang, so dass auch die Bezeichnung Paarsequenz verwendet wird. Die Sequenzanalyse beginnt in der Vorgehensweise mit dem Isolieren der einzelnen Sequenz und ihrer Zweckbestimmung, wobei der Zweck offen oder verdeckt verfolgt werden kann. Im vorliegenden Datenkorpus ist z. B. der verfolgte Zweck in den Äußerungen, die nach ihrem sprechakttheoretischen Handlungszusammenhang einem Vorwurf oder einer Kritik zuzuordnen sind, häufig verdeckt. Zur Bearbeitung des vorliegenden Datenkorpus wurden zunächst Einzelfallanalysen von Belegen vorgenommen, die offenkundig vielfach in ähnlicher Form auftraten. Die Einzelfallanalyse ist eine sequentielle Analyse, die dem linearen zeitlichen Ablauf und der Prozesshaftigkeit von Gesprächen Rechnung trägt. Ein Gespräch hat immer eine lineare Struktur, es entwickelt sich in der Zeit („Geschichte“). Die Redbeiträge (turns) und kommunikativen Handlungen sind geprägt durch die vorangegangenen Beiträge und Handlungen, sie beeinflussen ihrerseits die nachfolgenden. Die Analyse berücksichtigt dies, folgt dieser Entwicklung und zeichnet sie nach, indem sie - von vorn angefangen - Einheit für Einheit (turn-by-turn) alle Äußerungen durchgeht. (Brünner 2009a, 60) Aus der Zusammenschau der Gesamtheit der isolierten Sequenzen im Rahmen einer „systematischen Korpusanalyse“ (Brünner 2009a, 61 f.) lassen sich Muster erkennen. Die Mindestbedingungen, die zur Rekonstruktion eines Musters in minimalem Umfang notwendig sind, entsprechen den bedeutungsunterscheidenden Merkmalen des Musters. Anhand abweichender Fälle und deren im Vergleich zum Muster veränderten Wirkungen kann das Muster überprüft werden. In der Chat-Kommunikation sind die Beiträge einer Sequenz meistens verschränkt, da die Regeln des Turn-taking nicht gelten (Kap. 1.3.), so dass die Chat- Teilnehmer durcheinander chatten. Im vorliegenden Korpus sind ursprünglich verschränkte Sequenzen teilweise in der Darstellung am Bildschirm einander zugeordnet, was sich, wie in Kap.- 6.3.2.2. exemplarisch für den Gesprächstyp Befragung gezeigt wird, auf die Musterbildung sowohl hemmend als auch forcierend auswirken kann und auch das Schreibrecht (Kap.-1.3.) beeinflusst. Mit der Sequenzanalyse hat die Gesprächsforschung ein Instrument, die „verfestigten kommunikativen Verfahren“ in ihrer Struktur sichtbar zu machen und zur Bearbeitung „struktureller Probleme“ (Becker-Mrotzek/ Meier 1999, 25) zur Verfügung zu stellen. Im vorliegenden Datenkorpus lassen sich anhand kommunikativer Handlungen, die sich durch häufige Wiederholung manifestieren (Sprachhandlungen Kritik in Kap.-6.1.2. und Misstrauen äußern in Kap.-6.3.3.), die Versuche der Beteiligten darstellen, ihre individuelle Sicht auf die Wirklich- <?page no="151"?> Analyseschritte und methodische Verfahren 137 keit im Unternehmen zu äußern, indem sie ihre eigenen Interpretationen mit den tatsächlichen Ereignissen im Unternehmen vergleichen. Bei der Musteranalyse bilden sprachliche Handlungsformen, die als Muster erscheinen, den Ausgangspunkt der Analyse. Von der Großform ausgehend, wird eine Sprachhandlung zunächst in Sequenzen zerlegt, dann in kleinere Einheiten. Es folgen eine Zweckbestimmung, die Analyse mentaler Prozesse und die minimale Rekonstruktion des Musters anhand seiner unverzichtbaren Bestandteile, die durch die Musterprüfung verifiziert wird. Zur Untersuchung des vorliegenden Datenkorpus werden beide Verfahren, die Sequenzanalyse und die Musteranalyse, angewandt. Die Wahl des Verfahrens hängt im konkreten Einzelfall davon ab, ob der Erfahrungshintergrund bereits eine bestimmte Forschungsperspektive, ein Erkenntnisinteresse oder eine Problemstellung nahelegt, so dass ich die Musteranalyse als Herangehensweise gewählt habe. In anderen Fällen gehe ich mittels der Sequenzanalyse ohne feste Ergebnisvorstellung an das Material heran. Wenn ich mich teils von Erfahrungswerten leiten lasse und teils unvoreingenommen bin, liegt das daran, dass bestimmte Problemstellungen von vornherein offensichtlich gegeben waren, beispielsweise die Frage/ Antwort-Problematik oder die häufig auftretende Kritik. Andere Schwierigkeiten sind erst im Lauf der Untersuchung sichtbar geworden, beispielsweise die eingeschränkten Möglichkeiten für Nachfragen. Brünner beschreibt diese Vorgehensweise als zwei grundsätzliche Möglichkeiten der „Entwicklung von Fragestellungen“, wobei die Entwicklung von Fragen aus dem Datenmaterial und den darin beobachteten Auffälligkeiten und Besonderheiten heraus […] besonders in frühen Stadien des Erkenntnisprozesses notwendig ist und dem konkreten Datenmaterial gerecht zu werden erlaubt (Brünner 2009a, 58) vorab formulierte Fragen mit vorgegebenen Kategorien am Datenmaterial zu verfolgen […] setzt […] Kategorien der Untersuchung voraus und gehört deshalb systematisch in spätere Phasen des Forschungsprozesses. (ebd.) Die mittels Musterprüfung bestätigten Muster können weiter in Sequenzen, kommunikative Phasen 59 und Strukturen eingeteilt sowie nach ihren Wirkungen geordnet werden. Zu jedem Muster werden Beispiele gezeigt, an denen das Muster erläutert wird. Die Zusammenfassung mehrerer in ihrer Wirkung miteinander verbundener Muster als die kleinsten strukturellen Einheiten, die aus dem Sprachhandeln isoliert werden können, bildet einen Gesprächstyp. Der Begriff Gesprächstyp bezeichnet eine Struktur einer Sprachhandlung, die in ihren sprachlichen Funktionen definiert ist und in ihrer Komplexität mehr als ein Muster umfasst. Die Sprachhandlungen eines Gesprächstyps haben einen einheitlichen Zweck. Der 59 Die Phasendarstellung gibt als linguistische Strukturbeschreibung Aufschluss über das kommunikative Handeln der Beteiligten (Brons-Albert 1995). <?page no="152"?> 138 Empirischer Teil Gesprächstyp manifestiert sich in Fallbeispielen, die eine mögliche konkrete Ausprägung der Muster sind, die den Gesprächstyp konstituieren. Das Datenkorpus, das in diesem empirischen Teil der Arbeit untersucht wird, weist als eine generalisierende Kategorie eine Ausprägung des Gesprächstyps Befragung auf. Weitere sprachliche Handlungsformen dieses Umfangs sind im vorliegenden Datenkorpus aufgrund verschiedener Einflussfaktoren, die durch die technische Situation und die Organisation des Chats bedingt sind, nicht ausgebildet. Die größten kommunikativen Formen, die das Datenkorpus sonst aufweist, sind Sprachhandlungen, die ich, nach ihren Wirkungen geordnet, als Perspektiven übernehmen (Kap.- 5.5.2.), Kritik (Kap.- 6.1.2.), Misstrauen äußern (Kap.-6.3.3.) und Vorschlag (Kap.-6.4.) bezeichne. Die Vorgehensweise der Herausarbeitung von Mustern und Wirkungen erlaubt, Schwierigkeiten aufzuzeigen und „strukturelle Kommunikationsprobleme als Ausdruck gesellschaftlicher Widersprüche“ (Becker-Mrotzek/ Meier 1999, 37) zu beschreiben. Das betrifft im vorliegenden Datenkorpus im Wesentlichen Probleme, die ihre Ursache in den divergierenden Interessen der Chat-Teilnehmer haben. Im weiteren Vorgehen ist es neben dem Bereitstellen von Ergebnissen das Ziel, aus der Analyse gewonnene deskriptive Ergebnisse als Grundlage für entsprechende Handlungsempfehlungen abzuleiten (Kap.- 7.4.). Die Handlungsempfehlungen, die in der vorliegenden empirischen Untersuchung aus der Wirkungsanalyse hervorgehen, sind mehrheitlich Vorschläge zur Auflösung von Differenzen, die aus den Zielerwartungen des Unternehmens resultieren sowie dem Handlungsrahmen, der den Mitarbeitern zur Verfügung gestellt wird. Beispielsweise ist eine gemeinsame Verständigung nach der Umstrukturierung der Chats teilweise erschwert (Kap.- 4.2.1., Chat-Typ 2) und teilweise kaum mehr möglich (ebd., Chat-Typ 3). Eine entsprechende Modifizierung der Organisation könnte den wechselseitigen Austausch und eine gemeinsame Verständigung wiederherstellen. Die Rekonstruktion von Äußerungsinterpretationen beginnt mit der Konstruktion von Bedeutungen von Äußerungseinheiten. Diese setzen sich kompositorisch aus den Teilbedeutungen kleinerer Einheiten zusammen. Hinzu kommen Inferenzen, die die Beziehungen bezeichnen, in denen Äußerungen zueinander und im situativen Kontext stehen. Beispielsweise wird im vorliegenden Datenkorpus Kritik an der Unternehmensleitung von den Mitarbeitern meistens nicht explizit formuliert. Da die Schlussfolgerung, dass es sich um Kritik handelt, aber aufgrund der tatsächlichen Äußerungen der Mitarbeiter naheliegt, ist damit die Kritik eine Inferenz zur tatsächlich geäußerten Bedeutung, die sich häufig nur auf die Feststellung eines Missstands bezieht, ohne direkt Verantwortliche zu benennen (Kap.-6.1.2.). Aufgrund der spezifischen Kontextkonstitution in Unternehmen ist es möglich, bei Äußerungen, die wiederkehrenden Regeln folgen, von standardmäßigen Interpretationen auszugehen und übereinstimmende Regeln und Prinzipien der <?page no="153"?> Analyseschritte und methodische Verfahren 139 Interpretation anzunehmen, an denen sich die meisten Chat-Teilnehmer orientieren. Das Unternehmen schafft durch den gemeinsamen Wissenshintergrund und die vertraute Unternehmenskultur die situative Voraussetzung für eine standardmäßige Interpretation. Obwohl die Kontexte der Beteiligten innerhalb eines Unternehmens differieren, besteht doch ein gemeinsames Wissen darüber oder zumindest Kenntnis davon, welches Wissen andere Beteiligte haben. So haben beispielsweise die Mitarbeiter zumindest vage Kenntnisse davon, welches Wissen die Unternehmensleitung hat. Ein Beispiel dafür, wie die Unterschiedlichkeit der Wissensstrukturen der Interaktanten kommunikativ sichtbar wird, zeigt das Beispiel „Internetprodukte“, das in Kap.-6.3.1. analysiert ist. Darüber hinaus sind Verständigungssicherungsverfahren zwischen den Beteiligten zu beobachten, die für die Überprüfung von Bedeutungskonstruktionen herangezogen werden können. Eine neue Untersuchung zur Verständigungssicherung mit kommunikativen Verfahren legen Kindt/ Rittgeroth (2009) vor. Die prinzipiell divergierenden Interpretationen im Datenkorpus resultieren aus unterschiedlichem Hintergrundwissen aufgrund von Kontextdivergenz und teilweise auch daraus, dass die Mitarbeiter aufgrund unterschiedlicher Interessen ihre Handlungsabsichten und Ziele verdeckt äußern. Aus der Interpretation einer Äußerung heraus lässt sich dann weiter fragen, welche Handlung mit der Äußerung durchgeführt wird und in welche Handlungskategorie eine Äußerung eingestuft wird. Diese Methode der Handlungskategorisierung (Kindt 1999, 71) gibt Aufschluss über die Wirkungen, die durch Äußerungen erreicht werden. Weitere Zugangsmöglichkeiten Bei entsprechend modifizierter oder erweiterter Fragestellung würde das Material weitere Zugangsmöglichkeiten zulassen. Da das vorliegende Datenkorpus umfassend ist, wäre zusätzlich zu den ausgewählten quantitativen Aspekten, die in Kap.- 5 und Kap.- 6 dargestellt werden, eine umfängliche quantitative Untersuchung möglich. Geeignet ist die häufig auftretende Paarigkeit, insbesondere der Frage/ Antwort-Sequenzen und Beschwerde/ Rechtfertigungs-Sequenzen. Da noch immer Chats stattfinden, wäre es auch möglich, eine Langzeitstudie zu erarbeiten. Eine weitere Zugangsmöglichkeit, die theoretisch sinnvoll, aufgrund der Art des empirischen Materials aber auszuschließen ist, ist die Herstellung vergleichender Bezüge zu anderen kommunikativen Formen, die außerhalb des Chats im Unternehmensalltag verwendet werden. Auch wenn der größte Teil der Chat-Teilnehmer ihre Identität durch die Verwendung von Teilnehmernamen (Nicknames) verschleiert, lässt sich feststellen, inwieweit der Chat die Unternehmenswirklichkeit beeinflusst. Dazu müssten (anonyme) Interviews mit den Chat- Teilnehmern, inwieweit sie Informationen und Rat aus dem Chat anwenden konnten, durchgeführt und als ergänzendes Material hinzugezogen werden können. <?page no="154"?> 140 Empirischer Teil 4.4 Charakterisierender Überblick über die Daten In diesem Kapitel sollen im Vorfeld der Analyse des vorliegenden Datenkorpus in Kap.- 5 und Kap.- 6 die erhobenen Daten in einem charakterisierenden Überblick über die kommunikative Qualität vorgestellt werden. Dazu soll ein Überblick über die Interaktivität und die sprachlichen Handlungsformen im vorliegenden Datenkorpus gegeben werden. Die Interaktivität im vorliegenden Datenkorpus Das Maß der Interaktivität ergibt sich aus dem Anteil der Beiträge, die in Sequenzen eingebunden sind, und aus der Anzahl der Beiträge dieser Sequenzen. In den Chats des vorliegenden Datenkorpus ist die Interaktivität eher gering (Abb.-22). Die Chats der Chat-Typen 1 und 2 enthalten insgesamt 48.334 Beiträge, darin sind 5.130 Beiträge eingeschlossen, die asynchron nachgereichte Antworten der Unternehmensleitung enthalten. Die Beiträge mit asynchron nachgereichten Antworten werden mit betrachtet, da die Unternehmensleitung damit nur den sequentiellen Verpflichtungen nachkommt, die ihr im Verlauf des Chats aus den Handlungsmustern entstehen. Die Chats des Chat-Typs 3 sind aufgrund ihrer Organisation in der Übersicht in Abb.-22 wie auch in den folgenden qualitativen Analysen (Kap.- 5 und Kap.- 6) nicht berücksichtigt. Von den 48.334 Beiträgen der Chat-Typen 1 und 2 sind 45.107 Beiträge in Sequenzen eingebunden und 4.741 Beiträge gehören zu keiner Sequenz. Diese Beiträge enthalten Gesprächseröffnungen und Beendigungen, auf die kein anderer Chat-Teilnehmer reagiert hat, rhetorische Fragen, offene Fragen, die auch nicht nachträglich beantwortet wurden, oder homileische Kommunikation, die nicht unbedingt einer Antwort bedarf. Zwischen den Beiträgen innerhalb sowie außerhalb von Sequenzen und der Gesamtzahl aller Beiträge besteht eine durch Zählfehler bedingte Differenz von 1.514 Beiträgen, um die die Gesamtzahl der Beiträge überschritten wird. Dabei sind vermutlich die wesentlichen Fehlerquellen neben den durch das Zählen mit Strichliste bedingten Flüchtigkeitsfehlern vor allem die Bewertung der sequentiellen Zugehörigkeit von Gesprächseröffnungen sowie -beendigungen und Sequenzen, deren Beiträge innerhalb eines Mitschnitts weit verteilt sind. Die Gesamtzahl von rechnerisch 20.473 Sequenzen setzt sich aus den gezählten Sequenzen mit zwei bis 19 Beiträgen zusammen, wobei sich in der Betrachtung der Anzahl der Beiträge pro Sequenz ein ganz erheblicher Schwerpunkt der Sequenzen mit zwei Beiträgen feststellen lässt. Mit 18.427 Sequenzen machen aus zwei Beiträgen bestehende Sequenzen mit 90 % den bei weitem größten Anteil aller Sequenzen aus. Das ist zum einen eine Folge des hohen Anteils an Informationsfragen (Kap.-6.3.1.), mit denen die Mitarbeiter Informationen zu Ereignissen und Sachverhalten erfragen, die nicht weiter diskutiert werden müs - <?page no="155"?> Charakterisierender Überblick über die Daten 141 Abb.-22: Übersicht über die Verteilung der Beiträge in Sequenzen sen, und zum anderen durch die Chat-Organisation bedingt, die in den Chats des Chat-Typs 2 paarige Sequenzen begünstigt und zugleich weitere Nachfragen erschwert (Kap.- 4.2.1., Kap.- 4.2.3. und Kap.- 6.3.2.1.). Auch die Beobachtung, dass Mitarbeiter eine Sequenz, die sie eröffnet haben, nach dem Antwort-Beitrag der Unternehmensleitung nicht mehr weiterführen (Sprachhandlung Kritik in Kap.-6.1.2.2., Gesprächstyp Befragung in Kap.-6.3.1. und Sprachhandlung Misstrauen äußern in Kap.-6.3.3.), wird durch das Ergebnis unterstützt, dass die Zahl der Sequenzen mit mehr als zwei Beiträgen im Vergleich zur Gesamtzahl aller Sequenzen so gering ist. Dadurch kommen bereits drei und vier Beiträge umfassende Sequenzen, die durch Nachfragen (Gesprächstyp Befragung in Kap.- 6.3.1.), die interaktionale Umsetzung übernommener Perspektiven (Sprachhandlung Perspektiven übernehmen in Kap.-5.5.2.) und zwei aufeinanderfolgende Vorschläge eines Mitarbeiters (Sprachhandlung Vorschlag in Kap.-6.4.) zustande kommen, weit weniger häufig vor, während die Anzahl der Sequenzen mit mehr als vier Beiträgen mit 236 Sequenzen im Vergleich zur Gesamtzahl von 20.473 gezählten Sequenzen gering ist. Die fast doppelt so hohe Anzahl der <?page no="156"?> 142 Empirischer Teil Sequenzen mit vier Beiträgen (1.063) im Vergleich zu den Sequenzen mit drei Beiträgen (689) ist darauf zurückzuführen, dass die Mitarbeiter fast alle Sequenzen beginnen und mehr Sequenzen abbrechen als die Unternehmensleitung, so dass Sequenzen eher nach zwei Paaren (vier Beiträge) abbrechen, als dass das zweite Paar durch einen inhibiting move der Unternehmensleitung unvollständig bleibt. An Sequenzen mit mehr als vier Beiträgen sind in allen Fällen mehr als zwei Interaktanten, meistens mehrere Mitarbeiter beteiligt, die mit einem Mitglied der Unternehmensleitung chatten und die Sequenz enthält mehrere unterschiedliche Sprachhandlungen. Sequenzen mit mehr als 19 Beiträgen sind im vorliegenden Datenkorpus nicht enthalten. Die sprachlichen Handlungsformen Für die im Überblick charakterisierten Sequenzen des vorliegenden Datenkorpus lassen sich, wie sich in Kap.- 5 und Kap.- 6 zeigen wird, auf der Ebene der Handlungsstruktur fünf sprachliche Handlungsformen (Gesprächstyp Befragung, Sprachhandlungen Kritik, Misstrauen äußern, Vorschlag und Perspektiven übernehmen) darstellen. Diese leiten sich aus dem Sprachhandeln der Chat-Teilnehmer ab, mit dem sie Ereignisse des organisatorischen Wandels thematisieren, deren Auswirkungen die Mitarbeiter durch Veränderungen in ihrem beruflichen Umfeld, besonders der Arbeitsorganisation, betreffen. Für die Strukturbeschreibung der sprachlichen Handlungsformen wird in der folgenden Analyse die diskursanalytische Musterdarstellung verwendet und auf deren Grundlage die definitorische Abgrenzung der sprachlichen Handlungsformen zu anderen Sprachhandlungen vorgenommen. Um einen Überblick über die quantitative Verteilung der Ausprägungen der einzelnen sprachlichen Handlungsformen zu geben, werden für die quantitative Erhebung im Vorgriff auf die Analyse die Definitionen dieser sprachlichen Handlungsformen verwendet. Nach den in Abb.- 23 aufgeführten Definitionen sollen zunächst die fünf sprachlichen Handlungsformen als Kategorien gebildet und die Ergebnisse der quantitativen Auswertung als harte Zahlen angegeben werden. Die weitere Untergliederung der sprachlichen Handlungsformen in Varianten oder thematische Formen der sprachlichen Handlungsmuster, die in den entsprechenden Analysekapiteln vorgenommenen werden, sind im Vorgriff auf die Analyse in Kap.-5 und Kap.-6 mit weichen Zahlbegriffen beschrieben. Der Gesprächstyp Befragung (Kap.- 6.3.1.) ist mit 16.221 Ausprägungen die am häufigsten feststellbare kommunikative Großform im vorliegenden Datenkorpus. Davon sind etwa 90 % Frage/ Antwort-Sequenzen, die aus einem Paar bestehen, wobei fast alle Fragen von den Mitarbeitern gestellt werden. In etwa Dreiviertel der Fragen äußern die Mitarbeiter einen Informationsbedarf und etwa ein Drittel der Fragen weist kritische Implikationen auf. Einen kleinen Teil machen rhetorische oder ironische Fragen aus, die nur in einer ausführlichen <?page no="157"?> Charakterisierender Überblick über die Daten 143 Befragung Kap.-6.3.1. 16.221 Ausprägungen Def.: Unter dem Gesprächstyp Befragung fasse ich diese Diskurse im vorliegenden Datenkorpus zusammen, die aus mindestens einer Frage/ Antwort- Sequenz bestehen und den Zweck haben, dass Mitarbeiter direkt von der Unternehmensleitung, unter Umgehung der hierarchischen Informationskette im Unternehmen, Informationen und Erläuterungen zu Veränderungen im Unternehmen, besonders zu Ereignissen des Wandels einholen können. Kritik Kap.-6.1.2. 5.407 Ausprägungen Def.: Unter der kommunikativen Handlung Kritik verstehe ich die Kritik der Mitarbeiter an Entscheidungen der Unternehmensleitung, die in Konflikt mit den beruflichen oder persönlichen Interessen des Mitarbeiters stehen. Inhaltlich bezieht sich die Kritik bis auf wenige Ausnahmen auf Auswirkungen unternehmerischen Wandels. Misstrauen äußern Kap.-6.3.3. 1.095 Ausprägungen Def.: Zur kommunikativen Handlung Misstrauen äußern fasse ich diese Diskurse zusammen, die Äußerungen von Vermutungen der Mitarbeiter über die Gründe und Auswirkungen von Veränderungen im Unternehmen beinhalten, in denen die Mitarbeiter sowohl Interessendeckung als auch Interessendivergenz zwischen dem Interesse der Unternehmensleitung und ihren eigenen beruflichen Interessen in Betracht ziehen. Vorschlag Kap.-6.4. 836 Ausprägungen Def.: Als Sprachhandlung Vorschlag bezeichne ich Interaktionen der Mitarbeiter, die darauf abzielen, Handlungsabläufe im Unternehmen zu verändern, mit der Absicht, diese vor dem Hintergrund der eigenen Einstellungen und Perspektiven zu verbessern, wobei die Umsetzung gemeinsam vorgenommen werden soll und die Mitarbeiter nicht auf die Umsetzung der Verbesserung durch die Unternehmensleitung angewiesen sind. Perspektiven übernehmen Kap.-5.5.2. 28 Ausprägungen Def.: Als Sprachhandlung Perspektiven übernehmen bezeichne ich von den Mitarbeitern initiierte Sprachhandlungen, in denen sie infolge organisatorischen Wandels neu entstehende Handlungsmöglichkeiten thematisieren und in deren Verlauf kommunikativ sichtbar wird, dass die Mitarbeiter die Perspektive der Unternehmensleitung übernehmen. Abb.-23: Übersicht über die sprachlichen Handlungsformen im Datenkorpus Analyse aus dem Kontext heraus bemerkt werden können, soweit der Kontext überhaupt bekannt ist. Soweit Schwierigkeiten bei der Interpretation und der Zuordnung der Belege zu den sprachlichen Handlungsformen auftreten, sind diese darin begründet, dass zu der betreffenden Sprachhandlung nicht hinreichend aussagekräftiger Kontext zur Verfügung steht. So zeigt das Beispiel „Prio 1 Prozesse“ eine Frage, bei der allenfalls aus dem Kontext des Unternehmensalltags außerhalb des Chats beantwortet werden kann, ob es sich um eine tatsächliche Frage handelt oder um Kritik. <?page no="158"?> 144 Empirischer Teil Prio 1 Prozesse 35 MA Hallo, ich habe erfahren, dass die Prozess Owner für die Prio 1 Prozesse nun benannt sein sollen (Tolle Leistung nach ca. 2 Jahren für Prio 1! ! ! ). Ist das Richtig? 36 UL Die meisten Prozess Owner sind benannt. Die restlichen Abstimmungen erfolgen zur Zeit. Danach wird [Organisationseinheit] die Namen veröffentlichen. Der Mitarbeiter äußert sich anerkennend („Tolle Leistung“) über die Benennung der Verantwortlichen für Prozesse der obersten Verantwortlichkeitsstufe („Prozess Owner für die Prio 1 Prozesse nun benannt“) von der er Kenntnis bekommen hat („habe erfahren“) und möchte sich vergewissern, ob diese Information zutreffend ist („sein sollen“, „Ist das Richtig? “). Auf den ersten Blick scheint die Frage eine Ergänzungsfrage 60 zu sein. Dieser Eindruck entsteht durch die Informationen, die die Unternehmensleitung in ihrer Antwort weitergibt, indem sie noch einmal auf die vom Mitarbeiter thematisierten Maßnahmen („Prozess Owner sind benannt“, „restlichen Abstimmungen erfolgen“, „wird [Organisationseinheit] die Namen veröffentlichen“) und die zeitlichen Abläufe („sind benannt“, „erfolgen zur Zeit“, „Danach“) eingeht. Stellt man allerdings allgemeine Überlegungen dazu an, dass die Zeiträume, in denen Prozessverantwortliche üblicherweise benannt werden, von der Komplexität und der Dauerhaftigkeit der organisatorischen Struktur abhängen, wird die Mehrdeutigkeit des im Beispiel „Prio 1 Prozesse“ beschriebenen Sachverhalts offenkundig. Möglicherweise handelt es sich dann bei der Anerkennung um eine ironisierende Äußerung, da der Mitarbeiter sich eine kurzfristige Benennung der Verantwortlichen und eine dauerhafte organisatorische Struktur erhofft, was letztlich nur über den Kontext außerhalb des Chats festgestellt werden könnte. Mit 5.407 Ausprägungen ist die kommunikativen Handlung Kritik (Kap.-6.1.2.) die zweithäufigste kommunikative Großform im vorliegenden Datenkorpus, die in der Anzahl der Ausprägungen allerdings weit hinter dem Gesprächstyp Befragung zurückliegt. Kritik kommt in den meisten Fällen als negative Darstellung eines Sachverhalts vor und ist damit die kommunikative Großform, deren Ausprägungen am sichersten zu kategorisieren sind. Auch Kritik, die als Frage oder Vorschlag verdeckt ist, enthält in den meisten Fällen eine negative Darstellung eines Sachverhalts. Ein kleiner Teil der Kritik wird verdeckt als Frage, wie es im Beispiel „Prio 1 Prozesse“ nahe liegt, oder als Vorschlag geäußert, so dass keine eindeutige Einordnung der betreffenden Fälle in eine der Kategorien Kritik, Befragung oder Vorschlag möglich ist. Zur Erstellung der harten Zahlen habe ich mich bei der Einordnung eines Beitrags als Kritik daran orientiert, ob 60 Die im vorliegenden Datenkorpus auftretenden Fragetypen sind in Kap.- 6.3.1. dargestellt und begrifflich bestimmt. <?page no="159"?> Charakterisierender Überblick über die Daten 145 eine negative Darstellung eines Sachverhalts vorliegt oder aber zumindest die verdeckte Absicht aus dem Kontext erkennbar ist. Für die Sprachhandlung Misstrauen äußern (Kap.-6.3.3.) lassen sich im vorliegenden Datenkorpus 1.095 Ausprägungen feststellen. Die meisten Ausprägungen beziehen sich auf Misstrauen zu konkreten Sachverhalten, wobei für einen Sachverhalt immer eine positive und eine negative Interpretationsmöglichkeit geäußert werden. In einem kleinen Teil der Fälle sind die geäußerten Interpretationsmöglichkeiten im Vergleich zum Kontext, soweit er im Chat ersichtlich ist, wenig plausibel, so dass es sich wahrscheinlich, wie im Beispiel „Viele Fragen“, um ironische Kritik handelt. Für die Sprachhandlung Vorschlag (Kap.- 6.4.) finden sich im vorliegenden Datenkorpus 836 Belege, wobei entsprechend der definitorischen Abgrenzung nur diese Ausprägungen mitgezählt sind, in denen ein Vorschlag direkt geäußert wird oder zumindest aus dem Kontext heraus eindeutig identifizierbar ist. Dabei machen innovative Vorschläge (thematische Form 1, Kap.-6.4.) etwa zwei Drittel und Vorschläge zur Bewahrung bestehender Strukturen des Unternehmens (thematische Form 2, ebd.) etwa ein Drittel der Ausprägungen aus. Äußerungen, die von einem Interaktant möglicherweise als Vorschläge intendiert, aber mit Kritik vermischt sind, so dass der Vorschlag erst bei der Mitbetrachtung des Kontexts erkennbar wird, und mit Kritik vermischte unrealistische Vorschläge habe ich der kommunikativen Handlung Kritik zugeordnet. In diesen Fällen gehe ich davon aus, dass der Mitarbeiter die Alternative, die er zu seiner Kritik nennt, wie angenommen nur anführt, um die Berechtigung seiner Kritik zu unterstreichen und somit die Alternative nur als theoretisch anzustrebende Idealvorstellung ansieht. Es ist aber nicht auszuschließen, dass der Mitarbeiter die Alternative für umsetzbar hält und es sich um einen Vorschlag handelt. Callcenter 29 MA Eine Woche Callcenter würde den Herren und Damen in den Führungsetagen gut tun. Denn dann könnten Sie sehen, wie fähige Mitarbeiter/ Beamte verheizt werden durch Urlaubspläne die schon ein Jahr vorher zwecks Planung einzureichen sind, tägl. wechselnde Dienste, keine Aufstiegsmöglichkeiten/ Beförderungen und ständig einem Wechsel/ Veränderungen ausgesetzt. 30 V Hallo [MA], auch mir ist klar, dass ein CallCenter-Arbeitsplatz für eine qulaifizierte Nachwuchskraft kein Lottogewinn ist. Wir müssen allerdings auch sehen, dass Beschäftigungsmöglichkeiten sehr begrenzt sind und deshalb müssen auch diese Arbeitsmöglichkeiten einbeziehen. <?page no="160"?> 146 Empirischer Teil Der Mitarbeiter äußert eine Kritik, indem er sich über die Arbeitsbedingungen im Tätigkeitsgebiet Callcenter beschwert („Urlaubspläne die schon ein Jahr vorher zwecks Planung einzureichen sind, tägl. wechselnde Dienste, keine Aufstiegsmöglichkeiten/ Beförderungen und ständig einem Wechsel/ Veränderungen ausgesetzt“) und der Unternehmensleitung vorwirft, den Mitarbeitern in Callcentern Aufgaben zuzuweisen, die unter deren Qualifikationsniveau liegen („fähige Mitarbeiter/ Beamte“), wobei er dafür eine in der Arbeitswelt gebräuchliche Metapher verwendet („verheizt“), um den Vorwurf zu verstärken. Die Unterscheidung in Mitarbeiter und Beamte weist noch zusätzlich auf das Statusbewusstsein des Mitarbeiters hin. Im Kontext dieses Beitrags entsteht der Eindruck, der vorausgeschickte Vorschlag, dass die Unternehmensleitung eine Woche im Callcenter arbeiten soll („Eine Woche Callcenter würde den Herren und Damen in den Führungsetagen gut tun.“), sei ironisch gemeint und solle die Kritik des Mitarbeiters unterstreichen. Auch der antwortende Vorstand interpretiert den Beitrag des Mitarbeiters ausschließlich als Kritik und rechtfertigt sich, nachdem er dem Mitarbeiter zugestimmt hat, für sein Handeln. Ein Hinweis darauf, dass es sich bei dem Beitrag des Mitarbeiters möglicherweise doch um einen aus Kritik resultierenden ernsthaften Vorschlag handeln könnte, findet sich im Beispiel „Erfahrungen“ (Kap.- 6.2.1.1.), in dem ein Vorstand auf seine eigenen praktischen Erfahrungen im Callcenter verweist. Zudem arbeitete der frühere Vorstandsvorsitzende Kai-Uwe Ricke zu Beginn seiner Amtszeit einige Zeit im T-Punkt-Laden (Deekeling/ Arndt 2006, 80), so dass der Mitarbeiter möglicherweise darauf anspielt und dem Vorstand, an den er seinen Beitrag adressiert, ebenfalls einen Arbeitseinsatz im Kundenservice des Unternehmens vorschlägt. Letztendlich sind Beispiele wie „Callcenter“ in der quantitativen Erhebung der sprachlichen Handlungsformen der kommunikativen Handlung Kritik zugerechnet, da zusätzlich zur thematisierten Kritik ein Vorschlag möglicherweise intendiert ist, aber eine Sprachhandlung Vorschlag im Chat nicht sichtbar wird. Mit nur 28 Ausprägungen tritt die Sprachhandlung Perspektiven übernehmen (Kap.-5.5.2.) im vorliegenden Datenkorpus nur sehr selten auf. Möglicherweise enthält das Datenkorpus weitere Ausprägungen, die nicht erkannt wurden, denn die Übernahme von Perspektiven erweist sich als Vorgang, der sich in mehrere kommunikative Phasen aufteilt, die in den Belegen im Chat nur ausschnitthaft kommunikativ sichtbar werden. <?page no="161"?> 5 Die Vermittlung des Unternehmensbilds im Chat In der Chat-Kommunikation zwischen der Unternehmensleitung und den Mitarbeitern thematisieren die Beteiligten ihre Wahrnehmung des Unternehmens und formen ihr Bild vom Unternehmen. Die Mitarbeiter äußern ihre Einstellungen zu Ereignissen des Wandels und auch Reaktionen darauf, die sonst nicht manifest werden, sondern eher der mündlichen homileischen Kommunikation am Arbeitsplatz vorbehalten sind. Damit wird durch die Chats eine Situation hergestellt, in der organisatorischer Wandel mikrostrukturell im Diskurs sichtbar wird. Mit dem Zusammenrücken von Hierarchie, Raum und Zeit im Chat treffen Chat-Teilnehmer mit unterschiedlichen Wahrnehmungen, Einstellungen, Interessen und Perspektiven aufeinander. In einer quantitativen Analyse stellt Hoffmann fest, dass die Hälfte der Befragten glaubt, das Intranet hebe Kommunikationsbarrieren auf (Hoffmann 2001, 251). Der Einfluss der Hierarchie wird zurückgedrängt und das Zusammentreffen verschiedener Hierarchieebenen führt bei den Mitarbeitern zu dem Anspruch, die eigene Rolle neu auszuhandeln und interaktionale Dominanz auszuüben. In der räumlichen Dimension ergibt sich ein doppelter Effekt des Zusammenrückens. Die weitläufige Verteilung der Mitarbeiter an unterschiedlichen Standorten des Unternehmens nimmt besonders durch die Internationalisierung zu (Hoffmann 2001, 168). Gleichzeitig scheint der Chat einen gemeinsamen virtuellen Raum zur Verfügung zu stellen, den Beißwenger innerhalb seiner „‚Phänomenologie‘ des Chat-Raums“ (Beißwenger 2002, 106) beschreibt, als durch die Metapher des Chat->Raums< suggerierte Annahme des Gegebenseins des gemeinsamen Kommunikations- und Aufmerksamkeitsraums als einer topologischen Gestalt, die imaginativ in Analogie zu aus der Alltagswelt bekannten Wahrnehmungsräumen konstituiert werden kann. (Beißwenger 2002, 105) Zudem hat der Faktor Zeit Bedeutung, da die Mitarbeiter durch die zeitlich nahezu synchrone Verteilung von Information im Vergleich zur Asynchronität bei sonstigen im Rahmen der Mitarbeiterkommunikation weit zu streuenden Informationen einen zeitlichen Informationsvorsprung haben. Der Umgang mit Veränderungen, besonders mit Ereignissen des Wandels, ist bei den Mitarbeitern dadurch geprägt, dass, wie in Kap.- 3.2.1. dargestellt, die Umbrüche zwischen Unternehmensstrukturen oder zwischen verschiedenen zeitlich getrennten Ausformungen einer Struktur häufiger thematisiert werden als neu entstandene Strukturen. Entsprechend kommt, wie in Kap.- 6.1.2. gezeigt wird, die Sprachhandlung Kritik (Kap.-6.1.2.), in der die unterschiedlichen Einstellungen, Interessen und die Perspektiven auf die eigene Rolle und die Rollen anderer zum Ausdruck kommt, häufiger vor als die Sprachhandlung Vorschlag (Kap.-6.4.), die eine Auseinandersetzung mit neuen Organisationsformen erfordert. <?page no="162"?> 148 Die Vermittlung des Unternehmensbilds im Chat Deshalb soll in diesem Kapitel dargestellt werden, wie die Wahrnehmung verschiedener Organisationsformen durch die Mitarbeiter im Chat kommunikativ sichtbar wird (Kap.-5.1.) und wie sie die wahrgenommene Unternehmenswirklichkeit und die Ereignisse organisatorischen Wandels interpretieren (Kap.-5.2.). In diesem Zusammenhang soll herausgestellt werden, welchen Einfluss die eigene hierarchische und arbeitsteilige Positionierung der Chat-Teilnehmer auf die Wahrnehmung und Interpretation der Ereignisse hat (Kap.-5.3.). Als Exkurs soll der Einfluss politischer und rechtlicher Rahmenbedingungen auf den Diskurs im Chat und die Thematisierung von Wahrnehmungen und Interpretationen betrachtet werden (Kap.-5.4.). Anschließend an die Darstellung der kommunikativ feststellbaren Wahrnehmungen der Mitarbeiter, wie sie die Organisation wahrnehmen und wie sie sich selbst darin sehen, wie Mitarbeiter den Wandel wahrnehmen und darauf reagieren, wird die Vermittlung von Wahrnehmungen im Chat betrachtet (Kap.- 5.5.) und die Sprachhandlung Perspektiven übernehmen vorgestellt (Kap.-5.5.2.). 5.1 Wahrnehmung von Organisationsformen im Chat In diesem Kapitel wird an einem komplexen Beispiel ausführlich analysiert, wie die Mitarbeiter Organisationsformen im Unternehmen wahrnehmen (Kap.- 5.1.1.). Im Anschluss daran folgt eine systematische Darstellung der Formen, in denen die Mitarbeiter das Unternehmen, die Veränderung seiner Organisationsstrukturen und die Ereignisse des Wandels wahrnehmen (Kap.-5.1.2.). 5.1.1 Ein Beispiel für Wahrnehmung der Organisation: „Eine der schwersten Fragen“ Explizit wird die Wahrnehmung der Organisation oder des Wandels nur in wenigen Belegen des Datenkorpus thematisiert. Meist lassen sich symptomatische Äußerungen dazu aus dem Diskurs entnehmen, besonders in den längeren Sequenzen mit zumindest mehr als zwei Beiträgen. Im Folgenden sollen das Beispiel „Eine der schwersten Fragen“ 61 als komplexe Sequenz analysiert und daraus interaktionsmusterspezifische Handlungsbedingungen rekonstruiert werden. 61 Aus Platzgründen ist es nicht sinnvoll, alle Beispiele mit derart viel Kontext wiederzugeben. Deshalb verwende ich das Beispiel „Eine der schwersten Fragen“ auch in den folgenden Kapiteln des empirischen Teils und verweise bezüglich des Gesamtzusammenhangs auf dieses Kapitel. Wo erforderlich und möglich, beziehe ich mich exemplarisch auf diesen längeren Gesprächsstrang, damit die Betrachtung einzelner Aspekte im Kontext erfolgen kann. <?page no="163"?> Wahrnehmung von Organisationsformen im Chat 149 Eine der schwersten Fragen 7 MA Thema national. Herr [Vorstand] sieht es ihr Terminkalender dieses Jahr vor, die lokalen Rechenzentren zu besichtigen, z. B. [Ort]/ Hamburg ? 8 V Eine der schwersten Fragen. Komme gerne nach Hamburg (meine Frau ist Hamburgerin). Werde Frau [Sekretärin] bitten, sich dieser Frage positiv zu widmen. 33 MA Welchen Wahrheitsgrad hat das Gerücht, EDS würde Anteile der [Unternehmenssparte] übernehmen? 34 UL An dem Gerücht ist überhaupt nichts dran. EDS hätte natürlich gern eine [Unternehmenssparte] in ihrem Portfolio. Es bestehen jedoch keinerlei Überlegungen oder Pläne in dieser Richtung. Die [Unternehmenssparte] ist eine wesentliche strategische Waffe der Deutschen Telekom für die Wettbewerbssicherung. Dies wird auch von Herrn [Vorstandsvorsitzender] immer wieder herausgestellt. 43 MA Beitrag 32: Gerade in der [Organisationseinheit] haben die MA die Motivation und Interesse am Unternehmen; manchmal vermissen viele Kollegen und ich eine klare transparente Führung oder sind wir einfach zu groß? 44 V Könnten Sie bitte Ihre Frage ein bisschen präzisieren? Was fehlt Ihnen? Gesamtsicht, Gesamtstrategie? 125 MA Hr. [Vorstand], ich mag noch mal ergänzen - der Eindruck zum Führungsstil bezog sich auf das Middle Management nicht die Top Ebene! 126 V Kann ich gut verstehen. Das leidige Thema, dass manche Kolleg(inn)en Angst vor Veränderungen haben, weil ihr Verantwortungsbereich kleiner werden könnte. Ich verstehe das zwar menschlich, habe aber selber nie danach gehandelt; es ging mir nicht schlecht dabei. Hier hilft bei dauerhafter Verweigerung nur das Mail an Top-Management, im negativsten Fall auch anonym (aber sachlich). 137 MA Hr. [Vorstand] und ich glaube die Top Ebene braucht hin und wieder Feedback von inz. Mitarbeiter über seine Führung? ! Die Basis (zufriedene u. motivierte Mitarbeiter) ist doch die Zukunft, oder wie sehen Sie das? 138 V 100 % richtig. Daher mache ich einmal pro Monat Sitzung mit Newcomern, Abschlussdiskussionen bei Seminaren und gehe auch zu Einheiten, die mich direkt einladen. Letzteres könnte auch mehr sein. 151 MA Hr. [Vorstand], deswegen ‚sehne‘ ich mich nach einem Gespräch mit Ihnen in [Ort] (meinethalben mit Hr. [Vorgesetzter]) : <?page no="164"?> 150 Die Vermittlung des Unternehmensbilds im Chat 152 V Wie gesagt: Anfordern über Frau [Sekretärin]. Möglichst gute Inhalte angeben, damit ich auch vorbereitet komme und richtigen Kreis zusammenstellen. [Ort] lockt. 177 MA Vielen Dank für die Diskussion Hr. [Vorstand], ich werde Frau [Sekretärin] eine Mail schreiben, muss wieder schaffen gehen. 178 V Frohes Schaffen und schönes Wochenende. Das Beispiel „Eine der schwersten Fragen“ gibt eine Sequenz zwischen einer Mitarbeiterin, einem Vorstand und einem weiteren Mitglied der Unternehmensleitung wieder. Aufgrund der Zugehörigkeit zum Unternehmen und dem partiell gemeinsamen Unternehmensalltag haben die Interaktanten hinsichtlich vieler Informationen ein gemeinsames Hintergrundwissen über die Belange des Unternehmens, auf das sie sich beziehen. Der nur verdeckt thematisierte Gegenstand des Gesprächs ist die Beschäftigungsentwicklung in der Folge des organisatorischen Wandels im Unternehmen. Das wird von den Interaktanten mehrfach anhand konkreter Einzelaspekte thematisiert, nämlich die Sorge der mittleren Führungsebene um ihren möglichen Bedeutungsverlust („dass manche Kolleg(inn)en Angst vor Veränderungen haben, weil ihr Verantwortungsbereich kleiner werden könnte“) und die Sorge der Mitarbeiter um den Arbeitsplatz wegen Übernahmegerüchten, die Entlassungen nach sich ziehen könnten (Beitrag 33). Andererseits werden auch mehrere Belege angeführt, dass negative Folgen durch den Wandel nicht zu erwarten sind und der Wandel sogar Chancen für die Mitarbeiter mit sich bringt („Wettbewerbssicherung“, „Sitzung mit Newcomern, Abschlussdiskussionen bei Seminaren und gehe auch zu Einheiten, die mich direkt einladen“). Zur Einschätzung der Beschäftigungsentwicklung an ihrem Standort fehlen der Mitarbeiterin Informationen, die sie von ihrem Vorgesetzten offensichtlich nicht erhalten hat, so dass das Verhalten des Vorgesetzten für die Mitarbeiterin einen Handlungswiderstand darstellt. Das Anliegen der Mitarbeiterin als interaktiv zu bearbeitender Handlungswiderstand (Becker-Mrotzek/ Brünner 2007, 665) ist, bessere Informationen über die zukünftige Entwicklung der Beschäftigungssituation an dem Standort, an dem sie arbeitet, zu erhalten, weshalb sie im Diskurs mit dem Vorstand eine Anliegensklärung anstrebt. Die Formulierung eines Anliegens durch denjenigen, der das Anliegen hat, und seine interaktive Explorierung durch denjenigen, an den es sich richtet, fassen wir unter dem Begriff Anliegensklärung zusammen. An die Anliegensklärung schließt sich […] die Anliegensbearbeitung oder aber die Abweisung des Anliegens an. (Becker-Mrotzek/ Brünner 2007, 665) Die fehlenden Informationen bewirken, dass die Mitarbeiterin im Fall einer unsicheren Beschäftigungssituation keine Handlungen planen kann, so dass sie <?page no="165"?> Wahrnehmung von Organisationsformen im Chat 151 sich an den Vorstand wendet, um die benötigten Informationen zu erhalten. Becker-Mrotzek/ Brünner geben Gesprächssituationen dieser Art als typische Grundkonstellation für die Struktur einer Anliegensklärung an (Becker-Mrotzek/ Brünner 2007, 667). Die Mitarbeiterin hebt, offenbar in einer Rolle als Meinungsführerin, stellvertretend für weitere Mitarbeiter die Bedeutung der Mitarbeiter für das Unternehmen hervor („Die Basis ist die Zukunft“) und wird darin vom Vorstand bestätigt („100 % richtig“). Möglicherweise nimmt der Vorstand an dieser Stelle noch an, die Mitarbeiterin versuche vorrangig Aufmerksamkeit und eine Würdigung ihrer Leistungen zu erreichen, um sich ein höheres Renommee zu verschaffen (Beck 2001, 28 f.). Dann hätte der Chat für sie die kommunikative Funktion, „öffentliche Beachtung“ vor einem „Präsenzpublikum“, den anderen Mitarbeitern, und einem „dispersen Massenpublikum“, den Chat-Teilnehmern, zu erhalten (ebd., 30). Auch indem die Mitarbeiterin ihr Anliegen im Namen weiterer Mitarbeiter vorbringt, erhält sie vom Vorstand Aufmerksamkeit, die „sich vor den Augen Dritter einsetzen lässt: Man verweist auf die Aufmerksamkeit, die einem zuteil wird, um noch mehr Aufmerksamkeit einzunehmen“ (ebd., 30). Der Vorstand weist auf die Chancen des Wandels hin („es ging mir nicht schlecht dabei“) und die Möglichkeit negativer Auswirkungen des Wandels wird auch von einem Mitglied der Unternehmensleitung zurückgewiesen („An dem Gerücht ist überhaupt nichts dran“). Klöfer/ Nies beschreiben das Interesse der Mitarbeiter an den Gesamtzusammenhängen im Unternehmen als „Daseinsbewältigung“. Für den einzelnen Mitarbeiter erscheint eine Kommunikation über betriebswirtschaftliche Fragen am Beispiel des eigenen Unternehmens unabdingbar als ein Stück Daseinsbewältigung. [...] Er will sich selbst ein Bild machen, wie es um sein Unternehmen steht, [...] und es interessiert ihn, wie es weitergeht, wie er die Sicherheit und die Beschaffenheit samt den qualitativen Anforderungen seines Arbeitsplatzes für die Zukunft einschätzen kann. (Klöfer/ Nies 2003, 32) Im Beispiel „Eine der schwersten Fragen“ zielt das Interesse der Mitarbeiterin darüber hinaus auf die konkrete Lösung von Schwierigkeiten, denen sie aktuell im Unternehmensalltag außerhalb des Chats gegenübersteht. Die Mitarbeiterin hat Bedenken, dass das Unternehmenssegment, in dem sie beschäftigt ist, verkauft wird, die Arbeitsbedingungen sich verschlechtern und die Anzahl der Arbeitsplätze verringert wird. Um diese Befürchtung bestätigt oder widerlegt zu bekommen, stellt die Mitarbeiterin dem Vorstand eine Frage nach dem Verkauf von Unternehmensteilen (Beitrag 33). Nachdem sich ihre Bedenken als gegenstandslos herausgestellt haben, scheint sie die ursprüngliche Fehlinformation auf ihren Vorgesetzten zurückzuführen. Sie übt Kritik am Führungsstil der leitenden Angestellten und führt als Problemexplikation den intransparenten Führungsstil ihres Vorgesetzten an, aus dem ihre Sorge wegen Verlust des Arbeitsplatzes entstanden ist. Der Vorstand kritisiert ebenfalls den von der Mitar- <?page no="166"?> 152 Die Vermittlung des Unternehmensbilds im Chat beiterin beschriebenen Führungsstil, gibt einen Ratschlag zur Problemlösung und weist auf seinen eigenen Umgang mit dem Problem hin (Beitrag 126). Es fällt auf, dass beide Interaktanten sich gegenseitig bestätigen und mögliche Konflikte, wie z. B. die Führungsqualität im Unternehmen oder die Bewertung der Leistung der Mitarbeiter, schon so früh vermeiden, dass es nicht einmal zu einer Argumentation kommt (Beiträge 34 und 125). 62 Tatsächlich sprechen die Beteiligten über die reibungslose Weitergabe von Informationen innerhalb des Unternehmens über die Hierarchie hinweg sowie über den Führungsstil des Vorgesetzten und sind sich schließlich zu Lasten des abwesenden Vorgesetzten der Mitarbeiterin darüber einig, dass Mitarbeiter von ihren Vorgesetzten umfassend informiert werden sollen. Hoffmann weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es mit der computervermittelten Kommunikation leichter möglich ist, Hierarchieebenen zu überspringen, Machtbeziehungen durch weniger Statuseinflüsse zu verändern und demokratischere Partizipationsbedingungen einzuführen. (Hoffmann 2001, 137) Daraus entstehen auch Folgen für den Unternehmensalltag außerhalb des Chats. Die Einführung eines Intranets kann schließlich Auswirkungen auf die Struktur einer Organisation haben, etwa die Auflösung von Hierarchien, die Veränderung von Entscheidungskompetenzen (Hoffmann 2001, 137) So ist die Beeinflussung der vertikal-hierarchischen Verbreitung von Informationen von oben nach unten eine der wesentlichen Auswirkungen der zwischen den Mitarbeitern und der Unternehmensleitung stattfindenden Chat-Kommunikation auf das Unternehmen (Kap.-6.5.). Die Informationsübertragung im Unternehmen von der Unternehmensleitung zu allen Mitarbeitern bezeichne ich im Weiteren als vertikale Informationsdurchlässigkeit. Die Mitarbeiterin stellt im Gespräch mit der Unternehmensleitung fest, dass ihre bisherigen Informationen zur Unternehmensstrategie unzutreffend sind. Anschließend übt sie Kritik an den mittleren Führungsebenen und indirekt an ihrem Vorgesetzten, da sie offenbar nicht darauf vertraut, von ihm hinreichend über die weitere Entwicklung des Unternehmens informiert zu werden. Der Wunsch nach vertikaler Informationsdurchlässigkeit entspringt folglich dem Bedürfnis nach direkter Information von der Unternehmensleitung aufgrund der subjektiven Wahrnehmung, Informationen nur entsprechend der Eigeninteressen ihres Vorgesetzten modifiziert übermittelt zu bekommen. Die unzureichende Informationsvermittlung an die Mitarbeiter ist 62 Für die Bestimmung der Struktur des Argumentierens verwende ich die strukturelle Beschreibung von Spranz-Fogasy 2003, 32 f., nach der die Abfolge der Sprachhandlungen Auslösehandlung, Dissensmarkierungsbzw. Problematisierungshandlung, Darlegungshandlung, Akzeptanz und Ratifikation kennzeichnend für die interne Struktur des Argumentierens ist. <?page no="167"?> Wahrnehmung von Organisationsformen im Chat 153 in Situationen des Wandels durch die eigene Unsicherheit der Vorgesetzten bedingt. In Umbruchsituationen sind die Vorgesetzten meist selbst verunsichert, haben keine klare Perspektive für sich und für das Unternehmen und unterliegen häufig Loyalitätskonflikten. Das heißt sie nehmen ihre Kommunikatoren- und Multiplikatorenrolle im Sinne der Unternehmensentwicklung nur mit Einschränkungen-- richtig - wahr. (Schick 2002, 124) Konkreter Gegenstand, über den die Mitarbeiterin im Beispiel „Eine der schwersten Fragen“ Informationen einholt, ist zunächst ein Gerücht über den Verkauf von Unternehmensteilen und damit verbundenem Beschäftigungsabbau oder Ausgliederung von Mitarbeitern. Das Gerücht wird von einem Mitglied der Unternehmensleitung als Fehlinformation herausgestellt (Beitrag 34), verstärkt durch das Verweisen auf den Vorstandsvorsitzenden als Autorität. Die Interaktanten sehen in der Verbreitung dieser Fehlinformation ein Problem, das aber unterschiedlich bewertet und auf unterschiedliche Ursachen zurückgeführt wird. Konsens besteht hinsichtlich des Verhaltens der mittleren Führungsebenen, die als verursachender Personenkreis ausgemacht werden. Der Vorstand sieht die Ursachen in deren Versuchen zur Einflusssicherung (Beitrag 126), die Mitarbeiterin in einem unzureichend klaren und transparenten Führungsstil. Konsens besteht ebenso darüber, dass Handlungsbedarf besteht. Es werden allerdings unterschiedliche Maßnahmen als geeignet angesehen, eine Lösung des Problems herbeizuführen. Aus der Sicht des Vorstands sind generelle Maßnahmen notwendig (Beitrag 138), dennoch bietet er Einzelfallhilfe an, sowohl individuell für die Mitarbeiterin (Beiträge 126 und 152) als auch allgemein für alle Chat-Teilnehmer (Beitrag 138). Dagegen strebt die Mitarbeiterin ausschließlich die Einzelfallhilfe an (Beiträge 7, 151 und 177). Offen bleibt, ob sie generelle Maßnahmen ausschließt oder bereits erfolglos in Anspruch genommen hat. Die Wahrnehmungen der Mitarbeiterin und des Vorstands, die sich aus der Kommunikation entnehmen lassen, sind nur teilweise divergent. Gemeinsam ist die Wahrnehmung, dass keine ausreichende Informationsdurchlässigkeit gegeben ist. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass der Vorstand aus dem Einzelfall ein prinzipielles Vorgehen abzuleiten versucht und immer die Belange aller Mitarbeiter mit thematisiert (Beiträge 126 und 138). Dagegen äußert sich die Mitarbeiterin nur einmal im Namen zumindest mehrerer Mitarbeiter, sonst aber nur aus ihrer eigenen Sicht. Das Beispiel „Eine der schwersten Fragen“ wird im weiteren Verlauf unter folgenden Aspekten untersucht: Macht-Display (Kap.- 6.1.3.), Gesprächstyp Befragung mit interaktionalen Mustern (Kap.- 6.3.1.), Thematisierung (Kap.-5.3.1.2. und 6.3.2.3.), Authentizität (Kap.-6.3.3.), Platzieren von Informationen (Kap.-6.3.2.) und Zusammenhänge von Selbstorganisation und Einfluss der Mitarbeiter auf den Wandel (Kap.-6.5.) <?page no="168"?> 154 Die Vermittlung des Unternehmensbilds im Chat 5.1.2 Wahrnehmungen organisatorischer Prozesse durch die Chat-Teilnehmer Erfahrungen bilden sich aus Wahrnehmungen im sozialen Umfeld und sie verfestigen sich, wenn sie bestätigt werden. Die Mitarbeiter sind auf die Bestätigung oder Korrektur ihrer Wahrnehmungen angewiesen, da sie sich in strukturellen Umbrüchen fortwährend neu orientieren und integrieren müssen. Der gestalterische Einfluss in ihrem beruflichen Aufgabenbereich ist nachrangig hinter der Notwendigkeit, arbeitsbezogenen Vorgaben zu folgen. Insofern ist eine ständige Anpassung an neue Zielvorgaben des Unternehmens notwendig, die sich in Nachfragen der Mitarbeiter nach Informationen und zukünftigen Strukturen ausdrückt. In der Chat-Kommunikation mit der Unternehmensleitung verglichen die Mitarbeiter, wie sich im Folgenden herausstellen wird, bestehende und neue Strukturen im Unternehmen, wobei sie die strukturellen Umbruchstellen häufiger thematisieren als die Strukturen selbst (Abb. 24). Abb.-24: Wahrnehmung und Thematisierung der Organisationsstrukturen Vielfach verwenden die Mitarbeiter die Chat-Kommunikation zur Beschaffung von Informationen. Wie im Beispiel „Organigramm“ steht dabei Kommunikation im Vordergrund, die auf den Transport von Informationen reduziert ist. Organigramm 430 MA bekommen wir morgen Organigramme zu sehen? Der Mitarbeiter ist bestrebt, neue Strukturen („Organigramme“) zur Kenntnis zu nehmen und sich damit zu befassen. Möglicherweise hat er die Absicht, aus <?page no="169"?> Wahrnehmung von Organisationsformen im Chat 155 den Organigrammen seine eigene Positionierung im Unternehmen und mögliche zukünftige Veränderungen seiner Position abzulesen, um seine eigene Wahrnehmung mit der Darstellung des Unternehmens abzugleichen. Häufig werden auch, wie im Beispiel „Sprachregelung“, Verhaltensregeln explizit thematisiert. Sprachregelung 276 MA Was bedeuten die Strukturänderungen für unseren Auftritt auf der CeBIT? Gibt es Sprachregelungen? Der Mitarbeiter versucht eine angemessene sprachliche Umsetzung für die Strukturänderungen zu finden, die er beobachtet. Er erkundigt sich, vermutlich im Hinblick auf die Gespräche mit Kunden während einer Messeveranstaltung („Auftritt auf der CeBIT“) mit einer Ergänzungsfrage danach, ob die Unternehmensleitung zu den geplanten Strukturänderungen bestimmte Einstellungsäußerungen als Leitlinie vorgibt („Gibt es Sprachregelungen? “). Das impliziert, dass er Zusammenhänge sowohl zwischen den Strukturänderungen und deren praktischer Umsetzung, hier während eines Messeauftritts („unseren Auftritt auf der CeBIT“), als auch zwischen Strukturänderungen und Sprachregelungen wahrnimmt. Die Sprachregelung wird von der Strukturänderung als Handlung getrennt betrachtet. Dagegen lässt sich nicht eindeutig feststellen, ob damit auch explizit die eigentliche Handlung von der Sprachhandlung als Interpretation dieser Handlung bedeutungsunterscheidend betrachtet wird. Die Wahrnehmung von Umstrukturierungen manifestiert sich häufig darin, dass die Mitarbeiter bestehende oder neue Strukturen thematisieren. Fragen nach Strukturen sind darin begründet, dass die Mitarbeiter in strukturellen Umbrüchen ihre eigene Position und die Art der Veränderung ihres Arbeitsumfelds sowie die Bedeutungen und Folgen häufig nicht einordnen können. Das Beispiel „Durcheinander“ dokumentiert, wie ein Mitarbeiter seine Wahrnehmungen nicht einordnen kann. Durcheinander 65 MA @[UL]: bei dem Durcheinander, das sich mir zur Zeit bietet, sind Verbesserungsvorschläge utopisch ; -). In einem Kundenprojekt mit internen und externen Beteiligten (Lieferanten und [Organisationseinheit]´s) blickt kein Mensch mehr durch, wo wie welche Proztesse parallel laufen ... Die Momentaufnahme, die strukturelle Umbrüche mit ihren Überschneidungen („welche Prozesse parallel laufen“), Lücken und Neuerungen zeigen, nimmt der Mitarbeiter als „Durcheinander“ wahr. Er hält die Situation offenbar für verbesserungswürdig, denn er geht auf die Nachfrage der Unternehmensleitung <?page no="170"?> 156 Die Vermittlung des Unternehmensbilds im Chat nach Verbesserungsvorschlägen ein, sieht sich aber nicht in der Lage, selbst Verbesserungsvorschläge zu machen („utopisch“). Seine persönliche Einstellung betrachtet er als allgemeine Erfahrung („blickt kein Mensch mehr durch“) und unterstreicht seinen Eindruck, indem er seinen Beitrag mit einer verschriftlichten Sprechpause <…> beendet und damit Ratlosigkeit signalisiert. Der Mitarbeiter schwächt seine Kritik allerdings wieder ab, indem er ein Emoticon anfügt, das andeuten soll, seine Kritik oder zumindest die Formulierung seien nicht so ernst gemeint oder gar scherzhaft. Dagegen grenzt die Mitarbeiterin im Beispiel „Eine der schwersten Fragen“ ihre Schwierigkeiten mit den strukturellen Umbrüchen im Unternehmen ein und macht Vorschläge zur Verbesserung („klare transparente Führung“). Eine der schwersten Fragen (Auszug) 43 MA Beitrag 32: Gerade in der [Organisationseinheit] haben die MA die Motivation und Interesse am Unternehmen; manchmal vermissen viele Kollegen und ich eine klare transparente Führung oder sind wir einfach zu groß? Zugleich bekundet sie eingangs eine loyale Einstellung der Mitarbeiter zum Unternehmen („haben die MA die Motivation und Interesse am Unternehmen“) und unterstreicht damit ihre konstruktive Einstellung. Anschließend an ihre Forderung nach Verbesserung der Mitarbeiterführung schwächt sie diese wieder ab und fügt ein mögliches Gegenargument an („oder sind wir einfach zu groß? “). Damit will die Mitarbeiterin sicherstellen, dass sich der Vorstand nicht kritisiert sieht und sich die Gesprächssituation möglicherweise verschlechtert. Im Beispiel „Zusammenspiel“ thematisiert ein Mitarbeiter seine Vorstellungen zur Erleichterung des Umgangs der Mitarbeiter mit strukturellen Umbrüchen. Zusammenspiel 275 MA Lieber Herr [Vorstand], Sie erwähnten heute mehrmals das Wort ”Prozesse“. Ich wünsche mir, dass die neue Organisation sehr schnell mit Prozessen angereichert wird, damit wir endlich wissen, wie das künftige Zusammenspiel innerhalb der [Unternehmenssparte] funktionieren soll. Dies ist in der Vergangenheit leider nicht richtig zu Ende gedacht worden. Der Mitarbeiter bemüht sich ebenso wie die Mitarbeiterin im Beispiel „Eine der schwersten Fragen“ schon eingangs um die Herstellung einer positiven Gesprächssituation („Lieber Herr [Vorstand]“) und setzt seine Bemühungen den ganzen Beitrag hindurch fort („ich wünsche mir“, „leider nicht richtig“). Sein Wunsch ist, dass die neue Organisationsstruktur zeitnah durch Prozesse strukturiert wird („sehr schnell mit Prozessen angereichert“). Als Ursache für das <?page no="171"?> Wahrnehmung von Organisationsformen im Chat 157 Fehlen von Orientierung („damit wir endlich wissen“) sieht er eine ungeeignete Struktur der Geschäftsprozesse. Nach seiner Auffassung können Schwierigkeiten zwischen verschiedenen Organisationseinheiten, die aufgrund unterschiedlichen Organisationsstrukturen entstehen, durch verbesserte Geschäftsprozesse überwunden und die Wahrnehmungen der Beteiligten damit geordnet werden („wie das künftige Zusammenspiel innerhalb der [Unternehmenssparte] funktionieren soll“). Im Vergleich der drei Beispiele gehen die Mitarbeiter mit ihrer Wahrnehmung der strukturellen Umbrüche und deren Auswirkung auf ihr persönliches Umfeld und ihre Aufgaben ganz unterschiedlich um. Im Beispiel „Durcheinander“ sind die drei Handlungsdimensionen innerhalb des Unternehmens, Hierarchie, Raum und Zeit, zu Strukturen außerhalb des Unternehmens in Beziehung gesetzt („zur Zeit“, „mit internen und externen Beteiligten“, „welche Proztesse parallel laufen“). Dagegen beziehen sich die Mitarbeiter in den Beispielen „Eine der schwersten Fragen“ und „Zusammenspiel“ ausschließlich auf unternehmensinterne Auswirkungen („gerade in der [Organisationseinheit]“, „innerhalb der [Unternehmenssparte]“). In allen drei Beispielen bemühen sich die Mitarbeiter um eine konstruktive Gesprächssituation. Sie sind offensichtlich ernsthaft am Diskurs interessiert und rechnen mit einer adäquaten Beantwortung ihrer Frage. Das wesentliche Problem der Mitarbeiter scheint die zeitliche Dauer der Umstrukturierungen zu sein und sie versuchen diese zu verkürzen. In den meisten Beispielen ist die Übergangsphase zwischen zeitlich aufeinanderfolgenden Strukturen thematisiert und dazu die zeitliche Dimension mit thematisiert („morgen“ im Beispiel „Organigramm“, „sehr schnell“ im Beispiel „Zusammenspiel“, „zur Zeit“ im Beispiel „Durcheinander“). Das Beispiel „Finale Struktur“ zeigt eine explizite Thematisierung der zeitlichen Dimension im Hinblick auf die Dauer des Übergangs zu einer neuen organisatorischen Struktur. Finale Struktur 289 MA SgH, wir sind über einen sehr langen Zeitraum hinsichtlich unserer finalen Struktur im Unklaren gehalten worden. Daraus ergibt sich die jetzt vorherrschende Unsicherheit. Welchen Zeithorizont setzen Sie sich und den Sozialpartnern zur Umsetzung der hieraus resultierenden Personalmassnahmen, egal welcher Couleur die auch sein mögen? ? Im Beispiel „Finale Struktur“ thematisiert der Mitarbeiter eine lange Übergangsphase („wir sind über einen sehr langen Zeitraum hinsichtlich unserer finalen Struktur im Unklaren gehalten worden“), wobei er eine „jetzt vorherrschende Unsicherheit“ feststellt, die aus der unklaren Situation resultiert. So zielt er auch <?page no="172"?> 158 Die Vermittlung des Unternehmensbilds im Chat mit seiner Frage nur auf den zeitlichen Ablauf der von ihm beobachteten Ereignisse des Wandels ab („Welchen Zeithorizont […] zur Umsetzung“) und stellt die Bedeutung der Ereignisse explizit als nachrangig dar („egal welcher Couleur die auch sein mögen“). Während der Mitarbeiter im Beispiel „Finale Struktur“ sich nur Klarheit über die Dauer der Umstrukturierung verschaffen will, versuchen viele Mitarbeiter, durch Nachfrage nach neuen Regeln oder indem sie Hilfe suchen die Übergangsphase von einer Struktur in eine andere zu verkürzen („sehr schnell“ im Beispiel „Zusammenspiel“). Organisatorische Prozesse werden von den Mitarbeitern auch mitunter als persönliche Entscheidungen ihres Vorgesetzten missverstanden. Deshalb sind Führungsstile der Mittleren Führungsebene oder der Unternehmensleitung ein bevorzugtes Thema, zu dem die Mitarbeiter ihre Wahrnehmungen mitteilen. Im Beispiel „Eine der schwersten Fragen“ nimmt die Mitarbeiterin in ihrem Bestreben, den Vorstand zu informieren und Informationen zu erhalten, die hierarchisch dazwischen stehenden Vorgesetzten als Hindernis wahr. Eine der schwersten Fragen (Auszug) 125 MA Hr. [Vorstand], ich mag noch mal ergänzen - der Eindruck zum Führungsstil bezog sich auf das Middle Management nicht die Top Ebene! Um den Vorgesetzten zu umgehen und ihren Wunsch („deshalb sehne ich mich“) nach direktem Kontakt zu realisieren, benutzt sie die Chat-Kommunikation als ersten unmittelbaren Kontakt und versucht, einen persönlichen Besuch des Vorstands vor Ort zu erreichen. Die Mitarbeiterin teilt ihre Wahrnehmungen im Wesentlichen zwischen den Zeilen mit, so dass der sprachimplizite Inhalt sich über alle Sequenzen des Gesprächsstrangs erstreckt. Sie versucht eine Präzisierung ihrer Assertion über die Einengung der lexikographischen Valenz zu erreichen, indem sie Wortbildungen übernimmt, die sie als fachspezifisch einschätzt („Middle Management“, „Top Ebene“). Die ähnliche Interessenlage beider Interaktionspartner weist darauf hin, dass außersprachliches Wissen den gemeinsamen Rahmen für das Gespräch schafft, denn der Vorstand nimmt das Thema ohne Nachfrage auf. Eine der schwersten Fragen (Auszug) 126 V Kann ich gut verstehen. Das leidige Thema, dass manche Kolleg(inn)en Angst vor Veränderungen haben, weil ihr Verantwortungsbereich kleiner werden könnte. Ich verstehe das zwar menschlich, habe aber selber nie danach gehandelt; es ging mir nicht schlecht dabei. Hier hilft bei dauerhafter Verweigerung nur das Mail an Top-Management, im negativsten Fall auch anonym (aber sachlich). <?page no="173"?> Wahrnehmung von Organisationsformen im Chat 159 Der Vorstand nimmt den beschriebenen Führungsstil allgemein, ohne ihn auf den von der Mitarbeiterin beschriebenen Sachverhalt zu beziehen oder ihre Behauptungen zu verifizieren, ebenfalls als Problem hinsichtlich seines eigenen Interesses wahr, bestimmte Informationen allen Mitarbeitern mitzuteilen. Nach seiner Wahrnehmung handelt es sich bei dem beschriebenen Verhalten des Vorgesetzten der Mitarbeiterin um den Versuch, Informationen zur Sicherung der eigenen hierarchischen Position einzusetzen. Der Vorstand verdeutlicht seine Haltung mit der Darstellung einer nach seiner Wahrnehmung sowohl für den konkreten Fall („Hier hilft bei dauerhafter Verweigerung“) als auch allgemein, adäquaten Problemlösung. Eine der schwersten Fragen (Auszug) 138 V 100 % richtig. Daher mache ich einmal pro Monat Sitzung mit Newcomern, Abschlussdiskussionen bei Seminaren und gehe auch zu Einheiten, die mich direkt einladen. Letzteres könnte auch mehr sein. Offensichtlich nehmen beide Seiten die vertikale Informationsdurchlässigkeit als Problem wahr. Offen bleibt, ob die Mitarbeiterin mit den Informationen, die der Vorstand geben will, zufrieden ist oder ob die mittlere Führungsebene die Funktion eines Sündenbocks dafür hat, dass die Mitarbeiter nicht alle Informationen erhalten und auch nur in geringem Umfang Einfluss nehmen können. Die Einschätzung der Mitarbeiterin (Beiträge 43 und 125) korrespondiert mit der Einschätzung des Vorstands (Beitrag 126) hinsichtlich der Aussage, dass die mittlere Führungsebene nicht so durchlässig für Informationen ist, wie sich die Beteiligten das wünschen. Allerdings ist die Wahrnehmung der Ursachen (Positionssicherung) nur aus Sicht des Vorstands thematisiert. Der Vorstand zieht Vergleiche zu seiner eigenen Zeit als mittlere Führungskraft und bewertet das Verhalten vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrung (Beitrag 126). Daran zeigt sich, wie Wahrnehmungen vom eigenen Umfeld eines Interaktanten und seiner eigenen Position im Unternehmen abhängen. Auch die Mitarbeiterin bezieht ihre Erfahrungen ein. Allerdings kann sie aus dieser Situation heraus das Verhalten ihres Vorgesetzten nicht ursächlich bewerten, trifft aber eine Einschätzung, von welcher Seite sie Unterstützung erwarten kann, und erkennt die Interessenübereinstimmung mit der Unternehmensleitung, dass Informationen unbeeinflusst weitergegeben werden sollen. Die Kritik an der unzureichenden vertikalen Informationsdurchlässigkeit formuliert die Mitarbeiterin allgemein („vermissen eine klare transparente Führung“) und schwächt sie mit einer Abtönungspartikel („manchmal“) weiter ab. Dann konkretisiert sie die Kritik in ihrer Zielrichtung noch einmal, aber auch da durch die explizit subjektive Darstellung als „Eindruck“ abgeschwächt. Zwischen der Mitarbeiterin und dem Vorstand besteht Konsens über das Interesse an einem reibungslosen Informationsdurchfluss bestimmter Informa- <?page no="174"?> 160 Die Vermittlung des Unternehmensbilds im Chat tionen. Das manifestiert sich darin, dass beide ihre Wahrnehmung mehrfach reproduzieren und sich gegenseitig bestätigen. Da beide ein Interesse daran haben, den Konsens nach außen darzustellen, die Mitarbeiterin, um ihren Vorgesetzten im Informationsfluss zu umgehen und der Vorstand, um seine Basisarbeit umzusetzen, kommt es in der Tat zu einer Vereinbarung. Es bleibt allerdings offen, ob diese Vereinbarung auch in die Tat umgesetzt wurde. Als Fazit der Wahrnehmung organisatorischer Prozesse durch die Chat- Teilnehmer lässt sich zusammenfassen, dass die Mitarbeiter eher die durch organisatorischen Wandel entstandenen Bruchstellen in den organisatorischen Strukturen (Beispiele „Durcheinander“, „Eine der schwersten Fragen“, „Zusammenspiel“ und „Finale Struktur“) als die neu entstandenen Strukturen selbst (Beispiele „Organigramm“ und „Sprachregelung“) thematisieren. Mit dieser vorrangigen Thematisierung der Bruchstellen verbinden die Mitarbeiter die Absicht, eine Verkürzung der Dauer organisatorischer Umstrukturierungen zu erreichen (Beispiele „Organigramm“, „Zusammenspiel“ und „Finale Struktur“). Die Unternehmensleitung interpretiert das Festhalten an bewährten Strukturen, zumindest mit Blick auf die Mitarbeiter in Führungsfunktionen, als Angst vor Veränderungen und versucht dem mit verstärkten Maßnahmen zur Information aller Mitarbeiter entgegenzuwirken (Beispiel „Eine der schwersten Fragen“). So nehmen die Mitarbeiter sowie die Unternehmensleitung die vertikale Informationsdurchlässigkeit als unzureichend und damit als Handlungswiderstand wahr, so dass sie im Chat ihr Anliegen verfolgen, den Informationsfluss vertikalhierarchisch von oben nach unten zu fördern. 5.2 Die Interpretation der Unternehmenswirklichkeit im Chat 5.2.1 Dimensionen der Interpretation Die Chats des vorliegenden Datenkorpus sind durch eine Vielzahl emotional besetzter Beiträge der Mitarbeiter gekennzeichnet. Meist unabhängig von Belegen, treffen die Mitarbeiter wertende Aussagen zu Sachverhalten im Unternehmen, die damit zugleich symptomatische Interpretationen der Unternehmenswirklichkeit darstellen. Die Dimensionen dieser Interpretation und die Bezugspunkte sollen im Folgenden vorgestellt werden. Sie sind die Grundlage dafür, welchen Handlungsmustern die Beteiligten in der Interaktion im Chat folgen, ob sich ein Mitarbeiter z. B. dafür entscheidet, Kritik zu üben oder einen Vorschlag zu machen. Daneben äußern die Mitarbeiter auch explizit Interpretationen der Unternehmenswirklichkeit. Die explizite Interpretation ist ein Handlungselement, das fast ausschließlich von den Mitarbeitern angewandt wird, um fehlende Informationen durch Annahmen zu überbrücken. Die Unternehmensleitung gibt im Chat Informationen weiter, äußert aber keine expliziten Interpretationen. Die Gründe dafür liegen im Informationsvorsprung und der Entscheidungsbefugnis <?page no="175"?> Die Interpretation der Unternehmenswirklichkeit im Chat 161 der Unternehmensleitung, die explizite Interpretationen entbehrlich macht. Die Aussagen der Unternehmensleitung implizieren aber symptomatische Interpretationen. Im Folgenden werden die Interpretationen der Mitarbeiter und die Reaktionen der Unternehmensleitung darauf vorgestellt. Die Bereiche, in denen die Mitarbeiter Interpretationen vornehmen, sind die horizontal-arbeitsteilige Dimension und die vertikal-hierarchische Dimension. Die interpretierenden Fragen der Mitarbeiter und ihre Interpretation der Antworten der Unternehmensleitung zielen darauf ab, Informationen hierarchisch und arbeitsteilig einzuordnen. Die Kriterien der Interpretation werden in den folgenden Untersuchungen in diesem Kapitel den konkreten Beispielen entnommen, die die Mitarbeiter aus ihren Beobachtungen und den Antworten der Unternehmensleitung ziehen. Soweit möglich, wird gezeigt, wie die Kriterien der Interpretation auf die Wahrnehmung eines Mitarbeiters zurückzuführen sind. Anhaltspunkte dafür sind jeweils den Behauptungen entnommen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit Aufforderungen an die Unternehmensleitung und den zugrunde liegenden Kriterien und Rückschlüssen geäußert werden. Dafür ist es notwendig, die Bezugspunkte zu ermitteln, die die Mitarbeiter als Vergleich für ihre Interpretationen verwenden. Im Diskurs über Interpretationen wirken, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, die Dimensionen der Interpretation, ihre Kriterien und die Bezugspunkte der Interpretation in verschiedenen Themenfeldern zusammen. Am Beispiel „Richtlinie“ zeigt sich, welche Ausprägungen dieses Zusammenwirken hat. Richtlinie 102 MA Sehr geehrter Herr [Vorstand], unter dem 6. Punkt ”Effektives Kostenmanagement in allen Geschäftsbereichen“ bitte ich um eine deutliche und klare Richtlinie für Bewirtungen bei [unternehmenssparte] (interne und externe = mit unseren Kunden). Hier herrscht leider keine einheitliche Regelung an allen Standorten. Leider ist auch der Eindruck entstanden, dass hier Wasser gepredigt wurde, jedoch selbst Wein getrunken worden ist. Wenn dann alle und dann konsequent. Danke für Ihre Antwort. 102 GF Lassen Sie mich bitte antworten: Sie haben recht, dass wir keine einheitliche Richtlinie für Bewirtungen haben, das müssen wir ändern. Dass Wasser gepredigt, aber Wein getrunken wird, kann ich für den Standort [Ort] nicht bestätigen. Ich bin für jeden Hinweis dankbar, wo dies anders gehandhabt wird. Die Sequenz ist einem Diskurs über Neuregelungen im Unternehmen entnommen. Bei der Assertion des Mitarbeiters handelt es sich um einen längeren Beitrag, der umfangreiche Interpretationen beinhaltet. Der Mitarbeiter ordnet die <?page no="176"?> 162 Die Vermittlung des Unternehmensbilds im Chat Neuregelung einer Vorschrift arbeitsteilig („an allen Standorten“) und hierarchisch ein („dass hier Wasser gepredigt wurde, jedoch selbst Wein getrunken worden ist“). Als Bezugspunkt für die Umsetzung der Neuregelung äußert er sich zwar aus der Sicht der Mitarbeiter, hierarchisch der Unternehmensleitung untergeordnet („Leider ist auch der Eindruck entstanden“), verlangt aber eine gleichberechtigte Geltung der Neuregelung („Wenn dann alle und dann konsequent.“). Zur Beschreibung seiner Andeutung, dass Regeln aufgestellt werden, von denen sich die Unternehmensleitung selbst ausnimmt, verwendet der Mitarbeiter die metaphorische Wendung „Wasser predigen und Wein trinken“ und vermeidet damit einen expliziten Vorwurf. Aus der Antwort des Geschäftsführers lässt sich entnehmen, dass die metaphorische Wendung in diesem Sinn verstanden wurde, denn er weist darauf hin, dass er selbst hierarchisch begründete Privilegien bei der Auslegung der Bewirtungsrichtlinie nicht unterstützt. In manchen Fällen entsteht Interpretationsbedarf durch Wortschöpfungen, wenn Mitarbeiter für ihnen unbekannte Sachverhalte eigene Begrifflichkeiten bilden. Die Beispiele „Monokultur“ und „Bildungsregeln“ belegen zwei von den betreffenden Mitarbeitern selbst gebildete Begriffe. Monokultur 66 MA ich befürchte wir bringen eine art ”Monokultur“ in unsere Politik ! die anfälligkeit einer monokultur ist aber weithin bekannt! Im Beispiel „Monokultur“ verwendet der Mitarbeiter den Begriff Monokultur, um damit eine Konzentration der Geschäftstätigkeit auf wenige Geschäftsfelder zu bezeichnen. Er wertet diese Entwicklung ab („befürchte“, „anfälligkeit“) und zieht die Kompetenz und Entscheidungsfähigkeit der Verantwortlichen in Zweifel („ist aber weithin bekannt“), da er vermutlich Nachteile für seine Möglichkeiten zur Gestaltung seiner Aufgaben oder eine verringerte Bedeutung des Geschäftsfelds erwartet, in dem er selbst beschäftigt ist. Da der Mitarbeiter den Begriff Monokultur fachfremd aus der Landwirtschaft entlehnt, wird der Begriff nicht unbedingt als angemessene Interpretation des bezeichneten Sachverhalts verstanden. Die Begriffsbedeutung in diesem Kontext wird zwar nicht von anderen Chat-Teilnehmern nachgefragt, aber der Beitrag bleibt auch ohne Reaktion der Unternehmensleitung oder anderer Chat-Teilnehmer stehen. Damit bleibt offen, ob die Chat-Teilnehmer das gleiche Verständnis des Begriffs haben oder der Mitarbeiter im Beispiel „Monokultur“ und die anderen Chat-Teilnehmer aneinander vorbei reden. Noch weniger erfolgreich verläuft die Begriffsbildung im Beispiel „Bildungsregeln“. <?page no="177"?> Die Interpretation der Unternehmenswirklichkeit im Chat 163 Bildungsregeln 87 MA Sehr geehrter Herr [Vorstand], bei der Vorstellung des mit großer Spannung erwarteten [Marketingaktion] am [Datum] sind Sie und Ihre Kollegen der Frage nach den Bildungsregeln im Vertrieb weitestgehend ausgewichen. Können Sie hierzu heute Näheres bekanntgeben? 87 V Was meinen Sie mit Bildungsregeln? Mit der Bezeichnung Bildungsregeln fragt der Mitarbeiter vermutlich nach neuen Verhaltensregeln, nach denen sich die Vertriebsmitarbeiter im Zuge der Neuausrichtung der vertrieblichen Aktivitäten des Unternehmens richten sollen. Der Ausdruck ist allerdings keine übliche Bezeichnung im Unternehmen, so dass der Vorstand die Frage nicht versteht und nach der Interpretation fragt („Was meinen Sie mit Bildungsregeln? “). Obwohl die Nachfrage in der auf den Beitrag des Mitarbeiters folgenden Sequenz gestellt wird, antwortet der Mitarbeiter nicht und beendet damit den Diskurs. Möglicherweise hat er die Nachfrage des Vorstands übersehen oder als erneut ausweichendes Handeln interpretiert („sind Sie und Ihre Kollegen der Frage nach […] weitestgehend ausgewichen“). Abb.-25: Begriffsbildungen der Mitarbeiter Insgesamt sind die Bezugspunkte der Mitarbeiter für die Interpretation Annahmen über die eigene Position im Unternehmen, die sie über Regeln bewerten wollen („deutliche und klare Richtlinie für Bewirtungen“, „Bildungsregeln“). Sie <?page no="178"?> 164 Die Vermittlung des Unternehmensbilds im Chat interpretieren die Bruchstellen in den Unternehmensstrukturen, die als Folge organisatorischen Wandels entstehen (Kap.-2.1.1.), als undurchschaubar („sind Sie und Ihre Kollegen der Frage […] weitestgehend ausgewichen“) und ihren eigenen Gestaltungsfreiraum („Monokultur“) innerhalb der vertikal-hierarchischen und der horizontal-arbeitsteiligen Dimension („leider keine einheitliche Regelung an allen Standorten“) als eingeschränkt. Es kann also angenommen werden, dass die Mitarbeiter ihre eigene hierarchische und arbeitsteilige Position im Unternehmen als Bezugspunkt annehmen, von dem aus sie Ereignisse und Sachverhalte innerhalb der vertikalhierarchischen, der horizontal-arbeitsteiligen und der zeitlichen Dimension interpretieren. Innerhalb der Dimensionen der Interpretation gibt es bestimmte Themenfelder (hierarchische Ungleichbehandlung, vertikale Informationsdurchlässigkeit), die von den Mitarbeitern bevorzugt interpretativ behandelt werden und von denen die Mitarbeiter, die durch ihre Fragestellungen die Themen vorgeben, wollen, dass sie interpretiert werden. Soweit diese Themenfelder in der offiziellen unternehmensinternen Kommunikation nicht thematisiert werden und deshalb keine Begrifflichkeiten zur Verfügung stehen, bilden die Mitarbeiter eigene Begriffe (Abb. 25): • Exakt definierte ökonomische Termini aus dem beruflichen Umfeld werden hinsichtlich ihrer konnotativen Bedeutungselemente zur Diskussion gestellt (Beispiel „Richtlinien für Bewirtung“). • Für unscharf definierte Begriffe aus dem beruflichen Umfeld, die „aufgrund alltagspraktischer Bezeichnungs- Unterscheidungs- und Perspektivierungsbedürfnisse“ entstanden sind, „keine scharfen Ränder“ aufweisen und „oft durch Prototypen- und Familienähnlichkeitsstrukturen geprägt“ sind (Habscheid 2003, 118), besteht am umfangreichsten Erklärungsbedarf. Diese Begriffe sind nicht nur in ihrer Definition unklar, sondern werden auch häufig in verschiedenen Bereichen des Unternehmens unterschiedlich verwendet (Beispiel „Monokultur“). • Unterschiedlich klar definierte Begriffe aus der Unternehmenskommunikation mit teilweise emotiven Bedeutungskomponenten machen Interpretationen unumgänglich. Häufig handelt es sich dabei auch um bedeutungsleere Kunstwörter oder um Akronyme, die sich nicht für jeden Mitarbeiter selbst erklären (Beispiel „Bildungsregeln“). 5.2.2 Interpretationen des organisatorischen Wandels Soweit Interpretationen Ereignisse unternehmerischen Wandels betreffen, thematisieren die Mitarbeiter meistens Veränderungen in der eigenen Beschäftigungssituation, wie sich am bereits untersuchten Beispiel „Eine der schwersten Fragen“ (Kap.-5.1.1.) gezeigt hat. Im Beispiel „Dinosaurier“ zeigt sich, wie orga- <?page no="179"?> Die Interpretation der Unternehmenswirklichkeit im Chat 165 nisatorischer Wandel interpretiert wird und dass für die Mitarbeiter die Veränderung der eigenen Beschäftigungssituation das entscheidende Bewertungskriterium ist. Dinosaurier 55 MA Wird es auch im Jahr 200[…] noch [Produkt] success Stories geben, oder ist der [Produkt] in Österreich mit dem Untergang der Dinosaurier zu vergleichen ? ? 56 GF Ob es auch im Jahr 200[…] noch ’[Produkt]-Success Stories‘ geben wird, wird im wesentlichen der Markt definieren. Seitens [Unternehmenssparte] existiert das Angebot, steht aber mit alternativen Technologien im Wettbewerb. 70 MA (56) Das heißt der [Produkt] wird in den nächsten 2 Jahren abgebaut? ? Werden die betroffenen MA umgeschult, oder gekündigt? Gegenstand der Anfrage des Mitarbeiters ist die weitere Entwicklung eines Geschäftssegments des Unternehmens, in dem er, seinem Interesse, seinen Detailkenntnissen und seiner Sorge um die dort beschäftigten Mitarbeiter („Werden die betroffenen MA umgeschult, oder gekündigt? “) nach zu schließen, selbst beschäftigt ist. Der Mitarbeiter fragt nach, ob diese Geschäftstätigkeit weiter fortgeführt („Wird es auch im Jahr 200[…] noch [Produkt] success Stories geben“) oder aufgegeben wird („oder ist der [Produkt] in Österreich mit dem Untergang der Dinosaurier zu vergleichen? ? “). Der Geschäftsführer gibt dazu keine allgemeingültige Auskunft, sondern nennt mit dem Verweis auf die Nachfrage des Marktes im Vergleich zur Nachfrage nach alternativen Geschäftstätigkeiten ökonomische Voraussetzungen als Bedingung einer Fortführung der bestehenden Geschäftstätigkeit. Daraus schließt der Mitarbeiter, dass die von ihm nachgefragte Geschäftstätigkeit aufgegeben wird („(56) Das heißt der [Produkt] wird in den nächsten 2 Jahren abgebaut? ? “). Offensichtlich schätzt er die Marktchancen der nachgefragten Geschäftstätigkeit als so schlecht ein, dass er die Bedingung, die der Geschäftsführer stellt, als Absage an die Weiterführung dieser Geschäftstätigkeit interpretiert. Damit bringt der Mitarbeiter den von ihm offensichtlich befürchteten Abbau eines Geschäftsfelds („Das heißt der [Produkt] wird in den nächsten 2 Jahren abgebaut? ? “) in direkten Zusammenhang mit der Beschäftigungssituation der dort tätigen Mitarbeiter („Werden die betroffenen MA umgeschult, oder gekündigt? “), vermutlich also seiner eigenen Beschäftigungssituation. Die Sequenz wird allerdings von keinem der beiden Interaktanten fortgeführt, wobei nicht erkennbar ist, ob die Interaktanten kein weiteres Interesse an einer Fortführung der Sequenz haben oder der Beitrag 70 wegen des großen Abstands zu den Beiträgen 55 und 56 in dem zu diesem Zeitpunkt stark frequentierten Chat übersehen wurde. <?page no="180"?> 166 Die Vermittlung des Unternehmensbilds im Chat Neben den aus organisatorischem Wandel resultierenden Veränderungen in der persönlichen Beschäftigung werden auch Veränderungen im persönlichen Beschäftigungsumfeld bevorzugt interpretiert. Häufig werden Kriterien aufgestellt, die auf der eigenen Wahrnehmung beruhen, und daraus Notwendigkeiten abgeleitet, die aus der eigenen Sichtweise heraus bestehen. Im Beispiel „Menschen“ definieren einige Mitarbeiter vertriebliche Kompetenz als Kriterium für die Besetzung einer diskutierten Position und leiten daraus Empfehlungen an den Geschäftsführer für sein weiteres Handeln ab. Menschen 263 MA1 gibts Hr. [Vorgesetzter] noch? 591 MA1 sgH [GF] sie übernehmen die operative leitung der [Organisationseinheit]? wenn ja,wie sollen wir unseren kunden erklären,dass schon wieder ein neuer leiter da ist? hr. [Vorgesetzter] hat einn super job gemacht 593 MA2 Was passiert mit Herrn [Vorgesetzter]? 593 GF Herr [Vorgesetzter] und ich sind hierzu im Gespräch 618 MA2 Bitte behalten Sie Herrn [Vorgesetzter], er verfügt im Gegensatz zu vielen ”Menschen“ über Vertriebs Know-How! 619 MA1 stimme ich voll zu Der Mitarbeiter MA1 beschreibt eine Situation, die die betriebliche Zukunft seines Vorgesetzten als unklar darstellt (Beitrag 591). Die Richtigkeit dieser Darstellung wird vom Geschäftsführer mit einer dafür gebräuchlichen Wendung bestätigt („Herr [Vorgesetzter] und ich sind hierzu im Gespräch“). Der Mitarbeiter MA2 macht daraufhin den Vorschlag, den Vorgesetzten in seiner Position zu belassen („behalten“), also die unklare Situation in eine klare Entscheidung zugunsten des Mitarbeiters zu verändern. Formal kennzeichnet er seine Assertion zwar als Bitte („Bitte behalten Sie Herrn [Vorgesetzter]“), weist den Geschäftsführer aber zugleich auf die Vorteile hin, die er aus Sicht des Mitarbeiters davon hat („er verfügt […] über Vertriebs Know-How! “), so dass die Assertion eher Merkmale eines Vorschlags als einer Bitte aufweist. Die Mitarbeiter treffen damit zwei Maßnahmen. MA1 stellt eine Frage, die eine unklare Situation hinsichtlich seines Vorgesetzten impliziert („gibts Hr. [Vorgesetzter] noch? “). Die unklare Situation wird noch einmal bestätigt durch die Frage von MA2 („Was passiert mit Herrn [Vorgesetzter]? “), die impliziert, dass es mit Sicherheit eine Veränderung bei diesem Vorgesetzten geben wird. Anschließend äußert der MA1 den Vorschlag, der Vorgesetzte solle im Unternehmen (an dieser Position) bleiben. Der Vorschlag wird von dem sekundierenden MA2 unterstützt. Der <?page no="181"?> Die Interpretation der Unternehmenswirklichkeit im Chat 167 erste Mitarbeiter begründet die Äußerung dieser Bitte damit, der Vorgesetzte besitze „Vertriebs Know-How“ (Beitrag 618), mit der Abgrenzung „im Gegensatz zu vielen ‚Menschen‘“. Damit sind die Kriterien aufgestellt, mit denen die beiden Mitarbeiter die Unternehmenswirklichkeit und die Ereignisse des organisatorischen Wandels interpretieren. Sie gehen davon aus, dass eine unklare Situation dazu führen kann, dass der Betreffende seine Position verliert, wobei die Unsicherheit offensichtlich durch den Geschäftsführer verstärkt wird („hierzu im Gespräch“), und sie schätzen Vertriebskenntnisse als erfolgsentscheidendes Kriterium ein. Die Unternehmenswirklichkeit wird dahingehend interpretiert, dass Leistung ein hierarchieentscheidendes Kriterium, aber die allgemeine Gültigkeit dieses Kriteriums nicht sicher ist. In Interpretationen zu Veränderungen im weiteren Beschäftigungsumfeld, die aus organisatorischem Wandel resultieren, werden meistens das gesamte Unternehmen und Ereignisse außerhalb des Unternehmens einbezogen. Die Interpretationen sind symptomatisch ausgedrückt und werden erst in der Zusammenschau mehrerer Beispiele deutlich, weshalb im Folgenden mit „Logo“ und „Global leader“ zwei thematisch ähnliche Beispiele betrachtet werden. Logo 114 MA Das Tin unserem Logo kennt jeder, das ist richtig, jedoch die [Unternehmenssparte] als eigenständiges Unternehmen nicht! Global leader 251 MA I would like to go back to the statement. If we say that [Unternehmenssparte] is the global leader in whatever, do we have also numbers that support such statement. It helps a lot as an argument. Beiden Beispielen gehen umfangreiche Bemühungen der Unternehmensleitung voraus, die Vorteile der durch Zukäufe vergrößerten Unternehmenssparte darzustellen und die Mitarbeiter aus den zugekauften Unternehmensteilen für den Konzern einzunehmen, in den sie neu integriert sind. Beide Mitarbeiter reagieren, indem sie darauf verweisen, dass die Vision vom Gesamtunternehmen aus ihrer Sicht nicht hinreichend durch Details unterstützt ist. Der Mitarbeiter im Beispiel „Logo“ bezieht sich dabei auf seine Beobachtungen innerhalb der Unternehmenssparte, in der er beschäftigt ist („[Unternehmenssparte] als eigenständiges Unternehmen nicht“), der Mitarbeiter im Beispiel „Global leader“ darauf, dass aus seiner Sicht bisher noch nicht die Tatsachen geschaffen wurden, die die Vision vom Gesamtunternehmen unterstützen („do we have also numbers“). Es scheint bei den beiden Mitarbeitern eine Tendenz zu bestehen, die Details des organisatorischen Wandels zu betrachten, die sie selbst betreffen, nicht aber die Veränderungen im Unternehmen als Ganzes. <?page no="182"?> 168 Die Vermittlung des Unternehmensbilds im Chat 5.3 Positionierungen In diesem Kapitel soll gezeigt werden, wie die Mitarbeiter ihre hierarchische und arbeitsteilige Positionierung innerhalb des Unternehmens im Chat kommunikativ ausdrücken. Das betrifft im Hinblick auf das Selbstbild der Mitarbeiter (Kap.- 5.3.1.) die Wahl der kommunikativen Mittel zur Selbstpräsentation (Kap.- 5.3.1.1.) sowie die thematisierten Perspektiven und Einstellungen (Kap.- 5.3.1.2.). Deshalb wird im Folgenden betrachtet, wie das Selbstbild der Mitarbeiter symptomatisch zum Ausdruck kommt oder konkret kommuniziert wird und wie sich die Mitarbeiter selbst im Unternehmen sehen. Weiter soll gezeigt werden, wie das Selbstbild aller Chat-Teilnehmer die sozialen Interaktionssysteme (Kap.- 5.3.2.) determiniert, indem es innerhalb der Dimensionen der Interaktion (Kap.- 5.3.2.1.) Zugehörigkeiten und Abgrenzungen zwischen den Chat-Teilnehmern schafft, sowie die Mitarbeiter und die Unternehmensleitung in zwei Seiten aufteilt (Kap.-5.3.2.2.). 5.3.1 Das Selbstbild der Mitarbeiter 5.3.1.1 Selbstpräsentation In dem Bestreben, sich selbst und andere Beteiligte in die Struktur des Unternehmens einzuordnen, greifen die Mitarbeiter auf ein umfangreiches Repertoire an sprachlichen und außersprachlichen Verhaltensmustern zurück. Die Mitarbeiter ordnen sich gleichermaßen hierarchisch (vertikal-hierarchische Dimension) wie auch arbeitsteilig (horizontal-arbeitsteilige Dimension) in die Organisationsstruktur ein und definieren ihre Position zudem im Vergleich mit den Positionen anderer Mitarbeiter. In der Kommunikation des beruflichen Alltags drücken Mitarbeiter ihre Position auch über die Wahrnehmung ihrer Aufgaben hinaus aus. In der face-to-face Kommunikation z. B. sind informelle/ formelle Bürokleidung oder spezifische Berufskleidung, die Größe und Ausstattung ihres Büros oder Arbeitsplatzes Merkmale, die Auskunft über den Status geben sollen. In der internetbasierten Kommunikation enthält die Signatur in den schriftlichen Kommunikationsformen wie E-Mail, SMS oder Instant Messaging nicht nur den Namen des Absenders, zugleich erfährt der Empfänger auch die Berufsbezeichnung und die Position des Absenders in der vertikalhierarchischen und der horizontal-arbeitsteiligen Dimension. Dabei wirkt die Zeitachse nicht so stark als sekundäres Vergleichskriterium wie beim Vergleich organisatorischer Strukturen, die dem Wandel unterworfen sind (Kap.-2.1. und Kap.-5.2.), sondern es werden als Ergebnis aus Zukunftsüberlegungen vorrangig allgemeine Betrachtungen über die Zeit verfolgt. Dieses Verhalten subsumiere ich begrifflich unter Selbstpräsentation und verstehe darunter zunächst nach der Definition von Spiegel/ Spranz-Fogasy <?page no="183"?> Positionierungen 169 all diejenigen Aspekte sprachlichen und nichtsprachlichen Handelns, mit denen Menschen im Gespräch einander ihre kulturellen, sozialen, geschlechtlichen und individuellen Persönlichkeitseigenschaften präsentieren. (Spiegel/ Spranz-Fogasy 1999, 215) Für die Chat-Kommunikation ergibt sich die Fragestellung, welche Möglichkeiten der Selbstpräsentation im Unternehmen die Chats des vorliegenden Datenkorpus eröffnen. Dazu differenziere ich den Begriff nach weiteren Ordnungskriterien. Wesentlich ist die Unterscheidung zwischen Selbstpräsentation und weniger bewussten Bestandteilen von Interaktion. 63 So sind durch die Chat-Kommunikation die Möglichkeiten zur Selbstpräsentation eingeschränkt, nicht nur im Vergleich zur face-to-face Kommunikation, sondern auch im Vergleich zur übrigen internetbasierten Kommunikation, denn die eingangs angeführten Statusmerkmale als Hinweise auf die eigene Position im Unternehmen können im Chat nicht gezeigt werden. 64 Zudem liegt die eingeschränkte Möglichkeit der Selbstpräsentation auch am informellen Auftreten der Unternehmensleitung, die mit der Wahl eines freundschaftlichen Stils die Unterschiede in der hierarchischen Position, die die Chat-Teilnehmer im Unternehmensalltag haben, nivelliert, so dass sich auch die Mitarbeiter freundschaftlich verhalten müssen. So referiert die Unternehmensleitung im Beispiel „Tschüss“ (Kap. 6.2.2.5.) auf sich selbst mit „Antwortteam“, im Beispiel „Eine der schwersten Fragen“ (Kap. 5.1.1. und Kap. 6.3.1.) auf die Führungskräfte mit „manche Kolleg(innen)“ und adressiert im Beispiel „Das Eis ist gebrochen“ (Kap. 6.2.2.1.) ihre Gesprächseröffnung mit „Liebe Kolleginnen und Kollegen“ an die Mitarbeiter. Dagegen sind Selbstpräsentationen in Form von weniger bewussten Bestandteilen der Interaktion uneingeschränkt möglich. Sie äußern sich stilistisch in einem symptomatischen Ausdruck, der im Gegensatz zum intentionalen Ausdruck der Selbstpräsentation steht. Der symptomatische Ausdruck äußert sich vorrangig in der vergleichenden Selbstpräsentation mit anderen Mitarbeitern. Im Folgenden sollen die Formen der Selbstpräsentation nach den damit verfolgten Interaktionsaufgaben unterschieden werden: • Verhandeln über Einstellungen und Perspektiven • Vergleichen nach Leistung oder Status • Solidarisieren mit anderen Chat-Teilnehmern • Bildung und Abgrenzung von Interaktionssystemen 63 Für die definitorische Abgrenzung der Selbstpräsentation verwende ich die Einteilung in konstituierende Ebenen der Selbstpräsentation nach Kallmeyer/ Schütze (1976). 64 Dorta (2005, 215) betrachtet die Beziehungen zwischen den Chat-Teilnehmern deshalb als prinzipiell symmetrisch, bei der Untersuchung der Chats des vorliegenden Datenkorpus stellt sich aber heraus, dass die Chat-Teilnehmer in der Interaktion im Chat Statusmerkmale (hierarchisches Wissen, Expertenwissen) zeigen und dadurch asymmetrische Beziehungen entstehen. <?page no="184"?> 170 Die Vermittlung des Unternehmensbilds im Chat Selbstpräsentation zum Verhandeln über Einstellungen und Perspektiven lässt sich auf der vertikal-hierarchischen und der horizontal-arbeitsteiligen Achse festmachen. Auf der vertikalen Achse schätzen die Mitarbeiter die eigene Bedeutung im Chat gering ein. Sie stellen sich selbst als wenig bedeutend dar (Beispiel „Lob“) und ordnen sich entsprechend dieser Selbstpräsentation in das kulturelle Gesamtsystem des Unternehmens ein, wobei das soziale Umfeld (Beispiel „Telefonanlagen“) und die vertikale Achse (Beispiel „Unternehmenszielgruppen“) als Ordnungssystem häufig explizit mit thematisiert werden. Lob 84 MA @[GF]: Mein unbedeutendes aber ausdrückliches Lob für die Entscheideung die [Organisationseinheit] in der [Unternehmenssparte] zu behalten. Der Mitarbeiter nimmt eine Bewertung einer Entscheidung der Unternehmensleitung vor, weist jedoch darauf hin, dass er seine Assertion als bedeutungslos einschätzt („Mein unbedeutendes [...] Lob für die Entscheidung“). Damit nimmt er etwaige Kritik an seiner bewertenden Interaktion vorweg, hält die hierarchischen Regeln ein und bleibt musterkonkordant zum Vorgesetzten- Mitarbeitergespräch. 65 Telefonanlagen 15 MA Welche Aktivitäten gibt es, um die [Unternehmenssparte] am Markt bekannter zu machen? Die [Unternehmenssparte] ist noch nicht so bekannt wie die Telekom. Man sieht mich dann häufig als Mitarbeiter der Telekom, welcher zuhause Telefonanlagen installiert. Dies führt zu einem schlechten Ansehen. Der Mitarbeiter macht wiederholt die Erfahrung, dass die Personen in seinem sozialen Umfeld ihn auf der vertikal-hierarchischen Achse der Unternehmensstruktur niedriger positioniert einschätzen als es seiner tatsächlichen Position entspricht, so dass sein Ansehen schlechter ist, als er erwartet. Um sich besser darzustellen fordert er deshalb die Unternehmensleitung zur Pflege des Images der Unternehmenssparte auf, die er selbst nicht initiieren oder beeinflussen kann. 65 Eine Systematik der in Mitarbeitergesprächen von den Vorgesetzten angewandten sprachlichen Kontrollverfahren findet sich bei Müller (1997, 62 ff. und 187 ff.), die Interaktionsstrukturen in Vorgesetzten-Mitarbeiter-Gesprächen sind im Rahmen der Untersuchungen von Arbeitsbesprechungen bei Müller (2002) mit thematisiert, eine ausführliche Darstellung von Lehr-Lern-Gesprächen anhand eines Datenkorpus aus einem Unternehmen bietet Brünner (1987) und die betriebswirtschaftliche Sichtweise auf Mitarbeitergespräche ist bei Neumann (2003) dargestellt. <?page no="185"?> Positionierungen 171 Mitunter weichen die Selbstpräsentationen der Mitarbeiter erheblich von der formalen Position ab, die sie tatsächlich im Unternehmen haben, so dass die Selbstpräsentation, wie im Beispiel „Unternehmenszielgruppen“, nur schwer nachvollziehbar ist. Unternehmenszielgruppen 168 MA Hallo Herr [Vorstand], ich ordne ”Mitarbeiter, ich, Kunde, Anteilseigner“. Wie sehen Sie sich und die Unternehmenszielgruppen? Wer ist ggf. Mittel zu höherem Zweck? Die Einordnung verschiedener Positionen in die Unternehmenshierarchie, die der Mitarbeiter im Beispiel „Unternehmenszielgruppen“ vornimmt, scheint zunächst nicht nach hierarchischen Kriterien ausgerichtet zu sein. Die Bedeutung der vertikal-hierarchischen Achse und die Orientierung des Mitarbeiters an ihr wird in der Fragestellung deutlich, indem er von einer Strukturierung nach hierarchischen Kriterien ausgeht („Wer ist ggf. Mittel zu höherem Zweck? “). Auch die Einteilung in die genannten Gruppen nimmt der Mitarbeiter nach sozialen und hierarchischen Kriterien vor. Unklar ist dagegen seine Selbstpräsentation, da der Mitarbeiter sich selbst nicht einer Gruppe zuordnet. Dabei ist auch das, möglicherweise provokative, Fehlen der Unternehmensleitung auffällig, die ebenfalls keiner der genannten Gruppen zugeordnet werden können. Soweit sich die Mitarbeiter selbst darstellen, um sich mit anderen Mitarbeitern oder der Unternehmensleitung in Bezug auf berufsrelevante Kriterien zu vergleichen, erstellen die Mitarbeiter Ordnungskriterien, die nicht achsenspezifisch in Bezug auf die vertikal-hierarchische, horizontal-arbeitsteilige und zeitliche Achse sind. Diese Kriterien sind vielmehr leistungs- oder statusbezogen, wobei Leistung und Status in Konkurrenz zueinander gebracht werden. Wie schon bei der Selbstpräsentation über die Achsen ist die Selbstpräsentation, um sich mit anderen zu vergleichen, eine zentrale Interaktionsaufgabe. Die Mitarbeiter versuchen Leistung als unternehmerisch hochwertiger als Status darzustellen, wobei sie häufig davon ausgehen, dass der Erwerb von Status nicht davon abhängt, ob Leistungen erbracht wurden. Bei vergleichenden Selbstpräsentationen ist der Diskurs dem Verkaufsgespräch und dem Bewerbungsgespräch ähnlich, indem die Mitarbeiter versuchen, ihre Leistung möglichst vorteilhaft darzustellen und der Unternehmensleitung anzubieten. 66 Dabei bleibt weniger Spielraum als im Bewerbungsgespräch, denn es werden keine Versprechungen hinsichtlich zukünftiger Leistungen gemacht, sondern das konkrete Ergebnis der eigenen Arbeit präsentiert. 66 Eine Analyse des Gesprächstyps Verkaufsgespräch findet sich bei Brünner (2000), und Puck/ Exter (2005) haben Bewerbungsgespräche im Chat untersucht. <?page no="186"?> 172 Die Vermittlung des Unternehmensbilds im Chat Existenzangst 154 MA ICH HABE EXISTENZANGST UND KEINER BERUHIGT MICH: . Meine Arbeit hat im Gegensatz zu den techn. Vorbereitungen zu diesem Chat immer zum Erfolg geführt Der Mitarbeiter verweist zur Darstellung seiner Bedeutung für das Unternehmen auf seine Leistung und nimmt einen leistungsbezogenen Vergleich seiner Arbeit mit dem technischen Chat-System als Beispiel für die Leistung der Unternehmensleitung vor. Er ist aber gleichzeitig unsicher, ob das Kriterium anerkannt wird („ICH HABE EXISTENZANGST“). Dem leistungsbezogenen Vergleich steht der statusbezogene Vergleich gegenüber, den die Mitarbeiterin im Beispiel „Eine der schwersten Fragen“ als Messkriterium für ihre Bedeutung für das Unternehmen heranzieht. Eine der schwersten Fragen (Auszug) 137 MA1 Hr. [Vorstand] und ich glaube die Top Ebene braucht hin und wieder Feedback von inz. Mitarbeiter über seine Führung? ! Die Basis (zufriedene u. motivierte Mitarbeiter) ist doch die Zukunft, oder wie sehen Sie das? Mit ihrer Selbstpräsentation unternimmt die Mitarbeiterin den Versuch, die eigene Position im Unternehmen statusbezogen zu verkaufen. Dazu bevorzugt sie bei der Auswahl der Aussagen über ihre eigene Person statusorientierte Werte („Die Basis“) und setzt darauf, dass die Belegschaft als Ganzes ein relevanter Faktor ist, den sie schlagwortartig zusammengefasst als „die Basis“ bezeichnet. In der Beschreibung der „Basis“ („zufriedene u. motivierte Mitarbeiter“) geht sie von einer Handlungsverpflichtung der Unternehmensleitung aus, sich für die Anliegen der Mitarbeiter einzusetzen, wobei sie aber keine leistungsbezogene Begründung für ihre Forderung anführt („doch die Zukunft“). Bei der Selbstpräsentation zum Solidarisieren wird immer die Zustimmung der anderen Chat-Teilnehmer gesucht. Durch Responsivität soll eine Fremddarstellung ausgelöst werden, die die eigene Selbstpräsentation bestätigt. Karrierepfade 147 MA @ [UL]: Ich meine, dass im Augenblick viel zu viele Leute hauptsächlich damit beschäftigt sind, ihr Schäfchen ins Trockene zu bringen, anstatt ihren Kopf für kreative Dinge frei zu halten...-: 148 V Das glaube ich gerne. Allerdings gehe ich auch davon aus, dass die Kollegen weiterhin das gesunde Wachsen der [Unternehmenssparte] im Auge haben. Ansonsten nützt auch das interne Absichern nichts mehr. Dann sitzen die alle auf dem Trockenen. <?page no="187"?> Positionierungen 173 169 MA @[Vorstand]: Natürlich haben wir das Wachsen der [Unternehmenssparte] im Auge! Allerdings würden wir auch gerne mitwachsen...-: 170 V Richtige Einstellung. Wir brauchen schnell durchgängige, verständliche und verstehbare Modelle und Karrierepfade. Frau [GF Personalwesen] ist dabei. Werde sie bitten, dazu im Intranet mal zu schreiben, wie weit wir schon sind. Mit der Adressierung an den Vorstand und dem offenen Abschluss des Beitrags <...> fordert der Mitarbeiter die Unternehmensleitung zur Responsivität auf. Im Hinblick auf die gesamte Sequenz wird diese Aufforderung verstärkt, da der Mitarbeiter seinerseits mit Responsivität auf einen Beitrag des Vorstands reagiert hat. Damit ist die Reaktion, die der Mitarbeiter vom Vorstand erhält, durch seinen Beitrag schon vorausberechnet. Mit der von beiden Interaktanten gewährten Responsivität findet eine gegenseitige Solidarisierung hinsichtlich der unternehmerischen und persönlichen beruflichen Interessen statt. Die Solidarisierung geht vom Vorstand aus, der den ersten Beitrag des Mitarbeiters (Beitrag 147) aufnimmt, obwohl der Beitrag an ein anderes Mitglied der Unternehmensleitung adressiert ist. Im Weiteren solidarisieren sich beide Teilnehmer mittels gegenseitiger Responsivität. Sprechakttheoretisch findet Selbstpräsentation durch Solidarisieren im Wesentlichen als Frage/ Antwort, aber auch als Gruß/ Gegengruß (Linke/ Nußbaumer/ Portmann 2004, 316 f.) statt. Die Antwortmöglichkeiten sind jeweils nur in engem Rahmen möglich, da eine gegenseitige Bestätigung erwartet wird. Als häufigstes Muster wird eine Behauptung aus der eigenen Wahrnehmung heraus geäußert, die zur Responsivität auffordert oder an die sich eine Frage anschließt, die wiederum von einem anderen Chat-Teilnehmer mit einer positiven Bestätigung beantwortet wird. Bleibt die intendierte Bestätigung aus, führt das zum erneuten Start des Musters, zu Schweigen oder zu Kritik. Andere als die vom Sprecher intendierten Bestätigungen werden teilweise gar nicht wahrgenommen. So sind im Beispiel „Internetprodukte“ zwar keine Beiträge des Mitarbeiters unbeantwortet geblieben, wie er unterstellt, aber die gegebene Antwort entsprach nicht seinen Erwartungen. Der Mitarbeiter hat sie deshalb nicht als solche identifiziert und als Antwort aus den übrigen Beiträgen dieses Chat selektiert, obwohl die Antwort direkt auf seinen Beitrag folgte. Internetprodukte 111 MA Guten Tag zusammen. Mich würde interessieren, inwiefern die Telekom eventuell dazu übergeht, konkurrenzfähige Internetprodukte anzubieten, oder ob da eher eine ’altertümlichen‘ Einstellung angenommen wird nach dem Grundsatz ’never touch a running system‘ egal, wie langsam oder veraltet.. <?page no="188"?> 174 Die Vermittlung des Unternehmensbilds im Chat 112 V Bin seit Jahrzehnten [Produkt] User. Heute mit [Nachfolgeprodukt]. Bin super zufrieden. Sehr stabil und schnell. Welche Produkte haben Sie im Auge? 145 MA Im Vergleich Frage-Antwort wurde meine letzte Frage schlichtweg übergangen. Unabhängig davon bedanke ich mich im Rahmen der Chatiquette herzlich für die gegebenen Antworten und wünsche allen Beteiligten ein schönes Wochenende und einen schönen Arbeitsausklang am heutigen Tage. Ich muss mich wieder meiner Arbeit widmen. Der Beitrag des Mitarbeiters wurde in der unmittelbar darauf folgenden Sequenz von einem Vorstand beantwortet und durch eine Rückfrage ergänzt, damit der Mitarbeiter die relevanten Informationen expliziert. Dadurch signalisiert die Antwort Interesse, besonders dadurch, dass die anschließende Rückfrage keine Antwortpräferenz erkennen lässt. Trotz der zeitlichen Nähe der Beiträge und des deutlich signalisierten Interesses des Vorstands hat der Mitarbeiter den Beitrag-112 offenbar nicht als Antwort auf seine Frage wahrgenommen, möglicherweise deshalb, weil er auf seinen destruktiven Beitrag eine andere Antwort intendiert hatte, oder aber es fehlte dem Mitarbeiter hinreichende Kompetenz in diesem Themengebiet, um die Antwort als thematische Fortführung seines Beitrags zu erkennen, denn ein expliziter äußerer Bezug, z. B. die Wiederholung seiner Fragestellung oder eine andere Form der Respondierung ist nicht gegeben. In der ausführlichen Analyse des Beispiels „Internetprodukte“ im Hinblick auf die Frage-Antwort-Sequenz in Kap.-6.3.1. ist dargestellt, dass sich ein Mitarbeiter und ein Vorstand auf unterschiedliche Wissensstrukturen beziehen und deshalb aneinander vorbei reden. Die Selbstpräsentation des Mitarbeiters ist durch eine Fremddarstellung des Geschäftsführers ergänzt, indem er eine Vermutung äußert, weshalb die Unternehmensleitung die von ihm angeregten Entscheidungen nicht getroffen hat. Da negative Formulierungen und Unhöflichkeit bzw. überzogene Höflichkeit übergreifende Eigenschaften des Sprachhandelns dieses Mitarbeiters sind, färbt dieses Verhalten das Fremdbild von der Unternehmensleitung noch zusätzlich negativ. Insofern dürfte die Situation, dass der Vorstand in der Selbstpräsentation in seiner Antwort nicht dem Fremdbild entspricht, das sich der Mitarbeiter von ihm gemacht hat, ein weiterer Grund sein, warum der Mitarbeiter die Antwort gar nicht als solche erkennt. Selbstpräsentation zur Bildung und Abgrenzung von Interaktionssystemen Das Interaktionssystem, das die Chat-Teilnehmer im Chat bilden, unterteilt sich weiter, indem sich immer wieder innerhalb des Chats temporär Interaktionssysteme aus mehreren Chat-Teilnehmern bilden, die sich von den anderen Chat- Teilnehmern abgrenzen. Sowohl die Bildung als auch die Abgrenzung dieser <?page no="189"?> Positionierungen 175 Interaktionssysteme wird über spezifisches Wissen, wie z. B. Insiderwissen oder Expertenwissen realisiert, das zum Gegenstand des Gesprächs gemacht wird. Das gemeinsame Wissen hat die Funktion, hinsichtlich dieses Wissens kompetente Chat-Teilnehmer von den anderen Chat-Teilnehmern zu unterscheiden. Für die Interaktanten geht es dabei darum, sich mit ihrer Selbstpräsentation als einem innerhalb des Chats abgegrenzten Interaktionssystem zugehörig auszuweisen. Als kommunikative Mittel der Abgrenzung werden meistens Abkürzungen und Akronyme verwendet, die bestimmte unternehmensinterne Sachverhalte oder Vorgänge bezeichnen, oder Nicknames, die, aus anderen Kontexten entnommen, Ausdruck von Einstellungen sind, deren Bedeutung aber nur Chat-Teilnehmer erkennen, die über spezifisches Wissen verfügen. Der Nickname dient dann zur „Selbstinszenierung als virtuelle dramatis persona“ (Beißwenger 2000, 170), als „artifizielle Maske(n)“ (Beißwenger 2001, 114) und als erstes Image, das im Gesprächsverlauf im Chat durch das persönliche Sprachhandeln des Chat-Teilnehmers in seiner Aussage ergänzt oder auch verändert wird. Soweit sich das Image, auf das mit dem Nickname angespielt wird, vollständig durch das Sprachhandeln des Chat-Teilnehmers verändert, ist auch der Inszenierungscharakter nicht durchgängig, sondern gerät graduell mehr zu einem Maskencharakter. Dorta vertritt die Auffassung, dass im Wesentlichen das Sprachhandeln der Chat-Teilnehmer zur Bildung ihrer Identität beiträgt. Identitäten werden in Chats nicht nur durch die schriftlich geäußerten Merkmale der Interagierenden signalisiert, sondern auch durch ihre Handlungen, ihr kommunikatives Verhalten und die unterschiedlichen Formen ihrer Beteiligung an der Interaktion. (Dorta 2005, 59) Im vorliegenden Datenkorpus finden sich Belege, in denen der Mitarbeiter seinen Nickname an sein Sprachhandeln angepasst wählt (Beispiel „Pinguin“), und Belege, in denen der Mitarbeiter sein Sprachhandeln dem Nickname (Beispiel „Lenin“) anpasst. Das Beispiel „Pinguin“ zeigt eine zum Sprachhandeln kongruente Imagebildung durch die Wahl des Nickname und die daraus entstehende Bildung und Abgrenzung eines Interaktionssystems. Pinguin 23 TUX was ist [Akronym Organisationseinheit]? 24 MA1 [vollständige Bezeichnung Organisationseinheit] 25 MA2 Tux...wie kommst Du auf den Namen? 26 TUX ich bin ein pinguin 27 MA2 was ist das <?page no="190"?> 176 Die Vermittlung des Unternehmensbilds im Chat Den Nickname TUX verwendet der Mitarbeiter als Hommage an das offizielle Maskottchen des Betriebssystem Linux. 67 Der Mitarbeiter, der den Namen Tux als Nickname verwendet, will sich damit vermutlich als technisch kompetent ausweisen. Er ist zwar auf Nachfrage noch bereit, den Zusammenhang zwischen dem Akronym TUX und einem Pinguin aufzuzeigen, erklärt sich aber nicht weiter. Der Diskurs in diesem Chat wurde bisher von Fragen technisch nicht kompetenter User bestimmt. Für diese Mitarbeiter als technische Laien gibt sich der Mitarbeiter TUX nicht zu erkennen, sondern verkompliziert den Sachverhalt noch, denn ein Zusammenhang zwischen dem Akronym TUX und einem natürlichen Pinguin ist nicht gemeint und auch nicht herstellbar. Der Mitarbeiter inszeniert sich mit der Verwendung des Nickname TUX als technisch kompetenter Insider nur gegenüber anderen Insidern. Gegenüber Laien grenzt er sich ab und verwehrt ihnen damit die Zugehörigkeit zu den Insidern. Die Wahl des Nickname und die Unterlassung einer ausführlichen Erklärung scheinen zunächst widersprüchlich, da sie wie eine explizite Selbstaussage scheinen, die aber erklärungsbedürftig ist und an sich noch keinen Sinn hat im Rahmen eines gesellschaftlichen Allgemeinverständnisses. Die fachbezogene Lexik scheint allgemeinverständlich zu sein, ergibt aber keinen Zusammenhang, denn es liegt im Gegenteil ein hoher Grad der Spezialisation vor. 68 Der Hintergrund dürfte sein, dass die Wahl des Nickname intentional erfolgte, während die Reaktion auf die Nachfrage eher symptomatisch war. Damit verhält sich dieser zweite Teil des Beispiels analog zum ersten Teil, in dem zwar das Akronym aufgelöst wird in die Langform der Bezeichnung einer Organisationseinheit, das weitere Wissen wird aber vorausgesetzt. TUX und MA2 bilden ein Interaktionssystem auf der Basis, dass beide technische Experten sind. Das Interaktionssystem wird gefestigt, da beide weiteres Wissen teilen, indem MA1 gegenüber TUX das abgrenzende Akronym auflöst. Dagegen wird MA2 ausgegrenzt, denn da er die Bedeutung des Akronyms TUX nicht kennt, gibt er sich als technischer Laie zu erkennen und erhält auf Nachfrage nach der Bedeutung keine Antwort. Damit wird er durch Ignorieren aus der Interaktion zwischen TUX und MA1 ausgegrenzt und kann sich wegen seines fehlenden Expertenwissens auch nicht selbst involvieren. Im Anschluss an die Formen der Selbstpräsentation der Mitarbeiter nach den Interaktionsaufgaben, die sie damit verfolgen, soll an den Beispielen „Lenin“ und 67 „Tux [...], ein wohlgenährter, glücklicher, rundlicher Pinguin, ist das offizielle Maskottchen des freien Betriebssystem-Kerns Linux. Der Name wurde von James Hughes als Ableitung von Torvalds Unix vorgeschlagen. Der Grund für diese Konstruktion ist wahrscheinlich die Tatsache, dass Pinguine aussehen, als würden sie einen Smoking - tuxedo [...] im Englischen-- tragen.“ (www.wikipedia.de) 68 Zur Differenzierung der fachbezogenen Lexik nach dem Grad der Allgemeinverständlichkeit und dem Grad der Spezialisation beziehe ich mich auf das Modell von K. Heller (Fluck 1996, 20), in dem mit zunehmender Spezialisation von abnehmender Allgemeinverständlichkeit ausgegangen wird. <?page no="191"?> Positionierungen 177 „Ballack“ gezeigt werden, wie Mitarbeiter einerseits die Möglichkeit zu pseudonymer Chat-Teilnahme nutzen können, um anonym zu bleiben und sich darüber hinaus ein neues, möglicherweise besseres Image zuzulegen, und andererseits die Aufbesserung des Images durch die pseudonyme Chat-Teilnahme ablehnen. Lenin 298 Lenin herr [Vorstand], ich bin überrascht, dass sie 81 jahre nach meinem tod, den von mir geprägten begriff ”kulturrevolution“ wieder hoffähig machen möchten. finden sie nicht auch, daß der begriff für ihr ansinnen nicht gut gewählt ist? sie verfolgen doch andere ziele als ich und mein chinesischer freund mao? 299 V stellen sie sich vor: meine ziele sind nicht nur anders - sie sind auch besser. Im Beispiel „Lenin“ benutzt der Mitarbeiter den Namen der historischen Person als Maske, um in deren Namen die Unternehmensleitung für die neue Unternehmenskultur, die sie anstrebt, zu kritisieren. Dabei scheint die Verwendung des Begriffs Kulturrevolution für die neue Unternehmenskultur weit hergeholt, da dieser zumindest im Kontext innerhalb des Chats, aus dem das Beispiel „Lenin“ stammt, sonst nicht verwendet wird. Die Verwendung ist vermutlich in dem Versuch begründet, größtmögliche Authentizität der gewählten Maske mit der historischen Person herzustellen. Es liegt nahe, dass der Mitarbeiter die kommunistische Politik der historischen Person als Gegenbild zu den unternehmenspolitischen Absichten darstellt, die er der Unternehmensleitung unterstellt („der begriff für ihr ansinnen nicht gut gewählt“, „sie verfolgen doch andere ziele“), so dass die Kritik an der Unternehmensleitung selbst auch nur verdeckt geäußert wird. Ein weiterer Effekt der Wahl des Nickname ist, dass der Mitarbeiter sein eigenes Image aufbessert, indem er im Chat in die Rolle einer bedeutenden historischen Person schlüpft, womit er auch das hierarchische Verhältnis, in dem er zum Vorstand des Unternehmens steht, hinsichtlich des Aspekts der Prominenz umzukehren versucht. Ballack 273 MA1 LK, gibt es den auf dieser Welt nur noch Ballack‘s, Beckenbauers, itsme‘s etc. ? Was ist den das für eine Kommunikationskultur? Gerade Itsme müsste sich jetzt ja outen um einen neuen PC bzw. Laptop zu bekommen oder? Hat denn niemand mehr das Rückgrat sich mit seinem richtigen Namen anzumelden und zu dem zu stehen was er hier verbreitet? 277 MA2 An Herr [MA1]: in einem Chat ist es üblich, sich unter sogenannten -Nicknamen- , abgekürzt -Nickszu unterhalten. <?page no="192"?> 178 Die Vermittlung des Unternehmensbilds im Chat Neben den Mitarbeitern, die als Chat-Teilnehmer einen Nickname als Benutzernamen wählen, werden in etwa einem Zehntel der Beiträge auch Namen, bestehend aus Vorname und Nachname, als Benutzernamen gewählt. Ob es sich dabei tatsächlich um den realen Namen des Mitarbeiters handelt, kann nicht nachvollzogen werden. Im Beispiel „Ballack“ beschwert sich ein Mitarbeiter, der selbst mit Vorname und Nachname am Chat teilnimmt, über die Verwendung von Nicknames, die er metaphorisch als mangelnde Charakterfestigkeit bewertend beschreibt („niemand mehr das Rückgrat“). Als Reaktion darauf nimmt ein weiterer Mitarbeiter eine Uminterpretation vor und beschreibt die Verwendung von Nicknames als verbreitete Konvention, wobei er seinen Beitrag an MA1 adressiert und durch die formelle Anrede („An Herr [MA1]: “) dessen Interpretation ins Lächerliche zieht. 5.3.1.2 Thematisierung von Einstellungen und Perspektiven Zu den Einstellungen als individuelle Werthaltungen des einzelnen Mitarbeiters und zu den Perspektiven als Sichtweisen auf einen Sachverhalt habe ich in Kap.-2.1.2. und Kap.-3.3.1. theoretische Ausführungen vorgenommen. In diesem Kapitel stelle ich dar, in welcher Form Einstellungen und Perspektiven thematisiert werden. Der Diskurs im Chat beinhaltet vorwiegend subjektive, emotional gefärbte Beiträge, in denen die Mitarbeiter Einstellungen vorwiegend symptomatisch äußern und kaum explizit thematisieren. Eine explizite Kennzeichnung der eigenen Einstellung, wie im Beispiel „Potential“, kommt nur in wenigen Einzelfällen vor und wird dann von den Mitarbeitern selbst als „Meinung“ bezeichnet. Potential 52 MA Den restlichen Markt überlassen wir unserem Mittbewerb? ? ? einen sehr gefährliche Position; nach meiner Meinung! Wer schätzu das Potential ein? ? Dem Beitrag gehen mehrere paarige Sequenzen zwischen Mitarbeitern und Mitgliedern der Unternehmensleitung voraus, in denen die Unternehmensleitung ihre Absicht deutlich macht, in einem bestimmten Absatzmarkt nur ein Marktsegment zu fokussieren. Der Mitarbeiter äußert seine Einstellung dazu („einen sehr gefährliche Position“), die impliziert, dass berufliche Sicherheit ein bedeutender Bestandteil seines Wertekanons ist, und kennzeichnet diese explizit als seine Meinung („nach meiner Meinung! “). Gleichzeitig versucht er, die Einstellung zu erfahren, auf der diese Entscheidung basiert, indem er nach den Verantwortlichen fragt („Wer schätzu das Potential ein? ? “). In den meisten Fällen werden Einstellungen nur implizit, im Rahmen der Bewertung von Sachverhalten und in Entscheidungen vor dem Hintergrund der <?page no="193"?> Positionierungen 179 eigenen Einstellung, geäußert. Im Beispiel „Lohnverzicht“ beschreibt ein Mitarbeiter Personalmaßnahmen, um sie dann nach dem Maßstab seiner eigenen Einstellung zu bewerten. Lohnverzicht 632 MA Beispiel HP: Erst wurde den Mitarbeitern ein Lohnverzicht ”aufgezwungen“ um sie dann hinterher doch rauszuschmeissen. ICh hoffe das wir uns auf dieses Niveau nicht herablassen werden! Der Mitarbeiter beschreibt die Personalmaßnahmen in einem anderen Unternehmen in einer emotionalen, negativ wertenden Weise („aufgezwungen“, „hinterher doch rauszuschmeissen“) und fügt eine negative Gesamtbewertung an („auf dieses Niveau nicht herablassen“). Da ihm als Arbeitnehmer an einer für ihn nachteiligen Lohnregelung nicht gelegen sein kann, ist davon auszugehen, dass er seiner Bewertung des Sachverhalts („aufgezwungen“, „hinterher doch rauszuschmeissen“) seine persönliche Einstellung zugrunde legt und diese verallgemeinert („dieses Niveau“). In einer neutralen Bewertung könnte er allenfalls diskutieren, wie die verschiedenen Beteiligten des Unternehmens die von ihm beschriebene Vorgehensweise unterschiedlich bewerten. Nach der gleichen Vorgehensweise, mit der die Mitarbeiter ihre eigene Einstellung generalisieren und zum Bewertungsmaßstab für Ereignisse im Unternehmen machen, findet eine Verallgemeinerung der eigenen Einstellung statt, indem sie als allgemeine Meinung aller Beteiligten angenommen wird. Im Beispiel „Motivationsstrategie“ nimmt der Mitarbeiter eine Interpretation der Äußerungen aller anderen am Chat teilnehmenden Mitarbeiter vor, die er nur für seine eigenen Äußerungen treffen könnte. Motivationsstrategie 311 MA Sehr geehrter Herr [Vorstand], anhand der hier gestellten Fragen können Sie sehen, wie demotiviert Ihre MAs sind. Wie sieht Ihre Motivationsstrategie nach so vielen Umorganisationen und Neustrukturierungen aus? Der Beitrag erscheint zu einem Zeitpunkt, zu dem der Chat schon fortgeschritten ist (Beitrag 311), und bezieht sich auf die große Zahl von Beiträgen anderer Mitarbeiter, in denen diese Kritik an den Entscheidungen der Unternehmensleitung äußern, vorwiegend als Fragen mit kritischer Implikation. Der Mitarbeiter zieht daraus die Schlussfolgerung, dass diese Mitarbeiter demotiviert sind („anhand der hier gestellten Fragen können Sie sehen, wie demotiviert Ihre MAs sind“). Im Folgenden zeigt sich dagegen, dass vielmehr er selbst nach Motivation sucht („Wie sieht Ihre Motivationsstrategie […] aus? “) und möglicherweise demotiviert ist. Die Analyse der Ursachen für Kritik im Chat ergibt, wie ich in <?page no="194"?> 180 Die Vermittlung des Unternehmensbilds im Chat Kap.-6.1.2. zeigen werde, dass Demotivation nur eine Ursache der Kritik unter mehreren ist. Glaubwürdiger ist dagegen, wie im Beispiel „Eine der schwersten Fragen“ die Verallgemeinerung der eigenen Einstellung für alle Personen in gleicher Funktion, die der Mitarbeiterin auch persönlich bekannt sind. Die Verallgemeinerung wirkt dann eher als Verstärkung der Bedeutung der geäußerten Einstellung. Eine der schwersten Fragen (Auszug) 43 MA1 Beitrag 32: Gerade in der [Organisationseinheit] haben die MA die Motivation und Interesse am Unternehmen; manchmal vermissen viele Kollegen und ich eine klare transparente Führung oder sind wir einfach zu groß? Wie aus der ausführlichen Analyse des Beispiels in Kap.-5.1.1. hervorgeht, setzt sich die Mitarbeiterin in einem längeren Diskurs dafür ein, dass der Vorstand ihre Niederlassung besucht. Um die Dringlichkeit ihres Anliegens zu verstärken, verallgemeinert sie ihre Einstellung zu ihrer Situation und bezieht ihre Kollegen mit ein („die MA“, „viele Kollegen und ich“). Die Unternehmensleitung äußert Einstellungen nicht so explizit, nimmt aber explizit Bewertungen der Einstellungen vor, die die Mitarbeiter äußern. Im Beispiel „Karrierepfade“ bewertet der Vorstand die Einstellung des Mitarbeiters, wobei die anschließende Erläuterung die Erwartungshaltung impliziert, dass der Mitarbeiter die Einstellung der Unternehmensleitung teilt. Karrierepfade (Auszug) 169 MA @[Vorstand]: Natürlich haben wir das Wachsen der [Unternehmenssparte] im Auge! Allerdings würden wir auch gerne mitwachsen...-: 170 V Richtige Einstellung. Wir brauchen schnell durchgängige, verständliche und verstehbare Modelle und Karrierepfade. Frau [GF Personalwesen] ist dabei. Werde sie bitten, dazu im Intranet mal zu schreiben, wie weit wir schon sind. Nachdem der Mitarbeiter sich an den Vorstand mit der Äußerung seiner Einstellung wendet, dass sowohl das Unternehmen als auch er selbst sich wirtschaftlich verbessern sollten, bestätigt der Vorstand explizit seine Einstellung („Richtige Einstellung.“), führt die Überlegungen des Mitarbeiters weiter und definiert die Formulierung des Mitarbeiters („mitwachsen“) nach seiner Auffassung („schnell durchgängige, verständliche und verstehbare Modelle und Karrierepfade“). Aufgrund der anschließenden Maßnahmenplanung ist anzunehmen, dass der Vorstand die Möglichkeiten der Personalentwicklung selbst als hinreichend gegeben betrachtet („Frau [GF Personalwesen] ist dabei.“) und <?page no="195"?> Positionierungen 181 die Assertion des Mitarbeiters („Allerdings würden wir auch gerne mitwachsen... : “) aus unzureichenden Informationen resultiert („dazu im Intranet mal zu schreiben“). Mit der Einstellung der Mitarbeiter hängt auch deren Perspektive zusammen,-die sie auf Ereignisse im Unternehmen haben. Die Einstellungen der Mitarbeiter lassen sich aufzeigen, indem man die Systematik beschreibt, mit der sie alternative Interpretationen auswählen, aus denen sich ihre Perspektive konstruiert. Die Mitarbeiter selbst verstehen unter Perspektive mehr als die Begriffsdefinition lexikalisch beinhaltet, indem sie Perspektive auch alltagspraktisch verwenden. Die alltagspraktische Definition für Perspektive ist für sie in einer Begriffserweiterung mit unscharfer Abgrenzung nicht nur ihre derzeitige Sicht auf das Unternehmen, sondern auch ihre zukünftige Chance, ihre Position im Unternehmen zu verbessern, wie es der Mitarbeiter im Beispiel „Perspektive“ implizit zum Ausdruck bringt. Perspektive 486 MA Sollte hier nicht über ”Perspektiven und Ziele unseres Unternehmens“ diskutiert werden, viele Fragen sind doch unmöglich zu beantworten. Perspektive heißt für mich aber auch Aus- und Weiterbildung! ! Mit einer verengten Definition des Begriffs Perspektive thematisiert der Mitarbeiter seine eigenen Perspektive auf die Weiterentwicklung der unternehmerischen Aktivitäten in der Zukunft. Dabei fokussiert er den vergleichsweise kleinen Teilbereich der Aus- und Weiterbildung. Der Nickname deutet darauf hin, dass der Mitarbeiter selbst Auszubildender ist und seine persönliche Situation als Rahmen für seine Perspektive verwendet. Er schränkt den Anspruch seiner Definition von Perspektive zwar ein („auch“), diskreditiert aber die Perspektiven und daraus resultierende Fragestellungen der anderen Chat-Teilnehmer pauschal („viele Fragen sind doch unmöglich zu beantworten“). Dabei besteht zwischen der alltagspraktischen Definition, die die Mitarbeiter für Perspektive verwenden, und der lexikalischen Definition von Perspektive durchaus ein enger Zusammenhang. Die Mitarbeiter fordern im Zusammenhang mit Perspektive eine Äußerung der Unternehmensleitung zu deren klar definierter Sicht auf das Unternehmen. Auch Zusagen einer zukünftigen Verbesserung ihrer Position bewerten die Mitarbeiter abhängig von einem verbesserten Blickwinkel auf das Unternehmen. Das Beispiel „Veränderungsprozesse“ zeigt, wie eng beide Begriffsverständnisse von Perspektive zusammenhängen. <?page no="196"?> 182 Die Vermittlung des Unternehmensbilds im Chat Veränderungsprozesse 33 MA Um als Einheit, egal innerhalb welcher [Organisationseinheit], erfolgreich zu sein müssen die Mitarbeiter a.) Perspektive und b.) Planungssicherheit haben. Dies ist innerhalb unseres Konzerns schwierig. Wann sind wir soweit, dass Personal nicht nur als Manövriermasse gesehen wird, wann können wir auf ein Ziel zuarbeiten ohne permanent umorganisiert zu werden? 33 GF Da sich unsere Kunden, deren Anforderungen, die Märkte und unser SOP permanent verändern und weiterentwickeln, ist es nur natürlich, dass wir uns darauf ständig wieder einstellen müssen. Veränderungsprozesse werden also auch in der Zukunft zur Normalität gehören. M.E. wichtig in den Zusammenhang ist, dass dieser Veränderungsprozess transparent und nachvollziebar für und am besten gemeinsam mit der Belegschaft bewältigt. Der Mitarbeiter nennt „Perspektive“ und „Planungssicherheit“ als Notwendigkeiten und beschreibt die Begriffe indirekt („Personal nicht nur als Manövriermasse“, „auf ein Ziel zuarbeiten“). Vermutlich begreift er „Perspektive“ als Zukunftsaussicht auf eine verbesserte Position („auf ein Ziel zuarbeiten“), die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auch eintreffen wird („ohne permanent umorganisiert zu werden“). Der Geschäftsführer sieht den wesentlichen Erfolgsfaktor für die Mitarbeiter darin, ihnen verlässliche Zukunftsaussichten zu geben, die unabhängig von den fortgesetzt neuen Ereignissen des Wandels gestaltet werden können („Veränderungsprozesse werden also auch in der Zukunft zur Normalität gehören. M.E. wichtig in dem Zusammenhang ist, dass dieser Veränderungsprozess transparent und nachvollziehbar für und am besten gemeinsam mit der Belegschaft bewältigt.“). Insofern geht es auch in den alltagspraktischen Definitionen von Perspektive immer auch um den Blickwinkel auf die Ereignisse des Wandels, meist in der erweiterten Bedeutung als einer angestrebten Verbesserung dieses Blickwinkels. Welche Perspektive der einzelne Mitarbeiter tatsächlich auf das Unternehmen hat, wird nicht explizit thematisiert, sondern zeigt sich nur symptomatisch an den Äußerungen der Mitarbeiter, in denen, wie im Beispiel „Unternehmenszielgruppen“, Sichtweisen auf das Unternehmen thematisiert sind. Unternehmenszielgruppen 168 MA Hallo Herr [Vorstand], ich ordne ”Mitarbeiter, ich, Kunde, Anteilseigner“. Wie sehen Sie sich und die Unternehmenszielgruppen? Wer ist ggf. Mittel zu höherem Zweck? Ergänzend zur ausführlichen Besprechung des Beispiels „Unternehmenszielgruppen“ in Kap.- 5.3.1.1. unter dem Aspekt der Selbstpräsentation ist im Folgenden die symptomatisch erkennbare Perspektive des Mitarbeiters dargestellt. <?page no="197"?> Positionierungen 183 Die hierarchische Ordnung, die der Mitarbeiter aufstellt, spiegelt seine Perspektive auf das Unternehmen und die Unternehmensstruktur wider („ich ordne „Mitarbeiter, ich, Kunde, Anteilseigner“.“). Er nennt die Gruppe der Mitarbeiter zuerst, wobei er sich im Besonderen noch einmal separat erwähnt, dann die Kunden und die Anteilseigner des Unternehmens. Weitere Gruppen, die am Geschehen im Unternehmen teilhaben, aber aus der Perspektive der Mitarbeiter wenig präsent sind, z. B. die Öffentlichkeit, betrachtet er nicht. Die Unternehmensleitung dagegen hat der Mitarbeiter wohl absichtlich nicht eingeordnet, da er das von dem Vorstand erwartet, an den er seinen Beitrag adressiert, um etwas über seine Perspektive zu erfahren. Die Bedeutung der Frage nach der Funktion als „Mittel zu höherem Zweck“ bleibt offen, denn die Frage wird weder von der Unternehmensleitung beantwortet, noch folgt ein weiterer Beitrag des Mitarbeiters. Mitunter wird die eigene Perspektive als Fremddarstellung thematisiert, um sie damit zu bekräftigen. Im Beispiel „International“ thematisiert der Mitarbeiter seine Perspektive als Fremddarstellung aus der Sicht des Kunden, wie er sie vermutet oder sich wünscht. International 212 MA Hallo Herr [Vorstand], ich befürchte, dass wir noch nicht von unseren internationalen Kunden als ein internationales Unternehmen betrachtet werden. Wie haben Sie vor, diese Problem zu überwinden? 212 GF Kommentar von mir: Sie haben Recht! Interessanterweise stehen wir uns aber selbst hier am Stärksten im Wege: Wir kommunizieren noch zu wenig nach innen und nach außen, was wir heute schon international stemmen [...] Ob die Perspektive der internationalen Kunden auf das Unternehmen den Vorstellungen der Unternehmensstrategie entspricht („dass wir noch nicht von unseren internationalen Kunden als ein internationales Unternehmen betrachtet werden“), ist eine Frage, die auch die Mitarbeiter betrifft. Aus der Antwort des Geschäftsführers lässt sich aber erkennen, dass auch die Mitarbeiter sich an einer ungenügenden Internationalität des Unternehmens stören würden („Wir kommunizieren noch zu wenig nach innen […], was wir heute schon international stemmen“). Das legt die Interpretation nahe, dass der Mitarbeiter selbst den internationalen Charakter am Unternehmen vermisst und auf die internationalen Kunden als Autoritäten verweist oder sie in seiner Fremddarstellung nur vorschiebt. Außer den Fremddarstellungen aus der vermuteten Perspektive der Kunden werden auch andere Autoritäten zitiert, deren Perspektive herangezogen wird, um der eigenen Perspektive mehr Bedeutung zu verleihen. Im Beispiel „Orga- <?page no="198"?> 184 Die Vermittlung des Unternehmensbilds im Chat nisationswissenschaftler“ wird eine betriebswissenschaftliche Perspektive als Fremddarstellung angeführt. Organisationswissenschaftler 31 MA Sehr geehrter Herr [Vorstand], schlaue Organsationswissenschaftler behaupten das in Krisenzeiten Matrixorganisationen nicht funktionieren. Die Matrix von [Organisationseinheiten] und Headquarter könnte doch auch das falsche Rezept sein oder? 32 V : Ich bin davon überzeugt, dass eine Organisation mit klaren Verantwortungszuweisungen - und eine solche haben wir uns vorgenommen gerade in schwierigen Zeiten notwendig ist. Matrix ist häufig das Synonym von unklarer Verantwortung und einer Kultur der Entschuldigungen das wird für uns nicht gelten. Es wird allerdings noch ein wenig dauern, bis wir dort ankommen das ist mir auch klar. Der Mitarbeiter hält offensichtlich die derzeitige Unternehmensstruktur für falsch („Die Matrix von [Organisationseinheiten] und Headquarter könnte doch auch das falsche Rezept sein oder? “), wobei er seine Aussage zwar als Frage formuliert, aber zugleich mit der rhetorischen Nachfrage („oder? “) Zustimmung einfordert. Seine Argumentation („das in Krisenzeiten Matrixorganisationen nicht funktionieren“) schiebt er vollständig auf fachliche Autoritäten ab („schlaue Organsationswissenschaftler“). Darauf, dass es sich eigentlich um eine Kritik handelt, die der Mitarbeiter selbst an der konkreten Situation im Unternehmen übt, weist die Bezugnahme auf die Unternehmenssituation („Die Matrix von [Organisationseinheiten] und Headquarter“) und auch die Antwort des Vorstands hin. Er weist die Infragestellung der Matrixorganisation zwar als unbegründetes Vorurteil zurück („Matrix ist häufig das Synonym von unklarer Verantwortung und einer Kultur der Entschuldigungen das wird für uns nicht gelten.“), bezieht sich aber in seiner Rechtfertigung auf die konkrete Situation im Unternehmen („Es wird allerdings noch ein wenig dauern, bis wir dort ankommen das ist mir auch klar“). Soweit die Mitarbeiter und die Unternehmensleitung im Chat ihre Perspektiven auf denselben Sachverhalt thematisieren, werden die Unterschiede in den Perspektiven der beiden Seiten (Kap.-5.3.2.2.) offenkundig. Das Zusammentreffen verschiedener Perspektiven lässt deutlich erkennen, wie unterschiedlich die Perspektiven der Mitarbeiter und der Unternehmensleitung sind und auch die signifikanten Unterschiede in der Einschätzung der Perspektive der Kunden. Am Beispiel „Technologieführerschaft“ soll deshalb im Folgenden ausführlich gezeigt werden, welche Perspektivendifferenzen zwischen den Mitarbeitern und der Unternehmensleitung auftreten und wie sie sich auf den Diskurs im Chat auswirken. <?page no="199"?> Positionierungen 185 Technologieführerschaft 15 MA Wie erklären wir unseren Kunden unsere Technologieführerschaft, wenn wir intern ein bis zwei Technologiegenerationen nachhinken [Es folgt eine Gegenüberstellung der unternehmensintern eingesetzten Produkte und der neuesten Produkte]? 15 GF Mit der Ausrollung der Standardarbeitsplätze im 1. Quartal [Jahr] machen wir einen Sprung auf die aktuelle Technologie. Grundsätzlich muss jedoch angemerkt werden, dass wir auf eine Balance zwischen Wirtschaftlichkeit und Aktualität achten müssen. Im Beispiel „Technologieführerschaft“ bringen die beiden Interaktanten, ein Mitarbeiter und ein Geschäftsführer, vier verschiedene Perspektiven vor, die Perspektive des Mitarbeiters, die des Geschäftsführers und die von beiden Interaktanten unterschiedlich vermutete Perspektive des Kunden (Abb.-26). Der Mitarbeiter unternimmt zusätzlich zur Thematisierung seiner eigenen Perspektive einen Versuch, die vermutete Kundenperspektive zu beschreiben. Sein Beitrag impliziert, dass der Kunde eine technologische Ausrüstung des Dienstleisters auf dem aktuellen Stand erwartet („Wie erklären wir unseren Kunden unsere Technologieführerschaft, wenn wir intern ein bis zwei Technologiegenerationen nachhinken“). Die eigene Perspektive des Mitarbeiters ist, dass das Unternehmen mit seiner technischen Infrastruktur im Vergleich zum vermuteten technischen Stand anderer Unternehmen nicht aktuell ist, definitiv aber nicht auf dem Niveau des technisch Möglichen, das der Markt anbietet. Darauf weist der konkrete Vergleich verschiedener technischer Anwendungen hin, den der Mitarbeiter vornimmt. Dagegen stellen sich die Perspektive des Geschäftsführers und seine Beschreibung der von ihm angenommen Perspektive des Kunden teilweise anders dar. Die Perspektive des Geschäftsführers hinsichtlich der technologischen Ausrüstung des Unternehmens ist, dass Aktualität gegen Wirtschaftlichkeit abgewogen werden muss. Das impliziert, dass der technische Stand des Unternehmens nicht mit den Möglichkeiten des Marktes gleichauf sein muss und es auch nicht sein sollte. In diesem Zusammenhang bewertet er implizit das Unternehmen als derzeit technisch nicht aktuell („machen wir einen Sprung auf die aktuelle Technologie“) und stimmt darin mit dem Mitarbeiter überein. Mit der Formulierung „grundsätzlich“ impliziert er auch die vom Mitarbeiter angeführte vermutete Kundenperspektive. Die Äußerung scheint weiter zu implizieren, dass der Geschäftsführer als Kundenperspektive annimmt, der Kunde zieht eine aktuelle, aber auch wirtschaftliche technische Ausrüstung des Dienstleisters der alleinigen Orientierung am neuesten Stand der Technik vor. Insgesamt stimmen der Mitarbeiter und der Geschäftsführer in der Perspektive auf die technologische Ausrüstung des Unternehmens hinsichtlich des Sach- <?page no="200"?> 186 Die Vermittlung des Unternehmensbilds im Chat verhalts überein, dass die technische Infrastruktur auf einem neueren, wenn auch nicht dem neuesten Stand ist, aber sie bewerten diesen unterschiedlich. Der Mitarbeiter nimmt den Markt als Maßstab dafür, auf welchem Stand das Unternehmen als technischer Dienstleister die unternehmensinterne technische Ausstattung halten sollte, und sieht das Unternehmen deshalb nicht hinreichend aktuell ausgerüstet. Diese Perspektive gründet in der Annahme, es sei unabdingbar, dass sich die Technologieführerschaft des Unternehmens am Markt in der eigenen technologischen Ausstattung widerspiegeln muss. Abb.-26: Konvergenz und Divergenz der Perspektiven im Beispiel „Technologieführerschaft“ Für die Perspektive des Geschäftsführers können die Gründe in der Marktfähigkeit der finanziellen Angebotsstruktur liegen. Die Divergenzen in der Perspektive kommen durch die Vermutung unterschiedlicher Kundenperspektiven zustande. Das liegt daran, dass der Geschäftsführer unternehmensexterne Kenntnisse heranziehen kann. So wirkt in diesem Beispiel die Wettbewerbsfähigkeit durch geringere interne Kosten als eine Gesetzmäßigkeit des Handels zwischen Unternehmen, zu denen eine nicht ganz aktuelle Infrastruktur beiträgt, auf die Perspektivbildung des Geschäftsführers und damit auf seine Interaktion im Chat ein. 5.3.2 Soziale Interaktionssysteme 5.3.2.1 Dimensionen der Interaktion Den Begriff Interaktionssystem verwende ich für die sprachliche und außersprachliche Interaktion zwischen mehreren Interaktanten. Für den Begriff Inter- <?page no="201"?> Positionierungen 187 aktionssysteme statt Gruppen spricht, dass Interaktionssysteme weder geschlossen noch dauerhaft sein müssen. Die im vorliegenden Datenkorpus festgestellten Interaktionssysteme (Abb.-27) konstituieren sich häufig nur hinsichtlich einer Interaktionsaufgabe und zerfallen mit Beendigung der Aufgabe oder während Phasen, in denen diese nicht aktiv wahrgenommen wird. Abb.-27: Dimensionen der Interaktion im Chat Im vorliegenden Datenkorpus konstituieren sich folgende Formen von Interaktionssystemen: • Der Chat bildet ein Interaktionssystem, das formal auf die zur Verfügung gestellten technischen Möglichkeiten begrenzt ist und als Interaktanten alle Chat-Teilnehmer umfasst. • Temporär bilden sich Interaktionssysteme innerhalb des Chats, deren Mitglieder sich von den anderen Chat-Teilnehmern abgrenzen (Beispiel „Pinguin“ in Kap.-5.3.1.1.). • Die Mitarbeiter und die Unternehmensleitung bilden im Chat, jeweils unter sich, zwei Interaktionssysteme, die sich durch gemeinsame Einstellungen konstituieren. Die beiden Interaktionssysteme bilden einen Sonderfall, da im Unternehmensalltag die Mitarbeiter und die Unternehmensleitung jeweils eine Gruppe bilden. Während die Interaktionssysteme, die sich innerhalb des Chats aus mehreren Chat-Teilnehmern bilden, nur temporär Bestand haben und sehr flüchtig sind, kommt es in den Chats wiederholt zur Bildung zweier getrennter Interaktionssysteme, der Mitarbeiter auf der einen und der Unternehmensleitung auf der anderen Seite (Kap.-5.3.2.2.). • Zwischen Chat-Teilnehmern und Personen außerhalb des Chats bilden sich Interaktionssysteme, indem Äußerungen der außenstehenden Personen durch einen Chat-Teilnehmer als Vermittler in den Chat hereingetragen werden (Beispiel „Sick bed“ in Kap.-5.3.2.2.). <?page no="202"?> 188 Die Vermittlung des Unternehmensbilds im Chat Weitere Formen von Interaktionssystemen entstehen, soweit ein Chat-Teilnehmer auf Personen außerhalb des Chats mit verschiedener formaler Zugehörigkeit zu Unternehmen oder Interessengruppen referiert und damit deren Sprachhandeln die Interaktion im Chat beeinflusst (Abb.-27). Dabei verweisen Mitarbeiter auf • andere Mitarbeiter des Unternehmens, wenn sie sich in der Interaktion im Chat durchsetzen wollen oder ihr Anliegen als Angelegenheit von allgemeinem Interesse darstellen wollen (Beispiel „Eine der schwersten Fragen“ in Kap.-5.1.1.). • Mitarbeiter aus verschiedenen anderen Unternehmen, soweit sie Branchenkentnnisse diskutieren und ihre Glaubwürdigkeit unterstreichen wollen (Kap.-5.2.). • Kunden, deren Fremddarstellung die Mitarbeiter zur Bestätigung ihrer eigenen Einstellung anführen (Beispiel „Technologieführerschaft“ in Kap.-5.3.1.2.). • Personen aus dem sozialen Umfeld der Mitarbeiter, deren Meinung sie zur Bekräftigung ihrer eigenen Meinung anführen, die damit Allgemeingültigkeit erlangen soll. Das betrifft Äußerungen zur Außendarstellung des Unternehmens, für die Personen aus dem sozialen Umfeld als objektive Betrachter angeführt werden (Beispiel „Organisationswissenschaftler“ in Kap.-5.3.1.2.). Herausragend ist die Bildung getrennter Interaktionssysteme für die Mitarbeiter und die Unternehmensleitung innerhalb des Chats. Dabei chatten zwar nur die Mitarbeiter auch untereinander (Abb. 27), während sich das Interaktionssystem der Unternehmensleitung durch eine gemeinsame Werthaltung äußert, auf der ihre Interaktion beruht. Im folgenden Kapitel soll gezeigt werden, wie sich aus den unterschiedlichen Werthaltungen und Perspektiven, die diesen beiden Interaktionssystemen, dem der Unternehmensleitung und dem der Mitarbeiter, zugrunde liegen, zwei Seiten bilden, die Seite der Unternehmensleitung und die Seite der Mitarbeiter. 5.3.2.2 Bildung von zwei Seiten im Chat Das Sprachhandeln der Chat-Teilnehmer orientiert sich, wie bereits unter verschiedenen Aspekten dargestellt, an der Situation des Unternehmensalltags (Kap.- 2.1.1.) außerhalb des Chats. Durch die Organisation des Chats als Diskurs zwischen den Mitarbeitern und der Unternehmensleitung, die Fragen der Mitarbeiter zu Ereignissen des Unternehmensalltags beantwortet, und durch die Möglichkeiten der Mitarbeiter, sich in Expertenthemen mit der Chat-Teilnahme in die Maßnahmenplanungen des Unternehmens einzubringen, wird der Unternehmensalltag zum Kriterium der Orientierung. Angelegenheiten außerhalb der beruflichen Themen werden von den Mitarbeitern in keinem einzigen Fall <?page no="203"?> Positionierungen 189 thematisiert und auch die wenigen thematisch außerberuflichen Exkurse, die die Unternehmensleitung im Rahmen von homileischer Kommunikation einbringt (z. B. der Auszug „Komme gerne nach Hamburg (meine Frau ist Hamburgerin)“ aus Beitrag 8 im Beispiel „Eine der schwersten Fragen“ in Kap.- 5.1.1.), greifen die Mitarbeiter nicht auf. Durch die Fokussierung der Kommunikation auf das berufliche Umfeld haben sowohl die Mitarbeiter als auch die Unternehmensleitung jeweils untereinander homogene Perspektiven, Einstellungen und Interessen, die bei beiden Gruppen aus der Ähnlichkeit ihrer Informationen, Motivationen und Ziele resultieren. Damit bilden die Mitarbeiter und die Unternehmensleitung jeweils über das Bestehen als Interaktionssystem im Chat hinaus eine tatsächliche Gruppe, die über die konkrete Interaktion hinaus Gemeinsamkeiten aufweist. Für die Interaktionssysteme verlaufen die Grenzen zwischen Perspektiven, Einstellungen und Interessen situationsabhängig veränderlich zwischen den Chat- Teilnehmern, während die im Unternehmensalltag bestehenden Gruppen, Mitarbeiter und Unternehmensleitung, zwei Seiten bilden, zwischen denen die Grenzziehung hinsichtlich Perspektiven, Einstellungen und Interessen gebündelt und dauerhaft stattfindet. In der wissenschaftlichen Literatur wird teilweise unterschiedlich strikt die Ansicht vertreten, dass Vorgesetzte und Mitarbeiter keine Gegensätze sind und keine klare Abgrenzung als Gruppen möglich ist. Man würde es sich bei der Analyse zu einfach machen, wenn man ein Konzept wie das dichotomische Rollenpaar ‚Vorgesetzter vs. Angestellter‘ bestätigen wollte. Einer empirischen Analyse fällt vielmehr die Aufgabe zu, komplexe ‚Aus- und Überformungen‘ dieser Relation und das interaktive Zustandekommen der Komplexität zu untersuchen. (Müller 1997, 37) Im vorliegenden Datenkorpus sind, wie zu zeigen sein wird, durchaus zwei Seiten, Mitarbeiter und Unternehmensleitung, aufgrund ihrer Perspektiven, Einstellungen und Interessen voneinander abgrenzbar. Das liegt daran, dass die mittleren hierarchischen Ebenen nicht am Chat teilnehmen, so dass eine hierarchisch eindeutige Aufteilung der Chat-Teilnehmer in zwei hierarchisch getrennte Gruppen entsteht. Das spiegelt sich darin wider, dass sich in der Vielzahl der paarigen Sequenzen die Paare fast immer aus Beiträgen von jeweils einem Mitarbeiter und einem Mitglied der Unternehmensleitung zusammensetzen. Die unterschiedlichen Perspektiven, Einstellungen und Interessen werden selten explizit thematisiert, vielmehr manifestieren sie sich, wie im Beispiel „Selbstbeweihräucherung“, in den Bewertungen der Interessen, die der Unternehmensleitung unterstellt werden. <?page no="204"?> 190 Die Vermittlung des Unternehmensbilds im Chat Selbstbeweihräucherung 153 MA Bloß wer hat schon zeit, sich die Top-Info - Selbstbeweihräucherungen durchzulesen - Warum ist so etwas nicht zentral in vernünftiger Form und Offline nutzbar hinterlegt [...] 154 UL Da muss ich Ihnen widersprechen. Selbstbeweihräucherung kann ich bei unseren vielen Success Storys nicht erkennen. Wir berichten aber auch aktuell zu wichtigen Infos über unsere Wettbewerber und unsere Stellung im Markt. Es gibt hier keine Nachrichtenunterdrückung. Werde mich mit den CIO-Leuten mal darüber unterhalten, ob man die Top-Infos auch als Mail zum Download anbieten kann. Der Mitarbeiter unterstellt der Unternehmensleitung, eine regelmäßig erscheinende Information im Intranet nur herauszugeben, um die Unternehmensleitung in einen unangemessen positiven Kontext zu stellen, und bewertet das Verhalten als „Selbstbeweihräucherung“. Die Kritik an der Form, in der geschäftliche Erfolgsmeldungen („Success Stories“) präsentiert werden, ist vage („nicht zentral in vernünftiger Form und Offline nutzbar“) und lässt annehmen, dass damit eher die Kritik als „Selbstbeweihräucherung“ noch einmal verstärkt werden soll. Insgesamt ist die Kritik des Mitarbeiters weder konkret noch nachvollziehbar und es liegt nahe, dass ihn die Selbstpräsentation der Unternehmensleitung mittels aktueller Erfolgsmeldungen grundsätzlich stört. Dagegen stellt die Unternehmensleitung die Berichterstattung als ausgewogen dar und tritt durch die konkrete Nennung von Beispielen („Wir berichten aber auch aktuell zu wichtigen Infos über unsere Wettbewerber und unsere Stellung im Markt“) glaubwürdig auf. Der Vorwurf der „Selbstbeweihräucherung“ wurde offenbar als Vorwurf der einseitigen Selektion von Nachrichten interpretiert und zurückgewiesen („Es gibt hier keine Nachrichtenunterdrückung“). Beide Seiten haben offenbar vorgefasste Meinungen über die jeweils andere Seite („Selbstbeweihräucherungen“, „Nachrichtenunterdrückung“), die aus dem Diskurs selbst nicht entstanden sein können, sondern einem im Unternehmensalltag erworbenen Gruppenverständnis entspringen. Über die Unterschiede in den Perspektiven, Einstellungen und Interessen hinaus manifestieren weitere Einflussfaktoren die Aufteilung in zwei Seiten. Die hierarchische Distanz zur Unternehmensleitung bewirkt eine Abgrenzung der Mitarbeiter von der Unternehmensleitung. Das wird an den Beispielen deutlich, in denen die Abgrenzung in zwei Seiten durch offensichtlich gezeigte hierarchische Nähe aufgebrochen wird. Im Beispiel „Vertriebsmitarbeiter“ wird der Mitarbeiter, der seinen realen Namen als Nickname im Chat verwendet, von der Unternehmensleitung auch mit Namen angesprochen. <?page no="205"?> Positionierungen 191 E-Business 135 MA Wie können die verantwortlichen Vertriebsmitarbeiter für einzelne Kunden im Intranet sichtbar gemacht werden? Heute besteht eine Welle von Telefonaten und Nachfragen, bis die Personen in den Selling-Teams identifiziert sind (vielfach würden für unsere Top 250 Kunden im ersten Schritt die Information online genügen). Auch vom Ausland sind viele Anfragen gegeben. : 136 UL Hallo Herr [Mitarbeiter], dazu machen wir uns auch Gedanken über eine kundenbezogene Extranet-Lösung. Guter Hinweis. Schicken Sie mir doch bitte mal eine Mail um diese Anforderung zu präzisieren. Da müssen wir ran. Vermutlich gehört der Mitarbeiter auch im Unternehmensalltag zum Umfeld der Unternehmensleitung. Beide demonstrieren Nähe durch ein detailliertes gemeinsames Hintergrundwissen, mit dem sie in medias res gehen („Da müssen wir ran“), die Verwendung des realen Namens als Nickname und die persönliche Anrede („Hallo Herr [Mitarbeiter]“). Vergleichbare Nähe wird unmittelbar im Chat nur selten aufgebaut. Offenbar ist die hierarchische Nähe offline im Unternehmensalltag relevanter als temporär im Chat manifestierte Nähe, die alle Chat-Teilnehmer haben. Nähe online zu bilden ist weitgehend erfolglos, da sie nicht über Kontaktmöglichkeiten oder das Thema, sondern über die größte gemeinsame Sicht der Dinge und möglichst weitgehend übereinstimmende Perspektiven zustandekommt. Ähnliche Ergebnisse erhielt Müller (2006) in der Untersuchung von Gesprächsdaten aus drei Betrieben, so dass vermutet werden kann, dass es sich dabei um ein allgemeines Phänomen handelt. Die Widersprüchlichkeit der Einstellungen, Perspektiven und Interessen, entlang derer sich die beiden Seiten manifestieren, wirkt sich in den Sprachhandlungen der Chat-Teilnehmer aus. Insofern teilt der Konflikt, hierarchisches vs. fachliches Wissen zum Gegenstand der eigenen Handlungsorientierung zu machen, den Brünner beschreibt (Brünner 2002, 30), im vorliegenden Datenkorpus die Chat-Teilnehmer in zwei Seiten, wobei die hierarchische Handlungsorientierung der Unternehmensleitung, die sachliche den Mitarbeitern zufällt. Für beide Gruppen ergibt sich daraus eine „kollektive Identität“, die Döring als auf gleichen Perspektiven, Umfeld, Zielen basierend beschreibt, wobei für Mitarbeiter, die eine hierarchische Nähe zur Unternehmensleitung haben, die Identität von der Selbstinterpretation abhängt (Döring 2003). Für den Aspekt der Ziele nennt auch Kleinberger Günter Konfliktpotential zwischen Mitarbeitern und Unternehmensleitung (Kleinberger Günther 2003, 19). Dagegen hält Müller, wie bereits eingangs des Kapitels angemerkt, die Bestätigung des dichotomen Rollenpaars Vorgesetzter/ Angestellter für zu einfach und fordert für die empirische Analyse die „komplexe ‚Aus- und Überformungen‘ dieser Relation <?page no="206"?> 192 Die Vermittlung des Unternehmensbilds im Chat und das Zustandekommen der Komplexität zu untersuchen“ (Müller 1997, 37). Im vorliegenden Datenkorpus wird die Einteilung in die Gruppe der Mitarbeiter und die Gruppe der Unternehmensleitung von den Mitarbeitern aber genau so einfach gesehen. Die Vorstellung von zwei Seiten äußert sich sowohl intendiert wie im Beispiel „Viele Fragen“, als auch symptomatisch, wie im Beispiel „Serverprobleme“. Viele Fragen (Auszug) 384 MA Hallo Herr [Vorstand], wir haben viele Fragen an Sie und die GF, welche haben Sie umgekehrt an uns Mitarbeiter oder konkret mich? Der Mitarbeiter thematisiert den Gesprächstyp Befragung konflikthaft und zeigt dazu zwei Seiten auf, indem er die Unternehmensleitung („Sie und die GF“) den Mitarbeitern („uns Mitarbeiter“), zu denen er sich selbst zählt, gegenüberstellt („umgekehrt“). Der Versuch des Mitarbeiters, die Situation umzukehren, dokumentiert, dass eine Teilung in zwei Seiten wahrgenommen wird. Serverprobleme (Auszug) 366 MA ...oder sich als normaler teilnehmer einloggen? ich würde die antworten auch akzeptieren, wenn sie im oberen feld erscheinen... Der Beitrag ist einem Chat entnommen, in dem ein Vorstand wegen technischer Schwierigkeiten nicht am Chat teilnehmen und deshalb die Fragen der Mitarbeiter nicht beantworten kann. Der Mitarbeiter thematisiert die Organisation des Chats und macht den Verbesserungsvorschlag, dass der Vorstand sich an einem anderen PC unter einem anderen Nickname einloggt. Die Vorstellung von zwei Seiten, die die Unternehmensleitung und die Mitarbeiter bilden, äußert er nur symptomatisch, indem er die Chat-Teilnehmer in diese beiden Seiten aufteilt und den Vorstand als Behelfslösung wegen der technischen Schwierigkeiten der Gruppe der Mitarbeiter zuordnet („sich als normaler Teilnehmer einloggen“). In beiden Beispielen teilen die Mitarbeiter, intendiert oder symptomatisch, die Unternehmensleitung und die Mitarbeiter in zwei unterschiedliche kollektive Identitäten. Das bedeutet eine „Generalisierung auf der Ebene der Erfahrungsmodi“ (Döring 2003, 330), wobei der soziale Modus der Zugehörigkeit und Anerkennung im Zentrum des Selbstverständnisses steht und die präsentierten Teil-Identitäten aus dieser Sicht konstruiert werden. Dabei sehen die Mitarbeiter die beiden Seiten nicht wertfrei und die Bewertung fällt zugunsten der eigenen Gruppe aus („normaler teilnehmer“ im Beispiel „Serverprobleme“). Nach der Social Identity Theory von Tajfel und Turner bewirkt die Abgrenzung <?page no="207"?> Positionierungen 193 einer positiv bewerteten Ingroup von der negativ bewerteten Outgroup die Abgrenzung und Etablierung von Identitäten, Selbstwertgefühl und Gruppenprozessen (Tajfel/ Turner 1986). Die Gruppe der Unternehmensleitung wird von den Mitarbeitern häufig mit dem Unternehmen selbst gleichgesetzt. Diese Beobachtung beschreibt auch Müller für seine Datenkorpora aus drei Betrieben: Bei der Beschreibung der innerbetrieblichen Lebenswelt können mindestens zwei Ebenen als heuristisch voneinander trennbare Objekte definiert werden: der Gesamtbetrieb mit der ihm eigenen Kommunikationskultur, was gleichsam der ‚globalen‘ sozialen Welt des Betriebs entspricht, und die ‚kleine‘ Lebenswelt der Mitarbeiter im Betrieb, die im Rahmen unterschiedlicher Arbeitsaufgaben unterschiedliche Reichweiten des Handelns haben, diverse Schwellen beim Betreten fremder Bereiche überschreiten, in unterschiedliche Gruppen involviert sind, die sich mehr oder weniger regelmäßig treffen usw. (Müller 2006, 31) In einigen Beispielen trennen die Mitarbeiter jedoch die Interessen der Unternehmensleitung von den Unternehmenszielen, meistens um die Unternehmensleitung zu kritisieren. Das weist, der Social Identity Theory folgend, darauf hin, dass die Unternehmensleitung von den Mitarbeitern als „andere Seite“ konstruiert wird, um die eigene Gruppe zu bekräftigen. Zudem resultiert die Bildung von zwei Seiten vorrangig aus den dargestellten Ursachen und ist erst dann an Personenkreise oder deren Funktionen gebunden. So werden Personenkreise, die dem Profil der Outgroup entsprechen, d. h. zu den Kerninteressen der Mitarbeiter konträre Interessen verfolgen, temporär als zweite Seite gesehen. Der Versuch der Konsensbildung mit dem Vorstand zu Lasten des abwesenden direkten Vorgesetzten im Beispiel „Eine der schwersten Fragen“ ist ein Beleg für die Ausgrenzung der mittleren Führungsebene („Middle Management“). Eine der schwersten Fragen (Auszug) 125 MA Hr. [Vorstand], ich mag noch mal ergänzen - der Eindruck zum Führungsstil bezog sich auf das Middle Management nicht die Top Ebene! Die Mitarbeiterin kritisiert an ihrem Vorgesetzten eine bestimmte Werthaltung und die Ausübung von hierarchischem Druck. Dieses Verhalten vermutet sie nicht pauschal bei allen Vorgesetzten, sondern macht es an konkreten Interaktionen ihres Vorgesetzten fest. Das unterstreicht der Versuch der Solidarisierung mit dem Vorstand, um hierarchischen Druck, den der direkte Vorgesetzte ausübt, abzuwehren. Damit wechseln bei gleichbleibendem Profil der „anderen Seite“ die Personen, auf die als neue „andere Seite“ referiert wird, während die Unternehmensleitung themenbezogen sogar zur Solidarisierung gegen die neue „andere Seite“ aufgefordert wird. <?page no="208"?> 194 Die Vermittlung des Unternehmensbilds im Chat 5.4 Exkurs: Auswirkungen politischer und rechtlicher Rahmenbedingungen auf die Chat-Kommunikation Erst seit wenigen Jahren gibt es Untersuchungen dazu, inwiefern Diskurse von politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen beeinflusst werden und inwieweit die Interaktanten sich an diesen Rahmenbedingungen orientieren (Müller 2006, Kleinberger Günther 2003). Hinsichtlich der Chat-Kommunikation mag das daran liegen, dass die meisten Chats informell sind und die Chat-Teilnehmer keine besonderen rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen vorfinden. In den wissenschaftlichen Arbeiten, die sich mit dem Einfluss von Recht und Politik auf computervermittelte Kommunikation befassen, werden vorwiegend die Einwirkungen auf die taktischen Züge des Sprachhandelns untersucht. Brünner hat analysiert, wie sich die Politik auf das Handeln von Unternehmen bei der online durchgeführten Versteigerung von UMTS Lizenzen auswirkt und wie das im Diskurs sichtbar wird (Brünner 2002). Die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen, die auf das vorliegende Datenkorpus einwirken, sind weitreichend. Politisch betreffen sie Bereiche der Wirtschaftspolitik, besonders die Arbeitsmarktpolitik und Aktivitäten gewerkschaftlicher Organisationen sind bedeutende Einflussfaktoren. Rechtliche Rahmenbedingungen entstehen durch den Datenschutz, aber auch die Äußerungen der Unternehmensleitung, zumindest der Vorstände und Geschäftsführer, können bindend sein, da sie Organe im Sinne des AG- und GmbH Gesetzes sind. Im Folgenden soll das Sprachhandeln im vorliegenden Datenkorpus im Hinblick auf Auswirkungen von politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen untersucht und den Fragestellungen nachgegangen werden, wie die Unternehmensleitung Antworten gibt oder ausspart, wenn die Mitarbeiter Fragen stellen, deren Beantwortung wirtschaftspolitische Strategien oder Informationen, die dem Datenschutz unterliegen, offenbaren würde und wie die Unternehmensleitung reagiert, wenn die Mitarbeiter Vorschläge machen, denen taktische Überlegungen entgegenstehen. Im vorliegenden Datenkorpus zeigt sich durchgehend, dass taktische Züge der Unternehmensleitung, wie im Beispiel „Technologieführerschaft“, offen erklärt werden, soweit die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen keine Einschränkungen hinsichtlich des behandelten Themas verlangen. Das betrifft fachliche Themen und die Umsetzung bereits beschlossener organisatorischer Veränderungen. Technologieführerschaft 15 MA Wie erklären wir unseren Kunden unsere Technologieführerschaft, wenn wir intern ein bis zwei Technologiegenerationen nachhinken […]? <?page no="209"?> Exkurs: Auswirkungen politischer und rechtlicher Rahmenbedingungen 195 15 GF Mit der Ausrollung der Standardarbeitsplätze im 1. Quartal [Jahr] machen wir einen Sprung auf die aktuelle Technologie. Grundsätzlich muss jedoch angemerkt werden, dass wir auf eine Balance zwischen Wirtschaftlichkeit und Aktualität achten müssen. Die inhaltliche Divergenz der Beiträge des Mitarbeiters und des Geschäftsführers beruhen auf einer Perspektivendivergenz aufgrund unterschiedlich ausgeprägter Marktkenntnisse. Das Beispiel ist hinsichtlich der Perspektivendifferenz in Kapitel 5.3.1.2. ausführlich analysiert. Die Perspektivendifferenz nimmt der Geschäftsführer zum Anlass, dem Mitarbeiter die Kriterien („Wirtschaftlichkeit und Aktualität“) darzulegen, nach denen er seine Entscheidung trifft. Im Beispiel „Speculation“ dagegen wird eine Angelegenheit von unternehmenspolitischer Tragweite thematisiert. Diese kann weder beantwortet noch deren Entscheidungsgrundlage erläutert werden, bevor sich die Unternehmensleitung offiziell äußert, so dass die nachgefragte Information nicht vorab im Chat bekannt gegeben werden kann. Speculation 22 MA We‘ve heard that M.[Vorstand] could possibly be leaving the head of [Unternehmenssparte]. Could you confirm ? What‘s the situation-? 22 UL We should not be part of this speculation. Die Unternehmensleitung weist die Frage zurück, da deren Beantwortung juristische Folgen haben könnte und die Information relevant für andere Unternehmen und die Öffentlichkeit wäre. Eine ähnliche Situation, in der die Unternehmensleitung aus strategischen Gründen eine Information nicht vorzeitig im Chat bekannt geben kann, zeigt das Beispiel „Größere Kunden“ in Kap. 6.2.1.4. Für die rechtlich verbindliche Beantwortung von Fragen ist der Diskurs im Chat nicht vorgesehen. Wie auch der Geschäftsführer im Beispiel „Rechtsverbindlich“ verdeutlicht, soll der Chat zur Information, der Beantwortung von Fragen und der Erklärung von Zusammenhängen dienen. Rechtsverbindlich 7 MA iST ein email Verkehr mit ein anonymen HR Account rechtsverbindlich ? 8 GF Im Chat mit der Geschäftführung geht es nicht darum rechtsverbindliche Geschäfte zu tätigen, sondern Fragen so weit es im Rahmen eines Chats möglich ist zu klären. <?page no="210"?> 196 Die Vermittlung des Unternehmensbilds im Chat Die Unternehmensleitung versteht den Chat nicht als Instrument zur Information auf Augenhöhe, wohl aber, um den Mitarbeitern Informationen zu geben und Zusammenhänge zu erklären. Der intendierte Einsatz des Chats als kommunikatives Instrument, um bei den Mitarbeitern für Neuorganisationen im Zuge des Wandels zu werben (Kap.- 4.2.1.), wird hinsichtlich der Belange, die die Mitarbeiter nachvollziehen sollen, auch tatsächlich umgesetzt. Die Entscheidung, welche Elemente des Wandels erklärt werden und über welche nicht informiert wird, trifft jedoch die Unternehmensleitung. Wie sich das auf die formal gegebene Bevorrechtigung der Mitarbeiter zu Fragen auswirkt, ist in Kapitel- 6.3.2 beschrieben. Die Selektion der Fragen durch die Unternehmensleitung zeigt sich besonders deutlich, soweit die Unternehmensleitung, wie im Beispiel „Organigramme“, bei der Beantwortung einzelne Aspekte der Frage herausgreift und andere unbeantwortet lässt. Organigramme 45 MA Wenn die Org.-Strukturen fest stehen, könnte man sehr schnell Vertrauen bei allen betroffenen schaffen (auch bei [Organisationseinheit]), wenn man die (detaillierten) Organigramme ins Intranet einstellen würde. 49 UL Die Organigramme haben wir, dürfen sie aber noch nicht veröffentlichen auf grund der bestehenden Joint Venture Regelungen. [Namenskürzel] Obwohl der Mitarbeiter die unternehmensinterne Bekanntgabe neuer Organisationsstrukturen mittels der Veröffentlichung der Organigramme als vertrauensbildende Maßnahme thematisiert, greift die Unternehmensleitung in ihrer Antwort nur den rechtlichen Aspekt des Vorschlags heraus und verweist auf die juristischen Rahmenbedingungen, die ihr Handeln bei der Umsetzung neuer Organisationsstrukturen einschränken. Politische und rechtliche Rahmenbedingungen können den Diskurs im Chat auch beeinflussen, ohne dass ihr Einfluss kommunikativ sichtbar wird oder nur implizit, indem die Chat-Teilnehmer, wie im Beispiel „Erhöhung der Bezüge“, Anspielungen auf politische Ereignisse machen, die im Zusammenhang mit Ereignissen im Unternehmen stehen. Das Beispiel „Erhöhung der Bezüge“ zeigt einen Beitrag eines Mitarbeiters, der nur aus dem politischen Kontext heraus interpretiert werden kann. Erhöhung der Bezüge 79 MA (Wann) macht der Vorstand die instinktlose Erhöhung der Bezüge rückgängig? <?page no="211"?> Vermittlung von Wahrnehmungen 197 Mit der Frage nach dem Zeitpunkt äußert der Mitarbeiter nur implizit seine Behauptung, dass die Bezüge des Vorstands erhöht wurden, und seine Bewertung dieser Maßnahme als „instinktlos“, wobei sich nur der Verwendung des Begriffs Bezüge statt der Begriffe Lohn oder Gehalt entnehmen lässt, dass die Entgelte des Vorstands gemeint sind. Damit geht der Mitarbeiter vermutlich von dem gemeinsamen Hintergrundwissen aller Chat-Teilnehmer aus, dass die Bezüge des Vorstands erhöht wurden. Es dürfte aber nicht allen Chat-Teilnehmern bekannt sein, dass diese Erhöhung der Vorstandsbezüge durch den damaligen Kanzlerkandidaten Edmund Stoiber zum Wahlkampfthema gemacht wurde (Deekeling/ Arndt 2006, 33), so dass anzunehmen ist, dass der Mitarbeiter eher dessen Äußerungen aufgreift und im Chat thematisiert, als dass die Thematisierung der Vorstandsbezüge sein eigenes Anliegen ist. Insofern ist offenkundig, dass der Mitarbeiter durch die öffentlich gemachte politische Diskussion im Vorfeld der Bundestagswahl beeinflusst ist, und es bleibt folglich offen, ob er ohne diese Beeinflussung die Erhöhung der Bezüge des Vorstands thematisiert hätte und wie er sie bewerten würde. 5.5 Vermittlung von Wahrnehmungen Nachdem sich in den bisherigen Betrachtungen herausgestellt hat, dass die kommunikative Leistung der Chat-Kommunikation im vorliegenden Datenkorpus darin besteht, mit den Mitarbeitern und der Unternehmensleitung zwei Seiten mit grundlegend unterschiedlichen sozialen Vorstellungen zusammenzuführen, stellt sich die Frage, inwieweit die Intention der Unternehmensleitung, den Mitarbeitern ihre Vorstellungen zu vermitteln und andererseits die Vorstellungen der Mitarbeiter kennen zu lernen (Kap.-4.2.1.), tatsächlich umgesetzt wird. Zunächst soll in diesem Kapitel gezeigt werden, wie und inwieweit Einstellungen vermittelt werden und wie die Perspektive als Grundlage für die Bildung sozialer Vorstellungen dient (Kapitel 5.5.1.). Anschließend soll die Sprachhandlung Perspektiven übernehmen (Kapitel 5.5.2.) herausgearbeitet werden. 5.5.1 Vermittlung von Einstellungen Für die Mitarbeiter besteht der wesentliche Anreiz zur Teilnahme am Chat darin, die erweiterten Möglichkeiten zur Kommunikation mit der Unternehmensleitung zu nutzen, um sich dort mitzuteilen und Fragen zu stellen. Aus der Sicht der Unternehmensleitung sollen auf dem Kommunikationsweg über den Chat, neben dem vorrangigen Zweck der Informationsvermittlung, neue Einstellungen an die Mitarbeiter vermittelt werden, die für die Neuorganisationen erforderlich sind. Es ist vorwegzunehmen, dass sich im Chat nur Ansätze erfolgreicher Vermittlung von Einstellungen feststellen lassen und über die weitere Entwicklung der Einstellung außerhalb des Chats keine Aussagen getroffen wer- <?page no="212"?> 198 Die Vermittlung des Unternehmensbilds im Chat den können. Die ersten Ansätze erfolgreicher Vermittlung von Einstellungen äußern sich im Chat meisten dadurch, dass, wie im Beispiel „Jahresabschluss“, Aussagen der Unternehmensleitung aufgegriffen und, darauf basierend, weitergehende Fragen gestellt werden. Jahresabschluss 67 MA H. [GF], Sie haben in einer der vorherigen Antwort gesagt, dasss- Sie mit dem Jahresabschluß der [Organisationseinheit] zufrieden sind. Gibt es ein Jahresbericht mit den entsprechenden Betriebsergebnissen der einzelnen Produkten für die Kollegen? Der Mitarbeiter wiederholt eine Aussage der Unternehmensleitung („Sie haben in einer der vorherigen Antwort gesagt“) und versucht diese offenbar nachzuvollziehen. Dazu fragt er eine schriftliche Dokumentation an („Jahresbericht“), die er auch weiter verteilen möchte („für die Kollegen“). Sein Sprachhandeln weist darauf hin, dass er die Einstellungen, die an ihn herangetragen werden, zur Kenntnis nimmt und zumindest bereit ist, sich damit auseinanderzusetzen. Abb.-28: Kategorien der Sprachhandlungen zur Vermittlung von Einstellungen In Abb.-28 ist ein Überblick über die Sprachhandlungen und ihre Zwecke sowie ihre Kategorisierung gegeben. Anschließend sind die Sprachhandlungen in der nummerierten Reihenfolge aufgeführt und anhand von Beispielen erläutert. <?page no="213"?> Vermittlung von Wahrnehmungen 199 Im Folgenden sollen die Sprachhandlungen der Chat-Teilnehmer, die in der Funktion Einstellungen zu vermitteln verwendet werden, zu Kategorien geordnet werden. Dazu werden zunächst die Chat-Teilnehmer in die Seite der Mitarbeiter und die Seite der Unternehmensleitung aufgeteilt. Die Kategorisierung berücksichtigt als relevante kommunikative Funktionen die allgemeinen chatspezifischen Funktionen und die Funktionen der Kommunikation, die im Befassen mit Ereignissen des Wandels angewandt werden. Soweit über diese Kriterien hinaus in Einzelfällen noch weitere entstehen, werden sie mit Beispielen belegt, aber nicht weiter verfolgt. Gestaltungsanspruch (1) Die Möglichkeit für die Mitarbeiter, Fragen zu stellen und Vorschläge zu machen, impliziert auch die Möglichkeit, hinsichtlich der Organisation des Unternehmens Gestaltungsansprüche zu erheben. In Kapitel 6.3.1. wird der Gesprächstyp Befragung und in Kapitel 6.4. die Sprachhandlung Vorschlag dargestellt, die sich jeweils aus verschiedenen Varianten zusammensetzen. Unabhängig von den einzelnen Varianten, beruhen beide auf teilweise explizit geäußerten Behauptungen, die aus der Einstellung des Interaktanten resultieren. Im Beispiel „Verbesserungsformular“ macht der Mitarbeiter einen Vorschlag, den er entsprechend seiner Einstellung bewertet. Verbesserungsformular 186 MA Wäre es nicht sinnvoll,unseren TOP Kunden ein Vorschlags-und Verbesserungsformular zukommen zu lassen,damit wir wissen wo unsere stärken und schwächen liegen? ? Der Mitarbeiter macht einen Vorschlag, den er selbst als „sinnvoll“ bewertet, da er die „stärken und schwächen“ des Unternehmens offenlegt. Damit impliziert der Mitarbeiter ein Interesse der Kunden an der Äußerung von Verbesserungsvorschlägen und ihre Kompetenz, die Qualität der Leistungen zu bewerten, ohne über weitere Indizien für die Relevanz seiner Interpretation zugrunde liegenden Kriterien zu verfügen. Der Mitarbeiter erhebt seinen Gestaltungsanspruch folglich ohne Einbeziehung äußerer Einflussfaktoren. Meinungsführung (2) Die Interpretationen der Einstellung anderer Mitarbeiter, die meistens als Meinung bezeichnet werden, resultieren in allen Fällen aus der Übertragung der eigenen Einstellung auf andere oder, wie im Beispiel „Eine der schwersten Fragen“ (Kap. 5.1.1. und Kap. 6.3.1.), aus der Übernahme einer Sprecherrolle für mehrere Mitarbeiter in der gleichen Situation, die ein ähnliches Anliegen haben. <?page no="214"?> 200 Die Vermittlung des Unternehmensbilds im Chat Eine der schwersten Fragen (Auszug) 43 MA Beitrag 32: Gerade in der [Organisationseinheit] haben die MA die Motivation und Interesse am Unternehmen; manchmal vermissen viele Kollegen und ich eine klare transparente Führung oder sind wir einfach zu groß? Informationsnachfrage (3) Aus diesem Beispiel ist auch der folgende Auszug entnommen, der exemplarisch für die vielen Ausprägungen der Informationsfrage aus dem Gesprächstyp Befragung angeführt ist, in denen die Frage die Einstellung des Interaktanten impliziert. Eine der schwersten Fragen (Auszug) 33 MA Welchen Wahrheitsgrad hat das Gerücht, EDS würde Anteile der [Unternehmenssparte] übernehmen? Im Beispiel „Eine der schwersten Fragen“ hat die Mitarbeiterin, wie sich aus dem Gesamtzusammenhang des Beispiels mehrfach entnehmen lässt, die Einstellung, dass Informationen, die sie von ihren Vorgesetzten erhält, nicht unbedingt zutreffen („Gerücht“), so dass sie die Informationen bei der Unternehmensleitung verifizieren möchte („Wahrheitsgrad“) und ihre Einstellung durch die Wortwahl auch vermittelt. Ratsuche (4) Zur kommunikativen Handlung Kritik und zum Gesprächstyp Befragung gehören auch Fragen, in denen die Mitarbeiter, wie im Beispiel „Kundenprojekt“, nach Rat suchen, um sich im Unternehmen besser zu orientieren. Kundenprojekt 138 MA zur Zeit bemühe ich mich im Rahmen eines Kundenprojektes um die Beauftragung von internen und externen Leistungserbringern. Leider sind mir die zugrundeliegenden Prozesse bisher noch nicht klar. Auch die Laufzeiten bis zur endgültigen Beauftragung erscheinen mir mangelhaft. Wer kann mir da etwas Transparenz verschaffen ? ? Der Mitarbeiter thematisiert sein Aufgabengebiet und beklagt, dass ihm darin die Orientierung fehlt („Leider sind mir die zugrundeliegenden Prozesse bisher noch nicht klar.“). Von dieser Ausgangssituation aus sucht er Rat („Wer kann mir da etwas Transparenz verschaffen ? ? “), wobei er durch eine vorausgeschickte Kritik („Auch die Laufzeiten bis zur endgültigen Beauftragung erscheinen <?page no="215"?> Vermittlung von Wahrnehmungen 201 mir mangelhaft.“) und eine Abtönungspartikel („etwas“) die Ursache für seine fehlende Orientierung von sich abwälzen will, die er mit einer Gradpartikel („Auch“) zusätzlich in seine Kritik einbezieht. Dem Verhalten des Mitarbeiters, eigene Verantwortlichkeit für Verständigung im Vorfeld auszuschließen, liegt offensichtlich die Einstellung zugrunde, dass das Unternehmen grundsätzlich bei Verständigungsschwierigkeiten für Klarheit sorgen muss und eigenes Bemühen der Mitarbeiter um eine Sachverhaltsklärung nicht verlangt werden kann. Handlungsaufforderung (5) Mit den Sprachhandlungen Handlungsaufforderung und Durchsetzung gruppenspezifischer Einstellungen (6) weisen die Mitarbeiter der Unternehmensleitung Funktionen zu und tragen damit ihre Erwartungshaltung an die Unternehmensleitung heran. Handlungsaufforderungen sind in den meisten Fällen nicht im imperativen Satzmodus formuliert. Die bei weitem häufigsten Formen sind, wie im folgenden Auszug des Beispiels „E-Business“ (Kap.- 6.4.) dargestellt, die Ergänzungsfrage (Zifonun/ Hoffmann/ Strecker 1997, 105 f.) und die rhetorische Frage (ebd., 121). E-Business (Auszug) 157 MA Wir verkaufen gute E-Business-Lösungen an unsere Kunden. Können wir uns davon nicht eine Scheibe für uns selbst abschneiden. Ich sorge im Projekt [Bezeichnung] dafür, dass DTAG-Lieferanten direkt auf bisher interne Bedarfs- und Bestandsdaten zugreifen können. Sollten wir nicht auch über ein Internet-Portal direkt auf [Produkt] etc. zugreifen können? Ist ein solches Mitarbeiter-Internet-Portal geplant? : Aus seinem Aufgabengebiet heraus macht der Mitarbeiter den Vorschlag, ein Internet-Portal für Mitarbeiter des Unternehmens einzurichten. Dabei vermeidet er es, die Unternehmensleitung explizit zum Handeln aufzufordern. Der Mitarbeiter stellt vielmehr Fragen („Können wir uns davon nicht eine Scheibe für uns selbst abschneiden“, „Sollten wir nicht“, „Ist ein solches Mitarbeiter- Internet-Portal geplant? “), wobei „nicht“ ein Indikator dafür ist, dass er eine positive Antwort erwartet. Es kann also davon ausgegangen werden, dass der Mitarbeiter mit seinen Äußerungen nicht direkt zum Handeln auffordern, sondern einen Vorschlag machen will, den er in der grammatischen Form der Frage formuliert. Durchsetzung gruppenspezifischer Einstellungen (6) Die Durchsetzung gruppenspezifischer Einstellungen im Chat ist meistens gegen Vorgesetzte gerichtet, gegen die sich die Mitarbeiter mit der Unternehmensleitung solidarisieren wollen, wobei die Kennzeichnung der thematisierten <?page no="216"?> 202 Die Vermittlung des Unternehmensbilds im Chat Einstellung als für eine ganze Gruppe relevant die Aufmerksamkeit der Unternehmensleitung hervorrufen soll (Beispiel „eine der schwersten Fragen“, Kapitel 5.1.1.). Im Beispiel „Eine der schwersten Fragen“ setzt die Mitarbeiterin bei der Unternehmensleitung die Einstellung einer Gruppe von Mitarbeitern, zu der sie selbst gehört, gegen die Einstellung ihres Vorgesetzten durch. Daneben gibt es Versuche der Durchsetzung gruppenspezifischer Einstellungen, bei denen Mitarbeiter, wie im Beispiel „Kundenbedürfnisse“, ihre Einstellung als die einer Gruppe vorstellen und die Einstellung anderer Gruppen gegenüber der Unternehmensleitung mit dem Ziel kritisieren, sich gegen die andere Gruppe durchzusetzen. Kundenbedürfnisse 311 MA Wie ist sichergestellt, dass Abteilungen über ihren ”Tellerrand“ hinaussehen und bei Angeboten auf Kundenbedürfnisse eingehen? Ein mit Websphere beschäftigter Bereich hat bei einer Ausschreibung tatsächlich eine Java-Lösung angeboten, obwohl wir den Kunden gut kennen, er deutlich eine .NET-Lösung mit uns als Partner wünschte, aber in der Folge natürlich anderen Anbietern den Zuschlag erteilten musste. Der Mitarbeiter gibt an, für alle Mitarbeiter seiner Organisationseinheit zu sprechen und kritisiert die Mitarbeiter einer anderen Organisationseinheit, die ihm bei der Abgabe eines Angebots an einen Kunden zuvorgekommen waren. Obwohl er seine Einstellung, das Vorrecht bei diesem Angebot zu haben, schon durch die Kennzeichnung als gruppenspezifische Einstellung verstärkt, führt er als weitere Verstärkung an, dass der Kunde seine Einstellung teilt („obwohl wir den Kunden gut kennen, er deutlich eine .NET-Lösung mit uns als Partner wünschte“). Für den Verlust des Auftrags beschuldigt er indirekt die andere Gruppe („aber in der Folge natürlich anderen Anbietern den Zuschlag erteilten musste“), wohl auch, um die zuvor hervorgehobene Qualität seiner Kundenbeziehung nicht in Frage zu stellen. Vermittlung unternehmerischer Einstellung (7) Die Einstellung der Unternehmensleitung zeigt sich in ihren Beiträgen, wie im Beispiel „Aufwand“, meistens symptomatisch. Aufwand 37 MA Wie steht es eigentlich mit einer offiziellen Einführung von PDA bei [Unternehmenssparte] aus? Bisher musste man sich den privat kaufen. 38 V Gute Idee. Ich habe auch keinen, weil ich sonst fürchte, dass 43.000 Mitarbeiter einen haben wollen. Bei best price hieße <?page no="217"?> Vermittlung von Wahrnehmungen 203 das, bis zu [Zahl] € Aufwand. Ist mir noch zu teuer für den noch mageren Effekt. Sobald Anwendungen wie Blackberry usw. (auch mobile) stärker integrierbar sind, werden wir auch das ins Auge fassen. Zurzeit lenken wir unseren Invest auf Konsolid. [Produkt], [Produkt], [Produkt] und [Produkt]. Außerdem in das weltweite [Produkt]. Der Vorstand vermittelt seine unternehmerische Einstellung beispielhaft anhand einer aktuellen Situation. Er macht seine Überlegungen zur Anschaffung von PDA’s (Personal Digital Assistant) für die Mitarbeiter transparent und trifft seine Entscheidung dagegen aufgrund wirtschaftlicher Erwägungen. Da der Mitarbeiter den Diskurs nicht weiter verfolgt, ist nicht erkennbar, wie er die Einstellung des Geschäftsführers aufgenommen hat. Soweit die Unternehmensleitung explizit unternehmerische Einstellungen thematisiert, handelt es sich durchwegs nicht um konkrete Versuche, diese auch zu vermitteln. Eine indirekte Vermittlung zeigt das Beispiel „Eine der schwersten Fragen“, in dem der Geschäftsführer anekdotisch von seiner eigenen Einstellung erzählt. Eine der schwersten Fragen (Auszug) 126 V Kann ich gut verstehen. Das leidige Thema, dass manche Kolleg(inn)en Angst vor Veränderungen haben, weil ihr Verantwortungsbereich kleiner werden könnte. Ich verstehe das zwar menschlich, habe aber selber nie danach gehandelt; es ging mir nicht schlecht dabei. Hier hilft bei dauerhafter Verweigerung nur das Mail an Top-Management, im negativsten Fall auch anonym (aber sachlich). Eine weitere Form, in der unternehmerische Einstellung thematisiert wird, ist, wie im Beispiel „Unternehmenskultur“, die explizite aber abstrakte Darstellung. Unternehmenskultur 95 MA Wie würden Sie sich die Unternehmenskultur in Zukunft wünschen? 95 UL Ich wünsche mir eine Unternehmenskultur, die von einem teamorientierten und kooperativen Denken getragen wird und auch über die bereichsspezifischen Interessenslagen hinausgeht. Dies beinhaltet intensive Kommunikation auf breiter Basis und eine optimistische Grundwerthaltung. In Einzelfällen ist die Antwort der Unternehmensleitung, wie im Beispiel „Umorganisation“, derart reduziert, dass auch die symptomatisch ausgedrückte unternehmerische Einstellung von den Mitarbeitern allenfalls durch Schlussfolgerungen festgestellt werden kann. <?page no="218"?> 204 Die Vermittlung des Unternehmensbilds im Chat Umorganisation 343 MA Wird im neuen Executive Board damit gerechnet, dass erneute (nach meiner Zählung dritte) Umorganisation/ Fukussierung des Vertriebs in ”[Organisationseinheiten]“ und ”[Organisationseinheiten]“ zu einer erneuten Belastung bei Auftragseingang und Ergebnis führt? 343 GF nein! ! ! Insgesamt ist die Vermittlung unternehmerischer Einstellung wenig konkret. Da die Unternehmensleitung aber offensichtlich von den Mitarbeitern unternehmerisches Denken erwartet, sollten bei der Durchführung künftiger Chats konkrete Versuche zur Vermittlung unternehmerischer Einstellung unternommen werden. Dazu bietet sich die abstrakte Vermittlung an, wie im Beispiel „Unternehmenskultur“, da diese Form als einzige von den Mitarbeitern explizit nachgefragt wird. Korrektur abweichender Einstellungen (8) Besonders innerhalb der kommunikativen Handlung Kritik (Kap.- 6.1.2.) liegt den Äußerungen der Mitarbeiter eine Einstellung zugrunde, die von der Einstellung der Unternehmensleitung deutlich abweicht. Die meist subjektiv geäußerte Kritik bleibt von der Unternehmensleitung unwidersprochen. Dagegen korrigiert die Unternehmensleitung die Einstellungen der Mitarbeiter, die vom vorgegebenen Unternehmensbild abweichen, soweit sie aus fehlender Sachkenntnis der Mitarbeiter resultieren oder auf falschen Informationen beruhen. Im Beispiel „Selbstbeweihräucherung“ korrigiert ein Mitglied der Unternehmensleitung die Einschätzung der „Success Storys“ als „Selbstbeweihräucherung“, indem er eine sehr ausführliche, unternehmensweite Darstellung der erfolgreichen Geschäftstätigkeiten gibt. Selbstbeweihräucherung (Auszug) 154 UL Da muss ich Ihnen widersprechen. Selbstbeweihräucherung kann ich bei unseren vielen Success Storys nicht erkennen. [...] Informationen über gruppenspezifische Einstellungen (9) Die Unternehmensleitung erhält im Chat einen besseren Einblick in die gruppenspezifischen Einstellungen der Mitarbeiter. Damit stellt die Chat-Kommunikation eine Kommunikationsform dar, die den unmittelbaren Diskurs auf Veranstaltungen für Mitarbeiter als bereits bestehende Kommunikationsform im Unternehmen in der Funktion der Informationsbeschaffung der Unternehmensleitung über die Einstellungen der Mitarbeiter ergänzt. Im Beispiel <?page no="219"?> Vermittlung von Wahrnehmungen 205 „Eine der schwersten Fragen“ ist das Einholen von Informationen explizit thematisiert. Eine der schwersten Fragen (Auszug) 137 MA Hr. [Vorstand] und ich glaube die Top Ebene braucht hin und wieder Feedback von inz. Mitarbeiter über seine Führung? ! Die Basis (zufriedene u. motivierte Mitarbeiter) ist doch die Zukunft, oder wie sehen Sie das? 138 V 100 % richtig. Daher mache ich einmal pro Monat Sitzung mit Newcomern, Abschlussdiskussionen bei Seminaren und gehe auch zu Einheiten, die mich direkt einladen. Letzteres könnte auch mehr sein. Der Vorstand bestätigt zwar die große Bedeutung, die das Einholen von Informationen von den Mitarbeitern hat, nennt aber auch andere Kommunikationswege, die er dafür nutzt („Sitzung mit Newcomern, Abschlussdiskussionen bei Seminaren und gehe auch zu Einheiten, die mich direkt einladen“). Die Besonderheit des Chats liegt vielmehr in der unternehmensweit gegebenen Detailtiefe, in der die Unternehmensleitung Informationen erhält. So erhält die Unternehmensleitung von den Mitarbeitern spezifische Informationen, die diese auch während des Diskurses weiter ausführen. Diese Funktion des Chats nutzt ein Mitglied der Unternehmensleitung im Beispiel „Mitarbeiterzeitung“, um detailliert Informationen zu gruppenspezifischen Einstellungen zu erhalten und zu diskutieren. Es handelt sich dabei um einen der nur vereinzelt zu findenden Belege im vorliegenden Datenkorpus für eine Frage der Unternehmensleitung an die Mitarbeiter, Rückfragen und rhetorische Fragen ausgenommen. Ansonsten hatte die Unternehmensleitung vereinbart, nicht durch Fragen auf den Diskurs im Chat Einfluss zu nehmen. Mitarbeiterzeitung (Auszug) 6 UL Hallo Kolleginnen und Kollegen, zum Aufwärmen mal eine Frage von unserer Seite: Wie gefällt Ihnen die Mitarbeiter-Zeitung [Bezeichnung]? Was sollten wir verbessern? Die Unternehmensleitung will die Mitarbeiter zur Chat-Teilnahme motivieren und stellt deshalb eine offene Frage nach der subjektiven Einstellung der Mitarbeiter zur Mitarbeiterzeitung („Wie gefällt Ihnen die Mitarbeiter-Zeitung“), zu der man sich auch ohne Fachwissen äußern kann. Mit der folgenden Ergänzungsfrage („Was sollten wir verbessern? “) ist der Rahmen der Antworterwartung abgesteckt; es sind Lob, konstruktive Kritik und Verbesserungsvorschläge erwünscht. Diese Vor-Kategorisierung wird durch die Verwendung eines W-Determinativs („Wie“) erreicht, die über eine W-Objektdeixis („Was“) mit <?page no="220"?> 206 Die Vermittlung des Unternehmensbilds im Chat weiteren Vorgaben eingegrenzt wird. Inwieweit Informationen über gruppenspezifische Einstellung eingeholt werden, entscheidet die Unternehmensleitung offensichtlich nicht pauschal, sondern spezifisch nach ihrer Bedarfslage. Mitarbeiterbindung (10) Ein zentraler Zweck, den die Unternehmensleitung mit dem Chat verfolgt, ist die Verbesserung der Mitarbeiterbindung, die in mehrfacher Hinsicht angestrebt wird. Der direkte Diskurs ermöglicht der Unternehmensleitung, unmittelbar persönlich für die Mitarbeiter virtuell präsent zu sein (Kap.- 4.2.1.), die Unternehmensziele zu vermitteln (Kap.-6.1.), die Informationskaskade zeitweise außer Kraft zu setzen (Kap.-6.5.), Detailinformationen von den Mitarbeitern zu erhalten (11) und die Mitarbeiter zu beraten (12). Detailinformationen von den Mitarbeitern (11) Die Positionen (11) und (12) betreffen Funktionen im Chat, die die Unternehmensleitung den Mitarbeitern zuweist. Eine Erwartung der Unternehmensleitung an die Chat-Kommunikation ist, Detailinformationen von Mitarbeitern zu bekommen. Das betrifft vor allem Informationen zu Expertenthemen und mikrostrukturellen Abläufen. Im Beispiel „Mitarbeiterzeitung“, vollständig zitiert und ausführlich besprochen in Kap.- 6.4., wird deutlich, dass die Detailinformationen der Mitarbeiter in die Planungen der Unternehmensleitung eingehen. Mitarbeiterzeitung (Auszug) 32 UL Wir nehmen alle Anregungen auf und arbeiten laufend an der Verbesserung. [...] Die Unternehmensleitung bezieht sich dabei auf die Antworten, die auf die Frage nach Verbesserungsvorschlägen zur Mitarbeiterzeitung eingegangen sind. Die Zusage der Unternehmensleitung, dass die „Anregungen“ aufgenommen werden, unterstützt die eingangs gestellten Ergänzungsfragen, indem sie das bekundete Interesse durch die Information verstärkt („alle“, „laufend“). Angebot persönlicher Beratung (12) Die Absicht der Unternehmensleitung, den Mitarbeitern im Chat Informationen über die Belange des Unternehmens zu vermitteln, geht mit der Erwartung einher, dass die Mitarbeiter Fragen stellen. Im Beispiel „Mail“ erhält eine Mitarbeiterin, die wegen Kundenterminen nicht am Chat teilnehmen kann, ein Angebot für eine individuelle Beratung. <?page no="221"?> Vermittlung von Wahrnehmungen 207 Mail 178 V [...]Sollten Sie längere Zeit verhindert sein, schicken Sie einfach eine Mail mit ein paar Fragen an mich oder meine Kollegen. Die Angebote der Unternehmensleitung zur persönlichen Beratung der Mitarbeiter, die über den Chat hinausgehen, finden sich vereinzelt in vielen Chats. Die in der vorliegenden Arbeit besprochenen Beispiele, in denen die Unternehmensleitung den Mitarbeitern Angebote macht, die Beratung über den Chat hinaus fortzusetzen, sind im folgenden Kapitel zusammengetragen. Das Angebot könnte weiter ausgebaut werden, indem die Einsendung von Fragen auch außerhalb des Chats mit einer standardisierten Vorgehensweise unterstützt wird und eine Expertenrunde die Fragen beantwortet. 5.5.2 Die Sprachhandlung Perspektiven übernehmen Im Verlauf der bisher dargelegten Untersuchungen hat sich an den kommunikativ sichtbaren Wahrnehmungen (Kap.- 5.1.) und Interpretationen (Kap.- 5.2.) von Ereignissen im Unternehmen sowie an der Thematisierung (Kap.- 5.3.1.2.) und Vermittlung (Kap.- 5.5.1.) von Einstellungen gezeigt, dass die Vereinbarkeit der verschiedenen Perspektiven 69 der Chat-Teilnehmer als Grundlage ihrer Einstellungen und Interessen eine Bedingung für das Gelingen der Vermittlung der Unternehmensziele und der infolge organisatorischen Wandels neu entstehenden organisatorischen Strukturen durch die Unternehmensleitung ist. Dabei beruht die Vermittlung des Unternehmensbilds und neuer organisatorischer Strukturen, die aus organisatorischem Wandel entstehen, darauf, dass sich die Mitarbeiter nach organisatorischem Wandel die erforderlichen neuen Handlungsweisen aneignen und dazu zu den Unternehmenszielen konforme Perspektiven übernehmen. Das immer wieder erneute Ausrichten des eigenen Handelns auf neue Strukturen und das Übernehmen neuer Perspektiven ist eine Anpassung an ein fortgesetztem organisatorischem Wandel unterliegenden Unternehmensbild und veränderliche Unternehmensziele, die den Mitarbeitern von der Unternehmensleitung vermittelt werden. In Kap.- 3.3.1. ist dargestellt, wie die Unternehmensleitung in einer Leitbildfunktion den Mitarbeitern mikrostrukturell Impulse gibt, die dazu führen, dass die Mitarbeiter neue Handlungsmöglichkeiten erkennen und umsetzen sowie die Perspektive der Unternehmensleitung übernehmen. In diesem Kapitel sollen nun die Diskurse im vorliegenden Datenkorpus analysiert werden, bei denen in den Beiträgen der Mitarbeiter die angestrebte oder tatsächliche Übernahme einer neuen Perspektive kommunikativ sichtbar wird. Daraus lässt sich, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, eine Sprachhandlung 69 Der Begriff Perspektive als Sichtweise auf einen Sachverhalt ist in Kap.-2.1.2. diskutiert. <?page no="222"?> 208 Die Vermittlung des Unternehmensbilds im Chat herausarbeiten, die ich als Perspektiven übernehmen bezeichne. Die Ausprägungen dieser Sprachhandlung belegen eine Form einer Mikro-Makrobrücke, die in Kap.- 3.3.2. exemplarisch am Beispiel der Chats des vorliegenden Datenkorpus dargestellt wurde und die durch die Affinität des Handelns der Mitarbeiter zu den Unternehmenszielen gebildet wird. Die Bedeutung der kommunikativen Handlung Perspektiven übernehmen liegt darin, dass die Mitarbeiter durch die Übernahme von Perspektiven und daraus resultierendem Erfassen von Zusammenhängen zu einer über die Ausführung von Arbeitsanweisungen hinausgehenden Umsetzung neuer organisatorischer Strukturen befähigt sind, die als kommunikativ sichtbar werdender „Wandel in den Köpfen“ bedeutsam für organisatorischen Wandel ist. Dabei können Perspektivübernahmen auf zwei Wegen vollzogen werden, zum einen, indem die Mitarbeiter neue Perspektiven von der Unternehmensleitung übernehmen, zum anderen, indem sie neue Aufgaben übernehmen und aufgrund ihrer neuen Position im Unternehmen neue Perspektiven gewinnen. Perspektivübernahmen finden, wie zu zeigen sein wird, meist dann statt, wenn Mitarbeiter nach organisatorischem Wandel neue Handlungsmöglichkeiten suchen. Im Folgenden soll deshalb in der Hinführung auf die Darstellung von Perspektivübernahmen zunächst gezeigt werden, wie Mitarbeiter neue Handlungsmöglichkeiten suchen und nutzen. Die situativen Grundbedingungen für die Sprachhandlung Perspektiven übernehmen sind, dass die Mitarbeiter Interesse an neuen Handlungsmöglichkeiten haben und dass die Unternehmensleitung den Mitarbeitern neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Neue Handlungsmöglichkeiten interessieren die Mitarbeiter, wenn sie damit ihre Arbeitsbedingungen und ihre Position verbessern sowie ihre Aufgaben neu gestalten können. Die Suche nach neuen Handlungsmöglichkeiten erfolgt also zweckgebunden, um die eigene berufliche Situation zu verändern. Dass das Herantragen neuer Handlungsmöglichkeiten an die Mitarbeiter, das im Chat die Unternehmensleitung leistet, eine weitere situative Grundbedingung ist, zeigt sich darin, dass die Mitarbeiter neue Handlungsmöglichkeiten nutzen und aus ihrer daraus resultierenden neuen Position heraus auch eine Perspektivübernahme vollziehen. In den Chats des vorliegenden Datenkorpus treffen mit den Mitarbeitern und der Unternehmensleitung zwei Gruppen von Chat-Teilnehmern mit ganz unterschiedlichen Perspektiven aufeinander. Indem die Unternehmensleitung in ihrer Selbstpräsentation als Vertreter des Unternehmens (Kap.- 3.2.1.) und in der Darstellung der Unternehmensziele und der damit verbundenen Einstellungen in ihren Chat-Beiträgen zu den Unternehmenszielen konforme Handlungsmöglichkeiten erkennen lässt, eröffnet sie den Mitarbeitern neue Handlungsmöglichkeiten. Die Mitarbeiter erhalten die Gelegenheit, Handlungsmöglichkeiten, von denen sie erfahren haben, zu thematisieren, selbst neue Handlungsmöglichkeiten zu suchen und Hilfestellung <?page no="223"?> Vermittlung von Wahrnehmungen 209 von der Unternehmensleitung bei der Umsetzung beruflicher Vorhaben in Anspruch zu nehmen. Die Unternehmensleitung hat mit der Eröffnung neuer Handlungsmöglichkeiten im Chat die Vermittlung des Unternehmensbilds und neuer Strukturen als Zielsetzung, auf die auch die Organisation des Chats ausgerichtet ist. In dieser Absicht werden Anfragen und Vorschläge der Mitarbeiter aufgegriffen und persönliche Unterstützung angeboten. So ermuntert die Unternehmensleitung die Mitarbeiter explizit zu Meinungsäußerungen (Beispiel „Feedback“ in Kap.-6.4.) und zu innovativen Vorschlägen (Beispiel „Eigeninitiative“, ebd.) und bietet den Mitarbeitern, wie zu zeigen sein wird, unter bestimmten Voraussetzungen an, auch außerhalb des Chats direkten Kontakt zu ihr aufzunehmen. In den Diskursen des vorliegenden Datenkorpus entstehen neue Perspektiven im Sinn einer veränderten Sicht auf die Dinge durch zusätzliche Informationen, die die Unternehmensleitung anbietet. Wie in Kap.-2.1.2. dargestellt ist, hängen Perspektiven wesentlich von der Position des Mitarbeiters im Unternehmen ab. Insofern hat die Unternehmensleitung bei einer Perspektivenübernahme die Funktion, die Mitarbeiter an den Perspektiven teilhaben zu lassen, die die Unternehmensleitung aufgrund ihrer Position hat. Über das Angebot der Unternehmensleitung hinaus, bei der Umsetzung neuer Perspektiven zu helfen, liegt in den Ausprägungen der kommunikativen Handlung Perspektiven übernehmen die Einstellung der Mitarbeiter zugrunde, sich aktiv für Veränderungen im Unternehmen einzusetzen. Daher verwende ich für die Sprachhandlung Perspektiven übernehmen folgende Definition: Als Sprachhandlung Perspektiven übernehmen bezeichne ich von den Mitarbeitern initiierte Sprachhandlungen, in denen sie infolge organisatorischen Wandels neu entstehende Handlungsmöglichkeiten thematisieren und in deren Verlauf kommunikativ sichtbar wird, dass die Mitarbeiter die Perspektive der Unternehmensleitung übernehmen. Allein aufgrund der Chats aus dem vorliegenden Datenkorpus ist nicht feststellbar, welchen Raum die Sprachhandlung Perspektiven übernehmen quantitativ darin einnimmt oder welche Bedeutung sie qualitativ hat. Eine sprachliche Handlung, die zu einer Perspektivübernahme führt, kann im Chat initiiert werden, indem ein Mitarbeiter von neuen Handlungsmöglichkeiten erfährt oder von der Unternehmensleitung Hilfestellung für deren Umsetzung erhält, ohne dass die tatsächliche Perspektivübernahme im Chat sichtbar wird. Eine Perspektivenübernahme als explizite Äußerung der Kenntnis von einer anderen Perspektive oder der bewussten (temporären) Übernahme einer anderen Perspektive auf denselben Sachverhalt wird von den Chat-Teilnehmern nicht explizit gemacht. Es gibt aber Anhaltspunkte dafür, dass die Mitarbeiter implizit Perspektivenübernahmen vollziehen. Da die Perspektivenübernahmen als Wandel in den Köpfen der Mitarbeiter für unternehmerischen Wandel unverzichtbar sind, ist es sinnvoll, die Indizien für Perspektivenübernahmen zusammenzutragen. <?page no="224"?> 210 Die Vermittlung des Unternehmensbilds im Chat Ein weiterer Grund dafür, dass eine Perspektivenübernahme schwer nachzuweisen ist, besteht darin, dass der Ablauf der Sprachhandlungen des sprachlichen Handlungsmusters Perspektiven übernehmen nicht nur auf den Chat begrenzt ist. Aufgrund der Angebote der Unternehmensleitung, den Diskurs nach Ablauf des Chats fortzusetzen, werden in diesen Fällen nur Ausschnitte der Diskurse, die zu Perspektivübernahmen führen, im Chat sichtbar. Abb.-29: Das sprachliche Handlungsmuster Perspektiven übernehmen Bei der kommunikativen Handlung Perspektiven übernehmen handelt es sich um in kommunikativen Phasen verlaufende Diskurse. Diese beginnen in der ersten Phase mit der Wahrnehmung der Begrenztheit der eigenen Handlungs- <?page no="225"?> Vermittlung von Wahrnehmungen 211 möglichkeiten, verlaufen über eine Phase der Neuorientierung, in der neuen Handlungsmöglichkeiten gesucht werden, und enden schließlich, als dritte Phase, mit der Übernahme einer neuen Perspektive. Die Äußerungen im Chat, die verschiedene Phasen der Perspektivübernahme dokumentieren, bilden nur eine Momentaufnahme in diesem Prozess. Es ist deshalb nicht möglich, den Verlauf der Perspektivübernahme im Ganzen an nur einem Beispiel zu zeigen. Es lässt sich aber anhand der Belege nachvollziehen, in welcher Form sich jede Phase im Chat kommunikativ niederschlagen kann und es lässt sich in der Gesamtschau der Belege ein sprachliches Handlungsmuster (Abb.-29) erstellen. Phase 1: Wahrnehmung der Begrenztheit eigener Handlungsmöglichkeiten Im Zuge der Beobachtung von Ereignissen des Wandels im Unternehmen ist es für die Mitarbeiter notwendig, diese Ereignisse in ihre Wahrnehmung des Unternehmens einzuordnen. Gelingt im ersten Entscheidungsknoten des sprachlichen Handlungsmusters (Abb.- 29) die Einordnung eines Ereignisses hinsichtlich seiner Bedeutung für die eigene berufliche Situation, versuchen die Mitarbeiter damit neue Handlungsmöglichkeiten zu schaffen, durch die sie verbesserte Arbeitsbedingungen und anspruchsvollere Aufgaben erreichen. Dabei findet zwischen den beiden Bestrebungen, eine neue Perspektive zu erreichen und verbesserte Arbeitsbedingungen oder neue Aufgabenbereiche zu erhalten keine explizite Trennung statt. Soweit die Einordnung eines wahrgenommenen Ereignisses nicht gelingt, fahren die Mitarbeiter in der ersten Phase damit fort, dass sie die bei der Beobachtung von Ereignissen festgestellten Diskrepanzen in Fragen und Äußerungen von Kritik thematisieren. Implizit mit thematisiert wird, wie im Beispiel „Personalentwicklung“, die Wahrnehmung der Begrenztheit eigener Handlungsmöglichkeiten. Personalentwicklung 212 MA Warum werden Mitarbeiter von denen bekannt ist das sie sich fortbilden und weiterentwickeln möchten, evtl. auch in anderen Bereichen, nicht mehr gefördert ? Ganz im Gegensatz zu den bunten Annoncen in den Tageszeitungen: Wir fördern Sie vom ersten Tag an. Opfer der Sparmaßnahmen ? 218 V Hallo [Name], die Personalentwicklung ist für uns weiterhin von entscheidender Bedeutung. Eine Förderung geschieht insbesondere in Themen, die zukünftig von hoher Bedeutung sind. Bezüglich Ihrer individuellen Entwicklung gehen Sie bitte auch auf Ihren örtlichen HR-Betreuer zu. Dieser hilft Ihnen sicher gerne weiter. Die Diskrepanz („Ganz im Gegensatz“), die der Mitarbeiter zwischen der angekündigten Personalentwicklung und seiner eigenen beruflichen Situation <?page no="226"?> 212 Die Vermittlung des Unternehmensbilds im Chat („Warum werden Mitarbeiter […] nicht mehr gefördert“) feststellt, kann er nicht einordnen und weicht deshalb in seiner Interpretation der Situation auf Vermutungen über die Ursachen aus („Opfer der Sparmaßnahmen ? “). Da er in seine Einschätzung pauschal Mitarbeiter einbezieht, liegt es nahe, dass er sich selbst in dieser Situation sieht und sich weiterentwickeln möchte. Die Möglichkeit, dass er seine Absichten damit nicht hinreichend deutlich geäußert hat, schließt er dabei aus („von denen bekannt ist“). Der Vorstand bietet ihm eine alternative Interpretation der Situation an („Eine Förderung geschieht insbesondere in Themen, die zukünftig von hoher Bedeutung sind.“) und schlägt eine Vorgehensweise vor, mit der der Mitarbeiter die beruflichen Chancen, die das Unternehmen anbietet, nutzen kann („Bezüglich Ihrer individuellen Entwicklung gehen Sie bitte auch auf Ihren örtlichen HR-Betreuer zu.“). Dieses Offerieren von Chancen kann vermutlich für den Mitarbeiter ein Impuls für die Entwicklung einer neuen Perspektive sein, wie in Kap.-3.2.3. dargestellt. Tatsächliche Unterstützung über den Chat hinaus erhält ein Mitarbeiter, wie sich in Phase 2 zeigen wird, wenn er neue Handlungsmöglichkeiten bereits erkannt hat. Phase 2: Suche nach neuen Handlungsmöglichkeiten Die Wahrnehmung der Begrenztheit des eigenen Handelns führt zunächst zu einer unspezifischen Suche nach einer Erweiterung des eigenen Handlungsspielraums. Soweit die Mitarbeiter beginnen, aufgrund der beobachteten Ereignisse neue Möglichkeiten für das eigene berufliche Handeln zu entwickeln, versuchen sie, wie in den nachfolgend abgebildeten Beispielen „Internationale Projekte“ und „Querdenker“, diese in neuen Aufgabenbereichen umzusetzen und fragen im Chat gezielt nach der Unterstützung der Unternehmensleitung. Während in den der Phase 1 zugeordneten Beiträgen die Einschränkungen des eigenen Handelns thematisch im Mittelpunkt stehen, sind die Beiträge der Mitarbeiter in Phase 2 inhaltlich konkret auf die Suche nach neuen Handlungsmöglichkeiten ausgerichtet, wie im Vergleich der Beispiele „Wachstumsmarkt“ und „Personalzahlen“ deutlich wird. Wachstumsmarkt 93 MA Wie sind die persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten bei [Unternehmenssparte]? 93 UL Da wir in einem innovationsgetriebenen Wachstumsmarkt persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten sowohl national, als auch international in fachlichen und auch Führungsaufgaben sehr gut. Das Beispiel „Wachstumsmarkt“ stammt aus einem der wenigen thematisch gebundenen Chats, die im Zuge der Neubildung einer Unternehmenssparte des <?page no="227"?> Vermittlung von Wahrnehmungen 213 Unternehmens organisiert wurden. Der Mitarbeiter erkundigt sich nach seinen persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten, wahrscheinlich, da er sich in der veränderten Situation nicht zurechtfindet und seine begrenzten Möglichkeiten erkennt, aus seiner Perspektive die organisatorischen Strukturen der neuen Unternehmenssparte selbst zu überblicken. Im Gegensatz zum Beispiel „Personalzahlen“, in dem der Mitarbeiter allgemeine Überlegungen zur Verbesserung seiner Arbeitsbedingungen mit kritischen Implikationen äußert, thematisiert der Mitarbeiter im Beispiel „Wachstumsmarkt“ konkret die Frage nach den Chancen der Mitarbeiter, ihr Aufgabengebiet zu verbessern. Seine Äußerung lässt aber auch vermuten, dass er selbst keine neuen Handlungsmöglichkeiten erkannt hat. In diesen Fällen zeigt die Unternehmensleitung neue Handlungsmöglichkeiten auf, wie es auch im Beispiel „Wachstumsmarkt“ zu sehen ist („persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten sowohl national, als auch international in fachlichen und auch Führungsaufgaben“), wird dabei aber nicht konkret und bietet auch nicht zugleich Unterstützung bei der Umsetzung an. Ein Angebot zur Unterstützung erhalten Mitarbeiter, die, wie im Folgenden gezeigt wird, selbst neue Handlungsmöglichkeiten thematisieren. Die Mitarbeiter, die die beobachteten Ereignisse des Wandels einordnen können und neue Handlungsmöglichkeiten für sich sehen (Abb.- 29, zweiter Entscheidungsknoten), stellen inhaltliche Fragen zu deren Umsetzung. Diese Beiträge haben gemeinsam, dass die Mitarbeiter konkrete Vorhaben thematisieren, die sie selbst umsetzen wollen, und sind somit von den Beiträgen zu unterscheiden, in denen der Mitarbeiter nicht selbst tätig werden will. Mitarbeiter, die neue Handlungsmöglichkeiten, die sie selbst erkannt haben, thematisieren, erhalten alle ein konkretes Angebot der Unternehmensleitung, über den Chat hinaus Kontakt aufzunehmen. Zunächst ist allgemein zu den konkreten Kontaktangeboten der Unternehmensleitung zu sagen, dass sie selten vorkommen und sich innerhalb verschiedener sprachlicher Handlungsmuster finden lassen. Neben den vielen Belegen für Antworten und Erläuterungen in den insgesamt 22.160 Beiträgen der Unternehmensleitung im vorliegenden Datenkorpus (Kap.- 4.2.1., Abb.- 6) macht die Unternehmensleitung in 34 Fällen ein konkretes Angebot, sich auch außerhalb des Chats direkt an sie zu wenden, und sagt Hilfestellung bei der Umsetzung neuer Strukturen zu. Diese konkreten Angebote betreffen ungelöste Probleme bei der Umsetzung neuer Strukturen und die Weiterentwicklung innovativer Ideen und Vorschläge, die konform zu neuen Strukturen sind. Sie haben die Funktion, die Mitarbeiter an der Perspektive, die die Unternehmensleitung auf das Unternehmen hat, teilhaben zu lassen und die Bildung heterarchischer Netzwerke anzuregen. Im Beispiel „Pauschalantwort“ bietet ein Mitglied der Unternehmensleitung einer Mitarbeiterin, die sehr ausführlich und detailliert ihre Schwierigkeiten mit der Übertragung ihres Arbeitsvertrags auf die neue Gesellschaftsform der Un- <?page no="228"?> 214 Die Vermittlung des Unternehmensbilds im Chat ternehmenssparte schildert und von ihren Versuchen eigenständig zu handeln berichtet, ein Angebot, bei der Klärung des Sachverhalts behilflich zu sein. Pauschalantwort 3 UL Der Fall ist m.E. hier nicht beantwortbar, da mir viele Details fehlen. Schicken Sie mir doch eine E-Mail und ich kümmere mich. Dann muss ich Sie nicht mit einer allen nicht hilfreichen Pauschalantwort vertrösten [E-Mailadresse UL] Das Angebot der Unternehmensleitung über den Chat hinaus Kontakt aufzunehmen („Schicken Sie mir doch eine E-Mail“) und sich mit den Belangen der Mitarbeiterin zu befassen („ich kümmere mich“) zeigt mit dem signalisierten Interesse an Einzelheiten („viele Details“), der Angabe der E-Mailadresse und dem Hinweis, dass keine rasche Abfertigung der Mitarbeiterin angestrebt ist („Dann muss ich Sie nicht mit einer […] Pauschalantwort vertrösten“), dass das Angebot der Kontaktaufnahme aufrichtig ist und die Unternehmensleitung auf eine tatsächliche Klärung der Situation abzielt. Die Unternehmensleitung bleibt zwar zu dem Problem der Mitarbeiterin auf Distanz („Der Fall“), doch die zeitliche Verlegung der Beantwortung nach Ablauf des Chats („hier nicht beantwortbar“) resultiert aus der Absicht, die Qualität der Hilfestellung zu verbessern („nicht mit einer […] Pauschalantwort“). Über das Beispiel „Pauschalantwort“ und die im folgenden besprochenen Beispiele „Internationale Projekte“ und „Querdenker“ hinaus sind fünf weitere Beispiele an anderen Stellen der vorliegenden Arbeit analysiert, in denen die Unternehmensleitung den Mitarbeitern das konkrete Angebot macht, auch außerhalb des Chats Kontakt aufzunehmen. Ein konkretes Angebot, sich für eine gemeinsame Problemlösung direkt an die Unternehmensleitung zu wenden, erhalten ein Mitarbeiter, der wegen Abwesenheit nicht am Chat teilnehmen kann (Beispiel „Mail“ in Kap.-5.5.1.), ein Mitarbeiter, der anhaltende Probleme bei der Organisation seines Arbeitsablaufs schildert (Beispiel „Umstrukturierung“ in Kap.-6.3.1 und Kap.-6.3.2.1.) und eine Mitarbeiterin, die sich über fortdauernd mangelnde Informiertheit der Mitarbeiter einer Niederlassung beschwert (Beispiel „Eine der schwersten Fragen“ in Kap.-5.1.1. und Kap.-6.3.1.). Ein Angebot, sich für die Weiterentwicklung ihrer innovativen Ideen und Vorschläge direkt an die Unternehmensleitung zu wenden, erhalten ein Mitarbeiter, der die intensivere Nutzung der Firmenwagen als Werbefläche vorschlägt (Beispiel „Werbefläche“ in Kap.-6.4.), und ein Mitarbeiter, der die Einrichtung spezifischer Wissensdatenbanken vorschlägt (Beispiel „E-Business“ in Kap.-6.4.). Soweit die Mitarbeiter also selbst neue Handlungsmöglichkeiten finden (Abb.-29, zweiter Entscheidungsknoten), stellen sie Fragen zur Umsetzung ihrer Vorhaben, wobei, wie eingangs des Kapitels bereits angemerkt, an dieser Stelle erstmals Perspektivübernahmen sichtbar werden können, indem die Mitarbei- <?page no="229"?> Vermittlung von Wahrnehmungen 215 ter sich implizit der Perspektive der Unternehmensleitung anpassen und sich aus deren Perspektive äußern (Abb.-29, Perspektivübernahme A). Mitarbeiter, die eine neue Perspektive von der Unternehmensleitung übernehmen und erst dann nach neuen beruflichen Handlungsmöglichkeiten suchen (Abb.- 29, Perspektivübernahme A), verändern ihr Sprachhandeln als Resultat ihrer neu übernommenen Perspektive. Unter diesen Voraussetzungen finden Perspektivübernahmen, wie in Kap.-3.3.2. dargestellt, nach dem Nutzenprinzip statt, um über eine angepasste Perspektive zu neuen Handlungsmöglichkeiten zu kommen, die erst aus der neuen Perspektive ersichtlich sind oder von der Unternehmensleitung eröffnet werden. Diese Mitarbeiter unterscheiden sich in ihrem Sprachhandeln von Mitarbeitern, die aus ihrer bestehenden Perspektive heraus nach neuen Handlungsmöglichkeiten fragen. So sucht der Mitarbeiter im Beispiel „Internationale Projekte“ einen Weg zur Umsetzung der neuen Handlungsmöglichkeiten, die er erkannt hat, und legt dabei seine eigene Perspektive zugrunde, die er aus seiner Position heraus hat. Die Mitarbeiterin im Beispiel „Querdenker“ hingegen, die ihre selbst erkannten neuen Handlungsmöglichkeiten umzusetzen versucht, übernimmt dazu die Perspektive der Unternehmensleitung (Perspektivübernahme A). Internationale Projekte 2 MA Guten Morgen Herr [Vorstand] Meine Frage an Sie: Wie kann man bei internationalen Projekten mitarbeiten? 3 V Am besten ist, Sie senden mal eine Mail an Herrn [UL], an den das [Organisationseinheit]-Management berichtet und bekunden Ihr Interesse (am besten mit ein paar Hinweisen über Skill). Oder schreiben Sie an [UL]. Sollten Sie ein Projekt direkt erfahren , wenden Sie sich auch an meinen Stab ([Vorstandsassistent]) und bitten um Hilfe zum Weiterleiten. Offenbar erkennt der Mitarbeiter in der geplanten Internationalisierung des Unternehmens für sich als neue Handlungsmöglichkeit, eine Aufgabe in den neuen international agierenden Organisationseinheiten zu übernehmen. Seine Ergänzungsfrage bezieht sich nur noch auf die Umsetzung seines Vorhabens („Wie“), so dass die Frage konkreter ist als die Frage des Mitarbeiters im Beispiel „Wachstumsmarkt“, die nicht erkennen lässt, dass der Mitarbeiter bereits selbst neue Handlungsmöglichkeiten erkannt hat. Im Beispiel „Internationale Projekte“ unterstützt der Vorstand den Mitarbeiter mit einem direkten Angebot und bietet ihm den Kontakt zu zwei Ansprechpartnern an. Indem der Vorstand ihm eine zielführende Vorgehensweise zur Umsetzung seiner Pläne aufzeigt („Am besten ist“), die dem Mitarbeiter offenkundig selbst nicht offenstehen, lässt der Vorstand damit den Mitarbeiter an seinen eigenen Handlungsmöglichkeiten teilhaben. Der Mitarbeiter erhält <?page no="230"?> 216 Die Vermittlung des Unternehmensbilds im Chat so die Gelegenheit, zunächst ohne die Perspektive der Unternehmensleitung zu übernehmen, Handlungsmöglichkeiten zu nutzen, die er aus seiner Position und der entsprechenden Perspektive heraus nicht umsetzen kann. Dagegen hat die Mitarbeiterin im Beispiel „Querdenker“ bereits mit der Umsetzung der von ihr neu erkannten Handlungsmöglichkeiten begonnen, was ihr aufgrund der Übernahme der Perspektive der Unternehmensleitung (Abb.- 29, Perspektivübernahme A) gelingt, und fragt nach weiterer Unterstützung der Unternehmensleitung. Querdenker 109 MA Bin mit Ihren Zielen 100% dakor, sehe aber einen etwas anderen Weg dahin. Habe dies -als wie gewünscht unternehmerisch denkender Menschniedergeschrieben und würde es gerne möglichst nah an Sie weiterleiten (damit es auch wirklich ankommt). Wohin kann ich es konkret schicken? 110 V [E-Mailadresse Vorstand] 127 MA Was halten Sie von einem ”Club der Querdenker“, angesiedelt vielleicht beim Ideenmanagement, aber im ganz anderen Stil (freakiger, weniger zahlenorientiert, mehr visionär...). Würde mich gerne unabhänging von meinem Alltagsgeschäftim Strategie-Thema einbringen uns sehe keine Möglichkeit ”wie“. 131 UL Hallo [Mitarbeiterin], herzlich willkommen zur Diskussion bei uns im Strategie Team. Bitte setze Dich mit Herrn [Assistent] bei mir im Team in Verbindung ([Mailadresse Assistent]) Im Beispiel „Querdenker“ hat die Mitarbeiterin offensichtlich umfassende Überlegungen zu ihren neue Handlungsmöglichkeiten getroffen und versucht, ihre eigenen Wünsche für ihre berufliche Entwicklung in die Entwicklung des Unternehmens einzufügen, indem sie die Perspektive der Unternehmensleitung übernimmt („als wie gewünscht unternehmerisch denkender Mensch“) (Abb.- 29, Perspektivübernahme A). Als der Vorstand ihr anbietet, ihre Unterlagen direkt an ihn zu schicken, sieht sie sich offensichtlich bestätigt und macht weitere Vorschläge, sich einzubringen, wobei sie betont, im Sinne des Unternehmens zu handeln, da sie die vorgeschlagenen Aufgaben zusätzlich zu ihrer bisherigen Tätigkeit übernehmen will („unabhänging von meinem Alltagsgeschäft“). Damit reagiert die Mitarbeiterin auf die als Bestätigung verstandene Antwort des Vorstands und versucht, ihr Vorhaben weiter umzusetzen. Zusammengefasst präsentiert die Mitarbeiterin zunächst eine konkrete Vorstellung von ihren neuen Handlungsmöglichkeiten („sehe aber einen etwas anderen Weg dahin. Habe dies […] niedergeschrieben“), erhält vom Vorstand ein Angebot zur Umsetzung („Wohin kann ich es konkret schicken? “, „[Mailadresse <?page no="231"?> Vermittlung von Wahrnehmungen 217 Vorstand]“) und beginnt damit noch im Chat („Was halten Sie von“), worin sie von einem Mitglied der Unternehmensleitung unterstützt wird, indem sie weitere Kontaktmöglichkeiten erhält („Hallo [Mitarbeiterin], herzlich willkommen zur Diskussion bei uns im Strategie Team. Bitte setze Dich mit Herrn [Assistent] bei mir im Team in Verbindung ([Mailadresse Assistent])“). Es ist nicht auszuschließen, dass die Perspektivübernahme der Mitarbeiterin ein strategisches Handeln darstellt. Aufgrund ihrer umfassenden Bemühungen („Habe dies […] niedergeschrieben“, „Würde mich gerne - unabhänging von meinem Alltagsgeschäftim Strategie-Thema einbringen“) liegt es aber nahe, dass die Mitarbeiterin die Perspektivübernahme, die sie versichert („Bin mit Ihren Zielen 100 % dakor“, „als wie gewünscht unternehmerisch denkender Mensch“), aufrichtig vollzogen hat und für sich beansprucht, die Perspektive der Unternehmensleitung zu vertreten, auch wenn sie das nicht qualifizieren kann. Die Unternehmensleitung lässt ihrerseits die Mitarbeiterin an ihrer herausgehobenen Perspektive auf das Unternehmen partizipieren. Die Frage, mit der die Mitarbeiterin ihr Vorhaben thematisiert, lässt schon aufgrund der selbst konstruierten Metapher „Club der Querdenker“ erkennen, dass die Mitarbeiterin sich in den Strukturen des Unternehmens nicht auskennt. Mit der Einladung in das konkret bestehende „Strategieteam“ ordnet die Unternehmensleitung das Vorhaben der Mitarbeiterin für sie ein. Phase 3: Umsetzung neuer Handlungsmöglichkeiten Zu einer dritten kommunikativen Phase sind diejenigen Beiträge zusammengefasst, in denen erkennbar ist, dass die Mitarbeiter neue Handlungsmöglichkeiten tatsächlich umgesetzt haben. Das setzt voraus, dass die Fragen der Mitarbeiter zu neuen Handlungsmöglichkeiten (Abb.-29, vierter Entscheidungsknoten) beantwortet sind. Es lässt sich anhand des vorliegenden Datenkorpus nicht sagen, ob die Mitarbeiter, die in Phase 2 nach neuen Handlungsmöglichkeiten suchen und die Unterstützung der Unternehmensleitung erhalten, diese neuen Handlungsmöglichkeiten auch umsetzen. Das Umsetzen neuer Handlungsmöglichkeiten wird nicht explizit thematisiert, wie in den ersten beiden Phasen die Wahrnehmung der Begrenztheit eigener Handlungsmöglichkeiten und die Suche nach neuen Handlungsmöglichkeiten. Es kann nur anhand von Beiträgen gezeigt werden, in denen die Äußerungen implizieren, dass der Absender neue Handlungsmöglichkeiten umsetzt. Im vorliegenden Datenkorpus findet sich kein Fall, in dem ein Mitarbeiter eine Rückmeldung dazu gibt, inwieweit und mit welchem Ergebnis er ein Angebot der Unternehmensleitung genutzt hat. Auch die Wege, auf denen ihnen die Umsetzung neuer Handlungsmöglichkeiten gelungen ist, thematisieren die Mitarbeiter nicht, so dass sich nicht feststellen lässt, ob und inwieweit ein Diskurs im Chat dazu beigetragen hat. <?page no="232"?> 218 Die Vermittlung des Unternehmensbilds im Chat Es lässt sich also nicht sagen, ob der Mitarbeiter im Beispiel „Internationale Projekte“ die Ansprechpartner, die ihm der Vorstand nennt, auch tatsächlich kontaktiert und ob sich daraus neue berufliche Aufgaben für den Mitarbeiter ergeben. Ebenso lässt sich nichts darüber sagen, ob die Mitarbeiterin im Beispiel „Querdenker“ ihre Vorschläge tatsächlich an den Vorstand schickt, ob sie das Diskussionsangebot der Unternehmensleitung nutzt und den genannten Ansprechpartner kontaktiert. Dennoch werden einige Aspekte, die implizit auf neu erworbene Handlungsmöglichkeiten hinweisen, im Chat kommunikativ sichtbar. Zunächst gibt es Beiträge von Mitarbeitern, in denen offenkundig wird, dass sie sich neue Handlungsmöglichkeiten angeeignet haben, die in einer früheren Organisationsstruktur nicht möglich waren. Das betrifft vor allem innovative Vorschläge (Kap.- 6.4., thematische Form 1) zur Umsetzung der aktuellen Unternehmensziele, aber auch Ergänzungsfragen (Beispiel „Technologieführerschaft“ in Kap.-6.1.1.) zu den Problemen im Arbeitsablauf, die bei der Umsetzung der aktuellen Unternehmensziele entstehen. Diese Äußerungen sind nur möglich, wenn die Mitarbeiter mit der Umsetzung neuer Handlungsmöglichkeiten befasst sind. Allerdings thematisieren dies die Mitarbeiter nicht explizit. Folglich kann die Umsetzung neuer Handlungsmöglichkeiten nur belegt werden, wenn die Mitarbeiter diese im Chat nachweislich nutzen, so dass die Phase 3 der kommunikativen Handlung Perspektiven übernehmen im Chat sichtbar wird. Deshalb greife ich im Folgenden die Chat-Kommunikation zwischen den Mitarbeitern und der Unternehmensleitung als exemplarischen Beleg dafür heraus, dass die Mitarbeiter neue Handlungsmöglichkeiten umsetzen (Phase 3). Anhand des vorliegenden Datenkorpus zeige ich, wie die Mitarbeiter den Chat selbst und seine Informations- und Mitteilungsmöglichkeiten als neue Handlungsmöglichkeit ansehen und nutzen. Die Chat-Kommunikation als Sonderfall einer neuen Handlungsmöglichkeit Die Chat-Kommunikation zwischen der Unternehmensleitung und den Mitarbeitern stellt als neuartige Kommunikationsform im Unternehmen ein Ereignis organisatorischen Wandels dar. Mit der Chat-Kommunikation wird den Mitarbeitern eine neue Handlungsmöglichkeit angeboten, mit der sie sich neue Informationswege erschließen können und die ihnen neue Informationen sowie Einblicke in die Abläufe des Unternehmens und die Planungen der Unternehmensleitung verschafft. Soweit die Mitarbeiter diese neue Handlungsmöglichkeit nutzen, verwenden sie den Chat, um neue Wege zu suchen, sich im Unternehmen einzubringen (Vorschläge, Informationen, Zusammenhänge). Der Chat selbst stellt dann innerhalb des sprachlichen Handlungsmusters Perspektiven übernehmen das Ereignis des Wandels dar (Abb.- 29, erstes Feld), das die Mitarbeiter beobachten und in einem ersten Entscheidungsknoten ein- <?page no="233"?> Vermittlung von Wahrnehmungen 219 ordnen. Soweit die Mitarbeiter versuchen den Chat einzuordnen, führt das in der Interaktion zu Fragen zur Organisation des Chats (Beispiel „Bezug herstellen“ in Kap.-4.2.3.) und zur Handhabung der für den Chat verwendeten Software wie im Beispiel „In eine Zeile“. In eine Zeile 43 MA Moderator, muss hier alles in eine Zeile geschrieben werden? 43 Mod Hallo [Mitarbeiter], ja, Sie müssen die Frage in eine Zeile schreiben. Wenn Sie auf senden drücken kommt die Frage in den Chat.. Schlägt die Einordnung am ersten Entscheidungsknoten fehl, führt das zu Kritik am Chat allgemein (Beispiel „Chat“ in Kap.- 4.2.1.), zum Infragestellen der Zweckmäßigkeit des Chats (Beispiele „Seh-Gewohnheiten“ und „Bezug herstellen“ in Kap.- 4.2.1.) und zu Vorschlägen zu seiner Verbesserung (Beispiel „Serverprobleme“ in Kap.-6.2.1.4.). Gelingt den Mitarbeitern die Einordnung des Chats, bewerten sie ihn aber nicht als neue Handlungsmöglichkeit (Abb.- 29, erster und zweiter Entscheidungsknoten), dann stellen die Mitarbeiter Fragen zum Chat, die darauf hinweisen, dass sie durchaus die Chat-Kommunikation als neue Handlungsmöglichkeit zu nutzen versuchen. Das Beispiel „Rechtsverbindlich“, das auch in Kap.- 5.4. analysiert ist, zeigt, wie ein Mitarbeiter die Chat-Kommunikation als neue Handlungsmöglichkeit einzuordnen versucht, aber keinen zielführenden Weg dazu einschlägt. Rechtsverbindlich 7 MA iST ein email Verkehr mit ein anonymen HR Account rechtsverbindlich ? 8 GF Im Chat mit der Geschäftführung geht es nicht darum rechtsverbindliche Geschäfte zu tätigen, sondern Fragen so weit es im Rahmen eines Chats möglich ist zu klären. Der Mitarbeiter versucht herauszufinden, inwieweit er die Chat-Kommunikation, die er offenbar mit der Bezeichnung „email Verkehr“ meint, als innerhalb der Mitarbeiterkommunikation neuartige Kommunikationsform nutzen kann, und entscheidet sich für den Versuch, juristisch relevante Vereinbarungen zu treffen („iST ein email Verkehr […] rechtsverbindlich“). Dieses Vorhaben lehnt der Geschäftsführer ab („Im Chat mit der Geschäftführung geht es nicht darum rechtsverbindliche Geschäfte zu tätigen“) und zeigt dem Mitarbeiter stattdessen Möglichkeiten auf, im Chat eine Perspektive für sich zu sehen („sondern Fragen […] zu klären“). <?page no="234"?> 220 Die Vermittlung des Unternehmensbilds im Chat Die Mitarbeiter, die die Chat-Kommunikation als neue Handlungsmöglichkeit einordnen (Abb.- 29, zweiter Entscheidungsknoten), erkennen in der Chat-Kommunikation mit der Unternehmensleitung eine Möglichkeit, die vertikal-hierarchische Struktur des Unternehmens unter zwei Aspekten zumindest temporär zu umgehen: • Die Mitarbeiter nutzen den Chat, um die Unternehmensleitung auf sich aufmerksam zu machen und sich für andere oder anspruchsvollere Aufgaben zu empfehlen. • Die Mitarbeiter nutzen den Chat, um sich Informationen zu beschaffen, Erklärungen zu organisatorischen Zusammenhängen zu erhalten und Informationen zu platzieren. Soweit die Chat-Kommunikation für die Absicht, Aufmerksamkeit oder anspruchsvollere Aufgaben zu erreichen, als neue Handlungsmöglichkeit angesehen wird, nutzen die Mitarbeiter dafür unterschiedliche Sprachhandlungen. Die Absicht, Aufmerksamkeit zu erhalten, findet sich in Ausprägungen aller sprachlichen Handlungsformen und die Absicht, sich zu empfehlen, lässt sich in den Ausprägungen der thematischen Form 1 der kommunikativen Handlung Vorschlag (Kap.-6.4.) feststellen. Im Hinblick auf diese Nutzungsabsichten möchte ich auf die Beiträge der Mitarbeiterin des in Phase 2 vorgestellten Beispiels „Querdenker“ zurückkommen und zeigen, dass sie im Hinblick auf die Wahl der Kommunikationsform und des Kommunikationsmediums eine Umsetzung einer neuen Handlungsmöglichkeit sind (Abb, 23, Phase 3). Querdenker 109 MA Bin mit Ihren Zielen 100% dakor, sehe aber einen etwas anderen Weg dahin. Habe dies -als wie gewünscht unternehmerisch denkender Menschniedergeschrieben und würde es gerne möglichst nah an Sie weiterleiten (damit es auch wirklich ankommt). Wohin kann ich es konkret schicken? 110 V [E-Mailadresse Vorstand] 127 MA Was halten Sie von einem ”Club der Querdenker“, angesiedelt vielleicht beim Ideenmanagement, aber im ganz anderen Stil (freakiger, weniger zahlenorientiert, mehr visionär...). Würde mich gerne unabhänging von meinem Alltagsgeschäftim Strategie-Thema einbringen uns sehe keine Möglichkeit ”wie“. 131 UL Hallo [Mitarbeiterin], herzlich willkommen zur Diskussion bei uns im Strategie Team. Bitte setze Dich mit Herrn [Assistent] bei mir im Team in Verbindung ([Mailadresse Assistent]) <?page no="235"?> Vermittlung von Wahrnehmungen 221 Die Mitarbeiterin strebt eine neue Aufgabe an, die vermutlich eine hierarchisch bessere Position für sie bedeuten würde. Dazu nutzt sie den Chat, um die Unternehmensleitung auf sich aufmerksam zu machen („würde es gerne möglichst nah an Sie weiterleiten (damit es auch wirklich ankommt)“) und die angestrebte Aufgabe zu erhalten („Würde mich gerne - unabhänging von meinem Alltagsgeschäft - im Strategie-Thema einbringen“). Zu beiden Anliegen versucht sie konkrete Rückmeldungen zu bekommen, indem sie eine hoch responsive Frage („Wohin kann ich es konkret schicken? “) anschließt. Der Vorstand beantwortet die Frage ohne Responsivität, indem er ihr seine E-Mailadresse mitteilt, womit impliziert ist, dass die Mitarbeiterin ihm die von ihr erstellten Unterlagen zuschicken darf. Der Beitrag des Vorstands ist nur als Antwort zu erkennen, da er seinen Beitrag der Frage der Mitarbeiterin zuordnet (Kap.- 4.2.1., Chat- Typ- 2). Offenbar ist die Mitarbeiterin damit nicht zufrieden, denn sie verfolgt die Sequenz weiter, indem sie die in ihrem ersten Beitrag angekündigte neue Vorgehensweise („sehe aber einen etwas anderen Weg dahin“) weiter ausführt („Was halten Sie von“). Nachdem sie im ersten Beitrag nur erkennen lässt, dass sie Aufmerksamkeit erreichen will, wird im zweiten Beitrag deutlich, dass sie die Aufmerksamkeit sucht, um eine neue Aufgabe zu erhalten. Das Beispiel ist also eine Ausprägung der Phase 3 des sprachlichen Handlungsmusters, während die vorangegangenen sprachlichen und außersprachlichen Handlungen im Chat nicht kommunikativ sichtbar werden. Aus den Beiträgen der Mitarbeiterin wird deutlich, dass die Chat-Kommunikation für sie eine neue Handlungsmöglichkeit darstellt. Diese nutzt sie, indem sie ein Anliegen vorträgt, für das sie bisher keine andere Äußerungsmöglichkeit gefunden hat („Würde […] gerne […] sehe keine Möglichkeit ‚wie‘“). Damit nutzt sie die Chat-Kommunikation als Informationsinstrument und übernimmt damit die Perspektive der Unternehmensleitung (Perspektivübernahme B). Unabhängig davon, ob die Mitarbeiterin die Angebote der Unternehmensleitung nach Ablauf des Chats angenommen und in einer neuen Aufgabe eine neue Perspektive auf das Unternehmen gewonnen hat, belegt ihr Versuch, den Diskurs im Chat zum Erreichen ihres Ziels zu verwenden, eine Perspektivübernahme. Wenn Mitarbeiter neue berufliche Handlungsmöglichkeiten umsetzen, verändert sich auch ihre Perspektive auf das Unternehmen und die Unternehmensziele (Abb.-29, Perspektivübernahme B). In Kap.-2.1.1. ist dargestellt, dass die Perspektiven der Mitarbeiter in Abhängigkeit von ihrer vertikal-hierarchischen und horizontal-arbeitsteiligen Positionierung im Unternehmen veränderlich sind und neue Aufgaben zu neuen Perspektiven führen. Die neue Perspektive eines Mitarbeiters resultiert dann, wie in Kap.-3.3.1. beschrieben, aus einer Veränderung seines Wertekanons. Die Fälle, in denen die Chat-Kommunikation als neue Handlungsmöglichkeit zum Zweck der Beschaffung und Platzierung von Informationen angesehen wird, sind in den Ausprägungen verschiedener kommunikativer Großformen <?page no="236"?> 222 Die Vermittlung des Unternehmensbilds im Chat zu finden. So ist das in der Darstellung der Phase 2 analysierte Beispiel „Internationale Projekte“ im Hinblick auf Chat-Kommunikation als neue Handlungsmöglichkeit ein Beispiel für Informationsbeschaffung. Die Beschaffung von Informationen ist der vorrangige Zweck des Gesprächstyps Befragung und der kommunikativen Handlung Misstrauen äußern, das Platzieren von Informationen lässt sich in den Ausprägungen der Sprachhandlungen Vorschlag (Kap.-6.4., thematische Form 2) und Kritik (Kap.-6.1.2.) beobachten. Die Perspektivübernahme B wird also in alle Beiträgen der Mitarbeiter, in denen sie Fragen stellen, die sonst im Unternehmensalltag nicht gestellt werden können, kommunikativ sichtbar. Das in Kap.-5.5.1. bereits analysierte Beispiel „Unternehmenskultur“ zeigt eine Frage, mit der ein Mitarbeiter die Fragemöglichkeiten in der Chat-Kommunikation ausschöpft, und eine Antwort der Unternehmensleitung, die bei einer Veröffentlichung in anderen Medien der Unternehmenskommunikation (Broschüren, Reden, Internetauftritt) so nicht gegeben wird. Unternehmenskultur 95 MA Wie würden Sie sich die Unternehmenskultur in Zukunft wünschen? 95 UL Ich wünsche mir eine Unternehmenskultur, die von einem team orientierten und kooperativen Denken getragen wird und auch über die bereichsspezifischen Interessenslagen hinausgeht. Dies beinhaltet intensive Kommunikation auf breiter Basis und eine optimistische Grundwerthaltung. Die Antwort der Unternehmensleitung ist persönlich gehalten („Ich wünsche mir“) und die Beschreibung der ideal vorgestellten Unternehmenskultur beinhaltet ausschließlich weiche Kriterien („teamorientierten und kooperativen Denken“, „über die bereichsspezifischen Interessenslagen hinausgeht“, „intensive Kommunikation auf breiter Basis“, „optimistische Grundwerthaltung“). Die Abweichungen von den redigierten Äußerungen der Unternehmensleitung betreffen die Inhalte der Beiträge, wie im Beispiel „Unternehmenskultur“, und den Stil. Dadurch, dass die Beiträge im Chat nicht redigiert sind, finden sich auch Beiträge der Unternehmensleitung, die emotional gefärbt oder mündlich konzipiert sind. Die Antworten der Unternehmensleitung, die Merkmale konzeptioneller Mündlichkeit aufweisen, sind in Kap.-1.3. zusammengetragen. Als Fazit zeigt Chat-Kommunikation als Sonderfall einer neuen Handlungsmöglichkeit, dass die Mitarbeiter damit eine Möglichkeit haben, sich mit der Unternehmensleitung zu solidarisieren, da sie einen synchronen Diskurs mit ihr führen können, der nicht beeinflusst ist, beispielsweise indem die Beiträge der Unternehmensleitung vom Marketingbereich redigiert werden. Die vielfach als verfestigte Ordnung beschriebene vertikal-hierarchische Struktur von Unternehmen, in der organisatorischer Wandel einer „Bürokratisierung“ unterliegt <?page no="237"?> Vermittlung von Wahrnehmungen 223 und „ritualartige Züge“ aufweist (Vacek 2008, 194), wird für die Zeit des Chats und darüber hinaus hinsichtlich der konkreten Angebote der Unternehmensleitung an die Mitarbeiter außer Kraft gesetzt. In Kap.-6.5. ist beschrieben, wie die Führungskräfte durch die Chats in ihrer Funktion, Informationen vertikalhierarchisch von oben nach unten zu vermitteln, eingeschränkt werden. Es liegt nahe, dass die Möglichkeit der Mitarbeiter, sich mit der Unternehmensleitung zu solidarisieren, die aufgrund der im Unternehmensalltag vertikal-hierarchisch zwischen Mitarbeitern und Unternehmensleitung positionierten Führungskräfte nicht möglich ist, der Grund dafür ist, dass die Mitarbeiter Chat-Kommunikation als neue Handlungsmöglichkeit ansehen und dazu die Perspektive der Unternehmensleitung übernehmen, indem sie Aufmerksamkeit suchen, neue Aufgaben anstreben, Informationen erfragen und platzieren. Soweit es den Mitarbeitern um ein Solidarisieren mit der Unternehmensleitung geht, wo bisher die Vorgesetzten einzige Ansprechpartner waren, ist das Erreichen und Austesten dieser neuen Handlungsmöglichkeit in der Chat-Kommunikation auch durchaus feststellbar. Die Versuche Aufmerksamkeit zu erreichen, die die Mitarbeiterin im Beispiel „Querdenker“ unternimmt, unterstützt sie durch ihre Selbstpräsentation als zur Unternehmensleitung solidarische Person („Bin mit Ihren Zielen 100 % dakor“, „wie gewünscht unternehmerisch denkender Mensch“). Diese Vorgehensweise lässt sich auch in zwei weiteren Beispielen, die in der vorliegenden Arbeit an anderer Stelle analysiert sind, feststellen. Im Beispiel „Eine der schwersten Fragen“ (Kap.- 5.1.1. und Kap.- 6.3.1.) testet die Mitarbeiterin die neue Handlungsmöglichkeit aus, die Chat-Kommunikation für sie bildet, und gibt zu erkennen, dass sie damit ihren Vorgesetzten hierarchisch umgehen will (Beitrag 151, „‚sehne‘ ich mich nach einem Gespräch mit Ihnen in [Ort] (meinethalben mit Hr. [Vorgesetzter]) : “). Auch das Beispiel „Karrierepfade“ (Kap.- 5.3.1.2.) zeigt, wie die Mitarbeiter die Chat-Kommunikation nutzen, um sich mit der Unternehmensleitung in einer Form zu solidarisieren, die erst die Chat-Kommunikation ermöglicht. In beiden Fällen ist die Übernahme der Perspektive der Unternehmensleitung, die mit der Nutzung der neuen Handlungsmöglichkeiten einhergeht, im Chat kommunikativ sichtbar, wobei die Mitarbeiterin im Beispiel „Eine der schwersten Fragen“ versichert, die Perspektive der Unternehmensleitung zu haben, während der Mitarbeiter im Beispiel „Karrierepfade“ seine Perspektivübernahme herausstellt, um sich positiv von seinen Kollegen abzuheben, und damit nahe liegt, dass der Mitarbeiter die Perspektivübernahme als strategisches Handeln einsetzt. Im Rahmen einer weitergehenden Untersuchung der kommunikativen Handlung Perspektiven übernehmen und der im außersprachlichen Handeln sichtbaren Perspektivübernahmen, bei der über das vorliegende Korpus hinaus Datenmaterial zum weiteren Vorgehen der Mitarbeiter einbezogen werden müsste, ließen sich nicht nur für den Chat als Ereignis organisatorischen Wan- <?page no="238"?> 224 Die Vermittlung des Unternehmensbilds im Chat dels, sondern auch für andere Kommunikationssituationen im Unternehmen Perspektivübernahmen belegen. So ließen sich für die inhaltlichen Aspekte der Beispiele „Internationale Projekte“ und „Querdenker“ aus Phase 2 Perspektivübernahmen der Mitarbeiter belegen, falls diese die Angebote der Unternehmensleitung für neue Tätigkeiten angenommen haben. Dazu sollte in einer weitergehenden Untersuchung recherchiert werden, ob die im Chat angekündigten Handlungen im Nachgang tatsächlich umgesetzt werden. Varianten der kommunikativen Handlung Perspektiven übernehmen Über die dargestellten drei Phasen hinweg ergibt sich ein sprachliches Handlungsmuster (Abb.- 29), das zwei Varianten der kommunikativen Handlung „Perspektiven übernehmen“ (Perspektivübernahme A und B) abbildet. Gelingt den Mitarbeitern die Einordnung von Ereignissen des Wandels (erster Entscheidungsknoten) und finden sie neue Handlungsmöglichkeiten (zweiter Entscheidungsknoten), drückt sich das darin aus, dass die Mitarbeiter gezielt inhaltliche Fragen zur Umsetzung der erkannten neuen Handlungsmöglichkeiten an die Unternehmensleitung richten. An dieser Stelle kann zum ersten Mal eine Perspektivübernahme (Abb.-29, Perspektivübernahme A) sichtbar werden, wenn die Mitarbeiter ihre Perspektive, die sie ihrer Frage zugrunde legen, an die Perspektive der Unternehmensleitung anpassen (Bsp. Querdenker“), wobei der Perspektivübernahme strategisches Handeln (Bsp. „Karrierepfade“) oder die Versicherung der Mitarbeiter, die Perspektive der Unternehmensleitung tatsächlich übernommen zu haben (Bsp. Querdenker“), zugrunde liegen kann. Soweit an dieser Stelle keine Perspektivübernahme stattfindet, stellen die Mitarbeiter Ergänzungsfragen nach neuen Handlungsmöglichkeiten aus der Perspektive, die ihrer Position entspricht (Bsp. „Internationale Projekte“). Die Reaktion der Unternehmensleitung darauf (dritter Entscheidungsknoten) ist davon abhängig, ob die Frage relevant ist, d. h. ein Verständnis der Situation erkennen lässt. Basiert die Frage eines Mitarbeiters auf einer unzutreffenden Einschätzung der Situation des Unternehmens, wird sie von der Unternehmensleitung als nicht relevant eingestuft. Die Unternehmensleitung reagiert dann mit einer Korrektur der Sichtweise des Mitarbeiters und stellt die in der Frage thematisierten Aspekte aus ihrer eigenen Sicht dar. Relevante Fragen beantwortet die Unternehmensleitung durchwegs mit konkreten Handlungsempfehlungen und der Zusage von Unterstützung. Ist die Frage des Mitarbeiters damit noch nicht beantwortet (vierter Entscheidungsknoten), stellt er eine Ergänzungsfrage zur Umsetzung der neuen Handlungsmöglichkeiten. Soweit keine Fragen mehr offen sind, setzen die Mitarbeiter, wie am Beispiel des Chats gezeigt wurde, die neuen Handlungsmöglichkeiten um. Bei Diskursen, die so weit fortgeführt wurden, ohne durch einen inhibiting move eines der Interaktanten abzubrechen, reagiert ein Mitarbeiter, der die Per- <?page no="239"?> Vermittlung von Wahrnehmungen 225 spektive der Unternehmensleitung noch nicht übernommen hat, bei der Umsetzung seiner neuen Handlungsmöglichkeiten immer mit einer Perspektivübernahme (Abb.-29, Perspektivübernahme B). <?page no="240"?> 6 Die Teilhabe der Mitarbeiter: Organisatorischen Wandel erleben, annehmen und mitgestalten Aus der Sicht der Mitarbeiter bedeutet organisatorischer Wandel im Wesentlichen strukturelle Veränderungen, von denen sie in ihrem Aufgabenbereich sowie im Kontakt mit anderen Mitarbeitern betroffen sind und die bis hin zu ihrem privaten Umfeld Auswirkungen für sie haben. Organisatorischen Wandel nehmen die Mitarbeiter also vorrangig an seinen Auswirkungen wahr (Kap 1.2., Kap.- 3.2.3., Kap.- 3.3. und Kap.- 5). Die Mitarbeiter erleben Wandel, indem sie Veränderungen im Unternehmen wahrnehmen, und sie sind, wie in diesem Kapitel zu zeigen sein wird, in ihrer Rolle im Unternehmen darauf festgelegt, den Wandel anzunehmen, indem sie ihn mittragen und ihr Sprachhandeln auf die veränderten Anforderungen und Strukturen, die an sie herangetragen werden, ausrichten. Dabei besteht für die Mitarbeiter durchaus die Möglichkeit, im Rahmen ihres Aufgabenbereichs bei der praktischen Umsetzung neuer Anforderungen und veränderter Organisationsprozesse Wandel mitzugestalten. Mitteilungen, wie Wandel erlebt wird (Kap.-6.1.), sowie Versuche, veränderte organisatorische Strukturen einzuordnen (Kap.-6.2. und Kap.-6.3.) und Wandel mitzugestalten (Kap.-6.4.), machen im Chat fast ausschließlich die Mitarbeiter. Sie sind es, die Auswirkungen des Wandels im Chat thematisieren (Kap.-6.1.1., Kap.-6.1.2.3. und Kap.-6.3.2.3.) und auch von der Unternehmensleitung dazu aufgefordert sind (Kap.-6.2.2.1., Kap.-6.2.2.2. und Kap.-6.3.2.1.). Nach der Betrachtung der kommunikativen Handlung Perspektiven übernehmen (Kap.-5.5.2.) als im Chat kommunikativ sichtbare Vermittlung neuer Perspektiven lässt sich die Beschäftigung der Mitarbeiter mit dem Wandel anhand der im vorliegenden Datenkorpus gehäuft auftretenden Sprachhandlungen des Gesprächstyps Befragung (Kap.- 6.3.1.) und der Sprachhandlungen Kritik (Kap.- 6.1.2.), Misstrauen äußern (Kap.-6.3.3.) und Vorschlag (Kap.-6.4.) dokumentieren. Diese werden von den Mitarbeitern verwendet, um ihr Erleben, Annehmen und Mitgestalten organisatorischen Wandels kommunikativ zu bearbeiten. Die Beispiele werden nach ihrer interaktionalen Struktur und den thematisierten Inhalten analysiert. Dazu werden die verschiedenen Sichtweisen der Beteiligten dargestellt (Kap.-6.1.1.) sowie die Versuche der Mitarbeiter, ihre Macht durch die besondere Möglichkeit zu nutzen, in der Chat-Kommunikation interaktionale Dominanz auszuüben(Kap.- 6.2.1.1.), um ihre eigenen Interpretationen durchzusetzen und mit Fragen (Kap.-6.3.2.), Kritik und Vorschlägen auf das Geschehen im Unternehmen, innerhalb und außerhalb (Kap.- 6.5.) des Chats, Einfluss zu nehmen. Weiter wird in diesem Kapitel der Frage nachgegangen, welche über die Konventionen des Unternehmensalltags hinaus gehenden Rechte die Unternehmensleitung den Mitarbeitern zur kommunikativen Bearbeitung von Ereignis- <?page no="241"?> Thematisierung des Wandels im Chat 227 sen organisatorischen Wandels im Chat einräumt (6.2., 6.3.2.) und inwieweit sie dabei Einwirkungen des Chats auf das Unternehmen fördert (6.5.1.) oder zulässt (6.5.2.). 6.1 Thematisierung des Wandels im Chat 6.1.1 Einstellungen und Interessen Einstellungen und Interessen haben in Situationen unternehmerischen Wandels Bedeutung für die Richtung, die das Unternehmen einschlägt. Das Gestalten von Wandel besteht in der Durchsetzung eigener Interessen und der Abwehr von Interessen Dritter. Dagegen bedeutet Wandel zu erleben die Partizipation an Gemeinschaften in Unternehmen, die sich aufgrund der Einflussnahme der Unternehmensleitung und infolge der Umwälzung wirtschaftlicher und politischer Rahmenbedingungen verändern. Einstellungen führen zu entsprechenden Erwartungshaltungen, die unter den Chat-Teilnehmern recht heterogen sind. Die Konflikte, die aus verschiedenen Erwartungshaltungen zu den thematisierten Sachverhalten resultierten, entstehen im Chat zwischen der Gruppe der Mitarbeiter und der Gruppe der Unternehmensleitung, aber nicht innerhalb einer Gruppe. Die Mitarbeiter haben bezüglich des Wandels vielfach andere Interessen als die Unternehmensleitung, und beide Seiten haben dadurch eine unterschiedliche Erwartungshaltung. Im bereits in Kapitel 5.3.1.2. ausführlich besprochenen Beispiel „Technologieführerschaft“ führen unterschiedliche Einstellungen und daraus folgend verschiedene Erwartungshaltungen zu einem Interessenskonflikt. Technologieführerschaft 15 MA Wie erklären wir unseren Kunden unsere Technologieführerschaft, wenn wir intern ein bis zwei Technologiegenerationen nachhinken […]? 15 GF Mit der Ausrollung der Standardarbeitsplätze im 1. Quartal [Jahr] machen wir einen Sprung auf die aktuelle Technologie. Grundsätzlich muss jedoch angemerkt werden, dass wir auf eine Balance zwischen Wirtschaftlichkeit und Aktualität achten müssen. Die Kritik des Mitarbeiters resultiert aus seiner Perspektive, aus der heraus die Entscheidungen der Unternehmensleitung nicht nachvollziehbar sind. Er äußert die Auffassung, dass die unternehmensinterne Verwendung von Technologie auf dem neuesten Entwicklungsstand den Kunden des Unternehmens die angenommene „Technologieführerschaft“ des Unternehmens beweist. Zusätzlich kann ein Interessenkonflikt vermutet werden, falls der Mitarbeiter ein persönli- <?page no="242"?> 228 Die Teilhabe der Mitarbeiter ches Interesse daran hat, im Rahmen seiner Tätigkeit die aktuellste Technologie zur Verfügung zu haben und das unterstellte Interesse der Kunden nur ein vorgeschobenes Scheinargument ist. Dann handelt der Mitarbeiter nicht aufrichtig und seine Assertion ist vermutlich nicht nur an die Unternehmensleitung mit adressiert, sondern auch an alle Mitarbeiter, die zu diesem Zeitpunkt am Chat teilnehmen, um sie für die Unterstützung seines Anliegens zu gewinnen. Beide Interaktanten, der Mitarbeiter und der Geschäftsführer, eignen sich das Kommunikat nur hinsichtlich des Themas interpretierend an. Während der Mitarbeiter von dem Kriterium der „Technologieführerschaft“ ausgeht, nennt der Geschäftsführer „eine Balance zwischen Wirtschaftlichkeit und Aktualität“ als ausschlaggebenden Faktor für Investitionen in die technologische Ausstattung des Unternehmens. Mit der Antwort des Geschäftsführers bleibt offen, ob er die Äußerung des Mitarbeiters so interpretiert, dass der Mitarbeiter mit seiner Forderung verdeckt eigene Interessen verfolgt („Grundsätzlich“). Hinsichtlich der Bewertung des Sachverhalts handeln die Interaktanten dagegen nicht interpretierend, sondern teilen ihre Sichtweise und ihre Erwartungen an die Gegenseite nur mit, ohne auf Verständigung abzuzielen. Folglich verständigen sich die Interaktanten zwar über den thematischen Sachverhalt, aber die kommunikative Auseinandersetzung mit Einstellungen und Interessen ist von einem Kommunikationsverständnis geprägt, das nicht von gemeinsamer Verständigung, sondern dem bloßen Transport von Information ausgeht (Shannon/ Weaver). Die Ausrichtung auf einen breiten Empfängerkreis weist darauf hin, dass sowohl für den Mitarbeiter als auch den Geschäftsführer die Mitteilungsabsicht vorrangig ist. Besonders für die Mitarbeiter ist die Möglichkeit des Chats, ihre Interessen zu vertreten, indem sie Informationen breit adressieren, um damit Einfluss auf andere Chat-Teilnehmer zu nehmen, einzigartig unter den Kommunikationsformen, die das Unternehmen anbietet. Allerdings ist bei einer anzunehmenden Absicht, dass ein Interaktant, wie am Beispiel „Technologieführerschaft“ gezeigt, die übrigen Chat-Teilnehmer mit der Mitteilung von Informationen zu beeinflussen versucht, eine rezipientenorientierte Vorstellung von Kommunikation mit dem Paradigma der Kommunikation als Teilhabe nur bedingt einsetzbar. Aus der Erwartungshaltung der Teilnehmer des Chats entstehen konkrete Formulierungen von Interessen. Das Aufeinandertreffen verschiedener Interessen führt umso mehr zu Interessenkonflikten, wenn die Chat-Teilnehmer wie im vorliegenden Datenkorpus im Unternehmensalltag keine Möglichkeit haben, sich auseinanderzusetzen und zudem aufgrund unterschiedlicher Beteiligungsrollen in ihren inhaltlichen Zielen wenig übereinstimmen (Kap.- 2). Konkrete Gründe für die Abwehr fremder Interessen sind dann, dass diese in Konflikt mit eigenen Interessen stehen und nicht der eigenen Einstellung entsprechen. Interessenkonflikte manifestieren sich im vorliegenden Datenkorpus durch das häufige Vorkommen der interaktionalen Handlung „Kritik“, die in allen Fällen <?page no="243"?> Thematisierung des Wandels im Chat 229 von den Mitarbeitern initiiert wird (Kap.- 6.1.2). Im Beispiel „Menschen“ ist ein Interessenkonflikt thematisiert, der in der Folge zur Äußerung von Kritik führt. Menschen 263 MA1 gibts Hr. [Vorgesetzter] noch? 591 MA1 sgH [GF] sie übernehmen die operative leitung der [Organisationseinheit]? wenn ja,wie sollen wir unseren kunden erklären,dass schon wieder ein neuer leiter da ist? hr. [Vorgesetzter] hat einn super job gemacht 592 MA2 Was passiert mit Herrn [Vorgesetzter]? 592 GF Herr [Vorgesetzter] und ich sind hierzu im Gespräch 618 MA2 Bitte behalten Sie Herrn [Vorgesetzter], er verfügt im Gegensatz zu vielen ”Menschen“ über Vertriebs Know-How! 619 MA1 stimme ich voll zu Das Interesse der beiden Mitarbeiter ist, weiter für ihren derzeitigen Vorgesetzten zu arbeiten. Im Fall eines Wechsels befürchtet MA1 Erklärungsnot („wie sollen wir unseren kunden erklären“) und weniger unternehmensinterne Unterstützung gegenüber Kunden („hr. [Vorgesetzter] hat einn super job gemacht“). MA2 schlägt dem Geschäftsführer deshalb die Weiterbeschäftigung des Vorgesetzten vor und bekräftigt seinen Vorschlag mit dem Hinweis auf die Kompetenz („Vertriebs Know-How“) des Vorgesetzten und der Kritik an möglichen neuen Vorgesetzten („im Gegensatz zu vielen ‚Menschen‘„), wobei ihm MA1 zustimmt. Damit steht das Interesse der Mitarbeiter offensichtlich in Konflikt mit dem Interesse der Geschäftsführung, die den Vorgesetzten ausgetauscht hat. Nach der dritten Frage verweist der Geschäftsführer auf das laufende Personalverfahren („Herr [Vorgesetzter] und ich sind hierzu im Gespräch“). Damit liegt der Interessenkonflikt auch im Chat offen und löst die Intervention der Mitarbeiter aus, die an die Unternehmensleitung die Forderung stellen, ihren Vorgesetzten auf der bisherigen Position im Unternehmen zu belassen (Beiträge 618 und 619). Einige Beiträge weisen darauf hin, dass die Problematik eines Interessenkonflikts zwischen den Mitarbeitern und der Unternehmensleitung von manchen Teilnehmern genutzt wird, um sich selbst als an die Unternehmensziele angepasst darzustellen. Im Beispiel „Karrierepfade“ ist der Interessenkonflikt explizit thematisiert. <?page no="244"?> 230 Die Teilhabe der Mitarbeiter Karrierepfade (Auszug) 147 MA @ [UL]: Ich meine, dass im Augenblick viel zu viele Leute hauptsächlich damit beschäftigt sind, ihr Schäfchen ins Trockene zu bringen, anstatt ihren Kopf für kreative Dinge frei zu halten... : Der Mitarbeiter thematisiert einen Interessenkonflikt zwischen der Unternehmensleitung und Mitarbeitern in operativer Funktion. Er umschreibt metaphorisch die Situation, dass Mitarbeiter in einer Anzahl, die den Geschäftsbetrieb behindert („viel zu viele Leute“), in unternehmerischen Veränderungen („im Augenblick“) vorrangig ihre eigenen Interessen verfolgen („viel zu viele Leute hauptsächlich damit beschäftigt sind, ihr Schäfchen ins Trockene zu bringen“), während die Unternehmensleitung erwartet, dass sich die Mitarbeiter mit den Anforderungen der veränderten Situation im Unternehmen befassen („anstatt ihren Kopf für kreative Dinge frei zu halten“). Obwohl diese Einstellung seinem beruflichen Interesse, sich besser zu positionieren, entgegensteht, argumentiert der Mitarbeiter aus der Sicht der Unternehmensleitung, möglicherweise in dem Bestreben, auf diesem Weg seine Anpassung an die Sichtweise der Unternehmensleitung darzustellen und damit deren Wohlwollen zu erreichen. Der in der Gesprächs- und Diskursforschung angenommene Vorgang der „gemeinsame(n) Hervorbringung und Herstellung von Verständigung“, der den „vermittelnden Charakter jeglicher sprachlicher Kommunikation“ (Fiehler/ Becker-Mrotzek 2002, 8 f.) ausmacht, ist, wie die Beispiele „Menschen“ und „Karrierepfade“ zeigen, in der Chat-Kommunikation zwischen den Mitarbeitern und der Unternehmensleitung nur im engen Rahmen gemeinsamer Zielsetzungen gegeben. Die wirtschaftswissenschaftliche Sicht, Kommunikation sei einseitig instrumentalisierbar (Kap.- 1.2.), ist dabei nicht ausgeschlossen. Die Mitarbeiter haben es offensichtlich selbst in der Hand, sich die jeweils unternehmerisch erforderliche Perspektive auf das Unternehmen anzueignen. Im Beispiel „Karrierepfade“ eignet sich der Mitarbeiter die Vorstellung der Unternehmensleitung an und argumentiert durchgängig aus dieser Perspektive. Die einseitige Notwendigkeit der Anpassung liegt daran, dass ein Fehlschlagen der kommunikativen Vermittlung für die Mitarbeiter berufliche Nachteile nach sich ziehen kann, so dass bei der Äußerung von Einstellungen und Interessen die Erfordernisse des Unternehmens berücksichtigt werden müssen. Damit bedeutet die Möglichkeit, im Chat Einstellungen und Interessen zu äußern, nicht zwangsläufig, die Ereignisse im Unternehmen und organisatorischen Wandel mitgestalten zu können. Gestaltungsmöglichkeiten hängen von weiteren Bedingungen ab, die ich im weiteren Verlauf des Kapitels darstellen werde. <?page no="245"?> Thematisierung des Wandels im Chat 231 6.1.2 Die Sprachhandlung Kritik Im vorliegenden Datenkorpus üben die Mitarbeiter häufig Kritik an der Unternehmensleitung und den Angelegenheiten des Unternehmens, so dass ich zunächst den Ursachen für Kritik nachgehe (Kap.-6.1.2.1.). Anschließend wird das sprachliche Handlungsmuster Kritik (Kap.- 6.1.2.2.) und die Kritik zu Umbrüchen in den Unternehmensstrukturen, die in der kommunikativen Handlung Kritik am häufigsten thematisiert werden, dargestellt (Kap.- 6.1.2.3.). Das Muster beinhaltet zwar drei Varianten, ist jedoch wenig komplex und meist auf kurze Sequenzen mit nur zwei Beiträgen begrenzt, so dass kein Gesprächstyp entsteht, sondern lediglich eine Sprachhandlung „Kritik“ darstellbar ist (Kap.- 6.1.3.2.). Da der überwiegende Teil der Kritik sich auf Ereignisse unternehmerischen Wandels bezieht und die hierarchischen, arbeitsteiligen oder zeitlichen Umbruchstellen zwischen den organisatorischen Strukturen im Fokus stehen, wird Kritik aus diesem Themenbereich noch einmal im Einzelnen betrachtet (Kap.-6.1.3.3.). 6.1.2.1 Ursachen Die Sprachhandlung Kritik ist nach dem Gesprächstyp Befragung die zweithäufigste kommunikative Großform im Chat, die zwar meistens nur als wenig komplexe und kurze Sequenz vorkommt, aber drei Varianten bildet, so dass insgesamt ein umfangreiches sprachliches Handlungsmuster entsteht (Kap.-6.1.2.2.). Kritik kommt so offensichtlich vor, dass bei der Analyse die Vorgehensweise gewählt wird, von der Großform auszugehen und dann die Analyse bis zu den kleineren Einheiten zu vertiefen. Unter der kommunikativen Handlung Kritik verstehe ich die Kritik der Mitarbeiter an Entscheidungen der Unternehmensleitung, die in Konflikt mit den beruflichen oder persönlichen Interessen des Mitarbeiters stehen. Inhaltlich bezieht sich die Kritik bis auf wenige Ausnahmen auf Auswirkungen unternehmerischen Wandels. Die Mitarbeiter sehen sich häufig nicht in der Lage, ihre Eigeninteressen mit den Unternehmenszielen und den Anforderungen, die das Unternehmen an sie stellt, in Übereinstimmung zu bringen. Der Interessenkonflikt resultiert aus einer Einstellungsdivergenz oder aus unzureichenden Informationen, die es den Mitarbeitern unmöglich machen, die Perspektive der Unternehmensleitung nachzuvollziehen. Wie ich in Kap.- 6.1.3.3. zeigen werde, wird auch Sachkritik thematisiert, um persönliche Interessen zu verfolgen. Kritik an unternehmerischem Wandel findet in der Form statt, dass unternehmensinterne organisatorische Bruchstellen thematisiert und negativ bewertet werden. Es besteht damit eine deutliche Tendenz, Bruchstellen wesentlich mehr Beachtung zukommen zu lassen als neuen Strukturen. Dabei kritisieren die Mitarbeiter vermeintliche Fehlentscheidungen der Unternehmensleitung, von deren Auswirkungen sie <?page no="246"?> 232 Die Teilhabe der Mitarbeiter sich selbst betroffen sehen. Die Anlässe, Kritik zu üben, betreffen Veränderungen in der Unternehmensstruktur, die wiederum gehäuft im Wandel, d. h. in unternehmerischen Umbruchzeiten, nach Unternehmenszusammenschlüssen oder infolge Neupositionierungen des Unternehmens in einem veränderten wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Umfeld vorkommen. In diesem Zusammenhang wird in den folgenden Kapiteln der hypothetischen Annahme nachgegangen, dass es das übergeordnete Ziel der Kritik ist, Veränderungen im Unternehmen zu thematisieren, die die eigene Person mittelbar oder unmittelbar betreffen. Weiter soll im Rahmen des Vergleichs der Sprechhandlungsabsichten untersucht werden, ob und inwieweit Kritik geäußert wird, um die Entscheidungen der Unternehmensleitung zu beeinflussen und zu Stellungnahmen aufzufordern, oder ob sie zur Verbreitung der eigenen negativen Meinung unter den anderen Chat-Teilnehmern genutzt wird. Die Ursachen der Kritik lassen sich teilweise aus den Situationen ableiten, in denen die verschiedenen Formen von Kritik vorkommen. Im Unternehmensalltag kritisieren die Mitarbeiter die Unternehmensleitung zwar im Diskurs untereinander, Kritik als Sprachhandlung im Diskurs zwischen den Mitarbeitern und der Unternehmensleitung kommt jedoch kaum vor. Das liegt einerseits an den wenigen Möglichkeiten zum Gespräch mit der Unternehmensleitung und andererseits an den Konventionen der Interaktion, die sich im Chat herausbilden. Die Voraussetzungen für das Entstehen und gehäufte Auftreten von Kritik im Chat ist die Art der Beziehungskonstitution und der Zweck der Chat-Kommunikation. Im Chat besteht für die Mitarbeiter die Möglichkeit zum Diskurs mit der Unternehmensleitung als vorgegebene Situation und es müssen von den Mitarbeitern keine weiteren Bemühungen unternommen werden. Gleichzeitig verringert die Möglichkeit der Anonymität im Chat die soziale Kontrolle der Gesprächspartner. Die im persönlichen Diskurs wirksamen Kontrollinstrumente sind reduziert auf die Meinung der Chat-Teilnehmer als einziges Kontrollinstrument. Mayer-Uellner (2003, 92) weist in seinem „Kanalreduktionsmodell“ für Diskurse im Internet einen verminderten Charakter der sozialen Interaktion und eine reduzierte Verantwortlichkeit für eigenes Verhalten nach. Das drückt sich auch in der Beziehungskonstitution innerhalb des Diskurses aus. Fiehler/ Kindt/ Schnieders (1999) teilen die Beziehungskonstitution in Image- und Beziehungspflege auf, wobei nicht nur die Beziehungspflege die Berücksichtigung der Bedürfnisse des Gesprächspartners erfordert, sondern auch die Imagepflege für beide Seiten möglich sein muss. 70 Aus sozialwissenschaftlicher Sicht kann Image 70 Brünner (2000) und Fiehler/ Kindt/ Schnieders (1999) analysieren das Reklamationsgespräch ausführlich und stellen sprachliche Handlungsmuster von Reklamationsgesprächen dar, eine Betrachtung zur Verärgerung in Reklamationsgesprächen findet sich bei Schnieders (2002). <?page no="247"?> Thematisierung des Wandels im Chat 233 „als der positive soziale Wert definiert werden, den man für sich durch die Verhaltensstrategie erwirbt, von der die anderen annehmen, man verfolge sie in einer bestimmten Interaktion“ (Goffmann 1986, 10). Wird das gezeigte Verhalten schlechter bewertet, als der Interaktant erwartet hat, so fühlt er sich dadurch zu schlecht eingeschätzt (ebd., 11). Im vorliegenden Datenkorpus wird häufig Imagepflege betrieben und nur selten Beziehungspflege, auf die dann auch nur wenig Wert gelegt wird. Die Mitarbeiter zielen mit ihrer Imagepflege darauf ab, ihr Image ihren Erwartungen anzupassen. Es wird sich im Folgenden herausstellen, dass die Mitarbeiter in der „Handelnder-Empfänger-Beziehung“ (ebd., 56) darauf abzielen, als Gegenleistung für die Einhaltung ihrer Verpflichtungen gegenüber dem Unternehmen von der Unternehmensleitung das erwartete Image zugesprochen zu bekommen. Soweit ihr Image nicht ihren Erwartungen entspricht, versuchen sie es mit ihrer Imagepflege zu verbessern, indem sie sich selbst positiv bewerten oder aber das Unternehmen oder die Unternehmensleitung herabsetzen. Imagepflege, bei der das eigene Image verbessert werden soll, indem auf die eigene Machtposition verwiesen wird, bezeichnet Brünner als Macht-Display. Es entsteht ursächlich aus einem „Ohnmachtsgefühl gegenüber dem Unternehmen und seinen Handlungsweisen“ und „kann dann als Versuch interpretiert werden, das empfundene Machtgefälle zu kompensieren“ (Brünner 2000, 111). Der Gesprächstyp Reklamationsgespräch, für den Brünner Macht-Display beschreibt, ist mit der kommunikativen Handlung Kritik unter dem Aspekt vergleichbar, dass Kritik an einem Sachverhalt oder Vorgang geübt wird, die auf Nachbesserung abzielt, und der Interaktant sich selbst außerhalb des kritisierten Vorgangs oder Sachverhalts stellt. Es gibt im vorliegenden Datenkorpus keinen Beleg für Involviertheit, wie z. B. „das haben wir falsch gemacht“. Diese Selbsteinschätzung entspricht zwar weitgehend den Tatsachen, da der Gegenstand der Kritik i. d. R. Entscheidungen sind, die außerhalb des Einflussbereichs der Mitarbeiter liegen. Dennoch ist das völlige Fehlen von Involviertheit eher auf ein Zurückweisen von Verantwortlichkeit für das eigene Handeln zurückzuführen. Im vorliegenden Datenkorpus wird Macht-Display nur von den Mitarbeitern gezeigt und in den meisten Fällen mehrfach vorgebracht. Die Mitarbeiter zeigen Macht-Display, indem sie die Möglichkeit des Chats, interaktionale Dominanz auszuüben, nutzen, um ihre Macht als Gruppe zu zeigen und die Unternehmensleitung abzuwerten. Das Verhalten wird forciert, wenn es von der Unternehmensleitung, an die es adressiert ist, zurückgewiesen wird. Das Beispiel „Vertriebsveranstaltungen“ zeigt sowohl Macht-Display eines Mitarbeiters als auch die deutliche Zurückweisung durch die Unternehmensleitung. <?page no="248"?> 234 Die Teilhabe der Mitarbeiter Vertriebsveranstaltungen 388 MA1 Sg DrH, [Mitarbeiterveranstaltung] war seeehr pauschal, werden Sie in den nächsten Vertriebsveranstaltungen spezifischer? [Mitarbeiterveranstaltung] war für viele KollegInnen eiskalter Kaffee! 388 GF Schade, dass Sie das so sehen. Ich gebe die Kritik weiter und möchte mich aber über eine qualifiziertere Kritik schon jetzt bedanken. Gruss [Geschäftsführer] Der Mitarbeiter kritisiert eine Veranstaltung, die die Unternehmensleitung für die Mitarbeiter organisiert hatte, als zu wenig aussagekräftig und fragt nach, ob die folgenden Veranstaltungen konkreter gestaltet werden. Mit ausgedrückt wird Emotionalität und Aggressivität mit der Verwendung des metaphorischen Phraseologismus „eiskalter Kaffee“, exklamativer Satzzeichen und einer semantischen Verstärkung („seeehr“). Die Gesprächseröffnung in Form einer stark verkürzten Anrede („Sg DrH“) bekräftigt die Unhöflichkeit des Mitarbeiters. Der Mitarbeiter zeigt mit seinem Sprachhandeln Macht-Display, indem er die interaktionale Dominanz, die ihm der Chat bietet, nutzt und darstellt, dass er sich Aggressivität und Unhöflichkeit im Chat leisten kann, da er an der Macht partizipieren kann, die die Mitarbeiter als Gruppe darstellen, wobei er aufgrund seiner Anonymität individuelle Sanktionen gegen sich ausschließt. Möglicherweise sah sich der Mitarbeiter während der genannten Vertriebsveranstaltung in seinen Ansichten übergangen und trägt seinen Ärger darüber in den Chat herein. Der Geschäftsführer akzeptiert die Kritik („Schade, dass Sie das so sehen. Ich gebe die Kritik weiter“) und weist explizit nur das Macht-Display des Mitarbeiters zurück, indem er die Form, in der der Mitarbeiter Kritik äußert, als unangemessen bewertet und ein adäquates Verhalten fordert („möchte mich aber über eine qualifiziertere Kritik schon jetzt bedanken“). Das Macht-Display ist damit fehlgeschlagen und der Mitarbeiter unternimmt im weiteren Verlauf des Chats auch keinen erneuten Versuch, Macht-Display zu zeigen. Brünner beschreibt im Zusammenhang mit ihrer Definition von Macht-Display genau diese strategische Vorgehensweise. Abweichend von der Beschreibung des Macht- Display bei Brünner (2000, 107) wird im Beispiel „Vertriebsveranstaltungen“ kein erneutes Macht-Display gezeigt. Macht-Display ist im vorliegenden Datenkorpus in allen Fällen fehlgeschlagen. Meistens erhält der Mitarbeiter keine Reaktion auf sein Macht-Display, in wenigen Fällen wird es, wie im Beispiel „Vertriebsveranstaltungen“, zurückgewiesen. Möglicherweise ist die häufige Zurückweisung des Macht-Displays nicht nur die Ursache für die ständig wiederholten Versuche es zu zeigen, sondern auch für Kritik, die aus strategischen Gründen als ehrenhaft getarnt ist, bei der aber verdeckt Eigeninteresse verfolgt wird. Es kommt vermehrt vor, dass Mitarbeiter ihre Kritik damit rechtfertigen, sie würden sich für Kollegen einset- <?page no="249"?> Thematisierung des Wandels im Chat 235 zen. Goffmann ordnet dieses Verhalten als äußerlich gesellschaftliches Zeichen von Ehrenhaftigkeit ein. Äußert ein Interaktant Bedenken „aus Pflichtgefühl gegenüber größeren sozialen Gruppen und wird er von diesen Gruppen in seinem Tun noch unterstützt, dann spricht man von Ehrgefühl“ (Goffmann 1986, 15). Die Vermutung eines verdeckten Eigeninteresses ergibt sich daraus, dass es kein Beispiel gibt, in dem ein Teilnehmer nur für andere eintritt, ohne auch selbst betroffen zu sein und Nutzen daraus zu ziehen. Im folgenden Auszug aus dem in Kap.-5.1.1. analysierten Beispiel „Eine der schwersten Fragen“ verweist die Mitarbeiterin explizit darauf, zwar für andere, aber auch für sich selbst einzutreten. Eine der schwersten Fragen (Auszug) 43 MA1 Beitrag 32: Gerade in der [Organisationseinheit] haben die MA die Motivation und Interesse am Unternehmen; manchmal vermissen viele Kollegen und ich eine klare transparente Führung oder sind wir einfach zu groß? Die Mitarbeiterin gibt an, nicht nur für sich zu sprechen und Bitten zu äußern, sondern auch für „viele Kollegen“. Damit verneint sie ein reines Eigeninteresse und zeigt sich zum Nutzen der Gruppe um eine Verständigung mit dem Vorstand bemüht. Das Zeigen von Eigeninteresse scheint im Konflikt zu stehen mit Bezeugungen hierarchischer Unterordnung und wird deshalb durch die Pflege des Images von Gruppen ersetzt, ein Sprachhandeln, das dem einzelnen Mitarbeiter, der sich um das Image der Gruppe bemüht, als ehrenhaft ausgelegt wird. Der betreffende Mitarbeiter schützt sich damit auch vor uneindeutiger Darstellung seiner Interessen, denn Eigennutz könnte als Versuch ausgelegt werden, Eigeninteresse vor das Unternehmensziel zu stellen. Dagegen beweisen Forderungen für die Gruppe Uneigennützigkeit und damit eine nachrangige Priorität des Eigeninteresses nach dem Unternehmensinteresse. Hinzu kommt, dass der Verweis auf weitere Mitarbeiter mit gleichem Interesse den eigenen Forderungen mehr Nachdruck verleiht. Wie ich am Beispiel „Vertriebsveranstaltungen“ bereits dargestellt habe, wird Imagepflege wesentlich ausführlicher von den Mitarbeitern ausgeübt als Maßnahmen der Beziehungspflege. Das liegt offensichtlich nicht nur daran, dass es nicht nötig ist, Beziehungen zu pflegen, sondern an der Bedeutung der Imagepflege für die Verdeckung von Eigeninteresse. In einer Vielzahl von Beispielen zeigt sich, dass Bemühungen im Dienste einer Gruppe, die Eigennutz nicht direkt erkennen lassen, von der Unternehmensleitung akzeptiert werden (Beispiel „Nomenklatur“ in Kap.- 6.3.3., Beispiel „Umstrukturierung“ in Kap.- 6.1.2.3., Beispiele „Gesamter Blumenstrauß“ und „Amerikanismus“ in Kap.- 6.4.). Diese Form der Hervorbringung von Eigeninteresse ist hinsichtlich der Durchsetzung von Forderungen offenbar eine erfolgreiche Alternative zum Macht-Display. <?page no="250"?> 236 Die Teilhabe der Mitarbeiter Ein Teil der Kritik entsteht offensichtlich aufgrund von Missverständnissen zwischen den Mitarbeitern und der Unternehmensleitung. Die Missverständnisse beziehen sich meist auf die Zielsetzungen des Unternehmens und die Bewertung organisatorischer Entwicklungen. Strategieberatung 49 MA Bezüglich Strategie: [Organisationseinheit 1] als Strategieberatung steht bei Luenendonk auf Platz 13, [Organisationseinheit 2] steht nicht drin-] 50 GF [Organisationseinheit 2] wird heute in erster Linie nicht als Strategie-Beratungsunternahmen wahrgenommen, sondern als TK- Beratungsunternehmen. Daher vermutlich bei Luenendonk nicht aufgeführt. Im Beispiel „Strategieberatung“ ist das gemeinsame Hintergrundwissen der Chat-Teilnehmer, dass die fusionierte unternehmensinterne Unternehmensberatung in ihrer Zielrichtung neu aufgestellt wird, so dass sie im Ranking eines anerkannten Instituts (www.luenendonk.de) aus thematischen Gründen nicht mehr erscheint. Der Mitarbeiter vermutet dagegen eine abflachende Bedeutung der Beratungssparte des Unternehmens. Damit unterliegt der Mitarbeiter offensichtlich einem Missverständnis, denn aus der Antwort des Geschäftsführers geht hervor, dass unternehmensintern nicht geplant ist, die Bedeutung der Unternehmensberatung zu verringern, sondern das Beratungsangebot zu verändern. Dabei stellt das Ranking, das der Mitarbeiter anführt, kein Messkriterium mehr dar. Die Kritik des Mitarbeiters beruht folglich auf einem Missverständnis über die Beurteilungskriterien der neu fusionierten Unternehmensberatung. Kleinberger Günther (2003, 83) macht in Situationen organisatorischer Veränderung erhöhten Kommunikationsbedarf zur Vermeidung von Missverstehen aus, was im Beispiel „Strategieberatung“ die Motivation des Mitarbeiters für seinen Beitrag sein kann. Zusammenfassend lassen sich für die Sprachhandlung Kritik folgende Anlässe und Ursachen ausmachen. Die Ursachen der Kritik sind die Perspektiven- und die Einstellungsdivergenz zwischen der Seite der Mitarbeiter und der Seite der Unternehmensleitung. Da beide Seiten in Bezug auf einen großen Teil ihrer Perspektiven und Einstellungen übereinstimmen (Prosperität und positive Außendarstellung des Unternehmens) und die Divergenzen nur partiell bestehen (Arbeitsplatzsicherheit, Privilegien), treten die Ursachen nur an Umbruchstellen in der Unternehmensstruktur zutage, die durch organisatorischen Wandel entstehen, (Beispiel „Strategieberatung“). Die Ursachen der Kritik sind also Unterschiede in den Einstellungen und den Perspektiven auf das Unternehmen. Die Einstellungsunterschiede resultieren meistens aus den unterschiedlichen beruflichen und persönlichen Interessen der Mitarbeiter, ihrer Position im Un- <?page no="251"?> Thematisierung des Wandels im Chat 237 ternehmen und ihrer persönlichen Situation. Dabei sind die durch organisatorischen Wandel bedingten Umbrüche in den Unternehmensstrukturen, die die Mitarbeiter thematisieren (Kap.-6.1.2.3.), der Auslöser für Kritik. Zur Unterstützung ihrer Kritik greifen die Mitarbeiter auf ihr Expertenwissen zurück, das sie dem hierarchischen Wissen der Unternehmensleitung entgegensetzen, und verwenden dazu Macht-Display als Stilmittel (Beispiel „Vertriebsveranstaltungen“). Die Mitarbeiter nutzen den erweiterten Spielraum für Kritik, den ihnen das Medium Chat gibt, nicht beliebig, sondern nach zwei Leitkriterien. Es sind Äußerungen möglich, die im Unternehmensalltag als Regelverletzung sanktioniert werden, und es ist möglich, sich selbst interaktiv als unternehmenskonform darzustellen sowie Eigeninteressen zu verdecken, ohne dass der Wahrheitsgehalt der Äußerungen des betreffenden Mitarbeiters anhand seiner früheren Äußerungen oder Handlungsweisen im Unternehmen überprüft werden könnte. Diese angepasste Selbstpräsentation wird teilweise als Referenzrahmen für Kritik verwendet (Beispiel „Karrierepfade“). 6.1.2.2 Musterbildung Die im Korpus vorkommenden Ausprägungen der Sprachhandlung Kritik lassen sich drei Varianten (Abb. 30) des sprachlichen Handlungsmusters (Abb.-31) zuordnen, die sich im Wesentlichen in der Form der Gesprächseröffnung unterscheiden. Variante 1 Kritik wird in Form einer Behauptung geäußert, indem der Mitarbeiter einen Sachverhalt oder eine Entscheidung der Unternehmensleitung darstellt und mit einer negativen Bewertung versieht. Variante 2 Der Kritik in Form einer Behauptung wird eine Forderung oder Bitte zur Veränderung des kritisierten Sachverhalts angeschlossen oder vorangestellt. Variante 3 Einer Behauptung folgt anschließend ein Vorschlag zur Verbesserung des beschriebenen Sachverhalts. Dieser ist häufig als Ergänzungsfrage 71 formuliert und syntaktisch durch „warum nicht“ eingeleitet. 71 Zifonun/ Hoffmann/ Strecker (1997, 105) bezeichnen als Ergänzungsfragen diejenigen Fragen, die „einen Sachverhalt als auf wenigstens einer Dimension offen entwerfen“, wobei das Interrogatum dann die offene Dimension oder mehrere offene Dimensionen ist und der „Zweck der Frage“ darin besteht, „daß eine Antwort gegeben wird, die den Sachverhaltsentwurf in der fraglichen Dimension auffüllt, so daß sich ein als wahr geltender Sachverhalt ergibt.“ Die im vorliegenden Datenkorpus häufig vorkommenden Fragetypen sind in Kap.-6.3.1. aufgeführt und erläutert. <?page no="252"?> 238 Die Teilhabe der Mitarbeiter Variante 1 Variante 2 Variante 3 Sprachhandeln Behauptung zur negativen Bewertung eines Sachverhalts ergänzendes Sprachhandeln Forderung oder Bitte Vorschlag zur Verbesserung Zielorientierung zweckorientiert verständigungsorientiert verständigungsorientiert Beispiel „mich stört das auch gewaltig, dass man das Intranet ausschließlich mit dem [Bezeichnung] Browser nutzen kann“ (Beispiel „Intranet“) „Der mir bekannte Fachvertrieb bemüht sich nach meiner Wahrnehmung vor allem auf Mittelständische Unternehmen, die aufgrund ihrer Struktur inkompatibel zu uns sind und von daher schon eine Beauftragung unwahrscheinlich ist. Wann erfolgt die Fokussierung aller Vertriebe auf unsere Zielkunden? “ (Beispiel „Fachvertrieb“) „und warum, wählt man nicht fertige Lösungen von der Stange […] Über [Produkt] geht es jedenfalls bald nicht mehr bei den datenvolumina...? ? ? ? “ (Beispiel „Lösungen von der Stange“) Abb. 30: Die Varianten der Sprachhandlung Kritik Variante 1 des sprachlichen Handlungsmusters Kritik Kritik als Behauptung mit negativer Bewertung entsteht, wenn die Mitarbeiter den Sachverhalt, den sie kritisieren, aus einer anderen Perspektive als die Unternehmensleitung sehen. Das ist besonders dann problematisch, wenn die Beteiligten die Bewertungen und Kriterien, die sie aus ihrer Perspektive heraus haben, nicht verbalisieren, sondern nur ihren Schlussfolgerungen zugrunde legen. So thematisiert der Mitarbeiter im Beispiel „Intranet“ weder seine Erwartungen an die Funktionen des Intranet noch seine Kriterien, anhand derer er seine Erwartungen aufstellt. Intranet 82 MA zu Open Source&Linux: mich stört das auch gewaltig, dass man das Intranet ausschließlich mit dem [Bezeichnung] Browser nutzen kann-: Der Mitarbeiter kritisiert seine eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten bei der Nutzung des unternehmenseigenen Intranet, das die Verwendung eines bestimmten Browsers voraussetzt. Dieser Browser gehört zur Standardausstattung <?page no="253"?> Thematisierung des Wandels im Chat 239 handelsüblicher Personalcomputer, so dass er dem Mitarbeiter bekannt und verfügbar ist. Dennoch kritisiert er, dass das Intranet mit anderen Browsern nicht nutzbar ist. Die möglichen Kriterien der Unternehmensleitung, im ganzen Unternehmen ausschließlich Browser eines Typs zu verwenden, z. B. die Wirtschaftlichkeit des Systems oder Einsatzbeschränkungen neuester Techniken in komplexen technischen Umgebungen, berücksichtigt der Mitarbeiter nicht. Der Mitarbeiter unternimmt keinen Versuch, in die Perspektive der Entscheidungsträger für das Intranet zu wechseln, so dass er die tatsächlichen Umstände als nicht zufriedenstellend bewertet, da sie nicht an seinen persönlichen Kriterien orientiert sind. Das Beispiel „Flughafenbereich“ beinhaltet eine Kritik, die aufgrund unterschiedlicher Auffassungen der Beteiligten über die Vorgehensweise bei der Abb.-31: Das sprachliche Handlungsmuster Kritik <?page no="254"?> 240 Die Teilhabe der Mitarbeiter Wahrnehmung von Arbeitsaufgaben zustande kommt. Wie im Beispiel „Intranet“ haben die Beteiligten unterschiedliche Perspektiven auf den thematisierten Sachverhalt, wobei im Beispiel „Flughafenbereich“ der Mitarbeiter seine Kritik durch eine Korrektur des Sachverhalts ergänzt, die aus seiner Sicht zielführend ist. Flughafenbereich 255 MA Zum Thema Internationalisierung und Investitionen: Ich arbeite in einem Bereich, der schon deutlich im Ausland arbeitet, Thema Flughafenbereich. Leider sieht es bei vielen unsren Mitarbeitern so aus, dass unser Projektgeschäft im Gegensatz zu Investitionen steht. Unsere Projekte müssen sich selbst finanzieren! Warum? Eine Investition von weniger als 500T EURO würde uns einen riesigen Schritt voranbringen! Der Mitarbeiter hält offensichtlich renditeorientierte Messkriterien für Projekte für falsch („Leider“, „Unsere Projekte müssen sich selbst finanzieren! Warum? “). Seine Frage, warum eine Vorfinanzierung abgelehnt wird, ist rhetorisch, denn mit dem erneuten Insistieren auf Vorfinanzierung („Eine Investition […] würde uns einen riesigen Schritt voranbringen! “) bestätigt er selbst seine zuvor vertretene Meinung („dass unser Projektgeschäft im Gegensatz zu Investitionen steht“). Es bleibt offen, was er unter „einen riesigen Schritt voranbringen“ konkret versteht. Er offenbart aber mit diesem Vorschlag zur Korrektur der unternehmerischen Vorgehensweise seine eigene Perspektive. Insgesamt weicht seine Einstellung zur Projektbeurteilung damit von der diesbezüglichen Einstellung der Unternehmensleitung ab. Die Schwierigkeiten des Mitarbeiters, die Vorgehensweise des Unternehmens zu verstehen, resultieren daraus, dass er sich nur die von ihm selbst vertretene Vorgehensweise vorstellen und die Perspektive der Unternehmensleitung nicht nachvollziehen kann. Dagegen zeigt das in Kap.- 5.3.1.1. ausführlich besprochene Beispiel „Karrierepfade“ eine Kritik, die gerade aus der Übernahme der Perspektive der Unternehmensleitung heraus entsteht. Der Mitarbeiter nimmt eine Perspektive an, die er bei der Unternehmensleitung vermutet. Karrierepfade (Auszug) 147 MA @ [UL]: Ich meine, dass im Augenblick viel zu viele Leute hauptsächlich damit beschäftigt sind, ihr Schäfchen ins Trockene zu bringen, anstatt ihren Kopf für kreative Dinge frei zu halten...-: 148 V Das glaube ich gerne. Allerdings gehe ich auch davon aus, dass die Kollegen weiterhin das gesunde Wachsen der [Unternehmenssparte] im Auge haben. Ansonsten nützt auch das interne Absichern nichts mehr. Dann sitzen die alle auf dem Trockenen. <?page no="255"?> Thematisierung des Wandels im Chat 241 Durch die Verwendung von Metaphern bleibt der beschriebene Sachverhalt mehrdeutig, indem verschiedene Sprachhandlungen angenommen werden können. 72 Konkret kritisiert der Mitarbeiter das Verhalten einer Vielzahl von Mitarbeitern im Unternehmen („viel zu viele Leute hauptsächlich damit beschäftigt sind, […] anstatt“). Der Beitrag kann tatsächlich eine Meinungsäußerung des Mitarbeiters sein, aber auch eine aus strategischen Gründen geäußerte Zustimmung zur vermuteten Einstellung der Unternehmensleitung oder eine ironische Kritik der Anforderungen, die die Unternehmensleitung an die Mitarbeiter stellt. Eine Interpretation der Äußerung des Mitarbeiters lässt sich nur im Rückschluss aus der Reaktion der Unternehmensleitung vornehmen und deren indirekter Bestätigung, indem der Mitarbeiter diese Reaktion nicht korrigiert. Demnach thematisiert der Mitarbeiter mit Phraseologismen der Umschreibung ein Mitarbeiterverhalten, das darauf abzielt, die eigenen Interessen („ihr Schäfchen ins Trockene zu bringen“), vorrangig vor Unternehmensinteressen („Kopf für kreative Dinge frei zu halten“) zu wahren. Das impliziert weiter, es sei im Interesse des Unternehmens, dass Mitarbeiter kreativ arbeiten sollen ohne Berücksichtigung ihrer privaten Interessen. Der Mitarbeiter geht davon aus, sich damit die Perspektive der Unternehmensleitung anzueignen sowie sich aus deren Perspektive zu äußern, und versucht damit seine Orientierung an den Zielen des Unternehmens zu zeigen. Ob der Mitarbeiter mit dieser Äußerung aufrichtig oder strategisch handelt, bleibt offen. Im Beispiel „Strategieberatung“ beruht die Kritik ebenfalls auf einer divergenten Einstellung des Mitarbeiters zur Einstellung der Unternehmensleitung, wobei weder Beurteilungskriterien noch konstruktive Vorschläge für Maßnahmen explizit genannt werden. Strategieberatung 49 MA Bezüglich Strategie: [Organisationseinheit 1] als Strategieberatung steht bei Luenendonk auf Platz 13, [Organisationseinheit 2] steht nicht drin-] Der Mitarbeiter setzt ein umfängliches Hintergrundwissen des Adressaten voraus, was darauf hinweist, dass er seinen Beitrag nicht an alle Chat-Teilnehmer, sondern nur an die für die thematisierte Angelegenheit Verantwortlichen richtet. Er vergleicht zwei unternehmensinterne Unternehmensberatungen, von denen eine im Rahmen von Zukäufen hinzugekommen ist und die nun beide fusioniert werden sollen. Die Mitarbeiter der zugekauften Unternehmensbe- 72 Metaphern dienen nach Habscheid (2003, 120) in der Unternehmenskommunikation in ihrer kommunikativen Funktion „dem Ausdruck evaluativer [...] Bedeutungskomponenten, z. B. in argumentativen Kontexten oder in der Selbstdarstellung“, „der Gemeinschaftsstiftung“ und der „Übermittlung von ‚Unaussprechbarem‘“, als „‚Vehikel‘ für verschlüsselte Informationen“. <?page no="256"?> 242 Die Teilhabe der Mitarbeiter ratung, zu denen der Absender des Beitrags vermutlich gehört, waren vielfach von ihrer besseren Leistung gegenüber der etablierten Unternehmensberatung überzeugt. Da beide Unternehmensberatungen zu den größten der Branche gehören, ist den Mitarbeitern beider Unternehmensberatungen die jeweils andere bekannt. Jedoch hat sich die etablierte Unternehmensberatung nicht bei Luenendonk (www.luenendonk.de), einem maßgeblichen Institut für die Bewertung von Unternehmensberatungen, eintragen und dem Ranking unterziehen lassen. Auf diesen Umstand weist der Mitarbeiter indirekt hin, indem er als Beleg dafür die gute Bewertung der neuen Unternehmensberatung durch das in der Branche anerkannten Ranking bei Luenendonk („steht bei Luenendonk auf Platz- 13“) anführt und den fehlenden Eintrag der etablierten Unternehmensberatung („steht nicht drin“) mit schlechter Leistung oder geringem Bekanntheitsgrad gleichsetzt. Der Mitarbeiter besteht damit auf seiner Einstellung und seinem Messkriterium, das aber offensichtlich von den Kriterien der Unternehmensleitung abweicht, so dass der Mitarbeiter die unternehmerische Entscheidung, beide Unternehmensberatungen zu fusionieren, nicht mit seinen Kriterien vereinbaren kann. Unter den Ausprägungen der Variante 1 finden sich verdeckte Behauptungen, die nicht als „wirkliche Frage“ (Searle 1986, 102) formuliert sind, auf die der Fragende eine Antwort erwartet, sondern als rhetorische Frage, der eine Behauptung vorausgeht. Die Frage des Mitarbeiters im Beispiel “Erhöhung der Bezüge“ impliziert die Behauptung, dass die Erhöhung der Vorstandsbezüge rückgängig gemacht wird. Erhöhung der Bezüge 79 MA (Wann) macht der Vorstand die instinktlose Erhöhung der Bezüge rückgängig? Der Mitarbeiter geht von einem gemeinsamen Hintergrundwissen der Chat- Teilnehmer über eine Erhöhung der Vorstandsbezüge aus. Diese Erhöhung bewertet er nach sozialen Kriterien negativ („instinktlose Erhöhung“). Die Ergänzungsfrage nach dem Zeitpunkt, zu dem die Erhöhung rückgängig gemacht wird, impliziert, die Rücknahme der Erhöhung sei bereits beschlossen worden. Als Begründung für eine Rücknahme der Erhöhung wird indirekt die negative Bewertung des Vorgangs unterstellt. Das Beispiel ist in Kap.-5.4. hinsichtlich der politischen Einflussfaktoren auf den Diskurs im Chat analysiert. Variante 2 des sprachlichen Handlungsmusters Kritik Eine zweite Variante bilden Behauptungen, denen eine Forderung oder Bitte angeschlossen ist. Ergänzend sind diese Behauptungen meist argumentativ unterstützt. Die Behauptung hat zwar einen negativen Inhalt, jedoch stellt die Forde- <?page no="257"?> Thematisierung des Wandels im Chat 243 rung oder Bitte aus der Perspektive des Mitarbeiters immer eine Verbesserung seiner eigenen beruflichen Situation dar. Eine Behauptung mit anschließender Forderung äußert der Mitarbeiter im Beispiel „Fachvertrieb“. Die Forderung wird nur implizit durch den temporaldeiktischen Charakter der Frageform („Wann“), mit der sich der Mitarbeiter nach dem Zeitpunkt der Erfüllung seiner Forderung erkundigt, geäußert. Fachvertrieb 48 MA Der mir bekannte Fachvertrieb bemüht sich nach meiner Wahrnehmung vor allem auf Mittelständische Unternehmen, die aufgrund ihrer Struktur inkompatibel zu uns sind und von daher schon eine Beauftragung unwahrscheinlich ist. Wann erfolgt die Fokussierung aller Vertriebe auf unsere Zielkunden? Der Mitarbeiter behauptet, die Ausrichtung des Fachvertriebs sei nicht am Markt orientiert. Diese Behauptung unterstützt er argumentativ durch eine kritische Beschreibung der bestehenden Situation, wie sie sich ihm darstellt, und fordert eine erneute Ausrichtung nach anderen Kriterien, die er auch nennt („Fokussierung aller Vertriebe auf unsere Zielkunden“). Die Äußerung bildet insgesamt eine konstruktive Kritik. Soweit sich Kritik in Behauptungen äußert, die mit einer Bitte verbunden sind, ist der propositionale Gehalt der Behauptung eine Beschreibung und negative Bewertung eines Sachverhalts, den der Gesprächspartner zu verantworten hat. Die Bitte zielt dann auf eine Verbesserung der Situation nach der Vorstellung des kritisierenden Mitarbeiters ab. Im Beispiel „Menschen“, das in Bezug auf die Selbstpräsentation (Kap.- 5.2.2.) und das Fragerecht (Kap.- 6.3.2.1.) der Mitarbeiter ausführlich besprochen ist, äußert der Mitarbeiter eine mit einer Bitte verbundene Behauptung, um seine Interessen zu wahren. Menschen (Auszug) 618 MA2 Bitte behalten Sie Herrn [Vorgesetzter], er verfügt im Gegensatz zu vielen ”Menschen“ über Vertriebs Know-How! Der Mitarbeiter äußert sich zu den fachlichen Qualitäten einer Person, die, wie aus dem weiteren Verlauf der Sequenz hervorgeht, ihm vorgesetzt ist. Dabei stellt er seinen Vorgesetzten im Vergleich mit anderen möglichen Vorgesetzten positiv dar und behauptet implizit, dass andere Vorgesetzte weniger kompetent sind. Ob die Interpunktion („Menschen“) auf konkrete Personen anspielt oder „Menschen“ als Ersatz für einen unhöflichen Ausdruck verwendet wird, bleibt unklar. Der Mitarbeiter bittet um eine Weiterbeschäftigung seines Vorgesetzten und versucht ihm ein Referenz-Zeugnis zu geben („er verfügt […] über Vertriebs Know-How“). <?page no="258"?> 244 Die Teilhabe der Mitarbeiter Variante 3 des sprachlichen Handlungsmusters Kritik In einer dritten Variante äußern die Mitarbeiter explizit konstruktive Kritik und machen Vorschläge zur Verbesserung ihrer eigenen beruflichen Situation. Die Variante setzt sich aus einer Behauptung zusammen, die argumentativ durch Nennen von Gründen unterstützt wird, und einem Vorschlag, der sprachlich häufig durch „warum nicht“ eingeleitet wird. Das Beispiel „Lösungen von der Stange“ zeigt eine typische Ausprägung dieser Variante. Lösungen von der Stange 172 MA und warum, wählt man nicht fertige Lösungen von der Stange (LH- Systems tut dies grade) oder auf Basis von zuverlässigen Tools (z. B. Lotus Notes), die weniger traffic erfordern und die Berater unabhängig machen würden? ? oder bekommen wir alle nächstes Jahr [Produkt 2]-Handys zum einloggen? Über [Produkt 1] geht es jedenfalls bald nicht mehr bei den datenvolumina...? ? ? ? Das Beispiel ist einem längeren Gesprächsstrang entnommen, in dem die Ausstattung der im Außendienst tätigen Mitarbeiter mit mobil einsetzbarer Kommunikationstechnik thematisiert wird und die Mitarbeiter ihre Unzufriedenheit mit der bisherigen Ausstattung äußern. Der Mitarbeiter macht zuerst einen Vorschlag („fertige Lösungen von der Stange“), den er mit dem Hinweis auf die Wirtschaftlichkeit („weniger traffic erfordern“) sowie die bessere Einsetzbarkeit der Mitarbeiter („die Berater unabhängig machen“) unterstützt, und übernimmt damit die Perspektive der Unternehmensleitung, die auch symptomatisch in dem Hinweis auf die Handhabung in einem anderen Unternehmen der Branche, der Lufthansa Systems GmbH, mit ausgedrückt ist („LH-Systems tut dies grade“). Andererseits enthält seine Frage eine kritische Implikation („warum […] nicht“), mit der er den beschriebenen Sachverhalt problematisiert und seinen implizierten Vorschlag („fertige Lösungen von der Stange […] oder auf Basis von zuverlässigen Tools“) als Verbesserung darstellt. Anschließend stellt er eine Alternativfrage nach der möglichen Ausstattung mit UMTS-Handys, um die weitere Planung der Unternehmensleitung zur technischen Ausstattung herauszufinden. Erst am Ende seines Beitrags bringt der Mitarbeiter seine Kritik an der bestehenden mobilen technischen Ausstattung vor („Über [Produkt 1] geht es jedenfalls bald nicht mehr“), die er mit einer sich verändernden Arbeitssituation begründet („bei den datenvolumina“) und zudem durch die Interpunktion <...? ? ? ? > verstärkt. In den Ausprägungen der Variante 3 stellen die Mitarbeiter grundsätzlich die vorgeschlagene Verbesserung des beschriebenen Sachverhalts gleichzeitig in Frage („warum nicht“, „oder (nicht)? “). Gehäuft tritt auch eine explizite Kennzeichnung des eigenen Beitrags als persönliche Ansicht auf. Vereinzelt wird Ironie verwendet, indem das Gegenteil des eigentlich Gemeinten gesagt wird. <?page no="259"?> Thematisierung des Wandels im Chat 245 Soweit Variante 3 als Informationsfrage auftritt, wird verdeckt Zustimmung zur eigenen Position gesucht. Vergleich und Ursachen der unterschiedlichen Vorgehensweisen Die drei verschiedenen Varianten für die Sprachhandlung Kritik kommen dadurch zustande, dass die Mitarbeiter bei der Verfolgung der Sprachhandlungsabsicht Kritik zu üben unterschiedliche Vorgehensweisen wählen. Ein Vergleich der Vorgehensweisen in den verschiedenen Varianten zeigt, dass Variante 1 gewählt wird, wenn die Behauptung aufrichtig ist. Die ironische Verwendung von Variante 1 führt zu Mehrdeutigkeit und die tatsächliche Absicht kann aufgrund fehlender konkreter Erläuterungen des Mitarbeiters nur vermutet werden. Der propositionale Gehalt der Varianten 2 und 3 bleibt unabhängig von der Erweiterung der Behauptung um eine Forderung, Bitte oder Frage auch dann eindeutig, wenn der Mitarbeiter Ironie als Stilmittel einsetzt. Bei den Varianten 2 und 3 kann von der Aufrichtigkeit des Mitarbeiters ausgegangen werden. Die Kontroverse entsteht durch die Unterschiedlichkeit der Wahrnehmungen der beteiligten Interessengruppen. Variante 2 enthält eine Handlungsaufforderung in Form einer Forderung oder Bitte. Dabei äußern die Mitarbeiter die Annahme, dass ihre Beschwerde keinen Erfolg hat. Es wird vielmehr vermutet, dass die Unternehmensleitung nicht zu einem bestimmten Handeln gebracht werden kann, da die Mitarbeiter nicht die Möglichkeit haben, Handlungen entgegen der geäußerten Forderung oder Bitte zu sanktionieren. Insbesondere die Kombination eines Arguments mit einer Alternativfrage („warum nicht“) in Variante 3 weist auf die Annahme des Mitarbeiters hin, dass die Unternehmensleitung nicht überzeugt und in ihrer Haltung bewegt werden kann. Die Varianten 2 und 3 unterscheiden sich in der Handlungsabsicht der Mitarbeiter darin, dass der Mitarbeiter in Variante 2 einen Vorschlag macht, da er glaubt, einen neuen Aspekt mitteilen zu können. Dagegen glaubt der Mitarbeiter in Variante 3, seine Wahrnehmung sei mit der allgemeinen Wahrnehmung gleichzusetzen. Die Alternativfrage („warum nicht“) nach Variante 3 ist nicht mit kritischen Vorschlägen vergleichbar, denn die Mitarbeiter thematisieren damit Entscheidungen der Unternehmensleitung, die bereits getroffen wurden und nicht mehr zur Diskussion stehen. Es kann für die Mitarbeiter zum Zeitpunkt der Kritik nach Variante 3 nur noch um eine Bewertung von Entscheidungen zwischen Alternativen gehen, die in der Vergangenheit liegen. Kritik nach der Variante 3 mit Alternativfrage („warum nicht“) ist ein Ausdruck für Interessenkonflikte und Perspektivendivergenzen zwischen den Mitarbeitern und der Unternehmensleitung. Der Mitarbeiter stellt damit die Behauptung auf, an die Stelle eines bestehenden Sachverhalts sollte ein anderer Sachverhalt treten. Diese Form der Kritik wird ausschließlich von den Mitarbeitern verwendet, da ihnen nur Sprachhandeln zur Verfügung steht und unter- <?page no="260"?> 246 Die Teilhabe der Mitarbeiter nehmerisches Handeln für sie nicht möglich ist. Kritisiert werden sowohl von der eigenen Vorstellung abweichende Perspektiven als auch abweichende Interessen und Handlungen. 73 Das ist zunächst insoweit plausibel, als die Interessen jeweils auf der Grundlage der eigenen Perspektive entstehen. Es gibt Hinweise darauf, dass die Mitarbeiter Perspektivübernahmen nicht vollziehen wollen, teilweise aber auch mangels Hintergrundwissen nicht vollziehen können. Soweit die Mitarbeiter Effizienzdenken zu ihren Lasten festzustellen glauben, werden die entsprechenden unternehmerischen Entscheidungen abgelehnt. Liegt dagegen fehlendes Vermögen zum Perspektivwechsel vor, handeln die Mitarbeiter in Einzelfällen auch gegen ihre eigenen Interessen. Mit der Variante 3 stellen die Mitarbeiter, wenn auch von Abschwächungen und Rechtfertigungen begleitet, eigene Handlungsleitlinien auf. Die Problematik der Kritik nach Variante 3 mit Alternativfrage („warum nicht“) liegt darin, dass sich daraus keine gemeinsame konstruktive Diskussion von Problemen zwischen der Unternehmensleitung und den Mitarbeitern ergibt. Das resultiert daraus, dass die Mitarbeiter zwar Statements zur Ausrichtung des Unternehmensprofils nach ihren Vorstellungen abgeben, aber nach der Beantwortung in den meisten Fällen keinen weiteren Beitrag schreiben, so dass die Sequenz bereits nach dem ersten Paar abbricht. In allen drei Varianten lassen sich vermehrt Ausprägungen feststellen, in denen die Mitarbeiter Forderungen stellen, die implizit geäußert werden. Diese Forderungen werden in Fragen ausgedrückt, wobei der temporaldeiktische („wann“ in den Beispielen „Erhöhung der Bezüge“ und „Fachvertrieb“) oder kausaldeiktische („warum“ im Beispiel „Lösungen von der Stange“) Charakter der Frageform als implizite Forderung wirkt. Die Rolle der Ironie In den Beiträgen, die Kritik enthalten, spielt Ironie eine wesentliche Rolle für die Verschleierung von Sprechhandlungsabsichten, wobei aber die Kritik immer erkennbar bleibt. Die Mitarbeiter thematisieren Ereignisse und Sachverhalte, die sie kritisieren wollen, nicht direkt, sondern inhaltlich ironisch verkehrt und erzeugen damit Mehrdeutigkeit. Ihre Motivation zu dieser Vorgehensweise ist die Vermutung, dass das eigene Sprachhandeln ohnehin ins Leere läuft. Im Beispiel „Heute“ ist die Ironie für alle Chat-Teilnehmer ersichtlich. Heute 320 MA das klappt ja heute mit dem chat ...! 73 Die Äußerung und das Verschleiern von Interessen zwischen den Mitarbeitern und der Unternehmensleitung werden in der Literatur unterschiedlich beschrieben. Während Nothdurft (1984) und Kallmeyer (1985) von häufig vorkommendem Verschleiern ausgehen, geht Müller (1997) grundsätzlich von gemeinsamen Zielen aus. Eine Beschreibung der Verschleierung als „strategic move“ geben Bargiela-Chappini/ Harris (1997, 208 ff.). <?page no="261"?> Thematisierung des Wandels im Chat 247 Im vorliegenden Datenkorpus wird Ironie, wie im Beispiel „Heute“, häufig durch exklamativen Satzmodus ausgedrückt. Die Mitarbeiterin thematisiert den Ablauf des Chats und umschreibt diesen als funktional („das klappt“). Tatsächlich können in diesem Chat nur wenige Fragen direkt im Chat beantwortet werden und die Chat-Teilnehmer haben das gemeinsame Hintergrundwissen, dass es technische oder organisatorische Schwierigkeiten gibt. Es ist also für alle Chat-Teilnehmer ersichtlich, dass die Mitarbeiterin das Gegenteil des Gemeinten behauptet. Zusammengefasst tritt Kritik nach dem Muster 1 auf, wenn die Mitarbeiter organisatorischen Wandel zwar wahrnehmen, aber für sich selbst keine Chancen darin sehen. Im folgenden Kapitel wird sich zeigen, dass das Muster 1 deshalb bei der Thematisierung der Umbrüche in den Unternehmensstrukturen auftritt. Die Muster 2 und 3 werden verwendet, wenn Mitarbeiter den Wandel in seinen Auswirkungen erleben und darauf gestaltend reagieren, soweit das im vorgegebenen Rahmen möglich ist. Sie treten bei der Thematisierung der Unternehmensstrukturen und in Vorschlägen zu Innovationen auf. Mitarbeiter, die Ereignisse des Wandels beobachten, entscheiden sich offensichtlich für eine passive oder gestaltende Haltung. Diese Wahl hängt zum einen von der unterschiedlichen Wahrnehmung und der Einschätzung der eigenen Chancen ab und davon, ob sich der Mitarbeiter seiner Fähigkeiten zu Neuem sicher ist. Zum anderen spielen die tatsächlich organisatorisch im Unternehmen gegebenen Chancen 74 eine Rolle, wobei der Diskurs mit der Unternehmensleitung im Chat teils als Chance gesehen wird, die die Mitarbeiter ergreifen können, und teilweise als zwecklos abgelehnt wird. In den Beispielen „Fachvertrieb“, „Bitte“ und „Lösungen von der Stange“ vollziehen die betreffenden Mitarbeiter die Hinwendung zu neuen Strukturen, da sie offensichtlich eigene Chancen sehen. Die Mitarbeiter in den Beispielen „Strategieberatung“ und „Erhöhung der Bezüge“ versuchen dagegen an Bewährtem festzuhalten. 6.1.2.3 Kritik zu Umbrüchen in den Unternehmensstrukturen Umbrüche in den Unternehmensstrukturen und -abläufen sind die Auswirkungen des Wandels, die für Mitarbeiter am deutlichsten wahrnehmbar sind, sie unmittelbar betreffen und auch am häufigsten thematisiert werden. Im Zusammenhang mit der strukturellen Analyse des sprachlichen Handlungsmusters Kritik ging ich der Frage nach, warum, gemessen an der Gesamtzahl aller Beiträge, überdurchschnittlich viel Kritik geäußert wird (Abb.-23 in Kap.-4.4.), und untersuchte die Beiträge der kommunikativen Handlung Kritik inhaltlich. 74 Auch für die Sprachhandlung Vorschlag (Kap.-6.4.) ist es entscheidend, wie die Mitarbeiter ihre beruflichen Chancen einschätzen, so dass zwischen den sprachlichen Handlungsmustern Kritik (Abb. 31) und Vorschlag (Abb. 38) und ihren Varianten bzw. thematischen Formen (Abb. 30 und Abb. 39) am Beginn enge Zusammenhänge bestehen. <?page no="262"?> 248 Die Teilhabe der Mitarbeiter Es stellte sich heraus, dass die Mitarbeiter mit ihrer Kritik auf Umbrüche in den Unternehmensstrukturen reagieren (Kap.- 2.1.). Selbst wenn Kritik thematisiert wird, die nicht konkret im Zusammenhang mit Umbrüchen in den Unternehmensstrukturen steht, beispielsweise Kritik an seit langem bestehenden Regelungen und Sachverhalten, lässt sich die tatsächliche Unzufriedenheit der Mitarbeiter doch, wie in diesem Kapitel zu zeigen sein wird, auf aktuelle Veränderungen in ihrem eigenen beruflichen Arbeitsumfeld und ihren Arbeitsbedingungen zurückführen. Nur für die in den ersten Chats häufig thematisierten technischen Schwierigkeiten sind keine thematischen Verbindungen zur Kritik an Umbrüchen zu belegen, wobei aber ein Zusammenhang angenommen werden kann, da das Ausmaß der heftigen Kritik am Chat (Beispiel „Viele Fragen“ in Kap.-1.3.) in keinem Verhältnis zur tatsächlichen Beeinträchtigung der Chat- Tätigkeit steht. Nun soll untersucht werden, welche Art von Umbrüchen von den Mitarbeitern thematisiert wird. Als Rahmen zur Einordnung verwende ich das in Kap.-2 bereits ausgeführte Modell der drei Dimensionen der Unternehmensstruktur (vertikal-hierarchisch, horizontal-arbeitsteilig und zeitlich), innerhalb derer Einstellung, Perspektive, Eigen- und Fremdpositionierung eines Mitarbeiters im Unternehmen verortet werden können. Die Mitarbeiter thematisieren organisatorische Veränderungen, die sie als Folgen von Umbrüchen bewerten. Das sind Fragen der Sicherheit des Arbeitsplatzes sowie Veränderungen in der Außendarstellung des Unternehmens und im Ansehen der Mitarbeiter in der vertikal-hierarchischen Dimension. Horizontal-arbeitsteilig sind dagegen fehlende Zuständigkeiten und Ansprechpartner sowie die Überschneidung von Zuständigkeitsbereichen, womit die Dimensionen thematisiert werden, in denen nach organisatorischem Wandel Umbrüche auftreten. Die organisatorischen Veränderungen werden dann insofern an ihren Auswirkungen wahrgenommen, als sie für die Mitarbeiter durch einen Vergleich der vorhergehenden mit der nachfolgenden Situation ersichtlich werden, so dass in diesem Zusammenhang die zeitliche Dimension Bedeutung gewinnt. Da Veränderungen im zeitlichen Verlauf thematisiert werden, ist in den Ausprägungen der kommunikativen Handlung Kritik, in denen organisatorische Umbrüche thematisiert sind, die zeitliche Komponente immer involviert. Die zeitliche Ebene ist nur ausgeblendet, soweit kein konkreter Vergleich von Situationen vorliegt, sondern die Kritik aus allgemeinen Behauptungen besteht, wobei es sich dann aber, wie sich zeigen wird, um vorgeschobene Themen handelt, die sich thematisch auf Umbrüche in den Unternehmensstrukturen zurückführen lassen. Die meisten Ausprägungen der kommunikativen Handlung Kritik beziehen sich auf die Veränderung eines konkreten Sachverhalts. Sie haben, neben der zeitlichen Dimension, den Bezug zur arbeitsteiligen oder hierarchischen Dimension, wobei eine Dimension in den Vordergrund tritt. Den Bezug zu allen drei Dimensionen haben nur die wenigen Beispiele, in denen Gesamtzusam- <?page no="263"?> Thematisierung des Wandels im Chat 249 menhänge thematisiert sind. Die Beispiele enthalten häufig Kritik in Form von Verständnisfragen zum Sinn von Umstrukturierungen, wobei die Mitarbeiter darauf abzielen, die Vorgänge des Wandels zu erfassen, um sich besser zurechtzufinden. Im Beispiel „Umstrukturierungen“ stellt der Mitarbeiter Überlegungen zur Sinnhaftigkeit seiner Arbeit an. Umstrukturierungen 116 MA Hallo Herr [Vorstand], mich wundert, dass bei den vielen Umstrukturierungen immer noch Geld verdient wird. Ich sehe seit geraumer Zit immer nur virtuelle Strukturen, wechsele laufend mein Aufgabengebiet und sehe laufend erstklassiges Kow How ”verdunsten“. Können Sie mir den Sinn erklären? Der Mitarbeiter kritisiert die vorgenommenen Umstrukturierungen, indem er die Sinnhaftigkeit dieser Umstrukturierungen in Zweifel zieht. Die Kritik wird durch semantische Verstärkungen („immer nur“, wiederholte Verwendung von „laufend“) und die Verwendung von Metaphern („Geld verdient“, „verdunsten“) unterstützt. Obwohl der Mitarbeiter die Perspektive der Unternehmensleitung insoweit übernimmt, dass er die Wirtschaftlichkeit der Maßnahmen als Messkriterium für Umstrukturierungen aufstellt („mich wundert“, „immer noch Geld verdient wird“), kann er die Notwendigkeit von Umstrukturierungen nicht nachvollziehen. In der Konkretisierung seiner Kritik gibt er eine Beschreibung der Umstrukturierungen aus seiner Perspektive und nimmt Bezug auf die arbeitsteilige Dimension („wechsele laufend mein Aufgabengebiet“) und die hierarchische Dimension („virtuelle Strukturen“). Es ist anzunehmen, dass die Wirtschaftlichkeit inzwischen auch für die Mitarbeiter ein Kriterium ist, auf das sie, auch im Hinblick auf den Erhalt ihrer Arbeitsplätze, zunehmend selbst achten. Soweit auf die arbeitsteilige Dimension Bezug genommen wird, sind es überwiegend Fragen nach dem Nutzen der Umstrukturierung und konkrete inhaltliche Fragen nach Zuständigkeiten. In Einzelfällen wird auch die Beantwortung vorweggenommen und eine meist negative Bewertung des Sachverhalts geäußert. Im Beispiel „Trennung des Vertriebs“ versucht der Mitarbeiter Kosten und Nutzen gegeneinander abzuwägen. Trennung des Vertriebs 165 MA Guten Morgen Herr [Vorstand], wir erleben bei der Trennung des Vertriebs in [Organisationseiheit 1] und [Organisationseiheit 2]-Vertriebe viele Reibungen. Hat sich diese Trennung aus Ihrer Sicht die erwarteten Ergebnisse gebracht? Der Mitarbeiter weist auf Einbußen der Effizienz auf arbeitsteiliger Ebene hin („viele Reibungen“). Mit seiner Nachfrage nach der Ergebniserwartung des Vor- <?page no="264"?> 250 Die Teilhabe der Mitarbeiter stands unternimmt er den Versuch, die Perspektive zu wechseln, möglicherweise um die Sinnhaftigkeit der Neuorganisation zu erkennen oder Verbesserungen an anderer Stelle zu sehen, die die von ihm wahrgenommenen Einbußen rechtfertigen würden. Insofern handelt es sich bei seiner Frage nach dem Nutzen um eine Informationsfrage, die die vorangehende Kritik an einer Umstrukturierung relativiert, die nicht „reibungslos“ verlaufen ist („viele Reibungen“). Der konstruktive Charakter wird noch verstärkt durch die Formulierung („hat sich [...] gebracht“), die darauf hinweist, dass der Mitarbeiter sich von der vermutlich zuerst beabsichtigten Formulierung „hat sich gelohnt“ zur höflicheren Formulierung „hat gebracht“ korrigiert hat. Ein Auszug aus dem Beispiel „Mitarbeiterzeitung“, das in Kap. 6.4. ausführlich analysiert ist, enthält eine scheinbare Ergänzungsfrage, die sich als rhetorische Frage herausstellt. Mitarbeiterzeitung (Auszug) 131 MA4 Zur Mitarbeiterzeitung: Diese Informationsquelle hat uns immerhin darauf hingewiesen, dass wir nicht die einzige [Unternehmenssparte] Einheit in Deutschland sind, die auf dem südafrikanischen Telko Markt tätig sind. Leider gibt es auch keine Alternative, um gezielt internationale Projekte auf [Unternehmenssparte] Ebene zusammenzuführen! ? Soweit zur internationalen Strategie und Kommunikation. Der Mitarbeiter hat den Eindruck, nicht genügend Überblick über die vertrieblichen Aktivitäten der für seine Aufgabe relevanten Organisationseinheiten zu haben („immerhin darauf hingewiesen, dass wir nicht die einzige [Unternehmenssparte] Einheit in Deutschland sind, die auf dem südafrikanischen Telko Markt tätig sind“). Er bemängelt unzureichende Kontaktmöglichkeiten zu anderen Organisationseinheiten mit ähnlicher Aufgabenstellung („Leider gibt es auch keine Alternative, um gezielt internationale Projekte […] zusammenzuführen! ? “) und weist damit darauf hin, dass er notwendige Informationen nicht koordiniert und zuverlässig erhält („Soweit zur internationalen Strategie und Kommunikation.“). Die rhetorische Frage nach Alternativen drückt sich nur in der Kombination der Schlusszeichen, <! ? > aus, die die kritische Behauptung des Mitarbeiters abschließen. Darauf folgt die Schlussfolgerung, die aus der Sicht des Mitarbeiters unbefriedigende Situation sei ein typisches Ergebnis der strategischen Ausrichtung des Unternehmens und der internen Kommunikation. Soweit die Situation der Mitarbeiter mit der Situation der Unternehmensleitung, meist hinsichtlich der Arbeitsbedingungen, verglichen wird, steht die hierarchische Dimension im Vordergrund. Ein indirekter Vergleich der Bezahlung liegt der rhetorischen Frage eines Mitarbeiters im Beispiel „Erhöhung der Bezüge“ zugrunde, das in Kap.-5.4. hinsichtlich der politischen Einflussfaktoren <?page no="265"?> Thematisierung des Wandels im Chat 251 auf die Chat-Kommunikation und in Kap.- 6.1.2.2. in Bezug auf die Varianten des sprachlichen Handlungsmusters Kritik analysiert ist. Erhöhung der Bezüge 79 MA (Wann) macht der Vorstand die instinktlose Erhöhung der Bezüge rückgängig? Das gemeinsame Hintergrundwissen der Chat-Teilnehmer ist, dass Arbeitsplätze abgebaut werden. Zeitgleich wurden die Bezüge des Vorstands angehoben. Obwohl letzteres nicht ursächlich ist für den Stellenabbau, bezeichnet der Mitarbeiter die Erhöhung als „instinktlos“. Die Kritik zielt folglich auf die hierarchisch unterschiedliche Behandlung von Mitgliedern des Unternehmens. Möglicherweise legt der Mitarbeiter seiner Bewertung die Einstellung zugrunde, Entscheidungen müssten einem Gleichheitsgrundsatz folgen und politisches Augenmaß beweisen. Ebenso auf hierarchische Ungleichbehandlung hebt das Beispiel „BMW“ ab, in dem Sparmaßnahmen des Unternehmens thematisiert werden. BMW 18 MA Alles spart, doch in der [Name]straße stehen neue 7er BMWs, tuts nicht auch ein guter 5 er? Der Mitarbeiter weist auf mangelndes Sparverhalten hin und vergleicht den konkreten Fall der Geschäftswagenregelung mit der pauschalen Behauptung „Alles spart“, ohne dieses Verhalten zu konkretisieren. Die Behauptung des Mitarbeiters setzt das gemeinsame Hintergrundwissen voraus, dass die Unternehmensleitung Sparmaßnahmen ergreift. Offensichtlich ist er der Meinung, die Geschäftswagenregelung sollte dahingehend geändert werden, dass günstigere Autos angeschafft werden. Das Beispiel ist eines der wenigen, in denen die zeitliche Dimension nicht durch einen direkten Vergleich der derzeitigen Situation mit zeitlich früheren Situationen mit einbezogen wird. Implizit ist die zeitliche Dimension durchaus einbezogen, denn der Umstand, dass der Mitarbeiter Sparmaßnahmen thematisiert, weist darauf hin, dass er selbst von verstärkten Sparmaßnahmen betroffen ist, die früher nicht bestanden oder nicht für ihn galten, wobei gleichzeitig für andere Teile der Unternehmensstruktur, hier konkret die Fahrzeuge des Unternehmens, die Sparmaßnahmen nicht oder noch nicht verstärkt wurden. Damit thematisiert der Mitarbeiter ein konkretes Beispiel einer Umbruchstelle in der Unternehmensstruktur, auch wenn er diese nicht explizit als Umbruch bezeichnet. Das Beispiel „BMW“ ist eines der zahlreichen Beispiele, in denen Mitarbeiter durch organisatorischen Wandel ausgelöste Umbruchstellen oder deren Auswirkungen thematisieren, ohne den kritisierten Sachverhalt explizit auf die Unternehmensstruktur zurückzuführen. <?page no="266"?> 252 Die Teilhabe der Mitarbeiter In einigen Beiträgen wird der Zeitfaktor explizit thematisiert, so dass die zeitliche Dimension in den Vordergrund tritt. Die Beiträge beziehen sich wie das Beispiel „Beständigkeit“ inhaltlich immer auf die Gesamtschau des organisatorischen Wandels im Unternehmen. Beständigkeit 355 MA gibt es eine anvisierte Beständigkeit der Organisation, die sich in Jahren ausdrücken lässtß Im Beispiel „Finale Struktur“ sind die konkreten Maßnahmen des Wandels explizit als nachrangig hinter dem Interesse an deren zeitlichem Verlauf dargestellt. Finale Struktur 289 MA SgH, wir sind über einen sehr langen Zeitraum hinsichtlich unserer finalen Struktur im Unklaren gehalten worden. Daraus ergibt sich die jetzt vorherrschende Unsicherheit. Welchen Zeithorizont setzen Sie sich und den Sozialpartnern zur Umsetzung der hieraus resultierenden Personalmassnahmen, egal welcher Couleur die auch sein mögen? ? Mit dem mehrfachen Bezug auf die zeitliche Dimension steht diese im Vordergrund („sehr langen Zeitraum“, „finale Struktur“, „Zeithorizont“). Letztlich zielt der Beitrag auf eine Information aus der zeitlichen Dimension ab. Die vertikalhierarchische und die horizontal-arbeitsteilige Dimension sind zwar einbezogen, werden aber thematisch explizit nachrangig priorisiert („Personalmassnahmen, egal welcher Couleur die auch sein mögen“). Neben den Ausprägungen der kommunikativen Handlung Kritik, in denen eine Dimension im Vordergrund steht, bestehen Mischtypen, die inhaltlich die arbeitsteilige und die hierarchische Dimension verbinden. Das sind Beiträge, in denen der betreffende Mitarbeiter sein Eigeninteresse in Abhängigkeit von den Unternehmensinteressen betrachtet. Die Mitarbeiter beziehen sich thematisch überwiegend auf die Sicherheit ihres Arbeitsplatzes und ihr Ansehen, sowohl innerhalb des Unternehmens als auch in der Öffentlichkeit. Personalüberhang 64 MA Guten Tag, wer ”sortiert“ die zukünftig benötigten MA in die ”neuen Tätigkeiten“ bei [Organisationseinheit] ein bzw. was geschieht mit dem Personlüberhang. Der Mitarbeiter stellt eine konkrete Verbindung der vertikal-hierarchischen Dimension („wer ‚sortiert‘ die zukünftig benötigten MA“) mit der horizontal- <?page no="267"?> Thematisierung des Wandels im Chat 253 arbeitsteiligen Dimension („die zukünftig benötigten MA in die ‚neuen Tätigkeiten‘ bei [Organisationseinheit]“) her, indem er das Entstehen einer Ordnung der horizontal-arbeitsteiligen Ebene als von der bereits hergestellten Ordnung der vertikal-hierarchischen Ebene abhängig darstellt („neuen Tätigkeiten“) und zeitlich einordnet („zukünftig“). Insofern nimmt der Mitarbeiter mit seiner Frage die Ereignisse des Wandels zeitlich vorweg und ist sich über die Zusammenhänge zwischen allen drei Ebenen bewusst. Im Beispiel „Telefonanlagen“ macht der Mitarbeiter die unternehmensinternen Vorgänge im Ganzen als Ursache für die veränderte Außendarstellung des Unternehmens aus. Er verbindet die hierarchische und arbeitsteilige Dimension und schätzt die Veränderung seines Ansehens über die zeitliche Dimension ein. Telefonanlagen 15 MA Welche Aktivitäten gibt es, um die [Unternehmenssparte] am Markt bekannter zu machen? Die [Unternehmenssparte] ist noch nicht so bekannt wie die Telekom. Man sieht mich dann häufig als Mitarbeiter der Telekom, welcher zuhause Telefonanlagen installiert. Dies führt zu einem schlechten Ansehen. Der Mitarbeiter thematisiert explizit „schlechtes Ansehen“ als eine von ihm befürchtete Folge des Wandels für sich persönlich. Um diese Befürchtung zu unterstreichen, teilt er mit, solche Erfahrungen bereits gemacht zu haben. Als Ursache für die beobachtete Verschlechterung seines Ansehens vermutet er den geringen Bekanntheitsgrad der neu geschaffenen Unternehmenssparte, in der er beschäftigt ist. Er kritisiert, dass die Unternehmensleitung nicht größeren Aufwand betreibt, um die Außendarstellung dieser Unternehmenssparte und ihre vermeintlich qualitativ herausgehobene Bedeutung im Unternehmen zu verbessern („Man sieht mich dann häufig als Mitarbeiter der Telekom […] Dies führt zu einem schlechten Ansehen.“). Als eines der wenigen Beispiele, in denen Mitarbeiter auf unternehmensexterne Bewertungskriterien abheben, thematisiert es einen gefühlten Wertverlust des Jobs im sozialen Umfeld außerhalb des Unternehmens („Man sieht mich dann häufig als“). Die Außendarstellung des Unternehmens kann für den „Marktwert“ der Mitarbeiter vergleichbar weitreichende Bedeutung haben wie die unternehmensinterne Selbstpräsentation der Mitarbeiter innerhalb der vertikal-hierarchischen Dimension. Mitarbeiter im Vertrieb, die auf ein gutes Ansehen bei Kunden angewiesen sind, und Mitarbeiter, die einen Wechsel zu einem neuen Arbeitgebers anstreben, unterziehen sich damit einer hierarchischen Bewertung ihrer Außendarstellung und sind deshalb auf ihren eigenen „Marktwert“ bedacht, der vom Ansehen des Unternehmens, dem sie angehören mitbestimmt wird. Im Beispiel „Strategieberatung“ hat die Außendarstellung seiner Organisationseinheit für <?page no="268"?> 254 Die Teilhabe der Mitarbeiter den Mitarbeiter die Funktion, seinen Marktwert innerhalb der Branche zu signalisieren. Strategieberatung 49 MA Bezüglich Strategie: [Organisationseinheit 1] als Strategieberatung steht bei Luenendonk auf Platz 13, [Organisationseinheit 2] steht nicht drin Neben der Einordnung auf der horizontal-arbeitsteiligen Ebene gehen in die Beurteilung der Organisationseinheiten, die der Mitarbeiter vornimmt, das Umfeld außerhalb des Unternehmens und die zeitliche Ebene als Beurteilungskriterien mit ein. Allerdings befürchtet der Mitarbeiter wohl weniger einen Imageverlust im sozialen Umfeld, wie im Beispiel „Telefonanlagen“, sondern ein schlechteres Image bei anderen Beratungsunternehmen. Darauf weist die Verwendung der Beurteilungen durch ein unternehmensunabhängiges Institut hin, das regelmäßig ein Ranking von Beratungsunternehmen vornimmt, als Messkriterium für die Bewertung der Organisationseinheiten („bei Luenendonk auf Platz 13“). Möglicherweise soll der Hinweis „als Strategieberatung“ auch darauf aufmerksam machen, dass die bereits im Unternehmen etablierte Unternehmensberatung nicht im Beratungsmarkt als Strategieberatung gesehen wird und nach Ansicht des Mitarbeiters schon dadurch ein schlechteres Image hat. Der Mitarbeiter bezieht sich in seinem Vergleich der Unternehmen in der Branche der Unternehmensberatung folglich im Wesentlichen auf eine unternehmensübergreifend horizontal-arbeitsteilige Ebene. Insgesamt haben die vertikal-hierarchische, die horizontal-arbeitsteilige und die zeitliche Ebene zentrale Bedeutung für die Sprachhandlung Kritik. In die Kritik der Mitarbeiter als Folge der Beobachtung von Ereignissen des Wandels ist immer die zeitliche Ebene mit einbezogen (Beispiel „Beständigkeit“), meist indem die Mitarbeiter Sachverhalte vor und nach ihrer Veränderung vergleichen (Beispiele „Finale Struktur“ und „Personalüberhang“). Davon unterscheidet sich Kritik, die unabhängig von Ereignissen des Wandels hervorgebracht wird (Beispiel „BMW“). Dagegen weist die Hervorhebung der vertikal-hierarchischen Ebene respektive der horizontal-arbeitsteiligen Ebene auf den Personenkreis hin, gegen den sich die Kritik richtet. Die Mitarbeiter heben die vertikal-hierarchische Ebene hervor, wenn sie die Unternehmensleitung kritisieren (Beispiele „Erhöhung der Bezüge“ und „BMW“), dagegen ist die horizontal-arbeitsteilige Ebene hervorgehoben, soweit andere Personenkreise, beispielsweise andere Organisationseinheiten oder Vorgesetzte, Gegenstand der Kritik sind (Beispiele „Eine der schwersten Fragen“, „Strategieberatung“ und „Fachvertrieb“). <?page no="269"?> Dominanz und Deutungshoheit 255 6.2 Dominanz und Deutungshoheit Infolge aufgebrochener Machtstrukturen und des Aufeinandertreffens von hierarchischer Macht und Expertenmacht bilden Dominanz und Deutungshoheit wichtige Einflussfaktoren auf die Kommunikation im vorliegenden Datenkorpus. Beide Faktoren betrachte ich in diesem Kapitel einerseits hinsichtlich ihres Einflusses auf die Rollen der Chat-Teilnehmer (Kap.- 6.2.1.), besonders der interaktionalen Dominanz (Kap.-6.2.1.1.), der Beteiligungsrollen (Kap.-6.2.1.2.) und der Sprecherbzw. Hörerrollen (Kap.-6.2.1.3.), sowie andererseits in Bezug auf ihre Bedeutung für die Gestaltung der Sprechakte, der Gesprächsphasen und der Gesprächsorganisation (Kap.-6.2.2.). 6.2.1 Interaktionsbeziehungen 6.2.1.1 Verhältnis von Dominanz, Deutungshoheit und Macht Im Chat werden die Machtverhältnisse neu ausgehandelt. Interaktionale Dominanz wird interaktiv durchgesetzt und ist nicht durch Wissen oder Hierarchie bereits gegeben, denn erst in „der Interaktion reproduzieren sich hierarchische Verhältnisse wie auch Expertenmacht“ (Brünner 2002, 25). Für den Chat innerhalb des Unternehmens besteht hinsichtlich der Aushandlung der Machtverhältnisse eine Sondersituation. Die Chat-Teilnehmer kennen sich teilweise aus dem Unternehmensalltag, vor allem ist die Unternehmensleitung den Mitarbeitern bekannt, und ihr Status ist hinsichtlich ihrer hierarchischen Macht und ihrer Expertenmacht innerhalb des Unternehmens festgelegt. Dennoch müssen sich auch die Unternehmensleitung und einander bekannte Mitarbeiter interaktiv neu durchsetzen, soweit die Macht, die sie außerhalb des Chats haben, von den mitbeteiligten Chat-Teilnehmern nicht anerkannt wird. Die Einflussfaktoren für das Entstehen einer Situation des Neuverhandelns von Macht und Dominanz sind die Chat-Kommunikation selbst als neuartige Kommunikationsform innerhalb der Mitarbeiterkommunikation im Unternehmen und die Möglichkeit, durch die pseudonyme Chat-Teilnahme anonym zu bleiben. Mit der eingeschränkten Geltung hierarchischer Macht gewinnt Expertenwissen an Bedeutung und zum Konflikt der In-Frage-Stellung hierarchischer Macht tritt der Konflikt zwischen hierarchischer Macht und Expertenmacht hinzu. Die Konfliktsituation zwischen Hierarchie und Wissen ist den Interaktanten durchaus bewusst. In Einzelfällen, wie im Beispiel „Karrierepfade“, das in Kap.-5.3.1.1. ausführlich besprochen ist, thematisiert ein Mitarbeiter diesen Konflikt. Karrierepfade (Auszug) 147 MA @ [UL]: Ich meine, dass im Augenblick viel zu viele Leute hauptsächlich damit beschäftigt sind, ihr Schäfchen ins Trockene zu bringen, anstatt ihren Kopf für kreative Dinge frei zu halten...-: <?page no="270"?> 256 Die Teilhabe der Mitarbeiter Der Mitarbeiter thematisiert einen Konflikt zwischen Hierarchie und Expertenwissen, indem er den Phraseologismus „seine Schäfchen ins Trockene bringen“ als Beschreibung für hierarchieorientiertes Handeln benutzt und die Umschreibung „kreative Dinge“ für sachlich-inhaltlich orientiertes Sprachhandeln verwendet. Diese Gegensätze bewertet er ethisch, wobei er an hierarchischem Erfolg orientiertes Handeln ablehnt, während er inhaltliche Arbeit als erstrebenswert darstellt und das mit der Metapher „den Kopf frei halten“ bekräftigt. Unterstützend wirkt die Konnotation des Phraseologismus „seine Schäfchen ins Trockene bringen“, die ausdrückt, dass jemand nur im eigenen Interesse handelt. Dabei bleibt offen, ob der Mitarbeiter tatsächlich diese Auffassung vertritt oder ob er aus der Kenntnis der Erwartungen der Unternehmensleitung heraus versucht, etwas Gefälliges zu sagen. Ein Indiz für eine Gefälligkeit ist, dass es dem Mitarbeiter für seine eigenen Interessen nicht nützlich ist, diese Auffassung zu vertreten, es sei denn, er wollte sich als potentiell Zugehöriger zur Unternehmensleitung ausweisen, indem er die Perspektive der Unternehmensleitung übernimmt. Indirekt ist damit auch dokumentiert, dass dem Mitarbeiter verschiedene Perspektiven bewusst sind und er Perspektivübernahmen vollziehen kann, zumindest um die Unternehmensleitung zu instrumentalisieren (Kap.-5.5.2.). Der Mitarbeiter vertritt damit die vermutete Interpretation der Unternehmensleitung und unterstützt diese in ihrer Deutungshoheit. Der handlungstheoretische Erklärungsansatz, dass Dominanz als „Dimension der Makrostruktur“ durch ein „kontinuierliches Gefälle asymmetrischer Beteiligungsweisen“ gekennzeichnet ist (Müller 1997, 44), gilt im Chat in Unternehmen zugleich für die Unternehmensleitung und die Mitarbeiter. Während die Unternehmensleitung die hierarchische Dominanz, die sie im Unternehmensalltag hat, auch im Chat vorzufinden erwartet, beanspruchen die Mitarbeiter im Chat Macht aufgrund ihres Expertenwissens. Diese setzen sie in Form von interaktioneller Dominanz 75 durch, indem sie ihre Sichtweise mit Fachwissen begründen und auf eine fachsprachliche Lexik zurückgreifen, um sich von der Unternehmensleitung abzugrenzen. Das Beispiel „Beauftragung“ zeigt, wie ein Mitarbeiter im Diskurs mit der Unternehmensleitung Fachwissen verwendet, um seinen Ausführungen Bedeutung zu geben. Beauftragung 61 MA Hallo Hr. [Vorstand], durch die Trennung NI und TI haben wir uns immer weiter von unseren Kunden entfernt. Wann arbeiten wir wieder zusammen, damit wir bei Großkunden wieder aus einer Hand produzieren können. Unsere Prozesse funktionieren doch noch nicht mal auf dem Papier. Wir bekommen keine produktionsfähi- 75 Linell (1990) unterscheidet zwischen interaktioneller Dominanz mit directing moves, inhibiting moves, control moves und semantischer Dominanz. <?page no="271"?> Dominanz und Deutungshoheit 257 gen Aufträge von der [Unternehmenssparte] und den Vertrieben, Informationen und Aufträge des Vertriebes kommen meist auf den letzten Drücker, weil wir uns nur verwalten und intern beauftragen. Da gehen sehr viel Zeit und Informationen verloren. Nach der Beauftrageung der NI kümmert sich der Vertreib nicht mehr um seine Kunden. NI und TK arbeiten dann nur durch alte Kontakte beim Kunden. Unsere Prozesse behindern und verhindern vernünftige Zusammenarbeit. Sollte [Projekt] nicht pilotiert worden sein? ? ? Ich glaube das nicht, da wurde nur die Vorgabe der Zentrale schöngeredet. 61 Ex Herr [Vorstand] hat mich gebeten Ihre Frage zu beantworten. Würden Sie bitte konkretisieren was Sie unter Trennung NI und TI verstehen? Das Beispiel „Beauftragung“ ist einem Chat entnommen, der für Fragen zu technischen Themen vorgesehenen ist. Die Unternehmensleitung hat Experten hinzugezogen, die sie bei der Beantwortung der fachlichen Fragen unterstützen. In der umfassenden fachlichen Beschreibung seiner Arbeitssituation geht der Mitarbeiter mit der Verwendung von Akronymen für fachsprachliche Begriffe [„NI“, „TI“, „TK“] so weit, Bezeichnungen zu verwenden, die auch unter fachlichen Experten im Unternehmen nicht gängig sind, so dass der antwortende Experte zunächst zu seinem eigenen Verständnis nachfragen muss („Würden Sie bitte konkretisieren was Sie unter Trennung NI und TI verstehen? “). In Anbetracht dessen, dass der Mitarbeiter insgesamt sein Problem ausführlich schildert, andererseits aber Akronyme statt der Langform der damit bezeichneten Begriffe verwendet, besteht die Möglichkeit, dass er dafür nicht sprachökonomische Gründe hat, sondern den Experten, die die Unternehmensleitung hinzugezogen hat, ihre Expertenmacht für sein Aufgabengebiet absprechen will, da er seinen eigenen Expertenstatus bedroht sieht. Die Ausführlichkeit und Länge des Beitrags weist darauf hin, dass der Mitarbeiter die Akronyme nicht aus sprachökonomischen Gründen verwendet. Luckhardt (2009, 92 ff.) weist in ihren empirischen Untersuchung ein sprachliches Handlungsmuster Ökonomisieren nach, das durch einen möglichst gering gehaltenen Tippaufwand (Fehler, Vereinfachen durch Kleinschreibung, Kürzen) gekennzeichnet ist. Da der Beitrag des Mitarbeiters mit der Verwendung von Akronymen nur das Merkmal Kürzen aufweist, ist davon auszugehen, dass Sprachökonomie dafür nicht relevant ist. Entgegen der Bestrebungen der Mitarbeiter, Macht zu zeigen, und obwohl Interessen und Macht in der Wirtschaftskommunikation eine „konstitutive Rolle“ (Brünner 2002, 25) haben, vermeiden im vorliegenden Datenkorpus die Mitglieder der Unternehmensleitung im Chat das Machtpotential auszudrücken, das sie aufgrund ihrer Rolle im Unternehmen haben. Das äußert sich in der Uminterpretation der bestehenden hierarchischen Ordnung, indem die Unter- <?page no="272"?> 258 Die Teilhabe der Mitarbeiter nehmensleitung mit der Bezeichnung „Kollegen“ auf die Mitarbeiter referiert und in Gesprächseröffnungen, die an die Mitarbeiter adressiert sind, die Anrede „Liebe Kollegen“ verwendet (Beispiele „Das Eis ist gebrochen“ in Kap.- 6.2.1.4. und „Mitarbeiterzeitung“ in Kap.- 6.4.). Interessen und Macht sollen im Chat eben gerade nicht ausgedrückt werden. Die Chat-Organisation ist darauf ausgelegt, die Möglichkeiten, Expertenwissen als Machtpotential einzusetzen, zu befördern. Die Beziehungsrelevanz der hierarchischen Ordnung, die die Wirtschaftskommunikation bestimmt (Poro 1999, Schmitt/ Heidtmann 2002), ist aufgrund gleichartiger Bevorrechtigungen aller Nutzer des Mediums außer Kraft gesetzt. Dagegen dient die Interaktion der Mitarbeiter durchaus, im Sinne von Giddens soziopragmatischem Sprachmodell, zum Zweck der Machtausübung. Die beiderseitige interaktionelle Dominanz bildet die Machtverhältnisse im Chat ab. Während sich im Unternehmensalltag hierarchische Dominanz in Asymmetrie ausdrückt, wird dieser im Chat eine interaktionale Dominanz aufgrund Expertenwissens entgegengesetzt. Die interaktionale Dominanz der Mitarbeiter, die im Chat entsteht, wirkt allerdings nicht souverän. Das liegt daran, dass die Asymmetrie nicht aufgehoben ist, sondern mit der Hierarchie und dem Expertenwissen zwei gegensätzliche Asymmetrien mit gegenläufigem Machtgefälle bestehen. Während die Mitarbeiter mehrheitlich umfassendes Expertenwissen, aber wenig hierarchisches Wissen haben, verhält sich die Wissensverteilung bei der Unternehmensleitung umgekehrt. Konkret betreffen die beobachteten Formen von Macht bei der Unternehmensleitung die Bereiche hierarchisches Wissen, Marktkenntnis und organisatorisches Wissen, während die Mitarbeiter interaktionelle Dominanz aufgrund ihres Fachwissens und ihrer Detailkenntnisse über interne Abläufe durchsetzen sowie zudem keine Verantwortung für das Gelingen des Chats tragen. Die Sprachhandlung Kritik (Kap.- 6.1.2.) belegt, dass die Verteilung des Machtgefälles dazu führt, dass in Kontroversen keine produktive Gesprächskultur aufkommen kann, sondern der Chat im Machtkampf stecken bleibt, da die Macht eindeutig, aber nicht einseitig verteilt ist. Die Beispiele „Praxis“ und „Erfahrungen“ zeigen, wie interaktionskonstituierende Sprachhandlungen der Mitarbeiter die bestehenden Dominanzregeln durchbrechen und welche Ursachen diese Entwicklung hat. Praxis 55 MA Sehr geehrter Herr [Vorstand], seien sie mir bitte nicht böse, aber ich kann das Gerede von besserer Qualität, einem ach so tollen T-Spirit und angeblich neuer Zeit nicht mehr hören. So oder so ähnlich tönt es schon seit vielen Jahren. In der Praxis hat dies für uns nur immer mehr Arbeit, mehr Stress und andauernde Umorganisation bedeutet, sobald etwas halbweg lief, wurde wieder umorganisiert. Unsere IV-System laufen nicht, sie humpeln, wenn überhaupt etwas geht. Ansprechpartner wechseln wie <?page no="273"?> Dominanz und Deutungshoheit 259 woanders die Hemden, und keiner ist mehr für irgendwas zuständig. Das ist die Realität, Qualität sucht man inzwischen überall vergeblich. 55 V Sollen wir deshalb das thema ignorieren? Erfahrungen 142 MA hallo herr [Vorstand] schaffen sie fakten und glauben sie bitte keinen statistiken und sonstigen bunten bildern mehrgehen sie mal in die untere arbeitsebene und erkundigen sie sich dort aber bitte ohne den vorgesetztendenn dann wird wieder nur geschönt-. tipp von einem alten hasen 143 V danke fuer den tip.... habe meine erfahrungen als kundendienst techniker und call center mitarbeiter bereits hinter mir...bringt viel u macht spass! Durch die Gesprächsform der Chat-Kommunikation bedingt und aufgrund der technischen Gegebenheiten des Mediums (Kap.- 4.2.2.) sind die im Unternehmensalltag bestehenden Steuerungs- und Kontrollmöglichkeiten in der Chat- Kommunikation eingeschränkt. Das macht sich auch in den Beispielen „Praxis“ und „Erfahrungen“ bemerkbar, indem die Mitarbeiter, entgegen der im Unternehmensalltag geltenden Konventionen, gegenüber der Unternehmensleitung deren Vorgehensweise kritisieren bzw. Ratschläge erteilen. Diese Abweichung der Mitarbeiter von den Konventionen wird nicht durch technische oder inhaltliche Korrekturmaßnahmen (Moderation, technische Voreinstellung etc.) abgeschwächt und auch von der Unternehmensleitung insofern anerkannt, als beide Beiträge der Mitarbeiter zeitnah beantwortet werden. Sie stellen eine aktive Nutzung des Chats zum Zweck der Durchbrechung der Regeln interaktionaler Dominanz dar, die im Unternehmensalltag gelten. Der Versuch, sich mit Fachwissen und Detailkenntnis gegen Organisationskenntnis zu behaupten, drückt sich als Forderung von Änderungen aus, die durch Expertenwissen begründet wird. Der Mitarbeiter im Beispiel „Praxis“ wertet die von der Unternehmensleitung unterstützte derzeitige Situation des Unternehmens ab („Gerede von besserer Qualität“, „einem ach so tollen T-Spirit und angeblich neuer Zeit“) und hält sein Fachwissen dagegen („In der Praxis“), das er als maßgebend aufwertet („Das ist die Realität“). Dabei beansprucht der Mitarbeiter interaktionale Dominanz, indem er die vorausgegangenen Beiträge der Unternehmensleitung mit einem control move bewertet („ich kann das Gerede […] nicht mehr hören“), und führt danach, indem er die Gegenfrage der Unternehmensleitung nicht beantwortet, einen inhibiting move aus, mit dem er das Thema abbricht. Auch im Beispiel „Erfahrungen“ misst der Mitarbeiter Expertenwissen („schaffen sie fakten […] gehen sie mal in die untere arbeitsebene und erkundi- <?page no="274"?> 260 Die Teilhabe der Mitarbeiter gen sie sich dort“) einen höheren Stellenwert zu als dem organisatorischem Wissen („glauben sie bitte keinen statistiken und sonstigen bunten bildern mehr“), auf dem hierarchische Dominanz basiert. Möglicherweise spielt der Mitarbeiter damit, wie auch der Mitarbeiter im Beispiel „Callcenter“ (Kap.-4.4.), darauf an, dass der frühere Vorstandsvorsitzende Kai-Uwe Ricke zu Beginn seiner Amtszeit einige Zeit im T-Punkt-Laden arbeitete (Deekeling/ Arndt 2006, 80). Im Gegensatz zum Beispiel „Praxis“ verzichtet der Mitarbeiter aber auf interaktionelle Dominanz. Er versucht, sich durch Solidarisierung mit der Unternehmensleitung durchzusetzen und verpackt seine Sichtweise als Ratschlag („tipp von einem alten hasen“). Damit richtet sich sein Dominanzbestreben gegen die mittlere Führungsebene („aber bitte ohne den vorgesetztendenn dann wird wieder nur geschönt“), die, wie in Kap.-6.5. gezeigt wird, im Diskurs zwischen Mitarbeitern und Unternehmensleitung häufig negativ bewertet und ausgegrenzt wird. Wie schwierig für die Unternehmensleitung die Abgrenzung ist, ob die Mitarbeiter die mittlere Führungsebene oder die Unternehmensleitung kritisieren, zeigt die Reaktion des Vorstands, der die Bewertung des Mitarbeiters abwehrt („bringt viel u macht spass! “), da er sie offenbar auf sich selbst bezieht („habe meine erfahrungen als kundendienst techniker und call center mitarbeiter bereits hinter mir“), obwohl sich die kritische Implikation des Mitarbeiters gegen die mittleren Führungskräfte richtet. In den folgenden Kapiteln untersuche ich Dominanz, Deutungshoheit und Macht zunächst gesprächsanalytisch und ordne die Gesprächskategorien und Gesprächsformen, in denen interaktionale Dominanz im Chat reproduziert wird. Davon sind Fragen, das Zurückweisen von Fragen und Vorschläge ausgenommen, da diese eine Sonderstellung einnehmen und sich im zeitlichen Verlauf des Chats zu dessen Hauptzweck entwickeln (Kap.- 4.2.). Fragen und Vorschläge werden deshalb in den Kapiteln 6.2.2.3. und 6.2.2.4. im Überblick dargestellt und in Kap.-6.3. und Kap.-6.4. ausführlich analysiert, wobei die Analyse an den Interaktionen orientiert ist, in denen sich die Chat-Kommunikation von anderen Gesprächsformen differenziert. 6.2.1.2 Beteiligungsrollen: Aufgaben und Rechte der Beteiligung Die Chat-Kommunikation zwischen der Unternehmensleitung und den Mitarbeitern nimmt, wie bereits im Rahmen der Beschreibung des Datenkorpus (Kap.-4.2.1.) dargestellt, innerhalb der Unternehmenskommunikation eine Sonderstellung ein, so dass die Regeln des Unternehmensalltags nur eingeschränkt gelten. Entsprechend fluktuieren die Chat-Teilnehmer in ihren Beteiligungsrollen zwischen verschiedenen Rollenfragmenten. Die Rollen, die die Chat- Teilnehmer im Unternehmensalltag annehmen, wirken sich partiell auch im Chat aus. Es bilden sich die Gruppe der Unternehmensleitung in der Rolle der Organisatoren und die Gruppe der Mitarbeiter, die sich durch das Recht, Fra- <?page no="275"?> Dominanz und Deutungshoheit 261 gen zu stellen, vereint. Im Gegensatz zum Unternehmensalltag verfügen beide Seiten über Bereiche, in denen sie interaktionale Dominanz durchsetzen können. Bei der Unternehmensleitung liegt die interaktionale Dominanz in institutionalisierten Verhaltensweisen, die aus der Unternehmenskultur übernommen werden, das sind im Wesentlichen die Gesprächseröffnung und -beendigung (Kap.- 6.2.2.1. und Kap.- 6.2.2.5.). Die Mitarbeiter setzen interaktionale Dominanz u. a. mittels der Bevorrechtigung zu Fragen durch (Kap.- 6.3.), wobei der Gesprächstyp Befragung (Kap.-6.3.1.) die am häufigsten vorkommende Sprachhandlung im vorliegenden Datenkorpus ist (Kap.-4.4.). 6.2.1.3 Sprecher-Hörer-Verhältnis Der quantitative Vergleich der Rollenübernahme als Sprecher vs. Hörer zeigt, dass die Rolle des Hörers weit weniger übernommen wird als die Rolle des Sprechers. So enthält das Datenkorpus 4.741 Beiträge, die keiner Sequenz zuzuordnen sind, da kein Chat-Teilnehmer darauf reagiert hat (Kap.-4.4., Abb.-22). Auch beim Sprecher-Hörer-Verhältnis teilen sich die Chat-Teilnehmer in ihrem Rollenverhalten in die Gruppe der Unternehmensleitung und die Gruppe der Mitarbeiter auf. Die Unternehmensleitung übernimmt die Hörer-Rolle, um die Beiträge der Mitarbeiter aufzunehmen und auf Fragen zu antworten. Dabei ist die Hörer-Rolle vielfach Störungen ausgesetzt, wenn technische Schwierigkeiten das Erscheinen von Beiträgen erschweren oder in Chats mit einem hohen Aufkommen von Beiträgen der Mitarbeiter die Unternehmensleitung nicht alle Beiträge beantworten kann, so dass insgesamt 5.130 Antworten der Unternehmensleitung nach Ablauf des Chats asynchron nachgereicht werden (Kap.-4.4., Abb.-22). Eine weitere Störung der Hörer-Rolle liegt vor, wenn Beiträge, in denen die Unternehmensleitung unsachlich kritisiert wird, absichtlich nicht beantwortet werden (Beispiel „Viele Fragen“ in Kap.-1.3.). Dennoch ist die Hörer-Rolle bei der Unternehmensleitung stärker ausgeprägt als bei den Mitarbeitern. Die Mitarbeiter übernehmen offenbar weniger häufig die Hörer-Rolle, denn sie gehen wenig auf die Antworten der Unternehmensleitung ein. Die Ursache dafür, dass längere Sequenzen weit weniger häufig sind als einfache Paarigkeit, liegt meisten daran, dass die Mitarbeiter inhibiting moves ausführen, indem sie den Diskurs einfach abbrechen. In den meisten Fällen wird eine Sequenz von einem Mitarbeiter begonnen und bricht nach der Antwort der Unternehmensleitung ab, da der Mitarbeiter die Sequenz nicht weiterführt. So stehen den 18.427 Sequenzen mit zwei Beiträgen nur 689 Sequenzen mit drei Beiträgen gegenüber (Kap.-4.4., Abb.-22). Dieses Vorgehen ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass die Mitarbeiter teilweise offensichtlich mit vorbereiteten Beiträgen in den Chat gehen (Beispiel „Bildungsregeln“ in Kap.- 1.3. und Beispiel „Amerikanisierung“ in Kap.- 6.4.), dass Antworten erst im Intranet oder mit E-Mail asynchron nachgereicht wer- <?page no="276"?> 262 Die Teilhabe der Mitarbeiter den und dass die Mitarbeiter offene Konflikte weitgehend vermeiden (Sprachhandlungen Kritik in Kap.-6.1.2. und Misstrauen äußern in Kap.-6.3.3.). Die interaktionale Dominanz liegt beim Sprecher-Hörer-Verhältnis auf beiden Seiten, die durch inhibiting moves sowohl verschleiern können, ob sie die Hörer-Rolle übernehmen, als auch den Diskurs abbrechen können. 6.2.1.4 Situatives Machtverhältnis Die Untersuchungen zur interaktionalen Dominanz in Kap.- 6.2.1.1. haben gezeigt, dass die Machtverhältnisse im Chat weitgehend von der besonderen Situation, die durch den Chat als Kommunikationsmedium geschaffen wird, abhängig sind. Während mit der Nutzung anderer Kommunikationsmedien die hierarchischen Machtverhältnisse situativ abgebildet werden, schafft die Chat- Kommunikation in den Organisationsformen, in denen er im Datenkorpus vorliegt, ein neues situatives Machtverhältnis, in dem hierarchische Macht und Expertenmacht einander gegenüberstehen. Die entscheidenden Einflussfaktoren, aufgrund derer die Expertenmacht zum Gegenpart der hierarchischen Macht aufgebaut werden kann, sind die Anonymität (Kap.-6.1.1.) und die Bevorrechtigung der Mitarbeiter in Fragen (Kap.-6.3.). Im Sprachhandeln der Chat-Teilnehmer manifestiert sich durch Steuerung und Kontrolle ein situatives Machtverhältnis, das nicht nur der Unternehmensleitung, sondern auch den Mitarbeitern Macht sichert. Bei der Steuerung des Diskurses im Chat unterscheiden sich Mitarbeiter und Unternehmensleitung in ihren Handlungsmöglichkeiten. Die Mitarbeiter steuern den thematischen Verlauf des Chats, indem sie Fragen stellen und damit implizit die Themen vorgeben. Dabei sind die Mitarbeiter auf die Kooperation der Unternehmensleitung angewiesen, die den Grad der Informiertheit der Mitarbeiter steuert. Festzulegen, inwieweit und wie umfassend die Mitarbeiter über ein Thema informiert werden, das sie aufgeworfen haben, liegt im Ermessen der Unternehmensleitung. Das bedeutet, dass beide Seiten sich gegenseitig in ihren Handlungsmöglichkeiten einschränken. Die Unternehmensleitung hat aufgrund der Bevorrechtigung der Mitarbeiter zu Fragen und der Vereinbarung, möglichst nur reaktiv im Chat aufzutreten, nur begrenzt die Gelegenheit Themen vorzuschlagen, während die Mitarbeiter allein durch Fragestellungen die entsprechenden Informationen von der Unternehmensleitung nicht erzwingen können. Teilweise wird versucht, diese Einschränkungen zu unterlaufen. So thematisiert die Unternehmensleitung in den Begrüßungen (Beispiel „Welcome“ in Kap.- 6.2.2.1.) und ihren Antworten (Beispiel „Eine der schwersten Fragen“ in Kap.-5.1.1. und Kap.-6.3.1.) bisweilen zusätzlich Sachverhalte, nach denen zwar nicht gefragt wurde, anhand derer sie aber das Unternehmen wohlwollend darstellen kann, so dass die Antworten in einzelnen Fällen so allgemein werden, <?page no="277"?> Dominanz und Deutungshoheit 263 dass in Chats des Chat-Typ 1, in denen die Beiträge fortlaufend aufgelistet sind, hohe Responsivität nötig ist, damit der betreffende Mitarbeiter die Antwort als solche erkennt. Die Mitarbeiter versuchen dagegen ausführlichere Informationen zu erhalten, indem sie Vermutungen äußern, um darauf eine bestätigende oder korrigierende Antwort zu erhalten. Das Beispiel „Größere Kunden“ zeigt einen Versuch, im Chat einen Informationsvorsprung hinsichtlich unternehmerischer Neuigkeiten gegenüber Mitarbeitern zu erhalten, die nicht am Chat teilnehmen. Größere Kunden 141 MA Sind neue Größere Kunden / Projetkte -a la [Kunde]in Aussicht-? 147 UL Hallo [Mitarbeiter], es gibt z.Zt. einige interessante Vertriebsvorhaben, über die aber noch nicht öffentlich gesprochen werden kann. Der Mitarbeiter nutzt die Chat-Kommunikation in der Funktion eines Diskurses im kleinen Kreis, um ein nicht-öffentliches Thema aufzuwerfen und sich vorab nach zukünftigen Geschäftsabschlüssen zu erkundigen. Die Unternehmensleitung entzieht sich dieser Steuerung und verweist darauf, dass es sich trotz des direkten Kontakts zur Unternehmensleitung eben nicht um einen kleinen Kreis, sondern um einen unternehmensintern öffentlichen Diskurs handelt, in dem nicht alle Informationen veröffentlicht werden sollen und können. Die Kontrolle ist ein zweiter Einflussfaktor, durch den im Chat ein situatives Machtverhältnis entsteht, das von der Machtverteilung im Unternehmen abweicht. Es besteht eine reduzierte Kontrolle der Mitarbeiter durch die Anonymität der Chat-Teilnehmer und die umgekehrte Bevorrechtigung in Fragen, so dass die Mitarbeiter das Fragerecht haben, während die Unternehmensleitung auf ihre hierarchisch festgelegte Bevorrechtigung in Fragen verzichtet. Die organisatorisch absichtlich reduzierte Kontrolle über die Aktivitäten der Mitarbeiter im Chat geht aber nicht mit Kontrollmöglichkeiten der Mitarbeiter gegenüber der Unternehmensleitung einher. Im Beispiel „Serverprobleme“ nutzen mehrere Mitarbeiter die reduzierte Kontrolle für ein Sprachhandeln, das im Unternehmensalltag nicht akzeptiert wird und versuchen überdies, den Vorstand zu kontrollieren. Serverprobleme 291 GF Da Herr [Vorstand] aus technischen Gründen nicht am Chat teilnehmen kann hier meine Antwort: […] 361 MA1 könnte Herr [Vorstand] nicht über den Account von [Moderator] antworten? <?page no="278"?> 264 Die Teilhabe der Mitarbeiter 362 MA2 Serverprobleme? ? ? Sind wir IT-Profis oder nicht? 363 MA3 Sehr gute Frage 364 MA4 wir bieten globale Systemlösungen an und dann können nicht mal einen chat realisieren? ? ? 365 MA5 sell what you use and use what you sell ; -) 366 MA6 ...oder sich als normaler teilnehmer einloggen? ich würde die antworten auch akzeptieren, wenn sie im oberen feld erscheinen... 367 MA7 sehr gute Idee 369 MA2 Wir könnten Ihnen auch kurzfristig einen Server von uns zur Verfügung stellen. Der läuft dann unter OpenSource und funktioniert! Von den Mitgliedern der Unternehmensleitung, die für den Chat angekündigt sind, nehmen einige nicht am Chat teil, darunter ein Vorstand, dessen Abwesenheit diskutiert wird. Nachdem ein Geschäftsführer im Zusammenhang mit der Beantwortung einer Sachfrage die Abwesenheit des Vorstands mitteilt und begründet (Beitrag 291), thematisieren mehrere Mitarbeiter die Abwesenheit. Zwischen dem Beitrag des Geschäftsführers und der erneuten Thematisierung durch die Mitarbeiter liegen 70 Beiträge der Mitarbeiter. Aus dem Gesamtzusammenhang kann angenommen werden, dass die Mitarbeiter zunächst nicht die Abwesenheit des Vorstands stört, wohl aber, dass dadurch 42 der 70 Beiträge der Mitarbeiter unbeantwortet blieben. Die reduzierte Kontrolle der Mitarbeiter über den Diskurs führt zu Kritik an der Organisation des Chats, die zwar konstruktiv ist, teilweise aber abschätzig wirkt („Sehr gute Frage“, „können nicht mal einen chat realisieren“). Abweichend vom im Unternehmensalltag üblichen Sprachhandeln sind vor allem die wiederholten Versuche, auf das Handeln des Vorstands Einfluss zu erlangen und Kontrolle auszuüben (Beiträge 361, 366 und 369). Gleichzeitig fällt auf, wie sich die anwesenden Mitglieder der Unternehmensleitung den Kontrollversuchen entziehen, indem sie sich weder an der Diskussion beteiligen noch weitere Informationen zur Abwesenheit des Vorstands geben. Im Ganzen versuchen die Mitarbeiter eher angepasst zu reagieren, sie gehen konstruktiv auf das Problem ein (Beitrag 362) und machen innovative Vorschläge (Beiträge 361, 366 und 369). Aus dem weiteren Verlauf dieses Chat ist das Beispiel „Viele Fragen“ (Kap.-1.3.) entnommen, das zeigt, wie die Mitarbeiter die Situation nutzen, um interaktionale Dominanz gegenüber der Unternehmensleitung auszuüben. Insgesamt entsteht durch die fehlende Kontrolle im Chat und die reduzierten Kontrollmöglichkeiten eine Situation, in der sonst geltende Machtstrukturen <?page no="279"?> Dominanz und Deutungshoheit 265 außer Kraft gesetzt sind und der situativen Macht, die interaktional durchgesetzt wird, eine verstärkte Bedeutung zukommt. Damit ist auch die Bedeutung der Steuerungsmöglichkeiten erhöht, wobei vorwiegend die Mitarbeiter von dem neu erworbenen Recht zur Steuerung Gebrauch machen. 6.2.2 Sprechakte, Gesprächsphasen und Gesprächsorganisation 6.2.2.1 Gesprächseröffnung In den 242 Chats der Chat-Typen 1 und 2 kommen 2.945 explizite Gesprächseröffnungen vor (Abb.-32). Der Einstieg der Teilnehmer in den Chat beginnt nur teilweise mit einer expliziten Gesprächseröffnung. Teilnehmer, die in den ersten etwa zwanzig Minuten in den Chat eintreten, eröffnen meist mit einer Begrüßung, bevor sie sich inhaltlich äußern. Im weiteren Verlauf eines Chats sind Begrüßungen nur in Einzelfällen zu beobachten. Die explizite Gesprächseröffnung entfällt dann meist und der Teilnehmer steigt direkt inhaltlich in den Chat ein. Vereinzelt eröffnet ein Teilnehmer das Gespräch, indem er sich selbst vorstellt. Begrüßungen im Chat unterscheiden sich signifikant nach ihrer Sprechhandlungsabsicht. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie die Chat-Teilnehmer damit entweder die Absicht verfolgen, sich gut in den Chat zu integrieren, oder einen Führungsanspruch innerhalb der Chat-Gemeinschaft erheben. In fast allen Fällen wird die Strategie der Integration von den Mitarbeitern verfolgt, während die Mitglieder der Unternehmensleitung ihre Führungsrolle, die sie im Unternehmensalltag haben, auch im Chat beanspruchen. Nur in Einzelfällen sind die Rollen vertauscht. In Begrüßungen mit Führungsanspruch liegt die interaktionale Dominanz bei der Unternehmensleitung, indem sie den Chat von den Administratoren technisch eröffnen lässt und die offizielle Begrüßung vornimmt. Die Begrüßung ist eher formal und schließt alle Teilnehmer ein. Die Unternehmensleitung nimmt damit eine Gastgeberrolle ein, und die Begrüßung ist dem Einstieg in eine Begrüßungsrede ähnlich. Das Beispiel „Totale Hitze“ ist repräsentativ für die von der Unternehmensleitung am häufigsten verwendete Begrüßungsform, mit der ein Führungsanspruch erhoben wird. Totale Hitze 1 V Guten Morgen allerseits. Hier in Frankfurt nach wie vor die totale Hitze. Hoffe, es geht Ihnen gut und die Umsätze laufen ebenso heiß. [Vorstand] Der Vorstand begrüßt die Chat-Teilnehmer, indem er in seine Begrüßungsformel ausdrücklich alle einschließt („allerseits“). In seiner Selbstpräsentation präsentiert er sich als Vorstand („die Umsätze laufen ebenso heiß“) und Mensch <?page no="280"?> 266 Die Teilhabe der Mitarbeiter („die totale Hitze“). Das Interesse an den Mitarbeitern („Hoffe, es geht Ihnen gut“) steht sprachlich auf gleicher Ebene („und […] ebenso“) wie das wirtschaftliche Interesse („die Umsätze laufen […] heiß“). Soweit ein Chat-Teilnehmer mit seinem Eintritt in den Chat einen Führungsanspruch erhebt, soll die Begrüßung die Aufmerksamkeit einer größeren Gruppe bündeln und auf ein gemeinsames Interesse ausrichten. Da die meisten Chats thematisch offen sind, kommt der Begrüßung bei der Auswahl der Diskussionsthemen erhebliche Bedeutung zu, da immer einige Chat-Teilnehmer in der Erwiderung des Grußes auch inhaltlich Bezug nehmen. Im Beispiel „Das Eis ist gebrochen“ beschreibt der Geschäftsführer anschließend die wirtschaftliche Situation des Unternehmens und gibt damit implizit Bewertungen und Perspektiven. Das Eis ist gebrochen 5 V Liebe Kolleginnen und Kollegen, zuerst darf ich Sie beim heutigen Chat sehr herzlich begrüssen und freue mich, dass das Eis mit dieser ersten Frage gebrochen ist. [es folgt eine Beschreibung der wirtschaftlichen Situation des Unternehmens] Die Anrede ist dem Beginn eines Vortrags ähnlich und signalisiert damit einen Führungsanspruch, den die bewertende Beschreibung der wirtschaftlichen Situation des Unternehmens noch verstärkt. Die Anrede „Kolleginnen und Kollegen“ wird von der Unternehmensleitung üblicherweise auch hierarchieübergreifend gegenüber Mitarbeitern verwendet, um eine freundschaftliche Gesprächsbasis anzuzeigen und die Mitarbeiter in einem „powerless style“ zu begrüßen. Bei der Verwendung des powerless style durch statussuperiore Sprecher kommt es also zu einer Aufweichung fixierter Rollengefüge. Der Begriff ‚powerless‘ ist in sich situations- und sprecherabhängig zu differenzieren. (Müller 1997, 41) Die Anrede der Mitarbeiter als „Kolleginnen“ oder „Kollegen“ ist im vorliegenden Datenkorpus das auffälligste Merkmal dafür, dass die Unternehmensleitung den Übergang ihrer hierarchischen Macht im Unternehmen in interaktionale Dominanz im Chat zu vermeiden versucht (Kap.-6.2.1.1. und Kap.-6.2.2.2.). Begrüßungen, die die Moderatoren an die Chat-Teilnehmer richten, sind ebenso offiziell und umfassen wie die Begrüßung der Mitarbeiter durch die Unternehmensleitung alle Chat-Teilnehmer, fallen aber sachlicher aus und enthalten keine Elemente des Smalltalks. Im Beispiel „Welcome“ hat ein Mitglied der Unternehmensleitung in einem Chat die Rolle des Moderators übernommen und begrüßt zunächst die Chat-Teilnehmer. <?page no="281"?> Dominanz und Deutungshoheit 267 Welcome 15 UL Welcome everybody to this first international test chat. We are ready to answer your questions concerning the new positioning statement: [Unternehmenssparte] is the global leader in providing single source IT and telecommunications services. Applying our vast experience in over twenty countries, we create IT, network and convergence solutions for Global 2000 corporations who are seeking to innovate and adapt their processes to sustain business success. Nach einer alle Chat-Teilnehmer einschließenden Grußformel ermuntert ein Mitglied der Unternehmensleitung in der Funktion des Moderators Fragen zu bestimmten Themen zu stellen, die das Unternehmen aktuell betreffen („We are ready to answer your questions concerning the new positioning statement“). Anschließend stellt er die Sicht der Unternehmensleitung dar („the new positioning statement“). Mit der expliziten Einbindung aller Chat-Teilnehmer, der Aufforderung, Fragen zu stellen, der Vorgabe eines Themas und der Darstellung der eigenen Sicht bildet die Begrüßung eine vielschichtige Steuerungsmaßnahme, deren Wirksamkeit sich im Verlauf des Chats daran zeigt, dass sich die Mitarbeiter in ihren Beiträgen ausnahmslos nach diesen Vorgaben richten. Zur eigenen Integration in den Chat wird die Begrüßung nur von den Mitarbeitern instrumentalisiert. Die Mitarbeiter äußern deutlich mehr Begrüßungen als Verabschiedungen (Kap.- 6.2.2.5., Abb.- 32). 76 Begrüßungen der Mitarbeiter beim ersten Eintritt in den Chat unterscheiden sich deutlich von den Begrüßungen der Unternehmensleitung und der Moderatoren, da sie in keinem Fall explizit an alle Chat-Teilnehmer gerichtet sind. Im Übrigen umfassen sie ein sehr breites Spektrum, das sich zwischen den Polen formell vs. informell, schriftsprachlich vs. mündlich, nicht explizit gerichtet vs. explizit bewegt. Begrüßungen von Mitarbeitern an alle Chat-Teilnehmer bewegen sich zwischen formal (z. B. „Grüß Gott verehrte Damen und Herren“) und informell (z. B. „Hallo allerseits“). Diese Begrüßungsformeln entsprechen den im Unternehmensalltag üblichen Stilen. Teilweise finden auch unangemessene Begrüßungen statt, beispielsweise die Anreden „Oberste Heeresleitung“, „Werte Geschäftsführung“, die durch den antiquierten Ausdruck „werte“ ironisierend ist, oder, wie im Beispiel „Plauderei“, Begrüßungsformeln, die an andere Chat-Formen angelehnt sind. 76 Runkehl/ Schlobinski/ Siever (1998, 92 ff.) stellten bei der Analyse eines Datenkorpus, der Chat-Kommunikation umfasst, fest, dass die Begrüßungsrituale deutlich die Verabschiedungen überwiegen. Sie nehmen an, dass die Absicht der Chat-Teilnehmer ist, sich sowohl dagegen abzusichern, im Chat ignoriert zu werden, als auch gut in den Chat aufgenommen zu werden. Ein Chat-Teilnehmer, der in den Chat eintritt, ohne von den anderen Chat-Teilnehmern begrüßt zu werden, hat ein größeres Risiko, im weiteren Verlauf des Chats ignoriert zu werden. <?page no="282"?> 268 Die Teilhabe der Mitarbeiter Plauderei 1 MA1 hallo! 2 MA2 Morgen 3 MA2 *gähn* 4 MA3 Tach Das Beispiel „Plauderei“ gibt Sequenzen wieder, die kurz vor Beginn eines Chats auf dem Bildschirm erscheinen (Kap.-4.2.1., Chat-Merkmal A: verlängerte Chat-Dauer). Dieser Vorlauf wurde in den ersten Chats nicht protokolliert und nachträglich im Intranet verfügbar gemacht. Möglicherweise gehen die Chat- Teilnehmer davon aus, dass ihre Beiträge vor dem eigentlichen Beginn nicht gespeichert werden, so dass ihre Begrüßungen aus diesem Grund deutlich informell ausfallen. Dieses Sprachhandeln ähnelt der homileischen Kommunikation im Unternehmensalltag, womit die Unternehmensleitung ausgegrenzt wird. Im Hinblick auf die interaktionale Dominanz haben alle von Mitarbeitern geäußerten Begrüßungen gemein, dass sie keinen Dominanzanspruch implizieren. Soweit Dominanz beansprucht wird, steht das immer im Zusammenhang mit einer Begründung, selbstverständliche Dominanz wird nicht in Anspruch genommen. Dagegen finden sich in den Beiträgen der Mitarbeiter, wie im Beispiel „Plauderei“, häufig defensive Haltungen der Abwehr und der Abgrenzung. 6.2.2.2 Ermuntern zur Chat-Teilnahme Bei der Vorbereitung des Chats hatte die Unternehmensleitung vereinbart, den Diskurs nicht durch eigene Fragen an die Mitarbeiter zu steuern und die Mitarbeiter nicht explizit zum Chatten zu ermuntern. Da Ermuntern als Sprachhandlung die hierarchische Dominanz des Interaktanten voraussetzt, kommt es als Sprachhandeln der Mitarbeiter nicht vor. Mit der weiteren Entwicklung der Chat-Organisation verwenden die Unternehmensleitung und die Moderatoren das Ermuntern als explizite Erteilung des Rederechts, um die Chat-Tätigkeit zu forcieren. Das Beispiel „Question“ zeigt eine Ermunterung in der Absicht, eine Mitarbeiterin zum Chatten zu motivieren. Question 14 Mod Hi [Mitarbeiterin], you are in now. Please go ahead and ask a question. Es handelt sich dabei um eine Sequenz vom Beginn eines Chat. Während die Chat-Teilnehmer sich begrüßen und plaudern, wendet sich der Moderator mit seiner Aufforderung an eine Mitarbeiterin („Hi [Mitarbeiterin]“), die bereits vor <?page no="283"?> Dominanz und Deutungshoheit 269 Beginn des Chats mehrfach versucht hat Beiträge zu senden, um zu sehen, ob ihre Beiträge bereits auf der graphischen Oberfläche der Software für die Chat-Kommunikation erscheinen. Der Moderator versichert der Mitarbeiterin, dass der Chat begonnen hat und ihre Beiträge die Chat-Community erreichen („you are in now“). Dann fordert er die Mitarbeiterin auf, eine Frage zu stellen („Please go ahead and ask a question“). Die Absicht des Moderators dürfte sein, auch für die anderen Teilnehmer „das Eis zu brechen“, um die Chat-Tätigkeit zu steigern. Ermunterungen sind auch indirekt möglich, wenn Mitarbeiter von der Unternehmensleitung in ihren Äußerungen bestätigt werden. Während die Motivation des Moderators im Beispiel „Question“ keinen sichtbaren Erfolg hat, da von der Mitarbeiterin, an die er seine Ermunterung adressiert hat, keine Beiträge eingehen, zeigt sich am Beispiel „E-Business“ (Kap.-6.4.), wie ein Mitarbeiter mit der Bestätigung seines Vorschlags ermuntert wird, einen weiteren Vorschlag zu äußern. Abgesehen von den wenigen Beiträgen, in denen die Moderatoren oder die Unternehmensleitung die Mitarbeiter ermuntern, ist das Ermuntern als interaktionale Sprachhandlung nur anderen Interaktionen beigeordnet und nicht die vorrangige Absicht der Interaktanten. Deshalb fließen die Ergebnisse zum Ermuntern in die Betrachtung anderer Sprachhandlungen mit ein und sind bei der Betrachtung der Gesprächseröffnung (Kap.-6.2.2.1.), der Sprachhandlungskoordination (Kap.-1.3.) und der Vorschläge (Kap.-6.4.) mit behandelt. 6.2.2.3 Fragen Zwischen der Unternehmensleitung und den Mitarbeitern besteht, schon durch die Organisation eines Unternehmens bedingt, eine deutliche Diskrepanz in der Informiertheit über unternehmerische Entscheidungen und die zukünftige Entwicklung des Unternehmens. Insofern ist es für die Mitarbeiter von großem Interesse, Informationen über unternehmerische Pläne zu erhalten. Sie sehen offensichtlich den Chat als günstige Gelegenheit an, Informationen bei der Unternehmensleitung zu erfragen, die sie auch umfassend nutzen. Die Fragen stellen, zusammengefasst zum Gesprächstyp Befragung, die häufigste kommunikative Großform im Chat dar und werden deshalb in einem eigenen Kapitel behandelt (Kap.-6.3.). 6.2.2.4 Vorschläge Im Rahmen von Diskussionen oder aufgeworfenen Problemstellungen im Chat machen die Mitarbeiter regelmäßig Vorschläge, für die eine Musterbildung belegt werden kann, die sich interaktional zur Sprachhandlung Vorschlag abgrenzen lässt. Vorschläge nehmen eine bedeutende Rolle hinsichtlich der Chat- Kommunikation über den Wandel ein, denn sie sind für die Mitarbeiter die wesentliche Form der Teilhabe am Wandel. Die Sprachhandlung Vorschlag wird deshalb separat dargestellt (Kap.-6.4.). <?page no="284"?> 270 Die Teilhabe der Mitarbeiter 6.2.2.5 Gesprächsbeendigung Zu jedem Zeitpunkt im Verlauf des Chats können explizite Gesprächsbeendigungen beobachtet werden. Zwar finden die meisten Gesprächsbeendigungen in Form von Grußformeln in den letzten Sequenzen des Chats statt, es gibt aber auch andere Formen. Dazu gehört einerseits das Solidarisieren mit der Unternehmensleitung, indem Mitarbeiter den Chat mit der Ankündigung verlassen, weiterarbeiten zu müssen, wie im Beispiel „Eine der schwersten Fragen“ (Kap.- 5.1.1.). Andererseits gibt es die Abgrenzung von der Chat-Gemeinschaft, wenn Mitarbeiter sich demonstrativ aus dem Chat zurückziehen, um ihren Protest auszudrücken, wie im Beispiel „Internetprodukte“, das in Kap.-6.3.1. ausführlich besprochen wird. Internetprodukte (Auszug) 145 MA Im Vergleich Frage-Antwort wurde meine letzte Frage schlichtweg übergangen. Unabhängig davon bedanke ich mich im Rahmen der Chatiquette herzlich für die gegebenen Antworten und wünsche allen Beteiligten ein schönes Wochenende und einen schönen Arbeitsausklang am heutigen Tage. Ich muss mich wieder meiner Arbeit widmen. Die formelhafte Gesprächsbeendigung findet bereits etwa in der Mitte des Chats statt. Damit versucht der Mitarbeiter den Chat im Vergleich zu seinen sonstigen Tätigkeiten abzuwerten, indem er der Chat-Teilnahme niedrigere Priorität einräumt („Ich muss mich wieder meiner Arbeit widmen.“) und so die Stellung des Chats als besonderen Event für die Mitarbeiter in Frage stellt. Die Gesprächsbeendigung ist ein Protest gegen die vermeintliche Nichtbeantwortung der Frage, die der Mitarbeiter gestellt hatte („meine letzte Frage schlichtweg übergangen“). Ruhnkehl/ Schlobinski/ Siever (1998, 95) beschreiben nach ihren Beobachtungen, dass in der Chat-Kommunikation die Gesprächsbeendigung sehr viel weniger häufig vorkommt als die Gesprächseröffnung und kürzer ausfällt. Das liegt daran, dass bei der Gesprächsbeendigung im Gegensatz zur Gesprächseröffnung die Funktion der Integration nicht gegeben ist. Im vorliegenden Datenkorpus liegt die Anzahl der Grußformeln zur Gesprächsbeendigung mit 2.945 Beiträgen um 1.177 Beiträge unter der Anzahl der Gesprächseröffnungen mit 1.768 Beiträgen (Abb.-32). Abb.-32: Gesprächseröffnungen und -beendigungen <?page no="285"?> Dominanz und Deutungshoheit 271 Qualitativ sind die Gesprächsbeendigungen oft besonders ausführlich. Die Ursache dafür ist möglicherweise, dass die Chat-Teilnehmer der Gesprächsbeendigung bei der Pflege der Beziehungen im Hinblick auf den folgenden Chat oder auf den Unternehmensalltag Bedeutung zumessen und die Unternehmensleitung zudem, wie es im Beispiel „Offene Fragen“ nahe liegt, die Verabschiedung noch einmal nutzt, um für die Unternehmensziele und auch für den folgenden Chat zu werben. Offene Fragen 73 GF Liebe Chat-Teilnehmer, ich freue mich über Ihre intensive Teilnahme. Da wir den Chat ursprünglich nur bis 10: 00 Uhr geplant hatten, muss ich ihn zu meinem Bedauern aus Termingründen beenden. Wie bereits angekündigt werden wir diese Form der interaktiven Kommunikation zukünftig forcieren und die Termin jeweils rechtzeitig ankündigen. Die jetzt offen gebliebenen Fragen werde ich via ‚Interne Kommunikation‘ bis Montag beantworten. Danke für Ihre Teilnahme. Mit besten Grüssen- [GF]. Die Gesprächsbeendigung des Geschäftsführers ist um 10: 19 Uhr im Log-Protokoll des Zentralservers verzeichnet, so dass davon ausgegangen werden kann, dass sie in den folgenden Minuten auch auf den Benutzeroberflächen der Chat- Teilnehmer erschienen ist. Der Sequenz gehen 72 Beiträge der Mitarbeiter voraus, die ganz überwiegend Fragen enthalten, und 54 Antworten der Unternehmensleitung. Danach gehen noch zwei weitere Fragen ein, bevor der Chat von den Administratoren technisch beendet wird. Der Geschäftsführer hat das Ziel, die Mitarbeiterkommunikation über Chats auszuweiten („werden wir diese Form der interaktiven Kommunikation zukünftig forcieren“). Dazu wirbt er für die Teilnahme an den künftigen Chats, indem er darauf hinweist, dass Vorankündigungen kommen werden („Termin jeweils rechtzeitig ankündigen“) und Antworten synchron oder zumindest zeitnah erwartet werden können („Die jetzt offen gebliebenen Fragen werde ich […] bis Montag beantworten“). Darüber hinaus ist er gegenüber den Mitarbeitern sehr entgegenkommend, indem er das angekündigte Ende des Chats um etwa zwanzig Minuten überzieht, um weitere Fragen zu beantworten, und die Beendigung des Chats dann mit Termingründen („aus Termingründen beenden“) rechtfertigt. Mit ausgedrückt wird Emotionalität („ich freue mich“, „zu meinem Bedauern“), mit der er den Mitarbeitern Wertschätzung entgegenbringt, die auch in einem Lob („Ihre intensive Teilnahme“) sowie einem Dank („Danke für Ihre Teilnahme“) an die Mitarbeiter und in der Anrede sowie der Schlussformel zum Ausdruck kommt. Um gute Beziehungen außerhalb des Chats oder im Hinblick auf den nächsten Chat zu pflegen, ist die Grußformel häufig um gute Wünsche erweitert, die <?page no="286"?> 272 Die Teilhabe der Mitarbeiter private Belange und Angelegenheiten aus dem Unternehmensalltag vermischen. Diese Form der Gesprächsbeendigung wird sowohl von der Unternehmensleitung, wie im Beispiel „Frohes Schaffen“, als auch von den Mitarbeitern gewählt. Frohes Schaffen 181 V Wünsche allseits noch frohes Schaffen und auch ein schönes Wochenende. Denken Sie an unseren profitablen Umsatz. Wir brauchen noch viel ! ! ! Ihr [Vorstand] Mit der Grußformel zur Verabschiedung verbindet der Vorstand berufliche („frohes Schaffen“) und private Belange („ein schönes Wochenende“). Zugleich integriert er die Mitarbeiter in einer thematischen Gesprächsbeendigung 77 in seine unternehmerischen Überlegungen („Denken Sie an unseren profitablen Umsatz“) und schafft damit eine hierarchisch asymmetrische Gesprächsbeteiligung. Wie auch bei der Gesprächseröffnung unterscheiden sich die Grußformeln zur Gesprächsbeendigung am Ende des Chats nach ihrer Sprechhandlungsabsicht. Die Unternehmensleitung nutzt die Gesprächsbeendigung, um ihre Führungsfunktion wahrzunehmen und abschließend noch einmal alle Chat- Teilnehmer in die Chat-Gemeinschaft zu integrieren. Von Mitarbeitern werden dagegen integrierende Gesprächsbeendigungen nur in Verbindung mit Dank vorgebracht, so dass die Mitarbeiter sich selbst wie im Beispiel „Tschüss“ hierarchisch asymmetrisch positionieren. Tschüss 194 MA1 Herzlichen Dank für die Beantwortung meiner Fragen. Ich wünsche allen noch einen erfolgreichen Arbeitstag ! ! ! 194 GF same to you ! ! 196 MA2 Vielen Dank für die Informationen und noch einen schönen Tag an alle. 196 BL Ihnen auch einen schönen Tag vom ”Antwortteam“ 197 MA3 Danke für die Beantwortung der Fragen und Ihre Offenheit. 197 BL ...hat Spaß gemacht! ! ! ! 199 MA4 Tschüss 77 Eine Definition und Beispiele zur thematischen Gesprächsbeendigung finden sich bei Linell (1990). <?page no="287"?> Dominanz und Deutungshoheit 273 Mehrere Mitarbeiter bedanken sich im Beispiel Tschüss“ im Rahmen der Verabschiedung am Ende des Chats (Beiträge 194 und 197) und bringen sich damit zunächst in eine hierarchisch untergeordnete Position. Da die Grüße von der Unternehmensleitung erwidert werden (Beitrag 197), nicht aber der Dank, bleibt die Positionierung der Mitarbeiter untergeordnet. Mit der Auffassung, die Chat-Kommunikation sei Instrument der gegenseitigen Verständigung, hätte der Dank erwidert werden müssen und so die Bedeutung einer gegenseitigen Höflichkeitsbezeugung erhalten. Im Vergleich der Gesprächsbeendigungen der Mitarbeiter (Beispiel „Tschüss“) und der Unternehmensleitung (Beispiel „Offene Fragen“) entsteht der Eindruck, dass sich die Chat-Teilnehmer am Ende des Chats von dem durch Anonymität und Rederecht partiellen Ausgleich der Macht, die der Chat bietet (Kap.-6.2.1.1.), wieder entfernen und der vertikal-hierarchischen Machtverteilung ihrer Rollen im Unternehmensalltag wieder annähern. Dagegen kommt es bei der Wahl des Stilniveaus durchaus zu gegenseitigem Entgegenkommen. Das äußert sich meist darin, dass die Mitarbeiter einen möglichst elaborierten Stil und formelle Gesprächsbeendigungen wählen, während die Unternehmensleitung umgekehrt einen freundschaftlichen Stil verwendet. Die Umkehrung des Stils führt dann zu einer formalen Verabschiedung durch die Mitarbeiter und zu informellen Gesprächsbeendigungen durch die Unternehmensleitung. Ein bemerkenswertes Detail der Gesprächsbeendigung ist die, meist symptomatische, Angabe des deiktischen Raums. Während die Unternehmensleitung den Chat meist als Zusammentreffen von Mitarbeitern aus einem Teil des Unternehmens ansieht, wie in den Beispielen „Offene Fragen“ und „Frohes Schaffen“, beziehen sich die Mitarbeiter, wie im Beispiel „Feierabend“, auf einen geographischen Raum. Feierabend 429 MA Einen schönen Feierabend deutschlandweit! Der Mitarbeiter bezieht in seine Gesprächsbeendigung alle Chat-Teilnehmer ein und weist explizit darauf hin, dass die Chat-Teilnehmer aus dem gesamten deutschen Raum kommen („deutschlandweit“). Möglicherweise haben die Mitarbeiter vermehrt Interesse daran, sich möglichst weit verbreitet auszutauschen und gehört zu werden, während die Unternehmensleitung zahlenmäßig möglichst viele Mitarbeiter erreichen will. <?page no="288"?> 274 Die Teilhabe der Mitarbeiter 6.3 Bevorrechtigung in Fragen In den Kapiteln 6.1. und 6.2. ist dargestellt, wie die Einstellungen und Interessen der Interaktanten im Chat deren Einwirken auf den Wandel bestimmen und wie kommunikative Rechte im Chat neu ausgehandelt werden. In diesem Kapitel wird das interaktionale Handeln vorgestellt, das sich aufgrund der neu ausgehandelten Bevorrechtigung entwickelt, Fragen zu stellen. Dazu wird der Gesprächstyp Befragung mit seinen Wirkungen auf die Gesprächsorganisation herausgearbeitet (Kap.-6.3.1. und Kap.-6.3.2.) und gezeigt, wie die interaktionale Handlung Misstrauen äußern von den Mitarbeitern instrumentalisiert wird, um den Erfolg der mittels Fragen ausgeübten interaktionalen Dominanz sicherzustellen (Kap.-6.3.3.). 6.3.1 Der Gesprächstyp Befragung Die Abfolge von Fragen und Antworten, meist nur als zwei paarige Sequenzen (Kap.- 4.4., Abb.- 22), ist im vorliegenden Datenkorpus eine Handlungseinheit mit recht homogenen Formen und Funktionen. Bei der qualitativen Betrachtung über das gesamten Datenkorpus ist daraus als eine generalisierende Kategorie eine Ausprägung des Gesprächstyps Befragung ableitbar. 78 Unter dem Gesprächstyp Befragung fasse ich diese Diskurse im vorliegenden Datenkorpus zusammen, die aus mindestens einer Frage/ Antwort-Sequenz bestehen und den Zweck haben, dass Mitarbeiter direkt von der Unternehmensleitung, unter Umgehung der hierarchischen Informationskette im Unternehmen, Informationen und Erläuterungen zu Veränderungen im Unternehmen, besonders zu Ereignissen des Wandels einholen können. Der Gesprächstyp Befragung kommt im vorliegenden Datenkorpus in 16.221 Ausprägungen vor (Kap.- 4.4., Abb.-23). Die Eröffnung des Diskurses erfolgt fast immer durch einen Mitarbeiter. Nur wenige Ausprägungen zeigen einen Diskurs in umgekehrter Rollenbesetzung, wobei die Unternehmensleitung die Mitarbeiter befragt (Beispiel „Mitarbeiterzeitung“ in Kap.- 6.4.). Der Gesprächstyp Befragung hat seit Beginn der Chat- Tätigkeit im Unternehmen eine weitreichende Entwicklung genommen. Die Organisation des Chats wurde im Hinblick auf die Frage- und Antwortmöglichkeiten mehrfach verändert. Die Entwicklung der Organisation des Chats ist in Kap.-4.2.1. beschrieben. Aufgrund der fortdauernden Maßnahmen zur Verbesserung der Frage- und Antwortmöglichkeiten (Darstellung der Chat-Typen und Chat-Merkmale und ihre Verteilung über die Phasen der Entwicklung der Chatorganisation in Kap.- 4.2.: fortlaufende Auflistung der Beiträge, nachträglich in der Chat-Dokumentation ergänzte oder per E-Mail nachgereichte 78 Brünner (2009b) gibt einen neueren Überblick zur systematischen Analyse und Kategorisierung von Gesprächstypen, der auch in eine Gesamtbetrachtung zur Analyse mündlicher Kommunikation eingebettet ist. <?page no="289"?> Bevorrechtigung in Fragen 275 Antworten, Zuordnung von Frage und Antwort, Moderation, thematisch gebundene Chats, FAQ, Rückkehr zu früher verwendeten Chat-Typen und Chat- Merkmalen), müssen sich die Chat-Teilnehmer immer wieder erneut auf die veränderte Gesprächssituation einstellen und es kommt in der Interaktion zu einer Vielzahl von Versuchen, Frage/ Antwort-Sequenzen erfolgreich zu gestalten. Die hohe Bedeutung, die dem Gesprächstyp Befragung in der Chat-Organisation eingeräumt wird, resultiert aus der Intention der Unternehmensleitung, bei den Mitarbeitern Unklarheiten und Wissensdefizite über ihre beruflichen Belange auszuräumen, indem die Unternehmensleitung Fragen der Mitarbeiter beantwortet. Wie bei der Gesprächseröffnung (Kap.-6.2.2.1.) forciert die Erwartungshaltung der Unternehmensleitung den Gesprächstyp Befragung, indem die Mitarbeiter zu Fragen ermuntert werden (Kap.-6.2.2.2.). Einem Chat, in dem fast ausschließlich Fragen zur Umschreibung der bestehenden Arbeitsverträge auf die neue Gesellschaftsform gestellt wurden, ist das Beispiel „Rechtsverbindlich“ entnommen. Darin äußert sich ein Geschäftsführer zur Absicht, Mitarbeitern Fragen an die Unternehmensleitung zu ermöglichen. Rechtsverbindlich 7 MA iST ein email Verkehr mit ein anonymen HR Account rechtsverbindlich ? 8 GF Im Chat mit der Geschäftführung geht es nicht darum rechtsverbindliche Geschäfte zu tätigen, sondern Fragen so weit es im Rahmen eines Chats möglich ist zu klären. Die Frage des Mitarbeiters trifft offensichtlich nicht die Fragestellung, die die Unternehmensleitung mit dem Chat verbindet, denn statt zu antworten ergreift der Geschäftsführer auf die Frage des Mitarbeiters die Gelegenheit, die Chat- Teilnehmer über die Ziele zu informieren, die die Unternehmensleitung mit der Abhaltung der Chats verfolgt. Er nennt als Zweck des Chats, Informationen und Erläuterungen zu Belangen des Unternehmens an die Mitarbeiter weiterzugeben („Fragen [...] zu klären“) und schränkt mit einer Geltungsrestriktion zugleich die Funktion des Chats hinsichtlich der formalen („so weit es im Rahmen eines Chats möglich ist“) und der inhaltlichen Möglichkeiten („geht es nicht darum rechtsverbindliche Geschäfte zu tätigen“) des Chats ein. Im vorliegenden Datenkorpus ist der Gesprächstyp Befragung immer ein Diskurs zwischen den Mitarbeitern und der Unternehmensleitung. Vereinzelt auftretende rhetorische Fragen der Mitarbeiter untereinander und ebenso nur vereinzelt auftretende Fragen der Unternehmensleitung sowie der Moderatoren, die die Mitarbeiter zur Chat-Teilnahme anregen sollen, werden im Folgenden nicht weiter betrachtet. Die Mitarbeiter verfolgen mit ihren Fragen im Wesentlichen folgende Interessen: <?page no="290"?> 276 Die Teilhabe der Mitarbeiter • Fragen nach Informationen, die für die eigenen Interessen relevant erscheinen, aber nicht anderweitig beschafft werden konnten. • Fragen aus Interesse an eigenen hierarchisch-ökonomischen Vorteilen, das verdeckt wird, indem der Mitarbeiter eine sachlich-technische Ergänzungsfrage stellt und sich aus der Antwort der Unternehmensleitung zugleich Informationen zu seinem eigentlichen Interesse erhofft. • Als Fragen verdeckte Kritik, wobei die Fragen nur gestellt werden, um Informationen zweckgebunden zu platzieren. Eingangs jeder Ausprägung des Gesprächstyps Befragung steht eine Frage eines Mitarbeiters an die Unternehmensleitung. Die kleinste interaktionale Einheit des Gesprächstyps Befragung ist die Frage/ Antwort-Sequenz, die fast immer paarig auftritt, indem ein Mitarbeiter fragt und ein Mitglied der Unternehmensleitung antwortet. Den Fragen im vorliegenden Datenkorpus liegen verschiedene Zwecke und unterschiedliches Sprachhandeln zugrunde, von denen auch das jeweilige Muster abhängt, so dass es zu einer Häufung bestimmter Fragetypen kommt. Die vorwiegend auftretenden Fragetypen sind Ergänzungsfragen, die „einen Sachverhalt als auf wenigstens einer Dimension offen entwerfen“ (Zifonun/ Hoffmann/ Strecker 1997, 105), propositionale Fragen (ebd., 109 ff.) und rhetorische Fragen (ebd., 649 ff.). Ergänzungsfragen unterteile ich weiter in Informationsfragen und Verständnisfragen, wobei ich diejenigen Fragen als Informationsfragen bezeichne, in denen die Mitarbeiter Informationen über alle Belange des Unternehmens abfragen (Beispiel „Führungsgrundsätze“), und unter Verständnisfragen die Fragen nach Erklärungen von Zusammenhängen (Beispiel „Konsolidierung“) verstehe, die Sachverhalte im Unternehmen betreffen. Propositionale Fragen sind weiter unterteilt in Bestätigungsfragen, Alternativfragen, die „dem Adressaten die Entscheidung zwischen zwei oder mehr alternativen Sachverhaltsentwürfen aufgeben“ (ebd., 112 ff.), und deliberative Fragen (ebd., 109 ff.). Bestätigungsfragen werden mit der Absicht angewandt, die Zustimmung der Unternehmensleitung zu eigenen Sichtweisen zu erreichen (Beispiel „Eine der schwersten Fragen“, Beiträge 9 und 10). Dagegen weisen die Mitarbeiter in Alternativfragen und deliberativen Fragen auf Sachverhalte hin, die aus ihrer Sicht Ungereimtheiten oder Unklarheiten aufweisen (Beispiel „Technologieführerschaft“). Rhetorische und ironische Fragen verwenden die Mitarbeiter innerhalb des Gesprächstyps Befragung, um die Unternehmensleitung zu Responsivität aufzufordern. 79 Welche Variante des Handlungsmusters des Gesprächstyps Befragung (Abb.-33) zum Tragen kommt und welchen Zweck ein Mitarbeiter mit einer Frage verfolgt, 79 Rhetorische Fragen und ironische Fragen werden von den Mitarbeitern auch zum Abtönen bzw. Verstärken der kommunikativen Handlung Kritik verwendet (Kap.-6.1.2.2.). <?page no="291"?> Bevorrechtigung in Fragen 277 hängt von der Informiertheit des fragenden Mitarbeiters, dessen Einstellungen und persönlichen Zielen und, daraus resultierend, von seiner Fähigkeit und Bereitschaft ab, Perspektivenkonvergenzen herzustellen oder die Perspektive der Unternehmensleitung zu sehen. Abb.-33: Der Gesprächstyp Befragung <?page no="292"?> 278 Die Teilhabe der Mitarbeiter Mit der Informationsfrage zielen die Mitarbeiter darauf ab, ihren Informationsstand zu vervollständigen. Damit entspricht ein Mitarbeiter mit der Frage nach Information der Zielsetzung der Unternehmensleitung für den Chat (Beispiel „Rechtsverbindlich“). Das Beispiel „Führungsgrundsätze“ zeigt, dass dennoch auf Informationsfragen nur in engen Grenzen Antworten erwartet werden können. Führungsgrundsätze 19 MA Wann werden die Handlungs- und Führungsgrundsätze für die [Unternehmenssparte] veröffentlicht? Der Mitarbeiter grenzt die Antwortmöglichkeiten stark ein, indem er deutlich macht („Wann“), dass er nur an der Nennung eines Zeitpunkts interessiert ist, die Veröffentlichung selbst aber voraussetzt, indem er das entsprechende Handeln der Unternehmensleitung („werden [...] veröffentlicht“) an sich als Präsupposition äußert. Obwohl in dem Chat, dem das Beispiel „Führungsgrundsätze“ entnommen ist, nur wenige Fragen gestellt werden, bleibt die Frage während des Chats unbeantwortet und der Mitarbeiter unternimmt auch keinen weiteren Versuch, eine Antwort zu erhalten. Die ausbleibende Antwort mag darauf zurückzuführen sein, dass Fragen zu Richtlinien nicht unbedingt aus dem Stegreif beantwortet werden können und der Anspruch, darauf eine Antwort zu bekommen, zu hoch gegriffen ist. Da der Mitarbeiter überhaupt keine Antwort bekommt, ist es aber auch möglich, dass die Unternehmensleitung seine Frage übersehen hat. Bemerkenswert ist jedoch, dass der Mitarbeiter nicht weiter nachfragt, so dass ihm möglicherweise bewusst ist, dass die Unternehmensleitung nicht alle gewünschten Informationen herausgeben kann und will. Responsivität Den Begriff Responsivität verwende ich nach Schwitalla (1993) als funktionale Kategorie zur Beschreibung eines interaktionalen Vorgangs, bei dem ein Sprecher im Diskurs formal und inhaltlich auf einen anderen Diskursbeitrag Bezug nimmt. Wie im Beispiel „Führungsgrundsätze“ fragen die meisten Mitarbeiter nicht weiter nach, sowohl nach erhaltener wie auch bei ausbleibender Antwort. Deshalb bestehen die meisten Frage/ Antwort-Sequenzen aus nur einem Paar. Längere Sequenzen entstehen selten und nur, wenn die Zielsetzung des Mitarbeiters ist, Erklärungen einzuholen, um komplexe Sachverhalte oder Zusammenhänge zu verstehen, für die Nachfragen nötig sind. Das sind dann Bestätigungsfragen mit der Funktion, Perspektivenkonvergenz herzustellen oder anderen Chat- Teilnehmern die eigene Perspektive zu vermitteln. Die Verständnisfrage enthält <?page no="293"?> Bevorrechtigung in Fragen 279 daher meistens eine Aufforderung zu Responsivität wie im Beispiel „Eine der schwersten Fragen“. Eine der schwersten Fragen (Auszug) 137 MA1 Hr. [Vorstand] und ich glaube die Top Ebene braucht hin und wieder Feedback von inz. Mitarbeiter über seine Führung? ! Die Basis (zufriedene u. motivierte Mitarbeiter) ist doch die Zukunft, oder wie sehen Sie das? 138 V 100 % richtig. Daher mache ich einmal pro Monat Sitzung mit Newcomern, Abschlussdiskussionen bei Seminaren und gehe auch zu Einheiten, die mich direkt einladen. Letzteres könnte auch mehr sein. Die Mitarbeiterin fordert den Vorstand auf, ihre Frage zu beantworten und auch inhaltlich Bezug zu nehmen („oder wie sehen Sie das? “). Ihre Absicht ist, Bestätigung für ihre Sichtweise („die Top Ebene braucht hin und wieder Feedback von inz. Mitarbeiter über seine Führung“) zu erhalten und ihre Interessen durchzusetzen („Die Basis (zufriedene u. motivierte Mitarbeiter) ist doch die Zukunft“). Rhetorische Fragen sind im Chat eine wiederholt auftretende Form, die Unternehmensleitung zur Responsivität aufzufordern, meist mit der Absicht, Unterstützung für die eigene Sichtweise zu bekommen. Im Beispiel „Eine der schwersten Fragen“ eröffnet der Vorstand seinen Beitrag dann auch mit der eingeforderten Responsivität („100 % richtig. Daher […]“). Obwohl bei Fragen Responsivität zu erwarten ist, behandle ich das Merkmal explizit, da die Mitglieder der Unternehmensleitung häufig die Antwort auf die Frage eines Mitarbeiters so formulieren, als ob sie an alle Chat-Teilnehmer gerichtet sei, und somit Responsivität als Bezugnahme auf die individuelle Frage eines Mitarbeiters in ihren Antworten teilweise vollständig vermeiden. Das führt zu Nachfragen, da den Mitarbeitern die Frage nicht individuell genug beantwortet war. Bei allgemein gehaltenen Fragen kann das so weit führen, dass die Unternehmensleitung nur inhaltlich, aber nicht responsiv auf die Frage Bezug nimmt, so dass die Mitarbeiter mitunter, wie im Beispiel „Internetprodukte“, die Antwort nicht als solche erkennen. Internetprodukte 111 MA Guten Tag zusammen. Mich würde interessieren, inwiefern die Telekom eventuell dazu übergeht, konkurrenzfähige Internetprodukte anzubieten, oder ob da eher eine ‘altertümlichen‘ Einstellung angenommen wird nach dem Grundsatz ‘never touch a running system‘ egal, wie langsam oder veraltet.. 112 V Bin seit Jahrzehnten [Produkt] User. Heute mit [Nachfolgeprodukt]. Bin super zufrieden. Sehr stabil und schnell. Welche Produkte haben Sie im Auge? <?page no="294"?> 280 Die Teilhabe der Mitarbeiter 145 MA Im Vergleich Frage-Antwort wurde meine letzte Frage schlichtweg übergangen. Unabhängig davon bedanke ich mich im Rahmen der Chatiquette herzlich für die gegebenen Antworten und wünsche allen Beteiligten ein schönes Wochenende und einen schönen Arbeitsausklang am heutigen Tage. Ich muss mich wieder meiner Arbeit widmen. Der Mitarbeiter bezieht in seine Gesprächseröffnung zwar alle Chat-Teilnehmer mit ein („Guten Tag zusammen“), aus dem Wissensanspruch seiner Alternativfrage geht aber hervor, dass er die Frage an die Unternehmensleitung adressiert („die Telekom […] dazu übergeht“). Der Vorstand antwortet mit einer persönlichen positiven Bewertung des maßgebenden Internetprodukts, das das Unternehmen anbietet („Bin seit Jahrzehnten [Produkt] User. Heute mit [Nachfolgeprodukt]. Bin super zufrieden. Sehr stabil und schnell.“). Möglicherweise will er damit ausdrücken, dass das Produkt, obwohl es lange am Markt ist („seit Jahrzehnten“), dennoch wettbewerbsfähig ist („Bin super zufrieden.“). Es ist anzunehmen, dass der Mitarbeiter die Antwort des Vorstands nicht als Antwort auf seine Frage erkannt hat, da er im weiteren Verlauf des Chats einen weiteren Beitrag sendet, in dem er sich darüber beschwert, keine Antwort auf seine Frage bekommen zu haben (Beitrag 145). Nachdem der Vorstand bereits in dem auf seine Frage folgenden Beitrag geantwortet hat, ist nicht davon auszugehen, dass der Mitarbeiter den Beitrag 112 übersehen hat, vielmehr hat er den Beitrag des Vorstands nicht als Antwort auf seine Frage erkannt. Dafür kommen verschiedene Ursachen in Frage. Der Vorstand hat seine Antwort nicht explizit an den Mitarbeiter adressiert und seine Rezeption der Kritik des Mitarbeiters nicht explizit thematisiert. Im Wesentlichen aber hat der Vorstand die Wissensstruktur des Mitarbeiters falsch eingeschätzt. Es ist davon auszugehen, dass der Vorstand mit dem Schlagwort „Internetprodukte“ die unternehmenseigene Produktgruppe verbindet, mit der das Unternehmen in den vergangenen Jahren so außergewöhnlich großen wirtschaftlichen Erfolg hatte, dass eine eigene Unternehmenssparte für dessen Vermarktung gegründet wurde. Dagegen ist es naheliegend, dass der Mitarbeiter mit „Internetprodukte“ die Produkte meint, die aktuell auf den Markt gekommen sind, da er diese von den gängigen Produkten abgrenzt („konkurrenzfähige Internetprodukte“, „veraltet“). Die Beiträge 111 und 112 beziehen sich folglich auf unterschiedliche Wissensstrukturen, so dass die Assertion in Beitrag 112 für den Mitarbeiter nicht als Antwort auf die Frage in Beitrag 111 gelten kann. Im Gegensatz zum erwarteten propositionalen Gehalt von Antworten auf Bestätigungsfragen erwarten die Mitarbeiter, wie im Beispiel „Unternehmenskultur“, in Antworten auf Ergänzungsfragen nur Responsivität in dem Sinne, dass auf ihre Frage eingegangen wird, ohne konkrete Erwartungen, welche Inhalte die Antwort haben und welche ihrer Interessen sie bedienen soll. <?page no="295"?> Bevorrechtigung in Fragen 281 Unternehmenskultur 95 MA Wie würden Sie sich die Unternehmenskultur in Zukunft wünschen? Der Mitarbeiter fordert durch seine Ergänzungsfrage zwar Responsivität ein, stellt die Frage aber offen („Wie“), so dass die Einforderung von Informationen zur angestrebten Entwicklung der Unternehmenskultur intendiert ist. Die Unternehmensleitung wird aber nicht dazu gedrängt, den Ansichten des Mitarbeiters zuzustimmen (Beitrag 137), wie im eingangs des Kapitels angeführten Auszug aus dem Beispiel „Eine der schwersten Fragen“. Ergänzungsfragen, die Responsivität einfordern, zielen auf das Verstehen von Zusammenhängen ab, ohne unerwünschte Antworten auszuschließen. Da die Mitarbeiter mit den Ereignissen im Unternehmen ein Eigeninteresse verbinden und bestimmte Antworterwartungen an die Unternehmensleitung haben, kommen Ergänzungsfragen dann vor, wenn der Mitarbeiter noch keine eigenen Vorstellungen von den thematisierten Sachverhalten hat. Die Antworten der Unternehmensleitung Inhaltlich haben die Antworten der Unternehmensleitung durchwegs Reaktionen gemeinsam, die auf eine Berücksichtigung der Wissensstrukturen und der mental actions der Mitarbeiter hinweisen (Abb.-33). Sie weisen folgende Merkmale auf: • Zeitlich verzögerte Antwort, wobei die Antwort noch im Verlauf des Chats gegeben werden kann (kurze Dauer der Verzögerung durch die technische Infrastruktur des Chats und die Produktionszeit der Antwort) oder asynchron per E-Mail oder Intranet übermittelt wird (lange Dauer der Verzögerung durch hohes Aufkommen von Fragen im Chat) • Weitergabe von Information als Antwort auf die Ergänzungsfrage eines Mitarbeiters • Darstellung von Sachverhalten aus der Perspektive der Unternehmensleitung als Bestätigung des Beitrags eines Mitarbeiters oder abweichend von der Darstellung eines Mitarbeiters • Nichtbeantwortung einer nicht opportunen Frage in Form von Zurückweisen der Frage, offensichtlich ausweichender Antwort, verdeckt ausweichender Antwort oder expliziter Nichtbeantwortung Am häufigsten werden Informationen gegeben, die die Mitarbeiter während des Chats nachfragen. Im oben aufgeführten Auszug aus dem Beispiel „Eine der schwersten Fragen“ beantwortet der Geschäftsführer die Frage der Mitarbeiterin. Darüber hinaus informiert er umfassend über Maßnahmen der Mitarbeiterinformation. Die Vorgehensweise, konkrete Fragen zunächst individuell zu beantworten und anschließend generelle Informationen anzuhängen, wird <?page no="296"?> 282 Die Teilhabe der Mitarbeiter von der Unternehmensleitung wiederholt gewählt (Beispiele „Konsolidierung“, „Eine der schwersten Fragen“, Beiträge 34, 126 und 138). Das weist darauf hin, dass die Beiträge an einen größeren Rezipientenkreis gerichtet sind. Dieser umfasst alle Chat-Teilnehmer unter Einbeziehung der Teilnehmer, die andere Fragen gestellt haben, der Lurker und der Mitarbeiter, die den Chat nach Ablauf asynchron im Intranet rezipieren. Zeitlich verschleppte Antworten kommen durch technische Schwierigkeiten und die Vielzahl der Anfragen an die vergleichsweise wenigen Mitglieder der Unternehmensleitung zustande. Die zunächst fehlenden Antwort-Beiträge sind vor allem hinsichtlich der Reaktionen und Interpretationen der Mitarbeiter interessant. Eine typische Reaktion der Mitarbeiter zeigt das in Kapitel 1.3. ausführlich besprochene Beispiel „Viele Fragen“. Viele Fragen 281 MA1 Wo ist Herr [Vorstand]. Ich dachte dies ist ein Chat und keine Datensenke? 284 MA2 Hallo Herr [Vorstand], wir haben viele Fragen an Sie und die GF, welche haben Sie umgekehrt an uns Mitarbeiter oder konkret mich? 286 MA3 MA1, es braucht viel zeit......... 289 MA1 Herr [Vorstand] nahm ReisAus? 291 MA4 Hat die GF aufgrund der Fülle der Fragen den Chat verlassen ? 292 MA2 oder magels antworten? Die Sequenzen des Beispiels „Viele Fragen“ folgen auf eine größere Zahl Beiträge von Mitarbeitern, die ohne Reaktion des Vorstands geblieben sind, wobei, wie aus dem vorausgehenden Beispiel „Serverprobleme“ (Kap.-6.2.4.1.) zu entnehmen ist, ein Geschäftsführer die Mitarbeiter darüber informiert, dass der Vorstand wegen technischer Schwierigkeiten mit der technischen Infrastruktur nicht teilnehmen kann. Die Mitarbeiter kritisieren den Vorstand dafür und interpretieren das Fehlen der Antworten als absichtsvolle Reaktion. Damit ignorieren sie das Wissenselement, aus welchem Grund der Vorstand nicht im Chat anwesend ist, und nennen, vorgeblich auf der Suche nach Gründen für seine Abwesenheit, abschätzige Möglichkeiten („Datensenke“, „es braucht viel zeit“, „nahm ReisAus“, „aufgrund der Fülle der Fragen den Chat verlassen“, „magels antworten“). Hinsichtlich des Umstands, dass die Mitarbeiter bereits thematisierte Unterstellungen mehrfach wiederholt äußern, bildet das Beispiel „Viele Fragen“ einen Sonderfall. Fragen der Mitarbeiter, die eine Behauptung enthalten oder implizieren, führen regelmäßig dazu, dass die Unternehmensleitung die Situation aus ihrer eige- <?page no="297"?> Bevorrechtigung in Fragen 283 nen Sicht darstellt. Soweit die Sicht der Mitarbeiter mit der Sicht der Unternehmensleitung übereinstimmt, wirkt die Darstellung als Bestätigung des Beitrags eines Mitarbeiters, wie im Beispiel „Konsolidierung“ deutlich wird. Konsolidierung 11 MA Guten Morgen Herr [Vorstand], in der Branche hört man derzeit viel von Konsolidierung. Dennoch hält [Unternehmenssparte] an den Wachstumszielen fest. Können wir uns positiv von der allgemeinen Marktentwicklung abkoppeln? 12 V Die Marktentwicklung macht mir auch Sorgen. Bisher haben wir uns dagegen gut behaupten können. [Es folgt eine Einschätzung der einzelnen Geschäftsbereiche] Der Mitarbeiter greift eine aktuell in seiner Branche kursierende Wahrnehmung auf („hört man derzeit viel“), die ihm im Hinblick auf die tatsächlich bestehende Situation nicht plausibel erscheint („Dennoch“). Aus der angeschlossenen Ergänzungsfrage, in der er versucht, seine Wahrnehmung der Ereignisse in der Branche und im Unternehmen schlüssig zu verbinden („Können wir uns […] abkoppeln? “), lässt sich entnehmen, dass er den Wahrheitsgehalt des Gerüchts gleich hoch einschätzt wie die Aufrichtigkeit der Unternehmensleitung bei der Herausgabe der Unternehmensziele. Auf die Frage des Mitarbeiters antwortet der Vorstand mit einer Zustimmung („mir auch“), die den Mitarbeiter in seiner Sichtweise bestätigt. Er geht auf die Bedenken des Mitarbeiters zur Zielerreichung näher ein und fügt allgemein formulierte Ausführungen zur Einschätzung der einzelnen Geschäftsbereiche an, die an alle Chat-Teilnehmer adressiert sind. Wie bei der Darstellung einer Situation die Vorstellungen des Mitarbeiters davon abweichen können, wie die Unternehmensleitung diese Situation bewertet, zeigt das Beispiel „Technologieführerschaft“. Technologieführerschaft 15 MA Wie erklären wir unseren Kunden unsere Technologieführerschaft, wenn wir intern ein bis zwei Technologiegenerationen nachhinken […]? 15 GF Mit der Ausrollung der Standardarbeitsplätze im 1. Quartal [Zahl] machen wir einen Sprung auf die aktuelle Technologie. Grundsätzlich muss jedoch angemerkt werden, dass wir auf eine Balance zwischen Wirtschaftlichkeit und Aktualität achten müssen. <?page no="298"?> 284 Die Teilhabe der Mitarbeiter Mit der Beschreibung zukünftiger Maßnahmen („im 1. Quartal [Jahr]“) macht der Geschäftsführer die dann geltenden Bedingungen zum Gegenstand der Diskussion. Er bewertet die Situation nach anderen Kriterien und setzt in seiner Darstellung andere Schwerpunkte als der Mitarbeiter, wie in Kap.-5.3.1. ausführlich im Hinblick auf die Einstellungen und Interessen der Interaktanten beschrieben. Sachlich nicht opportune Fragen Im Folgenden sollen ein Überblick über die Fragen im vorliegenden Datenkorpus, die die Unternehmensleitung als sachlich nicht opportun bewertet, gegeben und anschließend Beispiele dazu analysiert werden. Als sachlich nicht opportune Fragen sind diejenigen Fragen zusammengefasst, die Informationen zum Gegenstand haben, die der Geheimhaltungspflicht unterliegen. Das Bewahren der Information hat damit höhere Priorität als die Erfüllung des interaktionalen Musters. Diese Priorisierung wird auch von den Mitarbeitern thematisiert. Die Beantwortung einer sachlich nicht opportunen Frage findet sich in keinem Beispiel, dagegen kommt die Nichtbeantwortung dieser Fragen in Form von verschiedenen Sprachhandlungen vor. Häufig festzustellen ist das Zurückweisen, das offen oder verdeckt vorkommt, sowie ausweichende Antworten, die die Frage absichtlich falsch interpretieren. Die durchgängige Verweigerung der inhaltlichen Beantwortung sachlich nicht opportuner Fragen liegt daran, dass die Machtverhältnisse umgekehrt zum Fragerecht laufen. Die Mitarbeiter haben zwar die Bevorrechtigung zu Fragen, aber keine hierarchische Macht, die ihnen erlauben würde, Nichtbeantwortung wirkungsvoll zu sanktionieren. Da die Fragen der Mitarbeiter nicht durch tatsächliche hierarchische Macht gestützt sind, kann ein Mitarbeiter die Beantwortung einer nicht opportunen Frage nicht erzwingen. Das Zurückweisen einer sachlich nicht opportunen Frage kommt immer dann vor, wenn die Frage höflich und sachlich gestellt ist, und somit keine Antwort eingefordert wird, die den Antwortenden in eine defensive Antwortsituation bringt. Im Beispiel „Schlüsselthemen“ fordern mehrere Mitarbeiter Antworten ein, die eine interaktive Bearbeitung erfordern würden, die im Chat nicht geleistet werden kann. Als die Forderung nach Beantwortung der Frage vom Moderator wiederholt wird, weist der Geschäftsführer die Frage zurück. Schlüsselthemen 127 GF Hinweis an Moderator zum Thema ”Schlüsselthemen“: Dies kann man schlecht im Chat. Hier ist eine transparente und offene Diskussion vonnöten. Ideal dazu wäre ggf. ein MA-Kickoff [Jahr].. Die Zurückweisung der Frage bezieht sich ausschließlich auf die Diskussion im Chat, da dieser als ungeeignetes Medium dafür angesehen wird („Dies kann <?page no="299"?> Bevorrechtigung in Fragen 285 man schlecht im Chat.“). Die Assertion wird, um Glaubwürdigkeit zu erreichen, durch eine Begründung („Hier ist eine transparente und offene Diskussion vonnöten.“) und den Vorschlag eines alternativen Diskussionsmediums („MA- Kickoff [Jahr]“) ergänzt. Die Begründung impliziert, dass im Chat keine „transparente und offene Diskussion“ möglich ist; eine Einschätzung, die möglicherweise auf die Situation zurückzuführen ist, dass die meisten Chat-Teilnehmer anonym chatten. Dagegen werden Fragen, die die Geheimhaltungsverpflichtung tangieren, offen zurückgewiesen, wie im Beispiel „Speculation”, da die gefragte Information aus rechtlichen Gründen der Öffentlichkeit auf dem offiziellen Weg übermittelt werden muss. Eine vergleichbare Situation zeigt das Beispiel „Größere Kunden“ (Kap.-6.2.1.4.), in dem die Unternehmensleitung darauf hinweist, dass die entsprechenden Informationen noch nicht öffentlich gemacht werden können. Speculation 22 MA We‘ve heard that M.[Vorstand] could possibly be leaving the head of [Unternehmenssparte]. Could you confirm ? What‘s the situation ? 22 MR We should not be part of this speculation. Eine offen ausweichende Antwort in Form einer Gegenfrage zeigt das Beispiel „Umstrukturierung“. Umstrukturierung 212 MA Guten Tag ich hätte gerne gewusst ob die Umstrukturierung der HelpLine in der [Organisationseinheit] solange dauert bis die letzten motivierten Mitarbeiter wieder zur Telekom Mutter zurückgegangen sind. Siehe im Moment massenhafte Flucht von [Organisationseinheit] Mitarbeitern im Bereich Mittelrhein-: 212 GF Welche Antwort hätten Sie denn gerne? Aber ernsthaft: Wenn es dort zu einem Problem kommt, bitte an das zuständige Management wenden. Falls nicht erfolgreich, bitte noch einmal eine Mail an mich senden. Mit der Gegenfrage weicht der Geschäftsführer der Frage aus und wechselt auf die Metaebene, indem er die Fragestrategie des Mitarbeiters thematisiert („Welche Antwort hätten Sie denn gerne? “). Er legt sein Ausweichen offen („Aber ernsthaft“) und gibt für die sachlichen Inhalte der Frage eine Antwort, indem er dem Mitarbeiter eine Vorgehensweise vorschlägt. Auf dieser Ebene bietet er auch eine Fortsetzung des Gesprächs an („bitte noch einmal eine Mail an mich senden“). Der Geschäftsführer trennt damit die durch Übertreibungen provo- <?page no="300"?> 286 Die Teilhabe der Mitarbeiter zierend wirkenden Vorwürfe des Mitarbeiters („die letzten motivierten Mitarbeiter“, „massenhafte Flucht von [...] Mitarbeitern“), denen er ausweicht, vom sachlichen Inhalt. Dagegen ist die scherzhafte Antwort im Beispiel „Personalzahlen“ verdeckt ausweichend. Personalzahlen 23 MA Freiwillige Kür für alle [Leiter Organisationseinheiten]: ; -(( Wie lauten die letzten, Ihnen bekannten Planungen oder Vorgaben von ”Personalzahlen“ in den einzelnen [Organisationseinheit]´s der [übergeordnete Organisationseinheit]? 23 BL 60-80-60 .-) Der Mitarbeiter fragt eine Information nach, deutet aber durch die Eingangsformulierung („freiwillige Kür“) und ein Emoticon <; -((> an, dass er nicht wirklich eine Antwort erwartet. Die Frage ist zunächst zwar durch die Adressierung und die detaillierte Frageformulierung hoch responsiv („für alle [Leiter Organisationseinheiten]“, „Wie lauten“), doch die Responsivität wird wieder abgeschwächt, indem der Mitarbeiter durch den Einschub „Ihnen bekannten“, der einen Verweis auf die Unternehmensleitung offen lässt, in Betracht zieht, eine ausweichende Antwort zu erhalten. Die Frage ist insofern obsolet, als die Bereichsleiter nicht befugt sind, im Vorgriff auf offizielle Ankündigungen die gefragte Information mitzuteilen. Durch die angebotenen Ausweichmöglichkeiten ist die Frage höflich, und entsprechend kooperativ fällt die Antwort aus. Die Zahlen können zwar, unabhängig davon, ob sie dem Antwortenden bekannt sind, nicht herausgegeben werden, der homileiische Ton wird jedoch mit einer mehrdeutigen Antwort aufgegriffen, die an Wettkampfdaten oder Modelmaße anlehnt, verbunden mit einem Emoticon <.-)>, das den Beitrag als Scherz kennzeichnen soll. Fragen, die explizit ohne Antwort bleiben, treten in der Chat-Kommunikation üblicherweise nicht auf. In den meisten Chatformen gibt es keine Zuweisung von Beiträgen und die Teilnehmer sind nicht an bestimmte Gesprächsstränge gebunden. Folglich spielt das explizite Ignorieren von Beiträgen, wie es in den einander zugeordneten Fragen und Antworten des Chat-Typs 2 (Kap.-4.2.) möglich ist, in der Chat-Kommunikation eine bedeutendere Rolle als in anderen Kommunikationsformen. Im vorliegenden Korpus sind Zuweisungen des Schreibrechts auf der Ebene der Gesprächsorganisation als organisationsbedingter Sonderfall möglich (Kap.- 1.3.). Da in den Chats des Chat-Typs 2 die Beiträge der Mitarbeiter und der Unternehmensleitung graphisch nebeneinander stehen und dadurch einander zugeordnet sind, werden damit fehlende Antworten augenfällig. Es führt zu anderen Reaktionen, wenn Fragen zwischen den <?page no="301"?> Bevorrechtigung in Fragen 287 Gesprächssträngen „untergehen“, als in Chats mit fortlaufender Auflistung der Beiträge nach dem Mühlen-Prinzip. Damit wird die explizite Nichtbeantwortung von Fragen zur interaktionalen Handlung. Die Reaktionen der Mitarbeiter für Nichtbeantwortungen aufgrund technischer Schwierigkeiten zeigen die Beispiele „Serverprobleme“ in Kap.- 6.2.1.4. und „Viele Fragen“ in Kapitel 5.3.3. Nichtbeantwortungen wegen eine hohen Aufkommens an Fragen werden von den Mitarbeitern nicht weiter beachtet. Das Beispiel „Eine der schwersten Fragen“ als komplexe Ausprägung des Gesprächstyps Befragung Die komplexeren Ausprägungen des Gesprächstyps Befragung bestehen aus der Aneinanderreihung einer größeren Anzahl Frage/ Antwort-Sequenzen. Nachfolgend soll das Beispiel „Eine der schwersten Fragen“ hinsichtlich des Gesprächstyps Befragung analysiert werden. Eine ausführliche allgemeine Untersuchung des Beispiels wurde in Kap.-5.1.1. vorgenommen. Eine der schwersten Fragen 7 MA Thema national. Herr [Vorstand] sieht es ihr Terminkalender dieses Jahr vor, die lokalen Rechenzentren zu besichtigen, z. B. [Ort]/ Hamburg ? 8 V Eine der schwersten Fragen. Komme gerne nach Hamburg (meine Frau ist Hamburgerin). Werde Frau [Sekretärin] bitten, sich dieser Frage positiv zu widmen. 33 MA Welchen Wahrheitsgrad hat das Gerücht, EDS würde Anteile der [Unternehmenssparte] übernehmen? 34 UL An dem Gerücht ist überhaupt nichts dran. EDS hätte natürlich gern eine [Unternehmenssparte] in ihrem Portfolio. Es bestehen jedoch keinerlei Überlegungen oder Pläne in dieser Richtung. Die [Unternehmenssparte] ist eine wesentliche strategische Waffe der Deutschen Telekom für die Wettbewerbssicherung. Dies wird auch von Herrn [Vorstandsvorsitzender] immer wieder herausgestellt. 43 MA Beitrag 32: Gerade in der [Organisationseinheit] haben die MA die Motivation und Interesse am Unternehmen; manchmal vermissen viele Kollegen und ich eine klare transparente Führung oder sind wir einfach zu groß? 44 V Könnten Sie bitte Ihre Frage ein bisschen präzisieren? Was fehlt Ihnen? Gesamtsicht, Gesamtstrategie? 125 MA Hr. [Vorstand], ich mag noch mal ergänzen - der Eindruck zum Führungsstil bezog sich auf das Middle Management nicht die Top Ebene! <?page no="302"?> 288 Die Teilhabe der Mitarbeiter 126 V Kann ich gut verstehen. Das leidige Thema, dass manche Kolleg(inn)en Angst vor Veränderungen haben, weil ihr Verantwortungsbereich kleiner werden könnte. Ich verstehe das zwar menschlich, habe aber selber nie danach gehandelt; es ging mir nicht schlecht dabei. Hier hilft bei dauerhafter Verweigerung nur das Mail an Top-Management, im negativsten Fall auch anonym (aber sachlich). 137 MA Hr. [Vorstand] und ich glaube die Top Ebene braucht hin und wieder Feedback von inz. Mitarbeiter über seine Führung? ! Die Basis (zufriedene u. motivierte Mitarbeiter) ist doch die Zukunft, oder wie sehen Sie das? 138 V 100 % richtig. Daher mache ich einmal pro Monat Sitzung mit Newcomern, Abschlussdiskussionen bei Seminaren und gehe auch zu Einheiten, die mich direkt einladen. Letzteres könnte auch mehr sein. 151 MA Hr. [Vorstand], deswegen ‚sehne‘ ich mich nach einem Gespräch mit Ihnen in Ort (meinethalben mit Hr. [Vorgesetzter]) : 152 V Wie gesagt: Anfordern über Frau [Sekretärin]. Möglichst gute Inhalte angeben, damit ich auch vorbereitet komme und richtigen Kreis zusammenstellen. [Ort] lockt. 177 MA Vielen Dank für die Diskussion Hr. [Vorstand], ich werde Frau [Sekretärin] eine Mail schreiben, muss wieder schaffen gehen. 178 V Frohes Schaffen und schönes Wochenende. Das Beispiel „Einer der schwersten Fragen“ besteht aus einer Aneinanderreihung von Beiträgen zu einer Frage/ Antwort-Sequenz, wobei die Fragen abgesehen von einer Rückfrage des Vorstands von der Mitarbeiterin gestellt werden, die damit jedes Paar der paarig auftretenden Beiträge innerhalb der Frage/ Antwort-Sequenz initiiert. Ein Überblick über die Struktur der Sequenz ist in Abb.-34 als Ablaufstruktur dargestellt. Die Beiträge 43, 44 und 125, 126 bilden zwei Paare, die sich thematisch überlagern, da der Vorstand zum Zweck der Rezipientenkontrolle eine Nachfrage äußert, um sich über sein Verständnis des vorangegangenen Beitrags der Mitarbeiterin zu vergewissern. Der Vorstand eröffnet seine Beiträge grundsätzlich mit Responsivität und der Anteil der Antworten, mit denen er individuell auf die Anliegen der Mitarbeiterin eingeht, ist im Vergleich zu anderen Antworten hoch. In den Beiträgen 34, 126 und 138 weisen die Informationen des Vorstands Responsivität auf, sind aber so allgemein formuliert und auf ein allgemeines Interesse ausgerichtet, dass die Informationen wahrscheinlich zugleich an alle Mitarbeiter gerichtet sind. So fügt er in Beitrag 34 der individuellen Antwort auf die Frage der Mitarbeiterin noch allgemeine Ausführungen an („Die [Unterneh- <?page no="303"?> Bevorrechtigung in Fragen 289 Abb.-34: Ablaufstruktur des Beispiels „Eine der schwersten Fragen“ <?page no="304"?> 290 Die Teilhabe der Mitarbeiter menssparte] ist eine wesentliche strategische Waffe der Deutschen Telekom für die Wettbewerbssicherung. Dies wird auch von Herrn [Vorstandsvorsitzender] immer wieder herausgestellt.“), die offensichtlich allgemein verbreitet werden („immer wieder“). Inhaltlich hat die Mitarbeiterin das Anliegen, bessere Informationen von ihrem Vorgesetzten zu bekommen, und versucht, dieses Anliegen durchzusetzen, ohne es direkt zu thematisieren. Dazu versucht sie zunächst, sich Informationen vom Vorstand zu beschaffen (Beiträge 7 und 33), die ihr Anliegen betreffen, indem sie jeweils mit einer Bestätigungsfrage die Gelingensbedingungen für ihr Anliegen abfragt. Eine umschreibende Thematisierung ihres Anliegens, bessere Informationen zu bekommen, folgt erst in den Beiträgen 43, 125 und 137. Dazu weist die Mitarbeiterin mit ihren Anliegensformulierungen („vermissen […] eine klare transparente Führung“ in Beitrag-43 und „die Top Ebene braucht hin und wieder Feedback“ in Beitrag 137), auf die Relevanz der Mitarbeiter für das Unternehmen hin und greift zur Verstärkung auf eine Kontrastbildung zurück, indem sie die Mitarbeiter der Basis („viele Kollegen und ich“) den Führungskräften gegenüberstellt. Zur Verständigungssicherung äußert der Vorstand in Beitrag 44 eine Rückfrage und bildet dazu einen Frageterm. Darin fordert er die Mitarbeiterin zu einer Reformulierung ihrer Frage auf („Könnten Sie bitte Ihre Frage ein bisschen präzisieren? “) und stellt nach einer aktionsbezogenen Rückfrage („Was fehlt Ihnen? “) (Kindt/ Rittgeroth 2009, 219) eine weitere Rückfrage, die eine Antwortpräferenz enthält („Gesamtsicht, Gesamtstrategie? “) (Kindt/ Rittgeroth 2009, 222). Die Mitarbeiterin äußert ihre Darstellung als reparatives Handeln aufgrund der Nachfrage des Vorstands (Beitrag 44) noch einmal in Beitrag 125 als Reformulierung in der Funktion eines Reparaturhandelns zur Verständnissicherung (Steyer 1997, 66), wobei sie eine Selbstkorrektur vermeidet („ich mag noch mal ergänzen“). Der Vorstand greift die Darstellung der Mitarbeiterin in Beitrag 126 auf und bestätigt den Kontrast mit einer Generalisierung („Das leidige Thema“), die er mit einer offensichtlichen Konzession („manche Kolleg(inn)en“) absichert. In einer weiteren Anliegensformulierung und anschließenden verständnissichernden Sprachhandlung in Beitrag 137 stellt die Mitarbeiterin noch einmal die Unternehmensleitung und die Mitarbeiter als solidarisierende Gruppen dar, die sich über die Führungskräfte austauschen. Der Vorstand bestätigt die Mitarbeiterin in Beitrag 138 weiterhin mit einer verständnissichernde Handlung, wobei er seine Äußerung durch die Angabe von Beispielen („Daher mache ich einmal pro Monat Sitzung mit Newcomern, Abschlussdiskussionen bei Seminaren und gehe auch zu Einheiten, die mich direkt einladen.“) unterstreicht. In Beitrag 151 begründet die Mitarbeiterin ihr Hilfeersuchen mit einer konkreten Nachfrage nach Handlungen außerhalb des Chats, indem sie nach einem <?page no="305"?> Bevorrechtigung in Fragen 291 Gesprächstermin mit dem Vorstand an ihrem Arbeitsort fragt. Nachdem der Vorstand den Termin, nach der Bestätigung in Beitrag 8 („Werde Frau [Sekretärin] bitten, sich dieser Frage positiv zu widmen.“), in Beitrag 152 wiederholt im Rahmen einer erweiterten Grußformel zusagt („Wie gesagt: Anfordern über Frau [Sekretärin].“) und die Zusage durch weitere Maßnahmenplanung bekräftigt, ist das Anliegen der Mitarbeiterin offensichtlich erfolgreich abgeschlossen. Es folgen von beiden Seiten noch Grußformeln zur Gesprächsbeendigung. Die Grußformel der Mitarbeiterin ist deutlich erweitert, um das gute Einvernehmen mit dem Vorstand noch einmal zu bekräftigen („Vielen Dank für die Diskussion Hr. [Vorstand]“) und die Initiierung der außersprachlichen Handlungen nochmals zu bestätigen („ich werde Frau [Sekretärin] eine Mail schreiben“). Dazu versucht sie auch, in die Perspektive des Vorstands zu wechseln, indem sie mit der Ankündigung von Arbeitshandlungen einen guten Eindruck machen möchte („muss wieder schaffen gehen“) und dem Diskurs mit dem Vorstand mit der Bezeichnung „Diskussion“ besondere Wertigkeit verleihen will. Die Mitarbeiterin war damit mit ihrem Anliegen erfolgreich, dem Vorstand vor Ort in ihrer Niederlassung kritisch über das Verhalten ihres Vorgesetzten zu berichten, , ohne ihre Kritik am Vorgesetzten explizit zu thematisieren. Vielmehr thematisiert sie nur ihr Anliegen (Beiträge 43 und 137), äußert die Kritik an ihrem Vorgesetzten, aus der ihr Anliegen resultiert, aber nicht explizit. Es kommt deshalb nicht zu einer Argumentation (Kap.- 5.1.1.) und es wird sich erst bei dem Besuch des Vorstands in der Niederlassung für die Mitarbeiterin herausstellen, ob der Vorstand die Situation in ihrem Sinne verändern wird. Becker-Mrotzek/ Brünner stellen für einen empirischen Beleg fest, der von den Interaktanten als Bitte und Angebot bezeichnet wird: Die einladende Gruppe macht ihr Anliegen nicht explizit. […] Diskursanalytisch gesprochen handelt es sich also weder um eine Bitte noch um ein Angebot, sondern um den Einstieg in Verhandlungen über neue Arbeitsverfahren. Genau das wird aber an keiner Stelle gesagt, so dass es zu keiner Verhandlung kommen kann. […] Gerade die scheinbar konfliktvermeidende Strategie, das Anliegen „vorsichtig“, d. h. nicht klar zu formulieren, führt im Ergebnis dazu, dass die kollegialen Beziehungen nach dem Gespräch belasteter sind als vorher. (Becker-Mrotzek/ Brünner 1999, 182) Offensichtlich entscheiden sich Interaktanten in Unternehmen mitunter dafür, thematisch vage zu bleiben, bevor sie einen Konflikt im Gespräch riskieren. Für die vorliegenden Chats bedeutet das, dass neben der Untersuchung des Nutzens der Chats auch weitergehende Untersuchungen vorgenommen werden sollten, z. B. wie die Mitarbeiter im Nachgang zu ihrer Chat-Beteiligung mit den im Chat erhaltenen Informationen weiterverfahren. <?page no="306"?> 292 Die Teilhabe der Mitarbeiter 6.3.2 Die ambivalente Macht durch Fragen 6.3.2.1 Verteilung von Fragerecht und Macht Das Fragerecht ist in den vorliegenden Chats das bevorzugte Instrument zur Durchsetzung von Macht und wird vor allem von den Mitarbeitern angewandt. Macht tritt dabei als interaktionelle Dominanz auf, die besonders durch directing moves 80 in Form von Fragen ausgeübt wird. Das Fragerecht ist für die Mitarbeiter die einzige Möglichkeit der Machtausübung, die der hierarchischen Macht der Unternehmensleitung entgegensteht. Die Macht der Mitarbeiter besteht in der Darstellung von Sachverhalten aus ihrer Perspektive, auf ihren Einstellungen und Interessen basierend sowie der Möglichkeit, mit Fragen die Stellungnahme der Unternehmensleitung einzufordern. Die Ursache dafür, dass das Fragerecht in der Chat-Kommunikation zur Machtfrage wird, sind unterschiedliche und teilweise unklare Bevorrechtigungen für das Fragerecht. Im Unternehmensalltag nehmen die Chat-Teilnehmer feste soziale Rollen als Mitarbeiter auf der einen Seite und Vorgesetzte auf der anderen Seite ein (Kap.- 5.3.2.2.). Dagegen schafft die Situation im Chat eine situative Verteilung der sozialen Rollen, was dazu führt, dass Mitarbeiter und Unternehmensleitung temporär Gesprächsrollen übernehmen, die sie im Unternehmensalltag nicht haben. Dabei werden die aus den empirischen Belegen hervorgehenden Rollendefinitionen immer wieder neu definiert. In den meisten Fällen verläuft die Verteilung der Rollen konfliktfrei. Die Unternehmensleitung fordert die Mitarbeiter auf, Fragen zu stellen, und die Mitarbeiter gehen davon aus, Fragen stellen zu dürfen. Zum Konflikt kommt es, wenn die Mitarbeiter die Unternehmensleitung kritisieren und anschließend mit einer Frage zur Bestätigung ihrer Behauptungen auffordern. Insgesamt stellt sich der Wechsel der sozialen Rollen und der daraus resultierenden Gesprächsrollen in der Chat-Kommunikation als ein Konflikt dar, in dem die hierarchische Macht der Unternehmensleitung gegen die Expertenmacht der Mitarbeiter steht (Kap.- 6.2.1.1.). Während im Unternehmensalltag die hierarchische Macht überlegen ist, nähern sich im Chat beide Formen von Macht in ihrer Bedeutung an. Die Anlage des Chats und die Intention der Unternehmensleitung, inhaltliche Fragen von Mitarbeitern in den Mittelpunkt des Chats zu stellen, stärkt die Expertenmacht der Mitarbeiter. Gleichzeitig hat die hierarchische Unternehmensstruktur im Chat nur begrenzte Gültigkeit, soweit die Mitarbeiter anonym teilnehmen. Soziale Rollen werden auf der Basis sich überlagernder Machtstrukturen von hierarchischer Macht und Expertenmacht in der Chat-Kommunikation neu ausgehandelt. Beide Gründe stehen hinsicht- 80 Als Directing moves definiert Linell (1990) innerhalb seines Modells der vier Dimensionen der Dominanz Sprachhandlungen, die zur Steuerung der Gesprächsorganisation eingesetzt werden. <?page no="307"?> Bevorrechtigung in Fragen 293 lich der Verteilung des Fragerechts konträr zueinander. In der unternehmensinternen Hierarchie hat die Unternehmensleitung eine übergeordnete Position, während die Organisation des Chats den Mitarbeitern ein Fragerecht einräumt. Das führt zu einem im Vergleich zum Unternehmensalltag umgekehrten Fragerecht, das sich besonders in einer Doppelfunktion des Informationsgefälles bemerkbar macht. Im Folgenden wird dies an dem in Kap.-5.2.2. im Hinblick auf die Selbstpräsentation ausführlich besprochenen Beispiel „Menschen“ gezeigt . Menschen 263 MA1 gibts Hr. [Vorgesetzter] noch? 591 MA1 sgH [UL] sie übernehmen die operative leitung der [Organisationseinheit]? wenn ja,wie sollen wir unseren kunden erklären,dass schon wieder ein neuer leiter da ist? hr.[Vorgesetzter] hat einn super job gemacht 592 MA2 Was passiert mit Herrn [Vorgesetzter]? 592 GF Herr [Vorgesetzter] und ich sind hierzu im Gespräch 618 MA2 Bitte behalten Sie Herrn [Vorgesetzter], er verfügt im Gegensatz zu vielen ”Menschen“ über Vertriebs Know-How! 619 MA1 stimme ich voll zu Der Geschäftsführer verfügt über die Information, die die Mitarbeiter zur Komplettierung ihres Wissens suchen, möchte sich offensichtlich aber nur sehr begrenzt äußern. Die Mitarbeiter sind jedoch nicht an eine reaktive Haltung gebunden, wie in ihrer sozialen Rolle im Unternehmen, sondern können aufgrund ihres Fragerechts die Unternehmensleitung mit erneuten Fragen wiederholt zum Antworten auffordern und weitere Argumente anführen. Obwohl das wiederholte Insistieren auf einer Antwort im Beispiel „Viele Fragen“ im vorliegenden Datenkorpus einen Sonderfall darstellt, zeigt das Fragerecht an sich die aktive Rolle der Mitarbeiter. Damit stellt sich die Frage, inwieweit der fragende Mitarbeiter seinen Anspruch auf interaktionale Dominanz durchsetzen kann. Der Mitarbeiter bestimmt, soweit seine Frage nicht zurückgewiesen wird, welche Themen behandelt werden. Das gilt besonders dann, wenn Responsivität vorliegt. Wie eindeutig die Frage und das Fragerecht interaktionale Dominanz ermöglichen und geradezu festlegen, zeigen die geringen Aussichten, sich der Erwartung einer angemessenen Antwort zu entziehen (Beispiele „Speculation“, „Umstrukturierung“, „Personalzahlen“ und Beispiel „Größere Kunden“ in Kap.-6.2.1.4.). Die Ausweichmöglichkeiten für die antwortende Unternehmensleitung sind gering. Wenn sie die Regeln der Höflichkeit einhalten will, ist es nicht mög- <?page no="308"?> 294 Die Teilhabe der Mitarbeiter lich, Responsivität zu ignorieren. Der Führungsanspruch der Mitarbeiter kann nur zurückgewiesen werden, wenn sich der Gefragte nicht an die Regeln der Höflichkeit hält, was immer mit Ironie verdeckt wird (Beispiel „Personalzahlen“). In ihren Fragen verfolgen die Mitarbeiter verschiedene Muster, um ihren Führungsanspruch durchzusetzen, während die Unternehmensleitung auf unterschiedliche Strategien der Beantwortung setzt (Kap.-6.3.1.). Unter verschiedenen Aspekten gehen die Machtbestrebungen der Mitarbeiter, die diese über das Fragerecht auszuüben versuchen, über Rollenkonflikte in unterschiedlichen Situationen und den Konflikt der hierarchischen Macht und der Expertenmacht hinaus. Die Mitarbeiter erheben den Anspruch auf eine Vorrangstellung ihrer Expertenmacht vor der hierarchischen Macht, streben damit Einflussnahme auf unternehmerische Entscheidungen an und begründen das mit ihrer Expertenmacht (Beispiel „Menschen“). Die Mitarbeiter versuchen teilweise auch über den Chat gegenüber Gesprächspartnern außerhalb des Chats Macht zu gewinnen (Kap.- 6.5.2.). Im Beispiel „Eine der schwersten Fragen“ möchte die Mitarbeiterin ein persönliches Treffen mit der Unternehmensleitung vor Ort initiieren, um sich im Unternehmensalltag gegenüber ihrem Vorgesetzten durchzusetzen. Die Situation einer durch den Chat und die Chat-Organisation bedingten Verlagerung des Führungsanspruchs von der Unternehmensleitung auf die Mitarbeiter stört das von der Unternehmensleitung verfolgte Ziel, den Mitarbeitern mit dem Chat eine Informationsplattform zu geben. Die Mitarbeiter nutzen die beanspruchte interaktionale Dominanz zudem wenig, um konstruktive Vorschläge zu machen (Kap.- 6.4.). In fast allen Beispielen werden Fragen abgeschwächt („freiwillige Kür“ im Beispiel „Personalzahlen“ in Kap.-6.3.1.) oder Frageformulierungen für Behauptungen verwendet, teils mit kritischen Implikationen. Dazu lässt sich feststellen, dass die Mitarbeiter dazu Ergänzungsfragen und propositionale Fragen nutzen (Kap.-6.3.1.), wobei beide Fragetypen in der Absicht verwendet werden, interaktionale Dominanz bis hin zu Machtansprüchen außerhalb des Chats durchzusetzen (Beispiel „Eine der schwersten Fragen“ in Kap.- 6.3.1.). Dabei ist die Beeinflussung unternehmerischer Entscheidung meistens nur bei Expertenthemen möglich (Beispiel „Mitarbeiterzeitung“ in Kap.-6.4.). Ergänzungsfragen nach Informationen, die der Geheimhaltungspflicht unterliegen, werden von der Unternehmensleitung zurückgewiesen (Beispiel „Speculation“ in Kap.-6.3.1.) oder ausweichend beantwortet (Beispiele „Umstrukturierung“ und „Personalzahlen“ in Kap.-6.3.1.). Insgesamt ist die Machtausübung durch Fragen im vorliegenden Datenkorpus stark verbreitet. Die ständigen Konflikte verändern sich auch mit der organisatorischen Entwicklung des Chats, bei der besonders auf das Fragerecht immer wieder Einfluss genommen wurde (Kap.- 4.2.3.). Die Einflüsse der Entwicklung des Chats auf das Fragerecht untersuche ich im folgenden Kapitel. <?page no="309"?> Bevorrechtigung in Fragen 295 6.3.2.2 Das Fragerecht in der Entwicklung der Chat-Organisation Die Überlassung des Fragerechts und der damit verbundene Führungsanspruch erfahren über die Laufzeit der Chats eine bemerkenswerte Entwicklung. Im Folgenden ist zunächst dargestellt, wie die Fragen und Antworten sowie die Häufigkeit ihres Auftretens in Frage/ Antwort-Sequenzen oder längeren Gesprächssträngen über die verschiedenen Phasen der Chat-Organisation verteilt sind. Daran ist eine Darstellung der Auswirkungen angeschlossen, die die Entwicklung des Chats in ihren verschiedenen Phasen auf das Fragerecht hat. Die quantitative Entwicklung des Fragerechts In Abhängigkeit von der Entwicklung der Organisationsphasen des Chats (Kap.-4.2.1., Abb.-20) verändern sich auch die Anteile der Fragen und Antworten. Die Anzahl der Chats, die in einer bestimmten Phase abgehalten werden, schwankt und es gibt unterschiedliche Ursachen dafür. So sind Chats, an denen Vorstände teilnehmen, stärker frequentiert als Chats, die von anderen Mitgliedern der Unternehmensleitung bestritten werden. Einen deutlichen Einfluss haben auch aktuelle Ereignisse im Unternehmen. Besonders wenn Personalmaßnahmen im Unternehmen diskutiert werden, ist eine verstärkte Chat-Tätigkeit zu verzeichnen. Für die quantitative Darstellung der Entwicklung des Fragerechts ist deshalb in Abb.-35 für jede Phase die durchschnittliche Gesamtzahl der Beiträge angegeben, die in einem Chat aus der entsprechenden Phase eingehen. Im Einzelnen sind dann die Frage/ Antwort-Konstellationen (b. bis g.) aufgelistet, die in einem Chat zu erwarten sind. Die prozentualen Anteile sind von der Gesamtzahl der Beiträge einer Phase ausgehend angegeben. Anhand der quantitativen Daten lassen sich zu den Auswirkungen, die die Entwicklung des Chats auf den Gesprächstyp Befragung hat, folgende Schlussfolgerungen ziehen. Der Anteil der Beiträge in Frage/ Antwort-Sequenzen an der Gesamtzahl aller Beiträge ist mit 80 % in der ersten Phase von Anfang an höher als die Anteile der Sprachhandlungen Kritik, Vorschlag, Misstrauen äußern und Perspektivwechsel. Die Chat-Tätigkeit ist mit durchschnittlich 187 Beiträgen noch gering, so dass der Unternehmensleitung genügend Zeit bleibt, alle Fragen zu beantworten. In der zweiten Phase, mit der Auflistung aller eingegangenen Beiträge, auch außerhalb der offiziell angegeben Chat-Dauer, sinkt der Anteil der Fragen leicht ab auf 39 %. Es entstehen Plaudereien im Vorfeld vor Eintreten der Unternehmensleitung in den Chat, deren Zahl steil ansteigt und den prozentualen Anteil der Fragen am Gesamtvolumen der Beiträge senkt. Zugleich nimmt die Chat-Tätigkeit der Mitarbeiter insgesamt zu, so dass sich die durchschnittliche Gesamtzahl der Beiträge pro Chat von 187 auf 312 ungefähr verdoppelt. Die Unternehmensleitung kann die Beantwortung der Fragen aus Zeitgründen und <?page no="310"?> 296 Die Teilhabe der Mitarbeiter wegen der zunehmenden Unübersichtlichkeit durch verschränkte Gesprächsstränge-nicht mehr bewältigen, so dass 9 % der Beiträge unbeantwortete Fragen sind. Verteilung der Chat-Beiträge über die Phasen der Entwicklung der Chat-Organisation a. Beiträge (gesamt) b. Fragen c. Beiträge in Frage/ Antwort Paar-Sequenzen d. Beiträge in Sequenzen >2 Beiträge e. während des Chats beantwortete Fragen f. nachträglich gegebene Antworten g. nicht beantwortete Fragen (alle Angaben als Durchschnitt/ Chat in absoluten Zahlen und als Anteile an a. in %) a. b. c. d. e. f. g. 1 Chat-Typ 1 fortlaufende Auflistung aller Beiträge im angekündigten Zeitfenster 187 100 % 75 40 % 150 80 % 11 6 % 75 40 % 0 0 % 0 0 % 2 Chat-Merkmal A Zusätzlich Aufnahme der Beiträge, die vorab oder später eingehen 312 100 % 122 39 % 215 69 % 19 6 % 108 35 % 0 0 % 29 9 % 3 Chat-Typ 2 Beiträge der MA und der UL getrennt, paarige Zuordnung von Frage/ Antwort-Sequenzen 242 100 % 102 42 % 188 78 % 34 14 % 94 39 % 0 0 % 16 7 % 4 Chat-Merkmal B Zusätzlich werden unbeantwortete Fragen nachträglich per E-Mail beantwortet 197 100 % 116 59 % 189 96 % 8 4 % 104 73 % 12 6 % 0 0 % 5 Chat-Merkmal C Gesprächsführung durch die Unternehmensleitung ist durch Moderatoren ergänzt 128 100 % 90 70 % 109 85 % 4 3 % 55 43 % 36 28 % 0 0 % 6 Chat-Merkmal D Themenbezogene Chats, Teilnahme fachlicher Experten 181 100 % 83 46 % 172 95 % 2 1 % 82 % 0 0 % 0 0 % 7 Chat-Typ 3 Keine synchrone Chat-Teilnahme der Unternehmensleitung 102 100 % 51 50 % 102 100 % 0 0 % 0 0 % 51 50 % 0 0 % Abb.-35: Entwicklung der Bevorrechtigung zu Fragen <?page no="311"?> Bevorrechtigung in Fragen 297 Die Zuordnung der Frage/ Antwort-Sequenzen nebeneinander auf dem Bildschirm in Phase 3 erleichtert die Auffindung offener Fragen, so dass der Anteil der Frage/ Antwort-Sequenzen wieder ansteigt und der Anteil der offen bleibenden Fragen reduziert ist. Nachdem zusätzlich in Phase 4 das Zeitproblem bei der Beantwortung der Fragen gelöst ist, indem die offen gebliebenen Fragen nachträglich per E-Mail beantwortet werden, gibt es mit 96 % fast nur noch Frage/ Antwort-Sequenzen im Chat und es bleiben keine Fragen mehr offen. Offenbar haben die Mitarbeiter vom Chat und der Unternehmensleitung einen besseren Gesamteindruck, wenn möglichst alle Fragen beantwortet werden. Es wird offensichtlich auch wenig Wert auf längere Gesprächsstränge gelegt und es scheint wenig Bedarf für Nachfragen zu geben, denn die Nachfragen steigen zwar mit der besseren Übersichtlichkeit in Phase 3 an und fallen mit Phase 4 wieder auf den vorigen Stand ab, es gibt jedoch keine Kritik am Chat dazu. Insgesamt scheinen die Mitarbeiter vorwiegend Bedarf an wenig erklärungsbedürftigen Informationen zu haben, denn der prozentuale Anteil der Frage/ Antwort-Sequenzen, die aus mehr als zwei Beiträgen bestehen, ist in jeder Organisationsphase relativ niedrig. Für die Chat-Teilnehmer ist offensichtlich nur der Informationstransport relevant, der qualitative Aspekt des kommunikativen Austauschs über Einstellungen, Werte, Perspektiven scheint nachrangig zu sein. Die längeren Sequenzen, die meist durch verständnissicherndes Sprachhandeln zustande kommen, nehmen zwar mit den verbesserten Übersicht über die Antworten in Phase 3 zu. Der Anstieg aber ist weniger deutlich als die Zunahme der Frage/ Antwort-Sequenzen, die aus nur einem Paar bestehen und meist eine Ergänzungsfrage nach Information beinhalten. Die Teilnehmer, die in längeren Gesprächssträngen mit der Unternehmensleitung chatten, nehmen zwar durchaus Raum im Chat ein, da die Gesprächsstränge durch Nachfragen, Diskussionen und länger ausgeführte Beiträge über einzelne Paarsequenzen hinaus längere Gesprächsstränge einnehmen, sie sind zahlenmäßig aber fast durchgehend im einstelligen Prozentbereich (Spalte d.). Nur in Phase 3, mit der Einführung einander auf dem Bildschirm zugeordneter Paare, steigt der Anteil vorübergehend sprunghaft auf 14 % an. Offenbar regt diese Darstellung die Mitarbeiter dazu an, nach einer Antwort der Unternehmensleitung erneut einen Beitrag zu schreiben, wobei die Einflussfaktoren für die Reaktion der Mitarbeiter die schnellere Beantwortung der Fragen und das erleichterte Auffinden von Antworten sein dürften. Dagegen unterstützt der Chat-Typ 1 mit fortlaufend aufgelisteten Beiträgen in Phase 1 die nur aus einem Paar bestehenden Sequenzen nicht. Mit dem Einsatz von Moderatoren sinkt der Anteil der Frage/ Antwort-Sequenzen. Die Moderatoren werden als Barriere zur Unternehmensleitung gesehen (Beispiel „Zuweiser“ in Kap.-6.3.3.) und die Einführung von Themen drängt vorbereitete Fragen zu anderen Themen zurück. <?page no="312"?> 298 Die Teilhabe der Mitarbeiter Da die Unternehmenssparten und verschiedenen Organisationseinheiten nicht alle die beschriebenen sieben Phasen durchlaufen und sich auch nicht zeitgleich in einer Phase befinden, kommen letztlich alle Phasen gleichzeitig vor und jede Unternehmenssparte oder Organisationseinheit verwendet die Chat- Organisation, die die jeweils verantwortlichen Mitglieder der Unternehmensleitung bevorzugen. Die qualitative Entwicklung des Fragerechts Die bisher quantitativ getroffenen Aussagen sind durch die qualitative Darstellung des Entwicklungsverlaufs von Frage/ Antwort-Sequenzen belegt. In den ersten Chats üben die Mitarbeiter aufgrund ihrer Expertenmacht interaktionale Dominanz aus, indem sie sich zu konkreten mikrostrukturellen Vorgängen im Unternehmen äußern. Es handelt sich dabei um Informations- und Ergänzungsfragen, soweit Informationen erfragt werden, und um Alternativfragen („warum nicht? “, „oder“), soweit die Fragen kritische Implikationen beinhalten. Obwohl die Unternehmensleitung die meisten Fragen beantwortet, ergreifen die Mitarbeiter nicht erneut den Turn, so dass sich kaum längere Sequenzen entwickeln. Zudem werden Fragen übersehen und bleiben unbeantwortet. In späteren Chats zeichnen sich zwei Entwicklungsrichtungen ab. Soweit die Chats wenig reguliert werden (Chat-Merkmal A - verlängerte Chat-Dauer, d. h. Aufnahme der Beiträge, die vorab oder später eingehen, Kap.- 4.2.1.) und alle Fragen im Verlauf des Chats beantwortet werden, entwickeln sich wieder situative soziale Rollen und auf Expertenmacht gründende interaktionale Dominanz der Mitarbeiter. Dagegen werden die Rollen der Teilnehmer im Chat weiter auf deren soziale Rollen im Unternehmensalltag zurückgedrängt, wenn Moderatoren eingesetzt oder die Fragen der Mitarbeiter zu FAQ aufbereitet werden. In den ersten Chats (Phasen 1 bis 4) wird die übliche Verteilung von Fragerecht und Führungsanspruch umgekehrt, indem die Mitarbeiter die Fragen stellen und damit Führung in Form von Gesprächssteuerung übernehmen sowie die Gesprächsrichtung bestimmen. Diese Situation wird von mehreren Entwicklungsstufen abgelöst, die die Gesprächssteuerung in die Richtung der Unternehmensleitung verschieben. Zunächst werden Moderatoren eingeführt, die Fragen zuweisen, indem sie übersehene Fragen an ein Mitglied der Unternehmensleitung weiterleiten oder die Mitarbeiter im Chat begrüßen und die Unternehmensleitung vorstellen. Dann werden die Chats zu geordneten Frage/ Antwort-Sequenzen geglättet. Damit können Fragen nachträglich gesammelt im Intranet und per E-Mail beantwortet werden, was auch der unterschiedlichen Anzahl von Mitarbeitern und Mitgliedern der Unternehmensleitung entgegen kommt und somit auch ein Organisationsproblem löst. Schließlich wird die Chat-Kommunikation faktisch aufgegeben, indem die Fragen nur noch entgegengenommen, gesammelt und thematisch geordnet werden. Durch die <?page no="313"?> Bevorrechtigung in Fragen 299 zusätzliche Themengebundenheit der FAQ steht über den Fragen der Mitarbeiter noch eine übergeordnete Fragestellung, die die Steuerungsmöglichkeiten der Mitarbeiter über die Themenauswahl auf ein vorgegebenes Themenspektrum reduziert. Dieses ist durch die Vorgabe der Thematik formuliert, so dass eine Gesprächssteuerung für die Mitarbeiter nicht mehr gegeben ist. Damit wurde auch die missbräuchliche Verwendung durch einzelne Mitarbeiter unterbunden und deren Bestreben, andere Chat-Teilnehmer zu beeinflussen und gegen die Unternehmensleitung aufzubringen. Der fragende Mitarbeiter ist mit diesem letzten Schritt nur noch scheinbar in einer Führungsposition, wird aber durch die Vorbedingungen, die außerhalb des Gesprächs festgelegt sind, so weit eingeschränkt, dass der Handlungsspielraum nur noch die gegenseitige Information zulässt. Die Chat-Kommunikation ist damit auf Informationsfragen zu festgelegten Themen begrenzt. Insgesamt bedeutet diese Entwicklung eine zunehmende soziale Reduktion der Chat-Kommunikation, zugleich aber eine informative Erweiterung in qualitativer Hinsicht, da sich der Chat beim Einsatz von Moderatoren übersichtlicher strukturiert darstellt sowie die Fragen nach der Umarbeitung zu FAQ allgemeinverständlicher formuliert sind und mit ausführlichen Antworten versehen werden. Die Anzahl der Fragen steigt allerdings nicht durchgehend an, so dass die Entwicklung des Chats in qualitativer Hinsicht keine informative Erweiterung bringt. Hoffmann vermutet diese Vorgehensweise als generelle Entwicklung in solchen Situationen. Die Verwirklichung einer direkten Kommunikation, die auch das Überspringen von Kommunikationsstufen und Hierarchien bedeutet, steht demnach in einem kausalen Zusammenhang mit der Kultur des Unternehmens: Die direkte Kommunikation ist abhängig von der Kommunikationskultur im Unternehmen. Ein Medium wie das Intranet wird sie in gewisser Weise verändern. Wenn die Kommunikationsstrukturen durch das Intranet aufbrechen, stellt sich die Frage, wer gewinnt, ob das Medium reduziert wird oder die Strukturen verändert werden. Ich glaube eher das erstere. (Hoffmann 2001, 224) Allerdings lässt sich für die Chats im vorliegenden Datenkorpus beobachten, dass ein Teil der Mitglieder der Unternehmensleitung in den von ihnen veranstalteten Chats die Entwicklung zum Chat-Typ 3 (FAQ) nicht nachvollzogen haben oder wieder zu früheren Organisationsphasen des Chats zurückgekehrt sind. Andere Mitglieder der Unternehmensleitung setzten im Anschluss an die Chats des Chat-Typ 3 (FAQ) die Entwicklung jedoch in Richtung einer weiteren Reduktion der Chat-Kommunikation als Kommunikationsform innerhalb der Mitarbeiterkommunikation fort, indem sie die Organisation der Chats einstellten. Der Gesprächstyp Befragung bleibt an sich, unabhängig von seiner diskursiven Instrumentalisierung, die wesentliche Form der Kontaktaufnahme, die die Mitarbeiter im Chat zur Unternehmensleitung suchen. Das Beispiel „Organisa- <?page no="314"?> 300 Die Teilhabe der Mitarbeiter torische Maßnahme“ zeigt, inwieweit der Gesprächstyp Befragung als funktionierendes Muster und als Instrument zur Herstellung einer Gesprächssituation für die Mitarbeiter selbstverständlich ist. Organisatorische Maßnahme 14 MA1 Guten Tag Herr [Vorstand], hier ein paar Fragen der Beschäftigten des [Organisationseinheit]. Werden die Mitarbeiter der [neue Organisationseinheit] weiterhin als Vertriebsmitarbeiter tätig sein (Bezahlung nach [Tarifschlüssel] ) ? 15 UL1 Die Bildung des [neue Organisationseinheit] und die Verlagerung des [Organisationseinheit] ist eine rein organisatorische Maßnahme innerhalb der DTAG. Dadurch ändert sich an den Bezahlungsmöglichkeiten nach [Tarifschlüssel] nichts. 16 MA2 Hallo Herr [Vorstand]! Meine Frage: Was passiert konkret mit uns Beamten,die in die [neue Organisationseinheit] versetzt werden? Muß unser Beamtenstatus ruhen? Wenn ja,sind daß die gewohnten [Zahl] Jahre? Und was passiert mit den Beamten in [neue Organisationseinheit],wenn die [Zahl] Jahre um sind? Versetzung nach irgendwo? Wie sieht die Bezahlung der Beamten in [neue Organisationseinheit] aus? 17 UL2 Hallo [MA2]: Es handelt sich bei der Bildung der [neue Organisationseinheit] um eine rein organisatorische Maßnahme innerhalb der DTAG. Das bedeutet, dass es für Sie beim aktiven Beamtenverhältnis bleibt. 18 MA3 Wird es ebenfalls möglich sein, eine sogenannte Auszeit wie bei [Unternehmenssparte] zu bekommen, d. h. 1 oder 2 Jahre ohne Gehalt um sich selbst zu verwirklichen? 19 UL1 Wir halten solche Modelle für durchaus denkbar, sofern die betrieblichen Voraussetzungen geschaffen werden können und der Vorgesetzte und der Betriebsrat damit einverstanden sind. Das Beispiel zeigt einen Ausschnitt aus einem Chat, in dem fast ausschließlich Fragen zu einer neu gebildeten Organisationseinheit gestellt werden. MA2 bildet einen Frageterm aus mehreren Fragen, die von der Unternehmensleitung direkt nach Erscheinen auf der Benutzeroberfläche beantwortet werden, so dass zumindest in diesem Ausschnitt aus dem Anfang des Chats noch keine verschränkten Sequenzen entstehen. Die Fragen sind Ergänzungsfragen nach Informationen, die aus der Bildung der neuen Organisationseinheit als Ereignis des Wandels heraus bei den Mitarbeitern aufkommen. Insgesamt forciert die organisatorische Entwicklung des Chats paarige Frage/ Antwortsequenzen, in denen die Mitarbeiter in Ergänzungsfragen Informationen von der Unternehmensleitung einfordern. Mit der nachträglichen Beant- <?page no="315"?> Bevorrechtigung in Fragen 301 wortung der Fragen ist die Frage/ Antwort-Sequenz so weitgehend gestützt, dass sie in keinem Einzelfall mehr scheitert. Mit der nur temporär eingesetzten Vorgehensweise der Phase 6 ist der Chat auch ausschließlich auf die Frage/ Antwort- Sequenz reduziert. Zugleich wird die Möglichkeit, längere Gesprächsstränge zu realisieren, weder durch die Chat-Organisation gefördert noch von den Mitarbeitern gesucht. So lange aber in allen Sprachhandlungen gegenseitiges Missverstehen ein relevanter Einflussfaktor ist, sollten für die weitere Entwicklung des Chats auch längere Gesprächsstränge graphisch unterstützt werden, indem sie graphisch gesondert dargestellt werden, beispielsweise als Baumdiagramm. Damit könnten die Mitarbeiter angeregt werden, Antworten der Unternehmensleitung häufiger zu hinterfragen und zu diskutieren. 6.3.2.3 Thematisierung in Fragen Von den 242 Chats der Chat-Typen 1 und 2, die in die qualitative Untersuchung des vorliegenden Datenkorpus eingehen, sind nur 91 thematisch gebunden, wobei auch in diesen Chats Fragen zu anderen beruflichen Themen beantwortet werden, Fragen außerhalb des beruflichen Umfelds werden nicht gestellt. Die Mitarbeiter nehmen folglich mit der Bevorrechtigung zu Fragen auch die Auswahl der Themen vor. Ergänzungsfragen nach Informationen betreffen inhaltlich meistens Ereignisse organisatorischen Wandels. Dabei werden konkrete Neuerungen wie neue Begriffe und Vorgehensweisen thematisiert. Im Beispiel „Strategie“ fragt ein Mitarbeiter einen Begriff nach, den der Geschäftsführer erklärt. Zudem gibt der Geschäftsführer noch eine ausführliche Erklärung zu den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die für die neue Vorgehensweise relevant sind. Strategie 41 MA SgH [Vorstand], was ist eine Convergence Strategie? 42 GF Das Zusammenführen der Möglichkeiten aus TK und IT. Aus meiner Sicht [...] Hierarchisch-ökonomisches Interesse wird von den Mitarbeitern nie direkt thematisiert, sondern im Rahmen einer sachlich-technischen Ergänzungsfrage verdeckt geäußert. Das ist darin begründet, dass diese Fragen Interesse an eigenen hierarchischen Vorteilen erkennen lassen, es sei denn, es handelt sich um Vorgänge, an denen alle Mitarbeiter teilhaben, wie beispielsweise für alle Mitarbeiter geltende Personalmaßnahmen. Vielmehr werden Fragen aus Eigeninteresse verdeckt als sachlich-technische Fragen geäußert oder es werden andere vermeintliche Nutznießer vorgeschoben. Im Beispiel „Technologieführerschaft“, <?page no="316"?> 302 Die Teilhabe der Mitarbeiter das in Kap.- 5.3.1.2. ausführlich besprochen ist, wendet der Mitarbeiter beide Strategien an. Technologieführerschaft 15 MA Wie erklären wir unseren Kunden unsere Technologieführerschaft, wenn wir intern ein bis zwei Technologiegenerationen nachhinken [Es folgt eine Gegenüberstellung der unternehmensintern eingesetzten Produkte und der neuesten Produkte]? 15 V Mit der Ausrollung der Standardarbeitsplätze im 1. Quartal [Jahr] machen wir einen Sprung auf die aktuelle Technologie. Grundsätzlich muss jedoch angemerkt werden, dass wir auf eine Balance zwischen Wirtschaftlichkeit und Aktualität achten müssen. Der Mitarbeiter fordert mit sachlich-technischen Argumenten eine IT Infrastruktur auf dem aktuellsten Stand der Technik und gibt als hierarchisch-ökonomisches Argument die Kunden des Unternehmens als Nutznießer an. Tatsächlich sind aber zunächst einmal die Mitarbeiter, also auch er selbst als Anwender der genannten technischen Möglichkeiten bevorteilt, während die Kunden nur den sekundären Vorteil haben, dass das Unternehmen selbst Anwender der verkauften Produkte ist. Kunden achten eher darauf, die Kosten gering zu halten, was auch durch gemäßigte interne Kosten des verkaufenden Unternehmens gelingt, wie der Vorstand in seiner Antwort argumentiert („Balance zwischen Wirtschaftlichkeit und Aktualität“). Offensichtlich sind die genannten Themen Technologieführerschaft und Kundenzufriedenheit nur vorgeschoben. Es liegt nahe, dass der Mitarbeiter aus eigenem Interesse nachfragt und die aufgezählten technischen Geräte und Software gerne selbst nutzen möchte. Sein eigentliches Anliegen ist somit die Verbesserung der technischen Ausstattung seines Arbeitsplatzes, die er nur auf dem aktuellen Stand der Technik als zufriedenstellend empfindet, weshalb er im Chat bei der Unternehmensleitung interveniert. Auch in den Fragen, die mit der Absicht gestellt werden, Informationen zu platzieren, ist das eigentliche Thema verdeckt. Meist handelt es sich bei diesen Fragen, wie im Beispiel „Eine der schwersten Fragen“, um verdeckte Kritik an anderen Mitarbeitern oder Vorgesetzten. Eine der schwersten Fragen (Auszug) 43 MA Beitrag 32: Gerade in der [Organisationseinheit] haben die MA die Motivation und Interesse am Unternehmen; manchmal vermissen viele Kollegen und ich eine klare transparente Führung oder sind wir einfach zu groß? 125 MA Hr. [Vorstand], ich mag noch mal ergänzen - der Eindruck zum Führungsstil bezog sich auf das Middle Management nicht die Top Ebene! <?page no="317"?> Bevorrechtigung in Fragen 303 137 MA Hr. [Vorstand] und ich glaube die Top Ebene braucht hin und wieder Feedback von inz. Mitarbeiter über seine Führung? ! Die Basis (zufriedene u. motivierte Mitarbeiter) ist doch die Zukunft, oder wie sehen Sie das? Die Mitarbeiterin nennt mehrere Themen, mit denen sie sich im Chat an den Vorstand wendet. Sie fragt zunächst, ob der Vorstand im Rahmen seiner Reisetätigkeit ihren Standort besuchen wird und inwieweit ihre Informationen zum Standort stimmen. Dann stellt sie mehrere Fragen zur Führungsqualität der mittleren Führungsebene („klare transparente Führung“, „der Eindruck zum Führungsstil bezog sich auf das Middle Management“, „die Top Ebene braucht [...] Feedback von inz. Mitarbeiter über seine Führung“). Erst nachdem die Mitarbeiterin ein Treffen mit dem Vorstand und ihrem Vorgesetzten vereinbaren konnte, beendet sie das Gespräch. Es liegt nahe, dass ihr eigentliches Thema Kritik am Führungsstil ihres Vorgesetzten war, mit dem sie nicht zufrieden ist („Die Basis (zufriedene u. motivierte Mitarbeiter) ist doch die Zukunft“). Die Kritik bezieht sich wohl auf das Informationsverhalten des Vorgesetzten („stimmt es, daß“, „klare transparente Führung“). Daneben versucht sie indirekt zu thematisieren, dass der Vorstand ihr bei dem Problem helfen soll („oder wie sehen Sie das? “). Zusammengefasst unterscheiden die Mitarbeiter bei der Thematisierung in Fragen offensichtlich nach Themen, die nur die Sachebene betreffen und solchen, in denen sie, unter anderem oder ausschließlich, Eigeninteresse verfolgen. Diese Eigeninteressen betreffen das hierarchisch-ökonomische Interesse und das Interesse an der Platzierung von Informationen. Thematisierungen vor dem Hintergrund dieser Interessen werden nur verdeckt vorgetragen und es werden andere Nutznießer vorgeschoben. 6.3.3 Die Frage nach Authentizität: Die Sprachhandlung Misstrauen äußern Nachdem das vorliegende Datenkorpus in erheblichem Umfang kritische Äußerungen der Mitarbeiter enthält (Kap.- 6.1.2.) und die Mitarbeiter erhebliche Bestrebungen nach interaktioneller Dominanz bis hin zur Einflussnahme auf Unternehmensvorgänge außerhalb des Chats zeigen (Kap.- 6.2.), stellt sich die Frage, inwieweit die Beiträge der Mitarbeiter von Misstrauen gegenüber der Unternehmensleitung geprägt sind. Anhand der Beiträge, in denen Misstrauen geäußert wird, soll die Sprachhandlung Misstrauen äußern (Abb. 37) herausgearbeitet werden. Die Sprachhandlung Misstrauen äußern wird nur von den Mitarbeitern initiiert, wobei die Mitarbeiter die Entscheidungen sowie Entwicklungen im Unternehmen thematisieren, die Ereignisse organisatorischen Wandels darstellen und von der Unternehmensleitung verantwortet werden. In dieser Hinsicht begegnen die Mitarbeiter der Unternehmensleitung mit Misstrauen. <?page no="318"?> 304 Die Teilhabe der Mitarbeiter Das Misstrauen gründet in verschiedenen Aspekten der Beziehungsgestaltung zwischen den Mitarbeitern und der Unternehmensleitung. Wie sich zeigen wird gibt es zwei Ursachen dafür: die begrenzten Möglichkeiten der Mitarbeiter, die Situation des Unternehmens und ihre eigene Lage einzuschätzen, sowie eine partielle Interessendivergenz zwischen den Interessen des Unternehmens und denen der Mitarbeiter, die in bestimmten Situationen zum Tragen kommt. Für die Mitarbeiter ist der Einblick in Entscheidungen und Entscheidungswege der Unternehmensleitung gering und bewirkt dadurch Unsicherheit. Gleichzeitig sind Arbeitnehmer meistens zur Sicherung ihres Lebensstils auf ihr Erwerbseinkommen angewiesen. Wenn strukturelle Umbruchzeiten Entscheidungen noch intransparenter erscheinen lassen und diese mit dem Abbau von Personal einhergehen, schätzen viele Mitarbeiter ihr persönliches Risiko als hoch ein, finanzielle Einbußen bei der Entlohnung oder gar den Verlust des Arbeitsvertrags hinnehmen zu müssen. An eben dieser Stelle offenbart sich dann die Interessendivergenz zwischen den ökonomischen Interessen der Unternehmensleitung und den beruflichen Interessen der Mitarbeiter, die hier nur wenig Interessendeckung haben. Die Vereinbarkeit der Unternehmensinteressen mit den eigenen beruflichen Interessen wird mit dem Verlust des Arbeitsplatzes hinfällig. Wenn Mitarbeiter die Unternehmensinteressen nur um den Preis des Verlusts des Arbeitsplatzes oder wesentlicher beruflicher Privilegien wahren können, besteht zwischen dem Unternehmensinteresse und den beruflichen Anliegen der Mitarbeiter keine Interessendeckung mehr. Soweit Mitarbeiter davon ausgehen, dass ein Teil der Unternehmensziele mit ihren persönlichen Zielen unvereinbar ist, ruft diese Situation bei den Mitarbeitern Unsicherheit und Misstrauen hervor. Die Unsicherheit der Mitarbeiter zeigt sich im Rahmen der kommunikativen Handlung Misstrauen äußern darin, dass mehrere Möglichkeiten der Interpretation eines Sachverhalts thematisiert und infrage gestellt werden. Das weist auf die Unschlüssigkeit der Mitarbeiter hin, welcher Interpretation der Vorzug vor den anderen zu geben ist. Zur kommunikativen Handlung Misstrauen äußern fasse ich diese Diskurse zusammen, die Äußerungen von Vermutungen der Mitarbeiter über die Gründe und Auswirkungen von Veränderungen im Unternehmen beinhalten und in denen die Mitarbeiter sowohl Interessendeckung als auch Interessendivergenz zwischen dem Interesse der Unternehmensleitung und ihren eigenen beruflichen Interessen in Betracht ziehen. Die Sprachhandlung Misstrauen äußern ist damit von der kommunikativen Handlung Kritik (Kap.-6.1.2.) dadurch abgegrenzt, dass die Mitarbeiter, die Kritik äußern, auf jeden Fall von einer Interessendivergenz ausgehen. Soweit die Mitarbeiter im Zusammenhang mit der Chat-Kommunikation, der Chat-Organisation oder der zum Chatten genutzten Benutzeroberfläche am Bildschirm Misstrauen äußern, wird thematisiert, dass die Textproduktion der Unternehmensleitung (wie aller Chat-Teilnehmer) für die Mitarbeiter nicht nachvoll- <?page no="319"?> Bevorrechtigung in Fragen 305 ziehbar ist. Zusätzlich verweisen die Chat-Teilnehmer auf die wahrnehmbaren Auswirkungen etwaiger Schwierigkeiten mit der technischen Infrastruktur. Es ist anzunehmen, dass der Chat dabei nur der Auslöser für die Äußerung von Misstrauen ist und die Ursachen die beiden beschriebenen Kriterien sind: die Unsicherheit der Mitarbeiter in der Einschätzung der Situation und die partielle Divergenz zwischen Mitarbeiter- und Unternehmensinteressen. Der Chat löst insofern Äußerungen von Misstrauen aus, als die Chat-Technologie als Kommunikationsmedium durch räumliche Distanz und die Unsichtbarkeit der Textproduktion weniger Einblick in die Handlungen der Interaktanten zulässt, als das bei anderen Kommunikationswegen gegeben ist, die für den Adressaten besser kontrollierbar sind. Diese Gegebenheit wird bei Verzögerungen oder zeitweisem Abbruch eines Chats wegen Schwierigkeiten in der technischen Infrastruktur noch verstärkt. Da die Unsichtbarkeit der Textproduktion und die Nichtbeantwortung von Fragen wegen technischer Schwierigkeiten in Zusammenhang mit den unterstellten inhaltlichen Gründen für Misstrauen (Zensur der Beiträge und Inhalte, thematische Form 1 thematische Form 2 Sprachhandeln 1. Beschreibung eines neu eingeführten Sachverhalts 2. Thematisierung sowohl positiver als auch negativer Interpretationsmöglichkeiten wie thematische Form 1, wobei die Chat-Kommunikation als neu eingeführter Sachverhalt thematisiert wird Ursache partielle Interessendivergenz zwischen Unternehmens- und Mitarbeiterinteressen eingeschränkte Rezipientenkontrolle durch die Kommunikation per Chat Beispiel „Gerade in der [Organisationseinheit] haben die MA die Motivation und Interesse am Unternehmen; manchmal vermissen viele Kollegen und ich eine klare transparente Führung oder sind wir einfach zu groß? “ (Beispiel „Eine der schwersten Fragen“) MA: „Werden wirklich so wenig Fragen gestellt und antworten ‚die Experten‘ wirklich so langsam? Oder warum passiert hier so wenig? : D158“; Moderator: „Die Experten haben bislang (nahezu) alle Fragen beantwortet mehr Fragen als Sie sehen, kommen derzeit nicht herein. Sie sehen definitiv ALLE Fragen (keine Zensur). Die Antworten kommen tatsächlich manchmal etwas verspätet die Experten benötigen halt auch etwas Zeit zur genügend detaillierten Beantwortung ...“ (Beispiel „Zensur“) Abb.-36: Die thematischen Formen der Sprachhandlung Misstrauen äußern <?page no="320"?> 306 Die Teilhabe der Mitarbeiter Vorenthalten von Informationen) stehen, liegt es bei Misstrauen hinsichtlich der Anwesenheit der Unternehmensleitung und der Vollständigkeit der erhaltenen Informationen nahe, dass der Chat nur der Auslöser ist. Misstrauen äußern kommt somit in zwei thematischen Formen vor (Abb. 36). Im Folgenden soll zunächst das sprachliche Handlungsmuster von Misstrauen äußern dargestellt und anschließend auf die Themen eingegangen werden, zu denen Misstrauen geäußert wird. Das Interaktionsmuster ist immer eine Entscheidungsfrage, ob ein Sachverhalt A oder ein Sachverhalt B gilt. Dabei beinhaltet A eine Annahme, die davon ausgeht, dass die in A thematisierten Entscheidungen der Unternehmensleitung positive oder neutrale Auswirkungen auf die persönlichen Interessen des Mitarbeiters haben. B beinhaltet eine Annahme, deren Auswirkungen auf seine persönliche Situation der Mitarbeiter negativ einschätzt. A und B kommen in beliebiger Reihenfolge vor. Die Beschreibungen der Sachverhalte können illokutiv eine Kritik sein, werden dann aber zumindest als Frage geäußert. Im Beispiel „Chat-Anbindung“ äußert die Mitarbeiterin Misstrauen, indem sie als Ursache für die Abwesenheit des Geschäftsführers zwei unterschiedliche mögliche Gründe benennt. Chat-Anbindung 51 MA Ich hoffe mal, dass nur die Chat-Anbindung von Herrn [Geschäftsführer] abgestürzt ist (=peinlich), aber vermutlich hat er jetzt wichtigere Dinge vor (=Fechheit) Die Mitarbeiterin moniert die Abwesenheit des angekündigten Geschäftsführers im Chat. Sie mutmaßt über die Gründe, indem sie zwei Sachverhalte beschreibt, die als mögliche Gründe in Frage kommen. Einen der beschriebenen Sachverhalte („die Chat-Anbindung von Herrn [Geschäftsführer] abgestürzt ist“) bewertet sie neutral („nur“, „(=-peinlich)“), den anderen Sachverhalt („hat er jetzt wichtigere Dinge vor“) betrachtet sie als persönlichen Angriff auf sich selbst („(=- Fechheit)“). Die Mitarbeiterin bevorzugt ihre Annahme des negativ beschriebenen Sachverhalts und der Interpretation als persönlichen Angriff („aber vermutlich“). Da die technischen Schwierigkeiten in diesem Chat offensichtlich sind, muss der Grund für dieses Verhalten außerhalb des Chats liegen, möglicherweise in einer Voreingenommenheit der Mitarbeiterin, die sie sich im Unternehmensalltag angeeignet hat. Die in der Chat-Kommunikation unsichtbare Textproduktion veranlasst die Mitarbeiterin anzunehmen, dass der Geschäftsführer nicht anwesend ist. Ein Beispiel für die Äußerung von Misstrauen, in dem auch thematisiert wird, dass dieses Misstrauen in Umständen des Unternehmens begründet ist, findet sich in einem Auszug des Beispiels „Eine der schwersten Fragen“. <?page no="321"?> Bevorrechtigung in Fragen 307 Eine der schwersten Fragen (Auszug) 43 MA Beitrag 32: Gerade in der [Organisationseinheit] haben die MA die Motivation und Interesse am Unternehmen; manchmal vermissen viele Kollegen und ich eine klare transparente Führung oder sind wir einfach zu groß? 125 MA Hr. [Vorstand], ich mag noch mal ergänzen - der Eindruck zum Führungsstil bezog sich auf das Middle Management nicht die Top Ebene! 126 V Kann ich gut verstehen. Das leidige Thema, dass manche Kolleg(inn)en Angst vor Veränderungen haben, weil ihr Verantwortungsbereich kleiner werden könnte. Ich verstehe das zwar menschlich, habe aber selber nie danach gehandelt; es ging mir nicht schlecht dabei. Hier hilft bei dauerhafter Verweigerung nur das Mail an Top-Management, im negativsten Fall auch anonym (aber sachlich). Die Mitarbeiterin äußert Misstrauen gegenüber der Personalführung durch ihren Vorgesetzten („manchmal vermissen viele Kollegen und ich eine klare transparente Führung“), wie sie im Nachtrag nochmals explizit deutlich macht („der Eindruck zum Führungsstil bezog sich auf das Middle Management“). Dazu beschreibt sie zwei Sachverhalte, von denen der erste Sachverhalt negativ bewertet wird und eine Kritik darstellt („manchmal vermissen viele Kollegen und ich eine klare transparente Führung“), während der zweite Sachverhalt eine neutrale Beschreibung ist („sind wir einfach zu groß? “). Die Mitarbeiterin vermutet, von ihrem Vorgesetzten absichtlich nicht angemessen informiert zu werden, zieht andererseits aber auch in Betracht, dass die Informationsdefizite durch die Größe der Organisation bedingt sein könnten. Die daraus resultierende Unsicherheit führt zu Misstrauen. Der Vorstand bewertet die Situation als eindeutig unangemessenes Verhalten des Vorgesetzten, denn er reagiert auf die Ausführungen der Mitarbeiterin mit einer massiven Kritik, zwar nicht am konkreten Vorgesetzten der Mitarbeiterin, aber generell an dem Verhalten mancher Führungskräfte, Informationen zurückhalten. Er hält das Misstrauen der Mitarbeiterin offensichtlich für berechtigt und ihre Kritik an ihrem Vorgesetzten für angemessen. Die Absicht der Mitarbeiter bei der Äußerung von Misstrauen ist es, zwischen verschiedenen möglichen Interpretationen der Sachverhalte, die sie im Unternehmen und in Veränderungen beobachten, die zutreffenden herauszufinden. Reichertz unterscheidet dazu zwischen Wissen, das für das eigene Handeln benötigt wird, und irrelevantem Wissen, das an einen Adressat herangetragen wird. Die zentrale Frage der Zukunft lautet also nicht, wie ich an möglichst viel Wissen, sondern wie ich an möglichst viel zuverlässiges, somit handlungsrelevantes Wissen, Information gelangen kann. (Reichertz 2002, 16) <?page no="322"?> 308 Die Teilhabe der Mitarbeiter Um Misstrauen der Mitarbeiter gegen die Unternehmensleitung zu vermeiden, muss „Vertrauen [...] durch Kommunikation auf Augenhöhe“ (Reichertz 2002, 17) geschaffen werden. 81 Die Voraussetzungen dafür sind, dass die Mitarbeiter die für sie relevanten Informationen erhalten und sie die Unternehmensleitung als glaubwürdig und authentisch erleben. Im Folgenden sollen die Zusammenhänge zwischen der Authentizität der Unternehmensleitung und dem Misstrauen der Mitarbeiter untersucht werden. Dazu stelle ich die These auf, dass Authentizität innerhalb des Chats davon abhängt, inwieweit der Gesprächspartner sozial identisch in Bezug auf die relevanten sozialen Rollen ist. Identität bezeichne ich nach der Definition von Döring als „Werte, Ziele, Fähigkeiten einer Person, die sie sich aus ihrer Selbstinterpretation aus den Wahrnehmungen und Reaktionen der Umwelt heraus zuschreibt“ (Döring 2003, 325). Für die vorliegenden Chats sind das inhaltliche Werte, wie Nachvollziehbarkeit, Offenheit und Glaubwürdigkeit, die der Unternehmensleitung zugeschrieben werden, wenn sie authentisch ist. Abb.-37: Das sprachliche Handlungsmuster Misstrauen äußern 81 Reichertz (2002) unterscheidet drei Strategien, mittels derer Unternehmen gegenüber ihren Mitarbeitern Vertrauen schaffen können: persönliche face-to-face Kommunikation, moralische Selbstverpflichtung und mythologische Fundierung. <?page no="323"?> Bevorrechtigung in Fragen 309 Im Zusammenhang mit der Frage nach der Funktion der Authentizität der Unternehmensleitung komme ich nun noch einmal auf die eingangs des Kapitels getroffene Unterscheidung zwischen Ursachen für Misstrauen und deren Auslösern. Soweit das berufliche Umfeld bei den Mitarbeitern Misstrauen verursacht (Unsicherheit bei der Einschätzung der Situation, partielle Interessendivergenz mit dem Unternehmensinteresse), äußern die Mitarbeiter Misstrauen gegenüber der Unternehmensleitung. Aber auch soweit die Chat-Technologie als Kommunikationsmedium der Auslöser der Äußerungen von Misstrauen ist, dessen Ursachen im beruflichen Umfeld liegen, richten sich die Äußerungen von Misstrauen der Mitarbeiter gegen die Unternehmensleitung. Dabei fällt auf, dass das Unternehmen an sich nicht Gegenstand der Äußerungen von Misstrauen ist (Abb. 37). Die Auslöser für Äußerungen von Misstrauen sind u. a. technische Ausfälle und lange Reaktionszeiten innerhalb der technischen Infrastruktur. Die von den Mitarbeitern aber tatsächlich für ihr Misstrauen angegebenen Gründe sind die vermeintliche Abwesenheit der Unternehmensleitung, eine teilweise schleppend verlaufende Chat-Tätigkeit aufgrund geringer Beteiligung und die Zuweisung von Beiträgen durch Moderatoren, die eine selektive Beantwortung der Fragen nach sich ziehen. Daraus lässt sich als Schlussfolgerung auf die tatsächlichen Ursachen des Misstrauens ziehen, dass die Mitarbeiter die Glaubwürdigkeit der Unternehmensleitung offenbar daran messen, wie authentisch die Mitglieder der Unternehmensleitung im Chat auf sie wirken. Wie authentisch die Mitarbeiter die Unternehmensleitung einschätzen, hängt von folgenden Zusammenhängen ab: • Die Authentizität nimmt ab, wenn sich die Organisation eines Chats von der Organisation mündlicher Gespräche entfernt. Das betrifft besonders den Einsatz von Moderatoren als Mittelspersonen (Beispiele „Zuweiser“, „Zensur“ und „Datensenke“). • Sowie mehrere unterschiedliche Interpretationen eines Verhaltens als naheliegend eingeschätzt werden, halten die Mitarbeiter diese Situation für richtig, in der ihnen die Unternehmensleitung am meisten authentisch erscheint (Kap.-3.2.1.) (Beispiele „Chat-Anbindung“ und „Circus“ ). • Sichtweisen der Unternehmensleitung, die die Mitarbeiter aufgrund der Perspektivendivergenz zur Unternehmensleitung nicht nachvollziehen können, werden häufig ohne Angabe von Gründen mit Misstrauen belegt (Beispiele „Frechheit“ und „Circus“). Die Einschätzung des Auftretens der Unternehmensleitung im Chat als authentisch scheint davon abzuhängen, ob die Antworten für die Mitarbeiter verständlich und die Beweggründe nachvollziehbar sind. Das bedeutet möglicherweise auch, dass eine negative Erwartungshaltung der Mitarbeiter, im Sinn einer vor- <?page no="324"?> 310 Die Teilhabe der Mitarbeiter gefassten Meinung und von Vorurteilen, nur eine Antwort der Unternehmensleitung als authentisch zulässt, die diese Vorurteile bestätigt (Beispiele „Zensur“, „Chat-Anbindung“ und „Zuweiser“). In den beiden Beispielen „Zensur“ und „Chat-Anbindung“ geben die Mitarbeiter für ihr Misstrauen die beiden häufig angeführten Gründe an, dass die Unternehmensleitung Antworten nicht zeitnah gibt, wenige Fragen gestellt werden und zu wenig Auskünfte über die Chat-Tätigkeit der Unternehmensleitung mitgeteilt werden. Es wird sich aber zeigen, dass in beiden Fällen die angegebenen Gründe tatsächlich nur Auslöser sind. Im Beispiel „Zensur“ sucht ein Mitarbeiter Ursachen für den schleppenden Verlauf eines Chats und fordert von der Unternehmensleitung eine Erklärung dafür ein. Zensur 149 MA Werden wirklich so wenig Fragen gestellt und antworten ‘die Experten‘ wirklich so langsam? Oder warum passiert hier so wenig? : D158 150 Mod Die Experten haben bislang (nahezu) alle Fragen beantwortet mehr Fragen als Sie sehen, kommen derzeit nicht herein. Sie sehen definitiv ALLE Fragen (keine Zensur). Die Antworten kommen tatsächlich manchmal etwas verspätet die Experten benötigen halt auch etwas Zeit zur genügend detaillierten Beantwortung ... In dem Chat, dem das Beispiel „Zensur“ entnommen ist, war die Chat-Tätigkeit aufgrund technischer Schwierigkeiten stark eingeschränkt. Der Mitarbeiter fragt nach den Ursachen für die geringe Anzahl der Beiträge („warum passiert hier so wenig? “) und fordert damit die bisher wenig in den Chat eingebundene Unternehmensleitung auf, Beiträge zu schreiben. Er zieht zwar in Betracht, dass die geringe Chat-Tätigkeit die Ursache für die wenigen Beiträge ist, vermutet aber eventuell andere Gründe („wirklich“, „oder“), sowohl hinsichtlich der Anzahl der Fragen als auch der Antwortgeschwindigkeit der Unternehmensleitung. Der antwortende Moderator rechtfertigt sich für die Situation („Die Antworten kommen tatsächlich manchmal etwas verspätet - die Experten benötigen halt auch etwas Zeit zur genügend detaillierten Beantwortung …“), da er annimmt, dass der Mitarbeiter die Situation als Ausübung interaktionaler Dominanz interpretiert und konkret Zensur von Beiträgen und absichtliche Nichtbeantwortung von Fragen vermutet („Sie sehen definitiv ALLE Fragen (keine Zensur“). Chat-Anbindung 51 MA Ich hoffe mal, dass nur die Chat-Anbindung von Herrn [Vorstand] abgestürzt ist (=peinlich), aber vermutlich hat er jetzt wichtigere Dinge vor (=Fechheit) <?page no="325"?> Bevorrechtigung in Fragen 311 Im Beispiel „Chat-Anbindung“ wirkt die Störung der Authentizität, die durch den Chat entsteht, nur verstärkend auf die bereits vorhandene Einstellung des Mitarbeiters, für den Geschäftsführer habe der Chat eine niedere Priorität. Auch die Vermutung des Mitarbeiters im Beispiel „Zensur“, der Chat sei zensiert, kann ihren Ursprung nicht im Chat haben, denn die geäußerten Vermutungen (Selektion und Löschen von Beiträgen, nachrangige Priorität des Chat) sind nicht zutreffend. Vielmehr handelt es sich um unterschwellige Vermutungen, die im Chat verstärkt werden oder erst zum Ausdruck kommen. In der wissenschaftlichen Literatur stehen Authentizität und Moderation einander als Gegensätze gegenüber (Döring 2003, 510 f.). Im vorliegenden Datenkorpus steht das Bemühen der Organisatoren um größtmögliche Authentizität im Vordergrund. Nachdem festgestellt wurde, dass die Mitarbeiter eine Selektion der Beiträge vermuten, obwohl keine Selektion vorgenommen wurde, und die Mitarbeiter Misstrauen hinsichtlich der Glaubwürdigkeit der Unternehmensleitung geäußert sowie den Einsatz von Moderatoren als Zensurbestrebungen aufgefasst haben, wurde im Weiteren auf Moderation weitestgehend verzichtet (Kap.-4.2.1.). Die vermutete Zensur durch Moderatoren hat ihre Ursache darin, dass bei der Zuordnung von Fragen durch Moderatoren die Adressierung von Fragen für die Mitarbeiter nur eingeschränkt möglich ist. Die Fragen können nicht direkt platziert werden, sondern werden, soweit der Moderator die Adressierung nicht sieht oder innerhalb längerer Sequenzen den sequentiellen Zusammenhang nicht erkennt, einem anderen als dem gemeinten Mitglied der Unternehmensleitung zugewiesen. Die Mitarbeiter scheinen sich an dieser Zuordnung zu stören und versuchen mit ihren Fragen durch Adressierungen oder explizite Hinweise an den Moderator, die Einflussnahme der Moderation zu umgehen. So verringert sich in den Chats, in denen Moderatoren die Beiträge zuweisen, die Anzahl längerer Sequenzen, während wieder längere Sequenzen feststellbar sind, nachdem die Verteilung der Beiträge durch Moderatoren eingestellt wurde (Kap.-6.3.2.2., Abb.-35). Im Beispiel „Zuweiser“ thematisiert ein Mitarbeiter die vermutete Zensur des Chat. Zuweiser 48 MA1 zu [MA2] und [MA3]: schaut mal in die chat Mitschrift links, dann seht ihr, dass Eure Fragen gar nicht erst zur Beantwortung zugewiesen werden, sondern schon als offen da stehen bleiben. Die Zuweiser sind die Censoren im Chat, nicht (oder nicht nur) die Führungsriege! Das Beispiel ist einem Chat des Chat-Typ 2 entnommen, in dem auf der Benutzeroberfläche am Bildschirm die Beiträge der Mitarbeiter und der Unter- <?page no="326"?> 312 Die Teilhabe der Mitarbeiter nehmensleitung einander zugeordnet gegenübergestellt werden (Kap.- 4.2.1.). Der Mitarbeiter erklärt sich die offen bleibenden Fragen damit, dass diese vom Moderator nicht einem Mitglied der Unternehmensleitung zugewiesen würden. Insgesamt bleiben in den moderierten Chats keine Fragen offen, da die Antworten zumindest per E-Mail asynchron nachgereicht und zudem vollständig im Intranet für die Mitarbeiter zum Nachlesen verfügbar gehalten werden (Kap.- 6.3.2.2., Abb.- 35). Somit liegt es nahe, dass der Mitarbeiter die Funktion des Moderators falsch auffasst. In Chats ohne Moderation richtet sich das Misstrauen hinsichtlich einer Zensur direkt an die Unternehmensleitung, wie im nachfolgend besprochenen Beispiel „Circus“. Ein weiterer Auslöser für Misstrauen sind fehlende Antworten aufgrund technischer Schwierigkeiten (Beispiel „Chat-Anbindung“). Hinter technischen Ausfällen wird vermutet, dass die Unternehmensleitung nicht wie angekündigt am Chat teilnimmt. Da die Unternehmensleitung im Chat als Gesprächspartner nicht sichtbar ist, misstrauen die Mitarbeiter, wenn die Beiträge der Unternehmensleitung als einziger sichtbarer Hinweis auf ihre Chat-Teilnahme entfallen, den Versicherungen, dass die Unternehmensleitung zwar anwesend ist, wegen technischer Schwierigkeiten aber keine Beiträge senden kann. Hinweise auf die Komplexität und damit einhergehende Fehleranfälligkeit der technischen Infrastruktur erscheinen den Mitarbeitern nicht glaubwürdig (Beispiel „Serverprobleme“ in Kap.- 6.2.1.4.), eine Einschätzung, die möglicherweise aus der Homogenität der Benutzeroberfläche resultiert, die Schwierigkeiten in der dahinter stehenden technischen Infrastruktur ausblendet, so dass die Chat-Teilnehmer die von der Unternehmensleitung mitgeteilten technischen Ausfälle selbst nicht bemerken. Dagegen thematisiert der Mitarbeiter im Beispiel „Circus“ in einem nicht moderierten Chat inhaltlich begründetes Misstrauen gegen die Unternehmensleitung. Circus 372 MA Bitte um ehrliche Antwort: Meine Erfahrung aus unseren bisherigen Chats war, daß die ”-heiklen und interessanten“ Fragen eh nicht ehrlich beantwortet werden. Warum machen wir den ganzen Circus eigentlich oder ist das nur Seelenmassage für unsere Chefs (wir stellen uns den Fragen unserer Mitarbeiter)? Mit der Differenzierung der eingeforderten Antwort („ehrliche Antwort“) stellt der Mitarbeiter die Aufrichtigkeit der Unternehmensleitung in Frage und moniert die Beantwortung der Fragen, die er subjektiv als „heikel“ und „interessant“ beschreiben würde. Es liegt nahe, dass der Mitarbeiter eine vorgefasste, möglicherweise auf früheren Erfahrungen begründete, schlechte Meinung hat, die er bestätigt sehen will, und davon abweichende Antworten als unaufrichtig <?page no="327"?> Bevorrechtigung in Fragen 313 abwertet. Da die Frage bereits eine Kritik als Antwort enthält („oder ist das nur Seelenmassage für unsere Chefs“), bedarf sie als rhetorische Frage keiner inhaltlichen Antwort und sie bleibt auch unbeantwortet. Der Mitarbeiter unterstellt der Unternehmensleitung eine schlechte Einstellung („Seelenmassage“, „wir stellen uns den Fragen unserer Mitarbeiter“), so dass die Unternehmensleitung sich nur mit einer Rechtfertigung äußern könnte. Dabei zeigt sich, wie am Beispiel „Nomenklatur“, dass die Unternehmensleitung auf Unterstellungen, die aufgrund von Misstrauen entstehen, durchaus eingeht, soweit es sich um tatsächliche Fragen handelt. Nomenklatur 204 MA Hallo zusammen, sicher klingt das alles sehr schön optimistisch. Die vielen neuen Abkürzungen und Organisations-Namen. Aber haben Sie in Ihren Überlegungen auch mal an die Mitarbeiter gedacht, die nicht Ihren intellektuellen Grad haben, die tagtäglich Ihren Job sehr gut machen und die dieses Gerede über Reorganisation stark verunsichert? Oder möchten Sie nur noch MitarbeiterInnen, die tolle Sprüche klopfen und sich von einem Pöstchen zum anderen hangeln? 204 V Kann Ihren Kommentar verstehen. Aber: was wollen Sie machen, wenn zwei Organisationen wie [zugekaufte Unternehmenssparte] und DTAG-Einheiten zusammenkommen, die alle vorher ordentlich organisiert waren? Dies muss natürlich zu einer neuen Nomenklatur führen. Allerdings ist es jetzt wichtig, dass wir in Zukunft hiermit stabil bleiben und sich die neuen Bezeichnungen festsetzen. Das Intranet soll dazu beitragen, dass die Inhalte der einzelnen Einheit bekannt werden und die Mitarbeiter sich orientieren können. Glücklicherweise haben unsere Mitarbeiter durchwegs einen hohen intellektuellen Grad erreicht und ich bin sicher, dass in den nächsten Monaten das Gesamtkonzept verstanden und gelebt werden wird. Natürlich brauchen wir am meisten die Kolleg(inn)en, die beim Kunden oder intern kundenbezogene Arbeit leisten und wenig Sprüche klopfen. Zunächst beschreibt der Mitarbeiter die Situation im Unternehmen, wie sie sich ihm darstellt, als erfreulich („sicher klingt das alles sehr schön optimistisch.“), wenn auch die Modalpartikel bereits auf die nachfolgende Kritik hinweist („sicher“). In seiner Frage bezieht sich der Mitarbeiter auf eine Personengruppe („die Mitarbeiter […], die nicht Ihren intellektuellen Grad haben, die tagtäglich Ihren Job sehr gut machen“), für die er die derzeitige Situation als nachteilig bewertet („die dieses Gerede über Reorganisation stark verunsichert“), und fragt nach der Sichtweise der Unternehmensleitung auf die Lage dieser Personengruppe („Aber haben Sie in Ihren Überlegungen auch mal an die Mitarbeiter gedacht“). Sein eigenes Misstrauen äußert der Mitarbeiter erst in der <?page no="328"?> 314 Die Teilhabe der Mitarbeiter angeschlossenen zweiten Frage („Oder möchten Sie“), in der er der Unternehmensleitung eine Einstellung unterstellt, die, falls sie zutrifft, wahrscheinlich für ihn selbst auch nachteilig wäre. Der Mitarbeiter befürchtet, dass in der derzeitigen Situation die geschickte Positionierung der eigenen Person dem Werdegang eines Mitarbeiters förderlicher ist als die Erfüllung seiner Aufgaben („MitarbeiterInnen, die tolle Sprüche klopfen und sich von einem Pöstchen zum anderen hangeln? “). Seine eigene negative Bewertung des beschriebenen Verhaltens, die durch die Verwendung zweier Phraseologismen emotional besetzt ist („tolle Sprüche klopfen“, „sich von einem Pöstchen zum anderen hangeln“), weist darauf hin, dass er selbst nicht zu diesen Mitarbeitern gehört, die sich geschickt positionieren können, und befürchtet, dadurch in der neuen Unternehmensstruktur übervorteilt zu werden. Der Vorstand geht bereits in der folgenden Sequenz auf die Assertion des Mitarbeiters ein und eröffnet seinen Beitrag hoch responsiv, indem er Verständnis für die Sichtweise des Mitarbeiters äußert („Kann Ihren Kommentar verstehen.“), bewertet die Darstellung des Mitarbeiters aber explizit als subjektiv („Kommentar“). Anschließend rechtfertigt („Aber: “) er in einer rhetorischen Frage die Vorgehensweise der Unternehmensleitung als unabdingbare Maßnahmen („was wollen Sie machen, wenn zwei Organisationen wie [zugekaufte Unternehmenssparte] und DTAG-Einheiten zusammenkommen, die alle vorher ordentlich organisiert waren? “). Die folgende Beschreibung von Handlungszusammenhängen („neuen Nomenklatur“, „sich die neuen Bezeichnungen festsetzen“, „Das Intranet soll dazu beitragen“, „in den nächsten Monaten das Gesamtkonzept verstanden und gelebt“) zielt auf die Befürchtungen des Mitarbeiters („nur noch MitarbeiterInnen, die tolle Sprüche klopfen und sich von einem Pöstchen zum anderen hangeln“) und dürfte durchaus geeignet sein, das Misstrauen des Mitarbeiters zu zerstreuen („wichtig, dass wir in Zukunft hiermit stabil bleiben“, „Natürlich brauchen wir am meisten die Kolleg(inn)en, die beim Kunden oder intern kundenbezogene Arbeit leisten und wenig Sprüche klopfen“). Der Mitarbeiter führt die Sequenz nicht fort und der betreffende Chat weist im Weiteren keine Fragen zu diesem Thema auf, so dass naheliegt, dass der Vorstand aufgrund der transparenten Darstellung der Zusammenhänge das Misstrauen zu den thematisierten Ereignissen des Wandels ausräumen konnte. Die Äußerung von Misstrauen erweist sich in der Zusammenfassung der Analyse als kommunikativ relevantes Sprachhandeln, dessen Auftreten von in der Art der Chat-Organisation bedingten Auslösern und von außerhalb des Chats liegenden Ereignissen im Unternehmen abhängt. Möglicherweise besteht auch ein Zusammenhang mit den Antworten, die im Chat gegeben werden, wenn diese nicht der Erwartung der Mitarbeiter entsprechen oder von den Mitarbeitern nicht als authentisch eingeschätzt werden. <?page no="329"?> Organisatorischen Wandel mitgestalten 315 6.4 Organisatorischen Wandel mitgestalten: Die Sprachhandlung Vorschlag Neben den hohen Anteilen des Gesprächstyps Befragung (16.221 Ausprägungen) und der Sprachhandlung Kritik (5.407 Ausprägungen) an den sprachlichen Handlungsformen im vorliegenden Datenkorpus lassen sich auch vermehrt innovative Äußerungen der Mitarbeiter ausmachen, die sich in Vorschlägen und konstruktiven Nachfragen äußern (Kap.- 4.4., Abb.- 23). In diesem Kapitel soll gezeigt werden, wie die Sprachhandlung Vorschlag (836 Ausprägungen) den Mitarbeitern ermöglicht, eigene Anliegen in den Diskurs mit der Unternehmensleitung einzubringen und auf diesem Weg organisatorischen Wandel mitzugestalten. Abb.-38: Das sprachliche Handlungsmuster Vorschlag <?page no="330"?> 316 Die Teilhabe der Mitarbeiter Als Sprachhandlung Vorschlag bezeichne ich Interaktionen der Mitarbeiter, die darauf abzielen, Handlungsabläufe im Unternehmen zu verändern, mit der Absicht, diese vor dem Hintergrund der eigenen Einstellungen und Perspektiven zu verbessern, wobei die Verbesserungsmöglichkeiten gemeinsam erörtert werden sollen und die Mitarbeiter nicht auf die Umsetzung der Verbesserung durch die Unternehmensleitung angewiesen sind. Weiter unterscheide ich Vorschläge nach den Einstellungsänderungen und Perspektivübernahmen, die vollzogen oder aber absichtlich oder unabsichtlich nicht vollzogen werden. An diesen Kriterien ist auch die Abgrenzung der thematischen Formen des sprachlichen Handlungsmusters Vorschlag (Abb. 38) orientiert. thematische Form 1 thematische Form 2 Sprachhandeln 1. Problematisieren eines bestehenden Sachverhalts 2. Lösungsvorschlag 1. Thematisieren eines bestehenden Sachverhalts 2. Beschreibung seiner Vorteile 3. Vorschlag zur Beibehaltung Thematisierung explizit implizit angestrebte Wirkung auf die Unternehmensstruktur Strukturbildende Innovation Bewahrung bestehender Strukturen Perspektive vs. Unternehmensziele Perspektivenkonvergenz Perspektivendivergenz Beispiel „Guten Tag, im Rahmen der Neuorganisation und der damit neuen Kostenstellen für die [Unternehmenssparte], besteht vielleicht die Möglichkeit eine Hotline einzurichten, damit solche Fragen „Wo bekomme ich mein Handy, Kopierer, Bürodrehstuhl „ nicht stundenlange Detektivarbeit erfordern.“ (Beispiel „Hotline“) „es gab mal intern die Möglichkeit, jeder für sich, im Intranet einen Skillfragebogen auszufüllen, nur das wird meiner Meinung nach nicht gelebt...“ (Beispiel „Skillfragebogen“) Abb.-39: Die thematischen Formen der Sprachhandlung Vorschlag Die kommunikativen Handlung Vorschlag kommt in zwei thematischen Formen vor (Abb. 39). Die thematische Form 1 umfasst interaktionales Handeln, das als strukturbildende Innovation wirkt. Die Mitarbeiter thematisieren einen Sachverhalt, den sie unbefriedigend finden, und machen konstruktive Lösungsvorschläge. Voraussetzung für das Entstehen der thematischen Form- 1 <?page no="331"?> Organisatorischen Wandel mitgestalten 317 sind Einstellungen und Perspektiven der Mitarbeiter, die konvergent zu den Vorgaben der Unternehmensleitung sind. Die thematische Form 2 umfasst interaktionales Handeln, das auf das Bewahren der bestehenden Struktur des Unternehmens abzielt. Dafür sind im vorliegenden Datenkorpus nur 32 Belege nachweisbar und in allen Fällen äußern die Mitarbeiter ihre Vorschläge nur implizit. Die Mitarbeiter haben meistens (27 Belege) eine konstruktive Einstellung zum Unternehmen. Sie nehmen jedoch Vorteile von Veränderungen, auch wenn diese in ihrem eigenen Interesse sind, nicht wahr oder messen ihnen nur wenig Bedeutung bei. Vielmehr ziehen sie es vor, bestehende Strukturen zu bewahren, und halten das für sich selbst und auch für das Unternehmen für die beste Vorgehensweise. Dazu thematisieren die Mitarbeiter einen bestehenden Sachverhalt und beschreiben seine Vorteile für das Unternehmen. Thematische Form 1 der kommunikativen Handlung Vorschlag Die thematische Form 1 bildet Vorschläge ab, bestehende Strukturen zu verbessern oder neue Handlungsoptionen zu etablieren. Dieses Sprachhandeln der Mitarbeiter resultiert aus der konvergenten Einstellung zu den Unternehmensleitlinien sowie der zugleich vorhandenen Fähigkeit und der Bereitschaft, die Belange des Unternehmens aus der Perspektive der Unternehmensleitung zu sehen. Vorschläge der thematischen Form 1 sind Innovationen, die den Wandel befördern, da sie die Umsetzung neuer Leitlinien auf der operativen Ebene initiieren. Die thematische Form 1 tritt, soweit die Mitarbeiter Vorschläge zur Verbesserung ihres Arbeitsumfelds machen, in Einzelvorschlägen wie in den Beispielen „Hotline“ und „Werbefläche“, als Metakommunikation über die Kommunikation des Wandels wie im Beispiel „Gesamter Blumenstrauß“ und als thematisch komplexe Vorschläge wie im Beispiel „E-Business“ auf. Dabei handelt es sich durchgehend um kurze Sequenzen mit zwei oder vier paarig angeordneten Beiträgen, in denen die Mitarbeiter einen Vorschlag machen und die Unternehmensleitung diesen aufnimmt oder mit Begründung ablehnt. Es gibt im vorliegenden Datenkorpus keinen Beleg für die Sprachhandlung Vorschlag, in dem eine Sequenz zwischen jeweils einem Interaktant aus den Gruppen der Mitarbeiter und der Unternehmensleitung durch Nachfragen oder argumentative Beiträge erweitert ist. Längere Gesprächsstränge wie im Beispiel „Mitarbeiterzeitung“ entwickeln sich nur in Expertengesprächen zu Themen, die zwar nicht unbedingt das Arbeitsumfeld der gesprächsbeteiligten Mitarbeiter und der Unternehmensleitung betreffen, für die aber alle Beteiligten eine hohe fachliche Kompetenz besitzen. Das liegt daran, dass die Perspektivendifferenz zwischen den Mitarbeitern und der Unternehmensleitung dort am geringsten ist und alle Beteiligten befähigt sind, konstruktive Vorschläge zu machen. <?page no="332"?> 318 Die Teilhabe der Mitarbeiter In den Beispielen „Hotline“ und „Werbefläche“ macht jeweils ein Mitarbeiter einen Vorschlag, der sich auf eine einzelne, in ihren Auswirkungen auf die Struktur des Unternehmens sehr eng begrenzte Maßnahme bezieht. Hotline 36 MA Guten Tag, im Rahmen der Neuorganisation und der damit neuen Kostenstellen für die [Unternehmenssparte], besteht vielleicht die Möglichkeit eine Hotline einzurichten, damit solche Fragen ”Wo bekomme ich mein Handy, Kopierer, Bürodrehstuhl-” nicht stundenlange Detektivarbeit erfordern. 37 UL Wir werden Ihre Anregung aufgreifen und mit dem Leiter [Organisationseinheit] lösen. Obwohl die Einrichtung einer Hotline keine Auswirkung hat, die sie als Ereignis organisatorischen Wandels darstellen würde oder im Zusammenhang damit gebracht werden müsste, bezieht der Mitarbeiter im Beispiel „Hotline“ seinen Vorschlag auf den organisatorischen Wandel im Unternehmen, der für ihn offensichtlich positiv konnotiert ist. Da er in einer Hotline eine Verbesserung seiner Arbeitsbedingungen sieht, soll ihm der organisatorische Wandel, von dem er sich mehr finanzielles Budget erhofft („neuen Kostenstellen“), einen Weg zur Umsetzung seines Vorschlags eröffnen. Werbefläche 274 MA Werbung auf den Firmenautos. Warum kann hier nicht mal etwas neues umgesetzt werden? Hier haben wir doch eine prima Werbefläche und ein [Unternehmenssparte] Logo schadet doch nicht. 275 UL Wir haben das [Unternehmenssparte] Logo schon auf verschiedenen Fahrzeugen umgesetzt. Wenn es weiteren Bedarf gibt, wenden Sie sich bitte direkt an mich. Im Beispiel „Werbefläche“ äußert der Mitarbeiter den Vorschlag, das Firmenlogo zu Werbezwecken auf den Firmenfahrzeugen anzubringen. Aus dem Beitrag ist nicht ersichtlich, ob der Mitarbeiter beruflichen oder persönlichen Nutzen aus seinem Vorschlag ziehen will. Es ist aber denkbar, dass er ein Firmenfahrzeug als Dienstwagen nutzt und im privaten Umfeld sein Image mit der besseren Kenntlichmachung des Fahrzeugs als Dienstwagen durch das Firmenlogo aufbessern will. In beiden Beispielen haben die Mitarbeiter eine positive Einstellung zu organisatorischem Wandel („im Rahmen der Neuorganisation […] besteht vielleicht die Möglichkeit“, „etwas neues umgesetzt“). Die Unternehmensleitung nimmt in beiden Beispielen den Vorschlag des Mitarbeiters auf, wobei im Beispiel <?page no="333"?> Organisatorischen Wandel mitgestalten 319 „Hotline“ zwar nicht die Umsetzung des Vorschlags, aber eine Lösung des Problems zugesagt wird und der Mitarbeiter im Beispiel „Werbefläche“, obwohl sein Vorschlag bereits umgesetzt und eine Erweiterung abgelehnt wird, das Angebot erhält, sich mit seinem Anliegen direkt an die Unternehmensleitung zu wenden. Vorschläge und die Bereitschaft zur Übernahme neuer Perspektiven, die mit der Bildung neuer Unternehmensstrukturen einhergehen, kennzeichnen durchwegs die Beiträge der Mitarbeiter, denen die Unternehmensleitung anbietet, sich über den Chat hinaus direkt an sie zu wenden. In Kap.-5.5.2. sind die in der vorliegenden Arbeit analysierten Beiträge der Unternehmensleitung zusammengetragen, in denen sie Mitarbeitern Angebote für Unterstützung auch nach Ablauf des Chats macht. Die Situation, dass die Unternehmensleitung auf einen Vorschlag eingeht, aber eine andere als die vorgeschlagene Umsetzung wählt, ist sonst bei Vorschlägen zu beobachten, die wie im Beispiel „Gesamter Blumenstrauß“ komplexe Auswirkungen auf die organisatorischen Strukturen oder Prozesse des Unternehmens haben. Gesamter Blumenstrauß 3 MA Sehr geehrter Herr [Vorstand], ich gehe davon aus, dass allen MA der DTAG klar ist in welcher Situation sich unser Unternehmen derzeit befindet und es notwendig ist, durch geeignete Maßnahmen u. a. Personalkosten / -Personalabbaudie Zukunftsfähigkeit unseres Unternehmens sicherzustellen. Bedenklich ist, dass diese Maßnahmen „bröckchenweise“ serviert werden und uns seit Jahren belasten. Dieses Verhalten ist nicht förderlich bzgl. Produktivität und Motivation, gerade dies braucht unser Unternehmen. Seien Sie mutig und überreichen Sie den MA endlich den „gesamten Blumenstrauß“ der Maßnahmen und „pokern“ Sie nicht mit den MA, um dessen Schmerzgrenze zu erfahren. Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende! 4 V Hallo [Mitarbeiter], ich stimme Ihnen zu. Es macht keinen Sinn, notwendige Maßnahmen nur scheibchenweise bekannt zu geben. Vielmehr gehört alles auf den Tisch, damit sich alle Beteiligten auf das einstellen können, was auf sie zukommt. Andernfalls verlören wir Glaubwürdigkeit und könnten uns nicht mehr sicher sein, dass Mitarbeiter und Sozialpartner uns jedenfalls in den Problemlösungen begleiten, die sie selbst als richtig erkannt haben. Deshalb habe ich sowohl der [Gewerkschaft] als auch den BR ein Gesamtpaket für die nächsten Jahre vorgeschlagen, das einerseits ein Maximum an Beschäftigungssicherung und andererseits eine aus heutiger Sicht belastbare Perspektive enthält. Da der Beitrag des Mitarbeiters trotz seiner Länge bereits kurz nach Beginn des Chats eingeht, mit der elaborierten Anrede einem formellen Briefstil entspricht („Sehr geehrter Herr [Vorstand]“), zahlreiche Merkmale konzeptionel- <?page no="334"?> 320 Die Teilhabe der Mitarbeiter ler Schriftlichkeit (Storrer 2002, 4) wie die formelle Anrede und vollständige, komplexe Sätze enthält sowie im Vergleich zu anderen Beiträge lang ist, kann davon ausgegangen werden, dass der Mitarbeiter den Beitrag bereits vor Beginn des Chats verfasst hat und ihn nun in das Texteingabefeld auf der Benutzeroberfläche der Software für die Chat-Kommunikation hineinkopiert. Der Mitarbeiter macht den Vorschlag, den Mitarbeitern Beschlüsse über Maßnahmen des organisatorischen Wandels zeitnah und vollumfänglich mitzuteilen („Seien Sie mutig und überreichen Sie den MA endlich den ‚gesamten Blumenstrauß‘ der Maßnahmen“). Er vermutet, dass bislang Informationen über geplante Ereignisse absichtlich zurückgehalten und den Mitarbeitern nur nach und nach eröffnet werden, abhängig davon, wie weit die Mitarbeiter die Maßnahmen akzeptieren („und ‚pokern‘ Sie nicht mit den MA, um dessen Schmerzgrenze zu erfahren“). Der Vorstand bestätigt die Bedeutung zeitnaher Informationen ausführlich, indem er herausstellt, dass er selbst auf die Meinung der Mitarbeiter Wert legt („damit sich alle Beteiligten auf das einstellen können“, „Glaubwürdigkeit“, „dass Mitarbeiter und Sozialpartner uns jedenfalls in den Problemlösungen begleiten, die sie selbst als richtig erkannt haben“), und verweist im Weiteren darauf, dass er selbst die Mitarbeiter frühzeitig informiert und gegenüber den Mitarbeitern sowie der Gewerkschaft und den Betriebsräten („BR“) als ihren Vertretern eine transparente Informationspolitik betreibt („Deshalb habe ich […] ein Gesamtpaket für die nächsten Jahre vorgeschlagen“). Da die Sequenz nicht weiter fortgesetzt wird, bleibt offen, ob der Mitarbeiter sich von der Antwort des Vorstands über eine Bestätigung seiner Sichtweise und die Information zu einem bereits bekannten Maßnahmenpaket hinaus weitere Informationen erhofft hat, möglicherweise sogar ein Gespräch auf Augenhöhe. Im Gegensatz zu den Vorschlägen, die in den Beispielen „Hotline“ und „Werbefläche“ geäußert werden, enthält die Metakommunikation über die Kommunikation des organisatorischen Wandels im Beispiel „Gesamter Blumenstrauß“ komplexe Vorschläge des Mitarbeiters, deren Umfang und Auswirkungen er aus seiner Position heraus nicht abschätzen kann. Darauf lassen auch die vermutliche Vorbereitung seines Beitrags vorab und die Äußerungen in seinem Beitrag schließen, die durch Pauschalierungen („ich gehe davon aus, dass allen MA der DTAG klar ist“) sowie die Verwendung allgemeiner Metaphern („bröckchenweise“, „serviert“, „gesamten Blumenstrauß“, „pokern“) und der abschließenden Redewendung („Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende! “) vage bleiben. In dieser Situation ist es naheliegend, dass der Vorstand seine Antwort ausführlich und allgemeinverständlich hält, sich aber nicht auf eine Diskussion der Vorgehensweise einlässt, die die Unternehmensleitung in der Mitarbeiterkommunikation wählt. Zwar nennt er die Vereinbarungen mit den Mitarbeitervertretern als Beispiel für die Vorbildlichkeit seiner eigenen Vorgehensweise in der Mitarbeiterkommunikation, geht aber nicht darauf ein, ob er eine bestimmte Strategie der Mitarbeiterkommunikation verfolgt und wie diese <?page no="335"?> Organisatorischen Wandel mitgestalten 321 gegebenenfalls aussieht. Letztendlich vermeidet es der Vorstand, sich über die Information zu den bekannten Maßnahmen hinaus auf die Metakommunikation des Mitarbeiters einzulassen, da er davon ausgehen kann, dass der Mitarbeiter nicht die Perspektive und Kompetenz hat, seinen Vorschlag („überreichen Sie den MA endlich den ‚gesamten Blumenstrauß‘ der Maßnahmen“) angemessen zu diskutieren. Dagegen geht die Unternehmensleitung bei komplexen Vorschlägen, die weitreichende Auswirkungen auf die organisationale Struktur des Unternehmens haben, durchaus auf die Vorschläge der Mitarbeiter ein und äußert sich zu Möglichkeiten der Umsetzung, soweit die Vorschläge die Kompetenz des betreffenden Mitarbeiters erkennen lassen. Diese Anpassung der Antworten an die Perspektive der Mitarbeiter, die den Fragen zugrunde liegt, soll anhand des Beispiels „E-Business“ weiter untersucht werden. E-Business 135 MA Wie können die verantwortlichen Vertriebsmitarbeiter für einzelne Kunden im Intranet sichtbar gemacht werden? Heute besteht eine Welle von Telefonaten und Nachfragen, bis die Personen in den Selling-Teams identifiziert sind (vielfach würden für unsere Top 250 Kunden im ersten Schritt die Information online genügen). Auch vom Ausland sind viele Anfragen gegeben. 136 UL Hallo Herr [Mitarbeiter], dazu machen wir uns auch Gedanken über eine kundenbezogene Extranet-Lösung. Guter Hinweis. Schicken Sie mir doch bitte mal eine Mail um diese Anforderung zu präzisieren. Da müssen wir ran. 157 MA Wir verkaufen gute E-Business-Lösungen an unsere Kunden. Können wir uns davon nicht eine Scheibe für uns selbst abschneiden. Ich sorge im Projekt [Bezeichnung] dafür, dass DTAG-Lieferanten direkt auf bisher interne Bedarfs- und Bestandsdaten zugreifen können. Sollten wir nicht auch über ein Internet-Portal direkt auf [Verwaltungsprogramm] etc. zugreifen können? Ist ein solches Mitarbeiter-Internet-Portal geplant? 158 V Einkaufsplattform geplant und (sehr langsam) im Roll out begriffen. Viele Kollegen wollen sich davor drücken, weil das alte Bestellverfahren und EK-Verfahren ungern verlassen wird. Freiwilligkeit hört hier jetzt auf. Werden das mit Macht durchdrücken. Im Verlauf eines Chats sendet der Mitarbeiter zwei Beiträge, in denen er jeweils einen komplexen Vorschlag äußert. Den ersten Vorschlag (Beitrag 135), für die besten Kunden eine Online-Information über Ansprechpartner einzurichten, äußert er nur beiläufig („vielfach würden für unsere Top 250 Kunden im ersten Schritt die Information online genügen“), nachdem er die Problematik, dass viele Kundenanfragen nötig sind, um den geeigneten Ansprechpartner <?page no="336"?> 322 Die Teilhabe der Mitarbeiter zu finden, geschildert und Fragen nach Lösungen gestellt hat. Die Bestätigung der Unternehmensleitung scheint den Mitarbeiter zu einem weiteren Vorschlag (Beitrag 157) zu ermuntern (Kap.- 6.2.2.2.). Während der erste Vorschlag (Beitrag 135) nicht erkennbar zu seinem eigenen beruflichen Vorteil war, wird im zweiten Vorschlag (Beitrag 157), ein Mitarbeiter-Internet-Portal zu schaffen, deutlich, dass er in beiden Beiträgen organisationale Strukturen aus seinem Arbeitsbereich thematisiert („Ich sorge im Projekt [Bezeichnung] dafür, dass DTAG-Lieferanten direkt auf bisher interne Bedarfs- und Bestandsdaten zugreifen können“) und die Vorschläge auf eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen in seinem Arbeitsumfeld und die Effizienz der Arbeitsleistung abzielen. Die Unternehmensleitung stimmt dem Mitarbeiter in beiden Antworten (Beiträge-136 und 158) zu und lässt sich, im Gegensatz zum Beispiel „Gesamter Blumenstrauß“, auch inhaltlich auf den Vorschlag ein, vermutlich aufgrund der im Beispiel „E-Business“ erkennbaren Kompetenz des Mitarbeiters für die organisationale Struktur, zu der er Vorschläge äußert. Darüber hinaus zeigt der Vorstand in seiner Antwort ein kollegiales Sprachhandeln gegenüber dem Mitarbeiter, indem er das Verhalten anderer Mitarbeiter bewertet („Viele Kollegen wollen sich davor drücken“) und sich mit gruppensprachlichen Ausdrucksformen von Führungskräften („durchdrücken“) und einem deutlich von konzeptioneller Mündlichkeit geprägtem Stil mit umgangssprachlichen Floskeln und reihendem Satzbau mit uneindeutigen Satzgrenzen („sich davor drücken“, „Freiwilligkeit hört hier jetzt auf. Werden das mit Macht durchdrücken.“) zu weiteren Maßnahmen äußert. Nachdem sich gezeigt hat, dass die Unternehmensleitung Vorschläge der thematischen Form 1 gerne bestätigt und aufgreift, sowie sich bei hinreichend gezeigter Kompetenz der Mitarbeiter in den Antworten inhaltlich zu dem Vorschlag äußert, soll im Folgenden dargestellt werden, wie die Mitarbeiter und die Unternehmensleitung Vorschläge zu fachlichen Expertenthemen auf Augenhöhe besprechen. Im Beispiel „Mitarbeiterzeitung“ diskutieren ein Mitglied der Unternehmensleitung und einige Mitarbeiter als Experten über die technischen Möglichkeiten zum Verteilen der unternehmensinternen Mitarbeiterzeitung. Mitarbeiterzeitung 6 UL Hallo Kolleginnen und Kollegen, zum Aufwärmen mal eine Frage von unserer Seite: Wie gefällt Ihnen die Mitarbeiter-Zeitung [Name]? Was sollten wir verbessern? 13 MA1 Zur Zeitung [Name]: wenn die PALM-gerecht verfügbar wäre, würde ich das begrüßen! 14 UL Alle Artikel in der Systems & People sind im Intranet unter Kommunikation/ Presse/ Medien/ [Name] archiviert und zum Download verfügbar. Versuchen Sie‘s mal mit Ihrem Palm. <?page no="337"?> Organisatorischen Wandel mitgestalten 323 19 MA2 Wäre es in Zeiten einer angespannten finanziellen Lage nicht sinnvoll, auf diese Mitarbeiterzeitung (und deren Versand per gelber Post) zu verzichten? : 20 UL Darüber denken wir tatsächlich nach. Noch scheint uns der Zeitpunkt dafür zu früh. Wenn wir das neue [Unternehmenssparte]-Intranet, gestützt auf ein Content Management System, wirklich für alle im In-und Ausland voll verfügbar haben, wäre der Zeitpunkt gekommen. 23 MA3 Die [Name Mitarbeiterzeitung] wird doch bestimmt am Rechner erstellt. Vielleicht könnte Versand auch als PDF erfolgen? 24 UL Das haben wir auch schon untersucht, aber der dadurch erzeugte Traffic auf unseren Leitungen und die wahrscheinlich zahlreichen Versuche, das Objekt auszudrucken, haben uns bisher davon abgeschreckt. 131 MA4 Zur Mitarbeiterzeitung: Diese Informationsquelle hat uns immerhin darauf hingewiesen, dass wir nicht die einzige [Unternehmenssparte] Einheit in Deutschland sind, die auf dem südafrikanischen Telko Markt tätig sind. Leider gibt es auch keine Alternative, um gezielt internationale Projekte auf [Unternehmenssparte] Ebene zusammenzuführen! ? Soweit zur internationalen Strategie und Kommunikation. Schon in der Gesprächseröffnung fordert ein Mitglied der Unternehmensleitung zu Vorschlägen und innovativem Diskutieren auf. Daher geht der Mitarbeiter MA1 (Beitrag 13) zielorientiert vor, indem er das Thema eingangs direkt adressiert („Zur Zeitung [Name]“). Er äußert den Vorschlag, die Mitarbeiterzeitung, die bis dahin noch als Printausgabe verschickt wurde, für den mobilen, digitalen Zugriff verfügbar zu machen, was deren Verbreitungsgrad und in der Folge möglicherweise den Nutzungsgrad erheblich erhöhen und die Verteilung kostengünstiger gestalten würde. Damit zeigt MA1 eine zu den Unternehmenszielen konvergente Einstellung, indem er das Produkt in seiner Effizienz zu befördern versucht. Gleichzeitig zeigt er eine positive Einstellung („würde ich das begrüßen“) gegenüber Neuerungen im Sinne der Unternehmensleitlinien. Die Indirektheit der Formulierung seiner Innovation („wenn die PALMgerecht verfügbar wäre“) kann darauf hinweisen, dass er mit seiner Innovation nicht fordernd erscheinen will, es kann aber umgekehrt auch ein Ausdruck von Generosität sein. Darauf deutet die Wendung „würde ich das begrüßen“ hin, die inhaltlich die Rollenbeziehung zwischen den Interaktanten thematisiert und eine asymmetrische Bewertungsmöglichkeit impliziert. Diese ist so ausgerichtet, als ob MA1 in der Situation sei, den thematisierten Sachverhalt zu bewerten. Beides ist Ausdruck dafür, dass MA1 sich unsicher ist, wie er gegenüber der Unternehmensleitung angemessen auftreten kann. Sein innovativer Vorschlag befördert den Wandel, indem er neueste Aspekte der Unternehmenskultur, die <?page no="338"?> 324 Die Teilhabe der Mitarbeiter Marktführerschaft auf dem Markt der Kommunikationstechnologie, aufgreift und kreativ operativ umsetzt. So übernimmt er nicht nur die Einstellung, sondern darüber hinaus auch die Perspektive der Unternehmensleitung, indem er nicht nur die bestehenden Ordnungen positiv bewertet, sondern auch die Richtung der Dynamik einnimmt, die unternehmensseitig erwünscht ist. Damit ist seine Innovation geeignet, sich als ein strukturbildendes Element zu etablieren. Auch die Vorschläge der Mitarbeiter MA2 und MA3 sind durch die Frageform indirekt formuliert, zielen aber auf innovative Veränderungen ab. Es findet jedoch keine Diskussion statt, so dass der im weiteren Verlauf dieses Chat eingehende Beitrag von MA4 ohne eine Reaktion der anderen Chat-Teilnehmer bleibt. Die Ursache dafür, dass in der Folge dennoch keine Diskussion stattfindet, ist die offensichtlich schon weit fortgeschrittene Entwicklung der Mitarbeiterzeitung als Instrument der Mitarbeiterkommunikation. Die Unternehmensleitung hat die geäußerten Vorschläge bereits umgesetzt (Beitrag 14), die Umsetzung in die Wege geleitet (Beitrag 20) oder wieder verworfen (Beitrag- 24), so dass die Mitarbeiter mit ihren Vorschlägen keine Innovation initiieren können. Es wäre deshalb interessant zu sehen, ob sich bei geeigneten Themen eine Diskussion im Chat entwickelt, wenn die Mitarbeiter in einer früheren Entwicklungsphase in ein Projekt eingebunden werden. Thematische Form 2 der kommunikativen Handlung Vorschlag Die thematische Form 2 der kommunikativen Handlung Vorschlag führt in allen Ausprägungen zu Versuchen, bestehende Strukturen zu bewahren. Das ist eine Folge aus dem Zusammentreffen einer konvergenten Einstellung eines Mitarbeiters zu den Unternehmenszielen und eines unzureichenden Vermögens oder weniger Möglichkeiten, die Perspektive der Unternehmensleitung zu sehen oder zu akzeptieren. Daraus kann dann die Situation entstehen, dass Mitarbeiter zwar eine konstruktive Einstellung zum Unternehmen und hohe Affinität zu den Unternehmensleitlinien haben, aber in manchen Ereignissen, die der organisatorische Wandel mit sich bringt, keinen Sinn sehen. Das führt, vermutlich abhängig davon, welche Chancen der Mitarbeiter seinem Anliegen einräumt, entweder zu dem erkennbaren Wunsch, die bestehende Situation zu bewahren, wie im Beispiel „Amerikanisierung“, oder zur Thematisierung bestehender Strukturen, wie im Beispiel „Skillfragebogen“, wobei impliziert ist, dass diese ausreichen und keine Veränderungen notwendig sind. Zudem weist ein Auszug aus dem Beispiel „E-Business“ darauf hin, dass sich vermutlich wesentlich mehr Mitarbeiter wünschen, bestehende Strukturen zu bewahren, als tatsächlich entsprechende Vorschläge im Chat gemacht werden. <?page no="339"?> Organisatorischen Wandel mitgestalten 325 Amerikanisierung 327 MA Aus Gesprächen mit Kollegen weiß ich, dass vielfach Anstoß genommen wird an der Überhand nehmenden Amerikanisierung unserer Unternehmenssprache. teilweise macht man sich lustig über die merkwürdigen Wortschöpfungen, teilweise geben sie Anlass zu echtem Ärgernis, wenn unnötigerweise das Verständnis des Sachverhalts dadurch erschwert wird. Ich weiß, dass dieser Einwurf nicht das Geringste an dieser deutschen Managerkrankheit ändern wird, aber sie sollten zumindest wissen, dass es Mitarbeiter gibt, denen dadurch ein Unbehagen an ihrem eigenen Unternehmen, mit dem sie sich doch gerne identifizieren würden, bereitet wird. Man traut sich kaum im Bekanntenkreis zu erwähnen, einen Chef zu haben, der den Titel ”Sprachpanscher des Jahres“ trägt, (In diesem Sinne: ”for a better understanding“). 327 V Also, Sie haben mir ja direkt aus dem Herzen gesprochen, obwohl wir beide die Zeit und die Entwicklung nicht aufhalten können. Auch mich ärgert es, dass viele Menschen der Meinung sind, nur wer in englisch spricht, ist international. Allerdings lassen Sie uns nicht vergessen, dass viele Fachbegriffe aus dem amerikanischen zu uns kommen und es wäre unsinnig, das alles zu verdeutschen. Siemens hat das früher einmal für die [Unternehmenssparte] versucht; es war am Ende lächerlich und unzweckmäßig. Lassen Sie uns versuchen, ordentliche Sprache zu definieren und deutsch (oder bei anderen Kollegen aus dem Ausland: englisch) zu bleiben und nur echte Fachbegriffe englisch zu verwenden. Zunächst thematisiert der Mitarbeiter die zunehmende Verwendung von Anglizismen im Sprachgebrauch und kritisiert diese Entwicklung, die er für sinnlos hält und darüber hinaus als Behinderung der Arbeitsabläufe einschätzt. Er unterstreicht seine Kritik, indem er sich darauf beruft, dass seine Kollegen diese Ansicht teilen. Als Folgen dieser Entwicklung nennt er sein „Unbehagen“, eine Beeinträchtigung seiner Identifikationsmöglichkeiten mit dem Unternehmen und die Sorge um sein Ansehen in seinem privaten Umfeld („Bekanntenkreis“). Auf den ersten Blick entsteht so der Eindruck, bei dem Beitrag des Mitarbeiters handle es sich ausschließlich um Kritik. Dagegen sprechen aber einzelne Äußerungen innerhalb dieses längeren Beitrags, die den impliziten Vorschlag erkennen lassen, den früheren Sprachgebrauch zu bewahren. Nach seiner Kritik an der zunehmenden Verwendung von Anglizismen signalisiert der Mitarbeiter zunächst, dass er diese Entwicklung annehmen wird („Ich weiß, dass dieser Einwurf nicht das Geringste an dieser deutschen Managerkrankheit ändern wird“). Anschließend zeigt er aber auf, dass der Unternehmensleitung daraus, dass sie nicht auf seinen impliziten Vorschlag eingeht („aber sie sollten zumindest wissen“), eine Unzufriedenheit der Mitarbeiter als nachteilige Folge entstehen könnte („Unbehagen“, „doch gerne identifizieren würden“, und „Man traut sich kaum […] zu erwähnen“). Zwar weisen der nachfolgend geäußerte Wunsch, <?page no="340"?> 326 Die Teilhabe der Mitarbeiter sich mit dem Unternehmen zu identifizieren, und der abschließend geäußerte Wunsch „In diesem Sinne: ‚for a better understanding‘„ darauf hin, dass der Mitarbeiter und die Kollegen, in deren Namen er sich äußert, dem Unternehmen grundsätzlich positiv gegenüberstehen und bereit sind, einen Beitrag zum Erreichen der Ziele des Unternehmens zu leisten. Die Unternehmensleitung beeinträchtigt aber genau diese positive Haltung der Mitarbeiter, wenn sie nicht auf den impliziten Vorschlag eingeht. Zusammengefasst versucht der Mitarbeiter, den Vorstand davon zu überzeugen, die zunehmende Verwendung von Anglizismen aufzuhalten bzw. zurückzudrängen, um so einen früher bestehenden Sprachgebrauch zu bewahren. Dazu äußert der Mitarbeiter zunächst eine Kritik an der Verwendung von Anglizismen, gibt dann vor, keine Veränderung zu erwarten, kündigt aber für das Fortschreiten der kritisierten Entwicklung Folgen an, die für das Unternehmen nachteilig sind. Implizit schlägt der Mitarbeiter damit vor, bei einem früheren Sprachgebrauch zu bleiben bzw. darauf zurückzukommen, und unterstreicht seinen Vorschlag mit einer vorausgeschickten Kritik und dem nachfolgenden Aufzeigen möglicher nachteiliger Folgen. Ob Mitarbeiter einen Vorschlag zur Bewahrung oder zur innovativen Veränderung eines Sachverhalts machen, ist individuell unterschiedlich. Im Beispiel „Skillfragebogen“ macht ein Mitarbeiter einen Vorschlag zur Bewahrung eines Sachverhalts (thematische Form 2), während ein anderer Mitarbeiter zu diesem Sachverhalt einen innovativen Vorschlag (thematische Form 1) macht. Skillfragebogen 30 MA1 [Organisationseinheit] hat derzeit eine Mitarbeiterzahl von ca. 700 wenn mich nicht alles täuscht, wie können wir die Skills unserer Mitarbeiter INTERN kommunizieren, damit man nicht extern die DL zukaufen muss. Wie können wir dies kurzfristig an die geeigneten Stellen (SM, PM, Abteilungsleiter, etc.) kommunizieren? 32 MA2 nicht nur die skills der mitarbeiter wären interessant, sondern auch erfahrungen mit produkten oder evaluierungsergebnisse gibt es pläne eine plattform dafür zu schaffen? 32 GF Mittelfristig ist es natürlich wünschenswert, die Wissenplattform auf mehrere Themen zu erweitern. Da wir derzeit eine Vielzahl von internen Projekten und Prozessen laufen haben, kann ich Ihnen daher noch keinen Termin nennen. 36 MA1 @[MA2]: es gab mal intern die Möglichkeit, jeder für sich, im Intranet einen Skillfragebogen auszufüllen, nur das wird meiner Meinung nach nicht gelebt... 36 GF Nachdem ich erst 6 Monate im Unternehmen bin, kenne ich diese Möglichkeit nicht. Danke für den Hinweis. <?page no="341"?> Organisatorischen Wandel mitgestalten 327 37 MA2 das ist zwar passiert, aber ich denke nicht, dass diese skills jemals ausgewertet wurden müssten ja längst nachgebessert werden 40 MA1 So ist es [MA2], es ist mehr oder weniger in der Versenkung verschwunden Am Beginn der Sequenz wirft der Mitarbeiter MA1 die Frage auf (Beitrag 30), wie das Fachwissen („Skills“) der Mitarbeiter unternehmensintern allgemein bekannt gemacht werden kann („INTERN kommunizieren“), wobei er als Begründung für seine Frage die Problematik anführt, dass unternehmensintern vorhandenes Wissen dennoch als Dienstleistung vom Markt zugekauft wird, da der Überblick über das unternehmensintern verfügbare Fachwissen unzureichend ist. Als wesentliches Kriterium der Informationsverteilung nennt der Mitarbeiter die Geschwindigkeit der Verteilung („kurzfristig“) und die Organisation der Wissensdokumentation durch die mittleren Führungskräfte wie Servicemanager, Projektmanager und Abteilungsleiter („SM, PM, Abteilungsleiter, etc.“) als Knotenpunkte („geeigneten Stellen“), bei denen Wissen gesammelt werden soll. Damit stellt MA1 implizit die Behauptung auf, dass das Fachwissen der Mitarbeiter gesammelt werden muss. Sein daraus folgend gebildeter Frageterm impliziert den Vorschlag, ein Verfahren zur Sammlung des unternehmensinternen Fachwissens einzuführen. Auf die Intention einen Vorschlag zu machen weist auch hin, dass MA1 implizite Argumente anführt und zwar Einsparungen beim Zukauf von Dienstleistungen („damit man nicht extern die DL zukaufen muss“) und die Anzahl der Mitarbeiter, die einen Überblick über das Wissen aller Beteiligten ohne Wissensmanagement nicht mehr erlaubt. Die darauf folgende Äußerung des Mitarbeiters MA2 (Beitrag 32) erweitert den impliziten Vorschlag von MA1 um einen innovativen Vorschlag entsprechend der thematischen Form 1, eine Wissensdatenbank („plattform“) einzurichten, in der die Kompetenzen der Mitarbeiter und ihre fachlichen Erfahrungen gesammelt zur Abfrage bereit gestellt werden. Der Vorschlag wird vom Geschäftsführer zustimmend aufgenommen („Mittelfristig ist es natürlich wünschenswert“) und in den Zusammenhang der bereits bestehenden organisationalen Strukturen eingeordnet („die Wissenplattform auf mehrere Themen zu erweitern“). Darauf (Beitrag 36) äußert sich MA1 und adressiert an MA2 den Hinweis, dass bereits eine Sammlung der Kompetenzen der Mitarbeiter („Skillfragebogen“) existiert und die Problematik der Sammlung des Fachwissens nicht darin besteht, dass entsprechende Einrichtungen fehlen, sondern in der unzureichenden Pflege des vorhandenen Skillfragebogens, einem Formular zur Abfrage und Dokumentation der Fachkenntnisse eines Mitarbeiters. Der Beitrag impliziert einen Vorschlag der thematischen Form 2, da MA1 den „Skillfragebogen“ wieder neu im Unternehmen bekannt macht und implizit als geeignetes Instrument <?page no="342"?> 328 Die Teilhabe der Mitarbeiter vorschlägt, das offenbar nach seiner Ansicht ausreicht, wenn es wieder laufend gepflegt wird („nur“). Auch die Antwort des Geschäftsführers (Beitrag 36), der den Skillfragebogen noch nicht kennt und sich für die Information bei MA1 bedankt, weist darauf hin, dass ihm der Beitrag 36 von MA1 hilfreich ist und er ihn als Vorschlag interpretiert („Danke für den Hinweis“). Dagegen hält MA2 (Beitrag 37) den Skillfragebogen offenbar nicht für nützlich, denn über den bereits von MA1 mitgeteilten Umstand hinaus, dass der Skillfragebogen nicht gepflegt wird, , bezweifelt er („aber ich denke nicht“), dass dieser in der Vergangenheit überhaupt genutzt wurde. Er wiederholt damit noch einmal seine in Beitrag 32 geäußerte Sichtweise, wobei er aber nur ein Argument anführen kann, das die fehlende Pflege unterstreicht („müssten ja längst nachgebessert werden“). Insofern bestätigt („So ist es [MA2]“) und bekräftigt („es ist mehr oder weniger in der Versenkung verschwunden“) MA1 in Beitrag 40 wohl auch nur dieses nachgeschobene Argument und bleibt im Übrigen bei seiner zuvor geäußerten Sichtweise (Beitrag 36). Insgesamt lässt sich in diesem Gesprächsstrang ein grundsätzlich unterschiedliches Sprachhandeln der beiden Mitarbeiter feststellen. MA1 handelt entsprechend der thematischen Form 2 des sprachlichen Handlungsmusters Vorschlag. Er äußert die aktuelle Problematik, dass Dienstleistung zugekauft wird, da zu wenig Überblick über unternehmensintern vorhandenes Fachwissen besteht („damit man nicht extern die DL zukaufen muss“). Dazu formuliert er den impliziten Vorschlag, dass das Fachwissen gesammelt und transparent gemacht werden soll, in Form einer Behauptung („extern die DL zukaufen“) und einer daran angeschlossenen Frage mit W-Determinativ („wie können wir die Skills unserer Mitarbeiter INTERN kommunizieren“). Im weiteren Verlauf des Gesprächs weist er auf eine bestehende Struktur im Unternehmen hin („es gab mal intern die Möglichkeit, jeder für sich, im Intranet einen Skillfragebogen auszufüllen“), die er indirekt als nützlich bezeichnet, indem er weiter darauf hinweist, dass sie nicht gepflegt wird („das wird […] nicht gelebt“) und allein deshalb in Vergessenheit geraten ist („nur“). Es ist naheliegend, dass MA1 auf den Skillfragebogen als bestehende Struktur wieder aufmerksam machen und seine erneute Verwendung erreichen will, um ihn zur Lösung aktueller Probleme einzusetzen. MA1 spricht sich damit indirekt gegen Veränderungen aus, macht einen impliziten Vorschlag zur Bewahrung der bestehenden Struktur, auf den er wiederholt zurückkommt, und unterstreicht sein Anliegen indirekt durch seine Interpunktion („wird […] nicht gelebt…“) und die Andeutung, dass die Verwendung des Skillfragebogen ohne Grund oder Beschluss eingestellt wurde („mehr oder weniger […] verschwunden“). Dagegen spricht sich MA2 für organisatorische Veränderungen aus („nicht nur […] wären interessant, sondern auch […] - gibt es pläne […] zu schaffen“). Er äußert damit einen Vorschlag, der der thematischen Form 1 entspricht, obwohl ihm der Skillfragebogen als bestehende organisatorische Struktur bekannt <?page no="343"?> Organisatorischen Wandel mitgestalten 329 ist („das ist zwar passiert“). Er räumt ein, dass der Skillfragebogen mit der geforderten Wissensdatenbank („plattform“) vergleichbar ist, erklärt diesen aber für überholt („ich denke nicht, dass diese skills jemals ausgewertet wurden“). Im Vergleich der Äußerungen der beiden Mitarbeiter ist bemerkenswert, dass beide den Stand des Skillfragebogens als nicht aktuell einschätzen (Beiträge-37 und 40), davon ausgehend aber auf unterschiedliche Maßnahmen abzielen, MA1 auf eine Wiederbelebung der bestehenden Struktur und MA2 auf die Einrichtung einer neuen Struktur. Auch wenn Vorschläge der thematischen Form 2, die auf das Bewahren bestehender Strukturen abzielen, im vorliegenden Datenkorpus mit nur 32 Belegen wenig vertreten sind, ist offenbar nicht davon auszugehen, dass nur wenige Mitarbeiter an einer Beständigkeit der Organisationsstrukturen interessiert sind. Darauf weisen im vorliegenden Datenkorpus zu findende Beiträge hin, in denen beiläufig und in unterschiedlichen Zusammenhängen thematisiert wird, wie Mitarbeiter an bestehenden Strukturen festhalten. So enthält das Beispiel „Beständigkeit“ (Kap.-6.1.2.3.) die Frage eines Mitarbeiters nach der zu erwartenden Beständigkeit einer angekündigten Neuorganisation. Im Beispiel „Eine der schwersten Fragen“ (Kap.- 5.1.1. und Kap.- 6.3.1.) kritisiert die Unternehmensleitung, dass Führungskräfte entgegen der Ziele der Unternehmensleitung an hergebrachten Vorgehensweisen festhalten (Beitrag 126). Im Beitrag-158 des Beispiels „E-Business“ thematisiert der Vorstand eine Situation, in der Mitarbeiter genauso den bewährten organisatorischen Strukturen verhaftet sind („Viele Kollegen wollen sich davor drücken, weil das alte Bestellverfahren und EK-Verfahren ungern verlassen wird“). Als Fazit der kommunikativen Handlung Vorschlag lässt sich zusammenfassen, dass beide Formen in Abhängigkeit von der Thematik des Vorschlags angewandt werden. Während die thematische Form 1 als strukturbildende Innovation wirkt, zielt die thematische Form 2 auf das Bewahren vorhandener Strukturen ab. Das Auftreten der Form 1 bzw. Form 2 hängt von zwei Faktoren ab, von den Chancen, die die Mitarbeiter für sich selbst im Wandel sehen, und von den Chancen, mit einem Vorschlag zur Bewahrung ein Ereignis des Wandels aufzuhalten. So sehen die Mitarbeiter in den Beispielen „Hotline“, „E-Business“, „Mitarbeiterzeitung“ und vermutlich auch im Beispiel „Werbefläche“ berufliche Chancen im organisatorischen Wandel, während sich die Mitarbeiter in den Beispielen „Amerikanisierung“ und „Skillfragebogen“ keinen beruflichen Vorteil davon versprechen. Chancen, den eigenen Vorschlag durchsetzen zu können, sehen die Mitarbeiter in den Beispielen „Hotline“, „Werbefläche“ und „Mitarbeiterzeitung“. Im Beispiel „E-Business“ geht der Mitarbeiter sogar von einer Umsetzung seines Vorschlags aus, während die Mitarbeiter in den Beispielen „Amerikanisierung“ und „Skillfragebogen“ nicht damit rechnen, dass ihr Vorschlag von der Unternehmensleitung angenommen wird. <?page no="344"?> 330 Die Teilhabe der Mitarbeiter Vorschläge der thematischen Form 1 werden geäußert, wenn ein Mitarbeiter berufliche Chancen im Wandel sieht, wobei die Erfolgsaussichten, dass die von ihm vorgeschlagenen strukturbildenden Innovationen umgesetzt werden, nachrangig sind. Dagegen werden Vorschläge der thematischen Form 2 immer dann geäußert, wenn ein Mitarbeiter bestehende Strukturen bewahren will, wobei in allen Belegen der betreffende Mitarbeiter seinen Vorschlag nicht für durchsetzbar hält („Ich weiß, dass dieser Einwurf nicht das Geringste […] ändern wird“ im Beispiel „Amerikanisierung“), unabhängig davon, ob sich die Unternehmensleitung zu dem Vorschlag zustimmend („Mittelfristig ist es natürlich wünschenswert, die Wissenplattform auf mehrere Themen zu erweitern“ im Beispiel „Skillfragebogen“) oder ablehnend („obwohl wir beide die Zeit und die Entwicklung nicht aufhalten können“ im Beispiel „Amerikanisierung“) äußert. Vorschlägen der thematischen Form 2 liegt vermutlich eine ablehnende Einstellung der betreffenden Mitarbeiter gegenüber dem organisatorischen Wandel zugrunde, die im Chat kommunikativ sichtbar wird, deren Ursache aber nicht thematisiert oder im Kontext des vorliegenden Datenkorpus kommunikativ sichtbar ist. Aufgrund der unterschiedlichen Motive der Mitarbeiter, auf denen ihr Sprachhandeln in den Formen 1 und 2 basiert, bezeichne ich die thematische Form 1 als Vorschlag im eigentlichen Sinne und lege im Weiteren den Fokus auf die strukturbildenden Innovationen, die diese Form hervorbringt. Nun soll genauer festgestellt werden, wann es zu Vorschlägen nach der thematischen Form 1 kommt. Es hat sich gezeigt, dass die Motivation der Mitarbeiter zu innovativen Vorschlägen von der positiven Interpretation der Veränderungen im Unternehmen abhängt und davon, ob der Mitarbeiter für sich Chancen in einer veränderten Unternehmenswelt sieht. Bei Konvergenz von Einstellung und Perspektive der Mitarbeiter mit den von der Unternehmensleitung angekündigten und durchgeführten Veränderungen (Kap.- 2.1.2. und Kap.- 5.1.2.) bestehen für die Mitarbeiter gute Möglichkeiten, einen innovativen Vorschlag bei der Unternehmensleitung durchzusetzen (Beispiel „E-Business“). Dazu ist zunächst festzustellen, welche Innovationen von der Unternehmensleitung erwünscht sind und forciert werden. In Einzelfällen haben sich Mitglieder der Unternehmensleitung dazu explizit geäußert. Das Beispiel “Eigeninitiative“ zeigt eine explizite Formulierung von Ermessensräumen für innovative Vorschläge. Eigeninitiative 134 MA Wie weit ist Eigeninitiative in einer Struktur wie der unseren zulässig? Ist Sie gewünscht / in welcher Form / in welcher nicht? 134 GF Eigeninitiative im Rahmen unserer strategischen Ziele und Planungen ist im hohen Masse erwünscht. Allerdings sollte diese <?page no="345"?> Organisatorischen Wandel mitgestalten 331 nicht zu Überaschungen führen, und ich ersuche im Zweifelsfall mit dem Managementteam Rücksprache zu halten. Selbstverständlich steht das gesamte Führungsteam zur Diskussion neuer Ideen zur Verfügung. Um auszuloten wie die Erwartungshaltung der Unternehmensleitung hinsichtlich der Eigeninitiative der Mitarbeiter ist und ob sich Eigeninitiative lohnt, bildet der Mitarbeiter einen Frage-Term („Wie weit“, „in welcher“, „in welcher nicht“), mit dem er eine Vorkategorisierung festlegt („zulässig“, „gewünscht“, „Form“). Der Geschäftsführer trifft daraus eine Spezifizierung („im hohen Masse erwünscht“) und thematisiert explizit die bereits analysierten Rahmenbedingungen für Innovationen, d. h. die Übereinstimmung mit Einstellungen und Perspektiven der Unternehmensleitung („im Rahmen unserer strategischen Ziele und Planungen“). Er verleiht dieser Aussage Nachdruck durch die Steigerung durch Adjektiv („im hohen Masse erwünscht“) und durch die Thematisierung des Negativ-Falls („Allerdings sollte diese nicht zu Überraschungen führen“), was er durch Handlungsanweisungen („im Zweifelsfall mit dem Managementteam Rücksprache halten“) noch zusätzlich absichert. Auch die Aussage, Innovationen zu den gegebenen Bedingungen seien erwünscht, wird mit einem Gesprächsangebot über Innovationen („Diskussion neuer Ideen“) verstärkt, das durch Formeln der Höflichkeit und des Entgegenkommens geprägt ist („ich ersuche“, „selbstverständlich“, „steht das gesamte Führungsteam […] zur Verfügung“). Ein vages Wissen über erwünschte Innovationen und Bedingungen dafür klingt bereits in der Fragestellung des Mitarbeiters an, wenn er voraussetzt, es gebe erwünschte und unerwünschte Formen der Innovation („in welcher Form/ in welcher nicht? “). Die zentrale Proposition der Sequenz des Geschäftsführers ist, dass Innovationen auf der gedanklichen Ebene grundsätzlich erwünscht sind, deren Umsetzung aber mit der Unternehmensleitung abgestimmt werden muss. Das bedeutet für den Mitarbeiter und die übrigen Chat-Teilnehmer, dass ein breites Spektrum von Möglichkeiten für Vorschläge gegeben ist. Die Aussage des Geschäftsführers kommt so einer Ermunterung gleich, Vorschläge zu machen. Ermuntern zur kommunikativen Handlung Vorschlag Das Beispiel “Eigeninitiative“ ist die ausführlichste Beschreibung erwünschter Innovationen im gesamten Datenkorpus. Im Übrigen beschränken sich die Chat-Teilnehmer darauf, das Thema nur am Rande zu streifen. Das liegt auch daran, dass die Unternehmensleitung, die die ersten Chats veranstaltete, vereinbart hatte, keine Innovationen zu forcieren. Dies teilten mir die Leiter der Kommunikation einer der beiden Unternehmenssparten, in denen die Chats abgehalten wurden, im Vorgespräch vor der Analyse des Datenkorpus mit (Kap.- 4.2.). Das aktive Ermuntern zu Innovationen seitens der Unterneh- <?page no="346"?> 332 Die Teilhabe der Mitarbeiter mensleitung wurde dann auch in späteren Chats weitestgehend vermieden (Kap.- 6.2.2.2.). Der Hintergrund dafür waren organisatorische Überlegungen, die Mitarbeiter im Chat selbst die Themen wählen zu lassen und dem Chat nicht durch thematische Vorgaben der Unternehmensleitung von Beginn an eine thematische Richtung zu geben. Deshalb gibt es nur wenige Beispiele dafür, dass die Unternehmensleitung die Mitarbeiter auffordert, zu bestimmten Themen Vorschläge zu äußern. Diese haben dann die Funktion, ins Stocken gekommene Chats wieder zu reaktivieren und in emotional aufgeladenen Diskussionen die Emotionen zu kanalisieren. Die Dynamisierung des Chats durch Ermunterungen zu Vorschlägen findet sich besonders bei Expertenthemen. Ein Auszug aus dem Beispiel „Mitarbeiterzeitung“ zeigt, wie der Bereichsleiter gleich zweifach ermuntert. Mitarbeiterzeitung (Auszug) 6 UL Hallo Kolleginnen und Kollegen, zum Aufwärmen mal eine Frage von unserer Seite: Wie gefällt Ihnen die Mitarbeiter-Zeitung [Name]? Was sollten wir verbessern? Bei dem Beitrag handelt sich um eine deutliche Ermunterung zur Chat-Teilnahme, die bereits wenige Sequenzen nach der Begrüßung durch den Vorstand im Chat erscheint. Sie ergänzt die Ermunterung zum Chatten, die der Geschäftsführer bereits zu Beginn dieses Chats ausgesprochen hatte. Die Absicht der Unternehmensleitung ist, dem mit wenig Chat-Tätigkeit gestarteten Chat mehr Geschwindigkeit zu geben und eine positive Stimmung zu erzeugen. Die Unternehmensleitung strebt mit dem Beitrag an, möglichst viele der Chat-Teilnehmer, die den Chat bisher noch als Lurker verfolgen, in den Chat mit einzubeziehen. Nach Mayer-Uellner (2003, 67) ergibt sich der Übergang vom Lurken zum Chatten möglicherweise situativ, worauf auch im vorliegenden Datenkorpus mehrere Belege hinweisen (Kap.- 6.2.2.2.). Um die Lurker zum Chatten zu ermuntern, ignoriert die Unternehmensleitung die hierarchischen Unterschiede („Liebe Kolleginnen und Kollegen“) und stellt eine Frage, die den Chat-Teilnehmern erlaubt, die Rolle der Bewertenden zu übernehmen, wobei die Möglichkeit zu Kritik impliziert ist, da die Veränderungsvorschläge negativ konnotiert eingefordert werden („verbessern“). Gegenläufig zu diesen Bemühungen ist die Einteilung der Chat-Teilnehmer in zwei Seiten („von unserer Seite“), in die Seite der Unternehmensleitung und die Seite der Mitarbeiter, wie in Kap.- 5.3.2.2. dargestellt, die eine Abgrenzung der Mitarbeiter von der Unternehmensleitung bewirkt. Besonders in Chats, in denen häufig Kritik geäußert wird, hat das Ermuntern die Funktion, negative Emotionen zu kanalisieren. Im Beispiel „Feedback“ stoppt ein Bereichsleiter weitere Äußerungen von Kritik, indem er dazu ermuntert, Vorschläge zu machen statt Kritik zu üben. <?page no="347"?> Die Auswirkungen des Chats auf das Unternehmen 333 Feedback 26 UL Feedback zum Chat ist herzlich willkommen, bitte schreiben sie Verbesserungswünsche einfach ins Forum zum Chat (über die Chat- Einstiegsseite zu erreichen)! Der Sequenz geht ein längerer Gesprächsstrang voraus, in dem die technischen Vor- und Nachteile dieser Chat-Form diskutiert wurden. Die geäußerten Einstellungen der Mitarbeiter zum Chat waren mehrheitlich negativ. Nach der Aufforderung „Feedback zum Chat“ zu geben wurde die Diskussion in diesem Gesprächsstrang mit einer positiveren Einstellung fortgesetzt. Im weiteren Verlauf dieses Chats stehen 24 Ausprägungen des Gesprächstyps Befragung und vier Sprachhandlungen Vorschlag nur sechs Sprachhandlungen Kritik gegenüber. Die Sequenz aus dem Beispiel „Feedback“ hat die negative Grundstimmung durch die positive Bewertung des Diskussionsthemas („herzlich willkommen“) unterbrochen, die durch Höflichkeitsformeln („bitte“) und die Aufforderung zu Vorschlägen („Verbesserungswünsche“) verstärkt wird. 6.5 Die Auswirkungen des Chats auf das Unternehmen Allein die anhand des vorliegenden Datenkorpus nachvollziehbaren Auswirkungen vollständig zu beleuchten, die die Chat-Kommunikation auf das Unternehmen hat, würde über den Rahmen der vorliegenden Arbeit hinausgehen. In diesem Kapitel stelle ich einige Aspekte zur Förderung sozialer Netzwerke im Unternehmensalltag und der Begünstigung flacher Hierarchien als zwei Auswirkungen des Chats auf das Unternehmen dar, die offensichtlich hervortreten und von Interesse sind. Förderung sozialer Netzwerke im Unternehmensalltag In den Diskursen im Chat entstehen heterarchische Vernetzungen zwischen den Chat-Teilnehmern, die darauf hindeuten, dass sie auch außerhalb des Chats als Netzwerke weiter bestehen werden und zu einer Zusammenarbeit von Mitarbeitern führen, die sich sonst nicht oder erst zeitlich später ergeben hätte. Dabei handelt es sich um Zusammenarbeit, die diese Mitarbeiter anstreben, für deren Umsetzung sie aber noch keine Möglichkeit gefunden haben. Soweit im Chat Diskurse mit hoher Interaktivität zustande kommen, bilden sich, wie sich am Beispiel „Mitarbeiterzeitung“ in Kap. 6.4. gezeigt hat, heterarchische Netzwerke zwischen den Chat-Teilnehmern. Darüber hinaus zeigen die im Rahmen der kommunikativen Handlung Perspektiven übernehmen (Kap.-5.5.2.) vorgestellten Beispiele „Internationale Projekte“ und „Querdenker“ Situationen, die den betreffenden Mitarbeitern neue Handlungsmöglichkeiten eröffnen, so dass es zu neuen Vernetzungen im Unternehmensalltag kommen <?page no="348"?> 334 Die Teilhabe der Mitarbeiter kann. Noch einen Schritt weiter geht die Bildung eines Netzwerks im Beispiel „Chat-Tool“, in dem der Informationsaustausch mit der Unternehmensleitung einen Mitarbeiter zur Verbreitung der im Chat erhaltenen Informationen auch außerhalb des Chats anregt. Chat-Tool 191 MA Hallo Herr [Vorstand], das neue Chat-Tool gefällt mir sehr gut, insbesondere, da ausgereifte [Produkt]-Technik aus dem Internet verwendet wird. Können wir dies auch für Projekte nutzen? 192 V Können wir. Ist auch bei [UL] eingekippt. Kenne auswendig keinen genauen Termin. Durch seine Teilnahme am Chat erfährt der Mitarbeiter von der Software, die für die Gestaltung der Benutzeroberfläche des Chats verwendet wird („das neue Chat-Tool“). Er sieht darin eine Möglichkeit, seine beruflichen Aufgaben besser wahrzunehmen („ausgereifte [Produkt]-Technik aus dem Internet“) und stellt eine Ergänzungsfrage, um zu erfahren, ob und wie er diese Möglichkeit nutzen kann („Können wir dies auch für Projekte nutzen? “). Mit der Antwort des Vorstands erhält der Mitarbeiter eine Zusage für die Nutzung des Chat-Tools („Können wir.“), einen Hinweis, bei wem er es bekommen kann („Ist auch bei [UL] eingekippt.“) und dass es bereits einen Termin gibt, ab dem das Chat- Tool verfügbar ist. Die Einschränkung „auswendig keinen“ impliziert, dass prinzipiell ein Termin fest steht. Es bleibt offen, ob der Mitarbeiter sich das neue Chat-Tool beschafft, aber es entsteht im Chat eine kommunikativ sichtbare Vernetzung des Wissens über das neue Chat-Tool und seine Anwendungsmöglichkeiten. Da der Mitarbeiter eigeninitiativ nach der Möglichkeit gefragt hat, das Chat-Tool zu verwenden, liegt es nahe, dass er diese Information auch außerhalb des Chats im Unternehmensalltag verwendet, um sich das Chat-Tool zu beschaffen. Eine weitere heterarchische Vernetzung, die ausschließlich im Chat initiiert und bei der noch im Chat eine Zusammenarbeit außerhalb des Chats fest vereinbart wird, zeigt das Beispiel „Eine der schwersten Fragen“ (Kap.- 5.1.1. und Kap. 6.3.1.). Die Mitarbeiterin vereinbart mit dem Vorstand ein Gespräch an dem Standort, an dem sie beschäftigt ist, wobei sich zwar aus dem Kontext des Chats nicht entnehmen lässt, ob dieses Gespräch stattfindet, dies aber aufgrund der festen Zusage des Vorstands naheliegend ist. Die Betrachtung des Zusammenhangs zeigt, dass die Vernetzung nicht zufällig entsteht, sondern die Mitarbeiterin diese aktiv anstrebt und den Diskurs im Chat zu diesem Zweck instrumentalisiert. <?page no="349"?> Die Auswirkungen des Chats auf das Unternehmen 335 Begünstigung flacher Hierarchien Im Rahmen der Untersuchung der sprachlichen Handlungsformen im vorliegenden Datenkorpus (Gesprächstyp Befragung in Kap. 6.3.1., Sprachhandlungen Kritik in Kap. 6.1.2., Misstrauen äußern in Kap. 6.3.3., Vorschlag in Kap. 6.4. und Perspektiven übernehmen in Kap. 5.5.2.) hat sich an der Vielzahl der Beiträge mit explizit geäußerter Kritik oder kritischen Implikationen gezeigt, dass die Mitarbeiter Ereignisse des Wandels problematisieren. Darunter sind Belege, in denen die Mitarbeiter ihre Vorgesetzten und deren kommunikative Bearbeitung von Ereignissen im Unternehmen gegenüber ihren Mitarbeitern kritisieren. Dabei kritisieren die Mitarbeiter vielfach Sachverhalte, die nicht die Unternehmensstrategie, sondern operative Sachverhalte und Ereignisse betreffen, die in den Aufgabenbereich ihrer direkten Vorgesetzten fallen. So kritisiert im Beispiel „Durcheinander“ (Kap. 5.1.2.) ein Mitarbeiter den Ablauf des Projekts, in das er eingebunden ist, als unstrukturiert. Im Beispiel „Richtlinie“ kritisiert ein Mitarbeiter, dass sich Vorgesetze Privilegien bei der Bewirtung eingeräumt haben, wobei sich der Reaktion der Unternehmensleitung entnehmen lässt, dass es sich dabei um Führungskräfte der mittleren Führungsebenen handeln muss. In den meisten Fällen wird aber von den Mitarbeitern kritisiert, dass die Strukturierung der Arbeitsaufgaben, die ihnen zugewiesen werden, den Ereignissen und Herausforderungen des organisatorischen Wandels nicht gerecht wird (Beispiel „Fachvertrieb“ in Kap. 6.1.2.2., Beispiele „Kundenbedürfnisse“ und „Kundenprojekt“ in Kap. 5.5.1.). Dabei kritisieren die Mitarbeiter, dass die Strukturierung der Ereignisse des Wandels, die ihre Vorgesetzten vornehmen, organisatorische Umbrüche überdeckt statt sie zu klären. Das in Kap. 6.2.1.1. ausführlich besprochene Beispiel „Erfahrungen“ zeigt die Beschreibung des Handelns der Führungskräfte aus der Sicht eines Mitarbeiters. Erfahrungen 142 MA hallo herr [Vorstand] schaffen sie fakten und glauben sie bitte keinen statistiken und sonstigen bunten bildern mehrgehen sie mal in die untere arbeitsebene und erkundigen sie sich dort aber bitte ohne den vorgesetztendenn dann wird wieder nur geschönt-. tipp von einem alten hasen Aus der Sicht des Mitarbeiters bilden die von den Vorgesetzten vorgelegten Darstellungen der Aufgaben („statistiken“), die er mit einer metaphorischen Wendung abwertet („und sonstigen bunten bildern“), nicht die tatsächliche Arbeitssituation ab, wie sie der Mitarbeiter erlebt(„glauben sie bitte keinen“). Dagegen setzt er die von ihm erlebte Arbeitssituation als Bewertungsmaßstab für Darstellungen der Unternehmenssituation an („schaffen sie fakten“, „gehen sie mal in die untere arbeitsebene und erkundigen sie sich dort“). Als Ursache dafür, dass die Vorgesetzten die tatsächliche Arbeitssituation, wie er es sieht, unangemes- <?page no="350"?> 336 Die Teilhabe der Mitarbeiter senen darstellen, nennt er die Absicht der Führungskräfte, die Arbeitssituation gegenüber der Unternehmensleitung nivelliert darzustellen („wird wieder nur geschönt“). Vor dem Hintergrund, dass die Mitarbeiter im vorliegenden Datenkorpus, soweit sie die Arbeitssituation kritisieren, die Umbrüche in den Unternehmensstrukturen als Auswirkungen des organisatorischen Wandels thematisieren, bezieht sich die Kritik der Mitarbeiter an den Vorgesetzten auf die Strukturierung der Arbeitssituation, die die von den Mitarbeitern als problematisch wahrgenommenen Umbrüche in den Unternehmensstrukturen ausblendet oder nivelliert darstellt. Damit steht also die Problematisierung der Ereignisse des Wandels, die im Diskurs mit der Unternehmensleitung im Chat möglich ist, im Gegensatz zum Sprachhandeln der direkten Vorgesetzten im Unternehmensalltag, das in vielen Fällen als Bürokratisierung von Wandel erlebt und kritisiert wird. Die mittleren Führungskräfte sind nicht zusammen mit dem Vorstand Initiatoren der Chats. Von ihnen sind keine belegbaren Äußerungen in den Chats des vorliegenden Datenkorpus enthalten und vermutlich nehmen diese Führungskräfte auch nicht am Chat teil (Kap. 4.2.1.). Insofern soll dazu auf die Arbeit von Vacek (2009) verwiesen werden, die im Rahmen ihrer empirischen Untersuchung zur kommunikativen Bearbeitung von Äußerungen über organisatorischen Wandel u. a. eine Besprechung untersucht, an der Führungskräfte teilnehmen. Vacek stellt bei einem empirischen Vergleich einer unternehmensinternen Arbeitsbesprechung, in der die Fortschritte bei der Umsetzung von Wandel thematisiert werden, mit einer Managerrede fest: In dieser sozialen Veranstaltung, in der das ‚Messen von Wandel‘ fokussiert wird, zeigt sich, dass rein die ‚äußere Gestalt‘ des Wandlungsprozesses betrachtet wird. Im Gegensatz zur Managementrede, in der das ‚Innere‘ und somit die Einstellungen der Adressaten thematisiert werden, wird hier sichergestellt, dass äußere Bedingungen den Fortgang des begonnenen ‚Verfahrens‘ ermöglichen. (Vacek 2009, 272) Als Ergebnis ihrer Untersuchung resümiert Vacek eine „Bürokratisierung des Veränderungsprozesses“, der „Wandel als Darstellungsproblem“ behandelt, indem sich die Beteiligten zur Umsetzung von Wandel „einer schematischen formalistischen Ordnung unterwerfen“, wobei „ritualartige Züge“ auftreten, die „Anpassung und Zugehörigkeit“ fordern. Dabei ist die „Kontrolle des Organisierens im Verlauf des Wandlungsprozesses“ eine der „zentrale Funktion(en) der Bürokratisierung“ (Vacek 2009, 280). Diese Bürokratisierung der Ereignisse des Wandels, mit der die Mitarbeiter im Unternehmensalltag konfrontiert werden, wird durch den Diskurs mit der Unternehmensleitung im Chat beeinflusst. Die Möglichkeit der Mitarbeiter, sich im Chat zu informieren, beeinflusst die Informationskaskade, indem die Chat- Teilnehmer von der hierarchischen Kommunikation abweichen, wie sie den <?page no="351"?> Die Auswirkungen des Chats auf das Unternehmen 337 Konventionen des Unternehmensalltags entspricht. Damit reduzieren die Chats den hierarchischen Einfluss der Führungskräfte. So zeigt sich im Beispiel „Eine der schwersten Fragen“, dass die Mitarbeiterin das Handeln der Führungskräfte als Handlungswiderstand für ihr eigenes Handeln sieht und deshalb direkt mit der Unternehmensleitung eine Anliegensklärung anstrebt (Kap. 5.1.1.). Mit diesem Untergraben der Informationskaskade im Chat entstehen Einwirkungen auf die Rolle der Führungskräfte, die auch im Unternehmensalltag zumindest insofern wirksam werden, als die Mitarbeiter durch den Chat Informationen haben, über deren Verbreitung ansonsten die Führungskräfte in ihrer Funktion als Vorgesetzte entscheiden. Vereinzelt werden darüber hinaus im Chat Vereinbarungen getroffen, deren Umsetzung im Unternehmensalltag, wie eingangs bereits ausgeführt, zwar nicht kommunikativ sichtbar ist, für die es aber Indizien gibt. So wird im Beispiel „Eine der schwersten Fragen“ der Vorstand von einer Mitarbeiterin zum Besuch einer Niederlassung eingeladen, während diese Kommunikation sonst durch den Leiter der Niederlassung geführt würde. Die Chat-Kommunikation, wie sie im vorliegenden Korpus organisiert wird, erweitert die Kommunikationsmöglichkeiten der Interaktanten folglich, indem der vertikal-hierarchische Informationsweg von oben nach unten in der Chat- Kommunikation aufgelöst wird. Mit Blick auf die Möglichkeit der gemeinsamen Verständigung und vorrangigen Vermittlung von Einstellungen unterstützt die über den Chat hinaus wirksame Verbreitung von Informationen an den Führungskräften vorbei die Absicht, neue Unternehmensbilder zu vermitteln. Exemplarisch zeigt sich diese Unterstützung in der Auflösung unbegründeter Gerüchte. Eine der schwersten Fragen (Auszug) 33 MA Welchen Wahrheitsgrad hat das Gerücht, EDS würde Anteile der [Unternehmenssparte] übernehmen? 34 UL An dem Gerücht ist überhaupt nichts dran. EDS hätte natürlich gern eine [Unternehmenssparte] in ihrem Portfolio. Es bestehen jedoch keinerlei Überlegungen oder Pläne in dieser Richtung. Die [Unternehmenssparte] ist eine wesentliche strategische Waffe der Deutschen Telekom für die Wettbewerbssicherung. Dies wird auch von Herrn [Vorstandsvorsitzender] immer wieder herausgestellt. Kursierende Gerüchte, Unternehmensteile, in denen die Mitarbeiterin arbeitet, würden verkauft, hatten die Mitarbeiterin offensichtlich beschäftigt. Indem der Bereichsleiter, der sich an dieser Stelle in den Diskurs zwischen der Mitarbeiterin und dem Geschäftsführer involviert, den Wahrheitsgehalt der Gerüchte verneint und sowohl plausible Gründe („Die [Unternehmenssparte] ist eine wesentliche strategische Waffe der Deutschen Telekom für die Wettbewerbssicherung.“) als auch die Stellungnahme des Vorstandsvorsitzenden anführt („Dies <?page no="352"?> 338 Die Teilhabe der Mitarbeiter wird auch von Herrn [Vorstandsvorsitzender] immer wieder herausgestellt.“), ist eine gemeinsame Verständigung zwischen der Mitarbeiterin und der Unternehmensleitung zum Vorteil aller Beteiligten hergestellt, da die Mitarbeiterin die gesuchte Information erhält und die Unternehmensleitung ihrer Absicht zu informieren nachkommen konnte. Indem die Chat-Kommunikation beide Entwicklungen unterstützt, den Informationstransport und die gemeinsame Verständigung unter Auslassung der mittleren Hierarchieebenen, eignet sich die Chat-Kommunikation dazu, ein gewolltes Abflachen der Hierarchien voranzutreiben. Im Beispiel „Eine der schwersten Fragen“ findet zwischen der Mitarbeiterin und der Unternehmensleitung sowohl ein quantitativer Informationsaustausch als auch eine qualitative gemeinsame Verständigung statt. Zum einen erhalten beide Seiten neue Informationen im Chat, andererseits tauschen sie in mehreren Zügen ihre Sichtweise auf diese Informationen aus. Eine der schwersten Fragen (Auszug) 126 V Kann ich gut verstehen. Das leidige Thema, dass manche Kolleg(inn)en Angst vor Veränderungen haben, weil ihr Verantwortungsbereich kleiner werden könnte. Ich verstehe das zwar menschlich, habe aber selber nie danach gehandelt; es ging mir nicht schlecht dabei. Hier hilft bei dauerhafter Verweigerung nur das Mail an Top-Management, im negativsten Fall auch anonym (aber sachlich). Der Vorstand bezieht sich in seiner Darstellung auf die Situation der Führungskräfte im Wandel und bewertet die Vorgehensweise, Informationen zurückzuhalten, als unerfreulich („Das leidige Thema“). Er distanziert sich davon („habe aber selber nie danach gehandelt“) und unterstützt damit die Mitarbeiterin darin, an ihrem Vorgesetzten vorbei zu handeln. Nachdem die Wirtschaftwissenschaften schon seit längerer Zeit davon ausgehen, dass „Kommunikation und Hierarchie […] sich entgegen“ stehen (Baecker 1993, 16), wird seit einigen Jahren das „Ende der Informationshierarchien“ proklamiert, wobei Lucke sogar das „Internet als Rollenänderung für Führungskräfte“ (Lucke 2003, 156) sieht. Es ist offen, ob die Entwicklung der Informationskaskade tatsächlich den in den Wirtschaftswissenschaften beschriebenen Weg nehmen wird. Zumindest wird aber das Untergraben der Informationskaskade durch die Mitarbeiter und die Billigung dieser Vorgehensweise durch die Unternehmensleitung in den Diskursen des vorliegenden Datenkorpus mikrostrukturell kommunikativ sichtbar. <?page no="353"?> 7 Fazit und Ausblick Die vorliegende Arbeit bietet Ergebnisse an der Schnittstelle zwischen der empirischen Chat-Forschung und der empirischen Erforschung der Wirtschaftskommunikation. Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist die Untersuchung eines praktischen Einsatzes von Chat-Kommunikation im Rahmen der Mitarbeiterkommunikation zwischen den Mitarbeitern und der Unternehmensleitung bei der Deutschen Telekom AG, Bonn. Zum Einsatz von Chat-Kommunikation in Unternehmen sind die Verwendungsmöglichkeiten zur Ökonomisierung von Kommunikation, beispielsweise bei der Personalbeschaffung, bereits gut untersucht. Eine empirische Untersuchung unternehmensinterner Chat-Kommunikation zwischen den Mitarbeitern und der Unternehmensleitung liegt bislang nicht vor. Die vorliegende Arbeit bietet Ergebnisse zum Einsatz der Chat- Kommunikation als Kommunikationsform der Mitarbeiterkommunikation zur Vermittlung von Informationen an die Mitarbeiter, der Verständigung über Ereignisse des organisatorischen Wandels sowie der Darstellung des Unternehmensbilds und der Unternehmensleitung in ihrer Leitbildrolle. Als übergeordnetes Ziel der Arbeit wurde gezeigt, wie Ereignisse im Unternehmen in der unternehmensinternen Chat-Kommunikation zwischen den Mitarbeitern und der Unternehmensleitung kommunikativ sichtbar werden. Dazu konnten Ergebnisse aus drei Untersuchungsbereichen vorgelegt werden. Zur Gesprächssituation im Chat zwischen der Unternehmensleitung und den Mitarbeitern bietet die Untersuchung Ergebnisse zu den Gesprächsabsichten und -zielen der Chat-Teilnehmer und den Werthaltungen, die sie ihrem Sprachhandeln zugrunde legen. Diese sind in Kap.- 7.1. zusammengefasst. Mit der Chat-Teilnahme der Unternehmensleitung und der Mitarbeiter als im Unternehmensalltag vertikal-hierarchisch unterschiedlichen Gruppen konnten Beobachtungen zur Verbalisierung von Perspektiven auf das Unternehmen sowie der Einstellungen und Interessen der Chat-Teilnehmer gemacht werden. Für die Gruppe der Mitarbeiter konnte die Verständigung über das Unternehmensbild und die Abhängigkeit ihrer Einstellungen von der vertikal-hierarchischen Position gezeigt werden. Das Sprachhandeln der Gruppe der Unternehmensleitung wurde hinsichtlich ihrer Selbstpräsentation als Vertreter des Unternehmens und als Rollenbeispiel untersucht sowie im Hinblick auf ihre Gesprächsabsichten, den Mitarbeitern Informationen zu geben und das Unternehmensbild sowie die Unternehmensziele zu vermitteln. Für den gemeinsamen Diskurs beider Gruppen konnte die Bedeutung der interaktionalen Dominanz im Chat als Auswirkung des Schreibrechts und der Anonymität als Einflussfaktoren auf das Sprachhandeln der Mitarbeiter gezeigt werden. Für die Sprachhandlungen im untersuchten Datenkorpus konnte gezeigt werden, dass die Gesprächssituation und die Gesprächsabsichten und Ge- <?page no="354"?> 340 Fazit und Ausblick sprächsziele der Chat-Teilnehmer sich auch darin ausdrücken, dass bestimmte sprachliche Handlungsformen gehäuft verwendet werden. Es konnten als generalisierende Kategorien eine Ausprägung des Gesprächstyps Befragung und die Sprachhandlungen Kritik, Misstrauen äußern, Vorschlag und Perspektiven übernehmen herausgearbeitet und sprachliche Handlungsmuster dazu erstellt werden (Kap.-7.2.). Zur kommunikativen Bearbeitung von Ereignissen des organisatorischen Wandels im Unternehmen wurde angenommen, dass organisatorischer Wandel vermehrten Kommunikationsbedarf erzeugt. Es konnte belegt werden, dass Ereignisse organisatorischen Wandels vorrangig thematisiert werden und ein wesentlicher Anlass dafür sind, dass im vorliegenden Datenkorpus gerade diese sprachlichen Handlungsformen gehäuft auftreten. Es wurde gezeigt, wie Ereignisse des Wandels kommunikativ sichtbar werden, inwiefern Kommunikation als Messpunkt für organisatorischen Wandel geeignet ist und wie kommunikativ sichtbarer Wandel in den Köpfen befördert werden kann (Kap.-7.3.). Diese Ergebnisse können für die wissenschaftliche Erforschung der Chat- Kommunikation und für die Organisation von Chat-Kommunikation in der unternehmensinternen Mitarbeiterkommunikation zwischen den Mitarbeitern und der Unternehmensleitung von Nutzen sein und Anregungen geben. Das Datenmaterial Das in Kap. 4 vorgestellte Datenkorpus umfasst Chat-Kommunikation, die in der Deutschen Telekom AG zwischen der Unternehmensleitung und den Mitarbeitern abgehalten wurde. Für die Erhebung des Datenkorpus wurden im Erhebungszeitraum der Jahre 2001 bis 2008 insgesamt 263 Chats mit insgesamt 51.285 Beiträgen zusammengetragen, davon 28.497 Beiträge der Mitarbeiter, 22.160 Beiträge der Unternehmensleitung, 439 Beiträge der Moderatoren und 52 Beiträge fachlicher Experten. Bei einer zeitlichen Rahmung der Chats von einer Stunde bis zu über zwei Stunden Dauer pro Chat ergibt sich Untersuchungsmaterial von insgesamt 591 Stunden. Die Chats wurden qualitativ untersucht und es wurden einige der qualitativen Ergebnisse durch quantitative Analysen ergänzt. In die qualitative Untersuchung sind 242 Chats mit zusammen 48.334 Beiträgen eingegangen, die weiteren 21 Chats, die aufgrund ihrer Organisation nicht für die qualitative Untersuchung geeignet waren, wurden nur für einen Teil der quantitativen Untersuchungen mit verwendet. Die Chats stammen aus zwei Unternehmenssparten, in denen im Erhebungszeitraum insgesamt durchschnittlich etwa 154.000 Mitarbeiter beschäftigt waren. Da die Mitarbeiter anonym bleiben können, indem sie durch die Verwendung von Teilnehmernamen (Nicknames) pseudonym am Chat teilnehmen, ist die Anzahl der Chat-Teilnehmer nicht feststellbar, kann aber aufgrund von Indizien auf mindestens 40 bis 1.100 Teilnehmer pro Chat <?page no="355"?> Fazit und Ausblick 341 grob geschätzt werden. 116 Chats wurden für eine ganze Unternehmenssparte organisiert, die weiteren 147 Chats für große Organisationseinheiten (Regionaleinheiten, Ländereinheiten, Geschäftsbereiche), so dass die Chats jeder beteiligten Organisationseinheit jeweils eine Chat-Reihe bilden. Es ist nicht erkennbar, dass Führungskräfte der mittleren Führungsebene am Chat teilnehmen. Sie sind zwar eingeladen, es bestehen allerdings Indizien, dass sie nicht teilnehmen, was möglicherweise daran liegt, dass sie anderweitige Kommunikationsbeziehungen zur Unternehmensleitung sowie zu den Mitarbeitern haben (Kap.-6.5.). Das Ziel der Unternehmensleitung als Initiator der Chats ist, möglichst viele Informationen an möglichst viele Mitarbeiter zu verteilen. Deshalb ist die Unternehmensleitung bestrebt, die Frage/ Antwort-Sequenz als gewünschte sprachliche Form zur Vermittlung von Informationen bei der Chat-Organisation zu begünstigen und die Teilnehmerzahl zu erhöhen. Um dieses Ziel zu erreichen, wurde die Chat-Organisation mehrfach verändert. Dadurch entstanden drei Chat-Typen, die sich in der Darstellung auf der Benutzeroberfläche, den Möglichkeiten zum Sprecherwechsel und der Synchronizität der Kommunikation unterscheiden. In einem ersten Chat-Typ sind die Beiträge aller Chat-Teilnehmer nach dem Mühlen-Prinzip fortlaufend aufgelistet. Im zweiten Chat-Typ sind die Beiträge der Mitarbeiter und der Unternehmensleitung einander zugeordnet, so dass die Unternehmensleitung ein erweitertes Schreibrecht auf der Ebene der Chat-Organisation hat, indem sie ihre Beiträge in die für die Unternehmensleitung frei gehaltenen Felder schreibt. Der dritte Chat-Typ umfasst Chats, die in der Art von Frequently Asked Questions (FAQ) aufbereitet wurden, und ist dadurch gekennzeichnet, dass die Unternehmensleitung nicht mehr am Chat teilnimmt, sondern die Beiträge der Mitarbeiter asynchron beantwortet. Zusätzlich wurden Veränderungen an der Reihenfolge der Beiträge vorgenommen, um die Fragen der Mitarbeiter und die Antworten der Unternehmensleitung einander zuzuordnen. Die drei Chat-Typen sind durch Chat-Merkmale weiter spezifiziert, die jeweils einen Teil der Chats betreffen. Die zeitliche Rahmung der Chats ist in 208 Chats aufgehoben und die Chat-Dauer wird, soweit Beiträge von Mitarbeitern eingehen, situativ variabel verlängert. Ein in 188 Chats auftretendes Merkmal ist die asynchrone Beantwortung von Fragen durch die Unternehmensleitung, soweit wegen der unterschiedlich großen Teilnehmergruppen und da die Unternehmensleitung bevorzugt angechattet wird, Beiträge der Mitarbeiter nicht im Verlauf des Chats beantwortet werden können. In 80 Chats werden Moderatoren für die Verteilung der Beiträge und für Ansagen eingesetzt. 91 Chats werden mit Themenbezug abgehalten, damit die entsprechenden fachlichen Experten für die Beantwortung von Beiträgen zugezogen werden können, so dass das hierarchische Wissen der Unternehmensleitung um fachliches Expertenwissen ergänzt wird. <?page no="356"?> 342 Fazit und Ausblick Die quantitative Verteilung der Chat-Typen und Chat-Merkmale richtet sich nach dem aus der Zielperspektive der Unternehmensleitung damit erzielten Erfolg hinsichtlich der festgelegten Kriterien, der Erhöhung des Anteils der Frage/ Antwort-Sequenz als gewünschter sprachlicher Form und der Erhöhung der Teilnehmerzahl. Die zeitliche Verteilung ist in den verschiedenen Organisationseinheiten uneinheitlich, in manchen Organisationseinheiten wurden auch nur einige der Chat-Typen und Chat-Merkmale eingesetzt. Die Vergleichbarkeit der Chat-Reihen untereinander ist dennoch gegeben, denn die unterschiedliche Organisation der Chats bewirkt nur geringfügige Unterschiede. Insgesamt sind die Chat-Reihen hinsichtlich der auf sie einwirkenden Unternehmenskultur und dem Wissen der Mitarbeiter gleichförmig, zudem haben die Initiatoren gleichartige Ziele und die Frage/ Antwort-Sequenz wird in der organisatorischen und technischen Entwicklung aller Chat-Reihen begünstigt. Unter den Rahmenbedingungen, die durch diese Chat-Organisation geschaffen werden, entstehen Gesprächssituationen, in denen die Chat-Teilnehmer ihre Einstellungen und Interessen, sowie ihre Perspektiven auf das Unternehmen äußern. Die Ergebnisse dazu sind im folgenden Kap.-7.1. zusammengefasst. 7.1 Die Verständigung der Chat-Teilnehmer über das Unternehmensbild In Kap. 5 wurde auf der Basis der im ersten Teil dargestellten Grundlagen gezeigt, dass die Chat-Kommunikation zwischen den Mitarbeitern und der Unternehmensleitung in der beschriebenen Form ihrer Organisation zwei Variablen in die Mitarbeiterkommunikation bringt: eine im Unternehmensalltag nicht gegebene Durchlässigkeit der Kommunikation innerhalb der vertikal-hierarchischen Unternehmensstruktur und einen vertikal-hierarchisch von unten nach oben verlaufenden Informationsweg, der aufgrund der synchronen und multidirektionalen Kommunikationsform, die die Chat-Kommunikation darstellt, den Mitarbeitern zugleich Anonymität und Rezipientenkontrolle zugesteht. Das führt dazu, dass eine Verständigung der beiden Teilnehmergruppen, der Unternehmensleitung und der Mitarbeiter, über das Unternehmensbild möglich wird. Die Chat-Teilnehmer legen ihre Gesprächsabsichten und Gesprächsziele entlang von zwei verschiedenen Kommunikationsbegriffen fest, indem sie neben der Auffassung, Kommunikation sei Informationstransport, die Kommunikation im Chat auch als Kommunikation zur gegenseitigen Verständigung verstehen. Das Bestreben sich zu verständigen geht vorwiegend von den Mitarbeitern aus und hat zwei wesentliche Auswirkungen, die Aushandlung von Macht und interaktionaler Dominanz sowie die Verständigung über das Unternehmensbild zwischen den Chat-Teilnehmern, besonders zwischen den beiden Teilnehmergruppen, der Unternehmensleitung und den Mitarbeitern. <?page no="357"?> Die Verständigung der Chat-Teilnehmer über das Unternehmensbild 343 Macht und interaktionale Dominanz unterliegen in der Chat-Kommunikation anderen Voraussetzungen als im Unternehmensalltag, wo die hierarchische Macht der Unternehmensleitung der auf fachlichem Wissen beruhenden Expertenmacht der Mitarbeiter überlegen ist. Bedingt durch die gegenseitige Verständigung, die der Diskurs im Chat ermöglicht, wird interaktionale Dominanz im Chat neu ausgehandelt und es entsteht daraus eine diskursive Macht, die situativ innerhalb einer Interaktion im Chat besteht. Die interaktionale Dominanz im Chat beruht auf den Auswirkungen des Schreibrechts und der Anonymität der Mitarbeiter. Im Unterschied zum Unternehmensalltag haben die Mitarbeiter in der Chat-Kommunikation ein Schreibrecht, das über das Rederecht im Unternehmensalltag hinausgeht. Sie sind bevorrechtigt, der Unternehmensleitung Fragen zu stellen und Antworten einzufordern, womit zudem eine Rezipientenkontrolle besteht, die im Unternehmensalltag nicht gegeben ist. Diese Bevorrechtigung wird durch den Sprecherwechsel nach dem Mühlen-Prinzip im Chat-Typ 1 unterstützt, also der fortlaufenden Auflistung der Beiträge in der Reihenfolge ihres Eingangs. Die Möglichkeit der Mitarbeiter, durch eine pseudonyme Chat-Teilnahme anonym zu bleiben wirkt sich auf die Gebundenheit an soziale Verhaltensnormen aus. Durch die Synchronizität des Diskurses im Chat, die bewirkt, dass die kommunikative Reaktion der Unternehmensleitung für die Mitarbeiter erkennbar ist, erhält die Synchronizität in Zusammenhang mit der Anonymität Bedeutung. Für die Mitarbeiter besteht keine Gebundenheit an soziale Verhaltensnormen und dennoch ist Rezipientenkontrolle möglich. Insofern entsteht interaktionale Dominanz, indem die Mitarbeiter soziale Verhaltensregeln verletzen können, ohne Sanktionen befürchten zu müssen, und dennoch diskursiv Kontrolle ausüben und die Unternehmensleitung zu reaktiven Sprachhandlungen auffordern können. Das Ergebnis dieser Einwirkung auf die Verteilung von Macht und interaktionaler Dominanz in der Chat-Kommunikation ist, dass das Rederecht, die Weisungsbefugnis und die Sanktionsmöglichkeiten als verhandelte Machtfaktoren sich in der Chat-Kommunikation verschieben. Der Diskurs im Chat hat auf diese Machtfaktoren weitreichenden Einfluss. So sind Rederecht, Weisungsbefugnis und Sanktionsmöglichkeiten die Machtfaktoren, auf denen die hierarchische Macht der Unternehmensleitung im Unternehmensalltag gründet. In der Chat-Kommunikation können diese Machtfaktoren von den Mitarbeitern partiell und temporär mit genutzt werden. Durch das Schreibrecht der Mitarbeiter in der Chat-Kommunikation und ihre Bevorrechtigung zu Fragen wird das Expertenwissen der Mitarbeiter zur Expertenmacht und die Mitarbeiter können mit Vorschlägen und Kritik die Unternehmensleitung zum Handeln auffordern und Kritik als Sanktionsmöglichkeit nutzen. Die Folge der Verschiebung von Machtfaktoren ist ein neues Aushandeln von Macht im Chat. Dazu verwendet die Unternehmensleitung ihre hierarchische <?page no="358"?> 344 Fazit und Ausblick Macht, indem sie ihr hierarchisches Wissen und ihre Handlungsmöglichkeiten nutzt und, als sprachliches Mittel, sich der Rezipientenkontrolle durch ausweichende Antworten oder Nichtbeantwortung von Beiträgen der Mitarbeiter entzieht. Die Mitarbeiter verwenden zum Aushandeln von Macht im Chat ihre Expertenmacht, die sie als Macht-Display zeigen, und ihr Fragerecht. Damit sind die Mittel, mit denen die Unternehmensleitung und die Mitarbeiter interaktionale Dominanz ausüben, nicht vergleichbar und es lässt sich nicht entscheiden, welche der beiden Gruppen mehr interaktionale Dominanz erreicht, so dass sich das Aushandeln interaktionaler Dominanz durch das gesamte Datenkorpus fortsetzt. Die Auslöser für den Kommunikationsbedarf der Chat-Teilnehmer sind Ereignisse im Unternehmen und das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Wahrnehmungen, Perspektiven, Einstellungen und Interessen der Chat-Teilnehmer, die besonders zwischen den beiden Teilnehmergruppen, der Unternehmensleitung und den Mitarbeitern manifest werden. Die Wahrnehmungen, Perspektiven, Einstellungen und Interessen der Mitarbeiter liegen ihrem Sprachhandeln zugrunde und sind von der hierarchischen und arbeitsteiligen Position eines Mitarbeiters abhängig, wobei sie die Perspektive der Mitarbeiter bedingt und diese sich auf die Einstellungen und Interessen auswirkt. Kommunikationsbedarf entsteht also auch durch den Einfluss von Perspektiven auf das Sprachhandeln der Chat-Teilnehmer, der Unterschiedlichkeit ihrer Perspektiven und den daraus resultierenden Einstellungen. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Werte und der Aushandlung von Macht und interaktionaler Dominanz teilen sich die Mitarbeiter und die Unternehmensleitung in zwei Seiten auf. Bei den Wahrnehmungen, die die Mitarbeiter thematisieren, handelt es sich um Ereignisse im Unternehmen, die sie durch verschiedene Formen von Anliegensklärungen kommunikativ bearbeiten. Dabei fokussieren die Mitarbeiter in Fragen und Äußerungen von Misstrauen die Umbrüche in den Unternehmensstrukturen mehr als die Strukturen selbst. Die Abhängigkeit der Perspektive eines Mitarbeiters von der Position, die er im Unternehmen hat, drückt sich kommunikativ in Kritik aus, die auf der Perspektivendivergenz zur Unternehmensleitung oder anderen Mitarbeitern beruht. Die Einstellungen und Interessen, die dem Sprachhandeln der Mitarbeiter zugrunde liegen, hängen von ihrer Einschätzung ihrer eigenen beruflichen Chancen ab. Als vorrangige Interessen der Mitarbeiter ließen sich folgende feststellen: das Interesse Informationen zu erhalten, das sich in Fragen ausdrückt; das Interesse Ereignisse im Unternehmen einzuordnen, das sich in Fragen und Äußerungen von Misstrauen ausdrückt; das Interesse Unzufriedenheit zu äußern, das sich in Kritik ausdrückt; und das Interesse an der Verbesserung der eigenen Position, das sich in Fragen, Vorschlägen und Perspektivübernahmen ausdrückt. Den Sprachhandlungen der Unternehmensleitung im Chat liegt eine vertikal-hierarchische Perspektive zugrunde. Die Interessen der Unternehmenslei- <?page no="359"?> Die Verständigung der Chat-Teilnehmer über das Unternehmensbild 345 tung sowie ihre Gesprächsabsichten und die daraus resultierenden Sprachhandlungen sind darauf ausgerichtet, die Mitarbeiter zu informieren, im Sinne einer Auffassung von Kommunikation als Informationstransport, und das Unternehmensbild zu vermitteln, was einer Auffassung von Kommunikation als gegenseitiger Verständigung nahekommt. Das Interesse der Unternehmensleitung an einer Verständigung mit den Mitarbeitern drückt sich in einem kollegialisierenden Verhalten aus, das von konzeptioneller Mündlichkeit der Beiträge und der Einbeziehung aller Chat-Teilnehmer in Gesprächseröffnungen und Gesprächsbeendigungen sowie Ermuntern der Mitarbeiter geprägt ist. Das Interesse, den Mitarbeitern das Unternehmensbild und die Unternehmensziele zu vermitteln, zeigt sich kommunikativ an der Darstellung der eigenen Perspektive in den Antwort-Beiträgen der Unternehmensleitung und an ihren Angeboten an die Mitarbeiter, den Diskurs über den Chat hinaus fortzusetzen, soweit die Mitarbeiter ihrerseits konstruktiv Interesse an den Ereignissen im Unternehmen zeigen. Auch die Selbstpräsentation der Unternehmensleitung als Vertreter des Unternehmens und als Rollenbeispiel für die Mitarbeiter zeigt dieses Interesse. Zudem hat die Unternehmensleitung Interesse daran, dass die Mitarbeiter über Ereignisse im Unternehmen informiert sind, die für die Erfüllung von Arbeitsaufgaben relevant sind, und fördert deshalb die Bildung paariger Frage/ Antwort-Sequenzen im Chat. Dazu wurde die Organisation des Chats mehrfach verändert, besonders durch den Übergang von der fortlaufenden Auflistung der Beiträge zu einander zugeordneter Darstellung der Beiträge der Mitarbeiter und der Unternehmensleitung. Vereinzelt lässt sich ein Interesse der Unternehmensleitung an der Nutzung und Vernetzung von Expertenwissen feststellen, das sich in der Anregung von Netzwerken, in Ermunterungen und der Thematisierung fachlicher Pläne ausdrückt. Aus den unterschiedlichen Interessen der Mitarbeiter und der Unternehmensleitung ergeben sich verschiedene Kommunikationsbedarfe. Während die Mitarbeiter sich informieren, Erklärungen einholen, Kritik und Misstrauen äußern wollen sowie an neuen Perspektiven interessiert sind, strebt die Unternehmensleitung die Vermittlung von Informationen im weitesten Sinn an. Damit besteht in den Kommunikationsbedarfen der Mitarbeiter und der Unternehmensleitung eine Übereinstimmung hinsichtlich der Informationsübermittlung und der Vorschläge sowie der konstruktiven Kritik der Mitarbeiter, soweit sie der Bildung von Netzwerken dient oder Fachwissen in den Diskurs einbringt. Dagegen sind die Kritik der Mitarbeiter, soweit sie dem Macht-Display oder der Erlangung interaktionaler Dominanz dient, Vorschläge zur Bewahrung der bestehenden Strukturen. Die von der Unternehmensleitung an ihre individuellen Antworten angeschlossene Darstellung der eigenen Sichtweise auf das Unternehmen sind Kommunikationsbedarfe, die bewirken, dass die jeweils andere Teilnehmergruppe die Sequenz nicht fortführt, so dass es zu einem Abbruch der Sequenz kommt. <?page no="360"?> 346 Fazit und Ausblick Die Übereinstimmungen und Differenzen in den Kommunikationsbedarfen schlagen sich in der Interaktivität nieder. Das Datenkorpus weist ganz überwiegend paarige Sequenzen und nur wenige lange Sequenzen auf, was auf die organisatorischen Maßnahmen zur Förderung der Frage/ Antwort-Sequenz und die Kommunikationsbedarfe der Chat-Teilnehmer zurückzuführen ist. So besteht eine hohe Interaktivität hinsichtlich der 18.427 Sequenzen mit zwei Beiträgen, von denen die meisten Frage-Antwort-Sequenzen sind, darunter als Frage formulierte Kritik und Vorschläge. Dagegen sind Sequenzen mit drei (689- Sequenzen) und vier Beiträgen (1.063 Sequenzen) sowie längere Sequenzen mit mehr als vier Beiträgen (236 Sequenzen) nur wenig vertreten. Das ist darauf zurückzuführen, dass die Kommunikationsbedarfe, in denen die Unternehmensleitung und die Mitarbeiter übereinstimmen, über die Frage/ Antwort-Sequenz bedient werden können. Aus der Geartetheit der Kommunikationsbedarfe entstehen im untersuchten Datenkorpus Häufungen sprachlicher Formen, so dass sich sprachliche Handlungsformen herausarbeiten ließen, deren Ausprägungen die Chat-Teilnehmer zur Verfolgung ihrer kommunikativen Ziele nutzen. 7.2 Die sprachlichen Handlungsformen in der Chat-Kommunikation als Ausdruck der Einstellungen und Perspektiven der Teilnehmer Ausgehend von der Fragestellung, wie die Ereignisse im Unternehmen kommunikativ bearbeitet werden, wurde weiter gefragt, mit welchen Sprachhandlungen die Mitarbeiter versuchen, sich mit der Unternehmensleitung über das Unternehmensbild zu verständigen. Dabei hat sich herausgestellt, dass es aufgrund der Gleichförmigkeit der Kommunikationsbedarfe der Chat-Teilnehmer zur Bildung kommunikativer Großformen kommt (Abb. 40). Für die Analyse des vorliegenden Datenkorpus und die Herausarbeitung der sprachlichen Handlungsformen wurden die Verfahren der Sequenzanalyse und der Musteranalyse angewandt (Kap.-4.3.). Die Musteranalyse wurde verwendet, soweit offenkundige Gegebenheiten, wie das häufige und komplexe Auftreten der Frage/ Antwort-Sequenz, ein Erkenntnisinteresse oder eine bestimmte Problemstellung nahelegten. So war die Herausarbeitung eines Gesprächstyps Befragung und der kommunikativen Handlung Kritik, die, wenn auch nur in zwei thematischen Formen, nach der Anzahl ihrer Ausprägungen häufig auftritt, von vornherein angestrebt. Die Sequenzanalyse wurde angewandt, um Ergebnisse herauszuarbeiten, die nicht auf den ersten Blick erkennbar waren und zu denen folglich keine feste Ergebnisvorstellung bestand. Die Chat-Kommunikation zwischen den Mitarbeitern und der Unternehmensleitung ist aufgrund der ungleichen Verteilung von Macht asymmetrische Kommunikation. Die Gesprächsabsichten der Unternehmensleitung und ihr Führungsstil führen dazu, dass die Chat-Kommunikation auch symmetrische <?page no="361"?> Die sprachlichen Handlungsformen in der Chat-Kommunikation 347 Abb.-40: Überblick über die Kommunikationsbedarfe und die vermehrt auftretenden Sprachhandlungen Sprachhandlungen enthält. Besonders durch das Schreibrecht der Mitarbeiter und ihre Bevorrechtigung zu Fragen sind die Chats kommunikative Ereignisse, die diese zeitweilige und partielle Symmetrie unterstützen. Mit der Förderung symmetrischer Sprachhandlungen soll eine Gesprächssituation geschaffen werden, in der sich die Mitarbeiter durch Fragen an die Unternehmensleitung Informationen beschaffen können. Die Praxis des Fragens entwickelt sich zur häufigsten Sprachhandlung im vorliegenden Datenkorpus und es lässt sich ein Gesprächstyp Befragung herausarbeiten. Der Gesprächstyp Befragung Bei der Organisation des Chats war die Beantwortung der Fragen der Mitarbeiter die wesentliche Zielperspektive der Unternehmensleitung, so dass den Mitarbeitern schon mit der organisatorischen und technischen Gestaltung des Chats ein unbeschränktes Fragerecht eingeräumt wurde. Die Bevorrechtigung, Fragen zu stellen, wurde von den Mitarbeitern in zunehmendem Umfang genutzt, so dass sich aus dem Datenmaterial als eine generalisierende Kategorie eine Ausprägung des Gesprächstyps Befragung (Kap. 6.3.1.) herausarbeiten ließ. Darunter sind diese Diskurse im vorliegenden Datenkorpus zusammengefasst, die aus mindestens einer Frage/ Antwort-Sequenz bestehen und den Zweck haben, dass Mitarbeiter direkt von der Unternehmensleitung, unter Umgehung der hierarchischen Informationskette im Unternehmen, Informationen und Erläuterungen zu Veränderungen im Unternehmen, besonders zu Ereignissen <?page no="362"?> 348 Fazit und Ausblick des Wandels einholen können. Der Gesprächstyp Befragung stellt im vorliegenden Datenkorpus mit 16.221 Ausprägungen die am häufigsten vorkommende Sprachhandlung dar. Innerhalb des Gesprächstyps Befragung ist die im Unternehmensalltag zugunsten der Unternehmensleitung einseitige Machtverteilung durch das Fragerecht der Mitarbeiter verschoben, so dass der Gesprächstyp Befragung Elemente asymmetrischer und symmetrischer Kommunikation enthält. Im Hinblick auf das Sprecher-Hörer-Verhältnis lässt sich feststellen, dass die Mitarbeiter die Rolle des Sprechers häufiger als die Rolle des Hörers einnehmen. Zudem initiieren die Mitarbeiter auch häufiger eine Sequenz, da die Unternehmensleitung vereinbart hat, sich in ihren Beiträgen, Gesprächseröffnungen und Gesprächsbeendigungen ausgenommen, weitgehend auf die Beantwortung der Fragen zu beschränken. So überlässt sie die Themenwahl in der Chat-Kommunikation den Mitarbeitern. Die Mitarbeiter haben mit dem Fragerecht die Möglichkeit, die Gesprächsthemen zu bestimmen und Antworten einzufordern. Dagegen hat die Unternehmensleitung die Möglichkeit, Fragen zurückzuweisen, ausweichend zu beantworten oder explizit nicht zu beantworten. Bei Fragen nach Informationen, die als Auswirkung rechtlicher und politischer Rahmenbedingungen dem Datenschutz oder der Geheimhaltung unterliegen, hat die Unternehmensleitung auch die Verpflichtung, diese Fragen nicht zu beantworten. Zudem wirkt die hierarchische Macht der Unternehmensleitung im Chat insofern weiter, als diese über die weitere Organisation des Chats entscheidet. So wird denn auch das Fragerecht, das Auswirkungen auf die Machtverhältnisse im Chat hat, kontinuierlich weiterentwickelt und in bestimmten Entwicklungsphasen eingeschränkt, teilweise bis zur Umarbeitung des Chats zu FAQ (Frequently Asked Questions). Aufgrund der Möglichkeit zu symmetrischen Sprachhandlungen, die im Unternehmensalltag sonst nicht gegeben ist, und damit einhergehender interaktionaler Dominanz der Mitarbeiter entstehen Sprachhandlungen, bei denen symmetrische und asymmetrische Elemente festzustellen sind. Dafür lassen sich zwei Ursachen ausmachen. Im Gegensatz zu einem Führungsstil des Anweisens bevorzugt die Unternehmensleitung einen beteiligenden Führungsstil, so dass die Wahrnehmungen, Einstellungen und Interessen, die die Chat-Teilnehmer hinsichtlich der Ereignisse im Unternehmen haben, vertikal-hierarchisch in beide Richtungen vermittelt werden. Eine weitere Ursache ist die Unterschiedlichkeit der Sicht auf das Unternehmen, die die Mitarbeiter und die Unternehmensleitung haben. Grundsätzlich stehen die Interessen der Mitarbeiter und der Unternehmensleitung aufgrund ihrer hierarchischen Positionierung im Unternehmen teilweise im Konflikt zueinander, so dass es zur Bildung von zwei Seiten kommt. Die Möglichkeit zur symmetrischen Kommunikation im Chat wird von den Mitarbeitern deshalb auch dafür genutzt, Kritik an den Ereignissen im Unternehmen und an der Unternehmensleitung zu äußern. <?page no="363"?> Die sprachlichen Handlungsformen in der Chat-Kommunikation 349 Die Sprachhandlung Kritik Die Beziehungskonstitution im Chat, die den Mitarbeitern Macht gibt, indem sie ihnen in einem bestimmten Rahmen symmetrisches Sprachhandeln ermöglicht, und die Möglichkeit zur anonymen Chat-Teilnahme erleichtern es den Mitarbeitern, im Vergleich zu anderen Kommunikationsformen, im Unternehmen gegenüber der Unternehmensleitung Kritik zu äußern. Unter der kommunikativen Handlung Kritik (Kap. 6.1.2.) wird hier die Kritik der Mitarbeiter an Entscheidungen der Unternehmensleitung verstanden, die in Konflikt mit den beruflichen oder persönlichen Interessen des Mitarbeiters stehen. Inhaltlich bezieht sich die Kritik bis auf wenige Ausnahmen auf Auswirkungen unternehmerischen Wandels. Mit 5.407 Ausprägungen ist die Sprachhandlung Kritik nach dem Gesprächstyp Befragung die zweithäufigste kommunikative Großform im Datenkorpus. Die Ursache der Kritik ist zunächst Unzufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen, zu einem guten Teil aber auch, dass die Mitarbeiter die Bruchstellen in der Unternehmensstruktur besonders beachten, während unzureichende Informiertheit und die Divergenz der eigenen Einstellung zu der Sicht der Unternehmensleitung es den Mitarbeitern erschweren, neu gebildete Strukturen des Unternehmens vorrangig zu betrachten und eigene Chancen darin zu erkennen. Da die Bildung neuer Strukturen und daraus resultierender Bruchstellen in der Folge organisatorischen Wandels vermehrt auftritt, sind häufig Ereignisse des Wandels Gegenstand der Kritik, die die Mitarbeiter äußern. Die Ausprägungen der kommunikativen Handlung Kritik lassen sich in drei Muster ordnen, die sich in der interaktionalen Eröffnung durch die Mitarbeiter unterscheiden. Die Wahl der Eröffnung hängt davon ab, ob ein Mitarbeiter davon ausgeht, mit seiner Kritik Veränderungen bewirken zu können, und ob Ironie als Stilmittel eingesetzt wird. Die Unterschiedlichkeit der Sicht der Mitarbeiter und der Unternehmensleitung auf das Unternehmen wird durch die Veränderungen infolge organisatorischen Wandels verstärkt und hat die Auswirkung, dass die Mitarbeiter auf Authentizität des Auftretens der Unternehmensleitung im Chat Wert legen und Misstrauen äußern, soweit sie die Äußerungen der Unternehmensleitung im Chat als nicht authentisch einschätzen. Die Sprachhandlung Misstrauen äußern Die Bekundung von Misstrauen geht im vorliegenden Datenkorpus grundsätzlich von den Mitarbeitern aus. Misstrauen wird geäußert, wenn Ereignisse im Unternehmen für die Mitarbeiter aufgrund unzureichender oder widersprüchlicher Informationen nicht nachvollziehbar sind. Die Mitarbeiter vermuten dann einen Interessenkonflikt ihrer eigenen Ziele mit den Unternehmenszielen und äußern Misstrauen, um ihre Interessen zu wahren. <?page no="364"?> 350 Fazit und Ausblick Zur kommunikativen Handlung Misstrauen äußern (Kap. 6.3.3.) sind diese Diskurse zusammengefasst, die Äußerungen von Vermutungen der Mitarbeiter über die Gründe und Auswirkungen von Veränderungen im Unternehmen beinhalten, in denen die Mitarbeiter sowohl Übereinstimmung als auch Divergenz zwischen dem Interesse der Unternehmensleitung und ihren eigenen beruflichen Interessen in Betracht ziehen. Das vorliegende Datenkorpus enthält 1.095 Ausprägungen der kommunikativen Handlung Misstrauen äußern. Die Ausprägungen des sprachlichen Handlungsmusters Misstrauen äußern treten in zwei Formen auf, als Misstrauen gegen Entscheidungen der Unternehmensleitung und als Misstrauen gegen die Art der Chat-Organisation. Jedoch ist bei beiden Formen ein vermuteter oder tatsächlicher Interessenkonflikt zwischen den Mitarbeitern und der Unternehmensleitung Gegenstand des Misstrauens. Das Bestehen eines Interessenkonflikts machen die Mitarbeiter im Chat daran fest, ob sie die Beiträge der Unternehmensleitung als authentisch einschätzen, wobei die Zubilligung von Authentizität abnimmt, wenn die Beiträge der Unternehmensleitung wenig Merkmale konzeptioneller Mündlichkeit aufweisen oder Moderatoren im Chat eingesetzt werden. Hinsichtlich der Ereignisse im Unternehmen nehmen die Mitarbeiter einen Interessenkonflikt an, wenn mehrere unterschiedliche Interpretationen des Ereignisses plausibel sind oder die Mitarbeiter die Sichtweise der Unternehmensleitung nicht nachvollziehen können. Während die bisher zusammengefassten Sprachhandlungen Beteiligungsrechte sind, nehmen die Mitarbeiter andererseits auch Aufgaben der Beteiligung wahr und machen Vorschläge. Die Sprachhandlung Vorschlag Durch die erweiterten Äußerungsmöglichkeiten, die ermunternde Haltung der Unternehmensleitung und die Bevorrechtigung zu Fragen bietet der Chat den Mitarbeitern ein situatives Machtverhältnis. Dieses räumt ihnen in gewissem Umfang Macht durch interaktionale Dominanz ein, die auch konstruktiv genutzt wird, indem sie Vorschläge machen. Als Sprachhandlung Vorschlag (Kap. 6.4.) werden Interaktionen der Mitarbeiter bezeichnet, die darauf abzielen, Handlungsabläufe im Unternehmen zu verändern, mit der Absicht, diese vor dem Hintergrund der eigenen Einstellungen und Perspektiven zu verbessern. Die Umsetzung soll gemeinsam vorgenommen werden und die Mitarbeiter sind nicht auf die Umsetzung der Verbesserung durch die Unternehmensleitung angewiesen. Die 836 Ausprägungen der kommunikativen Handlung Vorschlag lassen sich in zwei thematische Formen ordnen, die inhaltlich auf die Bewahrung oder die Verbesserung der bestehenden Sachverhalte und Vorgehensweisen abzielen. Vorschläge, die auf die Verbesserung bestehender Strukturen oder die Aus- <?page no="365"?> Die sprachlichen Handlungsformen in der Chat-Kommunikation 351 schöpfung neu entstandener Handlungsoptionen abzielen, sind strukturbildende Innovationen. Das sprachliche Handlungsmuster Vorschlag weist in der Ablaufstruktur Ähnlichkeiten mit dem sprachlichen Handlungsmuster Kritik auf. Der entscheidende Unterschied der Vorschläge im Gegensatz zur Kritik ist die positive Konnotation, die den Vorschlägen zugrunde liegt. Im Gegensatz zur Kritik, bei der, neben Fällen von Missverstehen, eine Divergenz der Einstellungen der Mitarbeiter und der Unternehmensleitung vorliegt, basieren die Vorschläge auf einer Einstellungskonvergenz zwischen beiden Seiten. Die Mitarbeiter teilen die Einstellung der Unternehmensleitung und sehen im organisatorischen Wandel berufliche Chancen für sich selbst. Auch bei Mitarbeitern, die Vorschläge zur Bewahrung der bestehenden Ordnung machen, sind die Äußerungen zu organisatorischem Wandel grundsätzlich positiv konnotiert. Wie entscheidend die Einschätzung des organisatorischen Wandels als persönliche Chance dafür ist, ob die Mitarbeiter Kritik äußern oder Vorschläge machen, zeigt die Reaktion auf die Ermunterungen durch die Unternehmensleitung, in deren Folge Äußerungen von Kritik reduziert sind und als alternatives Handeln Vorschläge gemacht werden. Ein weiteres Beteiligungsrecht, das die Unternehmensleitung den Mitarbeitern durch das in der Organisation des Chats angelegte Rederecht einräumt, ist die Thematisierung neuer Handlungsmöglichkeiten, die in neuen organisatorischen Strukturen entstehen. Die Sprachhandlung Perspektiven übernehmen Soweit Mitarbeiter sich mit neuen Unternehmensstrukturen in der Absicht befassen, neue Aufgaben im Unternehmen zu übernehmen, sehen sie in den Ereignissen im Unternehmen, besonders in den Ereignissen des organisatorischen Wandels, berufliche Chancen. In diesem Zusammenhang übernehmen sie auch die Perspektive der Unternehmensleitung auf das Unternehmen. Als Sprachhandlung Perspektiven übernehmen (Kap. 5.5.2.) werden von den Mitarbeitern initiierte Sprachhandlungen bezeichnet, in denen sie infolge organisatorischen Wandels neu entstehende Handlungsmöglichkeiten thematisieren und in deren Verlauf kommunikativ sichtbar wird, dass die Mitarbeiter die Perspektive der Unternehmensleitung übernehmen. Für die Sprachhandlung Perspektiven übernehmen können im vorliegenden Datenkorpus 28 Ausprägungen belegt werden. Diese Mitarbeiter haben den Kommunikationsbedarf, von neuen Handlungsmöglichkeiten zu erfahren und den Diskurs im Chat mit der Unternehmensleitung als Vorteil zu nutzen, durch den sie von bevorstehenden Ereignissen früher erfahren als andere Mitarbeiter, die nicht am Chat teilnehmen. Ein weiterer Grund, dass die Mitarbeiter im Chat nach neuen Handlungsmöglichkeiten fragen, ist, dass sie sich von der Unternehmensleitung mehr Unterstützung bei <?page no="366"?> 352 Fazit und Ausblick ihrer Suche nach neuen Aufgaben erhoffen als die Unterstützung und Förderung, die sie anderweitig in ihrem beruflichen Umfeld im Unternehmensalltag bekommen. Die Suche nach neuen Handlungsmöglichkeiten verläuft in drei kommunikativen Phasen: einer ersten Phase der Einordnung wahrgenommener Ereignisse im Unternehmen; einer zweiten Phase, in der die Mitarbeiter nach neuen Handlungsmöglichkeiten fragen; und einer dritten Phase, in der sie diese neuen Handlungsmöglichkeiten kommunikativ sichtbar umsetzen. In der ersten Phase argumentieren die Mitarbeiter aus einer Perspektive, die sie aufgrund ihrer Position im Unternehmen haben, um im Verlauf der drei kommunikativen Phasen die konform zu den Unternehmenszielen gehende Perspektive der Unternehmensleitung zu übernehmen. Abhängig von der Abfolge der Suche nach neuen Handlungsmöglichkeiten und der kommunikativ sichtbaren Perspektivübernahme treten zwei Varianten auf. So kann die Perspektivübernahme bereits bei der Frage nach neuen Handlungsmöglichkeiten als Anpassung an die Unternehmensleitung sichtbar werden oder erst bei der Umsetzung neuer Handlungsmöglichkeiten eine neue Perspektive übernommen werden, die ein Mitarbeiter aufgrund seiner neuen Position entwickelt. 7.3 Der Chat als Messpunkt für organisatorischen Wandel Ausgehend von den Werthaltungen der Mitarbeiter, die sich aus ihren Perspektiven und den daraus resultierenden Einstellungen und Interessen bilden, wurde gezeigt, dass im Chat, mit geringen Einschränkungen in den 91 themenbezogenen und den 21 zu FAQ aufbereiteten Chats, die Mitarbeiter über die Thematisierung von Ereignissen entscheiden. Aufgrund der Gleichförmigkeit der Kommunikationsbedarfe der Mitarbeiter konnten fünf sprachliche Handlungsformen herausgearbeitet werden, in die sich die meisten Sprachhandlungen einordnen lassen, mit denen die Mitarbeiter die Ereignisse im Unternehmen thematisieren. Diese Thematisierungen betreffen häufig explizit oder implizit Ereignisse organisatorischen Wandels. Es wurde dargestellt, was unter organisatorischem Wandel zu verstehen ist, und es wurden verschiedene Beschreibungen organisatorischen Wandels vorgestellt. Dabei haben sich die Verschiebung von Unternehmensgrenzen und die damit einhergehenden Umbruchstellen in den Unternehmensstrukturen als bedeutender Einflussfaktor auf die Wahrnehmungen der Mitarbeiter und, in der Folge, auf ihre Perspektiven, Einstellungen und Interessen herausgestellt. Weiter hat sich gezeigt, dass die Chat-Kommunikation zwischen der Unternehmensleitung und den Mitarbeitern ein geeigneter Messpunkt für die Aus- <?page no="367"?> Der Chat als Messpunkt für organisatorischen Wandel 353 wirkungen organisatorischen Wandels ist. Die Interpretationen der Ereignisse des organisatorischen Wandels werden aus den verschiedenen Perspektiven der Chat-Teilnehmer kommunikativ sichtbar und die Häufung sprachlicher Handlungsformen gibt Hinweise auf die Art der kommunikativen Bearbeitung der Veränderungen, die aus organisatorischem Wandel entstehen. Der Grund dafür, dass bei der Auswahl der im Chat geäußerten Themen meistens Ereignisse des Wandels thematisiert werden, ist der vermehrte Kommunikationsbedarf, der durch Ereignisse des Wandels erzeugt wird. Unter quantitativen Aspekten gesehen, werden die Beteiligten eines Unternehmens infolge organisatorischen Wandels mit einer größeren Anzahl neuer Ereignisse konfrontiert, die sie kommunikativ bearbeiten wollen. Qualitativ gesehen sind Ereignisse organisatorischen Wandels neuartig, so dass ein solches Ereignis mehr Kommunikationsbedarf erzeugt als ein Ereignis, das die Mitarbeiter aus ihren beruflichen Erfahrungen und aufgrund ihres beruflichen Wissens beurteilen können. Anhand der Belege wurde gezeigt, wie die Chat-Teilnehmer neuartige Ereignisse organisatorischen Wandels kommunikativ bearbeiten. Dabei teilen sich die Chat-Teilnehmer nach ihrem Sprachhandeln und ihrer Interpretation der Ereignisse auf in jene, die den organisatorischen Wandel als Chance bewerten - dazu zählen Mitarbeiter, die berufliche Entwicklungsmöglichkeiten im Wandel für sich sehen und die Mitglieder der Unternehmensleitung - und Chat-Teilnehmer unter den Mitarbeitern, die Wandel ablehnen, da sie ihn als Beeinträchtigung ihrer Aufgaben und Privilegien sowie ihres Arbeitsumfelds sehen. Die Mitarbeiter, die eine ablehnende Einstellung zum Wandel haben, fokussieren in ihrem Sprachhandeln nicht die neu entstehenden Strukturen des Unternehmens, sondern die bisher bestehenden Strukturen und die Umbrüche in den Unternehmensstrukturen, die während der Umsetzung des Wandels zwischen bestehenden und neuen Strukturen der Organisationseinheiten entstehen. Das äußert sich in der Chat-Kommunikation in der kommunikativen Handlung Vorschlag in einer thematischen Form, die auf das Bewahren bestehender Strukturen abzielt, und in der kommunikativen Handlung Kritik, die auf Wandel und neue Strukturen sowie auf das Verhalten der Vorgesetzten ausgerichtet ist, soweit diese keine Orientierung vermitteln. Die Gründe dafür sind, dass diese Mitarbeiter die Ereignisse des Wandels in ihren Auswirkungen nicht einordnen können, da durch ihre neuen Wahrnehmungen ihre bisher erworbenen Erfahrungswerte nicht mehr bestätigt werden und zudem die Arbeitsabläufe an den vertikal-hierarchischen und horizontal-arbeitsteiligen Bruchstellen zwischen den Strukturen des Unternehmens verändert ablaufen oder zeitweilig nicht ablaufen können. Die Ereignisse des Wandels thematisieren diese Mitarbeiter über einen Vergleich mit ihren Erfahrungen in einem Bezugsrahmen, in den die vertikal-hierarchische, die horizontal-arbeitsteilige und die zeitliche Dimension einbezogen sind, wobei der zeitliche Ablauf von Wandel als Vergleichs- <?page no="368"?> 354 Fazit und Ausblick achse verwendet wird. In der Folge versuchen Mitarbeiter, die den Wandel als Beeinträchtigung wahrnehmen, die durch Wandel entstehende Umbruchzeiten zu verkürzen, was sich in der Chat-Kommunikation dadurch äußert, dass sie die Unternehmensleitung auffordern, Neustrukturierungen schneller umzusetzen oder abzubrechen. Soweit Mitarbeiter eigene berufliche Chancen im Wandel sehen, thematisieren sie neue Arbeitsabläufe, neue Handlungsmöglichkeiten und ihre neue Position sowie die Positionen anderer Beteiligter des Unternehmens. Das äußert sich in der kommunikativen Handlung Perspektiven übernehmen, die die Suche der Mitarbeiter nach neuen Handlungsmöglichkeiten abbildet, in deren Verlauf sie auch die zum neuen Unternehmensbild konform gehenden Perspektiven übernehmen. Die Umsetzung neuer Handlungsmöglichkeiten und die Übernahme neuer Perspektiven befördern den Wandel als „Wandel in den Köpfen“. Die Chat-Kommunikation befördert als synchrone und multidirektionale virtuelle Kommunikationsform, die anonym genutzt werden kann, den organisatorischen Wandel. Indem sie einen unmittelbaren und reziproken Diskurs zwischen der Unternehmensleitung und den Mitarbeitern zulässt, wird die Suche der Mitarbeiter nach neuen Handlungsmöglichkeiten unterstützt, da die Unternehmensleitung diese Unterstützung bietet und Impulse zu neuen Wahrnehmungen gibt, das Verhältnis von sprachlichem Handeln und Ereignissen im Unternehmen in einer Ausprägung einer Mikro-Makro-Brücke zueinander in Beziehung zu setzen. 7.4 Ausblick und Anwendbarkeit der Ergebnisse in der Praxis Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung sind für die Chat-Forschung und die Mitarbeiterkommunikation relevant und können als Grundlage für weitere wissenschaftliche Untersuchungen verwendet sowie in der Praxis der Kommunikation in Unternehmen angewandt werden. Weitere wissenschaftliche Untersuchungen könnten umfassender und detaillierter darüber Aufschluss geben, wie organisatorischer Wandel in Unternehmen kommunikativ bearbeitet wird. Besonders interessant wären Ergebnisse aus anderen großen Unternehmen, wobei dazu nach derzeitigem Stand nur interkulturelle Untersuchungen mit Chats aus Unternehmen in anderen Ländern infrage kommen, da in Deutschland bislang kein weiteres großes Unternehmen außer der Deutschen Telekom AG Chat-Kommunikation zwischen den Mitarbeitern und dem Vorstand durchführt. Zudem ist das zwar umfangreiche Datenkorpus für die Untersuchung einiger Aspekte doch nicht hinreichend, da einige Merkmale, deren Untersuchung lohnend erscheint, nicht häufig genug auftreten. Es gehen auch Fragestellungen der vorliegenden Arbeit über das Datenkorpus hinaus und ihre Bearbeitung würde die Verfügbarkeit weiterer Sprachdaten des Un- <?page no="369"?> Ausblick und Anwendbarkeit der Ergebnisse in der Praxis 355 ternehmens notwendig machen, besonders Umfragen unter den Mitarbeitern zur Weiterführung der im Chat geknüpften Kontakte und der Annahme der Kontaktangebote der Unternehmensleitung. Die weitere Entwicklung der Frage/ Antwort-Sequenz, unternehmensinterne intermediale Vergleiche und medienübergreifende Einwirkungen, die aus diesen Gründen nicht betrachtet wurden, scheinen mir lohnend für anschließende Untersuchungen: Die Entwicklung der Frage/ Antwort-Sequenz Der Gesprächstyp Befragung (Kap. 6.3.1.) könnte über die bereits gewonnenen umfangreichen Erkenntnisse hinaus noch weitere Ergebnisse bringen. Interessant wären weitere Modifizierungen der Organisation der Chats, um mit qualitativen und quantitativen Methoden das Verhältnis der Mitarbeiterzufriedenheit zur Quantität und Qualität der Beantwortung von Fragen näher zu untersuchen. Es sind bisher auch zu wenige Einstellungsänderungen feststellbar, die aus dem Gesprächstyp Befragung resultieren, um sie quantitativ untersuchen zu können oder eine ausführlichere These zu formulieren, wie Einstellungsänderungen über die Chat-Kommunikation forciert werden können. Unternehmensinterne intermediale Vergleiche Nach einer zusätzlichen Analyse der weiteren Kommunikationsformen in der Deutschen Telekom AG könnte eine vergleichende Betrachtung mit der Chat- Kommunikation Ergebnisse dazu liefern, inwieweit die Chat-Kommunikation mit anderen Medien im Unternehmen konkurriert, sie ergänzt oder unterstützt. In diesem Zusammenhang könnte auch der Frage nachgegangen werden, wie die Funktionen der Kommunikationsformen im Unternehmen mit der Einführung der Chat-Kommunikation neu verteilt werden und welche Kommunikationsformen Funktionen an die Chat-Kommunikation abgeben. Diese Ergebnisse leisten auch hinsichtlich der Unterscheidung schriftlicher vs. mündlicher Kommunikation einen Beitrag zur diskutierten Einordnung der Chat-Kommunikation zwischen beiden Polen. Medienübergreifende Einwirkungen Die Verfügbarkeit weiterer Sprachdaten sollte über das Datenkorpus hinaus die Untersuchung der gegenseitigen Einwirkungen zwischen der Chat-Kommunikation, den Kommunikationsformen in anderen Medien des Unternehmens und den im Unternehmensalltag verwendeten Kommunikationsformen ermöglichen. Allein im Hinblick auf die Durchführung der Chats ließen sich daraus Rückschlüsse auf die Motivation zur Teilnahme oder Nichtteilnahme am Chat ziehen, auf die Spanne der Verzögerung, mit der aktuelle Entwicklungen im Chat thematisiert werden, und auf eventuelle Verzögerungen aufgrund strategischer Überlegungen, aus Wettbewerbsgründen und durch juristisch bedingte <?page no="370"?> 356 Fazit und Ausblick Einschränkungen. Zudem ließe sich eine Bewertung des Nutzens vornehmen, den der Chat für die Orientierung der Mitarbeiter im Unternehmen und die Wahrnehmung ihrer eigenen Rolle hat. Anwendbarkeit der Ergebnisse in Unternehmen Die Ergebnisse dieser Untersuchung können dazu beitragen, dass die Organisation von Chats für die unternehmensinterne Anwendung der Chat-Kommunikation zwischen der Unternehmensleitung und den Mitarbeitern hinsichtlich der Ziele noch weiter verbessert werden kann, die Unternehmensleitung als Leitbild zu präsentieren und den Mitarbeitern das Unternehmensbild zu vermitteln. Als wichtige Einflüsse auf diese Ziele haben sich die Verbesserung der Authentizität der Unternehmensleitung und die Entwicklung der Organisation des Chats herausgestellt. Zu beiden Einflussfaktoren sollen abschließend in der Praxis anwendbare Handlungsempfehlungen gegeben werden. Verbesserung der Authentizität Als Handlungsempfehlung für die weitere Entwicklung der Chat-Kommunikation in Unternehmen sollte die Schaffung bestmöglicher Authentizität der Unternehmensleitung angestrebt werden. Bei der Interaktion im Chat kann somit Misstrauen ausgeräumt werden, das durch die Unsichtbarkeit der Textproduktion, also des Schreibens der Beiträge erzeugt wird. Auch bei der inhaltlichen Bearbeitung der Fragen der Mitarbeiter kann auf diese Weise Vertrauen aufgebaut werden. Als Vorgehensweise empfehlen sich gezielte Informationen im Vorfeld des Chat. Misstrauen, das aus Schwierigkeiten mit der technischen Infrastruktur resultiert, die für die Chat-Kommunikation verwendet wird, kann abgebaut werden, indem in einem Informationsheft auf die Komplexität und Weitläufigkeit der technischen Infrastruktur hingewiesen wird. Die gelegentliche zusätzliche Abhaltung von Videochats kann den Mitarbeitern einen Eindruck davon vermitteln, wie die Mitglieder der Unternehmensleitung chatten (Arbeitsplatz, technische Ausrüstung), und Misstrauen abbauen, das aus der Unsichtbarkeit der Textproduktion resultiert. Um dem Misstrauen gegen das Handeln der Unternehmensleitung zu begegnen, sollten die Mitglieder der Unternehmensleitung direkt im Chat wesentlich mehr auf bereits umgesetzte Vorschläge und Wünsche der Mitarbeiter eingehen und diese exponiert darstellen, indem sie sich dazu äußern. Davon, ob die Mitarbeiter die Unternehmensleitung als authentisch einschätzen, hängt ab, ob die Unternehmensleitung für die Mitarbeiter Leitbildfunktion hat. Während die Bedeutung der Einbindung von Führungskräften für den Geschäftserfolg bekannt ist, wurde der Wirkungszusammenhang zwischen gut informierten Mitarbeitern und dem Erfolg von Veränderungen bisher wenig thematisiert. Dieser Wirkungszusammenhang wurde in der vorliegenden <?page no="371"?> Ausblick und Anwendbarkeit der Ergebnisse in der Praxis 357 Untersuchung exemplarisch an der Chat-Kommunikation zwischen der Unternehmensleitung und den Mitarbeitern gezeigt. Es hat sich gezeigt, dass die Mitarbeiter einen Informationsbedarf haben. In ihren Vorschlägen, im Rahmen ihrer Perspektivübernahmen und in ihrer Kritik thematisieren die Mitarbeiter zu einem großen Teil ihre Informiertheit, die sie für unzureichend halten, und dass die direkte Kommunikation die Mitarbeiter dazu motiviert, Veränderungen mitzutragen. Im organisatorischen Wandel hat die Kommunikation der Unternehmensleitung die Funktion, ihre Führungsrolle immer wieder erneut zu bestätigen. Dazu müssen die Mitarbeiter wissen, welche Werte die Unternehmensleitung vertritt, und sie als authentisch einschätzen. Die vorliegende Untersuchung brachte für die untersuchte Chat-Kommunikation zwischen der Unternehmensleitung und den Mitarbeitern das Ergebnis, dass ein Teil der Kritik der Mitarbeiter auf der Einschätzung der Unternehmensleitung als nicht authentisch beruht und dass dies daran liegt, dass die Unternehmensleitung den Mitarbeitern nicht aus dem Unternehmensalltag bekannt ist und eine andere Wissensstruktur als die Mitarbeiter hat. Da die Unternehmensleitung ein Rollenmodell für die Mitarbeiter sein soll, ist die Verbesserung der Authentizität ein wesentlicher Faktor in der Mitarbeiterkommunikation im Chat. Erste Ansätze zu einer möglichen Vorgehensweise liefern die Ergebnisse dieser Untersuchung. Verschiedene Aspekte fördern, dass die Unternehmensleitung als authentisch eingeschätzt wird: die größtenteils unmoderierte Kommunikation zwischen der Unternehmensleitung und den Mitarbeitern; die umfassende Beantwortung von Fragen; längere Frage/ Antwort-Sequenzen, die die Problematisierung von Ereignissen zulassen; und Anliegensklärungen, bei denen die Unternehmensleitung eine Hörer-Rolle einnimmt und durch Nachfragen Problemexplikationen einfordert. Die Entwicklung der Organisation des Chats Die Eignung des Chats zur Vermittlung des Unternehmensbilds durch die Unternehmensleitung und zur Befriedigung der Informationsbedürfnisse der Mitarbeiter hat sich bestätigt. Es besteht hier kein Interessenkonflikt zwischen der Unternehmensleitung und den Mitarbeitern, da alle Beteiligten an einer gegenseitigen Information interessiert sind. Das liegt daran, dass die Fragen der Mitarbeiter durchwegs operative Belange und bereits öffentlich gemachte Planungen des Unternehmens betreffen, während strategische Überlegungen nicht thematisiert werden und auch nicht Teil der Perspektive der Mitarbeiter sind. Die im Verlauf der Entwicklung der Chat-Organisation vorgenommenen Veränderungen des Fragerechts der Mitarbeiter bewirkten für die Mitarbeiter eine Verschiebung ihrer Partizipationsmöglichkeiten im Chat. Die Darstellung der Chats, in denen die Beiträge der Unternehmensleitung und der Mitarbeiter einander zugeordnet wurden, erbrachte verbesserte Möglichkeiten für Fragen <?page no="372"?> 358 Fazit und Ausblick und konstruktive Kritik, dagegen verringerte sie die Beschwerdemöglichkeiten. Damit wurde die Chat-Kommunikation aus der Zielperspektive der Unternehmensleitung ergebnisorientierter. Als Nebeneffekt der erwünschten Verbesserung waren aber die Nachfragemöglichkeiten erschwert, so dass die Funktion des Informationstransports deutlich dominierte. Die gemeinsame Verständigung ging zurück und nach der weiteren Veränderung der Chat-Organisation zu FAQ sind längere Sequenzen vollständig entfallen, so dass die meisten Chat- Reihen wieder zu früheren Organisationsphasen zurückgeführt wurden. Um die Bevorrechtigung der Mitarbeiter in Fragen und die Bildung von Frage/ Antwort-Sequenzen, die im Interesse aller Chat-Teilnehmer liegt, zu verstärken, sollten die Zuordnung der Beiträge der Unternehmensleitung zu den Beiträgen der Mitarbeiter durchgehend beibehalten und darüber hinaus erweitert werden. Mehr als zwei Beiträge sollten nebeneinander geordnet werden können, so dass sich längere Sequenzen ergeben können, die auf der Benutzeroberfläche am Bildschirm horizontal aneinandergereiht sind und von den Chat-Teilnehmern durch horizontales Scrollen am Bildschirm erreicht werden. Alternativ kommt eine Darstellung der Beiträge als Baumdiagramm infrage, die auch längere Sequenzen ermöglicht, aber den Überblick über den Chat im Ganzen einschränkt. Dagegen würde eine Darstellung als Baumdiagramm die Bildung von Netzwerken fördern, die dann über den Chat hinaus bestehen bleiben könnten. Insgesamt könnte damit die Chat-Kommunikation zwischen der Unternehmensleitung und den Mitarbeitern als Kommunikationsform in Unternehmen verwendet werden. Die Ereignisse organisatorischen Wandels können dann unternehmensintern öffentlich als Anliegensklärung kommunikativ bearbeitet werden, so dass die Unternehmensleitung ihr Bild vom Unternehmen an die Mitarbeiter vermitteln kann und diese die Perspektive der Unternehmensleitung übernehmen. <?page no="373"?> Literaturverzeichnis Adamzik, Kirsten (2008): Der virtuelle Text oder: Die Rolle der Sprachgemeinschaft für die Herstellung von Textualität. In: Zeitschrift für Germanistische Linguistik, 36, 355-380. Amburgey, T. L./ Kelly, D./ Barnett, W. P. (1993): Resetting the Clock: The Dynamics of Organizational Change and Failure. In: Administrative Science Quarterly 38, 51- 73. Androutsopoulos, Jannis/ Runkehl, Jens/ Schlobinski, Peter/ Siever, Torsten (2006): Neuere Entwicklungen in der linguistischen Internetforschung. Hildesheim/ Zürich/ New York. Arentin, Kerstin von (2003): Von der strategischen zur systemischen Kommunikation. Am Beispiel von Aventis Deutschland. 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