Die romanischen Sprachen als Wissenschaftssprachen
Romanistisches Kolloquium XXIV
1208
2010
978-3-8233-7595-1
978-3-8233-6595-2
Gunter Narr Verlag
Wolfgang Dahmen
Günter Holtus
Johannes Kramer
Michael Metzeltin
Wolfgang Schweickard
Otto Winkelmann
In der Sprache der Wissenschaften spiegeln sich wichtige Facetten gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen. Die Bedeutung der antiken Kulturtraditionen für die europäischen Nationen lässt sich an der Rolle des Lateinischen ablesen, das während des gesamten Mittelalters und bis in die Frühe Neuzeit als Publikations- und Verkehrssprache der gelehrten Welt fungierte. Die politische Konsolidierung der romanischen Nationen und die Etappen ihrer kulturellen Identitätsfindung spiegeln sich im Prozess der Emanzipation der romanischen Volkssprachen vom Lateinischen, der mit einer allmählichen Demokratisierung des Wissens einhergeht. Die Wahrnehmung nationaler Identität korreliert mit dem Bewusstsein von einer einheitlichen Staatssprache. Lateinische Traditionen werden ebenso wie die jüngere europäische Kulturrezeption in volkssprachliche Textfassungen umgegossen, die Etappen des Fortschritts der Wissenschaften spiegeln sich im Ausbau des entsprechenden sprachlichen Instrumentariums. Ausgehend vom Paradigmenwechsel des Wissenschaftsbegriffs in der Frühen Neuzeit konsolidieren sich auch die Wissenschaftssprachen.
Wolfgang Dahmen / Günter Holtus / Johannes Kramer / Michael Metzeltin / Wolfgang Schweickard / Otto Winkelmann (Hrsg.) Die romanischen Sprachen als Wissenschaftssprachen Romanistisches Kolloquium XXIV Die romanischen Sprachen als Wissenschaftssprachen Tübinger Beiträge zur Linguistik herausgegeben von Gunter Narr 524 Die romanischen Sprachen als Wissenschaftssprachen Romanistisches Kolloquium XXIV Wolfgang Dahmen / Günter Holtus / Johannes Kramer / Michael Metzeltin / Wolfgang Schweickard / Otto Winkelmann (Hrsg.) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Druck und Bindung: Laupp + Göbel, Nehren Printed in Germany ISSN 0564-7959 ISBN 978-3-8233-6595-2 Inhalt Vorwort VII I. Traditionslinien und Wandlungsprozesse der romanischen Wissenschaftssprachen Franz Lebsanft, Stufen der énonciation und mehrfache Rahmung: Textstrukturen in Colard Mansions Liure de boece de consolation de phylosophye (1477) ……..………………………..…. 3 Claudia Polzin-Haumann, Zur Herausbildung und Entwicklung von Wissenschaftssprachen in Frankreich und Spanien: Exemplarische Untersuchungen zu den Übersetzungen der Epitoma Rei Militaris …………….................................................................. 33 Vahram Atayan/ Alberto Gil, Übersetzungen wissenschaftlicher Texte aus dem Romanischen ins Deutsche: Historische Tendenzen und Forschungsperspektiven …………………..………............ 53 Christian Schmitt, Die lateinische Universitätstradition und die romanischen Wörterbücher: Zum Phänomen innersprachlicher Erklärung fachwissenschaftlicher Wortgebildetheit ………...… 71 Dietmar Osthus, „comme en tous arts & sci ces il y ha outre langage, que le commun & familier“: Zum humanistischen Streit um die angemessene Wissenschaftssprache in Spanien und Frankreich 103 Raymund Wilhelm, Die Scientific Community - Sprachgemeinschaft oder Diskursgemeinschaft? Zur Konzeption der Wissenschaftssprache bei Brunetto Latini und Jean d'Antioche ………………. 121 Elmar Eggert, Der Übersetzungsprozess bei der Übernahme einer wissenschaftlichen Texttradition in die Volkssprache. Zu den spanischen Übersetzungen des De proprietatibus rerum ....….... 155 Maria Lieber, Horizonte wissenschaftssprachlicher Architektonik zur Zeit der Renaissance - Gian Giorgio Trissino (1478-1550) …… 179 Johannes Kramer, Einsprachigkeit und Vielsprachigkeit in wissenschaftlichen Darstellungen der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit ………………………………………………………...... 193 II. Die romanischen Wissenschaftssprachen in der Moderne Tanja Oberhauser, Haircut versus marge de sécurité - Anglizismen in der französischen Wirtschaftsfachsprache: Bedrohung oder Bereicherung? .…………….…………………………………... 213 Werner Forner, Syntax der Quantifikation Französisch-Deutsch ….… 237 Christiane Maaß, Zur einzelfachspezifischen Binnendifferenzierung im Bereich der Wissenschaftssprache. Untersuchung an einem gemischten Korpus französischer Fachaufsätze ............................ 275 Alf Monjour, „Tanto para expertos como para no expertos“. Wikipedia als Medium spanischer Wissenschaftssprache ....................... 297 Lidia Becker, Kleinere romanische Sprachen in der wissenschaftlichen Kommunikation…………….………………………….… 317 Annette Gerstenberg, Postrevolutionäre Entwicklungen der rumänischen Wissenschaftssprachen: Untersuchung zu den Fachzeitschriften der Academia român ………..…………………..….. 353 Jan Reinhardt, Die Wissenschaftssprachen der Karibikstudien …..... 375 Vorwort In der Sprache der Wissenschaften spiegeln sich wichtige Facetten gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen. Die Bedeutung der antiken Kulturtraditionen für die europäischen Nationen lässt sich an der Rolle des Lateinischen ablesen, das während des gesamten Mittelalters und bis in die Frühe Neuzeit als Publikations- und Verkehrssprache der gelehrten Welt fungierte. Die politische Konsolidierung der romanischen Nationen und die Etappen ihrer kulturellen Identitätsfindung spiegeln sich im Prozess der Emanzipation der romanischen Volkssprachen vom Lateinischen, der mit einer allmählichen Demokratisierung des Wissens einhergeht. Die Wahrnehmung nationaler Identität korreliert mit dem Bewusstsein von einer einheitlichen Staatssprache. Lateinische Traditionen werden ebenso wie die jüngere europäische Kulturrezeption in volkssprachliche Textfassungen umgegossen, die Etappen des Fortschritts der Wissenschaften spiegeln sich im Ausbau des entsprechenden sprachlichen Instrumentariums. Ausgehend vom Paradigmenwechsel des Wissenschaftsbegriffs in der Frühen Neuzeit konsolidieren sich auch die Wissenschaftssprachen. Deren komplexes Gefüge bleibt über Jahrhunderte weithin stabil und entwickelt sich zugleich dynamisch. Erst in der jüngeren Zeit weisen die romanischen Wissenschaftssprachen Brüche auf. Die Kräfteverhältnisse auf politischer, wirtschaftlicher und kultureller Ebene unterliegen einer Neuordnung, der internationale Einfluss der Romania auch im Bereich der Wissenschaften wird geringer, die anglophone Welt mit dem besonderen Gewicht der USA tritt stärker in den Vordergrund. Das Englische monopolisiert weite Bereiche der internationalen Kommunikation, auch als Wissenschaftssprache setzt es sich immer deutlicher durch. Diesem thematischen Rahmen war das XXIV. Romanistische Kolloquium gewidmet, das vom 20. bis zum 22. November 2008 in Saarbrücken stattfand. Die bei dieser Gelegenheit gehaltenen Vorträge werden hier vollständig veröffentlicht. Sie behandeln Erscheinungsformen, Traditionslinien und Wandlungsprozesse der romanischen Wissenschaftssprachen in Mittelalter und früher Neuzeit ebenso wie in der Moderne und bilden die gesamte Romania continua vom Portugiesischen bis zum Rumänischen ab (mit einem Ausblick auf die Romania nova). Ein ergänzender Beitrag von Johannes Kramer gilt der Relevanz der Sprachenwahl in den Wissenschaften von der Antike bis in die Gegenwart. VIII Unser Dank gilt Katja Seidel (Saarbrücken) für die Hilfe bei der Druckvorbereitung der Beiträge und beim Mitlesen der Fahnenkorrekturen sowie Simone Traber (Saarbrücken) für die Herstellung der Druckvorlage. Die Herausgeber I. Traditionslinien und Wandlungsprozesse der romanischen Wissenschaftssprachen Franz Lebsanft Stufen der énonciation und mehrfache Rahmung: Textstrukturen in Colard Mansions Liure de boece de consolation de phylosophye (1477) 1. Ansatz und Übersicht Die Veranstalter des Romanistischen Kolloquiums zu den „romanischen Sprachen als Wissenschaftssprachen“, das unter den weit ausgebreiteten Fittichen der Eule der Weisheit (dem Logo der Universität des Saarlandes) stattfand, hielten es für durchaus passend, einen Beitrag zu Textstrukturen und -traditionen im 1477 gedruckten Liure de boece de consolation de phylosophye des Brügger Kopisten, Druckers und Übersetzers Colard Mansion 1 in ihr damaliges Programm - und nunmehr in diesen Band - aufzunehmen. Damit entlasteten sie seinerzeit den Referenten von der Aufgabe nachzuweisen, dass die Übersetzung der mit einem umfangreichen Kommentar versehenen Consolatio Philosophiae von Boethius überhaupt ein Werk der ‚Wissenschaft‘ ist, deren ‚Sprachen‘ es zu analysieren galt. Gleichwohl sollte zunächst geklärt werden, inwiefern das Konzept ‚Wissenschaft‘ auf die Consolatio, die Boethius im nicht genau bestimmbaren Jahr seiner Hinrichtung (ca. 524/ 26) abschloss 2 , und ihre gut 950 Jahre später angefertigte Übersetzung überhaupt anwendbar ist. Ich beginne daher mit Hinweisen zu dieser Frage (Abschnitt 2), die sich insofern vorab bejahen lässt, als die Consolatio der Figur des ‚Boethius‘ den Schlüssel zur Bewältigung ihres existentiellen Unglücks gerade als 1 Ich benutze das von Désirée Cremer und mir transkribierte Exemplar der Pariser BN (Signatur R 86, auch Mikrofilm R 6591), dessen Incipit (f. 2r) den Text das „liure de boece de consolation de phylosophye“ nennt; auf f. 280v wird als Datum des Drucks „.M.CCCC.lxxvij. la veille des sains apostres pierre et paul“ (d. h. der 28. Juni) angegeben; der Drucker nennt sich im Kolophon, f. 281r „Fait et jmprime a bruges par colard mansion lan et jour dessusdis“. Ruelle (ed.) 1985, 39-41 informiert über Mansions Biographie, 41-44 über seine Drucke, 44-45 über Handschriften, die mit seinem Namen verbunden sind. Zu weiteren Informationen über die Inkunabel von 1477, cf. infra, Abschnitt 4. 2 Gruber 2 2006, 13 (524); Moorhead 2009, 20 (526). Franz Lebsanft 4 Protreptikos liefert, d. h. als Einführung in die philosophischen Verfahren der Welt- und Selbsterkenntnis 3 . Anschließend gebe ich einen Überblick über die alt- und mfrz. Tradition der Consolatio-Übersetzungen, deren Schlusspunkt Mansion bildet (Abschnitt 3). Nach diesen notwendigen Klärungen wende ich mich dem Liure de boece de consolation de phylosophye und der Tradition des Textkommentars zu (Abschnitt 4). In mehreren Schritten arbeite ich die Textstrukturen des Liure vor dem Hintergrund seiner lateinischen Vorlage heraus, so dass ich als Ergebnis die wesentlichen textuellen Komponenten des Werks präsentieren kann. Es soll dabei gezeigt werden, aus welcher Texttradition das mfrz. Werk erwächst und wie es diese modifiziert. In den Mittelpunkt der Analyse stelle ich die Konzepte der énonciation und der Rahmung, denn die Ermittlung der jeweiligen Redeinstanz, von der die Consolatio, ihre Kommentierung und schließlich Übersetzung ausgehen, ermöglicht, den spezifischen historischen Moment der Tradierung des Grundtextes, den das Liure darstellt, in seinen Kontexten zu verstehen, und zwar als das Ergebnis eines Prozesses zunehmender, von jeweils neuen Sprechern oder ‚Stimmen‘ ausgehenden Rahmung. 2. Die Consolatio Philosophiae und ihre Übersetzungen - ‚wissenschaftliche‘ Texte? Natürlich ist es schwierig, einen panchronischen Begriff von ‚Wissenschaft‘ zu gewinnen, der eine tragfähige onomasiologische Grundlage für die Untersuchung lateinisch-romanischer ‚Wissenschaftssprachen‘ von der Antike bis zur Gegenwart abgeben kann. Ein möglicherweise etwas ‚hemdsärmeliges‘, dessen ungeachtet auch von der Fachsprachenforschung favorisiertes Verfahren geht von einer modernen Bestimmung aus, wie sie z. B. der Artikel ‚Wissenschaft‘ der Enzyklopädie Philosophie liefert: Wissenschaft ist der gesellschaftlich-politische institutionalisierte und nur kollektiv realisierbare Versuch, systematisch und methodisch zu erkunden (erforschen), was alles in der Welt der Fall ist und warum es der Fall ist. Einige W[issenschaften] antworten teilweise auch auf die normative Frage, was der Fall sein sollte. Wo immer dieser Versuch gelingt, ist wissenschaftliches Wissen in Gestalt von Theorien darüber verfügbar, was in bestimmten Bereichen (Ausschnitten) der Welt der Fall ist und warum es der Fall ist. Eine prä- 3 Gruber 2 2006, 30. Mansions Liure de boece 5 zisere Begriffsbestimmung, gar eine explizite Definition des Begriffs „W[issenschaft]“ erscheint nicht möglich, noch nicht einmal erstrebenswert 4 . Die von der Wissenschaft geleistete systematische und methodische Erforschung von Gegenständen und Sachverhalten beruhe auf regulativen ‚Idealen‘ - der Artikel nennt die Ideale der Wahrheit, des Erklärens und Verstehens, der epistemischen Rechtfertigung (Begründung) und der Intersubjektivität 5 -, die diskursiv als Theorien über jeweils näher bestimmte Ausschnitte der Welt Gestalt gewönnen. Wie sich von ihrem Gewand (eine Allegorie des Textes 6 ) ablesen lässt, ist die ‚Philosophie‘, die in der Consolatio ‚Boethius‘ in seinem Kerker erscheint, als allegorische Figur nichts anderes als das Sprachrohr und Instrument eines solchen, sich eben theoretisch äußernden Begriffs von Wissenschaft: 3. Vestes erant tenuissimis filis subtili artificio indissolubili materia perfectae, quas, uti post eadem prodente cognovi, suis manibus ipsa texuerat; quarum speciem, veluti fumosas imagines solet, caligo quaedam neglectae vetustatis obduxerat. 4. Harum in extremo margine graecum, in supremo vero legebatur intextum atque in utrasque litteras in scalarum modum gradus quidam insigniti videbantur, quibus ab inferiore ad superius elementum esset ascensum. 5. Eandem tamen vestem violentorum quorundam sciderant manus et particulas quas quisque potuit abstulerant. 6. Et dextra quidem eius libellos, sceptrum vero sinistra gestabat 7 . Ihr Gewand war von feinstem Gespinst und mit peinlicher Kunstfertigkeit aus unzerstörbarem Stoff gefertigt; sie hatte es, wie ich später aus ihrem eigenen Munde erfuhr, mit eigener Hand gewebt. Seinen Glanz hatte wie bei rauchgeschwärzten Bildern ein trüber Anflug von Vernachlässigung und Alter überzogen. An seinem untersten Rande las man eingewebt ein griechisches , an seinem obersten aber ein . Und zwischen beiden Buchstaben schienen wie an einer Leiter etliche Stufen eingezeichnet, die von dem unteren zum oberen Schriftzug emporstiegen. Doch hatten dieses selbe Kleid die Hände einiger Gewalttätiger zerfetzt, und jeder hatte die Stückchen, die er gerade fassen konnte, an sich gerissen. Ihre Rechte endlich trug Bücher, ihre Linke aber ein Zepter 8 . 4 Tetens 1999, 1763s. 5 Tetens 1999, 1764s. 6 Cf. DHLF, s. v. ‚texte‘: „Textus, littéralement ‚ce qui est tramé, tissé‘ est la substantivation du participe passé passif de texere ‚tramer, entrelacer‘, également appliqué au domaine de la pensée“. 7 Boethius, Consolatio Philosophiae, I 1p 3-6. 8 Gegenschatz/ Gigon 2004, 5. Franz Lebsanft 6 In der Boethiusforschung herrscht Konsens darüber, dass Pi und Theta als die Anfangsbuchstaben der Wörter praktikè und theoretikè zu lesen seien mit Blick auf eine Unterscheidung, die Aristoteles, den Boethius bekanntlich kommentiert hat 9 , in der Metaphysik trifft 10 : Richtig ist es auch, die Philosophie Wissenschaft der Wahrheit ( ) zu nennen. Denn für die theoretische Philosophie ( ) ist die Wahrheit, für die praktische ( ) das Werk Ziel 11 . Das Verhältnis von praktischer zu theoretischer Philosophie wird in der Consolatio als ein erkenntnisfördernder Aufstieg verstanden, dessen Stufen offenbar die Fächer des (von Boethius erstmals so genannten) Quadriviums 12 bilden und der, vom Menschen vollzogen, die neuplatonisch verstandene Heimkehr der Seele zu sich selbst bedeutet 13 . Diesem letzten Gesichtspunkt konnte das christliche Mittelalter keineswegs zustimmen und es hat daher, beginnend mit Alkuin (ca. 730-804), die Consolatio dem Verfahren der interpretatio christiana unterworfen 14 . Doch unbeschadet dieser theologischen Differenzen mag man die Wirkmächtigkeit der Idee der Philosophie als ein strukturiertes und hierarchisiertes System des begründeten Wissens daran erkennen, dass die Boethianische Allegorie in die christliche Ikonographie des Hochmittelalters eingegangen ist. Wir finden eine entsprechende, auf 1200 datierte Darstellung an der Westfassade der Kathedrale von Laon, die eine der berühmtesten höheren Schulen des Mittelalters bereits im 10. Jahrhundert hervorgebracht hatte und im 12. Jahrhundert ihre Blütezeit erlebte 15 (cf. Abb. 1). 9 Cf. den Überblick von Ebbesen 2009. 10 Gruber 2 2006, 67ss. Im Rahmen der Fachsprachenforschung bezieht Kalverkämper 1998a, 7; 1998b, 28 seinen panchronischen Wissenschaftsbegriff von Aristoteles. 11 Aristoteles, Metaphysik II, 1, 993b, 19-21. 12 Gruber 2 2006, 5, Anm. 36: „Den Terminus für die vier Artes hat Boethius arithm. 1,1 in der Form quadruvium geprägt“. 13 Boethius, Consolatio Philosophiae, I 5p 3; IV 1m 25. 14 Cf. dazu demnächst Glei/ Kaminski/ Lebsanft (im Druck). 15 Contreni 1978. Das Wirken Anselms von Laon (gest. 1117) stellt zweifellos den Höhepunkt der Schule dar. Mansions Liure de boece 7 Abbildung 1: Die auf Boethius beruhende Darstellung der Philosophie (Kathedrale Notre-Dame de Laon, Westportal) 16 Die Bücher („libellos“) in der rechten Hand der Philosophie, verstanden als „Attribute der theoretischen Philosophie“ 17 , bezieht bereits Remigius von Auxerre (ca. 841-908) 18 , dessen entsprechende Glosse Notker ins Ahd. übersetzt 19 , auf die sieben artes liberales, d. h. also auf eine Gliederung des gelehrten Wissens in ‚Fächer‘ 20 . Auf dieser Basis fällt es der germanistischen historischen Fachsprachenforschung nicht schwer, vertikale, also volkssprachliche Übersetzungen der Consolatio, die man inner- 16 Mâle 9 1958, 89-93, hier 89. Cf. auch die Photographie des ganzen Westportals im Inventaire général du patrimoine culturel im Internet unter: www.culture.gouv.fr- / public/ mistral/ palissy_fr. - Eine Ausstellung der Universitätsbibliothek Leipzig zeigte im Jahr 2009 eine Consolatio-Hs. mit einer Darstellung desselben Typs (Ms 1293, f. 3r). Eine weitere derartige Darstellung, die sich auf f. 99r eines Exemplars des mittelniederländischen Drucks von Arend de Keysere (Gent 1485; Signatur der BNF: RES-R-389) findet, zeigt die ebenfalls im Internet konsultierbare Bilderdatenbank der BNF. 17 Gruber 2 2006, 71. 18 Cf. zuletzt Nauta 2009, 257: „The Remigian tradition is the dominant one in early medieval Europe“. 19 Sonderegger 1999, 2320; Glauch 2000, 27. 20 Mansions Übersetzung der Glosse Reniers de Saint-Trond (cf. infra) nimmt Remigius' Erklärung nicht auf, sondern erläutert unspezifischer (f. 34r): „par les liures [ist zu verstehen] lestude des paisibles et oyseux par lesquelz les humbles doiuent estre enseigniez et informez“. Franz Lebsanft 8 halb des Triviums der ‚Dialektik‘ zuordnet 21 , in ihren Gegenstandsbereich aufzunehmen. In den Blick der sich mit Notker beschäftigenden Fachsprachenforschung werden freilich vor allem Terminologien genommen, so besonders der Fachwortschatz der Grammatik, Rhetorik und Philosophie 22 . Doch wenn - wie oben dargelegt - Wissenschaft der Versuch ist zu erkunden, was der Fall ist und warum es der Fall ist, dann gehören zur Erforschung ihrer ‚Sprachen‘ auch die Phänomene der Formulierung, d. h. der Textualisierung oder Diskursivierung dieses ‚Versuchs‘. Für eine solche Fokussierung eignet sich ein jahrhundertelang kommentierter und übersetzter Text besonders, der die ‚Wahrheitssuche‘ zum Gegenstand hat und diese als Prosimetrum im strengen Wechsel monologisch angelegter metrischer und dialogisch konzipierter prosaischer Stücke als verschiedene Modi der énonciation inszeniert. Wie diese Charakterisierung bereits zeigt, sind Textualisierung oder Diskursivierung der ‚Wahrheitssuche‘ in der Consolatio das Ergebnis durchdachter und ausgefeilter rhetorischer Ausarbeitung 23 . 3. Lateinische Kommentare und volkssprachliche Übersetzungen der Consolatio Philosophiae Die mittelalterliche Aneignung der Consolatio beruht zunächst auf ihrer in den Klöstern und Schulen geleisteten lateinischen Kommentierung. Diese umfasst ein immenses, vom 9. bis zum 15. Jahrhundert sich erstreckendes Korpus, dessen Entwicklungsstufen bisher nur in Umrissen bekannt sind, weil nur sehr wenige Texte in modernen, publizierten Editionen vorliegen. Auf der Grundlage der von Alkuin angestoßenen karolingischen Glossierung hatte Wilhelm von Conches (gest. um 1154) bereits um 1120 mit den Glosae super Boetium einen ersten vollständigen Kommentar der Consolatio vorgelegt 24 . Im 13. Jahrhundert wurden seine Glosae überarbeitet, daneben entstanden neue Gesamtkommentare, von denen diejenigen des Franziskaners Nicolas Trevet (ca. 1300; geb. 1265 - 21 Sonderegger 1999, 2321. 22 Sonderegger 1999, 2322-2330. 23 In der Frühen Neuzeit wird noch die Forderung nach antirhetorischer, „radikaler Sachhaltigkeit“ der Wissenschaft mit rhetorischen Mitteln vorgetragen, wie Gipper 2002, 23-29, hier 24 zeigt. 24 Wilhelm von Conches 1999. Mansions Liure de boece 9 gest. nach 1364), Wilhelms von Aragonien (vor 1305) und von Pseudo- Thomas (2. Hälfte 15. Jahrhundert) nur die bekanntesten sind 25 . Parallel zur gelehrten lateinischen Tradition entsteht eine volkssprachliche Auseinandersetzung mit der Consolatio 26 , die zuerst in althochdeutschen Glossen greifbar wird, die der um das Jahr 1000 anzusetzenden, kommentierten Übersetzung Notkers von Sankt Gallen (950-1022) z. T. vorausgehen. Zeitgleich mit der ältesten deutschsprachigen Glossierung entsteht die altenglische Übertragung König Alfreds von Wessex (848/ 49- 899). Weder Alfred noch Notker finden unmittelbare Nachahmer. Vielmehr setzt eine erneute volkssprachliche Beschäftigung mit der Consolatio in England und Deutschland erst im 14. (Geoffrey Chaucer) bzw. im 15. Jahrhundert (Konrad Humery, Anton Koberger) 27 ein. Ganz anders stellt sich die Situation in Frankreich dar. Hier beginnt die volkssprachliche Aneignung zwar erst im frühen 13. Jahrhundert, doch lässt sich von diesem Zeitpunkt an eine kontinuierliche, regional freilich weit verstreute Übersetzungstätigkeit bis zum Ende des 15. Jahrhunderts verfolgen. Antoine Thomas und Mario Roques haben bereits 1938 insgesamt elf, von ihnen entsprechend nummerierte Versionen unterschieden und nach Entstehungszeit und räumlicher Herkunft beschrieben. Diese Klassifizierung ist noch heute weitgehend gültig. Eine Korrektur betrifft ihre Version XI, die später als eine gekürzte Fassung der Version IX identifiziert wurde. Außerdem ergänzen heute zwei weitere Fassungen das Tableau, die entweder die Nummern XII und XIII 28 oder die Nummern XI und XII 29 erhalten - je nachdem, ob man den Platz der ‚alten‘ Nummer XI erhält oder diesen streicht. Mansions Liure de boece de consolation de phylosophye schließt als Version XIII bzw. XII die lange Liste der mittelalterlichen französischen Übersetzungen ab 30 . 25 Cf. zuletzt Nauta 2009. 26 Umfassender Überblick Cropp 2007. 27 Cf. demnächst Bastert im Druck; Eikelmann im Druck. Weitere deutsche Übersetzungen erscheinen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, cf. Kaminski im Druck. 28 Cropp 2007. 29 Babbi 2000. 30 Erste Zeile: 1 Thomas/ Roques 1938, 2 Babbi 2000, 3 Abschnittte in Cropp 2007, 4 DEAFBibl (DEAFBiblEl unter http: / / www.deaf-page.de/ ) 5 P = Prosa/ V = Vers, 6 soweit bekannt, Region der Entstehung des Werks (nicht der überlieferten Hss.), 7 Datierung. Franz Lebsanft 10 1 2 3 4 5 6 7 I I 4.2.1. ConsBoèceBourgB P Burgund ca. 1230 II II 4.2.2. ConsBoèceTroyS P Hennegau 13./ fr. 14. Jh. III III 4.2.3. JMeunConsD P Orléanais vor 1305 IV IV 4.2.4. ConsBoècePierre P Zypern 1309 V V 4.3.1. ConsBoèceLorrA P+V Lothringen ca. 1320 VI VI 4.3.2. ConsBoèceCompC 2 P+V 1362 VII VII 4.4.1. ConsBoèceAnMeun V Wallonie ca. 1315-20 VIII VIII 4.2.5. ConsBoèceBon P Italien fr. 14. Jh. IX IX 4.4.2. ConsBoèceRenA 2 V Jura 1336 X X 4.4.3. ConsBoèceBenN V Pikardie ca. 1380 XI - (IX) ConsBoèceRenAbr V Ende 14. Jh. [XII] XI 4.3.3. ConsBoèceAber P+V 1422 [XIII] XII 4.3.3. ConsBoèceMansion P+V Flandern 1477 Im Mittelpunkt der bisherigen französistischen Boethiusforschung liegt die editorische Erschließung der Quellen. Insgesamt sieben Versionen sind bereits ediert (I, II, III, V, VI, IX, X), in zwei Fällen sogar jeweils doppelt (Version II: ‚ConsBoèceTroyS‘ und - wie man den DEAFBibl ergänzen müsste - ‚ConsBoèceTroyA‘, d. h. die unveröffentlichte Dissertation von J. Keith Atkinson; Version VI: ‚ConsBoèceCompC 2 ‘ und ‚Cons- BoèceCompB‘ 31 ), für eine Reihe weiterer Versionen gibt es Editionsprojekte. Darüber hinaus liegen für zwei Metren der Consolatio, nämlich Buch III 12m - den Orpheusmythos - und Buch IV 7m - den Heraklesmythos - Längsschnitteditionen aller bekannten Versionen vor 32 , die Untersuchungen zur Geschichte der Übersetzungen anstoßen können. Für diese Geschichte bietet sich der Romanistik als methodischer Ausgangspunkt die germanistische Mediävistik an. Die exzellente Münchener Dissertation zu „Boethius in St. Gallen“ von Christine Hehle (2002) zeigt, wie die ‚Bearbeitung‘ von Notker dem Deutschen aus der Tradition des mittelalterlichen Lateinunterrichts entsteht, der die drei Elemente der constructio in legendo, der enarratio oder expositio und der interpretatio umfasst 33 . Notkers „Technik der kommentierenden Übersetzung“ 34 formt dabei erstens den ordo artificialis des lateinischen Ausgangstextes in den verständlicheren ordo naturalis um (das ist die constructio in legendo); sie liefert zweitens mit der enarratio bzw. expositio lateinische und alt- 31 Cf. zu dieser Doppelung meine Kurzrezension in RF 121 (2009). 32 Babbi (ed.) 2000; Babbi (ed.) 2002. 33 Hehle 2002; Müller im Druck; cf. zuvor schon Glauch 2000, 57-69 zu Notkers Methode der volkssprachlichen ‚Textbearbeitung‘. 34 Hehle 2002, 106. Mansions Liure de boece 11 hochdeutsche Erklärungen zu wichtigen Gedanken- und Sachkomplexen und bietet schließlich drittens als interpretatio eine vollständige althochdeutsche Übersetzung. Resümierend stellt Hehle fest, dass Notkers Text gegenüber der Consolatio des Boethius „ein eigenständiges Werk mit veränderter Struktur und mit allen Charakteristika seiner eigenen Epoche“ bilde, das Notker selbst wohl als „eine Art ‚Sonderüberlieferung‘“ des Ausgangstextes verstanden haben dürfte 35 . Hehles Ansatz und Ergebnisse lassen sich unschwer mit dem Konzept der Text- oder Diskurstradition reformulieren, wie es im Anschluss an Coseriu von Brigitte Schlieben-Lange, Peter Koch, Raymund Wilhelm und anderen entwickelt wurde 36 . Was Hehle ‚Sonderüberlieferung‘ nennt, lässt sich als Veränderung der Texttradition durch Übersetzung und Kommentierung verstehen. Inzwischen liegt sogar mit Albesanos Heidelberger Dissertation (2006) eine Untersuchung zur volkssprachlichen, nämlich italienischen Umarbeitung der Consolatio vor, die sich vollkommen an diesem Modell orientiert. Albesano beschreibt Boethius' prosimetrischen Text als Exemplar einer spätantiken Diskurstradition, die sich einerseits in Gestalt von drei italienischen Prosaübersetzungen (Anonymus der Veroneser Handschrift, Giovanni da Foligno, Grazia di Meo) in eine völlig anders gelagerte, nämlich mittelalterlich-christliche, durch Didaxe und Homiletik charakterisierte Tradition einschreibt 37 und die andererseits mit der prosimetrischen Wiedergabe Albertos della Piagentina in die Volks- 35 Hehle 2002, 302. 36 Cf. die gute Zusammenfassung der Forschungspositionen bei Schrott/ Völker 2005. Als Replik - wenigstens teilweise - auf Lebsanft 2005 ist inzwischen Koch 2008 zu lesen, wobei allerdings meine Einwände gegen Koch 1997 nicht immer richtig aufgefasst werden. Dies gilt besonders für Kochs (2008, 56) Aussage: „Cabe aún menos considerar el discurso como lugar donde, en el marco del cambio lingüístico, el hablante propone reglas nuevas para ser adoptadas por la comunidad lingüística (cfr. Lebsanft 2005, 31), pues el hablante ordinario no pretende cambiar su lengua, es decir introducir reglas nuevas […]“. Wenn ich die individuelle Tätigkeit des Sprechens als den Ort bezeichne, „an dem im Hinblick auf den Anderen der Sprecher bestehenden Regeln folgt oder neue Regeln zur Übernahme vorschlägt“, dann impliziert diese unschwer als uneigentlich zu erkennende Redeweise doch gar nicht, dass der Sprecher notwendigerweise die ‚Absicht‘ hätte, die Sprache zu verändern. Cf. dazu bereits Coseriu 1958, 44-47 und neuerdings auch Loureda Lamas 2007. 37 Für Beer 1989, 2 handelt es sich um das typische Verfahren mittelalterlicher Übersetzungstätigkeit: „By the criterion of appropriateness to target audience a treatise properly could become poetry, epic become romance and sermons drama - or vice versa! “ Franz Lebsanft 12 sprache ‚verpflanzt‘ und damit in einer anderen Sprache rekreiert wird. Auf diese Weise werden die volgarizzamenti zu Demonstrationsobjekten der Theorie der tradizioni discorsive, mit durchaus greifbaren textlinguistischen Analysen und Ergebnissen. Ein nicht ganz unerheblicher Schönheitsfehler der Dissertation besteht allerdings darin, dass die lateinischen Kommentare, ohne die - wie Hehle zeigt - die Übersetzungen nicht zu denken sind, weitgehend ausgeblendet werden 38 . 4. Das Liure de boece de consolation de phylosophye und die Tradition des Textkommentars Wenn wir uns nunmehr dem Liure de boece de consolation de phylosophye als mfrz. Bearbeitung des Grundtextes der Consolatio zuwenden, dann gilt es, philologische Sachkenntnis mit theoretischer Durchdringung des Gegenstands angemessen zu verknüpfen. In einem ersten Schritt gewinnen wir einen einigermaßen verlässlichen Überblick über die Quellenlage und schlagen ein mit den Begriffen der énonciation und Rahmung arbeitendes Modell für die Analyse der verschiedenen Bearbeitungsstufen vor. Im Anschluss analysieren wir wesentliche Komponenten dieser Umformungen - Prolog, Kompilation als Grundlage der aus mehreren Elementen bestehenden Kommentierung, Übersetzung von Grund- und Kommentartext -, um so die Entwicklung der Texttradition der Consolatio zu beschreiben. 4.1 Überlieferung des mfrz. Textes und seiner lateinischen Vorlage: Énonciation und Rahmung Wir können für den Zweck dieser Untersuchung vernachlässigen, dass Mansions in nur wenigen Exemplaren nachweisbarer Druck (Brüssel, BR; Brügge, SB [2]; Paris BN; Valenciennes BM; Genf BPU; Cambridge UL; Manchester JRL; Oxford Bodley [1 Blatt]) 39 offenbar in zwei Zuständen überliefert ist, die jedoch keinerlei inhaltlich gravierende Unterschiede aufweisen. Auch den 1494 veranstalteten Pariser Nachdruck (Le grant boece de consolacion nouuellement imprime a paris) von Antoine Vérard, der den Prolog des Erstdrucks leicht verändert, um dem Text neue 38 Albesano 2006; cf. dazu Lebsanft 2007. 39 Nr. ib00813900 des Incunabula Short Title Catalogue der British Library (ISTC: http: / / www.bl.uk/ catalogues/ istc/ ). Mansions Liure de boece 13 Käufer zu erschließen, können wir natürlich beiseite lassen 40 . Wesentlich ist hingegen die Einbeziehung des umfangreichen lateinischen Kommentars, der dem Brügger Druck zugrundeliegt. Im Incipit des Drucks können wir nämlich lesen, dass es sich um die Übersetzung einer Kompilation und nicht einfach des Werks von Boethius handelt. Insofern liegt im Liure eine komplexe, ineinander verschachtelte Situation der énonciation vor, die zu einer mehrfachen Rahmung des Grundtextes führt 41 . Boethius als Autor der Consolatio erscheint als erste Redeinstanz, dessen Werk der Kompilator Renier (zweite Redeinstanz) erschließt und erläutert; beiden verleiht der Übersetzer (dritte Redeinstanz) eine volkssprachliche Stimme: Cy commence le liure de boece de consolation de phylosophye compile par venerable homme Maistre Reynier de sainct Trudon docteur en saincte Theologie et nagaires translate de latin en francois par vn honneste Clerc desole querant sa consolation en la translation de cestui liure (f. 2r). 2 sainct ] saiuct Fliegenkopf Der Autor Boethius erscheint als ‚Ich‘ nur werkimmanent in der fiktiven Rolle ‚Boethius‘ als Gesprächspartner von ‚Philosophie‘; der Kompilator meldet sich in der ersten Person im Prolog zu Wort: [I][2]E renier de saint trudon duquel la vertu de raison est affoiblie (f. 10r) 42 und der Übersetzer tut dasselbe am Ende des Drucks, vor dem eigentlichen Kolophon: Translateur O[2]u nom de dieu et par son ayde sans laquele aucune chose nest droittement commencee ne glorieusement demenee a prouffitable fin, est la translation du liure de boece jntitule de consolation de philozophie terminee et finie selon que je lay trouue commente et declairie par reuerend maistre renier de saint trudon docteur en sainte theologie, et ce au moins mal que ma este possible, en lan .M. CCCC .lxxvij. la veille des sains apostres pierre et paul (f. 280r). 3 demenee ] demeuee Fliegenkopf; lan 7 ] lay 40 ISTC Nr. ib00814000. Cf. Winn 1997. 41 Zur énonciation nach wie vor grundlegend ist Benveniste 1974; cf. noch Kerbrat- Orecchioni 2 1994. Zum Konzept der Rahmung cf. Herberichs/ Kiening 2008 mit Bezug auf Goffman 1980. 42 Gedruckt ist als Platzhalter ein ‚j‘, das von Hand durch die entsprechende Initiale übermalt werden soll, wie das in den beiden Brügger und dem Genfer Exemplar geschieht. Das Cambridger Exemplar hingegen schreibt fälschlich: ‚L [2] E‘, das Exemplar Valenciennes ‚D [2] E‘. Franz Lebsanft 14 Der Drucker Colard Mansion, der sich im Kolophon in der dritten Person namentlich nennt und seine Druckermarke anfügt 43 , wirkt als materieller Urheber des Drucks an der formalen Gestaltung mit und kann, insofern der Form ein inhaltlicher Wert zukommt, als vierte Redeinstanz betrachtet werden. Werkimmanent lassen sich - wie bereits dargelegt - zwei weitere Redeinstanzen ausmachen, die fiktiv inszenierten Gesprächspartner ‚Boethius‘ und ‚Philosophie‘. Insgesamt ergibt sich folgendes Bild: 4 Colard Mansion: Druck 3 Clerc: Übersetzung 2 Renier: Kompilation 1 Boethius: Grundtext ‚Boethius‘ ‚Philosophie‘ Abbildung 2: Stufen der énonciation und mehrfache Rahmung In einzelnen Exemplaren der Inkunabel können wir sogar noch weitere Stufen der Rahmung erkennen, wenn - wie in Cambridge - der zu Beginn der Bücher vorhandene Platz für Miniaturen genutzt oder - wie in einem der beiden Brügger Exemplare und demjenigen aus Valenciennes - handschriftliche Korrekturen vorgenommen bzw. Glossen angebracht werden. Der im Incipit als Kompilator genannte Renier von Sankt-Truiden (flämisch: Sint-Truiden, nfrz.: Saint-Trond, mfrz.: Saint-Trudon) war vermutlich um 1370 in dem nahegelegenen Mecheln Leiter des bedeutenden Studiums der Augustiner-Eremiten. Bisher waren vier Handschriften seines leider weitgehend unedierten Textes 44 bekannt (Lüttich, Bibliothèque de l'Université 348; Paris, Bibliothèque Mazarine = BM 3859, Paris, Bibliothèque de la Sorbonne 634, BNF latin 14.416 - nur bis III 11p 9), doch bin ich auf einen fünften, der Forschung bisher weitgehend unbekannten Textzeugen in der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt (Hs. 697, 1427 in Lüttich geschrieben) gestoßen und von Annelies van Gijsen (Antwerpen) auf eine sechste Handschrift in Barcelona (Bi- 43 Cf. supra, Anm. 1. 44 Eine Ausnahme bildet die Teiledition des Kommentars zu III 12m von Drake 2000 (Renier de Saint-Trond, Commentaire de Regnier de Saint Trond sur ‚De consolatione philosophiae‘ de Boèce). Mansions Liure de boece 15 blioteca de Catalunya, Hs. 631) aufmerksam gemacht worden 45 . Ich verwende im Folgenden als Ausgangspunkt meiner Analyse die älteste überlieferte, von Michaelis de Rethy (Retie), einem Schüler Reniers, 1381 angefertigte Handschrift, beziehe jedoch darüber hinaus die Handschriften der BNF sowie der BM mit ein 46 . 4.2 Prolog Auf das Incipit des Drucks folgt ein Prolog („proheme“), der sich bereits in den lateinischen Handschriften findet und von Mansion vollständig übernommen wird 47 . Er besteht aus zwei Teilen, zunächst aus einer Themenpredigt, die von einem klassischen Trostwort aus dem Psalter ausgehend - „Hec me consolata est in humilitate mea“ („Das ist mein Trost in meinem Elend, dass dein Wort mich erquickt“, Ps. 118, 50) - die Grundlage für die christliche Interpretation der Consolatio liefert. Den zweiten, für die Frage der Textstrukturen wesentlichen Teil bildet ein accessus ad auctorem, der weitgehend dem von Richard W. Hunt so genannten boethianischen Modell ‚C‘ folgt 48 . Wesentliche Bestandteile sind die Erläuterung des Titels, der prosimetrischen Form und ihrer Tradition („forma tractandi“) sowie des Textaufbaus („forma tractatus“). Die Erläuterung des Titels liefert Informationen zum Autor Boethius und zum Gegenstand des Werks. Hier wird unter anderem eine Definition der Philosophie geboten, Hanc autem personam philosophorum veram cognitionem habentium humanarum diuinarum que rerum [...] (Hs. Lüttich, f. 3v), die von Cicero über Cassiodorus und Boethius bis zu Isidor von Sevilla reicht 49 , sowie abschließend eine Zuordnung des Werks zu verschiedenen Fachdisziplinen bzw. Redeuniversen vorgenommen, wobei - wie man unschwer sieht - die offensichtlichen Fehler in der mir bisher bekannten lateinischen Überlieferung 50 durch die mfrz. Übersetzung geheilt werden können: 45 Zur Darmstädter Hs. cf. den Hinweis bei Kristeller 1987, 513; zur Barceloneser Hs. Kristeller 1989, 489. 46 Ich danke Reinhold Glei für die Überlassung von Kopien der drei Hss. 47 Zur Interpretation des Prologs cf. Kneepkens 2003; Lebsanft im Druck. 48 Hunt 1948. 49 Lebsanft im Druck. 50 Angesichts der Nichtberücksichtigung der übrigen bisher bekannten Handschriften ist eine kritische Darstellung mit Text und varia lectio wenig sinnvoll. Franz Lebsanft 16 Iste uero liber nulli speciei seu parti philosophie tenetur obnoxius, nunc ethycam tangens, nunc phylosophycam delibans, nunc poemata canens, nunc in mathematice subtilitatem ascendens, nunc vero aggrediens theologye profundum (Hs. Lüttich, f. 3v). Iste uero liber nulli speciei siue parti tenetur obnoxius, nunc ethycam tangens nunc poeticam canens nunc in methaphysica subtiliter ascendens, nunc uero aggrediens theologie profundum (Hs. BM, f. 3v). Iste vero liber nulli speciei siue parti philosophie tenetur obnoxius, nunc ethicam tangens, nunc physicam deliberans, nunc poemata canens, nunc in mathematice subtilitatem ascendens, nunc vero aggrediens theologie profundum (Hs. Paris, BN, f. 193v). Cestui liure nest soubzmis determineement a aucune partie de philozophie. car il touche maintenant ethicque, maintenant phisicque, maintenant il descript poesie, et puis jl monte en la subtilite de methaphisique, et maintenant jl emprent la profondite de theologie (f. 13r ). 4.3 Kompilation Wie bereits erwähnt, ist Mansions Druck keineswegs eine Übersetzung („translation“) der Consolatio, sondern der aus Text und Kommentar bestehenden Kompilation des Meisters Renier. Das oben zitierte mfrz. Incipit spricht ja expressis verbis von dem „liure [...] compile par [...] Maistre Reynier de sainct Trudon“. Diese Einordnung nimmt die Bestimmung auf, die sich im Explicit der Lütticher Handschrift findet: Et sic liber finitur [...] copulatus a magistro Renero nato de villa sancti trudonis machglinie ( f. 166v). Damit werden der lateinische bzw. der französische Text in eine spezifische Texttradition allgemeinster Art präzise eingeordnet. Denn im Proömium zu seinem Sentenzenkommentar unterscheidet Bonaventura von Bagnoregio (1217-1274) bekanntlich 51 vier Typen von Schriftstellern - nämlich Schreiber, Kompilator, Kommentator und Autor - und führt dazu aus: Aliquis enim scribit aliena, nihil addendo vel mutando; et iste mere dicitur scriptor. Aliquis scribit aliena, addendo, sed non de suo; et iste compilator dicitur. Aliquis scribit et aliena et sua, sed aliena tamquam principalia, et sua tamquam annexa ad evidentiam; et iste dicitur commentator, non auctor. 51 z. B. Minnis 1984, 94-103. Mansions Liure de boece 17 Aliquis scribit et sua et aliena, sed sua tanquam principalia, aliena tamquam annexa ad confirmationem; et talis debet dici auctor 52 . Renier versteht sich also als jemand, der dem Text des Autors Boethius („aliena“) Erläuterungen hinzufügt, jedoch nicht aus eigener, sondern fremder Urheberschaft („addendo, sed non de suo“). In dieser Kompilation bildet der auf antiken und mittelalterlichen Autoren beruhende Kommentar den Rahmen, in den der jeweils in Lemmata aufgeteilte Text eingelagert ist. Dabei ist es in den einzelnen Handschriften, die Reniers Kompilation überliefern, keineswegs notwendig, dass der kommentierte Text in Gänze ausgeschrieben wird. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass die Schreiber als materielle Urheber der Handschriften diese (in derselben Weise wie später Drucker den Druck) formal mitgestalten. Die in einer Bastarda geschriebene Handschrift Lüttich etwa zitiert den Text jeweils nur an, wobei als Schrifttyp der Lemmata die Textura (hier durch Majuskeln wiedergegeben) gewählt wird: C [4] ARMINA QUI QUONDAM STUDIO FLORENTE PEREGI ETCE- TERA (f. 3v = Consolatio I 1m 1). ECCE MIHI LACERE (f. 4r = Consolatio I 1m 3). VENIT ENIM PROPERATA (f. 4v = Consolatio I 1m 9). MORS HOMINUM FELIX (f. 5r = Consolatio I 1m 13). DUM LEUIBUS (f. 5v = Consolatio I 1m 17). QUID ME FELICEM (f. 5v = Consolatio I 1m 21). Der Leser ist also auf eine weitere Handschrift angewiesen, die den vollständigen Text des Boethius enthält. Die beiden von mir verwendeten Pariser Handschriften hingegen führen den gesamten Text auf, doch portionieren sie ihn verschieden. Die Handschrift der BN behält die Einteilungen der Consolatio bei, gibt also z. B. das erste Metrum bzw. den ersten Prosatext zunächst in toto wieder (I 1m: f. 193v; I 1p: 197r-197v), um dann im abschnittsweise fortschreitenden Kommentar die jeweilige Bezugsstelle nur anzuzitieren. Die Anfänge des Metrums und der Prosa werden wie in der Lütticher Handschrift durch die Wahl der Textura vom übrigen, in Bastarda gehaltenen Schriftbild abgesetzt. Die prächtig illuminierte Handschrift der BM hingegen teilt den gänzlich in Textura gehaltenen Consolatio-Text von vorneherein in Sinnabschnitte ein (erstes Metrum: I 1m 1-2: f. 3v; I 1m 3-8: f. 4r; I 1m 9-12: f. 5r; I 1m 13-16: f. 52 Bonaventura 1882, 14. Franz Lebsanft 18 5v; I, 1m 17-20: f. 6r; I, 1m 21-22: f. 6v). Mansions Druck wiederum zitiert nach einer Buch und Metrum benennenden Rubrik zunächst den lateinischen Text an, um dann eine vollständige Übersetzung anzufügen: Cy commence Boece son premier liure par maniere de dyalogue en metres et en proses compile et Translate a la consolation des desolez et a la retractation de ceulx qui trop se adherdent et empeschent des biens temporelz. Et en cestui premier metre est introduit et parle Boece comme homme dolant et fort desole. C [5]Armina qui quondam studio florente peregi Flebilis heu mestos, cogor jnire modos. etcetera. Texte I [2] E qui jadis ay fait dittiers joyeux Par estude flourissant doloureux Las suis constraint commencer par misere Metres tristes de dolante matere […] (f. 19 r-f. 19 v) Doch verfährt der Übersetzer unterschiedlich, je nachdem, ob es sich um ein Metrum oder einen Prosatext handelt. Das Metrum wird jeweils als Ganzes geboten, der Prosatext jedoch in einzelne Abschnitte portioniert. 4.4 Kommentar: expositio und constructio Der Kommentar selbst ist zweigeteilt, denn er bietet in einem ersten Abschnitt Erläuterungen zur Gliederung der Consolatio in formale und thematische Einheiten sowie lexikalische und enzyklopädische Glossen. Der zweite Abschnitt hingegen liefert eine grammatisch-syntaktische und eine lexikalische Erläuterung der jeweils behandelten Textstelle der Consolatio, wobei der ordo artificialis des Autors in den ordo naturalis umgeformt wird. Wir haben es also mit den beiden Elementen der enarratio bzw. expositio einerseits und der constructio in legendo andererseits zu tun. Die Handschrift Lüttich markiert nur jeweils den Beginn des zweiten Abschnitts, der mit in Textura geschriebenem „construatur sic“ eingeleitet wird; die Handschrift der BN verfährt ebenso, wählt aber das Wort „construccio“; die Handschrift der BM schließlich betitelt beide Abschnitte, und zwar mit „exposicio“ bzw. „construccio“ (auch: „constructio“). In der Handschrift Lüttich verweist ein neben die Initiale gezeichnetes spitznasiges Mönchlein auf das erste Lemma des Autortextes, das noch mit den Worten (f. 3v): Mansions Liure de boece 19 Hiis versis procedendum est ad formam tractatus vorbereitet wird. Im weiteren Verlauf kündigt ein „sequitur (textus)“ die jeweils erläuterte Passage der Consolatio an (f. 4r, 4v, 5r, 5v). Die expositio, die auf das erste Lemma folgt, stellt zunächst die Gesamtstruktur der Consolatio dar mit Angabe der fünf Bücher und ihrer Teile (f. 3v): Hunc librum de consolacione philosophie In quo boecius imitando platonem per dyalogum procedit ipse boecius in quinque volumina particularia distinxit. In primo quidem libro introducitur ipse tanquam persona egra quam desolata suos deflens dolores necnon philosophia sub persona medice primo causas et radices egritudinis perquirens aditum medele temptans et suauitatem spondens. In 2 o [...] Es folgt die Strukturanalyse des ersten Buchs mit Fokussierung des ersten Metrums, wobei das Gedicht bereits in diejenigen Abschnitte eingeteilt wird, die anschließend, wie bereits erwähnt 53 , die einzelnen Lemmata abgeben. Weitere Bestandteile der expositio sind die Bestimmung des Versmaßes (und zwar als elegischer Vers, der - so wird in Erinnerung gerufen - aus Hexameter und Pentameter besteht) und der „sentencia“, welche die Kernaussage des ersten Verspaares zusammenfasst, wobei der Text die Dialogfigur ‚Boethius‘ als Origo der énonciation wählt: Dicit sentencia ergo primo sic boecius „heu ego boecius qui quondam tempore prosperitatis mee studio meo florente multa delectabilia carmina et dictamina compleui nullo dolore tunc studium meum interrumpente cogor et compellor nunc tempore aduersitatis per dolorem me afficientem dolorosa dictamina incipere sed vix propter magnitudinem doloris terminare“ (f. 4r). Die Reformulierung der „sentencia“ lautet in der von Mansion gedruckten Übersetzung: Boece donques au commencement de son liure dit ainsi Las je boece qui jadis ou temps de ma prosperite par mon estude flourissant ay acompli pluiseurs delectables chansons et dittiers, nulle doleur adonques interrompant mon estude: maintenant suis constraint ou temps de mon aduersite par doleur qui tourmente mon esperit commencer doloureux dittiers. mais apaines les porray terminer pour la grandesse de ma doleur (f. 21r). Die expositio wird abgeschlossen durch jeweils mit „notandum quod“ eingeleitete Anmerkungen zu den Schlüsselwörtern der „sentencia“. Semantische und etymologische Erklärungen betreffen die Wörter (f. 4r): 53 Cf. supra, Abschnitt 4.3. Franz Lebsanft 20 carmina dictamina iocunda ... delectabilia deliciosi versus Dicitur autem carmina a carmenta dea que preerat vatibus [Isidor, Etym. IV 1] studium secundum tullium [De inv. I 25.36] Studium est vehemens animi applicacio ad aliquid honeste sciendi cum magna voluntate 54 mestos modos id est dolorosos versus In der Übersetzung finden sich nur (f. 21r): chansons ou dittiers les dis joyeux vers plaisans Estude selon Tulle Estude est vne vehemente application de corage auec souuerain desir et grande volente a faire aucun euure honneste Wesentlich kürzer ist der zweite Abschnitt des Kommentars gehalten, die constructio in legendo: CONSTRUATUR SIC „Heu ego (supple) boecius qui peregi (id est compleui nullo scilicet dolore interrumpente) quondam (id est tempore preterite felicitatis et hoc dico) studio (id est statu) meo florente (id est vigente scilicet in iuuentute diuiciis et honore) Ego (inquam) cogor (id est compellor ex habundancia dolorum) inire (id est incipere et vix terminare) modos (id est versus) mestos (id est dolorosos) ego (inquam) flebilis (actiue scilicet aptus ut fleam dolendo passive scilicet ut alii de me fleant michi compaciendo)“ (Hs. Lüttich, f. 4r). Der Text der Handschrift Lüttich ist nicht völlig befriedigend (es fehlt das direkte Objekt nach „peregi“), weswegen er hier noch nach den Handschriften der Mazarine und der BNF geboten wird: CONSTRUCCIO „Heu ego (supple) boecius qui peregi (id est perfeci aut compleui nullo scilicet dolore interrumpente) quondam (id est tempore preterito felicitatis) carmina (id est cantus leticie) quondam (id est tempore preterito felicitatis inquam et hoc dico) studio (id est statu) meo florente (id est vigente iuuentute diuiciis et honore) Ego (inquam) cogor (id est compellor ex habundancia doloris) inire (id est incipere et vix terminare) modos (id est versus) mestos (id est dolorosos) Ego (inquam) flebilis (actiue scilicet aptus et fleam dolendo et flebilis passive scilicet ut alii de me fleant michi compaciendo)“ (Hs. BNF, f. 194r). 54 Cf. bereits die Erläuterung Wilhelms von Conches 1999, 10. Mansions Liure de boece 21 1 id est ] aut, überschrieben: id est CONSTRUCTIO „Heu ego boecius qui peregi (id est perfeci ac compleui nullo scilicet dolore interrumpente) quondam (id est tempore preterite felicitatis) carmina (id est cantus leticie) quondam (id est tempore preterite felicitatis et hoc) studio (id est statu) meo florente (id est vigente scilicet iuuentute diuiciis et honore) ego (inquam) cogor (id est compellor ex habundancia doloris) inire (id est incipere et vix terminare) modos (id est versus) mestos (id est dolorosos) ego (inquam) flebilis (actiue scilicet aptas ad flendam uel ut fleam dolendo et flebilis passiue scilicet ut alii de me fleant michi compaciendo)“ (Hs. BM, f. 4r). Die Origo der énonciation ist zunächst ‚Boethius‘ als Figur des Grundtextes; doch wird die constructio als Selbstzitat inszeniert („inquam“) und die Figurenrede durch das „supple“ in eine zweite Redekonstellation von Kompilator und Leser eingebettet. Im Vergleich zur „sentencia“ als Teil der expositio bietet die constructio den Text im ordo naturalis. Darüber hinaus werden die ‚schwierigen‘ Wörter des Grundtextes systematischer als in der „sentencia“ durch ‚leichtere‘ Synonyma glossiert: peregi perfeci; compleui carmina cantus leticie studio statu cogor compellor inire incipere et vix terminare modos versus mestos dolorosos. Noch Jodocus Badius Ascensius wird in seinem humanistischen Kommentar zur Consolatio den ordo im Prinzip nicht anders erläutern und wenigstens z. T. auch dieselben Synonyma nennen 55 . 55 Badius Ascensius 1498/ 2008, 100 („peregit ergo, qui complevit et perfecit“; „init, qui incipit et nondum aliquid fecit“; „COGOR compositum est ex ‚co‘ et ‚agor‘ et est idem quod ‚compellor‘“) und 103 („Ordo iam notus est, sed ut pollicita exsequar imbecillioribus, talis est: Ego, Boetius, qui PEREGI, idest perfecte composui et edidi, QUONDAM FLORENTE STUDIO CARMINA, idest dulces cantilenas, nunc — supple ‚effectus‘ —FLEBILIS COGOR INIRE, idest incipere, MAESTOS MODOS, idest versus de maestitia, hoc est querimonias et lamentationes“). Franz Lebsanft 22 4.5 Constructio in legendo und Übersetzung Wie geht nun der Übersetzer in Mansions Druck vor? Zunächst trennt auch er Text (f. 19r-20r) und Kommentar (f. 20r-26r), die er respektive „Texte“ (f. 19r) und „Glose“ (f. 20r) überschreibt. Der Text zitiert jeweils das lateinische Original an und bietet im Anschluss eine vollständige und nach Vers- und Prosastücken gegliederte, in letzterem Fall auch durch eingeschobene Erläuterungen zerstückelte Übersetzung. Im Unterschied zur lateinischen Kompilation ist der Kommentar nicht zweigeteilt, denn in der Übersetzung macht - so möchte man jeweils prima vista glauben - eine den lateinischen Werktext erklärende constructio in legendo keinen Sinn. Das heißt jedoch keineswegs, dass bei Mansion die syntaktischen und lexikalischen Informationen der constructio verloren gingen. Im Gegenteil, sie fließen zusammen mit den Erklärungen der expositio in die Übersetzung ein und werden auf diese Weise aus der constructio in die interpretatio verschoben. Dies lässt sich an dem ersten, elegischen Verspaar von Buch I 1m verdeutlichen. Die constructio bringt die hypotaktische Satzstruktur des Grundtextes, bestehend aus einem Haupt- und einem eingebetteten, vom Subjekt abhängigen Relativsatz, in eine lineare Anordnung, die im Übersetzungsprozess eine Zwischenstufe darstellt, welcher der mfrz. Übersetzer im Grundsatz folgt. Doch zeigt die Trennung des „Heu ego“ („IE qui ... Las ...“), dass die Übersetzung im Rahmen einer idiomatischen romanischen Syntax durchaus ein gewisses Äquivalent für die Hyperbata des lateinischen Werktextes schaffen möchte. Die Übersetzung „doloureux“ 56 des Prädikatsadjektivs „flebilis“, das die constructio als Charakterisierung des „ego“ in der Satzstruktur nicht bei der ersten Nennung des Personalpronomens ‚unterbringen‘ will („ego qui peregi ... carmina ego cogor inire modos mestos - ego flebilis“), geht der emotiven Interjektion „las“ („heu“) unmittelbar voran, so dass die für das philosophische Problem der Consolatio konstitutive Beschreibung der Befindlichkeit des „ego“ genau in das räumliche Zentrum der ersten vier Verse mit einem ‚kühnen‘ enjambement gestellt wird („... doloureux/ Las ...“), und zwar in präziser Analogie zu der ‚mittigen‘ Stellung des „flebilis heu“ im ersten Verspaar des Werktextes. Schematisch lässt sich das so darstellen: 56 Cf. TL II Sp. 1998 doloros ‚schmerzerfüllt, kläglich, jämmerlich‘. Mansions Liure de boece 23 Verb dir. Objekt 3 Las suis constraint commencer par misere ego cogor inire 4 Metres tristes de dolante matere modos mestos ego flebilis Während die constructio die metrische Qualität des Grundtextes außer Acht lässt, ist der Übersetzer - wie bereits das besprochene enjambement zeigt - um eine gewisse Äquivalenz bemüht, die dem mfrz. Text eine rhythmische und klangliche Qualität verleiht 57 . Dem elegischen Distichon steht der paarweise gebundene, alliterationsreiche Zehnsilbler mit - häufig lyrischer - Zäsur nach der vierten Silbe gegenüber. In lexikalischer Hinsicht helfen die lateinischen Synonyma von expositio und constructio dem Übersetzer, einen angemessenen französischen Ausdruck zu finden. Dies zeigt sehr schön die Wiedergabe von „carmina“ durch „dittiers joyeux“. In diesem Fall bietet die „sentencia“ als erläuternde Erweiterung des Grundtextes „carmina et dictamina“ an, so dass, wie die oben genannte Übersetzung dieser Doppelung zeigt, „dittiers“ bereits als möglicher Ausdruck im Raume steht 58 . Als Epitheta bieten die „sentencia“ und die dazugehörenden Glossen die Wörter delectabilis, iocundus und deliciosus an, die mit 57 Man beachte: „I[2]E … jadis … joyeux“/ „constraint … commencer“, besonders raffiniert: „misere/ Metres tristes de dolante matere“. Zahlreiche schöne Beispiele anhand von III 9m gibt Cremer 2009. 58 Das FEW II, 1 380 s. v. carmen kennt als Lehnwort - was der Übersetzer entweder nicht nutzen oder nicht kreieren wollte - mfrz. nfrz. carme ‚chant, vers‘ seit dem 15. Jh., cf. noch TLF, Artikel carme 4 ‚composition en vers, poésie‘; GDMF ‚poème, poésie‘ mit Verweis auf Rabelais 1532 (= Gargantua, Kap. 57: Die Bewohner von Thélème konnten in mehreren Sprachen „composer tant en carme que en oraison solue“, d. h. also in Vers und in Prosa). Demgegenüber weist TL II Sp. 268 s. v. charme das Erbwort, dessen übliche afrz. Bedeutungen ‚Zauber(mittel), Zauberspruch‘ sind, auch in der mfrz. Bedeutung ‚Lied‘ in RenContrR (DEAF: ca. 1342 [1328-ca. 1342]) nach. Subjekt 1 I [2] E qui jadis ay fait dittiers joyeux Heu ego qui peregi quondam carmina 2 Par estude flourissant doloureux studio meo florente Franz Lebsanft 24 delectable, joyeux und plaisant übersetzt werden, so dass man vermuten darf, dass der Übersetzer aus diesem ‚Angebot‘ seine Wahl („joyeux“) getroffen hat. Die Wiedergabe von „maestos ... modos“ durch „metres tristes“ zeigt, dass das gerade vorgeführte Verfahren nicht immer angewendet wird. Denn für diese Lösung werden weder die „dolorosa dictamina“ („doloureux dittiers“) der „sentencia“ noch die „dolorosos versus“ der dazugehörenden Glosse bzw. der constructio benötigt, auch wenn das Adjektiv im zweiten Halbvers in morphologisch anderer Form aufgenommen wird („de dolante matere“) 59 . Immerhin finden sich lat. Wörter, die den klanglich so hervorragend in Analogie zu „maestos … modos“ gewählten „metres tristes“ zugrunde liegen, im weiteren Kontext. Die expositio liefert nämlich eine im mfrz. Text ausgesparte Analyse des Metrums (Hs. Lüttich, f. 4r) und der Grundtext verwendet das Adjektiv in „tristis … hora“ (I 1m 18), was mit „Leure triste“ (f. 19v) wiedergegeben wird 60 . 4.6 Umgestaltung der Texttradition und Status der Übersetzung Der wesentliche Unterschied zwischen lateinischer Kompilation und französischer Übersetzung besteht in der Tilgung der constructio, deren Informationen in den Dienst der Wiedergabe des Boethianischen Grundtextes gestellt werden. Dieser Befund wirft die Frage nach dem Status der Übersetzung im Verhältnis zum Original auf. Das jeweilige Anzitieren des lateinischen Textes im Brügger Druck könnte als Indiz dafür verstanden werden, dass die Übersetzung sich nicht an die Stelle des Originals setzen, sondern in dienender Funktion auf es verweisen will. Unter dieser Prämisse würde der Übersetzung nur der Status eines Bestandteils des Kommentars zukommen. Doch steht einer solchen Einschätzung entgegen, dass der Übersetzer seine Wiedergabe als ‚Texte‘ und eben nicht als ‚Glose‘ einstuft. Hinzu kommt, dass der Übersetzer offensichtlich strenge 59 TL II Sp. 1992 dolent ‚schmerzerfüllt, traurig‘. 60 Die Glosse „mestos modos, idest tristia metra de mea miseria“ findet sich in dem Kommentar des Pseudo-Thomas, dessen älteste Überlieferung der Druck von Anton Koberger ist (1473, f. A4r in der Foliierung von Bastert); zu Koberger cf. Bastert im Druck und zur Zurückweisung aller bisherigen Zuschreibungshypothesen des Kommentars Glei im Druck. Die Unterscheidung von lat. maestus und tristis (v. a. äußerlich) wird im vlat.-rom. Wortschatz aufgegeben, cf. Stefenelli 1981, 31; die Verdrängung von afrz. dolent durch halbgelehrtes triste gilt Stefenelli 1981, 162 als Beispiel der Relatinisierung des Wortschatzes im 13. Jh. Cf. die schöne Skizze einer Onomasiologie von ‚traurig, betrübt‘ bereits in Stefenelli 1967, 242-246. Mansions Liure de boece 25 Invarianzkriterien erfüllen möchte, so dass die Beurteilung seiner Anstrengungen in unterschiedlichen Leserkreisen auf verschiedene Weise denkbar ist. Je nachdem, über welche Lateinkenntnisse die Leser verfügten, konnten diese die Übersetzung ausschließlich als Bestandteil der volkssprachlichen Literatur oder zusätzlich auch als Übersetzungsleistung, in dem einem wie in dem anderen Fall möglicherweise im Vergleich zu anderen, ebenfalls kursierenden (und im Übrigen nicht nur französischen) Übersetzungen lesen. Hier bietet sich innerhalb der französischen Texttradition die ca. 1350 entstandene prosimetrische Übersetzung ConsBoèceCompC 2 an, die in zahlreichen Handschriften des 15. Jahrhunderts kursierte. Sie übersetzt I 1m 1-2 in derselben Weise wie bereits zuvor ConsBoèceLorrA (1. Drittel 14. Jh.): Je qui sueil dicter et escripre Les livres de haulte matire Et d'estude avoye la fleur Faiz or diz de dueil et de pleur. Der Gehalt des ersten elegischen Distichons wird syntaktisch und lexikalisch ungenauer, textuell wesentlich weniger pointiert, metrisch und rhythmisch dank des paarreimenden Achtsilblers zweifellos eingängiger, doch eben auch zierlicher und durch die Unterdrückung des „Flebilis heu“ in einer Weise wiedergegeben, die der im Grundtext persuasiv vorgetragenen existentiellen Erschütterung des „Je“ völlig unangemessen ist. Angesichts dieses Befundes darf man den Brügger Druck im Sinne rhetorischer Kategorien als eine Überbietung früherer Übersetzungen ansehen 61 . Allerdings wäre es vermessen, auf der Grundlage der, wie ich hoffe, mikroskopisch genauen Analyse der Übersetzung eines einzigen elegischen Distichons allzu weitreichende Schlüsse zu ziehen. Doch scheint mir die Überprüfung der Hypothese lohnenswert, wonach der in Mansions Druck sich manifestierende Übersetzer eine volkssprachliche Consolatio schaffen wollte, die eine dem Gehalt des Textes adäquate französische Gestalt erhielt und somit beim Leser eine ähnlich wie der Grundtext erkenntnisfördernde ästhetische Wirkung entfalten konnte. Allerdings äußert sich der Übersetzer nicht zu seinen Übersetzungsprinzipien, die man daher nur aus dem Ergebnis extrapolieren kann. Die ihm zweifellos bekannte, mit dem Namen Hieronymus so stark verknüpfte Unterschei- 61 Ausgeschlossen scheint mir hingegen die ‚klassische‘ Form der aemulatio, d. h. der Gedanke einer Überbietung des Grundtextes. Zur aemulatio cf. den informativen Überblick von Bauer (1992). Franz Lebsanft 26 dung zwischen ‚wörtlicher‘ („verbum de verbo“) und ‚sinngemäßer‘ Übersetzung („sensum de sensu“) 62 ließe sich in seinem Fall nur in sehr differenzierter Weise anwenden. Ganz offensichtlich will der Übersetzer das, was er als den ‚Sinn‘ des Textes erkennt, möglichst genau wiedergeben; doch die Sinnhaltigkeit schließt formale Qualitäten der Wörtlichkeit ein, die daher weit größere Beachtung als in früheren Übersetzungen finden. 5. Ausblick Die kontinuierliche Präsenz der Consolatio im französischsprachigen Raum vom frühen 13. bis zum Ende des 15. Jahrhunderts ist das Ergebnis einer intensiven ‚Arbeit am Text‘, die das Werk über mehrere Stufen der énonciation vom Autor über lateinische Kommentatoren bzw. Kompilatoren zu französischen Übersetzern durch entsprechende, mehrstufige Rahmungen formal und inhaltlich neu perspektiviert. Die dauerhafte Tradierung des Grundtextes und seine Wirkmächtigkeit beruhen auf der geschichtlichen Vielfalt von Verfahren und Formen der Auslegung und Deutung. In der Geschichte der ‚französischen‘ Consolatio stellt Mansions Liure einen bedeutenden Moment dar, denn der Drucker bietet in der neuen medialen Form den Grundtext in einer Übersetzung, die - wie an einem kleinen Beispiel gezeigt werden sollte - dessen Sinnhaltigkeit in einer bis dahin unbekannten Intensität vergegenwärtigt, und er rahmt das Werk mit einem Kommentar, der den lateinunkundigen Lesern ein wesentlich umfangreicheres Wissen zur Verfügung stellt, als das bei früheren Übersetzungen der Fall war. Der mikroskopische Vergleich mit der lateinischen Kompilation, die dem Druck als Vorlage diente, ermöglicht wenigstens anzudeuten, worin die spezifische Signatur des Liure in der Geschichte der Tradierung des Grundtextes besteht. Es ist die Umformung und -funktionalisierung der constructio der lateinischen Vorlage, die besondere Beachtung verlangt. Es dürfte sich lohnen, diese wesentliche Veränderung der Texttradition systematischer und ausgreifender zu untersuchen, denn sie gibt einen gegenüber der mir bekannten Forschung 63 neuen und tieferen Einblick in die Übersetzungspraxis des spä- 62 Cf. mit Hinweis auf Hieronymus (Ad Pammachium de optimo genere interpretandi, 57, 5) z. B. Copeland 1989; Copeland 1991, 42ss., neuerdings Kitzbichler 2007, 31. 63 Cf. zuletzt die Beiträge in Galderisi/ Pignatelli (edd.) 2007. Mansions Liure de boece 27 ten 15. Jahrhunderts und stellt einen Zusammenhang zwischen der Ebene des Textes und derjenigen der Einzelsprache her, der angesichts der bisherigen theoretischen Diskussion, welche die beiden Ebenen strikt trennt, eher überraschend ist. 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Sie bilden eine Form der Rezeption antiker Schriften und antiken Wissens; mit dem Wissenstransfer ist ein sprachlicher Transfer verbunden. Damit stellen Übersetzungen eine Möglichkeit der Ausbildung von Wissenschaftssprachen dar. Die sich auf sprachlicher Ebene manifestierenden Entwicklungen (etwa der Ausbau entsprechender lexikalischer, syntaktischer oder textueller Muster, wobei natürlich von chronologischen Besonderheiten je nach Wissensbereich bzw. Fach auszugehen ist) sind dabei als Ergebnis gesellschaftlicher Entwicklungen aufzufassen. Die Ausprägung von Wissenschaftssprachen bedeutete für die im Entstehen begriffenen Nationalsprachen die Eroberung eines wichtigen Kommunikationsbereichs vom Latein; zugleich entstand hiermit ein Spannungsfeld sowohl auf sprachlicher als auch auf metasprachlicher Ebene. Im vorliegenden Beitrag soll dieses vielschichtige Thema am Beispiel des Französischen und Spanischen untersucht werden. Im Mittelpunkt 1 Sicher ist der Wissenschaftsbegriff früherer Epochen nicht mit unserem heutigen Verständnis von ‚Wissenschaft‘ gleichzusetzen. Auch auf die Schwierigkeit einer genauen Abgrenzung von Fachtext von Nicht-Fachtext für den hier interessierenden Zeitabschnitt wird rekurrent hingewiesen (p. ex. Gaudino Fallegger/ Winkelmann 1999, 2530). Beide Fragen stehen nicht im Zentrum der vorliegenden Überlegungen. Claudia Polzin-Haumann 34 stehen dabei weniger metasprachliche Diskussionen um das ‚richtige‘ Übersetzen oder die Problematik der Ausgestaltung fachsprachlicher Kommunikation in der jeweiligen Volkssprache (cf. hierzu die Beiträge von Osthus und Eggert, in diesem Band) als vielmehr die Frage, welche sprachlichen Prozesse den mit Übersetzungen verbundenen Wissenstransfer begleiten. Der Schwerpunkt liegt auf der Frühphase der französischen und spanischen Vegetiusübersetzungen, also auf dem Aspekt der Herausbildung der entsprechenden Wissenschaftssprachen; zum Vergleich werden ausschnitthaft spätere Übersetzungen herangezogen, um zumindest ansatzweise Entwicklungslinien aufzuzeigen. Die exemplarische Analyse mündet in grundsätzliche Überlegungen zu Perspektiven des Forschungsbereichs ‚Wissenschaftssprachen‘ in der Romanistik. 2. Wissenschaftssprache 2.1 Begriffsdefinitionen und Forschungstraditionen Unbestritten spielt Sprache bei der Aneignung von Wissen, der Weitergabe von Wissen und der Kommunikation über Wissen eine wichtige Rolle, wie auch Weinrich (1995, 13) unterstreicht: „[...] nicht nur in der Sprachwissenschaft, sondern in allen Wissenschaften [gehört] die Sprache zur Sache [...]“. Dies gilt zweifellos für alle Epochen. Seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts rückt die Wissenschaftssprache mehr und mehr in den Blick der Sprachwissenschaft (was freilich nicht bedeutet, dass es nicht auch zu früheren Zeiten Reflexion darüber gab; cf. Osthus, in diesem Band). Dabei herrscht über den Begriff der Wissenschaftssprache - ebenso wenig wie über den der Fachsprache - keineswegs Einigkeit; einige Autoren (p. ex. Knobloch 1987, Pörksen 1994, Adamzik/ Niederhauser 1999) verzichten sogar ganz auf eine explizite Definition. Für die vorliegende Fragestellung scheint in Anlehnung an Hoffmann (1986, 82) und Bungarten (1981, 31) eine Orientierung an funktionalen Kriterien am sinnvollsten. Während Hoffmann vom „Kriterium der Gebrauchssphäre bzw. des Kommunikationsbereiches“ spricht, geht Bungarten davon aus, dass jede wissenschaftliche Disziplin einen eigenen, abgrenzbaren Handlungsbereich begründet, dem spezifische Kommunikationsbedürfnisse entsprechen. Bestimmte sprachliche Mittel - morphologische, lexikalische, terminologische, syntaktische, textlinguistische (textgrammatische, argumentationstheoretische) - sind geeignet, diese Kommunikationsbedürfnisse zu befriedigen und damit konstitutiv für Wissenschaftssprachen in Frankreich und Spanien 35 einen gegebenen Handlungsbereich. Pragmalinguistisch gesehen lassen sich damit Wissenschaftssprachen jeweils Sprachhandlungsbereichen (d. h. einzelnen Wissenschaften) zuordnen. Wissenschaftssprache ist damit Teilmenge von Fachsprache (cf. Hoffmann 1986, 82, 91). Mit Weinrich (1995, 5) kann also die Erforschung der Wissenschaftssprache(n) als Teil der Fachsprachenforschung eingeordnet werden. Dies führt uns zur Notwendigkeit der Definition von ‚Fachsprache‘. Hier bestehen, wie bereits erwähnt, zwar bis heute Divergenzen, doch ist die Definition von Hoffmann in ihren Grundsätzen weithin anerkannt: Fachsprache - das ist die Gesamtheit aller sprachlichen Mittel, die in einem fachlich begrenzbaren Kommunikationsbereich verwendet werden, um die Verständigung zwischen den in diesem Bereich tätigen Menschen zu gewährleisten (Hoffmann 1985, 53). Ähnliche Definitionsansätze lassen sich auch in der französischen und spanischen Fachsprachenforschung belegen (cf. p. ex. Muller 1985, 187 2 , Gutiérrez Rodilla 1998, 20). Jedoch geht Gutiérrez Rodilla insofern über die Definition von Hoffmann hinaus, als sie den wichtigen Aspekt der fachbezogenen Kommunikation zwischen Experten und Laien mit einbezieht, wenn sie festhält: […] vamos a considerar que el lenguaje científico es todo mecanismo utilizado para la comunicación, cuyo universo se sitúa en cualquier ámbito de la ciencia, ya se produzca esta comunicación exclusivamente entre especialistas, o entre ellos y el gran público, sea cual sea la situación comunicativa y el canal elegido para establecerla. Hieran lässt sich der von (Adamzik/ Niederhauser 1999, 31) entwickelte Gedanke einer „Skala von Fachsprachlichkeit“ anschließen, die auf der einen Seite den Sprachgebrauch von Experten enthält, die sich untereinander über ihr Spezialwissen verständigen. Am anderen Pol steht der Sprachgebrauch von Laien untereinander, der durch vorgängige Kontakte mit Expertenwissen und dem entsprechenden Sprachgebrauch beeinflußt ist (ib.). Dazwischen sind vielfältige Mischformen möglich. Letztlich bestehen fließende Konturen zwischen ‚Fachsprache‘ und ‚Gemeinsprache‘. Fach- 2 „On appelle ‚langue de spécialité‘ ou ‚langue technique‘ un registre qui provient de l'approfondissement des connaissances et des réalisations techniques dans un secteur donné de l'activité humaine et qui est utilisé, quand la communication a trait à cette spécialisation, par des locuteurs lesquels possèdent des connaissances et participent à ces réalisations, totalement ou partiellement“. Claudia Polzin-Haumann 36 sprachen stellen eine mehr oder weniger offene Kategorie dar 3 , und dies gilt umso mehr für die hier im Mittelpunkt stehende Phase der Ausprägung fach- und wissenschaftssprachlicher Kommunikation. Solange es eine relativ stabile Zuordnung von bestimmten Inhalten und Sprachen gab und das Latein für fachliche Zusammenhänge reserviert war (Kalverkämper 1998, 312), dürfte eine Experten-Laien-Kommunikation oder eine Kommunikation von Laien untereinander über wissenschaftliche Zusammenhänge weitgehend ausgeschlossen sein. Die sich durch die Übersetzungen wissenschaftlicher Texte aus dem Latein ins Volgare allmählich auflösende Diglossiesituation ändert dies; es entstehen neue Kommunikationskonstellationen, die sich auf - in unserem Fall - das Französische und Spanische auswirken. Gaudino Fallegger/ Winkelmann (1999, 2535) sprechen von einer „Bezeichnungsnot“ vor allem für wissenschaftliche Lexik. 2.2 Übersetzung und Wissenschaftssprache Die Untersuchung von Übersetzungen in der Frühphase volkssprachlicher Wissenschaftssprachen liegt im Schnittfeld von Sprachgeschichte (Stefenelli 1999), historischer Fachsprachenforschung (Kalverkämper 1998, Gaudino Fallegger/ Winkelmann 1999) und historischer Übersetzungsforschung (Pöckl/ Pögl 2006, Albrecht 2006, Pöckl 2006, Weitemeier 2007, Denton 2007). Die Bedeutung der Übersetzung für die Ausbildung und die Struktur von Wissenschaftssprache wird exemplarisch deutlich im Titel von Alsina et al. (2004). Fragen des Wissenstransfers stehen für die Übergangsphase von lateinischen zu einzelsprachlichen fachlichen Texten immer im Zusammenhang der Übersetzung 4 . Pöckls (1990, 273) Aussage, dass 3 Dies betrifft vor allem auch die bislang nicht abschließend geklärte Frage der vertikalen Schichtung (d. h. interne Heterogenität innerhalb eines Fachbereichs). Eine durchgängig akzeptierte vertikale Gliederung verschiedener fachsprachlicher Schichten gibt es bis heute nicht; vielmehr gibt es unterschiedliche konkurrierende Modelle (cf. Ide 2000, 47-51, 157). 4 Die Übersetzungsaktivität hört freilich mit der Ausbildung volkssprachlicher Terminologien und Textmuster nicht auf. Gutiérrez Rodilla (1998, 250-252) weist darauf hin, dass in Spanien vor allem ab dem 18. Jahrhundert ein Übersetzungsschub aus modernen Nationalsprachen (v. a. aus dem Englischen und Französischen) einsetzte. Wissenschaftssprachen in Frankreich und Spanien 37 [d]ie Sprachgeschichte […] sich auch für nichtliterarische Übersetzungen [interessiert], weil an ihnen das Ringen um die französische Formulierung des lateinisch niedergelegten Wissens empirisch studiert werden kann, kann analog auch auf das Spanische (und weitere romanische Sprachen; cf. p. ex. Santoyo 1994) bezogen werden. Zur Frühphase der Übersetzungen liegen in der Romanistik einige Studien vor (p. ex. Stempel 1987 zu Oresme; Alvar s. a., Briesemeister 1980 zur Situation in Spanien; cf. auch Hermans 2007), die vor allem die metasprachlichen Einstellungen der Übersetzer untersuchen (Schwierigkeiten beim Übersetzen, Aussagen über Latein/ Volkssprache, Selbstreflexion ...). Neuere thematische Sammelbände wie etwa Brumme (2001), Alsina et al. (2004) für die Iberoromania oder Brucker (1997) für die Galloromania rücken einerseits die auf sprachlicher Ebene zu beobachtenden Prozesse selbst, andererseits die hinter Übersetzungen stehenden bzw. mit diesen verbundenen Kommunikationsprozesse in den Blick 5 . Dabei fällt auf, dass viele Beiträge sich auf medizinische Texte beziehen (p. ex. für Spanisch Blas Nistal 2002, Eckkrammer 2002; für Französisch etwa Bazin 1997). Demgegenüber beziehen sich die folgenden exemplarischen Untersuchungen zu den Ausprägungen volkssprachlicher wissenschaftsbezogener Kommunikation auf den Wissensbereich ‚Militär/ Kriegskunst‘. In Übereinstimmung mit den neueren Forschungsansätzen werden die verschiedenen Übersetzungen (wie auch der Ausgangstext) als Ausprägungen bestimmter Diskurs- oder Texttraditionen aufgefasst. 5 Dies ist eingebettet in eine für den gesamten Forschungsbereich charakteristische Akzentverschiebung, die sich bereits an den beiden Sammelbänden von Bungarten (1981 und 1986) ablesen lässt und die sich im Folgenden stetig intensiviert hat: Standen zunächst die Strukturen und Funktionen von Wissenschaftssprachen im wissenschaftsinternen Bereich im Vordergrund, gilt das Interesse im weiteren zunehmend den je spezifischen wissenschaftlichen Kommunikationsformen in verschiedenen gesellschaftlichen Handlungsbereichen sowie der wissenschaftsexternen Kommunikation. Als neuere Beispiele für diese Tendenz in der germanistischen Forschung sind v. a. die Sammelbände von Niederhauser/ Adamzik (1999), Antos/ Wichter (2005) und Wichter/ Antos (2001) hervorzuheben. In der deutschsprachigen Romanistik dokumentieren neben den Bänden von Kalverkämper (1988) und Dahmen et al. (1989) nicht zuletzt die HSK-Bände zur Fachsprachenforschung (Hoffmann/ Kalverkämper/ Wiegand 1998/ 1999) diese Entwicklung. Claudia Polzin-Haumann 38 3. Exemplarische Untersuchungen 3.1 Zum Ausgangstext: Verbreitung und Rezeption Das Korpus bilden verschiedene französische und spanische Übersetzungen der Epitoma Rei Militaris von Flavius Vegetius Renatus. Dieses Kompendium über das Kriegswesen war im Mittelalter überaus verbreitet, wie auch die große Zahl der Manuskripte (über 300) unterstreicht (Barrio Vega 1981, III). Neben dem Französischen und Spanischen wurde es u. a. auch ins Englische (1489, basierend auf der französischen Fassung), Italienische und Katalanische übersetzt. Ab Anfang des 15. Jahrhunderts entstehen deutsche Übersetzungen (Fürbeth 2002). Fürbeth stellt die kritische Frage, weshalb trotz der offensichtlichen Diskrepanz zwischen den gebotenen Informationen der >Epitoma rei militaris< und der mittelalterlichen Kriegspraxis selbst die Lehrschrift zum meistrezipierten militär- und kriegstheoretischen Text des Mittelalters wurde (2002, 303). Auf der Grundlage seiner Analyse der Handschrift der ersten deutschen Übersetzung führt er hierfür verschiedene Möglichkeiten an (ib., 305) und fordert dann, diese jeweils bei dem einzelnen übersetzten Text abzuprüfen, um die je spezifische „Gebrauchssituation“ (ib., 306) der Epitoma zu ermitteln. Im vorliegenden Beitrag wird eine solche Analyse nicht angestrebt, doch ist der Aspekt, dass aufgrund der zeitlichen Entfernung von Ausgangstext und Zeitpunkt der Übersetzung nicht nur sprachlicher Transfer zu leisten war, durchaus bedenkenswert, da er den gesellschaftlichen Kontext betrifft, in dem und für den die Übersetzungen angefertigt wurden. 3.2 Analysen und Ergebnisse Die Schwerpunkte der Untersuchungen liegen auf der Lexik (Morphologie), der Morphosyntax und dem Textaufbau. Die ausgewählten Beispiele beziehen sich, soweit nicht anders angegeben, auf die Kap. XXII und XXV des ersten Buchs. Betrachten wir zunächst die frühen Übersetzungen im Hinblick auf die volkssprachliche Wiedergabe der spezifisch militärischen Terminologie: lat. castra (‚Feldlager‘) wird sowohl von Jean de Meun (F 1284) 6 als auch 6 Die Beispiele aus den Quellen werden mit dem Sprachenkürzel (F/ SP) und ihrem Erscheinungsjahr zitiert. Wissenschaftssprachen in Frankreich und Spanien 39 von Jean de Vignay (F ca. 1320) mit herberges (< frk. *heribergon) wiedergegeben; hostis (‚Feind‘) erscheint bei beiden als aversaire, in der anonymen Übersetzung von 1380 hingegen als ennemi. Lat. adversarius (‚Gegner‘) wird bei Jean de Meun (F 1284) ebenfalls mit aversaire übersetzt, die beiden anderen Übersetzer (F ca. 1320, F 1380) wählen ennemi. Offenbar erkennen die Übersetzer keinen semantischen Unterschied zwischen den beiden lateinischen Termini. Der spanische Übersetzer vermeidet ganz die Übersetzung von adversarius. Insgesamt fällt auf, dass die volkssprachlichen Wortfelder weniger ausdifferenziert sind 7 ; die verschiedenen Optionen, die der Übersetzungsvergleich zeigt, verweisen außerdem auf eine gewisse Dynamik. Für einige lateinische Termini fehlen französische Äquivalente im lexikalischen Bereich; die Übersetzer verwenden nahezu durchgehend Umschreibungen p. ex. (1) genz a pié (F 1284) Ceulz a pié (F 1380) los de cavallo (SP 1454) Der Latinisierungsgrad ist häufig gering. Wenn latinisierend übersetzt wird, werden die Übersetzungen oft mit Zusatzerklärungen ergänzt, wie am Beispiel des centurio gezeigt werden kann: (2) li centurion, c'est a dire [...] (F 1284) li centurion, c'est [...] (F ca. 1320) los çinturiones, que son llamados capitanes de çientos (SP 1454) Besonders die anonyme französische Übersetzung von 1380 enthält zahlreiche erklärende Übersetzungen, p. ex. I, 23: (3) tumultuaria fossa - une fosse qui est appelee la fosse tumultuaire ou de noise pour ce qu'el est faite en tumulte de noise et pour ce que ceulx qui sont menez en l'ost pour faire tummulte principaument la font (F 1380). Auch die Strategie der quasisynonymischen Dopplung („réduplication synonymique“, Billotte/ Bossel/ Hicks 1997) ist hier mehrfach belegt, beispielsweise (4) castra - li chastel de l'ost ou les tentes/ les chasteaus de l'ost ou les tentes (F 1380) 7 Cf. hierzu auch die Feststellung von Löfstedt (1977, II, 3) bzgl. frz. bataille für lat. acies, bellum, expeditio, ordo, pugna, ala und proelium. Gleiches gilt auch für das Wortfeld ‚Kämpfer‘ (cf. unten Tabelle 1a und 2a). Claudia Polzin-Haumann 40 In der nachstehenden Tabelle sind die wichtigsten Ergebnisse zusammengefasst: L (4. Jh.) F 1284 F ca. 1320 F ca. 1380 SP ca. 1430 SP 1454 castra les herberges les herberges li chastel de l'ost ou les tentes/ les chasteaus de l'ost ou les tentes -- -- 8 asentamiento hostis li aversaire li aversaires les ennemis -el enemigo adversarius aversaire li enemis li ennemi [unpersönl. Wendung] miles chevalier chevaliers chevaliers et [...] gens de l'ost cauallos cavalleros eques cil a cheval cil a cheval ceux de l'ost qui sont a cheval los de cavallo pedes genz a pié pooniers ceulz a pié los peones centurio li centurion, c'est a dire li centenier qui sont seingnor de cent homes li centurion, c'est centeniers ou chevetaines de cent li centurion et centenier de l'ost los çinturiones, que son llamados capitanes de çientos praeco le crieur li baniers un crieur pregon tiro li chevaliers li chevaliers li jenne chevalier el mançebo escogido para la cavalleria exercitus li olz -l'ost la hueste acies bataille bataille -- -impediment um toutes les choses qui sont necessaires en ost la plenté du charroiz et d'autre empeeschement empeschements fardajes Tabelle 1: Lexik 8 Das Lexem castra wird selten übersetzt; oft tauchen Konstruktionen mit hueste auf (metonymische Übertragung), p. ex. Castra [...] facienda sunt (I, XXV) - La hueste & el real se deve [...] asentar (SP 1454); castra possit munire (I, XXV) - [...] pueda aperçebir & basteçer la hueste (SP 1454). Wissenschaftssprachen in Frankreich und Spanien 41 Im Bereich der Morphosyntax zeigt sich in allen untersuchten Textpassagen die Auflösung der lateinischen synthetischen Strukturen (ablativus absolutus, Gerundivum, Passiv) in Nebensätze; verbale Konstruktionen dominieren, wie folgende Beispiele verdeutlichen: (5) (I, XXII) hoste vicino - quanti li aversaire sont pres (F 1284) quant li aversaire est voisins (F ca. 1320) especialement quant les ennemis ne sont mie loing (F 1380) si el enemigo esta çerca (SP 1454) (6) (I, XXV) absentibus adversariis - quant li anemi sont loing (F 1284) quant li enemi sont loing (F ca. 1320) quant les ennemis ne sont mie presens (F 1380) quando los enemigos son absentes & non presentes (SP 1454) (7) (I, XXII) facienda sunt - l'en doit [...] metre (F 1284) l'en doit fere [...] (F ca. 1320) [...] doivent estre establies (F 1380) se deve asentar (SP ca. 1430) se deve asentar (SP 1454) (8) (I, XXII) munienda sunt castra - doivent estre garnies les herberges (F 1284) doivent estre li espace des herberges (F ca. 1320) doit l'en establir ses chasteaux ou ses tentes (F 1380) Item: se deue guardar [...] (SP ca. 1430) la hueste es de basteçer & de aperçebir en su asentamiento (SP 1454) (9) (ib.) considerandum - doit l'en garder que [...] (F 1284) [se doit en garder que] et que (F ca. 1320) et doit l'en considerer que (F 1380) Otrosi es de tener mientes que (SP 1454) Dies hat auch Einfluss auf die Thema-Rhema-Gliederung der volkssprachlichen Texte: Alle Texte weisen Regelmäßigkeiten in der Textstruktur auf, wenn auch durch im Einzelnen unterschiedliche Mittel. Während dies in den französischen Texten ausschließlich durch rekurren- Claudia Polzin-Haumann 42 tes l'en doit + Inf. oder modalisiertes Passiv erreicht wird, greift der spanische Text von 1454 zusätzlich auf eine schon in alfonsinischen Fachtexten belegte (und auf Modelle der mittellateinischen Urkundensprache zurückgehende) stark formalisierte Struktur zurück: „otrosi es de“. Hier werden offenbar bereits bestehende Vertextungsmuster aufgegriffen und weitergeführt. Ebenfalls in der spanischen Übersetzung belegt sind auch von Gaudino Fallegger/ Winkelmann (1999, 2534) erwähnte „Lateineinschübe“ wie item. Die folgende Tabelle bietet einen Überblick über die Ergebnisse zur Morphosyntax: L (4. Jh.) F 1284 F ca. 1320 F ca. 1380 SP ca. 1430 SP 1454 abl. absol. Nebensatz --- Nebensatz --- Nebensatz --- --- Nebensatz --- Gerundivum l'en doit + Inf.; modalisiertes Passiv l'en doit + Inf.; être als Vollverb modalisiertes Passiv; l'en doit + Inf. unpers. Reflexiv unpers. Reflexiv Passiv Aktiv Passiv Aktiv Aktiv Imperativ es menester que Tabelle 2: Morphosyntax Stellt man diesen Ergebnissen nun stichprobenartig deutlich spätere Übersetzungen (F 1779, F 1859) gegenüber, bietet sich ein ganz anderes Bild: Der französische Wortschatz erscheint durchgehend latinisiert: camp steht ohne Palatalisierung im Anlaut, es erscheinen Fachtermini wie cavalerie/ infanterie statt paraphrasierender Umschreibungen sowie gelehrte Lexeme wie fortification. Ein ausdifferenziertes Wortfeld mit armée, soldat, conscrit, hérault, centurie/ centurions (letztere ohne Erklärungen; cf. dagegen Bsp. 2) ist erkennbar; die Textstruktur ist formalisierter. Auffällig sind diesbezüglich v. a. der Gebrauch des Futurs (p. ex. on évitera, on emminera u. a. m.) und die Verwendung nominaler statt verbaler Strukturen (p. ex. en l'absence de l'ennemi statt quant li anemi sont loing; dans le voisinage de l'ennemi). Vergleicht man allerdings die beiden französischen Übersetzungen von 1779 und 1859, bietet sich hier kein einheitliches Bild. Insgesamt kann aber der Text von 1859 als deutlich latinisierter (cf. p. ex. auch la salubrité de l'endroit gegenüber l'air soit sain; I, XXII) und nominaler charakterisiert werden. Ein ähnliches Ergebnis ergibt sich für das Spanische (SP 1764): campamento ersetzt diphthongiertes asentamiento; campo ist fest eingeführt (San Cristóbal 1454 hatte die Übersetzung dieses Lexems vermieden und Wissenschaftssprachen in Frankreich und Spanien 43 stattdessen mit metonymisch gebrauchtem hueste aktivische Formulierungen gewählt); caballería/ infantería stehen an Stelle der Umschreibungen mit los de; statt verbalen Formulierungen wie otrosi la hueste es de basteçer & de aperçebir en su asentamiento ermittelt man nominale Formulierungen wie la extensión del campo. Geblieben sind die unpersönlichen Reflexiva (se debe + Inf.) und - ebenso wie im Französischen - das modalisierte Passiv (debe ser/ doit être + Part.). Auch hier sollen die Ergebnisse zur besseren Übersicht tabellarisch dargestellt werden: L (4. Jh.) F 1779 F 1859 Sp 1764 castra un camp un camp los campamentos el campo hostis l'ennemi l'ennemi el enemigo adversarius l'ennemi l'ennemi el enemigo miles les troupes chevaliers los soldados eques la Cavalerie la cavalerie la caballería pedes l'Infanterie l'infanterie la infantería centurio les Centurions les centurions los centuriones praeco un Crieur le hérault d'armes (echar un bando) tiro le nouveau soldat le conscrit los reclutas exercitus l'armée l'armée el ejército acies bataille bataille (al frente) impedimentum bagages bagages los equipajes Tabelle 1a: Lexik L (4. Jh.) F 1779 F 1859 Sp 1764 abl. absol. Nebensatz --- Nebensatz; Nominalkonstruktion Nebensatz --- Gerundivum on doit + Inf.; il faut + Inf.; modalisiertes Passiv; unpersönl. Futur; Aussage (+ Vorfeld- Verschiebung) modalisiertes Passiv; Nominalkonstruktion; unpersönl. Futur 2. Pers. Pl.; unpersönl. Futur; Nominalkonstruktion + Passiv Passiv Aktiv il faut + Inf.; Aktiv Passiv unpersönl. Futur; Nominalkonstruktion Tabelle 2a: Morphosyntax Diese Befunde deuten darauf hin, dass zumindest für den hier untersuchten Bereich in der Frühphase der fachsprachlichen Kommunikation grund- Claudia Polzin-Haumann 44 sätzlich sowohl im Französischen als auch im Spanischen genuin einzelsprachliche Lösungen für die Wissenskommunikation geschaffen wurden. Möglicherweise zeigen die später angefertigten Übersetzungen das Ergebnis der Pflege einer lateinisch-griechischen Sprachkultur in der Renaissance. Durch die zunehmende Rezeption antiker Fachtexte - teils sekundär vermittelt über die arabische Kultur - wird die Entfernung vom Latein wieder deutlich verringert. Die Übersetzungen des 18. und 19. Jahrhunderts sind sowohl auf lexikalischer als auch auf morphosyntaktischer Ebene viel lateinischer; die beiden Sprachen Französisch und Spanisch rücken gewissermaßen wieder näher zusammen (cf. Schmitt 2005). Übersetzung aus dem Latein, so ist zu schließen, bedeutet also nicht notwendig Latinisierung. Die Wiederentdeckung und Neu-Erschließung antiken Fachwissens geht zunächst einher mit einer volkssprachlich geprägten Vermittlung und - im Spanischen - mit dem Rückgriff auf bereits etablierte volkssprachliche Muster; erst später sind (re)latinisierende Tendenzen erkennbar. Manchmal wählen die Übersetzer auch latinisierende Konstruktionen, wo im Original gar keine stehen; cf. (10) post hoc (I, XXV) - l'ouvrage fini (F 1779) ensuite (F 1859) después de concluidos los trabajos (SP 1764) Insgesamt zeigen die exemplarischen Analysen damit unterschiedliche Stadien, denen je spezifische einzelsprachliche Ausprägungen entsprechen. Auf dieser Grundlage kann eine weiterführende Textanalyse, die neben einer höheren Anzahl von Übersetzungen gerade aus der Zeitspanne zwischen den beiden hier gewählten Zeiträumen auch die vertikale Schichtung einbezieht - schließlich entstanden neben den volkssprachlichen Übersetzungen auch Kommentare und Zusammenfassungen, so dass ein komplexes Gefüge von Texten unterschiedlichster Stufen vorliegt - nun dazu beitragen, diese Ergebnisse zu akzentuieren. 4. Fazit und Ausblick Die Analysen unterstreichen zum einen, dass die dichotomische Gegenüberstellung von Latein einerseits und Volkssprachen andererseits in dieser Schärfe nicht immer berechtigt ist. Deutlich wurde, dass durchaus auch volkssprachliche Traditionen bestanden, die sich ggf. mit auf die Volkssprache übertragenen Traditionen vermischten. Angemessener wäre Wissenschaftssprachen in Frankreich und Spanien 45 es sicher, im Plural von lateinischen Traditionen und volkssprachlichen Traditionen zu sprechen. Damit spiegelt die übersetzerische Praxis in gewisser Weise die kontroversen metasprachlichen Diskussionen um das Für und Wider des Lateins und um Berechtigung der Volkssprachen im Wissenschaftsbereich wider. Deutlich wurde ebenso, dass die Texte im Grunde nie ein einheitliches Bild bieten. Es ist für die hier herangezogenen Übersetzungen in keinem Fall möglich, ein Merkmal oder eine Strategie durchgehend zu belegen; vielmehr lassen sich immer nur Tendenzen feststellen. Wissenstransfer und seine sprachlich-kommunikativen Dimensionen bieten für die romanische Sprachwissenschaft eine Fülle von Untersuchungsmöglichkeiten, sei es, wie hier ausschnitthaft gezeigt, in der historisch ausgerichteten Fachsprachenforschung, sei es im Kontext der für das heutige Französisch und Spanisch charakteristischen sprachpolitischen und sprachnormativen Debatten, die im Zusammenhang mit dem Einfluss des Englischen in der Wissenschaftskommunikation geführt werden. In diesen schnell polemischen und bisweilen auch emotionalen Debatten um das Englische als Sprache der Wissenschaften, das nicht nur in der Romania als Bedrohung für die Nationalsprachen empfunden wird 9 , zeigt sich ebenso der Zusammenhang von Wissenschaftskommunikation und gesellschaftlichen Entwicklungen wie in den in der Renaissance belegten Diskussionen um den Latinisierungsgrad volkssprachlicher Texte oder den Überlegungen zum Für und Wider des Gebrauchs von Französisch und Spanisch in fachlichen Zusammenhängen. Beide Fragenkomplexe sind einerseits für sich zu untersuchen, doch liegt es andererseits im übergreifenden Untersuchungsrahmen des Zusammenhangs von Wissenstransfer und Sprachtransfer nahe, auch - freilich mit der gebotenen Vorsicht vor zu vereinfachenden Vergleichen - die Frage nach möglichen Gemeinsamkeiten zu stellen, die diesen Prozessen epochenübergreifend eigen sind. Betrachtet man etwa die Empfehlungen spanischer Institutionen wie Fundéu zum Umgang mit englischem Wortmaterial, fällt auf, dass hier Transferprozesse nahegelegt werden, die aus der Frühphase der Übersetzung der volkssprachlichen Wissenschaftssprache durchaus bekannt vorkommen. So ist in der Rubrik Recomendaciones von Fundéu bezüglich des wirtschaftssprachlichen Terminus Profit warning zu lesen: 9 Cf. für das Deutsche p. ex. Kalverkämper/ Weinrich (1986), Zabel (2005), DAAD (2007); für das Französische etwa Chambrun (1981), Lapointe (1983), Pajaud/ Gablot (1985) oder Étiemble (1996). Claudia Polzin-Haumann 46 [...] la Fundéu BBVA aconseja que no se olvide nunca aclarar qué es un profit warning y que cuando haya que mencionarlos más de una vez se prefiera su traducción: revisiones a la baja, reducción de la previsión de resultados o rebaja de la previsión de beneficios (26.2.08; Fundación Español Urgente). Nicht der englische Terminus sei zu übernehmen; vielmehr soll ein ‚eigenes‘ sprachliches Äquivalent geschaffen werden. Wenn das nicht möglich sei, solle der ‚fremde‘ Terminus zumindest erklärt werden. Nicht anders sind im Grunde auch die Übersetzer im Prozess des Volgarizzamento verfahren. Die romanistische Linguistik kann als Philologie wie keine andere auf mehrere Jahrhunderte gut dokumentierte Sprachgeschichte zurückgreifen; zunehmend liegt das sprachliche Material (historisches wie aktuelles) auch in Form digitaler Korpora vor. Die Herausforderung besteht darin, auf dieser Grundlage einen sachlichen Beitrag in der scharfen Kontroverse um Wissenschaften und ihre Sprache zu leisten. Bibliographie Korpus Anónimo, Libro de la Guerra, ca. 1430 (CORDE, http: / / corpus.rae.es/ cordenet.html). 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Einleitung In der romanischen Sprachforschung hat Schmitt (2004) auf das Phänomen der Konvergenz der europäischen Sprachen aufmerksam gemacht. Hierbei handelt es sich hauptsächlich um Relatinisierungen, insbesondere im Bereich der Wissenschafts- und der Fachsprache. Schmitt (ib., 54) geht darüber hinaus auf den Umstand ein, dass die Verteilungssprache auch eine romanische sein kann. Albrecht (1995 und ausführlicher 2007) unterstreicht auf der Basis der Übersetzungen von Werken aus der klassischen Antike die entscheidende Rolle der frühen Übersetzertätigkeit für die Herausbildung der romanischen Sprachen. Als Belege hierfür werden hauptsächlich literarische Übersetzungen angeführt. Im vorliegenden Beitrag steht allerdings die seltener gestellte Frage im Mittelpunkt, welche Rolle im komplexen Phänomen der allmählichen Entwicklung von Fach- und Wissenschaftssprachen die Übersetzungen, in unserem Falle aus dem Romanischen, gespielt haben bzw. ob in diesen Übersetzungen Prozesse der Herausbildung von Fachsprachen sichtbar werden. Eine solche Frage lässt sich naturgemäß nur dann wenigstens in Ansätzen beantworten, wenn man über entsprechende Korpora verfügt. Zur Bildung solcher Textsammlungen kann u. a. die Saarbrücker Übersetzungsbibliographie (SÜB) beitragen, die im Folgenden näher vorgestellt wird. Die Daten dieser an der Universität des Saarlandes entwickelten Online-Bibliographie, die Translate nicht-literarischer Texte aus dem Romanischen ins Deutsche seit dem 15. Jh. sammelt, liefern erste Anhaltspunkte zur Identifikation thematischer Verteilungszentren bei der Translation aus den romanischen Sprachen. Es soll daher nach der näheren Beschreibung der SÜB der Versuch unternommen werden, die gestellten Fragen nach der Rolle der Übersetzungen bei der Herausbildung wissenschaftlicher Termini und Textualität exemplarisch zu beantworten. Vahram Atayan/ Alberto Gil 54 2. Zur Saarbrücker Übersetzungsbibliographie Im Rahmen des DFG-geförderten Projekts SÜB wurden im Zeitraum 2005-2009 am Lehrstuhl für Romanische Übersetzungswissenschaft der Universität des Saarlandes in Zusammenarbeit mit dem Ibero-Amerikanischen Institut PK, Berlin, der Universitäts- und Landesbibliothek Bonn, Prof. Dr. Hans-Jürgen Lüsebrink und Prof. Dr. Rolf Reichardt Übersetzungen nicht-fiktionaler, i. w. S. monographischer (außerhalb der Periodika 1 erschienene) Texte aus vier romanischen Sprachen (Französisch, Italienisch, z. T. Portugiesisch, Spanisch) ins Deutsche aus dem Zeitraum 1450-1912 (Französisch bis 1850) bibliographiert. Neben den üblichen bibliographischen Angaben - Titel, Untertitel, Autor, Übersetzer, Erscheinungsjahr und -ort, Verleger, Originalsprache, ggf. Brückensprache sowie Ausgabe - wurden die erfassten Werke nach der deutschen Version der Dewey-Dezimalklassifikation (DDC) unter Berücksichtigung der ersten drei Hierarchieebenen klassifiziert. Die gesammelten Daten sind in einer online zugänglichen elektronischen Datenbank mit entsprechenden Recherchemöglichkeiten gespeichert. Die Vorteile dieser Herangehensweise bestehen zum einen darin, dass die deutlich verbesserten Recherchemöglichkeiten in den Onlinekatalogen größerer Bibliotheken und Bibliotheksverbünde sowie der Rückgriff auf Vorgängerbibliographien (wie Fromm 1950-1953 und Hausmann/ Kapp 2005) eine grundsätzlich vollständigere Erfassung erlauben, zumal die Informationen besagter Datenquelle als Ausgangspunkt für weitere Recherchen genutzt werden können. Zum anderen ermöglicht die gemeinsame Erfassung der bibliographischen Angaben mit einer einheitlichen thematischen Klassifikation eine bessere Vergleichbarkeit bei der Gegenüberstellung der translatorischen Aktivität in unterschiedlichen Zeiträumen bei verschiedenen Ausgangssprachen, woraus auch tendenzielle Rückschlüsse bezüglich der Rolle der Übersetzungen in den Kulturtransfererscheinungen und der Wissensübertragung zwischen dem romanophonen und germanophonen Raum gezogen werden können. Im Laufe des Projekts wurden Daten zu etwa 7500 Übersetzungen erfasst, darunter 4900 Übersetzungen aus dem Französischen, 2000 Übersetzungen aus dem Italienischen und 470 Übersetzungen aus dem Spanischen. Aufgrund des sehr hohen Aufkommens bei den Übersetzungen aus dem Französischen und Italienischen bildeten diese Sprachen den Sam- 1 Zur Bedeutung der Periodika bei der Verbreitung der Übersetzungen aus dem Französischen im Zeitraum 1770-1815 cf. Lüsebrink/ Nohr/ Reichardt (1997, 35). Übersetzungen wissenschaftlicher Texte 55 melschwerpunkt des Projekts, so dass ein relativ hoher Anteil nicht erfasster Übersetzungen aus dem Spanischen und v. a. Portugiesischen zu vermuten ist. Darüber hinaus wurden über 2000 monographische nichtfiktionale Übersetzungen aus der Französisch-deutschen Übersetzungsbibliothek 1770-1815 von Lüsebrink/ Nohr/ Reichardt 2 übernommen. Der Gesamtbestand der Französisch-deutschen Übersetzungsbibliothek 1770- 1815 wurde im Rahmen des Projekts ebenfalls online verfügbar gemacht 3 . Im Laufe der Erfassung wurde auch festgestellt, dass die Ermittlung der Originale einiger Übersetzungen mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden ist, so dass z. Z. 510 Übersetzungen aus dem Französischen, 416 Übersetzungen aus dem Italienischen und 170 Übersetzungen aus dem Spanischen keinem Ausgangstext zugeordnet sind. Der relativ hohe Anteil der Übersetzungen ohne ein identifiziertes Original bei den letzten beiden Sprachen im Vergleich zum Französischen hängt damit zusammen, dass in den früheren Zeiträumen (etwa 1450-1700), aus denen die meisten Übersetzungen mit nicht-identifizierbaren Originalen stammen, der Anteil der Translate aus dem Italienischen und Spanischen deutlich höher lag als nach dem 17. Jh. Unter Berücksichtigung der Daten der SÜB (einschließlich der Informationen der Französisch-deutschen Übersetzungsbibliothek 1770-1815 von Lüsebrink/ Nohr/ Reichardt) ergibt sich für die beiden stark vertretenen Ausgangssprachen die folgende Frequenzverteilung über die Zeit 4 : 1550- 1610 1611- 1660 1661- 1715 1716- 1788 1789- 1815 1816- 1848 Französisch 217 199 448 3179 2787 1345 Italienisch 191 218 282 377 159 177 Anhand dieser Daten ist leicht zu erkennen, dass bis zum 18. Jh. die Rolle des Französischen und des Italienischen als Ausgangssprachen in etwa vergleichbar war, während sich danach eine explosionsartige Entwicklung beim Französischen und eine Stagnation bei den Übersetzungen aus dem Italienischen beobachten lässt. Dies dürfte mit den historischen Prozessen auf dem europäischen Kontinent im Zusammenhang stehen; politischer, wirtschaftlicher und kultureller Bedeutungsgewinn oder -verlust scheint sich mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung auch auf die 2 Cf. Lüsebrink/ Nohr/ Reichardt (1997). 3 http: / / fr46.uni-saarland.de/ sueb/ new/ lidos/ index.html 4 Die Zeitabschnitte entsprechen in etwa relevanten Perioden der französischen Geschichte. Vahram Atayan/ Alberto Gil 56 Translationstätigkeit auszuwirken. Die auffällig langsame Entwicklung der Übersetzungszahlen beim Italienischen ist im Übrigen auch an den Daten der Bibliographie von Hausmann/ Kapp abzulesen. Die nachfolgende Tabelle belegt diesen Sachverhalt: Abgesehen von höheren Erfassungszahlen, die auf die bereits erwähnte bessere Quellenlage zurückzuführen sind, spiegelt die SÜB dieselben Entwicklungstendenzen bei der Anzahl der Translate aus dem Italienischen pro Jahr wieder wie die Daten von Hausmann/ Kapp (2005): Vor 1600 1601- 1700 1701- 1730 1731- 1800 1801- 1870 1871- 1912 Hausmann/ Kapp 0,70 1,75 1,83 2,37 2,14 4,75 SÜB 2,29 4,79 4,36 6,14 5,00 8,55 Die einzelsprachenbezogenen Makrozusammenhänge zwischen der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedeutung eines Sprachraums und der Anzahl der Übersetzungen ins Deutsche lassen sich durch weitere Einzelbeobachtungen bestätigen. Anhand der folgenden Tabelle kann die thematisch nach vier Großbereichen aufgeschlüsselte Entwicklung der Übersetzungen aus dem Italienischen nachvollzogen werden: 1550-1700 1701-1780 1781-1830 Naturwissenschaften/ Technik 68 35 100 Sozial- und Geisteswissenschaften 113 61 50 Religion 234 164 40 Geschichte/ politische Aktualität/ Geographie 180 80 90 Auffällig ist an diesen Daten der bis zum Ende des 18. Jh. relativ hoch bleibende Anteil der Übersetzungen aus dem Bereich Religion, in dem Italien naturgemäß selbst bei einem weitgehenden politischen Bedeutungsverlust weiterhin eine Rolle spielte. Die Bedeutung der Thematik Geschichte/ politische Aktualität/ Geographie wird neben den Berichten über die politischen Geschehnisse in Italien unter anderem durch die Reise- und Missionstätigkeit 5 und die bis in das 17. Jh. hinein immer noch spürbare politische und ökonomische Präsenz Venedigs und Genuas im 5 Cf. z. B. „Lettera annua del Giappone dell'anno 1624. Al molto Reuerendo Padre Mutio Vitelleschi Generale della Compagnia di Giesu“ (1628), Übersetzung: „Relation-Schreiben auß Japon vom MDCXXIV. Jahr an den hochehrwürdigen Herren P. Mutium Vitelleschi der Societet Jesu Generalen ... darinnen zufinden, was blutige grausame Verfolgungen wider die Christen in denselben Landen ergangen ...“ (Dillingen, 1628). Übersetzungen wissenschaftlicher Texte 57 Orient 6 gestützt. Nach der französischen Revolution und in der Zeit der napoleonischen Kriege scheint sich ein gestiegenes geschichtliches und geographisches Interesse an der italienischen Halbinsel abzuzeichnen 7 , zu dem in der italienischen Sprache verfasste Reiseberichte und Biographien hinzukommen 8 , während die allgemeine Beschleunigung der Entwicklung der Naturwissenschaften diese zum wichtigsten thematischen Bereich macht. Ebenso lassen sich auch die Zahlen der Übersetzungen aus dem Französischen zumindest in den wichtigsten Tendenzen durch den historischen und kulturellen Kontext erklären: 1550-1700 1701-1780 1781-1830 Naturwissenschaften/ Technik 60 440 980 Sozial- und Geisteswissenschaften 75 560 700 Religion 235 586 570 Geschichte/ politische Aktualität/ Geographie 390 583 1550 Während die Thematik Religion bis zum Ende des 18. Jh. eine bedeutende Rolle spielt, bleibt der politische Bereich stets dominant. Aber auch hier sind bestimmte Nuancen zu erkennen: So ist diese Dominanz in den Zeiten besonders ausgeprägt, in denen Frankreich viele innen- oder außenpolitische ‚Nachrichten‘ geliefert hat, nämlich während der Religionskriege 9 und des gesamten 17. Jh. aufgrund zahlreicher europäischer Kon- 6 Cf. z. B. „Copia de vna littera da Constantinopoli, per la quale s'ha aduiso della grande occisione delli suoi sacerdoti, & Dottori della legge divina, per havere quelli constantemente confessato, & dotto con ragioni che la legge, & fede Christiana e vera, e la Maometica falsa“ (1539), Übersetzung: „Abschrifft eines brieffs, von Constantinopel, ausz wellichem man zuuernemen hat, welcher gestalt der Groß Türck, seine Priester vnd Doctores hat lassen vmbbringen, auß vrsachen, das sie bestendiger weyß bekant, vnd mit vrsachen bekrefftiget haben, Das Christliche Gesetz vnd Glaube warhafftig, Das Machometisch aber falsch sey, Vnd was für grosse zeychen erschynen sein in den selbigen Stellen, des geübten Todtschlags“ (Nürnberg, 1539). 7 Cf. z. B. „Relazione delle circonstanze relative agli avvenimenti politici e militari in Napoli nel 1820, e nel 1821“ (1822), Übersetzung: „Darstellung der politischen und militärischen Ereignisse in Neapel in den Jahren 1820 und 1821. Ein Sendschreiben an S.M. den König Beider-Sicilien […]“ (Ilmenau, 1822). 8 Cf. z. B. „Della origine e della patria di Cristoforo Colombo“ (Genua, 1819), Übersetzung: „Christoph Colombo und seine Entdeckungen“ (Leipzig, 1825). 9 Cf. z. B. „Les Articles presentez au Roy, par les deputez de la royne de Navarre, & de messeigneurs les Princes, ensemble la response qui y a esté faitte, avec les apostilles“ (La Rochelle, 1570), Übersetzung: „Articul Durch der Königin von Nauar- Vahram Atayan/ Alberto Gil 58 flikte unter französischer Beteiligung 10 zum einen und zur Zeit der französischen Revolution und der napoleonischen Kriege 11 zum anderen. Im insgesamt relativ ‚ruhigen‘ 18. Jh., das auch innenpolitisch durch größere Stabilität geprägt war, wird die politische Thematik von dem Bereich Religion eingeholt. Die beschleunigte Entwicklung der Wissenschaften im 18. Jh. führt außerdem dazu, dass die Übersetzungen zu diesen Themen im Vergleich zu den anderen Bereichen an Frequenz gewinnen. Eine ähnliche Sachlage stellen Lüsebrink/ Nohr/ Reichardt (1997) für den Zeitraum 1770-1815 fest. Die in der Datenbank gesammelten Daten können über die vorgestellte statistische Auswertung hinaus zur Hypothesenbildung und Analyse auch bei weiteren Fragestellungen genutzt werden. So werden in Atayan/ Gil/ Wienen (im Druck) textsortenlinguistische Fragen im historischen Kontext und einige Übersetzungsstrategien im lexikalisch-terminologischen und syntaktischen Bereich in den Translaten rhetorisch-polemischer Texte (insbesondere in gegen die Jesuiten gerichteten Pamphleten) untersucht. Makrotextuelle rhetorisch-pragmatische Verfahren der Translation werden am Beispiel der persuasiven Elemente in den Original- und Übersetzungstiteln in Atayan (2009) und Atayan (im Druck) diskutiert. Im vorliegenden Beitrag sollen nun einige übersetzungswissenschaftlich relevante Phänomene im fachsprachlichen Bereich der Theoren, vnd der Herren Printzen von Nauarren, vnnd Conde abgeordnete Räthe der Kön. Würd. in Franckreich diß 70. Jars vnderthenigst uberraicht. Sampt dero Kön. M. gegenantwort, mit angehefften kurtzen erinnerungen, warumb auff die fürrgeschlagene Artickel der frid nit eruolget ist. ... auß dem Frantzösischen ... verdeutscht“ (1570). 10 Cf. z. B. „Journal du siège de Luxembourg par l\'armée du roi de France: commandée par le Marechal de Crequi. Joint un portrait de la ville“ (1684), Übersetzung: „Beschreibung der Belägerung der Stadt Luxenburg/ Durch die Königliche Frantzösische Armee/ Unter dem Herrn Marechal von Creqvi: Darinnen ein eigentliche Erzehlung enthalten/ alles dessen/ was bey Belägerung und Ubergab dieser Stadt vorgangen; Dazu auch eine Abbildung der Stadt und dero Belägerung gefüget worden. Aus dem Frantzösischen übersetzt“ (Nürnberg, 1684). 11 Cf. z. B. „Rapport de Fouché au Roi, sur la situation de la France et sur les relations avec les armées étrangères, fait dans le conseil des ministres, le 15. août 1815, et mémoire de Fouché présenté au Roi, le 15. août 1815: suivi de la réponse au rapport de Fouché“ (1815), Übersetzung: „Berichterstattung an den König über die Lage Frankreichs und über seine Verhältnisse gegen die Heere der Alliirten, ueberreicht am 9. August von dem Minister Fouché. Mit einigen Anm. des deutschen Uebersetzers“ (1815). Übersetzungen wissenschaftlicher Texte 59 logie exemplarisch anhand von Übersetzungen aus dem Spanischen analysiert werden. 3. Ejercicio de perfeccion: ein Beispiel aus dem Bereich Theologie Wie bereits erwähnt, erlaubt die Auswertung der Daten der SÜB auch die Identifikation spezifischer thematischer Schwerpunkte bei der Übersetzung aus den romanischen Sprachen, die Indizien für mögliche Verteilungszentren liefern können. In diesem Sinne fällt u. a. die Häufigkeit der Übersetzungen mit einem Bezug zum Jesuitenorden auf. Die Translate, in deren Titel Jesuit(en) oder Societät/ Gesellschaf(f)t Jesu erwähnt werden, machen mit etwa 210 Belegen 2% der erfassten nicht-fiktionalen Übersetzungen ins Deutsche für den Zeitraum 1450-1912 aus. In der vorliegenden Studie soll diese Thematik exemplarisch anhand der Übersetzungen aus dem Spanischen diskutiert werden. Die Daten der Bibliographie beinhalten u. a. mehrere Hinweise auf das bis zum heutigen Tag einflussreiche Werk von Alonso Rodríguez Ejercicio de perfeccion y virtudes cristianas (1606, cf. Bibliographie: Quellen). Diese Abhandlung zur Ausbildung der Novizen in den jesuitischen Seminaren fand rasche Verbreitung in Europa und Amerika und wurde teilweise sogar mehrfach in die wichtigsten Sprachen übersetzt. Das Selbstverständnis des Jesuitenordens, das Bewusstsein einer universellen Sendung im Dienste des Papstes (Demoustier 2002, 3), bot einen idealen Rahmen für diese weltweite Rezeption des Werks des 1526 in Valladolid geborenen Moraltheologen. Hinzu kam die wachsende Ausbreitung des Ordens selbst: Bereits in der zweiten Hälfte des 16. Jh., also kurz nach der Gründung, verfügten die Jesuiten nach Angaben von Giard (1995, XXIss.) über 1.000 Mitglieder, ca. 100 Häuser und etwa 50 Schulen in Europa und Amerika. Was die Verteilungssprache Spanisch betrifft, ist es nahe liegend, dass durch die Entstehung des Ordens auf der Iberischen Halbinsel die Führung anfänglich in spanischen Händen lag und die Ausbreitung des Ordens mit dem ‚Export‘ spanischer Schriften und spanischer Kultur einherging (Griffin 1984, 16ss.). Wissenschaftlich einzuordnen ist die Schrift Ejercicio de perfeccion in das Fach Aszetische und Mystische Theologie. Diese Art von Literatur fand durch die Impulse des Trienter Konzils (1545-1563) im Rahmen der Gegenreformation zur Erneuerung der Ausbildung des Klerus weite Verbreitung. Hierbei spielten die Jesuiten durch Autorschaft und Übersetzungen eine herausragende Rolle (Madonia 2002, 83). Der Gegenstand des Vahram Atayan/ Alberto Gil 60 Faches ist seit dem Mittelalter das Gebiet des christlichen Vollkommenheitsstrebens; es war zunächst als Schlussteil der Moraltheologie, später als eigenständige Disziplin konzipiert (Feckes 2 1953, 2s.). Vor der translatologischen Analyse sollen zunächst die bereits vorliegenden Erkenntnisse über Übersetzung und Wissenschaftssprache, insbesondere der religiösen Sprache, zusammengestellt werden. 4. Zum Beitrag der Übersetzungen zur Bildung der Wissenschaftssprachen Bei den Untersuchungen zur Fachübersetzung wird von den fließenden Grenzen zur Gemeinsprache ausgegangen, die in der linguistischen Fachsprachenforschung bekannt sind: Pörsken (1986, 135) nennt dieses Phänomen in der Sache und in der Sprache ein ‚heterogenes Kontinuum‘. Was die Entwicklung einer wissenschaftlichen Terminologie betrifft, unterscheidet Morgenroth (1994, 7s.) eine phase inflationniste (les cas marqués) zu Beginn der fachlichen Textualität von einer phase déflationniste (les cas non marqués), nachdem sich eine routine terminologique etabliert habe. So verweist Seibicke (2003, 2381s.) auf die allmähliche Entstehung fachsprachlicher Benennungen aus der Situation heraus und auf deren durch den jeweiligen Bedarf bedingte ungesteuerte Weiterentwicklung, die er als ‚additive Wortschatzvermehrung‘ bezeichnet. Und gerade, wo Übersetzer am Werk waren, die nicht über eine ausreichende Fachausbildung verfügten, finden sich unübersetzte Vokabeln, Dubletten, Synonyme, Lehnprägungen, selbstverständlich nebst falschen Übertragungen (ib.). Neben dieser spezifischen Problematik erscheinen für die Fachübersetzungsanalysen auch die weiteren klassischen Felder der Untersuchung von Fachsprache, nämlich Terminologie, Metaphorik, wissenschaftlicher Diskurs, grammatische Muster sowie rhetorischstilistische Fragen als relevant (Reeves 2005, 3). In der theologisch-wissenschaftlichen Sprache spielen die Übersetzungen deswegen eine besondere Rolle, weil der Beginn dieser Wissenschaft mit der Übertragung lateinischer Texte und der Auseinandersetzung mit ihnen zusammenfällt. Hierbei gilt allerdings zu unterscheiden zwischen der Bibelübersetzung und der religiös-theologischen bzw. der Erbauungsliteratur im weitesten Sinne. Im ersten Falle ist bekanntlich seit Hieronymus die Tendenz verbreitet, sich streng an den Wortlaut des Originals zu halten, was zu einem eher fremdartigen Stil führt (cf. für das Romanische Rheinfelder 1933, 14). Was die religiös-theologischen Schriften Übersetzungen wissenschaftlicher Texte 61 betrifft, bei denen vornehmlich die translatorische Aktivität im Mittelalter untersucht worden ist, scheint die Lage etwas anders zu sein. So stellt Shore (1995, 2s.) eine unsystematische Vorgehensweise der Übersetzer fest, die von der wörtlichen Übertragung über die Expansion bis hin zur Adaptation sowie zu Verkürzung und Auslassung reicht. Heusinger/ Heusinger (1999, 59s.) arbeiten allerdings heraus, wie die Translation aus dem Lateinischen durch Einführung von Lehnübersetzungen für eine gewisse Systematik sorgte. Das religiöse, erbauliche und belehrende Schrifttum verdrängt im 13. Jh. allmählich die höfisch-ritterliche Literatur, was mit der Notwendigkeit einhergeht, eine neue religiöse Begriffssprache als Volkssprache bereitzustellen. Im deutschen Sprachraum heben sich hierbei insbesondere Mystiker, Prediger und Ordenslehrer hervor, etwa Meister Eckart, Berthold von Regensburg etc. (cf. Lentner 1964, 154s.). Diese Popularisierung fand bis in das 15. Jh. hinein eine starke Unterstützung durch die devotio moderna, gerade bei der wissenschaftlichen Erziehung junger Humanisten. Erasmus beispielsweise war an der Verbreitung von Gebeten, insbesondere Psalmen, in den Volkssprachen sehr interessiert, damit beim Gebet der Inhalt verstanden werden konnte (Lentner 1964, 180ss. und 204). 5. Exemplarische Analyse An dieser Stelle soll nicht die überaus komplexe Frage der translatorischen Wirkung diskutiert werden. Neuerdings hat Wurm (2008) den Versuch einer systematischen Herangehensweise unternommen und dabei die Interrelation zwischen Übersetzungswissenschaft, Sprachkontakt- und Interferenzforschung besonders hervorgehoben (cf. dazu auch Wienen 2004). Im Rahmen der vorliegenden exemplarischen Analyse der Herausbildung von Wissenschaftssprache werden zwei Ebenen unterschieden: a) die Übersetzung im Zusammenhang mit der Bildung wissenschaftlicher Termini b) die Untersuchung translatorischer Phänomene im Zusammenhang mit syntagmatischen Aspekten der Wissenschaftssprache. Vahram Atayan/ Alberto Gil 62 5.1 Übersetzung im Zusammenhang mit der Bildung wissenschaftlicher Termini Für die Analyse wurden Kernbegriffe der Aszetischen und Mystischen Theologie, namentlich Gebet, Gewissenserforschung und Opfer gewählt. Um mögliche Entwicklungstendenzen zu erkennen, wurden die Übersetzungen dieser Begriffe aus dem ausführlichen Verzeichnis der Titel und Untertitel der verschiedenen Kapitel von Original und Übersetzung aus dem Werk des Alonso Rodríguez mit den heute üblichen Bezeichnungen verglichen. Letztere stammen aus dem Standardwerk von Feckes ( 2 1953). Tendenziell lassen sich Schwankungen und Varianten erkennen, die aber bereits deutliche Kennzeichen einer terminologischen Bildung in sich tragen, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. In den tabellarischen Darstellungen wird das untersuchte Werk als Ejercicio und seine Übersetzung als Übungen (1715) abgekürzt (cf. Bibliographie: Quellen). Zum Thema ‚Gebet‘ ist festzustellen, dass im Spanischen die Dublette Oracion mental und Meditacion vorhanden war. In beiden Fällen findet sich schon in der Übersetzung von 1715 die heutige Terminologie (‚Innerliches Gebet‘ bzw. ‚Betrachtung‘). Anders liegt der Fall bei Leccion espiritual und bei der Gebetseigenschaft der Actos y afectos de la voluntad, welche zunächst eine zielsprachliche Nachbildung erfahren (‚Lesung geistlicher Bücher‘ und ‚Affecte und erregter Wille‘), die von der aktuellen wissenschaftlichen Terminologie noch weit entfernt ist (‚Geistliche Lesung‘ und ‚Affekt- und Herzensgebet‘): Ejercicio Übungen (1715) Heutige dt. Terminologie Oracion mental Innerliches Gebett Innerliches Gebet Meditacion Betrachtung Betrachtung Leccion espiritual Lesung geistlicher Bücher Geistliche Lesung Actos y afectos de la voluntad Affecte und erregter Wille Affekt- und Herzensgebet Quellen: Ejercicio I, V, VII/ VIII/ XII/ XXVIII Feckes 2 1953, 265/ 267/ 263/ 278 Bei der typisch jesuitischen Unterscheidung der ‚Gewissenserforschung‘ in a) exámen general (de la conciencia) b) exámen particular Übersetzungen wissenschaftlicher Texte 63 je nachdem, ob es um die allgemeine oder die auf eine konkrete Frage hin orientierte Erforschung des Gewissens geht, ist bei der Herausbildung eines wissenschaftlichen Terminus mittels Übersetzung eine längere Eingewöhnungszeit nicht verwunderlich, da es sich um einen neuen spanischen Import ohne allgemein bekannte lateinische Tradition handelt. Und so lässt sich zunächst eine nicht-terminologisierte Übersetzung des Exámen general de la conciencia (‚Gemeine Erforschung des Gewissens‘) sowie eine Schwankung zwischen Lehnwort (Exámen particular ‚particular Examen‘) und partiell terminologisierter Lehnübersetzung (‚particular Erforschung‘) erkennen: Ejercicio Übungen (1715) Heutige dt. Terminologie Exámen general de la conciencia Gemeine Erforschung des Gewissens Gewissenserforschung Exámen particular a) particular Examen b) particular Erforschung Partikularexamen Quellen: Ejercicio I, VII, II/ VI/ X Feckes 2 1953, 154/ 163 Anders als in der Umgangsprache ist in der Aszetischen und Mystischen Theologie für lat. mortificatio die dt. Bezeichnung ‚Abtötung‘ geläufig (cf. Feckes 2 1953,175ss.), wenn auch abwechselnd mit ‚Selbstverleugnung‘ oder ‚Selbstüberwindung‘. In der Übersetzung von 1715 findet sich für sp. mortificacion die Dublette ‚Mortification‘ und ‚Abtötung‘. Auffallend ist allerdings das Fehlen einer Entsprechung zu der sp. Paarformel mortificacion y penitencia, der eine subtile Unterscheidung zugrunde liegt und für die heute die Aktivpartizipien ‚Büßende und Sühnende‘ zu finden sind: Ejercicio Übungen (1715) Heutige dt. Terminologie Mortificacion a) Mortification b) Abtötung Abtötung Mortificacion y penitencia Büßende und Sühnende Quellen: Ejercicio II, I, IV Feckes 2 1953, 175/ 145 Vahram Atayan/ Alberto Gil 64 5.2 Untersuchung translatorischer Phänomene im Zusammenhang mit syntagmatischen Aspekten der Wissenschaftssprache Zur exemplarischen Erhellung translatorischer Phänomene dienen zwei scheinbar widersprüchliche, aber für die Fachübersetzung aufschlussreiche Begriffe: Explizitation und Grammatical metaphor. Hansen (2003, 12) erklärt Explicitation im Rahmen der angelsächsischen Tradition der translation studies als ein Universal der Übersetzung, da sich hier die Tendenz widerspiegelt, im Zieltext explizit zu machen, was im Ausgangstext der Inferenzziehung des Lesers überlassen werden kann. Kusztor/ Atayan (2003), Atayan (2007) und Atayan/ Kusztor (im Druck) schlagen eine relevanztheoretisch orientierte Interpretation des Explizitationsbegriffs vor. Ohne hier auf die Frage der Übersetzungsuniversalen und die genaue Beschaffenheit der Explizitationsprozesse eingehen zu wollen, werden im Folgenden aus dem vorliegenden Korpus einige mögliche Explizitationsbeispiele kommentiert, bei denen über diese translatorische Eigenschaft hinaus auch auf bestimmte Phänomene der Übersetzung wissenschaftlicher Sprache eingegangen wird. In (1) wird nicht nur die NP distraccion en la oracion durch die VP ‚wir im Gebett zerstrewet werden‘ explizitiert, sondern auch die Personalisierung ‚wir‘ hinzugefügt: (1) - De las causas de la distraccion en la oracion (Ejercicio I, V, XXI) - Was Ursachen wir im Gebett zerstrewet werden Diese Vereindeutigung für den Leser ist allerdings nicht ein einfacher Wechsel der Fachin die Gemeinsprache, hier werden vielmehr auch Assoziationen mit der Titelgebung einzelner Kapitel in literarischen Texten in Form indirekter Fragen erweckt. Im Sinne einer textsortengebundenen Explizitation lassen sich auch die Dubletten anführen. Albrecht (2007, 1102) sieht diese Synonymendoppelungen bei Übersetzern im Zusammenhang mit dem ornatus der Rhetorik. Sie kann aus Adjektiven (2a) oder auch Substantiven (2b) bestehen: (2a) - no aflojar en el camino de la virtud (Ejercicio I, II, VIII) - müde oder hinlässig werden (2b) - los ejercicios de la Religion (Ejercicio I, II, IX) - alle Werck und des Standes Übungen Übersetzungen wissenschaftlicher Texte 65 Hier ist anzumerken, dass diese Dublettentechnik keineswegs eine nur historisch zu betrachtende Eigenschaft übersetzter Texte ist. Auch heute steht für aflojar im Kontext ‚Lauheit‘ das Begriffspaar ‚Erschlaffung und Regungslosigkeit unseres christlichen Lebens‘ (Feckes 2 1953, 129). In (2b) wird außer der Substantivdoppelung auch das Hyperbaton ‚Standes Übungen‘ eingesetzt, wodurch die Dublette an den Spitzenpositionen des Syntagmas besser zur Wirkung kommt. Dennoch ist festzuhalten, dass diese Dublette mit der einfachen Übersetzung ejercicio ‚Übung‘ koexistiert. Was die Grammatical metaphor betrifft, sei daran erinnert, dass mit diesem von Halliday eingeführten Begriff (Steiner 2002) ein Strukturwechsel gemeint ist, der zu einer mit dem semantischen Gehalt weniger kongruenten Struktur führt (z. B. beim Übergang von einer VP zu einer NP bei der Beschreibung eines Prozesses). Teich (2003, 47s.) bringt dieses Phänomen in Zusammenhang mit der funktionalen Variation der Sprache, insbesondere bei wissenschaftlich-technischen Texten, nicht zuletzt bei der Einführung neuer Termini. Der Strukturwechsel geht meist mit einer Simplifikation einher, worin die Tendenz der Fachsprachen zur Nominalisierung ihren Niederschlag findet. In der deutschen Übersetzung des Ejercicio von 1715 lassen sich solche Simplifications relativ häufig belegen, wodurch der fachsprachliche Charakter des Textes stärker zum Ausdruck kommt: (3) - el primer día que entramos en Religion (Ejercicio I, I, XIV) - am ersten Tag seines Eintritts An dieser Stelle wird einerseits die VP que entramos en Religion durch die NP ‚seines Eintritts‘ übersetzt, andererseits, dem unpersönlicheren Charakter deutscher Fachtexte entsprechend, die 1. Person Plural durch die 3. Person Singular ersetzt (entramos vs. seines). Eine Argumenttilgung scheint bei einer grammatischen Metapher nur in Kontexten vorzukommen, in denen das Elidierte leicht ergänzbar ist: (4) - este ejercicio de andar siempre en la presencia de Dios (Ejercicio I, VI, II) - die Übung der Gegenwart Gottes Geringfügiges Weltwissen auf theologischem Gebiet genügt, um zu erkennen, dass die ‚Gegenwart Gottes‘ ein dynamischer Begriff ist, der sich auf die Handlung des Menschen erstreckt, wenn er versucht, sich seiner Beziehung zu Gott bewusst zu werden, so dass die Ergänzung der ausgelassenen Information unproblematisch erfolgen kann. Vahram Atayan/ Alberto Gil 66 6. Vorläufige Ergebnisse und Forschungsperspektiven Die vorgetragenen Gedanken hatten hauptsächlich zum Ziel, über das bibliographische Instrument der SÜB und seine Anwendungsmöglichkeiten in der translatologischen Forschung zu informieren. Was die exemplarische Analyse betrifft, werden vorläufig die bisherigen Beobachtungen über frühe Übertragungstendenzen bestätigt, wonach Systemlosigkeit das prägende Charakteristikum ist: Lehnprägungen wechseln sich mit Lehnübersetzungen bzw. Verdeutschungen ab, und eher zur Nominalisierung tendierende grammatische Metaphern koexistieren mit Explizitationen. Was die Herausbildung der Wissenschaftssprache betrifft, sind in der herangezogenen Übersetzung von 1715 noch terminologische Schwankungen und eine geringe Neigung zur Bildung von Komposita festzustellen. Perspektivisch lässt sich andeuten, dass zum Studium der Relationen zwischen Übersetzung und Bildung von Wissenschaftssprache naturgemäß größere Korpora heranzuziehen sind. Hierbei erweist es sich als hilfreich, die deutsche Übersetzung des Ejercicio mit der Übertragung dieses Werkes in andere Sprachen zu vergleichen (cf. Atayan/ Gil im Druck für das Französische). Ebenso wichtig wäre es, die ignatianischjesuitische Terminologie mit ihren scholastischen Quellen zu vergleichen, um größere Dimensionen der Entwicklung der Wissenschaftssprache in der Aszetischen und Mystischen Theologie bis zum heutigen Tag zu verfolgen. Übersetzungen wissenschaftlicher Texte 67 7. Bibliographie 7.1 Quellen Rodriguez, Alonso, Ejercicio de perfección y virtudes cristianas. Parte primera - Parte tercera, Barcelona, Librería Religiosa - Imprenta de Pablo Riera, 1861 (1606). Rodriguez, Alonso, Übungen christlicher Tugendten, und geistlicher Vollkommenheit, Cöllen, Rommerskirchen, 1715 (ebook, Reference 72665-1, Belser Wissenschaftlicher Dienst). 7.2 Sekundärliteratur Albrecht, Jörn, Bedeutung der Übersetzung für die Entwicklung der Kultursprachen, in: Harald Kittel et al. (edd.), Übersetzung, Translation, Traduction. Ein internationales Handbuch zur Übersetzungsforschung, HSK XXVI/ 2, Berlin/ New York, Walter de Gruyter, 2007, 1088-1108. 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Wurm, Andrea, Translatorische Wirkung. Ein Beitrag zum Verständnis von Übersetzungsgeschichte als Kulturgeschichte am Beispiel deutscher Übersetzungen französischer Kochbücher in der Frühen Neuzeit, Frankfurt am Main, Lang, 2008. Christian Schmitt Die lateinische Universitätstradition und die romanischen Wörterbücher: Zum Phänomen innersprachlicher Erklärung fachwissenschaftlicher Wortgebildetheit 1. Prolegomena Der Volksmund hat wohl nicht ganz Unrecht, wenn immer wieder behauptet wird, aus allem lasse sich eine Wissenschaft machen und es komme nur darauf an, die jeweilige Wissenschaft (sprachlich) auch richtig zu verkaufen. Dies ist sicher der Fall bei einer 2008 neu entstandenen Disziplin (Die Zeit n o 28, 3.VII.2008, 1 c-d), der Ochlokinetik, die sich - rechnergestützt und mit mathematischen Konzepten von hoher Komplexität arbeitend - einem vordringlichen Problem unserer Zeit, der Staubeherrschung auf den modernen Verkehrswegen widmen wird; und kaum anders stellt sich die Situation einer anderen Wissenschaft dar, deren Namen man (bisher noch) vergeblich in den Wörterbüchern suchen dürfte, die aber in der heutigen Zeit ihren Platz finden dürfte, da jamais les îles de notre littoral n'ont été si fréquentées, si convoitées. Les unes se désertifient, les autres prospèrent. Pourquoi aime-t-on les îles? Quel est le marché? De l'image d'Epinal - le paradis perdu - à la réalité, enquête et témoignages, titelt der Le Figaro Magazine (16 août 2008, 26), der für dieses Phänomen auch gleich eine neue Wissenschaft präsentiert: „‚la nissonologie‘ ou science des îles“ (28), eine Wissenschaft, die bereits im 19. Jahrhundert latent vorhanden war (Brigand 2002), aber auch im roman exotique und in Dissertationen vom Typ De maioribus oceani insulis von J. Wülfer (Nürnberg 1691) oder Exercitatio academica de insulis natantibus von J. M. Müller (Altdorf 1711) ihren frühen Ausdruck fand (Helfer ³1991, 286). Dabei fällt auf, dass der im PRob (2009) nicht verzeichnete Neologismus keine vom klassischen Griechisch stammende Lautform kennt, sondern die byzantinische und neugriechische Form [ : ] [i: ] als Grund- Christian Schmitt 72 lage ausweist, die im Französischen das Graphem <i> erforderlich macht. Der vom Soziologen Abraham Moles kreierte Terminus technicus hätte in Deutschland wohl Näsologie gelautet; es bleibt daher abzuwarten, wie die akademische Welt auf diesen Vorschlag reagiert und ob er außerhalb der Soziologie eine Akzeptanz finden kann und ob sich hier zur Konstituierung einer Wortfamilie eventuell noch *nissonologue/ *nissonologiste - je nach der normativen Konzeption (Schmitt 1996) - und das Adjektiv *nissonologique einstellen, die nicht nur erwartbar sind, sondern auch voll und ganz der romanischen akademischen Tradition entsprächen (Höfler 1972, cf. Imbroscio/ Minerva/ Oppici 2008). Was die europäischen Wissenschaftssprachen betrifft, gilt ohne Einschränkung Ciceros Maxime, dass novae res stets nach nomina bzw. verba nova verlangen (orat. 211/ ac. 1, 25/ fin. 3, 3/ nat. deor. 1, 44) und es daher auch völlig legitim ist, die Bildungsmechanismen der lateinischen Sprache zu instrumentalisieren (Neuhausen 2004/ 05): Wie bei der Aufforstung der lateinischen Fachsprache der Philosophie zu Ciceros Zeiten war auch in der Folge die Sprache Roms nie eine tote Sprache, und dies sowohl in den Bereichen, die zu den facultates superiores der Medizin, des Rechts und vor allem der Theologie zählen (Gerner 2006, 1224s.), als auch in den traditionellen, vor allem mit Alcuin und der Karolingischen Renaissance verbundenen, als zentral- und westeuropäisch zu verstehenden artes liberales, wie Neuhausen ausführt, da [Sprachlehren nach dem Analogieprinzip die neuen Wortbildungsregeln übertrugen] und diese Methode der Reihe nach auf alle Fachgebiete anwandten: zuerst auf die traditionellen artes liberales (mit dem Trivium Grammatik, Rhetorik, Dialektik und dem Quadrivium Arithmetik, Musik, Geometrie, Astronomie), sodann die artes mechanicae (Handwerk, Kriegswesen, Erdkunde/ Seefahrt/ Handel, Landbau/ Haushalt, Heilkunde, Hofkünste usw.), sowie die artes occultae (Magie, Mantik u. a.) und endlich auf alle wissenschaftlichen Bereiche, die den Fakultäten jeder Universität der Neuzeit jeweils zugeordnet sind, so dass es ‚bisher nichts gibt, was in lateinischer Sprache nicht ausgedrückt wurde oder werden könnte‘ (nihil adhunc esse, quod Latine non sit expressum aut exprimi nequeat) (2001, 929). Dieser Umstand hat dazu beigetragen, dass heute noch für alle Wissenschaftssprachen das Latein die Basis für die Lexik und die Wortbildungslehre abgibt und - zusammen mit dem vom Latein inkorporierten Griechisch - als die treibende Kraft für die Relatinisierung der romanischen Sprachen (Schmitt ²2000/ Schmitt2004/ Gougenheim 1959) als auch die Europäisierung der in Mittel- und Westeuropa beheimateten Sprachen Lateinische Universitätstradition und romanische Wörterbücher 73 (Schmitt ² 2000/ Raible 1996) anzusehen ist (Wolff 1971, 197ss./ Schmitt 1992). 2. Zur Erforschung des Einflusses des Mittel- und Neulateins auf die Sprachen Europas Eine Überschlagsrechnung hat ergeben, dass z. B. der Petit Robert (PRob 2009) heute nicht weniger als 70% seines Wortschatzes der gelehrten lateinisch-griechischen Tradition verdankt, oder anders ausgedrückt: Der ererbte Wortschatz des Französischen (Stefenelli 1981, 206ss.) erreicht nicht einmal ein Drittel des bildungssprachlichen Wortschatzes, wie auch das lateinische Kultursuperstrat allgemein durch die hohe Zahl der mots savants und nicht lautgerecht entwickelten Quereinsteiger heute generell die Entwicklung der romanischen Sprachen bestimmt (Stefenelli 1992, 199ss.). Für die übrigen heutigen romanischen Nationalsprachen wie z. B. das Italienische, Spanische, Portugiesische oder Rumänische (Reinheimer Rîpeanu 2004, Reinheimer Rîpeanu/ Balacciu Matei 2004) dürfte sich grosso modo die Situation kaum anders darstellen als für das zeitgenössische Französisch (Müller 1985, 53ss.), so dass man mit guten Argumenten behaupten kann, in der societas agrammatos (in: Vitr. 1, 1, 13) habe der nicht-muttersprachliche über die Bildungsinstitutionen erfolgte Spracherwerb bisher unbekannte, ja ungeahnte Dimensionen eingenommen. Das Phänomen wurde bisher leider nur ganz marginal untersucht, da die historische Wortforschung in der Nachfolge eines Friedrich Diez oder Wilhelm Meyer-Lübke zu einseitig den ererbten Wortschatz historisch analysiert hat und beim Kulturwortschatz, bei dem es - abgesehen von wenigen Ausnahmen - keinen etymologischen Blumenstrauß zu gewinnen gibt, berechtigt zu sein glaubte, diesen vernachlässigen zu dürfen, was sie dann auch in einem als sträflich zu bewertenden Umfang getan hat. Ist eine Radix ins REW oder FEW eingetragen, kommt dies einer Versetzung in den Adelsstand gleich, da von einer vulgärlateinisch-romanischen Filiation auszugehen ist. Die Latinismen oder Gräzismen ohne volkssprachliche Lautentwicklung fehlen hingegen im REW und sind selbst im FEW auf das unverzichtbare Minimum reduziert, wie dies z. B. das Etymon NATURA zeigt; und auch von der bestimmenden Einführung in die Romanische Philologie mit großer Offenheit dargelegt wurde: Die Aufgabe der romanischen Sprachwissenschaft besteht darin, die Veränderungen des romanischen Sprachstoffes von seinen ersten Anfängen, d. h. also Christian Schmitt 74 von der überlieferten Form des Lateinischen an bis auf die Gegenwart hinunter zu verfolgen, diese Veränderungen zu verzeichnen, sie zeitlich und räumlich abzugrenzen, ihr Wesen und die sie hervorrufenden Kräfte zu ergründen, die Ergebnisse der Veränderungen in einem bestimmten Zeitpunkte zu beschreiben (Meyer-Lübke 2 1909, 599). Die romanische Wortforschung geht immer noch von der Existenz von Klassen im Wortschatz aus: Die erste Klasse bilden dabei die Erbwörter; sie besitzen in der Romania ein Recht auf Heimat, sind legitime Familienmitglieder. Die zweite Klasse rekrutiert sich aus dem nicht integrierten Wortschatz; sie gehören nicht zum historisch-romanischen Bestand, ihre Einschätzung erhellt aus einer m. E. obsoleten Bezeichnung, denn durch die Bewertung als Fremdwörter wird ihnen das Heimatrecht abgesprochen. 3. Zur Filiation des Bildungswortschatzes Es steht außer Frage, dass die eng mit der Reaktivierung des primär hellenistischen, dann aber durch direkte Aneignung zu römischem, in lateinischer Sprache abgefasstem Wissen gewordenen Bildungsguts verbundene Bildungsordnung die Basis der im 7.-8. Jahrhundert definierten sieben ,freien Künste‘ bildete und die drei sprachlichen Fächer (Grammatik, Rhetorik, Dialektik) und die vier mathematischen Fächer (Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie) - als Trivium und Quadrivium (Schmitt 1992, 319) bekannt - über die mittelalterliche Lateinschule zu den sog. ,Artistenfakultäten‘ der ab dem 12. Jahrhundert gegründeten Universitäten geführt haben (Fuhrmann 2001, 16ss.). Dort waren das Studium generale, die Jurisprudenz, die Medizin und die universitas litterarum bis zur Renaissance nur über das Latein erwerbbar, der Fortschritt des Wissens erfolgte ebenfalls über das Latein, das für alle Disziplinen die Fachsprachen lieferte und vor allem zur Zeit der Scholastik die entsprechenden Fachterminologien entsprechend den Bildungsmechanismen der lateinischen Wissenschaftssprache(n) systematisch ausbaute; dabei spielte natürlich auch die Tatsache eine besondere Rolle, dass Latein das Medium der wichtigsten der drei ursprünglichen Fakultäten, der Theologie, war und auch für die medizinische und die juristische Fakultät unverzichtbar schien (Wolff 1971, 57ss.). Diese neuen Funktionen des Lateins mussten natürlich auch sprachliche Folgen mit sich bringen, und in der Tat zeigt sich das Mittellatein, wie wir den grundlegenden Studien von Stotz verdanken (1996-2004), als Lateinische Universitätstradition und romanische Wörterbücher 75 spezifische sprachliche Epoche und die Zweisprachigkeit von Klerikern und Wissenschaftlern hat, wie man der grundlegenden Studie von Rheinfelder entnehmen kann, zu einer dauernden wechselseitigen Durchdringung von Kult- und Profansprache in der Romania, insbesondere dem Orbis catholicus, geführt (1933). Ohne inhaltlich auf die Sprachentwicklung einzugehen, liefert Fuhrmann für das Hochmittelalter die folgende Beschreibung: Der Wissenschaftsbetrieb der Scholastik hat in der lateinischen Sprache tiefe Spuren hinterlassen. Die Theologie und die übrigen Disziplinen des Hoch- und Spätmittelalters sind Urheber eines dritten und letzten Stratums von hervorstechenden Besonderheiten geworden: nach der klassischen Latinität (späte Republik, frühe Kaiserzeit) und der Latinität der Kirchenväter (Spätantike). Die Humanisten versuchten, rückgängig zu machen, was die Scholastik bewirkt hatte, indem sie den Sprachgebrauch der Klassiker, insbesondere Ciceros, zur alleinigen Norm erhoben; dies gelang indes nur zu Teilen, und zumal im Bereich der Wissenschaften blieb vieles von der mittelalterlichen Ausdrucksweise lebendig, solange überhaupt noch lateinisch geschrieben wurde (2001, 19). Dabei ist m. E. typisch für den - leider noch immer dominierenden - Mainstream, dass auch hier die Epochengliederung des Lateins vom ‚Stratum‘ der Scholastik begrenzt wird und dass zum einen die besondere Stellung des Humanismus und des Barock mit den Präzeptoren Erasmus resp. Comenius keine Erwähnung findet und dass das Neulatein (Neuhausen 2001) völlig übergangen wird, obwohl gerade diese Sprachepoche die heutige Entwicklung bestimmt. Man kann zwar Fuhrmann zustimmen, wenn er die Sonderstellung der Scholastik mit folgenden Worten charakterisiert: Das Streben nach in sich stimmigen Systemen sowie überhaupt das dialektische Für und Wider mit all seinen Definitionen und Distinktionen erzeugte ein großes Bedürfnis nach einer möglichst mannigfaltigen und genauen Terminologie, die sich zugleich durch ein Höchstmaß an Abstraktion auszeichnete. Das scholastische Latein des Hoch- und Spätmittelalters unterscheidet sich daher von den früheren Stufen, insbesondere der ciceronischen, vor allem auf lexikalischem Gebiet; die Neubildungen sprossen und wucherten, wobei altüberkommene Suffixe wie -itas oder -ibilis in bisher unbekanntem Ausmaße verwendet wurden. Man mied Anschaulichkeit und suchte das Wesentliche und Allgemeine; in der Sprache spiegelte sich diese Einstellung durch eine möglichst abstrakte, in Nomina schwelgende Ausdrucksweise. Veritas in quodam indivisibili consistens, ‚die Wahrheit, die in etwas Unteilbarem besteht‘: Diese Formulierung (sie stammt von Nicolaus Cusanus) enthält mit Christian Schmitt 76 indivisibilis eines der von der Scholastik besonders geschätzten -ibilis- Adjektive; sie bekundet zugleich die Vorliebe für Substantivierungen (in quodam indivisibili) und für Partizipialkonstruktionen (consistens). Oder: Quidditas rerum, quae est entium veritas, in sua puritate inattingibilis est, ‚die Wesenheit der Dinge, welche die Wahrheit alles Seienden ist, ist in ihrer Reinheit unerreichbar‘. Dieser Satz, ebenfalls eine Aussage des Cusanus, führt drei Neologismen vor: das Substantiv quidditas (von quid, ‚was‘, also eigentlich ‚Washeit‘), das Partizip ens (von esse, ‚sein‘; der vormittelalterlichen Latinität unbekannt) sowie das Adjektiv inattingibilis (2001, 19). Aber ebenso wichtig für die sprachlichen Filiationen bleiben auch die übrigen chronologischen Schichten des Lateins, da ihre Werke weiterhin gelesen wurden und so auf die romanischen wie nicht-romanischen Profansprachen einwirken konnten (Schmitt 2007), wobei die Nähe der lateinischen Tochtersprachen zur lateinischen Muttersprache in der Romania in Form einer Relatinisierung wohl noch zu einer stärkeren sprachlichen Durchdringung geführt haben dürfte als etwa in der Germania oder erst recht in der peripheren Slavia, für die (mit Ausnahme Polens) in erster Linie Byzanz und nicht Rom das bestimmende Modell abgab (Keipert 1996). Für die Entwicklung der Wissenschaftssprachen der Romania sind - in unterschiedlichem Maße - alle Epochen des Lateins verantwortlich und - in einem ersten Zugriff - lässt sich dieses Verhältnis wie folgt visualisieren: Die Darstellung im Anhang zeigt, dass alle chronologischen Schichten des Lateins die west- und mitteleuropäischen Volkssprachen beeinflusst haben (können), wobei die Filiation über den direkten Kontakt oder Epochen der Rezeption erfolgt sein können. Das Modell ist aber nicht geeignet, wenn es darum geht, die Vielzahl der möglichen Filiationsmöglichkeiten aufzuzeigen, denn es ist durchaus möglich, dass eine oder mehrere Volkssprachen aus derselben Quelle geschöpft oder kreativ dieselbe neulateinische Regel angewandt haben, wie auch wahrscheinlich bleibt, dass nicht immer dieselben Anleihen an das Latein (oder Griechisch) mehrfach getätigt werden (Schmitt 2007). Dogmatisches Vorgehen führt hier nicht weiter, sondern es ist in jedem einzelnen Fall zu überprüfen, welche Filiation bei einem gegebenen Einzellexem vorliegt, und dies mit dem philologischen Rüstzeug der Junggrammatiker sowie der nachfolgenden Wissenschaftlergenerationen. Exempli gratia greife ich auf ein Beispiel zurück, das ich bereits in einem anderen Zusammenhang behandelt habe (Schmitt 2007, 28s.) und das sich zur Demonstration der gegebenen Probleme be- Lateinische Universitätstradition und romanische Wörterbücher 77 sonders eignet: den Internationalismus Gerontologie, an dem sich die wichtigsten Filiationsprobleme aufzeigen lassen. Was die Herleitung betrifft, so sind sich die heutigen Wörterbücher darin einig, dass die vierte Stufe des Modells (cf. Abbhildung im Anhang) in Frauge kommt, was nichts anderes heißt, als dass die Virtualität des Neulateins in den romanischen Sprachen zur Anwendung gekommen ist und das Französische (wie übrigens auch das Englische), das Italienische, Spanische und Portugiesische - jeweils unabhängig voneinander - diese Rekomposition geleistet haben. An eine Entlehnung aus einer der lateinischen Schichten wie aber auch an die Existenz einer Distributionssprache (z. B. Englisch) wird nicht gedacht (1), der jeweilige Kultismus gilt als gelehrte Bildung der je eigenen Nationalsprache: (1) Sprache/ Werk Belege/ Dokumentation Entstehung Französisch; PRob 2003, 1181a gérontologie, 1950, de gérontoet -logie, „Etude des phénomènes, des problèmes liés au vieillissement de l'organisme humain; étude de la vieillesse (sociologie, médicine)“; gériatrie innersprachliche Bildung (Rekomposition) Englisch: The OED , prep. by J. A. Simpson/ E. S. C Weiner, vol. VI, Oxford 2 1989, 472b gerontology < gr. geront- + -o + -logy „scientific study of old age and the process of ageing“, 1903 (see thanatology, 1954; Medical Press, 1967 (see geriatrics). Hence gerontological a., of or pertaining to gerontology; gerontologist, an expert in, or student of, gerontology. gerontology durch gerontological (1944) und gerontologist (1941) vorbereitet. innersprachliche Bildung (Rekomposition) Italienisch: Zing 2004, 778c gerontologo/ -gia, comp. di geronto e -logo/ -logia (1955) innersprachliche Bildung (Rekomposition) Spanisch: MM 2 1998, vol. II, 1392a gerontología, de gerontoy -logía. Med. Ciencia que trata de los caracteres biológicos, problemas, etc., de la vejez. geriatría. innersprachliche Bildung (Rekomposition) Portugiesisch: Machado, vol. III, 8 2003, 147b gerontologia: de geront(o) + -logia. Em 1948; Júlio Dantas, em O Primeiro de Janeiro, de 28-1-1948. innersprachliche Bildung (Rekomposition) Diese Aussagen lassen sich leicht falsifizieren, denn es ist in der Tat für diese Rekomposition ein Erstbeleg bereits bei Desiderius Erasmus nach- Christian Schmitt 78 weisbar, wo gr./ lat. / gerontologia in der Bedeutung ‚Altmännergespräch‘ nachgewiesen werden kann (ed. Welzig 1995, VI, 212ss.); eine Filiation von Erasmus‘ gerontologia zu nlat. gerontologia (Schoepffer/ us 1705; cf. auch Helfer ³1991, 234) muss deshalb ausgeschlossen werden, weil in Schoepffers Werk gerontologia in der Bedeutung ‚Alterswissenschaft‘ vorliegt. Anders ausgedrückt: Erasmus hat sich bei seiner Wortkreation der etymologischen Bedeutung der sprachlichen Zeichen bedient, während Schoepffer/ us eine Wortbildung nach neulateinischen morphologischen wie semantischen Regularitäten vorgenommen hat. Der Erstbeleg für gerontologia ‚Alterswissenschaft‘ ist damit im Neulatein des späten 17. Jahrhunderts zu suchen, wobei zahlreiche Filiationen denkbar sind (2): (2) neulat. gerontologia/ rekomponiertes gerontologia ‚Alterswissenschaft‘ und seine Rezeptionsgeschichte: 1 (Erasmus, ca. 1520; Humanistenlatein) lat. Texte der Renaissance lat. Texte der Neuzeit ‚Altmännergeschwätz‘ nlat. gerontologia 2 (Schoepffer/ us) (1705; Neulatein ‚Wissenschaft vom Alter‘) dt. Gerontologie engl. gerontology (1903) port. gerontologia fr. gérontologie it. gerontologia sp. gerontología (1948) (1950) (1955) (1950) durchgezogene Linie - gesicherte Filiation; gestrichelt Linie - ungesicherte Filiation Lateinische Universitätstradition und romanische Wörterbücher 79 Folgende Fragen müssten vor der Annahme einer wie auch immer gearteten Filiation mit guten Argumenten und gesicherten Belegen beantwortet werden: 1 o Gab es im Griechischen bis zur byzantinischen Epoche die Bildung ‚Wissenschaft vom Alter‘, die dann ins Latein übernommen werden konnte? 2 o Wurde evtl. lat. gerontologia ‚Alterswissenschaft‘ bis zur mittellateinischen Epoche nach Regeln der griechisch-lateinischen Wortbildung gebildet? 3 o Wurde Schoepffers Schrift von 1705 von Juristen oder Mitgliedern einer Artistenfakultät gelesen und dann in der Wissenschaftssprache Deutsch (oder Englisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch, Italienisch) integriert? 4 o Ist anzunehmen, dass hier das Deutsche als Distributionssprache fungiert hat (oder evtl. das Englische)? Wo lässt sich sonst noch gerontologia im wissenschaftlichen Diskurs nachweisen? 5 o Haben die romanischen Sprachen ihre Nachbildung aus dem Neulatein oder aus einer Verteilersprache bezogen? 6 o Gibt es für alle romanischen Sprachen dieselben Herkunftsprozesse? Denn denkbar wäre auch, dass die eine das Lexem aus dem Neulatein, die andere hingegen aus einer modernen Volkssprache (z. B. dem Deutschen oder Englischen) bezogen hat. 7 o Gibt es evtl. gar einen anderen Archetyp, von dem Schoepffer und die modernen Volkssprachen gerontologia bezogen haben? Die sieben Grundfragen verdeutlichen, welche umfangreichen Arbeiten von den modernen Philologien geleistet werden müssen, denn eins ist sicher: Die Bedeutung des Neulateins für die heutigen Sprachen wurde bisher zum einen nicht erfasst, vielleicht in zahlreichen Einzelfällen auch noch gar nicht erkannt; zum anderen wurde auch noch nicht abgehandelt, warum derartige Neubildungen im Neulatein notwendig und ihr Übergang in die Volkssprache(n) folgerichtig waren, wie dies z. B. bei der aus politischer Korrektheit erfolgten Ablösung von Greis durch Senior (Germann 2007) der Fall war, die auch im Romanischen zahlreiche Parallelen kennt. Christian Schmitt 80 4. Die Herkunft der mots savants am Beispiel des ‚Robert‘ Üblicherweise wird die französische Lexikographie, und hierbei vor allem die Robert-Wörterbücher, als die solideste unter den romanistischen Disziplinen gehandelt. Aus diesem Grund sollen - ausgehend von diesem angeblichen Spitzenprodukt - die Probleme der Benennungen von Wissenschaften, ihren Theorien und Wissensbereichen sowie den einzelnen Objekten wissenschaftlicher Betrachtung paradigmatisch dargelegt werden. Dabei kann es sich nur um eine exemplarische Auswahl aus einem riesigen Korpus handeln, denn im Grunde gilt natürlich hier die alte sprachhistorische Erfahrung, dass nicht nur jedes Wort, sondern speziell auch jeder Kultismus seine eigene Geschichte hat, wobei der ererbte Wortschatz in der Regel innerhalb eines einzelsprachlichen Systems abgehandelt werden kann, der Bildungswortschatz jedoch stets im Spannungsfeld vielfältiger externer wie teilweise auch interner Beziehungen darzustellen ist. Ausführen und darlegen möchte ich die bestehenden Probleme an einem einfachen Beispiel, den aus der Fachsprache der Physik in die Gemeinsprache übernommenen Adjektiven zentrifugal „vom Mittelpunkt weg, zum Rand verlaufend“ und dem antonymen zentripetal „zum Mittelpunkt hin gerichtet“, das vor allem im Zusammenhang mit Bewegungsabläufen gebraucht wird. Für den PRob (2009) ist das seit 1700 belegte frz. centrifuge „qui s'éloigne du centre“, das als Ausgangspunkt für centrifuger (1871), centrifugeuse (1897) und centrifugation (1897) zu sehen ist, ebenso wie frz. centripète „qui converge vers le centre“ (1700) eine französische Bildung, wobei lat. centrum ‚centre‘ die Basis und lat. fugere ‚fuir‘ resp. lat. petere ‚tendre vers‘ das Zweitelement abgeben. Im Prob (2003, Encadré fuir) wird noch zusätzlich darauf verwiesen, dass „la famille conserve le sens du latin avec l'élément -fuge (centrifuge, fébrifuge, vermifuge ...), fuie (régional) et fuite, fugitif, fugace, refuge (et réfugié), subterfuge, transfuge [...]“ (1140b). Es ist auch bezeichnend für die historische romanische Lexikographie, dass im FEW II, 830b (s. v. fugere ‚fliehen‘) kein Verweis zu lat. (-)fugus vorliegt und dass die - wohl nach lucifugus und lucipetus gebildeten - gelehrten nfr. centrifuge und centripète (FEW II, 587a, dort seit 1734 belegt) im FEW nur kurz dargestellt werden und kein eigenes Lemma kennen: Etymologische Meriten lassen sich damit bekanntlich nicht verbinden. Lateinische Universitätstradition und romanische Wörterbücher 81 Es dürfte schnell einsichtig werden, dass hier keine französischen Latinismen im Sinne einer ‚etymologia proxima‘, sondern allenfalls ein Latinismus im Sinne einer ‚etymologia remota‘ vorliegt, dass also die im Robert wie in anderen französischen Wörterbüchern vorgenommene historische Darstellung nicht korrekt ist, wobei der TLF (5, 395) mit dem Hinweis auf den französischen Physiker Varignon bei centrifuge wie auch bei centripète schon deshalb für noch größere Verwirrung sorgt, weil dem Benutzer so die Entstehung im Französischen mit noch größerer Suggestivkraft nahegelegt wird, ja man wird unter Mitberücksichtigung des TLF die Aussage wagen, der Wissenschaftler Varignon habe für die Fachsprache der Mechanik und der Physik im Französischen im Jahre 1700 centrifuge und centripète aus einer griechisch-lateinischen und einer lateinischen Wurzel (eventuell nach Vorbild des seit Virgil und Columella ausgewiesenen lucifugus, Georges 8 1988, 710b, und seit Isidor belegten lucipetus, Georges 8 1988, 711a) geschaffen. Vielleicht wird dabei auch die gegebene Filiation vom Altertum bis zum 18. Jahrhundert erwähnt, denn unter den verbalen Rektionskomposita führt Stotz in seiner vorzüglichen Darstellung zu -fugus aus (1996-2004): -fugus: Nach lucifugus erscheint im MA solifugus ‚die Sonne, das Tageslicht scheuend‘, nach nubifugus, mit aktivischem Begriffsinhalt wie in fugare, umbrifugus ‚die Schatten, die Dunkelheit vertreibend‘ (II, 441); und zu jüngerem, analogisch gebildetem -petus bemerkt er: -petus: Mit pet(ere) bildet Augustinus lucipetus ‚das Licht aufsuchend‘ (Gegenbegriff zu lucifugus); bei Ekkehart IV. von St. Gallen findet sich altipetus ‚hoch hinauf fliegend‘ (cf. altipetax [...]) (II, 441). Die geschichtliche Darstellung darf sich mit einer derartigen formalchronologischen Aufzählung nicht begnügen, sondern muss sich stets um die diachronischen und synchronischen Implikationen und die historischen Texte bemühen, in denen Wortgebildetheiten erscheinen. Wer die gegebenen Abhängigkeiten der Fachsprache der Physik angemessen einschätzt, wird, aus der Kenntnis der Evolution des wissenschaftlichen Diskurses heraus, nicht umhin können, die Tatsache zu berücksichtigen, dass bis etwa ins 18. Jahrhundert und darüber hinaus physikalische Traktate auf Latein geschrieben wurden und sich also auch im lateinischen Schrifttum kundig machen (müssen). Es lässt sich in der Tat nachweisen, dass centrifugus und centripetus hier längst vor Varignon üblich waren und man ist erstaunt, dass die Spezialisten der französischen Lexikographie nicht gewusst haben wollen, Christian Schmitt 82 dass bei Isaac Newton, einem Cambridger Mathematikprofessor, bereits 1687 in den Philosophiae naturalis principia mathematica, die allein schon durch die Opposition der Cartesianer in Frankreich wohl bekannt waren (RobEnc 2008, 1614a), von der vis centrifuga und der vis centripeta die Rede ist und Varignon die bereits ausgebildete Terminologie nur zu übernehmen brauchte, so ihm nicht noch andere Quellen bekannt waren, die im Neulatein der Wissenschaftssprachen nie generell auszuschließen sind, wie uns das Beispiel gerontologia lehrt (weshalb sich auch ein Blick in Emilie du Châtelets Übersetzungen lohnen dürfte, cf. Edwards 1989). Kurz nach der Veröffentlichung der Principia mathematica sind die Newtonschen Kreationen auch in Deutschland und Schweden angekommen (Helfer ³1991, 632): - im Jahre 1765 veröffentlichte W. G. Hess eine Diss. phys. astron. mit dem Titel De vi centrifuga planetarum in Erfurt, die in den Acta Eruditorum (Leipzig 1682-1782) angezeigt ist; - bereits 1745 wurde von Georg Christian Maternus v. Cilano die Dissertation De vi centripeta corporum sublunarium in Altona verfasst und 1759 hat in Lund L. Liedbeck eine mathematische Dissertation mit dem Titel De vi centripeta vorgelegt. Damit ordnet sich der französische Erstbeleg als Glied in eine Rezeptionskette ein, die zurück zu Isaac Newton reicht und formal an das Virgilianische centrifugus anschließt, zu dem aber - abgesehen von der analogischen Bildungsweise - jede Art von Filiation zu fehlen scheint. Es lässt sich damit ein Stemma errichten, das dem von gerontologia nicht unähnlich ist: lucifugus (seit Virgil)/ lucipetus (seit Augustin) centrifugus/ centripetus (Newton 1687) Varignon (1700) Hess (1765) Maternus (1745) Liedbeck (1759) Lateinische Universitätstradition und romanische Wörterbücher 83 Eine mehrfache Neuschöpfung ist dabei nicht sehr wahrscheinlich, wohl aber ist denkbar, dass z. B. im Deutschen zentrifugal/ Zentrifugalkraft und zentripetal/ Zentripetalkraft keine Fortsetzer der Belege bei Maternus und Hess darstellen, sondern Anglizismen, wie dies Kluges Etymologisches Wörterbuch ( 24 2002, 1008) annimmt, für das dt. Zentrifuge gar einen Gallizismus bildet, und dabei an engl. centrifugal force resp. centripetal force angelehnt ist, die ihrerseits an Newtons vis centrifuga und vis centripeta ausgelegt sind. Auf keinen Fall darf man - wie im PRob (2009) der Fall - bei centrifuge oder centripète den Eindruck eines innersprachlich entstandenen Latinismus erwecken, wie auch im DCECH die Erwähnung von „centrífico (con centrifugador) y centrípeto, compuestos con lo lat. fugere ‚huir de (algo)‘ y petere ‚dirigirse hacia‘“ (II, 36a) mit dem Ansatz von Zusammensetzungen für das Spanische eine unbefriedigende Erklärung vorliegt, während bei Machado ( 8 2003) beim Hinweis auf „centrifugo, adj. do fr. centrifuge, este de centri- + -fugo“ (1813) und „centrípedo, adj. do fr. centripète, este de centri- + -pèto“ (1813) wenigstens die ‚etymologia proxima‘ korrekt aufgeführt wird (II, 116a), der Autor also um wissenschaftliche Redlichkeit bemüht bleibt. Wenn sprachhistorisch-etymologische Angaben einen Sinn haben sollen, müssen sie eine kulturhistorische Information enthalten, möglichst auch die Filiation(en) andeuten und - namentlich bei Entlehnungen und Kulturwortschatz - auf Geber, Entlehnungsmodalitäten und Spezifika des Kontakts hinweisen. In dieser Hinsicht genügt nur ein etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, das dtv-Wörterbuch von Pfeifer, wo man zum Lemma Zentrifugalkraft/ Zentripetalkraft folgende Auskunft erhält: Z e n t r i f u g a l k r a f t f. bei Drehbewegungen auftretende, vom Zentrum weg, nach außen gerichtete Kraft, ‚Fliehkraft‘ (Mitte 18. Jh.), nach engl. centrifugal force für nlat. vis centrifuga (Newton 1687); cf. lat. centrum (s. oben) und lat. fugere ‚fliehen‘. Daraus rückgebildet (im Hinblick auf das engl. Vorbild) z e n t r i f u g a l . Adj. ‚vom Mittelpunkt wegstrebend, auf der Wirkung der Zentrifugalkraft beruhend‘ (2. Hälfte 19. Jh.). Entsprechend die Antonyme Z e n t r i p e t a l k r a f t f. ‚zum Zentrum hin, nach innen gerichtete Kraft‘ (2. Hälfte 18. Jh.), nach engl. centripetal force für nlat. vis centripeta (Newton 1687), cf. lat. petere ‚zu erreichen suchen, streben‘, und z e n t r i p e t a l Adj. ‚zum Mittelpunkt hinstrebend, auf der Wirkung der Zentripetalkraft beruhend‘ (19. Jh.) ( 8 2005, 1602). Christian Schmitt 84 Mit Ausnahme der lateinischen Tradition werden bei Pfeifer die wichtigsten sprach- und kulturhistorischen Informationen geboten, wobei der Hinweis auf Isaac Newton besondere Beachtung verdient. Was hier an einem einzigen Beispiel gezeigt wurde, gilt in der französischen lexiko-graphischen Tradition mehr oder weniger für den Kulturwortschatz insgesamt, vor allem bei wissenschaftlichem Wortschatz, der sich auf Teildisziplinen oder wissenschaftliche Gegenstände und Einsichten bezieht. Da es unmöglich ist, im Rahmen eines Vortrags der Vielzahl der Einzelfälle auch nur annähernd gerecht zu werden, soll hier eine vorläufige Typologie der ermittelten Defizite vorgestellt werden, deren einzelne Punkte noch materiell auszufüllen sind bzw. zukünftigen Analysen zufallen werden. 5. Zur Kritik der lexikographischen Darstellung lateinischfranzösischer Dependenz Es überrascht immer wieder, feststellen zu müssen, dass die Überdachung der romanischen Sprachen durch das Latein (Schmitt 1992, 319) im Grunde von der französischen Lexikographie nicht wahrgenommen wird. Bleibt der Umstand, dass frz. démoscopie und démoscopique im PRob (2003/ 2007/ 2009) fehlen, obwohl der französische Staat 1977 ein Institut français de Démoscopie (26, Rue de Chambéry, 75015 Paris) gründete und Google (10.X.08) für démoscopie 1570 und démoscopique 132 Belege nachweist, schon mehr als merkwürdig, so wird man wohl kaum noch Verständnis dafür aufbringen, dass selbst mots savants, die den ältesten Fakultäten der europäischen Universitäten zuzurechnen sind, immer noch ohne Berücksichtigung der tatsächlichen Filiationen dargestellt und in der Regel als im Französischen gebildete oder direkt dem Griechischen entlehnte lexikalische Einheiten charakterisiert werden. Zur Exemplifizierung dieser Defizite sollen nur wenige ausgesuchte Beispiele dienen; es muss aber darauf hingewiesen werden, dass sich allein auf der Basis des PRob (2007/ 2009) mehrere tausend Ungenauigkeiten ermitteln lassen, die geeignet sind, uns vor jedweder Auswertung dieses Wörterbuchs mit diachronischer Zielsetzung zu warnen. Am problematischsten sind Erklärungen gelehrten französischen Wortschatzes dann, wenn bereits eine lateinische Diskurstradition vorliegt, wie das bei den in der nachfolgenden Tabelle erfassten medizinischen Fachausdrücken der Fall ist: Lateinische Universitätstradition und romanische Wörterbücher 85 Helfer ³1991 PRob 2007/ 2009 nlat. intussusceptio ‚Einstülpung‘ (1270) frz. intussusception (1650) < lat. intus + susceptio nlat. entomologia ‚Entomologie‘ (1735) frz. entomologie (1745) < frz. entoma + -logie nlat. trismus ‚Kieferklemme‘ (1683) frz. trismus/ trisme (1808/ 1765) < gr. trismos nlat. (cellula) somatica ‚Körperzelle‘ (1714) frz. somatique (1855) < gr. somatikos nlat. antispasmodicus ‚krampflindernd‘ (1683) frz. antispasmodique (1741) < lat. anti + spasmodique lat. carcinoma ‚Krebsgeschwür‘ (Cato) frz. carcinome (1545) < gr. carcinôma par l'all. et l'angl. nlat. myopia ‚Kurzsichtigkeit‘ (1549) frz. myopie (1650) < gr. myôpia nlat. erotomania ‚Liebeszwang‘ (1680) frz. érotomanie (1741) < gr. erotômania nlat. pneumonia ‚Lungenentzündung‘ (1709) frz. pneumonie (1785) < gr. pneumonia nlat. narcosis ‚Narkose‘ (1683) [mlat. narcoticus 1200] frz. narcose (1836) < gr. narc sis [frz. narcotique (1341) < mlat. narcoticus] nlat. nymphomania ‚Nymphomanie‘ (1552) frz. nymphomanie < frz. nymphe + -manie nlat. otalgia ‚Ohrenschmerz‘ (1683) frz. otalgie (1701) < gr. otalgia nlat. pharmacologia ‚Pharmakologie‘ (1708) frz. pharmacologie < frz. pharmaco + -logie nlat. sexualitas ‚Sexualität‘ (1821) frz. sexualité (1838) frz. sexuel lat. sceletus ‚Skelett‘ (Apul.) frz. squelette (16. Jh.) < gr. skeletos nlat. euthanasia ‚Sterbehilfe‘ (1709) frz. euthanasie (1771) < gr. eu + thanatos nlat. symptomatologia ‚Symptomenlehre‘ (1632) frz. symptomatologie (1765) < frz. symptôme + -logie nlat. cholericus ‚cholerisch‘ (1714) frz. cholérique (1806) < gr. kholerikos nlat. toxicologia ‚Toxikologie‘ (1781) frz. toxicologie (1803) < frz. toxico- + -logie nlat. odontalgia ‚Zahnschmerz‘ (1683) frz. odontalgie (1694) < gr. odontalgia So wenig es überzeugt, das fachsprachlich markierte Lexem civiliste ‚Zivilrechtler‘ (19. Jh.) aus frz. droit civil ohne Berücksichtigung von mlat. civilista ‚Zivilrechtler‘ zu erklären (PRob 2009, 442a), bleiben auch die oben aufgeführten fachsprachlichen Einheiten des Französischen ohne angemessene Beachtung der in allen Fällen chronologisch vorausgehenden Latinismen aus drei verschiedenen Epochen historisch unzureichend erklärt. Christian Schmitt 86 Es fällt weiterhin auf, dass die historischen Angaben äußerst disparat und ohne systematische Charakterisierung bleiben: - einmal wird, wie bei intussusception die lat. etymologia remota (ohne die bereits vorliegende lat. Wortgebildetheit) aufgeführt; - ein anderes Mal führt der Robert, wie bei dem in Schweden gebildeten euthanasia, die gr. etymologia remota ohne Berücksichtigung des vorliegenden Latinismus an; - generell gilt, dass eine Verbindung mit griechischen Wurzeln präferiert und das Latein als Bildungsvermittler verkannt wird; - vielfach wird, wie z. B. bei entomologie oder nymphomanie, eine vermeintlich nationale Wortbildungsleistung postuliert; - die kreative Leistung anderer Kulturen wie bei carcinoma wird, wie frz. euthanasie verdeutlicht, nur selten anerkannt. Als erstes Fazit lässt sich damit festhalten, dass die Angaben willkürlich sind und jeder Versuch einer systematischen Strukturierung unterblieben ist; sprachhistorisch lässt sich mit diesem Referenzwerk nicht einmal ansatzweise arbeiten. Auch die Regeln der Wortbildung werden im Robert nicht korrekt angewandt. Dies ließ sich bereits oben bei sexualité (1838) zeigen, das auf frz. sexuel zurückgeführt wird und in Wirklichkeit eine Übernahme von bzw. eine Wortbildung nach lat. sexualitas (1821) darstellt. Noch auffälliger bleibt die Missachtung morphologischer Regeln bei der Erklärung von Adjektiven auf gelehrter Basis. Auch hierzu ausgewählte Beispiele aus einem wesentlich umfangreicheren Korpus: Helfer ³1991 PRob 2007/ 2009 nlt. geocentricus ‚geozentrisch‘ (1636) frz. géocentrique (1721) < frz. géo + centrique frz. B. nlat. haemophilie ‚Bluterkrankheit‘ (1844) frz. hémophilie (1855) < frz. hémophile frz. B. nlat. hermeneuticus ‚hermeneutisch‘ (1736) frz. herméneutique (1777) < gr. hermeneutikos LW nlat. homoeopaticus ‚homöopathisch‘ (1823) frz. homéopathique (1827) < frz. homéopathie [1827] frz. B. nlat. intellectualista ‚Intellektueller‘ (1620) frz. intellectualiste (1853) < frz. intellectualisme frz. B. nlat. methodologia ‚Methodologie‘ (1794) frz. méthodologie (1829) < frz. méthode + -logie frz. B. nlat. offensivus ‚offensiv‘ (1217) frz. offensif (1538; 1417) < afrz. offendre frz. B. nlat. planetologia ‚Planetologie‘ (1551 Paris) frz. planétologie (1874) < fr. planète + -logie frz. B. Lateinische Universitätstradition und romanische Wörterbücher 87 nlat. polemicus ‚polemisch‘ (c. 1363) frz. polémique (1584) < gr. polemikos LW nlat. policlinicus ‚poliklinisch‘ (1841) frz. policlinique (1855) < gr. polis + frz. clinique HW nlat. psychopathicus ‚Psychopath‘ (1835 Padua) frz. psychopathe (1894) < frz. psycho + -pathe frz. B. mlat. repraesentativus ‚repräsentativ‘ (mlat.; 1751)) frz. représentatif (1380) < frz. représenter frz. B. nlat. rubeolae ‚Röteln‘ (1739) frz. rubéoles (1845) < lat. rubeus lat. B. nlat. staticus ‚statisch‘ (1614; Venedig) frz. statique (1634) < gr. statikos LW nlat. suggestivus ‚suggestiv‘ (1721) frz. suggestif (1857) < engl. suggestive LW nlat. synopticus ‚synoptisch‘ (1597) frz. synoptique (1610) < gr. synoptikos LW nlat. (vis) motrix ‚Triebkraft‘ (1758) frz. motrice (Ende 19. Jh.) < frz. locomotion frz. B. nlat. topographicus ‚topographisch‘ (1553) frz. topographique (1557) < frz. topographie frz. B. lat. vegetatio ‚Vegetation‘ (lat.; 1688) frz. végétation (1525) < frz. végéter frz. B. nlat. responsa(bi)lis ‚verantwortlich‘ (6. Jh.; 1795) frz. responsable (1304) < lat. responsus [sic] lat. B. mlat. compatibilis ‚vereinbar‘ (1384) frz. compatible (1396) < lat. compati lat. B. Legende, auch in der Folge: frz. B. = französische Bildung; LW = Lehnwort; HW = hybrides Wort; lat. B. = lat. Basis Es zeigt sich hier zum einen eine noch größere Konzeptionslosigkeit und zum anderen eine grundsätzlich ideologische Einstellung bei der Erklärung und Begründung von Wortbildungsprozessen, wobei festzuhalten ist, dass lauthistorische Argumente systematisch übergangen werden und die Unterscheidung von volkssprachlichem und gelehrtem Morphem weitgehend fehlt: - wo immer möglich, wird versucht, das Wortbildungsprodukt aus der Fähigkeit zur Neubildung im französischen Sprachsystem herzuleiten, wie dies z. B. hémophilie, géocentrique oder intellectualiste dokumentieren; - wenn keine französische Wortgebildetheit begründet werden kann, wird in aller Regel das Griechische als Spendersprache dem Latein vorgezogen, wie dies z. B. herméneutique, polémique oder synoptique belegen; Christian Schmitt 88 - obwohl der Robert (z. B. bei statistique, passiflore oder molécule) die Kategorie neulateinischer Wortgebildetheiten kennt, wird keine der obigen Wortgebildetheiten mit dem Neulatein verbunden, ja man zieht, ohne Nachweis bei offensif einen altfranzösischen und bei suggestif den englischen Ansatz dem Neulatein vor; - am unverständlichsten bleiben etymologische Angaben vom Typ frz. rubéoles < lat. rubeus, frz. responsable < lat. responsus oder frz. compatible < lat. compati, wo lediglich der Hinweis auf die lateinische Basis geleitet wird, der Ausgangspunkt der französischen Form aber im Grunde fehlt; denn es dürfte außer Frage stehen, dass kein aboriginärer Sprecher aus lat. responsus frz. responsable oder lat. compati frz. compatible bilden kann. Summa summarum erweckt das unsystematische Vorgehen bei der Erklärung von in der Regel auf das Neulatein zurückzuführenden Wortgebildetheiten den Eindruck, hier seien mehrere Köche an der Arbeit gewesen, von denen der eine nicht wusste, was der andere machte. Man kann sich jedenfalls nicht vorstellen, dass ein Autor, der frz. compatible mit dem Deponens compati etymologisch verbunden hat, intellectualiste mit frz. intellectualisme verbindet oder gar frz. offensif mit afrz. offendre, frz. représentatif mit frz. représenter, aber frz. suggestif mit engl. suggestive etymologisch zu erklären versucht. Diese Disparatheit schafft nicht nur jungen Studierenden regelmäßig Schwierigkeiten bei der Benutzung des Robert, sondern lässt auch den erfahreneren Benutzer an der Verlässlichkeit der Angaben - ganz abgesehen von der weitgehenden Ausblendung des Neulateins - immer wieder zweifeln, da die Beliebigkeit der Erklärungen das Vertrauen in die sprachhistorische Kompetenz der Bearbeiter zu zerstören geeignet ist, die inzwischen auf die Encadrements mit Übernahmen aus dem RobHist verzichten. Noch schwieriger zu beurteilen ist eine dritte Gruppe, bei der die französischen mots savants nach dem Stand der Forschung noch vor den neulateinischen Bildungen ausgewiesen sind. Hierbei ist natürlich zu berücksichtigen, dass wir außer Diefenbach (1857), Niermeyer/ van der Kieft (²2002) und Hoven (1994) nur wenige Untersuchungen zum Mittel- und Neulatein kennen und dass ältere Werke wie z. B. du Cange (1883- 87) oder Blancardus (1683) bisher nicht angemessen von der historischen Lexikographie beachtet wurden. Die Defizite liegen zum einen in der unzureichenden Erforschung des Neugriechischen und Neulateins durch die einschlägigen Wissenschaftsdisziplinen (cf. Holzberg 1996), aber auch bei der Romanistik selbst, die viel zu lange den Prinzipien der Ro- Lateinische Universitätstradition und romanische Wörterbücher 89 mantik verhaftet blieb und das Phänomen ‚Latein‘ für ihre Lexikographie nicht theoretisch hinterfragt hat (Müller 1987, Munske/ Kirkness 1996, Schmitt ²2000). Für diese Gruppe seien nur wenige Beispiele aufgeführt, die geeignet sind, die globalen Defizite der heutigen historisch-vergleichenden Lexikographie offen zu legen und zahlreiche evidente Widersprüche aufzuzeigen: Helfer ³1991 PRob 2007/ 2009 nlat. albinismus ‚Albinismus‘ (1861) frz. albinisme (1838) < port. albinos LW nlat. egoismus ‚Egoismus‘ (1722) [egoista (1722) frz. égoïsme (1743) < lat. ego frz. B. égoïste (1721) < lat. ego frz. B.] nlat. planta officinalis ‚Heilpflanze‘ (1837) frz. officinal (1762) < frz. officine frz. B. nlat. laboratorium ‚Laboratorium‘ (1680) frz. laboratoire (1620) < lat. supinum [sic] frz. B. nlat. mythologia ‚Mythologie‘ (1683) frz. mythologie (1628) < frz. mytho- + -logie frz. B. nlat. nosologia ‚Nosologie‘ (1756) frz. nosologie (1747) < frz. noso- + -logie frz. B. nlat. pathologia ‚Pathologie‘ (1554) [pathologicus 1810 (Pfeifer 16. Jh.) frz. pathologie (1550) < gr. pathología LW pathologique (1552) < gr. pathologikos LW] nlat. stereotypus ‚stereotyp‘ (1808) frz. stéréotype (1954; Adj. 1796) < frz. stéréo- + -type frz. B. nlat. leucorrhea ‚Weißfluss‘ (1832; 1683 fluor albus) frz. leucorrhée (1784) < gr. med. leukorrhein LW mlat. viscositas ‚Zähflüssigkeit‘ (1250) frz. viscosité (1256) < frz. visqueux [1256 < lat. viscosus] frz. B. Auch hier verdiente im Grunde jedes Wort seine spezielle Betrachtung; doch sollen - recht summarisch und ohne Anspruch auf Exhaustivität - nur die wichtigsten Defizite aufgezählt werden: - grundsätzlich tendiert man zu einer nationalen Erklärung, wenn sich aus chronologischen Überlegungen eine solche anbietet; doch scheint eine französische Herleitung bei officinal wegen des gelehrten Morphems, viscosité wegen des mlat. Belegs und den zahlreichen Rekompositionen (mythologie/ nosologie/ pathologie) wenig wahrscheinlich; - es ist auch höchst problematisch, vom Infinitiv ç für frz. leucorrhée auszugehen, zumal diese Neubildung in altgriechischen Wörterbüchern nicht erfasst ist; Christian Schmitt 90 - ebenso fragwürdig bleibt die These, frz. égoïsme/ égoïste seien direkt aus lat. ego (wie engl. egotism/ egotist) abgeleitet; - geradezu absurd mutet die Annahme der Bildung von frz. laboratoire aus dem Supinum von laborare, also lat. laboratu(m) an: Hier wurde das Morphem frz. -(t)oir(e) gebraucht, wobei allerdings zu klären bleibt, ob keine frz. Nachbildung von lat. -torium vorliegt, was viel wahrscheinlicher bleibt (Meyer-Lübke/ Piel 1966,99). Auch hier erspare ich mir eine Hochrechnung für den Robert: Eine solche brächte sicher wenig positive Resultate für das vielgelobte Werk. Zur letzten Gruppe, bei der die Chronologie innerhalb des Robert abzustimmen und die mittellateinisch-neulateinische Tradition besser zu berücksichtigen bleibt, sollen nur sieben Einzelfälle angeführt werden, da eine tabellarische Erfassung hier kaum möglich ist: (1 o ) Das bereits erwähnte frz. démoscopie wird im Neulatein (VL 80/ Eg. L. 84/ cf. Helfer 3 1991) ausgewiesen; da es ein offizielles Institut français de Démoscopie gibt, wäre es von Interesse, etwas über die Namenbildung zu erfahren, selbst wenn heute ein 1855 gebildetes/ entlehntes (? ) démographie (PRob 2009, 672a) zusammen mit dem Adjektiv démographique vorgezogen wird. (2 o ) Nach Ansicht des Robert wurde frz. causalité (1375) aus frz. causal (1565! ) abgeleitet; das wenig sinnvolle Hysteron proteron ließe sich durch die Verbindung mit mlat. causalitas (1225; Helfer ³1991) leicht vermeiden; eigentlich würde man erwarten, dass der Robert erklärt, warum mlat. causalitas zur Deutung für ihn nicht in Frage kommt. Ähnlich liegt der Sachverhalt bei frz. sécularisation (1565), das von dem erst 1586 nachgewiesenen séculariser gebildet worden sein soll. Hier dürfte mlat. [sic] saecularizatio (1666; Helfer ³1991) wohl erst auf der Grundlage eines Romanismus entstanden sein. (3 o ) Morphologisch ist die Herleitung von schématique (1838) aus frz. schéma (1867) möglich; doch überzeugt eine solche Verbindung kaum, wenn 1800 ausgewiesenes schématisme direkt mit dem Griechischen verbunden wird, zumal nlat. schematicus schon 1430 und das Substantiv nlat. schematismus 1619 in der Wissenschaftssprache belegt sind. (4 o ) Nicht überzeugend dargestellt wird auch die Filiation bei seit 1669 ausgewiesenem frz. scepticisme, das der Robert mit dem seit 1546 aus lat. scepticus hergeleiteten Adjektiv sceptique verbindet. Tatsächlich weisen die (n)lat. Wörterbücher scepticus nicht aus, so dass Helfer ( 3 1991) mit seiner Markierung (nlat. scepticus) weiterhin Recht behält Lateinische Universitätstradition und romanische Wörterbücher 91 und eine Herleitung aus nlat. scepticismus (1652) eine höhere Probabilität besitzt. (5 o ) Frz. subduction (1975) wird vom Robert - aus welchen Gründen auch immer - als Reprise von afrz. subduction ‚calcul‘ aufgefasst. Im Mittellatein waren subtractio (1178), aufgenommen als mfrz. soustraction (1484) und im Neulatein subductio (1686; Newton) üblich: Sollte tatsächlich das afrz. Lexem für den frz. Wortschatz wichtiger gewesen sein als die Werke eines Isaac Newton? (6 o ) Frz. microscopique (1750) wird mit guten Argumenten aus frz. microscope (1636) abgeleitet, während frz. macroscope (1874) als französische Rückbildung aus macro- und -scope gilt. Diese Genealogie macht angesichts der nlat. Form macroscopium (1714) ‚Vergrößerungsglas‘ wenig Sinn und lässt auch Fragen bei der Erklärung von frz. microscope als französische Rückbildung aufkommen. (7 o ) Frz. botulique (1878) wird aus frz. botulisme (1879), das aus lat. botulus gebildet sei, hergeleitet. Bedenkt man aber, dass bereits 1828 botulinum ‚Wurstgift‘ in der Wissenschaftssprache üblich war, entstehen Zweifel an der Entlehnungsgeschichte, wie in noch zahlreichen anderen Einzelfällen, die hier nicht angemessen abgehandelt werden können. Es zeigt sich an diesen Fallbeispielen, dass vor allem die Wortbildungslehre in der französischen Lexikographie nur geringe Beachtung gefunden hat und dass Filiationen oft ohne entsprechende Reflexion konstruiert wurden, denn sonst wäre es kaum möglich, dass in zahlreichen Einzelfällen beim wissenschaftssprachlichen Wortschatz Wortgebildetheiten auf Basen zurückgeführt werden, die deutlich später datiert sind als die eigentlichen (bzw. vorgeblichen) Derivate. Diese Defizite erklären sich beim wissenschaftssprachlichen Wortschatz vielfach aus der Tatsache, dass man immer wieder versucht, die vorliegenden mots savants als innersprachliche Bildungen - in der Regel als Rekompositionen oder Konfigierungen - zu interpretieren, wobei man natürlich auf die Produktivität der französischen Nationalsprache setzt, die aber hier - vergleichbar dem Englischen oder Deutschen - am Tropf des scholastischen Lateins wie auch des Neulateins hängt, die primär in der lexikalischen Wortbildung und im wissenschaftlichen Wortschatz das Griechische nostrifiziert haben. In Einzelfällen wurde dieser Tatbestand vom PRob (2007/ 2009) auch erkannt und durch entsprechende Markierungen anerkannt, aber insgesamt wird die Genese der französischen Wissenschaftssprache(n) entschieden zu einseitig durch die national(istisch)e Brille gesehen, wie dies auch deutlich aus dem Lemma français im Rob- Christian Schmitt 92 Hist (cf. Schmitt 2 2000, 692) hervorgeht. Das gesamte Markierungssystem des Robert ist neu zu überdenken, allein für den Buchstaben Alässt sich folgende Markierungssystematik ausweisen, die durch die übrigen Teile noch erweitert werden kann: Genealogische Typologie Anzahl Anteil 1 lat. bas. lat. lat. tardif. lat. impérial mot lat. + n. pr. loc. nat. expr. lat. lat. 648 111 1 3 42 1 1 810 67,11% 2 lat. alchim. lat. bot. lat. cabalistique lat. chrét. lat. ecclés. lat. géogr. lat. gramm. lat. jurid. lat. méd. lat. sav. lat. sc. lat. scolast. lat. zool. lat. sc. (+ Fachbereich) 3 7 1 2 49 1 9 12 2 2 7 3 17 115 9,53% 3 du lat. 104 8,62% 4 lat. pop. lat. vulg. lat. vulg. 74 3 77 6,38% 5 lat. médiév. lat. érudit lat. médiéval/ humaniste 49 1 50 4,14% 6 lat. als etymologia remota 26 2,15% 7 de + x (comp. de) 18 1,49% 8 sonstige Formulierungen 7 0,06% Diese Tabelle soll hier nicht weiter kommentiert werden, denn sie spricht für sich und zeigt eine totale Konfusion und Hilflosigkeit bei der Angabe historisch-etymologischer Filiationen. Was aus dieser Konzeptionslosigkeit resultiert, sind Fehler, wie sie z. B. auch bei Dee (1997) üblich sind und überall da, wo Erb- und Lehnwörter Lateinische Universitätstradition und romanische Wörterbücher 93 nicht auseinandergehalten werden und ‚nationale‘ Erklärungen von Wortgebildetheiten im Vordergrund stehen: Lemma Genealogie des Robert Etymologie aciculaire adventiste acétique amygdaline aldéhyde lat. acicula (1801) lat. adventus (1894) lat. acetum (1787) lat. amydgala (1834) lat. sc. al(cohol)dehyd (1845) (rogenatum) Lehnwort (lat. acicula/ -arius) Lehnwort (nlat. adventista, Helfer s. v.) Lehnwort (nlat. aceticum, 1805, Helfer, s. v. Essig) Lehnwort (nlat. amygdalinum, 1838, Helfer, s. v. Mandelbitterstoff) Lehnwort (Justus v. Liebig, TLF II, 472b) Von den noch zahlreicheren falschen Zuordnungen vom Typ: Lemma Genealogie des Robert Markierung des Robert Etymologie agneau aider ail bas. lat. lat. lat. lat. agnellus (12. Jh.) lat. adiutare (1050) lat. allium (12. Jh.) lat. Erbwort lat. Erbwort lat. Erbwort oder der besonders problematischen genealogischen Charakterisierung mit <du lat.>: Lemma Genealogie des Robert Markierung des Robert Korrekte Etymologie -acée(s) adipoaffect du lat. du lat. du lat. frz. Morphem frz. Morphem < dt. Affekt, afrz. < lat. (1908) Lehnmorphem Lehnmorphem Lehnwort soll hier weiter nicht die Rede sein. Solche Fehloptionen oder ungenauen Herkunftsangaben gehen in die Hunderte: Der Studierende kann sich nicht zurecht finden und dem sprachhistorisch ausgewiesenen Forscher sträuben sich die Haare, zumal er nicht übersehen kann, dass derselbe Autor auch als verantwortlich für ein historisches Wörterbuch, den RobHist, gezeichnet hat, das wohl nur deshalb über eine bessere sprachhistorische Charakterisierung verfügt, weil man sich hier sehr eng an das FEW und vor allem den TLF angelehnt hat. 6. Ergebnisse und Perspektiven Aus unseren Ausführungen dürfte deutlich geworden sein, dass selbst in Sprachen mit guter lexikographischer Tradition die Wissenschaftssprachen und der Fachwortschatz, der den (universitären) Wissenschaften zu- Christian Schmitt 94 zuschlagen ist, im Gegensatz zum volkssprachlichen Wortschatz, den das primär etymologisch interessierte 19. Jahrhundert und im 20. Jahrhundert die neu ausgebildete Sprachgeographie genau untersucht und analysiert hat, noch - zumindest in diachronischer Sicht - eine terra incognita bilden. Konnte man beim volkssprachlich entwickelten Wortschatz unter Berücksichtigung der sog. Lautgesetze sowie der historischen Morphologie und Semantik alles in allem gerade für die romanischen Sprachen überzeugende und zum Teil sogar exemplarische Methoden durch deduktives Vorgehen erarbeiten und durch die strikte Erforschung der Vertikalen in Meyer-Lübkes bekanntem Achsenkreuz gesicherte Ergebnisse erzielen, so hat dieses Vorgehen beim gelehrten Wortschatz der Wissenschaftssprachen bisher keine positiven Resultate zeitigen können: Hier muss die Synchronie der Horizontalen jeweils sprachlich und kulturwissenschaftlich untersucht werden. Es ist dabei zu berücksichtigen, dass Wissenschaftler, die die lateinische Morphologie perfekt beherrschten, bis etwa 1800 ihre Sprachkompetenz zur Bildung neulateinischer Fachtermini aktivierten und im Anschluss daran dieses durch Interferenz auch für die Volkssprachen aktivierbare Sprachverständnis auf die jeweiligen romanischen oder germanischen Wissenschaftssprachen übertrugen: Während z. B. beim noch immer nicht korrekt erklärten, als Okzitanismus gedeuteten (PRob 2009, 85) amor ‚Liebe‘ (cf. Schmitt 1973) bis zum 17./ 18. Jh. die gelehrten Basen am- oder erotden Vorzug erhielten, so dass z. B. Th. Kunadus nicht zögerte, in seiner Qualifikationsschrift De erotomania sive amore insano (Wittenberg 1680) den neulateinischen Neologismus erotomania, ein Pendant zu Ferrauds Gräzismus * (cf. Höfler 1972, 16s.) und frz. érotomanie, zu kreieren, hat man sich in der Moderne nicht mehr gescheut, Gelegenheitsbildungen wie bobologue ‚Arzt‘ (Bretécher, Claire, Docteur Ventoux, bobologue, Paris, Bretécher, 1985) oder modiologue (Balzac, cf. TLF 11, 919a s. v. mode) auf volkssprachlicher Grundlage zu bilden; akzeptiert sind Ableitungen, wie die im 20. Jh. gebildeten caractérologue, phonologue, radiologue oder sexologue inzwischen von allen dictionnaires de langue. Diese Bildungen mussten keine neulateinischen Vorlagen haben, ja sie können durchaus zum Vorbild für neulateinische Wortbildung, also nlat. caracterologus, phonologus (neben nlat. phoneticus, 1913), radiologus (belegt, cf. Helfer ³1991, 443) oder sexuologus (neben nlat. sexualitas, 1821) werden. In einem früheren Romanistischen Kolloquium konnte ich darlegen, dass im Bereich der Euromorphologie heute ein virulenter Verteilungskampf zwischen ererbten und neulateinischen Formantien stattfindet (Schmitt 1995), der insbeson- Lateinische Universitätstradition und romanische Wörterbücher 95 dere bei den personenbezeichnenden Deverbal- und Denominalsuffixen in zunehmendem Maße die gelehrten Wortbildungsregeln (Schmitt 1996) favorisiert und damit zu einem Rückgang genuiner Produktivität beiträgt. Im wissenschaftlichen Bereich besteht, in unterschiedlichen chronologischen Etappen jeweils in umgekehrtem Verhältnis, zwischen Bildungs- und Volkssprache ein stetes Geben und Nehmen, wie dies die folgende Abbildung verdeutlichen soll: Mittellatein/ Neulatein 500 17./ 18. Jh. wiss. Diskurs in lat. Sprache 2008 Volkssprache (z. B. Französisch Spanisch) wiss. Diskurs in abhängiger Volkssprache 2008 Dabei bleiben die Volkssprachen bis zum 18. Jahrhundert - je nach Kulturlandschaft länger oder kürzer - vom Latein überdacht. Doch darf die Umstellung auf die Volkssprachen als neues Medium der Wissenschaften nicht als Paradigmenwechsel betrachtet werden, denn durch die mehr als tausendjährige Tradition des mittel- und neulateinischen Überbaus, der in Stotz eine erste Bewertung erfahren hat (II, 2000), wurden die mittel- und neulateinischen Grammatikregeln von den Sprachbenutzern so verinnerlicht, dass von einem Bruch nicht die Rede sein kann: Es handelt sich vielmehr um eine Verlagerung von neulateinisch bestimmten morphologischen Regeln und dem Recycling neulateinischer Formantien zum steten Ausbau der modernen Fachsprachen, der natürlich auch sofort für die im Moment kaum gebrauchte lateinische Wissenschaftssprache in umgekehrter Richtung aktiviert werden kann, wie dies z. B. die lateinischen Neologismen microclima ‚Kleinklima‘, microm chan ma ‚Mikroprozessor‘, gunna minima ‚Minirock‘ (alle Helfer ³1991, s. v. v.) und zahllose andere Neubildungen zeigen, die nur deshalb möglich waren, weil die neulateinische Wortbildung auch bei Wissenschaftlern mit geringeren Lateinkenntnissen selbst heute noch (teilweise dank Einfluss des Englischen) zur Sprachkompetenz gehört. Was allerdings als Desiderat bestehen bleibt, sind die Erforschung des Verhältnisses von Mittel-, Humanisten- und Neulatein und ihr Beitrag zur Christian Schmitt 96 Genese der europäischen Wissenschaftssprachen, primär bis 1800, als die Wachablösung durch die Nationalsprachen erfolgte. Solange diese nur durch eine Equipe realisierbare Grundlagenforschung nicht geleistet ist, werden Wörterbuchautoren für ihre national(istisch)e und bisweilen sogar chauvinistische Interpretation der Sprach- und Wissenschaftsgeschichte noch immer probate Ausreden und Entschuldigungen haben. 7. 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Dietmar Osthus „comme en tous arts & sci ces il y ha outre langage, que le commun & familier“: zum humanistischen Streit um die angemessene Wissenschaftssprache in Spanien und Frankreich 1. Zur Problemstellung Offene Gesellschaften sind streitende Gesellschaften. Wenn in unserem modernen Verständnis von der Freiheit der Wissenschaft gesprochen wird, dann bedeutet diese Freiheit in erster Linie die Freiheit zu streiten, und zwar um angemessene Lösungen für die als relevant erachteten Forschungsprobleme. Zahlreiche geistes- und sozialgeschichtliche Prozesse lassen sich somit zum einen als streitbare Auseinandersetzungen begreifen bzw. - so sie abgeschlossen sind - als Ergebnis solcher streitbarer Auseinandersetzungen. Das Schlagwort der Streitkultur setzt insofern den Streit als eine kulturelle Praxis voraus - nicht zu Unrecht wird von den unterschiedlichen Kulturen des Streitens gesprochen -, zum anderen schafft Streit eben auch Kultur, wie z. B. Sprachkultur. Die eminente Bedeutung des Sprachenstreits z. B. für die Ausprägung einer metasprachlichen Terminologie ist in der Romanistik gut bekannt. Die Ausprägung eines sprachnormativen Bewusstseins geht in vielen Fällen einher mit öffentlichen Disputen wie etwa einer ausgesprochenen Sprachkasuistik. Die Entwicklung der wissenschaftlichen Kommunikation in den Volkssprachen macht hier keine Ausnahme. Die kulturelle Leistung, dem vulgaire bislang ungeahnte Verwendungsmöglichkeiten zu schaffen, wird in verschiedenen Prozessen begleitet von streitbaren Auseinandersetzungen. Die Ausgestaltung der Wissenschaftssprache bzw. überhaupt die funktionale Differenzierung zwischen langues réduites en art und Volkssprachen sind etwa Gegenstand von Streitigkeiten. In meinem Vortrag möchte ich einige der Konfliktpunkte exemplarisch nachzeichnen. Dietmar Osthus 104 2. Dimensionen des Streits Wenn Streit untersucht wird, dann geraten mehrere Aspekte in den Blick. Zum einen die Akteure des Streits, zum anderen, eng damit verbunden Medien, Formen und Arenen des Streits und zum dritten - ganz maßgeblich - die Gegenstände des Streits. 2.1 Akteure der frühen volkssprachlichen Wissenschaftskommunikation Die Entstehung einer romanischsprachigen Fachkommunikation, die Genese einer volkssprachlichen Wissenschaftssprache geschieht nicht im luftleeren Raum. Sie ist als ein arbeitsteiliger Prozess zu verstehen, der sowohl das Ergebnis eines umfangreichen Wissenstransfers als auch einer zunehmenden Wissenschaft, d. h. der eigenständigen Erweiterung und Infragestellung tradierten Wissens ist. In der romanischen Sprachgeschichtsschreibung wird für die ab der Renaissance zunehmenden sprachlichen und wissenschaftlichen Transferprozesse bekannterweise das Schlagwort des volgarizzamento verwendet. Die Rekonstruktion dieses volgarizzamento ist für die großen romanischen Sprachen weit fortgeschritten (und diese Tagung wird das ihrige dazu leisten, diese Prozesse noch besser zu erfassen und zu verstehen). Grob lassen sich im Rahmen der mehrschrittigen Genese volkssprachlicher Wissenschaftskommunikation drei unterschiedliche beteiligte Personengruppen - die jedoch wechselseitig verzahnt sein können - nennen. Als erste Gruppe sind die Kompilatoren von Fachwissen zu erwähnen. Im Rahmen eines der wichtigsten Wissenschaftsbereiche, der Medizin, tragen spätmittelalterliche Autoren wie Henri de Mondeville oder Guy de Chauliac entscheidend zu einer Vermittlung antiken oder auch arabischen bzw. hebräischen Fachwissens bei. Eine eminent wichtige Quelle für die Wissensvermittlung sind fachwissenschaftliche Zusammenstellungen, die in gewisser Weise das auf antiken Texten beruhende Lehrbuchwissen bündeln und anschließend Ausgangspunkt für zahlreiche volkssprachliche Übersetzungen werden. Die Neu-Editionen der lateinisch-griechischen Originaltexte folgen in vielen Fällen erst den auf unterschiedlichen Manuskripten beruhenden Kompilationen. Als zweite Gruppe sind die Übersetzer anzuführen, die lateinische und griechische, aber auch z. T. über Umwege zweitübersetzte arabische Texte in die romanischen Volkssprachen übertragen und somit das Verwendungsspektrum der Volkssprache entscheidend erweitern. Nicolas Oresme Wissenschaftssprache in Spanien und Frankreich 105 steht wie zahlreiche weniger bekannte Übersetzer prototypisch bzw. als Vorläufer für einen Personenkreis, der in der Übersetzung einen wesentlichen Teil des wissenschaftlichen Fortschritts erkennt. Übersetzerkommentare der Renaissance, so die Pierre Tolets zu den medizinischen Schriften Galens, stellen sich mitunter eher als wissenschaftlicher Sachkommentar denn als metasprachliche Erläuterung dar. Das Übersetzungswesen selbst läuft z. T. in institutionalisierten Bahnen ab wie in der berühmten Übersetzerschule von Toledo; z. T. sind Übersetzer unmittelbar in den verlegerischen Prozess eingebunden, wie an der Person Estienne Dolets zu sehen ist. Die dritte Gruppe sind diejenigen Personen, die unmittelbar im verlegerischen Prozess aktiv sind, von den Buchdruckern, Verlegern, Schriftsetzern bis zu den autorisierten Buchhändlern und Kolporteuren. Diese reagieren auf verschiedene Marktbedingungen, werben mehr oder weniger offensiv für angebotene wissenschaftliche Publikationen und suchen inmitten des entstehenden Buchmarkts nach Marktlücken und Selbstlegitimation. Zudem gilt es, nicht nur das anvisierte Lesepublikum, sondern zugleich relevante Autoritäten und Mäzene von der Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns, sprich des Publizierens zu überzeugen. 2.2 Medien, Formen und Arenen des Streits In der Renaissance finden metasprachliche Auseinandersetzungen in unterschiedlichen Medien statt. Während im 17. und v. a. im 18. Jahrhundert die publizistische Auseinandersetzung vielfach über Polemiken, Pamphlete und das aufkommende Rezensionswesen geführt wird - man denke an die von Louis Alemand (1688) als guerre civile des françois sur la langue gekennzeichneten erbitterten Auseinandersetzungen zwischen den remarqueurs de langage - dominiert bis ins 16. Jahrhundert die indirekte Auseinandersetzung, die vielfach erst in der Textinterpretation als solche erschlossen werden muss. Dies gilt umso mehr für metasprachliche Auseinandersetzungen, die Fragen der Fachsprachlichkeit berühren. Eine wichtige Quelle stellen hier z. B. Widmungsbriefe und Vorworte dar, in denen Autoren, Verleger und Übersetzer die grundlegenden Motive und praktische Gestaltung ihrer Publikationen erläutern. In der Legitimation der eigenen Publikation steckt im Kern bereits ein Beitrag zur Streitkultur, zumal vielfach das eigene Tun gegen reale oder durchaus auch vermeintliche détracteurs verteidigt wird. Die Fülle z. B. der Übersetzervorworte ist zur Rekonstruktion zeitgenössischen Sprach- und Über- Dietmar Osthus 106 setzungsbewusstseins eine wertvolle Quelle, die bislang noch längst nicht vollständig ausgeschöpft ist, deren Erschließung sich jedoch durch die immer weiter fortschreitenden Projekte zur Retro-Digitalisierung deutlich vereinfacht hat 1 . Den inhaltlichen Schwerpunkt möchte ich auf medizinische Fachtexte legen, ein Bereich der Wissenschaften, deren Texte auch aufgrund des verhältnismäßig hohen wissenschaftshistorischen Interesses der Medizin gut aufbereitet sind. Die Medizin ist eine der Wissensdomänen, die sich durch eine antike Texttradition auszeichnen und in der insofern auch die sprachbezogenen Problembereiche der translatio studii in besonderer Weise zur Geltung kommen. Neben diesen fachsprachlichen Texten, die einen Beitrag zur metasprachlichen Auseinandersetzung leisten, ist für die gewählte Fragestellung der Blick auf metasprachliche Texte zu erweitern, in denen auf Aspekte der wissenschaftlichen Kommunikation eingegangen wird. Welche Rolle kommt der Wissenschaftssprache in den volkssprachlichen Apologien, d. h. der Sprachlob-Tradition zu? Insbesondere das Verhältnis zwischen Gemein- und Fachsprache verdient hier Beachtung. In all dem mag nicht auszuschließen sein, dass ‚gegnerische‘ Positionen erst konstruiert werden bzw. zum Zweck der Selbstinszenierung eines Autoren oder Übersetzers überspitzt dargestellt werden. Insofern sollen hier auch Formen des inszenierten und des fiktiven Streits, wie er z. B. in didaktischen und höfischen Dialogen an der Tagesordnung ist, in die Untersuchung eingeschlossen werden. Auch diese Formen der Auseinandersetzung dienen der Rekonstruktion real existierender Dissens-Punkte. 2.3 Streit um Wissenschaftssprache Der humanistische Streit um die Wissenschaftssprache umfasst unterschiedliche Punkte. So verschiedene Rollen die jeweiligen Akteure im Rahmen der Etablierung einer ersten volkssprachlichen Wissenschaftskommunikation haben, so differenziert sind die in der öffentlichen Auseinandersetzung abgehandelten Streitfragen. Im Rahmen der Untersuchungen früher medizinischer Fachtexte lassen sich u. a. drei verschiedene Aspekte ausmachen: Der erste Punkt ist die Frage nach der grundlegenden Legitimation volkssprachlicher Fachtexte. Besteht in den Über- 1 Die herangezogenen Quellen sind zu einem großen Teil digital zugänglich, so das spanische Textkorpus der TMA, Textos medicos antiguos, sowie die verschiedenen in der digitalen Bibliothek der französischen Nationalbibliothek (http: / / gallica. bnf.fr) versammelten historischen Texte. Wissenschaftssprache in Spanien und Frankreich 107 tragungen wissenschaftlicher, für ein latinisiertes Expertenpublikum reservierter Inhalte eine Art Sakrileg? Daraus leitet sich der zweite Aspekt ab: Wenn es einen Dualismus von lateinisch-griechischen und volkssprachlichen Fachtexten gibt, in welchem Rahmen wird den volkssprachlichen Texten ‚volle Legitimität‘ im Wissenschaftsbetrieb zugesprochen? Kann die Volkssprache das Lateinische und Griechische vollständig ersetzen, und wenn nicht, welche Zwecke sollen die volkssprachlichen wissenschaftlichen Texte erfüllen? Der dritte Punkt ist schließlich die Frage nach den angemessenen Gestaltungen volkssprachlicher wissenschaftlicher Publikationen. Welche Adaptationsverfahren sollen angewendet werden, in welchem Rahmen haben sich Autoren und Übersetzer an gemeinsprachlichen Termini, in welchem an gelehrten, meist aus dem Mittellateinischen entlehnten Termini zu orientieren? Hierzu zählt auch die Frage, welche Rolle der Wissenschaftssprache im Programm des Sprachausbaus der langue vulgaire zukommt. Spielt die Wissenschaftssprache in den volkssprachlichen Apologien eine wesentliche Rolle bzw. ist in diesen das Varietätenbewusstsein für Wissenschaftssprache überhaupt vorhanden? Im Rahmen der Untersuchung sollen diese Frageaspekte zumindest ausschnittsartig und exemplarisch angegangen werden. Eine ausführlichere Untersuchung zu diesem Themenbereich gehört zu den bleibenden Desiderata der historischen Fachsprachenforschung. Ich möchte mich in diesem Vortrag auf spanische und französische Beispiele beschränken; zwei große romanische Sprachen, in denen in etwas unterschiedlicher Übersetzer- und Vulgarisierungstradition, zeitlich jedoch einigermaßen parallel an der Wende von Mittelalter und Renaissance ein richtiggehender ‚Boom‘ volkssprachlich verfasster wissenschaftlicher Fachtexte zu verzeichnen ist. 2.3.1 Wissenschaftssprache und wissenschaftliche Praxis Das Verfassen volkssprachlicher Fachtexte ist eingebettet in den konkreten wissenschaftlichen bzw. allgemein-fachlichen Handlungsrahmen. Dabei wird bereits durch Übersetzungen bzw. Zusammenstellungen tradierter Wissensbestände in den Volkssprachen der bestehende Rahmen wissenschaftlicher Kommunikation und wissenschaftlicher Praxis erweitert, der durch die sich im Spätmittelalter ausbildenden und von der lateinischen Sprachkultur geprägten akademischen Kultur bestimmt wird. Dies bedeutet, dass die volkssprachlichen Texte sich zunächst an ein nicht akademisch geschultes Zielpublikum richten, dem die in lateinischer Sprache verfassten Wissensbestände nicht zugänglich sind. Deutlich wird dies aus Dietmar Osthus 108 zahlreichen Angaben in Widmungsbriefen und Vorwörtern, wie z. B. dem zur kastilischen Übersetzung des Aromatariorum Compendium des Dr. Saladino, eines jüdischen Arztes aus Süditalien: (1) Y porque los mas delos boticarios de estos reynos carecen dela lengua latina y no se podrian aprouechar deste tan prouechoso libro me parecio cosa muy vtil y avn necessaria trasladarlo en castellano porque consigan el fruto que dio ocasion al dotor Saladino de tomar el trabajo de componerlo (Saladino da Ascoli 1515). Während hier einfach auf die Nützlichkeit des volgarizzamento für die pharmazeutische Praxis verwiesen wird, geht aus anderen Stellungnahmen durchaus ein Legitimationsbedarf für das Verfassen volkssprachlicher Fachtexte hervor. Bezeichnend dabei ist etwa in dem nicht datierten, aber vermutlich aus dem späten 14. oder frühen 15. Jahrhundert stammenden von Alfonso Chirino (ca. 1365-1429) verfassten Espejo de medicina der Verweis auf die Parallele zwischen juristischer und medizinischer Fachkommunikation: (2) Pero nunca se diuulgo tanto como por mj agora. & la causa es por que todos los que lo dixiero<n> fue e<n> g<r><<i>>ego & latin. & araujgo. & non lo sopieron saluo los sabios que estudiaron por las dichas lenguas a los quales conujno secretarlo por / amor del prouecho del ofiçio. E desque yo lo tracte en rromançe con mas largos aujsamjentos q<ue> ellos lo dixieron por ende es. & sera mas publico a todos segun aujno a las leyes del derecho por el rromançe de las siete partidas / que non dubdo que peso / a algunos sabios del derecho por ser diuulgada la sçiençia de los sabios. E sy soy culpado non soy en al saluo en rromançar. & declarar alguna parte de las m<<a>>ldades. & engaños. & ynorançias que manjfiesto se vee que se fazen con el titulo de medeçina de lo qual non me rrepiento por que es pro de la rrepublica. & tal me fallara la muerte (Alfonso Chirino). Die Bestrebung des divulgar la sçiençia de los sabios geht offensichtlich mit Widerständen der sabios einher, die sich in gewisser Weise in ihrem Wissensmonopol bedroht sahen. Demgegenüber wird von den Übersetzern und Kompilatoren die allgemeine Nützlichkeit konkret für die medizinische Praxis, im weiteren Sinne für die Allgemeinheit („pro de la rrpublica“) hervorgehoben. Das den latinisierten Expertenkreisen bislang vorbehaltene Wissen solle auch den romancistas zu Gute kommen, wie Pedro de Torres in einem Lehrwerk zur Beulenpest schreibt: (3) Esta enfermedad es ya en nuestros tiempos tan ordinaria, que casi cada vno sin parecer de Medico ni Cirujano se cura en su casa: y supuesto que el negocio ha venido a estos terminos, me parecio que haria seruicio muy grande Wissenschaftssprache in Spanien und Frankreich 109 a nuestro Señor, y a la Republica, en imprimir este libro, con que los Romancistas gozen alguna parte de las grandes riquezas que tenemos en la lengua Latina, y hagan menos yerros: pues es obra de caridad enseñar y corregir al que no sabe (Pedro de Torres 1600). Ambroise Paré, königlicher Chirurg François Iers, legitimiert den Verzicht auf das Lateinische als Wissenschaftssprache mit dem nahezu banal erscheinenden, im Kontext etablierter wissenschaftssprachlicher Traditionen dennoch nahezu revolutionären Diktum: (4) Ioinct que de Galien au libure des differences & symptomes des maladies, nous avons advertissement irreprehensible, signifiant que la langue ne guerit les hommes; mais les remedes deuement applicques (Ambroise Paré 1550, Aux lecteurs) Diese Nützlichkeit der volkssprachlichen Verbreitung ergibt sich aus den fast stereotyp beklagten Missständen der medizinischen Praxis. Insbesondere die zahlreichen medizinischen Scharlatane - die keine Medizin im wissenschaftlichen Verständnis betreiben -, aber auch die universitär ausgebildeten Mediziner selbst geben Anlass zur Kritik. Dabei wird u. a. die hohe Bedeutung des Lateinischen in der Mediziner-ausbildung als eine der Ursachen für die unzureichende Qualität identifiziert, wie aus dem Vorwort des Libro de la Anathomia del hombre (1655) hervorgeht. Der Zeitaufwand, den das Erlernen des Lateinischen mit sich bringe, fehle für die medizinische Praxis: (5) E holgado de escreuir este libro en romance, porque muchos cirujanos y otros hombres discretos que no saben latin, se querran aprouechar de leerlo y tambien porque hallo, que eneste tiempo los medicos estan tan aficionados al latin, que todo su pe<n>samiento emplean en la le<n>gua: y lo que haze al caso, que es la doctrina, no tienen mas pensamie<n>to dello que sino la leyessen. Y esta es vna de las causas potissima, por la qual el dia de oy se hallan pocos medicos que sepa<n> medicina, y muchos que la escriuan (Bernardino Montaña de Monserrate 1551). Das - um mit Bourdieu zu sprechen - hohe symbolische Kapital des Lateinischen spiegelt sich zudem in Auffassungen, die Volkssprache sei an sich ungeeignet für die wissenschaftliche Kommunikation; eine Auffassung, der zumindest in einigen Sprachlob-Manifesten vehement widersprochen wird. Beispielhaft anzuführen ist die Position Du Bellays in seiner von Sperone Speroni maßgeblich geprägten Défense et Illustration de la langue françoise (Du Bellay): Dietmar Osthus 110 (6) (…) je ne puis assez blâmer la sotte arrogance et témérité d'aucuns de notre nation, qui, n'étant rien moins que Grecs ou Latins, déprisent et rejettent d'un sourcil plus que stoïque toutes choses écrites en français, et ne me puis assez émerveiller de l'étrange opinion d'aucuns savants, qui pensent que notre vulgaire soit incapable de toutes bonnes lettres et érudition, comme si une invention, pour le langage seulement, devait être jugée bonne ou mauvaise (Joachim Du Bellay 1549). Spätestens im 16. Jahrhundert hat indes der Streit um die prinzipielle Möglichkeit einer volkssprachlichen Fachkommunikation als weitgehend geklärt zu gelten. Dennoch dürfen wir für diesen Zeitabschnitt von einem Dualismus von lateinischer und volkssprachlicher Wissenschaftskommunikation ausgehen. Die Ablösung des Lateinischen ist ein längerer Prozess, und dieser läuft weder in allen Fachgebieten, noch für alle großen romanischen Nationalsprachen identisch ab. 2.3.2 Der Streit um die Rolle der Volkssprache im Gefüge der Wissenschaftskommunikation Die Aufgabenverteilung zwischen den Original-Texten und Übersetzungen bzw. Kompilationen ist ungeklärt. Insbesondere besteht eine offensichtliche Kontroverse darüber, ob Übersetzungen bzw. volkssprachlich verfasste Lehrbücher die originalsprachlich verfassten Texte ersetzen können, oder ob diese lediglich als ein Propädeutikum für weitergehende, dann in den Wissenschaftssprachen Griechisch und Latein durchzuführende Studien zu begreifen sind. Pierre Tolet, französischer Übersetzer und Studienkollege Rabelais in Montpellier, sieht sich bemüßigt, im Epistre seiner Übersetzung der Chirurgia von Paulus von Aegina (1540) die Verwendung der Volkssprache entsprechend zu verteidigen: (7) […] Autheurs antiques, & modernes, sont illustrés, & publiés par nostre langue uulgaire Et non seulement cecy se faict en Fr-ce, mais en tous aultres Royaulmes & contrées. [...] Et nõ pour ce me sera objectée l'abolition de la langue Latine, ou Grecque artificielle; lesquelles ne doibuent estre familieres, & communes a ung chascun. Car si nous regardons, pourquoy elles ont esté inv ntées, & l'usage d'icelles, et außi tout ce qui par elles se traicte, l'hõme de iugement dira, que bien peu de gens doibuent uacquer a langues de si grand art: tant pour la briefueté de la uie humaine, que pour la prolixité de langues de si grand art tant diuinement dreßées par la subtilité de leurs Autheurs (4ss.). Die hohen Qualitäten der lateinischen und griechischen Sprache, die sich in der subtilité der Autoren wie im Wortreichtun erwiesen, bilden in die- Wissenschaftssprache in Spanien und Frankreich 111 sem Verständnis zugleich eine Einschränkung für deren allgemeine Verbreitung. Der Verzicht auf das Lateinische in der Wissenschaftskommunikation hat insofern in erster Linie pragmatische Gründe. Die Notwendigkeit des Erwerbs von Fachwissen hat Priorität vor dem Erlernen der langues artificielles. Zwar werden dem Lateinischen als Wissenschaftssprache grundlegende Vorteile zugestanden - neben der Ausgereiftheit v. a. die Universalität, d. h. die internationale Verbreitung -, doch wird in den Vorworten und Widmungsbriefen zugleich die Verwendung der Volkssprache mit zahlreichen Vorzügen bedacht: Es wird ein größeres Zielpublikum erreicht und die Texte können schneller produziert und publiziert werden. (8) Y assi para que mas presto llegasse a las manos, y pronta salud de V<uestra> Magestad, ni me he detenido en sacalla con aquella elegancia y puridad de lenguaje que pudiera; ni menos he dado lugar a la importunidad de algunos, q<ue> por el beneficio vniuersal queria<n> saliesse primero en lengua Latina en la qual se auia començado. Lo que se podra hazer con el tie<m>po; pues basta por agora que para lo que toca a la verdad, e intelligencia de la materia, lleua su propriedad, y va con tanta llaneza, y claridad de estilo, que a pie llano se puede entrar quien quiera por ella, sin necessidad de ninguna otra cognicion de medicina, ni otras sciencias, saluo del buen juyzio de cada vno para entenderla, y aprouecharse della (Bernardino Gímez Miedes 1589). Der vorgelegte volkssprachliche Text stellt in diesem Sinne das Ergebnis eines Kompromisses dar zwischen den Anforderungen an allgemeine Zugänglichkeit und sachgerechter Darstellung. Im Rahmen einer vertikalen Schichtung von Fachsprache kommt dem vulgaire in diesem Sinne die Funktion der Verteilersprache zu, während zumindest von einigen Autoren das Lateinische als fortbestehendes Medium der Expertenkommunikation begriffen wird. Dies geht etwa hervor aus dem Widmungsbrief zur französischen Chauliac-Übersetzung von Jehan Canapé (9) Neanmoins ce n'est pas si petite chose, de donner nouuauté au choses anciennes, authorité aux choses nouuelles, & lumiere aux choses obscures, grace aux choses fascheuses, foy aux choses doubteuses, nature à toutes choses, & toutes choses à leur propre nature Laquelle chose si ie ne puis mettre en effect, à tout le moins le bon uoulior doibt estre estimé. Ioinct que ie n'escris pas, sinon pour les rudes, et nouueaulx apprentys en Chirurgie (Jehan Chauliac 1542, Epistre). Die Nutzung der Volkssprache für wissenschaftliche Kommunikation steht also in dieser Konzeption unter dem Vorbehalt, dass sie das Studium Dietmar Osthus 112 nicht-übersetzter Texte nicht ersetzen könne, wie etwa Laurent Joubert, ein späterer Chauliac-Übersetzer im Jahr 1579 schreibt: (10) Car ce n'est pas assez de lire ce beau liure, il faut aussi estudier és liures des plus anciens, Hippocras, Galen, Auicenne, Rhasis, & c. qui ne sont traduicts en Fr-çois (Laurent Joubert 1579, 8). Im Gegensatz dazu wird von den Protagonisten einer potenziell rein volkssprachlich zu betreibenden Medizin die grundsätzliche Fähigkeit der Volkssprache zur vollständigen wissenschaftlichen Kommunikation betont. Ambroise Paré - von Sprachliebhabern heute noch als Patron der Défense einer französischen Wissenschaftssprache verehrt - gesteht offen seine fehlenden Latein- und Griechisch-Kenntnisse ein, betrachtet jedoch die vorliegenden Übersetzungen als ausreichend: (11) En faveur de vous me suys efforcé d'escripre, & mettre en brief les enseinements de Galien concernants ladicte anatomie: Comme estant celuy duquel est la doctrine trsloyale, & auquel est deu principalem t tout ce qu'avons touchant ceste partie de medecine, & chirurgie. Ie ne veulx m'arroger que i'aye leu Galien parlant grec, ou latin. Car na pleu a dieu tant faire de grace a ma ieunesse, qu'elle aye esté en l'une & lautre langue instituée. Mais aussi ne vouldroys aucunement dissimuler, que i'ay appris lesdictz documents de Galien par l'interpretation Francoyse de monsieur Iehan canape, docteur regent en la faculté de medecine faisant sa demeur-ce a Lyon (Ambroise Paré 1550, Aux lecteurs). Jehan Canappe, auf den die Übersetzungen zurückgehen, mit denen Paré gelernt hat, vertritt als Arzt und Fachübersetzer eine radikale Position, derzufolge die Vermittlung und das Verständnis von Fachinhalten in keinster Weise an die eine oder andere Sprache gebunden sind: (12) C est que nous ne sommes pas seulement naiz pour nous, mais que nostre pais, & nos amyz doybuent auoir quelque partie de nostre naisance: c'est a dire quelque fruict de nous. Voyla l'occasion laquelle m'a induict (selon ma promesse) de donner quelqoc entrée, & intelligence en l'anatomie, tant des os, que des muscles & de leur mouuement, a ceulx qui ne sont aulcunement instituez es langues, Grecques ou Latine. Considérant, que l'art de medecine, & chirurgie ne gist pas du tout aux langues. Car c'est tout ung de l'entendre en Grec, ou Latin, ou Arabic, ou Francoys, ou (si tu ueulx) en Breton Breton-t, pouruueu qu'on lentende bien. Iouxte la sentence de Cornelius Celsus, lequel dict que les maladies ne sont pas gueryes par eloquence, mais par remedes (Jehan Canappe in: Claude Galien 1556, Epistre du translateur au Lecteur). Wissenschaftssprache in Spanien und Frankreich 113 Wir können an dieser Stelle also zumindest in Ansätzen einen Konflikt rekonstruieren zwischen den ‚radikalen‘ Anhängern volkssprachlicher Wissenschaftskommunikation und solchen volkssprachlichen Autoren und Übersetzern, denen die Verwendung des vulgaire lediglich als eine Notlösung für die nicht mit dem Lateinischen Vertrauten betrachten 2 . Dabei bedeutet die Behauptung der prinzipiellen Eignung der Volkssprachen für die wissenschaftliche Kommunikation indes noch keine Diagnose der entsprechenden Tauglichkeit der bislang vorliegenden Mittel. Das Bewusstsein für die Gewagtheit des Unternehmens, in den Volkssprachen wissenschaftliche Texte zu verfassen, geht aus einigen Stellungnahmen klar hervor, woran sich die potenzielle Streitfrage anschließt, mit welchen sprachlichen Mitteln dieser Herausforderung angemessen zu begegnen sei. 2.3.3 Der Streit um die Vulgarisierungstechnik Es ist offensichtlich und den Beteiligten bewusst, dass sie sich in volkssprachlich verfassten Fachtexten auf einem neuen Terrain befinden. Die Schlüsseldifferenz zwischen den klassischen Wissenschaftssprachen und den Volkssprachen ist die bei letzteren noch nicht vollzogene réduction en art. Übersetzer, Autoren und Kompilatoren stehen daher vor einer doppelten Herausforderung; zum einen Fachtexte in angemessener Art und Weise in die - für diese Zwecke noch nicht vollständig ausgebauten - Volkssprachen zu übertragen, zum anderen ihren je eigenen Beitrag zu einem solchen Sprachausbau zu leisten. Auf dieses Dilemma verweist etwa Estienne Dolet in seinem Übersetzungshandbuch: (13) Lequel [...] tu recepuras non comme parfaict en la demonstration de nostre langue, mais seulement cõme ung cõmencement d'ycelle. Car ie scay, que quand on uoulut reduire la la langue Grecque, & Latine en art, cela ne fut absolu par ung homme, mais par plusieurs. Ce qui se fera pareillement en la langue Françoyse: & peu a peu par le moyen, & travail des gens doctes elle pourra estre reduicte en telle parfection, que les langues dessusdictes (Estienne Dolet 1540, 4). Dies erklärt unterdessen die Notwendigkeit für Übersetzer und wissenschaftliche Fachautoren in den Volkssprachen etwa im Bereich der Fach- 2 Dieser Streit hält - nehmen wir den deutschsprachigen oder auch nur den lusophonen Bereich - z. T. bis ins frühe 19. Jahrhundert an. In Frankreich lässt sich ab dem 17. Jahrhundert von der stattgefundenen Ablösung des Lateinischen durch die Volkssprache sprechen, auf der iberischen Halbinsel stellt sich die Situation etwas komplexer dar. Dietmar Osthus 114 terminologie Neuerungen zu schaffen. Gegenüber den Neuerungen sind etwa verschiedene Positionen erkennbar. Für Du Bellay stellt die Neubildung lexikalischer Einheiten zum Zweck der Fachkommunikation ein legitimes Mittel dar, das gewissermaßen durch eine sprachliche Wissenschaftsfreiheit gedeckt und im Sinne des notwendigen Sprachausbaus sinnvoll sei: (14) Les ouvriers (afin que je ne parle des sciences libérales) jusques aux laboureurs mêmes, et toutes sortes de gens mécaniques, ne pourraient conserver leurs métiers, s'ils n'usaient de mots à eux usités et à nous inconnus. Je suis bien d'opinion que les procureurs et avocats usent de termes propres à leur profession, sans rien innover: mais vouloir ôter la liberté à un savant homme, qui voudra enrichir sa langue, d'usurper quelquefois des vocables non vulgaires, ce serait restreindre notre langage, non encore assez riche, sous une trop plus rigoureuse loi que celle que les Grecs et les Romains se sont donnée (Jochaim Du Bellay 1549). Dabei differenziert Du Bellay zwischen der Fachsprache des Rechts, in der Bedeutungen und Terminologie feststünden, also statisch seien, und anderen Wissenschaftsbereichen, in denen eine lebhafte dynamische Entlehnungstradition v. a. aus dem Lateinischen und Griechischen besteht. Das Bewusstsein für die spezifischen fachlichen Anforderungen an die Kommunikation und für die Abgrenzung zwischen Fach- und Gemeinsprache geht aus diesem Abschnitt ebenfalls deutlich hervor. Claude Fauchet, Autor einer frühen französischen Sprachgeschichte, sieht ebenfalls - in Analogie zu dem von Du Bellay gekennzeichneten Sprachausbauprogramm - in Übersetzungen und besonders im Verfassen genuin volkssprachlich wissenschaftlicher Texte ein Mittel zur gewollten Sprachbereicherung: (15) Toutesfois i'estime, que si les hommes doctes continuent à escrire leurs conceptions en nostre langue vulgaire, que cela pourra nous rendre l'honneur perdu: l'enrichissant tous les iours, par tant de fideles translations de liures Grecs & Latins: mais plus (à mon advis) par tant de sçavans personnages, qui employent les forces de leur vif esprit, à l'augmentation de la poesie Françoise (Claude Fauchet 1581, 40). Dieser innovatonsfreundlichen Position stehen indes kritischere Stellungnahmen gegenüber. Estienne Dolet warnt etwa Übersetzer davor, in unverantwortlicher Weise in die Volkssprachen terminologische Neuerungen einzuführen: (16) La quatriesme reigle, que ie ueulx bailler en cest endroict, est plus à obseruer en langues non reduictes en art, qu'en aultres. I'appelle langues non re- Wissenschaftssprache in Spanien und Frankreich 115 duictes encores en art certain, & repceu: comme est la Françoyse, l'Italienne, l'Hespaignole, celle d'Allemaigne, d'Angleterre, & aultres uulgaires. S'il aduient dõcques, que tu traduises quelcque Liure Latin en ycelles (mesmement en la Françoyse) il te fault garder d'usurper mots trop approchants du Latin, & peu usités par le passé: mais cõtente toy du commun, sans innover aulcunes dictions follement, & par curiosité repreh sible (Estienne Dolet 1540, 14). Im Mittelpunkt seiner Kritik stehen dementsprechend terminologische Entlehnungen aus der lateinischen Wissenschaftssprache, eine Praxis, die - wie aus der Rückschau klar erkennbar ist - zu einer latinisierten volkssprachlichen Wissenschaftssprache und letztlich zur Relatinisierung der westeuropäischen Sprachen insgesamt geführt hat. Bekannt, und im polemisch geführten Sprachenstreit in Erinnerung bleibend, sind in diesem Zusammenhang auch frühe Polemiken und literarische Parodien des übertriebenen Latinismus, angefangen bei Geoffroy Tory (1529) 3 über Rabelais, der die Begegnung Pantagruels mit dem escholier limousin (Pantagruel 1532, Kap. VI) schildert, bis hin zu Molière, der dem hybriden Mediziner-Sabir des Thomas Diaphoirus im Malade imaginaire ein Denkmal setzt. Demgegenüber wird insbesondere in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts gleichzeitig mit der Möglichkeit volkssprachlicher Wissenschaftskommunikation auch die enge Bindung der Wissenschaften an die klassischen Sprachen, z. T. auch mit theologischen Argumenten betont. Pierre Fabri etwa konstatiert in seiner Grant et vray art de pleine rhetorique: (17) [...] Dieu fit la confusion des langages. Et toutes sciences sont escriptes en ces trois principaulx langages, c'est assauoir hebrieu, grec et latin. Et l'art de rethorique y est escript entre les autres bien au long. Et doibuent oultre sçauoir que le langage vulgaire françoys, espaignol et tous aultres langages, se nourissent et prennent leur substance des trois premiers artificiellement composez. Parquoy l'on doibt ensuiuir en nostre langage vulgaire la doctrine et science contenuz en iceulx langages (Pierre Fabri 1889 [1521], 9). 3 „Qu-t Escumeurs de Latin disent Despumon la verbocination latiale, & transfreton la Sequane au dilicule & crepuscule, puis deambulon par les Quadrivies & Platees de Lutece, & comme verisimiles amorabundes captiuon la beniuolence de lomnigene & omniforme sexe feminin. me semble quilz ne se moucquent seullement de leurs semblables, mais de leur mesme Personne“ (Tory 1529, Aux Lecteurs de ce Present Liure humble Salut). Dietmar Osthus 116 Die volkssprachliche Wissenschaftskommunikation speist sich folglich sowohl inhaltlich als auch hinsichtlich der verwendeten Termini durch die drei ‚heiligen‘ Sprachen Hebräisch, Griechisch und Latein. Die Verwendung des adäquaten Fachterminus - der meist auch bereits in der Volkssprache eine gewisse Texttradition vorweisen kann - hat demnach Vorrang vor den prinzipiell ebenfalls möglichen rein volkssprachlichen Umschreibungen: (18) Et qu'il soit vray le langaige françoys est si ample et si abundant en termes que combien que l'en puisse parler de toutes sciences sans user de propres termes de icelles comme par circunlocutions, toulteffoys le plus elegant et le plus agregé est de user de propres termes ja par noz peres imposez. Je entens des termes honnestes carles deshonnestes se doibvent dire par circunlocution comme il sera dict cy aprés (Pierre Fabri 1889 [1521], 30). Bezeichnenderweise sehen sich zahlreiche Fachübersetzer genötigt, die Verwendung der lateinisch-griechischen Fachterminologie ausdrücklich zu rechtfertigen. Laurent Joubert, selbst Mediziner und Autor sowohl lateinischer als auch französischsprachiger medizinischer Fachtexte, verweist im Vorwort seiner Chauliac-Übersetzung ausdrücklich auf die Notwendigkeit, in der wissenschaftlichen Kommunikation nicht-alltagssprachliche Einheiten zu verwenden: (19) Vray est que les ignorans de cest art, la trouveront asses difficile, parce que i'ay voulu retenir la grauité du stile medicinal, les termes, phrases & sentences vsitees en nos escoles: comme en tous arts & sci ces il y ha outre langage, que le commun & familier, bien que le tout soit en vulgaire, en Latin, ou en Grec (Laurent Joubert 1579, 5s.). Interessanterweise kommt diese Rechtfertigung latinisierter Termini von einem Autoren, der zum einen sprachtheoretisch zu den Verteidigern nicht etymologisierender Schreibungen gehört 4 , zum anderen in seiner Übersetzungspraxis einen vergleichsweise geringen Anteil latinisierter Termini verwendet 5 . Daraus ist zu schließen, dass in der zweiten Hälfte 4 Cf hierzu auch den Dialogue sur la cacographie fransaize expliquant la cause de sa corruption. Antre parleurs fransais & Wolffgang, 1579a, 376-399: „Ainsi les Fransais se font gr-d tort, de vouloir antretenir an leurs mos certaines lettres superflües, qui ne servet q de temogner l'amprunt, & par cõsequ-t prouver la pauvreté de langage. C'et bien tout le cõtraire de ce qu'ils pretandet, que la derivacion fasse honneur a leur langue“ (387). 5 An anderer Stelle haben wir Chauliac-Übersetzungen verschiedener Autoren hinsichtlich der verwendeten Terminologie miteinander verglichen. So zeigt insbesondere die französische Übersetzung von Joubert (1579) ein stärkeres Bemühen, Wissenschaftssprache in Spanien und Frankreich 117 des 16. Jahrhunderts die Fachterminologie selbst in den Volkssprachen bereits so gräzisiert bzw. latinisiert ist, dass jedes Bemühen um genuin erbwörtliche Lösungen an Grenzen stoßen muss. 3. Fazit und Ausblick Wir konnten an dieser Stelle lediglich einen Ausschnitt der vielfältigen metasprachlichen Reflexionen zur volkssprachlichen Wissenschaftskommunikation darstellen. Was jedoch insgesamt deutlich wird, ist, dass natürlich diejenigen Autoren, die selbst in den Volkssprachen Texte verfassen bzw. bestehende Texte in diese übersetzen, allesamt die Verwendung des vulgaire legitimieren, dabei jedoch epochen-, sprach- und wissenschaftsspezifische Unterschiede klar erkennbar sind. Der Legitimationsdruck für volkssprachliche Autoren an sich lässt gegen Mitte des 16. Jahrhunderts sowohl in Frankreich wie in Spanien deutlich nach, was den publizistischen Tatsachen und den guten Marktbedingungen Rechnung trägt. Unterschiedliche Akzentsetzungen sind indes erkennbar in der Frage, welche Stellung im Wissenschaftsbetrieb den ‚vulgarisierten‘ Texten, welche den lateinischen und griechischen Originaltexten zukommt. Eng verbunden damit steht die Frage, wie weit die Latinisierung der Volkssprachen in dem Sinne gehen sollte. Letztlich wird die Genese eines Bewusstseins für die Differenzen zwischen Alltags- und Fachkommunikation durch diese teils echten, teils inszenierten, teils fiktiven Auseinandersetzungen erst befördert. Perspektivisch liegt in der historischen Erforschung des metasprachlichen Diskurses der Wissenschaften ein hohes Erkenntnispotenzial. Zahlreiche, immer besser erschlossene Dokumente - man denke an historische wissenschaftliche Fachzeitschriften, an das entstehende Rezensionswesen etc. - sind bislang weder wissenschaftssprachlich noch hinsichtlich des jeweiligen Sprachbewusstseins, das sich etwa in metasprachlichen Anmerkungen zeigt, untersucht worden. Dass hier unterschiedlichste Formen der Streitkulturen vorliegen, dürfte eines sein: unstrittig. Latinismen und Gräzismen sowohl im Lexikon wie in der Syntax durch genuin französische Formen zu substituieren als die vorhergehenden, Joubert bekannten Übersetzungen von 1490 und 1542. Die Entsprechungen lat. sine exclusione > frz. sans forclorre oder lat. potio > frz. breuuage zeugen von der grundsätzlichen Fähigkeit ererbter volkssprachlicher Mittel zur medizinische Fachkommunikation; festzuhalten bleibt aber, dass diese in den verbreiteten Übersetzungen der Chirurgia Magna die absolute Ausnahme bilden. Dietmar Osthus 118 Korpus Aegineta, Paulus, La chirurgie, Lyon, Dolet, 1540 (traduict de latin en françois par maistre Pierre Tolet). Ascoli, Saladino da, Compendio de los boticarios, (Übersetzung des Aromatariorum compendium des Dr. Saladino, médico judío suditaliano, hecha por Rodriguez de Tudela), Valladolid, Brocar, 1515 [TMA]. Chauliac, Gui de, La grande chirurgie de M. Chauliac, restituée nouvellement à sa dignité par M. Laurens Joubert, Lyon, 1579. 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Zur Orientierung dient mir dabei die Abgrenzung zwischen Einzelsprachen und Diskurstraditionen, wie sie in den letzten Jahrzehnten im Anschluss an die Sprachtheorie Eugenio Coserius herausgearbeitet worden ist. Als empirische Grundlage ziehe ich drei Texte des 13. Jahrhunderts heran, die auf sehr unterschiedliche Weise Ciceros Jugendwerk De inventione in eine romanische Volkssprache übertragen: die Rettorica und das Livre dou Tresor von Brunetto Latini und die Rettorique von Jean d'Antioche. Brunetto Latini verfasst seine beiden bedeutendsten Werke in den Jahren des Exils in Frankreich. Die Rettorica (ca. 1260-1261) in florentinischem Volgare übersetzt und kommentiert die ersten 17 Kapitel von De inventione, wobei sehr deutlich - bis hin zur Verwendung unterschiedlicher Schriftgrößen - zwischen dem Text Ciceros und den Erläuterungen des sponitore unterschieden wird 1 . Das weit umfangreichere, enzyklopädische Livre dou Tresor (abgeschlossen 1266), gleichsam ein Handbuch für den angehenden Politiker (cf. Meier 1988, 353), enthält im dritten Teil eine Rhetorik, die sich ebenfalls in erster Linie an Ciceros De inventione orientiert 2 . Jean d'Antioche vollendet seine Rettorique nur wenige Jahre später, wahrscheinlich im Jahr 1282, in Saint-Jean-d'Acre (Akkon) im 1 „[…] sanza fallo recato è in volgare il libro di Tulio e messo in avanti in grossa lettera, sì come di maggiore dignitade, e poi sono recati in lettera sottile e' ditti di molti filosofi e llo ‘ntendimento dello sponitore“ (Rettorica, 8). 2 Zum Werk Brunettos cf. zusammenfassend Beltrami (2007); das Livre dou Tresor wird nach der Ausgabe Carmody (1948) zitiert. Raymund Wilhelm 122 Heiligen Land. Das ambitionierte Werk enthält, ergänzt durch einen wissenschaftstheoretischen Prolog und zwei abschließende Paragraphen zur Übersetzungstheorie und zur Logik, eine französische Übersetzung von Ciceros De inventione und der Rhetorica ad Herennium, die im Mittelalter ebenfalls Cicero zugeschrieben wurde 3 . 1.2 Die drei volkssprachlichen Rhetoriken aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstammen sehr unterschiedlichen kulturellen und sozialen Situationen: Brunetto Latinis Texte dienen nicht zuletzt den politischen Zielen der Partei der florentinischen Guelfen; dagegen verfasst Jean d'Antioche seine Übersetzung der lateinischen Lehrbücher im Auftrag von Guillaume de Saint-Étienne, eines Würdenträgers des Hospital- Ordens. Auch im Hinblick auf die Übersetzungspraxis unterscheiden sich die drei Texte erheblich: Jean d'Antioche rahmt seine Übersetzung durch frei formulierte paratextuelle Elemente ein; in Brunettos Rettorica finden wir dagegen einen regelmäßigen Wechsel von Übersetzung und Kommentar; im Livre dou Tresor schließlich wird die Übersetzung einzelner Abschnitte aus De inventione mit Passagen anderer Provenienz und mit eigenständigen Ergänzungen vermischt. Gleichwohl weisen die drei Texte eine wesentliche Gemeinsamkeit auf: Sie führen uns eine sprachliche Konstellation vor Augen, in der die Wahl zwischen der einen oder anderen romanischen Volkssprache eine bewusste Entscheidung erfordert. Offensichtlich ist dies im Fall Brunettos, der vom florentinischen Volgare seiner Vaterstadt zum Französischen wechselt, obgleich er nach wie vor in erster Linie die politischen Verhältnisse Italiens - „les us as ytaliens“ (Livre dou Tresor, I 1,4) - im Blick hat. Für die Wahl des Französischen führt Brunetto zwei Gründe an: „l'une ke nous somes en France, l'autre por çou que la parleüre est plus delitable et plus commune a tous langages“ (I 1,7). Selbst wenn diese Begründung dem modernen Leser etwas ausweichend erscheinen mag, zeigt sie sehr deutlich, dass die Sprachenwahl im Livre dou Tresor an den besonderen Qualitäten der in Frage stehenden Sprachen - ihrer Schönheit 3 Zur Rettorique von Jean d'Antioche cf. Delisle (1906) und Pignatelli (2004; ib. 2006; ib. 2007); zitiert wird - in Erwartung der Edition von Willy Van Hoecke (cf. Van Hoecke 2004, 131) - die Teilausgabe von Delisle (1899). Scientific Community 123 und ihrer Verbreitung - und nicht an den ‚muttersprachlichen‘ Kenntnissen des Verfassers („puis ke nous somes italien“; ib.) orientiert ist 4 . Auch Jean d'Antioche verfaßt seine Rettorique in einer mehrsprachigen Situation. In den Kreuzfahrerstaaten leben Angehörige unterschiedlicher europäischer Sprachgemeinschaften zusammen. Die vorherrschenden Gruppen in Saint-Jean-d'Acre sind im späten 13. Jahrhundert die italienischen, vor allem venezianischen Kaufleute und die überwiegend französischen Ordensritter 5 . Cinzia Pignatelli (2006) konnte in der französischen Übersetzung der Otia imperialia von Gervais de Tilbury, die demselben Jean d'Antioche zugeschrieben wird, zahlreiche Italianismen und Okzitanismen nachweisen. Die Aufnahme sprachlich heterogener Elemente ist typisch für Sprachkontaktsituationen: Pignatelli spricht hier von einer langue coloniale à laquelle les multiples communautés des locuteurs apportent leurs contributions, et qui laisse passer même à l'écrit […] des formes et des phénomènes qui seraient considérés ailleurs comme populaires ou régionaux (ib., 376) 6 . Zweifellos dürfen wir davon ausgehen, dass Jean d'Antioche geradezu alltäglich mit fremden Sprachen konfrontiert ist; eine besondere Sensibilität für Sprachverschiedenheit kommt im Übrigen in seinem Übersetzernachwort zum Ausdruck: „Quar chascune lengue si a ses proprietez et sa maniere de parler […]“ (Rettorique, 261). Halten wir fest, dass auch die Cicero-Übersetzung von Jean d'Antioche in einer kulturellen Situation entsteht, in der nicht nur das Latein und die Volkssprache, sondern mehrere romanische Volkssprachen zueinander in Konkurrenz stehen. 1.3 Im Folgenden sollen insbesondere zwei Fragen an die volkssprachlichen Rhetoriken gerichtet werden 7 : Zum einen ist zu begründen, inwiefern die Cicero-Übersetzungen des 13. Jahrhunderts überhaupt als wissenschaftliche Texte gelten können. Der Status der Rhetorik als episteme und nicht nur als techne und somit ihre Stellung im Wissenschaftssystem der Epoche wird von Brunetto Latini und Jean d'Antioche selbst ausführlich dar- 4 Zur Frage der Sprachenwahl im Livre dou Tresor cf. auch Wilhelm (2006, 23s.) und Fenzi (2008, 354-357). 5 Cf. Jacoby (1977); Jacoby (1984). 6 Zum français d'outremer cf. u. a. Folena (1990); Minervini (2001) und Aslanov (2008). Raymund Wilhelm 124 gelegt. Diese Überlegungen führen uns die historische Verfasstheit des Wissenschaftsbegriffs vor Augen. Die Wissenschaft ist in der Tat als eine Diskurstradition höherer Ordnung, als ein ständig im Wandel begriffenes Diskursuniversum, zu betrachten. Diese Auffassung der Wissenschaft führt uns zur zweiten Fragestellung: der genaueren Bestimmung der Wissenschaftssprache zwischen den Dimensionen der Einzelsprache (oder einzelsprachlichen Varietät) und der Diskurstradition. Es soll gezeigt werden, dass gerade die umsichtige Situierung der untersuchten Phänomene zwischen den einzelsprachlichen und den textuellen Normen zu einer genaueren Einsicht in die Historizität des wissenschaftlichen Diskurses führen kann. Die rhetorische Wissenschaft als eine frühe Ausprägung der sciences du langage verdient dabei unser besonderes Interesse. 2. Sprachgemeinschaften und Diskursgemeinschaften 2.1 Ein zentrales Element der neueren Texttheorie ist die Annahme einer weitreichenden Analogie von Diskurstraditionen und historischen Einzelsprachen. Coseriu hat diese Einsicht schon vor längerer Zeit im Hinblick auf die literarischen Gattungen formuliert: Die sogenannten literarischen Gattungen erscheinen bei näherer Betrachtung als den historischen Sprachen analog. Sie sind nämlich keine ‚Klassen‘ (und daher auch keine ‚Gattungen‘ im eigentlichen Sinne), sondern vielmehr jeweils historisch gegebene Individuen, genauso wie die Sprachen (Coseriu 1971, 186s.). Es liegt auf der Hand, dass die Parallele zu den Einzelsprachen nicht nur für die literarischen Gattungen, sondern in gleicher Weise für „die Textgattungen überhaupt“ (Kuon 1988, 242) und weiterhin für sämtliche Diskurstraditionen gilt. Somit ist es nur folgerichtig, wenn Peter Koch und Wulf Oesterreicher Coserius Drei-Ebenen-Modell des Sprachlichen in der Weise modifizieren, dass sie auf der historischen Ebene zwei Dimensio- 7 Ein ausführlicher Vergleich der drei Texte findet sich in Wilhelm (in Vorbereitung). Scientific Community 125 nen ansetzen: die historische Einzelsprache mit ihren Varietäten und die Diskurstradition; in schematischer Form 8 : Universelle Ebene: Sprechtätigkeit Historische Ebene: einzelsprachliche Varietät Diskurstradition Aktuelle Ebene: Diskurs/ Text Das Schema soll deutlich machen, dass sich die universelle Sprechtätigkeit immer nur entsprechend diskurstraditionellen und einzelsprachlichen Normen in konkreten Texten oder Diskursen manifestieren kann 9 . In jüngerer Zeit hat vor allem Franz Lebsanft Kritik an einer solchen Erweiterung von Coserius Drei-Ebenen-Modell angemeldet 10 . Strittig ist dabei zum einen die genaue Fassung der Ebene des Textes: Während Coseriu auf der ‚individuellen‘ Ebene immer auch bereits die Texttraditionen mitdenkt 11 , schränken Koch und Oesterreicher die dritte Ebene auf die je einmaligen Manifestationen im hic und nunc ein; somit wird Coserius Ebene des Individuellen im Sinne des jeweils Aktuellen umgedeutet 12 . Zum zweiten ist damit die Frage aufgeworfen, inwieweit die Einzelsprachen und die Diskurstraditionen in gleicher Weise ‚historisch‘ sind. Die Diskussion konzentriert sich derzeit insbesondere auf die Parallelsetzung von Sprachgemeinschaften und Text- oder Diskursgemeinschaften. Ich möchte hier zeigen, dass sich die Annahme von Diskursgemeinschaften insbesondere für die Erklärung mittelalterlicher Kommunika- 8 Hier nach Oesterreicher (2001, 1558), der allerdings auf der historischen Ebene die Größen ‚Einzelsprache‘ und ‚Diskurstraditionen‘ ansetzt. 9 Cf. u. a. Koch (1997, 43-54) und Oesterreicher (2001, 1558-1562). - Eine ganz ähnliche Ergänzung von Coserius Modell hatte auch bereits Kuon (1988, 239s.) vorgeschlagen. 10 Cf. Lebsanft (2005, 30-33; ib. 2006, 535s.); die Kritik knüpft dabei teilweise an Albrecht (2003) und Aschenberg (2003) an; cf. auch die Entgegnung in Koch (2008, 53-56). 11 In der Tat siedelt Coseriu auf der individuellen Ebene unter dem Gesichtspunkt der dynamis das ‚expressive Wissen‘ an, das die Produktion von Texten leitet; cf. Coseriu (1988, 69-89). 12 Dabei fasst Koch (1997, 52 n. 13; ib. 2008, 55 n. 3) eine mögliche Unterscheidung zwischen dem Aktuellen und dem Individuellen, etwa im Sinne des Individualstils eines Autors, ins Auge. Die hier angedeutete Annahme eines Übergangsbereichs zwischen der aktuellen und der historischen Ebene würde noch eine genauere Ausarbeitung verdienen. Raymund Wilhelm 126 tionssituationen als außerordentlich erhellend, ja geradezu als notwendig erweist. In dieser Hinsicht hat die Doppelung der historischen Ebene, wie sie von Koch, Oesterreicher und anderen vorgeschlagen wurde, den entscheidenden Vorzug, dass sie die Analogie der einzelsprachlichen Varietäten und der Diskurstraditionen unmittelbar augenfällig macht. 2.2 Der Begriff des ‚Historischen‘ verdient in diesem Zusammenhang noch eine genauere Reflexion. Die Annahme eines grundlegend unterschiedenen Status der Sprachgemeinschaften und der Textgemeinschaften wird von Coseriu wie folgt begründet: Die Ebene der Texte ist […] nicht in dem Sinn historisch wie die Ebene der Einzelsprachen. Die Sprachgemeinschaften gelten nämlich gerade wegen des Sprachlichen als Gemeinschaften, z. B. die deutsche oder die französische Sprachgemeinschaft. Es gibt zwar auch bei Texten oder Textsorten Gemeinschaften. Sie sind es aber nicht deshalb, weil sie bestimmte Texte oder Textsorten verwenden. Es ist gerade umgekehrt: Sie sind zuerst Gemeinschaften, und eben deshalb verwenden sie diese oder jene Texte. Es gibt beispielsweise Texte, die nur Priester verwenden. Die Priester bilden aber nicht deshalb eine Gemeinschaft, weil sie diese Texte verwenden, sondern sie verwenden die Texte, weil sie Priester sind (Coseriu 1988, 86). Die hier getroffene Unterscheidung ist weithin unwidersprochen geblieben 13 . Allerdings dürfte es sich historisch nur schwer verifizieren lassen, dass Sprachgemeinschaften generell durch die gemeinsame Sprache als Gemeinschaften konstituiert werden, wohingegen Textgemeinschaften bereits als Gemeinschaften existieren und erst sekundär gemeinsame Texttraditionen ausbilden 14 . Was hier in Frage steht, ist die identitätsstiftende - und damit die gemeinschaftsstiftende - Funktion bestimmter kommunikativer Praktiken. Dabei erweist sich nicht nur der Begriff der Diskursgemeinschaft sondern auch der Begriff der Sprachgemeinschaft als erklärungsbedürftig. Weg- 13 Zustimmend äußert sich neben Lebsanft (2005, 32; ib. 2006, 535) auch Koch (2008, 55). - Cf. in ähnlichem Sinne auch Kabatek (2001, 98-100). 14 Cf. auch: „Die eigentümliche Historizität der Einzelsprachen besteht nämlich darin, daß sie Gemeinschaften konstituieren, die durch sie definiert werden“ (Coseriu 1988, 81). - Im italienischen Mittelalter scheinen die Verhältnisse eher umgekehrt zu liegen: Wenn etwa Brunetto bemerkt, „ke nous somes italien“ (cf. 1.2), dürfte die damit bezeichnete Gemeinschaft kaum auf einer gemeinsamen Sprache beruhen. Scientific Community 127 weisend ist die Unterscheidung zweier Dimensionen des Historischen, die Coseriu selbst (1988, 81 n. 1) mit den Begriffen des historischen Wesens und des historischen Status fasst: Ihrem Wesen nach sind die „Texttraditionen“ in der Tat ebenso historisch wie „alle Sprachsysteme“; einen historischen Status besitzen, Coseriu zufolge, dagegen nur wenige herausgehobene Sprachsysteme, diejenigen Varietäten nämlich, die den Charakter von Nationalsprachen erlangt haben 15 . Die Konsequenzen dieser Unterscheidung sind beträchtlich. Zum einen können wir nunmehr präzisieren, dass die Parallelsetzung von Einzelsprachen und Diskurstraditionen - und damit von Sprachgemeinschaften und Diskursgemeinschaften - in erster Linie das historische Wesen betrifft: Diskurstraditionen sind in der gleichen Weise historisch wie einzelsprachliche Varietäten (Sprachsysteme); denn sowohl die sprachlichen als auch die textuellen Normen werden notwendig im Innern von ‚Gemeinschaften‘ tradiert. Dies ließe sich etwa auch anhand von Dialekten und Soziolekten illustrieren, mit denen jeweils mehr oder weniger deutlich abgegrenzte Gruppen korrespondieren. Hieraus folgt sodann auch, dass das Individuum immer schon mehreren, sich auf vielfältige Weise überlappenden Sprachgemeinschaften angehört. Zum zweiten wird deutlich, dass Coserius historischer Status lediglich eine historisch partikuläre Konstellation bezeichnet, die im Wesentlichen auf die Nationalstaaten des 19. und 20. Jahrhunderts - deutlicher noch: auf die Imagination nationaler Gemeinschaften (cf. Anderson 2 1991) - beschränkt sein dürfte 16 . Die Sprachensituation des romanischen Mittelalters ist dagegen ganz anders geregelt. Bezugspunkt unserer Überlegungen kann somit nicht die als ‚Normalfall‘ gesetzte nationale Sprachgemeinschaft sein; vielmehr müssen wir von der - von Coseriu selbst betonten - Analogie der einzelsprachlichen und der textuellen Normen hinsichtlich ihres ‚historischen Wesens‘ ausgehen 17 . Ein reiches Anschauungsmaterial bietet in dieser Hinsicht die lateinische Sprache im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Coseriu (1988, 15 Die Abhebung des Niederländischen von den „anderen niederdeutschen Dialekten“ ist in diesem Sinne eindeutig (Coseriu 1988, 81 n. 1). 16 Cf. auch Lebsanft (2005, 32): „Coseriu [denkt] das Historische, auch wenn er das nicht expressis verbis sagt, in der Kategorie des durch die Einzelsprache definierten Nationalen, sei es als Kultur- oder Staatsnation“. - Diese Gleichsetzung von Sprachgemeinschaft und Nation dürfte dabei insbesondere auf Humboldt zurückgehen. 17 Cf. auch die Diskussion in Wilhelm (2007). Raymund Wilhelm 128 25) vereinfacht sicher zu stark, wenn er das Lateinische seit dem Mittelalter als das Beispiel einer Sprache zitiert, die nur noch in einem einzigen Sprachstil (Register) gebraucht wird und deshalb als ‚tote‘ Sprache zu gelten habe. Obwohl es nurmehr als Bildungssprache tradiert wird, ist das Latein in mehreren Kommunikationsbereichen, wie beispielweise der Liturgie und der Wissenschaft, gut etabliert. Auch die zuweilen geäußerte Einschätzung des nachklassischen Lateins als einer ‚Sprache ohne Sprachgemeinschaft‘ 18 wäre zu präzisieren. Zweifellos wird die lateinische Sprache des Mittelalters und der frühen Neuzeit von einer Gemeinschaft tradiert: von der Gruppe derjenigen Personen, die die historische Technik des Latein-Sprechens und des Latein- Schreibens anwenden und damit ständig weiterentwickeln. Allerdings ist diese Sprachgemeinschaft nicht durch die Bindung an ein bestimmtes Territorium, sondern durch die Pflege bestimmter kommunikativer Praktiken definiert: Die lateinische Sprachgemeinschaft basiert zuallererst auf einer Anzahl von Text- oder Diskursgemeinschaften 19 . Alle Vertreter der lateinischen Sprachgemeinschaft gehören dabei zugleich noch einer oder mehreren anderen Sprachgemeinschaften an. Der Gebrauch des Lateins kann somit keine ‚nationale‘ Identität, die dem Mittelalter ohnehin fremd ist, wohl aber eine Gruppenidentität begründen. In diesem Sinne bezeichnet etwa Johannes von Salisbury das Latein als die lingua sacerdotum, das heißt als diejenige Sprache, die die Priester in der Ausübung ihres Amtes verwenden (cf. Burke 2006, 57). Vergleichbare Konstellationen sind auch in anderen historischen Zusammenhängen nachweisbar. Identitätsstiftend wirken dabei insbesondere herausgehobene, nicht-alltägliche kommunikative Praktiken. Dies zeigt sich unter anderem bei den Religionsgemeinschaften - ein cattolico praticante ist jemand, der an bestimmten textuellen Vollzügen (der Liturgie) teilhat, - und bei bestimmten Berufsgruppen - ein höfischer Dichter (ein Troubadour, Trouvère, Minnesänger etc.) ist jemand, der bestimmte Textformen beherrscht und anwendet. Hier können wir mit vollem Recht von Diskursgemeinschaften sprechen. Und die Existenz einer solchen Diskursgemeinschaft ist keineswegs an den Gebrauch einer bestimmten Einzelsprache gebunden: Zwar wird die Gruppenzugehörigkeit durch die konventionelle Wahl einer von der Gemeinsprache unterschiedenen Einzelsprache - etwa des Lateins für die Messfeier und des Okzitanischen für 18 Cf. bereits Bieler (1949). 19 Zur Bindung des nachklassischen Lateins an ‚Textgemeinschaften‘ cf. im Anschluss an ältere Studien Burke (2006, 63). Scientific Community 129 die höfische Dichtung - noch zusätzlich unterstrichen. Die Diskurstradition (und die Diskursgemeinschaft) besteht jedoch auch dann, wenn sie in der Gemeinsprache praktiziert wird. Insgesamt dürfen wir davon ausgehen, dass die Diskursgemeinschaften, wie die Sprachgemeinschaften auch, unterschiedlich scharf konturiert sind. Der von Peter Burke (2006, 12) formulierte Grundsatz - „Je charakteristischer die Sprache, desto größer wird wahrscheinlich auch der Zusammenhalt der Gemeinschaft sein und umgekehrt“ - dürfte somit in gleichem Maße für die Diskurstraditionen gelten. 2.3 Halten wir drei Punkte fest: (1) Diskurstraditionen werden in ähnlicher Weise in Diskursgemeinschaften tradiert, wie einzelsprachliche Varietäten in Sprachgemeinschaften tradiert werden; die Überlieferung historisch wandelbarer Normen ist überhaupt nur im Innern sozialer Gruppen denkbar. Mit Coseriu können wir davon ausgehen, dass Sprachvarietäten und Texttraditionen ihrem historischen Wesen nach analog sind. (2) Der einzelne Sprecher gehört in aller Regel mehreren Sprachgemeinschaften an, insofern sein sprachliches Repertoire neben (oder anstatt) der Standardsprache weitere Varietäten (aus den Bereichen der Dialekte, Soziolekte, Register) und zudem, in vielen Fällen, eine oder mehrere Varietäten weiterer Sprachen (‚Fremdsprachen‘) enthält. Analog partizipiert der Sprecher jeweils an unterschiedlichen Diskursgemeinschaften, da er in den jeweiligen Situationen die zahlreichen Textformen des Alltags, der Religion, des Berufslebens etc. und, zumindest als Rezipient, der massenmedialen Kommunikation pflegt. (3) Die Teilhabe an einzelsprachlichen und textuellen Normen kann in unterschiedlicher Form zur Abgrenzung gegenüber dem Fremden und damit zur Konstitution der eigenen Identität herangezogen werden. Da das Individuum üblicherweise eine größere Zahl von Diskurstraditionen, aber meist nur eine begrenzte Anzahl von sprachlichen Varietäten praktiziert, scheint sich die Zugehörigkeit zu einer Sprachgemeinschaft in besonderer Weise als Distinktionsmerkmal anzubieten. Verstärkt seit dem späten 18. Jahrhundert wurde der Zugehörigkeit zu einer ‚nationalen‘ Sprachgemeinschaft ein besonderer, identitätsstiftender Wert zugeschrieben. Bestimmte Sprachgemeinschaften werden dabei gleichsam ideologisch überhöht. In diesem Sinne schreibt Coseriu allein den zu Nationalsprachen gewordenen Einzelsprachen einen historischen Status zu. Raymund Wilhelm 130 Wir müssen somit insbesondere damit rechnen, dass die identitätsstiftende Funktion von Einzelsprachen und Diskurstraditionen nicht in allen Epochen auf die gleiche Weise wahrgenommen wird. Hier eröffnet sich ein weites und - auch im Hinblick auf die Bewertung aktueller sozialer Konstellationen - überaus bedeutsames Forschungsfeld für eine pragmatisch orientierte Sprachgeschichtsschreibung: Ein besonderes Interesse kommt dabei der Frage zu, inwieweit in den unterschiedlichen historischen Situationen die Zugehörigkeit zu bestimmten Sprach- oder Diskursgemeinschaften eine Gruppenidentität konstituieren kann. Im Mittelalter sind die Grenzen zwischen den einzelnen Sprachgemeinschaften innerhalb der Romania noch nicht deutlich ausgebildet. Bezeichnend ist hier Dantes Bewertung der drei großen romanischen Literatursprachen: So werden die lingua oil, die lingua oc und die lingua sì, die insgesamt nostrum ydioma tripharium bilden, zwar zum einen nach geographischen Gesichtspunkten differenziert; zum zweiten weist Dante jedoch darauf hin, dass diese Sprachen jeweils traditionell für bestimmte textuelle Formen herangezogen werden. Das Französische etwa vermag „propter sui faciliorem ac delectabiliorem vulgaritatem“ den gesamten Bereich der volkssprachlichen Prosawerke („quicquid redactum est sive inventum ad vulgare prosaycum“) abzudecken (De vulgari eloquentia I,x,2): Der Anklang an die oben zitierte Bemerkung Brunetto Latinis, der das Französische ebenfalls mit dem Adjektiv delitable qualifiziert hatte, ist unverkennbar. Wesentlicher für unseren Zusammenhang ist die Feststellung, dass die Auswahl der einen oder anderen Sprache hier mit den besonderen Bedingungen der jeweiligen Diskurstradition begründet wird. Die Zugehörigkeit zu einer Diskursgemeinschaft ist in vielen Fällen primär im Verhältnis zur Sprachgemeinschaft 20 . 3. Die Rhetorik als Wissenschaft 3.1 Unser Wissenschaftsbegriff kann nur ein historischer sein. Gerade im Hinblick auf die Sprachwissenschaft(en) wäre ein naives Fortschritts- 20 In ganz ähnlichem Sinne bemerkt Peter Koch (1988, 343), dass die „Sprecher/ Schreiber früherer Epochen […] sich meist in erster Linie als Praktiker einer Diskurstradition […] und erst in zweiter Linie als Vertreter einer bestimmten Sprache oder Sprachvarietät verstanden und letztere denn auch nach den Maßstäben diskurstraditioneller Effizienz auswählten“. Scientific Community 131 denken verfehlt, das eine mehr als zwei Jahrtausende umspannende Denkanstrengung allein unter dem Gesichtspunkt des ‚schon‘ und des ‚noch nicht‘ bewerten wollte. Die von Sylvain Auroux (1989, 15) karikierten Fragestellungen des Typs „quelles étaient les connaissances d'Aristote concernant ce que nous entendons - ou avons entendu - par linguistique? “ verstellen den Zugang zum eigentlichen Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte: Eine historische Betrachtung der Wissenschaft muss den Blick auf das soziale und kulturelle Umfeld der wissenschaftlichen Praxis richten, und sie muss die sprachlichen und textuellen Konventionen - etwa die jeweils legitimen (‚wissenschaftlichen‘) Fragestellungen und Argumentationsmuster - der wissenschaftlichen Texte ermitteln. Erst auf dieser Grundlage wird es möglich, die Inhalte wissenschaftlichen Argumentierens vergangener Jahrhunderte mit den heutigen Problemstellungen und Lösungsansätzen zu korrelieren. Es ist wiederholt vorgeschlagen worden, die Wissenschaft als ein Diskursuniversum zu verstehen. Das Diskursuniversum (oder Redeuniversum) „fungiert gegenüber den Texten als ein Bezugssystem, das die jeweilige Textaussage als dem Bereich der Mythologie, der Fiktion, der Wissenschaft etc. zugehörig lokalisiert und so die Modalität des Textsinns begründet“ (Aschenberg 1999, 72s.). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die so verstandenen Diskursuniversen jeweils historisch konstituiert sind. So läßt sich etwa, mit Schlieben-Lange (1983, 474), die Frage nach der „Geschichte der Ausgliederung von Diskursuniversen“ stellen. Zugleich müssen wir jedoch auch immer damit rechnen, „daß im Verlauf der Geschichte bereits getrennte Diskursuniversen wieder integriert werden“ können (ib., 467). Den methodischen Rahmen für eine historische Betrachtung der Diskursuniversen bildet das Konzept der Diskurstradition: Insofern die Redeuniversen „gleichsam Klassen von Text- oder Diskursgattungen“ bilden, können wir sie als Diskurstraditionen eines höheren Komplexitätsgrades auffassen (Wilhelm 2001, 468). 3.2 Brunetto Latini und Jean d'Antioche betonen nachdrücklich den wissenschaftlichen Charakter der rhetorischen Lehre. Jedes der drei Werke enthält eine ausführliche Darstellung des mittelalterlichen Wissenschaftssystems, in dem der Rhetorik ihr Platz im Rahmen der praktischen Philosophie zugewiesen wird. Während eine solche Übersicht in einem enzyklopädischen Werk wie dem Livre dou Tresor weniger erstaunt, ist die Aufnahme eines wissenschaftstheoretischen Kapitels in einer Cicero-Über- Raymund Wilhelm 132 setzung ein auffälliges Faktum, das schon für sich allein die zentrale Bedeutung hervorhebt, die die Frage der Wissenschaftlichkeit der Rhetorik für Brunetto Latini wie für Jean d'Antioche besitzt 21 . Die Reflexion kann sich dabei auf eine kurze Bemerkung Ciceros stützen, der im fünften Kapitel von De inventione die Redekunst als „Teil der politischen Wissenschaft“ bezeichnet 22 . Brunetto nimmt diese Bemerkung zum Ausgangspunkt für einen langen Kommentar, in dem er sich die Aufgabe stellt, „[di] provare la nobilitade e l'altezza della scienzia di covernare le cittadi“, wobei insbesondere „l'altezza di rettorica“, das heißt die zentrale Rolle der Rhetorik in der politischen Wissenschaft hervorgehoben wird (Rettorica, 41). In einer Serie von Baumdiagrammen wird veranschaulicht, dass die politica, als Teil der filosofia pratica, auf zwei Weisen besteht: „in fatti e in detti“ (ib., 47). Die traditionellen artes des Trivium werden solchermaßen als die „scienze che sono in parlare“ (ib., 41), als die drei Zweige der „scienzia che ss'adopera colla lingua solamente“ (ib., 48) bestimmt. Weitestgehend analog ist das Wissenschaftssystem des Livre dou Tresor: Hier wird die Rhetorik den „.iii. esciences […] qui sont en paroles“ zugeordnet, denjenigen Wissenschaften also, „que l'en aovre de sa boche & de sa langue“ (I 4,6). Im Prologue von Jean d'Antioche finden wir ein vergleichbares, wenn auch keineswegs identisches System der Wissenschaften. Auch hier werden die sprachbezogenen Disziplinen, die insgesamt die sermocinale science bilden, der praktischen Philosophie und genauer der „civile science“ zugeordnet und wie folgt definiert: „La sermocinale science est la science d'araisoner et de bien parler. Ceste science est departie en III sciences renomees: gramaire, logique, rethorique“ (Rettorique, 216). Bemerkenswert ist hier das Insistieren auf dem Terminus science: Wie Brunetto Latini möchte auch Jean d'Antioche die wissenschaftliche Qualität des eigenen Tuns hervorheben 23 . Im Detail lassen sich allerdings mehrere bedeutsame Unterschiede zwischen den Systemen von Brunetto Latini und Jean d'Antioche feststellen: Wo Brunetto eine Dreiteilung der Philosophie in theorike, pratique und logike vornimmt, finden wir bei Jean eine Zweiteilung in pratique und teorique; dagegen entspricht Brunettos Zweiteilung der politique in zwei Branchen (en oevre und en paroles) eine Dreiteilung der philosophye civile in mecanique, droit und sermocinale bei Jean; die 21 Cf. Rettorica, 40-50; Livre dou Tresor, I 1-5; Rettorique, 213-220. Scientific Community 133 Unterteilung der logike in dialetique, fidique und sophistique bei Brunetto Latini 24 findet bei Jean d'Antioche keine Entsprechung etc. Wissenschaftssysteme wie die hier besprochenen sind im 12. und 13. Jahrhundert durchaus verbreitet. Der Vergleich mit den von Grabmann (1911, 28-54) und Beltrami (1993, 115-133) bereitgestellten Materialien erlaubt dabei einen eindeutigen Schluss: Was die Systeme von Brunetto Latini und Jean d'Antioche gemeinsam haben, findet sich auch in zahlreichen lateinischen Texten der Zeit wieder; wo unsere beiden Autoren dagegen originelle Züge aufweisen - die Doppelung der dialetique bei Brunetto, die einmal als Teil der Logik, einmal als Teil der politique en paroles erscheint; die Aufnahme der Rechtswissenschaft als Teil der philosophye civile bei Jean d'Antioche -, gehen sie jeweils eigene Wege. Entgegen der von Cinzia Pignatelli (2004, 52) vertretenen Auffassung lässt sich ein direkter Einfluss von Brunetto Latini auf Jean d'Antioche anhand des jeweils entworfenen Wissenschaftssystems nicht belegen. 3.3 Bemerkenswert ist gleichwohl das Bemühen beider Autoren, den wissenschaftlichen Charakter der rhetorischen Lehre hervorzuheben. Die auf unterschiedliche Weise umschriebene Disziplin, die die menschliche Sprache und Rede zum Gegenstand hat, ist dabei zwar in erster Linie praktisch ausgerichtet, sie basiert jedoch notwendigerweise auf einem theoretischen, allgemeinen Wissen. Das Spannungsverhältnis zwischen praktischem Wissen und theoretischer Unterweisung wird von Jean d'Antioche kurz anhand der „mecanique science“ oder „science des mestiers“ aufgeworfen: „Ce membre de savoir metoient les philosophes hors de la division de philosophie, por ce qu'il est vil, tout soit ce qu'il meismes l'establirent et l'enseignierent as gens“ (Rettorique, 216). Weit grundlegender wird die Frage von Brunetto Latini diskutiert. Dabei wendet Brunetto sich insbesondere gegen die 22 De inventione, I 5: „Quare hanc oratoriam facultatem in eo genere ponemus, ut eam civilis scientiae partem esse dicamus“. 23 Im Lateinischen wird scientia seit dem 12. Jahrhundert im Sinne des aristotelischen Begriffs episteme verwendet; cf. Meier-Oeser (2004, 903); philosophia ist hierzu weitgehend bedeutungsgleich (cf. ib., 904). 24 Wie Beltrami (1993, 117 n. 5) gezeigt hat, entspricht der - von zahlreichen Kopisten missverstandene - Terminus fidique dem lateinischen apodictica. Raymund Wilhelm 134 Auffassung der Rhetorik als einer reinen ‚Technik‘. Betrachten wir die Passage, in der die Zielsetzung der Rettorica bestimmt wird: [Der Auftraggeber des Buchs] era parlatore molto buono naturalmente, e molto disiderava di sapere ciò che' savi aveano detto intorno alla rettorica; e per lo suo amore questo Brunetto Latino, lo quale era buono intenditore di lettera et era molto intento allo studio di rettorica, si mise a ffare questa opera, nella quale mette innanzi il testo di Tulio per maggiore fermezza, e poi mette e giugne di sua scienzia e dell'altrui quello che fa mistieri. (Brunetto Latini, Rettorica, 7) Zur Praxis der Beredsamkeit, die auch auf einer natürlichen Gabe beruhen kann, tritt hier das „Studium der Rhetorik“, das demjenigen vorbehalten ist, der die lateinische Sprache beherrscht, dem intenditore di lettera: Das Studium als wissenschaftliche Praxis basiert notwendigerwise auf der Aneignung des Buchwissens, das heißt auf der Lektüre der savi vergangener Epochen. Auslöser der wissenschaftlichen Reflexion ist dabei ein ‚Wissensdurst‘, der über die rein praktischen Fertigkeiten hinausreicht: Der Auftraggeber Brunettos molto disiderava di sapere 25 . Über diesen „amico della sua cittade“ (ib.) ist nichts Näheres bekannt. Die Berufung auf einen ungenannt bleibenden Adressaten, der offenbar keinen direkten Zugang zum universitären Wissen hat, dient Brunetto Latini dazu, die Grundlagen einer Wissenschaft für den Laien zu benennen, die unvermeidlich eine Wissenschaft in der Volkssprache ist. Das Spannungsverhältnis von praktischer Erfahrung und theoretischer Reflexion taucht auch an anderer Stelle von Brunettos Werk wieder auf. Besonders bedeutsam scheint mir eine Passage aus dem dritten Buch des Livre dou Tresor, dem Kapitel „Des governemens de la cité“, wo Brunetto das Exempel des Arztes anführt: „[…] si come nous veons mains mires ki par seule experience sevent maint bien fere a lor mestier mais ensegnier ne le poroient as autres, pour çou k'il n'ont science d'universeles“ (II 49,3). Wir dürfen dieses Beispiel, das Brunetto auf die Gesetzgebung bezieht, auch auf die Rhetorik übertragen. Wie wir gesehen haben, kann man sehr wohl beredsam sein, ohne ein theoretisches Wissen zu besitzen; doch sobald man die Rhetorik zum Gegenstand einer regelrechten Lehre 25 Wie Joëlle Ducos (2008, 9) zeigt, finden sich vergleichbare Äußerungen in französischen Aristoteles-Übersetzungen des 13. und 14. Jahrhunderts; auch hier wird deutlich, „que la traduction est avant tout moyen d'accéder à un savoir et que l'entreprise linguistique naît d'abord d'une appétence pour la connaissance et d'un désir d'appropriation des savoirs, plutôt que d'une volonté d'exercer la langue“. Scientific Community 135 erheben möchte, begibt man sich unweigerlich in den Bereich der Wissenschaft. Und die Wissenschaft setzt, wie Brunetto Latini betont, die Kenntnis universaler Prinzipien voraus: Sie zielt auf eine über die praktische Anwendbarkeit hinausreichende Erkenntnis. Was hier in Umrissen greifbar wird - und dies gilt in stärkerem Maße für Brunetto Latini als für Jean d'Antioche -, ist die Konzeption einer rhetorischen Wissenschaft im weiteren Rahmen der science en paroles. Diese neue Wissenschaft beruht auf einer zweifachen Abgrenzung. Zum einen unterscheidet sie sich von der traditionellen Buchgelehrsamkeit der Universität, da sie sich der Volkssprache bedient und da sie auf volkssprachliche Vollzüge (in der Redekunst wie in der Briefkunst) abzielt: Die hier anvisierte Form der Wissenschaft beinhaltet ein volgarizzamento. Zum zweiten distanziert sie sich von einer Auffassung, die die Rhetorik, gemeinsam mit der Grammatik und der Dialektik, in den Bereich der wissenschaftlichen Propädeutik des Trivium verweist: Als Lehrgegenstand basiert die Rhetorik, unbeschadet ihres praktischen Nutzens für die Regierung des Staates, notwendigerweise auf der science d'universeles; sie bildet somit einen legitimen Teil der Wissenschaft. Die Wissenschaftlichkeit des Livre dou Tresor kommt gerade in der Verknüpfung der „ensegnemens universés avec les particulers“ (II 49,2) zum Ausdruck 26 . 4. Zwischen Diskurstradition und diaphasischer Varietät 4.1 Eine nach wie vor strittige Frage in der Theorie der Diskurstraditionen betrifft die Abgrenzung der Text- oder Diskurstraditionen gegenüber den diaphasischen Varietäten. Peter Koch (1997, 51s.) spricht sich hier für eine klare Grenzziehung aus, die er anhand der Unterscheidung zweier Stil-Begriffe exemplifiziert: Als diskurstraditionelles Faktum bezeichnet Stil einen „bestimmten, historisch gegebenen Duktus“ des Sprechens oder Schreibens, etwa im Sinne der rhetorischen Drei-Stillehre (sublime, mediocre, humile); als einzelsprachliches Faktum bezeichnet Stil dagegen eine diaphasische Varietät oder ein Register. Lebsanft (2005, 33) hält dies für eine „etwas künstliche, der Intuition zuwiderlaufende Unterscheidung“; für ihn sind „Stile bzw. Register einzelsprachliche Mittel als Bestandteile 26 Zu der ebenfalls in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts einsetzenden Diskussion um den Status der Grammatik zwischen ars und scientia cf. Arcangeli (2006). Raymund Wilhelm 136 von Texttraditionen“. Dabei werden durchaus unterschiedliche Konstellationen der „Dissoziation von Stilebenen und Texttraditionen“ ins Auge gefasst; gleichwohl möchte Lebsanft die Frage im Innern des ursprünglichen Drei-Ebenen-Modells im Sinne Coserius lösen: Die Annahme einer „größere[n] Allgemeinheit der Diaphasik gegenüber der Texttradition“ scheint die Unterordnung der textuellen Ebene unter die Ebene der Einzelsprache ja gerade zu bestätigen (ib.). Im Folgenden gehe ich davon aus, dass sich die klare Grenzziehung zwischen Diskurstraditionen und einzelsprachlichen Varietäten für die Erklärung zahlreicher historischer Gegebenheiten als notwendig erweist. Erinnert sei etwa an das bereits wiederholt bemühte Beispiel der italienischen Dichtungssprache (cf. Wilhelm 2001, 473s.). Die in der italienischen Versdichtung zumindest bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts verwendete Sprachform wurde schon von Salviati als „quasi un altro idioma diverso dalla prosa“ charakterisiert (Serianni 2001, 11): Wir können hier von einer diaphasischen Varietät des Italienischen sprechen, die sich nicht nur im Lexikon sondern auch im Lautstand (core, augello etc.) und in der Morphologie (avea, diria etc.) von der Sprachform der literarischen Prosa (cuore, uccello; aveva, direbbe) unterscheidet; eine vergleichbare Ausdifferenzierung zweier literatursprachlicher Varietäten findet sich in anderen Sprachen, etwa im Französischen des 19. Jahrhunderts, nicht. Deutlich unterschieden hiervon ist die Frage der lyrischen Diskurstraditionen (Gattungen): Hier können wir die Geschichte des Sonetts, der Ode etc. beschreiben, die natürlich nicht an die italienische Sprachgemeinschaft gebunden sind. Zweifellos kommt es auch hier zu historisch und regional unterschiedlichen Ausprägungen - etwa im Reimschema und der Strophenaufteilung -; dabei handelt es sich aber gleichwohl um diskurstraditionelle Fakten: Die besondere metrische Form des Shakespeare-Sonetts etwa lässt sich ja nicht einer einzelsprachlichen Norm, beispielsweise der englischen Grammatik, zuschreiben, vielmehr haben wir es hier mit diatopischen Gattungsunterschieden im Sinne von Kuon (1988, 247) zu tun. In ganz ähnlicher Weise dürfte es sich auch bei den von Kretzenbacher (1998, 139) hervorgehobenen „unterschiedlichen Persuasionsstrukturen wissenschaftlicher Texte in verschiedenen Sprachen“ im wesentlichen um diskurstraditionelle Fakten handeln. Die regionale Verschiedenheit textueller Normen, die sich im Übrigen durch die Bindung an unterschiedliche kulturelle Gruppen erklärt und somit direkte Scientific Community 137 Konsequenz ihrer Historizität ist, stellt die Abgrenzung von Diskurstraditionen und einzelsprachlichen Traditionen keineswegs in Frage 27 . Im Hinblick auf die Dichtungssprache ist nun die Tatsache entscheidend, dass in den lyrischen Gattungen, beispielsweise im 19. Jahrhundert, im Italienischen eine eigene dichtungssprachliche Varietät verwendet wird, im Französischen dagegen die in Vers und Prosa weitgehend identische Literatursprache. Hierbei handelt es sich tatsächlich um ein einzelsprachliches Faktum, das auf der unterschiedlichen Architektur der beiden Sprachen beruht. Es wird somit deutlich, dass die Dichtungssprache als diaphasische Varietät nicht etwa generell ‚Bestandteil‘ einer Text- oder Diskurstradition ist: Sie kommt allein in den lyrischen Diskurstraditionen in italienischer Sprache zum Einsatz. Wir können hier von einer nur historisch zu erklärenden, keineswegs aus der Definition der jeweiligen Diskurstradition resultierenden Konvention, einer Tradition der einzelsprachlichen Gestaltung von Diskurstraditionen, sprechen. Die „Bezogenheit auf die Situation“, die zweifellos den „gemeinsame[n] Bezugspunkt von Diaphasik und Texttradition“ darstellt (Lebsanft 2005, 33), ist solchermaßen immer durch Traditionen vermittelt. Es scheint geboten, hier zwei parallele und gleichermaßen historische, auf vielfältige Weise ineinander verwobene, aber analytisch zu trennende Dimensionen anzunehmen: die textuellen Normen (Diskursnormen) und die einzelsprachlichen Normen (Varietäten), die sich jeweils im aktuellen Text oder Diskurs manifestieren. 4.2 Die Fach- und Wissenschaftssprachen sind durch eine eigentümliche Mischung von einzelsprachlichen und einzelsprachenunabhängigen Elementen geprägt. Peter Koch (1997, 52) hat hier den sehr weit gehenden Vorschlag gemacht, die Fachsprachen gänzlich „aus der Varietätenlinguistik (und damit aus dem einzelsprachlichen Bereich) auszugliedern“ und sie in toto „als Diskurstraditionen [zu] interpretieren“. Hierfür spricht zweifellos die „Gruppenabhängigkeit“ (ib.) der fachlichen und nicht zuletzt auch der wissenschaftlichen Kommunikationsformen. Allerdings ist nicht zu übersehen, dass die Wissenschaftssprachen zugleich immer auch einzel- 27 Dass die Übernahme ‚nationaler‘ Traditionen der wissenschaftlichen Textgestaltung im Prinzip unabhängig von der Einzelsprache erfolgt, zeigt auch Dorothee Kaiser (2003) am Beispiel der Wissenschaftspraxis Venezuelas, die in vielfältiger Weise durch Diskursnormen aus dem angelsächsischen Raum geprägt ist, ohne dass hierbei zugleich auch die englische Sprache übernommen werden müsste. Raymund Wilhelm 138 sprachliche Elemente enthalten. Der Nutzen des Modells der Diskurstraditionen liegt ja gerade darin, dass es die Verschränkung textueller und einzelsprachlicher Normen in den jeweiligen Texten transparent macht. Nehmen wir ein Beispiel aus dem lexikalischen Bereich 28 . Die Wörter Arbeit, Kraft und Weg unterliegen als Wörter der deutschen Sprache dem unablässigen Sprachwandel, etwa dem Lautwandel und dem Bedeutungswandel. Als Fachtermini der Physik, in der Arbeit als das Produkt aus Kraft und Weg definiert ist, sind Arbeit, Kraft und Weg dagegen vom semantischen Wandel der Einzelsprache ausgenommen: Die Bedeutung des Fachterminus Arbeit - die im Übrigen mit der Bedeutung der Fachtermini lavoro, travail etc. völlig deckungsgleich ist - kann nur im Innern der physikalischen Wissenschaft verändert werden. Es scheint somit sinnvoll, die inhaltliche Seite der wissenschaftlichen Termini, die den semantischen Oppositionen der jeweiligen Einzelsprache enthoben ist, als ein diskurstraditionelles Faktum aufzufassen. Die Seite des Signifikanten folgt dagegen dem Sprachwandel der Einzelsprache, etwa in lautlicher oder morphologischer Hinsicht. Und auf diese Weise erlangen die Termini insbesondere auch eine diasystematische Markierung im Varietätengefüge der jeweiligen Einzelsprache. Um bei unserem Beispiel zu bleiben: Arbeit als physikalischer Terminus wird durch denselben Signifikanten ausgedrückt wie das gemeinsprachliche Wort Arbeit; der Terminus Arbeit hat somit im Deutschen keinen wissenschaftlichen ‚Anstrich‘. In der Tat können wir innerhalb der einzelsprachlichen Ausgestaltung von Fachterminologien oftmals zwischen unterschiedlichen Registermarkierungen unterscheiden 29 . Wie wir gesehen haben, fasst Brunetto Latini die sprachbezogenen Wissenschaften unter dem Oberbegriff der science en paroles zusammen, während Jean d'Antioche den Ausdruck science sermocinale verwendet. Als wissenschaftliche Termini, das heißt in diskurstraditioneller Hinsicht, sind science en paroles und science sermocinale äquivalent. Im Varietätenraum des Französischen stehen sie sich dagegen als eine volkssprachliche und eine latinisierende Bildung gegenüber. Im Folgenden möchte ich hier von einem ‚volkssprachlichen‘ und einem ‚gelehrten‘ Register der französischen Wissenschaftssprache 28 Zur Abgrenzung von Gebrauchswortschatz und Terminologie cf. zusammenfassend Coseriu (1987). 29 So ist es in der italienischen Tradition üblich, neben dem livello scientifico ein livello divulgativo der Wissenschaftssprache anzusetzen; cf. zusammenfassend Giovanardi (2006, 2208). Scientific Community 139 sprechen; damit sollen die jeweiligen einzelsprachlichen, diaphasischen Realisierungsmöglichkeiten einer Terminologie bezeichnet werden. Die Unterscheidung zwischen einer diskurstraditionellen und einer einzelsprachlichen (diaphasischen) Dimension von Wissenschaftssprache erlaubt es im Übrigen auch, die Tatsache klar herauszustellen, dass eine ‚niedrige‘ Registermarkierung der Wissenschaftlichkeit keinen Abbruch tut. Dies lässt sich deutlich anhand der untersuchten Texte zeigen. So sind die unterschiedlichen Lösungen science en paroles und science sermocinale repräsentativ für die geradezu gegenläufige einzelsprachliche Gestaltung von Brunetto Latinis Livre dou Tresor und der Rettorique von Jean d'Antioche. Nehmen wir die bereits von Siegfried Heinimann 30 ausführlich kommentierten Übersetzungen der fünf Bearbeitungsschritte der rhetorischen Lehre (inventio, dispositio, elocutio, memoria, pronuntiatio) und der sechs Teile der Rede (exordium, narratio, partitio, confirmatio, reprehensio, conclusio) 31 : Zum Teil finden sich hier Übereinstimmungen zwischen beiden Texten, etwa im Bereich der Latinismen memoire oder conclusion, sowie insbesondere in der analogen volkssprachlichen Bildung truevement für inventio. Bedeutsamer, auch in quantitativer Hinsicht, sind jedoch die Divergenzen. Meistens sucht (oder schafft) Brunetto nämlich eine volkssprachliche Entsprechung des lateinischen Terminus: Besonders deutlich sind hier parables (für elocutio), parleüre (für pronuntiatio) und fait (für narratio). Dagegen folgt Jean d'Antioche meistens dem lateinischen Vorbild, das lediglich morphologisch in die Volkssprache eingepasst wird: Hier finden wir, in den genannten Fällen, elocucion, pronunciement und narracion. Bemerkenswert ist insbesondere das Beispiel parables/ elocucion: Hier steht der semantischen Entlehnung bei Brunetto eine lexikalische Entlehnung bei Jean d'Antioche gegenüber 32 . Dabei besteht jedoch kein Zweifel daran, dass es beiden Autoren um die Schaffung einer wissenschaftlichen Terminologie der Rhetorik in der Volkssprache geht: Ein Ausdruck wie fait ist ja nicht weniger termino- 30 Grundlegend ist Heinimann (1968); cf. weiterhin Vatteroni (2004) und Dworschak 2008. 31 Cf. De inventione, I 9/ I 19; Livre dou Tresor, III 3,1/ III 14,1; Rettorique, 218. 32 In der Tat ist das Wort elocucion zuvor im Französischen nicht nachgewiesen; cf. Godefroy (9, 1898, 429c), wo als ältester Beleg eine Stelle aus Christine de Pisan angeführt wird; cf. auch Heinimann (1968, 99). - Zur Typologie der Entlehnungen cf. Dörr (2007, 177s.). Raymund Wilhelm 140 logisch als narracion, selbst wenn er diaphasisch nicht als gelehrter Terminus markiert ist 33 . In den Kapiteln III 39 bis III 46 des Livre dou Tresor, die der narratio gewidmet sind, wird regelmäßig le fait in seiner fachsprachlichen Bedeutung verwendet. Wendungen wie la seconde maniere dou fet dire (40,1), la tierce matire dou fait dire (41,1), la citeine maniere dou fet dire (42,1), lors est li fais contés briement (43,1) etc. werden überhaupt nur verständlich, wenn der Leser die terminologische Bedeutung von fait, entsprechend der zu Beginn des Kapitels 39 noch einmal in Erinnerung gerufenen Definition („le fait est quant li parleour dist les choses ki ont esté, ou celles ki n'ont esté autresi comme se eles n'eüssent esté“; 39,1), berücksichtigt. Hier wird im Übrigen auch deutlich, dass ein volkssprachlicher Terminus per se keineswegs transparenter oder leichter verständlich ist als ein latinisierender Terminus. Im Gegenteil: Der Latinismus hat den Vorteil, dass er eindeutig als Fachterminus markiert ist 34 . 4.3 Die Ausbildung einer Wissenschaftssprache macht nicht nur die Schaffung einer Terminologie nötig. Vielmehr geht es hier in gleichem Maße um die Bereitstellung geeigneter syntaktischer Verfahren, die es erlauben, Wissensinhalte hinreichend differenziert auszudrücken. Dies lässt sich beispielhaft anhand eines textuellen Musters illustrieren, das in wissenschaftlichen Texten eine zentrale Rolle einnimmt: anhand der Definition 35 . Betrachten wir hierzu die Bestimmung der ersten beiden Redegattungen, des genus demonstrativum: Demonstrativum est, quod tribuitur in alicuius certae personae laudem aut vituperationem (De inventione, I 7). […] demoustrement est quant li parleours loënt et blasment home generaument ou partiement […] (Livre dou Tresor, III 2,9). La demoustrative maniere ou partie si est cele qui est adonee au los ou au vitupere d'aucune certaine personne (Rettorique, 227). 33 Die Bemerkung Heinimanns (1968, 104) - „Es ging ihm [scil. Brunetto Latini] nicht darum, eine gelehrte Terminologie in die Volkssprache einzuführen“ - ist somit in dem Sinne zu verstehen, dass Brunetto zwar auf einen ‚gelehrten‘ Anstrich, nicht jedoch auf terminologische Präzision verzichtet. 34 Cf. auch Dworschak (2008, 37s.). 35 Zur Bedeutung der Definition für die Wissenschaftssprache cf. auch Durand-Sendrail (1994). Scientific Community 141 und des genus deliberativum: […] deliberativum, quod positum in disceptatione civili habet in se sententiae dictionem (De inventione, I 7). Conseil est quant li parleour conseillent sour une chose qui est proposee devant aus generalment ou partiement, por mostrer liquel soit voir, ou non profitable, et quel non […] (Livre dou Tresor, III 2,10). La deliberative si est cele qui est mise en l'estrif ou en la delivrance et au reconsiliement civil, et a en soi le dit de la sentence (Rettorique, 227). Sehr deutlich findet sich hier die grundsätzlich gegenläufige Übersetzungspraxis der beiden Autoren in Richtung auf ein volkssprachliches oder aber ein gelehrtes Register bestätigt. Brunetto löst die nominalen Ausdrücke verbal auf: Definitionen erfolgen nach dem Muster demoustrement est quant + Nebensatz. Die Wendung in disceptatione civili wird durch li parleour conseillent sour une chose wiedergegeben, sententiae dictionem wird zu mostrer liquel soit voir, ou non profitable, et quel non. Brunetto nimmt hier syntaktische und logische Brüche in Kauf; die entscheidenden inhaltlichen Elemente werden allerdings bewahrt. Dagegen ist Jean d'Antioche darum bemüht, den Nominalstil der lateinischen Definition nachzubilden. Der semantische Gehalt von disceptatio civilis wird durch die drei Synonyme estrif, delivrance, reconsiliement civil abgedeckt; insbesondere die Wendung a en soi le dit de la sentence entspricht genau dem lateinischen Vorbild (habet in se sententiae dictionem). Versuchen wir, diesen Befund etwas genauer zu fassen. In diskurstraditioneller Hinsicht, als spezifisches Verfahren wissenschaftlicher Texte, folgt die Definition dem aristotelischen Muster, das in der mittelalterlichen Schullogik in der Form „definitio fiat per genus proximum et differentias specificas“ festgeschrieben ist (Nobis 1972, 32). In dieser Hinsicht sind die angeführten Definitionen zweifellos ‚wissenschaftlich‘, insofern das genus proximum jeweils im Kontext gegeben ist: als die „.iii. choses“ der „matire de cestui art“ (Livre dou Tresor, III 2,8) oder als die „trois parties ou generaus manieres de choses“, in die sich das „office dou rettorien“ untergliedert (Rettorique, 227). Die tiefgreifenden Unterschiede zwischen den beiden französischen Adaptationen von De inventione liegen somit auch hier in erster Linie in der Wahl des einzelsprachlichen Registers. Die Syntax in den Definitionen von Jean d'Antioche folgt weitgehend den Anforderungen einer logischen Verknüpfung, die nicht nur die Sprache Ciceros, sondern ebenso die heutige wissenschaftliche Sprache auszeichnet. Dagegen bedient sich Raymund Wilhelm 142 Brunetto Latini dezidiert ‚volkssprachlicher‘ syntaktischer Verfahren, wie sie heute nur noch in den Formen der alltagssprachlichen Definition anzutreffen sind. Allerdings entspricht selbst ein „énoncé définitoire ordinaire“ des Typs Un mouton, c'est un animal où qu'y a de la laine dessus, das Riegel (1990, 98) anführt, durchaus dem textuellen Muster ‚genus proximum + differentia specifica‘; es weist jedoch, abgesehen von der unpräzisen inhaltlichen Füllung, in der Tendenz zum verbalen Anschluss (où + Nebensatz) eine vergleichbare syntaktische Struktur auf wie die Definitionen Brunettos (quand + Nebensatz). Wenn uns die Sprachform der Rettorique zweifellos moderner erscheint als die Sprachform des Livre dou Tresor, dann liegt dies daran, dass Jean d'Antioche bereits jene Tendenz zur Latinisierung (oder Relatinisierung) aufweist, die die Geschichte der französischen Wissenschaftssprache seit dem 14. Jahrhundert auszeichnet 36 . Ein solcher Prozess der Latinisierung kommt dem Ausschluss bestimmter volkssprachlicher Verfahren aus dem Bereich der Wissenschaftssprache gleich: Die sprachlichen Muster, wie sie noch von Brunetto Latini in einem wissenschaftlichen Text verwendet werden können, überleben heute lediglich in niedrigeren, ‚nähesprachlichen‘ Registern des Französischen. Wir haben es hier weniger mit einem Sprachwandel im eigentlichen Sinn, als vielmehr mit einer Verschiebung im Innern des Diasystems des Französischen, mit einer gewandelten Registermarkierung, zu tun. 5. Wissenschaft und Mehrsprachigkeit 5.1 Unter ‚Wissenschaftssprache‘ versteht man üblicherweise die Gesamtheit der Phänomene sprachlicher Tätigkeit, die im kulturellen Handlungsfeld der Wissenschaften auftreten und die zugleich dieses als theoriebildende und -verarbeitende Kommunikationsgemeinschaft sowie als gesellschaftliche Institution entscheidend konstituieren (Kretzenbacher 1998, 134). Hier sollte gezeigt werden, dass es sinnvoll ist, im Innern dieser „Phänomene sprachlicher Tätigkeit“ zwischen diskurstraditionellen und einzelsprachlichen Normen zu unterscheiden. In der Tat wird es gerade auf 36 Cf. Albrecht (1995). Im Hinblick auf den Vergleich zwischen Brunetto Latini und Jean d'Antioche cf. auch bereits Heinimann (1968, 105 n. 22). Scientific Community 143 diese Weise möglich, die Historizität der wissenschaftlichen Textproduktion präzise zu beschreiben. Die Ausgliederung zweier Normenbereiche auf der historischen Ebene des Sprachlichen erlaubt es insbesondere auch, die Frage nach der Rolle der jeweiligen Einzelsprachen im Innern des wissenschaftlichen Diskursuniversums klar zu profilieren. Für den Bereich der Romanischen Sprachgeschichte können wir hier von einem Dreischritt ausgehen: Auf die Phase, in der die wissenschaftlichen Texte nahezu ausschließlich in lateinischer Sprache verfasst wurden, folgt die allmähliche Ausbildung und Durchsetzung volkssprachlicher Traditionen wissenschaftlicher Praxis, die jedoch in der Gegenwart, differenziert nach den unterschiedlichen Disziplinen, zunehmend von einer neuen Einsprachigkeit im Sinne des ‚Wissenschaftsenglischen‘ (Kretzenbacher 1998, 139) abgelöst werden 37 . Entsprechend dem hier vorgeschlagenen Modell können wir diesen Sachverhalt auch so formulieren, dass sich die Mitglieder der wissenschaftlichen Diskursgemeinschaft in ihrer spezifischen Textproduktion nur in bestimmten Epochen in partikuläre (nationale) Sprachgemeinschaften einreihen, während sie sich in anderen Epochen einer als ‚universal‘ vorgestellten wissenschaftlichen Sprachgemeinschaft anschließen. 5.2 Die hier untersuchten Texte verweisen auf eine Zeit, in der die einzelsprachliche Ausdifferenzierung der Scientific Community erst am Anfang steht. Die Verwendung des volgare proprio in wissenschaftlichen Texten ist noch keineswegs selbstverständlich. Bekanntlich widmet Dante einige Jahrzehnte nach dem Wirken von Brunetto Latini und Jean d'Antioche den gesamten ersten Traktat seines Convivio der Frage der Sprachenwahl: Die innovative Verwendung des Italienischen in einer philosophischen Abhandlung wird hier ausführlich begründet. Zur Diskussion steht dabei nicht allein die Alternative latino/ volgare, vielmehr muss jeweils zwischen den unterschiedlichen romanischen Prestigevarietäten gewählt werden. Dante wendet sich mit besonderer Schärfe gegen „li malvagi uomini d'Italia che commendano lo volgare altrui e lo loro proprio dispregiano“ (Convivio I,xi,1). Vor allem das Französische nimmt in der wissenschaftlichen Textproduktion Italiens eine bedeutende Rolle ein. Erinnert sei etwa an Aldobrandino da Siena, der ein Jahrzehnt vor der Abfassung von Brunettos Livre dou Tresor, sein Régime du corps (1256? ), 37 Cf. auch Ehlich (2006); Giovanardi (2006); Trabant (2008, 150-172). Raymund Wilhelm 144 eine medizinische Abhandlung, in französischer Sprache redigiert. Paul Meyer (1906, 93) bezeichnet die Zeit zwischen 1230 und 1350 geradezu als die Epoche, „où le français fut langue littéraire pour l'Italie septentrionale“ 38 . Dass das Französische die vorherrschende Verkehrssprache und auch die dominante Bildungssprache in den Kreuzfahrerstaaten war, steht außer Frage: „[…] le français constitua, dès le XII e siècle, la langue commune de la noblesse du Levant“ (Jacoby 1984, 619). Der französischen Sprache bedienen sich somit auch die wissenschaftlichen Texte, etwa aus dem Bereich des Rechts. Bemerkenswert ist zudem die Rezeption der französischsprachigen Enzyklopädien im Heiligen Land: In einer detaillierten Studie dokumentiert Fabio Zinelli (2007) die Präsenz des Livre dou Tresor in den Kreuzfahrerstaaten; er macht dabei eine eigenständige handschriftliche Traditionslinie des Livre dou Tresor im lateinischen Orient wahrscheinlich 39 . Die Sprachenwahl in der Rettorique von Jean d'Antioche entspricht somit, unabhängig von der Herkunft des Autors 40 , der Bedeutung des Französischen als Wissenschaftssprache im östlichen Mittelmeerraum. Die möglichen Zusammenhänge zwischen dem besonderen Prestige des Französischen im Heiligen Land und in Italien würden noch eine genauere Untersuchung verdienen 41 . Zweifellos können wir in beiden Regionen - bei sehr unterschiedlichen sprachlichen und kulturellen Voraussetzungen - die Tendenz feststellen, anstelle des volgare proprio das Französische in den wissenschaftlichen Diskurstraditionen zu verwenden. Die Wahl der einen oder anderen romanischen Varietät folgt hier weniger den muttersprachlichen Kenntnissen des Autors als vielmehr den jeweiligen Anforderungen und Konventionen der gewählten Textgattung. Hinweise auf eine Traditionslinie der französischsprachigen Textpro- 38 Cf. auch Serianni (1993, 456): „Alla fine del XIII secolo, dunque, le due lingue che in Italia possono adoperarsi e di fatto si adoperano in tutta la gamma degli usi letterari sono il latino e il francese“. 39 Cf. zusammenfassend Zinelli (2008, 36): „Ci si troverebbe, insomma, di fronte al paradosso per cui il successo conosciuto già anticamente dal Tresor, opera composta in Francia negli anni dell'esilio del notaio fiorentino (1260-1267), sarebbe, inizialmente, conseguenza e riflesso della sua ricezione in terra di Oltremare“. 40 Cf. die interessante Hypothese Pignatellis (2006, 371), die Jean d'Antioche der „communauté provençale“ im Innern des Hospital-Ordens zuschreibt. 41 Schon Folena (1990, 272s. n. 5) verweist auf die Tatsache, „che l'espansione del francese in Italia è concomitante all'espansione del francese e dell'italiano in Levante nell'età delle Crociate“. Scientific Community 145 duktion vom Heiligen Land nach Norditalien finden sich im übrigen auch in der Geschichte einzelner Handschriften: So lässt sich zeigen, dass eine Handschrift der Estoire d'Eracles - es handelt sich um die französische Übersetzung und Fortführung der Chronik von Guillaume de Tyr (Biblioteca Laurenziana, LXI 10) - in Saint-Jean-d'Acre begonnen und in Italien, wahrscheinlich in Venedig, vollendet wurde 42 . Die Wahl der einen oder anderen Einzelsprache ist hier viel weniger an geographisch umrissene Territorien und viel stärker an Diskurstraditionen gebunden als in Epochen, die sich an der Konzeption der nationalen ‚Muttersprachen‘ orientieren. In dieser Hinsicht wäre es auch anachronistisch, ein Paradox darin sehen zu wollen, dass Brunetto Latini in seiner Rettorica wesentlich stärker latinisiert als im Livre dou Tresor, dass er somit die ‚Fremdsprache‘ Französisch idiomatischer verwendet als seine eigene ‚Muttersprache‘ 43 . Selbst der Hinweis auf den bereits weiter fortgeschrittenen Ausbau der französischen Prosasprache ist hier allein nicht ausreichend 44 : Das Beispiel der Rettorique von Jean d'Antioche zeigt ja sehr deutlich, dass auch im Französischen eine latinisierende Lösung durchaus möglich ist. Entscheidend ist vielmehr die Feststellung, dass sich die Sprachenwahl, wie auch die Wahl des jeweiligen einzelsprachlichen Registers, hier in erster Linie an textuellen Bedingungen und an dem intendierten Publikum orientiert: Im Gegensatz zu den ‚gelehrteren‘ Werken, der Rettorica von Brunetto und der Rettorique von Jean d'Antioche, die einen einzigen Wissensbereich vertieft darstellen, bildet das Livre dou Tresor ein Kompendium, das das zeitgenössische Wissen „en somme“ darlegt (I 1,1), wobei Brunetto sich gezielt auf diejenigen Wissensinhalte beschränkt, die der praktisch orientierte Politiker benötigt. Die ‚popularisierende‘ Wirkungsabsicht des Livre dou Tresor zieht dabei, wie wir hier im Vergleich zur Rettorique gesehen haben, insbesondere auch die Bevorzugung volks- 42 Cf. Rinoldi (2005, 79); Zinelli (2007, 69 n. 232). 43 Cf. bereits Heinimann (1968, 98); und cf. Beltrami (1993, 128 n. 30): „[…] la parafrasi, piuttosto che traduzione, del De inventione contenuta nel Tresor è marcatamente più ‚volgare‘ e meno latineggiante della traduzione contenuta nella Rettorica“. 44 Cf. Pfister (2000, 61): „Da zur Schaffenszeit Brunetto Latinis um 1260 die französische Prosasprache schon ausgebildet vorliegt, die italienische hingegen erst im Entstehen begriffen ist, wird verständlich, weshalb die französische Version bereits als emanzipierter anzusehen ist und sich vom lateinischen Vorbild weiter entfernt als die altitalienische“. Raymund Wilhelm 146 sprachlicher Bildungen und die Vermeidung latinisierender Formen im Lexikon und in der Syntax nach sich. 5.3 Ein besonderes Interesse verdient hier noch der genaue Wortlaut, mit dem Brunetto die im Livre dou Tresor gewählte Sprachform bezeichnet: „[…] cis livres est escris en roumanç selonc le raison [var. langue, patois] de France“ (I 1,7). Das Wort roumanç bedeutet ‚romanische Volkssprache (im Gegensatz zum Latein)‘; die gewählte französische „parleüre“ (ib.) wird somit als eine der möglichen Ausprägungen der romanischen Volkssprache angesehen. Brunetto bezeichnet an dieser Stelle sehr deutlich das Spannungsverhältnis zwischen der ‚eigenen‘ Sprache („nous somes italien“; ib.) und einer hiervon unterschiedenen, aber gleichwohl nicht universellen Wissenschaftssprache: Das roumanç liegt immer nur in partikulären Ausprägungen vor, in der mittelalterlichen Sprachauffassung ist es - im Gegensatz zum Lateinischen - gerade durch seine Variabilität in Raum und Zeit geprägt. Wie Bodo Müller (1996, 138) gezeigt hat, benennt „* ROMANICE als Oppositionsbezeichnung zu LATINE die ‚Volkssprache‘“; „bei präzisierender Einschränkung auf ein bestimmtes regionales Romanisch“ wird es, in substantivierter Form, folglich „mit Formeln wie (afrz.) nostre romanz, lor romanz, romans françois, romans liegois, romans de France […] eingegrenzt“ (ib.) 45 . Die neuerdings vorgeschlagene Deutung von romanz im Sinne einer „gemeinromanische[n] Distanzsprache“ (Frank-Job 2003, 26) ist dagegen missverständlich. Zwar haben die mittelalterlichen Autoren durchaus eine Vorstellung von der Zusammengehörigkeit der romanischen Sprachen; dabei wird diese Einheit jedoch immer schon im Sinne einer Vielheit aufgefasst: Das „Gesamtkonzept romanz“ (ib.) kann überhaupt nur als das Zusammenspiel mehrerer romanischer Sprachen und Varietäten gedacht werden. Für die Autoren, die uns hier beschäftigen, scheint die Bindung der Einzelsprachen an klar umrissene Territorien, zumindest im wissenschaftlichen Diskursuniversum, noch nicht die beherrschende Rolle zu spielen, die ihr in späteren Jahrhunderten zufallen wird. Die besondere Situation Brunettos - nous somes italien; nous somes en France - und das sicher nicht weniger komplexe kulturelle und sprachliche Umfeld, in dem sich 45 Cf. die ähnliche Auffassung, auch im Hinblick auf Brunetto Latini, in Kramer (1998, 150s.). Scientific Community 147 Jean d'Antioche in Saint-Jean-d'Acre bewegt, tragen dazu bei, dass beide Autoren die Sprache für ihr wissenschaftliches Werk tatsächlich in erster Linie „nach den Maßstäben diskurstraditioneller Effizienz“ (Koch 1988, 343) auswählen. Die emphatische Hervorhebung des volgare proprio, wie wir sie bei Dante antreffen werden, fehlt hier noch gänzlich 46 . Die Beispiele von Brunetto Latini und Jean d'Antioche machen somit auch deutlich, dass die Ablösung der ‚universalen‘ Wissenschaftssprache keineswegs mit der Hinwendung zu den jeweiligen ‚Muttersprachen‘ gleichgesetzt werden kann. Vielmehr ist die Wissenschaftssprache, sobald sie nicht mehr notwendig an die lettera (das Lateinische) gebunden ist und sich auch des roumanç bedient, zutiefst durch Sprachenvielfalt geprägt: Unter den Volkssprachen kommen für das wissenschaftliche Diskursuniversum nämlich immer mehrere, wenn auch keineswegs alle romanischen Idiome in Frage. In der Tat ist die Wissenschaftssprache eine Bildungssprache, eine durch metasprachliche Verfahren - wie die explizite Definition der verwendeten Termini - von der Alltagssprache abgehobene Form und somit eine Sprache, in der die natürliche Variabilität der Gemeinsprache teilweise suspendiert ist. Gerade deshalb ist jedoch auch die Wahl der Einzelsprache in der Wissenschaft relativ frei: Die wissenschaftlichen Texte sind, wie sonst vielleicht nur noch die poetischen Texte, so sehr den pragmatischen Zwängen des Alltags enthoben, dass die Verwendung der einen oder anderen Sprache tatsächlich in gewissem Maße der Entscheidung des Autors anheimgestellt ist. Angesichts der gegenwärtig wiederholt geäußerten Sorge vor einer zunehmenden „Monolingualisierung“ des Wissenschaftsbetriebs (Ehlich 2006, 33) sollte es uns somit gerade darum gehen, die ‚Mehrsprachigkeit‘ der wissenschaftlichen Praxis und dabei insbesondere die Wahlmöglichkeit zwischen mehreren Einzelsprachen zu bewahren. 46 Cf. auch die pointierte Formulierung in Fenzi (2008, 356): „[…] l'internazionale Brunetto intanto guarda all'area complessiva del roumanç, senza limitarsi, come Dante, a quella del sì“. Raymund Wilhelm 148 Literaturverzeichnis Textausgaben Convivio = Alighieri, Dante, Convivio, ed. Piero Cudini, Milano, Garzanti, 1980. De Inventione = Cicero, Marcus Tullius, De inventione/ Über die Auffindung des Stoffes, De optimo genere oratorum/ Über die beste Gattung von Rednern. Lateinisch-Deutsch, ed. Theodor Nüßlein, Düsseldorf/ Zürich, Artemis & Winkler, 1998. De vulgari eloquentia = Alighieri, Dante, De vulgari eloquentia, ed. Vittorio Coletti, Milano, Garzanti, 1991. 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Da die Sprachverwendung stets in bestimmten wiederholten Rahmenbedingungen, also in Diskurstraditionen, erfolgt, ist genau dieser Prozess zu beobachten, wenn man den Übergang von der mündlichen Verwendung in den Schriftbereich nachvollziehen will. Dabei wird die Sprache in zwei Aspekten ausgebaut: einerseits in ihrem Anwendungsgebiet, das sich durch jeden Gebrauch in einer bestimmten Sprech-, hier: Schreibsituation konventionalisiert und so diese Diskurstradition in der Sprache festigt; andererseits in den sprachlichen Mitteln, die für diese Diskurstradition gewählt werden und so zu einem lexikalischen, syntaktischen und stilistischen Ausbau der Sprache für diese Diskurstradition, aber potentiell auch für weitere Bereiche der Sprache beitragen, so für ganze Wissenschaftstraditionen. 1 Die Lage des Spanischen als Wissenschaftssprache wird von Sánchez Ron (2003, 14) skeptisch beurteilt: „[...] a pesar de los innegables avances que se están produciendo en este dominio, todavía estamos lejos de los primeros puestos en una supuesta jerarquía científica internacional“. Ob die romanischen Sprachen dabei sind, diesen Status durch ihren geringeren Gebrauch in Publikationen und die anwachsende, sie substituierende Verwendung des Englischen zu verlieren, kann sicherlich so einfach nicht bezeugt werden und muss differenzierter hinsichtlich der Fachtraditionen betrachtet werden. Elmar Eggert 156 Dazu soll ein kleiner Ausschnitt aus einer der früheren Phasen des Ausbaus der spanischen Sprache näher betrachtet werden, in welchem eine bestimmte schriftliche Diskurstradition für das Kastilische erschlossen wird, die für den wissenschaftlichen Kommunikationsraum der Zeit grundlegend durch lateinische Schriften geprägt ist, nämlich die mittelalterlichen Enzyklopädien. Diese Aneignung einer enzyklopädischen Texttradition für das Spanische erfolgt hauptsächlich durch die Übersetzungen, die im 14. und 15. Jh. von der am weitesten verbreiteten Enzyklopädie des Mittelalter (MA), De proprietatibus rerum (DPR) des Bartholomaeus Anglicus, angefertigt worden sind und die in Ansätzen analysiert werden sollen 2 . Eine im Entstehen begriffene Diskurstradition umfasst dabei nicht nur sprachliche Mittel, sondern auch weitere Formen, die an eine typisierte Kommunikationssituation gebunden sind. Da jedoch nicht alle Aspekte der Diskurstradition aufgegriffen werden können, soll hauptsächlich der sprachliche Bereich behandelt werden. Von allen zu analysierenden Ebenen wird dabei v. a. die morphologisch-lexikalische Bildungsweise fachsprachlicher Wörter analysiert, die Aufschluss darüber gibt, wie die Übersetzer einer lateinischen Enzyklopädie vorgegangen sind. Denn diese standen vor der Schwierigkeit, einen inhaltlich komprimierten Text zu verschiedenen Themenbereichen mit deutlicher Fachterminologie, aber auch mit didaktischem Anspruch in die Volkssprache zu übertragen. Diese beiden komplementären Aspekte eines Fachwissen vermittelnden Textes führen zu einer Hybridität, die sich auch in den Übersetzungen niederschlägt. Aus den Vorbemerkungen wird deutlich, dass zunächst einige Anmerkungen zur Fachsprachlichkeit und ihrer Entwicklung vonnöten sind, um den fachsprachlichen Charakter der enzyklopädischen Texte auf Latein und in den Volkssprachen zu bestimmen. Die angesprochene Komprimiertheit, die aus der Kompilation der Texte resultiert, ist dabei ein wichtiger Punkt, der zu erläutern ist. Schließlich, und das soll ein Schwerpunkt der Ausführungen sein, wird versucht, aus den fachsprachlichen Übersetzungen eine Grundhaltung der Übersetzer heraus zu 2 Die Darstellung ist zu der Untersuchung zu rechnen, welche die Verfahren der Erweiterung des Fachwortschatzes im spanischen Spätmittelalter anhand der beiden Übersetzungen zu bestimmen sucht. Die Grundhypothese ist, dass die Situierung des Kommunikationskontexts, also die Einfügung in eine Diskurstradition, entscheidend für die Art der Übersetzung ist, die somit die Aufnahme gelehrter Wörter und die Sicherung des Verständnisses steuert, sie nicht als Gegensatz begreift, sondern dadurch zu einer Festigung einer Diskurstradition und somit auch zu einer Fachsprache beiträgt. Zu den spanischen Übersetzungen des De proprietatibus rerum 157 kristallisieren, die Rückschlüsse auf die Texte und somit die Diskurstradition ermöglicht. 2. Zur Fachsprache Fachsprache ist eine an die Situation einer Fachkommunikation gebundene Ausprägung der Sprache, die mit nichtsprachlichen Kommunikationsmitteln wie z. B. Schaubildern, Gesten kombiniert werden kann. Erst die Art der Kommunikation über perzipierte Sachverhalte der Welt konstituiert eine Fachlichkeit (Kalverkämper 1998b, 31s.), die durch den pragmatischen Rahmen einer Kommunikation bestimmt werden kann. Dazu sind neben dem Produzenten und dem Rezipienten einerseits die referentielle Thematik zu erörtern, andererseits aber auch die Vorkenntnisse und Zielsetzung des Übersetzers. Der pragmatische Rahmen der Kommunikation wirkt auf die Sprache ein, indem Bedürfnisse der Kommunikation und Darstellung sprachlich gelöst werden und so Formen der Fachsprache entstehen. Diese Grundannahme scheint zwar universell gültig, aber die konkrete Ausprägung ist doch deutlich historisch bedingt. 2.1 Geschichte der Fachsprachen Trotz gelegentlicher Reduzierung auf die Neuzeit zeigt Kalverkämper (1998a) auf, dass Fachlichkeit ein generelles Phänomen ist, das durch alle Zeiten Auswirkungen auf die Sprache hat. Für die Erforschung der mittelalterlichen Fachsprache müssen die Wissenschaftsmodelle der Spätantike und des MA herangezogen werden, wie z. B. das sapientiale Einheitsmodell nach Augustin 3 oder der Wissenschaftskosmos von Thomas von Aquin 4 , die jedoch nicht hier ausgeführt werden können. Neben der Theo- 3 Schulthess/ Imbach (²2002, 32s.). Das Modell sieht nach Augustin die Philosophie und Theologie als Einheit in der sapientia an, wobei der Erkenntnisgegenstand nur der Mensch ( â õ ) oder Gott ( " à à ) ist. Die Befassung mit der Welt erfolgt durch die artes als Vorstufe einer Bildung von den Sinnen (corporalia) zum Erkennen (incorporalia) und somit zur Vernunft (intelligibilia). „Augustin setzt als erster der antiken Bildung einen eigenen Entwurf der doctrina christiana entgegen, der alles profane Wissen nur als Vorstufe, Protreptik, für das Wissen von Gott versteht“. 4 Thomas von Aquin lässt die Theologie als Wissenschaft entstehen und ordnet sie somit auch der Logik unter (Schulthess/ Imbach 2 2002, 169), wenngleich es eine subalterne Wissenschaft ist, die nicht durch das Licht der Vernunft alleine (lumen naturale), sondern dem Wissen Gottes (der göttlichen Wissenschaft) untergeordnet ist. Die Erkenntnis der Theologie beruhe auf Offenbarung, die der anderen Wissenschaften hingegen auf Vernunft (Schulthess/ Imbach 2 2002, 171). Elmar Eggert 158 logie und Philosophie als höchster Erkenntnisstufe sind v. a. die universitären Einteilungen der sieben artes liberales (cf. Schmitt 1992, 319) als wissenschaftliche Fachbereiche zu werten. Von sehr großer Bedeutung ist der juristische Bereich, aber auch die Medizin, die teilweise zu den artes mechanicae gezählt wird (Jacobs 1996, 14s.), im Volkstum zudem die artes magicae 5 , aber auch weitere wissenschaftliche Betätigungen wie die der Alchemie, Geographie, Botanik, Zoologie, Architektur, die bestehenden Handwerke und Beschäftigungen wie die Falkenkunde, Kriegswesen, etc. Diese Vielfalt verdeutlicht, dass die scheinbare Übersichtlichkeit der Fächer, wie sie in den Sieben Künsten suggeriert wird, auch für das MA nicht gilt (Röntgen 2006, 2226) 6 . 2.2 Entwicklung einer Fachsprachlichkeit in der Volkssprache durch Übersetzungen Die fachliche und vielfach wissenschaftliche Beschäftigung mit den Gegenständen erfolgte bekanntermaßen auf Latein als der mittelalterlichen Fachsprache für schriftliche Abhandlungen. Da die Volkssprache zunehmend auch in den vormals dem Lateinischen vorbehaltenen Texttraditionen gebraucht wird, muss für diese eine entsprechende Fachsprache entwickelt werden. Die Fachkenntnisse können so einem größeren Kreis von Personen zugänglich gemacht werden, die ohne Lateinkenntnisse von ihnen ausgeschlossen waren, wodurch neben den Fachkenntnissen auch die Fachsprache vulgarisiert wird. Der Rückgriff auf das Lateinische als Muster ist gerade für die Erweiterung und den Ausbau der Sprache im MA ein wichtiges Vorgehen, so Dworkin (2004, 63): [los traductores] se encargaban de introducir latinismos referentes a muchos conceptos para los cuales ya existía expresión lingüística en la lengua 5 Spillner (1996, 204-205): „Die artes liberales bilden den Hintergrund für die Entstehung der mittelalterlichen Fachprosa [...] insbesondere die Eigenkünste (artes mechanicae), in denen für das Handwerk, die Kriegskunst , die Seefahrt mit Geographie und Handel, den Landbau und die Hauswirtschaft, die Jagd und Tierheilkunde und die Medizin der Fachwortschatz entwickelt (z. T. entlehnt) und ausgebaut wird“. Cf. auch die Darstellung der Fachbereiche des mittelalterlichen Fachwissens in Schmitt (1992, 319). Zu den artes magicae nach dem Traktat des Lope de Barrientos, cf. auch Lebsanft (2005b). 6 Cf. auch Kalverkämper (1998a, 68). Die fachliche Texttradition der astronomischen Traktate z. B. behandelt sowohl astronomische als auch astrologische Gegenstände, die heute und auch damals von einigen Gelehrten als getrennte Fächer angesehen werden konnten. Von der Facheinteilung zu trennen ist die Einteilung der sprachlichen Bewältigung der Fachkommunikation, die in fachlichen Gattungen der Texte, also in (Fach-)Texttraditionen, zu erkennen sind und nicht mit den Fächergrenzen übereinstimmen müssen. Zu den spanischen Übersetzungen des De proprietatibus rerum 159 medieval. Conscientes de la mayor amplitud y riqueza del léxico latino, los traductores creían que el latín expresaba los conceptos y nociones abstractos con más precisión y claridad que el castellano. Gerade die historische Fachsprachenforschung ermöglicht die „Verdeutlichung der Rolle der Sprache im Prozess einer jahrhundertelangen Läuterung des wissenschaftlichen Denkens“ (Albrecht/ Baum 1992, 7). In der durch Kulturkontakt angeregten Entstehungsphase der Fachsprachen muss die Versprachlichung von Fachwissen und Facherkenntnis, die in einer Ausgangssprache zur Bildung der Fachsprache und Fachterminologie führt, erneut für eine Zielsprache im Prozess der Übersetzung geleistet werden. Zunächst können - wie das anhand des semiotischen Modells von Raible noch konkreter gezeigt werden kann - Konzepte einer Ausgangssprache in die Zielsprache übernommen werden, die vorher nicht existierten 7 , oder bestehende Konzepte verändert werden. Neben der Konzeptionalisierung eines Sachverhaltes ist grundlegend, dass sie in Worte gekleidet, also versprachlicht wird, denn der Übergang von der kognitiven zur kommunikativen Funktion (so Schmitt 1992, 296) erfolgt hauptsächlich über die Sprache. Die theoretische Reflexion bei der Versprachlichung der Konzepte ist zugleich Ursprung für einen neuen Bereich der Sprache, nämlich der sogenannten Wissenschaftssprache. Wenn im Übersetzungsprozess keine bestehende lexikalische Bezeichnung mit Bedeutungsveränderung eingesetzt wird, kann nach verschiedenen Verfahren (Entlehnung, Wortbildung) ein Neologismus gebildet werden, sogar dann, wenn bereits Wörter vorhanden sind, denen aber aus verschiedenen Gründen ein weiteres hinzugestellt werden soll. Bereits durch die literarisch-kulturellen Bemühungen Alfons des Weisen wurde ein früher Ausbaustand des Kastilischen erreicht. Mithilfe der Akkulturation des Wissens (Bossong 1979) verschiedenster Bereiche aus arabischen und lateinisch-griechischen Quellen hat er eine erste Kultursprache geschaffen und zu einer intensiven Fachsprachenentwicklung des Spanischen beigetragen. 7 Es kann auch ein Referent in einen Kulturraum eindringen, ohne dass dafür ein Wort zur Verfügung steht. Cf. die Bezeichnung der Bewässerungstechniken der Araber zur Zeit der Reconquista. Elmar Eggert 160 2.3 Enzyklopädien als Fachkommunikation und Übermittlungstexte Neben den Behandlungen der artes sind Naturbeschreibungen ein großer und traditioneller Bestandteil der wissenschaftlichen Fachtexte, wie sie v. a. die enzyklopädischen Darstellungen und bereits die Etymologiae des Isidor von Sevilla kennzeichnen. Bei den Enzyklopädien liegt eine klare Fach- und Wissenschaftskommunikation vor, wenn auch die Autoren selbst nicht die Primärautoren und Begründer der Wissensbestände sind 8 . Sie geben aber als Übermittler eines ausführlichen und renommierten Wissens über die Dinge denjenigen Rezipienten, die diese erweiterten Informationen suchen, genau die verfügbaren Informationen an die Hand und zitieren dabei ihre Quellen; sie sind damit nicht selbst Fachleute, sondern ‚Kompilatoren‘ der fachwissenschaftlichen Texte verschiedener Autoritäten 9 . Die Kompilation ist - so die Vorrede des Bonaventura 10 - eine Art der Redaktion eines Buches, das fremdes Wissen zusammenträgt, ohne eigenes hinzuzufügen. Dabei betont schon Jochum (1996, 22), dass „eine solche Kompilationstätigkeit im Kontext des 15. Jahrhunderts gegenüber der Autorschaft nicht als mindere Tätigkeit eingestuft werden darf“, und auch Fastert (2003, 313) verweist mit Meier darauf, dass „der Enzyklopädist des Mittelalters durchaus als ein vollgültiger Autor, als auctor des Buches oder Werk, verstanden werden muß und als solcher wie andere Autoren dargestellt wurde“. Denn die Enzyklopädisten liefern einen großen Beitrag, der sich in der Auswahl, in Kürzungen, Ergänzungen und Kommentaren ausdrückt. Zudem tragen sie hauptsächlich 8 „Wichtige Grundlagen [des Fachwortschatzes] bilden die zweisprachigen Glossare und die [...] Enzyklopädien“, so auch Spillner (1996, 205). 9 Gabriel (2006, 2241) verweist auf die Etymologiae des Isidor von Sevilla als eines „der bedeutenden fachbezogenen Werke mit europaweiter und lang andauernder Resonanz, in denen in lateinischer Sprache auch terminologische Fragen für viele Sektoren des sich im Mittelalter entwickelnden Fächerkanons geklärt werden“. Denn „Theologie und Philosophie im Mittelalter lassen als Wahrheitsquelle neben der Vernunft auch die auctoritas zu“ (Schulthess/ Imbach 2 2002, 25). 10 Als Zeitgenosse des Bartholomaeus Anglicus behandelt Bonaventura (1217 Viterbo - 1274 Lyon, Magister OFM, LexMA, s. v. Bonaventura) in der Vorrede zu seinem Kommentar In primum librum Sententiarum die verschiedenen Gruppen von Autoren, die auch Fastert (2003, 314) heranzieht: „Quadruplex est modus faciendi librum. Aliquis enim scribit aliena, nihil addendo uel mutando; et iste mere dicitur scriptor. Aliquis scribit aliena addendo, sed non de suo; et iste compilator dicitur. Aliquis scribit et aliena et sua, sed aliena tamquam principalia, et sua annexa ad evidentiam; et iste dicitur commentator, non auctor. Aliquis scribit et sua et aliena, sed sua tamen principaliter, aliena tamquam annexa ad confirmationem; et talis debet dici auctor“, zit. nach: Opera omnia. Ed. Patres Collegii Sancti Bonaventurae 1882-1902, vol. 1: Commentarius in primum librum sententiarum proemii quaestionis 4 conclusio, 14-15. Zu den spanischen Übersetzungen des De proprietatibus rerum 161 eine Übermittlungsfunktion, die sich in den Übersetzungen zu einer didaktischen Funktion verstärkt, da die Übersetzer in ihnen noch stärker darauf achten, dass die im Ausgangstext enthaltenen Informationen auch die Leser erreichen. Grundlegend dazu ist zunächst die Wahl der dem Rezipientenkreis vertrauteren Muttersprache 11 , dann aber auch die Art der Übersetzung. Welches Ziel und Zielpublikum jeweils für eine Übersetzung vorgelegen hat, ist v. a. aus den Texten zu ermitteln. Gerade die Strategie zur Übersetzung kann aus diesen Texten durch eine linguistische Analyse der gewählten bzw. gebildeten Fachwörter herausgelesen werden, was in Abschnitt 4. dargestellt werden soll. 3. Präsentation der Enzyklopädien und der spanischen Übersetzungen Das (Liber) De proprietatibus rerum wurde Mitte des 13. Jh. (~1245) vom Franziskanermönch Bartholomaeus Anglicus verfasst und ist eine der drei großen Enzyklopädien des Hochmittelalters neben dem Liber de natura rerum des Thomas de Cantimpré und dem Speculum maius (quadruplex) des Vinzenz von Beauvais, die alle aus dem 13. Jh. stammen und das Wissen über die Welt in göttlicher Ordnung darstellen 12 . Von den drei Enzyklopädien des 13. Jh. hat das Werk des Bartholomaeus die weiteste Rezeption erfahren, auch aufgrund seines begrenzten Umfangs und der dadurch erreichten Handlichkeit. Die lateinische Fassung ist in 188 Codices bis ins 15. Jh. und weiteren bearbeitenden Handschriften überliefert (Meyer 2000). Ein zweiter Weg der Überlieferung liegt in den meist von einem adligen Laienpublikum in Auftrag gegebenen Übersetzungen des Werkes in die Volkssprachen vor, darunter die Übersetzung ins Spanische, die 1494 in Toulouse bei Heinrich Meyer gedruckt wird. Sie wird von Vicente de Burgos angefertigt, der sich stark an der französischen Übersetzung (1372) durch Jean Corbechon orientiert, aber gleichzeitig einen kontrollierenden Blick auf die lateinische Fassung beibehält. Allein zwölf Exem- 11 Röntgen (2006, 2227): „[Ramón Llull] zog seine Muttersprache dem Lateinischen deshalb oft vor, weil er seinen lateinunkundigen Zeitgenossen ‚Wege der Erkenntnis‘ eröffnen wollte [...]“. 12 Schulthess/ Imbach ( 2 2002, 183): „Daß die Welt durch und durch geordnet ist, ist ein Gedanke, der aus dem Neuplatonismus und in der christlichen Philosophie so wirksam ist, dass das Seiende als Geschaffenes eben Geordnetes ist [...] für Thomas von Aquin in Form des ordo rerum eine schöpfungstheologische Grundvoraussetzung der Ontologie“. Elmar Eggert 162 plare des Drucks befinden sich in der Biblioteca Nacional von Madrid. Zugänglich ist diese Übersetzung durch die Transkription in der Datenbank ADMYTE als elektronischer Text 13 , daneben auch im historischen Korpus des Kastilischen CORDE. Neben dieser bekannten und edierten kastilischen Fassung liegt eine weitere Übersetzung ins Spanische vor, die nur in einem Textzeugen, der Handschrift Add. 30037 in der British Library, überliefert ist. Somit kann eine zweifache Übersetzung des Gesamttexts in eine Volkssprache nur für das Spanische angenommen werden und stellt damit eine Besonderheit dar 14 . Diese zweite Übersetzung ist allerdings kaum bekannt gewesen, bis wir in Bochum dem Hinweis aus der Monographie zur Rezeption der Enzyklopädie des Bartholomaeus Anglicus 15 nachgegangen sind und diese frühe spanische Übersetzung der Fachwelt vorgestellt haben 16 . Die genaue Datierung der Handschrift ist noch nicht erfolgt, aber eine sprachliche Auswertung zeigt bereits, dass die Übersetzung erheblich vor der zweiten des Vicente de Burgos liegen muss. Der prächtige Kodex weist fast durchgängig ein initiales graphisches f- 17 , häufige Verwendungen des Partizips Präsens als Anlehnung an lateinische Formen und die Setzung des Artikels mit dem Possessiv auf, so dass die Hypothese einer Abfassung der Übersetzung im 14. Jh. vorgebracht werden kann. Die beiden spanischen Versionen unterscheiden sich deutlich nicht nur hinsichtlich der Zeit der Abfassung, die für das Manuskript ein gutes Jahrhundert früher anzunehmen ist als die des Inkunabeldrucks. Auch ist die Ausgangslage der Übersetzung eine andere, da Vicente de Burgos sich grundlegend an die französische Übersetzung anlehnt und nur ver- 13 Die Transkription enthält jedoch viele zum Teil gravierende Fehler, bis zu zehn auf einigen Seiten. 14 Für das Französische ist nur die Teilübersetzung des Buchs 15 ins Anglonormannische neben der durch Corbechon zu verzeichnen. Cf. Pitts (2006). 15 Meyer (2000, 392): „[…] 1928 mit dem seither weder beachteten noch überprüften Vermerk versehen, daß hier nicht die Version des Vicente de Burgos vorliege“. 16 Die Übersetzung der Inkunabel ist insgesamt wenig behandelt worden, so von Mettmann (1971) und von Chambon/ Courouau/ Thibault (2005). In Spanien gab es keine Forschung zur kastilischen Tradition des DPR, bis María Nieves Sánchez González de Herrero mit ihren Kollegen von der Universität Salamanca die Übersetzung von Vicente de Burgos zu untersuchen begann und nach unserem Hinweis auch die Handschrift einbezog. 17 „La difusión del cambio f- > h- (o ‚cero fonético‘) debió ser constante por toda Castilla entre los ss. XIII y XV. Es cierto que la lengua culta, literaria, oficial, al preferir la solución conservadora, impide seguir con detalle su progreso. [...] La aspiración de f- [...] sería considerado como claro vulgarismo de pronunciación. Este carácter se fue perdiendo a lo largo de los ss. XIV y XV, hasta que a finales de éste la presencia de hpor fen las voces patrimoniales se incorpora a la lengua ‚culta‘“ (Cano Aguilar 2004, 209). Zu den spanischen Übersetzungen des De proprietatibus rerum 163 gleichsweise den lateinischen Originaltext heranzieht. Der Übersetzer der Handschrift hingegen kann sich nur auf den lateinischen Text stützen, da er die französische Übersetzung nicht zu kennen scheint. Aus der Konstellation dieser zwei spanischen Übersetzungen desselben Ausgangstexts 18 zu verschiedenen Zeiten kann u. a. die lexikalische Entwicklung gut beobachtet werden: In diesem kurz skizzierten Rahmen soll versucht werden, für die Phase des 14. bis 15. Jh. einige Erkenntnisse zu Grundhaltungen und Problembewältigungsstrategien zu präsentieren, wie sie die Übersetzer der Enzyklopädien bei der Ausarbeitung einer Fachsprache an den Tag legten. Die Konklusionen dieser Darstellung werden sich daher auf die Mechanismen der Übernahme und Anpassung der lateinischen Texttradition an die kastilische Volkssprache beziehen. 18 Bei aller Variation der mittelalterlichen Textübermittlung kann eine grundsätzliche Konstante des Ausgangstexts angenommen werden, die jedoch im einzelnen zu überprüfen ist. Mangels einer verlässlichen Edition kann praktisch nur der Neuabdruck von 1964 der Ausgabe von Frankfurt 1601 herangezogen werden. Das internationale Editionsprojekt des lateinischen und französischen Texts des DPR wird diese Lücke hoffentlich bald schließen. Cf. Van den Abeele/ Meyer (2005), Van den Abeele et al. (2007). span. Handschrift 14. Jh. fr. Übersetzung Corbechon 14. Jh. span. Inkunabel Vicente de Burgos 15. Jh. Texttradition der Enzyklopädie LPR (lat. Original) 13. Jh. Elmar Eggert 164 3.1 Erster Vergleich Ein erster Vergleich paralleler Kapitel der beiden Übersetzungen verdeutlicht die Distanz und Unabhängigkeit der beiden Versionen voneinander, denn im Kapitel 2 des XIX. Buchs über die Grundlagen der Farben wird offenbar, dass die Übersetzung der Inkunabel umfangreicher ausfällt als die der Handschrift. Die Aussagen der Handschrift finden sich auch im späteren Druck, aber dort ist der Text erweitert. Ein direkter Vergleich zeigt, dass der Übersetzer der Handschrift so nah wie möglich am lateinischen Original bleiben wollte, auch wenn dieses Vorgehen die Klarheit seiner Ausführungen beeinträchtigt. Der französische Übersetzer hingegen versucht, die Aussagen der lateinischen Enzyklopädie so verständlich wie möglich zu machen, weshalb er relativ frei Erläuterungen hinzufügt oder Elemente übergeht, um einen Text zu erreichen, der den Anforderungen seiner Zeit und dem angestrebten Publikum entspricht. Vicente de Burgos wählt die französische Übersetzung als Vorlage, die ihm ausführlicher und vielleicht verständlicher erschienen sein muss. Bartholomaeus Anglicus: Est autem perspicuum bene terminatum materia coloris & hoc est solum vel maxime humidum Ms: Esta agora clara & buenamente determjnada la materia dela color E aquesto es solo & mayormente humjda Fr: Le fondement de la couleur est vne clarte bien terminee qui est ou corps coulouree. Et pource dit aristote que la couleur est vne lumiere espesse. Ceste matiere de couleur est moiste qui est clere de sa nature: Vicente de Burgos: La materia del color es vna claridad bien terminada que es en el cuerpo colorado & por esto Aristotiles dezia que el color es vna lumbrera espesa & esta materia del color es vmida & es clara de su natura Zu den spanischen Übersetzungen des De proprietatibus rerum 165 4. Zur Übernahme der Texttradition Ausgangspunkt der folgenden Analyse ist die Situation der Abfassung einer Übersetzung. Die Übersetzer konnten nicht auf eine gefestigte Sprache und Norm zurückgreifen, sondern befanden sich in einem Variationsraum, aus dem es die Varianten zu selegieren galt, die den Übersetzern für ihre Zwecke am sinnvollsten erschienen. Dabei können allgemeine ausgangs- oder zieltextorientierte Zwecke die Übersetzer geleitet haben, wie die genaue Übermittlung des Sinns des Ausgangstexts, die Nähe zu dessen Textbedingungen, die Erstellung eines für die Leser verständlichen Texts oder das Erreichen eines für einen enzyklopädischen Text passenden Stils. Da die Zwecke teilweise konträr sind, müssen sie unterschiedlich gewichtet werden, je nach Priorität der Übersetzer. Sie konnten aber nur aus denjenigen Varianten wählen, die sie entweder bereits kannten oder die sie mit den Mitteln der Wortbildung bilden konnten und die ihnen als die für ihre Ziele passendsten erschienen. In der Auswahl der Varianten zeigt sich somit, welche dem Übersetzer bekannt waren und wie er sie einstufte, wodurch sich die Übersetzungshaltungen aus den vorliegenden Texten ermitteln lassen. Doch kann aus den Übersetzungen kein Bild der gesamten Sprache der Zeit entworfen werden, da es sich nur um die Ausgestaltung einer einzigen Texttradition mit eigenen Anforderungen handelt 19 . Da sie zudem zu den ersten Übersetzungen enzyklopädischer Texte in die spanische Sprache zählen, ist diese Texttradition, die v. a. im Lateinischen wirkte, in der Volkssprache noch in der Phase der Etablierung. Die Übersetzer haben daher von den lateinischen Vorgaben die Elemente übernommen, die ihnen nützlich schienen und diese nach ihren Anforderungen und Bedingungen modifiziert und angepasst. 4.1 Analyse der lexikalischen Varianten in den Übersetzungen Um die Übersetzungshaltungen zu ermitteln, müssen die Unterschiede der beiden kastilischen Versionen betrachtet werden. Allein im Grundwortschatz weisen sie Differenzen auf: Neben dem klassisch-lateinischen odor ‚Geruch‘ wurde im gesprochenen Stil die Form olor verwendet 20 . Beide 19 Cf. die theoretische Fundierung der Text- oder Diskurstradition u. a. nach Coseriu (1962 (1955)/ ³1994 (1980)), Schlieben-Lange (1983), Koch (1997), Oesterreicher (1997), Lebsanft (2005b), Koch (2008). 20 DCECH, s. v. oler: „olor, del lat. vg. olor (lat. cl. odor) […] el fr. y el it. que han introducido el cultismo odeur o ...“/ DHLF, s. v. olfactif: „Ce verbe [olere] se rattache à olor, forme parlée (dans les gloses) de odor“. Elmar Eggert 166 Formen odor und olor sind im Altspanischen attestiert, aber nach Abfrage in CORDE ist odor nur in 10% aller Fälle belegt, u. a. bei Vicente de Burgos. Hauptsächlich wird olor gebraucht, welches in der Handschrift erscheint und sich als Grundwort im Folgenden etablieren sollte. In der Wahl von odor anstelle des häufigeren olor kann einerseits ein Einfluss der französischen Übersetzung mit odeur gesehen werden, denn im Französischen ist bereits im 15. Jh. das gelehrte Wort odeur in Anlehnung an das klassisch-lateinische odor üblich. Vicente de Burgos scheint mit dieser Übersetzung andererseits einen gelehrten Stil erreichen zu wollen, indem er die gelehrte Form odor verwendet (und dazu odoriferae analog stellt), die sich aber nicht durchsetzen konnte. 4.2 Semantische Komposita Eine der Schwierigkeiten besteht in der Übersetzung lateinischer Fachtermini, die synthetisch gebildet sind und sich aus mindestens zwei semantischen Kernen zusammensetzen, die formell einem Kompositum (odoriferae) entsprechen können oder auch einer Ableitung (pennositas) 21 . Eine Übersicht über einzelne Beispiele lässt die verschiedenen Übersetzungsmöglichkeiten dieser Fachtermini erkennen. Die Methoden der Übersetzung lassen sich in sechs Arten unterteilen, welche anhand von einzelnen Beispielen im Folgenden illustriert werden: I. eine syntagmatische Umschreibung II. eine Reduzierung der Bedeutung auf einen Aspekt mit semantischer Spezialisierung III. eine Bedeutungsverschiebung auf bezeichnete oder kontige Objekte IV. eine volkssprachliche Derivation/ Komposition, die die Grundbedeutung widerspiegelt V. eine Entlehnung (aus dem Lateinischen/ Französischen) VI. die Nichtübersetzung Für das adjektivische Kompositum odoriferae ‚geruchtragend‘ nimmt die spanische Übersetzung der Handschrift eine Vereinfachung zur Verbalhandlung mit der Bedeutung ‚Geruch ausströmen‘ vor, welche durch das Partizip Präsens Aktiv bien olientes realisiert wird, was somit den Verfahren I und II entspricht. Es wird von Vicente de Burgos mit odoriferas 21 Cf. die generische Komposita nach Staib (1988). Zu den spanischen Übersetzungen des De proprietatibus rerum 167 übersetzt, einem Latinismus, der seit dem 13. Jh. im Spanischen belegt ist und bis heute ein gelehrtes Wort im Spanischen darstellt (V). Im Kapitel zu den Vögeln wird ausgesagt, dass diesen Lebewesen die Fähigkeit zu fliegen nach der Elementenlehre ermöglicht werde, und zwar durch die Zusammensetzung dieser Tiere mit nur geringen Anteilen schwerer Elemente wie z. B. dem der Erde. Der lateinische Text führt die reduzierte Menge des Erdelements mit dem Wort terrestreitas an, welches einen Bezug zur Erde herstellt, sich aber dabei auf die Eigenschaften dieses Elements konzentriert, v. a. diejenige der größeren Schwere im Verhältnis zu den anderen Elementen, der Luft und des Feuers. Der Übersetzer der Handschrift scheint sich dieser besonderen Bedeutung bewusst, wenn er die Ableitung terreno wählt, welche die Bedeutung als Relationsadjektiv zu tierra 22 enthält (IV). Vicente de Burgos dagegen reduziert die spezifische Bedeutung von terrestreitas, indem er das Wort mit tierra übersetzt und so nur metonymisch den Sinn ausdrückt. Um das korrekte Verständnis zu sichern, engt er dazu den semantischen Bereich auf die Elementenlehre ein, indem er das Syntagma en su complixion ergänzt. So reichert er durch diese Bezeichnung das Wort tierra mit der zusätzlichen Bedeutungsnuance der schweren Eigenschaft dieses Elements an, ohne ein lexikalisches Äquivalent zu bilden (II, I). Die Unterscheidung der Tierarten in der Einleitung dieses Buchs wird anhand ihrer Fortbewegungsarten getroffen. Das substantivierte Adjektiv gressibilia bezeichnet die Landtiere mit ihrer Bedeutung, die aus der Komposition des Partizips gressus der lexikalischen Wurzel gradior ‚gehen‘ > ‚Schritt‘ und dem Suffix -Vbilis gebildet wird und demnach wörtlich die Bedeutung trägt ‚diejenigen, die die Fähigkeit haben, (mit Füßen) zu gehen‘. In analoger Weise werden mit natabilia durch die Bedeutung ‚diejenigen, die schwimmen können‘ die Meerestiere bezeichnet, die sich von den Flugwesen, den volatilia, den der lexikalischen Bedeutung nach fliegen könnenden Tieren abgrenzen. Die Konzepte zur Unterscheidung der übergeordneten Tiergruppen decken sich in den beiden Sprach- und Kulturräumen des Lateinischen und Spanischen, aber die Nachbildung der lexikalischen Bedeutung der diese Konzepte ausdrückenden lateinischen Wörter ist in der spanischen Volkssprache nicht ohne weiteres möglich, so dass der Übersetzer der Handschrift zur Differenzierung dieser drei Tierarten auf andere Bezeichnungswege zurückgreift. Er wählt zunächst das zugrundeliegende, virtuelle Hyperonym animalia zur Ein- 22 DETMA, s. v. terreno: „Véase también térreo 1. De tierra“. Elmar Eggert 168 grenzung auf die Tiere allgemein und geht von der Angabe der Fortbewegungsart der verschiedenen Tiere (‚gehen‘ gegenüber ‚schwimmen‘ oder ‚fliegen‘) zur Alternative über, den Lebensraum der jeweiligen Tiere hervorzuheben. Dieser liegt nach der spanischen Bedeutungsgebung bei den anjmalias de la tierra auf dem Land und in analoger Weise bei den schwimmenden Tieren im Wasser. Dabei grenzt der Übersetzer der Handschrift die natabilia durch das beschränktere Hyperonym zur Bezeichnung der Fische ein und nimmt so mit los pesçes del agua eine doppelte lexikalische Markierung der Tierart vor, was den Übersetzungsmethoden III und I entspricht. Vicente de Burgos lehnt sich an Jean Corbechon an und übergeht diese Unterscheidung ganz (VI), was vielleicht mit der Schwierigkeit der Übersetzung dieser wissenschaftlichen Termini begründet werden kann. Die im Lateinischen pedes neruosos genannten sehnigen Krallenfüße der Adler werden in der Handschrift allein durch die angegebene Präsenz von neruios in Bezug auf die Füße (III) verdeutlicht (son [...] pies & neruios), wodurch der Sinn aus dem Kontext erschließbar ist, wenn auch die genaue Übersetzung der Vorlage nicht erreicht wird. In der späteren Übersetzung greift Vicente de Burgos auf die Formulierung pies nerbosos zurück und wählt somit einen Latinismus (V), denn das dagegen volkstümlich entwickelte und erhaltene Adjektiv nervioso, welches auch nicht in der Handschrift anzutreffen ist, geht auf nervios zurück. In einer ersten Übersicht wird bereits ein Unterschied der hauptsächlichen Übersetzungsmethoden deutlich, vom Verfahren III in der Handschrift zu den Verfahren V und VI bei Vicente de Burgos. Bartholom aeus Anglicus (Handschrift) Verfahren Vicente de Burgos Kap. Verfahren odoriferae bien olientes I, II (yervas) odoriferas 15-4 V terrestreitas terreno IV tierra 12-1 I, II gressibilia anjmalias dela tierra I, III -- 12-1 VI natabilia pesçes del agua I, III -- 12-1 VI neruosos neruios III nerbosos 12-1 V Zu den spanischen Übersetzungen des De proprietatibus rerum 169 4.3 Archaismen und Latinismen in der Handschrift Dennoch enthält auch die Handschrift aus dem 14. Jh. einige Latinismen, die sich jedoch von denen der Inkunabel unterscheiden, da es sich um Bezeichnungen für Wörter handelt, für die der Übersetzer anscheinend keine Entsprechung in seiner Sprache finden konnte und deshalb auf eine Entlehnung zurückgegriffen hat. Neben der aus dem Lateinischen entlehnten und leicht adaptierten Bezeichnung von Gewürzen (z. B. Zimt çinamomo) wurden in der Verschriftlichung der spanischen Volkssprache auch stark in lateinischer Tradition verhaftete Wörter ausgewählt wie ynsula oder Formen, die eine frühere Stufe der noch diphthongierten Form darstellen (meytad) und so einen Anklang an das lateinische Etymon bewahren. So zeigt sich das geringe Sprachbewusstsein der Schreiber des noch deutlich mündlich geprägten Romance, das sich somit zur Kompensation an das Lateinische anlehnt. Daneben sind in der Handschrift geläufige Varianten des Altspanischen zu finden, die später bei der Kodifizierung der spanischen Sprache als Archaismen unberücksichtigt geblieben sind (vergueña, melezinables, espoio 23 ). Bartholomaeus Anglicus (Handschrift) Vicente de Burgos Kap. medietatem meytad (-) mytad (-) 15-1 cinnamomum çinamomo (V) canela (III) 15-4 medicinalia melezinables (IV) buenas en mediçina (I) 15-4 insula ynsula (V) ysla (-) 15-9 (solia) diripientes arrobantes (el espoio) (V) truxieron consigo (las joyas y bienes) (I) 15-12 erubescant ayan vergueña (I) grand verguença es (I) 12-1 4.4 Zur mineralogischen Fachterminologie Im Buch zu den Farben werden auch Mineralien und Pigmentstoffe zum Färben angeführt, die für die mittelalterliche Welt von großer Bedeutung waren. Dabei werden nur diejenigen die lateinischen Fachtermini beherrscht haben, die mit diesen Mineralien beruflich oder zumindest wiederholt umgingen. Für den Übersetzer stellt sich daher die Frage, wie die Mineralstoffe in der Volkssprache zu bezeichnen sind. So kommt selbst 23 Die in der Handschrift belegte Form espoio ist eine volkstümliche Graphie oder sogar Entwicklung neben dem gelehrten Wort espolio, welches im 13. Jh. zweimal, im 14. Jh. 13-mal und noch viermal im 15. Jh. in CORDE attestiert ist. Beide Formen sind aus dem lateinischen spolium ‚Rüstung, Kleidung, Beute‘ abgeleitet, aus dem sich auch die bis heute erhaltene Wortform despojo mit einem agglutinierten d gebildet hat. Elmar Eggert 170 eine Nichtübersetzung durch eine ad-hoc-Entlehnung vor, wenn der Übersetzer der Handschrift die lateinische Bezeichnung atramentum 24 übernimmt. Zwar ist ihm der erwähnte Bezug zur Tinte als deren Bestandteil wohl ersichtlich, benennen kann er dieses dunkle Mineral im Spanischen jedoch nicht; so auch bei auripignibum (auripigmentum) und buricum pigmentum (scyricum pigmentum), deren abweichende Schreibweise dieser aus dem Lateinischen übernommenen Bezeichnungen nicht nur darauf hindeutet, dass der Übersetzer eine schlecht lesbare Handschrift des lateinischen Textes vorliegen hat bzw. diese unkorrekt entziffert, sondern auch, dass er die Referenten nicht kennt und daher lieber deren Originalbezeichnung beibehält (V). Zum besseren Verständnis modernisiert Vicente de Burgos die Übersetzung an einigen Stellen deutlich, so dass ein lesbarer Text entsteht, wenngleich er auf Genauigkeiten verzichten muss, so bei der Unterscheidung des Schwarzstoffs atramentum von dem daraus hergestellten Produkt der Tinte. Zwar kann das lateinische Wort atramentum alle tiefschwarzen Farben und Mischungen bezeichnen, aber üblich geworden ist der Gebrauch des Wortes für die Tinte, so dass eine didaktisch sinnvolle Vereinfachung mit der Übersetzung durch tinta gewählt worden ist, welches sich als Fachterminus durchsetzt (II) und später in den Allgemeinwortschatz aufgenommen wird. Ebenso bezeichnet Vicente de Burgos den Indigo-Farbton mit dem Grundwort azul und unterlässt damit eine Differenzierung hinsichtlich der verschiedenen Blaufarbtöne, spezialisiert azul aber zur Bezeichnung des Indigo-Blaus (II). Bei indico und arserico übernimmt der Übersetzer der Handschrift die lateinischen Bezeichnungen (V), passt diese aber morphologisch an das Spanische an, so dass hier eine weitere Stufe der Übernahme eines Fachwortes vorliegt. Dieses kann verwirren, da er die volkstümliche Be- 24 Wenngleich atramentos schon ca. 1350 in den Sumas de la historia troyana de Leomarte, BNM 9256, belegt zu sein scheint (Ca dizen que feziste por ella los atramentos del rrio menadero que corre pos [! ] esa tierra/ otrosi dizen que tomas delos sus vngentos & vntas conellos los tus Cabellos aquellos que eran dignos de andar coronados de blaa [? ]alamo), ist doch der Gebrauch des Minerals noch im 15. Jh. aus medizinischer Sicht beschrieben. 1471 wird in der Traducción del Libro de recetas de Gilberto, Madrid, Biblioteca Palacio 3063, mit atramentu eine dickflüssige Mischung bezeichnet, die auch mal weiß sein kann (atramentun blanco). Erst Nebrija stellt in seinem Vocabulario español-latino 1495 eine eindeutige Verbindung zur Tintenherstellung her: „Azige para tinta. atramentum .i.“ (DRAE, s. v. acije „véase caparrosa: Nombre común a varios sulfatos nativos de cobre, hierro o cinc“; ‚Vitriol‘). Zu den spanischen Übersetzungen des De proprietatibus rerum 171 zeichnung nicht zu kennen scheint, die es im Falle von oropimiente 25 gibt. Die weiteren Fachwörter sind hingegen in CORDE erst ab dem 15. Jh. belegt: (indico 26 , arsenico 27 , sinopla 28 ), so dass dem Übersetzer der Handschrift nur die Bildung eines Neologismus als Entlehnung oder Eigenproduktion blieb. Vicente de Burgos greift für das Arsen-Schwefel-Mineral, das im Deutschen Auripigmentum und mit weiteren Ableitungen Orpiment, Operment oder Arsenik genannt wird, auf die volkstümliche Bezeichnung oropimiente zurück, das heute als oropimente 29 normiert ist. Dabei erkennt er die synonyme Bedeutung der beiden Bezeichnungen und belässt es bei einer Übersetzung für arsenicum und auripigmentum mit oropimiente (IV). Wie auch der Übersetzer der Handschrift wählt Vicente de Burgos zur Bezeichnung des Schwefelminerals das in der Volkssprache gebildete piedra de sufre, wodurch verdeutlicht wird, dass diese Bezeichnung in verschiedenen Kontexten geläufig ist (-). Eine semantische Spezialisierung eines Elements des Grundwortschatzes ist in der Handschrift in tiñidores (lt. tinctores) zu sehen (II), eine eigenständige Bildung auf Grundlage des Verbs teñir, und in der Bezeichnung der Kapitalbuchstaben, die in der Handschrift mit cabeças übersetzt werden (II). In Bezug auf die Färber (tinctores) wählt Vicente de Burgos hingegen die Dublette tinturero, die auf der Grundlage des 25 Die monophthongierte Form oropiment(e) (auch orpimente) erscheint laut CORDE bereits 1386 bei López de Ayala im Libro de la caça de las aves. Bis 1500 erscheint es noch 38-mal, mit und ohne Monophthong ie, v. a. bei Vicente de Burgos und in medizinischen Traktaten wie sehr häufig in einer anonymen Handschrift, die nach dem Arzt Bernardo Gordonio vom Übergang des 13./ 14. Jh. benannt zu sein scheint. 26 Schon im Lapidario Alfons des Weisen ist yndico im Kapitel „De la piedra que a nombre oro“ belegt (stas otras. & seyendo otrossi esta piedra sufumada con ligno indico a que dizen en arauigo hot, o con un grano de musquet), gleichwohl im DEDA nur indio als Angabe für die blaue Färbung erscheint. Die Aromatisierung (DETMA, s. v. sahumar: „Aplicar vapores medicinales [...] 2. Dar humo aromático a una cosa a fin de purificarla o para que huela bien. Formas atestiguadas: [...] sufumada [...]“) könnte mit einem Holz (Alonso 1986 s. v. ligno ‚leño‘), das aus Indien stammt oder mit Leinenstoff (DEDA, s. v. lino „Material textil que se saca de los tallos de esta planta“), der blau gefärbt ist, erreicht werden. Die chronologisch folgenden Belege in CORDE beziehen sich auf das Relationsadjektiv zu India. 27 Erstmals ist arsenico laut CORDE 1431 im anonymen Traktat Tesoro de la medicina (Tesoro de los remedios) attestiert. 28 Im Cancionero castellano de París (PN12), BNP Esp. 313 (1434 c 1470), findet sich als frühester Beleg sinople in der Bezeichnung eines heraldischen Grüntons (Es el primero delos blasones que llaman por el verde sinople), danach dann an fünf Stellen bei Vicente de Burgos, während es im Lateinischen und in der Handschrift ein rot färbendes Mineral angibt. 29 DRAE: s. v. oropimente. (Del cat. orpiment). „1. m. Mineral compuesto de arsénico y azufre, de color de limón, de textura laminar o fibrosa y brillo craso anacarado. Es venenoso y se emplea en pintura y tintorería“. Elmar Eggert 172 Verbs tinturar erst spät 30 gebildet worden ist, welches eine Verbalableitung von tintura ist und somit von tinctura stammt, das in Bezug zum Partizip tinctum von tingere steht und somit sehr indirekt, aber dennoch eine synonymische Bildung zu teñidor ist (IV). Bei der Übersetzung der Kapitälchen-Buchstaben (capita) wählt Vicente de Burgos eine stärkere Erläuterung, die das Fehlen eines Fachwortes andeuten könnte, wenn er diese mit „las letras prinçipales delos libros“ beschreibt (I). Bartholomaeus Anglicus (Handschrift) Vicente de Burgos Kap. atramentum atramentum V tinta II 19-32 auripigmentum auripignibum [sic] V oropimiente IV 19-29 scyricum pigmentum buricum pigmentum [sic] V pimienta/ pjmentado IV 19-24 indicum el indico V el azul II 19-31 arsenicum 31 arserico V oropimiente IV 19-29 sulphurei dela piedra sufre de piedra sufre - 19-28 tinctores pannorum tiñidores de los paños I, II los tintureros IV 19-36 capita cabeças II las letras prinçipales delos libros I 19-24 5. Fazit Wie sind nun die unterschiedlichen Übersetzungshaltungen zu erklären? Durch die Übersetzung der lateinischen Enzyklopädie des Bartholomaeus Anglicus, die in Spanien eine bedeutende Verbreitung erfahren hat, ist versucht worden, nicht nur das nützliche Fachwissen, sondern auch eine Fachterminologie in die kastilische Volkssprache zu bringen, wie schon Dahmen et al. (1989, XII-XIII) betonte: „Gerade durch Übersetzungen gelangt nicht nur Fachwissen, sondern wandern ganze Terminologien von einem Kulturraum in den anderen“. Dass diese Übertragung der Fachterminologien jedoch bei mehreren Übersetzungen zu verschiedenen Zeiten sehr unterschiedliche Fachwörter hervorbringen kann, zeigt der Vergleich der beiden kastilischen Versionen. Die große Variation nicht nur der Übersetzungsvorschläge, sondern gerade der Übersetzungsmethoden zeigt die Schwierigkeit auf, kohärente Fachterminologien für eine Volks- 30 In CORDE ist tinturero erstmals 1477 und bis 1500 noch achtmal belegt, darunter fünfmal bei Vicente de Burgos. 31 Georges, s. v. arrhenicum: „(arrenicum) […] Operment, ein Arsenikerz, rein lat. auripigmentum“. Zu den spanischen Übersetzungen des De proprietatibus rerum 173 sprache zu bilden. Von einer systematischen Bildung sind beide Übersetzer entfernt, die sich sowohl am Lateinischen ausrichten als auch die volkssprachlichen Traditionen aufgreifen oder eigenständige Bildungen vorschlagen. Die für einen wissenschaftssprachlichen Text erforderliche Präzision, wie sie im lateinischen Original erkennbar ist, wird an einigen Stellen auch in der Volkssprache zu erreichen versucht, was das Bemühen um das Erstellen einer schriftlichen Texttradition enzyklopädischer Texte verdeutlicht. Doch die divergierenden Ziele dieser anvisierten Texttradition führen die Übersetzer zu einem inkohärenten Fachwortschatz. So werden in der späteren, gedruckten Übersetzung einerseits die Möglichkeiten der kastilischen Sprache intensiv ausgenutzt und andererseits bewusst gelehrte Entlehnungen verwendet. Durch den gleichzeitigen didaktischen Anspruch wird zwar ein verständlicher Text erreicht, dessen Präzision gerade in der Terminologie aber nicht für einen wissenschaftlichen Text ausreicht. Das Entscheidende bei einer Fachterminologie gerade in der frühen Zeit ist jedoch nicht die onomasiologisch am adäquatesten scheinende Bedeutung zur Bezeichnung der Gegenstände, sondern die Verbreitung eines Fachwortes mit einer klaren Bedeutung und Form, die auf einer Konvention beruht. Diese Konvention, die eine Lexie mit einer konkreten lexikalischen Bedeutung als Ausdruck eines festumgrenzten Konzepts verbindet und daher für die Wissenschaftssprache geeignet macht, ist aber aus den Übersetzungen nur in Ansätzen herauszulesen, am ehesten noch in der späteren Übersetzung von Vicente de Burgos. Aus den verschiedenen Übersetzungen und ihrer Analyse kann dennoch eine Bewertung vorgenommen werden. Es ist deutlich geworden, dass die Handschrift sich eng an die lateinische Vorlage hält und somit fast eine parallele, technische Übersetzung darstellt, die vielleicht zur verständlicheren Lektüre der lateinischen Enzyklopädie beitragen soll, da sie eindeutig volkssprachlich ausgerichtet ist. Trotz der starken Tendenz zur Vulgarisierung gelangt der Übersetzer an verschiedenen Stellen der lateinischen Fachterminologie an seine Grenzen und muss dann Latinismen übernehmen, die nur teilweise an die Volkssprache morphologisch angepasst werden. Die Kürzung um einige Kapitel verdeutlicht zudem den Zweck der Übersetzung als einer Quintessenz, einem Konzentrat aus der großen Enzyklopädie des Bartholomaeus Anglicus. Der prächtige Kodex veranlasst dazu, in dem Besitzer und vielleicht gleichzeitig dem Auftraggeber einen wohlhabenderen Mann der Adelsschicht zu sehen, dem v. a. daran gelegen war, eine Abschrift der Enzyklopädie in kastilischer Sprache zu besitzen; vielleicht, um darin Informa- Elmar Eggert 174 tionen nachschlagen zu können, aber wahrscheinlicher noch, um einen prachtvollen Kodex als Statussymbol zeigen zu können. Vicente de Burgos hingegen möchte zur Diskussion der Gelehrten seiner Zeit beitragen, indem er den Inhalt der Enzyklopädie in kastilischer Sprache zur Verfügung stellt. Zwar basiert seine Übersetzung zu einem großen Teil auf der französischen Vorlage von Corbechon, aber sie weist nicht dieselbe Übersetzungshaltung auf wie jener. Denn er beabsichtigt nicht allein, einen verständlichen Text mit vielen erklärenden Zusätzen zu erstellen, sondern er will auch eine Sprache verwenden, die seinem gelehrten Publikum entspricht. Deshalb hat er vielfach auf Latinismen zurückgegriffen, die in die Zeit des Humanismus hineinpassen und somit den Text und die Sprache fachsprachlich anreichern. Diese nicht allein auf einen Herrscher ausgerichtete Übersetzung, die zudem durch den Buchdruck weiter verbreitet werden konnte, wirkte daher stärker auf die Sprache ein als die frühe Handschrift. Daher ist es nicht erstaunlich, in der Übersetzung des Vicente de Burgos erheblich mehr von der wissenschaftlichen Terminologie zu finden, die heute noch v. a. in den Nachfolgern dieser Texttradition in Gebrauch ist, in den modernen enzyklopädischen Wörterbüchern. Bibliographie Wörterbücher: ADMYTE = Archivo digital de manuscritos y textos españoles, Madrid, Micronet, 1992-1999 (CD-ROM). Alonso 1986 = Alonso, Martín, Diccionario medieval español. Desde las glosas emilianenses y silenses (s. X) hasta el siglo XV, Salamanca, Universidad pontificia, 1986. CORDE = Corpus diacrónico del español, RAE (http: / / corpus.rae.es/ cordenet.html). DCECH = Corominas, Joan, Diccionario crítico etimológico castellano e hispánico, Madrid, Gredos, 1980-1991. DEDA = Nieves Sánchez, María, Diccionario español de documentos alfonsíes, Madrid, Arco Libros, 2000. DETMA = Herrera, María Teresa, Diccionario español de textos médicos antiguos, 2 vol., Madrid, Arco Libros, 1996. 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In seinem Heldenepos La Italia liberata da Gotthi legte Trissino dem epischen Engel Palladio denn auch zur Beschreibung des Innenhofes eines antiken Palastes im ehemaligen Egnazia folgende Worte in den Mund, die laut Kruft (2004, 93) eine „Modul-Architektur“ charakterisieren, „die auf der Säulenhöhe bzw. ihrem Durchmesser basiert“: E quel cortil è circondato / intorno di larghe logge, / con collonne tonde, / che son tant'alte quanto è la larghezza / del pavimento, e sono grosse ancora / l'ottava parte e più di quella altezza, / ed han sovr'esse capitei d'argento tant'alti 1 „Palladio 500 anni. La grande mostra“ Vicenza, Palazzo Barbaran da Porto, 20. September 2008 bis 6. Januar 2009, danach London, Royal Academy of Art, 31. Januar bis 13. April 2009. 2 Zur Vorgeschichte sowie zur Namensgebung Palladios in Bauunterlagen vom 25. Februar und 10. März 1540 cf. Barbieri (1980, 194). Palladio nannte Trissino in seinem Architekturtraktat I quattro libri dell'architettura ehrfurchtsvoll „splendore de' tempi nostri“ (Palladio 1980, 10). Maria Lieber 180 quanto la colonna è grossa; / e sotto han spire di metal che sono / per la metà del capitello in alto (V) 3 . Der Kommentar des bekannten italienischen Architekten und Architekturtheoretikers Paolo Portoghesi zu diesen Versen bringt genau das auf den Punkt, was Trissino zeit seines Lebens mit seinem gesamten Sprach- und Literaturprogramm verfolgte: Colpisce di questi versi la vicinanza con l'italiano moderno, che si deve al tentativo trissiniano di costruire una lingua essenziale, spogliata di caratteri locali, programma confrontabile con certi aspetti della ricerca palladiana (2008, 10). Grundthese dieses Artikels ist, dass Trissino sich bei seinem literarischen Experiment La Italia liberata da Gotthi im Unterschied zu anderen Autoren der Renaissance wie Ariosto, Alamanni und Tasso von den neuen Techniken und Wissenschaftsbereichen inspirieren ließ, die er in Vicenza und ganz Italien kennen gelernt hatte, und dass er vor diesem Hintergrund systematisch seinen dichterischen Kosmos gestaltete. Für die copia rerum und die copia verborum schöpfte Trissino aus der ganzen Breite der ihm zugänglichen Literatur. Sein Katalog der in die Italia aufgenommenen Termini aus der Biblioteca Braidense, Fondo Castiglioni 8/ 1 4 , weist ihn daher der Tradition Leonardo da' Vincis zu, der ebenfalls über eine größere Wortlistensammlung aus Werken antiker und moderner Autoren verfügte (cf. Tancke 1984, 16). Amedeo Quondam (1980, 107) umreißt das Unterfangen Trissinos recht plastisch: „Il progetto trissiniano è di adeguare fisicamente, tramite l'impiego dell'‚energeia‘ le parole alle cose, riprodurre nel discorso le dimensioni dell'oggetto, il suo corpo in termini di corpo linguistico […]“. Seine Schlussfolgerung ist jedoch ernüchternd: „un'illusione, un abbaglio, che trasforma il testo ‚epico‘ in un regesto 3 Cf. dazu die digitalisierte Fassung: www.bibliotecaitaliana.it/ repository/ bibit/ bibit001420/ bibit001420.xml, nach der hier zitiert wird. Die römische Zahl verweist auf das Kapitel. Die deutsche Version in der Übersetzung aus Rudolf Wittkowers Architecural Principles in the Age of Humanisme, London, Tiranti, 1962 (München, Beck, 1969, 52) unterstreicht den fachspezifischen Charakter des Textes sehr gelungen: „Ein Kreuzgang zieht sich um des Hofes Vierreck / Mit lichten Bögen, die auf Säulen ruhen. / Der Säulen Schäfte sind von solcher Höhe, / Daß ihr des Umgangs Breite völlig gleichkommt. / Ein Achtel aber solcher Länge misst / Die Stärke der Säulen, auch die Höhe / Der Silberknäufe, welche jene krönen; / Die Höhe der metallnen Säulenfüße / entspricht der Hälfte diesen selben Maßes“. 4 Lieber/ Weyers (1997, 221-254). Gian Giorgio Trissino 181 notarile“. Ganz geheuer ist Quondam (1980, 68) das Epos La Italia liberata da Gotthi („un cadavere nell'armadio della nostra tradizione culturale“) trotzdem nicht; so fragt er sich, „[...] se la ‚bruttezza‘ di questo testo, la sua stessa illegibilità ne enunciasse l'alterità, linguistica e insieme formale, rispetto proprio a quella tradizione che l'ha condannato, negato, rimosso? “ Quondams polemische Auseinandersetzung führte jedenfalls dazu, dass La Italia liberata da Gotthi auch nach dem 500. Geburtstag des Vicentiners im Jahre 1980 im literatur- und sprachwissenschaftlichen Abseits verblieb. Immerhin führt aber der GDLI seit dem fünften Band (E-FIN) (1966) Erstbelege von La Italia liberata da Gotthi auf 5 . Über die Italia ist vieles und substantiell stets das gleiche gesagt worden: Sie sei eine schlechte Kopie von Homers Epen, eine minderwertige Collage, das Werk eines Gelehrten und nicht das eines Dichters (cf. a. Gigante 2003). Für Trissino galt das Werk als programmatische Schrift, in der er die Vorgaben Homers und Aristoteles' umsetzen und seine sprachlichen und dichterischen Vorstellungen in einem Gesamtentwurf verwirklichen wollte. Der Nachwelt gedachte er eine Summe des Wissens seiner Zeit über die Dichtung, eine „summa narratologica“ (Quondam 1980, 98) - nach Antonio da Tempo - zu hinterlassen, die sich - wie er es in seinem Widmungsschreiben an Karl V. formuliert - in eine große dichterische Tradition einreihen sollte: „[...] 'l poeta parte parla e enunzia e parte introduce persone che parlano, come son li eroici di Omero e di Vergilio e le cantiche di Dante e i Triomfi del Petrarca, e la nostra Italia liberata da' Gotti, e simili [...]“ (Weinberg vol. 247, 1970, 13). Dass Trissino mit Stoff und Inhalt - anders als Quondam meint - sehr eklektisch vorging und diese aus den bereits vorhandenen poetischen, narrativen und geschichtlichen Quellen so auswählte, wie er sie speziell für seine schriftstellerischen Bedürfnisse benötigte, wäre Gegenstand literaturwissenschaftlicher Betrachtung (cf. so zuletzt Musacchio 2003 und 2005) oder der literaturästhetischen Bewertung des Textes (cf. zusammenfassend Lieber 2000). Hier steht jedoch die Betrachtung der Sprache im Mittelpunkt. In dem aus 27 Büchern und über 28.000 Versen bestehenden Epos La Italia liberata da Gotthi, an dem Trissino seit 1529 arbeitete und das 1547 (Bücher I-IX) und 1548 (Bücher X-XXVII) erschien, lässt sich exemplarisch das Zusammenwirken zwischen zeitgenössischer Lebens- und Arbeitswelt und der kreierten Wissenschafts- und Alltagssprache de- 5 Freundliche Auskunft von dott.ssa Chiara Grassi. Maria Lieber 182 monstrieren. Der Vicentiner versuchte, möglichst verschiedene Bereiche sprachlich auszugestalten: Militärwesen, Architektur, Geometrie, Geographie, Schifffahrtswesen, Fechtkunst, Kriegsführung, Heraldik, Astronomie, Astrologie, Nekromantie, Alchimie, Magie, Medizin, Theologie sowie alltägliches und geselliges Leben, Kleidung, Spiele und Turniere; der Liebeskasuistik ist sogar ein ganzes Kapitel (das dritte) gewidmet. Die sprachliche Aufbereitung wird verbunden mit einer Art enzyklopädischem Gesamtüberblick, der entweder in Form von Visionen (Weltgeschichte) oder Exkursen in den Text eingeflochten wird (Geschichte des Römischen Reiches und seiner Provinzen, Heer Belisarios, Gotisches Heer, Kirchengeschichte, italienische Städte und Landschaften, italienische Herrschaftshäuser). Hier sollen - um diesen Aspekt des Sprachausbaus zu demonstrieren - drei Bereiche ausgewählt werden, die Architektur, die Militärarchitektur und die Kleidung. Architektur Kaiser Justinian befindet sich - so beginnt das Epos - in Durazzo/ Durrës (albanisch Durrësi, die wichtigste Hafenstadt Albaniens), um sein Heer auf die Rückeroberung Spaniens vorzubereiten. Der von Gott gesandte Onerio ermahnt ihn aber, zunächst an die Befreiung Italiens zu denken. Daraufhin beruft der Kaiser eine Versammlung ein, die im größten Saal des kaiserlichen Palastes stattfindet: Questo [luogo] era una basilica superba, / larga trecento piedi e cinquecento / lunga, ch'intorno avea molte colonne, / appresso i muri altissime e rotonde, / de le quai l'una era di marmo bianco / l'altra di duro porfido, ch'avea / le base d'oro, e'l capitel d'acciale; / ma quelle bianche avean la testa d'oro / e 'l piè d'accial, quasi contrarie a l'altre (I). Besondere Aufmerksamkeit lenkt Trissino nicht nur auf die sprachliche Gestaltung der Außen- und Innenarchitektur von Gebäuden oder Stadt- und Landschaftsanlagen, sondern auch auf die präzise Beschaffenheit des verwendeten Materials, wobei die Zusammenstellung eines spezifischen Vokabulars im Vordergrund des Interesses steht. Basilica bezeichnet bei Trissino den königlichen Palast Justinians. Der DELI führt dafür zwei Bedeutungen an: „‚edificio pubblico romano con grandi sale per adunanze, comizi, letture e sim.‘ (1570, A. Palladio: ‚basilica, cioè il luogo dove si rende giustizia‘; av. 1580, V. Borghini)“ und Gian Giorgio Trissino 183 „‚edificio dell'antica architettura cristiana, derivato dalla basilica romana e destinato al culto‘ (sec. XIII, Miracole de Roma)“, in dieser Bedeutung auch GRADIT). Trissinos Beschreibung ist der italienische Erstbeleg für die Bedeutung von basilica im Sinne Palladios, der in seinen 20 Jahre später erscheinenden Quattro libri dell'architettura eine genaue Definition und Abgrenzung der antiken Basilica vornimmt: Queste basiliche de' nostri tempi sono in questo dall'antiche differenti: che l'antiche erano in terreno, o vogliam dir a piè piano, e queste nostre sono sopra i volti, ne' quali poi si ordinano le botteghe per diverse arti e mercatanzie della città, e vi si fanno anco le pregioni et altri luoghi pertinenti ai bisogni pubblichi (1570, 238). Die Begegnung mit Trissino war für Palladios Laufbahn als Architekt außerordentlich erfolg- und folgenreich. Trissino ermutigte ihn, Mathematik, Musik sowie die lateinischen Klassiker und insbesondere das Werk Vitruvs zu studieren. Er finanzierte ihm 1541 eine erste Reise nach Rom, wo Palladio sich intensiv mit den römischen Bauten auseinandersetzte und diese in Zeichnungen festhielt. Ergebnis dieser und zweier wieterer Reisen sind die beiden Bücher über antike und christliche Architektur Roms, die Palladio 1554 veröffentlichte. Ab 1540 hatte Palladio unter der Ägide Trissinos begonnen, in Vicenza als Baumeister zu arbeiten; einige seiner ersten Villenbauten im Umkreis der Stadt stammen aus dieser Zeit. Den ersten Wettbewerb als Architekt gewann er 1549 mit seinem Plan zur Umgestaltung des mittelalterlichen Palazzo della Ragione, eben die heutige Basilica von Vicenza, die Palladio selbst so genannt hatte. Trissino verwendete hier im literarischen Kontext einen Terminus für ein Bauwerk, über das er mit Palladio sehr wahrscheinlich lange vor der Verwendung im Sachtext diskutiert hatte 6 . Neben basilica findet sich ein weiterer Erstbeleg in der Textstelle, allerdings in der dialektalisierten Variante accial (I), die vom LEI angegeben wird (s. v. aciale). Es handelt sich dabei wahrscheinlich um eine latinisierende Kontamination aus dem italienischen acciaio und dem dialektalen azzal („it. aciale 1547, Trissino, Gher.“). Der LEI fügt der von Trissino geprägten Form folgenden Kommentar hinzu (I, 415, 52): „Il vicentino Trissino adattò il dialettale azzale all'it. acciale senza però riuscire a sostituire il tradizionale acciaio/ acciaro“. 6 Cf. zum Zusammenwirken von Trissinos und Palladios architektonischen Interessen vor allem Barbieri (1980) sowie Kruft (2004, 92ss. und Anm.). Maria Lieber 184 Mit der Verwendung anderer Termini technici zählte Trissino zu den Autoren, die ab der Mitte des 15. Jahrhunderts fachsprachliche Neologismen in die Literatur aufnahmen: architetto (V) (LEI: „ante 1498“; DELI: „‚che esercita l'architettura‘ (1516, Ariosto)“), simmetria (V) (DELI: „‚in un oggetto, un corpo, un insieme, disposizione dei vari elementi che lo compongono, tale che rispetto a un dato punto, asse o piano cui si fa riferimento, vi sia tra essi piena corrispondenza di forma, dimensione, posizione e sim.‘, (av. 1455, L. Ghiberti)“), zoforo (V) (DELI, s. v. zooforo: „‚fregio ionico, situato fra architrave e cornice decorato con figure‘, (1521, C. Cesariano)“; ebenso GRADIT, s. v. zooforo), piedistalo (V) (DELI, s. v. piedistallo: „‚elemento architettonico, talora interposto tra la colonna e il suolo, composto da parte prismatica e modanature inferiori e superiori‘, (prima metà sec. XIV, Guido delle Colonne volgar.)“); GDLI gibt für piedistallo u. a. „Guido delle Colonne volgar.“ und „Leonardo“ als Belegstellen an, De Mauros GRADIT „av. 1290“); acquedutto (VII) (DELI, s. v. acquedotto: „‚conduttura d'acqua, complesso di opere per la raccolta, il trasporto e la distribuzione di acqua potabile‘ (av. 1498, V. da Bisticci; acquidotto: 1522-25, N. Machiavelli)“) und istoriate (V) (DELI, s. v. istoriare: „‚ornare con raffigurazioni di storia, leggende e sim.‘ (av. 1519 Leonardo da Vinci; in un inventario di Avignone del 1369, pannus… ystoriatus ymaginibus [… ])“), der GRADIT kann den Terminus auf „av. 1340“ rückdatieren. Als explizite Erstbelege erscheinen im GDLI weiterhin drei von Trissino genannte Örtlichkeiten in Rom: naumachia (X) (‚l'impianto destinato a tale spettacolo, costituito per lo più da un'arena particolarmente ampia e bassa, […]‘), lupanare (X) (‚casa di tolleranza, postribolo, bordello‘) und pistrino (X) („Ant. e Letter. Mulino“). Der GRADIT nimmt jedoch auch hierfür Vordatierungen vor: naumachia „sec. XIV“, lupanare „circa 1364“, pistrino „av. 1348“. Bei epistilio (V) (‚archit. architrave costituita da blocchi di marmo collocati in posizione orrizontale sulle colonne con le sconnessure sull'asse di queste‘) führt der GDLI Trissino nicht auf. Für colonna a chioccia (X) wurde bislang kein Beleg gefunden (DELI: „(scala a) chiocciola (av. 1375, G. Boccaccio)“); vielleicht verwendet Trissino die sich mehr am Lateinischen cochlea orientierende Variante. Gian Giorgio Trissino 185 Militärwesen Artelarie (II) ist einer der wenigen Fälle in der Italia liberata, bei dem Trissino die Wortdefinition mitliefert: „Che si dimandan macchine da guerra“. Der GDLI vermerkt zu artiglieria: „Le macchine belliche usate prima dell'invenzione della polvere da sparo per il lancio di proiettili utilizzando la forza propulsiva di funi, nervi, lastre metalliche, ecc.“. Gemeint ist damit der generische ältere Gebrauch des Wortes, den Trissino abgrenzt von der Bedeutungserweiterung von artiglieria seit der Schlacht bei Crécy 1346, bei der die Engländer erstmals Kanonenrohre benutzten. Auf diese Bezeichnung von Artillerie als ‚Bodenwaffen‘ verweist Trissino, allerdings in seiner Zukunftsvision, in die er andere Erfindungen der Neuzeit einbezieht (IX): Ma guarda ancor più là, verso coloro / che prendon nitro con carbone e solfo / E ne fan polve, e pongonla in quel ferro / cavato, e poscia una pallota sopra, / e dangli fuoco, e fan tanto rimbombo, / che si vede il terren tremarli intorno 7 . Tergiduttore (II) (‚der schließende Unteroffizier‘) ist eine Wortkomposition, die der DELI nicht aufnimmt. Für eine Einordnung muss man auf Battisti/ Alessio zurückgreifen: „m., ant. (XVI sec., Machiavelli), milit. archeol.; capo di serrafila; v. dotta, latinismo creato su tergum d cere guidare il tergo, da d u c t o r - ris“. Der GDLI führt Machiavelli (Arte della guerra, 1514-20) als Erstbeleg an, danach erscheinen Textstellen von Bisaccioni und vom Dizionario militare italiano (1833). Obwohl man noch wieteres Belegmaterial zusammenstellen müsste, um zu einer endgültigen Beurteilung zu gelangen, kann man bei aller Vorsicht davon ausgehen, dass Trissino einer der ersten ist, der diesen wohl von Machiavelli für die Sachprosa geprägten Ausdruck literarisch verwendet hat. Der GDLI gibt für celada (s. v. celata, ‚Sturmhaube‘) (II) ebenfalls Machiavelli als Erstquelle an, diesem folgen Ariosto, Bandello, Caro, A. F. Doni, Tassoni und andere; Battisti/ Alessio, die kein Autorenzitat anführen, ordnen das Wort so ein: 7 Marris (unveröffentlichten) Auswertungen zufolge befindet sich der Erstbeleg in Diomede Carafas Memoriale III aus den Jahren 1472-1477 (ed. Roma, Bonacci 1988, 137) in der Schreibung artillyarie sowie bei dem Modeneser Chronisten Jacopino de Bianchi (1469-1499, ARTELIARIA ) und dem Ferraresen Ugo Caleffini 1471-1494 ( ARTARIE , ARTEARIE ) in den Formen artiaria, artaria, arteliaria. Die Formen sind jetzt bei Trenti, 2008, 42s. aufgeführt. GRADIT nimmt als Erstbeleg artiglierie aus dem Jahre 1473 auf. Ich danke Fabio Marri für diese Hinweise sowie auch für weitere Anregungen im Detail. Maria Lieber 186 1450, a Verona, in letter. dal XVI sec.), stor.; elmo senza cimiera nè cresta; ant., soldato con la celata (forse da un lat. Medioev. caelata (cassis) elmo cesellato (caelare cesellare), la cui prima documentazione risale al 1350 8 . Ordinanza (II, VI) im Sinne von ‚schiera di soldati, reparto, esercito o, anche, flotta militare disposta in ordine di battaglia, di marcia o di parata‘ führen Battisti und Alessio sowie der GDLI (s. v. ordinanza) auf Machiavelli zurück; weitere Belege sind beim GDLI die Zitate von Nardi, Tasso, Tassoni und anderen. In La Italia liberata verweist Trissino augenscheinlich selbst auf Machiavelli, indem er den Titel seines Werkes Dell'arte della guerra zitiert 9 . Als Quelle für alabardieri (‚Träger von Hieb- und Stoßwaffen‘), bei Battisti/ Alessio nicht vermerkt, geben sowohl DELI als auch GDLI Machiavelli als Erstbeleg an: Der DELI vermerkt zur Etymologie, ausgehend von alabarda: „Med. alto ted. helmbarte, comp. di helm ‚impugnatura‘ e barte ‚ascia‘, quindi propr. ‚ascia con manico lungo‘ la vc. è penetrata con i lanzichenecchi e con le milizie svizzere (cfr. fr. hallebarde, 1448)“. GRADITs Datierung für alabarde und für alabardiere lautet „av. 1520“. Der Fall mezeteste (‚Art Helm, der den halben Kopf bedeckt‘) (II) ist besonders interessant. Battisti/ Alessio (s. v. mezzatesta) tragen ein: „f., ant., a. 1498; armatura che difendeva mezzo capo; dial.: cervellino; v. merid. sic., calabr. menz'atesta, divenuto anche cognome“. Der GDLI aber bringt dazu Trissino als Erstbeleg mit genau dieser Textstelle, danach folgen Giovio und Aretino sowie Barbaro: „L'arme poi de i veloci eran rotelle, con mezzeteste [sic! ] e giavarine in pugno“. Möglicherweise hat Trissino einen in der Sprache des Heeres geläufigen Begriff übernommen oder einen eigenen - nichtdialektalen - Ausdruck geprägt. Der GRADIT datiert den Terminus ebenfalls auf die Mitte des 16. Jahrhunderts: „av. 1550“. Einzigartig ist die Passage zu Beginn des sechsten Buches, in der die Exerzierübungen der Soldaten beschrieben werden. Trissino schafft hier 8 Cf. dazu folgende Erstbelege bei Marri (danach Trenti, 2008, 633, in dieser Datierung vom GRADIT übernommen): 1442: Conto de debitori del guardaroba ducale, c. 65: „una zelada da barbarescho“ und 1483: Libro inventario de le monetione, c. 20: „celadine zoè sechrete“ (Trenti 2008, 149). 9 „onde per far che siano ancor migliori / ne gli essercizi ed arte de la guerra, / vuo' porre a tutti / quest'almo certame: / che quel soldato che sarà più pronto / e diligente ad ubidire i capi, / ed arà l'armi sue lucenti e nette / e saprà meglio star ne l'ordinanze“ (VI). Der Originaltitel war De re militari, seit dem ersten Druck vom 16. August 1521 erhielt es aber den italienischen Titel, cf. Machiavelli (1969, 321). Gian Giorgio Trissino 187 geradezu neue fachsprachliche Termini, indem er Begriffe aus anderen Fachgebieten für das ihn interessierende Wortfeld verwendet. Condensare (‚costringere qualcosa in particolari condizioni, spec. di pressione o temperatura, in un luogo più ristretto‘) ist ein Terminus aus der Malerei („av. 1519, Leonardo“, so DELI). Rarefare wird in der Bedeutung von ‚fare diventare meno denso o più rado‘ („av. 1577, P. Mattioli“, DELI, GDLI) oder ‚diventare rado, perdere densità‘ („sec. XIV, Ottimo“, DELI) dem Bereich der Naturwissenschaften zugeordnet, in gleicher Weise intercallare (lat. intercalare), für das der DELI und der GRADIT (s. v. intercalare) in der Bedeutung von ‚inframmettere secondo un ordine stabilito‘ „Oudin 1640“ als Erstbeleg angeben; der GDLI verzeichnet mit Francesco Fulvio Frugoni auch ein Zitat aus dem 17. Jahrhundert. Doppiare im Sinne von raddoppiare („av. 1292, B. Giamboni“) findet man laut DELI schon im 14. Jahrhundert („av. 1321 Dante“), ebenso wie congiungere ‚unire, mettere insieme, detto di due o più persone o cose‘ („av. 1306, Iacopone“). Indurre im Sinne von ‚persuadere, muovere, spingere qc. a fare q.c.‘ („1300-13 e 1304-08, Dante“) und dedurre in der Bedeutung von ‚portare da un luogo all'altro‘ („av. 1306, Iacopone“) werden bei Trissino in diesem ganz speziellen Kontext in anderen Bedeutungen (‚zusammen- und auseinanderführen‘) verwendet. Erstbelege für triplicare findet man bei DELI um die Mitte des Jahrhunderts: „‚moltiplicare per tre‘ (av. 1543, A. Firenzuola)“ oder „‚accrescersi tre volte‘ (av. 1565, B. Varchi)“; auch Battisti/ Alessio (s. v. triplicare) zitieren Varchi. Trissino wird hier nicht in die Betrachtung mit einbezogen. Für etliche der im Weiteren beschriebenen Bewegungsabläufe gibt der GDLI jedoch als Erstbeleg Trissino an, so farla (‚la falange‘) obliqua (‚che ha un andamento non parallelo rispetto a quello delle forze avverse‘), in plinto (s. v. plintio ‚schieramento di fanteria degli antichi Greci di forma perfettamente quadrata‘), inflesso (‚piegato, inchinato, curvato‘), in pendola (‚disposizione a grappolo‘), bei imflesso (‚tortuoso, intricato, anche: stretto in gruppo‘) wird Boiardo als Erst-, Trissino als Zweitbeleg angegeben. In rombo ist bei DELI (s. v. rombo 2 ) als ‚tipo di formazione militare‘ mit dem Ersteintrag „1547, G. G. Trissino“ versehen, bei Battisti/ Alessio (s. v. rombo) findet man: „Rombo fu usato da F. Martini (a. 1439-1502) al posto di rómbico che trovo documentato solo dal 1838 in poi (Tartini)“. Cuneo als ‚formazione tattica di reparti di soldati ordinati a forma di triangolo con il vertice in corrispondenza dello schieramento nemico‘ datiert der DELI mit „B. Giamboni, av. 1292“. Trasverso in der Bedeutung Maria Lieber 188 von ‚trasversale, obliquo‘ ist laut DELI bei G. Boccaccio („1336 ca.“) erwähnt. In uovo bezeichnet ebenfalls eine militärische Formation, die in der Zusammensetzung aber nicht in den Wörterbüchern ermittelt werden konnte. Man kann festhalten, dass Trissino an dieser Stelle sprachschöpferisch tätig wird, indem er Analogien zum lateinischen Wortmaterial herstellt, das er als technisches Vokabular auf seinen besonderen Kontext, in dem er zu einer möglichst präzisen Beschreibung gelangen will, überträgt. Kleidung Die Beschäftigung mit dem bei Trissino verzeichneten Vokabular für Kleidung bedarf einer Erklärung, da das Spektrum der Kleidungsbeschreibungen im Verhältnis zu den militärischen Themenbereichen wie die Beschreibung der Heere oder die Kriegsführung quantitativ geringer ist und man hier natürlich eigentlich weniger von wissenschaftlichem denn von technischem Vokabular sprechen würde. Gleichwohl zeigt die sprachliche Integration des Fachvokabulars der Kleidung und die Ausgestaltung der einzelnen Fachbereiche, dass Trissino mehr erreichen wollte als eine bloße Aufzählung von Kleidung und Kleidungsutensilien. Er erschuf vielmehr eine präzise, gleichsam fotographische Charakterisierung der Person hinsichtlich der Beschreibung des Körpers, der äußeren Gestalt sowie der Körperpflege. Diese konkrete und plastische Ausgestaltung der Person wird dabei eingebettet in eine räumlich fassbare Welt, die mit Schmuck, Stoffen und Gebrauchsartikeln angereichert ist. Aufgrund des reichen Wortschatzes und des verhältnismäßig großen Versumfangs (die Beschreibung Justinians erstreckt sich über 32, die Theodoras über 29 Verse) können diese Passagen innerhalb der Italia liberata als Hauptquellen des Bekleidungsvokabulars angesehen werden. Fest steht, dass die von Trissino erwähnten Gewänder und Utensilien tatsächlich mit den Kleidungsgewohnheiten im Byzanz des 6. Jahrhunderts identisch sind 10 , die er auf die modischen und sprachlichen Gewohnheiten seiner Zeit überträgt. Trissinos Beschreibung z. B. von Justinian und Theodora besitzt demzufolge historische Exaktheit, wofür ihm die Mosaiken der Basilika San Vitale in Ravenna als Grundlage gedient haben können 11 . 10 Cf. Thiel (1997), Koch-Mertens (vol. 2, 2000). 11 Ein herzlicher Dank geht an Konstanze Vogt, die sich im Rahmen ihrer Staatsexamensarbeit mit der exemplarischen Wortschatzanalyse zum Themenbereich der Gian Giorgio Trissino 189 Cinta 12 aus dem lat. c nta(m), fem. von cintus, von cingere bedeutet soviel wie ‚Umgürten von einer Sache‘, demzufolge der ‚Gürtel‘ in Funktion eines Bekleidungsstücks eine eigenständige Definition erhält. Gemäß Erika Thiel (1997, 57) sind Gürtel bzw. Schärpen im Byzanz des 5. Jahrhunderts gebräuchliche Kleidungsstücke. In dieser Wortbedeutung etabliert sich cinta entsprechend der Angabe des GDLI jedoch in der italienischen Mode nicht vor dem 16. Jahrhundert, wird vom GRADIT jedoch auf „av. 1348“ vordatiert. Ebenso erfährt das im Erbwortschatz vorhandene sottana 13 erst im 16. Jahrhundert seine semantische Modifikation als weibliches Untergewand, das inhaltlich der byzantinischen Kleidungsbeschreibung Theodoras entsprach, so in der Bedeutung ‚sottoveste femminile‘ im GRADIT „1544, A. Caro ‚Lettere‘“. Die sottana galt als Äquivalent zum männlichen giuppone ‚indumento che anticamente faceva parte dell'abbigliamento […] sotto l'abito esterno‘ (GDLI). Die Entwicklung geht zunächst auf das vulgärlateinische subt nu(m), dem Derivat von subtus, zurück. Als erste belegbare Autoren hierfür gelten beim GDLI Giovanni Battista Ramusio und Granucci; Trissino bleibt unerwähnt. Als sotana (sottana) wird es von Trenti noch in der älteren Bedeutung ‚tunica lunga a maniche larghe, sia maschile che femminile‘ (1502- 03, Inventario del guardaroba di Lucrezia Borgia) notiert, die der GRA- DIT als zweiten Eintrag nur vage „nel tardo Medioevo“ einordnen kann. Camisia 14 ist im Sprachbuch von Pausch von 1424 (113) als chamisia ‚indumento maschile‘ enthalten. Laut LEI (s. v. cam sia/ càmasus, X, 177) findet man die Form camisia weiterhin aber Anfang des 15. Jahrhunderts in den Marken, laut Boerio war im Veneto die Variante camisa geläufig, die bei Trenti neben camiza (1413-18) auftaucht. Die latinisierte Form camisia könnte Trissinos eigener Vorschlag für die literarische Verwendung dieses in der Umgangssprache geläufigen Wortes sein; Trissino benutzt daneben die toskanische Form camiscia 15 , der GRADIT vermerkt s. v. camicia „2 a metà XIII“. Kleidung in Trissinos Italia Liberata da Gotthi (2008) beschäftigt und eine Klassifizierung des Kleidungswortschatzes nach Trissinos Konzept der Wortwahl vorgenommen hat. 12 Elf Belegstellen im Text. 13 Zwei Belegstellen im Text. 14 Eine Belegstelle im Text. 15 Eine Belegstelle im Text. Maria Lieber 190 Eine weitere lateinische Ableitung, nodo, weist im Volgare einige Derivationen auf: Das von Trissino gebrauchte nodetto 16 wird im GDLI zumindest als Variante von nodello benannt, jedoch nicht mit Attestationen versehen (GRADIT gibt nur nodello an). Der Kontext weist auf einen von Trissino geschaffenen Terminus hin „[…] e i quadri eran congiunti / con grosse perle in bei nodetti d'oro“ (V). Eine semantische Neuschöpfung dokumentiert der GDLI für palmo 17 , dessen Erstbeleg explizit Trissino zugeschrieben wird. Im Übrigen ist dieser Nachweis der einzige, mit dem Trissino für den Kleidungsbereich bei den Lexikographen Erwähnung findet, cinta, camisia, nodetto und sottana werden in den Wörterbüchern in der von Trissino intendierten Bedeutung nicht aufgeführt. Palmo bezeichnet ein Längenmaß, dessen Maßeinheit sich an einer Handfläche bzw. dem Handteller orientiert. Vom lat. palmus als palmo in das Volgare eingegangen, ist der Terminus im Allgemeinen seit Anfang des 14. Jh. in der Literatur verbreitet; so notiert GRADIT „av. 1313“, DELI „‚antica misura di lunghezza corrispondente a un quarto del piede‘ (av. 1321, Dante)“. Der GDLI spezifiziert die semantische Zuschreibung gemäß Trissinos Verständnis im Sinne von ‚lunghezza di un tessuto‘. Der Begriff findet nur bei Marino und dann erst wieder im 19. und 20. Jahrhundert bei Giovanni Verga und Carlo Bernari in der Literatursprache Verwendung. Resümee Dieser kurze Einblick in das sprachliche Material von Italia liberata da Gotthi mag ausreichen, um vor allem den experimentellen Charakter des Epos herauszustellen. Trissino ging es nicht in erster Linie - aber natürlich auch - um die Schaffung eines sprachästhetisch und poetisch vollendeten Werkes, sondern um die Auffächerung und Öffnung der Literatursprache nach Maßgabe der consuetudine und simplicitas hin zu den Wissensbereichen seiner Zeit. Die große Aufgabe, die er sich selbst stellte, war - so könnte man im Humboldtschen Sinne formulieren - eine auf die Leistung Dantes aufbauende ‚Versprachlichung von Welt‘ für die Belange der Literatursprache des 16. Jahrhunderts zu verwirklichen. Erst eine interdisziplinäre Herangehensweise, die neben den Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften die die Sprache des Epos La Italia liberata da Gotthi prägenden Fachwissenschaften einbezieht, wird die wahre 16 Eine Belegstelle im Text im Pl.: nodetti. 17 Fünf Belegstellen im Text. Gian Giorgio Trissino 191 Leistung Gian Giorgio Trissinos im Kontext seines Gesamtwerks und der großen Errungenschaften seiner Zeit zu Tage treten lassen. Bibliographie Barbieri, Franco, Gian Giorgio Trissino e Andrea Palladio, in: Neri Pozza (ed.), Convegno di studi su Giangiorgio Trissino, Vicenza 31 marzo - 1 aprile 1979, Odeo del teatro olimpico, Vicenza, Accademia Olimpica, 1980, 191-211. Boerio = Boerio, Giuseppe, Dizionario del dialetto veneziano, Venezia/ Firenze, Cecchini/ Giunti, 2 1856/ 1993. Bortolan = Bortolan, Domenico, Vocabolario del dialetto antico vicentino (dal XIV a tutto il secolo XVI), Vicenza/ Bologna, Giuseppe/ Forni, 1893/ 2 1969. Cortelazzo, Manlio, Dizionario veneziano della lingua e della cultura popolare nel XVI secolo, Padova, La Linea, 2007. DEI = Battisti, Carlo/ Alessio, Giovanni (edd.), Dizionario etimologico italiano, 5 vol., Firenze, Barbèra, 2 1975. DELI = Cortelazzo, Manlio/ Cortelazzo, Michele A. (edd.), Il nuovo Etimologico. 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Eine Sprache, die für wissenschaftliche Kommunikation in Frage kommt, muss einen relativ hohen Grad an Elaboriertheit erreicht haben, mit anderen Worten, Wissenschaftssprache setzt eine Sprachtradition voraus, die die Darlegung sachlicher Gegebenheiten ausgebildet hat. Natürlich muss es auch ein Publikum sein, dass darauf eingestellt ist, eine solche Sprache zu verstehen. Folglich steht Wissenschaftssprache normalerweise am Ende eines sprachgeschichtlichen Prozesses, in dem man als erste Gattungen eine Dichtung, die mythische oder halbmythische Geschehnisse beschrieb, und eine Prosa, die geschichtliche Ereignisse in Worte fasste oder die philosophisch-theologische Gedanken über den Sinn und die Ordnung des Daseins formulierte, findet. Am Beispiel des Griechischen kann man diese Entwicklung deutlich machen: Die ersten Dichtungen Europas, die Epen Homers, wurden um 850 v. Chr. auf der Basis vorangehender mündlicher Überlieferungen verschriftet und bildeten den Grundstock jeder späteren Dichtung in griechischer Sprache, zugleich die Basis für die Entwicklung der poetischen Sprache. Die Prosa begann mit den philosophischen Erörterungen einer Gruppe von ganz unterschiedlichen Denkern, die unter dem Etikett der Vorsokratiker zusammengefasst werden: Ziel ihrer Erörterungen war die Ausarbeitung eines kosmologischen Systems, in dem die conditio humana ebenso einen zentralen Punkt hatte wie Überlegungen über das Göttliche und ethische Verhaltensmaßregeln; als ersten Vorsokratiker betrachtet man normalerweise Thales von Milet (erste Hälfte des 6. Jh. v. Chr.). Den Vorsokratikern folgten Sokrates (469-399 v. Chr.) und seine Schüler, Johannes Kramer 194 also beispielsweise Antisthenes, Xenophon und Platon (428-348 v. Chr.), und in den Schriften des letzteren erlangte die griechische Philosophie ihren nie wieder erreichten Höhepunkt. In allen diesen Erörterungen spielen Fragen, die wir der Wissenschaft zuordnen würden, eine wichtige Rolle, aber es handelt sich nicht wirklich um wissenschaftliche Werke im engeren Sinne. Die eigentliche wissenschaftliche Literatur setzte im 4. Jh. v. Chr. ein, und die Namen Xenophon (430-354 v. Chr.) und Aristoteles (384-322 v. Chr.) benennen die Gründungsväter dieser Disziplin. Xenophon darf mit seinem Oikonomikos als erster Wirtschaftswissenschaftler angesehen werden; dieses Werk ist noch in der Dialogform der sokratischen Schriften abgefasst, aber es erfasst durchaus die Mechanismen der Verwaltung eines Stadtstaates wie eines Territorialstaates. Auch in der Militärwissenschaft machte sich Xenophon mit seinen Anweisungen für die Ausbildung eines Kavallerieoffiziers oder für die Abrichtung eines Reitpferdes einen Namen. In dem Riesenwerk des Aristoteles, das uns nur etwa zur Hälfte erhalten ist, spielen Schriften zur Politik, Literaturtheorie, Physik, Meteorologie, Psychologie und Ethik eine große Rolle. Stets ist dabei ein umfängliches Bedeutungsmaterial und die vorangegangene Forschung verwertet, und stets eine in der Forschungsmethode begründete Systematisierung erreicht. Mit diesen Leistungen und durch die Koordination vieler Mitarbeiter ist Aristoteles recht eigentlich zum Begründer der modernen Wissenschaften geworden (Dihle 1991, 226-227). Die Systematik der Fächer entwickelte sich in der auf Aristoteles zurückgehenden peripatetischen Schule. Im Zeitalter des Hellenismus, also vom 3. Jh. v. Chr. bis zur Römerherrschaft, erstarkte die wissenschaftliche Literatur auf allen Gebieten. Allerdings löste sie sich weitgehend aus dem Zusammenhang der Literatur, dem sie bis dahin noch angehört hatte. Neue Forschungsergebnisse wurden in einer inzwischen kanonisierten Art erlernbarer Techniken des Prosaausdrucks wiedergegeben und erhoben im Normalfall nicht mehr den Anspruch, künstlerischen Gestaltungswillen des Autors erkennen zu lassen. Wissenschaftliche Prosa zur Beschreibung von Sachverhalten schreiben zu können, gehörte jetzt zu den Requisiten, die man zur Tätigkeit in der Wissenschaft selbstverständlich beherrschen musste, und die angesagte Sprachform war normiert und fixiert. Dieser Zustand war im griechischen Sprachraum erreicht, als die Römer anfingen, eine eigene Literatur zu entwickeln. Die ersten Äußerungen der lateinischen Literatur betrafen die Dichtung: Livius Andronicus (±260-200 v. Chr.) schrieb Tragödien und Komödien und wagte eine Einsprachigkeit und Vielsprachigkeit 195 Odysseeübersetzung im alten römischen Saturnier-Versmaß, Cn. Naevius (±265-200 v. Chr.) schrieb Theaterstücke und ein historisches Epos über den Punischen Krieg, ebenfalls in Saturniern und T. Maccius Plautus (±250-184 v. Chr.) führte die Komödie zu einer später nicht mehr erreichten Blüte. Demgegenüber vollzog sich die Herausbildung der Prosa viel langsamer, und erst mit M. Porcius Cato dem Älteren (234-149 v. Chr.), von dem uns sein (nach unseren Kriterien agrarwissenschaftliches) Alterswerk De agri cultura erhalten ist, entsteht eine Sachprosa. Zuvor hatte man über zwei Generationen versucht, für die Fachschriftstellerei keine eigene lateinische Sprachlichkeit zu entwickeln, sondern sich einfach der im Griechischen erreichten und etablierten Ausdrucksfähigkeit zu bedienen. Es wurde also - auf längere Sicht erfolglos - angestrebt, für die Literatur, die sich mit für Rom interessanten Gegenständen beschäftigte, eine Teilung in zwei sprachliche Zweige durchzusetzen: Lateinisch zu formulieren wäre alles, was weite Bevölkerungskreise ansprach (Theater), fremde und vor allem eigene Traditionen poetisch verarbeitete (Epos) oder Rechtsverhältnisse ausdrückte (Gesetze), hingegen könnte man alles, was sich sowieso primär an eine sprachkundige Elite richtete, auf Griechisch ausdrücken (Fachschriftstellerei), was den Vorteil gehabt hätte, dass man für einen auf exakte Formulierungen angewiesenen Bereich keine neue lateinische Terminologie hätte entwerfen müssen. Besonders aus der frühen Geschichtsschreibung kennen wir ein halbes Dutzend Autoren, die ihre meist als Annalen aufgezogenen Werke in griechischer Sprache abgefasst haben. Zu nennen wäre hier zunächst der erste römische Historiker überhaupt, Q. Fabius Pictor (±270-210 v. Chr.), der Roms Geschichte von der mythischen Urgeschichte bis zum Zweiten Punischen Krieg darstellte. Er schrieb für ein gebildetes Publikum [...], und die einzige Sprache, die hierfür in Frage kam, war die Griechische. [...] Gattungssprache der Historiographie war Griechisch, und diese war auch als einzige Sprache geeignet, einen breiten Adressatenkreis zu erreichen (Beck/ Walter 2001, 59). Anders sah es rund sechzig Jahre später aus, als es schon eine bewusste Entscheidung war, sich für das Griechische als Historiographiesprache zu entscheiden: A. Postumius Albinus (±195-146 v. Chr.) entschuldigt sich sogar für Fehler in seinem Griechisch, weil er ja Römer und mit den hellenischen Sprachsubtilitäten nicht vertraut sei (Polyb. 39, 1, 4), was M. Porcius Cato zu dem Spott veranlasste, es wäre ja auch gar nicht nötig gewesen, ein Werk zur römischen Geschichte auf Griechisch zu schreiben (Gell. 11, 8). Um die Mitte des 2. Jh. v. Chr. war in der Tat der Zug schon Johannes Kramer 196 in Richtung des Gebrauchs der lateinischen Sprache für römische Geschichtsschreibung abgefahren: Das Griechische hatte die Position der Gattungssprache für die Historiographie aufgegeben, und wenn auch später noch viele Geschichtswerke zum Römischen Reich auf Griechisch erschienen (genannt seien beispielsweise Appian, Cassius Dio oder Herodian), so waren doch die Autoren zwar angesehene römische Bürger und verbrachten den größten Teil ihres Lebens in Rom, stammten aber aus der griechischen Reichshälfte. Auf der anderen Seite gab es auch Historiographen griechischer Muttersprache, die ihr Werk auf Latein verfassten, z. B. im 4. Jh. n. Chr. Ammianus Marcellinus aus Antiocheia am Orontes. Für die Philosophie hatte Cicero durch seine maßgebliche Prägung einer lateinischen Fachterminologie, die größtenteils aus Lehnübersetzungen besteht, eine Ausdrucksweise geschaffen, die bis heute spürbar ist (Stroh 2008, 56), aber dennoch wirkte die Vorstellung weiter, dass man ernst zu nehmende philosophische Werke eigentlich nur auf Griechisch abfassen könnte. Die römische Elite war es gewöhnt, die Ausbildung mit einem ein- oder zweijährigen Aufenthalt in Griechenland abzuschließen und sich dort philosophischen Studien zu widmen. Es ist bezeichnend, dass die beiden römischen Kaiser, die ernsthafte Schriften zur Philosophie abgefasst haben, Mark Aurel (121-180) und Julian (331-363), dies auf Griechisch getan haben. Auf Griechisch sind auch Schriften zur theoretischen Mathematik abgefasst, und die anspruchsvolle medizinische Literatur - nicht die auf praktische Anwendung gemünzten Handbücher - ist ebenfalls in griechischer Sprache gehalten. Interessanterweise spielte sich auch der Aufstieg des Christentums zunächst ausschließlich in griechischer Sprache ab. Auch die Kirchenväter, die im Westen des Reiches tätig waren, bedienten sich in ihren Schriften der griechischen Sprache: Clemens, Bischof von Rom in den letzten Jahren des 1. Jh. n. Chr., schrieb seine Sendschreiben an die Kirche von Korinth auf Griechisch, Justinus Martyr versuchte im Rom der ersten Hälfte des 2. Jh. das Christentum mit der griechischen Philosophie zu vereinen, und Griechisch ist auch die Sprache, in der Irenaeus von Lyon in der zweiten Hälfte des 2. Jh. n. Chr. seine antihäretischen Schriften abfasste. Man kann geradezu sagen, dass „Griechisch die offizielle Sprache der Kirche bis hin zum 3. Jh. blieb“ (Kajanto 1980, 100). Erst der in Karthago geborene Tertullian (150-230 n. Chr.) „begründet die christliche Literatur in lateinischer Sprache. Mit ihm nimmt eine Theologie in dieser Sprache ihren Anfang“ (Benedikt XVI. 2008, 50). Einsprachigkeit und Vielsprachigkeit 197 Die Rolle des Griechischen als zumindest teilweise Gattungssprache für wissenschaftliche Belange (Theologie, Philosophie, Mathematik, Medizin, Historiographie) war ausgespielt, als die griechischen Sprachkenntnisse der römischen Elite im Laufe des 4. Jh. massiv zurückgingen. Augustinus bekennt (sicher mit der üblichen rhetorischen Übertreibung), dass er nur sehr wenig, fast gar kein Griechisch könne (PL 43, 292: „et ego quidem Graecae linguae perparum assecutus sum, et prope nihil“). Die Ursachen des Rückganges der Griechischkenntnisse sind im allgemeinen Niedergang des Bildungswesens und auch in der sich ausbreitenden Unsicherheit zu sehen, die die alten Studienaufenthalte in der griechischen Welt illusorisch machten. Wenn wir also auf das Altertum zurückschauen, haben wir am Anfang und am Ende eine klar einsprachige Epoche: In der klassischen griechischen Welt galt nur das Griechische, und in den Anfängen der römischen Literatur verwendete man als Ausdrucksmittel das Griechische. Am Ende des Altertums, also vom 6. Jh. an, waren der Osten und der Westen des vorherigen Imperium Romanum wieder einsprachig: Der Osten, das Byzantinische Reich, das allmählich Gestalt annahm, verzichtete weitgehend auf das Lateinische, der Westen, also die neuen Staaten, die aus den Gebilden der Völkerwanderungszeit entstanden, waren rein lateinisch ohne griechische Beimischung. Die Zwischenepoche, also ganz grob die Zeit zwischen 150 v. Chr. und 400 n. Chr., war, was die Elite des Westens betraf, zweisprachig, konnte sich also des Griechischen wie des Lateinischen bedienen. Das Lateinische war natürlich die vorherrschende Sprache, aber einige Zweige der Wissenschaft wurden auch von Römern vorwiegend in griechischer Sprache abgehandelt. Das gesamte Mittelalter war im Vergleich zum Altertum von einem bemerkenswerten Rückgang des Alphabetisierungsgrades gekennzeichnet: Hatten im Altertum noch große Teile der männlichen Bevölkerung zumindest am Elementarunterricht teilgenommen und beherrschten somit die Grundlagen des Lesens und Schreibens, führte der Untergang des öffentlichen Schulwesens dazu, dass nur noch Spezialisten mit Schriftlichem umgehen konnten. Die Kloster- und Bischofsschulen werden zu Berufsschulen, die nur das Ziel haben, Mönche oder Geistliche auszubilden. Indessen werden diese Schulen von dem Augenblick ab, wo die aus der Antike überkommenen weltlichen Schulen vollkommen verschwunden sind, durch die Gewalt der Umstände das einzige Mittel, durch das man Bildung erwirbt und mitteilt. [...] Die Wissenschaft ist hauptsächlich eine Angelegenheit der Geistlichkeit (Marrou 1977, 611). Johannes Kramer 198 Die erste Hälfte des abendländischen Mittelalters ist also gekennzeichnet dadurch, dass Mönche und Kleriker als eine der Aufgaben ihres Berufes das Schreiben und Lesen übernahmen (nicht umsonst ist die Grundbedeutung von englisch clerk ‚Schreiber‘), während es außerhalb dieses Kreises fast nur illitterati, ‚Analphabeten‘, gab. Die einzige Sprache, die man schreiben und lesen konnte, war zumindest im Gebiet der Romania das Lateinische, denn die sich herausbildenden romanischen Sprachen waren noch nicht wirklich schriftwürdig, und Kenntnisse des Griechischen oder Arabischen lagen nur bei wenigen Ausnahmepersönlichkeiten vor, die für die Entwicklung des geistigen Lebens ohne Bedeutung blieben. Im griechischen Kulturraum verlief die Entwicklung ein wenig anders, weil es den totalen Untergang des antiken Bildungswesens nicht gab: „Die byzantinische Erziehung setzt ohne Unterbrechung die klassische Erziehung fort“ (Marrou 1977, 618). Die Universität von Konstantinopel existierte von 425 bis 1453, man las die antiken Klassiker, es gab einen Elementar- und einen Grammatikunterricht. Daneben gab es die Patriarchenschulen, die den Kompromiss eines christlichen Humanismus wagten. Hingegen hatten die Klosterschulen einen anderen Charakter als im Westen: Man wandte sich der Askese zu, man verharrte in Opposition zur ‚Welt‘, und Schreib- und Lesefähigkeiten sind nur für den inneren Gebrauch im Kloster, nicht zum Nutzen der Laien bestimmt. Wir berühren hier einen der charakteristischsten Züge des orientalischen Mönchtums. Umgeben von einer Bildungswelt, deren Niveau im großen und ganzen immer aufrechterhalten blieb, hat das Kloster in der Gesellschaft keine Erzieherrolle zu spielen, da es nicht für diese Rolle gedacht ist. Anstatt ein Mittelpunkt der Studien zu werden, bemüht es sich vielmehr, ein asketisches Leben zu führen. Statt über die Welt auszustrahlen, strebt es danach, sich von ihr zu isolieren (Marrou 1977, 604-605). Latein freilich konnte in den verschiedenen Bildungseinrichtungen niemand mehr: Griechische Einsprachigkeit prägte das Byzantinische Reich. Es ist somit auch klar, dass die erste Hälfte des Mittelalters im Osten wie im Westen von absoluter Einsprachigkeit geprägt war: Alle schriftlichen Äußerungen waren im Einflussbereich des Papstes lateinisch, im Einflussbereich des byzantinischen Kaisers griechisch, und folglich waren auch alle Ansätze einer wissenschaftlichen Literatur derselben Einsprachigkeit unterworfen, die ja für Byzanz bis 1453 weiter gegeben war. Im Westen allerdings traten in der zweiten Hälfte des Mittelalters volkssprachliche Texte in steigender Tendenz neben die traditionellen lateinischen Abhandlungen. Natürlich kann man im Mittelalter nicht von Einsprachigkeit und Vielsprachigkeit 199 einer wissenschaftlichen Literatur in unserem Sinne sprechen, aber es gibt doch Sachtexte, die man zumindest als Vorstufen einordnen kann. Im Bereich der lateinischen Literatur herrscht die Weitergabe, Adaptation und Umarbeitung von einschlägigen Texten aus der Antike vor. Natürlich muss vor allem die Geschichtsschreibung aktuell bleiben: Mit den dürren Annalen, die Jahr für Jahr die Ereignisse aufzählen, bricht sich ein neues Genus Bahn, aber es gibt auch elegante Weiterführungen antiker Vorbilder wie z. B. die im Stile von Suetons Kaiserbiographien geschriebene Vita Karoli Magni von Einhard (770-840). Die Volkssprache wird auch früh für historiographische Zwecke verwendet: Bereits im 12. Jh. entstehen im Umkreis des anglonormannischen Hofes Reimchroniken und Kreuzzugschroniken, und der Vierte Kreuzzug (1202-1204) führt zum Aufblühen einer Geschichtsschreibung in Prosa (Geoffroi de Villehardouin, Robert de Clari), die die lateinische Historiographie bald in den Schatten stellt. Im Bereich der ‚Naturwissenschaften‘ sind die volkssprachlichen Werke zunächst freie, meist poetische Umsetzungen lateinischer Vorbilder: Es gibt seit dem 12. Jh. im französischen Bereich bestiaires und lapidaires, die auf den Physiologus zurückgehen, und auch ein Buch über den Kalender (compoz), das Philippe de Thaon zwischen 1110 und 1120 verfasste, verrät seine lateinische Inspiration. Naturwissenschaftliche Belehrung in Verbindung mit theologischen Verknüpfungen beinhaltet das secret des secrez, das auf das pseudo-aristotelische secretum secretorum zurückgeht. Das 12. Jh. brachte auf Lateinisch auch erste Vorstufen umfassender Enzyklopädien wie die Imago Mundi des Honorius von Autun hervor, die dann im 13. Jh. eifrig ins Französische übersetzt wurden. Einen der Höhepunkte der spätmittelalterlichen Enzyklopädie stellt Li livres dou tresor (um 1250) des Brunetto Latini dar, von dem es nicht nur das französische Original gibt, sondern unter dem Titel Il tesoretto auch eine italienische Kurzfassung; eine lateinische Version gibt es aber nicht, weil sich das Werk an ein wissbegieriges Laienpublikum, nicht aber an diskussionsbegierige Fachkollegen wendet. Insgesamt gilt festzuhalten: Wer im Bereich der Wissenschaften zu Fachleuten sprechen wollte, drückte sich auf Lateinisch aus, denn die Volkssprachen waren auf divulgative Aktivitäten eingeschränkt, wofür ja auch die Tatsache spricht, dass hier im 12. und 13. Jh. Prosa die Ausnahme darstellt, während Verse die Regel sind. Eine eigentliche wissenschaftliche Fachliteratur gibt es im 12. und 13. Jh., wenn überhaupt, dann nur in lateinischer Sprache; alles Volkssprachliche schließt einen wirklich fachlichen Benutzerkreis aus. Diese Epoche ist also vom Siegeszug der Johannes Kramer 200 Volkssprachen gekennzeichnet, aber die eigentliche wissenschaftliche Prosa wird von diesem Siegeszug nicht berührt: Man bleibt ausnahmslos bei der Wissenschaftssprache Latein. Im Humanismus ist die Hinwendung zum Lateinischen zunächst noch tief greifender, denn manche Genera, die sich im späten Mittelalter ganz allmählich den Volkssprachen geöffnet hatten, driften wieder zum Latein zurück. Im 14. Jh. gab es noch zahlreiche Übersetzungen antiker wissenschaftlicher Traktate in die Volkssprachen, wenn die Autoren auch immer wieder Klagen von sich gaben wie Mahieu le Vilain: „L'en ne puet pas si proprement translater science en franchois comme en latin“ (Rey/ Duval/ Siouffi 2007, 315). Im Italien der ersten Hälfte des 15. Jh. hat die Volkssprache jedoch jedes Prestige verloren: Il volgare è depresso e sminuito nell'opinione generale, di contro al latino esaltatato dal trionfante umanesimo: esso è ridotto a funzioni modeste, quasi ancilliari. Non manca chi scriva in volgare, in poesia e in prosa; manca chi lo coltivi con cura, con amore, con coscienza d'arte (Migliorini 1966, 240 = VII 4). Natürlich ist vor diesem Hintergrund jede Abhandlung, die sich als wissenschaftlich versteht, in lateinischer Sprache, genauer gesagt in ciceronianischem Latein, geschrieben. Eine Gegenbewegung setzte in Italien mit dem sogenannten Vulgärhumanismus ein, einem Versuch, die Volkssprache langsam zu veredeln und zum Ausdruck schwieriger Sachverhalte geeignet zu machen, besonders durch die Einführung zahlreicher Latinismen und durch den bewussten Anschluss an die lateinische Syntax. Ein wichtiger Vertreter des Vulgärhumanismus, Leon Battista Alberti (1404-1472), schrieb einige seiner kunsttheoretischen Werke (z. B. De pictura = Della pittura, 1435/ 1436) sowohl auf Latein wie auch auf Italienisch, wobei „im lateinischen Text gegenüber dem italienischen zahlreiche Präzisierungen der Sache oder der Tätigkeit festzustellen sind“ und über hundert Stellen auftreten, „wo die lateinische Fassung zusätzliche Erklärungen, präzisere Definitionen, Quellennachweise oder Korrekturen nach erneuter Lektüre der Quellen enthält“ (Bätschmann/ Gianfreda 2002, 6, nach einer philologischen Analyse von Bertolini 2000). Der Befund ist eindeutig: Selbst ein so entschiedener Vertreter der Kultivierung der Volkssprache schrieb lateinisch, wenn er sich mit aller Präzision an seine wissenschaftlichen Kollegen wenden wollte, und betrachtete die italienische Fassung nur als Surrogat für eine weniger gebildete Leserschaft. Im 16. Jh. können wir dasselbe im französischen Sprachraum beobachten: Wenn Henricus Stephanus seine altphilologischen Kollegen ansprechen wollte, sich also auf dem Territorium der Wissenschaft bewegte, schrieb Einsprachigkeit und Vielsprachigkeit 201 er natürlich lateinisch, wenn er aber als Henri Estienne in die gesellschaftlich-literarischen Fehden des zeitgenössischen Frankreichs eingriff, schrieb er französisch. So gibt es eine „lateinische Apologia pro Herodoto, die sich in Stil und Aufbau um strenge Wissenschaftlichkeit bemüht“ (Kramer 1980, VIII), und eine im gleichen Jahre veröffentlichte Apologie pour Hérodote, die nicht nur etwa zehnmal so lang ist, sondern einen ganz anderen Charakter hat, ist sie doch weniger eine gelehrte Verteidigung des ersten Geschichtsschreiber gegen den Vorwurf der Phantasterei als vielmehr „eine Satire gegen Mönchs- und Pfaffentum und gegen die zu dieser Zeit herrschenden Unsittlichkeiten überhaupt, eine Satire voll bitteren Spotts und Hohnes“ (Grauthoff 1862, 25). Die Adressaten des lateinischen Textes sind ausgewiesene Kenner des Griechischen und des Lateinischen, der französische Text richtet sich an ein Publikum, das nur die Volkssprache beherrscht und in der Antike nicht wirklich zu Hause ist. „La langue choisie suppose un autre public: en français, Estienne s'adresse à d'autres lecteurs que ceux visés par le texte latin“ (Boudou 2000, 98). Und wenn es klar ist, dass die Reformation den Durchbruch des Französischen als Sprache der Theologie - und damit der prima scientia - zu Wege brachte, so ist es genauso klar, dass der Weg dahin nicht einfach war: Jean Calvin veröffentlichte sein theologisches Hauptwerk Institutio Christianae Religionis 1536 auf Latein und ließ erst 1541 die französische Adaptation Institution chrestienne folgen. „Si l'édition latine était destinée aux théologiens de tous les pays, l'édition française s'adressait au peuple“ (Wartburg 1969, 147). Auch in diesem Fall ist klar, dass die eigentliche wissenschaftliche Literatur auf Latein publiziert wurde und dass die volkssprachliche Variante - unter Verzicht auf einige Subtilitäten - der allgemeineren Verbreitung diente. Das 17. Jh. ist jedoch insgesamt das Jahrhundert, in dem die absolute Vorherrschaft des Lateinischen als Wissenschaftssprache zu Ende geht. Für Italien markiert die Entscheidung von Galileo Galilei, seine wissenschaftlichen Erkenntnisse nur noch in Italienisch und nicht mehr in Latein zu publizieren, den Übergang: 1610 erschien der Sidereus nuncius noch in der alten Wissenschaftssprache, aber vom Brief an Mons. Dini über die Planetenläufe im Jahre 1611 an erschienen alle wissenschaftlichen Werke des großen Gelehrten auf Italienisch (Migliorini 1966, 409). In Frankreich hatte die Vorliebe für wissenschaftliche Werke in französischer Sprache schon im 16. Jh. eingesetzt, aber die Publikation des Discours de la méthode von René Descartes bedeutete 1637, dass mit der Philosophie die letzte Bastion des Lateinischen gefallen war; freilich schrieb der fran- Johannes Kramer 202 zösische Philosoph - unter seinem lateinischen Namen Renatus Cartesius - auch zahlreiche Werke auf Latein, wobei er „sich des Lateinischen für Texte, die formale und technische Gedankengänge beinhalteten, bediente, während er Werke, die für ein größeres Publikum bestimmt waren, auf Französisch schrieb“ (Janson 2006, 138) - eine typische Übergangssituation, die sich schnell zu Gunsten des Französischen auflöste. Auch die Zahl der lateinischen Werke wurde im Vergleich zu den volkssprachlichen geringer: „Schon 1575 überwog in Frankreich erstmals die Gesamtzahl der publizierten französischen Bücher die der lateinischen; in Deutschland ist das erst 1681 zu konstatieren“ (Stroh 2008, 252). Überdeutlich ist dann der Rückgang des Lateinischen für das Frankreich des 17. Jh.: D'un pourcentage général de 30% des livres imprimés au début du siècle, le latin va tomber à la fin du siècle à moins de 10%. A la fin du siècle, le latin n'est plus guère utilisé que pour les matières religieuses, en contexte catholique (Rey/ Duval/ Siouffi 2007, 708). Während also das 16. Jh., was die Wissenschaft betrifft, noch ganz dem Lateinischen gehört, also von ein paar zersprengten volkssprachlichen Tupfern abgesehen eigentlich einsprachig ist, markiert das 17. Jh. den Übergang zu den Volkssprachen, der im 18. Jh. im Wesentlichen abgeschlossen ist. Freilich vollzieht sich der Prozess in den verschiedenen Ländern in etwas unterschiedlichem Tempo: Au XVII e siècle, les seules langues modernes à développer une publication scientifique importante en Europe sont l'anglais et le français. Elles seront rejointes au début du XVIII e siècle par l'allemand et l'italien (Rey/ Duval/ Siouffi 2007, 709). Die sich hier entwickelnde wissenschaftliche Mehrsprachigkeit weist allerdings einen entscheidenden Minuspunkt auf: War die Wissenschaftssprache Latein sofort international verständlich und als Diskussionsmedium über die nationalen Grenzen hinweg einsetzbar, erschwerten volkssprachliche Publikationen den unmittelbaren Kontakt über die Landesgrenzen hinweg - und wenn das vielleicht für die großen Sprachen nicht unbedingt zutraf, so galt es doch für alle Angehörigen kleinerer Sprachgemeinschaften, die auf die traditionelle Universalität des Lateins verzichten mussten und doch in ihrer eigenen Sprache einfach nicht auf internationales Gehör hoffen durften: Wissenschaft in Niederländisch, Schwedisch, Polnisch, Tschechisch oder sogar Russisch, Spanisch und Portugiesisch kann eben nicht darauf zählen, jenseits der Grenzen der Einsprachigkeit und Vielsprachigkeit 203 eigenen Sprachgemeinschaft Leser zu finden. Die Wissenschaftler der linguae minores hingen folglich zunächst einmal erheblich mehr am Latein fest, als es die nationes maiores taten: Carl von Linné drückte sich lateinisch und nicht etwa schwedisch aus (Janson 2006, 143-147), Hugo Grotius formulierte das Völkerrecht lateinisch und nicht etwa niederländisch (Stroh 2008, 230) und Jan Amos Comenius zog das Lateinische dem Tschechischen vor (Stroh 2008, 245-247). Andererseits war der Zug der Zeit nicht mehr aufzuhalten: Latein kam aus der Mode, die lebenden Sprachen wurden zu einzig akzeptablen Wissenschaftssprachen, freilich nur die großen Nationalsprachen mit ‚Bildungshintergrund‘, also von den germanischen Sprachen Deutsch und Englisch, von den romanischen Sprachen Französisch und Italienisch, aber eben nicht Spanisch. Damit ist also für das 18. Jh. mit starken Vorstufen im 17. Jh. und mit Ansätzen im 16. Jh. ein Zustand erreicht, den man als Mehrsprachigkeit in der Wissenschaft bezeichnen kann. Freilich reichte der Schatten der alten Universalwissenschaftssprache Latein noch so weit, dass man - bewusst oder unbewusst - auch bei den modernen Nachfolgesprachen einen Kandidaten suchte, der zumindest in gewisser Weise in die Rolle der weltweiten Universalwissenschaftssprache eintreten konnte. Schnell glaubte man, dass das Französische diese Funktion erfüllen könnte, denn es war in seinem Ausbauprozess weiter gediehen als die anderen modernen Sprachen: Es hatte seine Eignung für alle Zweige der Wissenschaft bewiesen und konnte nicht nur für die Philosophie und für die Theologie eingesetzt werden, sondern wurde in Frankreich sogar in der klassischen Philologie, sonst die letzte Festung des Lateinischen, verwendet. Es diente seit dem Edikt von Villers-Cotterêts für alle staatlichen und juristischen Aufgaben, es diente seit dem Frieden von Rastatt von 1714 als internationale Vertragssprache, und es galt als Verständigungsmittel unter den Gebildeten aller Länder, wozu der Faktor beitrug, dass wesentliche Werke der französischen Literatur, um der heimischen Zensur zu entgehen, in den liberalen Niederlanden erschienen: „Il n'est pas exagéré de dire que la Hollande fut, au XVII e siècle, la seconde patrie de la vie intellectuelle française“ (Rey/ Duval/ Siouffi 2007, 746). Die Rolle des Französischen wurde auch dadurch gestärkt, dass es überall Unterrichtsanstalten und Französischlehrer gab, die als Exilanten (aus politischen oder religiösen Gründen, wie z. B. die große Gruppe der Hugenotten in den protestantischen Ländern) ihren Lebensunterhalt mit der Vermittlung ihrer Muttersprache an betuchte Ausländer verdienten (Kramer 1992, 63). Johannes Kramer 204 All diese Faktoren trugen dazu bei, dass der wissenschaftlichen Mehrsprachigkeit des 17. und 18. Jh. eine Tendenz zur Überwindung dieser Mehrsprachigkeit in Richtung auf eine neue Universalwissenschaftssprache inne wohnte, die diesmal freilich das Französische war. In der Tat kann man bemerken, dass nicht nur die Sprecher kleinerer Sprachen, die sich ja notgedrungen in einer großen Sprache ausdrücken mussten, in wietem Umfang dem Französischen den Vorzug gaben, sondern es schrieben auch viele Vertreter von Sprachen, die eigentlich einen Rang als internationale Wissenschaftssprachen beanspruchen konnten, auf Französisch, wenn sie ein internationales Publikum ansprechen wollten: Leibniz philosophierte auf Französisch (freilich auch auf Latein), und in Französisch sind die wissenschaftlichen Berichte (nicht die deutschen Auszüge für ein breiteres Publikum) von Alexander von Humboldt über seine Weltreise abgefasst. Es bildete sich so etwas wie eine Hierarchie der Sprachen heraus: Das Französische spielte die Rolle der Universalwissenschaftssprache, während die anderen Wissenschaftssprachen vor allem in bestimmten Territorien zur Anwendung kamen - das Englische in den Niederlanden und in Skandinavien (in Konkurrenz mit dem Deutschen), vor allem aber in Übersee, das Deutsche in den Niederlanden und in Skandinavien (in Konkurrenz mit dem Englischen), vor allem aber in Mittel- und Osteuropa, das Italienische in den südeuropäischen Ländern. Normalerweise schrieb kein Skandinavier auf Italienisch, kein Pole auf Englisch, kein Spanier auf Deutsch - Französisch aber war für alle möglich, mit abnehmender Tendenz freilich aus politischen Gründen im Deutschland des 19. Jh. Vor dem Ersten Weltkrieg konnte man also den Eindruck gewinnen, dass in der Wissenschaft zwar Mehrsprachigkeit herrschte, genauer gesagt die Viersprachigkeit Französisch, Deutsch, Englisch, Italienisch, dass aber die Sprachen nicht gleichmäßig verteilt waren, denn je nach Region, aber auch je nach Fachgebiet hatte mal die eine, mal die andere Sprache die Nase vorn. Das Bild änderte sich nach dem Ersten Weltkrieg: Die Sprachen des festländischen Europas mussten dem Anwachsen des Ansehens des Englischen auf allen Gebieten zusehen, die dominante Rolle des Deutschen war in Osteuropa im Rückzug, neue internationale Wissenschaftssprachen wie das Spanische oder das Russische klopften an die Türe. In den zwanziger Jahren des 19. Jh. hat der größte französische Sprachwissenschaftler seiner Zeit, Antoine Meillet, eine Bestandsaufnahme der Langues dans l'Europe nouvelle publiziert, in der - vor einer utopischen Forderung nach der Einführung einer Kunstsprache wie des Esperanto als Mittel des inter- Einsprachigkeit und Vielsprachigkeit 205 nationalen Austausches - der Rückgang der Rolle des Deutschen und des Französischen sowie die angewachsene Stellung des Englischen klar artikuliert wird: Malgré ses mérites de précision et de clarté, malgré son élégance - et à cause de son élégance - , ‚le français‘, qui garde une part de son ancien prestige, rencontre beaucoup de résistance, et son rôle de langue commune de civilisation ne grandit plus. Il a reculé sur plusieurs points. [...] Le réveil des nationalités de l'Europe centrale, nationalités slaves, magyare, roumaine, enlève peu à peu ‚l'allemand‘ des domaines où, sans être la langue courante du pays, il était la langue de civilisation. L'allemand n'est plus, ce qu'il a été, la langue commune de civilisation des Slaves. [...] La poussée vers l'Est [...] est désormais barrée par des obstacles insurmontables. [...] Par son extension, ‚l'anglais‘ est la plus mondiale des langues civilisées. Envisagé en lui-même, l'anglais a cette commodité d'être d'un type simple et régulier. [...] Sa grammaire est toute moderne. [...] Son vocabulaire, mi-partie germanique, mi-partie roman, donne à tous les sujets de la gue romane ou germanique une première facilité sensible pour s'initier à la langue: ni un Français, ni un Hollandais, ni un Norvégien, ni un Danois, ni un Suédois, ni même un Allemand ne se sentent tout à fait étrangers vis-à-vis de l'anglais (Meillet 1928, 254, 255, 258). Hier kommt schon klar zum Ausdruck, dass die Rolle des Englischen als erste Weltsprache - und damit auch als erste Wissenschaftssprache - schon nach dem Ersten Weltkrieg deutlich war. Es ist hier nicht der Ort, die allseits bekannte Erfolgsgeschichte des Englischen im 20. Jh. nachzuzeichnen: Das Resultat ist jedenfalls, dass heute trotz dem letztlich hoffnungslosen „Ringen des Französischen um die Bewahrung des Status einer internationalen Verkehrs- und Wissenschaftssprache“ (Schweickard 2005, 185) einzig und alleine das Englische die unbestrittene Sprache der Wissenschaftssprache ist, in der man über jedes Thema in jedem Fachgebiet publizieren kann, und es immer mehr Disziplinen gibt, in denen man wirklich nur gelesen und wahrgenommen wird, wenn man sich des Englischen bedient. Freilich gibt es daneben weiterhin die Verwendung anderer Sprachen: Wenn wissenschaftliche Probleme mit länderspezifischer Relevanz angegangen werden, sind die entsprechenden Sprachen an der Tagesordnung, und es gibt auch in bestimmten, meist traditionsbestimmten Fächern die Weiterverwendung der alten Wissenschaftssprachen (in einigen wenigen Fällen sogar mit explizitem Ausschluss des Englischen, cf. Kramer 2005, 4). Bei den linguae minores gibt es sogar noch eine dritte Stufe, die man vielleicht als ‚Experimentalveröffentlichung‘ bezeichnen könnte, nämlich eine Veröffentlichung in der eigenen Landessprache, die mit einiger Ga- Johannes Kramer 206 rantie nur von den Angehörigen der kleinen Sprachgemeinschaft gelesen wird; erst nachdem sie von diesem Regionalpublikum kritisch gewürdigt wurde und natürlich einige Verbesserungen erfahren hat, wird sie in einer anderen Sprache einem internationalen Fachpublikum vorgelegt und schließlich in Englisch allgemein zugänglich gemacht. Um bei einem Beispiel aus der Romanistik zu bleiben: Marius Sala hat seine rumänische Sprachgeschichte für sein nationales Publikum 1998 auf Rumänisch publiziert, 1999 auf Französisch der romanistischen Fachleserschaft zugänglich gemacht und 2005 auf Englisch einer weltweiten Rezeption geöffnet. Wenn man eine Grobchronologie der Ein-, Zwei- oder Mehrsprachigkeit der Wissenschaft im heute romanischen Teil Europas (mit Ausnahme Rumäniens) erstellt, kommt man zu folgendem Resultat: bis 150 v. Chr. Einsprachigkeit (Griechisch) 150 v. Chr. - 400 n. Chr. Zweisprachigkeit (Griechisch, Lateinisch, mit einem gewissen Vorrang des Griechischen) 400 n. Chr. - 1100 n. Chr. Einsprachigkeit (Lateinisch) 1100-1650 Einsprachigkeit der strengen Wissenschaft (Lateinisch), Mehrsprachigkeit (Frz., It., Sp., Port. usw.) bei populären Abhandlungen 1650-1920 Mehrsprachigkeit (Frz., It., Dt., Engl.) in der strengen Wissenschaft mit einer im 17. und 18. Jh. blühenden Tendenz zum Französischen als präferierter Wissenschaftssprache, Auftreten weiterer neuer Sprachen in populären Abhandlungen ab 1920 Zunahme der Einsprachigkeitstendenz in Richtung auf das Englische in vielen Zweigen der strengen Wissenschaft, daneben aber Weiterwirken der älteren Mehrsprachigkeit Diese notwendigerweise schematische Übersicht lässt jedenfalls erkennen, dass die Sprachverwendung im Bereich der strengen Wissenschaft abweicht von der viel polyglotteren Sprachverwendung in der eigentlichen Literatur, aber auch von der der Verwaltung und Rechtsprechung: Zweisprachigkeit kennzeichnet die römische Epoche der Antike, Mehrsprachigkeit ist ein Charakteristikum der Neuzeit, zumindest bis zum Ersten Weltkrieg. Einsprachigkeit war entweder das Resultat der Abwesenheit weiterer geeigneter Sprachen (griechische Epoche der Antike, westeuropäisches Mittelalter vor 1100) oder aber der bewussten Wahl Einsprachigkeit und Vielsprachigkeit 207 einer für alle Wissenschaftler zugänglichen Sprache (Latein zwischen 1100 und 1650, Französisch im 17. und 18. Jh., Englisch in jüngster Zeit). Freilich setzten auch die Epochen, die die Wissenschaft mehrsprachig betrieben, auf die Zugänglichkeit für andere Wissenschaftler, nur dass hier die Sprachbarriere als niedrig angesehen wurde: Für einen Philologen des 19. Jh. und der ersten Hälfte des 20. Jh. war es selbstverständlich, die gängigen Wissenschaftssprachen Französisch, Italienisch, Deutsch und Englisch lesen und auch verwenden zu können, und die Frage der Publikationssprache der Aufsätze stellte schlichtweg kein Problem dar. Ob man sich einen Gefallen damit täte, in Zukunft einzig auf Englisch das zu behandeln, was man vorher einem Chor verschiedener und jedesmal unverwechselbarer Sprachen anvertraute, scheint mir sehr zweifelhaft: Auch die Wissenschaftssprache ist ja nicht blutleer, sozusagen durchmathematisiert, sondern sie bedient sich zahlreicher Metaphern, zahlreicher Bilder aus dem täglichen Leben, zahlreicher Assoziationen an sprachlich verpackte Paradigmen, und es fragt sich, ob man sich das Potential der Vielsprachigkeit, das diese Facetten besser zu erfassen vermag als eine neutrale Universalsprache, entgehen lassen will. Vor etwa einem Jahrzehnt wurde von Maria Lieber und Harald Wentzlaff-Eggebert auf dem Kongress Romania I in Jena das Thema: Deutschsprachige Romanistik - für wen? zum Gegenstand einer Podiumsdiskussion gemacht. Dort wurde für die Romanistik festgehalten, dass trotz der unbestreitbaren Tatsache, dass das Englische als ‚lingua franca‘ besonders in interdisziplinären Studien an Bedeutung gewinnen wird, am Deutschen als Wissenschaftssprache festgehalten werden muss: wegen seiner starken Präsenz und seines hohen Ansehens besonders in Osteuropa, wegen des ungebrochenen Prestiges der deutschsprachigen Romanistik in Teilbereichen, wegen der natürlich in der Muttersprache am ehesten zu erreichenden Authentizität der Aussage und aus Rücksicht auf die deutschsprachige Öffentlichkeit, für die keine zusätzlichen Verständnishürden aufgebaut werden sollten (Lieber/ Wentzlaff-Eggebert 2002, 47). Dem ist wenig hinzuzufügen: Man sollte sich die Vielsprachigkeit, die durch die Loslösung vom Latein die neuzeitliche Wissenschaft so lebendig gemacht hat, nicht durch eine Hinwendung zu einer moderneren, aber doch auch blutleeren neuen ‚lingua franca‘ abzwingen lassen! Johannes Kramer 208 Bibliographie Bätschmann, Oskar/ Gianfreda, Sandra (edd.), Leon Battista Alberti: Della Pittura/ Über die Malkunst, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2002. Beck, Hans/ Walter, Uwe, Die frühen römischen Historiker I, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2001. Benedikt XVI., Die Kirchenväter: frühe Lehrer der Christenheit, Regensburg, Pustet, 2008. Bertolini, Lucia, Sulla precedenza della redazione volgare del ‚De pictura‘ di Leon Battista Alberti, in: Marco Santagata/ Alfredo Stussi (edd.), Studi per Alberto Carpi. Un saluto da allievi e colleghi pisani, Pisa, ETS, 2000, 181-210. Boudou, Bénédicte, Mars et les Muses dans l'‚Apologie pour Hérodote‘ d'Henri Estienne, Genève, Droz, 2000. Dihle, Albrecht, Griechische Literaturgeschichte, München, Beck, 2 1991. Grauthoff, Paul, Henricus Stephanus: eine Skizze seines Lebens und seiner Bedeutung, Glogau, Flemming, 1862. Janson, Tore, Latein: Die Erfolgsgeschichte einer Sprache, Hamburg, Buske, 2006. 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Wartburg, Walther von, Évolution et structure de la langue française, Berne, Francke, 9 1969. II. Die romanischen Wissenschaftssprachen in der Moderne Tanja Oberhauser Haircut versus marge de sécurité - Anglizismen in der französischen Wirtschaftsfachsprache: Bedrohung oder Bereicherung? 0. Vorbemerkungen (1) En relevant le «haircut», en particulier sur les titres n'ayant plus de prix de marché, la BCE rendrait plus coûteuse l'opération de refinancement pour les banques (Les Echos, 01.09.08, 32). Da in Bezug auf das Thema Sprachnormierung gerade Frankreich mit seiner intensiven Sprachgesetzgebung eine Besonderheit unter den romanischssprachigen Ländern darstellt, mag so manchen die Verwendung des Anglizismus haircut in Beispiel Nummer eins überraschen. Dabei ist es gerade der Bereich der Fachsprachen, der sich - allen Sprachgesetzen zum Trotz - gerne englischsprachiger Termini bedient, um Objekte und Sachverhalte, die aus dem anglo-amerikanischen Raum stammen, zu bezeichnen. Dieser Beitrag wird sich mit der Aufnahme von Anglizismen in einem speziellen fachsprachlichen Bereich, nämlich der Wirtschaftsfachsprache, auseinander setzen. Um den Beitrag in seinem entsprechenden Kontext einordnen zu können, ist es zunächst notwendig, die wichtigsten Zusammenhänge zwischen den Besonderheiten dieser Fachsprache, der Wissenschaftssprache(n) und auch der Presse- und der Gemeinsprache aufzuzeigen, bevor die eigentliche Korpusanalyse vorgestellt wird. Obwohl Fachsprachen in der Sprachwissenschaft zu einem wichtigen Schwerpunktthema avanciert sind, herrscht in der einschlägigen Fachliteratur keine Einstimmigkeit über ihre Definition. Dieses Schicksal teilen sie mit den Wissenschaftssprachen. Trotz eines in den letzten Jahren ansteigenden Interesses der Sprachwissenschaft an der Wissenschaftssprache oder genauer den Wissenschaftssprachen, kann von einer einheitlichen Definition keine Rede sein. Dies wirkt jedoch weniger erstaunlich, wenn man sich die Verbindung zwischen beiden Bereichen vergegenwärtigt: Wenn man wie Bungarten (1981, 31) jeder wissenschaftlichen Disziplin einen eigenen abgrenzbaren Handlungsbereich zuordnet, welcher Tanja Oberhauser 214 folglich eigene Kommunikationsbedürfnisse nach sich zieht, zu deren Befriedigung wiederum spezielle sprachliche Mittel benötigt werden, dann kann man Wissenschaftssprachen jeweiligen Sprachhandlungsbereichen, also einzelnen Wissenschaften, zuordnen. So gehen auch Hoffmann 1 und Weinrich 2 davon aus, dass Wissenschaftssprachen als Teil der Fachsprachen einzuordnen und als solche zu erforschen sind. Kretzenbacher ordnet die Wissenschaftssprache folgendermaßen ein: Nach den verschiedenen Modellen, die die Fachsprachenforschung für die horizontale und vertikale Gliederung der fachlichen Sprachbereiche entwickelt hat, nimmt die Wissenschaftssprache die oberen Schichten der (am Fachlichkeitsgrad der Kommunikation orientierten) vertikalen Gliederung ein (Kretzenbacher 1992, 2). Trotz uneinheitlicher Definitionslage ist die Begriffsbestimmung aus Hoffmanns einführendem Werk zum Thema Fachsprache in ihren Grundsätzen weitgehend anerkannt und auch von anderen Autoren 3 als Basis eigener Definitionen verwendet worden: Fachsprache - das ist die Gesamtheit aller sprachlichen Mittel, die in einem fachlich begrenzbaren Kommunikationsbereich verwendet werden, um die Verständigung zwischen den in diesem Bereich tätigen Menschen zu gewährleisten (Hoffmann 2 1985, 53). Zur Definition von Wissenschaftssprache kann der Ansatz von Bungarten angeführt werden: Wissenschaftssprache [Herv. im O.] meint, sofern nicht von einer bestimmten Disziplin die Rede ist, einen angenommenen, allen Einzelwissenschaften gemeinsamen Bestand von Formen und Funktionen, der sich auf charakteristische Weise von denjenigen anderer Kommunikationsbereiche […] unterscheidet (Bungarten 1981, 11). 1 Hoffmann (1986, 91): „In der Wissenschaftssprache wie auch in anderen Fachsprachen dominieren drei Funktionen: die kognitive, die kommunikative und die akkumulative; die soziolektale kommt als sekundäre hinzu“. 2 Weinrich (1995, 5): „Denn die Erforschung der Wissenschaftssprache oder der Wissenschaftssprachen und im weiteren Sinne der Fachsprachenforschung überhaupt ist erst seit etwa zwei Dekaden in größerem Umfang zum Gegenstand der linguistischen Forschung gemacht worden [...]“. 3 „Einigkeit herrscht heute darüber, daß Fachsprachen primär der Verständigung von Fachleuten über ihr Fachgebiet in fachlichen Situationen dienen […]“ (Pöckl 1990, 267); „La langue de spécialité est une variété de langue, à dominante cognitive, dont les textes […] ont pour but de signifier et de communiquer, au sein d'une collectivité restreinte, le contenu thématique […] [Herv. im O.]“ (Kocourek 2 1991, 42). Anglizismen in der französischen Wirtschaftsfachsprache 215 Was geschieht nun, wenn Fachsprache bzw. Wissenschaftssprache auf Gemeinsprache treffen und in diese eingebettet werden müssen? Eine Lösung für diese Problematik suchen zu müssen ist u. a. Aufgabe von Journalisten, die für themenbezogene Magazine, Zeitschriften, Zeitungen oder auch für allgemeine Zeitungen und Zeitschriften mit bestimmten themenspezifischen Rubriken arbeiten. Sie sollen wissenschaftliche und damit fachliche Inhalte nicht nur Fachleuten, sondern auch Laien vermitteln. Wenn auch aufgrund des thematischen Schwerpunkts die Zielgruppe automatisch eingegrenzt ist, so wird sicher trotzdem davon ausgegangen werden müssen, dass - schon aus wirtschaftlicher Sicht - dabei stets versucht werden sollte, einen möglichst großen Personenkreis anzusprechen. Eine notwendigerweise heterogene Gruppe bringt unterschiedliche Voraussetzungen, das heißt unterschiedliche Vorkenntnisse, mit. Mit diesen inhaltlich divergierenden Kenntnissen müssten zwangsläufig auch verschiedene fachsprachliche Kompetenzen einhergehen. „Einige der wissenschaftlichen Fachsprachen sind nun, wie bekannt, mehr oder weniger formalisiert und haben sich in dieser Form sehr weit von der Gemeinsprache entfernt“ (Weinrich 1995, 6). Solch formalisierte Sprachen sind in ihrer Komplexität insgesamt v. a. aufgrund der bereits angesprochenen Heterogenität der Zielgruppe für die entsprechenden Zeitungen/ Zeitschriften sicher nicht geeignet und es müsste folglich größtenteils auf die Gemeinsprache zurückgegriffen werden 4 . Um fachliche Inhalte gleichzeitig aber auch kurz, prägnant und v. a. fachlich korrekt wiedergeben zu können, muss zumindest ein Teil der wissenschaftlichen Fachsprache, nämlich die Fachtermini, Eingang in die ansonsten oft eher an der Gemeinsprache orientierten Texte finden. An diesem Punkt setzt das Ziel dieser Untersuchung an: Der angeblich immer stärker werdende Einfluss des Englischen in der französischen Sprache allgemein, aber besonders in bestimmten Fachbereichen, wird häufig moniert. Daher bemüht man sich in Frankreich wie in kaum einem anderen Land durch gezielte Sprachnormierung diesem Einfluss Grenzen zu setzen. In Folge des Décret n°72-19 relatif à l'enrichissement de la langue française (07.01.1972) und der Loi n°75-1349 relative à l'emploi 4 „Die lexischen Mittel, derer sich der Journalist zur Erfüllung solcher Forderungen bedient, treten somit an den obersten Platz seiner journalistischen Aufgabe. Das heißt, bei dem Wortinventar muß es sich um Sprachzeichen handeln, die dem durchschnittlichen Zeitungsleser vertraut sind oder durch den Kontext hinreichend erklärt werden können; die differenziert genug sind, um Nuancierungen zu erlauben; die zeitgemäß und modern sind, um den Leser zu fesseln“ (Pfitzner 1978, 37). Tanja Oberhauser 216 de la langue française (Loi Bas-Lauriol, 31.12.1975) wurden Terminologiekommissionen eingesetzt, die verschiedene arrêtés zu unterschiedlichen (zum großen Teil fachsprachlichen) Wortschatzbereichen zusammengestellt haben 5 . Diese Wortschatzlisten der Commission générale de terminologie et de néologie wurden im Journal Officiel veröffentlicht und auch in Form von Wörterbüchern (Dictionnaires des termes officiels de la langue française) herausgegeben. Seit 2001 lassen sich alle Begriffe online in einer Datenbank abrufen (CRITER = Corpus du réseau interministériel de terminologie; seit 2007 unter dem Namen FranceTerme im Internet 6 ). Dort sind französische Entsprechungen zu Anglizismen unterschiedlichster Fachbereiche zusammen mit den entsprechenden Definitionen und dem Datum der offiziellen Veröffentlichung abrufbar. Dabei handelt es sich allerdings nicht um reine Empfehlungen, sondern um (in einigen Bereichen) obligatorisch zu nutzende Termini 7 . Es drängt sich dabei jedoch die Frage auf, ob sich denn der Sprachgebrauch tatsächlich durch gesetzliche Normen (vergleichbar industriell-technischen Normen) beeinflussen oder gar regeln lässt. Diese Normen sind ja nur für den direkt vom Staat kontrollierten Bereich [...] verpflichtend. Können Sie sich auch in den übrigen Bereichen der Sprachverwendung in gewissem Maß durchsetzen? (Ernst/ Wimmer 1992, 686). Dieser Frage soll im Folgenden am Beispiel des Bereichs Finanzen in der Wirtschaftsfachsprache nachgegangen werden. 1. Vorstellung des Korpus und der Ergebnishypothesen Vorkommen und Häufigkeit von 198 englischen finanzwirtschaftlichen Fachbegriffen aus der Datenbank FranceTerme und ihren französischen Entsprechungen (alle Termini aus dem Bereich Finance, die zum Zeitpunkt der Untersuchung in der Datenbank enthalten waren) wurden in 5 Cf. zur Sprachgesetzgebung in Frankreich: Schmitt 1990. 6 http: / / franceterme.culture.fr/ FranceTerme/ index.html (letzter Zugriff 07.05.2009) 7 „‚Ils devront être obligatoirement utilisés [...] dans les décrets, dans les arrêtés, circulaires, instructions et directives des ministres; dans les correspondances […] qui émanent des administrations, services ou établissements publics de l'État, dans les informations et présentations de programmes de radiodiffusion ou de télévision […] dans les ouvrages d'enseignement, de formation ou de recherche utilisés dans les établissements, institutions ou organismes dépendant de l'État, placé sous son autorité ou soumis à son contrôle ou bénéficiant de son concours financier à quelque titre que ce soi Journal Officiel‘ du 2 avril 1987“ (Ashley 1989, 26s.). Anglizismen in der französischen Wirtschaftsfachsprache 217 folgenden Zeitungen untersucht: Le Monde (Ausgaben vom 28.08.2008, 29.08.2008, 02.09.2008, 03.09.2008, 04.09.2008), La Tribune (Ausgaben vom 29.08.2008, 01.09.2008, 02.09.2008, 03.09.2008, 04.09.2008) und Les Echos - Le Quotidien de L'Économie (Ausgaben vom 29.08.2008, 01.09.2008, 02.09.2008, 03.09.2008, 04.09.2008). Neben Vorkommen und Häufigkeit soll außerdem der Frage nachgegangen werden, ob und bei welchen Begriffspaaren deutliche Präferenzen für den englischen oder den französischen Terminus bestehen und in welcher Form die fremdsprachigen Lexeme in den französischen Text eingearbeitet werden. Aufgrund der verschiedenen Vorüberlegungen zur Einbettung von Fachbegriffen in die Sprache der Fachpresse sind bezüglich dieser Untersuchung verschiedene Ergebnisse zu erwarten: I. Da der Bereich der Finanzen und das damit in Verbindung stehende Vokabular einem sehr starken anglo-amerikanischen Einfluss unterliegen (dies zeigt nicht zuletzt die sehr hohe Anzahl an Termini, die für diesen Bereich in FranceTerme aufgenommen wurden), sollten sich v. a. in den beiden auf Wirtschaft und Finanzen spezialisierten Zeitungen Les Echos und La Tribune eine große Zahl der 198 untersuchten Fachbegriffe nachweisen lassen. Die Tageszeitung Le Monde, die nicht ausschließlich die Themen Wirtschaft und Finanzen behandelt, ihnen jedoch eigene Rubriken zugesteht 8 , dürfte (relativ in Bezug auf die Seitenzahl betrachtet) weniger englische Termini verwenden, da das Zielpublikum aufgrund der behandelten Themenvielfalt weit heterogener zusammengesetzt ist und somit viele Leserinnen und Leser die Wirtschaftsanglizismen nicht kennen bzw. diese nicht ohne Erläuterung oder Übersetzung verstehen dürften 9 . II. Falls von der zuständigen Kommission aus journalistischer Sicht geeignete Ersatzbegriffe für die Anglizismen gefunden wurden, läge es aus pressesprachlichen Gründen nahe, dass beide Begriffe abwechselnd verwendet werden, da „die Einführung eines engli- 8 Économie et Finances; Économie et Média; Économie et Entreprises 9 „Die in einer Zeitung anheimgestellte Öffentlichkeitsarbeit wahrnehmen heißt in der Praxis, alle Bereiche des öffentlichen Lebens berücksichtigen […] Ein so umfangreiches Aufgabenprogramm erfordert einen Wortschatz, der oft sondersprachlichen Charakter tragen muß, der aber dennoch den nicht fachlich vorgebildeten Durchschnittsleser nicht überfordern soll“ (Pfitzner 1978, 46). Tanja Oberhauser 218 schen Terminus [...] die in einem längeren Artikel notwendige Variation [ermöglicht bzw. vereinfacht] [...]“ (Nikolay 1990, 254). Ob eine solche Variation als notwendig empfunden wird, hängt dabei sicherlich auch von der Zeitung bzw. der jeweiligen Rubrik ab. Je fachsprachlicher der Text sein soll, desto weniger Synonyme werden in der Regel gebraucht. „En principe, l'auteur de textes spécialisés ne cherche pas à ‚faire du style‘. Il écrit pour informer sur un fait concret ou sur l'avancement d'une recherche“ (Candel 1994, 72). III. Bei besonders ‚schwierigen‘ englischen Fachbegriffen 10 oder solchen, die erst seit kurzem im Sprachgebrauch verankert sind, werden entweder französische Termini verwendet oder die Anglizismen werden zusätzlich ersetzt bzw. erklärt. Dies dürfte - aus den bereits oben erläuterten Gründen - besonders für die Tageszeitung Le Monde gelten. IV. Um den Leserinnen und Lesern das Verständnis der fachlichen Inhalte in den Artikeln, Tabellen etc. noch weiter zu erleichtern, dürfte außer der Möglichkeit der Übersetzung/ Erklärung auch zu weiteren Mitteln gegriffen werden: Es gilt [...] den fremdsprachlichen und zugleich fachsprachlichen Charakter des verwendeten Ausdrucks dem Leser kenntlich zu machen, den Bedarf an zusätzlichem Bearbeitungsaufwand (Speichern, Kontextorientierung, Herstellung einer Verbindung mit Fachzusammenhang) zu signalisieren. Dies kann […] durch graphische Mittel (Anführungszeichen, Klammern, paarige Gedankenstriche) […] erreicht werden (Kovtun 2000, 45s.). 10 Zum Beispiel metaphorisch verwendete Begriffe wie haircut, Abkürzungen bei denen die ausgeschriebene Version nicht bekannt und/ oder sehr komplex ist wie LMBO (leveraged management buy-out) oder bei Fachwörtern, die zusätzlich zu ihrer fachlichen auch eine gemeinsprachliche Bedeutung haben wie splitting oder floor. Anglizismen in der französischen Wirtschaftsfachsprache 219 Abbildung 1 (cf. Anhang) zeigt eine Auflistung der im Korpus verwendeten Anglizismen bzw. französischen Termini, sowie die Anzahl der Belegstellen pro Zeitung sowie ihre Gesamtzahl 11 . 2. Englische und französische Wirtschaftsfachtermini im Korpus: Überprüfung der Untersuchungshypothesen 2.1 Anzahl der Anglizismen und französischen Entsprechungen im Korpus Die Tabelle zeigt, dass die erste Hypothese in Bezug auf das verwendete Korpus nicht verifiziert werden kann. Nur 27 der 198 untersuchten Anglizismen (13,6%) und 32 französische Entsprechungen (16,2%) wurden im Korpus verwendet. Dabei ist bei der Mehrzahl der Termini die Belegzahl so gering, dass sie als insignifikant betrachtet werden muss 12 . Bezieht man ausschließlich die Termini mit einer Mindestbelegzahl von 5 mit in die Untersuchung ein, verbleiben 10 Anglizismen (5,1%) und 20 französischen Begriffe (10,1%). Bei einer derart geringen Anzahl an Belegstellen ist es sehr schwierig, die tatsächliche Relevanz des Beitrags der Terminologiekommission zur Erarbeitung eines wirtschaftsfachsprachlichen Vokabulars einzuschätzen. Ein noch größeres Korpus mit weiteren Wirtschaftszeitungen oder -zeitschriften müsste herangezogen werden, um sichere Aussagen treffen zu können. Allerdings wird eines durchaus deutlich: Bei einer derart geringen Belegzahl in drei Tageszeitungen mit 11 Der Begriff écart konnte alleine in Les Echos 281 Mal gefunden werden. Aufgrund der unterschiedlichen fach- und gemeinsprachlichen Bedeutungen ist allerdings anzunehmen, dass écart nur selten in der Bedeutung des Finanzbereichs verwendet wurde. Stichproben haben diese Vermutung bestätigt, weshalb die 281 Belege nicht mitgerechnet werden. Auch andere Begriffe, wie zum Beispiel division oder transfert kommen noch in weiteren Bedeutungen im Korpus vor. Da hier aber eine deutlich geringere Zahl an Belegen ausgemacht wurde, konnten alle Fundstellen überprüft werden, so dass nur die Belegstellen mit finanzwirtschaftlicher Bedeutung mitgerechnet wurden. 12 Belegte Anglizismen mit weniger als 5 Belegen insgesamt: tracking stock, lease back, broker, interdealer-broker, MBS, leasing, tax cut, spread, offshore, trustee, trust, goodwill, haircut, junk bond, pricing, pool, blue chip; belegte französische Entsprechungen mit weniger als 5 Belegen insgesamt: capital-risque, crédit-bail, échange financier, fiducie, survaleur, fonds spéculatif, gestion de risqué, marché à terme, marché au comptant, négociant, prix demandé, resserrement de crédit. Tanja Oberhauser 220 hoher Auflagenzahl 13 , von denen zwei sich ausschließlich mit wirtschaftlichen Themenstellungen befassen, drängt sich die Frage auf, wie sinnvoll die Erarbeitung der französischen Ersatzbegriffe für Wirtschaftsanglizismen überhaupt sein kann. Die Fachbegriffe scheinen zu einem großen Teil so speziell, dass die Frage nach Ihrer Bedeutung oder Übersetzung nicht einmal für die auf das Thema spezialisierte Fachpresse relevant scheint. Wie bereits Ernst und Wimmer in ihrer Untersuchung von Fachbegriffen im Bereich Sport festgestellt haben, scheinen die untersuchten Begriffe „vor allem deswegen unnütz zu sein, weil [sie] in der Mehrzahl der Fälle offene Türen [einrennen]“ (Ernst/ Wimmer 1992, 695). Damit soll jedoch nicht angedeutet werden, Anglizismen würden in der aktuellen französischen Wirtschaftsfachsprache keine Rolle mehr spielen. Vereinzelte Begriffe und ihre Kurzformen wie z. B. PER (priceearning ratio) zeigen mit einem Vorkommen von 15 Belegstellen für die Lang-, 251 Belegstellen für die Kurzform und hingegen null Belegen für die von der Terminologiekommission vorgeschlagene französische Entsprechung coefficient de capitalisation des résultats (CCR), dass es bestimmte, bereits in der französischen Sprache lexikalisierte englische Fachbegriffe gibt, auf die man auch in der Presse nicht verzichten kann oder will. Ein weiteres Beispiel hierfür ist die Kurzform IBOR, welche besonders deutlich zeigt, warum die englische Variante der französischen geradezu vorgezogen werden muss: IBOR als Kurzform für interbank offered rate bietet weitaus mehr Wortbildungsmöglichkeiten als das französische Pendant TIO (taux interbancaire offert). Sowohl die englische als auch die französische Form kommen in der Regel nicht ohne einen Städtenamen vor. So spricht man zum Beispiel von PIBOR (Paris interbank offered rate) oder LIBOR (London interbank offered rate). Wie man sieht, muss lediglich der Name der Stadt vor den Terminus gestellt bzw. der erste Buchstabe zu Beginn der Kurzform angefügt werden. Bei der französischen Entsprechung gestaltet sich dies als weitaus schwieriger. Eine Möglichkeit die Städtenamen Paris oder London im französischen Ausdruck unterzubringen, wäre zum Beispiel: taux interbancaire offert à Paris bzw. à Londre. Dafür ist allerdings in der Datenbank FranceTerme keine Kurzform vorgesehen. Möglich wäre hierfür *TIOP bzw. *TIOL, 13 La Tribune: diffusion totale 2008: 81.937; Les Echos: diffusion totale 2008: 137.935; Le Monde: diffusion totale 2008: 340.131 (Association pour le contrôle de la diffusion des médias). Anglizismen in der französischen Wirtschaftsfachsprache 221 was dann allerdings nur noch als Siglenbildung und nicht mehr wie TIO als Akronym gelesen werden könnte. Im Verlauf der Analyse der in FranceTerme erfassten Wirtschaftstermini fanden sich auch viele weitere englische Fachbegriffe im Korpus wieder, für welche keine französischen Entsprechungen in der Datenbank der Terminologiekommission existieren. Dies unterstreicht auch bereits Ashley (1989, 54) in seinem Aufsatz Franglais and finance: managing the vocabulary of money: „Anyone familiar with the financial pages of the ordinary American newspaper will recognize, that the French officials seem to have missed a great many terms used here […]“. So findet sich im Korpus zum Beispiel der Begriff carry trade, welcher in FranceTerme nicht vermerkt ist 14 . Dieser wird von La Tribune im Satz selbst in Klammern bzw. im Nebensatz erläutert 15 : (2) C'est lui aussi qui encaisse les dividendes du plongeon du dollar australien, l'ex-monnaie phare du carry trade (les stratégies de portage basées sur les écarts de taux) (La Tribune 03.09.08, 17). (3) Il a fait voler en éclat les stratégies juteuses de «carry trade» consistant à profiter des écarts de taux entre les monnaies, qui avaient dominé le marché des changes durant une grande partie de son cycle de baisse (La Tribune 04.09.08, 19). Ein weiteres Beispiel stellt der Wirtschaftsterminus leveraged buy out (LBO) dar. In FranceTerme ist er nicht aufgelistet, stattdessen aber der erweiterte Fachbegriff leveraged management buy-out (LMBO) mit der französischen Entsprechung rachat d'entreprise par ses salariés (RES), welcher im Korpus nicht verwendet wurde. (4) Dans un environnement financier bousculé, l'organisation patronale s'est penchée sur des investisseurs très à la mode et souvent mal perçus: fonds souverains, hedge funds activistes et fonds de LBO (reprise d'entreprise avec effet de levier) (La Tribune 04.09.08, 22). 14 FranceTerme bietet jedoch die Möglichkeit, fehlende Anglizismen zusammen mit einer möglichen Definition einzureichen (Rubrik: Boîte à idées), um so die Lücken füllen zu können. Die Autorin hat dies beim Begriff carry trade versucht (10.04. 2009), jedoch bis jetzt noch keine Antwort erhalten. Bei der letzten Kontrolle der Homepage war das Wort auch noch nicht aufgelistet (21.05.2009). 15 Zur besseren Übersichtlichkeit wurden die untersuchten Begriffe einschließlich ihrer Übersetzungen/ Erläuterungen in allen Korpusbeispielen unterstrichen. Alle weiteren Hervorhebungen (Kursivsetzung oder Anführungszeichen) sind so im Original verwendet. Tanja Oberhauser 222 (5) Le fonds d'investissement britannique Candover voit de «très modestes» signes de reprise des acquisitions à effet de levier (LBO) en Europe, où sept transactions de plus de 1 milliard d'euros de valeur d'entreprise ont été enregistrées au deuxième trimestre, a déclaré, hier, son directeur, Colin Buffin (Les Echos 01.09.08, 28). (6) Selon le système dit de LBO (Leveraged Buy Out), le PDG du groupe a investi quelque 700 000 euros en 2004. Jackpot en 2008: 11,3 millions de retour sur investissement! (Le Monde 29.08.08, 17). Dieser Fachbegriff wurde von Les Echos und La Tribune übersetzt. Was jedoch verwundert und der ersten der Untersuchung zugrunde gelegten Hypothese widerspricht, ist, dass gerade die Nicht-Wirtschaftstageszeitung Le Monde den Begriff nicht in Klammern oder zwischen Gedankenstrichen etc. erklärt/ übersetzt, sondern lediglich die ausgeschriebene Version in Klammern hinzufügt. Zwar mag der Begriff im Sinnzusammenhang innerhalb des Artikels verständlich sein; dennoch ist - gerade weil die Abkürzung als offensichtlich nicht bekannt vorausgesetzt und deshalb in Klammern ausgeschrieben wird - die fehlende Übersetzung oder Erklärung gerade in dieser Tageszeitung überraschend. Als letztes Beispiel sei hier noch der in der Wirtschaftssprache sehr geläufige Terminus cash(-)flow erwähnt. 18 Belegstellen konnten im Korpus ausgemacht werden, zum Teil in der Verbindung free cash(-)flow. Auch hier bietet FranceTerme keine französische Alternative, obwohl die Übersetzung marge brutte d'autofinancement (MBA) auch in einschlägigen Wörterbüchern aufgelistet wird 16 . Im Korpus sind u. a. auch hybride Formen zu finden: (7) La direction a toutefois précisé qu'elle prévoyait toujours à moyen terme une croissance à deux chiffres du cash-flow net courant et une progression du dividende alignée sur la vigueur de ces mêmes cash-flows (La Tribune 01.09.08, 12). Übersetzungen oder Erklärungen von cash(-)flow sind im Korpus allerdings nicht dokumentiert. Dies lässt neben dem Eintrag von cash-flow im Wörterbuch 17 auf einen hohen Lexikalisierungsgrad und damit einherge- 16 PRob s. v. marge: „[…] 4. ÉCON. Différence entre le prix de vente et le coût (d'achat, de production). Marge commercial brute, nette. Taux de marge (cf. Taux* de marque). Marge brute d'autofinancement (M.B.A.) cash-flow […]“. 17 PRob s. v. cash-flow: „[…] mot angl., de cash ‚comptant‘ et flow ‚écoulement‘ […]“. Anglizismen in der französischen Wirtschaftsfachsprache 223 hend eine von Journalisten vorausgesetzte Kenntnis der Leserinnen und Leser schließen. Die Vermutung, dass in der Tageszeitung Le Monde relativ betrachtet weniger englische Fachbegriffe verwendet werden, kann an dieser Stelle nicht bestätigt werden. Bei insgesamt 37 Belegen auf 24 Seiten 18 kommt Le Monde auf rund 1,5 Anglizismen pro Seite. Les Echos nutzt auf insgesamt rund 180 Seiten 19 150 Wirtschaftsanglizismen aus FranceTerme, die in die Analyse einbezogen wurden. Das macht einen Schnitt von circa 0,8 Anglizismen pro Seite. Bei La Tribune finden sich auf 256 Seiten 20 358 der untersuchten Wirtschaftsanglizismen. Das ergibt folglich pro Seite einen Schnitt von 1,4 Anglizismen 21 . Wie lassen sich diese Zahlen erklären? Zunächst muss an dieser Stelle eingestanden werden, dass aufgrund der relativ geringen Gesamtbelegzahl davon ausgegangen werden muss, dass die Ergebnisse nicht ausreichend repräsentativ sind, um diese Frage zufriedenstellend erörtern zu können. Dennoch fällt der niedrige Durchschnittswert der Anglizismen pro Seite in allen drei Zeitungen ins Auge und verlangt nach einer Erklärung. Zum einen ist, wie schon zu Beginn der Untersuchung angemerkt wurde, festzuhalten, dass vieles dafür spricht, dass die in FranceTerme gesammelten Wirtschaftsfachbegriffe häufig einen sehr hohen Fachlichkeitsgrad aufweisen, der selbst den der Fachpresse oft übertrifft. Termini wie cross currency swap, crawling peg system, exchange traded fund, double dip etc. sind so ‚speziell‘, dass man sie wohl eher in Unterrichtsbüchern zum Finanzmarkt oder in wissenschaftlichen Fachaufsätzen zum Börsengeschehen vermutet. Zum anderen verwundern die ähnlichen Durchschnittswerte der Anglizismen pro Seite bei allen untersuchten Zeitungen. Erläutert oder übersetzt Le Monde eventuell die fremdsprach- 18 Hier können nur die Seiten in Le Monde mitgezählt werden, die sich mit dem Thema Wirtschaft befassen. Außerdem wurden auch einzelne Artikel mit wirtschaftsrelevanten Themen berücksichtigt, die in anderen Rubriken abgedruckt wurden. 19 Hier wurde die komplette Zeitung mit in die Untersuchung einbezogen (außer Werbe- und Firmenanzeigen sowie wörtlichen Zitaten). 20 Cf. Fußnote 19. 21 Es muss jedoch beim gesamten Korpus berücksichtigt werden, dass der Terminus PER (price-earning ratio) die Zahlen unverhältnismäßig in die Höhe treibt. Die Zahl der Belegstellen ist bei diesem Begriff deshalb so hoch, weil er sehr häufig mehrfach auf einer Seite in Tabellen und den entsprechenden Legenden verwendet wird. Würde man diese Ergebnisse nicht in die Untersuchung mit einbeziehen, so ergäbe sich folgendes Bild: Le Monde: 0,7 Anglizismen/ Seite; Les Echos und La Tribune: jeweils 0,6 Anglizismen/ Seite. Tanja Oberhauser 224 lichen Termini häufig und kann sich daher eine ebenso hohe Anglizismenfrequenz wie die Wirtschaftsfachzeitungen erlauben? Diese Erklärung würde nahe liegen, da dadurch einerseits die Fachlichkeit des Journalisten und damit auch der Wirtschaftsrubrik der Zeitung unterstrichen und gleichzeitig das Verständnis bei den Leserinnen und Lesern sichergestellt würde. Die Untersuchung der 3. Hypothese (Erläuterung bzw. Übersetzung von Anglizismen) wird diesen Punkt später noch einmal näher beleuchten. 2.2 Alternierender Gebrauch von englischen und französischen Fachtermini Als nächstes wird der mögliche alternierende Einsatz von englischen und französischen Wirtschaftsfachbegriffen überprüft. Betrachtet werden an dieser Stelle die Termini mit mindestens fünf Belegstellen und einem Verhältnis von englischem zu französischem Terminus, welches nicht über 2: 1 bzw. umgekehrt hinausgeht 22 . In allen anderen Fällen ist eine klare Tendenz zum Anglizismus bzw. zur französischen Entsprechung zu erkennen. Im Falle des Begriffspaares fixage/ fixing verwenden sowohl La Tribune als auch Les Echos beide Termini ausschließlich in Tabellen als Spalten- und Zeilenbeschriftungen bzw. als Legenden zu den Tabellen. Die Beispiele (8) und (9) zeigen die englische und französische Verwendung in La Tribune: (8) F: valeurs dites à faible liquidité dont le carnet d'ordres est géré en continu avec une confrontation lors de deux fixings à 10h 30 et à 16 heures (La Tribune 01.09.08, II). (9) Fixage cts/ oz. 1 372.00 + 1.14 (La Tribune 01.09.08, XVI). Der Ursprungshypothese, dass beide Begriffe eventuell abwechselnd gebraucht werden, kann allerdings nur bedingt zugestimmt werden, da ein alternierender Gebrauch in Tabellen/ Legenden wohl kaum darauf abzielen dürfte, der Leserin oder dem Leser eine abwechslungsreich formulierte Seite zu präsentieren. Gerade auf den Seiten mit Kursangaben etc. kommt es v. a. auf den Informationsgehalt und nicht auf die rhetorische Gestaltung an. Wieso dennoch in beiden Zeitungen sowohl der englische als auch der französische Begriff verwendet wird, ist hier nur schwer nachzuvollziehen. 22 Cf. Vorgehensweise in Ernst/ Wimmer (1992, 694). Anglizismen in der französischen Wirtschaftsfachsprache 225 Bei opérateur, -trice (de marché) versus trader liegt die Aufteilung etwas anders. Die weibliche Form opératrice wird nie verwendet, was sicherlich damit zusammenhängt, dass die Person selbst selten bekannt ist und daher die vermeintlich neutralere männliche Form bevorzugt wird. Die längere französische Version opérateur de marché wird nur vier Mal im Text verwendet (je zwei Mal in La Tribune und Les Echos). Bei den restlichen 30 französischen Treffern finden sich aber auch zwei weitere Wortbildungen: opérateur boursier (acht Mal in La Tribune, ein Mal in Les Echos) und opérateur de la Bourse (drei Mal in La Tribune). (10) Face à cet eldorado aux contours un peu flous, bon nombre d'entreprises préfèrent souvent son cousin Alternext, créé en 2005, qui a bénéficié d'un marketing plus agressif de la part de l'opérateur boursier transatlantique (Les Echos 04.09.08, 27). (11) Un seuil que ces établissements ne sont pas amenés à dépasser, la réglementation américaine interdisant aux sociétés de courtage de détenir plus de 20% d'un opérateur de Bourse (La Tribune 04.09.08, 20). Dieses Ergebnis zeigt, dass der empfohlene französische Terminus zwar bekannt ist, offensichtlich aber nicht als gelungen empfunden wird. Opérateur de marché hat den Nachteil, dass er länger ist als trader und somit dem Ökonomiestreben der Fachsprache 23 im Weg steht. Die kürzere Version ist aber auch nur bedingt geeignet, da sie bereits von anderen Bereichen ‚vereinnahmt‘ wird (opérateur de télécommunication, opérateur de téléphonie, opérateur immobilier, opérateur mobile, opérateur téchnique etc.). Dies würde die Wahl des englischen Begriffs trader erklären, der in den untersuchten Zeitungen ausschließlich im Sinne von ‚Börsenhändler‘ verwendet wird, also kein Polysemieproblem darstellt 24 . 23 „Hinsichtlich dieser fachsprachlichen Grundeigenschaften gibt es eine Reihe von Merkmalen, deren Existenz von allen Fachsprachenforschern bestätigt […] wird. […] Streben nach K ü r z e und S p r a c h ö k o n o m i e [Herv. im O.]: Auch dieser Punkt ist ein unbestrittenes Charakteristikum der Fachsprache […]“ (Ihle-Schmidt 1983, 22s.). 24 Dennoch wurde opérateur im Mai 2009 auf der Seite FranceTerme zum Wort des Monats gewählt: „L'étymologie soulève parfois des liens clandestins et compromettants. Le latin tradere, qui veut dire ‚livrer‘, a donné ‚traître‘ en français et trader en anglais qui, comme chacun sait, ne veut dire que ‚négociant‘. Ce voisinage embarrassant rappelle celui de ‚gangster‘ et du néologisme bankster, qui fait florès sur la toile anglophone, et pousse à proscrire le mot trader de notre belle et précise langue française, et à lui préférer le terme beaucoup plus convenable et désormais officiel d'opérateur [Herv. im O.]“. Tanja Oberhauser 226 (12) Maurel et Prom perd 36 millions d'euros à cause d'un trader (La Tribune 04.09.08, 23). Die Varianten opérateur de bourse und opérateur boursier sind allerdings nicht kürzer als opérateur de marché und werden trotzdem häufiger verwendet (12: 4). Hier haben sich offenbar bereits vor dem Vorschlag der Terminologiekommission andere Termini im usage etabliert und es wurde nur zusätzliche Konkurrenz zum Anglizismus - und gleichzeitig auch zu den bereits vorhandenen französischen Alternativen - geschaffen. In nur einem Fall wurde das Begriffspaar opérateur/ trader im gleichen Artikel gebraucht, so dass dort davon ausgegangen werden kann, dass der Autor den Text damit abwechslungsreicher gestalten wollte. Da es bei diesem Artikel auch mehr um ein Porträt einer Person 25 und nicht um ‚nackte Zahlen‘ geht, liegt es auch nahe, dass sich der Autor weniger auf fachsprachliche, denn auf pressespezifische Normen 26 einlässt. Beispiel (13) zeigt den ersten Teil des besagten Artikels: (13) EN VUE Jérôme Kerviel Chez Marie-Jo, le salon de coiffure de Pont-l'Abbé, est relié à la Société Générale par une mèche de dynamite qui s'appelle Jérôme Kerviel. La maman de l'opérateur qui a failli faire sauter la banque de la Défense exerça longtemps ses talents de coiffeuse dans cette bourgade; le papa, artisan forgeron, donnant de son côté des cours de chaudronnerie. C'est dans cet univers de petits artisans, entre parties de foot et leçons de judo, que se façonna la personnalité, plutôt renfermée et secrète, du trader le plus célèbre de France et même peutêtre de la planète (Les Echos 03.09.08, 32). In allen anderen Artikeln kam der Begriff entweder nur einmal vor oder es wurde kontinuierlich der Anglizismus oder die französische Entsprechung benutzt. Auch hier zeigt sich also eine klare fachsprachliche Tendenz, „[…] auf Synonyme (und Paraphrasen) [zu verzichten], um die höchstmögliche Klarheit und Unmißverständlichkeit eines Fachtextes zu gewährleisten“ 25 Jérôme Kerviel: Ehemaliger Börsenhändler der Société Générale, der mit Aktienfutures europäischer Börsenindizes handelte und für einen Verlust von rund 5 Milliarden Euro verantwortlich sein soll. 26 „Hier bietet sich der Anglizismus als Möglichkeit des Ausweichens auf ein anderes Sprachzeichen an, um der Wiederholung desselben Zeichens entgehen zu können […] Da es unter Umständen in einem längeren Zeitungsbericht unumgänglich ist, dass ein wichtiges Wort mehrfach wiederkehrt, ist der Journalist stets auf der Suche nach Synonymen“ (Pfitzner 1978, 153). Anglizismen in der französischen Wirtschaftsfachsprache 227 (Schröder 1994, 60). In diesem Zusammenhang stellt die Wiederholung bestimmter Schlüsselwörter folglich die thematische Textkohärenz sicher. Schließlich bleiben noch taux plafond versus cap (interest rate) zu betrachten: Taux plafond wird im Korpus ausschließlich in La Tribune und cap nur in Les Echos verwendet. Auch hier kann davon ausgegangen werden, dass der Autor mit Hilfe des stilistischen Mittels der Rekurrenz Textkohärenz zu schaffen sucht. 2.3 Einbettung der Anglizismen in den Text Wie bereits im Vorfeld zu vermuten, hat sich im Verlauf der Analyse ergeben, dass die 3. und 4. Hypothese in sehr engem Zusammenhang stehen. An vielen Stellen, an denen ein Begriff erklärt/ übersetzt wurde, fand auch gleichzeitig eine typographische Hervorhebung statt. (14) Connu pour avoir critiqué dans le passé les tax cuts (réductions fiscales) de l'ère Bush, le sénateur de l'Arizona estime, à présent, que leur arrêt entraînerait de fait une augmentation des impôts, éventualité irrecevable aux yeux de l'aile droite de son parti (Le Monde 04.09.08, 23). Beispiel (14) zeigt die Anwendung des Anglizismus tax cut zusammen mit der französischen Entsprechung réduction fiscale, welche von der Empfehlung in FranceTerme 27 abweicht. Der Ersatz von détente durch réduction scheint in diesem Zusammenhang nur allzu verständlich, da bei französischen Komposita i.d.R. réduction = ‚diminution‘, ‚compression‘, ‚dégraissage‘ als Determinatum verwendet wird: réduction des dépenses, réduction de la production, réduction du temps de travail 28 etc. Die französische Übersetzung réduction fiscale für englisch tax cut folgt hier also dem üblichen Wortbildungsmuster. Zusätzlich zur Übersetzung wurde der Fachbegriff außerdem kursiv gesetzt, was abgesehen von der Möglichkeit, den Terminus mit Anführungszeichen (cf. Beispiel (15)) zu versehen, in diesem Korpus häufig der Fall ist, um mit Hilfe typographischer Mittel den englischen Fachbegriff hervorzuheben. (15) Liberty Entertainment est actuellement coté en Bourse à travers des «actions miroirs» («tracking stocks»), qui permettaient à Liberty Media de mettre en exergue auprès du marché les performances de ses activités médias, tout en conservant la propriété de l'intégralité de leur capital (Les Echos 04.09.08, 20). 27 détente fiscale 28 Cf. PRob s. v. réduction Tanja Oberhauser 228 Bei Nummer (15) geht der Journalist genau den umgekehrten Weg und nutzt die englische Version tracking stocks als zusätzliche Information zu dem im Satz benutzten französischen Terminus actions miroirs. Offensichtlich konnte der Autor nicht davon ausgehen, dass tracking stock ausreichend bei den Leserinnen und Lesern bekannt ist (bei action miroir eventuell ebenso wenig) und bevorzugte daher den französischen Begriff, wollte gleichzeitig aber wohl nicht darauf verzichten, mit dem Einschub des Anglizismus dem Text ein gewisses Fachkolorit zu verleihen 29 . Bei der Entscheidung für den französischen Terminus wurde allerdings auch hier wieder der Vorschlag aus FranceTerme 30 übergangen und reflet durch miroir ersetzt. Eventuell hat sich der Autor in diesem Fall von der englischen Fachpresse leiten lassen, in welcher tracking stock mehrfach folgendermaßen paraphrasiert wird: „Tracking stocks mirror the performance of a business unit, but don't give investors real control“ 31 ; „[…] a leader in issuing tracking stocks to mirror the performance of individual company segments […]“ 32 . Auf diese Weise hat ihn to mirror vielleicht direkt zu miroir geführt. (16) Toutefois, alors que l'indice de la Bourse de Séoul abandonne maintenant 25,4% depuis le 1er janvier dernier, ramenant son coefficient de capitalisation des bénéfices 2008 (PER) en deçà de 10 fois, certains investisseurs pourraient revenir chasser les bonnes affaires (La Tribune 02.09.08, 17). In Beispiel (16) zeigt sich eine besondere Wahl beim Umgang mit Anglizismen und ihren französischen Entsprechungen: Im Satz wird ein mehrgliedriger französischer Ausdruck verwendet, ohne die entsprechende Kurzform zu erwähnen. Stattdessen folgt in Klammern die Kurzform des englischen Fachbegriffs, ohne dass dieser wiederum ausgeschrieben wird. Die ausgeschriebene französische Variante coefficient de capitalisation des bénéfices entspricht aber auch in diesem Beispiel wieder nicht dem Vorschlag in FranceTerme 33 . Als mögliche Kurzform (in Anlehnung an den Vorschlag in FranceTerme) hätte *CCB gewählt werden können. 29 „Zusammenfassend kann man also sagen, daß die Funktion des fachsprachlichen bzw. des professionellen Anglizismus im Kontext eines technischen oder wissenschaftlichen Zeitungstextes eine doppelte ist: erstens die begrifflich-thematische Benennung, und zweitens die konnotative Bewertung einer Sache durch seinen Gebrauch: beides erzeugt fachsprachliches Kolorit“ (Pfitzner 1987, 47s.). 30 action reflet 31 http: / / www.forbes.com/ 2000/ 04/ 27/ mu1.html (letzter Zugriff: 11.05.09) 32 http: / / money.cnn.com/ 1999/ 11/ 22/ companies/ att/ (letzter Zugriff: 11.05.09) 33 coefficient de capitalisation des résultats (CCR) Anglizismen in der französischen Wirtschaftsfachsprache 229 Stattdessen schreibt der Autor in Klammern dahinter PER 34 . Schon die Zahl der Belegstellen für PER in diesem Korpus (insgesamt 251 versus 0 für CCR) zeigt, dass diese Kurzform (wie im Übrigen auch die ausgeschriebene Variante) beim Zielpublikum der Zeitungen als bekannter Schlüsselbegriff vorausgesetzt wird und werden kann. Dass die französische Entsprechung aus FranceTerme nicht im Korpus auftaucht, ist sicherlich auch darin begründet, dass sich schon vor Veröffentlichung der offiziellen französischen Ersatzbegriffe andere Entsprechungen im usage etabliert hatten. (17) Conséquence, le groupe d'agroalimentaire et le fabricant d'équipements électriques disposent d'un «pricing power» (capacité à faire passer des hausses des tarifs) important (La Tribune 02.09.08, 12). Beispiel (17) zeigt schließlich einen Anglizismus in Anführungszeichen mit einer französischen Erläuterung in Klammern. Da nicht zuletzt weder pricing alleine noch pricing power als Kompositum im restlichen Korpus noch einmal auftauchen, können beide wohl nicht als relevante bzw. als bekannte Schlüsselbegriffe vom Autor vorausgesetzt werden, weshalb er sich trotz des Ökonomiestrebens der Presse und der Fachsprache gezwungen sah, den Fachbegriff um eine relativ lange französische Erklärung zu ergänzen. Besonders in der Zeitung Le Monde werden die wenigen vorhandenen Anglizismen meist typographisch hervorgehoben und/ oder übersetzt bzw. erklärt. Ausnahmen sind hierbei Anglizismen, die fast nur in Tabellen verwendet werden, wie PER oder IBOR und englische Begriffe, die den Leserinnen und Lesern geläufig sind, wie cash oder trader. Nummer (18) und (19) zeigen weitere entsprechende Beispiele: (18) Les erreurs du passé consistant à prêter trop avec des spreads - des écarts de taux par rapport aux emprunts de référence - trop faibles pèsent lourdement (Le Monde 28.08.08, 14). (19) Il doit une partie de sa fortune au rachat, en décembre 1992, du portefeuille d'obligations convertibles à haut risque (junk bonds) du Crédit lyonnais, qu'il a revendu avec une plus-value de près de 10 milliards de dollars (Le Monde 04.09.08, 14). Insgesamt konnten die 3. und 4. Hypothese also bestätigt werden. In vielen Fällen werden die englischen Fachbegriffe entweder übersetzt oder erklärt und/ oder typographisch hervorgehoben. Dies ist bei allen unter- 34 price-earning ratio Tanja Oberhauser 230 suchten Zeitungen - besonders aber bei Le Monde - der Fall. Ausnahmen sind v. a. geläufige Lexeme wie cash oder Anglizismen, die seltener im Fließtext und eher in Tabellen Verwendung finden (PER, IBOR in EURIBOR, PIBOR etc., oder fixing). Diese Ergebnisse in Le Monde geben damit auch Aufschluss darüber, weshalb - wie zu Beginn der Untersuchung festgestellt - die Durchschnittszahl der Anglizismen pro Seite in Le Monde nicht deutlich niedriger als in La Tribune oder Les Echos ist. Durch die zusätzliche Hervorhebung und Erläuterungen/ Übersetzungen wird eventuellen Verständnisschwierigkeiten bei der Leserin/ dem Leser vorgebeugt. 3. Schlussbemerkung Die Ergebnisse der Korpusanalyse haben gezeigt, dass die Mehrzahl der Anglizismen in FranceTerme zum Thema finances für die französische Wirtschaftspresse von eher untergeordneter Bedeutung sind. Mehr als 80% der aufgeführten Fachtermini werden im untersuchten Korpus nicht verwendet. Andererseits tauchen dort englische Fachbegriffe auf, für die wiederum in den Listen keine französische Entsprechung existiert und in einigen Fällen bevorzugen die Journalisten Übersetzungen, die von denen der Kommission abweichen. Es stellt sich also als äußerst schwierig, wenn nicht gar als unmöglich dar, die Sprachverwendung in Bereichen, die nicht staatlich kontrolliert werden können bzw. dürfen, in dem Maß zu beeinflussen, wie es sich die meisten Sprachpflegeorganisationen wünschen dürften. Die Wirtschaftsfachsprache in der Presse folgt ihren eigenen Regeln: Sprachökonomie, Kürze, Präzision, Kreation eines Fachkolorits und größtmögliche Verständlichkeit haben dabei oberste Priorität, unabhängig vom Standpunkt der Terminologiekommission. Wenn ein Anglizismus nach Meinung der Autoren sie eher zu den oben genannten Zielen führen kann als eine französische Entsprechung, wird dieser auch verwendet. Gelegentlich können diese Ziele aber auch im Widerspruch zueinander stehen. So kann die Kurzform eines Fachbegriffs zwar dem Wunsch nach Sprachökonomie und Kürze entsprechen, gleichzeitig muss aber auch bedacht werden, dass ohne die ausgeschrieben Form bzw. eine Erläuterung eventuell das Verständnis der Leserin/ des Lesers darunter leiden kann. Ähnliches gilt für die Schaffung von Fachkolorit. Auch hier muss darauf geachtet werden, dass der verwendete Fachbegriff tatsächlich verstanden wird. In solchen Fällen muss der Journalist seine Ziele abwägen und zu zusätzlichen Me- Anglizismen in der französischen Wirtschaftsfachsprache 231 thoden, wie typographischer Hervorhebung, Übersetzungen in Klammern etc. greifen, um den gewünschten Zweck, nämlich einem nicht reinen Fachpublikum fachliche Inhalte zu vermitteln, zu erzielen. Dabei sind die in der Datenbank FranceTerme gesammelten Begriffe offenbar nur bedingt eine Hilfe. Es wäre wünschenswert, wenn die Listen in Zukunft die einzelnen Bereiche in noch größerer Vollständigkeit erfassen würden und v. a. auch in noch stärkerem Maße die in der Presse gebräuchlichen Termini aufnehmen würden. Dies ist natürlich in einem Bereich, der schon immer und zurzeit ganz besonders einem starken Wandel ausgesetzt ist, nur sehr schwer umzusetzen 35 . Ein Schritt in die richtige Richtung ist hierbei die boîte à idées auf der Homepage FranceTerme, bei der neue Begriffe eingereicht werden können. Wenn es tatsächlich das Ziel der Terminologiekommission ist, einen Beitrag zur Optimierung fachsprachlicher Kommunikation zu leisten, wäre es außerdem sicher hilfreich, wenn einige Begriffe, die bereits in die Listen aufgenommen wurden, noch einmal überarbeitet werden würden. Besonders die Terminologisierung gemeinsprachlicher Begriffe wie échange oder écart, stellen ein Problem dar. Zwar ist es bei Anglizismen gelegentlich auch der Fall, dass ein Teil der Gemeinsprache als fachsprachlicher Begriff verwendet wird (zum Beispiel tombstone 36 ). Dies ist aber in einem französischen Text weniger gravierend, da dort in der Regel nur die fachsprachliche Bedeutung lexikalisiert ist. Diese und ähnliche Maßnahmen würden insgesamt sicherlich dazu beitragen, dass der Arbeit der französischen Terminologiekommission die so häufig angezweifelte Berechtigung wieder eher zugestanden wird. 35 Cf. zum Beispiel die Wortneuschöpfung bankster: „Words pop in and out of our language as social conditions change […] The word is bankster, derived by a marriage of banker and gangster“ unter: http: / / news.bbc.co.uk/ 2/ hi/ uk_news/ magazine- / 7861397.stm (letzter Zugriff: 09.05.09). 36 Französische Entsprechung in FranceTerme: faire-part de clôture/ avis de clôture; gemeinsprachliche Bedeutung in Langenscheidt s. v. tombstone: ‚Grabstein‘. Tanja Oberhauser 232 4. Literaturverzeichnis: 4.1 Korpus La Tribune, N° 3985, 29.08.2008, 30.08.2008; N° 3986, 01.09.2008; N° 3987, 02.09.2008; N° 3988, 03.09.2008; N° 3989, 04.09.2008. Le Monde, N° 19778, 28.08.2008; N° 19779, 29.08.2008; N° 19782, 02.09.2008; N° 19783, 03.09.2008; N° 19784, 04.09.2008. Les Echos - Le Quotidien de L'Économie, N° 20246, 29.08.2008; N° 20247, 01.09.2008; N° 20248, 02.09.2008; N° 20249, 03.09.2008; N° 20250, 04.09.2008. 4.2 Sekundärliteratur Aufsätze, Monographien, Sammelbände, Wörterbücher: Ashley, Leonard R. N., Franglais et finance. Managing the vocabulary of money, in: Geolinguistics 15 (1989), 23-56. Bungarten, Theo (ed.), Wissenschaftssprache. Beiträge zur Methodologie, theoretischen Fundierung und Deskription, München, Wilhelm Fink Verlag, 1981. Candel, Danielle, Sur l'introduction des mots nouveaux dans des contextes spécialisés, in: Peder Skyum-Nielsen/ Hartmut Schröder (edd.), Rhetoric and stylistics today, Frankfurt am Main et al., Peter Lang, 1994, 71-79. Ernst, Gerhard/ Wimmer, Evelyn, ‚forfait‘ oder ‚walk over‘ für das Französische? Zum ‚Arrêté relatif à la terminologie du sport‘, in: Claudia Blank (ed.), Language an civilization. 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FranceTerme: http: / / franceterme.culture.fr/ FranceTerme/ index.html (07.05.09). Tanja Oberhauser 234 Abbildung 1: Anglizismen und französische Entsprechungen im Korpus ID Französische Begriffe LT 37 LE 38 LM 39 Gesamt Englische Begriffe 1 action reflet tracking stock 1 1 2 avertissement (sur les résultats) 4 (0) 6 (0) 10 (0) profit warning 3 banque de détail 7 18 25 retail banking 4 capital-risque 3 1 4 venture capital 5 carnet d'ordres 5 1 6 book-building 6 cession-bail/ location avec option d'achat (LOA) lease back 1 1 7 coefficient de capitalisation des résultats (CCR) price-earning ratio (PER) 5 (206) 5 (30) 5 (15) 15 (251) 8 courtier 10 22 4 36 broker 1 1 2 9 courtier interprofessionnel interdealer-broker 1 1 10 couverture 5 1 6 hedging 11 créance hypothécaire titrisée (CHT) mortgage-backed security (MBS) 0 (2) (0) 2 12 crédit-bail/ location avec option d'achat (LOA) 1/ 0 (0) 1/ 0 (0) leasing 1 1 2 13 détente fiscale tax cut 1 1 14 division 13 2 15 splitting 15 écart 25 [281] 1 26 [307] spread 3 3 16 échange (financier) 1 (0) 2 (0) 3 (0) swap 7 15 22 17 espèces/ comptant 5/ 26 0/ 10 5/ 36 cash 4 4 1 9 18 extraterritorial off-shore/ offshore 0/ 2 0/ 2 37 La Tribune 38 Les Echos 39 Le Monde Anglizismen in der französischen Wirtschaftsfachsprache 235 19 fiduciaire trustee 1 1 20 fiducie 1 1 trust 1 1 21 fixage 15 5 20 fixing 10 5 15 22 flottant 3 3 6 floating 23 fonds commercial/ survaleur 0/ 1 0/ 1 goodwill 1 1 24 fonds indiciel coté exchange traded fund (ETF)/ index tracking fund/ tracker (fund) 0 (5)/ 0/ 0 (0) 0 (5)/ 0/ 5 (0) 0 (10)/ 0/ 5 (0) 25 fonds spéculatif 2 1 3 hedge fund 20 8 28 26 gestion de risque 1 1 risk management 27 jour le jour (au) 1 6 7 overnight 28 marché à terme 1 5 6 forward market 29 marché au comptant 3 3 spot market 30 marché baissier 1 1 bearish market 31 marge de sécurité haircut 3 3 32 négociant 3 3 dealer 33 niche fiscale 5 6 2 13 (tax) loophole 34 notation 35 9 2 46 rating 1 6 7 35 obligation à haut risque junk bond 1 1 2 36 opérateur, -trice (de marché) 16 (2) 14 (2) 30 (4) trader 4 13 2 19 37 partie prenante 1 1 stakeholder 38 prisée pricing 1 1 39 prix demandé 2 2 asking price 40 prix offert 2 3 5 bid price 41 resserrement de crédit 1 1 credit crunch 42 retrait obligatoire 3 4 7 squeeze out Tanja Oberhauser 236 43 syndicat de prise ferme/ tour de table pool/ underwriting group 2/ 0 2/ 0 44 taux interbancaire offert (TIO) interbank offered rate (IBOR) 0 (95) 40 0 (42) 41 0 (5) 42 0 (142) 43 45 taux plafond 6 6 cap (interest rate) 5 (0) 5 (0) 46 taux plancher 5 5 floor (interest rate) 47 teneur de marché 1 1 market maker 48 titrisation 4 1 1 6 securitisation/ securitization 49 transfert 4 2 1 7 assignment 50 valeur de premier ordre blue chip 1 1 51 valeur vedette 1 1 glamour stock 52 zone euro 78 67 15 160 euro area/ euro zone/ single currency area 40 80-mal EURIBOR; 6-mal EUROLIBOR; 9-mal PIBOR. 41 32-mal EURIBOR; 10-mal LIBOR. 42 5-mal EURIBOR. 43 117-mal EURIBOR; 6-mal EUROLIBOR; 9-mal PIBOR; 10-mal LIBOR. Werner Forner Syntax der Quantifikation Französisch-Deutsch 1. Zwei Ausdrucksformen? Im Olympischen Jahr 2008 sind quantitative Messungen, Vergleiche, Steigerungen besonders frequent; die moderne olympische Devise 1 citius altius fortius ist weltweit in aller Munde, eine Internet-Recherche zu [toujours] plus haut bringt unzählbar viele Belege für Zitate oder Abwandlungen dieses olympischen Komparativs, nicht nur in adverbialer Position, sondern auch als Attribut 2 . Plus haut ist auch als Prädikat, in Verbindung mit einem Verb der Fortbewegung, durchaus geläufig: (1) Pour aller plus haut, aller plus haut, Où l'on oublie ses souvenirs Aller plus haut, aller plus haut Se rapprocher de l'avenir. (Tina Arena 2006) Dies ist der Refrain in Tina Arenas chanson-phare aus dem Jahr 2006. Der Komparativ plus Bewegungsverb scheint der denkbar natürlichste Ausdruck der Steigerung zu sein: (1') aller + Komparativ (plus haut) Steigerung bzw. Minderung ist das, was im vorliegenden Aufsatz mit „Quantifikation“ gemeint ist. Von Steigerung oder Minderung ist auch in vielen Wissenschaften die Rede, überall da, wo statistische Angaben als Grundlage der Reflexion 1 Zur Geschichte der Devise, dieser Aufforderung zur permanenten Überbietung, die mit der antiken Ablehnung allen Übermaßes kaum zu vereinen ist, cf. www.sport.unimainz.de/ mueller/ Texte/ DIDON.pdf. 2 Nur zwei von vielen Beispielen: In attributiver Position kann der Kongruenz- Zwang des Französischen übergangen werden, z. B. titelt die LCR (Ligue Communiste Révolutionnaire, portail) „Inflation toujours plus haut“. Und in France Diplomatie wird ein Dossier über „ L 'Afrique en mouvement“ überschrieben mit „L'Afrique, plus haut, plus vite, plus sport “ (http: / / www.diplomatie.gouv.fr/ fr/ archiveslabel-france_5343/ les-numeros-label-france_5570/ lf61-afrique-mouvement_12521/ dossier-afrique-mouvement_12522/ afrique-plus-haut-plus-vite-plus-sport_26151.html). Werner Forner 238 verwendet werden, z. B. in wirtschaftswissenschaflichen Disziplinen. Den Ausdruck aller plus haut suchen wir dort aber vergebens. Der folgende Le Monde-Artikel enthält zahlreiche Alternativen: (2) I Hausse de l'emploi de 4% entre 2002 et 2007, très inférieure à la période 1997-2002 LEMONDE.FR | 20.08.08 | 07h28 • Mis à jour le 20.08.08 | 15h17 L'emploi dans le secteur privé a progressé de près de 4% entre 2002 et 2007 en France (673 000 emplois créés), un chiffre nettement inférieur à la hausse de 14% enregistrée entre 1997 et 2001, selon un bilan publié mercredi 20 août. Ce fléchissement correspond au ralentissement économique observé depuis 2001, qui a davantage affecté ‚l'emploi et la masse salariale (...) que le PIB‘, observe l'Agence centrale des organismes de Sécurité sociale (Acoss), qui publie ces chiffres. II Le retournement conjoncturel de 2001 a vu la croissance de l'emploi chuter d'un rythme annuel moyen de 3,3% sur la période 1997-2001 à 0,9% en 2002 et 0,1% en 2003 3 . Die quantifizierenden Ausdrücke habe ich kursiv gedruckt. Wir finden nie den analytischen Komparativ, stattdessen finden wir Verben (incl. Adjektive) und Nomina: (2') - Steigerung: progresser de + Q (= Quantität); hausse de + Q; croissance - Minderung: chuter de + Q; [être] inférieur à Q de Q; fléchissement; ralentissement ferner: affecter; retournement Die Ausdrucksmittel in (1') versus (2') divergieren - die Sprache variiert zwischen zwei Ausdrucksformen für denselben Inhalt. Ist diese Divergenz auf der Ausdrucksseite stilbildend? Unterscheidet sie Fachstil von einem nicht-fachlichen Sprachstil? Das könnte man vermuten, wenn die 3 Übersetzung: I Das Stellenangebot im privatwirtschaftlichen Bereich ist in Frankreich im Zeitraum zwischen 2002 und 2007 um nahezu 4% angewachsen, aber diese Zahl liegt deutlich unter der Steigerung um 14% zwischen 1997 und 2001, wie eine Bilanz vom 20. August ausweist. Dieser Rückgang korrespondiere mit dem Abflauen der Wirtschaftskraft seit 2001; und darunter habe der Stellenmarkt und die Lohnkosten stärker zu leiden als das BIP, behauptet die Agentur Acoss, von der auch diese Zahlen stammen. II Im Rahmen des Konjunkturumschwungs von 2001 sank der Arbeitsplatz-Zuwachs abrupt vom bisherigen Jahresdurchschnitt (3% im Zeitraum 1997-2001) auf 0,9% im Jahr 2002 und auf 0,1% 2003. Syntax der Quantifikation Französisch-Deutsch 239 Variante (1') ebenso allgemein gelten würde wie die Konkurrenzvariante (2'). Das Gegenteil ist im heutigen Französisch der Fall: Diese Variation ist heute nahezu eingeschränkt auf genau den zitierten Ausdruck. aller plus bas sagt man kaum noch, descendre ist das normale Verb, auch in der Alltagskommunikation 4 . Es handelt sich hier im Französischen um Relikte aus einer alten Variation. Synthetische Verben wie monter, descendre kontrastierten stilistisch bis ins 16./ 17. Jh. mit dem Typ aller plus haut, aller plus bas; dieser Kontrast markierte damals das français soigné - analog zum heutigen Italienisch salire vs. andar su. Im heutigen Französisch kann man von Variation zwischen analytischen vs. synthetischen Verben kaum noch sprechen. Zu Beginn des 20. Jh. hat sich auf der Basis des français soigné eine neue Stildifferenzierung herausgebildet, nämlich zwischen Fachstil und nicht-Fachstil. Der Fachstil des 20. Jh. ist markiert durch ein Subsystem von - nur - vier textsyntaktischen ‚Metamorphosen‘ 5 . Diese vier Stil- Umwandlungen sind natürlich auch für die Quantifikation zugänglich bzw. funktional. Es wäre reizvoll, für jede einzelne Transformation deren Beitrag zur Quantifizierung 6 zu verfolgen. Aber dieses Ziel muss hier zurückstehen gegenüber der kontrastiven Zielsetzung. Die bisher genannten Verben aller, monter, descendre, chuter sind Verben der Ortsveränderung, der Bewegung. Was hat Bewegung/ Ortsveränderung mit Quantifizierung zu tun? 4 Beweis: Eine Internetrecherche liefert zu aller plus bas ein vergleichsweise schmales Korpus, das nur 0,05% der Belege für aller plus haut umfasst (nämlich 40.800 (aller plus bas) gegenüber 73.300.000 (aller plus haut). Google.it hingegen meldet für andar giù 200 mal mehr Belege (692.000; für andar su übrigens [nur! ] 8.390.000 Belege d. h. 8,3%)! Das Spanische hingegen kennt nur den synthetischen Typ (u. a. subir, bajar). 5 Fachsprachlich markierend wirken: 1. Relationsverben; 2. Nominaleinbettung; 3. Analytismen; 4. Relationsadjektiv. Ein Lehrbuch zur Mechanik plus Funktion dieser fachsprachlichen Umformungen ist Forner 1998. Die fachsprachliche Markierungsfunktion dieser vier Text-Transformationen ist rezent: Fachtexte waren bis Ende des 19. Jh. textuell nicht distinkt von literarischer Elaboration (Kaehlbrandt 1989). Zu den genannten heutigen Textmarkierungen kommen spezifische Nominationstechniken (Forner 2000b, 2008 für Französisch bzw. Spanisch). Diese sind von der Antike geerbt. Zur Diachronie der textuellen sowie der nominativen Merkmale cf. Forner (2006). 6 U. a. profitiert die Korrelation (je ... desto ...) von den fachsprachlichen Markierungen, cf. Forner (1995). Werner Forner 240 2. Quantifizierung als Bewegung Quantifizierung vollzieht sich in unserer Vorstellung räumlich, und zwar in einem Quadranten des Koordinatensystems, viele Autoren haben darauf hingewiesen 7 : Eine Sache, die größer wird, hat nach einer gewissen Zeit (X-Achse) einen höheren Wert (Y-Achse) als zuvor. Jede quantitative Steigerung spielt sich zwischen der Wert-Achse und der Zeit-Achse ab, zwischen einer Y- und einer X-Achse. Quantifizierung als Veränderung im cartesischen Raum: Dies ist eine so eingebürgerte Metapher, dass wir sie gar nicht mehr als solche bemerken. Die Wertsteigerung erscheint in diesem Koordinatensystem als Kurve, als WEG, den der zunehmende/ abnehmende Gegenstand entlang WANDERT - „Weg, wandert“: Da sind wir bei der Bewegung, die einen WEG von einem Anfangspunkt A zu einem Zielpunkt Z beschreibt. (3) Koordinaten der Quantifikation Y = WERT Z A X = ZEIT Zwischen den beiden Punkten A und Z in unserem Quadranten sind verschiedene Wege denkbar: Der Weg kann kontinuierlich ansteigen (a) (wie 3) oder kontinuierlich fallen (b) oder gleichbleibend verlaufen (c), der Weg kann (d) Höhen und Tiefen beschreiten, also im Zickzack verlaufen, es können auch (e) zwei Wege sein, die entweder auseinander streben oder konvergieren. (4) Z A A Z A Z A Z Z 1 A Z 2 a b c d e Alle diese Topographien im Quadranten werden nicht selten durch Bewegungsverben abgebildet. Dabei kann an Bewegung zu Land, zu Wasser 7 Schifko (1992, 560ss.); Lavric (1998, 158-166); dort auch Untersuchungen zu wieteren metaphorischen Bereichen. Syntax der Quantifikation Französisch-Deutsch 241 oder in der Luft gedacht sein. Diese Bewegungsverben kann man in einem Katalog der Ausdrucksmittel versammeln. Derartige Kataloge liegen vor fürs Französische und Spanische 8 , ich begnüge mich daher hier mit ein paar Kostproben zu jedem der in (4) hergestellten Fälle (a bis e): (5) Topographische Abbildungen der Quantifikation a monter, progresser, gagner du terrain, grimper en flèche, s'envoler, se redresser / la montée, etc., b chuter, dégringoler, chanceler / la chute, etc., c maintenir, stabiliser, aligner / stabilisation, etc., a-b-c atteindre Z, passer de A à Z, d flotter (entre X et Y ), osciller (entre X et Y / autour de X), e l'emporter sur, s'écarter / l'écart (entre Z 1 et Z 2 ; de Z 1 avec Z 2 ), f (Metaphern: ) l'explosion, la flambée, le resserrement, la spirale, tirer (sc. sur la corde) (cf. Text (10)), le tassement, montagnes-russes 9 , volatilité (vol. record) Viele Metaphern (5-f) setzen eine Entwicklung im Raum voraus und können daher (müssen aber nicht) den genannten topographischen Prädikaten zugeordnet werden. Es gibt aber auch topographisch indifferente Ausdrücke (cf. (6-a)), auch nicht-räumliche Metaphern sind nicht selten (6-b). Es mag genügen, an dieser Stelle darauf hingewiesen zu haben. (6) Topographie-indifferente Ausdrücke a augmenter, s'accroître / baisse, diminution, ... b (Metaphern: ) asphyxier, faire fleurir, pénaliser, rogner, éclatement (sc. de la bulle de), absorber, gripper (cf.: la grippe ‚Kolbenfraß‘). Die in (3-4-5) illustrierte zweidimensionale Basis ist vermutlich die Erklärung für zwei auffällige Ausdrucksformen: 1. Die Zeitachse kann metonymisch die Wertachse vertreten: Änderungen der Geschwindigkeit wie z. B. ralentir sind im Französischen 10 absolut üblich für Änderungen der Wertentwicklung (cf. (7-a)), ohne dass 8 Zum Französischen: Lavric (1998, 161-166); zum Spanischen: Lavric (2001, 224ss.), Lavric/ Weidacher (1998, 89-91). 9 faire les m.-r., jouer les m-r, jouer aux m-r, être en m-r, terminer en m-r (diverse Internetquellen). 10 Ganz analog Italienisch rallentare, ritardare, frenare; accelerare, raddoppiare (De Mauro 2000, s. v. rallentare). Span. retrasar + Quantität meint hingegen im Allgemeinen eine zeitliche Verzögerung. Werner Forner 242 dem Sprecher die physikalische Formel für Geschwindigkeit (Weg durch Zeit) bewusst sein müsste. 2. Dieselbe Formel erklärt auch den Gebrauch der Präposition sur für Zeitangaben, der auch im Ausgangstext (2) erscheint (wiederholt in 7-b); dieser Gebrauch ist, vermute ich, der Sprache des Dividierens entborgt, ‚zwei Drittel‘ heißt ja deux sur trois: (7) Quotient y/ x a freiner, ralentir - ralentissement / accélérer - accélération b chuter de A sur la période 1997-2001 à Z 1 en 2002 et Z 2 en 2003 (cf. Text 2, 10) b' chuter sur une période P - chuter en 2002 sur als Markierer von [komplexeren] Zeitangaben ist in französischen Wirtschaftstexten üblich, wird aber in Grammatiken und in Wörterbüchern (noch) nicht erwähnt; diese Verwendung scheint jung zu sein. Die Präposition sur war auch vorher nicht arbeitslos (8). Dass die temporale Funktion sich noch zusätzlich etablieren konnte, mag erstaunen, auch wenn die temporale Funktion durch die Semantik des Nomens gesichert ist. (8) nicht-lokale Funktionen von sur l'impôt sur le revenu, une baisse sur le prix de X, le choc pesant sur l'économie 3. Vektor und Skalar (7-b) illustriert zugleich - so scheint es zunächst - die Syntax der ‚Bewegung‘: chuter de A à Z; die Markierung der Endpunkte mit den Präpositionen de, à entspricht der Erwartung; dass die Bewegung von A bis Z durch Bewegungsverben wie aller, monter, chuter ausgedrückt wird, ebenfalls. Im Deutschen, so scheint es, verwenden wir ganz analog die Präpositionen von - auf: ‚von A auf Z steigen/ fallen‘. Wir werden sehen: So einfach ist die Sache nicht. Zu dieser vektoriellen Beschreibung, die also die Veränderung als Weg/ Richtung interpretiert, kann eine skaläre Beschreibung kommen. Diese abstrahiert vom Weg und registriert nur den Umfang der Wertveränderung auf der Y-Achse. Das Deutsche besitzt für diese skalare Angabe eine eigene Präposition: um. ‚Ein Wert steigt oder sinkt um 5 Syntax der Quantifikation Französisch-Deutsch 243 Punkte‘. Nennen wir diesen zweiten Quantitätstyp U-Quantor. Auch den U-Quantor können wir in dem Koordinatensystem illustrieren: (9) Koordinaten der Quantifikation Y = WERT Z A U X = ZEIT Deutsch: ‚um U von A auf Z‘ Quantifizierung bedeutet also zweierlei: die vektorielle Angabe über den zurückgelegten Weg und die skalare Angabe über die Wertveränderung. Diese Zweiteilung fällt uns im Deutschen gar nicht auf, denn wir können beide Typen von Quantifikation in einem einzigen Ausdruck vereinen: ‚Der Wert steigt um U von A auf Z‘. Die romanischen Sprachen hingegen tun sich damit nicht so leicht. Schauen wir uns unter diesem Aspekt die Fortsetzung des Textes (2) an! (10) II a b c d e Hausse de l'emploi de 4% entre 2002 et 2007, très inférieure à la période 1997-2002 Le retournement conjoncturel de 2001 a vu la croissance de l'emploi chuter d'un rythme annuel moyen de 3,3% sur la période 1997-2001 à 0,9% en 2002 et 0,1% en 2003. Les créations d'emploi se sont ensuite progressivement redressées pour atteindre un rythme de 1,6% en 2007, soit la plus forte hausse depuis 2002. Une relative embellie qui a été largement tirée par les métiers de la construction et dans une moindre mesure par les services. En cinq ans, le salaire moyen per capita a par ailleurs crû de 13,9%, pour atteindre en moyenne 2 136 euros par mois en 2007. Avec une inflation de 8,7% sur la même période, le pouvoir d'achat moyen a donc augmenté de 5%. Untersuchen wir diesen Textausschnitt 11 einmal rückwärts! 11 Übersetzung: (a) Im Rahmen des Konjunkturumschwungs von 2001 sank der Arbeitsplatz-Zuwachs abrupt vom bisherigen Jahresdurchschnitt (3% im Zeitraum 1997-2001) auf 0,9% im Jahr 2002 und auf 0,1% 2003. (b) Erst danach stieg die Schaffung neuer Arbeitsplätze allmählich wieder an, und zwar im Jahr 2007 um Werner Forner 244 Er endet (Satz e) mit X a augmenté de 5% - ‚X stieg um 5%‘. Die Präposition für den U-Quantor ist offenbar de. Dieselbe Präposition war oben (vorläufig) auch für den Ausgangspunkt A beansprucht worden - wie passt das zusammen? Liegt hier ein kommunikativer Notfall vor? Dann suchen wir - wie seiner Zeit Gilliéron oder Bréal - nach dem ‚Heilmittel‘, das die Sprache zu bieten hat. 4. Ein syntaktisches Ausweichmanöver? Ein erstes ‚Heilmittel‘ ist trivial: Man kann natürlich auf eine der beiden quantitativen Informationen verzichten. Beispiel ist der zitierte Satz (10e), wiederholt in (11-a). Ein zweites ‚Heilmittel‘ finden wir gleich im vorausgehenden Satz (10-d): Auch hier ist der U-Quantor mit de eingeführt, und gleich darauf folgt die Information zum Zielpunkt Z: Sie folgt in Form eines [reduzierten] Satzes: ... pour atteindre Z (cf. infra (11-b)). Für diese Ausgliederung der vektoriellen Information in ein zusätzliches Prädikat stehen weitere Verben zur Verfügung, wie wir sehen werden. Am beliebtesten ist passer de A à Z: passer ermöglicht es, beide vektoriellen Eckpunkte zu nennen. Ein drittes ‚Heilmittel‘ arbeitet ebenfalls mit zwei Prädikaten, aber es kehrt die Verteilung um: Dann erscheint der U-Quantor im zusätzlichen Prädikat. Damit der U-Quantor als solcher erkennbar ist (also von Z distinkt ist), muss er entsprechend benannt werden. Das geschieht häufig durch das Nomen rythme. Ein Beispiel dafür ist der zweite Teil von Satz (b) in (10), wiederholt in (11-c). (11) Vektor UND Skalar im Französischen: drei ‚Hilfsmittel‘: a (Verzicht: ) augmenter de U (Satz e) b (Ausgliederung Z) croître de U, pour atteindre Z (Satz d) croître de U en passant de A à Z (etc., cf. infra 31) c (Ausgliederung U) se redresser (à Z), (Satz b) pour atteindre un rythme de U eine Quote von 1,6%, das war der stärkste Zuwachs seit 2002. (c) Eine relative Schönwetterlage, an der vor allem das Baugewerbe, in geringerem Umfang auch das Dienstleistungsgewerbe mitgewirkt haben. (d) In 5 Jahren stieg das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen um 13,9% auf ein durchschnittliches Monatseinkommen von 2.136 € im Jahr 2007. (e) Bei einer gleichzeitigen Inflationsrate von 8,7% stieg folglich die durchschnittliche Kaufkraft um 5%. Syntax der Quantifikation Französisch-Deutsch 245 Den U-Denominator rythme finden wir auch schon in Satz (a) von Text (10) - aus gutem Grund: Hier geht es um eine Entwicklung, die von einem ursprünglichen U-Quantor zu einem späteren U-Quantor führt: Die beiden U-Quantoren sind also Anfangsbzw. Zielpunkt (A bzw. Z). Sie sind dementsprechend, wie erwartet, mit de/ à markiert. Die in (11) präsentierten drei Strategien sanieren einen Notfall (Vermeidung der Mehrdeutigkeit von de). Diese Détresse-Erklärung erscheint zunächst sehr einleuchtend. Es ist die Erklärung, die Eva Lavric (1998, 170s.) bemüht. Das Französische sei im Vergleich zum Deutschen durch eine „präpositionelle Insuffizienz“ (ib.) gekennzeichnet, und diese zwinge zu den - „komplizierten“ - Lösungen in (11). Diese Analyse erklärt zugleich, warum im Deutschen eine analoge Suche entfällt. Für Deutsche ist dieser Sprachkontrast immer wieder ein Handicap: Er führt zu typisch ‚fachsprachlichen Fehlern‘ vom Typ (12), sei es beim freien Redigieren 12 , sei es beim Übersetzen 13 . (12) Fachsprachlicher Fehler: X steigt um U von A auf Z * X croît de U de A à Z In kontrastiver und fremdsprachen-pädagogischer Hinsicht ist die Détresse-Analyse sicher nützlich. Aber ist sie ein hinreichendes Erklärungsmodell für die in (11) skizzierte französische (bzw. romanische! ) Ausdrucksform? Ist es denkbar, dass eine Sprache als ‚Hilfsmittel‘ eine syntaktische bzw. textsyntaktische Metamorphose kreiert, nur um eine fehlende Präposition auszugleichen? Gerade das Französische ist mit Homonymien vertraut, und gerade die Präposition de ist in puncto Polysemie nicht gerade unschuldig: De ist Genitivmorphem (und vertritt bei deverbalen Nominalisierungen entweder das Subjekt oder das Objekt des Basissatzes), es steht nach vielen Quantitätsangaben (beaucoup de ...), es leitet (als être de ...) Quantitätsangaben ein. Diese verschiedenen Funktionen von de sind untereinander durchaus nicht inkompatibel (13-a). Übrigens auch die Präposition à (auch in der Position vor einem Quantor) kann sehr unterschiedliche Bedeutungen/ Funktionen haben (13-b): 12 Forner (2000a, 151): Es handelt sich um einen in den französisch-sprachigen Abschlussarbeiten im Siegener Studiengang Maschinenbau für Internationale Projektierung immer wiederkehrenden Fehler. 13 Lavric (1988, 489); Fandrich (1991, 53, 72s., 100s.). Truffaut (1971, 89ss.) gibt mehrere Beispiele im Kapitel VI La préposition. Werner Forner 246 (13) Nominalisierung: -a X relève le taux de 5% d'un demi point le relèvement d'un demi point du taux de 5% -b des volumes commercialisés en recul de 3 à 4% (‚Rückgang um 3 bis 4%‘) Le SMI clôture en recul de 0,65% à 5.842,34 points (# clôturer à+Z; [être] en recul de+U). Im Laufe der französischen Sprachgeschichte wurden ohne Weiteres zusätzliche Homonymien aufgenommen - wie jüngst die oben besprochene zusätzliche temporale Funktion von sur -, bzw. es wurde der vorhandene lexikalische Bestand mit zusätzlichen Funktionen belegt, oder es wurden neue lexikalische Einheiten kreiert. Wäre es z. B. nicht viel bequemer gewesen, die vorhandene - ursprünglich temporale - Präposition depuis um eine der beiden quantitativen Funktion zu erweitern? Die räumliche Bedeutung (Ausgangspunkt) ist dieser Präposition nicht fremd: „Depuis le haut jusqu'en bas: de haut en bas“ (PRob, s. v.). Skeptisch stimmt auch ein Blick in die romanischen Nachbarsprachen: Das Spanische beispielsweise drückt die beiden Quantifizierungstypen genauso wie das Französische durch zwei Prädikate aus, obwohl es - wie Lavric/ Weidacher (1998, 84s.) betonen - über sogar fünf distinkte Markierungen verfügt, nämlich über vier Präpositionen (de, desde, hasta, a) und außerdem über Null für den U-Quantor 14 : (13-c) Spanische Markierungen de, desde + A; hasta, a + Z; de, NULL + U Skepsis gegenüber der Explikation als Evasion ist aus diesen Gründen angebracht. Es ist aber nicht zu bestreiten, dass die Sprache zu analogen „Ausweichmanövern“ greift; die sind natürlich am deutlichsten bei variationsbedingten Textmetamorphosen. Davon sollen im folgenden Abschnitt zwei Beispiele gegeben werden. 14 Beispiel (aus Lavric/ Weidacher 1998, 84s.): los beneficios aumentaron el 15% - „el 15%“ antwortet auf die Frage um wie viel? , ist also ein [prepN] mit prep=NULL. Die Autoren allerdings sehen hier (statt NULL) eine spezifische Funktion der Artikel, „y que parecen cumplir la función de preposición“. Syntax der Quantifikation Französisch-Deutsch 247 5. Analoge Fälle Zwei Typen von emergency-Lösungen sollen hier vorgestellt werden, ein lexikalischer und ein textstruktureller Typ. Bleiben wir bei der Präpositon de: de kann genitivisch sein: Es hat dann die Funktion, ein Nomen N 2 an das vorausgehende Nomen N 1 anzubinden ([N 1 de N 2 ] NP ); de kann aber auch valenziell sein (V de NP), z. B. dépendre de, dissuader de. Die Textkonstitution wirkt hier disambiguierend. Nun gibt es Transformationen, die die Textkonstitution total modifizieren. Dazu gehören insbesondere die erwähnten fachsprachlichen Textmetamorphosen (cf. supra §1, n. 5): Da mutieren - wie die Derivationen in (14) verdeutlichen - adverbiale Relationen zu Verben (cf. (14-a)), Verben zu Nomina (14-b); Verben und Nomina können zu Analytismen (c) erweitert werden, adnominale Nomina können adjektiviert (d) werden. Diese kategorialen Mutationen können dazu führen, dass z. B. das valenzielle de ersetzt werden muss (e), weil es sonst genitivisch verstanden würde. Hier ein altes 15 Beispiel, das die zwar komplexe, aber regelmäßige Transformation eines unmarkierten in einen fachsprachlich markierten Text präsentiert; der Text (in beiden Varianten) besteht aus drei Sachverhalten (S 1 , S 2 , S 3 ) und einer adverbialen Relation (R, final): (14) Le gouvernement propose aux immigrés la mesure M S 1 afin de R les dissuader de faire immigrer leurs familles. S 2 S 3 S 1 R S 2+3 15 Das authentische Endprodukt lautet: „Leur logement remplit des fonctions dissuasives à l'égard de l'immigration familiale ...“. Die ‚Verfachsprachlichung‘ geschieht in vier Schritten (a-d, cf. Anm. 3); diese sind jeweils kursiv hervorgehoben: a Ausdruck der Relation durch ein Relationsverb; b Ausdruck der Sachverhalte durch Nominaleinbettung; c Ersatz des Verbs durch einen Analytismus; d Ersatz des Nominalattributs durch ein Relationsadjektiv. Ausführliche Herleitung cf. Forner (1998, 6-12). Werner Forner 248 -a M vise à dissuader les immigrés de faire immigrer -b M vise à la dissuasion de l'immigration -c M a une fonction de dissuasion de l'immigration -d *M a une fonction dissuasive de l'immigration -e M a une fonction dissuasive à l'égard de l'immigration Hier (in e) wird einfach eine Präposition durch eine andere [komplexe] Präposition ersetzt. Ursache ist zwar offenbar ein Strukturzwang, aber es handelt sich hier nicht um den Ersatz durch eine alternative Satzstruktur. Aber auch Ersatz-Strukturen können im Rahmen der variationellen Derivation notwendig werden, um die Textdetermination zu sichern. Bleiben wir bei der ‚genitivischen‘ Funktion von de. Diese kann (bei deverbalem N 1 ) einem logischen Subjekt oder auch auch einem logischen Objekt entsprechen: Das klassische amor dei erlaubt beide Interpretationen (‚genitivus subjectivus‘ vs. ‚objectivus‘) (cf. (15-a)). Wenn aber beide Interpretationen an der Textoberfläche gleichzeitig erscheinen sollen (b), dann muss zu einer alternativen Struktur (c) gegriffen werden: Hier handelt es sich nicht um einen lexikalischen Ersatz (de : par); denn für (15-c) ist die passivisierte Variante (15-0') die regelhafte Basis. (15) -0 Pierre répare la moto. + CELA prendra du temps. -a La réparation de la moto / la réparation de Pierre + prendra du temps. -b *La réparation de Pierre de la moto + prendra du temps. -c La réparation de la moto par Pierre + prendra du temps. -0' # La moto est réparée par Pierre. + CELA prendra du temps. Diese Flucht zur Ersatzstruktur (zum Passiv) ist ganz offensichtlich durch die Inkompatibilität der beiden Funktionen nur einer Präposition ausgelöst. Dennoch ist dies nicht analog zu dem zuvor beobachteten Phänomen. Denn die Passivierung existiert völlig unabhängig von dem kommunikativen Notstand; der Notstand führt nicht zur Schaffung einer neuen Struktur, sondern zur Auswahl aus einem bestehenden Reservoir äquivalenter Strukturen, das völlig unabhängig von dem Notfall besteht. Wir müssen uns also fragen, ob die bei der Quantifikation (§ 4, Bsp. 11-12) beobachtete Restrukturierung ebenfalls in einem ‚bestehenden Reservoir äquivalenter Strukturen‘ bereits vorgegeben ist. Oder ist die beobachtete ‚Insuffizienz‘ der französischen Präpositionen vielleicht ganz anders und dann allgemeiner zu erklären? Ist das ‚Ausweichmanöver‘ überhaupt syntaktisch bedingt? Syntax der Quantifikation Französisch-Deutsch 249 6. Ein semantisches Defizit? Ein Defizit - jedenfalls in kontrastiver Sicht - scheint auch Louis Truffaut (1971, 93, 96) den französischen Präpositionen zuschreiben zu wollen, allerdings als semantische Tendenz und nicht als syntaktischen Mechanismus: Der semantische Bezug zwischen Verb und Gegenstand werde im Deutschen häufig durch ein Präposition, im Französischen durch „grammaticalisation“, also durch die Verbvalenz ausgedrückt; dementsprechend habe die deutsche Präposition mehr und vom Verb unabhängige Ausdruckskraft: Truffaut spricht von dem „aspect cinétique“ (ib. 96), der der deutschen Präposition innewohne; im Französischen werde die Kinese entweder in Statik umgewandelt (16-a) oder dieses Defizit werde durch ein zusätzliches Verb ‚kompensiert‘ (16-b): „(...) la préposition allemande, susceptible de recevoir l'accent, se suffit le plus souvent à elle-même (...). Le français emploie fréquemment un mot-appui qui étoffe la préposition et compense l'absence d'accentuation ou de cas“ (ib. 89). Die französischen Präpositionen gehorchen also dem Verb bzw. dessen Valenz, während die deutschen Präpositionen eine stärkere semantische Eigenständigkeit zu besitzen scheinen. Wir werden sehen (§ 7, u. a. bei den deutschen Partikelverben), dass die Empirie diese Sicht zu stützen scheint. (16) ‚Etoffement‘ (Truffaut) -a Er nahm ein Buch vom Tisch Il prit un livre sur la table. -b Schwimmkräne heben ungeheure Güter, Lokomotiven, Lastwagen, in den Bauch der Schiffe. Des grues flottantes lèvent des colis énormes, des locomotives, des camions, pour les laisser glisser dans le ventre des navires. -b' heben + in = vertikal + horizontal = lever + glisser dans -c Ein verdächtiger Mann mit grüner Jacke, schwarzen Schuhen und grauem Hut wurde in diesem Viertel gesehen. Un suspect, vêtu d'une veste verte, chaussé de souliers noirs et coiffé d'un chapeau gris a été aperçu dans ce quartier. -c' [NP + Adv.Best.] NP [NP + [V + Adv.Best.]] NP Bei (16-b) handelt es sich um zwei Richtungen: einmal die vertikale Richtung, ausgedrückt durch das Verb heben, und zweitens die horizontale Richtung ‚von außen nach innen‘, ausgedrückt im Deutschen nur durch eine Präposition, in. Im Französischen muss die zweite Richtung Werner Forner 250 durch ein weiteres Verb - nicht wie im Deutschen nur durch eine zweite Präposition - ausgedrückt werden. Schuld daran sei, so Truffaut, die abweichende semantische Konstitution der Präpositionen in den beiden Sprachen. Es geht bei diesem Beispiel zwar nicht um die beiden Quantifikationstypen (skalar versus vektoriell), aber vermutlich hätte Truffaut auch diesen Sprachkontrast der Logik des ‚étoffement‘ zugeordnet. Ich halte das für eine gute Fährte. Aber die Analyse bedarf einer Korrektur; und die ergibt sich aus dem Vergleich der beiden Sätze (16-b) vs. (16-c). In (16-c) sind die drei zusätzlichen Verben in der französischen Übersetzung nicht durch eine abweichende Richtung motiviert, sondern aus der syntaktischen Struktur der Subjekt-Nominalphrase. Diese läuft der französischen Logik zuwider: Im deutschen Text werden drei adverbiale Bestimmungen durch mit an das Regens angeschlossenen, also adverbiale Bestimmungen fungieren als Attribut zu einem Nomen. Diese Verbindung aus attributiver und zugleich adverbialer Funktion ist im Deutschen unproblematisch, im Französischen gilt sie seit 4 Jahrhunderten als contradictio in adiecto: Denn eine adverbiale Bestimmung hat - per definitionem - die Funktion, ein Verb zu bestimmen; da wo kein Verb ist, MUSS folglich eins eingefügt werden. In (16-c) handelt es sich also tatsächlich um ein verbales ‚Ausstopfen‘: das ‚Ausstopfen‘ einer syntaktischen Verbindung, die anders nicht gesellschaftsfähig ist. (16-b) hingegen ist anders gelagert: Hier handelt es sich um zwei Richtungen (um zwei prepN). Im Deutschen kann die zweite Richtung durch einen präpositionalen Ausdruck an das Verb angegliedert werden, im Französischen hingegen erfordert jede Richtung ein eigenes Verb; das Deutsche (wie auch weitere germanische Sprachen, cf. infra) amalgamiert zwei Richtungen in nur EINEM Prädikat, die romanischen Sprachen können das nicht. Der Begriff étoffement illustriert zwar hervorragend das Phänomen (16-c), aber für (16-b) ist diese Benennung nicht angemessen. Und jedenfalls gehören die beiden nicht in denselben Topf. Im Folgenden will ich diesen Typ von semantischem Amalgam näher beleuchten, natürlich mit dem Ziel, anschließend festzustellen, ob die oben beobachtete Behandlung der Quantifikation diesem Phänomen zugeordnet werden kann. In dem Fall wäre die französische Lösung nicht eine strategische Kreation ex nihilo. Syntax der Quantifikation Französisch-Deutsch 251 7. Biprädikation Der Name Biprädikation steht in einigen wenigen kontrastiven Studien 16 für die Verschmelzung von zwei Prädikationen (I, II in 17) in nur ein Prädikat (‚Bi‘ in 17). Ich gebe zunächst drei Beispiele: (17) Biprädikative Konstrukte (I) X V I M V II Relation -a I Sie walkte den Teig. } Resultat II Der Teig wurde dünn. Bi Sie walkte den Teig dünn. -b I Tom fuhr sein Auto. } Resultat II Sein Auto ging zu Bruch. Bi Tom fuhr sein Auto zu Bruch. -c I Er rannte. } Resultat II Er wurde müde. Bi Er rannte sich müde. Die amalgamierten, mit ‚Bi‘ gekennzeichneten Sätze (17-a, b, c) greifen jeweils das Verb aus Prädikation I auf und verwandeln dessen Valenz 17 . 16 François (1989, 344), Pouradier Duteil/ François (1981). Die Beispiele in (17) stammen (mit Veränderungen) aus François (1989, 345s.). Aus einzelsprachlicher Perspektive sind Amalgame - jedenfalls bei semasiologischem Approach - nicht leicht zu erkennen: Der germanistischen Forschung scheint sich der biprädikative Charakter solcher Konstrukte nicht oder kaum erschlossen zu haben. Bei onomasiologischer Betrachtung (Typ: Wie wird die Verbindung aus {I + II + resultative Relation} ausgedrückt? ) wäre das Amalgam als solches erkennbar. Der Kontrastivik und Übersetzungswissenschaft war die deutsche Biprädikation relativ früh (im Prinzip) bekannt. Beispiel: Zum Thema Prädikat I plus ‚Richtung‘ legt Frauendienst (1935) ein umfangreiches Korpus deutscher literarischer Texte mit französischer Übersetzung vor. Ihre Analyse: Das Deutsche „darf es sich erlauben, zu einem Satzgebilde, das zu seiner Fertigkeit keinerlei Richtungsangaben bedarf, in kühner Weise, fast mit einer Kontamination zweier Gedankengänge (...), doch eine Richtungsangabe hinzuzufügen. Das Französische dagegen, bei seiner ängstlichen Wahrung der grammatischen und logischen Regeln, darf nicht ebenso handeln“ (ib., 29). Werner Forner 252 Dies tun sie, wie es zunächst scheinen kann, über den Mittelbegriff (M): In den Beispielen (a, b) ist M das Objekt, in Beispiel (c) das Subjekt (daher das Reflexivum sich). Ist der Mittelbegriff der Auslöser der Verschmelzung? Ist die Verschmelzung gewissermaßen eine Verkürzung, eine logische Summe der Rektionen der beiden Verben (V I , V II )? (18) Verschmelzung (17) I X V I M *Funktionsverb, Prädikativum, o. Ä. II M V IIa = FV* V IIb = Präd* Bi X V I M V IIb Tom fuhr sein Auto zu Bruch. Nein, der gemeinsame Mittelbegriff M ist nicht die Vorbedingung; denn es gibt auch Amalgame ohne Mittelbegriff: (19) Biprädikative Konstrukte (II) X V I M V II Relation -d I Tom fuhr . --- } Resultat II Ein Mann war tot. Bi Tom fuhr einen Mann tot . -e I D. Wind weht. --- } Resultat II D. Haar kommt + ihr in d. Mund. Bi D. Wind weht ihr das Haar in den Mund. (19) zeigt, dass die Rektion der beiden Verben (V I , V II ) nicht kompatibel sein muss. Bedingung der Verschmelzung ist einzig die semantische 17 Ob es sich um erweiterte Valenz handelt, oder um zusätzliche freie Angaben, ist diskutabel: Prädikat I beweist jeweils die Weglassbarkeit der zusätzlichen Elemente, Prädikation II beweist deren Satzwertigkeit. Beides spricht - nach den Kriterien z. B. von Helbig/ Schenkel (1973, 30ss.) - für die Analyse als freie Angaben. Andererseits sind im vorliegenden Fall die zusätzlichen Elemente nicht ‚frei‘, sondern streng an die Valenz des verschmolzenen zweiten Prädikats gebunden. Bei plurivalentem V II sind die zusätzlichen Argumente nicht weglassbar, z. B.: *Der Wind wehte ihr das Haar. ist falsch (cf. infra die Erweiterung in 23! ). Die germanistische Forschung zu den Resultativkonstruktionen spricht hier i. Allg. von Valenzerweiterung; m. E. zu Recht, allerdings müsste präzisiert werden, dass diese Erweiterung durch die biprädikative Amalgamierung bedingt ist. Syntax der Quantifikation Französisch-Deutsch 253 Relation zwischen I und II: Prädikation II ist immer das Resultat von Prädikation I; z. B. Typ (c): ‚Er rannte so schnell/ so lange/ ..., dass/ bis er müde wurde‘. Wir sprechen daher von Resultativkonstruktionen. Betrachten wir nun die Verben der beiden Einzelprädikationen: V I ist eine Handlung oder ein Vorgang. Als Zustandsverb ist V I nicht belegt. Die Handlungsverben können transitiv oder intransitiv sein (a, b vs. d). Die Prädikate V II sind zweiteilig: Kopula oder Funktionsverb plus Prädikativum. Diese Prädikate II sind entweder Zustände oder Vorgänge, je nach Paraphrasierung auch Handlungen 18 . Die Subkategorien von V II scheinen folglich für die Amalgamierung keine Rolle zu spielen. Die Biprädikation drückt immer eine Veränderung (V II ) aus, die aus einer Handlung oder einem Vorgang (V I ) resultiert. Biprädikation findet sich auch häufig bei den sogenannten Präfix- und Partikelverben; dort funktioniert sie analog: (20) Biprädikative Konstrukte (III): -f Ich habe in 13 Jahren ein blühendes Industrieunternehmen erschuftet und erschwitzt, in 13 schweren Jahren aus Schutt und Trümmern erschaffen. -g und trotzdem (...) haben sie ihn erstochen. -h Sie (…) sperrte die Tür auf. (Zitate: Simmel, zit. n. François 1989, 356-57) -i Sie sperrte Fritzchen aus. -f' Ich habe so sehr geschuftet, dass ein blühendes X besteht / entstanden ist. -g' Sie haben so sehr auf ihn eingestochen, dass er gestorben ist. -h' Sie betätigte das Schloss, so dass die Tür auf ging (geöffnet werden konnte). -i' Sie betätigte das Schloss, so dass Fritzchen draußen bleiben musste. Wenn wir die Verben der Paraphrasen I und II (in 17 bis 19) mit den biprädikativen Verben in (20) vergleichen, so entdecken wir dieselben Ergebnisse wie vorher: Der Nachsatz beinhaltet auch hier regelmäßig einen Vorgang/ Zustand; wie zuvor ist Prädikation I ein Handlungsverb, das transitiv oder intransitiv sein kann. Auch hier ist die Relation zwischen den beiden Prädikaten resultativ. Wie in (17, 19) ist die Valenz des biprädikativen Verbs erweitert. Der Unterschied liegt darin, dass Prädikation II hier nur noch durch die Partikel (bzw. das Präfix) ausgedrückt wird. Nun sind die Partikeln unsichere Gesellen: Das präfigierte erhat in beiden 18 Man könnte z. B. Satz -d auch so paraphrasieren: Fritz fuhr so wild, dass er einen Mann getötet hat. Werner Forner 254 Fällen (-f, -g) perfektive Bedeutung, aber die Perfektion ist sehr unterschiedlicher Natur: In -f geht es um einen erfolgreichen Schöpfungsakt, in -g um denTod des Opfers. Das Präfix erkann darüber hinaus auch inchoativ sein (z. B.: erblühen, erschauern, erstarren). Eine verwirrende Bedeutungsvielfalt! Analoges gilt für alle Partikel- und Präfixverben: Für die Verben mit präfigiertem ausbietet Hundsnurscher (1968) eine Typologie von 88 Bedeutungstypen, die er 15 semantischen Kategorien zuordnet! Die jeweilige semantische Interpretation der Partikel ist weitgehend lexikalisiert: erim Sinne von Verlust des Lebens ist bei Verben des Verletzens die normale Interpretation (wie: jem. erschießen, erwürgen, erstechen, erschlagen, erdrosseln, ersäufen, ...), während der Schöpfungsgedanke bei Verben vom Typ ‚beschaffen‘ häufig ist (z. B.: etw. erringen, erwirken, erkämpfen, erwirtschaften, erbetteln, ..., Beispiele z. T. aus François 1989, 357), oder sogar durch die Partikel in diesen semantischen Typ umgeschaltet wird (sich etwas ersaufen, erschleichen, erschwindeln, ersitzen, erstellen). Die Partikeln besitzen einerseits „einen relativ selbständigen Status und sogar ein semantisches Übergewicht“ 19 , so wie es Truffaut ja für die deutschen Präpositionen diagnostiziert hat (cf. supra § 6); andererseits ist die Partikel „eine synsemantische, keine autosemantische Größe“ (Hundsnurscher 1968, 144, 147). Partikel- und Präfixverben sind häufig biprädikativ verwendbar, die Biprädikation ist in germanischen Sprachen gerade durch diese starke Verbgruppe ein häufiges Phänomen 20 . Dennoch sind nicht alle Anwendungen dieser Verben biprädikativ. 19 Das ist comunis opinio seit Schottelius, der 1663 schrieb: „Der Vorwörter in Teutscher Sprache ist eine ziemliche Menge und deroselben Wirkung und Kraft überreich und fast unvergleichlich“ (von Hundsnurscher 1968, XVIII als ‚Motto‘ vorangestellt). 20 Die zahlreichen germanistischen Arbeiten zu den diversen Resultativkonstruktionen gehen - soweit ich sehe - auf die biprädikative Basis nicht ein. Oft wird nur die Kombinierbarkeit der unterschiedlichen Richtungsangaben festgestellt, so - übrigens einzig beim Verb einsteigen - in Helbig/ Schenkel (1973, 238 - Anm.): Die beiden Präpositionalphrasen mit in und mit durch „können kombiniert werden: ‚Er steigt durch das Fenster in das Zimmer ein‘“. Einige weitere Belege sind in die Simplicia eingeordnet. Dabei hat es Ansätze zu einer biprädikativen Deutung schon früh gegeben: Hundsnurscher (1968, 100-102) spricht von „zwei Bedeutungsprägungen“ (bei Präfixverben wie aus-tröpfeln), ferner auch von der resultativen Relation zwischen den zwei „Prägungen“: die erste (-tröpfeln) gebe an, „auf welche Weise“ (ib. 100) die zweite (aus- = leeres Gefäß) passiert. Kempcke (1965, Fortsetzung 1967) erklärte die Partikelverben als „Verschmelzungsprodukte der selbständigen Bedeutungen von Partikel und Verb“ (zit. n. Hundsnurscher Syntax der Quantifikation Französisch-Deutsch 255 Vieldeutig sind nicht nur die Partikeln bzw. Präfixe. Auch die Relation zwischen den beiden Prädikationen beherbergt unterschiedliche Nuancen, mehr als der Oberbegriff Resultat vermuten lässt. Wenn Tom sein Auto zu Bruch fuhr (cf. supra (17-b)), so ist das Autowrack zwar das Resultat; aber ist es das Resultat aus Toms Geschwindigkeit oder aus Toms Wildheit? Oder ist seine Zerstreutheit schuld? Oder lag es an den Straßenverhältnissen? Mit etwas Phantasie ließe sich die Liste der denkbaren Ursachen erheblich erweitern. Der biprädikative Satz informiert uns nicht näher. Bei einer textuellen Paraphrase (die sich also nicht auf die Paraphrase der beiden Prädikationen beschränkt, sondern auch die Relation zum Ausdruck bringt) sind wir jedoch oft gezwungen zu präzisieren: Tom fuhr {so schnell/ so wild/ so betrunken/ auf so glatter Straße/ ...}, dass sein Auto zu Bruch ging. Diese Unterscheidungen, die das Sprachsystem außerhalb der biprädikativen Konstruktionen bereit hält, fallen der Biprädikation zum Opfer: Die Biprädikation neutralisiert die Opposition zwischen den möglichen Ursachentypen; sie begnügt sich mit der Benennung des Resultats. Die Biprädikation (Typ 17, 19, 20) ist eine Leistung der germanischen Sprachen: Neben dem Deutschen ist sie auch z. B. im Niederländischen und Englischen geläufig: (21) engl. a Tim licked the plate clean. b He was laughed out of that habit. nl. c Hans schudt sijn broer wacker (alle Bsp. aus François 1989, 361s.). Die romanischen Sprachen (außer Rätoromanisch) kennen diese semantosyntaktische Amalgamierung nicht. Sie kennen folglich auch nicht die Neutralisation der Resultat-Typen. Die deutschen biprädikativen Ausdrücke müssen daher, um übersetzbar zu werden, in zwei Prädikate mit 1968, 143). Dies setzt die Hypothese von Wellander (1911) fort, der die ‚freie‘ Zusammenfügung der beiden Prädikate für den chronologischen Ursprung der Präfixverben (mit ab-) hält, der moderne Gebrauch erkläre sich durch Lexikalisierung dieser ursprünglichen Verschmelzung (nach Hundsnurscher 1968, 144). Eine biprädikative Basis scheint Weinrich (1993, 1050) bei den Konstruktionen mit Prädikatsadjektiv vorzuschweben: Dort sei „das adjektivische Nachverb Prädikatsadjektiv einer Objekt-Prädikation. Es bezeichnet nämlich eine Eigenschaft, die dem Objekt zugesprochen wird “ . Werner Forner 256 den - nur vermuteten - Resultat-Typen rück-transformiert 21 werden, um überhaupt übersetzbar zu sein: (22) a Ich habe Jean wach gerüttelt. a' Ich habe Jean so {Ø 1 / lange 2 / heftig 3} gerüttelt, bis / dass er wach wurde. b 1 J'ai secoué Jean / en le réveillant = / si bien qu'il s'est réveillé = ... / , ce qui l'a réveillé. 2 J'ai secoué Jean jusqu'à ce qu'il se réveille = jusqu'à ce que je l'aie réveillé. 3 J'ai tellement secoué J. qu'il s'est réveillé = jusqu'à ce que je l'aie réveillé. = J'ai réveillé Jean à force de le secouer. Natürlich gibt es auch über die bloße Rücktransformation hinausgehende analytische Lösungen 22 . Wiederholend lässt sich - aus der Analyse der Beispiele (17-19-20) - Folgendes festhalten: Die Biprädikation Bi ist ein Wunderwerk der Wortbildung und Syntax, und zwar in dreierlei Hinsicht: (23) Biprädikation, Zusammenfassung -a Bi fasst in einem Verb zwei Prädikate und die Relation (Resultat) zusammen: V I und V II V {I+II} fahren und tot (sein) tot-fahren stechen und Todesfolge er-stechen Die semantische Vereinigungsmenge ist hier morphologisch markiert durch ein präfigiertes Element. 21 Terminus technicus von Nida/ Taber (1969): back-transformation - ein zu Unrecht in Vergessenheit geratener Begriff der Übersetzungswissenschaft. Dieser ist insbes. bei markierten Texten nützlich, weil da der Ausdruck vom Inhalt durch einen längereren transformationellen Weg separiert ist, wie oben in § 5 (14, 15). Das Konzept bedeutet, dass dieser Weg rückwärts beschritten wird, bis zu einer Ebene, die übersetzbar ist. Diese Technik ist unerlässlich für manche fachsprachlich stark markierte Texte - Beispiel cf. Forner (2000c). 22 Aus der französisch-spanischen Kontrastivik von Hajdú (1969, 21) zitiere ich folgende Übersetzung einer Passage aus Max Frischs ‚Stiller‘: „… Heu duftete herauf, Harz herüber vom nahen Wald ...“: La senteur du foin montait jusqu'au balcon, mêlée à l'odeur de résine de la forêt./ El olor del heno subía hasta la galería, y a él se mezclaba el de la resina del cercano bosque. - Eine Typologie der romanischen Übersetzungen speziell des deutschen Konstrukts Verb + Prädikatsadjektiv (Typ: wach rütteln, tot fahren) bietet jetzt Feihl (2009, bes. 208-244), übrigens mit einem guten germanistischen Forschungsbericht (27-85). Syntax der Quantifikation Französisch-Deutsch 257 -b Bi erweitert die Rektion von Verb I um die Argumente von Verb II : N 1 V I und N 2 V II N 1 V {I+II} N 2 Fritz fuhr und Mann ist tot Fritz hat e. Mann tot-gefahren Hier ist es die erweiterte Rektion von V I , die die syntaktische Vereinigungsmenge markiert. Bei transitivem V I ist die Erweiterung trivialerweise nicht wahrnehmbar (cf. supra (17-b)). -c Die Erweiterung von V I kann unnatürlich sein; sie kann der Rektion von V I (als Zustands- oder Ereignisverb) widersprechen: *Fritz fuhr den Mann, *der Wind wehte ihr (Bsp. 19) sind ungrammatisch. Die ‚erweiterte Rektion‘ vom Typ (19) erklärt sich allein aus der Rektion von V II , ist also ein Effekt der Amalgamierung. Die syntaktische Beschreibung muss so gestaltet sein, dass sie dieses Faktum abbildet. Zu (23-a) ist anzumerken, dass die markierende Präfigierung fehlen kann. Markierend ist dann einzig die erweiterte bzw. veränderte Rektion: (24) -a Der Wind wehte ihr das Haar in den Mund (cf. supra (19-e)). -b Sie lief sich Blasen an die Füße. -c Er küsste ihr die Tränen von der Wange. -d Der Wind wehte ihr den Hut vom Kopf über die Straße / in den Fluss. N 1 V X N 2 N 3 Richtung I Richtung II / III (24-d) zeigt, dass die mit ‚Richtung‘ getaufte Konstituente empfänglich ist für Richtungsangaben unterschiedlichen Typs (woher/ wohin/ wie). Im Französischen wären die drei Richtungstypen nicht in eine Matrix zu pressen, schon gar nicht in die Entsprechung von wehen (souffler). Man würde vermutlich mit faktitiven Verben arbeiten (cf. infra 24'-d I), auch um dem Wind durchgehend die Subjektfunktion zu reservieren, was dem Text - zusätzlich zur semantischen Kohärenz - auch syntaktische Kohärenz verleiht 23 . Aber notwendig ist das nicht (cf. infra 24'-d II). Notwendig ist allerdings die Verwendung von Verben, die den Typ der Richtung beinhalten. Das ergibt, für die Übersetzung von (24-d), einen Text mit nicht weniger als vier Verben: (24'-d) I Le vent soufflait (V X ). Il lui ôta (V I ) le chapeau (de la tête), le fit traverser (V II ) la rue pour le déposer (V III ) dans le fleuve. 23 Dies ist ein Prinzip der französischen literarischen Elaboration, cf. Blumenthal (1997, 27s.) mit einem wunderbaren Beispiel aus Stendhal. Werner Forner 258 II Le vent soufflait. Le chapeau ne tenait pas sur sa tête, il vola de l'autre coté de la rue pour finir dans le fleuve. (24'') d-I N 1 V X N 1 V I N 2 N 3 R. I N 1 V II N 3 R. II N 1 V III N 3 R. III d-I N 1 soufflait N 1 ôta N 2 N 3 tête N 1 fit traverser N 3 rue N 1 déposer N 3 fleuve Das Schaubild (24'') soll verdeutlichen, dass im Französischen jede ‚Richtung‘ ihr Verb erfordert, und dass jedes Verb seiner ‚Richtung‘ entspricht: Wenn Richtung I (‚R I ‘), dann ‚V I ‘, wenn ‚R II ‘, dann ‚V II ‘ etc. Umgekehrt scheint fürs Deutsche zu gelten (cf. Schema in 24): Die Amalgamierungs-Potenz der Biprädikation ist - jedenfalls aus kontrastiver Sicht - nicht eingeschränkt auf nur ein Zweitprädikat, sondern ist in der Lage, beliebig viele davon zu verdauen. 8. Biprädikative Quantifizierung Kommen wir nun zurück zur Quantifikation! Die Schemata (24) und (24'') sind wie geschaffen für die kontrastive Analyse der multiplen Quantifikation: (25) N 1 V X [+kausativ] N 2 N 3 Richtung I Richtung II + Adv. D NN steigerte -d. Einkommen um 13,9% auf 2.136€ mtl. F NN fit croître -le salaire de 13,9%, en le faisant atteindre les 2.136€ par mois. Es ist offensichtlich: Die Quantifikation gliedert sich exakt ein in die Standards der beiden Sprachen: im Deutschen in die Mechanik der Biprädikation; im Französischen nicht, aus einem ganz banalen Grund: Die gibt es da gar nicht! Syntax der Quantifikation Französisch-Deutsch 259 V X in (25) ist ein kausatives/ faktitives Verb. Handlungsverben korrelieren mit den entsprechenden Vorgangsverben: z. B. stellen, setzen korrelieren mit stehen, sitzen; geben korreliert mit bekommen, usw. Dieser Korrelation entspricht ein syntaktischer Mechanismus: Der agens entfällt bei [-kausativen] Verben, die Subjektposition wird dadurch frei, patiens/ objective geben ihre Position als Objekt auf und werden in die Subjektsposition bewegt: (26) Handlungsverb zu Vorgangsverb X stellt Y in die Ecke wird zu: Y steht in der Ecke. X gibt Y das Buch wird zu: Y bekommt das Buch. Zu den syntaktischen Metamorphosen, die beim Wechsel Handlung zu Vorgang nötig werden, gehört auch die Passivierung sowie - im Romanischen - das pronominale Passiv, oder die Tilgung der faktitiven Markierung (faire, rendre, mettre en etc.). Genau derselbe Mechanismus gilt natürlich auch für quantifizierende Kausativa: Wenn wir also das faktitive Verb (in 25) umwandeln in ein Vorgangsverb (steigern steigen), dann entfällt völlig regelmäßig die Agensangabe (N 1 ), und N 3 rückt automatisch in die Subjektsposition: (27) Entkausativierung von (25): N 3 V [-kausativ] N 2 -- Richtung I Richtung II das Einkommen stieg um 13,9% auf 2.136€ + Adv. Die französische Version kennen wir schon aus Text (10): (28) Französische Übersetzung von (27) (= Text 10-d): „En cinq ans, le salaire moyen per capita a par ailleurs crû de 13,9%, pour atteindre en moyenne 2136 euros par mois en 2007“. Quantifizierende Verben verhalten sich offenbar in beiden Sprachen genauso wie alle anderen Verben, bei denen es die Korrelation zwischen Handlung und Nicht-Handlung gibt, und zweitens folgt die Umwandlung innerhalb dieser Korrelation den allgemeinen Regeln. Beides ist alles andere als verwunderlich. Der beobachtete Sprachkontrast ergibt sich nicht aus einer semantischen oder syntaktischen Insuffizienz der französischen Präpositionen, sondern das Defizit (wenn man es denn so nennen will) der romanischen Sprachen ist textstruktureller Natur: Im Romanischen fehlt die Biprädikation, in germanischen Sprachen 24 ist sie vorhanden. 24 Diese Erklärung findet sich - noch ohne analytischen Nachweis - in Forner (2000a, 151, 145 n. 2). Werner Forner 260 Der französische Muttersprachler kommt somit gar nicht erst in Versuchung, dieselbe Präposition de für zwei RICHTUNGS-Typen zu verwenden, denn dafür stellt die Sprache unterschiedliche Verb-Typen zur Verfügung, und das nicht nur im Bereich der Quantifikation. Der oben diagnostizierte kommunikative Notfall existiert gar nicht für den romanischen Sprecher, es besteht folglich keine Notwendigkeit zu einem Ausweichmanöver. Der Notfall und die Notwendigkeit für Ersatzstrategien ergeben sich nur aus kontrastiver Sicht. Ich könnte an dieser Stelle mit einem quod erat demonstrandum abschließen. Aber es lohnt sich, die zwei unterschiedlichen Verb-Typen, die für die beiden Quantifikationstypen (skalar, vektoriell) verantwortlich sind, näher zu beleuchten. 9. Exkurs: Richtungsverben im Französischen Der folgende Text (aus dem Korpus von Fandrich 1991, Text 9) enthält Beipiele für die polyseme Verwendung unserer Präpositionen: de steht mal für (U), mal für (A); und à markiert mal (Z), mal hat es die Bedeutung ‚bis‘ - wieso führt diese Polysemie nicht zu Missverständnissen? (29) Textile: Le Blan dépose son bilan (La société) a enregistré 14 millions de francs de pertes au premier semestre avec un chiffre d'affaires consolidé en baisse de 9% (à 152 millions de francs) et des volumes commercialisés en recul de 3 à 4%. La société est confrontée à la pénétration de plus en plus forte des filés étrangers dans l'Hexagone, qui est passée de 13,8% en 1977 à 38% en 1987. Résultat des courses: Les établissements Le Blan ont vu leur chiffre d'affaires consolidé revenir de 400 millions en 1984 à 299 l'année dernière. U (Z) U bis A-Z A-Z Textilbranche: LB meldet Konkurs an (Die Gesellschaft) verzeichnete im 1. Halbjahr einen Verlust iHv 14 Millionen Francs, wobei der konsolidierte Umsatz um 9% (auf 152 Millionen Francs) und der Absatz um 3 bis 4% zurückging. Le Blan hat in Frankreich mit einer immer größer werdenden Konkurrenz ausländischer Garne zu kämpfen, deren Marktanteil von 13,8% i. J. 1977 auf 38% i. J. 1987 gestiegen ist. Dies bedeutete für das Unternehmen einen Rückgang seines konsolidierten Umsatzes von 400 Millionen i.J. 1984 auf 299 im vergangenen Jahr. Le Figaro, 19-X-1988, in: Fandrich 1991, 69ss. Syntax der Quantifikation Französisch-Deutsch 261 Der Text enthält viermal die Verbindung de à, nur die letzten zwei Male in der vektoriellen Lesart, im vorausgehenden Textteil hat de die Funktion des U-Quantors, während „3 à 4%“ „3 bis 4%“ heißt, die Präposition à bezeichnet hier die Spannweite des U-Quantors; beim ersten Vorkommen hingegen ist à durch Klammerung aus dem syntaktischen Verband herausgelöst und bedeutet daher den Zielpunkt. Das Ganze ist nicht sehr benutzerfreundlich. Ich gebe hier noch ein zweites Beispiel für dasselbe Phänomen (U-Quantor als Spanne zwischen zwei nummerischen Werten): (30) Le mensuel de l'INC avait publié ... une enquête affirmant que les produits alimentaires avaient vu leurs prix s'envoler de 5% à 48% dans la période de novembre 2007 à janvier 2008. En se basant sur sa propre enquête, (…) Bercy estime que la hausse n'a été que de 7,1% sur cette periode. Le Monde 22-3-08 In (30) „fliegen die Preise davon“ UM eine Spanne, die zwischen 5% und 48% schwankt! Wir sehen: Auf der Ebene der Präpositionen herrscht im Französischen ein gehöriges Durcheinander. Wieso kommt dennoch Kommunikation zustande? Nun, das Verständnis wird dort im Wesentlichen durch die Verben gesteuert: Es gibt U-sensible Verben, und es gibt Z-sensible Verben. Diese beiden Typen sind in unserem Text (29) mit je zwei Verben vertreten: (31) U-Verben versus Z-Verben in (29, 30): -a U (être) en baisse de, (être) en recul de, s'envoler de, la hausse a été de -b Z passer de A à Z, revenir de A à Z Wenn wir diese zwei Verblisten mit Hilfe der vorhanden Korpora (Lavric/ Fandrich/ Forner) erweitern, dann finden wir keine Überschneidungen zwischen den Verben der beiden Gruppen: Die Verben selbst sind also in der Lage, die Opposition zwischen der Bedeutung U und der Bedeutung Z, also zwischen skalar und vektoriell zu signalisieren. Es scheint daher angemessen, diese Namen aus der Bedeutungsebene auf die Ausdrucksebene zu übertragen: skalare Verben für U-Verben/ vektorielle Verben für die Z-Verben. (32) Skalarverben (z. B.) (-): diminuer de U, (faire) reculer de U, (faire) baisser de U, (faire) chuter de U, réduire de U, (+): augmenter de U, (faire) progresser de U, (faire) chuter de U, (s') accroître de U, (faire) monter de U, hausser qc. de U, Werner Forner 262 Analyt. V: {enregistrer / accuser } une {baisse / une chute / un recul} de U, finir en recul de U, être en hausse de U, pousser qc. à la hausse, être supérieur à qc. de U, N° baisse de U, hausse de U, recul de U, montée de U, croissance de U (33) Vektorverben -a A-Z passer (de A) à Z / revenir de A à Z / ramener qc. de A à Z (fallend), Z atteindre Z, s'élever à Z, faire un bond à Z / être ramené à Z (fallend), -b Z s'inscrire à Z, se fixer à Z Von der vektoriellen Verbgruppe ist passer das weitaus häufigste Verb: Ein passe-partout-Verb! Denn es ist für beide Richtungen (steigend und fallend) und für beide Punkte (A und Z) verwendbar. Beliebt ist auch das Verb atteindre (für ansteigende Richtung, Zielpunkt). Die Termini Skalarvs. Vektorverben sind seit den 60er Jahren in die Semantik eingegangen: Von mehreren Vorgängern 25 übernimmt Gsell (1979, 161s., 165s.) die Unterscheidung zwischen Vektorverben und skalenbezogenen Verben. Skalenbezogen sind hier Verben wie z. B. augmenter oder diminuer, die eine „Grad- oder Wertungsänderung“ ausdrücken, und die für Graduierung und Komparation offen sind (augmenter beaucoup, diminuer moins que). Vektoriell sind Bewegungsverben, die zusätzlich zur Bewegung eine bestimmte Richtung bedeuten, wie monter, sortir im Unterschied zu ungerichtetem marcher, bouger. Diese wortsemantische Definition lässt sich mit dem oben präsentierten Befund, der ja auf den Argumenten der Verben beruht, nicht in Einklang bringen; denn monter gehört entsprechend der wortsemantischen Definition von Gsell (natürlich! ) zu den Verben mit gerichteter Bewegung, es wird aber gerade nicht für vektorielle, sondern für skalare Argumente genutzt. Umgekehrt sind die Verben in (31-a) bestenfalls durch ihre vektoriellen Argumente ‚gerichtet‘; ganz zu schweigen von (31-b). Noch ein kurzes Wort zur Verbindung der beiden Quantifikationstypen, die im Deutschen so problemlos ein und demselben Verb zugeordnet werden können: Diese muss ja im Romanischen auf syntaktischem Weg erfolgen, als Verbindung von zwei [reduzierten] Sätzen. Welche Möglichkeiten stellt das Französische zur Verfügung? 25 Leisi (1971, 84ss. und schon ib. 1961, 82); Hajdú (1969, 18, 133). Syntax der Quantifikation Französisch-Deutsch 263 (34) Syntax von {Skalar + Vektor} -a U, pour atteindre Z -b U, passant à Z, passé à Z, en passant à Z -c U, et passe de A à Z; U, et s'élève à Z Meist werden die Z-Verben untergeordnet: am häufigsten als Infinitiv mit pour (Typ -a), häufig (Typ -b) auch durch das Partizip oder durch das Gérondif. Aber auch die Beiordnung (Typ -c: et) ist nicht ganz ausgeschlossen. Alle drei Typen sind Ausdrucksformen der semantischen Relation, die ich oben als ‚Resultat‘ benannt habe. Nur sehr selten wird die Z-Quantifikation ohne eins der Skalarverben (31) an die U-Quantifikation angehängt: Das geschieht meist durch einen Klammerzusatz (wie oben in Text 29). Sekundär können natürlich gelegentlich syntaktische Prozesse hinzukommen, die unabhängig von der Quantifikation existieren. So auch die oben zitierten fachsprachlichen Strukturen. Dazu gehört u. a. die analytische Erweiterung des Basis-Nomens um ein bloß funktionales Element (Funktionsnomen). Funktionsnomina von Quantitätsangaben sind z. B. allgemeine Quantifikatoren wie montant, somme. Das ergibt dann statt (34-c): (34)-d „... le montant de U, et s'élève à la somme de Z“. 10. Zusammenfassung und methodischer Ausblick Wir haben gesehen: Die Unterscheidung zwischen den beiden Quantifikationstypen - zwischen skalar und vektoriell, cf. § 3 - geschieht in den romanischen Sprachen weniger durch die Wahl der Präposition als durch die Wahl des passenden Verbs. In den germanischen Sprachen (incl. Englisch) verhält es sich umgekehrt. Dieser Kontrast zwischen unseren Sprachen ist nicht an das Thema Quantifikation gebunden: Er gilt allgemein für den Ausdruck von Bewegung, verstanden einerseits als Bewegungsrichtung, andererseits als Bewegungsumfang. Bewegung ist der metaphorische oder sogar kognitive Hintergrund auch quantitativer Veränderung. Es war daher interessant, den Ausdruck von lokalen Veränderungen (und von anderen Veränderungen) in unseren Sprachen unter die Lupe zu nehmen. Werner Forner 264 Für Veränderung als Ergebnis kennen die germanischen Sprachen zwei Ausdrucksformen: - Typ I: zwei Sätze. Das Ergebnis wird separat durch eine eigene Prädikation ausgedrückt, das ergibt zwei Prädikate (Bewegungs-Prädikat + Ergebnis-Prädikat). - Typ II: ein Satz. Die germanischen Sprachen verfügen über sprachliche Mittel (cf. infra (35)), das Ergebnis (die Argumente von Satz 2) in das Bewegungsverb (aus Satz 1) hineinzukopieren, ohne die Gesamtbedeutung der beiden Prädikationen zu verletzen. In den germanischen Sprachen besteht also Variation zwischen diesen beiden Ausdruckstypen. Die romanischen Sprachen hingegen verfügen nicht über diese Mittel des Kopierens (Typ II) 26 . Sie sind folglich zu Typ I verdammt, also dazu, das Ergebnis als eigenständige zweite Prädikation, und die modale Relation (‚Ergebnis‘) durch einen expliziten Junktor auszudrücken. Als „sprachliches Mittel“ des „Kopierens“ speziell in den germanischen Sprachen haben wir kennen gelernt: (35) Sprachliche Mittel der Projektion Kopie der Rektion: Von der Ergebnis-Prädikation (bestehend aus dem Verb V II und dessen Rektion) wird die Rektion in die erste Prädikation übernommen (cf. Bsp. 18); sie wird sogar dann übernommen, wenn die 26 Das heißt nicht, dass in den romanischen Sprachen das Ergebnis grundsätzlich von der Rektion von V I ausgeschlossen wäre: Wenn Jacques rausgeschmissen wird, ist er nachher (als Ergebnis) vor der Tür; frz.: Le prof a mis Jacques à la porte. Aber wenn der Rausschmiss durch Prügeln geschieht, dann kann man ihn im Französischen nicht ‚herausprügeln‘: *Le prof a battu Jacques à la porte ist falsch, sofern man à la porte als Richtungsangabe versteht. Denselben Unterschied attestiert Morimoto (2001, 234) für das Spanische: ponerlo en el suelo/ abajo ist korrekt, aber *golpearlo a la calle ist nicht akzeptabel. Morimoto (ib., Kap. IV) diagnostiziert folgerichtig zwei Typen (A, B) von Bewegungsangaben (wie übrigens Jackendoff 1990, cf. infra): Typ A (poner) schließt die Richtungsangabe ein - konzeptuell und valenziell; Typ B (golpear) tut dies nicht. Bei Typ A ist nun aber die Richtungsangabe Teil der Valenz, nicht Effekt des Kopierens. Bei französisch mettre handelt es sich sogar um eine obligatorische Ergänzung. Typ A ist also keine biprädikative Konstruktion. Syntax der Quantifikation Französisch-Deutsch 265 Ergebnisrektion der Rektion von V I widerspricht (19) 27 . Dieses syntaktische Verfahren des Kopierens gilt im Deutschen auch für die beiden Quantifikationstypen (skalar, vektoriell, cf. § 8). Präfigierung von V I : Die Kopie wird darüber hinaus oft morphologisch durch Veränderung des Matrix-Verbs gekennzeichnet, sei es als Komposition (tot-fahren, cf. Bsp. 19), sei es durch ein präfigiertes Element (Partikel oder Adverb, etc.: er-stechen, aus-sperren, cf. Bsp. 20). Semantische Kopie: Diese - syntaktischen / morphologischen - Verfahren des Kopierens haben ein semantisches Korrelat: Die Bedeutungskomponente [Bewegung / Richtung] wird in Verben hineinprojiziert, die mit [Bewegung] von Hause aus nichts zu tun haben (cf. Bsp. (19-20-21)). Die Frage nach der Art des Sprachkontrastes ist nun denkbar einfach zu beantworten: In den germanischen Sprachen besteht Variation (Typ I und Typ II), während die romanischen Sprachen diese Variation nicht kennen. Wenn wir Variation zeichentheoretisch definieren als zwei signifiants für einen signifié, dann lässt sich dieser Befund so illustrieren: (36) Kontrastivik Germanisch Romanisch signifié signifié signifiant I signifiant II signifiant (I) ..., wobei: signifié = d 1. Handlung / Ereignis I 2. Ereignis / Zustand II 3. Relation 1~2 (Modus ~ Ergebnis) signifiant I = d 1. Verb I + dessen Rektion 2. Verb II + dessen Rektion 3. Junktor signifiant II = d Verb I + ‚Kopie‘ (der Rektion von V II ) (cf. supra) 27 Die Rektion von V I kann durch die Kopie nicht nur erweitert (cf. 19, 20), sondern sie kann auch durch die kopierte Rektion verändert sein (cf. supra Bsp. (23-c)), auch im Englischen. Beispiele: His friends laughed Bill out of town. Bill shaved his razor dull. Dieselben Sätze ohne den Ergebnisteil sind ungrammatisch: *His friends laughed Bill. *Bill shaved his razor. Korrekt müssen die Sätze lauten: His friends laughed at Bill. Bill shaved with his razor (Jackendoff 1990, 227). Werner Forner 266 Signifiant I erfordert keinen besonderen Beschreibungsaufwand, denn er ist offenbar die getreue Projektion der signifié-Struktur. Erklärungsbedürftig ist hingegen signifiant II. Welchen Anforderungen soll dessen erklärende Beschreibung genügen? (37) Programm der Explikation von signifiant II Die Explikation muss deutlich machen: 1. den Kopie-Charakter selbst: Das Verb der Prädikation I wird nicht etwa ex nihilo um die genannten Merkmale erweitert: Sondern diese Merkmale sind an anderer Stelle - im Verb der Prädikation II - vorhanden; 2. die sprachlichen Merkmale (cf. (35): syntaktische, morphologische, semantische Merkmale); 3. die implizit vorhandene Relation (Prädikation II als Ergebnis); 4. den Variations-Charakter (in germanischen Sprachen): Wir benötigen dazu ein geeignetes Modell, das den regelhaften Zusammenhang zwischen den Varianten abbildet. Wenn wir nun in der linguistischen Literatur nach Vorbildern für ein Beschreibungsmodell der Biprädikation suchen, so erwarten wir Antworten in der germanistischen Literatur (zu Partikelverben, Präfixverben und Wortbildung), oder evt. in Arbeiten zur Kontrastivik, jedenfalls nicht in rein romanistischen Arbeiten, denn die romanischen Sprachen kennen das Konstrukt ja gar nicht 28 . Zur deutsch-französischen Kontrastivik (zu Quantifikation und zu Bewegungsverben) sind die einschlägigen Arbeiten großenteils 29 genannt; sie begnügen sich meist mit der Beschreibung des 28 Im Verbkorpus von Dubois/ Dubois-Charlier (1997) (und in den elektronischen Nachfolgeunternehmen) finden wir - natürlich! - keine Spur von Biprädikation. 29 Hajdú (1969, 21, 133) - eine französisch-spanische Kontrastivik zum Ausdruck der Richtung - behandelt unser Problem - naturgemäß - nur am Rande als Übersetzungsäquivalenz. Zur deutsch-spanischen Kontrastivik liegt jetzt eine gute Untersuchung zum Ausdruck von Bewegung vor (Hess 2007), in der einige Beispiele unseren Fall als übersetzungstechnisches Problem illustieren. Eine auch methodisch grundlegende Arbeit zur biprädikativen Problematik (beschränkt auf Bewegungsverben) ist Morimoto (2001): Morimoto überprüft die in der neueren amerikanischen linguistischen Literatur gegebenen Beispiele und Lösungen auf ihre Wirksamkeit im Spanischen, wobei die Arbeiten von Jackendoff (cf. infra) eine besondere Rolle spielen. Ergebnis: Das kopierende Verfahren existiere im Spanischen nicht, im Gegensatz zum Englischen: „En definitiva, los hechos observados hasta ahora indican que en español, al menos en lo que concierne a las expresiones de cambio de estado, un adjunto de resultado no puede modificar la estructura eventiva del verbo principal de manera tal que el SV entero se inter- Syntax der Quantifikation Französisch-Deutsch 267 Sprachkontrasts. Die umfangreiche Literatur (Grammatiken, Wortbildung) zu den deutschen Partikel- und Präfixverben bietet, soweit ich sehe, bestenfalls eine Aufzählung der Fakten: Die Semantik und Rektion von V I ist auf wunderbare Weise erweitert 30 , aber nach einer Explikation 31 habe ich vergebens gesucht. Das mag auch daher rühren, dass einerseits Partikel- und Präfixverben nicht automatisch biprädikativ sind, und dass andererseits Biprädikation auch außerhalb dieser Verben regulär auftritt. Die Verschmelzung von zwei Prädikaten ist ja nicht von morphologischen oder anderen Oberflächenparametern abhängig, sondern ist ein unabhängiger Mechanismus. Diese semanto-syntaktische Potenz findet in der bereits erwähnten Thèse von François (1989) 32 eine überaus detaillierte 33 logisch-semantische Analyse. Den Terminus Biprädikation habe ich dort entborgt. François diagnostiziert korrekt die semantische Dreiteilung: nämlich in Verb I + Rektion von Verb II + Junktion (cf. in (36), die Definition von signifié und von signifiant II) 34 , auch wenn die Grenzen zu eng gezogen sind. prete como télico“ (222). Ähnlich äußert sich Jackendoff (1990, 89) im Anschluss an Talmy (1975, 197ss.). 30 Die ‚sprachlichen Merkmale‘ (Nr. 2 im obigen Katalog der Explikationsziele (37)) findet man in vielen Arbeiten wieder, aber meist als isolierte, jeweils wortgebundene Eigenheiten: Beliebt ist das Thema Rektion (Nr. 2-a): Deren Erweiterung bei präfigierten Verben ist in fast allen konsultierten Arbeiten thematisiert, aber ohne Rekurs auf das ‚spendende‘ V II . Die „semantischen Abwandlungen“ (Duden) (Nr. 2-c) werden gelegentlich thematisiert, aber wiederum als singuläre Fakten (Duden 454-459, 459-471, Schröder 1992, 14). Motsch (1999, 51, 72, 93 etc.) sieht „keinen Grund [für] spezielle semantische Muster“. Die ‚Ergebnis-Relation‘ (Nr. 3 in (36)) ist seltener erkannt: Schröder (1992, 149). Eichinger (1997, 37ss. und ib. 2000, 220, 231ss.) bringt eine gute Typologie der Relationen, die er durch Paraphrasen nachweist usw. - Die variationelle Konkurrenz und das kopierende Verfahren (Nr. 1 und 4 in (36)) sind, so scheint mir, der neueren germanistischen Wortbildung und Grammatikographie fremd. 31 Explikationswilliger waren hingegen germanistische Arbeiten der 60er Jahre und vorher, cf. supra Anm. 20. Die amerikanische Linguistik hatte damals den kompositen Charakter (Ereignis + Resultat) der Biprädikation erkannt; Halliday (1967) spricht von „resultative attributes“. 32 Übrigens auch schon in seiner Thèse de 3 e Cycle von 1975 (ms.). Eine ausführliche Forschungsgeschichte der Problemlösung cf. François (1989, 331-342). 33 François bietet eine reichhaltige Kasuistik von 23 Subtypen. Diese bringen nicht mehr als den Nachweis, dass der Anwendungsbereich der Biprädikation nicht eingeschränkt ist; d. h. sie leisten nicht mehr als die Definition leistet (cf. folg. Anm.). 34 „Une BR [= biprédication résultative, W.F.] se décompose sémantiquement en (i) une action en elle-même non causative, spécifique, dénotée par un prédicateur Werner Forner 268 Unerkannt bleibt die Ähnlichkeit mit der Syntax der Quantifikation. Sein Ziel ist die semantische „décomposition“ (Zerlegung) von Oberflächenparametern (des signifiant II in (36)) 35 ; eine Beschreibung der Variation (signifiant II vs. signifiant I in (36)) ist nicht angestrebt. Über die „décomposition“ hinaus gehen solche Ansätze, die nicht semasiologisch von einem vorgegebenen signifiant, sondern umgekehrt von der Inhaltsseite ausgehen. Dazu gehört der kognitionssemantische Approach z. B. von Ray Jackendoff: Jackendoff (1990, 88ss.) unterscheidet zwischen zwei Typen von Bewegungsverben: solchen, die nicht einen Weg implizieren, wie to wiggle (‚wackeln‘), und solchen, die ihn voraussetzen, wie to enter (‚hineingehen‘). Die erste Gruppe ist definiert durch die ‚MOVE-function‘, die zweite zusätzlich durch die ‚GO-function‘. Die GO-function besitzt ein morpho-syntaktisches und ein semantisches Korrelat, nämlich die Rektion mit Konstituente(n) für Richtung und/ oder Weg, sowie das Verbmerkmal [+ telisch]. Die MOVE-Verben verfügen nicht über diese Rektion und über diese telische Bedeutungskomponente, jedenfalls nicht von sich aus (nicht , in aristotelischer Denkweise). Ausdrucksseitig kann die Rektion der GO-function dennoch auf die MOVE-Verben übertragen werden ( , gewissermaßen); dies geschieht mit einer ‚Addition‘ (‚GO-Adjunction‘), z. B. Willy wiggled out of the hole (‚Willy wackelte aus der Höhle‘). Die GO-Adjunktion überträgt sowohl die GO-Semantik als auch die GO-Rektion. Sie erklärt also die beobachteten Effekte des Kopierverfahrens (cf. supra) als regelhafte Erscheinung des Übergangs von der kognitiven Ebene zur Ausdrucksebene. (P1) et au moins un agent (x1), (ii) un changement (d'état, de lieu, de relation, etc.), dénoté par un prédicateur statif (P2) compatible avec un auxiliaire de changement d'etat (werden) ou de lieu (kommen, gehen, etc.) et au moins un patient (x1/ x2), et (iii) une relation interprédicative (éventuellement spécifiée: cumulative ou qualitative)“ (François 1989, 344). 35 Ähnliches gilt für den Ansatz der Lexical Functional Grammar (LFG): Simpson (1983), z. B., gelingt es, für die Biprädikation eine einzige lexical rule verantwortlich zu machen, „which adds a resultative complement“ (143) - der „Kopie“-Charakter ist also berücksichtigt. Voraussetzung sei, dass „the notion UNDERLYING OBJECT can be encompassed within LFG“ (152). Diese Voraussetzung - das vorausgesetzte UNDERLYING - ist in der Tat für die linguistische Modellbildung entscheidend. Syntax der Quantifikation Französisch-Deutsch 269 Sie erleichtert somit die Beschreibung auf der kognitiven Ebene, denn die erweiterte Rektion und Semantik von wiggle ist ja ‚nur‘ adjungiert 36 . Der oben definierte Erklärungsbedarf (Punkte 1, 2) ist damit befriedigend gelöst: die veränderte Semantik von V I , die veränderte Syntax (Rektion), die evt. veränderte Morphologie (Präfigierung im Deutschen), der Abbild-Charakter in Bezug auf V II . Der ‚Trick‘, der dieses explikative Modell ermöglicht, ist nicht neu: Es ist die Unterscheidung zwischen zwei Ebenen und die Korrespondenz zwischen den beiden Ebenen mit Hilfe von Regeln. Ob wir von Tiefenstruktur und Transformationsregeln reden, oder aber von konzeptioneller Ebene und Adjunktionsregeln, ist dabei sekundär. Dieses System kann leicht auf die zuvor besprochene Quantifikationssyntax übertragen werden. Die systematische Sprachvariation in den germanischen Sprachen ist Frucht der Anwendung - oder eben nicht - der Adjunktion. Ich frage mich aber, warum wir nicht gleich bei den Saussure'schen zwei Seiten der Semiose bleiben: Es reicht, die ausführlichere Variante kategorial auf der signifié-Ebene anzusiedeln. Die Variante I mit den zwei monoprädikativen Sätzen entspricht dann analog dieser signifié-Vorgabe; während die biprädikative Variante Frucht einer zusätzlichen Regel ist (adjunction rule oder copy-rule oder transformation). Diese Regel ist dann nicht eine Addition von Funktionen aus einem fremden Bereich, sondern - und darin liegt der deskriptive und explikative Vorteil dieses Modells - sie ist die Umsetzung einer vorhandenen Struktur 37 . Die dreigeteilte Struktur (Prädikat P. I, Prädikat P. II, Relation R), die wir induktiv aus den hier diskutierten empirischen Materialien der biprädikativen Variation gewonnen haben, ist dann die Struktur des signifié: 36 Adjunction rules „permit drastic simplification of lexically marked argument structures, since much of the variation is due to the presence of adjuncts“ (Jackendoff 1990, 242). 37 Explikation durch Rückgriff auf Vorhandenes - dieser Gedanke entspricht auch Jackendoffs Strategie: „The adjunct rules introduce no new principles of syntactical or conceptual composition - just a new class of routes between old well-known syntactic forms and old well-known conceptual forms“ (Jackendoff 1990, 242). Aber bei Jackendoff sind zwei Verben (V I , V II ) auf der kognitiven Ebene präsent, während im Modell (36) nur eine Struktur - die ausführlichere von den beiden - abstrakt vorgegeben ist. Werner Forner 270 (38) Variationsmodell signifié signifiant Regel Variante I Variante II P. I --- Satz 1 + Junktor + Satz 2 } R P. II ‚GO‘ Satz 1 + ‚Kopie‘ Die hier diskutierte biprädikative Variation ist nicht stilbildend. Dennoch ist das Variationsmodell (38) auf alle syntaktischen Variationstypen - gerade auch auf die stilbildenden - zu verallgemeinern: Der signifié jedes denkbaren Textes ist - axiomatisch - definierbar als Serie von Sachverhalten (S 1 , S 2 , S 3 , ..., S n ) (statt oben: Prädikate), die miteinander verknüpft sind (R 1 , R 2 , R 3 , ..., R n ). Die Variation auf der Ausdrucksebene erklärt sich auf dieser Basis als Anwendung vs. Nicht-Anwendung zusätzlicher Transformationsregeln. Im vorliegenden Fall: als Applikation der ‚GO‘-Regel, oder eben als Verzicht (‚---‘) auf eine zusätzliche Regel. Völlig analog lassen sich auch variierende Stile erklären: Der Fachstil, z. B., unterscheidet sich von unmarkierten, synonymen Realisierungen durch einen relativ schmalen Regelset, nämlich die bereits genannten (cf. Anm. 4 und Derivationen in Nr. 14-15) vier fachsprachlichen Regeln; die syntaktischen Abweichungen der familiären Sprachform lassen sich ebenfalls durch einen zusätzlich applizierenden Regelset beschreiben. Das Variationsmodell (38) ist also keine ad hoc-Phantasie. Im Gegenteil: Die unterschiedlichen Anwendungsbereiche stützen das vorausgesetzte Modell. Das Variationsmodell (38) liegt der Argumentation des vorliegenden Beitrags zugrunde. Syntax der Quantifikation Französisch-Deutsch 271 11. Bibliographie Blumenthal, Peter, Sprachvergleich Deutsch-Französisch, Tübingen, Niemeyer, 2 1997. De Mauro, Tullio, Il dizionario della lingua Italiana. Turin, Paravia Bruno Mondadori, 2000. Dubois, Jean/ Dubois-Charlier, Françoise, Les verbes français, Paris, Larousse, 1997. Duden = Eisenberg, Peter, Grammatik der deutschen Gegenwartssprache, Mannheim et al., Dudenverlag, 6 1998. Eichinger, Ludwig M., Weltansicht in Wörtern. 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Wellander, Erik Ludvig, Die Bedeutungsentwicklung der Partikel ‚ab‘ in der mittelhochdeutschen Verbalkomposition: Ein Beitrag zur wissenschaftlichen Bedeutungslehre, Uppsala, Appelberg, 1911. Christiane Maaß Zur einzelfachspezifischen Binnendifferenzierung im Bereich der Wissenschaftssprache. Untersuchung an einem gemischten Korpus französischer Fachaufsätze 1. Wissenschaft als Diskursuniversum und als Sprachform In diesem Beitrag gehe ich der Frage nach, ob es konkrete sprachliche Kriterien für Wissenschaftssprachlichkeit gibt, welche die Sprache des Diskursuniversums Wissenschaft gegenüber anderen Diskursuniversen auszeichnen. In meiner Suche nach einer Antwort auf diese Frage analysiere ich ein Korpus französischer Zeitschriftenaufsätze unterschiedlicher Einzeldisziplinen und ziehe, wo dies angemessen erscheint, auch andere Textsorten zum Vergleich heran. Wodurch zeichnet sich das Diskursuniversum Wissenschaft insbesondere hinsichtlich seiner sprachlichen Umsetzung aus? Nachdem zu Beginn der Fachsprachenforschung eher terminologisch-lexikalische Aspekte im Vordergrund standen, werden seit den 80er Jahren verstärkt sprachexterne, pragmatisch-kontextuelle Kriterien in die Untersuchung einbezogen. Einige Autoren, etwa Hoffmann und Kalverkämper (1998, 358), schlagen darum vor, man sollte, statt von ‚Fachsprachen‘ besser von ‚Fachkommunikation‘ sprechen oder von ‚Fachsprachen in der Fachkommunikation‘. Diese Begriffe illustrieren in der Tat besser als ‚Fachsprachen‘, dass die unterschiedlichsten Kommunikationsformen in den Fachdiskurs eingebunden sind. Der Begriff ‚Fachkommunikation‘ (Hoffmann/ Kalverkämper 1998) ist als Oberbegriff für eine Reihe von möglichen Binnendifferenzierungen geeignet. Diese sind auf verschiedenen Ebenen angesiedelt, die in Abbildung 1 (cf. Anhang) veranschaulicht werden. Zunächst kann man also auf der Ebene der fachsprachlichen Diskursuniversen zwischen den Bereichen Technik, Wissenschaft und Institutionen (Jakob 1998) unterscheiden. Darüber hinaus wird in der Forschung zwischen horizontaler und vertikaler Ausdifferenzierung von Fachkommunikation unterschieden: Als ‚horizontal‘ wird die Ausprägung der unterschiedlichen fachsprachlichen Textsorten bezeichnet, also im Be- Christiane Maaß 276 reich der Wissenschaften etwa die wissenschaftliche Monographie, das Prüfungsgespräch oder die Vorlesung 1 . Einige dieser Textsorten sind vorrangig mündlich, andere eher schriftlich ausgerichtet. Dabei stehen unterschiedliche Kommunikationskanäle und Medien zur Verfügung, wobei neben die Printmedien in den letzten Jahren auch elektronische Medien getreten sind. Auf der ‚vertikalen‘ Ebene werden unterschiedliche Kommunikationssituationen in den Blick genommen. Bei den Fachsprachen ist vor allem der Expertengrad der Kommunikationspartner von Bedeutung, also die Frage, ob es sich um einen Austausch zwischen Experten oder zwischen Experten und versierten Praktikern oder aber zwischen Experten und Laien handelt. Innerhalb dieser Ebenen gibt es breite Übergangsbereiche. Sie stellen keine abgegrenzten Entitäten, sondern Kontinua dar. Ein Beispiel ist die Kommunikation zwischen akademisch Lehrenden und Studierenden, die zunächst als Laien in den Bereich treten und zunehmend zu Experten werden, wobei sich auch die Kommunikationsformen mit ihren akademischen Lehrern ändern. Auf der Ebene (A) Diskursuniversen treten ebenfalls mannigfaltige Mischformen auf, etwa bei einem Förderantrag an einen potentiellen Drittmittelgeber, der neben fachlicher Experten-Experten-Kommunikation auch administrativ-institutionelle Anteile enthält und somit Überschneidungen der Bereiche Wissenschaft und Institutionen aufweist. Heinemann (2000) schlägt die ‚Textsorten der Wissenschaftsverwaltung‘ ebenfalls den ‚Textsorten des Bereichs Hochschule und Wissenschaft‘ zu. Zum Bereich ‚Hochschule und Wissenschaft‘ gehören nach ihrer Klassifikation dann auch die ‚wissenschaftlich geprägten Textsorten i.e.S.‘, die Heinemann als ‚theoriebezogene Textsorten/ informationsermittelnde und -vermittelnde Textsorten des Bereichs Wissenschaft‘ definiert (Heinemann 2000, 703). Da die ‚Textsorten der Wissenschaftsverwaltung‘ jedoch mehr Gemeinsamkeiten mit anderen Verwaltungssprachen als mit den wissenschaftlichen Textsorten aufweisen, ziehe ich die Dreiteilung von Jacob (Technik, Wissenschaft, Institutionen) vor. Es ist aber durchaus fraglich, ob die Bereiche Technik und Wissenschaft tatsächlich voneinander abgegrenzt werden können. Auf dieses Problem wird im vorliegenden Beitrag noch einzugehen sein. Meine Untersuchung habe ich, gemäß dem Rahmenthema des Bandes, an einer Textsorte durchgeführt, die schon viel Aufmerksamkeit in der 1 Zu den unterschiedlichen mündlichen und schriftlichen Textsorten der Wissenschaft cf. Heinemann (2000). Einzelfachspezifische Binnendifferenzierung 277 Forschung erfahren hat: der wissenschaftliche Zeitschriftenaufsatz, bzw. nach Gläser (1998) der ‚akademisch-wissenschaftliche Zeitschriftenaufsatz der fachinternen Kommunikation‘. Es handelt sich also auf der vertikalen Ebene (C, Punkt 2 ‚Interaktionspartner‘) um Experten-Experten- Kommunikation. Dabei tritt auf der Ebene des Diskursuniversums eine Variation auf, denn es wurden drei sehr unterschiedliche Einzelfächer untersucht. 2. Gewähltes Korpus und Vorgehensweise bei der Auswertung Das Korpus, das ich für diesen Beitrag ausgewertet habe, besteht aus jeweils 10 Fachaufsätzen der Medizin (namentlich Chirurgie), des computergestützten Spracherwerbs sowie der Mathematik. Gerade zum Thema mathematische Fachsprache sind zuletzt einige Beiträge erschienen 2 ; auch die Fachsprache der Medizin war bereits mehrfach Gegenstand linguistischer Untersuchungen 3 . Die Zeitschriften, aus denen ich das Korpus entnommen habe, sind sämtlich im Internet zugänglich und liegen somit in elektronischer Form vor, was eine Indizierung und nachfolgende Auswertung über ein Konkordanzprogramm ermöglichte. Das Korpus Medizin besteht aus sechs Aufsätzen der Fachzeitschrift Chirurgie de la main aus dem Jahr 2006 und vier Aufsätzen der Zeitschrift Annales de chirurgie aus den Jahren 2005 und 2006. Die Adressaten sind Chirurgen im Allgemeinen und speziell Mikro- und Neurochirurgen. Das Korpus Spracherwerb enthält zehn Aufsätze der Online-Zeitschrift Apprentissage des langues et systèmes d'information et de communication (ALSIC) von 2005. Die Zeitschrift publiziert theoretische Beiträge sowie solche, die auf die Unterrichtspraxis bezogen sind. Für mein Korpus habe ich jedoch Beiträge privilegiert, die sich an Experten und nicht an Praktiker richten. Thematisch ist die Zeitschrift im Bereich Fremdsprachendidaktik und E-Learning angesiedelt. Das Korpus Mathematik schließlich enthält zehn Aufsätze der periodischen Publikation Journées équations aux dérivées partielles aus den 2 Cf. z. B. die Beiträge von Atayan (im Druck) Schmidt (2003), Ranta (1997a) und Ranta (1997b). Becker (2005) bringt mit seiner Studie Licht in die Ursprünge moderner mathematischer Fachsprachlichkeit. 3 Cf. bereits Schefe (1981), aber auch von Burg (1990). Die in der akademischen Medizin weit fortgeschrittene Anglisierung der Publikationstätigkeit hat Anlass zu einer ganzen Reihe von Beiträgen gegeben, z. B. Haße (2002). Christiane Maaß 278 Jahren 1996-2003. In dieser Zeitschrift sind nicht alle Beiträge kostenfrei zugänglich, wodurch sich der längere Erfassungszeitraum erklärt. Die Beiträge dieser Zeitschrift richten sich an ein Fachpublikum von Mathematikern. Um eine quantitative Vergleichbarkeit zwischen den Korpusergebnissen sicherstellen zu können, habe ich alle Ergebnisse auf 10.000 Wörter umgerechnet. 3. Fachspezifische Binnendifferenzierungen im Korpus Für die Korpusanalyse habe ich eine Reihe von (1) morphosyntaktischen, (2) lexikalischen und (3) textuellen Aspekten herausgegriffen, die als typisch für Wissenschaftskommunikation, insbesondere für schriftliche, gelten. Die Frage, der ich dabei nachgehe, ist, ob man diese Kriterien tatsächlich in allen Einzelfächern in einem vergleichbaren Maße erfüllt findet, was die Voraussetzung dafür wäre, sie dem Diskursuniversum Wissenschaft zuzuordnen. Es sei schon einmal vorweggenommen, dass dies überwiegend nicht der Fall ist, sondern dass die einzelnen Kriterien in einem deutlich einzelfachspezifischen Ausmaß auftreten 4 . Im nächsten Schritt werde ich die Korpusergebnisse mit Blick auf die einzelfachspezifische Ausprägung der einzelnen Kriterien vorstellen und die Konsequenzen für die Binnenstrukturiertheit des Diskursuniversums Wissenschaft erörtern. 3.1 Morphosyntaktische Ebene Tempusverwendung Immer wieder wird für fachsprachliche Texte ein Überhang bei der Präsensverwendung konstatiert 5 . Der Präsensüberhang findet sich auch tatsächlich in allen untersuchten Teilkorpora, allerdings in sehr unterschiedlichem Ausmaß, wie Abbildung 2 (cf. Anhang) veranschaulicht, in der die 4 Solche Unterschiede sind bereits in vorangegangenen Studien konstatiert worden. Exemplarisch ist die Studie von Ramm/ Villiger (1997), die medizinische und juristische Fachtexte vergleicht. 5 Cf. z. B. Kretzenbacher (1995). Steinhoff (2007, 178) stellt anhand einer Korpusstudie eine deutliche Konvergenz von Präsensverwendung und „Verfasser-Ich (z. B. ‚Ich gehe im Folgenden von ... aus‘)“ bzw. „Forscher-Ich (z. B. ‚Ich definiere ... als ...‘)“ fest. Einzelfachspezifische Binnendifferenzierung 279 Konsequenz aus dem Präsensüberhang visualisiert wird, nämlich die vergleichsweise beschränkte Verwendung von Vergangenheitstempora. Die Abbildung belegt auch, dass der Anteil der Vergangenheitstempora an allen finiten Verbformen für das Korpus Medizin 35,3% und damit ein reichliches Drittel aller finiten Verbformen beträgt. Für das Korpus Spracherwerb liegt er bei nur 3,9% und für Mathematik sogar bei nur 3,1%. Ein stichprobenartiger Vergleich mit einem Zeitungskorpus (Le- Monde 6 ) belegte dort für einen Korpusausschnitt, der 500 finite Verbformen enthält, einen Anteil der Vergangenheitstempora an allen finiten Verbformen von 60,7%, was deutlich über den Werten aller drei wissenschaftssprachlichen Teilkorpora (inklusive Medizin) liegt. Allerdings verwundert dies nicht angesichts der Tatsache, dass Zeitungen vorrangig über kürzlich Geschehenes und seine Hintergründe berichten. Die Tempusverwendung in narrativen Werken dürfte stark von der Auswahl des Korpus abhängen: Gerade der französische Nouveau Roman bedient sich extensiv des narrativen Präsens und wird auch als Präsensroman 7 bezeichnet. Es ist anzunehmen, dass der Anteil der Vergangenheitstempora in solchen Werken deutlich unter dem in ‚klassischen‘ Romanen liegt. Für das hier analysierte Korpus sind die Abweichungen zwischen den Teilkorpora mehr als deutlich. Der hohe Anteil von Vergangenheitstempora im Medizin-Korpus ist zum Teil der Binnentextsorte ‚Fallbericht‘ 8 als spezieller Ausprägung der Textsorte ‚wissenschaftlicher Zeitschriftenaufsatz‘ geschuldet. Jedoch handelt es sich dabei eben um eine Textsorte, die für den medizinischen Diskurs besonders typisch und dort in besonderem Maße verbreitet ist. Allerdings lässt sich die Tatsache, dass der Anteil der Vergangenheitstempora in Medizin ungefähr zehnmal höher ist als in den anderen Teilkorpora, nicht allein auf die Binnentextsorte ‚Fallbericht‘ zurückführen, denn Ramm/ Villiger (1997) haben gezeigt, dass die sprachlichen Konventionen für Fallberichte in unterschiedlichen Fächern ebenfalls voneinander abweichen. Die Autorinnen gehen in ihrem Vergleich medizinischer und juristischer Fallberichte zwar nicht auf die Tempuswahl im Korpus ein, sie verweisen aber in ihrem Beitrag darauf, dass die Fallbeschreibung bei juristischen Fallberichten erheblich knapper ausfällt als bei medizinischen. Es ist anzunehmen, dass damit auch der Anteil der Vergangenheitstempora geringer ausfällt; die Verifizierung dieser Annahme bedürfte jedoch einer eigenen Korpusstudie. 6 Zu diesem Korpus cf. Maaß (im Druck). 7 Fludernik (2002, 26). 8 Zu dieser medizinspezifischen Textsorte cf. Wiese (2000); Ramm/ Villiger (1997). Christiane Maaß 280 Wo treten nun die Vergangenheitstempora auf? Bei Mathematik und Spracherwerb handelt es sich im Allgemeinen um intertextuelle oder intratextuelle Verweise, d. h. es wird ausgeführt, dass ein anderer Autor zu diesem Thema eine Studie vorgelegt hat bzw. dass auf diesen Aspekt bereits eingegangen wurde, so etwa im folgenden Beispiel: (1) Ce caractère non canonique des opérateurs d'onde n'est pas surprenant, on le rencontre aussi dans le problème de Coulomb, comme on l'a indiqué dans l'introduction (Mathematik). Darum also auch ein Überhang beim Passé composé und die vollständige (bei Mathematik) bzw. fast vollständige (bei Spracherwerb) Abwesenheit von Imparfait. Im Teilkorpus Medizin tritt diese Verweisfunktion der Tempora aber so gut wie gar nicht auf. Die Vergangenheitstempora werden in Medizin zur Schilderung von Symptom- und Behandlungsverläufen eingesetzt. Entsprechend findet sich eine deutliche Präsenz von Imparfait neben dem Passé composé. Ein typisches Beispiel ist etwa das folgende: (2) Une douleur déclenchée au pin test a été retrouvée chez tous les patients…. La lésion n'était palpable chez aucun patient. Seul un patient présentait une déformation unguéale. Deux autres présentaient une coloration bleutée localisée au centre de la tablette (Medizin). Ich halte diesen Befund für aussagekräftig bezüglich der fachspezifischen Ausprägung von Wissenschaftskommunikation und sehe auch die wieteren Kriterien, auf die ich in Folge noch eingehen werde, in dieser Linie. Bei mathematischen Texten wie denen in meinem Korpus, aber auch bei vielen geistes- und kulturwissenschaftlichen, bleiben die untersuchten Gegenstände weitgehend ‚diskursimmanent‘. D. h. es wird fast gar nicht über konkrete Gegebenheitsweisen von Gegenständen der außersprachlichen Welt verhandelt. Der Diskurs ist im Wesentlichen sprachgeneriert und sprachgetragen. Basierend auf den Regeln des Diskurses werden Theoreme abgeleitet und verteidigt, die zu einer Argumentation zusammengeführt und interpretiert werden. Der Unterschied zum Diskursuniversum Technik mit seinen Konstruktions- und Anwendungsvorgaben ist hier besonders groß. Im Bereich Technik werden im Wesentlichen Eigenschaften konkreter Gegenstände beschrieben, und zwar oft mit Blick auf die Ausführung bestimmter Handlungen an oder mit diesen Gegenständen, wie das etwa in Benutzerhandbüchern und Bedienungsanleitungen der Fall ist, die eindeutig dem Diskursuniversum Technik zugehören. Einzelfachspezifische Binnendifferenzierung 281 Hier wiederum besteht ein deutlicher Überschneidungsbereich mit den Texten des Korpus Medizin: Es werden konkrete Patienten mit ihren Symptomen und die angewandten Behandlungen beschrieben und teilweise explizite Handlungsanweisungen erteilt; im Korpus Medizin finden sich etwa die folgenden Anweisungen: „L'opérateur doit veiller au maintien“, „les symptômes x nécessitent l'emploi“, „sit. x impose y“ etc. Zwar sind die Behandlungsmöglichkeiten im medizinischen Diskurs verankert, sie werden jedoch ganz konkret und handwerklich an den Patienten ausgeführt und die Ergebnisse werden beschrieben. Außerdem sind die Komplikationen und Mortalitätsraten nicht diskursgeneriert, sondern treten dem Autor konkret entgegen und werden als Teil der praktischen Handlung und ihrer Folgen dokumentiert. Auch hier weist der medizinische Diskurs mehr Gemeinsamkeiten mit dem technischen als mit dem diskursimmanenten mathematischen auf. Die Abweichungen zwischen den Teilkorpora, namentlich Medizin und Mathematik, lassen sich meines Erachtens weitgehend auf diesen fundamentalen Unterschied im Gegenstandsbereich der verschiedenen Wissenschaften zurückführen. Das gilt auch für das folgende Kriterium, nämlich das Ausmaß des Auftretens passivischer Konstruktionen. Aktiv/ Passiv Für die schriftlichen Textsorten der Wissenschaftskommunikation wird von einem vergleichsweise hohen Passivanteil ausgegangen 9 . Der Anteil der Passiv-Konstruktionen beträgt im Medizin-Korpus 25,4%, im Spracherwerb-Korpus mit 12,7% exakt die Hälfte und im Mathematik-Korpus mit 8,0% weniger als ein Drittel der Werte von Medizin (cf. Abbildung 3, im Anhang). Die Korpusergebnisse waren hier für alle Teilkorpora eine Überraschung, denn die Grafik belegt, dass der Aktivanteil für die einzelnen Korpora zwischen 75% und immerhin 92% liegt. Von ‚überdurchschnittlich‘ kann man hier nur im Vergleich mit Textsorten ausgehen, die über einen noch geringeren Anteil von Passivkonstruktionen verfügen; der stichprobenartige Vergleich mit dem Zeitungskorpus LeMonde erbrachte dort auf 500 finite Verbformen einen Passivanteil von 13%, was in etwa dem Korpusmittel für das Korpus wissenschaftlicher Fachaufsätze entspricht. Eine spezifische Eigenheit wissenschaftlicher Sprache scheint 9 Cf. z. B. Kalverkämper (1998) oder Cavagnoli (1999). Christiane Maaß 282 hier nicht vorzuliegen, denn lediglich das Medizin-Korpus weist gegenüber dem Zeitungskorpus einen erhöhten Passiv-Anteil aus, während der Passiv-Anteil im Mathematik-Korpus unterdurchschnittlich ist. Interessant ist allerdings, dass sich die Passivkonstruktionen bei den Teilkorpora Spracherwerb und Mathematik wiederum vorrangig in inter- und intratextuellen Verweisen finden: (3) Signalons que la minimisation de w a été étudiée dans [9] (Mathematik) (wobei sich [9] auf den 9. Titel der Literaturliste im Anhang an den Aufsatz bezieht). (4) Ce modèle a été testé par Landauer et Dumais [Landauer97] (Spracherwerb). Im Korpus Medizin dagegen wird Passiv in starkem Maße eingesetzt, um Behandlungsformen darzustellen, wobei die Patienten dann ganz klassisch zum Pátient werden: (5) […] après éradication, les patients étaient traités en continu par double dose d'oméprazole ou chirurgie antireflux; […] (Medizin). So erklären sich auch die auftretenden Fälle von Imparfait passif, eine Zeitform, die in den anderen Teilkorpora gänzlich fehlt. Anteil finiter Verben/ Nominalstil Der Nominalstil ist eines der am besten untersuchten Phänomene von Fachsprachlichkeit. Für den vorliegenden Beitrag richte ich den Blick auf ein spezielles Phänomen, das aus der Verlagerung aufs Nominale folgt, nämlich die Zahl finiter Verben relativ zur Gesamtzahl der Wörter. Es ist davon auszugehen, dass der Nominalstil zu einer vergleichsweise geringen Zahl finiter Verben führt, da wesentliche Informationen über nicht finite, nominale Strukturen kommuniziert werden. In der Tat zeigen alle Teilkorpora eine relativ geringe Zahl finiter Verben, wobei wiederum eine deutliche fachspezifische Ausprägung zu beobachten ist (cf. Abbildung 4, im Anhang). Mathematik weist alle 20,3 Wörter eine finite Verbform auf, wobei die Aussagekraft dieses Wertes im Korpus Mathematik durch die Formeln beeinträchtigt wird: Löst man die Formeln syntaktisch auf, so enthalten sie weitere finite Verben. So müsste das Gleichheitszeichen in der simplen Formel a+b=c im mündlichen Vortrag durch ein finites Verb (dt. ist, bzw. frz. fait) ersetzt werden, das bei der quantitativen Auswertung aber nicht berücksichtigt worden wäre. Direkt vergleichbar sind jedoch die Werte für Spracherwerb und Medizin: Spracherwerb weist eine finite Einzelfachspezifische Binnendifferenzierung 283 Verbform alle 18,4 Wörter auf. Medizin enthält dagegen nur eine finite Verbform alle 25,6 Wörter, dazu noch oft semantisch besonders wenig aussagekräftige Verben. Das folgende Beispiel aus Medizin enthält auf 20 Wörter ein einziges finites Verb, nämlich être + prädikatives Adjektiv: (6) Au recul de 11 mois, la cicatrice est souple sans raideur métacarpophalangienne, avec des aires ganglionnaires libres et sans hépatosplénomégalie (Medizin). Die weiteren Informationen sind auf die Präpositionalphrasen verlagert, eine Strategie, die sich im Medizin-Korpus überdurchschnittlich oft findet. Wietere Strategien der Vermeidung finiter Verbformen sind der massive Einsatz von Konstruktionen mit Gérondif und Partizipien oder auch Aufzählungen nominaler Elemente ohne weitere argumentative Einbindung wie im folgenden Beispiel: (7) D'autres formes sont rapportées: localisations ganglionnaires sans lésion primitive cutanée décelable, métastases viscérales isolées, syndromes endocriniens associés (hypersécrétion d'ACTH ou de calcitonine), formes peu lymphophiles avec des lésions ulcéronécrotiques de grande taille … (Medizin). Der wenig argumentative Charakter der Medizin-Texte tritt in solchen Strukturen deutlich hervor. Es werden Beschreibungen abgegeben, die Vorgängerstudien werden nicht argumentativ aufgegriffen, sondern lediglich zur Vervollständigung des eigenen Berichts eingesetzt. Ramm/ Villiger (1997) ordnen medizinische Fachtexte deshalb dem deskriptiven Texttyp zu und konstatieren, die Autoren solcher Texte ließen „die Fakten für sich sprechen“ (Ramm/ Villiger 1997, 212). Konnektoren Konnektoren sind zentral für die argumentative Vernetzung eines Textes. Das Ausmaß ihres Auftretens lässt folglich direkte Schlüsse über die Kohäsivität und Transparenz der argumentativen Entfaltung zu. In Abbildung 5 (cf. Anhang) sind sechs der frequentesten Konnektoren der drei Teilkorpora und ihr jeweiliges Vorkommen dargestellt. Die Tabelle belegt, dass die Texte im Medizin-Korpus deutlich geringer argumentativ verknüpft sind: Spracherwerb weist mit 53,5 Tokens der genannten Konnektoren auf 10.000 Wörter mehr als doppelt so viele Tokens auf wie Medizin, Mathematik sogar fast fünfmal so viele, nämlich 112,4. Besonders deutlich ist der Abstand bei den argumentativen Konnektoren si und alors, die eine Bedingung bzw. eine Folgerung ankündi- Christiane Maaß 284 gen. Alors tritt, wie Tabelle 1 belegt, in Medizin mit 2 Tokens auf 10.000 Wörter auf, in Mathematik mit 38,2 Tokens dagegen fast zwanzigmal so oft. Si erreicht in Medizin 4,7 Tokens auf 10.000 Wörter, in Mathematik dagegen 33,9, ungefähr den siebenfachen Wert. Der Grund für die Abweichung liegt meines Erachtens wiederum in der unterschiedlichen Verfasstheit der Untersuchungsgegenstände und Untersuchungsmethoden: intradiskursiv-argumentativ bei Mathematik, zustands- und ereignisbeschreibend bei Medizin. Hinzu kommt der Terminologiestatus einiger Konnektoren in der mathematischen Fachsprache, der zu einer erhöhten Tokenzahl für eine ausgewählte Reihe von Konnektoren (darunter si und alors) führt. Jedoch zeigt der Vergleich mit dem Medizinkorpus, dass dort nicht etwa andere Konnektoren verwendet werden, sondern dass die niedrigeren Tokenzahlen tatsächlich auf eine weniger starke argumentative Verknüpfung zurückgehen. Der Vergleich mit dem Vergleichskorpus LeMonde belegt, dass die Verwendung dieser Konnektoren dort recht genau dem Korpusmittel entspricht: Im Zeitungskorpus LeMonde erscheinen 60,7 Tokens der genannten Konnektoren auf 10.000 Wörter, das Korpusmittel für die wissenschaftlichen Fachaufsätze liegt bei 63,0 Tokens. Es ist folglich wiederum hinsichtlich der Wahl und der Präsenz der Konnektoren im Korpusmittel keine ‚wissenschaftstypische‘ Sprachverwendung auszumachen (cf. Abbildung 6, im Anhang). 3.2 Lexikalische Ebene Termini Auf der lexikalischen Ebene wird in der Fachsprachenforschung seit ihren Anfängen auf die spezielle Ausprägung von Fachterminologie verwiesen. Dieses zentrale Kriterium wird von allen drei Teilkorpora gleichermaßen erfüllt. Fachtermini finden sich aber ebenso in Texten der Diskursuniversen Technik und Institutionen. Fachterminologie ist typisch für Fachkommunikation im Allgemeinen, nicht nur für Wissenschaftskommunikation im engeren Sinne. Terminologisierung ‚alltagssprachlicher‘ Sprachverwendung Bislang in der Forschung wenig thematisiert ist die Terminologisierung ‚alltagssprachlicher‘ Sprachverwendung in der wissenschaftlichen Fachsprache. Diese findet sich für alle Teilkorpora im Bereich der Nomina Einzelfachspezifische Binnendifferenzierung 285 und Verben. Ein Terminus, der in allen drei Korpora vorkommt, ist beispielsweise application. Er bezeichnet im Korpus Mathematik eine „action d'étendre sur, d'apposer une chose contre une autre“ (Dictionnaire de l'Académie française, 9 e édition): (8) Soit (X, ) un espace vectoriel symplectique réel. Une représentation CCR basée 1. sur (X, ) est une application: Im Korpus Spracherwerb finden sich zwei sehr unterschiedliche Verwendungen von application, nämlich einerseits die der alltagssprachlichen entsprechende, mit der die ‚Anwendung‘ erlernter grammatischer Regeln in Übungen und in der Konversation bezeichnet wird. Darüber hinaus findet sich auch die Bedeutung ‚Computerprogramm‘, wo nämlich Sprachlernsoftware mit ihren Möglichkeiten vorgestellt wird: (9) Sur le graphe de la figure 2, nous définissons un indice de variabilité qui est, pour chaque type de texte, le rapport du nombre d'étoiles détectées sur le pourcentage de texte utilisé par l'application. Im Teilkorpus Medizin schließlich bezeichnet application die Aktion des Aufbringens einer stützenden Apparatur auf den Knochen. Die Terminologisierung dieses Begriffs hat also zu sehr unterschiedlichen Spezialbedeutungen in den einzelnen Fachwissenschaften geführt. Im Teilkorpus Mathematik ist darüber hinaus eine Terminologisierung bis hinein in die Konnektoren und sonstigen textkohäsiven Elemente zu beobachten: Beispiele sind tel que, oder das inkludierende ou (‚oder‘), das von der üblichen alltagssprachlichen Verwendung von oder abweicht 10 . Gleiches trifft auch auf si und donc zu, was erklärt, warum diese Konnektoren in Mathematik eine derartig erhöhte Präsenz aufweisen. Fachspezifische Präsenz bestimmter argumentativer Verben/ Nomina Was die fachspezifische Präsenz bestimmter argumentativer Verben und Nomina angeht, ist Mathematik wieder das auffälligste der drei Korpora. In Abbildung 7 (cf. Anhang) erscheinen die frequentesten argumentativen 10 Man denke an den Mathematikerwitz, der eben auf der abweichenden Bedeutung von ou bzw. oder in der mathematischen Fachsprache aufbaut: Une femme vient d'accoucher à l'hôpital. On vient demander à son mari, mathématicien: „C'est un garçon ou une fille? “ Il répond: „Oui“. Christiane Maaß 286 Verben und Nomina der drei Teilkorpora, wobei sich wieder ein deutlicher Unterschied zwischen den drei Fachdisziplinen abzeichnet. Formen von définir/ définition (3. Zeile) treten in Medizin mit 1,2 Tokens auf 10.000 Wörter auf, in Spracherwerb mit 9,3 und in Mathematik mit 21,8, fast der zwanzigfache Wert von Medizin. Formen von supposer (‚annehmen‘) fehlen in Medizin ganz, in Spracherwerb finden sich 1,7, in Mathematik dagegen 11,5 auf 10.000 Wörter. Insgesamt zeigt Mathematik bei den hier vorgestellten zentralen argumentativen Verben und Nomina den mehr als achtfachen Wert von Medizin und den knapp vierfachen Wert von Spracherwerb. Grund ist wiederum die Abweichung bei der konzeptuellen Verfasstheit der Untersuchungsgegenstände: Der diskursgenerierte Untersuchungsgegenstand führt bei Mathematik zu einer stark argumentativen Struktur, die bei Medizin fast vollständig abwesend ist. 3.3 Textuelle Ebene Thema-Rhema Die Thema-Rhema-Gliederung steht in der deutschen Fachkommunikationsforschung immer wieder im Fokus der Aufmerksamkeit. Bei französischen Fachtexten spielt dieser Aspekt dagegen eine untergeordnete Rolle, wie auch in der Literatur bereits festgestellt wurde (Pöckl 1999; Blumenthal 1983). Das liegt u. a. an den syntaktischen Besonderheiten der französischen Sprache, die hinsichtlich der syntaktischen Markierbarkeit engere Grenzen aufweist als etwa das Deutsche, Englische oder Italienische. Die beiden folgenden Aspekte der textuellen Verfasstheit gelten jedoch auch für das französische Korpus. Starrheit der textuellen Organisation Mit Bezug auf die textuelle Organisation ist die Homogenität der Fachaufsätze in Medizin mit Abstand am größten, und zwar was die Zahl der unterschiedlichen Teilabschnitte angeht, aber auch z. B. mit Blick auf die Wahl der Überschriften. Am wenigsten homogen ist das Teilkorpus Spracherwerb, während Mathematik in der Mitte zwischen beiden Extremen liegt. Dies ist zwar auch den redaktionellen Vorgaben geschuldet, jedoch sind diese eindeutig fachspezifisch. Im Korpus Medizin zeigt sich eine Homogenisierungstendenz, die bei Fachpublikationen international vor allem in den Naturwissenschaften zu beobachten ist - und mithin auch ein deutlicher Einfluss der angloamerikanischen Forschungstradition selbst dort, Einzelfachspezifische Binnendifferenzierung 287 wo die Publikationen in der Nationalsprache vorliegen. Das ist für die beiden anderen Fächer, Mathematik und Spracherwerbsforschung, nicht in diesem Maße zu beobachten. Gestaltung und Layout Die Gestaltung wissenschaftlicher Texte weist eine Reihe von Besonderheiten auf. Immer wieder wird auf Fußnoten und Bibliographie verwiesen sowie auf die Präsenz von Grafiken und veranschaulichendem Bildmaterial. In Abbildung 8 (cf. Anhang) werden die einzelnen Teilkorpora bezüglich dieser Charakteristiken gegenübergestellt. Auffällig ist dabei zunächst, dass die untersuchten Beiträge so gut wie keine Fußnoten enthalten, obwohl diese als eines der zentralen Layoutkriterien für wissenschaftliche Texte gelten. Lediglich im Korpus Spracherwerb finden sich einige vereinzelte Fußnoten, in den anderen Korpora sind dagegen keine enthalten. Dagegen besitzen alle Beiträge eine Bibliographie und - bis auf die drei ältesten Texte des Mathematik-Korpus 11 - ein Abstract bzw. Résumé, wobei die Medizin- und die Mathematiktexte jeweils ein Résumé in Französisch und Englisch, die Spracherwerbstexte dagegen nur französische Résumés aufweisen. Grafiken kamen vor allem im Spracherwerbskorpus häufig vor, in den beiden anderen Teilkorpora dagegen nur sporadisch. Tabellen treten im Medizinwie im Spracherwerbskorpus gelegentlich auf, nicht jedoch im Mathematikkorpus. Alle Beiträge enthalten mehr oder weniger ausführliche Zwischenüberschriften. Fotos und Zeichnungen finden sich ausschließlich im Medizinkorpus, dort jedoch in hoher Zahl. Es bleibt zu konstatieren, dass die Gegliedertheit in überschriebene Abschnitte und die Bibliographie die einzigen Eigenschaften sind, die bei allen Texten im Gesamtkorpus auftreten. Hinzu kommt die fast durchgehende Präsenz des Résumés. Das Vorhandensein der anderen Layoutkriterien ist dagegen wiederum in hohem Maße einzelfachabhängig. Diskursdeiktische Verweise Ein letzter Aspekt, auf den ich eingehen möchte, sind die argumentativen diskursdeiktischen Verweise, d. h. Verweise auf Informationen und Argumente, die im vorliegenden Fachaufsatz entweder bereits genannt wurden 11 Von 1996 und 1997, offensichtlich wurden die Style-Vorgaben des Zeitschriftenherausgebers geändert. Christiane Maaß 288 oder die noch folgen werden 12 . Auch hier treten wieder erhebliche Unterschiede zwischen den Teilkorpora auf, die in Abbildung 9 (cf. Anhang) veranschaulicht sind. In Medizin finden sich nur 11,9 argumentative diskursdeiktische Verweise auf 10.000 Wörter - ein Wert, der weit unterhalb anderer, auch nichtwissenschaftlicher Textsorten liegt, selbst wenn diese ebenfalls nicht besonders ausgeprägte argumentative Strukturen aufweisen, wie das etwa bei Zeitungstexten der Fall ist. Das Vergleichskorpus LeMonde enthält mit immerhin 24,2 argumentativen diskursdeiktischen Verweisen auf 10.000 Wörter mehr als die doppelte Anzahl. Ein Korpus mit Debatten im französischen Senat (Sénat) weist 85,7 Tokens auf 10.000 Wörter auf und ein Korpus spontaner mündlicher Dialoge mit 98 Tokens auf 10.000 Wörter mehr als den achtfachen Wert 13 . Aber auch die anderen Teilkorpora Spracherwerb und Mathematik liegen deutlich jenseits der Werte von Medizin: Das Korpus Spracherwerb enthält mit 31,3 Tokens auf 10.000 Wörter immerhin knapp dreimal so viele argumentative diskursdeiktische Verweise wie Medizin. Das Korpus Mathematik schließlich weist mit 117,6 argumentativen Verweisen auf 10.000 Wörter einen überdurchschnittlichen Wert auf, der fast zehnmal so hoch ist wie der von Medizin und sogar die Tokenzahlen des spontanen mündlichen Korpus (98 Tokens auf 10.000 Wörter) übersteigt. Die Varianz innerhalb des wissenschaftssprachlichen Korpus übersteigt hier bei Weitem die Abweichungen zu den anderen untersuchten Korpora 14 . Die Präsenz diskursdeiktischer Verweise, die bislang als typische Eigenschaft von Wissenschaftssprache angenommen wurde, ist folglich nur in einigen Fachdisziplinen prägend, während andere Disziplinen und Binnentextsorten (wie eben medizinische Fallberichte) deutlich unterdurchschnittliche Werte aufweisen. 12 Zu Diskursdeixis in wissenschaftlichen Texten cf. Maaß (2006) und Maaß (im Druck). 13 Für Details zur Präsenz diskursdeiktischer Verweise in diesen Korpora cf. Maaß (im Druck). 14 Zur Auswahl der Teilkorpora cf. Maaß (im Druck). Einzelfachspezifische Binnendifferenzierung 289 4. Schlussfolgerungen für die Binnenstrukturiertheit der französischen Wissenschaftssprache Die korpusgestützte Untersuchung bestimmter Eigenschaften, die als typisch für schriftliche Wissenschaftskommunikation gelten, hat gezeigt, dass man kaum belastbare Kriterien für Wissenschaftssprachlichkeit auf der sprachlichen Oberfläche findet. Der eindeutigste Unterschied zu nichtwissenschaftlichen Vergleichskorpora besteht hinsichtlich der Präsenz von Termini. Diese Eigenschaft teilen wissenschaftliche Texte jedoch mit anderen, nichtwissenschaftlichen Textsorten, die ebenfalls zur Fachsprache gehören, etwa mit Benutzerhandbüchern oder Textsorten der Verwaltungssprache. Alle weiteren Kriterien auf morphosyntaktischer, lexikalischer und textueller Ebene - von den Konnektoren bis zum Layout - sind in einem so deutlichen Maße einzelfachabhängig, dass die Variation zwischen den Teilkorpora der verschiedenen hier untersuchten Disziplinen oft größer ist als die Abweichungen zu nichtwissenschaftlichen Vergleichskorpora. Dabei stellten für die meisten Kriterien die beiden Korpora Medizin und Mathematik die Extrempunkte dar. Ist dies ein Indiz dafür, dass es die Wissenschaftssprache gar nicht gibt? Und sollte man aufgrund dieser Befunde die Medizin-Texte nicht besser dem Diskursuniversum Technik und nicht dem Diskursuniversum Wissenschaft zuordnen? Diese Lösung widerspricht ganz klar unserer Intuition, aber auch der kommunikativen Praxis: Für Laien sind Ärzte der Prototyp des Doktors. Die medizinische Kommunikation gehört heute unzweifelhaft zum akademisch-wissenschaftlichen Diskursuniversum. Dazu zählt auch die Chirurgie, trotz ihres jahrhundertelangen Intermezzos auf Jahrmärkten, wo Quacksalber kleinere chirurgische Eingriffe vornahmen und der handwerkliche Aspekt deutlich im Vordergrund stand. Auch in der Etymologie von Chirurg als ‚Handwerker‘ wird der Übergang zum Bereich Technik sehr deutlich. Das steht heute nicht mehr in dieser Weise im Vordergrund. Vielmehr bleibt die Einheit der Wissenschaftssprache auf der Ebene des Diskursuniversums intakt, trotz großer fachspezifischer Unterschiede bei der Konzeption des Untersuchungsgegenstandes. Diese Unterschiede haben Auswirkungen bis hinein in die Mikroeigenschaften der sprachlichen Ausgestaltung (Morphosyntax, Lexik und textuelle Gestaltung), führen aber dennoch nicht zur Aufgabe eines einheitlichen Diskursuniversums Wissenschaft, das eine diskursgenerierte Kategorie darstellt, die keine unmittelbare Entsprechung in einer abgegrenzten Sprachform findet. 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Interaktionspartner 3. darüber hinausgehende Faktoren der pragmatischen Konstellation Abbildung 1: Binnendifferenzierung im Bereich der Fachkommunikation 0 10 20 30 40 Medizin 35,3 Spracherwerb 3,9 Mathematik 3,1 Abbildung 2: Anteil der Vergangenheitstempora an allen finiten Verben im Korpus Einzelfachspezifische Binnendifferenzierung 293 0 10 20 30 40 Medizin 25,4 Spracherwerb 12,7 Mathematik 8 Abbildung 3: Anteil der Passiv-Konstruktionen im Korpus (in Prozent) 0 10 20 30 40 Medizin 25,6 Spracherwerb 18,4 Mathematik 20,3 1. Qrtl. Abbildung 4: Abstand zwischen den finiten Verbformen (Einheit: Wort) Christiane Maaß 294 Konnektor Medizin Spracherwerb Mathematik alors 2,0 6,3 38,2 donc 6,7 6,5 16,7 lorsque 1,7 2,2 6,1 mais 6,7 20,9 11,5 quand 1,2 1,9 6,1 si 4,7 15,7 33,9 Gesamt 23,0 53,5 112,4 Abbildung 5: Vorkommen zentraler Konnektoren in den Korpora, Tokenzahl auf 10.000 Wörter Konnektor Medizin Spracherwerb Mathematik LeMonde alors 2,0 6,3 38,2 7,6 donc 6,7 6,5 16,7 4,5 lorsque 1,7 2,2 6,1 1,1 mais 6,7 20,9 11,5 31,9 quand 1,2 1,9 6,1 3,6 si 4,7 15,7 33,9 12,0 Gesamt 23,0 53,5 112,4 60,7 Abbildung 6: Vorkommen zentraler Konnektoren in den Korpora im Vergleich mit LeMonde, Tokenzahl auf 10.000 Wörter Medizin Spracherwerb Mathematik ‚attendre‘ * 0,6 2,8 1,8 ‚conduir‘ * 0,9 1,5 3,0 ‚définir‘ * / définition 1,2 9,3 21,8 ‚démontrer‘ * 3,5 0,4 10,3 ‚introduir‘ * 0 1,7 5,8 ‚montrer‘ * 6,4 5,7 15,1 ‚poser‘ * 0,6 1,7 7,0 ‚supposer‘ * 0 1,7 11,5 ‚vérifier‘ * / vérification 0,3 1,7 24,2 admettant 0 0 1,8 problème(s) 0,6 5,7 17,6 soit 2,9 4,1 23,3 théorie 1,5 1,3 7,0 Gesamt 18,4 38,0 150,3 * ‚Formen von …‘ Abbildung 7: Argumentative Verben und Nomina, Tokenzahl auf 10.000 Wörter Einzelfachspezifische Binnendifferenzierung 295 Medizin Spracherwerb Mathematik Fußnoten keine 4 von 10 Beiträgen, insg. 9 Fußnoten keine Bibliographie alle alle alle Abstract/ Résumé alle, Frz. und Engl. alle, nur Frz. die 3 ältesten Beiträge (1997 und 1996) ohne Abstract, die anderen Frz. und Engl. Grafiken 1 von 10 Beiträgen, dieser enthält 8 Grafiken 7 von 10 Beiträgen, insg. 25 Grafiken 2 von 10 Beiträgen, insg. 8 Grafiken Tabellen 4 von 10 Beiträgen, insg. 16 Tabellen 4 von 10 Beiträgen, insg. 14 Tabellen keine Zwischen-/ Unterüberschriften alle alle alle, davon ein Beitrag mit minimalen Einwortüberschriften Fotos/ Zeichnungen 7 von 10 Beiträgen, insg. 32 Fotos und 6 Zeichnungen keine keine Abbildung 8: Gestaltung und Layout der Fachaufsätze, absolute Zahlen 0 20 40 60 80 100 120 Medizin 11,9 Spracherwerb 31,3 Mathematik 117,6 Abbildung 9: Argumentative diskursdeiktische Verweise Alf Monjour „Tanto para expertos como para no expertos“. Wikipedia als Medium spanischer Wissenschaftssprache 1. Zum Problem „Tanto para expertos como para no expertos“: Dieser Satz steht als Devise auf der Homepage der spanischen Wikipedia im Gebrauchsanweisungskapitel „El artículo perfecto“ 1 . Er scheint perfekt die Rolle von Wikipedia als Medium heutiger Wissenschaftssprache zu charakterisieren, und zwar in ihrer doppelten diskursiven Funktion, in der Fachkommunikation zwischen Fachmann und Laie ebenso wie zwischen Fachmann und Fachmann; einer Formulierung des US-amerikanischen Schriftstellers Nicholson Baker zufolge ist Wikipedia „der Knoten zwischen den Autodidakten und den Gelehrten“ (Baker 2008, 16). Anhand einiger Beispiele aus der spanischen Wikipedia soll diese Rolle im Folgenden ein wenig erläutert und dabei der Frage nachgegangen werden, inwieweit auch die sprachliche Struktur der Wikipedia-Artikel dieser diskursiven Funktion gerecht wird. Nun scheint sich ein erster grundsätzlicher Einwand gegen diese Überlegungen bereits aus dem schlechten Image der Online-Enzyklopädie im akademischen Raum zu ergeben: Wikipedia und Wissenschaft? Wird den Studierenden nicht geradezu verboten, Wikipedia als Quelle für ihre Hausarbeiten zu benutzen? Sprechen die Anonymität der Wikipedia- Autoren und die ständige Unabgeschlossenheit der Artikel, mithin die Flüchtigkeit des Mediums, nicht gegen den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit? Natürlich lassen sich gegen diese Einwände Gegenargumente prinzipieller Art zitieren - auch traditionelle Enzyklopädien enthalten nicht nur namentlich gezeichnete Artikel und jegliche Version eines Wikipedia-Artikels ist zu jedem beliebigen Zeitpunkt wieder rekonstruierbar, ältere und neuere Versionen stehen nebeneinander quasi wie ältere und neue Auflagen einer traditionellen Enzyklopädie -, aber auch 1 Cf. http: / / es.wikipedia.org/ wiki/ Wikipedia: El_artículo_perfecto; Stand: 17.10.2008. Alf Monjour 298 im Detail lässt sich weiter argumentieren: Seit einigen Jahren gibt es eine aufblühende Wikipedia-Forschung, und im Zentrum der Diskussion steht dabei immer wieder das Problem der inhaltlichen Zuverlässigkeit der Online-Enzyklopädie. Bekannt wurde vor allem die in Nature erschienene Untersuchung aus dem Jahre 2005 von Jim Giles, bei der knapp 50 Beiträge jeweils aus Wikipedia und der Encyclopaedia Britannica von betroffenen Fachwissenschaftlern kontrolliert wurden; „zusammengenommen hatten die untersuchten Einträge [in Wikipedia] 162 faktische Fehler, Auslassungen bzw. Irreführungen, die Artikel der Encyclopaedia Britannica jedoch ebenfalls 123“ (Pentzold 2007, 53) 2 - ein Ergebnis, das für Wikipedia als „Ritterschlag als vollwertige Enzyklopädie“ interpretiert wurde (Schuler 2007, 50); den ‚Rückschlag‘ stellte dann übrigens Ende 2005 der ‚Fall Seigenthaler‘ dar, als einem US-Journalisten in Wikipedia monatelang unentdeckt Verwicklung in den Kennedy-Mord unterstellt wurde. In einer anderen Studie aus dem Jahre 2006 von Thomas Chesney mussten Fachwissenschaftler Wikipedia-Artikel aus ihrem eigenen wie auch aus anderen Fachgebieten evaluieren - und interessanterweise fiel das Ergebnis so aus, „dass gerade die Experten dazu neigten, die Artikel als glaubhaft [...] einzustufen, weniger die Nichtexperten“ (Grotjahn 2007, 78). Wenn diese positiven Qualitäts-Evaluationen zutreffen, dann steht einer Einbeziehung von Wikipedia in die Quellen der Wissenschaftssprache nun in der Tat von inhaltlicher Seite nichts mehr im Weg - sinnvoll wäre nurmehr eine Überprüfung auch der sprachlichen Qualität der Artikel, und eine solche ist bislang in der Sekundärliteratur weder angedacht geschweige denn bereits geleistet worden. In der erwähnten Wikipedia- Forschung, in Deutschland auch unter dem Terminus ‚Wikipedistik‘ 3 bereits lexikalisiert bzw. ‚wikipedisiert‘, scheinen system-, informationsbzw. diskurstheoretische Perspektiven vorzuherrschen - eines unter verschiedenen Beispielen etwa ist die Anwendung des Foucaultschen Dispositiv-Begriffs auf die Analyse von Wikipedia bei Christian Pentzold, der die Online-Enzyklopädie mit Foucault als „komplexen und vielfältig wirkenden Apparat […] zur Produktion von Diskursen“ interpretiert (2007, 96). Einzelsprachlich-deskriptive Untersuchungen aus dem Blickwinkel von Textlinguistik oder Fachsprachenforschung dagegen sind meines Wissens selten; noch am häufigsten zitiert werden Arbeiten wie die- 2 Cf. auch Grotjahn 2007, 79/ 80. 3 Cf. http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Wikipedia: Wikipedistik; Stand: 18.10.2008. Wikipedia als Medium spanischer Wissenschaftssprache 299 jenige von Emigh/ Herring (2005), in der die englische Wikipedia-Version mit anderen Online- und Papier-Enzyklopädien hinsichtlich des Formalisierungsgrades verglichen wird und Kriterien wie Kontraktionen (Typ ‚I'm‘), Häufigkeit der Personalpronomina der 1. und 2. Person und Frequenz von Abstrakta bildenden Suffixen zum Einsatz kommen 4 . Auf die Methode von Emigh/ Herring rekurriert wiederum Antonella Elia (2006), die im Rahmen eines Dissertationsprojekts Wikipedia und die Encyclopaedia Britannica einem sprachlichen Vergleich unterzieht und Formalisierungsgrad, lexikalische Dichte sowie durchschnittliche Artikel- und Wortlänge als Parameter benutzt 5 ; einige dieser Parameter werden im folgenden noch näher vorgestellt und in modifizierter Form für die eigene Untersuchung nutzbar gemacht. Erschwerend kommt bei jeder Art sprachlicher Untersuchung zu Wikipedia hinzu, dass nicht nur die Artikelzahl zu einer Einzelsprache die Ziehung jeglicher auch nur halbwegs repräsentativer Stichprobe verunmöglicht, sondern dass zusätzlich auch noch das Nebeneinander diverser Versionen in den verschiedensten Sprachen Globalaussagen zur sprachlichen Struktur von Wikipedia-Artikeln absurd erscheinen lässt. Bekanntlich gibt es Wikipedia-Versionen in z. Z. 265 Einzelsprachen und Varietäten 6 , von Weltsprachen wie Englisch, Chinesisch und Spanisch bis hin zu Minderheiten-, Klein- und Kleinstsprachen bzw. Varietäten wie im iberoromanischen Bereich Asturisch, Aragonesisch, Extremeño (‚estremeñu‘) und das philippinische Kreol Chabacano - oder auf germanischer Seite Letzeburgisch (‚Lëtzebuergesch‘), Bayrisch (‚Boarisch‘), Rheinisch (kurioserweise bezeichnet als ‚Ripoarisch‘) und Pennsylvaniadeutsch (‚Deitsch‘). Die üblichen vergleichenden Statistiken, wie sie auch in Wikipedia selbst angeführt werden, stützen sich dabei als Vergleichskriterium auf die Artikelzahl: An erster Stelle figuriert die englische Version mit z. Z. über 2,5 Millionen Artikeln 7 , dahinter folgen neun weitere Versionen mit über 300.000 Artikeln. Überraschenderweise aber rangiert dem Kriterium der Artikelzahl zufolge die spanische Version - der in den hier angestellten Überlegungen ja vorrangig die Aufmerksamkeit gilt - mit gut 400.000 Artikeln nur an neunter Stelle, nicht nur hinter der englischen, deutschen, japanischen und französischen, sondern auch noch hinter der italienischen, portugiesischen, ja sogar der polnischen und nie- 4 Cf. Pentzold 2007, 46. 5 Cf. auch Pentzold 2007, 47. 6 Stand: 13.10.2008. 7 Cf. http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Wikipedia: About; Stand 17.10.2008. Alf Monjour 300 derländischen Version 8 ; Grund dafür ist neben der Existenz des seit 2002/ 2003 von der US-amerikanischen Zentrale abgespaltenen Konkurrenzunternehmens Enciclopedia Libre Universal 9 wohl auch die künstliche Aufblähung mancher Wikipedia-Versionen (wie der russischen oder der polnischen) durch automatische Übersetzung irrelevanter Artikel aus dem Englischen 10 . Wenn man jedoch ein anderes Vergleichskriterium zugrundelegt, dasjenige nämlich der Zahl der User-Zugriffe auf die verschiedenen Wikipedia-Versionen, dann verbessert sich die Statistik für das Spanische radikal: „El español escala puestos en la Wikipedia“, lautete im Jahre 2008 die Schlagzeile eines Artikels in El País (Díez 2008, 57), und diesem Artikel zufolge nutzen etwa 60% aller Wikipedia-User die englischsprachige Version, 19% die spanischsprachige und 5% die französischsprachige. Auch vor diesem Hintergrund rein quantitativer Bedeutung erhellt die Notwendigkeit einer sprachlichen Analyse der spanischen Wikipedia - und gleichzeitig deren Unmöglichkeit angesichts eines Textkorpus, das im Mai 2008 etwa 192 Millionen Wörter umfasste 11 . 2. Zur Methode Im Folgenden kann nur versucht werden, anhand eines winzigen Ausschnittkorpus aus dem naturwissenschaftlich-technischen Bereich einigen der für die vulgarisierende Fachsprache charakteristischen Eigenheiten von Wikipedia im Vergleich zu einer traditionellen Enzyklopädie sowie einem gemeinsprachlichen bzw. gemäßigt fachsprachlichen Pressediskurs nachzuspüren. Ausgewählt wurden - auf der Basis des ungemein praktischen Online-Wörterbuchs Dicciomed 12 - einige naturwissenschaftliche „neologismos del siglo XX“; diese Neologismen wurden dann einer vergleichenden Untersuchung mit den entsprechenden Einträgen in der 8 Cf. http: / / meta.wikimedia.org/ wiki/ List_of_Wikipedias; Stand: 17.10.2008. 9 http: / / enciclopedia.u.es./ indes.php/ Enciclopedia_Libre_Universal_en_Español; cf. zu Geschichte und Verhältnis beider Projekte Suárez/ Ruiz 2005. 10 Cf. Díez 2008. 11 Cf. http: / / stats.wikimedia.org/ EN/ TablesWikipediaES.htm; Stand 17.10.2008. 12 Dicciomed ist ein historisch-etymologisches Wörterbuch mit z. Z. - Stand Oktober 2008 - etwa 5000 Einträgen aus der biologischen und medizinischen Fachsprache, die mit Hilfe der Standardwerke der historischen Lexikographie und Korpuslinguistik beschrieben werden; Verantwortliche sind der klassische Philologe Francisco Cortés Gabaudan sowie weitere Philologen und Naturwissenschaftler aus Salamanca und Cáceres. Wikipedia als Medium spanischer Wissenschaftssprache 301 Nueva Enciclopedia Durvan unterzogen (NED), einer dreißigbändigen Enzyklopädie auf 13.500 Papierseiten, in der Werbung in aller Bescheidenheit als „La obra de los Premios Nóbel“ verkauft 13 und in der (Internet-) Presse mit fast schon liebevoller Ironie als „un mastodonte del saber“ tituliert (Arana 1999). Als Auswahlkriterium bei der Zusammenstellung dieses kleinen Korpus diente das mit Hilfe von CORDE und CREA nachweisbare Vorkommen dieser fachsprachlichen Neologismen auch in nicht-fachsprachlichen Kontexten und damit der Beleg dafür, dass die Lexeme potentieller Gegenstand entsprechender enzyklopädischer Recherche des gebildeten Laien sein können. Als Gegenprobe hinzugenommen wurde eine gleich große Zahl von Zeitungsartikeln aus El País, gemeinsprachlichen bis gemäßigt fachsprachlichen Charakters (aus den Bereichen Innen-, Außen-, Wirtschafts-, Wissenschafts- und Verkehrspolitik), vor deren Hintergrund die Eigenheiten der enzyklopädischen Texte aus Wikipedia und NED deutlicher hervortreten sollen. Im Einzelnen handelt es sich um folgende Wikipedia- und NED-Artikel 14 : adrenalina ‚Adrenalin‘ (NED 136: Art. ‚adrenalina y noradrenalina‘, Verfasser: Jesús Moya) antioxidante ‚Antioxidantium‘ (NED 632: Art. ‚antioxidantes‘, ohne Verfasserangabe) biodiversidad ‚Biodiversität, biologische Vielfalt, Artenvielfalt‘ (NED 3374-3376: Art. ‚diversidad biológica‘, Verfasserin: Ana María Rallo) ecografía ‚Sonografie, Echografie, Ultraschall‘ (NED 3485/ 3486: Art. ‚ecografía‘, Verfasser: J. Moya, + Unterartikel ‚ecocardiografía‘, Verfasser: Graciano Martín) hipotiroidismo ‚Hypothyreose, Schilddrüsenunterfunktion‘ (NED 5522: Art. ‚hipotiroidismo‘, Verfasser: Fernando Merino) alimentación macrobiótica ‚Makrobiotik‘ (NED 6711: Art. ‚macrobiótica‘, Verfasser bzw. Verfasserin: J. L. Usobiaga) 13 http: / / www.ibercomic.com/ durvan.html; ähnlich http: / / www.durvan.com/ catalogo/ enciclopedia/ masinfo.htm; Stand: 17.10.2008. 14 Die Angabe der Adresse der jeweiligen Wikipedia-Artikel erübrigt sich, da sie immer dem Schema http: / / es.wikipedia.org/ wiki/ Lemma folgt; Stand ist jeweils 17.9.2008. Bei den aufgeführten deutschen Bedeutungen ist die erste jeweils diejenige, die in der deutschen Wikipedia-Version als Lemma figuriert, während die weiteren (Teil-) Synonyme meist weniger, selten aber auch stärker fachsprachlichen Charakter besitzen. Alf Monjour 302 lumbalgia ‚Rückenschmerzen, Lumbalgie, Lumbago‘ (NED 6674: Art. ‚lumbago‘, ohne Verfasserangabe) radioterapia ‚Strahlentherapie, Strahlenheilkunde, Radiotherapie, Radioonkologie‘ (NED 8923/ 8924: Art: ‚radioterapia‘, ohne Verfasserangabe) testosterona ‚Testosteron‘ (NED 10081: Art. ‚testosterona‘, ohne Verfasserangabe) toxoplasmosis ‚Toxoplasmose‘ (NED 10203: Art. ‚toxoplasmosis‘, Verfasser bzw. Verfasserin: J. Pereda) Es würde an dieser Stelle zu weit führen, die Wortgeschichte all dieser Technizismen nachzuzeichnen, die allesamt durch ihre fachsprachliche Herkunft und ihr allmähliches Vordringen auch in gemeinsprachliche Register gekennzeichnet sind; stellvertretend für alle stehe hier nur der Hinweis auf die allmähliche Popularisierung von lumbalgia/ lumbago: Lumbago erscheint laut CORDE erstmals in einem medizinischen Lehrbuch im Jahre 1876, bei Ecequiel Martín de Pedro, kommt aber dann schon recht bald gelegentlich in der Literatur zur Verwendung, so bei Valle-Inclán 1912 oder bei Pío Baroja in den vierziger Jahren; die über diverse literarische Texte der sechziger und siebziger Jahre hinausgehende Verbreitung in die Massenmedien hinein erfolgt dann laut CREA in den achtziger Jahren: Hojear las publicaciones de la mítica del rock es una experiencia semejante a sentarse en el jardín de un balneario a la hora del café: ‚¿Se va usted a hacer la siesta? ‘, ‚No, vengo de hacerla‘. ‚¿Cómo va su ciática? ‘. ‚Esta mañana me ha dado un disgusto, pero ya me siento mejor. ¿Y qué hay de su lumbago? ‘ (ABC, 6.8.1989; CREA). Das synonym gebrauchte lumbalgia ist laut CORDE erstbelegt in den Schriften des Mediziners Gregorio Marañón (1887-1960) und in den zwanziger bis vierziger Jahren des 20. Jh. dort mehrfach dokumentiert; bis in die siebziger Jahre ist der Terminus auf das Vorkommen in medizinischen Fachtraktaten beschränkt, ehe dann im Berichtszeitraum von CREA der Durchbruch in die Gemeinsprache in Gestalt unter anderem der Fußballberichterstattung erfolgt: „También tiene excusa Fernando Martín en su dolorosa lumbalgia, pero tampoco podrá reposar todo lo necesario por la llamada de Antonio Díaz Miguel“ (ABC, 28.5.1989; CREA). In beiden Fällen ist der Prozess der allmählichen Vulgarisierung sicherlich noch nicht so weit fortgeschritten, dass ein über die wohl als bekannt vorauszusetzende Bedeutung ‚dolor en la región lumbar‘ 15 hin- 15 So in etwa die Akademiedefinition s. v. v. lumbago und lumbalgia; cf. DRAE. Wikipedia als Medium spanischer Wissenschaftssprache 303 ausgehendes Sprach- und Sachwissen angenommen werden könnte, und der Rückgriff auf die Enzyklopädie, in der Online- oder Papierversion, wird auch für den ‚normalen‘ Sprachbenutzer - ‚tanto para expertos como para no expertos‘ - zum plausiblen Hilfsmittel bei der Klärung von Zweifeln aller Art. Beim sprachlichen Vergleich von Wikipedia und Nueva Enciclopedia Durvan wurden - so sei vor dem Blick auf die Ergebnisse noch bemerkt - nur die Fließtexte berücksichtigt, nicht aber Bildunterschriften, Tafeln und Tabellen, chemische Formeln, Verweise auf andere Stichwörter (Wikipedia: „Véase también“), Fußnoten und Fußnotenreferenzen sowie Überschriften und bibliographische Angaben. 3. Zu den Ergebnissen Im Laufe der Untersuchung nicht eigens verglichen, sondern lediglich für Wikipedia konstatiert wurde das Vorhandensein jener in der traditionellen Enzyklopädie ohnehin vorauszusetzenden textuellen Merkmale, die gemeinhin als Charakteristika von Fachsprachlichkeit gelten. Es seien deshalb hier nur einige Beispiele für solche textuelle Eigenschaften angeführt, die den deutlich fachsprachlichen Charakter der untersuchten Wikipedia-Artikel illustrieren: a) „Einheitlichkeit der nominalen Referenz“ (Baumann 1998, 408) mit stabilem Thema, häufigen Wiederholungen, ausgeprägter Anaphorik und Unterstreichung der jeweiligen Isotopie-Ebene durch Verwendung von (Teil-) Synonymen als Kriterium für transphrastische Kohäsion und semantische Kohärenz: La ecografía, ultrasonografía o ecosonografía es un procedimiento de imagenología que emplea los ecos de una emisión de ultrasonidos dirigida sobre un cuerpo u objeto como fuente de datos para formar una imagen de los órganos o masas internas con fines de diagnóstico. [...] Esta tecnología se desarrolló a partir del sónar, ingenio de origen militar aplicado a la guerra submarina en la Segunda Guerra Mundial. [...]. La ecografía es un procedimiento muy fácil, en el que no se emplea radiación, a pesar de que se suela realizar en el servicio de radiodiagnóstico, y por eso se usa con frecuencia para visualizar fetos que se están formando. Al someterse a un examen de ecografía, el paciente sencillamente se acuesta sobre una mesa y el médico mueve el transductor sobre la piel que se encuentra sobre la parte del cuerpo a examinar (Wikipedia: ‚ecografía‘, Stand: 17.9.2008). Alf Monjour 304 La radioterapia es una forma de tratamiento basado en el empleo de radiaciones ionizantes (rayos X o radiactividad, la que incluye los rayos gamma y las partículas alfa). [...] La Radioterapia es un tipo de tratamiento oncológico que utiliza las radiaciones para eliminar las células tumorales, (generalmente cancerígenas), en la parte del organismo donde se apliquen (tratamiento local). La radioterapia actúa sobre el tumor, destruyendo las células malignas y así impide que crezcan y se reproduzcan. [...] Esta acción también puede ejercerse sobre los tejidos normales (Wikipedia: ‚radioterapia‘; Stand: 17.9.2008). b) „Metakommunikative Sätze und Satzteile“ (Baumann 1998, 412) bzw. metasprachliche Eingriffe zur Kontrolle und Erleichterung der Textrezeption durch den Leser: La toxoplasmosis es un término médico dado a una enfermedad infecciosa humana y de muchos otros animales, ocasionada por un parásito de distribución mundial, el Toxoplasma gondii, un protista del filo apicomplejos que es un parásito intracelular obligado. La toxoplasmosis puede causar infecciones leves y asintomáticas, así como infecciones mortales que afectan mayormente al feto, recién nacidos, ancianos y personas vulnerables por su condición de inmunosupresión. La enfermedad es considerada una zoonosis, es decir, existe normalmente en otros animales, pero puede ser transmitida a seres humanos (Wikipedia: ‚toxoplasmosis‘; Stand: 17.9.2008). La testosterona es una hormona androgénica producida por los testículos. En realidad es una prohormona, ya que para realizar su acción fisiológica o farmacológica debe reducirse en posición 5-alfa-dihidrotestosterona, que es la hormona activa. [...] Resumiendo la testosterona produce los siguientes efectos sobre los órganos sexuales primarios: [...] (Wikipedia: ‚testosterona‘; Stand: 17.9.2008). c) Funktionale Textgliederung durch Teilüberschriften, Signalwörter oder Aufzählungszeichen 16 , wiederum zur Erleichterung der Textrezeption, gleichzeitig aber auch zur Betonung der Systematizität der Darstellung bzw. der Sach- und Fachkompetenz des jeweiligen Autors: Clasificación. Los procesos lumbares pueden ser de distintas maneras: Lumbalgia aguda sin radiculitis (Lumbago): [...]. Compresión radicular aguda: [...]. Atrapamiento radicular: [...]. Claudicación neurógena: [...] (Wikipedia: ‚lumbalgia‘; Stand: 17.9.2008). 16 Cf. Baumann 1998, 411-413. Wikipedia als Medium spanischer Wissenschaftssprache 305 3. Acciones metabólicas: Los andrógenos y la testosterona producen en general efectos anabólicos y de tipo mineralcorticoide: 1. Aumento de la síntesis de proteínas. 2. Incremento de la retención de nitrógeno y balance de N positivo. 3. Acción miotrófica: Aumento de la masa muscular [...] (Wikipedia: ‚testosterona‘; Stand: 17.9.2008). Bei Zugrundelegung einer ‚inkludierenden‘ Definition von Wissenschaftssprache als ‚Teilmenge‘ von Fachsprache 17 lassen sich über die genannten allgemein-fachsprachlichen Textmerkmale noch weitere diagnostizieren, die als typisch wissenschaftssprachlich gelten dürfen und daher zumindest ansatzweise auch in den Wikipedia-Artikeln nachzuweisen sind; hierzu zählen etwa, um nur einige Beispiele zu nennen, die Anknüpfung präsentierter Ergebnisse an einen ‚theoriegeleiteten Diskurs‘ (Kretzenbacher 1998, 135): La radioterapia es un tratamiento que se viene utilizando desde hace un siglo, y ha evolucionado con los avances científicos de la Física, de la Oncología y de los ordenadores, mejorando tanto los equipos como la precisión, calidad e indicación de los tratamientos (Wikipedia: ‚radioterapia‘; Stand: 17.9.2008), und der ‚intertextuelle Charakter‘ in Gestalt der Bezugnahme auf andere wissenschaftliche Publikationen in Form von Forschungsstandsberichten und Literaturzitaten 18 : La metodología Macrobiótica fue traída a Europa desde Japón por George Ohsawa (1893-1966). Ohsawa fue un filósofo japonés inspirado por las enseñanzas de Kaibara Ekiken, Andou Sh eki, Mizuno Namboku, y Sagen Ishizuka y sus discípulos Nishibata Manabu y Shojiro Gotoque. Oshawa llevó las enseñanzas de la teoría macrobiótica a los Estados Unidos a finales de la década de los cincuenta, en donde sus pupilos Herman Aihara, Cornelia Aihara, Michio Kushi y Aveline Kushi, y posteriormente los alumnos de éstos, difundieron la teoría (Wikipedia: ‚macrobiótica‘; Stand: 17.9.2008), wobei sich die Zitier- und Referenzpraxis bei Wikipedia als heterogen erweist: Von den untersuchten 10 Artikeln weisen genau die Hälfte Fußnoten auf, deren Anzahl zwischen 1 und 186 variiert, und knapp die Hälfte der Artikel, nämlich vier, beinhalten darüber hinaus ein separates Literaturverzeichnis mit 3 bis 14 Titeln. Als weiteres Charakteristikum von Wissenschaftssprachlichkeit schließlich gilt deren Interkulturalität, die 17 Cf. zu dieser Problematik Kretzenbacher 1998, 133/ 134. 18 Cf. Kretzenbacher 1998, 136/ 137. Alf Monjour 306 Kretzenbacher (1998, 138) in ‚drei Dimensionen‘ unterteilt - ‚eine interdisziplinäre, eine extradisziplinäre und eine interlinguale‘ -, und auch hier verhalten sich die Wikipedia-Artikel unterschiedlich dahingehend, dass zumindest einige unter ihnen die Grenzen von Fach und Sprache bewusst überschreiten: Biodiversidad (neologismo del inglés Biodiversity, a su vez del griego -, vida, y del latín divers tas, tis, variedad), también llamada diversidad biológica, es el término por el que se hace referencia a la amplia variedad de seres vivos sobre la Tierra y los patrones naturales que conforma, resultado de miles de millones de años de Evolución según procesos naturales y también, de la influencia creciente de las actividades del ser humano. [...]. La Cumbre de la Tierra celebrada por Naciones Unidas en Rio de Janeiro en 1992 reconoció la necesidad mundial de conciliar la preservación futura de la biodiversidad con el progreso humano según criterios de sostenibilidad o sustentabilidad promulgados en el Convenio internacional sobre la Diversidad Biológica que fue aprobado en Nairobi el 22 de mayo de 1972, fecha posteriormente declarada por la Asamblea General de la ONU como ‚Día internacional de la biodiversidad‘. [...] A principios del siglo XX, los ecólogos Jaccard y Gleason propusieron en distintas publicaciones los primeros índices estadísticos destinados a comparar la diversidad interna de los ecosistemas. A mediados del siglo XX, el interés científico creciente permitió el desarrollo del pene 19 para describir la complejidad y organización, hasta que en 1980, Thomas Lovejoy propuso la expresión diversidad biológica (Wikipedia: ‚biodiversidad‘; Stand: 17.9.2008). Offenbar bestehen - ohne diese punktuellen Eindrücke hier statistisch untermauern zu können - Unterschiede hinsichtlich der Fachsprachlichkeit und der Wissenschaftssprachlichkeit der Wikipedia-Artikel: Wie jeder enzyklopädische Text erweisen sie sich in jedem Fall als fachsprachlich, aber nicht in jedem Fall als wissenschaftssprachlich. Über diese offenkundigen textuellen Eigenschaften hinaus, die mit der Fachsprachlichkeit generell und der Wissenschaftssprachlichkeit speziell verbunden sind, treten bei einer genaueren Analyse der Wikipedia-Artikel im Vergleich zu den parallelen NED-Artikeln wie auch den als Gegenprobe herangezogenen Zeitungsartikeln jedoch noch einige weitere Besonderheiten zutage; die Auswahl der zugrunde gelegten Vergleichsparameter folgt dabei, in modifizierter Form, den methodischen Ansätzen, wie sie Anto- 19 Sic! ! ! (in der Version vom 17.9.2008). Am 18.9.2008 um 3.09 Uhr erscheint laut dem „Historial“ des Artikels dann statt „pene“ wieder richtig: „concepto“; in den Tagen vor dem 17.9.2008 waren in dem gleichen Artikel noch gröbere Formen von „vandalismo“ sichtbar geworden, die dann nach und nach ausgemerzt wurden. Wikipedia als Medium spanischer Wissenschaftssprache 307 nella Elia (2006) in ihrem oben erwähnten Forschungsprojekt skizziert hat. Ein erster Blick auf die statistische Auswertung der verglichenen Korpusartikel zeigt bereits einen fundamentalen Unterschied, in Bezug nämlich auf die Textlänge (Tabelle 1): Die Wikipedia-Artikel sind mit einer Durchschnittslänge von über 2000 Tokens etwa dreimal so ausführlich wie die entsprechenden Einträge in der immerhin größten gedruckten Enzyklopädie des Spanischen mit etwa durchschnittlich knapp 700 Wörtern pro Artikel; dieses Ergebnis entspricht im Übrigen in der Relation weitgehend dem Befund, der sich bei der erwähnten Vergleichsstudie zur englischen Wikipedia und der Encyclopedia Britannica ergibt: „Articles in Britannica have proven to be shorter than those in Wikipedia (average length: 1728 vs 3510 words)“ (Elia 2006, 3). Die höheren absoluten Zahlen in der Studie von Elia sind wohl damit zu erklären, dass das zugrundegelegte englischsprachige Korpus (100 Artikel) wesentlich weniger fachsprachlichen Charakter besitzt und thematisch breiter angelegt scheint - es umfasst Kategorien wie ‚culture, geography, history, life, mathematics, science, society, technology‘ (ib., 3) und damit auch Artikel wie ‚Beatles‘, ‚Tony Blair‘, ‚Marx‘, ‚George Bush‘, ‚London‘ und ‚Racism‘, bei denen die Darstellung automatisch wortreicher ausfallen muss als bei den stärker naturwissenschaftlich markierten Lemmata in dem hier benutzten kleinen spanischen Korpus. Entscheidend scheint jedoch die bei beiden Untersuchungen hervortretende und durch das Medium wie auch die Produktionsbedingungen erklärbare Tendenz von Wikipedia zur größeren Breite der fachlichen Information im Vergleich zu den gedruckten Enzyklopädien. Hier zu vernachlässigen ist die Untersuchung der Länge der im Korpus enthaltenen Zeitungsartikel, die natürlich textsortenbedingt von derjenigen der beiden Enzyklopädien abweicht und letztlich auch durch die Willkür der Textauswahl bestimmt ist. Interessanter scheint die Berücksichtigung der Zeitungsartikel dagegen bei dem zweiten Untersuchungsparameter, der durchschnittlichen Wortlänge (Tabelle 1): Hier heben sich die drei Teilkorpora deutlich voneinander ab, indem die Zeitungsartikel die mit knapp 5 Graphemen im Durchschnitt kürzesten Wörter aufweisen, während die gedruckte Enzyklopädie mit einer Durchschnittswortlänge von knapp 5,4 und Wikipedia mit über 5,7 eindeutig vorne liegen. Die englische Wikipedia-Version hatte nach diesem Parameter noch einen geringen Rückstand gegenüber der Encyclopaedia Britannica (5,2 gegen Alf Monjour 308 5,3) 20 , wobei bei einzelnen naturwissenschaftlich-technischen Artikeln sich auch dort das Verhältnis umkehrte. In jedem Fall schlägt sich die Prägung der Wikipedia-Artikel durch den stärker fachsprachlichen Diskurs im Gebrauch tendenziell längerer Wörter nieder. Komplexer erscheint die Interpretation der Ergebnisse bezüglich des dritten Untersuchungsparameters, des Type-Token-Verhältnisses nämlich 21 (Tabelle 2); das Type-Token-Verhältnis gibt eine zumindest oberflächliche Auskunft über die lexikalische Komplexität vs. Simplizität eines Textes und ist einfacher, d. h. ohne Texttagging benötigende Programme, handhabbar, im Unterschied etwa zu der aufwändiger zu berechnenden lexikalischen Dichte 22 . Bei der Bewertung der vorliegenden Ergebnisse ist natürlich zu berücksichtigen, dass das Type-Token-Verhältnis entscheidend von der Textlänge abhängt, d. h. in einem kurzen Text im Extremfall bei 100 liegt - wenn kein Token mehrfach erscheint - und bei steigender Textlänge dann immer mehr sinkt. Der Vergleich der hier untersuchten drei Teilkorpora ist daher nur sinnvoll bei Betrachtung der von der Länge her in etwa vergleichbaren Texte, wofür sich zunächst die Texte mit einem Umfang von 500 bis 800 Tokens anbieten (Tabelle 3). Bei dieser Auswahl ergibt sich, dass die gedruckte Enzyklopädie hinsichtlich ihrer lexikalischen Komplexität leicht vor den etwa gleichrangig rangierenden Wikipedia- und Zeitungstexten liegt. Dies entspricht wiederum exakt dem Vergleich zwischen Encyclopedia Britannica und englischsprachiger Wikipedia, freilich auf der Basis des, wie gesagt, komplexeren Kriteriums der lexikalischen Dichte: „Articles in Britannica [...] have shown a higher lexical density (44.9% vs 31.4%)“ (Elia 2006, 3). Dass die lexikalische Komplexität in Gestalt des Type-Token-Verhältnisses in der Tat mit der Fachsprachlichkeit des Textes korreliert, zeigt der Vergleich einer zweiten Tranche von Texten mit 1.000 bis 1.200 Tokens (Tabelle 4), bei denen die drei Zeitungstexte einen leicht höheren Wert sogar als die gedruckte Enzyklopädie aufweisen - aber wohl vor 20 Cf. Elia 2006, 3/ 7. 21 „Mit dem Type-Token-Verhältnis ist der Prozentsatz gemeint, den man erhält, wenn man die Anzahl der Wortstämme (Types) eines Textes durch die Gesamtzahl der Wörter (Tokens) dividiert und das Ergebnis mit 100 multipliziert“ (Hansen/ Teich 1999, 2). 22 „Mit der lexikalischen Dichte ist der Prozentsatz gemeint, den man erhält, wenn man die Anzahl der Funktionswörter eines Textes von der Gesamtzahl der Wörter subtrahiert (dann erhält man die Zahl der Inhaltswörter) und das Ergebnis durch die Gesamtzahl der Wörter dividiert und mit 100 multipliziert“ (Hansen/ Teich 1999, 2). Wikipedia als Medium spanischer Wissenschaftssprache 309 allem deshalb, weil die drei Zeitungstexte durch einen überdurchschnittlich hohen Anteil von Fachlexik charakterisiert sind (Innenpolitik: Baskenland; Wirtschaft: Weltfinanzkrise; Außenpolitik: Milchproduktskandal in China). Noch deutlicher wird dieser Zusammenhang zwischen überdurchschnittlich hoher Fachsprachlichkeit und einem überdurchschnittlich hohem Wert hinsichtlich des Type-Token-Verhältnisses bei einem stark technisch geprägten Zeitungstext zur Verkehrs- und Umweltpolitik, der überdurchschnittlich deutlich vor den NED- und Wikipedia- Texten mit leicht höherer Token-Zahl rangiert (Tabelle 5). Generell jedoch wird deutlich, dass Wikipedia hinsichtlich der lexikalischen Komplexität hinter der gedruckten Enzyklopädie angesiedelt ist und damit zumindest tendenziell dem Ideal der leichteren Zugänglichkeit für den weniger spezialisierten Leser folgt. Am deutlichsten schließlich treten die Unterschiede zwischen den Teilkorpora bei dem hier zugegebenermaßen sehr holzschnittartig, d. h. ohne Berücksichtigung der Unterschiede zwischen einfachen und komplexen Sätzen, gehandhabten vierten Untersuchungsparameter zutage, demjenigen der Satzlänge nämlich (Tabelle 6); nach diesem Parameter liegen Wikipedia und NED mit einer kürzeren Durchschnittssatzlänge (gut 21 bzw. gut 23 Wörter pro Satz) fast auf gleicher Höhe, aber sehr deutlich vor den ausgewerteten Zeitungsartikeln mit einer Durchschnittssatzlänge von über 31 Wörtern. Dies mag auf den ersten Blick den traditionellen Vergleichen ‚zwischen dem wissenschaftlichen Stil einerseits und anderen Stilen, besonders dem künstlerischen Stil“ (Hoffmann 1998, 416/ 417) widersprechen, denen zufolge nach ästhetischen Idealen verfasste Prosa sich durch kürzere Sätze auszeichne, entspricht aber umgekehrt den wiederum von Hoffmann (1998, 417) hervorgehobenen ‚neueren Beobachtungen‘, die für die wissenschaftlich-technische Literatur ‚eine klare Tendenz zur Verkürzung‘ im Dienste der ‚Optimierung von Informationsprozessen‘ ausmachen. Die Nähe zwischen Wikipedia und der gedruckten Enzyklopädie schlägt sich mithin in einem weiteren Verhaltensdetail nieder, das sich als zusätzliche Illustration für die Differenz von Wikipedia gegenüber der Gemeinsprache und die Anlehnung an den enzyklopädischen Diskurs einer seriösen Vulgarisierung interpretieren lässt. Alf Monjour 310 4. Zu den Perspektiven Die Position von Wikipedia im Spannungsfeld zwischen rein wissenschaftsinternem Fachdiskurs und der Offenheit für den im guten Sinne dilettantischen Leser und sogar Mitarbeiter bleibt weiterhin ein Thema, das auch in Wikipedia selbst diskutiert wird. Der im Titel der hier skizzierten Ausführungen angedeutete Spagat - „Tanto para expertos como para no expertos“ - spiegelt sich wider in der Debatte um die ‚academic standards disease‘ 23 ; es geht dabei um die Frage, inwieweit das ‚open-toall model‘ mit den Notwendigkeiten höherer fachlicher und fachsprachlicher Ansprüche vereinbar ist. Der französische Molekularbiologe und Wissenschaftstheoretiker Gaëll Mainguy hofft auf eine stärkere Durchdringung beider Diskurswelten, nicht zuletzt dank Wikipedia: Wissenschaftler müssten sich noch intensiver bei Wikipedia einbringen - und vor allem ihre Studenten zum sachgemäßen Umgang mit der Online-Enzyklopädie erziehen 24 . Schließlich verweist er auf die fatalen Konsequenzen blinden Wettstreits: In his novel, ‚les liaisons dangeureuses‘, Choderlos de Laclos depicted the tragic consequences of blind rivalry. The time may have come for Wikipedians and scientists to join their efforts and design a universal integrator of human knowledge providing the highest possible quality to every single person on the planet in their own language (Mainguy 2006, 7). Zu hoffen bleibt, dass auch in der romanischen Sprachwissenschaft und näherhin der Fachsprachenlinguistik Platz sein wird für eine intensivere Auseinandersetzung mit dem aus dem Alltag nicht mehr wegzudenkenden globalen Medium der Vulgarisierung wissenschaftlicher Erkenntnis. 23 „Academic standards disease is a metaphor used on Wikipedia as a pejorative characterisation of a perceived excess of zeal among those who call for ‚higher academic standards‘“ (http: / / meta.wikimedia.org-/ wiki/ Academic_standards_disease; Stand: 18.10.2008). 24 „Scientists and teachers must contribute massively, and must teach students how to use Wikipedia efficiently“ (Mainguy 2006, 7). Wikipedia als Medium spanischer Wissenschaftssprache 311 5. Anhang: Tabellen Zahl Tokens Zahl Buchstaben Buchstaben pro Wort WIKI adrenalina 779 4238 5,44 WIKI antioxidante 3261 18867 5,79 WIKI biodiversidad 3676 20917 5,69 WIKI ecografía 551 2863 5,20 WIKI hipotiroidismo 2136 13059 6,11 WIKI lumbalgia 342 2016 5,89 WIKI macrobiótica 1431 7694 5,38 WIKI radioterapia 1994 11500 5,77 WIKI testosterona 3974 24460 6,16 WIKI toxoplasmosis 2059 12206 5,93 WIKI Durchschnitt 2020,3 5,73 NED adrenalina 595 3401 5,72 NED antioxidante 324 1715 5,29 NED diversidad biológica 1868 9804 5,25 NED ecografía 1056 5719 5,42 NED hipotiroidismo 661 3507 5,31 NED lumbago 394 2058 5,22 NED macrobiótico 677 3555 5,25 NED radioterapia 556 2754 4,95 NED testosterona 392 2207 5,63 NED toxoplasmosis 250 1480 5,92 NED Durchschnitt 677,3 5,39 Zeitungsartikel A 984 4855 4,93 Zeitungsartikel B 1129 5774 5,11 Zeitungsartikel C 736 3944 5,36 Zeitungsartikel D 754 3704 4,91 Zeitungsartikel E 635 3363 4,46 Zeitungsartikel F 514 2685 5,22 Zeitungsartikel G 615 3088 5,02 Zeitungsartikel H 1812 8936 4,93 Zeitungsartikel I 982 4894 4,98 Zeitungsartikel J 637 3220 5,05 Zeitungsartikel Durchschnitt 879,8 4,99 Tabelle 1 Alf Monjour 312 Zahl Tokens Zahl Types Type-Token- Verhältnis WIKI adrenalina 779 312 40,05 WIKI antioxidante 3261 775 23,77 WIKI biodiversidad 3676 1050 28,56 WIKI ecografía 551 239 43,38 WIKI hipotiroidismo 2136 771 36,10 WIKI lumbalgia 342 194 56,73 WIKI macrobiótica 1431 539 36,67 WIKI radioterapia 1994 640 32,10 WIKI testosterona 3974 995 25,04 WIKI toxoplasmosis 2059 654 31,76 WIKI Durchschnitt 2020,3 NED adrenalina 595 271 45,55 NED antioxidante 324 162 50,00 NED diversidad biológica 1868 626 33,51 NED ecografía 1056 413 39,11 NED hipotiroidismo 661 286 43,27 NED lumbago 394 207 52,54 NED macrobiótico 677 320 47,27 NED radioterapia 556 255 45,86 NED estosterona 392 199 50,77 NED toxoplasmosis 250 163 65,20 NED Durchschnitt 677,3 Zeitungsartikel A 984 413 41,97 Zeitungsartikel B 1129 443 39,24 Zeitungsartikel C 736 290 39,40 Zeitungsartikel D 754 288 38,20 Zeitungsartikel E 635 277 43,62 Zeitungsartikel F 514 231 44,94 Zeitungsartikel G 615 266 43,25 Zeitungsartikel H 1812 654 36,09 Zeitungsartikel I 982 382 38,90 Zeitungsartikel J 637 271 42,54 Zeitungsartikel Durchschnitt 879,8 Tabelle 2 Wikipedia als Medium spanischer Wissenschaftssprache 313 Zahl Tokens Zahl Types Type-Token- Verhältnis WIKI adrenalina 779 312 40, 05 WIKI ecografía 551 239 43,38 WIKI Durchschnitt 665 41,72 NED adrenalina 595 271 45,55 NED hipotiroidismo 661 286 43,27 NED macrobiótico 677 320 47,27 NED radioterapia 556 255 45,86 NED Durchschnitt 622,3 45,49 Zeitungsartikel C 736 290 39,40 Zeitungsartikel D 754 288 38,20 Zeitungsartikel E 635 277 43,62 Zeitungsartikel F 514 231 44,94 Zeitungsartikel G 615 266 43,25 Zeitungsartikel J 637 271 42,54 Zeitungsartikel Durchschnitt 648,5 41,99 Tabelle 3 Zahl Tokens Zahl Types Type-Token- Verhältnis NED ecografía 1056 413 39,11 NED Durchschnitt 1056 39,11 Zeitungsartikel A 984 413 41,97 Zeitungsartikel B 1129 443 39,24 Zeitungsartikel I 982 382 38,90 Zeitungsartikel Durchschnitt 1031,7 40,04 Tabelle 4 Zahl Tokens Zahl Types Type-Token- Verhältnis WIKI radioterapia 1994 640 32,10 WIKI toxoplasmosis 2059 654 31,76 WIKI Durchschnitt 2026,5 31,93 NED diversidad biológica 1868 626 33,51 NED Durchschnitt 1868 33,51 Zeitungsartikel H 1812 654 36,09 Zeitungsartikel Durchschnitt 1812 36,09 Tabelle 5 Alf Monjour 314 Zahl Tokens Zahl Sätze Wörter pro Satz WIKI adrenalina 779 40 19,48 WIKI antioxidante 3261 229 14,24 WIKI biodiversidad 3676 150 24,51 WIKI ecografía 551 25 22,04 WIKI hipotiroidismo 2136 110 19,42 WIKI lumbalgia 342 19 18,00 WIKI macrobiótica 1431 71 20,15 WIKI radioterapia 1994 76 26,24 WIKI testosterona 3974 202 19,67 WIKI toxoplasmosis 2059 75 27,45 WIKI Durchschnitt 2020,3 21,12 NED adrenalina 595 30 19,83 NED antioxidante 324 13 24,92 NED diversidad biológica 1868 59 31,66 NED ecografía 1056 38 27,79 NED hipotiroidismo 661 32 20,66 NED lumbago 394 20 19,70 NED macrobiótico 677 26 26,04 NED radioterapia 556 26 21,38 NED testosterona 392 20 19,60 NED toxoplasmosis 250 13 19,23 NED Durchschnitt 677,3 23,08 Zeitungsartikel A 984 43 22,88 Zeitungsartikel B 1129 32 35,28 Zeitungsartikel C 736 24 30,66 Zeitungsartikel D 754 27 27,93 Zeitungsartikel E 635 19 33,42 Zeitungsartikel F 514 12 42,83 Zeitungsartikel G 615 20 30,75 Zeitungsartikel H 1812 84 21,57 Zeitungsartikel I 982 30 32,73 Zeitungsartikel J 637 17 37,47 Zeitungsartikel Durchschnitt 879,8 31,55 Tabelle 6 Wikipedia als Medium spanischer Wissenschaftssprache 315 6. Literaturverzeichnis Arana, María, La nueva Durvan, in: El Correo Digital, 12.2.1999 (http: / / info.elcorreodigital.com/ vida-social/ evento.php? cod=1405; Stand: 17.10.2008). Baker, Nicholson, Das plötzliche Verschwinden des Erdferkels. Im Geschwader zur Rettung besonders gefährdeter Einträge: Meine Abenteuer in der Wikipedia-Welt, in: Süddeutsche Zeitung, 5./ 6.4.2008, 16. Baumann, Klaus-Dieter, Textuelle Eigenschaften von Fachsprachen, in: Lothar Hoffmann/ Hartwig Kalverkämper/ Herbert Ernst Wiegand (edd.), Fachsprachen. Ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft, (HSK XIV/ 1), Berlin, Walter de Gruyter, 1998, 408-416. CORDE = Corpus Diacrónico del Español (Zugang über die Internetseite der Real Academia Española: http: / / corpus.rae.es/ cordenet.html). CREA = Corpus de Referencia del Español Actual (Zugang über die Internetseite der Real Academia Española: http: / / corpus.rae.es/ creanet.html). 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Jh. den Zustand einer voll ausgebauten Wissenschaftssprache nicht erreicht, Latein behielt die Position der wissenschaftlichen lingua franca bis zu den Veröffentlichungen von Giordano Bruno und Galileo Galilei. Erst im ausgehenden 18. Jh. hat das Latein in allen Bereichen der Wissenschaft seine Vorrangstellung an das Italienische und auf der internationalen Ebene an das Französische verloren (cf. Koch 1988, 354-355). Der Ausbau mehrerer kleinerer romanischer Sprachen erfolgt seit der zweiten Hälfte des 20. Jh. und auch hier gilt, dass erst mit der Entwicklung der wissenschaftlichen Prosa der Status einer voll ausgebauten Sprache erreicht wird. Dementsprechend bemühen sich die sprachpolitischen Institutionen je nach Gesetzeslage und Finanzierungsmöglichkeiten um die Förderung des wissenschaftlichen Schrifttums in den entsprechenden ‚kleineren‘ Sprachen. Im vorliegenden Beitrag möchte ich am Beispiel dreier romanischer Minderheitensprachen jeweils in Spanien, Italien und Frankreich - Galicisch, Friaulisch und Korsisch - der Frage nachgehen, inwieweit eine institutionelle Unterstützung den Sprachgebrauch im wissenschaftlichen Betrieb nachhaltig beeinflussen kann. Darüber hinaus werden am Beispiel der Forscherprosa die aktuellen Ergebnisse des Ausbauprozesses der genannten drei Sprachen dargestellt. Im Folgenden wird es sich ausschließlich um die schriftlich fixierten wissenschaftlichen Untersuchungen handeln. Der mündliche Sprachgebrauch im universitären Unterricht 1 Für mehrere wertvolle Hinweise möchte ich mich bei Henrique Monteagudo (Universidade de Santiago de Compostela), Nieves Rodríguez Díez (Universidade de Santiago de Compostela), Paola Benincà (Università di Padova), Federico Vicario (Università degli Studi di Udine) und Katia Bertoni (Società Filologica Friulana) herzlich bedanken. Lidia Becker 318 oder in Gesprächen zwischen Fachkollegen, der mithilfe soziolinguistischer Umfragen zu untersuchen wäre, wird hier ausgeklammert. 2. Gebrauch der überdachten Sprachen in der wissenschaftlichen Kommunikation Für das Mittelalter und die frühe Neuzeit ist innerhalb des Wissenschaftsbetriebs zwischen den sieben artes liberales (Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie) - dem damaligen theoretischen Kern der Wissenschaften - und den dienstleistenden, gleichzeitig theoretischen und praktischen artes mechanicae (Handwerk, Kriegswesen, Seefahrt, Geographie, Handel, Landbau und Haushaltung, Tierhaltung und Waldwesen, Heilkunde und Hofkünste wie Fechten etc.) zu unterscheiden (cf. Haage 1988, 277ss.; Eufe 2006, 125). Die praktisch ausgerichteten artes mechanicae wurden in der Regel vor den artes liberales verschriftlicht. So reichen die ersten Versuche, das Italienische in den Bereichen der Malerei und Architektur zu verwenden, mit Leon Battista Alberti bereits ins 15. Jh. zurück (cf. Koch 1988, 354). Auch im Fall kleinerer romanischer Sprachen, deren Ausbau meistens seit der Mitte des 20. Jh. in schnellem Tempo vorangetrieben wird, werden bestimmte Zweige der Wissenschaft und Technologie früher verschriftlicht. Die Kriterien, die den unterschiedlichen Sprachgebrauch Dachsprache vs. überdachte Sprache in wissenschaftlichen Textsorten bestimmen, sind ihre Zugehörigkeit zu den Natur-, Formal- oder Kulturwissenschaften (cf. Tabelle 1) und die regionalbezogene Thematik gegenüber den fremdbezogenen oder überregionalen Inhalten (cf. Tabelle 2). Realwissenschaften Formalwiss. u. a. Naturwissenschaften u. a. Kulturwissenschaften u. a. Physik Geisteswissenschaften u. a. Sozial- und Wirtschaftswissenschaften formale Logik Chemie Geschichtswissenschaften Mathematik Astronomie Religionswissenschaften Strukturwissenschaften theoretische Medizin Sprachwissenschaften Biologie Kunstwissenschaften Tabelle 1: Wissenschaftsgliederung nach Anzenbacher ( 4 2006, 22) Kleinere romanische Sprachen 319 3) Naturwissenschaften und Technologie 2) alle übrigen kulturkundlichen Fächer (Geisteswissenschaften), einschließlich u. a. Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie 1) die ‚eigenbezogenen‘ Themen aus dem eigenen Lebensbereich der betreffenden Sprachgemeinschaft: vor allem ihre Sprache, Literatur und Volkskunde, aber auch ihre Geschichte und Heimatkunde, einschließlich ihrer Landwirtschaft, ihrer einheimischen Gewerbezweige, der heimatlichen Fauna, Flora etc. Tabelle 2: Drei Anwendungsbereiche auf der höchsten Entfaltungsstufe Hochschul- oder Forscherprosa nach Kloss (1978, 47-48) Bringt man die beiden oberen Tabellen zusammen, ergibt sich Folgendes: eigenbezogen überdachte Sprache fremdbezogen bzw. universell Dachsprache bzw. lingua franca Naturwissenschaften und Formalwissenschaften Physik Chemie Astronomie Logik Mathematik Biologie Geographie Kulturwissenschaften Geschichtswissenschaften Sprachwissenschaften Literaturwissenschaften Kunstwissenschaften Sozialwissenschaften Wirtschaftswissenschaften Religionswissenschaften Tabelle 3: Kriterien des Sprachgebrauchs überdachte Sprache vs. Dachsprache in der Wissenschaft Demnach gibt es keine strenge Unterscheidung zwischen Kultur- und Naturwissenschaften in Bezug auf die Ausbauphasen einer Sprache. Den höchsten Wert besitzen die Fächer, die tendenziell keine ‚eigenbezogenen‘ Untersuchungen zulassen, z. B. Physik, Chemie oder Mathematik. Innerhalb eines naturwissenschaftlichen Faches wie der Biologie sind Untersuchungen zu den spezifischen lokalen Pflanzen- und Tierarten eher in einer überdachten Sprache zu erwarten, während eine Entdeckung in der Molekularbiologie in einer größeren Dachsprache Französisch, Spanisch, Italienisch oder noch wahrscheinlicher in der lingua franca der heutigen Naturwissenschaft, Englisch, veröffentlicht wird. Im Bereich der Geisteswissenschaften hätte eine Untersuchung zur Sprache Shakespeares an der Universität A Coruña in galicischer Sprache einen anderen Wert Lidia Becker 320 als eine auf Katalanisch kommentierte Anthologie katalanischer Philosophen an der Universität Barcelona. 3. Galicisch, Friaulisch und Korsisch als Wissenschaftssprachen Seit den 70er Jahren des 20. Jh. ist in romanischen Ländern eine Welle von Ausbaubestrebungen überdachter Sprachen zu beobachten. Allen voran hat sich das Katalanische seine Position als zweite Amtssprache, die dem Kastilischen gleichberechtigt ist, behauptet. Im neuen Autonomiestatut Kataloniens (Llei orgànica 6/ 2006) wird die „llengua pròpia de Catalunya“ sogar zur bevorrechtigten Sprache in der Verwaltung sowie in den Medien und zur normalen Unterrichtssprache erklärt. Nunmehr haben die Bürger Kataloniens nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, des Katalanischen mächtig zu sein 2 . Dem Katalanischen folgt das Galicische mit unwesentlichen Unterschieden in der Gesetzgebung, dafür aber mit einer unterschiedlichen soziolinguistischen Situation, in der die geringe Selbsteinschätzung der Galicischsprecher insbesondere in den Städten eine bedeutende Rolle spielt. Der Vorposten des Plurilinguismus in der Italoromania ist die Autonome Region Friuli-Venezia Giulia mit der Minderheitensprache Friaulisch. Obwohl der offizielle Bilinguismus in den italienischen Autonomiestatuten noch wenig verankert ist, zeigen mehrere sprachpolitische Initiativen der friaulischen Regierung und der Gesellschaft, die im Folgenden näher vorgestellt werden, dass der Weg zur Kooffizialität mit Sicherheit weiter verfolgt wird. Nennenswert sind auch die neuerlichen Normalisierungsbestrebungen der Sarden. Im Jahr 2006 wurde in einem Beschluss der sardischen Regierung 3 der Wunsch verkündet, die neue sardische Schriftsprache, Limba Sarda Comuna, für die Dokumentationen der Regionalregierung zu verwenden. Es wurde eine Sprachinstitution, Ufitziu de sa limba sarda, gegründet. Außerdem wurde der Wunsch, Sardisch in 2 „1. La llengua pròpia de Catalunya és el català. Com a tal, el català és la llengua d'ús normal i preferent de les administracions públiques i dels mitjans de comunicació públics de Catalunya, i és també la llengua normalment emprada com a vehicular i d'aprenentatge en l'ensenyament. 2. El català és la llengua oficial de Catalunya. També ho és el castellà, que és la llengua oficial de l'Estat espanyol. Totes les persones tenen el dret d'utilitzar les dues llengües oficials i els ciutadans de Catalunya tenen el dret i el deure de conèixer-les“ (Llei orgànica 2006, Art. 6). 3 Regione Autonoma della Sardegna (ed.), Deliberazione di Giunta Regionale n. 16/ 14 del 18.4.2006. Kleinere romanische Sprachen 321 Kindergärten und Grundschulen einzuführen, zum Ausdruck gebracht. Die dolomitenladinische Sprache befindet sich bereits seit 1948 dank dem Autonomiestatut des Trentino-Alto Adige in einer privilegierten Lage, zumindest was Südtirol anbetrifft. Der Sprachausbau wird jedoch wegen Unstimmigkeiten zwischen verschiedenen Talschaften bei der Erarbeitung einer gemeinsamen Schriftsprache, Ladin Standard 4 , verlangsamt. In Frankreich stehen Maßnahmen zur Förderung von Regionalsprachen noch zur Debatte, bisher wurde die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen von 1992 in diesem Land nicht ratifiziert 5 . Dennoch bemühen sich die Sprecher Korsikas um eine Erweiterung ihrer Sprachrechte, wovon im Folgenden noch die Rede sein wird. Für das Okzitanische beginnt seit Dezember 2007 mit dem Schéma Régional de Développement de l'Occitan des Conseil Régional Midi-Pyrénées eine neue Normalisierungsetappe. Das Schéma betrifft die Förderung des Okzitanischen in der Schule und in den Medien, das Schrifttum in okzitanischer Sprache, die sprach- und kulturwissenschaftliche Forschung sowie die Möglichkeit der Gründung des Institut de Normalisation de l'occitan (Académie occitane) 6 . Auch die Katalanen in Languedoc-Roussillon versuchen, der französischen Haltung gegen die Förderung der Regionalsprachen zu trotzen: Im Dezember 2007 wurde vom Conseil Général des Pyrénées-Orientales eine Charte en faveur du catalan verabschiedet, die das Katalanische zur Amtssprache des Département Pyrénées- Orientales neben dem Französischen erklärt, das Institut d'Estudis Catalans in Spanien als die sprachnormierende Instanz anerkennt und die Präsenz des Katalanischen in der Verwaltung, Schule und den Medien fördern möchte 7 . Im Rahmen dieser letzten Entwicklung ist es kennzeichnend, dass die Webauftritte der beiden Conseils rein französischsprachig sind und dass es keine offiziellen Übersetzungen des Schéma und der Charte ins Okzitanische und ins Katalanische gibt. Nach diesem knappen Umriss der aktuellen sprachpolitischen Situation in drei großen romanischen Ländern möchte ich die Ergebnisse des Ausbaus dreier Minderheitensprachen - Galicisch, Friaulisch und Kor- 4 LS (Ladin Standard), L Servisc per la Planificazion y Elaborazion dl Lingaz Ladin (ed.), N lingaz scrit unitar per i Ladins dles Dolomites. 5 Die Unterzeichnung erfolgte im Jahr 1999 durch Lionel Jospin (Council of Europe (ed.), Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen SEV-Nr.: 148). 6 Région Midi-Pyrénées (ed.), Le Schéma régional de développement de l'occitan. 7 Conseil Général des Pyrénées-Orientales (ed.), Charte en faveur du catalan. Lidia Becker 322 sisch - im Bereich der Forscherprosa vorstellen. Zunächst werde ich auf den heutigen Status und Gebrauch dieser Sprachen eingehen. Sodann werden Institutionen zur Förderung der Minderheitensprachen in der Forschung sowie die wissenschaftlichen Erzeugnisse am Beispiel von Fachzeitschriften und Dissertationen behandelt. Zum Schluss werde ich die für den Sprachausbau notwendigen Instrumente wie terminologische Wörterbücher skizzieren und auf das populärwissenschaftliche Schrifttum hinweisen. 3.1 Der aktuelle Status und Gebrauch der Minderheitensprachen Galicisch, Friaulisch und Korsisch 3.1.1 Galicisch Das Galicische wird in der Autonomen Region Galicien im nordwestlichen Spanien von ca. 52% der 2,78 Millionen Bewohner als Muttersprache („persoas segundo a lingua na que aprenderon a falar“) gesprochen 8 . Die Möglichkeit zum Ausbau des Galicischen, Katalanischen und Baskischen wurde im Jahr 1978 in der spanischen Verfassung festgelegt (Art. 3): 1. El castellano es la lengua española oficial del Estado. Todos los españoles tienen el deber de conocerla y el derecho a usarla. 2. Las demás lenguas españolas serán también oficiales en las respectivas Comunidades Autónomas de acuerdo con sus Estatutos. 3. La riqueza de las distintas modalidades lingüísticas de España es un patrimonio cultural que será objeto de especial respeto y protección. Im Art. 148 wurde das Recht, Minderheitensprachen zu unterrichten, den entsprechenden autonomen Regionen überlassen. Im Jahr 1981 folgte die regionale Regelung innerhalb des Autonomiestatuts Galiciens (Lei Orgánica 1/ 1981, Art. 5 9 ). Demnach gilt das Galicische als die eigene Sprache der Region Galicien. Galicisch und Kastilisch sind zwei gleichberechtigte Amtssprachen, deren Gebrauch von der galicischen Regierung garantiert wird. Mit dem Ziel der Einführung des Galicischen in alle Kontexte des öffentlichen Lebens müssen Möglichkeiten 8 Cf. Instituto Galego de Estatística (ed.), Enquisa de condicións de vida das familias. Módulo específico. Coñecemento e uso do galego 2003. Lingua materna e lingua habitual. 9 Xunta de Galicia, Secretaria Xeral de Política Lingüística (ed.), Lei Orgánica 1/ 1981. Kleinere romanische Sprachen 323 zum Erlernen dieser Sprache geschaffen werden. Im Jahr 1983 wurde das Gesetz n. 3 zur Normalisierung der galicischen Sprache (Lei de normalización lingüística de Galicia) 10 erlassen, welches eine Reihe konkreter Förderungsmaßnahmen enthält. Beispielsweise wird das Galicische, gleichberechtigt mit dem Kastilischen, zur Verwaltungssprache, Unterrichtssprache und zum Unterrichtsgegenstand auf allen Bildungsebenen unterhalb der Hochschulausbildung erhoben. Es soll darüber hinaus die übliche Sprache der regionalen Medien werden. Weitere Bereiche, in denen der Gebrauch des Galicischen vorgeschrieben wird, sind die Justiz und die Toponymie. An den Universitäten soll das Studium des Galicischen angeboten werden. Studierende und Professoren haben das Recht, sich in den beiden Amtssprachen mündlich und schriftlich auszudrücken. Es wird außerdem eine für die Normierung des Galicischen zuständige Institution, nämlich die Real Academia Galega (gegründet 1906), bestimmt. Die höchste sprachpolitische Instanz in der Autonomen Region Galicien ist die Secretaría Xeral de Política Lingüística (vor 2005 Dirección Xeral de Política Lingüística), die in die Regionalregierung (Xunta de Galicia) eingegliedert ist. Im Jahr 1986 wurde auf dem Treffen zum aktuellen Stand der Sprachnormalisierung (Encontro sobre o estado actual da normalización lingüística) mit ca. 500 Teilnehmern die Mesa pola Normalización Lingüística gegründet: eine unabhägige, unparteiische Institution, die sich um die Förderung des Galicischen und die korrekte Anwendung der Normalisierungsgesetze kümmert. Die Mesa kontrolliert den Gebrauch des Galicischen in den folgenden Bereichen: Bildung, Toponymie, Industrie und Handel, Verwaltung, Finanzwesen, Galicisch außerhalb Galiciens und allgemeine Öffentlichkeit. Im Jahr 1987 konnte infolge einer öffentlichen Aktion der Mesa die von der spanischen Zentralregierung initiierte Ablehnung der Einführung des Galicischen als Schulsprache verhindert werden 11 . In den Jahren 1991, 1992, 1993 und 1994 wurde in den Dekreten zum Inhalt der vorschulischen, Grundschul- und Sekundarschulausbildung in der Autonomen Region Galicien der Gebrauch beider Amtssprachen als Ziel gesetzt. Ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Weg zur offiziellen Zweisprachigkeit ist der Generalplan der Normalisierung der galicischen Sprache 10 Xunta de Galicia, Secretaria Xeral de Política Lingüística (ed.), Lei 3/ 1983. 11 A Mesa pola Normalización Lingüística (ed.), Quen somos. Lidia Becker 324 (Plan xeral de normalización da lingua galega), der im Jahr 2004 einstimmig vom galicischen Parlament verabschiedet wurde. Der Plan enthält mehr als 400 Maßnahmen zur Förderung des Galicischen in der Öffentlichkeit. Zu den allgemeinen Zielen des Plans zählen die Garantie der Lebensführung in galicischer Sprache mit Unterstützung durch Gesetze und Institutionen, die Priorität des Galicischen in strategischen Bereichen, die Möglichkeit zur Bedienung galicischer Bürger und Kunden in galicischer Sprache, die Verbesserung der öffentlichen Darstellung des Galicischen sowie die Schaffung von sprachlichen Werkzeugen in Übereinstimmung mit den Ansprüchen des modernen Lebens 12 . Die neueste Entwicklung im Bereich der Normalisierung ist das Dekret 124 aus dem Jahr 2007 13 mit einer erweiterten Förderung des Galicischen im Schulsystem. Das Dekret bezieht sich auf den Art. 14 des Gesetzes 3/ 1983, der die gleiche Kompetenz in den beiden Amtssprachen beim Abschluss der Schulausbildung garantiert. Da die Ergebnisse dieser Regelung bisher bescheiden blieben, wurde nunmehr beschlossen, mindestens 50% der Fächer in der Grundschule und in der Sekundarschule, Stufe I und II („educación secundaria obrigatoria und bacharelato“) auf Galicisch zu unterrichten. Dabei wird besonderer Wert auf die Unterrichtssprache Galicisch in naturwissenschaftlichen Fächern wie Mathematik, Physik, Biologie und Geographie gelegt. In den Fächern Kastilische Sprache und Galicische Sprache muss die gleiche Zahl an Unterrichtsstunden angeboten werden. Angehende Schullehrer werden verpflichtet, im Rahmen des Praktikums Kurse der galicischen Terminologie, Fachsprachen und der Soziolinguistik zu besuchen. Einwanderer nach Galicien müssen Kenntnisse der galicischen Sprache und Geschichte erwerben. Allein für die Unterstützung didaktischer Publikationen im Bereich Schul- und Erwachsenenbildung wurden im Juli 2008 von der Secretaría Xeral 1.050.000 Euro Subventionen ausgegeben 14 . Was die Präsenz des Galicischen in der Öffentlichkeit betrifft, ist die „eigene Sprache Galiciens“ sehr gut im Bereich der Regionalverwaltung vertreten. So sind die Webseiten der Xunta de Galicia, der Real Academia Galega oder der Universitäten primär in galicischer Sprache mit einer 12 Xunta de Galicia, Secretaría Xeral de Política Lingüística (ed.), Plan xeral de normalización da lingua galega. 13 Xunta de Galicia (ed.), Diario Oficial de Galicia, venres, 29 de xuño de 2007. 14 Xunta de Galicia, Secretaría Xeral de Política Lingüística (ed.), Política Lingüística financia 141 proxectos encamiñados a promover o emprego do galego no ámbito editorial. Kleinere romanische Sprachen 325 kastilischen und z. T. englischen Übersetzung gestaltet. Eine rege Tätigkeit ist im Verlagswesen mit zahlreichen Veröffentlichungen galicischer Autoren und Übersetzungen ins Galicische zu verzeichnen, cf. die größeren Verlage Edicións Xerais, Editorial Galaxia, A Nosa Terra, Edicións Espiral Maior, Toxosoutos, Ir Indo Edicións 15 . Zu den galicischsprachigen Nachrichtenorganen zählen das Tageblatt Galicia hoxe, die Wochenzeitung A Nosa Terra mit gedruckten und digitalen Versionen und das 1996 gegründete erste Internetportal Vieiros: Galiza Hoxe. Im Jahr 1984 wurde die Compañía de Radio-Televisión de Galicia (CRTVG) gegründet mit dem Ziel, die Normalisierung des Galicischen voranzutreiben. Galicisch als Unterrichtssprache mit vier oder drei Wochenstunden ist in ländlichen Schulen besser als in der Stadt vertreten. Das Dekret 124/ 2007 wurde laut den Einschätzungen der Mesa pola Normalización Lingüística bisher weitgehend nicht in die Praxis umgesetzt (Camiño, 08.01.2008). Galicische Philologie wird als Studiengang (licenciatura) an den Universitäten Santiago de Compostela, A Coruña, Vigo und Barcelona unterrichtet. An den Universitäten Santiago, A Coruña und Vigo wird darüber hinaus der Studiengang Máster en Política Lingüística e Planificación da Lingua Galega angeboten. Im kirchlichen Bereich ist Galicisch traditionell kaum präsent. Wenig Berücksichtigung findet das Normalisierungsgesetz außerdem in der freien Wirtschaft: Laut einem Bericht auf dem Nachrichtenportal Vieiros bieten nur vier der zwanzig größten galicischen Unternehmen, darunter beispielsweise das Modehaus Zara, einen galicischsprachigen Webauftritt (Río, 17.11.2008). 3.1.2 Friaulisch Das Friaulische wird in der Autonomen Region Friuli-Venezia Giulia im Nordosten Italiens gesprochen. Die Sprecherzahl wird auf ca. 700.000 geschätzt, genaue Angaben fehlen (Francescato 1989, 601). Die Anfänge der öffentlichen Diskussion um den Status des Friaulischen gehen in die 60er Jahre zurück. Im Sonderstatut der autonomen Region Friuli-Venezia Giulia aus dem Jahr 1963 16 „è riconosciuta parità di diritti di trattamento a tutti i cittadini, qualunque sia il gruppo linguistico a cui appartengono, con la salvaguardia delle rispettive caratteristiche etniche e culturali“. Im Jahr 1977 wurde die Universität Udine gegründet, 15 Asociación Galega de Editores (ed.), Editoriais. 16 Statuto Speciale della Regione Autonoma Friuli Venezia Giulia, Legge costituzionale n. 1/ 1963. Lidia Becker 326 unter anderem mit der Aufgabe, die Kultur, die Sprache, die Traditionen und die Geschichte Friauls zu fördern 17 . In den Jahren 1978 und 1980 wurden regionale Gesetzesprojekte zur Förderung des Friaulischen vorgestellt. Im Jahr 1992 wurde das Gesetz n. 6 Interventi regionali per la tutela e la promozione della lingua e della cultura friulana, das allein die friaulische Minderheit behandelte, verabschiedet (Marangon 2004, 15). Die erwähnten Maßnahmen bezogen sich jedoch auf den Art. 9 der italienischen Konstitution zur Förderung des Kulturerbes. Es fehlte sowohl eine nationale als auch eine regionale Gesetzesbasis für den Schutz der Minderheitensprachen. Lediglich drei Minderheitensprachen - das Deutsche in Südtirol, das Französische im Valle d'Aosta und das Slowenische in den Provinzen Triest und Gorizia - genossen einen Sonderstatus dank den entsprechenden internationalen Übereinkommen. Mit dem Gesetz 15 des Jahres 1996 Norme per la tutela e la promozione della lingua e della cultura friulane e istituzione del servizio per le lingue regionali e minoritarie (Marangon 2004, 2) wurden zum ersten Mal konkrete sprachpolitische Maßnahmen auf regionalem Niveau unternommen, z. B. wurden das Osservatorio regionale della lingua e della cultura friulane (OLF) sowie der Servizio per le lingue regionali e minoritarie gegründet und die offizielle Graphie festgelegt. 2004 wurde das OLF, eine Kommission mit Beratungsfunktion, durch die Agenzia Regionale per la Lingua Friulana (ARLeF), eine autonome Institution öffentlichen Rechts, abgelöst (Turello 2005, 25ss.). Im Art. 2 des Gesetzes 15/ 1996 wurde der Schutz der friaulischen Sprache als Entwicklungsgarant für die Autonomie Friauls angesehen („[…] la tutela della lingua friulana è una questione centrale per lo sviluppo dell'autonomia speciale“, Marangon 2004, 16); gleichzeitig wurde das Friaulische als eine der regionalen Sprachen definiert („una delle lingue della comunità regionale“). Im Art. 11 wurde das Recht der autonomen Region Friuli-Venezia Giulia auf den mündlichen und schriftlichen Gebrauch des Friaulischen in der Verwaltung und der Toponymie festgelegt 18 . Die Artikel 27 und 29 behandelten außerdem die Förderung des Friaulischen in der Schule und in den Medien, wobei es sich bereits um die Zuständigkeiten des italienischen Staates ohne eine entsprechende Gesetzgebung handelte 19 . Im Jahr 17 Legge 8, n. 546 Ricostruzione delle zone della regione Friuli Venezia Giulia e della regione Veneto colpite dal terremoto nel 1976, art. 26. 18 Provincia di Udine (ed.), Le minoranze linguistiche della provincia di Udine, Normativa: Status giuridico. 19 ib. Kleinere romanische Sprachen 327 1998 folgte eine wichtige Sprachnormierungsmaßnahme: Die Graphie von Xavier Lamuela wurde mit geringen Modifikationen von der Regionalregierung für offiziell erklärt (Turello 2005, 74). Erst im Jahre 1999 mit dem Gesetz 482 Norme in materia di tutela delle minoranze linguistiche storiche 20 wurde der italienischen Verfassung dafür die juristische Basis auf nationalem Niveau gegeben: „La Repubblica tutela con apposite norme le minoranze linguistiche“. Die Friauler wurden als Minderheit anerkannt („minoranza riconosciuta“). Das Gesetz sah die Verwendung der Minderheitensprachen in der Schule, in der Verwaltung, in der Toponymie und in den Medien vor (Marangon 2004, 8-9). Von Bedeutung ist jedoch, dass das Gesetz 482 in der juristischen Terminologie nicht präskriptiv, sondern programmatisch ist und somit nur einen richtungsweisenden, aber nicht verpflichtenden Charakter hat (Marangon 2004, 5). Der Gebrauch des Friaulischen in der Schule wurde auf zwei Ebenen eingeführt: als Sprache der mündlichen Kommunikation und auch der didaktischen Aktivitäten im Kindergarten, in der Grundschule und in der Sekundarschule Stufe I. In der Grundsowie in der Sekundarschule wurde Friaulisch als Unterrichtsgegenstand zugelassen, wobei die Unterrichtsbedingungen, Methoden und Einstellung der Lehrenden der Kompetenz einzelner Schulen in Absprache mit den Eltern überlassen wurde. Um die Anwendung des Gesetzes in den Schulen zu ermöglichen, wurde im Jahr 2002 die diesbezügliche Kompetenz der regionalen Verwaltung erweitert, jedoch ohne wesentlichen Erfolg. Ein häufiger Einwand in Bezug auf das Gesetz 482 ist die knappe Finanzierung, so wurden für das Jahr 2001 für alle zwölf Minderheiten knapp 9 Millionen Euro bereitgestellt (Turello 2005, 27). Für die Förderung der friaulischen Sprache und Kultur wurden zwischen den Jahren 1996 und 2002 12 Millionen Euro öffentlicher Mittel verausgabt (Marangon 2004, 109). Im Jahr 2007 wurde das Regionalgesetz 29 Norme per la tutela, valorizzazione e promozione della lingua friulana verabschiedet, welches das Gesetz 15/ 1996 aktualisierte und mit dem nationalen Gesetz 482/ 1999 in Übereinstimmung brachte. Das Gesetz wurde von den Mitte-Links- Parteien sowie von der Lega Nord unterstützt, während die Mitte-Rechts- Parteien dagegen gestimmt haben. Unter den Neuigkeiten der neuen Regelung sind die Einführung der standardisierten Sprachprüfungen, Ausbildung der Sprachlehrer, Präsenzverstärkung des Friaulischen in den 20 http: / / www.camera.it/ parlam/ leggi/ 99482l.htm (08.02.10) Lidia Becker 328 Medien sowie eine Aufforderung, Friaulisch an den Hochschulen zuzulassen. Darüber hinaus sind Formen der Überwachung bei der Durchführung des Gesetzes vorgesehen (Begotti 2007). Allerdings wurde das Gesetz kurz nach seiner Verabschiedung von der italienischen Regierung als verfassungswidrig eingestuft, denn es bestehe die Gefahr der offiziellen Zweisprachigkeit, während laut Verfassug Italienisch die einzige offizielle Amtssprache mit Ausnahmen des Deutschen und Ladinischen in Süd-tirol ist. Nach der Eingabe der Regierung muss nun das Verfassungsgericht über das friaulische Gesetz befinden (Friaul 2008, 6). Das Friaulische im Bereich der Verwaltung ist noch wenig präsent. Immerhin wurde auf der Seite der Regierung Friauls ein Teil des Inhalts ins Friaulische übertragen 21 . Die Webseite der Universität Udine ist italienischsprachig 22 . Lediglich auf der Seite des Centro Interdipartimentale di Ricerca sulla Cultura e la Lingua del Friuli ‚Josef Marchet‘ (CIRF) ist eine Kurzbeschreibung aller Studiengänge der Universität auf Friaulisch zu finden 23 . Was das Pressewesen in friaulischer Sprache betrifft, werden drei Zeitschriften in friaulischer Sprache gedruckt: die Monatszeitschriften La Patrie dal Friûl (Auflage 2000 Exemplare) und La Comugne und die jährliche Zeitschrift der Filmkritik Segnâi di lûs. Lenghe.net ist ein friaulischsprachiges Nachrichten-Internetportal. Die italienischsprachigen Regionalzeitungen wie die Tageblätter Il Gazzettino oder Il Messaggero Veneto bieten einmal wöchentlich Kolumnen in friaulischer Sprache. Die Wochenzeitung der Diözese Udines La Vita Cattolica (Auflage 20.000 Exemplare) enthält häufig eine Seite auf Friaulisch. Die einzige friaulischsprachige Kinderzeitschrift Alc&Cè ist ein Beiheft zu La Vita Cattolica. Anders als in Galicien spielt die Kirche in Friaul eine wichtige Rolle als sprachfördernde Institution. Der Almanach Stele di Nadal ist zweisprachig (italienisch und friaulisch) (Newspapers 2007). Das private Radio Onde Furlane sendet größtenteils auf Friaulisch. Ein weiterer privater Radiosender Radio Spazio 103 bietet einzelne Sendungen in friaulischer Sprache an. Im Fernsehen werden friaulischsprachige Programme im Sender Telefriuli unregelmäßig angeboten. Die im Art. 12 des Gesetzes 482/ 99 verkündete Förderung der Minderheiten in den Medien wurde bis jetzt nicht in vollem Maße durchgeführt, z. B. fehlen friaulischsprachige Sendungen im Programm des staatlichen Fern- 21 Regione Autonoma Friuli Venezia Giulia (ed.), Furlan. 22 http: / / www.uniud.it 23 Università degli Studi di Udine, Centro Interdipartimentale di Ricerca sulla Cultura e la Lingua del Friuli ‚Josef Marchet‘ (ed.), Guide ai corsi di laurea in friulano. Kleinere romanische Sprachen 329 sehkanals RAI 24 . Im Bereich des Schulwesens gewinnt das Friaulische nur zögerlich an Boden. Im Schuljahr 2002-2003 war Friaulisch laut einer Umfrage von Lucio Peressi nur in 20-25% der Schulen Teil des Kurrikulums (Coluzzi 2003, 5). Laut der Zeitung Dolomiten 25 wird das Friaulische derzeit in 107 Schulen Friauls unterrichtet. Im Jahr 2007 wurde mit Unterstützung des ARLeF der Masterstudiengang (Corso di Aggiornamento) Insegnare in lingua friulana eingeführt. Die Zulassungsbestimmungen sind der Hochschulabschluss (laurea), Beschäftigung im Bildungssektor und mindestens mündliche Kompetenz im Friaulischen 26 . 3.1.3 Korsisch Im Jahr 1999 sprachen ca. 122.000 Menschen, etwa die Hälfte der korsischen Bevölkerung, Korsisch (Sobotta 2003, 34). Nach anderen Angaben gebrauchen nur ca. 50.000 Korsen regelmäßig das Korsische (Schmitt 2006, 1864). Infolge der ‚zweiten korsischen Renaissance‘ seit den 70er Jahren des 20. Jahrhundert wird 1974 das Loi Deixonne 27 , welches 1951 das Baskische, Bretonische, Katalanische und Okzitanische als Wahlfach in die Grund- und Sekundarschule einführte, um das Korsische erweitert. Das Gesetz Haby 28 von 1975 ermöglichte den Unterricht der Regionalsprache während der gesamten Schulzeit („l'enseignement des langues et cultures régionales peut être dispensé tout au long de la scolarité“). 1981 hat die Università di Corsica Pasquale Paoli in Corte/ Corti den Betrieb aufgenommen. Im Jahr 1982 verkündete Mitterands Kulturminister Jacques Lang für alle ethnischen Randgruppen Frankreichs ein Recht auf Verschiedenheit („droit à la différence“) (Goebl 1988, 834). Im selben Jahr folgte auf das erste Autonomiestatut Korsikas, nunmehr „la collectivité territoriale de Corse“, das Gesetz Savary („L'enseignement des cultures et langues régionales dans le service public de l'Education Nationale“), das eine Umsetzung des Rechts auf Verschiedenheit ermöglichen sollte. Der Korsisch-Unterricht konnte auf allen Bildungsebenen, von der Vorschul- 24 Provincia di Udine (ed.), Le minoranze linguistiche della provincia di Udine, Normativa: Status giuridico. 25 Nr. 40 vom 16./ 17. Februar 2008. 26 Università degli Studi di Udine (ed.), Master universitario di II livello/ Corso di Aggiornamento ‚Insegnare in lingua friulana‘, Anno accademico 2007/ 2008, Manifesto degli studi. 27 République française (ed.), Loi Deixonne. 28 République française (ed.), Loi Haby, Art. 12. Lidia Becker 330 erziehung bis zur Universität eingeführt werden. Allerdings verhinderte das Prinzip der Freiwilligkeit seitens der Schüler und Lehrer eine Durchdringung des Korsischen in alle Bildungsinstitutionen 29 . Mit dem zweiten Autonomiestatut (Loi n. 91-428) im Jahr 1991 wurde die Linie der administrativen Dezentralisierung Korsikas weiter verfolgt (Sobotta 2003, 5). Unter Art. 53 im Kapitel „De l'éducation“ des Statuts wird ein Entwicklungsplan für die korsische Sprache und Kultur als Schulfächer vorgeschlagen 30 . Die Regionalregierung (l'Assemblée de Corse) darf freilich nicht das Lehrpersonal eigenständig verwalten, sie ist allein für didaktische Materialien und Sprachnormierung zuständig 31 . Im Jahr 2002 wurde das Gesetz zur korsischen Autonomie (Loi n. 2002-9) verabschiedet, das den ersten Schritt auf dem Weg zum dritten Autonomiestatut darstellt. Damit Korsika einen höheren Grad an Autonomie erlangt, muss allerdings die französische Verfassung geändert werden. Infolge dieses Gesetzes wurde der Korsisch-Unterricht in den normalen Stundenplan der Kindergärten und Grundschulen aufgenommen 32 . Im Jahr 2004 wurden zusätzlich die Rechte auf die Ausbildung und Verwaltung des Lehrpersonals an die Regionen abgetreten 33 . Die korsische Regionalregierung besitzt nunmehr eigene Verwaltungskompetenzen in den folgenden Bereichen: Sekundarschule, Berufsbildung, Korsisch- Unterricht, Hochschulausbildung und Forschung. Im Jahr 2005 hat die korsische Regierung die Bedeutung der korsischen Sprache für die Entwicklung Korsikas („l'importance de la langue corse en tant que lien social, patrimoine et ressource du développement de la Corse“) betont und eine neue Förderungsaktion mit dem Ziel des Bilinguismus ins Leben gerufen. Es wurde der Conseil de la Langue et de la Culture corses (CLCC) als Förderungsinstrument der korsischen Sprache gegründet. Im Entwicklungsplan der Ausbildung auf der Insel Korsika 2007-2013 (Plan Régional de Développement de la Formation 2007-2013) erlangen diese Kompetenzen ein strategisches Ziel. Für das Jahr 2007 wurden für die Realisierung des Plans 62 Millionen Euro, 14% des korsischen Budgets, 29 Comiti, L'organizzazione dell'insegnamento del corso e la formazione dei docenti. 30 République française (ed.), Loi n. 91-428 du 13 mai 1991, Art. 53. 31 Comiti, L'organizzazione dell'insegnamento del corso e la formazione dei docenti. 32 Loi n. 2002-92, Art. 7, in: Sobotta (2003, 24). 33 Collectivité Territoriale de Corse (ed.), Formation professionnelle continue/ apprentissage. Kleinere romanische Sprachen 331 ausgegeben 34 . Eine radikale Verbesserung der Situation des Korsischen ist allerdings kaum in Sicht: Im Mai 2008 hat die französische Kultusministerin, Christine Albanel, erneut die Ratifizierung der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen durch Frankreich abgelehnt. Anstelle der Ratifizierung der Charta wird ein Gesetz mit Maßnahmen zur Förderung der Regionalsprachen in den Medien, der Bildung und der Toponymie geplant (Déclaration 2008). In der Regionalverwaltung und Justiz ist das Korsische kaum vertreten. Die Webseite der korsischen Regionalregierung bietet nur partielle Übersetzungen der Seiteninhalte ins Korsische. Die Seite zur korsischen Sprache ist nur auf Französisch verfügbar. Wie bereits in den 70er Jahren bleibt das Korsische in der Öffentlichkeit am stärksten im Bildungsbereich vertreten. Nach Angaben des Erziehungsministeriums war Korsisch im Schuljahr 2000/ 2001 nach dem Okzitanischen (71.912 Schüler) die mit 27.875 Schülern am zweithäufigsten unterrichtete Regionalsprache Frankreichs. 79% der Grundschüler und 44% der Schüler der Sekundarstufe I erhielten Anfang des 21. Jh. den Korsisch-Unterricht (Sobotta 2003, 36). In der Grundschule wird Korsisch derzeit immer noch als Wahlfach im Umfang von drei Wochenstunden unterrichtet, jedoch erhielten 64% der Schüler in den Jahren 2005-2006 weniger als drei Stunden Korsisch-Unterricht 35 . Auch in der Sekundarschule ist Korsisch ein Wahlfach, das allerdings zu einem Pflichtfach wird, wenn es als Zweit- oder Drittsprache jeweils in der dritten Klasse der Sekundarschule Stufe I und in der zweiten Klasse der Sekundarschule Stufe II gewählt wird. An der Universität ist Korsisch Pflichtfach in den ersten zwei Jahren im Umfang von zwei Wochenstunden. Im Rahmen des eigenen Studiengangs Studii corsi werden korsische Linguistik, Literatur, Geschichte, Archäologie, Ethnologie etc. z. T. in korsischer Sprache unterrichtet 36 . Allerdings ist der Webauftritt der Universität Pasquale Paoli rein französischsprachig, selbst die Beschreibungen der Studiengänge Studii corsi 34 Collectivité Territoriale de Corse (ed.), Éducation; ib., Plan de développement de l'enseignement de la langue et de la culture corses et de son apprentissage tout au long de la vie. 35 Collectivité Territoriale de Corse (ed.), Plan de développement de l'enseignement de la langue et de la culture corses et de son apprentissage tout au long de la vie. 36 Comiti, L'organizzazione dell'insegnamento del corso e la formazione dei docenti. Lidia Becker 332 sind vom Korsischen befreit 37 . Korsischsprachige Zeitungsartikel werden in seltenen Fällen von U Ribombu, auch als Nachrichtenportal verfügbar, von der Wochenzeitung Arritti, Rigiru und A fiara angeboten. Unter den Radiosendern mit Angeboten in korsischer Sprache sind das staatliche Radio France, Privatsender Alta Frequenza und Voce Nustrale. Im Fernsehen sendet France 3 einmal wöchentlich 40 Minuten auf Korsisch 38 . 3.2 Institutionen zur Förderung der Minderheitensprachen in der Forschung 3.2.1 Galicisch Die Förderung des Galicischen im Bereich der Wissenschaft gehört zur zentralen Aufgabe des Servizo de Normalización Lingüística an den galicischen Universitäten. Am Beispiel der Universität Santiago de Compostela (Universidade de Santiago de Compostela, Servizo de Normalización Lingüística) können konkrete Maßnahmen vorgestellt werden. Seit dem Jahr 1994 werden Abschlussarbeiten („memorias de licenciatura“), Doktorarbeiten, betreute Projekte („traballos de investigación tutelados“) und Projekte in der Abschlussphase des Studiums („proxectos de fin de carreira“) in galicischer Sprache gefördert. Im Angebot sind Korrekturlesen, Überprüfung der Terminologie, Kurse zum wissenschaftlichen Schreiben sowie CD-ROMs mit Rechtschreibungsprogrammen. Nicht zu unterschätzen sind Möglichkeiten der finanziellen Unterstützung bei der Anfertigung gedruckter Kopien (bis 400 Euro für Doktorarbeiten, bis 150 Euro für Abschlussarbeiten und betreute Projekte sowie bis 125 Euro für Projekte in der Abschlussphase des Studiums). So wurden im Jahr 2005 fünf Doktorarbeiten mit den Titeln O réxime xurídico - privado dos montes veciñais en man común: natureza e titularidade (Facultade de Dereito), Índice de refracción volume libre refracción molar: conceptos e correlación. Análise termodinámica de mesturas (éter cíclico + cetona) (Facultade de Física), E. Montero Ríos e a cidade de Santiago (Facultade de Xeografía e Historia), O Cardenal D. Miguel Payá y Rico (1811-1891) Bispo de Cuenca Arcebispo de Compostela e Primado de España (Facultade de Xeografía e Historia) und Lectura folosófica marxista de Maquiavelo (Facultade de Filosofía) unterstützt. Drei dieser Arbeiten in 37 Università di Corsica Pasquale Paoli, Faculté de Lettres, Langues, Arts, Sciences Humaines et Sociales (ed.), Licence Langues Littératures et Civilisations Etrangères et Régionales, Spécialité Langue et Culture Corses. 38 Institut de Sociolingüística Catalana (ed.), Euromosaic: Le Corse en France. Kleinere romanische Sprachen 333 den Fächern Jura, Physik und Philosophie beziehen sich thematisch nicht auf die Region Galicien. 3.2.2 Friaulisch In der Region Friuli-Venezia Giulia existiert eine einzigartige Institution, deren alleinige Aufgabe die Förderung des Friaulischen in der Wissenschaft ist. Es handelt sich um die unabhängige ‚Wissenschaftliche und Technologische Gesellschaft Friauls‘ (SSTeF = Societât Sientifiche e Tecnologjiche Furlan). Die Gesellschaft pflegt einen Internetauftritt 39 , gibt einbis zweimal jährlich die Zeitschrift Gjornâl Furlan des Sciencis in gedruckter und elektronischer Form heraus und organisiert jährliche Tagungen. Darüber hinaus kann auf der Seite der SSTeF der friaulische Rechtschreibungskorrektor für Word kostenlos heruntergeladen werden. Kennzeichnenderweise gibt es die Homepage und die Zeitschrift nur in friaulischer und englischer, nicht jedoch in italienischer Sprache. In der Vorstellung der Gesellschaft nennt der Präsident Marzi di Strassolt die Förderung des Friaulischen in der Forschung als deren Hauptziel. Obwohl die Position des Englischen als Kommunikationssprache der Wissenschaft unumstritten ist, werden Nationalsprachen im Unterricht und in der Anwendung der Forschung und Technologien verwendet. … SSTeF unterstützt jedes Projekt, das zur Informatisierung und zur Verbreitung des Friaulischen beiträgt, z.B. wissenschaftliche Publikationen in friaulischer Sprache und ihre Übersetzung ins Englische, auch in Form von Stipendien. Die Gesellschaft pflegt enge Kontakte mit wissenschaftlichen und technologischen Institutionen und Unternehmen Friauls 40 . Gefördert werden Projekte in Formal-, Natur-, Gesundheits-, Technologie-, Wirtschafts-, Sozial- und Geisteswissenschaften sowie im wissenschaftlichen Journalismus. Alle Ausgaben der Zeitschrift Gjornâl Furlan des Sciencis seit 2002 können auf der SSTeF-Homepage kostenlos einge- 39 http: / / www.siencis-par-furlan.net 40 Deutsche Zusammenfassung L. B. Originaltext: „Ancje se in tal mont la comunicazion sientifiche si le fâs par inglês, par dut l'insegnament e la realizazion des siencis e des tecnologjiis a vegnin puartâts indenant intes lenghis nazionâls. […] La SSTeF e sosten dutis lis iniziativis che àn a ce fâ cu la informatizazion de lenghe furlane; e puarte indenant iniziativis par studiâ, difindi e promovi la biodiviersitât in Friûl; e sosten la publicazion di libris sientifics par furlan e la lôr traduzion par inglês; e met a disposizion borsis di studi par ricercjadôrs che si impegnin a publicâ i risultâts des lôr ricercjis ancje par furlan; e ten rapuarts cun lis istituzions e lis aziendis che in Friûl a lavorin inte ricercje sientifiche e tecnologiche“. Lidia Becker 334 sehen werden. Unter den Beiträgen sind Untersuchungen zur Biologie, Geographie, Mathematik, Medizin und Sprachwissenschaft, cf. die Titel Control e monitorament di sot prodots de disinfezion cun parametris POX e UV-254 in aghis dal Friûl (2002), Epilessie e creativitât leterarie in Fyodor M. Dostoevskij (2003), Il cancar dal cjastinâr: une epidemie blocade cun la lote biologjiche (2003), Osservazion positive de ocultazion asteroidâl de bande dal planetin 209 Dido ai 10 di Març dal 2005 (2005), Insegnament e aprendiment de matematiche intune situazion di bilenghisim (2006). Zu nennen ist außerdem die Kampagne des Centro Interdipartimentale di Ricerca sulla Cultura e la Lingua del Friuli ‚Josef Marchet‘ (CIRF) mit dem Titel F=MC2 41 , die ebenfalls die Erweiterung des Sprachgebrauchs auf die Bereiche der Forschung und Technologie zum Zweck hat. Die Kampagne wird mit gedrucktem Werbematerial und Werbespots im Radio und Fernsehen durchgeführt. 3.2.3 Korsisch Das Korsische befindet sich in Hinblick auf eine eventuelle Förderung von wissenschaftlichen Publikationen noch in einer Ausbauphase, in der Arbeiten zur und nicht in der korsischen Sprache honoriert werden. Die 1964 in Nizza gegründete Accademia Corsa schreibt seit 1998 jährlich Preise für die besten Magister- und Doktorarbeiten zu Korsika in Höhe von 500 Euro (Le prix de thèse Jean Ambrosi, le prix de la ville de Nice, Le prix de la ville de Bonifacio) und 400 Euro (Le prix A. Leandri du jeune chercheur) aus 42 . Die Mehrheit der Arbeiten wurde in französischer Sprache an der Università di Corsica Pasquale Paoli verfasst, es gibt aber auch italienische Qualifikationsschriften und eine deutsche Diplomarbeit 43 . Im Rahmen der Preisverleihung wurde immerhin eine in Korsisch verfasste Dissertation von Michelacurina Bartolini mit dem Titel Tempi e lochi di potere: a lingua e u cantu tradiziunale corsu (Tesa di ditturatu di lingua è civilizazione corsè (ozzione antrupulugia), Università di Corsica, 2003, Betreuerin: Prof. Dr. Dumenica Salini) ausgezeichnet. 41 Furlan = mieç di comunicazion al cuadrât (Università degli Studi di Udine, Centro Interdipartimentale di Ricerca sulla Cultura e la Lingua del Friuli ‚Josef Marchet‘ (ed.), La campagna promozionale F=MC2). 42 Accademia Corsa (ed.), Prix de l'Accademia Corsa. 43 Sobotta, Elissa, Autonomie im zentralistischen Frankreich - der Fall Korsika, unveröffentlichte Diplomarbeit, München 2003, Betreuer: PD Dr. Franz Kohout, Hochschule für Politik München, Preis A. Leandri du jeune chercheur 2004. Kleinere romanische Sprachen 335 Seit neuestem gibt es auch ein Internetportal Lingua Reta. A lingua corsa adatta à e nove tecnulugie 44 , das sich mit Sicherheit nach ähnlichen Projekten in Spanien und Italien richtet. Die Webseite ist allerdings noch kaum ausgebaut und zeichnet sich durch einen eher amateurhaften Charakter aus. Das Glussariu Francese-Corsu di u vocabulariu tecnicu bietet Übersetzungen eines Dutzends Lexeme aus dem Bereich der Informatik aus dem Französischen ins Korsische. Unter „Galleria“ findet sich eine Abbildung des menschlichen Organismus mit korsischen Bezeichnungen der Organe etc. Demnächst soll auf der Webseite eine Bibliographie des Korsischen entstehen. 3.3 Präsenz der Minderheitensprachen in den wissenschaftlichen Medien 3.3.1 Wissenschaftliche Zeitschriften 3.3.1.1 Galicisch Im Bereich der wissenschaftlichen Zeitschriften in Minderheitensprachen gilt für das Galicische grundsätzlich, dass die Zweiteilung in spanische und galicische Titel kein Ausschlusskriterium für die Publikationen in der jeweils anderen Sprache darstellt. Selbstverständlich bedeutet ein galicischer Titel eine größere Konzentration des Galicischen als Publikationssprache. Dagegen ist ein spanischer Titel häufig ein Zeichen der Öffnung gegenüber anderen spanischen Regionen und der Welt. Im Fall jeder Zeitschrift ist der Inhalt (regional vs. überregional), die Verbreitung sowie die programmatische Einstellung der Herausgeber entscheidend. So finden sich auch in der Zeitschrift mit dem spanischen Titel Estudios de Sociolingüística. Linguas, sociedades e culturas der Universität Vigo (halbjährlich, seit 2000) galicischsprachige Artikel. Die wichtigsten Publikationssprachen sind allerdings Englisch, Französisch und Spanisch, wobei die soziolinguistische Situation zahlreicher Regionen behandelt wird. Die Revista galega de filoloxía der Universität A Coruña (jährlich, seit 2000) enthält Beiträge in galicischer, portugiesischer und katalanischer Sprache. Aufsätze in Galicisch behandeln hauptsächlich die galicische Sprache. Dagegen sind in der galicisch betitelten Zeitschrift Verba. Anuario Galego de Filoloxía der Universität Santiago (jährlich, seit 1974) mit einer größeren Verbreitung galicisch-, spanisch-, englisch-, und französischsprachige Beiträge zu unterschiedlichen Aspekten des Galicischen, Spa- 44 http: / / www.linguacorsa.net Lidia Becker 336 nischen, Asturischen, Portugiesischen, Katalanischen, Französischen und Okzitanischen versammelt. Die Cadernos de lingua der Real Academia Galega (halbjährlich, seit 1990) behandeln Aspekte der galicischen Sprache auf Galicisch. Die Aufsätze im Boletín Galego de Literatura (halbjährlich, 1989) der Universität Santiago sind ausschließlich galicischsprachig, obwohl sie sich nicht nur mit der galicischen, sondern auch mit der italienischen, okzitanischen, russischen, deutschen etc. Literatur beschäftigen. Unter den naturwissenschaftlichen Zeitschriften enthält die primär spanischsprachige Revista de la Real Academia Gallega de Ciencias (jährlich, seit 1994) auch galicische Artikel meist mit einem Regionalbezug, cf. „Diferenciación xenética entre poboacións galaicas do raposo, Vulpes Vulpes Linnaeus 1758, Baseada nas secuencias do xen citocromo b do ADN mitocondrial“ oder „Relacións biométricas en Rana perezi: implicacións na xestión de poboacións cinexeticamente reguladas en Galicia“ (n. 22, 2003). Die Nova Acta Científica Compostelá der Universität Santiago (jährlich, seit 2000) ist galicisch- und spanischsprachig, wobei galicische Beiträge meist regionalbezogen sind. Die Zeitschrift Xeográfica. Revista de xeografía, territorio e medio ambiente ebenfalls der Universität Santiago (jährlich, seit 2001) führt Spanisch und Portugiesisch als Hauptpublikationssprachen mit seltenen galicischen Beiträgen. Das Boletín Epidemiolóxico de Galicia (jährlich, seit 1986) ist galicischsprachig mit Beiträgen in erster Reihe zu regionalen, aber auch zu überregionalen Themen, cf. „A eliminación da Poliomielite en Europa“ (n. 10, 1997) oder „A rexión europea da organización mundial da saúde declara ceibe de polio“ (n. 15, 2002). Die Singularität dieser Erscheinung ist leicht zu erklären, denn die Zeitschrift wird von der Xunta (Conselleria de Sanidad de Servicios Sociais) herausgegeben. Allerdings sind auch die Cadernos de psicoloxía (vierteljährlich, seit 1986) galicischsprachig, mit regionaler und überregionaler Thematik und einer unabhängigen herausgebenden Körperschaft (Colexio Oficial de Psicólogos de Galicia, Santiago de Compostela). Insgesamt finden sich im Verzeichnis der wissenschaftlichen Zeitschriften der hispanophonen Welt Latindex. Sistema Regional de Información en Línea para Revistas Científicas de América Latina, el Caribe, España y Portugal 32 Zeitschriften mit Galicisch als einer der Publikationssprachen. Diese Zahl stimmt nur ungefähr, denn einige Zeitschriften, wie z. B. Verba, wurden nicht berücksichtigt, cf. Tabelle 4. Kleinere romanische Sprachen 337 Revista Lugar Frecuencia 43ºN 8ºW A Coruña Irregular Ambientalmente sustentable Liáns-Oleiros (A Coruña) Semestral BEG. Boletín epidemioloxico de Galicia Santiago de Compostela Anual Boletín auriense Ourense Anual Boletín informativo. Centro Rexional de Farmacovixilancia de Galicia A Coruña Trimestral Brigantium A Coruña Bianual Cadernos da Area de Ciencias Biolóxicas Santiago de Compostela Irregular Cadernos de Fraseoloxía Galega Santiago de Compostela Irregular Cadernos de Lingua A Coruña Semestral Cadernos de psicoloxía Santiago de Compostela Cuatrimestral Decisión Vigo Anual Dereito. Revista xurídica da Universidade de Santiago de Compostela Santiago de Compostela Semestral Dorna. Expresión poética galega Santiago de Compostela Irregular Estudios migratorios Santiago de Compostela Semestral Ianua. Revista Philologica Romanica (Revista electrónica) Girona Anual Ingenierias (En línea) (Revista electrónica) San Nicolás de los Garza, México Cuatrimestral Ingenium Santiago de Compostela Irregular Lenguaje y textos Barcelona Semestral Papeles de trabajo sobre cultura, educación y desarrollo humano (Revista electrónica) Madrid Anual Pontenova. Revista de Investigacion Xove Pontevedra Anual Recursos rurais Lugo Anual Regap. Revista galega de administración pública Santiago de Compostela Cuatrimestral Revista galega de filoloxía A Coruña Anual Revista cubana de pediatría (Revista electrónica) Ciudad de la Habana, Cuba Trimestral Lidia Becker 338 Revista de Investigación y Desarrollo Lima, Perú Anual Revista electrónica de enseñanza de las ciencias (REEC) (Revista electrónica) Ourense Cuatrimestral Revista galego-portuguesa de psicoloxía e educación A Coruña Semestral Revista terra Santiago de Compostela Anual Revista xurídica galega Vigo Cuatrimestral Sarmiento. Anuario Galego de Historia da Educación A Coruña Anual Siso/ Saude A Coruña Anual Unión libre. Cadernos de vida e culturas Lugo Anual Tabelle 4: Liste der wissenschaftlichen Zeitschriften mit Publikationssprache Galicisch in Latindex Mittlerweile figuriert das Galicische als eine der Publikationssprachen der Revista cubana de pediatría, der peruanischen Revista de Investigación y Desarrollo und der mexikanischen Ingenierias. Damit sind die Grenzen der Region Galicien eindeutig überschritten. Ein bedeutender Faktor im Ausbau der galicischen Forscherprosa ist außerdem die Tatsache, dass Wissenschaftler außerhalb Galiciens sich der galicischen Sprache für ihre Publikationen bedienen. Beispiele dafür sind Veröffentlichungen von Johannes Kabatek („O príncipe Louis Lucien Bonaparte, precursor da lingüística galega“, 1992; „Os estudios sobre lingua galega en Alemaña“, 1997; „‚Muyto he boa grosa‘: O renacemento boloñés, a elaboración das linguas románicas e a emerxencia do galego escrito“, 2007) oder von Eva Gugenberger („Aspectos lingüísticos e sociolingüísticos do contacto entre galego e castelán en Bos Aires“, 2002 (zusammen mit Xosé Soto Andíon); „Consecuencias do contacto lingüístico entre o galego e o castelán: o caso dos inmigrantes galegos en Bos Aires“, 2004). Die Entscheidung, in Galicisch zu publizieren, hängt wohl unter anderem mit dem geringen sprachlichen Abstand zwischen dem Galicischen und größeren iberoromanischen Sprachen Spanisch und Portugiesisch zusammen. Nebenbei sei bemerkt, dass das Galicische als einzige romanische Minderheitensprache in das Lexikon der Romanistischen Linguistik Eingang gefunden hat. Diese Tatsache stellt jedoch kein Indiz für eine exklusive Stellung des Galicischen als Wissenschaftssprache dar: Die ent- Kleinere romanische Sprachen 339 sprechenden Beiträge wurden nämlich gegen den Willen der Herausgeber in galicischer und nicht spanischer Sprache geliefert. Auf eine Übersetzung konnte wegen der allgemeinen Verständlichkeit der Texte für Spanisch- und Portugiesischkundige verzichtet werden (Günter Holtus, persönliche Mitteilung, 21.11.2008). 3.3.1.2 Friaulisch Aufsätze in friaulischer Sprache sind vor allem in drei Zeitschriften der Società Filologica Friulana Ce fastu (halbjährlich, seit 1920), Sot la nape (dreimal jährlich, seit 1949) und Il Strolic Furlan (jährliches Beiheft zu Sot la nape) zu finden. Die Publikationssprache der Zeitschrift Ce fastu mit ausschließlich wissenschaftlichen Ansprüchen ist hauptsächlich Italienisch. Sot la nape enthält gemischte Beiträge im wissenschaftlichen und journalistischen Stil in den ungefähr gleichberechtigten Publikationssprachen Italienisch und Friaulisch. Die Mehrheit der Aufsätze ist regionalbezogen. Die einzige Zeitschrift mit naturwissenschaftlichen Beiträgen in Friaulisch ist die bereits erwähnte Gjornâl Furlan des Siencis der Societât Seintifiche e Tecnologjiche Furlane. Allerdings ist kürzlich, im Jahr 2007, ein Artikel „Archeoastronomie in Friûl“ in Sot la nape von Nando Patat veröffentlicht worden. Wegen der Knappheit der wissenschaftlichen Literatur in friaulischer Sprache können hier auch die wenigen Monographien und Sammelbände berücksichtigt werden. Auf der Homepage der Provinz Udine ist eine eigene Seite den (teilweise) friaulischsprachigen Büchern mit wissenschaftlichem Anspruch gewidmet 45 . Unter solchen Veröffentlichungen werden neben dem Gjornâl Furlan des Siencis die folgenden genannt: Baruzzini, Lionello/ Pittana, Angelo M. Animâi nostrans e forescj/ Animali indigeni ed esotici, Codroipo, Istitût Ladin-Furlan ‚Pre Checo Placerean‘ (Con sessanta fotografie; testi in friulano ed in italiano), 2001. Baruzzini, Lionello/ Pittana, Angelo M., Plantis nostranis e forestis/ Piante indigene ed esotiche, Reana del Rojale, Chiandetti (Con 230 fotografie; testi in friulano ed in italiano), 2000. Fari, Franc, Il cjâf dai furlans. Neuropsicologjie dai sintiments, Udine, Kappa Vu Edizioni, 2000. 45 Provincia di Udine (ed.), Le minoranze linguistiche della provincia di Udine, Lingua: Bibliografia: Libri con argomento scientifico. Lidia Becker 340 Fogale, Matteo/ Paolini, Emanuele, Une introduzion ae analisi matematiche, Codroipo, Istitût Ladin-Furlan ‚Pre Checo Placerean‘, 2001. Nazzi Matalon, Z./ Maulin, L., Dizionari inlustrât dal cuarp dal omp, Gorizia/ Pordenone/ Udine, Clape culturâl Acuilee, 1976. Pittana, A. M./ Mitri, G./ De Clara, L., La nomencladure des matematichis, Codroipo, Istituto Ladin-Furlan ‚Pre Checo Placerean‘ (I vocaboli sono in friulano, italiano e inglese), 1997. Zwei dieser Bücher sind der einheimischen Flora und Fauna sowie einem regionalbezogenen Thema aus dem Bereich der Psychologie gewidmet, zwei beschäftigen sich mit den Grundfragen der Mathematik und das fünfte Buch älteren Datums ist ein illustriertes anatomisches Wörterbuch. In Sammelbänden ist das Friaulische zunächst selbstverständlich im Bereich der Sprachwissenschaft vertreten, cf. beispielsweise die kürzlich erschienene Publikation Ladine loqui. IV colloquium retoromanistich, 26- 27 di Avost dal 2005 46 mit 5 friaulisch-, 8 italienisch- und 2 deutschsprachigen Beiträgen. Derzeit sind noch kaum Veröffentlichungen in friaulischer Sprache von nicht friaulisch-stämmigen Autoren zu verzeichnen. Die Bemühungen friaulischer Sprachwissenschaftler, relevante fremdsprachige Publikationen ins Friaulische zu übersetzen, könnten als eine Vorstufe dieser möglichen Entwicklung betrachtet werden. Beispielsweise wurden die auf Italienisch verfassten Beiträge von Paola Benincà und Laura Vanelli im Sammelband Manual di Lenghistiche Furlane 47 von Pauli Cantarut ins Friaulische übersetzt (Paola Benincà, E-Mail vom 11.11.2008). Die auf Deutsch verfasste Monographie von Sabine Heinemann Studien zur Stellung des Friaulischen in der nördlichen Italoromania (2003) wurde allerdings vom Friauler Davide Turello ins Italienische und nicht ins Friaulische übersetzt 48 . 3.3.1.3 Korsisch Wissenschaftliche Publikationen in korsischer Sprache sind, wie übrigens die meisten anderen Textsorten, bisher eine Seltenheit. In der Zeitschrift Etudes corses (halbjährlich, seit 1973, Bastia) finden sich zwischen den Jahren 1973 und 2006 lediglich drei korsischsprachige Aufsätze (Dalmas, 46 Udine, Società Filologica Friulana (ed. Federico Vicario). 47 Franc Fari (= Franco Fabbro) (ed.), Udine, Forum, 2007. 48 Studi di linguistica friulana, überarbeitete italienische Fassung von Heinemann 2003, übersetzt von Davide Turello, Udine, 2007. Kleinere romanische Sprachen 341 P. „E streghe di u Castel d'Acqua“ und Desideri, L. „I mesi d'Anghjulina“, n. 20-21, 1983 sowie Père Doazan, L. „U Castellu Di E Rocche Di Sia“, n. 24, 1985) 49 . Die Hauptpublikationssprache ist selbstverständlich das Französische, mit wenigen Ausnahmen in Italienisch und Deutsch. Die elektronische Zeitschrift Bonanova. Rivista literaria di l'Associu di sustegnu di u Centru Culturale Universitariu der Università di Corsica (halbjährlich) enthält nur literarische Texte in korsischer Sprache. Auf der Homepage der Accademia Corsa befinden sich Veröffentlichungen von Akademiemitgliedern zur korsischen Sprache, die zwischen 1986 und 2008 verfasst wurden. Neben den französischsprachigen Titeln wie „L'actuel systeme d'ecriture de la langue corse“ (Antoine Ottavi, 1996), „Les origines de la langue corse“ (ib., 1996) oder „A propos de la langue corse et de la langue italienne“ (ib., 2000), die die Mehrheit bilden, findet sich ein Beitrag in korsischer Sprache mit dem Titel „Origine è evoluzione di a lingua corsa“ (Jean Claude Calassi, 2001) 50 . Dabei fällt ein eher essayistischer Stil des letzten Textes auf, der wohl auf einen ungewohnten Umgang mit dem Korsischen im wissenschaftlichen Kontext hinweist. Bevor aber die Rede von wissenschaftlichen Publikationen in korsischer Sprache sein kann, muss erwähnt werden, dass selbst die Literatur über die korsische Sprache noch verhältnismäßig dürftig ist. Im Standardwerk Romanische Sprachgeschichte (HSK XXIII) ist das Korsische beispielsweise der Aufteilung der romanischen Sprachen in die Großräume Französisch und Okzitanisch, Italienisch und Sardisch, Alpenraum etc. zum Opfer gefallen: Die Darstellung der sprachlichen Aspekte des Korsischen fehlt meistens sowohl bei der Galloals auch bei der Italoromania. 3.3.2 Dissertationen 3.3.2.1 Galicisch Im Rahmen der Vorbereitung des vorliegenden Beitrags konnte ich das Angebot der linguistischen Beratung seitens des Servizo de Normalización Lingüística der Universität Santiago de Compostela wahrnehmen. Innerhalb von zwei Tagen wurde mir eine Liste sämtlicher Dissertationen der Universität in galicischer Sprache zwischen den Jahren 2005 und 2008 zur Verfügung gestellt (cf. Tabelle 5). 49 Etudes Corses (ed.), Sommaires de tous les numéros. 50 Accademia Corsa (ed.), Conférences et essais. Lidia Becker 342 Fach Anzahl der Dissertationen (2005-2008) eigenbezogen fremdbezogen bzw. universell Chemie 6 Physik 3 Mathematik 1 Medizin 1 Pharmazie 1 1 Biologie 1 3 Geographie 1 Sprachwissenschaft 4 Literaturwissenschaft 5 Medienwissenschaft 7 Geschichte 7 Erziehungswissenschaft 4 Anthropologie 2 Philosophie 1 1 Politikwissenschaft 1 Rechtswissenschaft 1 Wirtschaftswissenschaft 2 5 Tabelle 5: Dissertationen in galicischer Sprache an der Universität Santiago de Compostela zwischen 2005 und 2008 Unter den insgesamt 58 Dissertationen beschäftigen sich immerhin 22 nicht mit der Region Galicien, darunter Arbeiten in den Fächern Chemie, Physik und Mathematik. 3.3.2.2 Friaulisch Nach Angabe von Katia Bertoni, Mitarbeiterin der Bibliothek der Società Filologica Friulana (E-Mail von 17.11.2008), wurde bisher lediglich eine Dissertation in friaulischer Sprache im Bereich der Übersetzungswissenschaft verfasst: Rodaro, Matteo, Traduzion e interculturalitât, Università degli Studi di Trieste, Facoltà di Lettere e Filosofia, Corso di Laurea in Filosofia, 2003/ 2004, Betreuer: Prof. Dr. Giovanni Ferracuti. Eine weitere Dissertation stellt zu einem großen Teil eine Übersetzung der Internetseite der Banca di Cividale ins Friaulische mit einem Fokus auf der wirtschaftlichen Terminologie dar: Cantone, Gianfranco, Contributo alla terminologia specialistica del friulano: lessico di economia e finanza, Università degli Studi di Udine, Facoltà di Lingue e Letterature straniere, Corso di Laurea in Lingue per la comunicazione internazionale, 2006/ Kleinere romanische Sprachen 343 2007, Betreuerin: Prof. Dr. Piera Rizzolatti. Ca. 300 lokale Dissertationen behandeln die Geschichte, Sprache, Literatur und Volkstraditionen Friauls. 3.3.2.3 Korsisch Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung konnte nur eine korsischsprachige Dissertation identifiziert werden, cf. 3.2.3 (Michelacurina Bartolini Tempi e lochi di potere: a lingua e u cantu tradiziunale corsu). 3.3.3 Terminologische Wörterbücher und Glossare 3.3.3.1 Galicisch Zu den Aufgaben des Servizo de Normalización Lingüística der galicischen Universitäten gehört die terminologische Beratung bei der Vorbereitung von Qualifikationsarbeiten in galicischer Sprache. Auf den Webseiten der Servizos in Santiago de Compostela und A Coruña wurden Listen von terminologischen Wörterbüchern und Glossaren zusammengestellt 51 . Unter den Fächern, die Berücksichtigung gefunden haben, sind Agrarwissenschaft, Anthropologie, Kunstwissenschaft, Biologie, Rechtswissenschaft, Wirtschaftswissenschaft, Informatik, Medienwissenschaft, Medizin, Sportwissenschaft etc. Referiert werden die gedruckten Quellen, die mehrfach in digitalisierter Form im Internet kostenlos zur Verfügung stehen, sowie Internet-Glossare. Einige Beispiele: Galego.org (ed.): Terminoloxía do futbol; Pereira González, F. (1996): Léxico básico de xeografía castelán-galego; Docampo Pereira, M. (2001): Fraseoloxía xurídico-administrativa. Glosario galego-inglés-alemán-castelán; Pérez Vázquez, L./ Precedo Estraviz, P./ Seoane Bouzas, N. (2006): Profesionaliza a túa lingua: matemática; Padín Romero, A. (2006): Glosario da arte contemporánea inglés-galego-español: unha achega baseada en córpora comparables á terminoloxía da arte relacionada coa actividade museística; etc. 51 Universidade de Santiago de Compostela, Servizo de Normalización Lingüística (ed.), Dicionarios, vocabularios e glosarios terminolóxicos galegos/ Universidade da Coruña, Vocabularios terminolóxicos na rede. Lidia Becker 344 3.3.3.2 Friaulisch Auch das Friaulische verfügt nunmehr über eine kostenlose Beratungsstelle zur friaulischen Terminologie. Sie ist auf der Homepage der Provinz Udine unter „Dizionari specialistici“ zu finden 52 . Das Projekt trägt den Titel FriulTerm. Terminologia friulana und berücksichtigt derzeit die folgenden Themenbereiche: Flora und Fauna, Verwaltung und Recht, Informatik und Technologie, Kino, Transport, Bau, Industrie und Handel, sanitäre Anlagen. 3.3.3.3 Korsisch Für das Korsische ist lediglich das bereits erwähnte amateurhafte Wörterbuch der Informatik-Termini zu nennen (cf. 3.2.3, Glussariu Francese- Corsu di u vocabulariu tecnicu). 4. Minderheitensprachen und Populärwissenschaft: der Fall Wikipedia Der Grad der Präsenz der behandelten drei Minderheitensprachen in der Forscherprosa entspricht etwa der jeweiligen Gesetzeslage und Finanzierung. Unterschiedlich ist die Situation im Bereich des „Wissens für alle“, nämlich der allgegenwärtigen Wikipedia, der „freien Enzyklopädie in 250 Sprachen“, cf. Tabelle 6. Idiome Zahl der Artikel in Wikipedia (Stand: November 2008) Dolomitenladinisch kein Eintrag Extremadurisch 383 Moldauisch 401 Emilianisch-romagnolisch 638 Sardisch 888 Judenspanisch 1.903 Frankoprovenzalisch 2.035 Ligurisch 2.509 Friaulisch 2.669 Bündnerromanisch 3.150 Normannisch 3.199 Aromunisch 3.869 52 Provincia di Udine (ed.), Le minoranze linguistiche della provincia di Udine, FriulTerm. Terminologia friulana: Dizionari specialistici. Kleinere romanische Sprachen 345 Lombardisch 4.439 Korsisch 5.398 Venetisch 7.872 Tarantinisch 7.927 Wallonisch 10.764 Aragonesisch 11.348 Asturisch 11.800 Neapolitanisch 12.874 Sizilianisch 13.066 Okzitanisch 15.729 Piemontesisch 18.014 Galicisch 40.519 Rumänisch 118.107 Katalanisch 139.928 Spanisch 41.767 Portugiesisch 440.565 Italienisch 516.566 Französisch 728.212 Tabelle 6: Statistik der Wikipedia-Artikel in romanischen Idiomen Eine Klassifikation der romanischen Sprachen auf der Basis der Wikipedia-Angaben würde offenbar die traditionellen Gliederungen in den Schatten stellen. Eine Auswertung dieser z. T. überraschenden Daten würde den Rahmen des vorliegenden Beitrags sprengen. Es lässt sich nur nebenbei bemerken, dass die höhere Zahl der korsischen Artikel (5.398) im Vergleich zu den friaulischen Texten (2.669) möglicherweise auf den geringeren sprachlichen Abstand zwischen dem Korsischen und Italienischen zurückzuführen ist. Italienische Artikel können nämlich wesentlich schneller ins Korsische als ins Friaulische übertragen werden. Dies muss aber nicht für das Sizilianische oder das Tarantinische gelten. Artikel in kleineren Sprachen sind meistens kurze Zusammenfassungen der Originale in den entsprechenden Dachsprachen 53 . 53 Deutsch belegt übrigens mit 827.000 Artikeln den stolzen zweiten Platz nach Englisch mit 2.626.000 Artikeln: Ein Grund zur Hoffnung, dass das Deutsche als Wissenschaftssprache zumindest in der Wikipedia-Welt seine Positionen noch lange nicht einbüßen wird. Lidia Becker 346 5. Schlussbemerkungen Im vorliegenden Beitrag habe ich versucht zu zeigen, dass die Forscherprosa, insbesondere im Bereich der nicht regionalbezogenen Thematik, ein hervorrragender Indikator des sprachlichen Ausbaus sein kann. Dies gilt auf jeden Fall für das Galicische und Friaulische, weniger ausgebaute Sprachen wie Korsisch kommen bei einer Auswertung des wissenschaftlichen Schrifttums allerdings zu kurz. Die Forscher- und Fachprosa ist das ersehnte Gebiet für kleinere Ausbausprachen. Dies wird am Beispiel der Webseite Lingua Reta. A lingua corsa adatta à e nove tecnulugie deutlich, welche die bei weitem nicht ausgereifte Schriftsprache Korsisch unmittelbar mit den neuen Technologien zu verbinden versucht. Bei der Ausweitung des Sprachgebrauchs kleinerer Sprachen auf die Wissenschaft spielen Gesetze, Institutionen und die finanzielle Unterstützung offenbar eine Schlüsselrolle. Die Verwendung der Minderheitensprachen in bisher ungewohnten Kontexten muss in der modernen Welt zunächst durch Gesetze ermöglicht, durch Werbekampagnen ins Bewusstsein gebracht und durch großzügige Finanzierung attraktiv gemacht werden. Die Übernahme der Druckkosten für eine Dissertation kann vermutlich sogar die Sorge, in einer Regionalsprache wenig wahrgenommen zu werden, in den Schatten stellen. Dies zeigt der Fall Galicien mit Doktorarbeiten in den Fächern Physik, Chemie oder Mathematik. Geringer Abstand zwischen der überdachten Sprache Galicisch und der Dachsprache Spanisch begünstigt wohl zusätzlich die Verschriftlichung der wissenschaftlichen Prosa und die Wahrnehmung des Galicischen als Publikationssprache durch Nicht-Galicier. Friaulisch befindet sich noch in der Phase des moderaten muttersprachlichen Schrifttums. Es gibt allerdings wichtige Anzeichen eines hohen Interesses seitens der Institutionen und der Gesellschaft, Forschung und Technologien für das Friaulische zu erobern. Beispiele dafür sind die Tätigkeiten der Societât Sientifiche e Tecnologjiche Furlane, die Werbekampagne des Centro Interdipartimentale di Ricerca sulla Cultura e la Lingua del Friuli der Universität Udine F=MC2 sowie die Übersetzungen wissenschaftlicher Beiträge ins Friaulische. Im Rahmen dieser Initiativen sind bereits die ersten Veröffentlichungen nicht eigenbezogener wissenschaftlicher Prosa auf Friaulisch entstanden. Im Fall des Korsischen erscheinen die Anforderungen der Korsen an die französische Regierung disproportionell wenig unterstützt durch das Schrifttum in korsischer Sprache. Ein korsischsprachiger Text bleibt Kleinere romanische Sprachen 347 weiterhin eine Seltenheit. Diese Tatsache ist allen romanischen Minderheitensprachen Frankreichs gemeinsam. Zwar besitzen nicht französische Texte keine juristische Kraft, allerdings dürfte die zumindest symbolische Wirkung der Texte in Regionalsprachen im Normalisierungsprozess nicht unterschätzt werden. Zuletzt muss die inzwischen dominante Rolle des Internets für den sprachlichen Ausbau betont werden. Alle Verwaltungsorgane, Institutionen und Unternehmen sind für normale Bürger an erster Stelle durch ihre Internetseiten zugänglich. Große Nachrichtenportale scheinen inzwischen häufiger gelesen zu werden als die gedruckte Presse. Auch gedruckte Zeitschriften verfügen meistens über eine digitale Version oder sie bieten zumindest Inhaltsangaben an. Und die berühmt-berüchtigte Wikipedia erlangt eine unerhörte Dimension, wenn z. B. der Senator McCain beschuldigt wird, in einer seiner Reden Ausschnitte aus der „freien Enzyklopädie“ abgeschrieben zu haben (Habicht, 20.08.2008). Unbestritten bleibt, dass Wikipedia im Fall mehrerer kleinerer romanischer Sprachen die größte Anzahl von Texten liefert. 6. Bibliographie A Mesa pola Normalización Lingüística (ed.), Quen somos, www.amesanl.org/ quensomos.html (31.05.2009). Accademia Corsa (ed.), Conferences et essais, www.accademiacorsa.org/ essai.html (31.05.2009). Accademia Corsa (ed.), Prix de l'accademia corsa, www.accademiacorsa.org/ prix.html (31.05.2009). Anzenbacher, Arno, Einführung in die Philosophie, Freiburg/ Basel/ Wien, Herder, 4 2006. Asociación Galega de Editores (ed.), Editoriais, www.editoresgalegos.org/ gl/ editoriais (31.05.2009). 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Zielsetzung Die historische Tradition der rumänischen Wissenschaftssprache ist - im europäischen Vergleich - jung und durch den Einfluss besonders des Französischen, aber auch des Englischen und des Deutschen gekennzeichnet 1 . Außer diesen historischen Adstraten ist die Phase des Sozialismus als möglicherweise stilprägend zu berücksichtigen 2 . Neben den allgemeinen Rahmenbedingungen der wissenschaftlichen Forschung gehörte auch die Sprachplanung zu den prägenden Faktoren, so die ideologisch aufgeladene Diskussion fachsprachlicher Normierung 3 . Allerdings sind die Konturen eines „osteuropäischen Wissenschaftsstils“ (Breitkopf/ 1 „Der wissenschaftliche Stil der rumänischen Sprache der Gegenwart zeichnet sich besonders durch die absolute Vorherrschaft des internationalen neologischen Fachwortschatzes aus, der nach neueren statistischen Untersuchungen von D. Macrea (1970, 35) mehr als 95% beträgt. Die Elemente lateinisch-romanischer (besonders französischer) Herkunft bewirken dabei eine Annäherung dieser Sprache an die Spezifik der westeuropäischen romanischen Sprachen, die bis zur Identität mit diesen geht“ (Bulg^r 1980, 75). 2 So wird für Rumänien angegeben, dass „Absolventen von vornherein daran gewöhnt werden (oder zumindest wurden), dass sie im pluralis modestiae, dem Bescheidenheitsplural, zu schreiben haben und beim Gebrauch der Wir-Form an die Unterstützung und Absicherung durch den jeweiligen Betreuer ihrer Arbeit denken sollen“ (Graefen/ Thielmann 2007, 94, mit Bezug auf Speran`a St^nescu). 3 „Confuzia domnea atît în determinarea con`inutului no`iunilor respective [...] Situa`ia ar^tat^ oglindea de minune rela`iile de produc`ie ale sistemului capitalist, concuren`a tot mai ascu`it^ care domnea pretutindeni i atitudinea p^turilor conduc^toare din trecut, care c^utau s^ dea un caracter exclusiv agricol economiei noastre na`ionale, industriile Romîniei fiind înfeudate capitalului str^in. Dup^ na`ionalizarea principalelor mijloace de produc`ie i trecerea la economia planificat^ care urma s^ pun^ bazele socialismului în `ara noastr^, situa`ia terminologiei tehnice îngreuna planificarea economiei, stînjenea procesul de produc`ie i împiedica ridicarea de cadre tehnice calificate“ (Maneca 1956, 47). Annette Gerstenberg 354 Vassileva 2007) wenig klar umrissen, und für die Zuordnung von Einzeltexten zu eher westlichen oder eher sozialistischen Mustern fehlen die Kriterien. Die folgende Untersuchung widmet sich den Entwicklungen der rumänischen Wissenschaftssprache, die nach fast 20 Jahren seit der Revolution zu beobachten sind. Zu den wichtigen geänderten Rahmenbedingungen gehört die zunehmende Präsenz des Englischen als dominante Kontaktsprache. Nach einer Einführung zur Rolle der Academia român^ wird gefragt, welche Publikationssprachen im heutigen rumänischen Wissenschaftsbetrieb dominieren. Als repräsentative Auswahl werden hier die Fachzeitschriften, die in der Verantwortung der Academia român^ publiziert werden, ausgewertet. Das Interesse liegt v. a. darin, welches Gewicht das Englische als Publikationssprache hat. Bereits an den Titeln der Zeitschriften wird deutlich, dass es das Französische als Sprache der Internationalisierung weitgehend ablöst. In einem weiteren Schritt wird die Frage, ob das Ende des Sozialismus auch als wissenschaftssprachliche Zäsur zu verstehen ist, am Beispiel der rumänischen Fachzeitschrift für Geophysik diskutiert. Damit wird ein Fachbereich ausgewählt, welcher sich heute durch die parallele Verwendung des Rumänischen und des Englischen auszeichnet. Es wird die Frage gestellt, welche sprachlichen Phänomene geeignet erscheinen, um textsortenspezifische Entwicklungen nachzuzeichnen. Eine kausale Erklärung dieser Phänomene aus dem - in der Zeitschrift dokumentierten - Kontakt mit dem Englischen ist damit nicht intendiert, jedoch scheint die Annahme nicht unwahrscheinlich, dass der Wandel von textsortenspezifischen Merkmalen durch die Rezeption englischer Texte beschleunigt wird. Besondere Berücksichtigung finden textsortenspezifische Entwicklungen im Titel (Länge und Syntax) sowie in den Concluzii, auch im Hinblick auf den Fachwortschatz. Dadurch werden Innovationen der Wissenschaftssprache, aber auch ihre Kontinuität herausgearbeitet. 2. Rumänisch als Wissenschaftssprache und die Academia român Als „kleine Sprache“ wird Rumänisch in seiner internationalen Funktion als Wissenschaftssprache durch die Mitgliedschaft Rumäniens in der Uniunea latin^ (2008) gefördert. Auf nationaler Ebene ist die staatlich finanzierte, organisatorisch jedoch unabhängige Academia român^ (AR) Rumänische Wissenschaftssprachen 355 gemäß ihren Statuten der Pflege und Förderung der rumänischen Sprache verpflichtet. Diese historische Aufgabe der AR (cf. Munteanu/ uteu 2006, 1435) steht bis heute an erster Stelle. Daneben unterstützt die AR die Verbreitung der demokratischen Idee, die Wissenschaftsorganisation und die Förderung der Künste; dazu gehört auch die Betreuung von 80 Zeitschriften, welche der 1948 gegründeten Editura Academiei Române (EAR 2008) obliegt. Damit geht jedoch nicht notwendigerweise die Festlegung auf das Rumänische als Publikationssprache einher. In den Statuten der AR heißt es: Art. 4 Academia Român^ are ca principale obiective: (1) cultivarea i promovarea limbii i literaturii române i a istoriei na`ionale; stabilirea normelor de ortografie obligatorii ale limbii române; (2) promovarea principiilor democratice i etice i sprijinirea liberei circula`ii a ideilor în tiin`ele, artele i literele române ti; (3) organizarea i efectuarea de cercet^ri - fundamentale i avansate - sprijinind informarea i documentarea tiin`ific^ necesare membrilor s^i i unit^`ilor proprii; (4) stimularea i promovarea, în tiin`e, arte i literatur^, a crea`iilor de mare valoare, prin instituirea unor sisteme competitive de finan`are a activit^`ii i prin acordarea de premii; (5) decernarea de diplome pentru realiz^ri deosebite în domeniul tiin`elor, literelor i artelor; (6) editarea de opere originale din domeniul tiin`elor, literelor i artelor, a operelor clasicilor, precum i de publica`ii periodice; Art. 50 (1) În cadrul Academiei func`ioneaz^ Editura Academiei Române, institu`ie cu personalitate juridic^, finan`at^ de la bugetul de stat. Ea poate realiza i dispune de venituri proprii, în condi`iile legii. (2) Editura Academiei Române asigur^ editarea de opere tiin`ifice de înalt nivel, lucr^ri originale, tratate, monografii, publica`ii periodice, precum i publicarea operelor complete ale unor savan`i i eminen`i oameni de cultur^ români. In diesen beiden Obliegenheiten der Förderung der rumänischen Sprache einerseits sowie der wissenschaftlichen Publikationstätigkeit andererseits liegt angesichts der Dominanz des Englischen im internationalen Wissenschaftsbereich ein Gegensatz, welcher jedoch in den Statuten nicht angesprochen wird. Damit wird offenbar die historische Tradition der Sprachwahl und des Nebeneinanders der internationalen Wissenschaftssprachen Annette Gerstenberg 356 fortgesetzt, wobei die Dynamik in der Wahl der Publikationssprachen fachspezifisch ist. 3. Zeitschriften der EAR: Publikationssprachen in den einzelnen Fachgebieten Die Zeitschriften der EAR zeigen bereits in ihren Titeln das Nebeneinander der Publikationssprachen an. Im Sozialismus wurde die rumänische Zeitschriftenlandschaft neu geordnet. Ein zentrales Instrument war die Neugründung von Fachzeitschriften in zwei parallelen Publikationsorganen: dem Fachbereich entsprechend je eine rumänische (Studii i cercet ri de …) und eine französische Zeitschrift (Revue roumaine de …), in welche die für das internationale Publikum aufbereitete Forschung gelangte. Mit wenigen Ausnahmen stehen heute für jede Zeitschrift im Internet Rahmeninformationen zur Erscheinungsweise sowie ein Inhaltsverzeichnis zur Verfügung. Für die Darstellung der als Artikelsprachen verwendeten Sprachen wird im Folgenden auf diese online gestellten Inhaltsverzeichnisse zurückgegriffen. Dadurch wird eine Stichprobe von 72 Zeitschriften greifbar, deren Zusammensetzung in der Verantwortung der EAR liegt. Die Zeitschriftentitel sowie Heftnummer und Publikationsjahr des Beispiels werden tabellarisch erfasst und ausgewertet 4 . 3.1 Sektionen Um die in den unterschiedlichen Fachgebieten verwendeten Sprachen aufzuschlüsseln, wird im Folgenden auf die Systematik der Fächereinteilung, wie sie in den Statuten der AR (2001) verwendet wird, zurückgegriffen 5 . Die wissenschaftstheoretische Schwierigkeit der Klassifizierung zeigt sich in den Zuordnungen einzelner Fachgebiete. So sind die Gesellschaftswissenschaften gemäß den Statuten der AR teils in Sektion A, teils in Sektion D eingeordnet. 4 Die Textverarbeitung erfolgte in TUSTEP, die quantitative Auswertung und graphische Aufbereitung in R (2008). 5 Neben dieser Systematik wird für die Zusammenfassung der Fachgebiete in Sektionen von der EAR eine Dreiteilung vorgenommen, nach welcher die Klassen der Proceedings der AR unterschieden werden (Series A: Mathematics, Physics, Technical Sciences, Information Science; Series B: Chemistry, Life Sciences, Geosciences; Series C: Humanities, Social Sciences). Rumänische Wissenschaftssprachen 357 Sektion Zugehörige Fachbereiche Anzahl Zs. Hefte/ Jahr A: Disciplinele umaniste filologie i literatur^ tiin`e istorice i arheologie filosofie, teologie, psihologie i pedagogie arte, arhitectur^ i audiovizual 35 75 B: tiin`ele vie`ii i ale p^mântului tiin`e biologice tiin`e geonomice tiin`e agricole i silvice tiin`e medicale 17 33 C: tiin`ele exacte tiin`e matematice tiin`e fizice tiin`e chimice 11 54 D: tiin`ele tehnice, economice i informatice tiin`e tehnice tiin`e economice, juridice i sociologie tiin`a i tehnologia informa`iei 9 34 72 196 Tabelle 1: Sektionen, Fächer und jährliche Erscheinungsweise der 72 Zeitschriften (AR 2001; EAR 2008) Die Geisteswissenschaften sind durch zahlreiche Zeitschriften vertreten. Allein 13 gehören in den Bereich der Sprach- und Literaturwissenschaft, darunter eine deutsche und eine ungarische Zeitschrift. Allerdings zeigt sich, dass mit durchschnittlich vier Heften pro Jahrgang die Publikationshäufigkeit in den Sektionen C und D höher liegt als in den Sektionen A und B, wo durchschnittlich zwei Hefte pro Zeitschriftenjahrgang erscheinen (cf. Tabelle 1). Diese Angaben beziehen sich auf die offizielle Publikationsfrist. Dagegen zeigt der Blick in die Inhaltsverzeichnisse, dass de facto die Publikationsrhythmen teilweise langsamer sind oder ins Stocken geraten. 3.2 Titel- und Artikelsprachen Bezüglich der Publikationssprachen zeigt sich auf Basis der Stichprobe ein deutlicher Unterschied zwischen Titel- und Publikationssprachen. In ihrem Verhältnis zeichnet sich die historische Entwicklung zwischen der Zeit der Gründung und dem heutigen Verständnis bei den Publikationssprachen ab. Der Faktor von Titelzu Publikationssprachen ist für das Englische am höchsten (2.5; cf. Tabelle 2). Annette Gerstenberg 358 Sektion A Sektion B Sektion C Sektion D Titel Artikel Titel Artikel Titel Artikel Titel Artikel Titel Artikel Rumänisch 21 26 4 4 0 0 4 4 29 34 Englisch 1 13 7 16 7 11 3 5 18 45 Französisch 6 15 6 3 3 1 2 1 17 20 Italienisch 0 4 0 0 0 0 0 0 0 4 Deutsch 1 10 0 1 0 0 0 0 1 11 Russisch 0 1 0 0 0 0 0 0 0 1 Ungarisch 1 1 0 0 0 0 0 0 1 1 Latein 5 0 0 0 1 0 0 0 6 0 35 70 17 24 11 12 9 10 72 116 Tabelle 2: Sprachen der Zeitschriftentitel und verwendete Sprachen Während sich in den Titelsprachen das Französische deutlich hervorhebt und damit die historische Zugehörigkeit Rumäniens zur Frankophonie dokumentiert 6 , ist es in den Inhaltsverzeichnissen nur in sehr geringem Umfang vertreten, am deutlichsten in Sektion A. Ähnlich unbedeutend ist das Deutsche 7 . Anders verhält es sich mit dem Deutschen als Sprache der historischen Minderheit, welcher wie den Ungarn eine eigene Zeitschrift gewidmet ist (Forschungen zur Volks- und Landeskunde bzw. Nyelv és Irodalomtudományi Közlemények). In Sektion A gibt es Zeitschriften, welche nur in rumänischer Sprache veröffentlicht werden, während keine Zeitschrift ausschließlich englisch 6 Cf. Truchot (2001, 23), welcher Rumänien zusammen mit anderen osteuropäischen Ländern wie Polen und Albanien „à la jonction de l'espace élargi et de l'espace externe“ der Frankophonie situiert. 7 Die Rolle als Verkehrssprache ist bereits 1988/ 89 abnehmend, wie Ammon (2001, 38) feststellt: „Sehr auffällig waren die Unterschiede zwischen den Generationen. Danach erschien Deutsch geradezu als verdrängte und Englisch, teilweise aber auch Russisch, als verdrängende Lingua franca“. Rumänische Wissenschaftssprachen 359 publiziert. Anders verhält sich dies in den übrigen Sektionen, wo Zeitschriften, die nur rumänische Artikel enthalten, die Ausnahme sind. Im Rahmen der verwendeten Klassifikation, d. h. der Unterscheidung von vier Sektionen, zeichnet sich, so zeigt es die Auswertung, eine deutliche Ausdifferenzierung ab. In den Geisteswissenschaften ist das Rumänische die übliche Publikationssprache; in den übrigen drei Sektionen dominiert das Englische, mit einer Zone des Nebeneinanders in Sektion B. Es ist fraglich, ob diese Koexistenz des Rumänischen und des Englischen als „Schwanken“ 8 beschrieben werden sollte oder nicht viel mehr als Zeichen der historisch etablierten Mehrsprachigkeit, die sich aus der Notwendigkeit ergibt, die eigenen Forschungsergebnisse auch dort zugänglich zu machen, wo das bereits in Europa wenig verbreitete Rumänische nicht vorausgesetzt werden kann. Die heutige englische Benennung der Proceedings in den drei Serien zeigt eine entschiedene Orientierung auf den anglophonen Sprachraum. 4. Textsortenspezifische Entwicklungen: die concluzii der Studii i cercet ri de geofizic 1964-1966 (SCG1) sowie 1996-2006 (SCG2) 4.1 Die Zeitschrift Die Vorgeschichte der Geophysik in Rumänien reicht bis ins 18. Jh. zurück (Constantinescu 2004); wie in anderen rumänischen Wissenschaftsbereichen auch (Gossen 1970, 21) ist das Französische eine wichtige Gebersprache wissenschaftlicher Entlehnungen. Die Etablierung der geophysischen Wissenschaft in der Nachkriegszeit wurde durch die wachsende Bedeutung der Förderung fossiler Brennstoffe nach 1948 befördert (1949 Gründung des Oficiului Geofizic în cadrul Trustului de Explor ri Geologice, cf. Varodin 1995). 8 Weinrich (1995, 10) ermittelt für das Deutsche und Englische als Wissenschaftssprache drei nach Fächern unterschiedene Gruppen, je nachdem, ob (1) die Entscheidung für das Englische längst gefallen ist, Beispiel: Enzymforschung und Gen-Technologie, (2) ein „Schwanken zwischen dem Deutschen und dem Englischen“, Beispiel: Psychologie und Linguistik bzw. (3) „keine nennenswerte Neigung [...] Deutsch gegen Englisch als Wissenschaftssprache einzutauschen“, Beispiel: Geschichte und Philosophie, zu erkennen ist. Annette Gerstenberg 360 In der sozialistischen VR Rumänien gewann die Disziplin der Geophysik an Bedeutung für die Wirtschaft (Bodenschätze, Rohstoffe) und wegen der Beobachtung seismischer Aktivitäten. Im Jahr 1957 wurde die Revue roumaine de géologie, géophysique et géographie, serie de géophysique, heute Revue roumaine de géophysique gegründet, welche durch die Wahl des Französischen als Publikationssprache zur Internationalisierung der Forschungsergebnisse beitragen sollte. In der Gründung des rumänischen Publikationsorgans drückt sich eine qualitative Hierarchisierung von Veröffentlichungen auf nationaler bzw. internationaler Ebene aus. Das rumänische Parallelorgan wurde 1963 als Studii i cercet ri de Geologie, Geofizic , Geografie. Seria Geofizic . Editura Academiei Republicii Populare Romîne gegründet. Wenig später firmiert der Herausgeber als Editura Academiei Republicii Socialiste România (1966) und nach Ende der sozialistischen Republik als Editura Academiei Român (1990). Die politische Zäsur wird in der Zeitschrift deutlich markiert. In der Einführung in das erste postrevolutionäre Faszikel 1990 würdigt Marius Visarion den Geophysiker Radu Botezatu und nimmt dies zum Anlass, für die Geophysik das Ende der „iner`ie intelectual^“ zu verkünden sowie durch die Würdigung eines Forschers, „care in activitatea sa asidu^ de peste 50 de ani a creat o valoroas^ oper^ tiin`ific^“ zu betonen, dass die Geophysik auch in der Zeit des Sozialismus bleibende wissenschaftliche Verdienste erwarb. Auch vor 1989 finden sich indirekt zahlreiche Hinweise auf die schwierigen politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen, wenn in den abschließenden Desiderata die technisch bedingten Grenzen der erreichten Ergebnisse aufgezeigt werden und zugleich benannt wird, welche Ausstattung für die erfolgreiche Fortsetzung des vorgestellten Ansatzes nötig wäre. Der Stellenwert der technischen Ausstattung zeigt sich in der Skizzierung des Arbeitsgebiets der Geophysik (SCG 39, 2001, 117; redaktionelle Not c tre autori): Revista ‚Studii i cercet^ri de geofizic^‘ public^ studii i cercet^ri originale, comunic^ri i note în domeniile: geodezie i gravimetrie, seismologie i fizica interiorului globului, geomagnetism i aeronomie, meteorologie, fizica atmosferei i hidrologie tiin`ific^, teledetec`ia ca instrument de cercetare, prospec`iuni geofizice (seismic^, gravimetrie, magnetometrie, electrometrie, radiometrie, carotaj, teledetec`ia ca instrument de prospec`iune), aparatur^, metodici de stocare i/ sau prelucrare a datelor, istorie, recenzii, via`a tiin`ific^, evoc^ri. Rumänische Wissenschaftssprachen 361 Die Bedeutung der Anwendung aktueller Mess- und Rechenverfahren auch zur graphischen Modellierung ist mit einer engen Orientierung an der internationalen Forschung und dem dort praktizierten technischen Fortschritt verbunden, welcher im postrevolutionären Zeitraum intensiviert werden kann. Kontinuität zwischen der prä- und der postrevolutionären Zeit lässt sich an einigen Persönlichkeiten festmachen: Einige der Autoren zeichnen für eine große Anzahl von Artikeln verantwortlich. Eine maßgebliche Rolle spielte und spielt Dorel Zugr^vescu (*1930), welcher 1970 als secretar tiin ific de redac ie der SCG geführt wird und heute Akademiemitglied und Herausgeber der Zeitschrift ist. 4.2 Publikationssprachen der Aufsätze Die SCG ist Teil der Sektion B, der Lebens- und Geowissenschaften; sie gehört zu den Zeitschriften, deren Publikationssprachen Englisch und Rumänisch sind. Seit dem ersten Band erscheinen die Aufsätze ausschließlich in rumänischer Sprache. Seit 1984 werden Aufsätze durch einen englischen oder französischen bzw. (später) durch einen rumänischen Abstract (rezumat) ergänzt, englische Übersetzungen der Titel werden ins Inhaltsverzeichnis aufgenommen. 1988 erscheint zum ersten Mal ein englischsprachiger Artikel (Figur 1); seitdem wird in den SCG regelmäßig in englischer Sprache publiziert. Gelegentlich erscheinen auch Aufsätze in deutscher, französischer oder italienischer Sprache. Annette Gerstenberg 362 Figur 1: Publikationssprachen in SCG seit 1988 4.3 Erstellung von zwei Arbeitskorpora Der konservative Charakter der Wissenschaftssprache ist bekannt 9 und lässt sich auch an dem hier vorgestellten Beispiel dokumentieren. Dennoch ist es auch vor diesem Hintergrund möglich, textsortenspezifische Entwicklungen der Wissenschaftssprache nachzuzeichnen. Dies geschieht im Folgenden auf Basis zweier Teilkorpora, zwischen denen 30 Jahre Abstand liegen, eines setzt unmittelbar nach der Gründung der Zeitschrift ein, eines reicht bis zu den jüngsten verfügbaren Jahrgängen. Die Artikel in SCG widmen sich großenteils der Vorstellung eigener Messergebnisse oder Erhebungen. Beginnend mit der Introducere folgen die Darstellung zum Forschungsstand, zu den Methoden (der Messung bzw. Erhebung) sowie die Dokumentation der Ergebnisse und ihre Diskussion. Viele Forschungsaufsätze schließen mit einem kurzen Abschnitt, der mit Concluzii überschrieben ist, es folgt die Bibliographie. Dieser 9 Cf. z. B. Gotti (1991, 26) zum Stichwort tradizionalismo. Rumänische Wissenschaftssprachen 363 Aufbau entspricht einem der etablierten Strukturschemata 10 besonders naturwissenschaftlicher Aufsätze 11 . Bei der Zusammenstellung des Arbeitskorpus werden Artikel berücksichtigt, die diesem Schema offenbar entsprechen, wofür die Abschnittsüberschrift Concluzii als sprecherseitiges (bzw. schreiberseitiges) Textsortensignal bewertet wird 12 : Artikel, deren letzter Abschnitt mit Concluzii überschrieben ist, werden in das Arbeitskorpus aufgenommen. Dieses Auswahlkriterium wird dabei als Voraussetzung, nicht als Ergebnis textsortenlinguistischer Klassifikation betrachtet. Mit Bezug auf alltagssprachliche Textklassifikationen und damit einhergehende Bezeichnungen argumentiert Dimter (1981, 28s.), sie seien differenziert, historisch-gesellschaftlich gewachsen, weiter verfeinert, ständig verwendet und daher funktionsfähig - und geeignet, um auf dieser Basis zur Eruierung der zu Grunde liegenden Kriterien im Sinne einer tragfähigen wissenschaftlichen Textklassifikation zu gelangen 13 . Ähnlich kann dem Vorhandensein eines mit Concluzii überschriebenen Absatzes ein empirischer Wert zugemessen werden: Wenn ein Autor den letzten Abschnitt mit Concluzii überschreibt, spricht dies für das Vorhandensein eines Textmusters, mit dem der von ihm verfasste Abschnitt in Übereinstimmung zu bringen ist; ob dieses Textmuster trennscharf von konkurrierenden Textmustern, die z. B. mit Considera ii finale bzw. Observa ii finale überschrieben sind, zu unterscheiden ist, kann daraus nicht geschlossen werden. 10 Cf. Gläser (1998, 483s.) mit zwei Beispielen einer „Makrostruktur, die als prototypisch gelten kann“. 11 SGC 412: Concluzii i specula ii, SGC 361: Concluzii: Structurarea prin fragmentare i dinamica alunec rii critice pe falie. 12 Der wissenschaftliche Forschungsartikel wird im Folgenden als Textsorte angesprochen. Für Titel und Concluzii werden ebenfalls Textsortenmuster betrachtet; um ihren Status als untergeordnete Einheit anzuzeigen, werden sie als Teiltexte bezeichnet (cf. Oldenburg 1992; Gläser 1998, 484). 13 Cf. hierzu: „Wer - mehr oder weniger bewußt - an alltagssprachlichen Kategorien ansetzt, um zu einer Texttypologie zu gelangen, benutzt in aller Regel die normalsprachlichen Lexeme lediglich als Anhaltspukt für die Auffindung von Differenzierungskriterien, und zwar in der (wahrscheinlich nicht irrigen) Annahme, daß in einer prätheoretischen Klassifikation Differenzierungen mit Lexemen belegt werden, die für die Kommunikationspraxis relevant sind und daher auch für eine Texttheorie und einen Typologieansatz wichtig sind, die den Bezug auf die Kommunikationspraxis nicht vernachlässigen wollen“ (Adamzik 1995, 24). Annette Gerstenberg 364 Artikel, die dem genannten Kriterium entsprechen, finden sich in SCG in großer Zahl. Um frühere Jahrgänge mit jüngeren zu vergleichen, werden 30 Artikel aus den Jahren 1964-1967 (SCG1) sowie 30 Artikel aus den Jahren 1996-2006 (SCG2) aufgenommen 14 . Diese Zusammenstellung soll es ermöglichen, über Einzelbeobachtungen hinausgehende Tendenzen im Sinne weiterführender Hypothesenbildung herauszuarbeiten: Im Zentrum der Frage steht die Ermittlung von Phänomenen, deren Häufigkeit sich zwischen den Teilkorpora unterscheidet. 5. Sprachliche Merkmale 5.1 Titel 5.1.1 Länge Die Titellänge ist ein bevorzugter Gegenstand der Fachtitelforschung; dabei werden sowohl graphische Wörter als auch „bedeutungshaltige Wörter“ untersucht (Diez 1998, 620). In Längsschnittuntersuchungen zeigt sich, dass die Länge von natur- und sozialwissenschaftlichen Aufsatztiteln seit den 1950er Jahren signifikant gestiegen ist [...] Zur Erklärung der Befunde werden als weitere Faktoren der zunehmende Spezialisierungsgrad eines Faches sowie die Zunahme an relevanten Fachveröffentlichungen herangezogen (ib.). Die Darstellung der Titellänge im Vergleich von SCG1 und SCG2 zeigt identische Mittelwerte von 12 Wörtern pro Titel (Figur 2). Eine Zunahme oder Abnahme der Titellänge hat sich also nicht ausgeprägt, hingegen zeigt sich sehr deutlich, dass im jüngeren Teilkorpus eine größere Zahl von Titeln die mittlere Titellänge aufweist (sd=3,0), während im älteren Teilkorpus die Streuung wesentlich größer ist (sd=4,8). 14 Diese Zusammenstellung umfasst mit wenigen Ausnahmen alle Artikel aus dem genannten Zeitraum, die den genannten Kriterien entsprechen. Ausgeschlossen wurden wenige Artikel, die z. B. auf Grund ihrer Kürze nicht geeignet erschienen. Rumänische Wissenschaftssprachen 365 Figur 2: Titellänge in graphischen Wörtern im Vergleich Im Vergleich der Teilkorpora bildet sich also die Tendenz der Vereinheitlichung der Titellänge ab, eine deutliche Zunahme ihrer Länge ist nicht festzustellen. 5.1.2 Referenz im Titelanfang Der Untersuchungsgegenstand ist die „zweifellos wichtigste und einzige obligatorische Referenz von Fachtiteln“ (Diez 1998, 618); daneben gibt es Referenzen auf Textsortenangaben, die Verwendung einer Methodik oder die Nennung des Forschungsfeldes (ib.). Diese Referenztypen finden sich meist gleichzeitig. Um einen Unterschied zwischen SCG1 und SCG2 herauszuarbeiten, werden nur Titelanfänge betrachtet, welche eine der genannten Referenzen aufweisen (Tabelle 3). Titelanfang SCG1 SCG2 Contribu ii […] la 7 - Considera ii […] 2 2 Asupra […] 4 1 Subst. Inf. 4 Prospectarea, Caracterizarea, Transformarea, Determinarea 3 Deplasarea, Interpretarea, Migrarea Annette Gerstenberg 366 Unele aspecte/ Aspecte 1 5 Fenomene, Particularit i - 2 Dinamica, Evolu ia - 3 Tabelle 3: Häufige Titelanfänge im Vergleich von SCG1 und SCG2 Der Vergleich zeigt leichte Verschiebungen an; ein ehemals etablierter Titel wie Contribu ii ist im neueren Korpus nicht mehr vertreten, während neuerdings mit Dinamica, Evolu ia und Fenomene Substantive Verwendung finden, die in sprachhistorischer Hinsicht keine Neologismen sind, aber eine neue textsortenspezifische Funktion übernehmen und damit den internationalen englischen, aber auch französischen Gebrauch reflektieren. Unter Berücksichtigung der vorhandenen Referenzen werden weitergehend drei Typen unterschieden: (1) Textsortenbenennungen (Considera ii, Studiul), aber auch „verblasste Textsortenangaben“ (Diez 1998, 619), welche den Textsortennamen weglassen und mit einer Präposition einsetzen (Asupra); (2) Benennung einer Methode (Prospectarea magnetometric ); (3) Benennung des Phänomens (Structura fundamentului Moezic). Der Vergleich der beiden Teilkorpora (Figur 3) zeigt eine deutliche Verschiebung vom ersten zum dritten Referenztyp: Figur 3: Referenz im Titel im Vergleich von SCG1 und SCG2 Rumänische Wissenschaftssprachen 367 Der Titel beginnt in deutlich weniger Fällen mit dem Textsortennamen, hingegen finden sich zahlreiche Beispiele für die Benennung von Phänomenen. 5.1.3 Satzbau In SCG1 sind alle Titel Nominalphrasen, erweitert durch Präpositionalphrasen, welche den Bezugsbereich, die Mittel und/ oder den Ort angeben. In SCG2 wird dieses Schema fortgesetzt, allerdings finden sich auch drei Fälle von Prädikation, wobei das Kopulaverb durch ein Satzzeichen ersetzt wird: ein Fragesatz („Migrarea seismicit^`ii subcrustale din zona Vrancea: realitate sau fic`iune matematic^? “, SCG 40, 2002) ebenso wie die Formen Subjekt - Prädikatsnomen („Extensia - un proces dinamic important în formarea depresiunii Transilvanii“, SCG 34, 1996; „Geodinamica - un concept în evolu`ie“, SCG 35, 1997). Diese offenbar neuen Ausdrucksformen können als werbende „rhetorische Verfahren“ (cf. Diez 1998, 621) angesehen werden und zeigen eine quantitativ zurückhaltende Öffnung des Verständnisses von Wissenschaftlichkeit in Richtung auf griffige Titelformulierungen. 5.2 Concluzii Im Teiltext der Concluzii weist das Textsortenmuster innerhalb eines eindeutig definierten Rahmens eine begrenzte Variation auf. Nach einer Zusammenfassung des Gesagten folgt die Aufzählung der Ergebnisse, ggf. ergänzt durch Dank (am Ende der Concluzii: „Mul umiri. Adres^m mul`umiri deosibite...“), Desiderata oder den Hinweis auf nötige Verbesserungen der Wissenschaftslandschaft: „Desigur dotarea metodei cu aparatur^ modern^, cu o gam^ dinamic^ mare, ar duce atît la o îmbun^t^`ire a calit^`ii înregistr^rilor cît i la cre terea preciziei de prelucrare“ (SCG 4, 1966, 387). Personaldeixis findet sich in gelegentlichen formelhaften Verwendungen der ersten Person Plural, im Possessivum ara noastr sowie mit Referenz auf den Autor (lucrarea noastr , activitatea noastr ). Auf die Autorenarbeit verweisen Vergangenheitsformen - für die Ermittlung der Ergebnisse oder den Prozess der Ergebnisfindung - in Formulierungen wie „Investiga`ia a pus în eviden`^“, „Scopul principal a fost“, „sa stabilit faptul c^“, „au fost efectuate trei tipuri de lucr^ri gravimetrice“. In diesen Bereichen lassen sich keine deutlichen Unterschiede zwischen SCG1 und SCG2 herausarbeiten. Annette Gerstenberg 368 Der Beginn der Teiltexte weist einige Variationen auf, mehrfach finden sich Wendungen wie „In urma rezultatelor ob`inute pân^ acum se pot trage câteva concluzii“. Diese traditionelle Formulierung wird auch in SCG2 verwendet. Ein Unterschied zeichnet sich in den Anfangswörtern der Concluzii ab (Tabelle 4). Beginn SCG1 SCG2 Subst. Inf. 4 Corelarea, Lucrarea, Aplicarea, Programarea 7 Interpretarea (3), Prelucrarea, Cercetarea, Lucrarea (2) Datele am Satzanfang 1 10 Analiza - 3 Verwendung der 1. Pl. am (2), noastr noastr (2) Tabelle 4: Textbeginn im Vergleich In SCG2 ist eine Bevorzugung von dat festzustellen. Dabei handelt es sich (im Rumänischen) um eine Entlehnung aus dem Französischen: „ru. dat ‚fiecare dintre numerele, m^rimile, rela`iile etc. care servesc pentru rezolvarea unei probleme sau care sunt ob`inute în urma unei cercet^ri i urmeaz^ s^ fie supuse unei prelucr^ri‘ < fr. date“ (DEX s. v.); „aspect ‚fel de a se prezenta al unei fiin`e sau al unui lucru‘ < fr. aspect“ (DEX s. v.). Die textsortenspezifische Verwendung lässt aber die Vermutung zu, dass es sich um eine Rezeption der englischen Verwendung von data handelt. 5.3 Lexik Die fachsprachliche Terminologie ist bis heute deutlich vom Französischen geprägt und weist die Charakteristika der „beinahe hemmungslosen Adaptation“ (Gossen 1970, 35) auf. Während bei einigen Entlehnungen Graphie und Phonie eindeutig auf das Französische als Gebersprache verweisen, ist bei anderen - in der Tradition der rumänischen Neologismenwörterbücher 15 - offen, ob es sich um eine Übernahme aus dem Englischen oder aus dem Französischen handelt. Insgesamt ist der fachsprachliche Wortschatz im Vergleich von SCG1 und SCG2 durch große Kontinuität gekennzeichnet. In den Concluzii 15 Cf. Winkelmann (1989, 496) zur Behandlung der etimologie multipl im Neologismenwörterbuch von Marcu/ Maneca (1961). Rumänische Wissenschaftssprachen 369 zeigt sich deutlich, dass der Großteil der Fachtermini aus dem Französischen entlehnt ist. baraj ‚construc`ie care opre te cursul unui râu spre a ridica nivelul apei în amonte‘ < fr. barrage (DEX s. v., MDN s. v.). carotaj ‚determinare prin foraj a structurii i compozi`iei straturilor scoar`ei terestre, bazat^ pe analiza probelor carotelor (2) sau pe m^surarea m^rimilor fizice caracteristice ale rocii str^b^tute‘ < fr. carottage (DEX s. v., MDN s. v.). fli ‚ansamblu de terenuri constituite din conglomerate, gresii, argil^ i marn^, sedimentate într-o mare în timpul când fundul acesteia se g^sea într-o continu^ ridicare spre a deveni un lan` muntos‘ < fr. flysch (DEX s. v., MDN s. v.), „mot suisse alémannique“ (PRob). foraj ‚ansamblul opera`iilor de f^râmare sau de a chiere a rocilor din pragul g^urii de sond^, care se execut^ în vederea adâncirii acesteia‘ < fr. forage (DEX s. v., MDN s. v.) platformic < platform ‚teren, de cele mai multe ori plan, situat la diferite înal`imi‘ < fr. plate-forme (DEX s. v., MDN s. v.). prospec iune ‚ansambul cercet^rilor efectuate (pe teren i în laborator) pentru a descoperi i a localiza z^c^mintele de minerale utile dintr-o regiune‘ < fr. prospection (DEX s. v., MDN s. v.). sondaj ‚cercetare a solului sau a subsolului pentru determinarea propriet^`ii rocilor‘ < fr. sondage (DEX s. v., MDN s. v.). subasment ‚soclu‘ (SCG 43, 2005, 37) < fr. soubassement (DEX s. v., MDN s. v.). ariaj ‚transportare la mari distan`e a pietri ului [...] ca urmare a mi c^rilor tectonice‘ < fr. charriage (DEX s. v. , MDN s. v.) arje < fr. charge ‚matériaux en dissolution ou en suspension dans un cours d'eau‘ (PRob, Textbedeutung nicht in DEX, nicht in MDN). Auch aus dem Deutschen stammen einige Fachbegriffe: graben ‚por`iune scufundat^ a scoar`ei terestre, de form^ alungit^ i m^rginit^ de falii paralele‘ < dt. Graben, fr. graben (DEX s. v. , MDN s. v.), ‚géol. bloc effondré entre deux compartiments soulevés (opposé à horst)‘ (PRob s. v.). horst ‚regiune a scoar`ei terestre m^rginit^ de falii, care a r^mas ridicat^ dup^ scufundarea regiunilor vecine‘ < dt. Horst (DEX s. v., MDN s. v.). elf ‚regiune a fundului bazinelor oceanice, cuprins^ între linia de `^rm i povârni ul continental, reprezentând zona marginal^ submers^ a continentelor‘ < dt. Schelf (DEX s. v., MDN s. v.; cf. EWD < ne. shelf). Annette Gerstenberg 370 vorland ‚platform^ în fa`a unui masiv muntos pe care îl înconjur^‘ < dt. Vorland (MDN s. v., ohne Eintrag im DEX). Am Beispiel der Dublette vorland (SCG 27, 1999), ohne Eintrag im DEX, vs. foreland (SCG 44, 2006) ist eine Konkurrenz zwischen deutschen und englischen Einflüssen zu erkennen. Ein Überwiegen von Anglizismen in SCG2 ist nicht festzustellen. Neuere fachsprachliche Verwendungen lassen sich nicht immer so eindeutig wie im Fall von hardware auf das Englische zurückführen; im DEX wird hardware ebenso wie software als nicht-integrierte Entlehnung als cuv(ânt) engl(ez) bezeichnet. Bemerkenswert ist die unterschiedliche Markierung der Verwendungsbereiche als cib(ernetic ) bzw. inform(atic ). hardware ‚(cib.) structur^ fizic^ a unui sistem de calcul i diverse periferice‘ < en. hardware (DEX s. v.: „cuv. engl.“). monitorizare < monitoriza ‚a supraveghea prin intermediul monitorului sau al altui aparat specializat‘ < en. monitor (DEX s. v., MDN s. v.). senzor ‚dispozitiv (ultrasensibil) care sesizeaz^ un anumit fenomen‘ < en. sensor, fr. senseur (DEX s. v., MDN s. v.). set de date; set ‚serie de obiecte sau de instrumente tehnice care se vând împreun^‘ < en., fr. set (DEX s. v., MDN s. v.). software ‚(inform.) sistem de programe pentru computere i procedurile de aplicare a lor furnizate o dat^ cu computerul sau alc^tuite de utilizator‘ < en. software (DEX s. v. „cuv. eng.“, MDN s. v.). stres ‚(geol.) presiune lateral^ tangen`ial^ care se produce în sinclinale i determin^ formarea cutelor muntoase‘ < en., fr. stress (DEX s. v., MDN s. v.) SCG 37 (1999), aber stress (Doppelkonsonant) in SCG 35 (1997) und stressului in SCG 34 (1996). Die konkurrierenden Graphien von stres vs. stress könnten auch auf eine Neuentlehnung hindeuten. Selten sind die Fälle, in denen ein englischer Fachterminus durch Kursivierung hervorgehoben wird: Un mare num^r de cercet^tori consider^ c^ Marea neagr^ s-a format ca bazin de back-arc al Neotethysului (SCG 40, 2002, 23, nicht in DEX, nicht in MDN). unei fracturi func`ionând în regim de ‚falie-valv^‘, care [...] în urma deform^rilor crustale asociate evenimentelor seismice se ‚decolmateaz^‘ (SCG 44, 2006, 60) < en. fault-valve (‚Fault-Valve‘ Modell zur Fluid-Hydraulik in aktiven Scherzonen und Störungen); falie ‚ruptur^ ap^rut^ in scoar`a p^mântului‘ < fr. faille (DEX s. v.); valv ‚fiecare dintre cele dou^ p^r`i (simetrice) ale cochiliei unei scoici‘ < fr. valve (DEX s. v., Kompositum nicht erfasst). Rumänische Wissenschaftssprachen 371 Diese Beispiele zeigen offenbar an, dass es sich um einen jüngst eingeführten Terminus handelt, der typographisch als Anglizismus hervorgehoben wird und im Fall von falie-valv auch definitorisch erläutert wird. Semantische Entwicklungen der fachsprachlichen Terminologie sind Gegenstand eigener Beiträge, welche das von Ehlich angesprochene Potential eines „wissenschaftshistorisch fundierten Plurilingualismus“ illustrieren 16 . So reflektiert Zugr^vescu (1997, 3) über die Bedeutungsentwicklung von ru. geodinamic unter Hinzuziehung französischer, deutscher und englischer Wörterbücher sowie des Lexiconul Tehnic Român (1961). Ne g^sim ast^zi în situa`ia de a fi martorii privilegia`i ai na terii unui mod nou de abordare a cercet^rii tiin`ifice. Saltul în cunoa tere aduce cu sine o perspectiv^ din care se disting altfel vechile corela`ii i din care se întrev^d altele noi, nea teptate. Viteza de transformare a concep`iilor pe care le cristaliz^m, a metodologiei pe care o utilz^m, a însu i mediului spiritual în care activ^m, impune cu necesitate un proces de reflec`ie, care s^ ne situeze demersul în fluxul istoric pe care îl parcurgem i s^ stabileasc^ repere privind sensul acestuia i paradigma care îi st^ la baz^. În acest scop, vom efectua o scurt^ trecere în revist^ a semnifica`iei unor etape importante în evolu`ia tiin`ei cunoscut^ sub denumirea de geodinamic^. Vom analiza modul în care a fost definit^ de-a lungul timpului i vom încerca s^ vedem împreun^ care ar fi defini`ia care r^spunde cel mai bine abord^rilor actuale si concep`iile care la-au f^cut posibile (Zugr^vescu/ Munteanu/ u`eanu 1997, 3). Insgesamt zeigt sich der fachsprachliche Wortschatz als weitgehend stabil, auch in der auf das Französische verweisenden Graphie der Lehnwörter (z. B. auf -aj). 16 „Mir scheinen die Vorzüge eines wissenschaftshistorisch fundierten Plurilingualismus in der Praxis der Wissenschaft von erheblicher Bedeutung - auch und gerade um der Sache der Wissenschaft willen und gerade in den konstitutiven Bereichen, die mit der Reflexion des Wissenschaftsprozesses selbst, mit der Abwägung seiner Entwicklungsmöglichkeiten, mit der Verständigung über den Sinn des wissenschaftlichen Tuns befaßt sind. Monokulturen haben nicht nur im alltäglichen Leben ihre erheblichen Gefahren. Wissenschaftskulturelle Vielfalt ist - bei allen Kosten und faux frais, die sie mit sich bringt - der Sache der Wissenschaft und dem Geist der Kritik förderlich“ (Ehlich 1995, 326s.). Annette Gerstenberg 372 6. Zusammenfassung und Ausblick Die rumänische Wissenschaftslandschaft ist konstitutiv mehrsprachig. Dies zeigt die Verteilung der Publikationssprachen innerhalb der Fächer, innerhalb einzelner Zeitschriften und an zahlreichen Lehnwörtern in den rumänischen Fachsprachen. Eine Persistenz des Rumänischen dokumentiert sich besonders in den geisteswissenschaftlichen Fächern. Die Tradition wissenschaftlicher Mehrsprachigkeit wird unter neuen Vorzeichen fortgesetzt. Die sozialistischen Zeitungsneugründungen sahen im Hinblick auf die Adressaten differenzierte parallele französische Publikationsorgane vor; in postrevolutionärer Zeit wuchs der Einfluss des Englischen. Die Frage, wie sich innerhalb eines einzelnen Fachgebietes daraus entstehende Entwicklungen der Textsorte des wissenschaftlichen Artikels nachzeichnen ließen, führte am Beispiel der Studii i cercet ri de geofizic im Vergleich zweier Arbeitskorpora aus prä- und postrevolutionärer Zeit zu dem Ergebnis, dass sich die Textsorte makrostrukturell stabil darstellt; die Grundform des naturwissenschaftlichen Forschungsartikels ist bereits bei der Gründung der SCG in ausgereifter Form vertreten. In den Teiltexten der Titel und der Concluzii ließen sich Verschiebungen nachzeichnen, wie die Vereinheitlichung der Titellänge, Varianten im Satzbau und Änderungen in der Wortwahl. Darin prägen sich neben der Rezeption der internationalen, besonders englischen, Fachsprache wohl auch Einflüsse aus anderen Kommunikationsbereichen aus, z. B. aus der Pressesprache und dem Bereich der Werbung. Die eingeführte fachsprachliche Terminologie setzt sich aus deutschen, englischen und französischen Lehnwörtern zusammen, deren Verwendung in jüngerer Zeit eine neue Dynamik erfährt, wie die Bevorzugung von dat im jüngeren Arbeitskorpus zeigt. Neuere Anglizismen sind aber nicht dominant. Es bleibt abzuwarten, ob sich dieser Prozess der allmählichen Weiterentwicklung der rumänischen Fachsprache auch im naturwissenschaftlichen Bereich fortsetzt und ob, wenn sich der postsozialistische Generationswechsel vollständig vollzogen hat, sich diese Dynamik beschleunigt, oder ob sich die Publikationstätigkeit weiter ins Englische verlagert. Rumänische Wissenschaftssprachen 373 Bibliographie Adamzik, Kirsten, Textsorten - Texttypologie. Eine kommentierte Bibliographie, Münster, Nodus, 1995. Albu, Rodica/ Spinaru, Simona/ Albu, Lucia-Cristina, Limba român , limba englez i integrarea european . Perspectiva terminologic , in: Ofelia Ichim (ed.), Identitatea limbii i literaturii române în perspectiva globaliz rii, Ia i, Trinitas, 2002, 69- 80. Ammon, Ulrich, Deutsch als Lingua franca in Europa, in: Ulrich Ammon (ed.), Verkehrssprachen in Europa - außer Englisch, Tübingen, Niemeyer, 2001, 32-41. 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Unsere Frage lautet: Welches sind die relevanten Sprachen beim heutigen wissenschaftlichen Schreiben über Themen des karibischen Raums? Dies werden in erster Linie die in der Region meistgesprochenen und -geschriebenen Sprachen europäischer Herkunft sein, also Spanisch, Englisch, Französisch; auf Kreolsprachen als (mögliche) Sprachen wissenschaftlicher Kommunikation gehen wir hier nicht ein. Da das Kolloquium in deutschsprachigem Ambiente stattfindet und auch die Rolle dieser Sprache als Wissenschaftssprache nicht nur in der Romanistik diskutiert wird, mag eine Gegenüberstellung Romanische Sprachen - Deutsch und, als Sprache potentieller ‚Bedrohung‘, Englisch nicht ganz fehl am Platz sein. Der Begriff Karibikstudien selbst ist im Deutschen weniger gebräuchlich oder bekannt als etwa engl. Caribbean Studies, fr. Etudes caribéennes oder sp. Estudios caribeños (cf. aber Binder 1985, Vorwort). Dazu trägt bei, dass das Fach als solches institutionell kaum verankert ist, sondern Forschungen zum karibischen Raum in Einzelfächern stattfinden: So werden sich Hispanisten mit kubanischen Schriftstellern, Linguisten mit englisch-basierten Kreolsprachen oder Historiker mit den Geschehnissen in Haiti nach 1789 beschäftigen, jeder jedoch im Rahmen seines Faches. Karibikstudien wären also Regionalstudien in einem umfassenderen Sinn und eben dieser Aspekt interessiert uns: Es werden also vor allem Veröffentlichungen in den Blick genommen, die sich nicht nur mit einem Thema, nicht nur einer Insel, nicht nur einer Sprache beschäftigen, sondern diejenigen die mehrere behandeln und zueinander in Bezug setzen. Eine Tendenz, die ‚nur‘ regionale Perspektive auf den karibischen Raum Jan Reinhardt 376 durch eine überregionale zu ersetzen, macht sich nicht nur in der Wissenschaft, mit den „transregionalen Studien“ von Ottmar Ette (Ette 2005; Ette 2008), sondern auch in der Literatur der Karibik selbst bemerkbar, etwa bei Maryse Condé (cf. Ludwig 2008, 143s.). 2. Das Vorgehen, das Korpus Um zu ersten, aber dennoch fundierten Aussagen zur Sprachenrelevanz zu gelangen, wurde eine Statistik erstellt. Diese betrifft nicht die Sprachen, in denen geschrieben wird (redigierte Sprachen), sondern diejenigen, aus denen Texte berücksichtigt werden (rezipierte Sprachen). Praktisch sieht das so aus, dass aus einem Korpus von 24 Titeln - davon 6 deutsche, ebenso viele englische, französische und spanische - ausgezählt wurde, wie viele deutsche, englische, französische oder spanische Texte in den Literaturangaben oder Noten Berücksichtigung fanden 1 . Dieses Korpus mag klein erscheinen; in den 24 Titeln sind aber immerhin insgesamt 8.073 Titel zitiert worden, was eine ausreichende Zahl für erste Schlussfolgerungen darstellen sollte. Das Korpus umfasst folgende Titel: dt. Bernecker, Walther L., Kleine Geschichte Haitis, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1996. Binder, Wolfgang (ed.), Entwicklungen im karibischen Raum: 1960-1985, Erlangen, Universitätsverbund Erlangen-Nürnberg, 1985. Ette, Ottmar, Von Inseln, Grenzen und Vektoren: Versuch über die fraktale Inselwelt der Karibik, in: Marianne Braig et al. (edd.), Grenzen der Macht - Macht der Grenzen: Lateinamerika im globalen Kontext, Frankfurt am Main, Vervuert, 2005, 135-180. Ette, Ottmar/ Franzbach, Martin (edd.), Kuba heute: Politik, Wirtschaft, Kultur, Frankfurt am Main, Vervuert, 2001. Gewecke, Frauke, Die Karibik: zur Geschichte, Politik und Kultur einer Region, Frankfurt am Main, Vervuert, 3 2007. Ludwig, Ralph, Frankokaribische Literatur: eine Einführung, Tübingen, Narr, 2008. 1 Natürlich treten außer den vier auch andere Sprachen auf, mehr dazu in der Auswertung (3.). Die Wissenschaftssprachen der Karibikstudien 377 engl. Aceto, Michael/ Williams, Jeffrey P. (edd.), Contact Englishes of the Eastern Caribbean, Amsterdam/ Philadephia, Benjamins, 2003. Bremer, Thomas/ Fleischmann, Ulrich (edd.), Alternative Cultures in the Caribbean: First International Conference of the Society of Caribbean Research, Berlin 1988, Frankfurt am Main, Vervuert, 1993. Chamberlain, Mary (ed.), Caribbean Migration: Globalised Identities, London, Routledge, 1998. Collier, Gordon/ Fleischmann, Ulrich (edd.), A Pepper-Pot of Cultures: Aspects of Creolization in the Caribbean, Amsterdam/ New York, Rodopi, 2003. Ette, Ottmar (ed.), Caribbean(s) on the move - Archipiélagos literarios del Caribe: A TransArea Symposium, Frankfurt am Main et al., Lang, 2008. Görlach, Manfred/ Holm, John A. (edd.), Focus on the Caribbean, Amsterdam/ Philadephia, Benjamins, 1986. fr. Benoist, Jean (ed.), L'archipel inachevé: culture et société aux Antilles françaises, Montréal, Pr. de l'Univ. de Montréal, 1972. Chaudenson, Robert, Des îles, des hommes, des langues: essai sur la créolisation linguistique et culturelle, Paris, L'Harmattan, 1992. Confiant, Raphaël/ Damoiseau, Robert (edd.), A l'arpenteur inspiré: Mélanges offerts à Jean Bernabé, Matoury (Guyane française), Ibis Rouge, 2006. Glissant, Edouard, Le discours antillais, Paris, Gallimard, 1997. Leymarie, Isabelle, Du tango au reggae: musiques noires d'Amérique latine et des Caraïbes, Paris, Flammarion, 1996 (= 1996a). Leymarie, Isabelle, Musiques caraïbes, Paris/ Arles, Cité de la musique/ Actes Sud, 1996 (= 1996b). sp. Benítez Rojo, Antonio, La isla que se repite, Barcelona, Ed. Casiopea, 1998. Ette, Ottmar (ed.), Caribbean(s) on the move - Archipiélagos literarios del Caribe: A TransArea Symposium, Frankfurt am Main et al., Lang, 2008. Lüdtke, Jens/ Perl, Matthias (edd.), Lengua y cultura en el Caribe hispánico, Niemeyer, Tübingen, 1994. Ortiz López, Luis A. (ed.), El Caribe hispánico: perspectivas lingüísticas actuales. Homenaje a Manuel Álvarez Nazario, Frankfurt am Main/ Madrid, Vervuert/ Iberoamericana, 1999. Perl, Matthias/ Pörtl, Klaus (edd.), Identidad cultural y lingüística en Colombia, Venezuela y en el Caribe hispánico (Germersheim, 23-27 de junio de 1997), Tübingen, Niemeyer, 1999. Perl, Matthias/ Schwegler, Armin (edd.), América negra: panorámica actual de los estudios lingüísticos sobre variedades hispanas, portuguesas y criollas, Frankfurt am Main/ Madrid, Vervuert/ Iberoamericana, 1998. Bei dieser Auszählung achteten wir darauf, möglichst die Karibik betreffende Forschungsliteratur zu erfassen: Auflistungen z. B. französischspra- Jan Reinhardt 378 chiger Primärliteratur (wie in Ludwig 2008) sowie nicht die Karibik betreffende Einzelbeiträge (wie in Confiant/ Damoiseau 2006) wurden nicht berücksichtigt. Problematisch ist in diesem Sinn natürlich auch die Auswertung von Titeln wie Chaudenson 1992, in dem es nicht nur um die Karibik, sondern auch die Inseln des indischen Ozeans geht. Zwei- oder mehrsprachige Titel (vor allem Wörterbücher) wurden unter ‚andere Sprachen‘ erfasst. Vor der Auswertung ist hier noch auf Faktoren einzugehen, die das Ergebnis in die eine oder andere Richtung verlagern könnten (‚verlagern‘, denn ‚verfälschen‘ hieße bereits, dass wir eine ‚richtige‘ Richtung voraussetzen). Zum einen betrifft das die thematische Ausrichtung der untersuchten Titel: solche zu nur einem Land, wie Kuba heute (Ette/ Franzbach 2001) lassen natürlich eine Konzentration auf eine Sprache, hier Spanisch, erwarten und wurden nur berücksichtigt, wenn sich (in einem relativ kurzen Untersuchungszeitraum) nicht genügend andere fanden. Ebenso versuchten wir, nicht nur eine fachliche Richtung zu betrachten, sondern Titel aus Philologie, Geschichte, Politikwissenschaft, Soziologie, Musikwissenschaft aufzunehmen; dennoch ist eine gewisse Einseitigkeit und ein Vorzug der Philologie zu erkennen: Die Berücksichtigung aller (universitären) Fächer bei 24 Titeln anzustreben ist illusorisch. Vermutlich hätte die Aufnahme nur z. B. meeresbiologischer Studien eine absolute Dominanz des Englischen erkennen lassen, ohne dass dies zu einer für die gesamten Karibikstudien gültigen Aussage geführt hätte. Ein weiterer, etwas weniger offensichtlicher Faktor ist die Herkunft der Autoren: Auch an spanisch publizierten Sammelbänden etwa sind deutschsprachige Autoren beteiligt und sie werden - vermutlich - eher deutsche Beiträge zitieren als anderssprachige Beiträge. Mehr noch als die Herkunft der Autoren betrifft das auch ihre jeweilige ‚Zielrichtung‘: Wer eine akademische Laufbahn im anglophonen Raum anstrebt, wird nicht z. B. auf Slowakisch publizieren und vermutlich ebenso wenig nur deutschsprachige Literatur berücksichtigen. Ein weiterer Faktor ist der der Diachronie: Wir untersuchen ein Korpus von Texten, das von den 1970er Jahren bis hin zur unmittelbaren Gegenwart reicht, und dies so, als seien sie zeitgleich entstanden. Natürlich kann es hier im Verlauf der Zeit Änderungen im Rezeptionsverhalten geben - Benoist (1972, Vorwort) etwa beklagt, dass es kaum französischsprachige soziologische Literatur zu den Antillen gebe -, aufgrund der Kürze der Studie vernachlässigen wir jedoch diesen Faktor. Die Wissenschaftssprachen der Karibikstudien 379 Insgesamt ist es bei der angesprochenen geringen Zahl an ausgewerteter Literatur natürlich unmöglich, all diese Tendenzen vollständig auszugleichen; dies bliebe einer umfassenderen Studie vorbehalten. 3. Auswertung Die Auswertung ergibt prozentual gerechnet und nach den redigierten Sprachen geordnet folgendes Bild: Redigierte Sprache Rezipierte Sprache dt. engl. fr. sp. andere gesamt dt. 20,0% 30,3% 12,3% 36,5% 0,8% 1.708 Titel Redigierte Sprache Rezipierte Sprache dt. engl. fr. sp. andere gesamt engl. 3,3% 73,1% 13,3% 5,8% 4,5% 2.613 Titel Redigierte Sprache Rezipierte Sprache dt. engl. fr. sp. andere gesamt fr. 0,2% 28,8% 55,2% 11,5% 4,3% 1.240 Titel Redigierte Sprache Rezipierte Sprache dt. engl. fr. sp. andere gesamt sp. 4,8% 28,2% 4,3% 57,2% 5,5% 2.512 Titel Was die redigierten Sprachen insgesamt angeht, ist klar zu erkennen, dass in selbigen, außer beim Deutschen, auch die meisten zitierten Titel verfasst sind: Bei Französisch und Spanisch jeweils über 50%; einen sehr hohen Grad an Selbstbezug weist das Englische auf (73,1%; mit Spitzenwert in Aceto/ Williams 2003: 98,2%). Als rezipierte Sprache liegt Englisch bei den anderen Sprachen durchweg bei ca. 30%; spanische Literatur wird in französischen Texten relativ wenig (11,5%), noch weniger französische Literatur in spanischen Texten berücksichtigt (4,3%). Zum Deutschen ist zu sagen, dass es - wie bekanntermaßen in anderen Wissenschaftszweigen auch - so gut wie gar nicht rezipiert wird: in französisch redigierten Texten etwa nur zu 0,2%. Die etwas höheren Zahlen in englischbzw. spanischsprachigen Texten kommen dadurch zustande, dass deutschsprachige Forscher auf Spanisch oder Englisch publizieren oder sich an anderssprachigen Projekten bzw. Jan Reinhardt 380 Veröffentlichungen beteiligen (z. B. Collier/ Fleischmann 2003). Dies dürfte auch, wenn denn hier der Ort ist Empfehlungen auszusprechen, die sinnvollste Methode sein, Ergebnisse der Forschung deutscher Universitäten in der weltweiten Forschungslandschaft bekannt zu machen. Was die ‚anderen Sprachen‘ angeht, die in englischen, französischen und spanischen Texten zu immerhin jeweils ca. 5% Berücksichtigung finden, so sind dies vor allem Niederländisch, Portugiesisch, Kreolsprachen (Frankokreols, Papiamentu; hauptsächlich in Titeln von Wörterbüchern) und Italienisch, sehr selten auch Lateinisch, Rumänisch und Russisch. Um ein Fazit, zunächst zu Deutsch und Englisch, zu ziehen: Von einer Bedrohung durch das Englische kann unseres Erachtens nicht die Rede sein, allenfalls von einer sehr ausgeprägten Tendenz in englischsprachiger Literatur nur englischsprachige Texte zu zitieren. Dies kann soweit gehen, dass Henry Pagets Caliban's Reason. Introducing Afro-Caribbean Philosophy (Paget 2000) überhaupt nur (100%) englische Titel berücksichtigt, selbst im Fall von französischen Primärtexten nur die Übersetzungen 2 . Dass auch im deutschsprachigen Raum z. B. mit Ellen Schnepels In search of a national identity: Creole and politics in Guadeloupe (Schnepel 2004) eine Dissertation zu einem frankokaribischen Thema auf Englisch publiziert wird, dürfte aber eher mit der Herkunft der Autorin zu tun haben 3 und auch für die nächsten Jahre - zumindest in den oben angesprochenen Fachbereichen - keine allgemein erwartbare Tendenz darstellen. Die romanischen Sprachen, vor allem Spanisch, dürften durch ihre Präsenz, nicht nur in der Karibik, sondern auch in Nordamerika auch in Zukunft ungefährdet eine Rolle im Diskurs über die Region innehaben. 4. Literatur Aceto, Michael/ Williams, Jeffrey P. (edd.), Contact Englishes of the Eastern Caribbean, Amsterdam/ Philadephia, Benjamins, 2003. Benítez Rojo, Antonio, La isla que se repite, Barcelona, Ed. Casiopea, 1998. Benoist, Jean (ed.), L'archipel inachevé: culture et société aux Antilles françaises, Montréal, Pr. de l'Univ. de Montréal, 1972. Bernecker, Walther L., Kleine Geschichte Haitis, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1996. 2 Dies kann zum Teil dem einführend-didaktischen Zweck des Buches geschuldet sein, ist aber dennoch symptomatisch. 3 Im Vorwort des Buches wird die Sprachenwahl nicht thematisiert. Die Wissenschaftssprachen der Karibikstudien 381 Binder, Wolfgang (ed.), Entwicklungen im karibischen Raum: 1960-1985, Erlangen, Universitätsverbund Erlangen-Nürnberg, 1985. Bremer, Thomas/ Fleischmann, Ulrich (edd.), Alternative Cultures in the Caribbean: First International Conference of the Society of Caribbean Research, Berlin 1988, Frankfurt am Main, Vervuert, 1993. Chamberlain, Mary (ed.), Caribbean Migration: Globalised Identities, London, Routledge, 1998. Chaudenson, Robert, Des îles, des hommes, des langues: essai sur la créolisation linguistique et culturelle, Paris, L'Harmattan, 1992. Collier, Gordon/ Fleischmann, Ulrich (edd.), A Pepper-Pot of Cultures: Aspects of Creolization in the Caribbean, Amsterdam/ New York, Rodopi, 2003. Confiant, Raphaël/ Damoiseau, Robert (edd.), A l'arpenteur inspiré: Mélanges offerts à Jean Bernabé, Matoury (Guyane française), Ibis Rouge, 2006. Ette, Ottmar, Von Inseln, Grenzen und Vektoren: Versuch über die fraktale Inselwelt der Karibik, in: Marianne Braig et al. (edd.), Grenzen der Macht - Macht der Grenzen: Lateinamerika im globalen Kontext, Frankfurt am Main, Vervuert, 2005, 135-180. Ette, Ottmar (ed.), Caribbean(s) on the move - Archipiélagos literarios del Caribe: A TransArea Symposium, Frankfurt am Main et al., Lang, 2008. Ette, Ottmar/ Franzbach, Martin (edd.), Kuba heute: Politik, Wirtschaft, Kultur, Frankfurt am Main, Vervuert, 2001. Gewecke, Frauke, Die Karibik: zur Geschichte, Politik und Kultur einer Region, Frankfurt am Main, Vervuert, 3 2007. Glissant, Edouard, Le discours antillais, Paris, Gallimard, 1997. 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Perl, Matthias/ Schwegler, Armin (edd.), América negra: panorámica actual de los estudios lingüísticos sobre variedades hispanas, portuguesas y criollas, Frankfurt am Main/ Madrid, Vervuert/ Iberoamericana, 1998. Schnepel, Ellen M., In search of a national identity: Creole and politics in Guadeloupe, Hamburg, Buske, 2004. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.narr.de · E-Mail: info@narr.de Der 22. Band der Reihe „Romanistisches Kolloquium“ ist dem Thema Namenkunde gewidmet - in der Frühzeit der Romanistik selbstverständlicher Bestandteil des Faches, heute in eine Nische am äußersten Fachrand verbannt. Ziel ist es, den Faden, der onomastische Ansätze mit anderen Aktivitäten der romanistischen Sprachwissenschaften verbindet, wieder stärker ins Bewusstsein zu rücken und deutlich zu machen, dass Namenkunde einen unverzichtbaren Bestandteil einer als Gesamtheit aufgefassten Romanistik darstellt. Die Beiträge illustrieren durchweg den Bezug, den namenkundliche Studien zu benachbarten wissenschaftlichen Disziplinen haben können: Die Literaturwissenschaft, die Fachsprachenkunde, die Ethnologie, die historische Germanistik, die Zeitgeschichte, die Alte und Mittelalterliche Geschichte, die Siedlungsgeschichte, die Botanik, die Paläographie, die Phonetik, die historische Grammatik, die Dialektologie und die Wortgeschichte kommen zu Wort - der interdisziplinäre Charakter der Onomastik, eine der Voraussetzungen für eine zukunftsorientierte Disziplin, kommt so in hervorragendem Maße zum Ausdruck. Wolfgang Dahmen / Günter Holtus / Johannes Kramer / Michael Metzeltin / Wolfgang Schweickard / Otto Winkelmann (Hrsg.) Zur Bedeutung der Namenkunde für die Romanistik Romanistisches Kolloquium XXII Tübinger Beiträge zur Linguistik, Band 512 2008, XII, 275 Seiten, €[D] 68,00 / Sfr 115,00 ISBN 978-3-8233-6407-8 037708 Auslieferung Mai 2008.ind7 7 03.06.2008 18: 23: 21 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.narr.de · E-Mail: info@narr.de Das XXI. Romanistische Kolloquium schlägt mit der Fragestellung »Wie können Erkenntnisse der Romanischen Sprachwissenschaft im (akademischen) Unterricht umgesetzt werden? « den Bogen zur Fachdidaktik. Häufig wird beklagt, dass Fachwissenschaft und Didaktik beziehungslos nebeneinander existieren. Gerade in der heutigen Zeit, in der durch die Umstellung der Studiengänge im Bologna-Prozess vieles in Bewegung geraten ist, ist es nötig, Studieninhalte neu zu überdenken. Damit verbunden ist die Frage: was will und was kann man in welcher Weise weitergeben, welche Erkenntnisse der Sprachwissenschaft kann man in einer Zeit vermitteln, in der die Globalisierung der Welt jedem offenkundig wird und in der Fremdsprachenkenntnisse so wichtig sind wie noch nie zuvor? Wolfgang Dahmen / Günter Holtus Johannes Kramer / Michael Metzeltin Wolfgang Schweickard Otto Winkelmann (Hrsg.) Romanische Sprachwissenschaft und Fachdidaktik Romanistisches Kolloquium XXI Tübinger Beiträge zur Linguistik, Band 504 2009, XIV, 205 Seiten, €[D] 48,00/ SFr 76,00 ISBN 978-3-8233-6311-8 010709 Auslieferung Februar 2009.indd 15 20.02.2009 8: 47: 15 Uhr