Deutschland und Frankreich in der europäischen Union
Partner auf dem Prüfstand
1117
2010
978-3-8233-7598-2
978-3-8233-6598-3
Gunter Narr Verlag
Lothar Albertin
Mit den jüngsten Krisen der weltweiten Finanz- und Realwirtschaft haben sich die Erfahrungs- und Handlungsräume der Europäischen Union gewaltig verändert. Sie ist im Begriff, ihre Rolle unter den Weltregionen neu auszumessen, und dabei in ihrem Zusammenhalt und ihrer Funktionsfähigkeit neuartigen Belastungen ausgesetzt. Das gilt auch für ihre traditionellen Führungsmächte Deutschland und Frankreich.
Aus den historischen Erfahrungen haben Politiker der beiden "Nachbarn am Rhein" nach dem Grauen des Zweiten Weltkrieges die Folgerung gezogen, einen neuen Konflikt durch Aussöhnung und enge Zusammenarbeit im Rahmen der europäischen Einigung unmöglich zu machen. Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes, sämtlich verfasst von renommierten, dem Thema seit vielen Jahren verpflichteten Experten, untersuchen diese Sonderbeziehung in der EU.
<?page no="0"?> edition lendemains 23 Lothar Albertin (Hrsg.) Deutschland und Frankreich in der Europäischen Union Partner auf dem Prüfstand <?page no="1"?> Deutschland und Frankreich in der Europäischen Union <?page no="2"?> edition lendemains 23 herausgegeben von Wolfgang Asholt (Osnabrück) und Hans Manfred Bock (Kassel) <?page no="3"?> Lothar Albertin (Hrsg.) Deutschland und Frankreich in der Europäischen Union Partner auf dem Prüfstand <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 1861-3934 ISBN 978-3-8233-6598-3 <?page no="5"?> Inhalt Lothar Albertin / Bielefeld Einleitung: Die Europäische Union unter globalem Handlungsdruck............................................................................3 Hans Manfred Bock / Kassel Das virtuelle Europa. Franzosen und Deutsche in europäischen Projekten der Zwischenkriegszeit ....................31 Lothar Albertin / Bielefeld Deutschlands Weg in den europäischen Frieden ab 1945 .....55 Werner Link / Köln Die Rolle der Europäischen Union in der multipolaren Welt................................................................................................75 Ingo Kolboom / Dresden und Montreal Deutschland - Frankreich - Polen: Aktuelle Erinnerungen an das „Weimarer Dreieck“ 1991-2010 ...........85 Elmar Brok / Brüssel und Straßburg Chancen und Perspektiven einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik - Empfehlungen an die deutsch-französische Zusammenarbeit ........................................................................114 Henrik Uterwedde / Stuttgart u. Ludwigsburg Welche Vision(en) für die europäische Wirtschaft? Französische und deutsche Ansätze .......................................133 <?page no="6"?> 2 Adolf Kimmel / Trier Das deutsch-französische Paar in der erweiterten Europäischen Union..................................................................148 Roland Höhne / Kassel und Rostow-am-Don Die Europafrage in den nationalistischen Strömungen Frankreichs .................................................................................167 Andreas Ruppert / Detmold „Europa muss europäisch bleiben und Deutschland deutsch“ - Das Bild von Europa im deutschen Rechtsextremismus....................................................................176 Vincent Hoffmann-Martinot / Bordeaux Deutschland und Frankreich in einem dezentralisierten Europa ..........................................................194 Wolfgang Asholt / Osnabrück „Longtemps, l’Allemagne“: Deutschland in französischen Gegenwartsromanen........................................207 Kurzbiographien der Autoren .................................................222 <?page no="7"?> Lothar Albertin Einleitung: Die Europäische Union unter globalem Handlungsdruck Die Erfahrungs- und Handlungsräume der EU haben sich global ausgedehnt. Die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise setzte sie einem Außendruck aus, auf den sie möglichst geschlossen reagieren möchte. Sie kann dies nur, wenn es ihr gelingt, durch interne Anstrengungen den Mitgliedstaaten zu helfen, die in den Strudel der Kriseneffekte geraten sind. So appellierte José Manuel Barroso zu recht an die 27: „Entweder wir schwimmen zusammen oder wir gehen zusammen unter! “ Nicolas Sarkozy beschrieb die globalen Zusammenhänge als Präsident des Europäischen Rates zur Zeit des Europa-Asien-Gipfels in Peking Ende November 2008 (Asem, gegründet 1996), indem er Asien aufforderte, die Bemühungen Europas zu unterstützen. Bei seinem China-Besuch im Mai 2010 erhielt der frühere deutsche Bundespräsident Horst Köhler das Versprechen des dortigen Ministerpräsidenten, China werde mithelfen, den Euro zu stabilisieren. 1 Das Denken in solchen Interdependenzen ist neu. Die EU ist im Begriff, ihre Rolle unter den Weltregionen auszumessen. Einzig in ihrer Geschichte ist - über die jährlichen G 8-Treffen hinaus - die Fülle der großen Konferenzen, die sie in zeitlicher Dichte wahrnehmen und bestreiten musste, in denen sie als kontinentaler Staatenverbund mit weltweiten Erwartungen und Forderungen konfrontiert wurde. Man nehme - neben ihr - nur die Apec, den größten Wirtschaftsverband der Welt, der die Hälfte der globalen Wirtschaftsleistung und des Welthandels repräsentiert und im November 2008 Peru als Gastgeberland gewählt hatte. Neben der EU bilden sich großräumige Verflechtungen von eigenem Gewicht. Inzwischen beabsichtigen China und die Asean-Länder Brunei, Indonesien, Malaysia, die Philippinen, Singapur und Thailand die Gründung der größten Freihandelszone der Welt. Sie wollen ab 2010 fast 90% der Zölle abbauen. 2 Im Handelsvolumen ist das die drittgrößte Freihandelsregion, nach der EU und Nordamerika. Bisher war die Perspektive mehr oder weniger europäisch und transatlantisch, nunmehr wurde die EU in eine multilateral und interkontinental konfigurierte Welterfahrung gezwungen. Seit sich der Bezugsrahmen infolge der weltweiten Erschütterungen derart ausgeweitet und in seinen 1 3satBörse 21.5.2010. 2 Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) 4.1.2010. <?page no="8"?> Lothar Albertin 4 Aufgaben verändert hat, ist auch das innere Gefüge der Union in seinem Zusammenhalt und seiner Funktionsfähigkeit neuartigen Belastungen ausgesetzt. Das gilt auch für die beiden traditionellen Führungsmächte Frankreich und Deutschland. Aus der Geschichte der europäischen Einigung ist der deutsch-französische „Motor“ nicht fortzudenken. Gewiss gilt auch für dessen Rolle, dass sich die geopolitischen Koordinaten verschoben haben - schon seit der Ost- und Südosterweiterung der EU. Wie lern- und entscheidungsfähig ist dieses „Tandem“ unter den neuen Bedingungen? Diese Einleitung beabsichtigt eine thematische Einstimmung, indem sie jüngste Herausforderungen und Aufgaben der EU in Erinnerung ruft und die Antworten hauptsächlich den Darstellungen und Kommentaren großer Zeitungen entnimmt, die den Informations- und Urteilsstand einer europapolitisch interessierten Öffentlichkeit spiegeln. Wir unterstellen, dass das Publikum, das wir mit diesem Band erreichen wollen, sich in dieser Öffentlichkeit wiederfindet und ohne wissenschaftlichen Aufwand neugierig auf die folgenden Einzelbeiträge wird, die historische und politische Voraussetzungen und Hintergründe unter jeweiligem Titel aus der Kenntnis und Sicht ausgewiesener Autoren präsentieren. Alle Autoren sehen eine deutsch-französische Sonderbeziehung in der EU. Die meisten haben sie auf weiten Strecken ihres beruflichen Lebens analysiert, kommentiert und in ihren Impulsen für den Fortschritt der Einigung soweit möglich auch engagiert gefördert: das Gros von ihnen als Mitherausgeber des Frankreich-Jahrbuchs, durch eigene Publikationen, in den Tagungen des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg, in Konferenzen und Gastprofessuren in Frankreich, Europa und andernorts. Nicht alle sehen als erreicht an, wofür sie persönlich und wissenschaftlich gestritten haben. Ein hervorstechendes Beispiel bietet die fundierte Analyse und begleitende Beobachtung des „Weimarer Dreiecks“ von Ingo Kolboom. Die großartige Absicht, es durch ein dichtes Netz zivilgesellschaftlicher Kräfte und Vorhaben abzustützen und zukunftsfähig zu verankern, hat nach dem Urteil renommierter und engagierter Initiatoren aus den drei Ländern die angemessene Aufmerksamkeit der amtlichen Außenpolitik nicht gefunden. Eine ebenso notwendige wie willkommne Ergänzung präsentiert der Beitrag von Elmar Brok. Als langjähriges Mitglied des Europäischen Parlaments ist er ein exzellenter Kenner der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik, die er auf langen Strecken in leitenden Positionen beeinflusst hat. Alle Autoren wissen auch um die Verpflichtung, in diesen bewegten Zeiten die bewahrenswerten Motivationen der friedlichen Einigung Europas immer wieder in Erinnerung zu rufen und gegen jeden offenen und verdeckten politischen Extremismus zu schützen. <?page no="9"?> Einleitung: Die Europäische Union unter globalem Handlungsdruck 5 Deutsch-französische Systemkontroversen in der Finanz- und Wirtschaftskrise In der Frage, wie der einzigartigen Krise zu begegnen sei, trafen unterschiedliche ökonomische Grundauffassungen aufeinander, so dass Irritationen zwischen beiden Partnern und in der EU nicht ausblieben. Frankreich schütze seine Schlüsselindustrien, argwöhnte die Frankfurter Allgemeine Zeitung und apostrophierte Nicolas Sarkozy: „Die Ideologie der Diktatur der Märkte und die Machtlosigkeit der öffentlichen Hand ist mit der Finanzkrise gestorben“; Europa brauche eine Wirtschaftsregierung. 3 Für eine Entgegnung sorgte von deutscher Seite prompt die CDU durch Norbert Röttgen, den späteren Umweltminister: Europa sei ein Wirtschaftsraum, der entschieden gegen Protektionismus sei. Für eine internationale soziale Marktwirtschaft mit Wettbewerb, freiem Handel und klaren Ordnungsregeln müssten Deutschland und Frankreich an einem Strang ziehen. Horst Siebert, ein führender Wirtschaftswissenschaftler, sekundierte mit der Warnung vor französischen Ideen zur Verstaatlichung und Abschottung der Industrie; auch das Regelwerk der internationalen Arbeitsteilung werde aufs Spiel gesetzt. 4 Es war Fran ς ois Pérol, ein ausgewiesener Ökonom, der gleichsam beide Seiten an ihre übergeordnete Aufgabe erinnerte, die EU könne eine Führungsaufgabe nur spielen, solange es gelingt, zu einem deutsch-französischen Einvernehmen zu kommen. 5 Henrik Uterwedde, der seit langen Jahren ein kundiger Beobachter und Interpret der historischen und aktuellen Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Wirtschaftspolitik Frankreichs und Deutschland ist, zugleich aber als ein richtungweisender Befürworter ihrer dauerhaften Zusammenarbeit in der EU das Wort ergreift, rückt mit seinem Beitrag in diesem Band die Gewichte der allzu oft aufgeregt dramatisierten bilateralen Differenzen auf ihr effektives Maß zurecht. Die Idee einer „Wirtschaftsregierung“, die Spaniens Regierungschef Zapatero zu Beginn seiner europäischen Ratspräsidentschaft Anfang 2010 wieder aufgreifen sollte, diente den französischen Medien auch weiterhin als Test für deutsche Aufgeschlossenheit. Vor der deutsch-französischen Regierungskonferenz in Paris Anfang Februar 2010 wurde Guido Westerwelle gefragt, warum Deutschland gegenüber diesem Vorschlag Sarkozys zurückhaltend geblieben sei. 6 Der Außenminister lobte die französische Art, durch solche Vorschläge den deutsch-französischen Motor in Bewegung zu halten, und verwies auf den andersartigen Entscheidungsmechanismus des konstitutionellen Föderalismus der Bundesrepublik. 3 FAZ 24.10.2008. 4 FAZ 23.10.2008. 5 FAZ 25.10.2008. 6 Le Monde (LM), 5.2.2010. <?page no="10"?> Lothar Albertin 6 Adolf Kimmels subtile Analyse der deutsch-französischen Beziehungen in der erweiterten EU in diesem Band mündet in die Quintessenz, beide Staaten dürften nicht den Eindruck der Dominanz eines Direktoriums erwecken. Sie sollten sich aber „nicht scheuen, im europäischen Interesse eine gemeinsame Führung wahrzunehmen, Initiativen zu ergreifen, Impulse zu geben, Ziele zu setzen.“ Und er konstatiert - nicht zuletzt unter dem Eindruck der beiderseitigen Regierungskonferenz vom 4. Februar 2010: „Der deutsch-französische Motor ist in der EU zwar nicht alles, aber ohne ihn droht der EU Stillstand.“ In der Überfülle der 80 Maßnahmen der deutsch-französischen Agenda für 2020, die in dieser Regierungskonferenz beschlossen worden war, wollten die beiden Interviewer von Le Monde den Mangel einer leitenden Strategie sehen. Der neue deutsche Außenminister fand die zutreffende Antwort: Dieses Bündel konkreter Projekte bestätigte, dass die deutsch-französische Freundschaft unaufhörlich an Normalität gewinne. Deutschland und Frankreich wetteiferten seit der großen Krise aber auch in ihren kurzfristigen Anstrengungen, durch Konjunkturpakete die Rückkehr zum Wachstum zu stimulieren. Beide erhielten aus Brüssel bereits die Mahnung, angesichts ihrer Verschuldungen unter den Maastrichter Referenzwert von drei Prozent zurückzufinden. Beide reagierten schon auf die Verfahrensandrohung mit eigens zugesagten Fristen, zu denen sie ihren Haushaltsausgleich beginnen wollten. Beide Staaten stimmten innerhalb der EU darin überein, wenn diese - gemeinsam mit dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank - den kleineren Mitgliedstaaten durch große Beträge half, ihre Wachstumseinbrüche aufzufangen, so Ungarn, dann Lettland, das durch die Folgen eines spekulativen Immobilienmarktes an den Rand einer Rezession getrieben zu werden drohte, 7 zuletzt Rumänien. 8 Der Notfall der griechischen Staatsverschuldung Wie agierten Frankreich und Deutschland, als die griechische Schuldenkrise zutage trat, die nach Ausmaß und Art in der Geschichte der EU einzigartig war? Im Umgang mit dieser Herausforderung offenbarten beide Partner neben ihrer traditionellen Gemeinsamkeit auch Divergenzen, wie Vorbehalte und Ressentiments, die in Phasen der Routine eher verschwiegen und verborgen geblieben waren. Wir werden einige davon notieren, um zu erkennen, ob sie von essentiellem oder flüchtigem - künftig vermeidbarem - Gewicht waren. 7 FAZ 25.10.2008. 8 LM 1.4.2010, 9 (Mirel Bran: „De Bucarest, Dominique Strauss-Kahn appelle les Vingt- Sept à la discipline“). <?page no="11"?> Einleitung: Die Europäische Union unter globalem Handlungsdruck 7 Zunächst meldeten sich beim Ausbruch des griechischen Debakels alle zu Wort, die institutionell tangiert waren: die Eurogroup, die EU und ihre seit dem Lissabon-Vertrag inthronisierten Amtsinhaber Van Rompey und Catherine Ashton, der aktuelle Ratspräsident Zapatero, der Präsident der Europäischen Zentralbank, der Internationale Währungsfonds - bald aber auch der französische Präsident und die deutsche Bundeskanzlerin. Der Ausschluss Griechenlands aus der Währungsunion galt als „absurd“. Alle kritisierten zwar mehr oder minder scharf, dass das Land lange Jahre über seine Verhältnisse gelebt sowie gegenüber Brüssel seine Statistiken manipuliert und erst nach den Wahlen 2009 aufgedeckt hatte. Alle verlangten ein verschärftes Sparprogramm, mit einer Haushaltsüberwachung, die so streng wie noch nie sein müsse, mit dem Ziel, die Verschuldung von 12,7% bis 2012 unter den Maastrichter Referenzwert gedrückt zu haben. Was aber, wenn dies nicht gelang? Wie stand es um die europäische Solidarität? Diese Solidarität sei zweifelhaft, meinte Le Monde Ende Januar 2010 und verwies auf die anfänglichen Dementis aus Berlin und Paris: „Schlechten Schülern zu helfen, hieße, sie zu weiteren Verstößen zu ermutigen.“ Maastricht spreche dagegen. 9 Vom Treffen der Staats- und Regierungschefs in Brüssel am 11. Februar wollten die Medien aber auch wissen, dass Frankreich und Deutschland für den absoluten Notfall mit bilateralen Darlehen helfen würden. Am Vorabend hatte Sarkozy den griechischen Ministerpräsidenten George Papandreou im Elysée empfangen. Und während die Bundeskanzlerin noch auf dem Gipfeltreffen betonte, das Regelwerk von Maastricht verbiete solche Hilfen, und nach der Nichtbeistandsklausel der EU- Verträge gebe es keine Haftung eines Euro-Staates für die Schulden eines anderen, sagte sie in Brüssel auch: „Der Europäische Rat versteht sich als die europäische Wirtschaftsregierung“. So nahm sie - was zumindest persönlich verbindlich klang - den von Sarkozy favorisierten Begriff mit institutioneller Umwidmung in einer extrem kritischen Situation wieder auf. Der Rat der Finanzminister konkretisierte wenige Tage später die Bedingungen für das griechische Sparprogramm. Die Schlagzeilen in den nationalen Medien lauteten dann: „Die EU hilft Athen erst, wenn es nicht mehr anders geht“, und lobten die „klare und genaue Botschaft“ von Merkel und Sarkozy. 10 So konnten die Europäer zunächst zufrieden sein, zumal sie einen Imageschaden befürchten mussten, wenn der amerikanisch dominierte Weltwährungsfonds Europa zur Hilfe eilte - nämlich seiner Währungsunion, was ein Novum wäre. 11 Dass bei der nächsten strengen Prüfung der griechischen Sparmaßnahmen neben der 9 LM 30.1.2010, 8. 10 FAZ 12.2.2010, 1. 11 FAZ 12.2.2010. <?page no="12"?> Lothar Albertin 8 EZB tatsächlich auch der Internationale Währungsfonds beteiligt sein würde, war damit schon nicht mehr ausgeschlossen. Die beiden größten Mächte der Eurogroup hatten somit durch ihre maßgebenden Repräsentanten die Richtung angegeben, in der die Stabilität der Währung gewährleistet schien - die freilich auch am ehesten die Sicherung ihrer handfesten Interessen einschloss: „Einen besonders großen Teil der griechischen, portugiesischen und spanischen Forderungen haben die deutschen und französischen Banken in ihren Bilanzen. Die Summen sind etwas größer als der Anteil der beiden Länder an der Wirtschaft des Euro- Raums.“ 12 Seit die EU durch Griechenland derart extremen Belastungen ausgesetzt war, hielt die öffentliche Ursachenforschung auch sonstigen kritischen Rückblick. Sie fragte nach Konstruktionsfehlern in der konstitutionellen Entwicklung der Gemeinschaft und bedauerte die beschleunigte Erweiterung 2004 und 2007. Sie bezweifelte nun auch - für die Eurogroup - die „Vorstellung, die Währungsunion führe zu Disziplin und Konvergenz in der Finanz- und Sozialpolitik der Mitgliedsländer“, 13 und meldete Bedenken an, ob die gemeinsame Währung „als Katalysator für das Zusammenleben (oder Zusammenpressen) der EU“ gebraucht werden könne. 14 Ein Konfliktmuster aus dem deutsch-französischen Diskurs fand sich bei Emmanuel Todd in seinem Plädoyer für einen „europäischen Protektionismus“: „Deutschland hat vom Euro am meisten profitiert und zusätzliche Marktanteile erobert - auf Kosten seiner europäischen Partnerländer wie Spanien oder Frankreich.“ Deutschland sei zwar das Exportland par excellence, aber „auch Deutschland lanciert staatliche Programme zur Unterstützung seiner Wirtschaft. Entweder akzeptiert Deutschland die Idee eines europäischen Protektionismus - oder der Euro ist am Ende. Das ist keine Drohung.“ 15 Wenig später sorgte die Kommission für die weitere Fortsetzung der wirtschaftspolitischen Rhetorik. Sie stellte am 3. März 2010 ihr Programm „Europa 2020“ vor. Vorgegebene Wachstumsziele sollten mit der Überwachung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes verknüpft werden. Nahezu zeitgleich befürwortete Jean-Claude Juncker - für die Gruppe der Euro-Finanzminister - eine „verstärkte Koordinierung der Wirtschaftspolitik im Euro-Raum“, um wenigstens in diesem Kontext Ungleichgewichte zu vermindern. 16 Die deutsche Seite, die - verkürzt gesagt - die Geldpolitik unab- 12 FAZ 12.2.2010, 13. 13 Neue Zürcher Zeitung (NZZ) 16.2.2010, 13. 14 Ebd. 15 Emmanuel Todd: „Ein Kontinent als Schutzzone“, in: FAZ 12.1.2010, 30. 16 FAZ 3.3.2010, 11 („Wundertüte Wirtschaftsregierung“). <?page no="13"?> Einleitung: Die Europäische Union unter globalem Handlungsdruck 9 hängig gehalten wissen wollte, distanzierte sich - zu dieser Zeit noch - öffentlich von beiden Konzepten. 17 Für die griechische Pendeldiplomatie blieben die deutsche Bundeskanzlerin und der französische Präsident im Fokus ihrer Erwartungen: Papandreou war für das erste Märzwochenende in Berlin und Paris angemeldet, um danach den amerikanischen Präsidenten zu besuchen. Das europäische Publikum konnte darin eine Drohgebärde sehen, denn Athen ließ zugleich erklären, man erwäge ein Hilfegesuch an den IWF. 18 Einer Intervention des IWF erteilte die EZB durch Jean-Claude Trichet wiederum eine rasche Absage. Sie entfiel zunächst ohnehin, weil am selben Tage Griechenland eine Staatsanleihe von fünf Milliarden Euro mit einer Laufzeit von zehn Jahren und einer außerordentlich günstigen Rendite von 6,4 Prozent placierte. Die Anleger kamen aus Großbritannien, Deutschland und Frankreich. 19 Diese Auswahl der medialen Diskussion zeigte jedenfalls, dass Deutschland und Frankreich sich dieser hervorstechenden Rollenerwartung nicht entziehen konnten. Obwohl beide Staaten während dieses Krisenmanagements keins der rotierenden Ämter in der EU inne hatten, wirkten sie gleichwohl in dem öffentlichen und intergouvernementalen Klärungs- und Rettungsprozess maßgeblich mit. Sie nahmen - nicht zuletzt durch ihr öffentliches Lob des rigiden griechischen Sparprogramms - die ihnen allseits zugesprochene europäische Verantwortung ostentativ wahr. „Makroökonomische Ungleichgewichte“: Dissens und Kooperation Diesen Schulterschluss hielten aber die beiden Partner nicht durch. Mitte März 2010 ging die französische Wirtschafts- und Finanzministerin Christine Lagarde mit dem Vorwurf in die internationale Presse, Deutschlands Exportüberschuss sei „untragbar“. Es solle die Steuern senken, um den heimischen Konsum anzukurbeln und somit den französischen Export nach Deutschland zu fördern. 20 17 Vgl. FAZ 4.3.2010, 11 („Zehnjahreswunsch“). Le Monde (4.3.2010, 10) sah für die Tendenz einer „Wirtschaftsregierung“ zwar allseitiges Einverständnis, hielt diese aber noch für „sehr verschwommen“. Die Frage einer Zentralisierung der Finanzpolitik kommentierte der Bielefelder Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser in der Lippischen Landes-Zeitung 5.3.2010, 5. 18 FAZ 4.3.2010, 11 („Griechenland erwägt Hilfegesuch an den IWF“). In einem Interview (FAZ 5.3.2010, 4) sagte Papadreou vor seinem Berlin-Besuch: „Wir bitten nicht um Geld. Was wir brauchen, ist die Unterstützung der EU und unserer europäischen Partner, damit wir an den Märkten Kredite zu besseren Bedingungen bekommen.“. Le Monde (4.3.2010, 10) wollte wissen, dass Paris und Berlin bereits an einem Plan arbeiteten, um Athen zu helfen, Staatsanleihen aufzulegen. 19 FAZ 5.3.2010, 11. 20 Matthias Nass: „Sind wir zu billig? “ In: Die Zeit. Wochenzeitung 25.3.2010, 1. Vgl. ebd., S.25-26 (Thomas Fischermann u. a.: „Prügel für den Streber“) ; ebd., S.36 (Karin Fin- <?page no="14"?> Lothar Albertin 10 Währenddessen tagten in Brüssel am 16. März die 16 Finanzminister der Eurozone, am folgenden Tage alle 27 der EU. Aus der Kommission kam die Empfehlung, die „makroökonomischen Ungleichgewichte“ abzubauen, das hieß etwa konkret für Deutschland, die Niederlande, Österreich, Finnland und Luxemburg, die Binnennachfrage zu stärken. Deutschland und Frankreich wurden zudem neben anderen Mitgliedstaaten ermahnt, ihr Staatsdefizit - bis 2013 - zu reduzieren. 21 In der Haushaltsdebatte des Bundestags am 15. März hatte Angela Merkel bereits das französische Ansinnen scharf zurückgewiesen. Die deutsche Presse unterstrich ihre Erwiderungen: Frankreich leiste sich den größten Staatsapparat der westlichen Welt und die Rente ab 60, es habe die Arbeitslosigkeit junger Menschen nicht zuletzt wegen des hohen Mindestlohns vermehrt, zudem den Kostendruck der Sozialabgaben für Kleinunternehmer geschaffen: „Der Weltmarkt macht ihnen Angst.“ 22 In Frankreich und in der EU war das Befremden umso größer, als die deutsche Kanzlerin nun auch forderte, was kein Regierungschef bisher gewagt hatte, die Eurozone müsse ein Mitglied ausschließen können, wenn es nicht die Bedingungen des Stabilitätspaktes erfülle. Diese Sanktion als ultima ratio, schrieb Le Monde am 19. März auf der Titelseite, sei die Episode in der griechischen Krise, in der Frankreich und Deutschland ihre Divergenzen enthüllen: Frankreich lobt die Solidarität, Deutschland die Beachtung der Regeln. 23 Und der Leitartikler dieser Ausgabe kritisierte das sonstige Durcheinander der Europäer in dieser Konferenzserie, es enthülle eine „unwahrscheinliche Kakophonie“. 24 Die Kritik am deutschen “Exportmodell“ dauerte in den französischen Medien länger an. Jacques Attali nannte Deutschland wegen seines Exportüberschusses sogar „das China Europas“. 25 Auf deutscher Seite wiederum erschien die Warnung vor dem Gespenst der „makroökonomischen Ungleichgewichte“ in der wirtschaftspolitischen Debatte: „An deren Ende könnte der Ruf nach einer staatlichen Großplanung zur Herstellung eines fiktiven makroökonomischen Gleichgewichts stehen.“ 26 Das deutsch-französische Klima war offenbar auch aus innenpolitischen Gründen überhitzt: Der deutsche Steuerzahler beobachtete gerade die Verabschiedung des Haushalts mit einer Rekordverschuldung, die Franzosen kenzeller: „Madame mit Courage“). Vgl. Christian Schubert: „Deutsch-französische Spannungen“, in: FAZ 21.5.2010, 14. 21 FAZ 18.3.2010, 13. Vgl. Nicolas Busse, Klaus-Diieter Frankenberger und Werner Mussler: Im Gespräch mit José Manuel D. Barroso. FAZ 25.5.2010, 4. 22 FAZ 18.3.2010, 13 (Christian Schubert). 23 LM 19.3.2010, 1. 24 LM 19.3.2010, 2. 25 FAZ 22.3.2010, 11. 26 FAZ 22.3.2010, 11 (Philip Plickert). <?page no="15"?> Einleitung: Die Europäische Union unter globalem Handlungsdruck 11 waren dabei, ihrem Präsidenten aus Enttäuschung über nicht eingelöste Versprechungen bei den Regionalwahlen eine Schlappe zuzufügen. Die Spitzenkräfte beider Seiten nutzten aber auch die Gelegenheiten zu persönlichen und gewohnt sachlichen Gesprächen. Der französische Ministerpräsident Fran ς ois Fillon, der in der Berliner Humboldt-Universität über die „besorgniserregenden Ungleichgewichte“ gesprochen hatte, erfuhr von der Kanzlerin, dass sie mit Frankreich „intensive Gespräche“ über den von Wolfgang Schäuble ins Spiel gebrachten Europäischen Währungsfonds für die „Euro-Familie“ führen wolle, um künftige Notfälle zu verhindern, 27 - eine Idee, die sich später die Franzosen zu eigen machen und als eigene vorschlagen sollten. 28 Und sicherlich vertrauten beide Partner darauf, dass sich die Situation wieder entspannen werde, zumal die Agenda ihrer Kabinettssitzungen die Präsenz von Christine Lagarde Ende März in Berlin und danach ihres Kollegen Wolfgang Schäuble in Paris ankündigte. Ein solcher Austausch war in der gemeinsamen Konferenz beider Regierungen im Februar vereinbart worden. Und tatsächlich hatte die agile französische Ministerin nicht nur Gelegenheit, an der Diskussion der Bundesregierung über die Bankenabgabe teilzunehmen, bei der sich die französische Seite ihre Option noch offen hielt, sondern auch die bilateralen Differenzen anzusprechen. 29 Tatsächlich sollte dann auch Wolfgang Schäuble am 21. Juli an einer Sitzung des französischen Kabinetts teilnehmen und mit seiner Amtskollegin gemeinsame Forderungen zur Schärfung des Stabilitätspaktes und zur wirtschaftspolitischen Koordinierung an den Ständigen Ratsvorsitzenden Herman Van Rompuy beraten. 30 In der Öffentlichkeit überschlugen sich aber noch die Meinungen, Absichtserklärungen und Deutungen. Ihre verwirrende Vielfalt konnte jeden entmutigen, der die bilaterale Verbundenheit und Eintracht für europäisch unverzichtbar hielt. Auch die Bundeskanzlerin blieb im Visier der Kritik. In Le Monde zitierte eine Analyse ein Résumée im Spiegel: „Für die Generation von Kohl war Europa eine Frage von Krieg und Frieden, für Frau Merkel ist es eine Frage von Kosten und Nutzen.“ 31 Da war es in dieser heftigen Debatte wohltuend, die Einlassung von Isabelle Bourgeois und René Lasserre nachzulesen, die an die klassischen wirtschafts- und finanzpolitischen Konfliktlinien zwischen Deutschland und 27 FAZ 12.3.2010, 2; FAZ 15.3.2010, 9 (Werner Mussler: „Schäubles Schalmeienklänge“) Auch Jean-Claude Juncker hielt eine „Koordination der nationalen Finanz-, Wirtschafts- und Lohnpolitiken“ (Mussler) für notwendig FAZ 15.3.2010, 8. 28 Marc Brost, Uwe Jean Heuser, Petra Pinzler, Mark Schieritz: „Haltet die Herde...“, in: Die Zeit 12.5.2010, 23. 29 LM 1.3.2010, 16 (Anne Michel et Marie de Verges: „Les Etats sont déterminés à taxer les banques, mais chacun à sa facon“). 30 FAZ 22. 7. 2010, 9- 31 LM 1.4.2010, 21 (Marion Van Renterghem: „Angela Merkel, la chanceliére comptable de l’Europe»). <?page no="16"?> Lothar Albertin 12 Frankreich in der EU erinnerten, die in diesem Band Henrik Uterwedde erläutert, und die zudem meinten, „auch in deutschen Führungskreisen könnte die Kenntnis des Nachbarn etwas ausgeprägter sein“. Sie empfahlen ausdrücklich: „Deutschland darf daher nicht mehr nur die Pariser Machtelite im Blick haben, sondern muss auf die Bevölkerung setzen“, die empfänglich sei für die Vermittlung der konkreten Grundlagen der deutschen Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie der Bedeutung der Europa-Politik. 32 Wie reich dazu die Gelegenheiten informativer Begegnung auf der lokalen Ebene seit langen Jahren sind, lassen die Zahlen der deutsch-französischen Partnerschaften erkennen, mit denen Vincent Hoffmann-Martinot in diesem Band seine Studie über die kommunalen Modelle im dezentralisierten Europa einleitet. An den deutschen Leser richtete in der Griechenlandfrage auch der EZB- Präsident Jean-Claude Trichet - ein passionierter Befürworter der europäischen Integration - seine Überzeugung: „Und in dieser Hinsicht ist die Schuldenkrise eine Chance für die Vertiefung Europas.“ 33 So war auch seine eigene Aussage vor dem Europäischen Parlament gemeint, die Europäische Währungsunion sei viel mehr als ein rein monetäres Arrangement: „Sie ist vielmehr auch eine Schicksalsgemeinschaft.“ 34 Nicht weniger brachte der ehemalige Bundesfinanzminister Theo Waigel in Erinnerung, wenn er wenige Tage zuvor in einem Rückblick auf die Währungsunion ebenfalls in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schrieb: „Neben dem Frieden, der seit sechzig Jahren auf dem europäischen Kontinent herrscht, war der Euro das Beste, was Europa in seiner jüngsten Geschichte zuwege gebracht hat.“ 35 Vor dem Hintergrund solcher Appelle bedeutender Architekten der europäischen Finanzgeschichte zeigt die zuvor in einigen Facetten nacherzählte öffentliche Diskussion deutlich genug, dass das Binnenklima der EU nervös und angespannt war. Umso mehr überraschte es selbst kundige Beobachter, dass die vorläufige Lösung in der griechischen Schuldenkrise - für den äußersten Notfall - auf der Brüsseler Gipfelkonferenz der Euro-Länder am 24. und 25. März entschieden wurde, auf deren Tagesordnung sie nicht einmal gestanden hatte. Es war ein Mischkonzept aus einem europäischen Mehrheitsanteil (wovon 27% auf Deutschland fielen) und der Hilfe des IWF. Nicht unerwähnt blieb die vorausgegangene Abstimmung der Bundeskanzlerin in wichtigen, auch rechtlichen Fragen mit Nicolas Sarkozy. Und 32 FAZ 25.3.2010, 10 („Ordnungspolitische Scharmützel“). 33 FAZ 25.3.2010,10 (Stefan Ruhkamp, „Integrationist“). 34 FAZ 26.3.2010, 12 (Jean-Claude Trichet: Ein Anker der Stabilität und des Vertrauens) Seine Rede vor dem Europäischen Parlament war demnach am Tage zuvor. 35 FAZ 24.3.2010, 8. (Theo Waigel: „Der Euro hält Europa zusammen“). <?page no="17"?> Einleitung: Die Europäische Union unter globalem Handlungsdruck 13 wieder sprach die Presse vom „deutsch-französischen Motor der europäischen Integration“. 36 Wie belastbar dieser war, erwies sich kurz darauf, als der griechische Ministerpräsident den besagten Notfall mit dem Antrag bei den Euro-Ländern und dem IWF ausrief, den zugesprochenen Hilfsmechanismus zu aktivieren. Die „nationale Notwendigkeit“ war um so mehr geboten, als der Defizitbetrag für 2009 von 12,7 auf 13,6 Prozent des Bruttosozialprodukts angestiegen war. Es kam hinzu, dass eine der großen Rating-Agenturen Griechenlands Kreditfähigkeit auf Null herabgestuft hatte. Dass Eile geboten war, betonten die Chefs von IWF und EZB Strauss- Kahn und Trichet, die nach Berlin kamen und Gespräche mit der Kanzlerin, dem Bundesfinanzminister und den Fraktionschefs führten. Die Opposition warf der Europäischen Union vor, „angestiftet durch die Bundeskanzlerin“, durch ihr Zögern und Zaudern die Krise verschärft und den Konsolidierungsbedarf in die Höhe getrieben zu haben. 37 Zudem wolle die Kanzlerin Rücksicht auf die Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen nehmen. Tatsächlich betonte sie erneut, dass ein hartes Sparprogramm in Athen die Bedingung für die deutsche Hilfe sei. Bundestag und Bundesrat brachten dann immerhin im Eilverfahren binnen einer Woche das entsprechende Gesetz auf den Weg. „Wer führt Europa? “ (Helmut Schmidt) Aus Frankreich hatte Christine Lagarde auf den dramatischen Antrag aus Athen sofort geantwortet, man werde solidarisch handeln, und eine Debatte in der Nationalversammlung angekündigt, die dann mehrheitlich zustimmen sollte. Während der Präsident noch in China weilte, die Expo in Schanghai besuchte und den eigenen Vorsitz in den nächsten G 8- und G 20- Konferenzen für 2011 vorbereitete, kontaktierten seine Berater die europäischen Hauptstädte in seinem Sinne. In Athen suchten IWF, EZB und Kommission noch die Verständigung über ein äußerst hartes Sparprogramm, als Sarkozy bereits wieder am Pariser Kabinettstisch erschien und für das französische Fernsehen betonte, telefonisch den Akkord mit der deutschen Kanzlerin ausgetauscht zu haben. Ein französischer Beobachter sah im Verhalten des Präsidenten eine wohlerwogene Absicht. Seit Wochen habe er nicht die geringste Kritik gegen Frau Merkel geübt, denn die Situation sei so ernst, dass ein französischdeutscher Zusammenstoß (clash) destruktiv für Europa wäre. Sarkozy wolle vielmehr seine politische Führerschaft in Europa durchsetzen, indem er 36 FAZ 27.3.2010, 1. (Holger Steltzner: „Hilfe und Strafe“). 37 Den Vorwurf erhob Jürgen Trittin. FAZ 29.4.2010, 1. Dem widersprach Otmar Issing: Die Mär von der Spekulation. FAZ 27.5.2010, 12. <?page no="18"?> Lothar Albertin 14 zwischen Angela Merkel, die er durch ihre Koalitionsregierung gebunden sehe, und Griechenland vermittele, dessen Absicht einer drastischen Reduktion seiner Defizite er begrüße. Für Sarkozy, meinte der Kommentator in lakonischer Kürze, sei der maßgebende Faktor der Einheit Europas: Frankreich. 38 Während die öffentliche Diskussion sich dank der mediatisierten Ängste unter den indirekt betroffenen Steuerzahlern noch zuspitzte, beschloss die Gipfelkonferenz der Staats- und Regierungschefs der Eurozone am 8. Mai in Brüssel das Hilfspaket von 110 Milliarden Euro für drei Jahre, wovon der IWF 30 Milliarden übernahm. Sie einigte sich auch auf erste Absichten, den Euro-Raum krisenfester zu machen: durch Änderung des Stabilitätspaktes samt zusätzlicher Sanktionen, Regeln für eine Krisenintervention und Maßnahmen zur Finanzmarktregulierung. Dem Gipfeltreffen lag ein gemeinsamer Brief der Bundeskanzlerin und des Präsidenten vor, in dem sie eine „stärkere wirtschaftspolitische Koordination im Euro-Raum“ forderten; es war im Kern nichts anderes als die von Sarkozy und Christine Lagarde gemeinte „Wirtschaftsregierung“. Ausdrücklich war zudem die Übereinstimmung in der Frage der Rating-Agenturen gefasst, die Michel Barnier aus der Brüsseler Kommission durch eine unabhängige europäische Neugründung behandeln wollte. 39 Erinnern wir uns, die Brüsseler Gipfelkonferenz verlängerte sich zu einem Krisengipfel unerwarteten Ausmaßes. Jean-Claude Trichet informierte sie über einen konzentrierten Angriff amerikanischer und asiatischer Märkte auf den Euro und sprach von einem „systemischen Risiko“. In der kurzen Zeit eines Wochenendes wurde ein Rettungsschirm mit der gigantischen Summe von 750 Milliarden gespannt, der letztlich die Währungsunion gegen den massiven Angriff der Spekulanten schützen sollte. Davon übernahmen die Kommission 60 Milliarden, der IWF 250, Deutschland bis zu 123 Milliarden Euro - im Bedarfsfall erhöht um 20 Prozent. Die Beratungen, die begleitet wurden von Telefonaten der Bundeskanzlerin mit Barack Obama und innerhalb der G 20-Staaten, führten zu ungewöhnlichen Maßnahmen. So wurde der EZB abverlangt, Staatsanleihen verschuldeter Staaten aufzukaufen. 40 Es war Nicolas Sarkozy, der den Handlungsdruck als Profilierungschance nutzte. Er hatte seine Teilnahme bei den 38 Arnaud Leparmentier: „En jouant les médiateurs entre Berlin et Athènes, Paris veut asseoir son leadership“. LM 30.4.2010, 8. 39 FAZ 9.5.2010, 13. Ausdrücklich vermerkt ein Bericht („Union européenne - les défis de l’intégration“) in LM 27.5.2010 / Supplement, 4, die Kanzlerin habe sich zum erstenmal für die Notwendigkeit einer „europäischen Wirtschaftsregierung“ ausgesprochen. 40 Axel Weber, der Chef der Bundesbank, hielt diese Entscheidung für inkompatibel mit dem Mandat der EZB. Vgl. Marie de Vergès: “Les Allemands ne reconnaissent plus ‚leur’ BCE“, in: LM 2.6.2010, 16. Vgl. zu diesem Komplex die historisch fundierte Analyse von Werner Abelshauser: „Die zweite Entmachtung der Bundesbank“, FAZ 21.5.2010, 12. <?page no="19"?> Einleitung: Die Europäische Union unter globalem Handlungsdruck 15 Moskauer Feierlichkeiten zum Jubiläum des Kriegsendes abgesagt, bezog die Einigung über den Rettungsschirm der Euro-Staaten „zu 95 Prozent“ auf eine französische Vorlage - die freilich noch viele Änderungen erfahren sollte. In einer Pressekonferenz deutete er den Krisengipfel als einen Ausdruck der oft beschworenen Wirtschaftsregierung im Euroraum und rechtfertigte die „Notbeschlüsse“ mit Worten, die nunmehr angebracht erschienen: „Der Euro, das ist Europa, das ist der Friede auf diesem Kontinent.“ 41 In dieser Initiative - die auch beiderseits in den Medien angekündigt worden war - artikulierte sich erneut die Tradition deutsch-französischer Zusammenarbeit und Führung. Sie entsprach auch einem Erwartungsdruck unter den EU-Mitgliedern, zumal in einer Situation, die Sarkozy zur schwersten Krise in der Geschichte der Gemeinschaft erklärt hatte. Die Rede war auch sonst von einer alternativlosen Lage, von einem „Scheideweg“ (Angela Merkel), von der Stabilisierung des Euro, aber auch von der politischen Stabilität der EU - im Sinne der oben zitierten prominenten Europäer. Offensichtlich war aber auch, dass in dieser - und in anderen bilateralen Initiativen - nicht zuletzt auch zweckdienliche Motive einer tendenziellen Renationalisierung mitspielten. Die zwischen beiden Partnern so lange bewahrte Empathie für die historische Bedeutung der Europäischen Union hatte sich zugunsten einer eher national-utilitaristischen Sicht der Probleme abgeschliffen. Ob sich damit in den Führungen und namentlich in den jüngeren Kohorten der Bevölkerungen ein Generationsschub vollzog und vollzieht, erörtert in diesem Band Adolf Kimmel. Manche Persönlichkeiten, die das so sahen, beschworen geradezu die Deutschen, sich dieses Wandels bewusst zu werden und ihm zu wehren - so der Italiener Antonio Puri Purini, der von 2005 bis 2009 Botschafter in Berlin war. Für viele Europäer sei die Integration zu einem leeren Konstrukt geworden. Ohne die Vision Europa hätte es aber die Wiedervereinigung nicht gegeben. Er erinnerte, dass das kulturelle Erbe Europas einzigartig sei, mit seinen Werten Freiheit, Toleranz und Solidarität. Aber er erwarte auch Pflichten: nämlich die innereuropäische Stabilität nach der griechischen Krise zu gewährleisten, mit zusätzlichen Regeln in den Verträgen, einer Wirtschaftsregierung und gemeinschaftlicher Vertretung bei den internationalen Finanzinstitutionen. Auch er betonte, was im deutsch-französischen Dialog über die Zukunft der EU verlangt wurde: sie dürfe nicht auf die Eliten beschränkt bleiben. Und ebensosehr wiederholte auch er die Warnung an die Deutschen vor Selbstgefälligkeit und Überheblichkeit. 42 41 FAZ 10.5.2010, 6 (Nicolas Busse: „Gnadenlos mit allen Mitteln“); FAZ 11.5.2010, 3 (Michaela Wiegel: „Sarkozy, der Retter“). Vgl. auch FAZ 29.7.2010, 3 (Nicolas Busse: „Konzertierte Angriffe auf den ‚Olivengürtel’“) Hierin die Schilderung der kontrovers gruppierten Auffassungen während des Gipfels, die sich auf den gut informierten britischen Historiker Peter Ludlow stützt. 42 Antonio Puri Purini: „Wir brauchen Euch.“ In: Die Zeit 12.5.2010, 10. <?page no="20"?> Lothar Albertin 16 Diese aufwendige Abwehrschlacht der Europäischen Union zum Schutz der Stabilität ihrer Währungsunion führte zu einer äußerst kontroversen Diskussion in den Medien und politischen Vertretungen: Sie fragten erneut nach Konstruktionsfehlern und Versäumnissen im Einigungsprozeß und nach Lehren aus dieser Krise. Dabei wurde immer wieder die deutsch-französische Sonderbeziehung zum Parameter der historischen Reflexionen, aktuellen Beobachtungen und Handlungsempfehlungen. Das konnte auch kritisch ausfallen. So blieb nicht unerwähnt, dass Deutschland und Frankreich sich Ende der achtziger Jahre dem Vorschlag des Kommissionspräsidenten Jacques Delors zur Abstimmung der Wirtschaftspolitik verweigert hatten und dass beide Staaten im Jahre 2005 für die Aufweichung des Stabilitätspaktes gesorgt hatten. 43 Diesmal glaubte die Kommission, akute Gründe und freie Hand zu haben, um aus der gerade abgewehrten Gefahr ihre Lehren durch eigene Maßnahmen zu ziehen: vor allem durch die vorsorgliche Einsicht in die nationalen Haushaltspläne zur Verhinderung von Verschuldungen (wogegen nicht nur Frankreich und Deutschland sich zunächst verwahrten), ferner die immer wieder angemahnte wirtschafts- und finanzpolitische Abstimmung zur Verhinderung der makroökonomischen Ungleichgewichte der Wettbewerbsfähigkeit. 44 Auch die Empfehlung von Wolfgang Schäuble, dem deutschen Beispiel der 2009 in der Verfassung verankerten „Schuldenbremse“ zu folgen, fand sich bald im französischen und europäischen Diskurs. 45 Wenn auch das deutsch-französische Führungspaar der Kritik eigenwilliger Interessenwahrnehmung ausgesetzt blieb - die Kanzlerin etwa dem Vorwurf, sie verfolge „subkutan einen ökonomischen Nationalismus“, 46 der Präsident, er wolle seine sozialpolitischen Reformen durch den Vergleich mit Griechenlands rigidem Sparprogramm erleichtern - mehrheitlich dominierten in der Politik und den Medien die Erwartungen, dass Frankreich und Deutschland europäisch in der Pflicht und zur Führung berufen seien. Helmut Schmidt sah angesichts der Krise für den Euro die „künftige Entwicklung der Europäischen Union“ von einem Prinzip abhängig: „Sarkozy und Merkel müssen sich erinnern: Die europäische Integration ging von Frankreich aus. Frankreich muss sich der Einbindung Deutschlands sicher fühlen können, aber diese Einbindung kann dauerhaft nur bestehen bleiben, wenn Frankreich sich selbst auch einbindet.“ Er empfahl beiden Persönlichkeiten, den Sachverstand ihrer Finanzminister zu bündeln sowie den Rat von Trichet, Strauss-Kahn und Juncker einzuholen und so gemeinsam zu 43 So bei Olli Rehn, dem Wähungskommissar, in: Die Zeit 12.5.2010, 12. 44 Ebd. In diesem Interview wird Rehn auch an den gescheiterten Vorschlag von Jacques Delors erinnert. 45 Philippe Ricard: “Division à Bruxelles sur le contrôle préalable des lois de finances“, in: LM 20.5.2010, 8. 46 Daniel Cohn-Bendit im Interview mit der „Zeit“ 12.5.2019, 4. <?page no="21"?> Einleitung: Die Europäische Union unter globalem Handlungsdruck 17 handeln. Der Vorrang innen- oder gar parteipolitischer Überlegungen könnte hingegen zur weltpolitischen Marginalisierung der europäischen Nationalstaaten beitragen. 47 Zur Kontroverse um den Begriff der „Wirtschaftsregierung“ soll hier nur noch abschließend vermerkt werden, dass sie ebenso andauerte wie das beiderseitige Bemühen, die Gemeinsamkeit zu beteuern. So hatten Merkel und Sarkozy sich Mitte Juni in Berlin scheinbar abgestimmt, um auf dem Gipfel der Staats- und Regierungschefs am 17. Juni ein Ergebnis zu verkünden: Die von Angela Merkel genannte „wirtschaftspolitische Steuerung“ solle für alle 27 Mitgliedstaaten gelten, indessen mit dem Zusatz Sarkozys, „im Bedarfsfall“ die 16 Euroländer zusammenzuführen. 48 Michaela Wiegel, eine einfühlsame Beobachterin der deutsch-französischen Beziehungen, hat diesen tatsächlichen Dissens zum Anlaß für das Verdikt genommen, Sarkozy sei der erste französische Präsident, der mit einer Bundeskanzlerin auskommen müsse, „die von der Idee einer verstärkten Zusammenarbeit als Antrieb für die europäische Integration abgerückt ist“. Sie erinnert an „ernstgemeinte Versuche, integrative Fortschritte nach der alten Methode herbeizuführen“, und sagt: „Sie sind am Widerstand der Bundeskanzlerin gescheitert, die das Europa der 27 zur alleingültigen ‚Arbeitsebene’ erhoben hat.“ 49 Die Weigerung Angela Merkels, die Eurozone zur Grundlage haushalts- und wirtschaftspolitischer Koordination zu machen, bedauerte bald darauf in einem umfassenden Beitrag Hubert Védrine, der einst langjähriger diplomatischer Berater des Präsidenten Mitterrand und 1997-2002 Außenminister war. Er kritisierte auch den deutschen Alleingang in der Sparpolitik und einen bestimmten europapolitischen Rigorismus: „Gegenwärtig ist nur von Sparen, Kontrolle, Strafen, Sanktionen und Ausschluss die Rede. Wenn man die Euro-Zone am Ende nur noch als Besserungsanstalt wahrnimmt, wird man den Europagedanken in den Köpfen der Menschen töten.“. Er plädierte für das Ziel, „unter den 16 Mitgliedern der Euro-Zone eine positive Dynamik öffentlichen und demokratischen Charakters zu schaffen“: „Deutschland muss akzeptieren, dass die Wirtschaftspolitik innerhalb der EU und der Euro-Zone das Ergebnis einer Synthese ist zwischen seiner verständlichen Kultur einer Inflationsabwehr wie auch des Abbaus von Haushaltsdefiziten und der absoluten Notwendigkeit eines neuen Wachstums für Europa.“ Védrine leugnete nicht die bilateralen Unterschiede, um 47 Helmut Schmidt: „Wer führt Europa? “ In: Die Zeit 12.5.2010, 25. Vgl. den Appell von Giscard d’Estaing und Helmut Schmidt: “Gebt Europa eine Chance! " In: Die Zeit 27.5.2010, 1. Vgl. auch das Interview mit Giscard d’Estaing: „Wenn man Europa voranbringen will, muß man die französisch-deutsche Vertrautheit wiederfiden.“ LM 2.6.2010, 16. 48 FAZ 18.6.2010. 49 Michaela Wiegel: „Die Pein des langen Wartens“, FAZ 26.6.2010, 1. <?page no="22"?> Lothar Albertin 18 umso nachdrücklicher zu argumentieren: „Doch Europa hat keine echte Alternative zu einer deutsch-französischen Verständigung.“ 50 Betrachtet man die vorläufige - nicht allseits zuversichtlich beurteilte - Bewältigung der griechischen Schuldenkrise und die kraftvolle Mobilisierung des Rettungsschirms gegen die drohende Gefahr aus den Finanzmärkten, so hatte der deutsch-französische Schulterschluss - trotz der unnötigen Reibungsverluste - um so enger funktioniert, je zwingender der Handlungsdruck war. Die hektischen Eilverfahren zur Freisetzung von Riesensummen ließen freilich auch in der EU und insbesondere in Deutschland und Frankreich schwerwiegende Besorgnisse zurück: Bedenklich waren die Tendenz zur „Entparlamentarisierung“, der damit verbundene Vertrauensschwund unter den kaum informierten Bürgern, 51 deren Enttäuschung über die ausgebliebene oder unzureichende nationale und internationale Bändigung der exzessiven Finanzmärkte. Zweifelsfrei und einmütig war nunmehr aber auch die Einsicht, dass spätestens ab sofort der Abbau der eigenen Schulden beginnen musste. Angesichts dieser riesenhaften Probleme mussten eigentlich Fragen nach der Verteilung der Anteile in der Führung der EU unangemessen und überflüssig erscheinen. „Hier war ein echt deutsch-französisches Duo am Werk“, sagte Christine Lagarde im unmittelbaren Rückblick und fügte hinzu: „Es ist endlich an der Zeit, damit aufzuhören, von Gewinnern und Verlierern zu sprechen, wenn wir von Europa reden.“ 52 Zum Fazit der Betrachtung dieser ereignisreichen Prozesse gehört eine weitere Erfahrung, die uns in dieser Einleitung weiterführen soll. Die Flut der heftigen Debatten hatte demonstriert, wie die Auseinandersetzung der EU in dieser Phase insgesamt, dass die europäischen Wahrnehmungen, Beratungen und Beschlüsse von der puren Ökonomisierung ihrer Politik diktiert wurden. Unter diesen dominierenden Problem- und Aktionszwängen ließen andere Aufgabenfelder oft genug die Aufmerksamkeit vermissen, die ihnen gebührte. So wurde allzu oft die historische Tatsache überlagert und verdrängt, dass die Gemeinschaft nicht nur den Wohlstand marktfähiger Individuen und Gruppen fördern möchte, sondern sich essentiell als das Projekt für Freiheit sowie äußeren und inneren Frieden ihrer Bürger versteht - als Antwort auf den grauenvollsten aller Kriege. Hier sind auch die historischen Wurzeln der deutsch-französischen Sonderbeziehung. 50 Hubert Védrine: „Deutschland, Frankreich, Europa.“ FAZ 16.7.2010, 9. 51 Vgl. die historisch-kritische Reflexion von Heinrich August Winkler auf diesen Prozess, wonach der EU zwar Macht zugewachsen sei, diese aber von ihren Völkern viel weniger kontrolliert werde: „Unter diesem legitimatorischen Defizit leidet die Akzeptanz der EU“, insbesondere leide sie an einem Versagen von repräsentativer Demokratie auf nationaler Ebene - worauf sich das Bundesverfassungsgericht in seinem Lissabon-Urteil beziehe. („Europa an der Krisenkreuzung...“ FAZ 13.8.2010, 14.) 52 Christine Lagarde im Gespräch. In: FAZ 17.5.2010, 13. <?page no="23"?> Einleitung: Die Europäische Union unter globalem Handlungsdruck 19 Impulse in anderen Aufgabenfeldern Während der Klimakonferenz der UNO in Posen seit Anfang Dezember 2008, die Tausende von Teilnehmern zwei Wochen lang versammelte, war die Europäische Union durch ihre Argumente und Deklarationen um eine Vorbildrolle bemüht. Zweifellos haben dabei Deutschland und Frankreich einen gemeinsamen Kenntnis- und Bewusstseinsstand demonstriert, der ihre ökologischen Bewegungen längst auszeichnete. Im Oktober 2007 hatte zudem Sarkozy für Frankreich feierlich einen „Umweltpakt“ unterzeichnet, dem spätere gesetzgeberische Impulse wie die Klimaabgabe folgen sollten, die allerdings zuletzt suspendiert und in die europäische Diskussion verlagert wurden. 53 (Welche ökologischen Projekte seit diesem Kurswechsel noch bedroht sein könnten, wird die Zukunft zeigen. 54 ) Allerorten war in der Posener Klimakonferenz die Einsicht unbestritten, dass die Erderwärmung voranschreitet, aber wenigstens ihre Beschleunigung verringert werden muss, und dass die Atmosphäre ein Gemeinschaftsgut und keine kostenlose Deponie für umweltschädlichen Abfall ist. Vieles wurde konkret behandelt, bis zu den schwierigen Problemen der polnischen Kohlekraftwerke und des Emissionshandels. Die Konferenz von Kopenhagen weckte danach viele Hoffnungen - und enttäuschte sie. Zeitgleich hatten zuletzt noch die deutsche Kanzlerin und der französische Präsident das Gespräch mit Obama und dem chinesischen Ministerpräsidenten gesucht, um mehr zu erreichen als die Resolution, die lediglich von der Versammlung zur Kenntnis genommen wurde und einem Scheitern des großen Vorhabens gleichkam. Während seiner Ratspräsidentschaft leitete Frankreich ebenso kompetent wie selbst betroffen die Europäisch-afrikanische Konferenz über Migration und Entwicklung in Paris in der letzten Novemberdekade 2008. Die 27 Delegationen aus der EU trafen auf die Vertreter aus gleich vielen afrikanischen Ländern. Das klare Arbeitsprogramm: legale Migration, Kampf gegen irrreguläre Migration sowie Synergie zwischen Migration und Entwicklung, erbrachte trotz der französischen Erfahrungen und diversen Konventionen mit einigen afrikanischen Staaten nicht deren volle Zustimmung. Am bittersten sperrte sich Senegals Präsident: in dem Moment, wo die Vereinigten Staaten zum erstenmal einen Schwarzen zum Präsidenten gewählt hätten, sei Frankreich noch dabei, die Tür Europas und Frankreichs den Schwarzen zu verschließen. 55 Gegenüber der französischen Initiative zum obengenannten Synergie-Konzept, die Herkunft- und Durchgangsländer zu „Grenz- 53 Michaela Wiegel: „Langsam reicht es mit der Ehrensache“. FAZ 3.4.2010, 7. 54 LM 1.4.2010, 10 -11 (Laurence Caramel et Gaëlle Dupont: „Que reste-t-il du Grenelle de l’environnement ? “). Vgl. Dazu auch das Interview mit der Staatssekretärin Chantal Jouanno: „Il faut maintenant un Grenelle 3“, in: LM 20.5.2010, 1 und 4. 55 LM 26.11.2008. <?page no="24"?> Lothar Albertin 20 wächtern„ gegen Migranten zu verpflichten und diese im Tausch gegen finanzielle und politische Leistungen auf Distanz zu halten, wurde der Vorwurf aus der europäisch-afrikanischen Konferenz in Rabat 2006 erneuert, diese „Externalisierung“ bedeute: „Europa riegelt unsere Grenzen ab“. 56 Deutschland und Frankreich sehen sich als Einwanderungsländer. Beide sind andererseits mit ihrer Entwicklungshilfe im Kontext der EU in den AKP-Staaten tätig, die bis 2000 in den Verträgen von Lomé, seitdem in dem (2005 ergänzten) Abkommen von Cotonou geregelt ist. Die Bundesrepublik respektiert die historischen Erfahrungen ihres Nachbarn in der Frankophonie und sekundiert ihm gegebenenfalls mit eigenen Ressourcen. Madagascar haben wir in den 90er Jahren als ein effektives Bespiel kennen gelernt. 57 Aber die irreguläre Einwanderung hält aus dem Süden an. Eric Besson, der Immigrationsminister, hat vor den Regionalwahlen im März 2010 nicht ohne Not eine öffentliche Debatte über nationale Identität angestoßen. 58 Tatsächlich profitierte davon eher der Front National. Roland Höhne ist dafür in diesem Band der kritische Beobachter und Autor. Die neuerliche Identitätsdebatte verschärft zudem atmosphärisch die Polizeiaktionen gegen illegale Einwanderer, die ohne Aufenthaltspapiere bleiben. Für mehrere EU- Länder hält der Problemdruck an. In Frankreich sind es zweihundertbis vierhunderttausend, von denen große Kontingente nach England weiter wollen, in Deutschland sind es vermutlich ähnlich viele. Beispielhaft unter den beiden eng verbundenen Nachbarn sind aber die spektakulären Räumungsaktionen nicht, „deren Hauptabsicht in der Beruhigung französischer Überfremdungsängste liegen dürfte“. 59 Dass andererseits bestimmte Spielarten des Rechtsextremismus in Deutschland ähnliche Phobien zu provozieren vermögen, demonstriert Andreas Ruppert in diesem Band. Zweifellos lasten auf dem historischen Gedächtnis der kritischen Öffentlichkeit Frankreichs noch die folgenschweren Fehler seiner undurchsichtigen Erdöldiplomatie und verhängnisvoller militärischer Interventionen in Afrika. Wenn Fran ς ois Mitterrand vor der Konferenz der Frankophonie in La Baule - im Juni 1990 - die weitere Zusammenarbeit an demokratische Bedingungen in den Partnerstaaten geknüpft hatte, so blieb diese Ermahnung singulär und eröffnete nicht eine konsequente Strategie, die den dortigen geschundenen Bürgerkriegsgesellschaften mehr inneren und äußeren 56 Alain Morice, Claire Rodier: „Comment l’Union européenne enferme ses voisins“ In: Le Monde Diplomatique, Juin 2010, 16-17. 57 Gemeint ist hier die friedliche Protestbewegung der Madagassen gegen das autoritäre Regime von Didier Ratsiraka und die Intervention des Europäischen Parlaments (Elmar Brok) zugunsten einer Transparenz der Wahlen. Lothar Albertin: “Les conditions de changement du système politique à Madagascar“, in: Omaly Sy Anio (Hier et aujourd’hui) No. 33-36/ 1991-1992, 731-743. 58 Zu dieser Thematik Marieluise Christadler: „Die französische Identität - eine Frage und viele Antworten“, in: Frankreich Jahrbuch 1990, 33-50. 59 FAZ 24.12.2009 (Joseph Hanimann). <?page no="25"?> Einleitung: Die Europäische Union unter globalem Handlungsdruck 21 Frieden gebracht hätte. So lieh Frankreich Ruanda seit 1990 militärische und finanzielle Hilfe, verhinderte nicht die Pogrome in den folgenden Jahren und gelangte zu einer Schlüsselrolle bis zum Einsatz der Blauhelme ab Herbst 1993. Unter öffentlichem Druck angesichts des Völkermords lief dann im Juni 1994, von Frankreich selbst beantragt, im UNO-Auftrag die „Operation Türkis“ mit 2.500 französischen Soldaten an. Auch die weitere humanitäre Hilfe durch Einrichtung einer Schutzzone für die leidende Bevölkerung entkräftete nicht den Vorwurf neokolonialen Großmachtstrebens. 60 Umso größer war die Erleichterung in der europäischen Öffentlichkeit, als Frankreich durch seinen Präsidenten bei seinem Besuch im Februar 2010 diese „schweren Irrtümer“ früherer Afrikapolitik öffentlich zur Sprache brachte. 61 In Gabon erklärte zudem Sarkozy, nicht zur Generation der Kolonisation zu gehören, und warb so für eine neue „privilegierte Beziehung“, die jedenfalls Vereinbarungen über eine Militärbasis und Hilfen in der Polizei-Ausbildung, sowie in der Landwirtschaft und im Umweltschutz einschlossen. Die persönliche Distanzierung von der verschleierten Interessenpolitik in der Vergangenheit sollte unterstreichen, dass die künftige Partnerschaft ausgewogen und - auch in Frankreich selbst - parlamentarisch transparent sein sollte. 62 Den Partnerschaftsgedanken betonte und inszenierte geradezu Sarkozy im kontinentalen Horizont eines Gipfels „Afrika - Frankreich“ in Nizza Ende Mai 2010, bei dem sich - weit über die Frankophonie hinaus - die Delegationen aus 51 Staaten trafen. Die Kopräsidentschaft hatte Ägypten inne. Die Zustimmung war ihm sicher, als er für Afrika, das in der UNO 27% der Mitgliedstaaten repräsentiert, mehr Mitsprache im Sicherheitsrat (statt der drei nichtständigen Sitze) forderte. Lob erntete er auch für Frankreichs Hilfe von 300 Mio. Euro zur Ausbildung von 12.000 afrikanischen Soldaten der dortigen Friedenstruppe. Die strategische Absicht hieß offenbar, auf diesem von den USA und China seit langem umworbenen Kontinent mit der eigenen Rolle einen „dritten Weg“ der Orientierung anzubieten. 63 Aus Ruanda befürwortete Paul Kagame die Kooperationsofferte: „Wir brauchen Partner - Fankreich, Deutschland oder China - aber keine Gebieter.“ 64 Nicht auf der Agenda von Nizza standen Demokratie und Menschenrechte. Sarkozy trug der dort vertretenen Vielfalt politischer Systeme in 60 Lothar Albertin: Herausforderungen: Steht Frankreich sich selbst im Wege? In: Frankreich Jahrbuch 1997, 9-35 (26-29) 61 LM 27.2.2010, 5. 62 LM 26.2.2010, 6. 63 Philippe Bernard: Au sommet de Nice, M. Sarkozy prône des relations ‘décomplexées’ avec l’Afrique. In: LM 2.6.2010, 6. 64 Entretien. Paul Kagame: „Il nous faut des partenaires, pas des maîtres“, in: LM 2.6.2010, 6. <?page no="26"?> Lothar Albertin 22 seiner Eröffnungsrede Rechnung: . “Demokratie und Menschenrechte sind nicht westliche sondern universale Werte. In Afrika wie anderswo alimentieren das Demokratiedefizit und die Verletzung der Menschenrechte die Gewalt und die Instabilität.“ 65 Auch die sonstige Entwicklungshilfe aus der EU bedient sich oft genug dieser leicht chiffrierten Diktion, um die Menschen zu erreichen, die ihre Leistungen brauchen. Wo Frankreich seine besonderen Beziehungen wie zum Maghreb und Vorderen Orient durch seinen initiativfreudigen Präsidenten zum Alleingang nutzte und die EU im Juli 2008 durch die Gründung der „Mittelmeerunion“ überraschte, war der deutsche Nachbar zwar verdutzt, aber erfahren genug, diesen Coup diplomatisch flexibel aufzufangen. Dass Sarkozy das Kräftefeld, das sich durch die Osterweiterung der EU zugunsten Deutschlands verlagert hatte, ausbalancieren wollte, wie Adolf Kimmel in diesem Band hervorhebt, musste die deutsche Seite mit Verständnis aufnehmen. Sie verstand aber auch, dieses räumlich verengte Projekt dem Ensemble einer „Union für das Mittelmeer“ aus den 27 EU-Mitgliedern und 12 weiteren Mittelmeerstaaten im Sinne des Barcelona-Prozesses zu inkorporieren. 66 Vielleicht bewährt sich gleichwohl aus dem von Frankreich initiierten Konzept der „Mittelmeerunion“ ein friedensstrategischer Vorteil. Ihr institutionelles Konstrukt - in dem nur Libyen fehlte - bot immerhin die erste internationale Organisation, in der beide nahöstliche Konfliktparteien - ein Israeli und ein Palästinenser unter den fünf Generalsekretären - zudem die Arabische Liga ohne Stimmrecht - figurierten. 67 Wer wagt vorauszusagen, ob es gescheitert ist oder doch noch restituiert und nützlich werden kann. Europäische Nachbarschaftspolitik Seit der Auflösung der bipolaren Strukturen und dem Ende des Ost-West- Konfliktes sucht die EU ihre Rolle in einer multipolaren Welt. Werner Link hat diesen Wandel zu einer neuen, eigenen Strategie, die mit dem atlantischen Ordnungsrahmen konkurriert und sowohl anti-hegemonial als auch anti-imperial bestimmt ist, in diesem Band skizziert. Sie will, wie der Lissabon-Vertrag sagt, „eine Weltordnung fördern, die auf einer verstärkten multilateralen Zusammenarbeit und einer verantwortungsvollen Weltordnungspolitik beruht“. Die Osterweiterung der EU verstärkte die Bedeutung ihrer Beziehungen zu Russland. Im Dezember 1997 hatten beide Seiten ihr zehnjähriges Partnerschafts- und Kooperationsabkommen geschlossen. Zusätzliche Vereinba- 65 Philippe Bernard, op. cit. 66 Werner Weidenfeld und Wolfgang Wessels: Europa von A bis Z. Taschenbuch der europäischen Integration. Nomos, 11.Auflage 2009, 409. 67 FAZ 5.11.2008. <?page no="27"?> Einleitung: Die Europäische Union unter globalem Handlungsdruck 23 rungen dienten 2003 dazu, in vier Bereichen gesamteuropäisch zusammenzuarbeiten: in der Wirtschaft, in Fragen der persönlichen Freiheit, Sicherheit und Justiz, in Angelegenheiten der äußeren Sicherheit sowie der Wissenschaft, Bildung und Kultur. In Moskau im Mai 2005 als Wegekarten (road maps) unterzeichnet, boten diese Vereinbarungen die Richtschnur für weiteres Handeln. Schon auf dem Moskauer Gipfel Mai 2006 wurde ein neues strategisches Abkommen in Aussicht genommen. Die folgende deutsche Ratspräsidentschaft sollte es vorbereiten. Dies lief nicht so reibungslos wie erhofft. Russland hatte seine eigenen Pläne für eine ökonomische Zusammenarbeit mit seinen postsowjetischen Nachbarn, insbesondere Kasachstan, Weißrussland und der Ukraine. 68 Die Kontroversen verschärften sich, wo die EU wirtschaftliche Differenzen ihrer Mitglieder Polen und Estland mit Russland beobachten und kommentieren musste. Während die Gipfelkonferenz der Euro-Länder in Brüssel vorsorglich über eine Lösung für den griechischen Notfall berieten, erfuhren die Europäer zeitgleich von einem Ereignis mit globaler Bedeutung: In einem Telefonat hatten sich Obama und Medwedjew über eine Nachfolgevereinbarung für das Start-Abkommen aus dem Jahre 1991 geeinigt, das im Dezember 2009 ausgelaufen war. Die USA und Russland verfügen über 95 Prozent aller Atomwaffen. Nun sollte - nach langen Verhandlungen - das Arsenal der strategischen Nuklearwaffen beider Seiten überprüfbar verringert werden. Am 8. April sollte der Vertrag in Prag unterzeichnet werden; dort hatte Obama vor einem Jahr seine Vision von einer „Welt ohne Atomwaffen“ verkündet. 69 Die EU konnte diesen Durchbruch nur mit Erleichterung aufnehmen. Noch blieben Fragen ungeklärt, wie etwa der Zusammenhang mit den amerikanischen Raketenabwehrbasen in Polen und Tschechien. Deutschland und Frankreich sahen in einem Verzicht darauf eine vertrauensbildende Geste gegenüber Russland, die Polen zumindest wollten dieses Element der Abschreckung noch gewahrt wissen. Sie warnten vor den Tendenzen einer strategischen Klammer USA, Europa und Russland. 70 Ob das „Weimarer Dreieck“, über das in diesem Band eingehend Ingo Kolboom schreibt und das demnach auch schon die drei Verteidigungsminister zusammengeführt hat, die Auffassungen wird vermitteln können, ist ebenso denkbar wie wünschbar. Frankreich hat seine guten Kontakte mit Russland in jüngster Zeit noch erweitert und vertieft. Anfang März 2010 ist in Paris das „russische Jahr“ mit 350 kulturellen Festlichkeiten eröffnet worden. 71 Seine Führung verhandelt aber auch über den Verkauf moderner 68 S. Alexander Warkotsch: “ Die Nachbarschaftspolitik der EU im postsowjetischen Raum“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 43/ 2007, 9-14 (11-13). 69 FAZ 27.3.2010, 1. 70 FAZ 27.3.2010, 10 (Konrad Schuller: “ Polens Abschreckungsdoktrin“). 71 LM 3.3.2010, 6. <?page no="28"?> Lothar Albertin 24 Hubschrauberträger, was selbst die NATO zu den vertrauensbildendenden Zeichen rechnen kann, im Sinne eines informativen Austausches in der Rüstungsproduktion. In der globalen Sicherheitsstrategie haben sich längst die Koordinaten verschoben. Aus vielen wesentlichen Gründen bleibt die strategische Partnerschaft der EU mit Russland notwendig. Wirtschaftliche und sicherheitspolitische Motive schließen aber nicht aus, dass die Europäische Union auch als Wertegemeinschaft agiert. Russland, das seit der Perestroika schrittweise seine Archive und Universitäten für westliche Forschungen und gemeinsame Konferenzen öffnet, muss es sich gefallen lassen, dass seine reaktionären Gruppierungen, die mit ihren Hymnen auf den Großen Vaterländischen Krieg einen diesem kongruenten Stalin-Mythos aufbauen möchten, nicht unwidersprochen bleiben. So war eine Moskauer Historikerkonferenz der Ort, wo Hélène Carrière d’Encausse, die Präsidentin der Académie Fran ς aise, eine Russlandexpertin, die Absurdität der These ansprach, wonach der Stalinsche Massenterror für die Modernisierung der Sowjetunion notwendig gewesen sei. 72 Seit der Osterweiterung wird die EU auch ansonsten in die vielfältigen Diskurse einbezogen, die sich in ihren Mitgliedstaaten aus den antisowjetischen Erinnerungskulturen entfalten, nicht nur in Estland, Litauen und Lettland, sondern auch in Polen. Seitens der EU hat sich die Bundesrepublik mit ihrer gesteigerten Aufmerksamkeit bei diesen neuen Mitgliedern um so mehr Sympathie erworben, als in deren kollektivem Gedächtnis noch die zynische Bemerkung Molotows gegenüber Ribbentrop anlässlich des Hitler- Stalin-Paktes gegenwärtig sein mochte, wonach kleine Staaten in diesen Zeiten eine Anomalie seien. An diese Zeit erinnert auch Katyn. Zeichen der Versöhnung haben hier schon Boris Jelzin 1993 und Michail Gorbatschow 1988 zu setzen versucht. 73 Erst unter Donald Tusk wurde aber eine historische und aktuelle Barriere leidensvoller Erinnerung zwischen beiden Völkern überwunden: durch dessen Einladung an Wladimir Putin zu den Gedenkfeiern des 70. Jahrestages des Überfalls auf Polen und wiederum dessen Einladung an den polnischen Ministerpräsidenten, Anfang April 2010 gemeinsam des Massenmordes in Katyn zu gedenken. Solche deutlichen Gesten der Bereitschaft, die gewohnten Zwänge, in den Kategorien des Kalten Krieges zu denken, abzustreifen, können auch von den europäischen Nachbarn und Freunden Polens nur mit Respekt und Erleichterung aufgenommen werden. Und es ist keine Frage, dass die spontanen Bekundungen der Trauer der russischen Führung und Bevölkerung angesichts des tragischen Flugzeugunglücks bei Smolensk beide Nachbarvölker füreinander geöffnet hat. Der neugewählte Präsident 72 FAZ 11.12.2008. 73 Adam Krzeminski: „Operation Versöhnung“, Die Zeit 31.3.2010, 6. <?page no="29"?> Einleitung: Die Europäische Union unter globalem Handlungsdruck 25 Bronislaw Komorowski fügt sich nach seiner politischen Grundorientierung sicherlich in diese Erwartung. Russland hat kürzlich als letztes Mitglied des Europarates einer Reform der Verfahrensordnung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg zugestimmt. Die interne Kritik der russischen Verhältnisse ist längst in Bewegung geraten. Die akkreditierten und zeitweiligen Korrespondenten aus der EU tun ein übriges, die dortigen Menschenrechtsorganisationen durch ihre Beobachtungen und Kommentare zu unterstützen. Sowohl aus der deutschen als auch der französischen Presse erfahren wir in der jüngsten Zeit haarsträubende Erscheinungen des Rassismus. So prangerte Le Monde Ende November 2008 den Petersburger Fußballclub „Zenit“ an: „Keine Schwarzen im Stadion“. Demnach dürfe es keinen Afrikaner weder auf den Tribünen noch auf dem Rasen geben. Unter den Clubmitgliedern seien solche, die neonazistischen Bewegungen nahe stehen. Ihre Slogans lauten: „Wir sind Patrioten der Stadt, der Platz der Neger ist nicht bei uns, sondern auf den Bäumen Afrikas“. 74 Der reichste Club Russlands wird immerhin von Gazprom gefördert; zu seinen Sponsoren gehören auch Medwedjew und Putin. Es ist in Russland kein Mangel an bitteren Folgen der rassistisch vergifteten Atmosphäre bis zu den Auftragsmorden kritischer Journalisten. Der Europarat und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bilden mehr denn je die Adressaten für Klagen und Beschwerden im Interesse der Opfer. Die seit 1988 arbeitende Menschenrechtsorganisation „Memorial“, die kürzlich, zugleich für die ihr verbundenen Vereine, international mit dem Andrei-Sacharow-Preis ausgezeichnet worden ist, agiert unentwegt für die Aufklärung verbrecherischer Repression. 75 Nahezu zeitgleich urteilte ein deutsches Medium, Russland sei - nach dem Irak - das gefährlichste Land für Journalisten. 76 Immerhin berichtete jüngst das Moskauer Zentrum für Information und Analyse „Sowa“ von deutlichen Erfolgen gegen aggressive rechtsextreme Gruppen im Moskauer Gebiet, das Ausmaß der fremdenfeindlichen Gewalt sei jedoch nach wie vor furchterregend. 77 Wer gleichwohl russische Menschen in unzähligen Begegnungen zwischen Leningrad und dem Kaukasus kennen gelernt hat - wie der Verfasser dieser Einleitung - hat gute Gründe, darauf zu vertrauen, dass die große Mehrheit der Zivilgesellschaft diese rassistischen Zirkel ächten und ignorieren wird. Auf den vielfältigen Austausch zwischen den „Zivilgesellschaften“ setzten auch der deutsche und der russische Außenminister in ihrem ge- 74 LM 25.11.2008. 75 FAZ 8.12.2008. 76 Weltspiegel, 1. Programm 7.12.2008. 77 Das Zentrum spricht von einer „Trendwende“. FAZ 28.1.2010. <?page no="30"?> Lothar Albertin 26 meinsamen Aufruf zum EU-Rußland-Gipfel in Rostow am 31.Mai und 1. Juni 2010. 78 Frankreich als sicherheitspolitischer Akteur der Europäischen Union Der Georgienkonflikt im August 2008 forderte die EU unter der französischen Ratspräsidentschaft bedrohlich heraus. Es war Nicolas Sarkozy, der zunächst einen vergeblichen Disput mit Putin anlässlich der Eröffnung der Olympischen Spiele in Peking führte, um dann in seinen Telefonaten und darauf folgenden Gesprächen mit Medwedjew in Moskau am 12. August die Zuspitzung der Lage durch einen Waffenstillstand mit Folgeverhandlungen für die EU und OSZE aufzufangen. Das war sein historisches Verdienst. Der amerikanische Präsident Bush hatte die eigene Konfrontation vermeiden wollen und der EU sowie ihrem Ratspräsidenten die Kraftprobe überlassen. 79 Mit den russischen Bedingungen zu den Sicherheitszonen und dem tatsächlichen Status von Abchasien und Südossetien waren die Amerikaner eben so wenig einverstanden wie die Europäer - aber der Frieden war gerettet. Ein Kenner der internationalen Beziehungen hat die damalige Situation in ihrer dramatischen Intensität fast mit der Kubakrise 1962 zwischen Chruschtschow und Kennedy vergleichen wollen. Auch im Außenministertreffen der 27 Mitgliedstaaten in Nizza am 10. November 2008, das eine weitere Entspannung erreichte, pflichtete die Bundesrepublik voll dem gleicherweise bestimmten wie besonnenen Kurs Frankreichs zu. Es ist keine Frage, dass beide Führungsmächte in der EU an einer Festigung der Partnerschaft mit Russland wesentlich interessiert sind. Sie haben nicht zuletzt deswegen Bekundungen des Beitrittswillens der Ukraine distanziert aufgenommen und müssen ohnehin seit der dortigen Stichwahl am 7. November 2009 die neue prorussische Mehrheit unter Viktor Janukowitsch respektieren - ohne die wachsame Aufmerksamkeit für die innere Entwicklung einzuschränken. 80 Die NATO hat ihm bald darauf gratuliert, die EU hat ihn durch ihren Präsidenten des Europäischen Rates, Van Rompuy, nach Brüssel eingeladen - und ihn dort bereits begrüßen können. Der Partnerschaftsgedanke verlangt, für jede Chance offen zu bleiben. Daran wird auch das Abkommen nichts ändern, mit dem die Russen gegen einen Nachlass beim Gaspreis ihren Flottenstützpunkt auf der Krim bis zum Jahr 2042 behalten dürfen. 78 Guido Westerwelle, Sergej Lawrow: „Die deutsch-russische Modernisierungspartnerschaft“, in: FAZ 31.5.2010, 10. 79 S. Ronald Asmus: „Empêcher le déclenchement d’une nouvelle guerre froide“, LM 27.1.2010. 80 Juri Andruchowytsch: „Bitte beobachten Sie mein Land! “, FAZ 11.8.2010, 29. <?page no="31"?> Einleitung: Die Europäische Union unter globalem Handlungsdruck 27 Das „Europäische Jahr des Kampfes gegen Armut und soziale Ausgrenzung“ Seit die EU sich in den Jahren 2004 und 2007 erweitert hat, ist sie in den eigenen Grenzen mit ethnischen Minderheitsproblemen und rassistischen Tendenzen konfrontiert, die ihren demokratischen und menschenrechtlichen Standards eklatant widersprechen. Immer wieder beobachten deutsche oder französische Korrespondenten mit Betroffenheit die Auseinandersetzungen um die Ungarn in der Slowakei oder die moslemischen Bosniaken, ganz zu schweigen von den fatalen Lebensverhältnissen der Roma. Die soziale Einbindung der sechs Millionen Roma stellt hier wohl die größte Herausforderung der EU dar. In den neuen osteuropäischen Mitgliedstaaten notierte man noch 2008, dass es kaum einen Roma zwischen 16 und 60 Jahren mit festem Arbeitsplatz gab. Die Zahlen bei Jugendlichen ohne Lese- und Schreibfähigkeit stiegen noch an, samt ihrer Abwanderung in die Kriminalität Es mangelte nicht an Alarmsignalen, wie im Jahre 2005, als durch die Weltbank und die Georg-Sores-Stiftung für zehn osteuropäische Länder die „Dekade für die gesellschaftliche Integration der Roma“ ausgerufen wurde und im September 2008 der europäische Roma-Gipfel in Berlin gehalten wurde. Gleichwohl dauert es selbst in den alten edukatorisch potenten Mitgliedstaaten der EU wie Deutschland und Frankreich, bis die öffentliche Meinung zureichend begreift, was versäumt worden ist. Der französische Staat ließ noch im Sommer 2010 zahlreiche Lager der illegal im Lande weilenden Roma räumen, ohne die angekündigten Lösungen mit den Herkunftsländern Bulgarien und Rumänien gefunden zu haben. 81 „Die EU-Staaten suchen Arbeitskräfte“, schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung schon im Dezember 2008, „haben aber die Roma marginalisiert und ihr wirtschaftliches Potential ignoriert“. 82 Der Krieg im historischen Gedächtnis der beiden Völker Das deutsch-französische Bündnis in der europäischen Einigung als Projekt einer Wertegemeinschaft bleibt unauflöslich fundiert durch die leidensvolle Erfahrung der Kriege in beiden Völkern. Ihr Wille zum europäischen Frieden erfüllte sich in der Auflösung der beiden Blöcke und der deutschen Wiedervereinigung. Die Feier des zwanzigjährigen Jubiläums des Sturzes der Berliner Mauer am 9. November wurde ein internationales Fest der führenden Repräsentanten aus Ost und West. Der französische Präsident folgte der Bundeskanzlerin als erster Redner. Aber auch in Paris hatte der Euro- 81 Ein knapper gesamteuropäischer Überblick zur Lage der Roma bei Karl-Peter Schwarz: „Lernen, mit den Roma zu leben“, FAZ 20.8.2010, 3. 82 FAZ 10.12.2008. <?page no="32"?> Lothar Albertin 28 paminister Pierre Lellouche für eine Feier gesorgt, die alle Irritationen durch Mitterrands zeitweiliges Verhalten in der Frage der deutschen Einigung vor 20 Jahren vergessen machen sollte. Die Erinnerung an den Fall der Mauer war ein „überschwängliches Fest der Freiheit“ 83 und befestigte den langjährigen französisch-deutschen Schulterschluss im europäischen Prozess. Den Gipfel der symbolischen Umarmung beider Völker über alle Grenzen ihres nationalhistorischen Bewusstseins hinweg erreichten die Feierlichkeiten zwei Tage danach in Paris im deutsch-französischen Gedenken an das Ende des Ersten Weltkrieges, in Gegenwart deutscher und französischer Oberschüler, der deutsch-französischen Brigade und im Schmuck deutscher Fahnen. Was seit 1920 das militärische Zeremoniell zur Erinnerung an den Sieg von 1918 war, erfuhr eine großartige Umwidmung: „Wir gedenken nicht des Sieges eines Volkes über ein anderes“, sagte der Präsident, „wir stehen hier symbolisch für den Willen von zwei Völkern, die Erinnerung an den Schrecken des Krieges wach zu halten“. 84 Die Bundeskanzlerin dankte für diese unübertreffliche Geste der Versöhnung. Dieser Paradigmenwechsel zur Friedensidee als einziger Alternative aus den Schrecken der Kriege ist europäisch richtungweisend. Er knüpft an die große Geste bilateraler Verbundenheit zwischen Fran ς ois Mitterrand und Helmut Kohl über den Gräbern von Verdun an und bestätigt die spätere Zusammenarbeit ihrer Amtsnachfolger. Deutschland und Frankreich sind längst dabei, ihre Geschichtsbilder und Erinnerungskulturen in der europäischen Dimension abzugleichen. Aus der Katastrophe seit dem „Rückfall in die Barbarei“ (Norbert Elias) und dem unermesslichen Leiden der Opfer ist beiderseits des Rheins die Katharsis derer geworden, die sich in der Pflicht zum Frieden treffen. Es bleiben, wie die individuellen Schicksale und Figuren der von Wolfgang Asholt ausgewählten Romane der jüngsten Jahre spiegeln, Probleme der deutsch-französischen Komplexität, der Sprach- und Wahrnehmungsbarrieren und essentiell der Betroffenheit aus dem „Jahrhundert der Extreme“, insbesondere des Krieges, des Faschismus und der Shoah. So behält die Literaturwissenschaft die Aufgabe, die letzten Fragen an diese Geschichte offen zu halten. Der europäische Frieden begründet sich historisch einzigartig aus dem Krieg und Völkermord. Diese einmalige Verbundenheit zwischen Deutschen und Franzosen zehrt auch, wie Manfred Bock darlegt, von den politischen und gesellschaftlichen Anstrengungen im Ringen um den Frieden in der Zwischenkriegszeit, den kühnen Visionen europäischer Einigung, die vom Rechtsextremismus und Nationalsozialismus verschüttet wurden. Sie baute 83 FAZ 10.11.2009. 84 FAZ 12.11.2009 (Michaela Wiegel). <?page no="33"?> Einleitung: Die Europäische Union unter globalem Handlungsdruck 29 sich - nach dem Grauen des Zweiten Weltkrieges - mit der sukzessiven Rückkehr Deutschlands in den europäischen Frieden wieder auf. Danksagung Ursprünglich waren die hier versammelten Beiträge für ein Symposion in Bad Meinberg gedacht, das aus organisatorischen Gründen nicht hat stattfinden können. Diese Publikation, die es ersetzt, bleibt dem 2000jährigen Jubiläum der Varusschlacht verbunden, die im Jahr 2009 in Lippe und andernorts in zahlreichen kulturellen Veranstaltungen - Ausstellungen, Theateraufführungen, Konzerten und Begegnungen - in Erinnerung gerufen wurde. Thematisiert wurden die leidvolle Schlacht selbst, ihre lange Rezeptionsgeschichte sowie die vielfältigen Facetten nationaler Mythenbildung, zumal in der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und ihren zerstörerischen Kriegen. 85 Zu allem, was die Besucher und Teilnehmer in diesem internationalen Programm sehen, hören und austauschen konnten, blieb letztlich als Quintessenz die beglückende Erfahrung und Einsicht, wie kostbar der europäische Frieden ist. Die besten Garanten dieser historischpolitischen Friedensbotschaft waren in diesem Jubiläumsjahr die großen Gruppen der europäischen Jugend, die sich zu diesen festlichen Veranstaltungen trafen. Es gehört auch längst zu den Selbstverständlichkeiten der Stadt Horn- Bad Meinberg, dass sie in ihren jährlichen Partnerschaftstreffen die junge Generation einbindet. Als ihre Partnerschaft mit der Stadt Villedieu-les- Poêles in der Normandie begann, waren es auf beiden Seiten die Veteranen des letzten Krieges, die sie gründeten. Bereits der nächste Schritt schloss dann die schulische Jugend ein. Die Aufnahme Bad Meinbergs wurde bald nach der Gebietsreform ausdrücklich und festlich mit den französischen Gästen vereinbart. Der Osterweiterung der EU ging dann die Ergänzung der Patenschaft durch die polnische Stadt Bad Kudowa voraus. Bad Meinberg - das alle Autoren dieses Bandes persönlich kennen - war immer ein Ort der Tagungen und Begegnungen mit liberaler Atmosphäre. Es beherbergte in früheren Jahrzehnten die „Meinberger Hochschulwochen“ und ist seit fünf Jahren Standort des „Europäischen Zentrums für Universitäre Studien der Senioren Ostwestfalen-Lippe“. Diese einzigartige Institution, sowie das Staatsbad Meinberg, der Landesverband Lippe als dessen Träger, die Stadt Horn-Bad Meinberg und der Kreis Lippe (dessen Kämmerer Frank Schäfer der Ideengeber und Förderer dieses Tagungsbandes ist) versichern gern und immer wieder, dass sie die Fortsetzung des Diskurses europäischer Fragen in Bad Meinberg befürworten würden. Allen sei ge- 85 Landesverband Lippe (ed.): 2000 Jahre Varusschlacht. Mythos., Konrad Theiss Verlag Stuttgart 2009. <?page no="34"?> Lothar Albertin 30 dankt. Aus dem Detmolder Landesarchiv sei noch ausdrücklich Dr. Andreas Ruppert genannt, der sich bei diesem Vorhaben mit Rat und Hilfe eingebunden hat. Nicht zuletzt gilt der Dank auch Nathalie Crombée (Universität Osnabrück) für die erfahrene Durchsicht der formalen Erfordernisse dieses Bandes. Schließlich schulden wir Wolfgang Asholt (Osnabrück) und Hans Manfred Bock (Kassel) herzlichen Dank für die Aufnahme dieses Bandes in die von ihnen betreute Reihe „édition lendemains“, sowie der Lektorin Kathrin Heyng für die kompetente Bearbeitung im Verlag. <?page no="35"?> Hans Manfred Bock Das virtuelle Europa. Franzosen und Deutsche in europäischen Projekten der Zwischenkriegszeit Seit einigen Jahren haben die Historiker der europäischen Integration begonnen, die Europa-Debatte vor dem Zweiten Weltkrieg wiederzuentdecken, schrieb ein schweizerischer Geschichtswissenschaftler vor rund zehn Jahren. Das Ergebnis sei die Konfrontation mit einer wahren Welle von „Europäertum“ am Ende der 1920er und zu Beginn der 1930er Jahre. Im Gegensatz zur europapolitischen Konstellation nach 1945 sei damals die Europa- Idee nicht allein die Angelegenheit von Technikern, Juristen und Wirtschaftsfachleuten gewesen und auch nicht das Monopol von Staatsmännern: Vielmehr seien es Schriftsteller, Philosophen, Romanciers, Historiker sowie verschiedene Chronisten und Kommentatoren gewesen, die die Diskussion angeführt hätten, von der Einzelaspekte noch heute aktuell seien. 1 Diese Wiederentdeckung der Europa-Debatte der Zwischenkriegszeit, deren Höhepunkt in den Jahren 1924 bis 1931 anzusetzen ist, hat sich seitdem kontinuierlich fortgesetzt und einige ihrer Facetten sollen im Folgenden skizziert werden. 2 Das aktuelle Interesse an der Europa-Diskussion der 1920er Jahre begründet zehn Jahre später ein eminenter französischer Diplomatiehistoriker damit, daß nach 1989/ 90, also nach dem Ende des Kalten Krieges, eine internationale Konstellation entstanden sei, die hinsichtlich Europas mit derjenigen in den 1920er Jahren vergleichbar ist: „Depuis 1990, on a vu réapparaître une carte de l’Europe ressemblant fort à celle qui était issue des traités de 1919-1920, et des problèmes que l’on croyait disparus.“ 3 Wie immer man die aktuelle Bedeutung der Zwischenkriegs-Diskurse über Europa bewerten mag, sie verdienen in jedem Fall ein eingehenderes Interesse. Und 1 Yannik Muet: Le débat européen dans l’entre-deux-guerres, Paris 1997, S. 7. 2 Es werden die beiden Europa-Vereine, die bislang am eingehendsten dargestellt wurden, nicht in den Mittelpunkt der Skizze gestellt, nämlich die Paneuopa-Union und der Verband für Europäische Verständigung. S. dazu Vanessa Conze: Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920-1970), München 2005; Oliver Burgard: Das gemeinsame Europa. Von der politischen Utopie zum außenpolitischen Programm. Meinungsaustausch und Zusammenarbeit pro-europäischer Verbände in Deutschland und Frankreich 1924-1933, Frankfurt/ Main 2000. Anita Ziegerhofer-Prettenthaler: Botschafter Europas: Richard Coudenhove-Kalergi und die Paneuropa-Bewegung in den zwanziger und dreißiger Jahren, Wien, Köln 2004. 3 Jacques Bariéty (dir.): Aristide Briand, la Société des Nations et l’Europe, 1919-1932, Strasbourg 2007, S. 14. <?page no="36"?> Hans Manfred Bock 32 zwar nicht zuletzt deshalb, weil in ihnen unbestreitbar die soziokulturellen Impulse stärker waren als die diplomatisch-administrativen Initiativen und weil damit ein virtuelles Europa beschworen wurde, das nicht mehr rein utopisch ausgelegt, aber auch noch nicht bürokratisch-institutionell festgelegt war. In der neueren Forschung über die Europa-Konzeptionen der Zwischenkriegszeit zeichnen sich zwei überwiegend parallel verlaufende Ansätze ab: Ein diplomatiegeschichtlicher Ansatz, der sich auf den Europa-Plan von Aristide Briand (inklusive seiner Vorbereitung und Wirkung) konzentriert 4 und eine diskursgeschichtliche Konzeptbildung, die vorzugsweise den Blick auf die gesellschaftlichen Entstehungszusammenhänge und medialen Vermittlungswege der Europa-Ideen lenkt. In der Argumentation des diplomatiegeschichtlichen Ansatzes werden primär die gouvernementalen und administrativen Akteure thematisiert. 5 Im diskursgeschichtlichen Ansatz werden die Fragen in erster Linie auf die individuellen oder kollektiven Gesellschaftsakteure und deren Einfluß auf die politische Öffentlichkeit zentriert. 6 Es gibt zwischen diesen beiden Fragestellungen ein Terrain, das nicht völlig neu bearbeitet werden muß, auf dem aber konzeptuell und materiell neue Erkenntnisse ans Licht gebracht worden sind zum Thema Frankreich- Deutschland-Europa in der Zwischenkriegszeit. Auf sie bezieht sich die folgende Skizze, indem sie das Spektrum der soziologischen Aggregationsformen der Träger des Europagedankens zu erweitern versucht. Man hat (in der französischen und der deutschen Forschung) längst begonnen, unterhalb der administrativen und der parteipolitischen Ebene kollektive Akteure kenntlich zu machen, die in der deutschsprachigen Literatur „proeuropäische Verbände“ genannt werden 7 und deren politisch-soziologische Eigenart und Wirkungsweise noch weitergehend bearbeitet werden muß. Mit diesem Begriff werden jedoch keineswegs die europapolitischen Netzwerke erfaßt, die nicht unmittelbar europapolitisch intervenierten, sondern als Generatoren und Diskussionsforen für die praktische Umsetzung der 4 S. dazu auch Antoine Fleury, Lubor Jilek (dir.): Le Plan Briand d’union fédérale européenne, Bern, Berlin 1998. 5 S. dazu die beiden oben genannten Bände. In dem von Jacques Bariéty herausgegebenen Band finden auch mehrere Studien Eingang, die sich auf die Tätigkeit von Europa- Verbänden beziehen. 6 S. dazu Michel Grunewald, Hans Manfred Bock (dir.): Le discours européen dans les revues allemandes (1918-1933). Der Europadiskurs in den deutschen Zeitschriften (1918-1933), Bern, Berlin 1997; Paul Michael Lützeler: Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart, München 1992, S. 272-364; Jean-Luc Chabot: Aux origines intellectuelles de l’Union européenne. L’idée d’Europe unie de 1919 à 1939, Grenoble 2005, S. 134-184. 7 Karl Holl: Europapolitik im Vorfeld der deutschen Regierungspolitik. Zur Tätigkeit proeuropäischer Organisationen in der Weimarer Republik, in: Historische Zeitschrift, 1974, S. 3-93. <?page no="37"?> Franzosen und Deutsche in europäischen Projekten der Zwischenkriegszeit 33 Europa-Idee tätig waren. Gerade in der Zwischenkriegszeit kam diesen Netzwerken eine besondere Bedeutung zu, da die Widerstände und Vorbehalte in der politischen Administration Frankreichs und Deutschlands gegen Internationalisierungstendenzen nachweislich noch viel größer waren als in den Nachkriegs-Jahrzehnten nach 1945. In der politischen Verwaltung, aber auch beim größten Teil der politischen Mandatsträger war das Mißtrauen gegenüber internationalen Konfliktregelungen und übernationalen Formen der Zusammenarbeit noch sehr groß, da man dergleichen Strukturen unter den Verdacht stellte, verdeckte Instrumente des Hegemoniebestrebens der Gegenseite zu sein. Diese vorherrschende Einstellung setzte sich in der politischen Öffentlichkeit fort und bewirkte, daß der auf die Versailler Nachkriegsordnung bezogene Revisionismus in Deutschland mit dem französischen Sicherheitsbedürfnis konfrontiert war, das im Versailler Vertrag den Garanten seiner legitimen Forderungen sah. Im kulturideologischen Diskurs der Universitäten und Schulen setzte sich diese Konfrontation geradlinig fort in der nationalcharakterologischen Konstruktion eines prinzipiell „statischen“ Frankreich und eines unveränderlich gefährlichen „dynamischen“ Deutschland. 8 Die europäischen Protagonisten in beiden Nationen bewegten sich also in einem Raum, der in der politischen Administration, in der politischen Öffentlichkeit und in der öffentlichen Meinung antagonistisch definiert war. 1. Europapolitische Vereinigungen und deutsch-französische Frage 1.1. Deutsche Liga für Menschenrechte (vormals Bund Neues Vaterland)/ Ligue des droits de l’homme Da ein zwingender Ursachenzusammenhang zwischen der Lösung des deutsch-französischen Antagonismus und den Europaprojekten der Jahre 1924 bis 1931 bestand, vertraten alle europäischen Verbände beide Ziele gleichermaßen, aber mit unterschiedlicher Akzentsetzung auf die eine oder andere Aufgabe. Bei den pazifistischen Vereinigungen, die dem Ziel der Friedenssicherung oberste Priorität einräumten, gab es eine deutliche Neigung, von einem effektiven kollektiven Sicherheitssystem auch die Auflösung der deutsch-französischen Gegensätze abhängig zu machen. In diesem politischen Milieu und Programmbereich wurden die frühesten Versuche zur Wiederaufnahme des französisch-deutschen Dialogs schon in den frühen 1920er Jahren unternommen. So trat beispielsweise der pazifistische 8 Hans Manfred Bock: Tradition und Topik des populären Frankreich-Klischees in Deutschland von 1925 bis 1955, in: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte, Bd. 14 (1987), S. 475-508. <?page no="38"?> Hans Manfred Bock 34 Bund Neues Vaterland (BNV), der sich 1922 in Deutsche Liga für Menschenrechte (DLM) umbenannte, ab 1921 mit der Ligue des droits de l’homme (LDH) in Frankreich in aktive Beziehungen ein und übernahm eine Schrittmacherrolle für die Wiederaufnahme des gesellschaftlichen Dialogs zwischen beiden Nationen. 9 Der DLM und ihrer Vorläuferorganisation gehörten überwiegend hoch qualifizierte Bürgerliche und Aristokraten an, die bestrebt waren, ihr soziales Kapital für die Friedenssicherung und die deutsch-französische Verständigung einzubringen. Sie vertrat in der ersten Hälfte der Weimarer Republik unter dem programmatischen Begriff „Republik Europa“ 10 eine Konzeption der „Republikanisierung und Vereinheitlichung Europas“. 11 Die Hebel für den Aufstieg der „Republik Europa“ waren gemäß dem Vorsitzenden der DLM: die Beseitigung der restlichen Relikte der Monarchie und die Verwirklichung republikanischer Verfassungssysteme sowie der vollständige Abbau der Zollmauern und der Hemmnisse im Verkehrsbzw. Währungswesen, im Handels- und Niederlassungsrecht. 12 Eine ausgearbeitete Verfassung der „Vereinigten Staaten von Europa“ werde dann von selbst kommen. Eine Konferenz des Internationalen Verbandes der Ligen für Menschenrechte in Brüssel machte im Juni 1926 eben dieses Thema zum Diskussionsgegenstand und französische (Alphonse Aulard) und deutsche Repräsentanten (Robert Kuczynski) hielten die Leitreferate. Die Sprecher beider Menschrechts-Ligen sahen sich in dieser Frage ebenso bestätigt durch die Locarno-Verträge vom Oktober 1925 wie in ihrer kritischen Befürwortung des Völkerbundes, der nach gemeinsamer Ansicht von einem Instrument der Regierungen zu einem Vertretungsorgan der Völker selbst zu entwickeln sei. Die erste gemeinsame Adresse beider Ligen („Für eine Verständigung mit Frankreich“) wurde im Januar 1922 in der Presse lanciert. 13 Die vordringliche Aufgabe der Wiederanknüpfung von Gesellschaftskontakten zwischen Deutschland und Frankreich wurde von der LDH und der DLM in Angriff genommen durch (teilweise spektakuläre) Redneraustausche und durch den Austausch von Schülern zwischen beiden Ländern, in dem von deutscher Seite bekannte Reformpädagogen (z.B. Siegfried Kawerau) eine führende Rolle spielten. Die DLM stand parteipolitisch den Organisationen der Weimarer Koalition (SPD, Zentrum, Linksliberale) nahe und hatte in der Regel nicht mehr als rund 200 Mitglieder, die allerdings aufgrund ihrer hohen Sachkompetenz und publizistischen Artikulationsfähigkeit in der Öf- 9 Hans Manfred Bock: Heimatlose Republikaner in der Weimarer Republik. Die Deutsche Liga für Menschenrechte in den deutsch-französischen Beziehungen, in: Lendemains. Etudes comparées sur la France, 1998, Nr. 90, S. 68-102. 10 Otto Lehmann-Rußbüldt: Republik Europa, Berlin-Hessenwinkel 1925. 11 Ebenda, S. 7. 12 Otto Lehmann-Rußbüldt: Die europäische Revolution, in: Die Menschenrechte vom 16.6.1926. 13 S. Kurt Grossmann: Ossietzky. Ein deutscher Patriot, Frankfurt/ Main 1973, S. 335f. <?page no="39"?> Franzosen und Deutsche in europäischen Projekten der Zwischenkriegszeit 35 fentlichkeit sehr präsent waren. Die DLM-Repräsentanten hatten im pazifistischen Lager (in dem sie nur eine von mehr als zwei Dutzend Organisationen waren) wegen ihrer Frankreichorientierung eine besondere Affinität zum Westdeutschen Landesverband in der Deutschen Friedensgesellschaft (DFG), aber keineswegs ungeteilte Zustimmung. Von den politischen Formationen der bürgerlichen Mitte und der Rechten wurde die DLM aufgrund ihrer öffentlichkeitswirksamen Agitation und Aufklärungsarbeit gegen Militarismus und Monarchismus heftig kritisiert und als unsicherer Kantonist im Kampf gegen Versailles denunziert. Ihre Vertreter standen 1933 dann zuoberst auf den Ausbürgerungslisten der Nationalsozialisten. Als Beiträge der DLM zur Konkretisierung der deutsch-französischen Verständigung und der Europa-Idee kann vor allem festgehalten werden, daß durch ihre Aktivitäten der bilaterale Schüleraustausch auf die Wege gebracht wurde, der in der späten Weimarer Republik im Rahmen der Deutsch-Französischen Gesellschaft (DFG) weitergeführt und ausgeweitet wurde, und daß in ihren Reihen die Niederlegung der Zoll-, Handels- und Niederlassungs-Hemmnisse zwischen den europäischen Ländern eingehend erörtert wurde, 14 die (unter anderen politischen Prämissen) auch das Ziel des Europäischen Zollvereins (EZV) war. 1.2. Deutsch-Französisches Studienkomitee (Mayrisch-Komitee)/ Comité franco-allemand d’information et de documentation Als 1925 die DLM unter dem Eindruck des Locarno-Vertrages und der Entblockierung der deutsch-französischen Beziehungen ihre transnationale Arbeit vorzugsweise auf Polen zu orientieren begann, traten andere Vereinigungen in den Vordergrund der miteinander verbundenen bilateralen und europäischen Verständigungsarbeit. Von ihnen standen das Deutsch-Französische Studienkomitee (Mayrisch-Komitee) und der Europäische Kulturbund im schärfsten Gegensatz zu dem von der DLM vertretenen Programm der „Republikanisierung und Vereinheitlichung Europas“. Im Deutsch-Französischen Studienkomitee kamen auf Initiative des luxemburgischen Stahlindustriellen Emile Mayrisch Spitzenpräsentanten der Wirtschaft, Politik (außer den aktuellen Amts- und Mandatsinhabern) und Kultur aus beiden Nationen zusammen, um durch Versachlichung der bilateralen Kommunikation zur Entspannung der deutsch-französischen Beziehungen beizutragen. Das Mayrisch-Komitee wurde seit 1925 vorbereitet und im Mai 1926 in Luxemburg konstituiert. Es flankierte die Internationale Rohstahlgemeinschaft, die auf Initiative Mayrischs durch Montanindustrielle aus Frankreich, Deutschland, Belgien, den Niederlanden und Luxemburg 1926 errichtet 14 Vgl. dazu auch die von Kuczynski herausgegebene „Deutsch-französische Wirtschaftskorrespondenz“, in der für die bilaterale Wirtschaftsverflechtung geworben wurde. <?page no="40"?> Hans Manfred Bock 36 wurde. Nur vordergründig kann dies Kartell als Präfiguration der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl angesehen werden, da die Abschaffung der Zölle von ihm nicht vertreten und von Emile Mayrisch sogar abgelehnt wurde. 15 Es gab also keine Unterordnung des Deutsch-Französischen Studienkomitees unter das Internationale Rohstahlkartell, wohl aber eine von diesem Kartell generierte Legitimation seines Einwirkens auf die gesellschaftlichen Eliten in Frankreich und Deutschland. Deren Einklang war nach Mayrischs Verständnis (und mehr noch in der Auffassung seiner literarisch im französischen NRF-Kreis tätigen Ehefrau Aline Mayrisch-de Saint-Hubert 16 ) die Basisvoraussetzung für die Einigung Europas. In den Aktivitäten des Mayrisch-Komitees wurden die direkte Begegnung der Elitenrepräsentanten zwischen Paris und Berlin durch die Gründung von Büros in beiden Hauptstädten gefördert, die Versachlichung der Presseberichterstattung über die andere Nation angestrebt und ansatzweise auch die Intellektuellen- und Studentenbegegnung erleichtert. 17 In der sozialen Zusammensetzung der Komitee-Mitglieder zeichneten sich die unterschiedlichen Elitenrekrutierungsmuster beider Nationen ab: In den beiden nationalen Gruppen, die maximal je 40 Mitglieder umfaßten, gab es auf der französischen Seite eine besonders starke Repräsentanz der Textil- und Nahrungsmittel-Industrie, auf der deutschen Seite eine Präponderanz der Elektroindustrie; 1931 waren auf der französischen Seite 8 von 31 Mitgliedern Aristokraten, auf der deutschen Seite hingegen 11 von 31; die Zahl der Kulturvertreter war in der französischen Komitee-Gruppe konstant größer als in der deutschen und unter ihnen befanden sich mehrere freischaffende Intellektuelle auf der einen und ausschließlich Professoren auf der anderen Seite. 18 Während die Internationale Rohstahlgemeinschaft 1931 zu existieren aufhörte, stand auch das Deutsch-Französische Studienkomitee unter dem Druck der externen politischen Konflikte ab 1931 und seiner internen Spannungen, existierte jedoch mit reduzierter Initiativkraft weiter bis an die Schwelle des Zweiten Weltkrieges. Seine anfängliche Zielbestimmung, die auf die Konfliktlösung durch bessere Kenntnis der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen 15 S. dazu jetzt Charles Barthel: Bras de fer. Les maîtres de forges luxembourgeois, entre les débuts difficiles de l’UEBL et le Locarno sidérurgique des cartels internationaux 1918-1929, Saint-Paul Luxembourg 2006, S. 530. S. auch Hans Manfred Bock: Emile Mayrisch und die Anfänge des Deutsch-Französischen Studienkomitees, in: Galerie. Revue culturelle et pédagogique, Luxemburg, 1992, Nr. 4, S. 560-585. 16 Cornel Meder: Aline Mayrisch (1874-1947). Approches, Luxembourg 1997. 17 Dazu umfassend Guido Müller: Deutsch-französische Gesellschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg. Das Deutsch-Französische Studienkomitee und der Europäische Kulturbund, München 2005. 18 Hans Manfred Bock: Kulturelle Eliten in den deutsch-französischen Gesellschaftsbeziehungen der Zwischenkriegszeit, in: Rainer Hudemann, Georges-Henri Soutou (dir.): Eliten in Deutschland und Frankreich im 19. und 20. Jahrhundert, Strukturen und Beziehungen, München 1994, S. 73-91. <?page no="41"?> Franzosen und Deutsche in europäischen Projekten der Zwischenkriegszeit 37 Eliten beider Nationen untereinander und durch verbesserte Information übereinander in der Öffentlichkeit beider Länder gerichtet war, schrumpfte im „Dritten Reich“ schließlich zur paradiplomatischen Informationssammlung. Seine mehr interessenpolitisch als parteipolitisch motivierten Mitglieder fanden sich in einem rechtsliberalen oder konservativen Konsens, während sein eigentlicher Architekt, der französische Intellektuelle Pierre Viénot, reformsozialistischer Abgeordneter und Regierungsmitglied im Volksfrontkabinett wurde. 19 Im Studienkomitee war im Mai 1930 auf seiner Heidelberger Tagung das Thema „Vereinigte Staaten von Europa“ verhandelt worden. In dieser Diskussion, die auch seitens der Regierungen beider Länder mit Interesse verfolgt wurde, standen Fragen der wechselseitig vorteilhaften Wirtschaftsverflechtung im Vordergrund, 20 nachdem die Europa- Debatte in den Jahren zuvor (besonders von den deutschen Intellektuellen) politisch-kulturell geführt worden war um die Konzeption eines „Kosmopolitismus“, der als eine Position jenseits von pazifistischem Internationalismus und herkömmlichem Nationalismus definiert wurde. 21 1.3. Europäischer Kulturbund/ Fédération internationale des Unions Intellectuelles Auf der Heidelberger Tagung des Deutsch-Französischen Studienkomitees war auch der Europäische Kulturbund vertreten, der von dem Österreicher Karl Anton Prinz Rohan ins Leben gerufen worden war, ab 1924 Sektionen in mehreren europäischen Ländern gegründet hatte und bis 1934 existierte. Auch diese Vereinigung umfaßte überwiegend Aristokraten, Intellektuelle und Wirtschaftsführer (von denen einige auch Mitglieder des Deutsch-Französischen Studienkomitees waren). Die politischen Ordnungsvorstellungen des österreichischen Aristokraten waren antiliberal, antisozialistisch und anfangs jungkonservativ. Er stand im Banne des Denkens der „konservativen Revolution“ und propagierte ein neoaristokratisches „Junges Europa“ und die Zusammenführung der soziokulturellen Eliten der europäischen Nationen, unter denen den Deutschen und den Franzosen die entscheidende Bedeutung zukam. Die französische Sektion des Europäischen Kulturbundes (Fédération internationale des Unions Intellectuelles) wurde 1924, die deutsche 1926 gegründet. In der Praxis dieser Vereinigung, die wie das Mayrisch- Komitee ihre Mitglieder durch Kooptation rekrutierte, stand die Kontaktförderung zwischen namhaften nationalen Kulturrepräsentanten, die Organisierung jährlicher, themenzentrierter Kongresse in wechselnden europäi- 19 Gaby Sonnabend: Pierre Viénot (1897-1944). Ein Intellektueller in der Politik, München 2005. 20 Guido Müller, a.a.O., S. 212ff. 21 Dazu Hans Manfred Bock: Topographie deutscher Kulturvertretung im Paris des 20. Jahrhunderts, Tübingen 2010, S. 97-120. <?page no="42"?> Hans Manfred Bock 38 schen Großstädten und die Herausgabe einer anspruchsvollen „Europäischen Revue“ im Mittelpunkt. 22 Die deutschsprachig mit einer Auflage von zeitweilig mehreren Tausend Exemplaren erscheinende „Europäische Revue“ war ein vielgelesenes Instrument der Europa-Agitation Rohans und ein bis 1932 pluralistisch angelegtes Diskussionsforum für die großen zeitgenössischen Zivilisationsthemen, die auch den Rahmen der Jahreskongresse des Europäischen Kulturbundes vorgaben. 23 So hieß z.B. das Generalthema des Wiener Kongresses (1926) „Die Rolle des Geistesmenschen im Aufbau Europas“, in Prag (1928) wurde verhandelt „Elemente der modernen Zivilisation“, in Zürich (1930) „Die Gefährdung der europäischen Kultur“. In der Phase von 1925 bis 1932 kamen in der Zeitschrift des Europäischen Kulturbundes politische Positionen vom französischen radicalisme über liberale und jungkonservative Repräsentanten aus Deutschland bis zum italienischen Faschismus zu Wort. Nachdem Prinz Rohan sich der Argumentation der Faschisten angeschlossen hatte, nahm die redaktionspolitische Linie der Zeitschrift eine entsprechende Wendung und der letzte Kongreß des Europäischen Kulturbundes in Budapest (1934) debattierte über „Europa zwischen Tradition und Revolution“. Rückblickend faßte Rohan die Zielsetzung der Vereinigung, die sich als Gegenbewegung zur Paneuropäischen Union des Grafen Coudenhove-Kalergi verstand, zusammen: „Auf der Ebene hoher Elite sollte die Bildung einer geistig-gesellschaftlichen Oberschicht als Träger europäischen Bewußtseins gefördert werden.“ 24 Die Verbindungen des Europäischen Kulturbundes zum Deutsch-Französischen Studienkomitee lagen gemäß den Zielsetzungen, der dominanten politischen Orientierung vor 1932 und dem soziologischen Profil beider Vereinigungen nahe. Sie wurden jedoch vorwiegend über individuelle Doppelzugehörigkeit und nicht über organisatorische Verflechtung hergestellt. Das historische Vermächtnis und die gegenwartsrelevante Bedeutung dieser wirtschaftsbürgerlich-neoaristokratischen Vereinungen können darin gesehen werden, daß in ihren Überlegungen die Frage des Verhältnisses zwischen nationaler und europäischer Identität mit besonderem Nachdruck gestellt wurde, und daß von ihnen zugleich den Problemen moderner Kulturentwicklung mitsamt ihren Rückwirkungen auf das sozioökonomische und soziokulturelle Leben hohe Aufmerksamkeit zugewandt wurde. 22 Hans Manfred Bock: Das „Junge Europa“, das „Andere Europa“ und das „Europa der Weißen Rasse“. Diskurstypen in der Europäischen Revue 1925 bis 1939, in: Michel Grunewald (dir.): Le discours européen dans les revues allemandes (1933-1939). Der Europadiskurs in den deutschen Zeitschriften (1933-1939), Bern, Berlin 1999, S. 311-352. 23 Zu dessen Kongressen eingehend Guido Müller, a.a.O., S. 349ff. 24 Karl Anton Rohan: Heimat Europa, Erinnerungen und Erfahrungen, Düsseldorf 1954, S. 56. <?page no="43"?> Franzosen und Deutsche in europäischen Projekten der Zwischenkriegszeit 39 1.4. Deutsch-Französische Gesellschaft und Ligue d’études germaniques Einen klaren Gegensatz gab es im Spektrum der europapolitischen Vereinigungen der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre in Deutschland zwischen dem jungkonservativ-geistesaristokratischen Deutsch-Französischen Studienkomitee sowie dem Europäischen Kulturbund auf der einen Seite und den demokratisch-bildungsbürgerlichen Vereinen Deutsch-Französische Gesellschaft, Europäischer Zollverein sowie (partiell) der Paneuropa-Union auf der anderen Seite. Diese ideologisch und soziologisch begründeten Gegensätze wurden jedoch mehr durch gegenseitige Ausgrenzung und Ignorierung als durch offene Polemik ausgetragen. Die demokratisch-bildungsbürgerlichen Europa-Vereine standen untereinander in einem deutlichen Kommunikationszusammenhang. Sie unterschieden sich von den kooptativen Organisationen durch ihr Bemühen um einen größeren Mitgliederbestand und um stärkere Breitenwirksamkeit. Sie unterschieden sich von Europagruppierungen wie dem 1926 in Genf gegründeten Bund für Europäische Verständigung 25 durch ihre größere Unabhängigkeit von der politischadministrativen und parlamentarischen Handlungsebene. Die Anfang 1928 konstituierte Deutsch-Französische Gesellschaft war eine bilateral angelegte Vereinigung, die jedoch ihre übergeordnete Legitimität aus ihrem europäischen Auftrag ableitete. 26 In ihren Statuten hieß es: Sie wolle „das Verständnis für Frankreich in Deutschland heben und vertiefen. Durch Bestandaufnahme der französischen Geistesgüter, durch tiefgreifende Erkenntnis unserer Nachbarn will sie an der Entspannung zwischen den Ländern mitwirken und unter Wahrung des eigenen Staatsgefühls der beiden Nationen zwischen Frankreich und Deutschland Brücken schlagen. Ihr Ziel ist, Deutsche und Franzosen aus allen Kreisen und Gebieten zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammenzuschließen, durch den Gedankenaustausch dieser schöpferischen Völker des Okzidents Europa zu dienen.“ Die Organisationsgründung ging aus dem beharrlichen Bemühen des Kunsthistorikers Otto Grautoff hervor, der schon vor dem Weltkrieg eine kulturelle Mittlerrolle eingenommen und im Weltkrieg Beziehungen zum Auswärtigen Amt unterhalten hatte. Über die Kontaktaufnahme zu französischen Diplomaten und Germa- 25 S. dazu die Literaturangaben in Anm. 2. 26 S. Ina Belitz: Befreundung mit dem Fremden. Die Deutsch-Französische Gesellschaft in den deutsch-französischen Kultur- und Gesellschaftsbeziehungen der Locarno-Ära. Programme und Protagonisten der transnationalen Verständigung zwischen Pragmatismus und Idealismus, Frankfurt/ Main 1997; s. auch Hans Manfred Bock: Otto Grautoff und die Berliner Deutsch-Französische Gesellschaft, in: Ders. (Hg.): Französische Kultur im Berlin der Weimarer Republik. Kultureller Austausch und diplomatische Beziehungen, Tübingen 2005, S. 69-100; ders.: Weimarer Intellektuelle und das Projekt deutsch-französischer Gesellschaftsverflechtung, in: Rüdiger Hohls, Iris Schröder, Hannes Siegrist (Hg.): Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Wiesbaden 2005, S. 422-427. <?page no="44"?> Hans Manfred Bock 40 nisten hatte er seit 1925 das Projekt verfolgt, die Kommunikation zwischen Deutschen und Franzosen vermittels einer doppelten Zeitschriftengründung zu verbessern. 27 Da die direkte oder indirekte Hilfe des Außenministeriums für die Realisierung dieses Vorhabens nur sehr begrenzt war, warb er ab 1927 um die Unterstützung von Industrie und Banken, vor allem aber durch das Bildungsbürgertum. Die DFG war anfänglich als Abonnentenstamm und Finanzierungsgrundlage für die „Deutsch-Französische Rundschau“ konzipiert, entwickelte sich jedoch in der Locarno-Ära zu einer unternehmungsfreudigen Verständigungsorganisation. Sie wirkte nicht allein mit der Zeitschrift, die von namhaften Schriftstellern und Wissenschaftlern beider Länder herausgegeben wurde, in das Bürgertum hinein, sondern unternahm Reisen, Vortrags- und Kulturveranstaltungen, öffentliche Befragungen über die Verbesserungsmöglichkeiten des deutsch-französischen Dialogs und förderte den Schüler- und Studentenaustausch, der von der DLM in Gang gebracht worden war. 28 Sie hatte ihr Zentrum in Berlin, vermochte jedoch, Ortsgruppen in Stuttgart, Frankfurt/ Main, Breslau, Mannheim, Nürnberg, Köln und Düsseldorf aufzubauen. Die Summe ihrer belegten individuellen und korporativen Mitglieder betrug rund 2.700. Die DFG richtete ihre bilateralen und europäischen Verständigungsbemühungen also nicht auf einflußstarke Einzelpersonen (wie dies bei den kooptativen Vereinigungen der Fall war), sondern auf die lehrenden, verwaltenden, rechtsprechenden, publizistischen und unternehmerischen Multiplikatorengruppen im Reich. Neben Berlin waren die Ortsgruppen in Frankfurt/ Main und in Stuttgart die stärksten Zweigorganisationen, die entsprechend selbständig agierten. In Köln und Düsseldorf blieben die DFG-Sprecher weitgehend ohne Rekrutierungserfolge. In der Regel spielten außerhalb der Reichshauptstadt die Oberbürgermeister aus dem politischen Spektrum der Weimarer Koalition (SPD, Zentrum, DDP) eine wichtige Rolle für die Konstituierung von DFG- Ortsgruppen; so z.B. Ludwig Landmann (DDP) in Frankfurt und Konrad Adenauer (Zentrum) in Köln. Die ideologische Grundierung und die praktischen Gestaltungen der Verständigungsarbeit in den einzelnen Ortsgruppen folgten nicht einem einheitlichen Muster. Die Berliner DFG schloß sich beispielsweise weitgehend der jungkonservativen Verständigungskonzeption des Mayrisch-Komitee-Mitglieds Arnold Bergsträsser an und pflegte einen mondänen Auftritt in der Öffentlichkeit. Die Frankfurter DFG hingegen entwickelte unter dem Einfluß des Soziologen Gottfried Salomon eine Begegnungsstrategie mit Franzosen, die auf die Kontaktnahme zwischen Berufsgruppen zielte, und sie gab sich ein liberal-soziales und intellektuelles 27 Dazu Béatrice Pellissier: Un dialogue franco-allemand de l’entre-deux-guerres - la Deutsch-Französische Rundschau et la Revue d’Allemagne, Diss. Paris IV, 1991/ 1992, 2 Bde. 28 Dazu detailliert Dieter Tiemann: Deutsch-französische Jugendbeziehungen der Zwischenkrriegszeit, Bonn 1989, S. 165-203. <?page no="45"?> Franzosen und Deutsche in europäischen Projekten der Zwischenkriegszeit 41 Profil. Die Beziehungen zwischen der DFG und dem Deutsch-Französischen Studienkomitee wurden nach anfänglicher punktueller Unterstützung der demokratischen Verständigungsorganisation durch die jungkonservative Elitenvereinigung aufgekündigt. Als Fundament ihrer beabsichtigten Breitenwirksamkeit waren die bilateralen Arbeitsbeziehungen der DFG zur französischen Ligue d’Etudes Germaniques (L.E.G.) von hervorgehobener Bedeutung. Diese ab 1928 in Frankreich wirkende Parallel-Vereinigung, die von den DFG-Sprechern regelmäßig als „Schwesterorganisation“ bezeichnet wurde, hatte ihre Ursprünge in einer Interessenvereinigung französischer Deutschlehrer. Sie umfaßte mit großer Wahrscheinlichkeit insgesamt mehr Mitglieder als die DFG und existierte bis in die zweite Hälfte der 1930er Jahre. 29 Sie organisierte - wie die deutsche Vereinigung - Reisen ins Nachbarland, lokale Vorträge in den Universitätsstädten außerhalb von Paris und sie gab ein eigenes Periodikum heraus („Se connaître“ 30 ), in dem eine politisch um Neutralität bemühte Einstellung zu Deutschland und die Selbstverpflichtung auf eingehendes Interesse an den deutschen Entwicklungen sowie an den französisch-deutschen Beziehungen propagiert wurden. Die L.E.G. stand offensichtlich mitten innerhalb des republikanischen Konsenses der Dritten Republik und damit beispielsweise der Ligue des droits de l’homme viel näher als die DFG der deutschen Menschenrechts-Liga DLM. Im Rahmen der deutsch-französischen Doppelstruktur DFG/ L.E.G. wurden vor allem Praktiken sinnvoller bilateraler Begegnung diskutiert, weniger jedoch deren europapolitische Implikationen. In einer aufschlußreichen Kontroverse zwischen dem Vordenker der deutschen Kulturkunde-Bewegung Ernst Robert Curtius und einem der Sprecher der L.E.G. prallten aber die gegensätzlichen Prinzipien der Verständigungsarbeit gelegentlich aufeinander, die bei dem Deutschen von der Annahme unveränderlicher Andersartigkeit, bei dem Franzosen von der Vorstellung möglicher Gleichartigkeit der Interessen und Sinndeutungen diktiert waren. 31 Wenn auch nicht alle wesentlichen Fragen der bilateralen und europäischen Einigung in der DFG/ L.E.G. artikuliert wurden, so war die Lösung des deutsch-französischen Problems als Voraussetzung europäischer Gemeinschaftsstrukturen doch das übereinstimmende Credo. Auf seiner Basis wurden erstmals in der Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen Formen der transnationalen Begegnung und des interkulturellen Lernens entwickelt und erprobt, die nicht mehr allein auf die nationalen Spitzenvertreter zugeschnitten waren, sondern die 29 S. dazu Hans Manfred Bock: Les associations de germanistes français. L’exemple de la Ligue d’Etudes Germaniques, in: Michel Espagne, Michael Werner (dir.): Les études germaniques en France (1900-1970), Paris 1994, S. 267-285. 30 Dies Verbandsorgan erschien unabhängig von der „Revue d’Allemagne“. 31 Vgl. Hans Manfred Bock: Kulturerelle Wegbereiter politischer Konfliktlösung. Mittler zwischen Deutschland und Frankreich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Tübingen 2005, S. 116f. <?page no="46"?> Hans Manfred Bock 42 Interaktion zwischen den breiteren bildungsbürgerlichen Multiplikatoren ermöglichen sollten. 1.5. Europäischer Zollverein/ Union Douanière Européenne Während die L.E.G. in Frankreich gelegentlich gemeinsame Veranstaltungen mit pazifistischen Gruppierungen durchführte, gab es in der DFG eine enge Anbindung an den Europäischen Zollverein (EZV). Sie wurde vor allem vom Generalsekretär der DFG, dem engen Gefolgsmann Gustav Stresemanns Edgar Stern-Rubarth hergestellt. 32 Der Sproß einer Industriellenfamilie und Romanist trat nach dem Weltkrieg eine journalistische Karriere an, die ihn als außenpolitischen Kommentator mit den diplomatischen Repräsentanten in Verbindung brachte und seine Loyalität zu Stresemann festigte. Er war befreundet mit Aristide Briands Vertrauensmann in deutschen Fragen Oswalt Hesnard und verstand sich ähnlich wie sein französischer Freund als Berater seiner politischen Leitgestalt. In den ersten Nachkriegsjahren beteiligte er sich führend am Aufbau einer internationalen Vereinigung, die sich zum Ziel setzte, die gemeinsame Handlungsfähigkeit und das Zusammengehörigkeitsbewußtsein Europas über den Weg der Niederlegung der Zollgrenzen und der Schaffung eines „Großwirtschaftsraums“ herbeizuführen. Dieser publizistische Agitationskern trat im März 1925 als Organisation an die Öffentlichkeit unter dem Namen Europäischer Zollverein/ Union Douanière Européenne mit einem „Appell an alle Europäer“. 1925 übernahm der EZV- Mitbegründer die Leitung der halbamtlichen Nachrichtenagentur WTB und war bis Anfang der dreißiger Jahre bei fast allen Schlüsselereignissen der Locarno-Politik teilnehmender Beobachter. Mit seinem Zollunions-Projekt hatte er die implizite Billigung Stresemanns und die explizite Ermutigung Briands. Da die französische Sektion der EZV/ UDE die größte Landesorganisation dieser Bewegung war, 33 standen ihre deutschen Repräsentanten im fortgesetzten Austausch mit ihnen und eine ganze Reihe der französischen Vortragsredner der DFG kamen aufgrund dieser Kontakte nach Deutschland. Die deutschen EZV-Aktivisten, deren Zahl allem Anschein nach nicht über 100 hinausreichte, nahmen für sich in Anspruch, stärker als die französischen UDE-Vertreter die theoretischen Aspekte des Projekts zu bearbeiten. Deutlich zeichnete sich in ihrer Definition des „Europäertums“ die Idee ab, 32 Dazu die bisher einzige Studie Hans Manfred Bock: Stresemanns publizistischer Prätorianer. Zum frankreich- und europapolitschen Wirken von Edgar Stern-Rubarth in der Weimarer Republik, in: Ingo Kolboom, Andreas Ruppert (Hg.): Zeit-Geschichten aus Deutschland, Frankreich, Europa und der Welt. Lothar Albertin zu Ehren, Lage 2008, S. 67-88. 33 Zur UDE s. Laurence Badel: Les promoteurs français d’une union économique et douanière de l’Europe dans l’entre-deux-guerres, in: Antoine Fleury, Lubor Jilek (dir.), a.a.O., S. 17-29 und Jean-Luc Chabot, a.a.O., S. 78-86. <?page no="47"?> Franzosen und Deutsche in europäischen Projekten der Zwischenkriegszeit 43 daß der Weg der wirtschaftlichen Integration der „einleuchtendste und unverfänglichste Weg des Europäismus“ 34 sei, aber nur eine Zwischenstation zum Ziel des neuen „Vaterlandes“ Europa darstellte. Die EZV gab zeitweilig das Periodikum „Europa-Wirtschaft. Monatshefte für den wirtschaftlichen Aufbau Europas“ heraus, hatte jedoch mit der „Deutsch-Französischen Rundschau“ eine viel weiter in die Öffentlichkeit reichende Plattform. Dort wurde detailliert über die französische Konjunkturentwicklung und die deutsch-französischen Wirtschaftsbeziehungen berichtet und damit bei den gewerblich-unternehmerischen DFG-Mitgliedern für die europäische Wirtschaftsverflechtung geworben. Der EZV trat in der Öffentlichkeit öfters auch gemeinsam mit der Paneuropa-Union auf, war dieser jedoch quantitativ unterlegen. Sie war prinzipiell gegen deren Ausgrenzung von England und Rußland aus dem europäischen Zusammenschluß und grenzte sich auch gegen die „Mitteleuropa“-Konzeption aus der Tradition Friedrich Naumanns entschieden ab. Die Verdienste und Grenzen der Paneuropa-Bewegung wog Stern-Rubarth 1928 so ab: Für die „Popularität des Verständigungsgedankens“ habe die Bewegung des Grafen Coudenhove auch in Frankreich durch „eine gewisse Romantik, die den Vorkämpfer der Paneuropabewegung umstrahlt und von ihm propagandistisch geschickt ausgenutzt wird, Erhebliches getan.“ 35 Er hielt sie allerdings für eine „umstrittene“ und „etwas doktrinär aufgezogene Konstruktion“, die in einem partiellen Gegensatz stehe zu den übrigen aus der Gesellschaft Deutschlands und Frankreichs entstandenen Verständigungsorganisationen, da von Paneuropa der Europa-Gedanke eher in die Bevölkerung hineingetragen als aus ihren vitalen Interessen heraus entwickelt werde. Die öffentlichkeitswirksamen Aktionen und Appelle Coudenhove-Kalergis fanden unter diesen Umständen in der „Deutsch-Französischen Rundschau“ zwar kein direktes Echo, aber doch Anerkennung. 2. Europapolitische Netzwerke und die deutsch-französische Frage Bevor der deutsche Mitbegründer des EZV (wie nach 1933 alle anderen Sprecher der Deutsch-Französischen Gesellschaft) 1936 zur Emigration gezwungen wurde, zeichnete er Anfang 1933 ein zutreffendes Bild des virtuellen Europas, das im vorausgegangenen Dezennium zu Tage getreten war: „Entscheidend ist vielmehr eines: daß man heute in Frankreich wie in Deutschland und mit noch größerer Selbstverständlichkeit außerhalb der 34 So ein Artikel über „Europäismus“ von Stern-Rubarth in der EVZ/ UDE-Presse, zitiert in Dorothee Backhaus: Die Europabewegung in der Politik nach dem Ersten Weltkrieg und ihr Widerhall in der Presse von 1918 bis 1933, Diss. München 1951, S. 198f. 35 Edgar Stern-Rubarth: Die Verständigungsorganisationen in Frankreich, in: Deutsch- Französische Rundschau, 1928, S. 321. <?page no="48"?> Hans Manfred Bock 44 beiderseitigen Landesgrenzen den Begriff Europa als eine Notwendigkeit erkannt hat, und daß dieser Begriff Europa für keinen denkenden Menschen anders gestaltungs- und lebensfähig erscheint, als über einen deutsch-französischen Zusammenschluß als die erste und entscheidende Etappe. Dieser Begriff Europa aber, sei er politisch gefaßt und also in seiner Wirklichkeit noch ferne liegend, sei er wirtschaftlich gesehen und also, im Gebiet der realen Notwendigkeit wurzelnd, eine Forderung der Gegenwart und der nächsten Jahre, sei er schließlich ein kultureller, in der geistigen und damit auch politisch-wirtschaftlichen Vorherrschaft der weißen Rasse wurzelnder, wird uns aufgezwungen.“ 36 Kennzeichnend für das virtuelle Europa der Zwischenkriegszeit war in dieser Formulierung, daß seine Kombattanten sich den europäischen Zusammenschluß nicht anders vorstellen mochten als in einer sukzessiven oder simultanen Verbindung der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Integrationsebenen. Für die Umwandlung der Europa-Idee von der abstrakten Ordnungsvorstellung zu einem politischen Programm und Agendum fiel in der Locarno- Ära den soziokulturellen Netzwerken eine mitgestaltende Rolle zu. Und zwar nicht allein in der Form des Beitrages einzelner Schriftsteller zum Europa-Diskurs, 37 sondern vor allem in Gestalt halb öffentlicher, halb privater Diskussionsforen, die an einem bestimmten Ort und mit einer gewissen Regelmäßigkeit zusammenkamen. Sie waren in der Regel keine eingetragenen Vereine mit statutarisch festgesetzter Zielbestimmung und Binnenstruktur, sondern variable Begegnungszentren mit charismatisch begabten Leitgestalten und primär sozialisatorischer Wirkung auf ihre Teilnehmer. Da diese Teilnehmer meist hervorgehobene Funktionen in der Gesellschaft ausübten, waren sie prädestinierte Multiplikatoren für die Förderung europäischen Bewußtseins. Da diese europäischen Netzwerke als Gesamtphänomen der Zwischenkriegszeit noch kaum thematisiert worden sind (weil sie durch das diplomatiegeschichtliche und durch das diskursgeschichtliche Wahrnehmungsraster hindurchfallen) mögen einige Beispiele für ihre Konstituierungsanlässe und Wirkungsmodi skizziert werden. Auf das Gewicht dieses „Europas des Geistes“ und seiner Treffpunkte ist schon zutreffend hingewiesen worden: „Diese Beschäftigung mit Europa, dieser Zwang, Europa wieder und wieder zu durchdenken, hat nur während einer relativ kurzen Periode Ende der zwanziger und zu Beginn der dreißiger Jahre im Vordergrund gestanden […]. Ein Europa des Geistes hat es durchaus gegeben, wenngleich es zerbrechlich, kurzlebig und auf einen Mikrokosmos beschränkt war: das Europa der großen Intellektuellen, die sein Gewissen verkörperten - Gide, Valéry, Stefan Zweig, Heinrich Mann, T. S. Eliot, Ortega y 36 Edgar Stern-Rubarth: 1918-1933. Fortschritt oder Rückschritt in den deutsch-französischen Beziehungen? , in: Deutsch-Französische Rundschau, 1933, S. 51. 37 Vgl. Paul Michael Lützeler, a.a.O., S. 272-364, und Jean-Luc Chabot, a.a.O., S. 134-184: Une pléiade d’écrivains. <?page no="49"?> Franzosen und Deutsche in europäischen Projekten der Zwischenkriegszeit 45 Gasset, Denis de Rougemont -, das Europa der Netzwerke und gesellschaftlichen Treffpunkte mit dem Schloß der Mayrisch in Colpach und den ‚Dekaden von Pontigny’, das Europa der Kulturinstitutionen des Völkerbundes (Internationales Institut für geistige Zusammenarbeit, aber auch die Internationale Arbeitsorganisation), das Europa mit den ihm eigenen Formen des Kontakts und des Austausches - Reisen, Vorträge - sowie seinen zahlreichen ‚europäischen’ Zeitschriften […]: L’Europe nouvelle, La Revue europénne, Europe, Europäische Revue, Europäische Gespräche, Paneuropa, ganz zu schweigen von bedeutenden Kulturzeitschriften wie NRF, Neue Rundschau, La Revue de Genève, Revista de Occidente, Criterion.“ 38 2.1. Colpacher Kreis Die Konstituierungs- und Wirkungsmerkmale der hier aufgereihten kulturellen Netzwerke transnationalen Zuschnitts können anhand neuerer Studien präzisiert werden. Ein deutsch-französisch-europäisches Kommunikationszentrum sui generis stellte das luxemburgische Schloß Colpach dar. Dort konstituierte sich von 1917 bis 1947 ein informeller Kreis französischer, deutscher und belgischer Schriftsteller und Künstler um die Hausherrin Aline Mayrisch-de Saint-Hubert, die sozial und kulturell tätig war und als Luxemburgerin ab den frühen zwanziger Jahren das Gespräch zwischen den vormaligen Kriegsgegnern zu ermöglichen versuchte. Sie verstand nicht nur, wortführende Intellektuelle aus Frankreich (André Gide, Jean Schlumberger u.a.) und Deutschland (Ernst Robert Curtius, Bernhard Groethuysen) in Kontakt zu bringen mit dem Ziel, den deutsch-französischen Dialog wieder in Gang zu setzen und ein Terrain übernationaler Verständigung zu markieren. 39 Ihr gelang es auch (in Absprache mit Emile Mayrisch), junge Franzosen (Jacques Rivière und Pierre Viénot) an ihr Haus zu binden, die (aus dem Kreis der „Nouvelle Revue Française“ kommend) die Möglichkeiten einer zugleich kulturellen und ökonomischen Kooperation zwischen Frankreich und Deutschland zu ergründen versuchten. 40 Rivière und Viénot leiteten in diesem Sinne nacheinander die „Luxemburgische Zeitung“, die Mayrisch gekauft hatte und in der neben vielen französischen und luxemburgischen Autoren u.a. auch Ernst Robert Curtius und Annette Kolb publizierten. 38 Michel Trebitsch: Die Intellektuellen und die Europaidee im 20. Jahrhundert, in: Frankreich-Jahrbuch 1998, Opladen 1998, S. 123f. Vgl. auch Andrée Bachoud, Josefina Cuesta, Michel Trebitsch (dir.): Les Intellectuels et l’Europe de 1945 à nos jours, Paris 2000. 39 Als neueste Summe zum Thema Colpach s.: Colpach - un petit noyau de la future Europe. Actes du Colloque international, juillet 2007, in: Galerie. Revue culturelle et pédagogique, 2007, Nr. 2 und 3, S. 165-328 und S. 333-552. 40 Zu Rivière und Viénot s. auch die einschlägigen Kapitel in meinem Buch: Kulturelle Wegbegleiter politischer Konfliktlösung, a.a.O., S. 249ff. und 285ff. <?page no="50"?> Hans Manfred Bock 46 Beide Herausgeber waren von dem Willen besessen, anstelle rhetorischideologischer Europa-Beschwörungen pragmatische Realisierungsansätze für die französisch-deutsche und europäische Zusammenarbeit und Verflechtung zu schaffen. So schrieb Jacques Rivière zum Thema „Europäische Gemeinschaft“, diese sei nur lebensfähig, wenn niemand übervorteilt würde und alle einen Vorteil von ihr hätten: „‚Une communauté européenne: cela ne peut vouloir dire qu’une chose: un agencement, un ajustement, le moins imparfait qui soit possible, des divers intérêts européens. Nous ne nous lasserons jamais de répéter que la paix ne peut être fondée solidement entre deux ou plusieurs peuples que par la réduction au même dénominateur de leurs chances respectives de prospérité.“ 41 Das kulturelle Netzwerk im Schloß Colpach berührte sich nur in Einzelfällen individueller Doppelzugehörigkeit mit dem Deutsch-Französischen Studienkomitee, das einige Male dort tagte. Allerdings förderte die Reputation des einen die Wertschätzung des anderen. Der Besuch der anderen Protagonisten der europäischen Vereinigung Graf Coudenhove-Kalergi und Karl Anton Prinz Rohan in Schloß Colpach ist belegbar, aber eine dauerhafte Zusammenarbeit resultierte daraus nicht. Die Vereinnahmung Mayrischs durch den Gründer von Paneuropa, der luxemburgische Industrielle sei dessen Repräsentant gewesen, ist nicht glaubwürdig. Der „Geist von Colpach“, der schwierig auf einen Nenner zu bringen ist, umfaßte avantgardistische Komponenten in Literatur, Kunst und Lebensgestaltung ebenso wie das Bemühen um Wahrung gemeinsamer europäischer Werte und Traditionen. Ab 1933 wurde das Schloß zu einem Refugium vieler intellektueller und künstlerischer Verfolgter der europäischen Diktaturen. U.a. finanzierte Aline Mayrisch die Exil-Zeitschrift von Thomas Mann „Maß und Wert“, die von 1937 bis 1940 als Organ der „freien deutschen Kultur“ erschien. Jean Schlumberger übermittelte die Finanzierungszusage von Aline Mayrisch an Thomas Mann mit der Begründung, die Zeitschrift leiste „à la pensée européenne en fournissant aux authentiques représentants de la pensée allemande le moyen de s’exprimer hors de toute étroite position politique“ einen unschätzbaren Dienst. 42 2.2. Dekaden von Pontigny „Colpach, un petit noyau de la future Europe“ nannte der französische Philosoph Paul Desjardins das luxemburgische Aktions- und Ausstrahlungszentrum europäischen Denkens und Handelns. Dem Kreis um André Gide bzw. um die NRF und den von Desjardins (seit den letzten Vorkriegsjahren) 41 Jacques Rivière: Une communauté européenne? , wieder abgedruckt in Yves Rey- Herme (dir.): Jacques Rivière. Une conscience européenne, Paris 1992, S. 112. 42 Pascal Mercier, Cornel Meder (dir.): Aline Mayrisch-Jean Schlumberger. Correspondance 1903-1946, Luxembourg 2000, S. 669. <?page no="51"?> Franzosen und Deutsche in europäischen Projekten der Zwischenkriegszeit 47 ausgerichteten Décades de Pontigny verdankte Aline Mayrisch den größten Teil ihrer lebendigen Kontakte und Einblicke in die französische Gegenwartskultur. Diese internationalen Entretiens im Département de l’Yonne wurden von 1922 bis 1939 zum Treffpunkt teilweise bekannter Schriftsteller, Wissenschaftler und Politiker die jeweils zehn Tage lang im August in überschaubarem Kreise ein Thema der Philosophie, der Literatur und der Politik erörterten. 43 Die Zwischenkriegs-Dekaden waren organisatorisch und intellektuell das Werk der von Desjardins 1892 gegründeten Intellektuellen-Vereinigung Union pour la vérité, die bis zum Ende der Dritten Republik ein diskretes, aber einflußreiches Zentrum kritischen Raisonnements über aktuelle Fragen von Gesellschaft und Kultur in Paris war, und des NRF-Kreises, der in der Regel (vertreten von André Gide und Charles Du Bos) die literarische Dekade betreute. Die Union pour la vérité führte drei große Debatten über das französisch-deutsche Verhältnis in der Vor- und Zwischenkriegszeit und setzte bereits vor Locarno Anfang 1922 dies Thema auf die Tagesordnung; alle französischen Experten aus dem soziokulturellen Bereich nahmen an diesen ausgedehnten Diskussionen teil. 44 Das sich auf Kant berufende Bemühen Desjardins’ und der Union, in einer undoktrinären Diskussion die politisch-ethischen Grundfragen der Gegenwart zum Gegenstand gemeinsamen öffentlichen Nachdenkens zu machen, erstreckte sich auch auf die Dekaden von Pontigny. Es verband sich dort mit den Bestrebungen des NRF-Kreises, über die primär literarisch-ästhetische Infragestellung überkommener Konventionen zu einem neuen kulturellen und gesellschaftlichen Wertekanon zu gelangen, dessen Bestandteil die Einheit Europas war. Alle Themen der Dekaden wurden in europäischer Perspektive betrachtet. Und zwar sowohl die großen Vordenker eines neuzeitlichen Humanismus (Goethe (1932), Erasmus (1936), Victor Hugo (1935), als auch beispielsweise die gesamteuropäischen Kulturbewegungen Barock (1931) und Romantik (1927) oder aktuelle Zeitphänomene wie Totalitarismus (1934) und Cäsarismus (1936)). 45 Die Pontigny-Gespräche von 1925 „Nous autres Européens. Europe et Asie“ versuchten der europäischen Identität durch eine Kontrastanalyse beizukommen. Von Mitte der zwanziger Jahre bis 1932 standen in den Entretiens d’été der Völkerbund und der „Geist von Locarno“ als positive Bezugspunkte im Mittelpunkt. In den späteren dreißiger Jahren gewannen dort 43 S. S.I.E.C.L.E. Colloque de Cerisy: 100 ans de rencontres intellectuelles de Pontigny à Cerisy, o.O. 2005 und François Chaubet: Paul Desjardins et les décades de Pontigny, Paris 2000. 44 S. Hans Manfred Bock: Europa als republikanisches Projekt. Die Libres entretiens in der rue Visconti/ Paris und die Décades von Pontigny als Orte französisch-deutscher Debatte und Begegnung, in: Lendemains. Etudes comparées sur la France, 1995, Nr. 78/ 79, S. 122-156. 45 Zu den Themen immer noch unentbehrlich: Paul Desjardins et les Décades de Pontigny, Paris 1964, S. 403-408. <?page no="52"?> Hans Manfred Bock 48 (unter dem Einfluß von Henri de Man) reformsozialistische Vorstellungen an Terrain und ein Parallelprogramm „Anti-Babel“ ergänzte die Dekaden, das sich besonders an englische und skandinavische Studenten wandte und deren europäisches Denken fördern sollte. Entsprechend dem Gewicht des deutsch-französischen Problems bildeten die deutschen Teilnehmer an den Sommergesprächen von Pontigny das stärkste Kontingent an europäischen Gästen, die sich dort trafen, um den „Esprit de l’Europe“ wieder aufzubauen nach den Verwüstungen des Weltkrieges. 46 Bereits in den ersten drei Jahren nach Wiederaufnahme der burgundischen Sommergespräche nahmen dort teil der pazifistische Erziehungswissenschaftler Friedrich Wilhelm Förster (1922), der Romanist Ernst Robert Curtius (1922 und 1924), Heinrich Mann (1923), Max Scheler (1924) und Bernhard Groethuysen (ab 1924). In ihrer Nachfolge waren dann eine größere Zahl deutscher Vertreter der jüngeren Generation mehr oder minder aktive Gesprächsteilnehmer. Unter den Intellektuellen aus Deutschland fiel namentlich dem Philosophen und Historiker Groethuysen in der Zeitspanne von 1924 bis 1932 eine privilegierte Rolle zu, da er nicht allein bei den Diskussionen selbst, sondern auch bei der Themenfestlegung eine entscheidende Rolle spielte. 47 Nach 1933 wurden ausnahmslos Hitler-Gegner eingeladen; darunter u.a. Paul Ludwig Landsberg, Martin Buber und Hans Mayer. Die Wirkungsweise der Pontigny-Treffen zielte nicht auf die Ausarbeitung einer Europa-Doktrin, sondern auf die Überzeugung der Teilnehmer, einer gemeinsamen Kultur trotz der nationalen Besonderheiten anzugehören. Aufgrund der Periodizität der Dekaden bedurfte es (anders als in Colpach) eines Vorbereitungskomitees, in dem Desjardins, Gide, Du Bos und Jean Schlumberger einflußreich waren, und auch eine gewisse Hierarchisierung und Ritualisierung spielte sich dort bei der temporären Gemeinschaft in der ehemaligen Zisterzienser-Abtei ein. Die intendierte sozialisatorische Wirkung beschrieb Ernst Robert Curtius: „Die persönlichen Berührungen sind vielleicht das Wertvollste von allem, was Pontigny bietet. Das gemeinsame Leben und die Atmosphäre des Hauses, in der keiner sich als Fremder fühlt. […] Die gemeinsamen Diskussionen des Nachmittags sind umrahmt von vielen Einzel- und Gruppengesprächen, von Spaziergängen und Lesestunden, in denen man sich geistig und seelisch bereichert. Pontigny ist ja ein Europa im kleinen, ein europäischer Mikrokosmos.“ 48 46 Klaus Große Kracht: Les intellectuels allemands à Pontigny: autour de Ernst Robert Curtius, Heinrich Mann et Bernard Groethuysen, in S.I.E.C.L.E., a.a.O., S. 107-116. 47 S. Klaus Große Kracht: Zwischen Berlin und Paris: Bernhard Groethuysen (1880-1946). Eine intellektuelle Biographie, Tübingen 2002, S. 148ff: Pontigny und das sokratische Gespräch. 48 Ernst Robert Curtius: Französischer Geist im neuen Europa, Berlin, Leipzig 1925, S. 341. <?page no="53"?> Franzosen und Deutsche in europäischen Projekten der Zwischenkriegszeit 49 2.3. Davoser Hochschulkurse Ein anderes bemerkenswertes Beispiel temporärer europäischer Vergesellschaftung in der Zwischenkriegszeit sind die internationalen Hochschulkurse von Davos in der Schweiz. Auch sie führten in erster Linie französische und deutsche Intellektuelle zusammen und auch sie waren einer privaten Initiative entsprungen. Der Frankfurter Soziologe Gottfried Salomon, der führende Kopf der dortigen Deutsch-Französischen Gesellschaft, stand seit 1927 in Kontakt mit Notabeln des schweizerischen Kurorts Davos, um dort eine Einrichtung universitärer Aus- und Fortbildung zu gründen, die dem Gedanken der Völkerverständigung und des übernationalen Denkens verpflichtet sein sollte. Er knüpfte damit an seine deutsch-französische Verständigungskonzeption an, die er von Frankfurt aus praktizierte. 49 Auf seine Bitte um Unterstützung erhielt er die Absage vom Deutsch-Französischen Studienkomitee, aber die Zusage seitens des Preußischen Kulturministeriums und seiner Freunde im Umkreis der Pariser Ecole normale supérieure sowie (ab 1930) des Institut d’études germaniques. Die Leitidee der Davoser Hochschulkurse war es, Vertreter verschiedener Nationen, Generationen und Wissenschaftsdisziplinen drei bis vier Wochen lang zusammenzuführen, um im gemeinsamen Bemühen Antworten zu finden auf Kernfragen der modernen Zivilisation und zugleich „neue Sichtweisen, Einstellungen und Kommunikationsformen“ einzuüben. 50 Der erste Kurs (Mai/ April 1928) stand noch nicht unter einem Leitthema; er wurde von Albert Einstein eröffnet, der über „Grundbegriffe der Physik und ihrer Entwicklung“ sprach. Die zweite Frühjahrstagung, die 1929 dem Thema „Zusammenhang der Philosophie und Geisteswissenschaften“ galt, begründete den (bis heute anhaltenden) Ruhm der Davoser Hochschulkurse: Die Überlegungen und die Gegenüberstellung von Martin Heidegger und Ernst Cassirer zu „Kants Kritik der reinen Vernunft“ bzw. zu „Grundprobleme der philosophischen Anthropologie“ waren das Schlüsselereignis der Tagung, da (insbesondere von den französischen normaliens) der Eindruck verbreitet wurde, hier einer Sternstunde der Philosophie des 20. Jahrhunderts und der Geburt des „neuen Denkens“ der Existenzphilosophie beigewohnt zu haben. 51 Die Tagung war vom französischen Germanisten Henri Lichtenberger mit einem 49 S. Christoph Henning: „Der übernationale Gedanke der geistigen Einheit.“ Gottfried Salomon-Delatour, der vergessene Soziologe der Verständigung, in: Amalia Barboza, Christoph Henning (Hg.): Deutsch-jüdische Wissenschaftsschicksale, Bielefeld 2006, S. 48-100; Ina Belitz: Grenzgänger zwischen Wissenschaften, Generationen und Nationen: Gottfried Salomon-Delatour in der Weimarer Republik, in: Lendemains. Etudes comparées sur la France, 1997, Nr. 86/ 87, S. 49-75. 50 Ina Belitz, a.a.O., S. 67. 51 S. dazu u.a. Kurt Wuchterl : Streitgespräche und Kontroversen in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, Bern, Stuttgart 1997, S. 135-189: Von der Davoser Disputation über das „neue Denken“ zu Heideggers Rektoratsrede. <?page no="54"?> Hans Manfred Bock 50 Vortrag zu „La psychologie de la Coopération intellectuelle franco-allemande“ eröffnet worden. Die internationalen Hochschulkurse von 1930 und 1931 galten den Themenkomplexen „Philosophie und Staatswissenschaften“ bzw. „Erziehung und Bildung“, der Reflexionsgegenstand der folgenden Davoser Zusammenkunft hätte „Technik als Schicksal“ sein sollen. Er konnte aufgrund der Verschlechterung der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich, die auf den letzten Davoser Treffen sensibel registriert wurden, ab 1931 nicht mehr abgehalten werden, und der spiritus rector der Hochschulkurse Gottfried Salomon ging 1933 ins Exil nach Paris und dann in die USA. Die besondere Wirkungsweise dieser Veranstaltungen, an denen im Schnitt zwischen 300 und 400 Dozenten und Studenten aus Deutschland, Frankreich, der Schweiz sowie anderen europäischen und außereuropäischen Ländern teilnahmen, lag in der punktuell gelingenden intellektuellen Grenzüberschreitung zwischen Nationen, Generationen und Disziplinen. Jean Cavaillès (Eliteschüler der ENS und später berühmter Wissenschaftsphilosoph, der von den deutschen Besatzern Frankreichs im Februar 1944 hingerichtet wurde) brachte diese nachhaltige Wirkung aufgrund der Teilnahme in Davos so zu Worte: „Mais il ne s’agissait pas d’une simple rencontre, banale et sans conséquences pour l’avenir, de simples vacances de Pâques prises en commun. Pour apprendre aux professeurs et étudiants allemands, suisses et français à se connaître vraiment, la seule méthode était de les faire travailler ensemble, unis par les liens organiques d’une même institution et surtout rapprochés par le même intérêt de savoir, par les mêmes préoccupations scientifiques […] Travail scientifique fécond, enrichissement des pensées nationales par la suppression des ignorances limitatives et souvent stérilisantes, rapprochement enfin non plus seulement par des esprits, mais des personnes, tels étaient les résultats que l’on attendait.“ Er nannte Davos „un véritable Locarno de l’intelligence.“ 52 2.4. Ecole Nouvelle de la Paix in Paris Zu der Zeit, als dies Experiment einer übernationalen „freien Hochschule“ für europäische Nationen zum Erliegen kam, entstand in Paris wiederum aus privatem Antrieb ein Zentrum, in dem zugleich versucht wurde, die Auffassungen von europäischer Einheit zu klären und oder zu vertiefen und für die Europa-Idee werbend tätig zu sein. Anders als die Aktivitäten von Colpach, Pontigny oder Davos war die Ecole Nouvelle de la Paix (ENP) nicht 52 Die II. Davoser Hochschulkurse. Les II émes Cours Universitaires de Davos 1929, Davos 1929, S. 80f. und S. 65. Vgl. generell zur Bedeutung der Davoser Treffen für die französischen normaliens Jean-François Sirinelli: Génération intellectuelle. Khâgneux et normaliens dans l’entre-deux-guerres, Paris 1988. <?page no="55"?> Franzosen und Deutsche in europäischen Projekten der Zwischenkriegszeit 51 an einem ländlichen, der Kontemplation und der Geselligkeit förderlichen Ort angesiedelt, sondern im mondänen Paris. Die Gründerin und integrierende Persönlichkeit der ENP war die Publizistin Louise Weiss, die von 1920 bis 1934 als Herausgeberin der Diplomatie- und Kulturzeitschrift „L’Europe nouvelle“ tätig war. 53 Spätestens seit 1925 stellte sie ihr Periodikum in den Dienst der Politik von Aristide Briand und befürwortete den Völkerbund ebenso lebhaft wie die Locarno-Politik und die Idee eines internationalen Sicherheitssystems. In diesem Sinne hatte sie 1925 ein Themenheft über Deutschland publiziert mit Beiträgen namhafter Schriftsteller und Politiker der Weimarer Republik. In ihrer Zeitschrift erfuhr die Öffentlichkeit am 20. Juli 1929 von Briands Europa-Plan, den sie ankündigte unter dem Titel „Vers une fédération européenne“. Anschließend kommentierte ihre hochkarätige Mitarbeitermannschaft das Europa-Memorandum Briands vom 1. Mai 1930 und dokumentierte ausführlich die internationalen Reaktionen auf diesen europapolitischen Vorstoß. Nachdem die Redaktion der „Europe Nouvelle“ längst ein Sammlungspunkt aller briandistischen Kräfte geworden war, gründete Louise Weiss im November 1930 die ENP, die gleichermaßen ein internationaler Treffpunkt der Eliten und eine Stätte der Reflexion über die Weiterentwicklung des Völkerbundes sein sollte. Ihre Veranstaltungen fanden anfangs im Redaktionssitz am Quai d’Orsay, später in der Sorbonne statt und Aristide Briand übernahm (wie auch bei anderen europapolitischen Gruppierungen) den Ehrenvorsitz der ENP. Dieser „salonforum“, der keine offiziellen Statuten hatte, war eng verknüpft mit der französischen Gesellschaft und Politik durch ein Direktionskomitee, ein Ehrenkomitee und eine Jury, die jährlich über die Vergabe eines Preises der ENP für die beste publizistische Gegenwartsdiagnose befand. Die dort repräsentierten Institutionen, Organisationen und Personen weisen auf ein hohes Einfluß- und Prestige-Potential hin, auf das sich die Einrichtung stützen konnte, und auf ihre vielfachen Verschränkungen mit den Akteuren und Strukturen anderer europäischer Netzwerke im In- und Ausland. So waren z.B. im Direktionskomitee der ENP vertreten: der Leiter des Internationalen Instituts für geistige Zusammenarbeit (Henri Bonnet), der Generalsekretär der Cité Universitaire (Jean Branet), der Mitarbeiter des Office national des universités et écoles françaises (Louis Eisenmann) und der langjährige Leiter des Berliner Büros des Mayrisch-Komitees (Pierre Viénot). Letzterer schrieb an seinen 53 Zu ihrer Biographie s. Célia Bertin: Louise Weiss, Paris 1999 und Louise Weiss: Mémoires d’une Européenne. Tome 2. Combats pour l’Europe (1919-1934), Paris 1968. In der Biographie von Bertin, a.a.O., S. 185-210 ein Abriß der Entwicklung der ENP; monograhische Studien dazu Christine Manigand: Louise Weiss, Aristide Briand et L’Europe Nouvelle, in: Jacques Bariéty (dir.): Aristide Briand, la Société des Nations et l’Europe, a.a.O., S. 264-278 und Corinne Rousseau: Louise Weiss, l’Europe et la Paix durant l’entre-deux-guerres, in : Fondation Jean Monnet pour l’Europe (dir.): Louise Weiss l’Européenne, Lausanne 1994, S. 228-250. <?page no="56"?> Hans Manfred Bock 52 Freund, den Preußischen Kultusminister Carl Heinrich Becker, den er für einen Vortrag an der ENP gewann: „Or l’Europe Nouvelle a fondé depuis un an une école, la ‚Nouvelle école de la Paix’, qui, pendant tout l’hiver, a organisé toutes les semaines des conférences sur les sujets en discussion à la Société des Nations qui ont été faites par les meilleurs spécialistes. Toute l’institution est très sérieuse et patronnée par les [personnalités] les plus considérables.“ 54 Im Ehrenkomitee saßen die früheren und die amtierenden französischen Delegierten beim Völkerbund sowie Vertreter aus der Universitäts- und Ministerialverwaltung. Die Eröffnungsansprache am 3.11.1930 hatte der Verwaltungsratpräsident des Internationalen Instituts für geistige Zusammenarbeit, Mitinitiator der Fédération de l’Entente européenne (1926) und zeitweiliger Ministerpräsident Paul Painlevé gehalten. Das Programm der ENP lief parallel zum Universitätsjahr von November bis Mai und sah jede Woche eine Vortragsveranstaltung vor. Diese Veranstaltungen zogen ein Publikum zwischen 300 und 400 Personen an, von dem etwa ein Drittel Studenten und die übrigen Universitäts-, Verwaltungs- und Wirtschaftsvertreter waren. Mit der beginnenden Krise der gouvernementalen Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland geriet das Deutschland-Thema in den Mittelpunkt der Vortragsaktivitäten. In den ersten Jahren der ENP sind bisher als Referenten aus Deutschland belegbar Carl Heinrich Becker (parteiloser Linksliberaler), von Heimbure (Nationalist), Graf Clemens von Podewils (katholischer Journalist), Friedrich Sieburg (Autor des Erfolgsbuches „Gott in Frankreich? “ (1929) und Neunationalist) und Rudolf Breitscheid (außenpolitischer Sprecher der SPD-Reichstagsfraktion und Exilant). Die beiden ersten publizistischen Laureaten der ENP waren Wladimir d’Ormesson („Confiance en l’Allemagne? “) und Pierre Viénot („Incertitudes allemandes“), die beide Mitglieder des Deutsch-Französischen Studienkomitees waren; ihre Bücher wurden umgehend ins Deutsche übersetzt. Louise Weiss sah aufgrund der Sabotierung des Völkerbundes durch die Nationalsozialisten das Werk Briands (das auf der gesellschaftlichen Ebene auch ein Stück weit das ihrige war) fundamental in Frage gestellt und zog sich im Februar 1934 von der Redaktion der „Europe nouvelle“ zurück. Sie führte die Arbeit der ENP bis Dezember 1939 fort, das Reflexionszentrum stellte jedoch ab 1936 seine Lehrtätigkeit ein. Das späte Experiment, das die ENP in der Reihe der europapolitischen Netzwerke darstellte, hatte mit diesen gemeinsam, daß es nicht allein ein Propagandainstrument war, sondern Europa als gelebte politisch-kulturelle Einheit zu antizipieren versuchte. Mit dieser Zweckbestimmung stand die ENP in Paris nicht allein. Ihr waren in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren auch informelle Netz- 54 Korrespondenz Pierre Viénot-Carl-Heinrich Becker im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, unveröffentlichter Brief vom 26.4.1931. Das in Klammern gesetzte Wort ist eine Konjektur, da das Original hier nicht lesbar ist. <?page no="57"?> Franzosen und Deutsche in europäischen Projekten der Zwischenkriegszeit 53 werke verpflichtet wie die Amitiés Internationales und das Foyer de la nouvelle Europe, die auf sozialistischer bzw. pazifistischer Grundlage den französischdeutschen und europäischen Personen- und Ideenaustausch einübten. 55 Die politische Gesamtkonstellation brachte diese Anläufe zu einem Europa von unten zum Scheitern. Der Impuls des Europa-Plans von Aristide Briand versickerte nach dessen Tod (1932) in der Kommissionsarbeit des Völkerbundes. Die nationalsozialistische Regierungsübernahme in Deutschland, der Rückzug von der Abrüstungskonferenz und der Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund im Oktober 1933 56 besiegelten das Ende von Locarno und zerstörten die konstruktiven Hoffnungen, die von den europapolitischen Vereinigungen und Netzwerken zwischen 1924 und 1931 gehegt worden waren. Die Tatsache, daß das briandistische Erbe in den späteren dreißiger Jahren propagandapolitisch von deutscher und appeasement-politisch von französischer Seite instrumentalisiert wurde, 57 tat ein übriges, um dies Kapitel einer in Ansätzen zugleich politisch intendierten und gesellschaftlich fundamentierten europäischen Integration in Vergessenheit geraten zu lassen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Erinnerung an die europapolitischen Zwischenkriegsversuche jedoch gerade bei den handelnden Politikern durchaus lebendig. Beispielsweise berief sich Bundeskanzler Adenauer im Gespräch mit dem französischen Hochkommissar auf das Mayrisch-Komitee, und seine nachdrückliche Forderung soziokultureller Kontakte zwischen Deutschen und Franzosen war nicht zuletzt begründet in seinen Erfahrungen mit der Deutsch-Französischen Gesellschaft, zu deren Ehrenvorsitzenden er gehört hatte. 58 In der im Kalten Krieg der 1950er Jahre dann vor allem ökonomisch erfolgreichen Institutionalisierung der europäischen Integration (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl) wurde ein Bereich verwirklicht, der auch in der Zwischenkriegszeit prinzipiell den Konsens aller europapolitischen Akteure fand, und zwar von den Pazifisten über 55 S. Hans Manfred Bock: Topographie deutscher Kulturvertretung, a.a.O., S. 160f. 56 Vgl. Jean-Luc Chabot, a.a.O., S. 194ff: Deux années de Commission d’études pour l’Union europénne. 57 Auf dies Erbe beriefen sich die Schrittmacher der Jugendgeneration der dreißiger Jahre, die den Nationalsozialisten die Usurpierung der bilateralen Gesellschaftskontakte unter falschen Voraussetzungen ermöglichten. S. dazu Barbara Unteutsch: Dr. Friedrich Bran, Mittler in Abetz’ Schatten, und Claude Lévy: Autour de Jean Luchaire. Le cercle éclaté de Notre Temps, in: Hans Manfred Bock, Reinhart Meyer-Kalkus, Michel Trebitsch (dir.): Entre Locarno et Vichy. Les relations culturelles franco-allemandes dans les années 1930, Paris 1993, S. 87ff. und S. 121ff. 58 Corine Defrance: „Es kann gar nicht genug Kulturaustausch geben.“ Adenauer und die deutsch-französischen Kulturbeziehungen 1949-1963, und Hans Manfred Bock/ Katja Marmetschke: Gesellschaftsverflechtung zwischen Deutschland und Frankreich. Transnationale Beziehungen, Gesellschaft und Jugend in Konrad Adenauers Frankreichpolitik, in: Klaus Schwabe (Hg.): Konrad Adenauer und Frankreich. Stand und Perspektiven der Forschung zu den deutsch-französischen Beziehungen in Politik, Wirtschaft und Kultur, Bonn 2005, S. 137ff. und S. 163ff. <?page no="58"?> Hans Manfred Bock 54 die liberalen Zollvereins-Adepten bis zu den neoaristokratischen Gruppierungen. Allerdings wurde im Zeichen der neofunktionalistischen Integrationsstrategie die übereinstimmende Auffassung der Europa-Protagonisten im Zeichen von Genf und Locarno nicht realisiert, die auf die simultane oder sukzessive Verwirklichung der ökonomischen, politischen und kulturellen Integration zielte. Der Eindruck, daß eben diese Einheit (oder zumindest Interdependenz) der verschiedenen Integrationsebenen eine ungelöste aktuelle Aufgabe der Europapolitik ist, liegt dem gegenwärtigen Interesse an den europapolitischen Antizipationen der 1920/ 30er Jahre zugrunde. So z.B., wenn von einem schweizerischen Kenner des virtuellen Europa der Zwischenkriegszeit zu bedenken gegeben wird, daß eine ökonomistische Konzeption von Europa ebenso unzulänglich bleibt wie eine nur kulturelle Vorstellung davon, sondern daß beide zusammengehören: „Voulant l’union douanière puis économique dans la perspective d’une union généralisée, les responsables de la construction européenne n’ont obtenu que ce que les moyens mis en œuvre pouvaient leur fournir: un marché commun ou l’Europe des marchands. De ce résultat, en lui-même non négligeable, ils ont attendu ce que leurs prédécesseurs de l’entre-deux-guerres attendaient des idées et des mots: des vertus magiques.“ 59 Ein französischer Zeithistoriker pointiert diesen Befund, wenn er gegenüberstellt „die Zwischenkriegszeit, während derer Europa für die Intellektuellen einen Kopf ohne Körper, eine noch nicht realisierbare Idee darstellt, und die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Politiker und Entscheidungsträger sich des Europagedankens bemächtigen und er zum Körper ohne Kopf, zur Konstruktion ohne Gedanken wird.“ 60 59 Jean-Luc Chabot, a.a.O., S. 325. 60 Michel Trebtisch, a.a.O., S. 122. <?page no="59"?> Lothar Albertin Deutschlands Weg in den europäischen Frieden ab 1945 Historische Vorbemerkung In meinem beruflichen Leben habe ich mich viel mit dem Liberalismus befasst. Als Historiker und Autor sowie als betroffenen Zeitzeugen hat mich dabei die wesentliche Frage bewegt, wie er in unserer jüngsten Geschichte dem Frieden gedient hat. Eine leitende Erkenntnis bleibt: Seine friedensorientierten Kräfte haben dem deutschen Imperialismus 1890 bis 1914 nicht standgehalten. Warum scheiterten sie? Diese Tatsache habe ich im September 1974 - Europa stand unter dem Eindruck der Schlussakte von Helsinki - mit Kollegen wie Lothar Gall, Karl Holl, Wolfgang J. Mommsen - in der Theodor Heuss-Akademie thematisieren können. Ich habe an den Delegiertentag der Süddeutschen Volkspartei 1895 in München erinnert, die in ihr Programm den Leitsatz aufnahm: „Die Volkspartei ist eine Partei des Friedens. Sie erkennt im Krieg und im Militarismus die schwerste Schädigung des Volkswohlstandes, wie der Kultur- und Freiheitsinteressen. Sie erstrebt einen Friedens- und Freiheitsbund der Völker.“ 1 Welch ein großartiger Satz! Gewiss, es gab markante Argumente und Aktivitäten des völkerrechtlichen, ökonomischen und ethischen Pazifismus, national und international. Aber seine Schwäche in Deutschland war: Er gewann keine Geschlossenheit. Er wollte den Frieden bewahren, ohne die Massen zu mobilisieren, das heißt, er behielt seine Berührungsängste gegenüber der Sozialdemokratie. Es kam hinzu, dass ansonsten integre Liberale zeitweilig sogar in den Sog imperialistischer Kriegsziele gerieten. Ein reichspolitischer Protagonist aus der Fortschrittlichen Volkspartei gehörte nach Lippe: Adolf Neumann-Hofer. Anfang August 1915 richtete er einen „streng vertraulichen“ Brief an die Mitglieder seiner Reichstagsfraktion: Dort hatte inzwischen Georg Gothein dafür plädiert, dem Annexionismus prinzipiell abzuschwören. Gothein, späterer Schatzminister im Kabinett Scheidemann, gehörte zum Gründer- und Führungskreis des „Vereins zur Abwehr des Antisemitismus“ und war 1 Lothar Albertin: Das Friedensthema bei den Linksliberalen vor 1914: Die Schwäche ihrer Argumente und Aktivitäten, in: Karl Holl & Günther List (eds.): Liberalismus und imperialistischer Staat. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 1975, 89-108 (96). <?page no="60"?> Lothar Albertin 56 - als freisinniger Abgeordneter des Preußischen Abgeordnetenhauses, seit 1901 auch des Reichstages - Gegner der Flottenpolitik gewesen. Neumann- Hofer gab zu bedenken: Wo die Wahrung deutscher Interessen nur durch Annexionen erreichbar sei, „haben wir unbedenklich zu annektieren“. Die Liste der Zugriffe war gewaltig: Dazu gehörten die „Zerstückelung Russlands“ und die „Aufteilung Belgiens“. 2 Der Brief Neumann-Hofers gehört in die Zeit, als der U-Boot-Krieg - seit Sommer und Herbst 1915 - mit der Versenkung von Handels- und Passagierdampfern ohne Vorwarnung, „das erste Symptom der Entartung des modernen Krieges zum Totalkrieg“ wurde. Auch die offiziell gewarnten Neutralen hielten ihn für unmenschlich. Unmenschlich taktierte auch die sonstige militärische Führung. Die verlustreiche Verdun-Offensive, die bei „entsetzlichem Blutvergießen“ viel zu lange durchgehalten wurde, kommentierte der Generalstabschef Erich von Falkenhayn gegenüber dem Reichskanzler mit dem verblendeten Urteil, Frankreich habe „eine starke Viertelmillion erprobter Soldaten vor Verdun mehr verloren als wir“. 3 Das ist eine immer noch unfassbare Aussage! Es gab große Liberale, die dem Annexionismus abgeschworen hatten und die Weimarer Republik in eine aktive Friedenspolitik zu steuern suchten: Walther Rathenau als Wiederaufbauminister und Außenminister, mit seinem leidenschaftlichen Versuch, emotionelle Streitwerte wie die Kriegsschuldfrage aus den Reparationsverhandlungen auszuklammern; Gustav Stresemann mit seiner Locarno-Politik. Am Ende seiner letzten Rede vor dem Völkerbund stand die Absage an den Krieg. Stresemann erinnerte an eine frühere Bemerkung Aristide Briands (der mit ihm 1926 den Friedensnobelpreis erhalten hatte) „wie außerordentlich schwierig es sei, für diese Gedanken der Verständigung der Völker und des Friedens die Jugend zu gewinnen, weil der Heroismus des Krieges die Poesie bis in die Gegenwart beherrsche“. Er warnte die Jugend vor den „technischen Kriegen der Zukunft“, die „für den persönlichen Heroismus wenig Betätigungsmöglichkeiten geben werden“, und verwies sie statt dessen auf Bewährungschancen für große Ideen der Menschheit, möglichenfalls bis zu einer Erforschung des „ewigen Rätsels des Verhältnisses des Menschen zum All.“ 4 2 Vgl. Lothar Albertin: Detmold 1918-1933. Die Chancen der demokratischen Republik und ihre Zerstörung, in: Krieg - Revolution - Republik. Detmold 1914-1933. Dokumentation eines stadtgeschichtlichen Projekts. Hg. von der Stadt Detmold, bearb. von Hermann Niebuhr und Andreas Ruppert, Aisthesis Verlag, Bielefeld, 2007, 11-47 (13). Hierin ausführliches Zitat mit Belegen. 3 Op. cit., 11. 4 Vgl. die Belege bei Lothar Albertin: Die liberalen Parteien in der Weimarer Republik. Etappen ihres Niedergangs, in: Hans Vorländer (ed.): Verfall oder Renaissance des Liberalismus. Beiträge zum deutschen und internationalen Liberalismus, Olzog Verlag, München, 1987, 57-89 (75). <?page no="61"?> Deutschlands Weg in den europäischen Frieden ab 1945 57 Am 4. Oktober 1929 notierte Harry Graf Kessler in sein Tagebuch: „Alle Pariser Morgenzeitungen bringen die Nachricht vom Tode Stresemanns in größter Aufmachung. Es ist fast so, als ob der größte französische Staatsmann gestorben wäre. Die Trauer ist allgemein und echt. Man empfindet, dass es schon ein europäisches Vaterland gibt.“ 5 Für die „Vereinigten Staaten von Europa“ warb Aristide Briand noch im Jahre 1930 - da aber hatte bereits die Wählerwanderung en masse zu den Nazis eingesetzt. Sie erstickten auch mit ihrem vielseitigen Terror die Bestrebungen der inneren und äußeren Verständigung zwischen Franzosen und Deutschen, die Manfred Bock in diesem Band in Erinnerung gerufen hat. Wer europäisch dachte und hoffte, wurde nicht nur abgelehnt und verleumdet, sondern oft auch verfolgt. Unter dem Nationalsozialismus verkam der Friedensbegriff zu einer instrumentellen Funktion der Kriegspolitik. Er wurde schließlich unverblümt verächtlich gemacht und aus der eigenen Doktrin für internationale Politik und Herrschaftsethik verbannt. Am Ende stand er für Defätismus, für eine angeblich feige Friedfertigkeit, deren Ächtung propagiert und für den brutalen Vollzug verordnet wurde. Wir wissen alle, dass spätestens nach dem nationalsozialistischen Vernichtungskrieg und Völkermord der Frieden in Europa als Grundbedingung unseres Zusammenlebens ohne Alternative ist. Der Krieg als die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, nach Clausewitz zwischen gleichartigen Akteuren, ist längst überholt. Wir sprechen heute von den „neuen Kriegen“, die asymmetrisch und unbeherrschbar sind. Bilanz des Schreckens Am Ende des nationalsozialistischen Krieges war Deutschland weltweit geächtet. Die amerikanische Marine hatte in Bremerhaven für ihre Matrosen Schilder aufgestellt: „Hier endet die zivilisierte Welt. Sie betreten jetzt Deutschland. Jede Verbrüderung mit Deutschen ist streng verboten.“ Als sich die Unterzeichung der „bedingungslosen Kapitulation“ in Reims am 7. Mai auf Verlangen Stalins in Berlin-Karlshorst am 9.Mai wiederholte, meldete die Nachrichtenagentur Reuter: „Deutschland ist ein unterworfenes, erobertes, besetztes Land, das keine unabhängige Existenz hat.“ 6 Eine deutsche Journalistin notierte unter diesem Datum in ihr Tagebuch: „Plötzlich überkommt uns der ganze Jubel des Befreitseins. Frei von Bomben! Frei von 5 Droste Geschichts-Kalendarium. Chronik deutscher Zeitgeschichte. Bd. 1, Manfred Overesch: Die Weimarer Republik, Droste, Düsseldorf, 1982, 425. 6 Chronik deutscher Zeitgeschichte: Politik, Wirtschaft, Kultur, Bd.3/ 1, Manfred Overesch: Das besetzte Deutschland 1945-1947, Droste, Düsseldorf, 1986, 12. <?page no="62"?> Lothar Albertin 58 Verdunkelung! Frei von Gestapo und frei von den Nazis.“ 7 Klaus Mann schrieb an seinen Vater Thomas Mann aus Innsbruck: „Ich sehe befreite Häftlinge aus Konzentrationslagern und befreite Zwangsarbeiter: Polen, Italiener, Russen, Holländer, Franzosen“. 8 In einem Aufruf der Sozialdemokratie schrieb Kurt Schumacher am folgenden Tag: „Der erste Tag der politischen Freiheit dämmert herauf.“ 9 Würden die Deutschen erkennen, wovon sie befreit waren - und wozu? Viele Familien warteten auf die Rückkehr der Kriegsgefangenen. Wenige wussten, dass es 7,6 Mio. waren, 4.410.100 davon in der Sowjetunion. Manche beklagten den Verlust der jüdischen Mitbürger, die niemals wiederkehren würden. Wenige kannten die volle, grauenhafte Wahrheit des Holocaust. Aus den Ostgebieten kamen die Ströme der Vertriebenen, bis 1946 sollten es 11 Mio. sein. Viele Deutsche beweinten ihre Toten. Nur wenige wußten, dass der Krieg insgesamt 55 Mio. Tote und 3 Mio. Vermißte gefordert hatte, davon allein in der Sowjetunion 13,6 Mio. Soldaten und 7 Mio. Zivilisten, in Polen 4,2 Mio. Tote - mehr noch als in Deutschland. Ein Viertel aller Wohnungen, in Großstädten die Hälfte, waren zerstört oder schwer beschädigt - wie hier in der Nähe Paderborn und Soest. Wer aber verstand Bertolt Brecht, der schrieb: „Und unsere Städte sind auch nur ein Teil von all den Städten, die wir zerstörten.“ 10 Die junge Generation zwischen politischer Gefährdung und Integration Waren Drittes Reich und nationalsozialistischer Krieg durch ihren verbrecherischen Charakter zu historisch einzigartigen Phänomenen geworden, so waren auch die geistigen und moralischen Folgelasten von exzeptioneller Art und Bedeutung. Auf deutscher Seite wurden die demokratischen Parteien - zunächst neben den Besatzungsmächten - die wichtigsten Agenturen der Entnazifizierung en masse. Sie mussten einerseits die Unmutsäußerungen aus der Bevölkerung aushalten: „Die Kleinen fängt man, die Großen lässt man laufen“, und andererseits dem bequemen Missverständnis entgegentreten, die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse würden die Aufarbeitung der Diktatur ersetzen. Wer demokratisches Bewusstsein aufbauen wollte, konnte dies nicht ohne Reflexion auf die jüngste deutsche Vergangenheit tun. Unverzichtbar 7 Op. cit., 13. 8 Op. cit., 14. 9 Op. cit., 18. 10 Op. cit., 11. <?page no="63"?> Deutschlands Weg in den europäischen Frieden ab 1945 59 war dies gegenüber der Jugend. Die Kirchen waren darauf kaum vorbereitet und suchten ihr vor allem seelsorgerlich zu helfen. Das Gros der Lehrer war hilflos, die Schulleiter warteten auf die Lehrpläne der Schulbehörden. Es war die Rede von der „Umerziehung der Erzieher“. Die Universitäten schwiegen sich fast gänzlich aus. Eine unserer eigenen Regionalstudien an der Bielefelder Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie zeigt für Ostwestfalen- Lippe, dass es die demokratischen Parteien waren, die sich unter diesen Umständen noch am stärksten um eine historisch fundierte politische Bildung bemühten. 11 Es sieht so aus, als ob dies mehr an der Basis, in den Städten und Gemeinden, als auf den höheren Ebenen der Parteien verlangt und betrieben wurde. Es ging um die Altersgruppe der 15bis 25jährigen. Die Erlebnis- und Reifungsschwellen waren bei den meisten Betroffenen in einem unfassbaren Ausmaß fließend geworden: bei den Älteren durch Kriegsdienst und Gefangenschaft, bei den Jüngeren durch den Dienst als Flak- und Sanitätshelfer, im Fernmeldewesen, bei der Feuerwehr, in den Bombennächten oder in den Rollen bei Flucht und Vertreibung sowie bei den Überlebensanstrengungen in der Not des Nachkriegsalltags. Erscheinungsbild und innere Verfassung dieser jungen Generation wiesen auf zwei Grundprobleme. Zum einen: Was konnten Gesellschaft und politisches System dazu beitragen, dass sie sich aus eigener Erkenntnis und freiem Entschluss aus allen Bindungen an den Nationalsozialismus löste und gegen seine wiederauftauchende Agitation oder verwandte Angebote immun wurde? Zum anderen: Wie konnte sie für demokratische Ideen und Konzepte gewonnen werden, deren institutionelle und praktische Normen und Regeln ihr historisch und theoretisch kaum bekannt waren und in der Gegenwart erst nach und nach erfahrbar wurden? Beide Probleme mussten dringend gelöst werden. Ein Politiker in der hiesigen Region warnte um die Jahreswende 1945/ 46, große Gruppen der jüngeren Jahrgänge seien anfällig für die Parolen eines „erneuten antidemokratischen Frondeurtums“. Mehrere Tage nach der Besetzung des Kreises Herford hatte noch ein jugendlicher Fanatiker im Zeichen des „Werwolfs“ einen Amtsbürgermeister ermordet, weil er seine Gemeinde, wie es auch sonst geschehen war, kampflos übergeben hatte. Der Wahnsinn sporadischer „Werwolf“-Aktionen beunruhigte die Region bis Ende 1946. Adolf Grimme, ehemaliger Kultusminister aus der Weimarer Republik, berichtete im Frühjahr 1946 (im Zonenbeirat) von einem Gymnasium in Hannover, auf dessen Türen und Fenster eine „Flut von Hakenkreuzen“ geschmiert wor- 11 Es handelte sich um das von mir geleitete (von der Stiftung Volkswagenwerk geförderte) Forschungsprojekt „Der Wiederaufbau politischer Parteien nach 1945“. <?page no="64"?> Lothar Albertin 60 den war und dessen Direktor man die Fensterscheiben mit Steinen eingeworfen hatte: „Wäre nicht die Besatzungsarmee im Lande, ich möchte schon heute die Zahl der Rathenau-Morde nicht sehen“. 12 Eine Beobachterdelegation von Repräsentanten britischer Jugendverbände, die sich in den westlichen Zonen - auch in der hiesigen Region - und in Berlin umgesehen hatte, schrieb in ihrem Bericht Oktober 1946 (den ich ungekürzt im Londoner Public Record Office gefunden habe): Die meisten jungen Leute unter 21 zeigen nicht viel politischen Enthusiasmus. Nach ihren Erfahrungen während des Nationalsozialismus sind sie gegenüber Parteien misstrauisch und geistig apathisch, und an anderer Stelle: Die Masse junger Leute ist weder verzagt noch hoffnungsvoll - sie warten vielmehr ab - formbares Material für einen anderen Führer, der ihre Imagination benutzen und sie von ihrer Last befreien wird (...). Die jungen Leute unter 30 erinnern sich an die Hitlerperiode und blicken zurück mit Sehnsucht nach ihrer Ordnung, ihren materiellen Werten und Vorteilen und nach ihrer Effizienz (...). Sie lamentieren: Hitler gab uns viel - die Demokratie gab uns nichts. 13 Die praktischen Antworten der politischen Jugendbildung waren Experimente. Zu den engagiertesten und weitsichtigsten gehörte die Initiative Klaus von Bismarcks. Im Gedankenaustausch mit lokalen und regionalen Parteiführern betrieb er als Leiter des Kreisjugendamtes Herford Lehrgänge für Jugendleiter aller Richtungen auf dem Jugendhof Vlotho, an denen er auch - mit Genehmigung der Militärregierung - ehemalige HJ-Führer aus dem nahen Internierungslager in der Senne inkognito teilnehmen ließ. Vlotho wurde zu einem Modell, das aus der ganzen Zone besucht wurde. Der in Berlin geborene Michael Thomas, der ab Mai 1945 als persönlicher Verbindungsoffizier des Stabschefs der britischen Zone tätig war - ich konnte ihn später kennen lernen und befragen -schrieb in seinem Buch mit dem Untertitel „Rückkehr als Besatzungsoffizier“ (1984): Eine Reihe von späteren Führungspersönlichkeiten der Bundesrepublik ist in Vlotho wesentlich geformt worden, und mitunter scheint mir, dass von dort wichtige Impulse für das gesamte soziale und politische Gefüge der Bundesrepublik ausgegangen sind. 14 Welche Dringlichkeit deutsche Politiker der historisch-politischen Aufklärung beimaßen, demonstrierte im Frühjahr 1946 der Oberpräsident der Pro- 12 Vgl. Lothar Albertin, in Verbindung mit Freia Anders, Petra Gödecke, Hans-Jörg Kühne und Helmut Mehl: Jugendarbeit 1945. Neuanfänge der Kommunen, Kirchen und politischen Parteien in Ostwestfalen-Lippe, Weinheim und München, 1992. Hierin weitere Belege. 13 Diary (in Maschinenschrift), Public Record Office London/ Kew (PRO), FO 371/ 46874. 14 Michael Thomas: Deutschland, England über alles. Rückkehr als Besatzungsoffizier, Berlin, 1984, 171. <?page no="65"?> Deutschlands Weg in den europäischen Frieden ab 1945 61 vinz Westfalen, Rudolf Amelunxen, durch eine drastische Intervention. Er ließ Wandplakate zur „Bekämpfung der Nazipropaganda“ für alle Schulen und öffentlichen Einrichtungen herstellen. Über den Inhalt berichtete die Londoner Times am 6. Mai 1946: Auf diesen Plakaten wird jedes Kind lesen können, wie viele Männer, Frauen und Kinder Westfalens im Krieg umgekommen sind und wie groß der materielle Schaden ist, den die Provinz erlitten hat: Es sind genaue Einzelheiten darüber angegeben, wie viele Pfarrer und Arbeiterführer verhaftet und getötet wurden, wie viele Männer und Frauen Westfalens in Konzentrationslagern gefangen gehalten wurden, wie vielen westfälischen Frauen die Asche ihres ermordeten Ehemannes mit der Post zugeschickt wurde, wie viele Söhne Westfalens bei Stalingrad umkamen, wie viele einarmige und einbeinige Kriegskrüppel jetzt in Westfalen leben (...) Die amtliche deutsche Erklärung fügt hinzu: Wenn irgendjemand angesichts einer solchen Bilanz weiterhin herumschwätzt, dass Deutschland und er selbst unter Hitler besser dran war, so sollte man ihn in ärztliche Pflege geben. 15 Politiker in westfälischen Kommunen haben sich dieser Information in öffentlichen Versammlungen bedient. Der Paderborner Bürgermeister Christoph Tölle, der sich immer wieder mit dem Nationalsozialismus befasste, hat seinen handschriftlichen Notizen für Jugendkundgebungen das Stichwort hinzugefügt: „Plakat Amelunxen“. 16 Das Fazit der Recherchen und Analysen lautet: Es war das Verdienst vieler Politiker in den Städten, Gemeinden und Kreisen, dass die junge Generation in sehr praktischer und glaubwürdiger Weise mit der jungen Demokratie bekannt und vertraut gemacht und gegen demagogische Angebote von rechts immunisiert wurde. Es war auch das Verdienst dieser Frauen und Männer, dass das Riesenheer der Ostvertriebenen - Ostwestfalen war ein Gebiet mit hoher Flüchtlingsdichte - in der Aufnahmegesellschaft so integriert wurde, dass sich die Vertriebenen politisch nicht radikalisierten. Die lokalen Führungskräfte leisteten in dieser prekärsten Phase der deutschen Nachkriegsgeschichte einen wesentlichen Beitrag zur Überlebensfähigkeit ihrer Bevölkerung. Das wird in vielen Darstellungen dieser Zeit übersehen oder verkürzt. Die unmittelbare Versorgungsnot schuf eine Betroffenheit, die Deutsche und Besatzer so sehr involvierte, dass sie die Grenzen und Distanzen untereinander zeitweilig suspendierten. Die Besiegten konnten weder arbeiten noch sich demokratisieren, wenn sie hungerten. Die „materielle Existenzkrise“ fügte sich in die makroökonomischen Fakten der westalliierten Politik. Auf der Durststrecke von 1945 bis zu den ersten Kre- 15 Kontrollkommission für Deutschland (britischer Teil), Zonenbeirat HQ/ 14104-ZAC. Vgl. die ausführliche Notiz bei L. Albertin: Politik im besiegten und befreiten Deutschland 1945-1949, in: Detmold in der Nachkriegszeit. Dokumentation eines stadtgeschichtlichen Projekts, hg. von der Stadt Detmold, bearb. von Wolfgang Müller, Hermann Niebuhr und Erhard Wiersing, Aisthesis Verlag, Bielefeld, 1994, 9-42, Anm. 26. 16 Nachl. Christoph Tölle, Stadtarchiv Paderborn. <?page no="66"?> Lothar Albertin 62 diten aus dem Marshall-Plan waren Besatzungsmächte und deutsche Kräfte mehr aufeinander angewiesen, als die öffentliche Rhetorik erkennen ließ. Vor Ort saßen sie letztlich in einem Boot. Diese kooperative Annäherung vertiefte sich, wo die deutschen Repräsentanten aus Politik und Verwaltung sich den Jugendproblemen stellten. Die örtlich und regional maßgeblichen Offiziere der Briten, Amerikaner und Franzosen beobachteten die zupackende Übernahme der Verantwortung auf deutscher Seite mit Respekt und verzichteten bald auf ihren restriktiven und wenig ergiebigen Kontrollaufwand. Pragmatische Solidarität war in der Grundstimmung die Tendenz des Besatzungsalltags. Die Moskauer Außenministerkonferenz vom 10. März bis zum 24. April 1947 erhärtete, was sich effektiv oder latent längst angekündigt hatte: die Spaltung der Siegermächte in den großen Fragen ihrer Deutschlandpolitik. Die SBZ blieb auf ihrem separaten Weg, und - wie die Forschung es nennt - mit asymmetrischen Parallelen für den gesamtdeutschen Betrachter. Das Glück des Friedens: Studium in Köln Im folgenden bringe ich einige persönliche Erinnerungen seit meiner Rückkehr in den Frieden ab 1945 und verschränke sie mit historischen Entwicklungen. Ich hatte das unwahrscheinliche Glück, noch in der Nacht meiner Verwundung im Januar 1945 operiert zu werden und mit dem letzten Lazarettzug aus Posen herauszukommen, bevor sich der Kessel schloss. In der amerikanischen und britischen Gefangenschaft, in den berüchtigten Erdlöchern auf den Rheinwiesen, kam eine neue Erfahrung hinzu: der Hunger. Die materiellen Bedürfnisse schrumpften auf ein unvorstellbares Minimum. Der Lebenswille erwachte nur langsam und erschöpfte sich in berauschenden Träumen von einer Zukunft, in der wir auf irgendeinem Bauernhof würden hart arbeiten und soviel Brot und Kartoffeln essen können, wie wir wollten. Nach dem Kriege begann aber auch das geistige Leben spontan und ergab sich aus jeweiligen Gelegenheiten. Die Studienplätze für meine Altersgruppe waren knapp. Von den medizinischen Fakultäten erhielt ich mehrere Absagen, die Universität Köln schrieb mir jedoch, dass ein Platz in der Philosophischen Fakultät frei sei, und ich genoss das Glück, nach den Jahren des Grauens seit dem Sommersemester 1948 in Frieden studieren zu können. Aber dieser Frieden war auch ein Ziel, den die deutsche Nachkriegsgesellschaft gestalten sollte - unter Aufsicht und Steuerung der Besatzungsmächte. Es erschien uns notwendig, mit unseren Erfahrungen dabei mitzuwirken - im politischen Arbeitskreis der evangelischen Studentengemeinde (mein Studentenpfarrer war der spätere theologische Generalsekretär des Kirchentages Heinrich Giesen), in der politischen Hochschulgruppe, die ich <?page no="67"?> Deutschlands Weg in den europäischen Frieden ab 1945 63 gründete und mit der wir - im Rahmen der Pax Christi-Bewegung - einer Einladung des Bischofs von Bordeaux folgten. Das war eine Zeit, in der wir von der europäischen Einigung träumten, vielleicht auch schwärmten, in der wir nichts von der nationalen Identität hielten. Sie war korrumpiert worden durch den exzessiven Nationalismus, den Militarismus, Imperialismus und Nationalsozialismus. „Nirgendwo in Europa fand die Vereinigung Europas eine derart große Mehrheit an Befürwortern wie in Westdeutschland.“ 17 Wir glaubten sogar, die deutsch-französischen Schlagbäume ließen sich über Nacht abreißen. Wir waren ungeduldig und bemerkten gar nicht, dass tatsächlich eine der bedeutendsten Phasen der europäischen Geschichte begonnen hatte. Im Rückblick habe ich es für einen lebensgeschichtlich symbolischen Zufall gehalten: die zeitliche Koinzidenz meiner Entlassung aus Gefangenschaft mit der Rede Winston Churchills in der Universität von Zürich in derselben Septemberdekade 1946, mit seinem Appell zur europäischen Einigung, deren erster Schritt die deutsch-französische Verständigung sein sollte. In der Universität begann das Leben mit Büchern, mit zeitbedingten Lücken - für die der Nationalsozialismus gesorgt hatte. Die eigenen Verlusterfahrungen zuvor lagen auf der Hand. Meine Mutter und mein Bruder hatten auf der Flucht aus Masuren unter den wenigen Habseligkeiten in einem Koffer einige Familienphotos gerettet. Ich selbst hatte in Russland, am Peipussee, bei der ersten Verwundung mein kostbares Tagebuch verloren, in dem ich niedergeschrieben hatte, was ich in den Briefen an meine Mutter verheimlicht hatte: Situationen der Angst und Todeserfahrung. Welche Lücken entdeckten wir nun als Studierende der Geschichte, Germanistik und Staatsphilosophie? Ich muss den personellen Kontext erläutern. Der Rektor Joseph Kroll war ein renommierter Altphilologe. Sein Adlatus für viele Dinge war ein Regierungsrat, als dessen Adlatus wiederum ich eine Zeitlang meine Stipendien aufbessern durfte. Das war vor allem ein Job mit viel Einblick. Für Kroll dominierten die Idee des christlichen Abendlandes und dessen Kulturgüter. Er beschwor dazu die Antike, das Mittelalter, auch den deutschen Idealismus, oder sprach von universaler Bildung. Aber Kroll hatte auch ein Gespür für qualifizierte Kollegen in der Berufungspolitik. Da gab es Richard Alewyn, den Germanisten jüdischer Herkunft, 1931 in Berlin habilitiert, 1933 in Heidelberg entlassen. Nach Stationen in der Sorbonne, in London und Cambridge, schließlich 1939 in den USA, war er bereit, zu remigrieren. Kroll schrieb ihm von dem „Mangel an Persönlichkeiten, die nicht unter der geistigen Einschnürung des Nazi-Regimes und des Krieges gelitten haben, und die im engeren Kontakt mit der wissen- 17 Hans-Ulrich Wehler: Die Last des Erfolgs, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Nr. 60 (2009), 478-4889 (484). <?page no="68"?> Lothar Albertin 64 schaftlichen Sicht des Auslands geblieben sind. Überhaupt haben wir ein starkes Verlangen nach Männern, die von der Atmosphäre der freien Welt getragen sind.“ 18 Alewyn war ein brillanter Barockkenner. Mit Hilfe weniger winziger Notizblätter sprach er druckreif. Später wurden daraus Aufsätze und Bücher. Wir besuchten seine Vorlesungen aber auch aus einem anderen Grunde. Alewyn äußerte sich irritiert darüber, dass man 1949 wieder unbekümmert Goethe feierte. „Zwischen uns und Weimar liegt Buchenwald“, war seine Auffassung. Er sagte in seiner ersten Vorlesung im Goethejahr 1949: „Es gibt für uns kein Zurück mehr zu Goethe. Wir haben endgültig sein Reich verlassen, er ist für uns nicht mehr als Zuflucht da. Goethes Lebensform ist ohne Unwahrheit nicht mehr möglich.“ 19 Für solche Betrachtungen klafften lange Zeit große Lücken in der Fachbibliothek. Ähnlich war es bei den Historikern, wenn der berühmte Theodor Schieder, mein späterer Doktorvater, ein Hauptseminar über Karl Marx hielt; als seine studentische Hilfskraft im unteren Semester durfte ich teilnehmen, sogar ohne Aufnahmeprüfung. Der Aufbau meines eigenen Bücherbestandes begann woanders: nämlich während meines Jahresstipendiums an den beiden Universitäten zu Amsterdam. Mit meinen holländischen Freunden besuchte ich den Büchermarkt in Scheveningen und kaufte ganze Reihen deutscher Klassiker zu spottbilligen Preisen ein. Diese Sonderangebote erklärten sich leicht aus der tiefen historischen Enttäuschung der früheren Liebhaber deutscher Literatur über den deutschen Nachbarn. Ansonsten waren Bücher teuer, und dem deutschen Stipendiaten blieb nur, viel mitzuschreiben, zumal in der Theologie, in der ich mehr als in meinen Fächern hörte, denn in Amsterdam gab es einen exzellenten Karl Barth-Kenner, der Berkower hieß. So gab es Eindrücke und Zeichen, die von außen kamen und uns erinnerten, dass der Frieden nicht ohne die gebrochene Vergangenheit des eigenen Volkes erfahren werden durfte. Kalter Krieg und Entspannung Wir erinnern uns alle: Der Frieden befestigte sich in dem Maße, wie die europäische Einigung voranschritt. Aber der Frieden blieb fragil, solange wir in der West-Ost-Dimension im Kalten Krieg lebten. Er wurde auch im Schrifttum geführt Er sorgte für mehr oder minder krasse Feindbilder. Persönliche Kontakte waren umso wichtiger, vor allem innerhalb Deutschlands. 18 Leo Haupts: Die Universität zu Köln im Übergang vom Nationalsozialismus zur Bundesrepublik. Studien zur Geschichte der Universität Köln Bd. 18, Böhlau Verlag, Köln, Weimar, Berlin, 2007, 2009. 19 Op. cit., 212. <?page no="69"?> Deutschlands Weg in den europäischen Frieden ab 1945 65 Während meines Jahres als Studienassessor am Detmolder Leopoldinum gingen Kollegen und ich mit einer Unterprima nach Lübben im Spreewald und suchten das unverstellte Gespräch mit der dortigen schulischen Jugend. Es gehörte damals zum Geist mancher Schulen, dass Schülerschaft und Lehrerkollegium sich nicht abfinden wollten mit der Spaltung Deutschlands. Wir waren ungeduldig und glaubten, durch persönliche Begegnungen Berge versetzen zu können. Tatsächlich sperrte sich die historische Entwicklung noch jahrzehntelang solchen subjektiven Wünschen. Mein späterer Spielraum für Reisen während meiner politischen Bildungsarbeit für Primaner auf dem Jugendhof Vlotho im Auftrage der Landesregierung brachte mir in kommunistisch gesteuerten Ländern eine Grunderfahrung: Es war unendlich schwer, die Neugier und Diskussionsbereitschaft unserer durch einseitige Lektüre indoktrinierten Gesprächspartner zu erreichen. So war es bei den Weltfestspielen für Jugend und Studenten in Moskau - sogar in einem langen Gespräch mit dem Verleger Ernst Rowohlt, der sich dort für propagandistische Zwecke instrumentalisieren ließ. Ähnliche Erfahrungen machten wir in der CSSR, in Jugoslawien und Bulgarien. Auch unser damaliges Ministerium für innerdeutsche Beziehungen beobachtete solche Kontakte argwöhnisch genug, zumal seine eigenen Publikationen oft einseitig waren. Immerhin förderte es - nach langem Zögern - die Teilnahme einer stärkeren Gruppe an den folgenden Weltfestspielen in Wien, wo wir analysierten, was dort geschah. Unsere Behörden blieben aber im Kalten Krieg übermäßig wachsam. Meine Eindrücke, die ich in den „West-Ost-Berichten“ publizierte, brachten mir noch an der Universität Marburg 1962 den Besuch des Verfassungsschutzes ein. Ich musste den Beamten erst darüber aufklären, dass ich meine Erfahrungen aus der Sowjetunion bereits im West-Ost-Arbeitskreis des Auswärtigen Amtes vorgetragen hatte. Westeuropäischer Einigungsprozess: Einbindung der Bundesrepublik Ein Rückblick auf die Politik in Deutschland ab 1945 erkennt noch eine andere Perspektive, die bis in unsere Gegenwart reicht. Im September 1946 hatte Winston Churchill in seiner Rede vor der Jugend in Zürich für die Idee der „Vereinigten Staaten von Europa“ geworben. Im Mai 1949 gründeten zehn europäische Staaten den Europarat mit Sitz in Straßburg und unterzeichneten bald darauf die „Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten“. Es war Churchill, der die Aufnahme der Bundesrepublik als Mitglied empfahl. Bereits im August 1950 nahmen die deutschen Delegierten in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ihren Platz ein. Fünf Jahre nach Kriegsende kehrte Westdeutschland in den Kreis der Völker zurück. <?page no="70"?> Lothar Albertin 66 Zuvor taten Konrad Adenauer und Robert Schuman einen der wichtigsten Schritte in der deutsch-französischen und europäischen Nachkriegsgeschichte. Sie unterstellten die nationale Produktion von Eisen und Stahl einer supranationalen Kontrollbehörde. Eisen und Stahl waren das Material, aus dem Waffen geschmiedet wurden. Nun beendeten beide Völker ihre Erzfeindschaft. Eine erneute Vormachtstellung der deutschen Schwerindustrie war damit unterbunden. Im April 1951 schlossen sie, gemeinsam mit Italien, Belgien, Holland und Luxemburg, die „Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl“. Sie begann ihre Arbeit im August 1952. Bereits 1957 unterzeichneten die sechs Staaten in Rom die Verträge über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und Atomgemeinschaft. Diese wenigen Jahre seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gehören zweifellos zu den faszinierendsten Etappen der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts: wegen des Tempos des Prozesses und wegen der inhaltlichen Konsequenzen für einen langen Frieden in Europa. In der europäischen und West-Ost-Dimension waren wir währenddessen Zeugen der schrittweisen Annäherung vom Kalten Krieg zur Entspannung, bis zur Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Helsinki, zu der dortigen Schlussakte 1973 und den Nachfolgekonferenzen. Der Kontrast der Mauer blieb, aber wir bemühten uns, die Feindbilder durch vertrauensbildende Kontakte aufzulösen - auch als Einzelne. Vom Bau der Berliner Mauer erfuhr ich am 13. August 1961 in der Sowjetunion, über das Radio. Es war in Tiflis. Hatten wir sonst eine Traube von Menschen um unseren Wagen versammelt, erfreut über den Besuch von Westdeutschen, neugierig und offenherzig im Gespräch, so trafen wir nun auf feindselige Mienen. Ein Georgier machte Zeichen, als wolle er mit dem Gewehr auf mich anlegen, und rief: „Sagen Sie Ihren Freunden zu Hause: Wenn sie kommen, dann schießen wir doppelt zurück! “. Was man über den Staatsrundfunk wusste, war dies: In Berlin war eine Maßnahme getroffen worden, um einer akuten Bedrohung durch die revanchistische Bundesrepublik entschlossen zu begegnen. Es war das offizielle Feindbild des Kalten Krieges, an das die meisten glaubten. Der letzte Krieg war noch gegenwärtig. Auf der langen Strecke zwischen Leningrad und dem Kaukasus erinnern heute noch Gedenkstätten an die Toten aus Nowgorod, Moskau, Kursk, Charkow und Rostow - insgesamt 20 Mio. - und an die unermesslichen Zerstörungen. Aber wer in der Bundesrepublik sollte den Krieg wollen? Fast jede Familie hatte Angehörige im letzten Krieg verloren - wie meine Familie unseren Vater hinter dem Ural. Erst diese Antwort veränderte die Einstellung der Menschen. Wir wurden persönlich glaubwürdig - und am Ende saßen wir mit ihnen zusammen, eingeladen zum Tee, in einem nahen Cafe. Wichtige Fortschritte in der westeuropäischen Integration ergaben sich aus deutsch-französischen Impulsen, insbesondere dank der regelmäßigen <?page no="71"?> Deutschlands Weg in den europäischen Frieden ab 1945 67 Konsultationen seit dem Elysée-Vertrag von 1963. Als stetiges und erfolgreiches Indiz der besonderen Verbundenheit gilt seitdem das Deutsch-Französische Jugendwerk. Manfred Bock hat dessen Genesis und Nachhaltigkeit untersucht. Von Ingo Kolboom wissen wir, dass es dem Deutsch-Polnischen Jugendwerk als Vorbild diente und dass beide Projekte zu trilateralen Vorhaben geführt haben. Die moralisch-politische Dimension des Vertrages, nämlich die historische Rückbesinnung und die Verpflichtung für kommende Generationen, fundiert das institutionelle Regelwerk mit einer unverwechselbaren Bindekraft. „Dies machte im Resultat“, so die Überzeugung von Ingo Kolboom, „das deutsch-französische Verhältnis zu einem Sonderverhältnis mit einem in der Welt einmaligen formellen und informellen Beziehungsnetz auf allen Ebenen von Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft, das auch unter veränderten Bedingungen funktionieren kann - wenn der politische Wille nicht nachläßt.“ 20 Gesamteuropäische Hoffnungen Alle Reisen und Begegnungen von Schulklassen, Vereinen und Gruppen in die DDR blieben weiterhin spärlich und mühsam. Nach Westen wurden die Kontakte noch lebhafter und dichter. Sie vermehrten sich auch in Länder des Ostblocks, nach Polen, in die Tschechoslowakei, nach Jugoslawien oder Bulgarien. Und sogar in der Moskauer Lomonossow-Universität ließ man uns manchmal wissen, die DDR sei das Museum des Stalinismus. Wie aber Deutschland ein geteiltes Land blieb, so war die EG ein westeuropäischer Torso geblieben. Ich erinnere mich eines denkwürdigen Tages in Straßburg, 40 Jahre nach Kriegsende. Ich war dort mit einem studentischen Seminar. Der amerikanische Präsident Ronald Reagan besuchte das Europäische Parlament. Dessen Präsident Pierre Pflimlin erinnerte an den 8. Mai 1945: Dieser Tag sei nicht nur ein Ziel gewesen, sondern auch ein Ausgangspunkt, der Anfang einer Friedensära. Er sagte dann unter lebhaftem Applaus: „Dresden und Warschau, Prag und Budapest sind auch europäische Städte wie die Hauptstädte unserer Mitgliedstaaten. Die Vereinigung aller europäischen Völker erscheint heute wie eine Utopie. Aber niemand kann uns untersagen, von einem ganzen, friedlich geeinten Europa zu träumen. Die großen Fortschritte der Humanität waren oft Utopien, die Realität wurden. Die einzigen Waffen, über die Utopisten verfügen, sind geistiger Art.“ 20 Ingo Kolboom: Das „Weimarer Dreieck“. Nachgedanken zur Gestaltung der europäischen Mitte, in: Walter Schmitz (ed.): Ein anderes Europa. Innovation - Anstöße - Tradition in Mittel- und Osteuropa, Dresden 2007, 188-209.(195). <?page no="72"?> Lothar Albertin 68 Geistiger Art ist auch die Erinnerung an das Martyrium bis zum Kriegsende. An diesem Tage, nach 40 Jahren, fuhr unsere Studentengruppe, zusammen mit Europaparlamentariern verschiedener Nationen, in die Vogesen, in das ehemalige Konzentrationslager Struthoff auf französischem Boden, um die Toten zu ehren. Es ist einer der vielen Plätze, die daran erinnern, dass der Kreis der Völker, die nach dem Kriege auf eine gemeinsame europäische Zukunft gehofft haben, viel größer als damals die EG war. Die gemeinsame europäische Zukunft war immer die Vision einer Wertegemeinschaft. Im März desselben Jahres 1985 sagte ein französischer Europaparlamentarier: „Niemand kann heute über die Menschenrechte reflektieren, ohne von der europäischen Frage zu handeln. Die Achtung und die Würdigung der Freiheiten sind unleugbar Teil der europäischen Identität.“ Die engere bilaterale Kooperation bewährte sich insbesondere, wenn der Einigungsprozess zu stagnieren drohte. Als in den achtziger Jahren die Reform der Römischen Verträge dringlich geworden war, erwiesen sich beide Partner als deren dezidierte Befürworter, etwa durch einen deutsch-französischen Entwurf auf der Mailänder Gipfelkonferenz im Juni 1985, der die Europäische Politische Zusammenarbeit in der Außenpolitik betraf und auf dem Luxemburger Gipfel Anfang Dezember 1985 behandelt wurde. Die „Zeit“ schrieb danach: „In der engeren deutsch-französischen Zusammenarbeit gibt es auch heute keine Alternative. Kein anderes Land könnte in die Bresche springen, wenn in Bonn und Paris das Europa-Engagement nachließe.“ 21 Zwei Jahre später begann das Erasmus-Programm - mit dem Ziel, 10% aller Studierenden sollten eine Studienphase in einem anderen Mitgliedsland absolviert haben. Im Jahre 2005 waren es 145.000 und 21.000 Hochschullehrer, aus 31 Staaten; 2012 sollen es 3 Mio. Studierende sein. Das ist eine ausgreifende Fundierung und Befestigung des normativen europäischen Bewusstseins. Hatte nicht Jean Monnet, Präsident der Hohen Behörde der Montanunion, gesagt: „Wenn ich es noch einmal tun sollte, würde ich mit der Bildung beginnen.“ Bald nach dem Ereignis in Straßburg hielt der renommierte Politikwissenschaftler Richard Löwenthal in einer Vorlesungsreihe über „Probleme und Perspektiven europäischer Einigung“ an der Universität Bielefeld einen Vortrag, 22 in dem er für das künftige, friedlich geeinte Europa - das bis zum ukrainischen Bug reiche - eine „einzigartige Kombination von Werten“ zugrunde legte. Mit der Zeitenwende von 1989/ 90 erfüllten sich, wovon wir 21 Die Zeit 6.12.1985, zit. bei Lothar Albertin: Deutsch-französische Europapolitik unter Erwartungsdruck, in: Ders. (ed.): Probleme und Perspektiven europäischer Einigung. Beiträge aus Politik und Wissenschaft, Düsseldorf, 1986, 83-101 (85). 22 Richard Löwenthal: Westeuropa und Osteuropa: Gemeinsamkeiten, Gefahren, Aufgaben, in: Lothar Albertin (ed.), Probleme und Perspektiven europäischer Einigung. Beiträge aus Politik und Wissenschaft, Düsseldorf, 1986, 119-128. <?page no="73"?> Deutschlands Weg in den europäischen Frieden ab 1945 69 allenfalls zu träumen wagten: die deutsche Vereinigung und die Auflösung des Ostblocks. Die Zeitenwende: deutsche Vereinigung Da waren die Ereignisse, deren Bilder um die Welt gingen: die Leipziger Montagsdemonstration am 3. Oktober 1989 und eine Welle anderer Kundgebungen. Alle Demonstrationen verliefen gewaltlos. Ein Pfarrer aus Wittenberg, der Stadt Luthers, rief Hunderttausenden zu: „Lasset die Geister zusammenprallen, die Fäuste aber haltet stille! “ Im Jahre des 200jährigen Jubiläums der französischen Revolution fügten die Ostdeutschen der Revolutionsgeschichte einen neuen Typ hinzu: die friedliche, gewaltlose und erfolgreiche Revolution. Am 9. November fiel die Mauer. Die Sowjets behielten ihre Panzer in den Kasernen. Anfang Februar 1990 brachten der deutsche Bundeskanzler und sein Außenminister aus Moskau die Zusage mit, dass die Deutschen selber über ihre staatliche Einheit bestimmen könnten. Mitte Juli 1990 stimmte Gorbatschow im Kaukasus sogar zu, dass das geeinte Deutschland der NATO angehören könne. Wir rieben uns die Augen. Dieser Wandel des Denkens war unfassbar. Seit der gewaltlosen Revolution in der DDR hatte sich das Paradigma der internationalen Politik verändert. Bisher war diese eine Angelegenheit der Regierungen. Nun griff unerwartet ein neuer Faktor in die Entwicklung ein: die Bewegung des Volkes, und zwang die Mächte und Supermächte, ihre Strategien, Ziele und Zeitpläne zu ändern. Die deutsche und die europäische Geschichte kannten bisher nur die erfolglosen Forderungen von Pazifisten, die Beziehungen zwischen den Staaten zu demokratisieren, das heißt, unter den Einfluss der Völker zu bringen. Diesmal - in der DDR von 1989 - erreichte das Volk gewaltlos seine Selbstbestimmung und - gemeinsam mit den Ungarn, Polen, Tschechen und Slowaken - den Abbau der Feindbilder zwischen den Militärblöcken. Es waren Feindbilder des Kalten Krieges, die aus der Politik in Deutschland und Europa ab 1945 hervorgegangen waren. Das Ende der Nachkriegsgeschichte war erreicht. Für einen Vortrag an einer Pariser Universität schlugen mir Kollegen und Studenten das Thema vor: „Faut-il avoir peur de l’Allemagne? “ - Muss man Furcht haben vor Deutschland - das nun vereinigt war? . Nirgends im westlichen Ausland wurde darüber so intensiv diskutiert wie in Frankreich. Nunmehr bewährte sich aber auch die lange Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik in der europäischen Einigung - auf allen Ebenen. Da waren die bilateralen Initiativen von der EG zur EU, das Deutsch-Französische Jugendwerk, die beiderseitigen Bürgermeistertreffen im Deutsch-Französischen Institut in Ludwigsburg, die zahlreichen Städtepartnerschaften. <?page no="74"?> Lothar Albertin 70 Es war der Franzose Jacques Delors, der als damaliger Präsident der EG für eine schnelle Einbindung der neuen Bundesländer in die EG sorgte. Wer denkt heute noch daran, wenn man Anfang 2006 in der Presse lesen konnte, dass Mecklenburg-Vorpommern für die Jahre 2007 bis 2013 europäische Fördermittel in Höhe von 2,5 Milliarden zugeteilt erhielt, die es vor allem zur Stärkung des ersten Arbeitsmarktes einsetzen wollte. „Europa der Regionen“ - Politikarenen einer gemeinsamen Zukunft? Die „Schlüsseljahre“ 1989/ 1990 geben Grund, das „Europa der Regionen“ in Erinnerung zu rufen. Es war Frankreich - an sich der zentralistische Nationalstaat par excellence - das zur Idee und zum Prozess eines „Europa der Regionen“ wesentlich beigetragen hatte. Ein Schwerpunkt waren seit 1971 die Arbeitsgemeinschaften aus niederländischen, deutschen, französischen und schweizerischen Grenzregionen, die ihre supranationale Kooperation rasch erweiterten, in der es um Raumordnung und Urbanismus ging, um wirtschaftliche Entwicklung, Bildung und soziale Dienste. Seit der Dezentralisierung 1982/ 83 hatten zudem die 22 Regionen eine wesentliche institutionelle Stärkung erfahren. Ihre Vorgeschichte begann in den 50er Jahren. Sie wurden Quellen wirtschaftlicher Kraft, setzten eigene materielle, personelle und ideelle Ressourcen frei und fanden nach und nach zu einer eigenen Identität. Die ersten deutsch-französischen Kontakte entfalteten sich nach dem Kriege zwischen Rheinland-Pfalz und der Bourgogne. 23 Seit die innerdeutschen Verhältnisse in Bewegung gerieten und die mittel- und osteuropäischen Staaten sich aus dem Bann des Ostblocks lösten, sahen sich die westdeutschen Bundesländer vor die Frage gestellt, mit welchem organisatorischen Gefüge ökonomischer und politischer Ressourcen die EG sich den Nachbarn aus dem Osten am besten zuwenden, öffnen und beistehen konnte. Für die alten Bundesländer ergriff Nordrhein-Westfalen - ohnehin mit der Vorbereitung auf den Binnenmarkt befasst - die Initiative. Die Aufwertung der Regionen zugunsten einer effizienten und demokratischen Organisation des Binnenmarktes und die „Soforthilfe“ und „längerfristige Strukturhilfe“ für die Länder in Mittel- und Osteuropa wurden geradezu als ein konditionales Junktim gesehen. Ein voluminöser Tagungsband „Die Kraft der Region: Nordrhein-Westfalen in Europa“ bestätigte in der Vielfalt der Aspekte eine nahezu euphorische Stimmung. Johannes Rau schrieb im „Geleitwort“, mit ausdrücklichem Hinweis auf den Bedeutungszuwachs der Regionen in Frankreich: „Die Stärke des künftigen Europas wächst aus den Regionen und der Bereitschaft der Menschen, aus regiona- 23 Lothar Albertin: Frankreichs Regionalisierung - Abschied vom Zentralismus? In: Frankreich Jahrbuch 1988, 135-154. <?page no="75"?> Deutschlands Weg in den europäischen Frieden ab 1945 71 lem Selbstbewusstsein europäisch zu denken und zu handeln. Ich bin überzeugt: Ohne starke Regionen gibt es kein starkes Europa.“ 24 Die Forderung, die EG mit mehr „Sach- und Bürgernähe“ auszustatten, war längst unbestritten. Die Idee einer effizienten Subsidiarität überlässt kleineren Gebietskörperschaften, was sie besser leisten können als der Zentralismus der Brüsseler Behörde, und hält sie zugleich für grenzüberschreitenden Regelungsbedarf in Großräumen offen. Das Prinzip der Bürgernähe steht aber für mehr. Es meint wesentlich die mentale Verankerung der Einigungsidee in der Bevölkerung. 25 Das Europäische Parlament hatte bereits in seinem Bericht Mitte Mai 1986 einen allgemeinen Trend zur Dezentralisierung begrüßt. Es befürwortete eine „Regionalpolitik „von unten nach oben“ statt „von oben nach unten“ oder „durch die Regionen“ statt „für die Regionen“. Es hat Ende 1988 eine „Gemeinschaftscharta der Regionalisierung“ verabschiedet, die weitere Schritte erleichtern sollte. 26 Für die Kommission gab es seit 1988 einen „Beirat der regionalen und lokalen Gebietskörperschaften“. Neben anderen institutionellen Ausformungen in den Kontexten von EG und Europarat verdient hier eine Vereinigung größte Aufmerksamkeit, die seit 1995 als „Versammlung der Regionen“ mit Sitz in Straßburg und in enger Kooperation mit dem Europarat agiert. Im Jahre 1990 brachte diese Vereinigung eine „Tabula Regionum Europae“ heraus, die in buntscheckiger Vielfalt nicht nur die europäischen Gebiete der westlichen Demokratien präsentierte, sondern auch die territorial untergliederten Staaten Ost- und Südosteuropas. Es war der optisch beeindruckende Vorgriff auf eine gesamteuropäisch organisierte Zusammenarbeit, die geeignet erschien, die konflikthaltige Bedeutung nationalstaatlicher Grenzen herabzustufen. Die West-Ost-Zusammenarbeit gehörte seit 1991 zu den „Grundprioritäten“. Noch Anfang Mai 1991 wurden weitere Zulassungen beschlossen: der polnischen Wojwodschaften Krakau und Kattowitz - Lodz, Posen und Warschau gehörten schon dazu - und der jugoslawischen Republiken Bosnien-Herzegowina und Montenegro. Der Zeitgenosse kann nur mit Bitterkeit darüber spekulieren, ob es für sie und für Kroatien und Serbien, die bereits Mitglieder waren, zu den leidvollen Konflikten gekommen wäre, wenn dieser Prozess europäischer Verflechtung früher eingesetzt und diese Mitgliedsregionen stärker eingebunden hätte. Wer die hoffnungsvollen Entwicklungen und Ansätze interregionaler Zusammenarbeit heutzutage überblickt, wird sich besorgt fragen müssen, 24 Ulrich von Alemann/ Rolf G. Heinze/ Bodo Hombach (eds.): Die Kraft der Region: Nordrhein-Westfalen in Europa, Verlag Dietz Nachf., Bonn, 1990, 13. 25 Lothar Albertin: Der Spätstart der Bundesländer - ein Demokratisierungsschub für die Europäische Gemeinschaft? In: Ulrich von Alemann u.a. (eds.): Op. cit., 164-177 (166). 26 Lothar Albertin: Der Spätstart, op. cit., 173. <?page no="76"?> Lothar Albertin 72 warum sie in Teilen mit den Erweiterungen der EU 2004 und 2007 an Kraft und Geltung verloren haben, nämlich durch die Revitalisierung nationalistischer Bewegungen und Interessen überspült und verdrängt worden sind. So befürchtet etwa Heinrich August Winkler zu recht - mit Blick auf den Nationalismus in der Slowakei und in Ungarn sowie ähnliche Tendenzen auf dem Balkan, dass die „Integration von Südosteuropa (...) noch viele Jahrzehnte in Anspruch nehmen“ wird. 27 Insofern verstehe ich meine Erinnerung an das „Europa der Regionen“ auch als einen Appell, dessen Ideen und Elemente wiederzubeleben oder zu stärken. Wir diskutieren bis in jüngste Zeit - und insbesondere seit der Erweiterung der EU auf 27 Mitgliedstaaten - die Frage: Handelt es sich nur um einen wirtschaftlichen Zweckverband oder auch um eine Wertegemeinschaft? Die gesamte Geschichte der europäischen Einigung demonstriert nach meiner Überzeugung im Grunde den Charakter einer Wertegemeinschaft. Auch der Grundlagenvertrag, der im europäischen Konvent unter Giscard d'Estaing beraten worden ist und noch einmal in Lissabon zur Disposition stand, spricht für dieses Ziel. Ich meine, dass ein „Europa der Regionen“, das in den Verträgen von Maastricht 1993 in die EU eingebunden worden ist, die Realisierung Europas als Wertegemeinschaft am ehesten ermöglichen und beflügeln kann. Ich nenne exemplarisch die Bretagne, lange Zeit eine der bestgeförderten Regionen Europas. Ihrer Initiative verdanken wir die „Conférence des régions périphériques maritimes européennes“ seit 1971, in der bald die Küstenregionen von Schottland bis Sardinien zusammenarbeiteten. Aus der Bretagne stammte auch der Schriftsteller Pierre-Jakez Hélias. Er hat dort die Renaissance kultureller Identität angestoßen und gefördert. Allein sein Buch Le Cheval d'Orgueil - das in übertragener Bedeutung das „Traumpferd“ als Zeichen des stolzen Selbstbewusstseins des Bretonen meint - wurde von zwei Mio. Franzosen gelesen und in 18 Sprachen verbreitet. 28 Warum erwähne ich diese Resonanz? Weil die Botschaft dieses Werkes lautet: Regionale Identität enthält universale Werte der Humanität: die Friedensliebe und die Kenntnis und Achtung des andern. 29 Es war kein Zufall, dass im Referendum der Franzosen über die Verträge von Maastricht - von der EG zur EU - die fünf Departements der Bretagne mit 60% dafür stimmten - der nationale Durchschnitt lag niedriger. Aus einer allgemeinen Umfrage im September 1993 hielt das Institut in Allens- 27 Heinrich August Winkler: Europa an der Krisenkreuzung, FAZ, 13.8.2010, 34. 28 Pierre-Jakez Hélias: Le Cheval d’Orgueil. Mémoires d’un Breton du pays bigouden, Plon, Paris, 1975. 29 Lothar Albertin: Regionale kulturelle Identität. Selbstgenügsames Refugium oder europäisches Handlungselement? In: Rien T. Segers/ Reinhold Viehoff (eds.), Kultur - Identität - Europa: Über die Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer Konstruktion, Frankfurt a. M., 1999, 321-332 (325-328). <?page no="77"?> Deutschlands Weg in den europäischen Frieden ab 1945 73 bach die schlichte Wahrheit fest, das stärkste Motiv für die europäische Einigung hieße: „Damit es nie wieder Krieg in Europa gibt! “ Die Botschaft von Pierre-Jakez Hélias sagt es auch anders. Sie wirbt für den wachsamen Umgang mit der kostbaren Freiheit durch Warnung vor jedem politischen Extremismus im eigenen lokalen und regionalen Umfeld, in Europa und weltweit. Der europäische Einigungsprozess behielt nach der deutschen Wiedervereinigung die Dynamik einer Erfolgsgeschichte. Seit dem Vertrag von Maastricht vollzog sich der Übergang von der EG zur politischen Union fast wie in zwingender Folge, mit der stufenweisen Vorbereitung der europäischen Währung, mit der Ausdehnung der Gemeinschaftsaufgaben, wie Industriepolitik, allgemeine und berufliche Bildung, Kultur, Gesundheit, Verbraucherschutz, Verkehr, Telekommunikation, Energie; mit der sukzessiven Aufhebung der Grenzkontrollen, mit der weiteren Fortschreibung der Entwicklungshilfe in den Verträgen von Lomé I bis IV seit 1975, dann Cotonou/ Benin 2000. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik gewann eine zentrale Bedeutung, schon in den friedenerhaltenden und friedenschaffenden Maßnahmen 1991/ 93 seit der konfliktreichen Auflösung Jugoslawiens. In den Konferenzen und Verträgen von Amsterdam 1992, mit ihrem Stabilitäts- und Wachstumspakt, schritt die EU weiterhin in der Demokratisierung des seit 1979 direkt gewählten Europäischen Parlaments voran. Sie verbesserte ihre Arbeitsfähigkeit durch die Erweiterung qualifizierter Mehrheitsentscheidungen und suchte in den Konferenzen und dem Vertrag von Nizza bis 2003 eine neue Machtbalance für die Erweiterung auf 25 Mitglieder 2004 und auf 27 Anfang 2007. Viele Beobachter haben noch die mühevollen Arbeiten für einen Verfassungsvertrag im Europäischen Konvent unter Giscard d’Estaing 2002/ 2003 in Erinnerung, das Nein der Franzosen und Niederländer in ihren Referenden. Mühsam und bis zuletzt offen waren auch die letzten Etappen auf dem Wege zum Vertrag von Lissabon. Die Chronik dieser gewaltigen und komplexen Anstrengungen weist auf ein Gebilde, in dem inzwischen 495 Mio. Menschen versammelt sind. Die geopolitischen Koordinaten haben sich darin für das deutsch-französische Sonderverhältnis seit 1990 verschoben. Es wird sich aber gleichwohl - so hoffen wir - auch unter den derzeitigen globalen Herausforderungen bewähren - „wenn der politische Wille nicht nachlässt“. 30 Gewiss, die Europäische Union ist mit ihren 27 Mitgliedstaaten unüberschaubar geworden. Wer sich informieren, orientieren, womöglich einbringen will, steht diesem gewaltigen Gebilde mit weltpolitischem Gewicht hilflos gegenüber. Wenn es gleichwohl einen Weg zu dem vielzitierten „Europa der Bürger“ gibt, so führt er über das „Europa der Regionen“. Die 30 Ingo Kolboom: Das „Weimarer Dreieck“, op.cit., 195. <?page no="78"?> Lothar Albertin 74 grenzüberschreitende Begegnung und Zusammenarbeit zwischen den Regionen ist längst in vielfältiger und nachhaltiger Bewegung. Sie bietet ihren Menschen, Einzelnen und Gruppen, aus Vereinen und Institutionen, Städten, Schulen und Universitäten vielfältige Gelegenheiten zum Austausch lokaler und regionaler europäischer Identität. So haben wir uns natürlich auch gefreut, dass ein Initiativkreis in Detmold und Lippe das (in der Einleitung erwähnte) zweitausendjährige Jubiläum der Varusschlacht 2009 in die bewegenden Ereignisse eines festlichen Kulturprogramms umgewidmet hat, von dem eine eindeutige Friedensbotschaft ausging, unter der sich insbesondere die Jugend vieler Länder in europäischer Verbundenheit versammeln konnte. Die Zukunft gehört zweifellos der Freiheit. Das ist die historische und aktuelle Gunst der Deutschen im gemeinsamen Europa. <?page no="79"?> Werner Link Die Rolle der Europäischen Union in der multipolaren Welt Vorbemerkungen Im Zentrum dieses Bandes stehen die europäische Friedensordnung und insbesondere die deutsch-französische Zusammenarbeit beim Aufbau und bei der Weiterentwicklung dieser Ordnung. Diese Themenwahl ist von der Sache her in mehrfacher Weise begründet, und zwar sowohl historisch als auch aktuell. Nach Hegemonialkriegen und nach Friedensordnungen, die den Keim neuer Kriege in sich bargen, ist nach dem Zweiten Weltkrieg statt eines formalen Friedens ein strukturell gesicherter Frieden von Frankreich und Deutschland initiiert und dann weiterentwickelt worden, der auf der wirtschaftlichen Verzahnung und dem integrativen Gleichgewicht beruht. Nun wird man vielleicht fragen, warum trotz dieser wohl begründeten Konzentration auf die europäische Friedensordnung am Anfang der Blick nach außen, auf die Weltordnung gerichtet wird. Die Antwort ergibt sich aus folgendem fundamentalen Sachverhalt: Spätestens seit 1917 (mit dem kriegsentscheidenden Eingreifen der USA) ist das europäische System nicht mehr identisch mit dem internationalen Gesamtsystem, sondern dessen Subsystem. Es ist von dem internationalen System abhängig und wirkt auf es ein. Das war schon in der Zwischenkriegszeit bei den „europapolitischen Projekten“ (wie Hans Manfred Bock in seinem Beitrag zeigt) evident; siehe Briands Plan einer Europa-Union (als Gegenmachtbildung gegenüber den USA), der u.a. an Stresemanns Rücksichtnahme auf die USA scheiterte. Erst recht gilt für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, dass die europäische Ordnung und das Projekt der Europäischen Integration abhängig war und ist von den Strukturbedingungen des internationalen System und dass - umgekehrt - der europäische Staatenverbund EG bzw. EU auf das internationale System einwirkt. Die EU ist „systemrelevant“ und das internationale System ist relevant für die EU. Es genügt, auf die „Globalisierung“ und auf die derzeitige Weltfinanz- und Wirtschaftskrise zu verweisen! Folglich muss man reflektieren, wie das internationale System aussieht. Und logischerweise beschäftigt sich damit der folgende erste Abschnitt. <?page no="80"?> Werner Link 76 Zur Strukturproblematik Die Struktur der Bipolarität und der Ost-West-Konflikt waren die internationalen Bedingungen, unter denen die europäische Integration 1950 begann und sich dann erfolgreich entwickelte. Ohne sie ist die Geschichte der EWG bzw. EG überhaupt nicht zu verstehen. Es ging um die Selbstbehauptung der westeuropäischen Staaten in dieser bipolaren Welt - Selbstbehauptung durch Integration. Wie sieht heute die Struktur des internationalen Systems aus? Die Formulierung meines Themas enthält eine Behauptung, die noch bis vor kurzem auf vehementen Widerspruch gestoßen ist - nämlich die Behauptung, dass wir in einer multipolaren Welt leben. Nach dem Ende der Bipolarität haben viele Kommentatoren (auch viele Wissenschaftler! ) mit mathematischem Charme argumentiert: 2 - 1 = 1. Will sagen, wenn von zwei Supermächten nur eine Supermacht übrig bleibt, ist das internationale System unipolar. Eine gewisse Berechtigung hatte diese Formel im militärischen Bereich, in dem die Übermacht der USA erheblich war und noch ist. Aber diese Betrachtungsweise überbewertet nicht nur das Militärische, sondern übersieht auch, dass es selbst in diesem militärischen Bereich mehrere Pole gibt, nämlich die offiziellen Atommächte mit ihrer Zweitschlagfähigkeit. Diese unabhängigen Atommächte gruppieren sich nicht mehr bipolar (wie dies während des Ost-West-Konflikts der Fall war). In den nicht-militärischen Politikbereichen ist erst recht keine Unipolarität vorhanden: Im weltpolitischen Gremium des UN-Sicherheitsrates haben die fünf ständigen Mitglieder (die P-5) gleichberechtigt und unabhängig jeweils ein Veto-Recht. Das informelle weltpolitische Steuerungsgremium, die Gruppe der Acht, ist - wie die Bezeichnung schon sagt - ein pluralistische Gremium, das (wie auch die P-5) nicht mehr bipolar strukturiert ist. Vor allem aber ist der gesamte ökonomische Bereich multipolar. Die Dominanz der USA ist vorbei - wie die derzeitige Finanz- und Wirtschaftskrise jedermann zeigt und was auch von den führenden amerikanischen Politikern offen eingeräumt wird. Auch die kulturelle Attraktivität und Dominanz der USA, die in der westlichen Welt während des Ost-West-Konflikts zu beobachten war, ist schon längst dahin. Gesamtpolitisch schien die Antwort auf die Herausforderung des islamistischen Terrorismus zunächst die weltpolitische Führungsposition der USA zu stärken. Doch der Versuch von Präsident Bush jr. , den „Krieg gegen den Terror“ zur imperialen Steigerung der amerikanischen Außenpolitik zu nutzen (und dementsprechend in der NSS 2002 zu begründen), ist bekanntlich gescheitert. <?page no="81"?> Die Rolle der Europäischen Union in der multipolaren Welt 77 Kurzum: Die Welt ist multipolar und eine unilaterale Politik der USA, eine hegemoniale oder gar imperiale Politik findet nicht mehr die Akzeptanz der anderen Mächte. Militärisch-politisch war der Irak-Krieg der Wendepunkt. Multipolarität und Multilateralismus sind die Code-Worte der Welt des 21. Jahrhunderts. Präsident Obama scheint die Konsequenz aus der neuen Mächtestruktur und aus dem Scheitern der hegemonial-imperialen Politik seines Vorgängers zu ziehen: Führung zusammen mit den anderen Großmächten, Kollektive Führung, Konzert der Mächte, konzertierte Führung (so Frau Clinton in ihrer Grundsatzrede am 15.Juli 2009). Es könnte freilich auch sein (und es gibt Ansätze dafür), dass die Obama-Regierung versucht, zur „wohlwollenden Hegemonie-Politik“ von Bush sen. und dessen Nachfolger Clinton zurückzukehren. Für einen Erfolg dieser Politik dürften allerdings die strukturellen Voraussetzungen und die Akzeptanz fehlen - auch in Europa (zumindest im „alten“ Europa). Wie fügt sich die EU in die multipolare Welt ein - nach eigenem Anspruch bzw. ordnungspolitischem Selbstverständnis und in der praktischen Politik? Beides ist zu unterscheiden. Der Akteurs- und Mitführungsanspruch in der multipolaren Welt Das weltordnungspolitische Selbstverständnis des sich integrierenden Europa war von Anfang an und ist bis heute bestimmt von dem Willen der beteiligten Staaten, durch die Integration zu einem mitentscheidenden Akteur in der internationalen Politik zu werden - weil die einzelnen Staaten für sich alleine dazu nicht mehr in der Lage sind. Nur einige Beispiele aus der Fülle der Quellenbelege seien hier angeführt: Jean Monnet nannte in seinem grundlegenden Memorandum vom 3.Mai 1950 als internationale Zielsetzung, Europa schrittweise zu einer „force d'équilibre“ in der Welt zu machen. Und Kanzler Adenauer verband mit dem Schuman-Plan die Hoffnung, dass Europa zu einer „dritten Kraft“ werden könne - ein Gedanke, der dann später in der Ära de Gaulle bekanntlich eine zentrale Rolle spielte. In dem Dokument über die europäische Identität, das die neun Außenminister der EPZ am 14.Dezember 1973 in Kopenhagen verabschiedeten, hieß es, dass die Europäische Gemeinschaft „ein Element des Gleichgewichts und ein Pol der Zusammenarbeit“ sei und „in der Weltpolitik eine aktive Rolle“ spielen wolle. In dem EU-Vertrag von Maastricht und in den Folgeverträgen hat die Europäische Union - nach der Beschreibung der innereuropäischen Ziele - immer aufs neue „die Behauptung ihrer Identität auf internationaler Ebene“ <?page no="82"?> Werner Link 78 bzw. die Stärkung der „Identität und Unabhängigkeit Europas“ als Zielsetzung con variatione thematisiert. Als Antwort auf die Globalisierung ist vor allem in Frankreich (aber keineswegs nur dort! ) mit dem Leitmotive Europe Puissance die ordnungspolitische Intention beschrieben worden, die EU zu einem „pôle majeur de l'équilibre mondial“ in einer multipolaren Welt zu machen. Kanzler Schröder hat sich explizit das Konzept zu eigen gemacht. Sogar der britische Premierminister Blair hat dieses EU- Selbstverständnis zeitweilig vertreten (bevor er beim Irak-Konflikt auf die amerikanische Linie eines gemeinsamen amerikanisch-europäischen Pols eingeschwenkt ist). Das skizzierte europäische Selbstverständnis hat sich in den Teilbereichen nach und nach artikuliert. Dass im handels- und wirtschaftspolitischen Bereich die EU (wie zuvor schon die EG) sich als globale ordnungspolitische Macht versteht (und in internationalen Organisationen wie der WTO entsprechend handelt), bedarf wohl keines Belegs. Die Entwicklung in anderen Bereichen muss ebenfalls hier nicht beschrieben werden. Zuletzt hat sich die EU auch im sicherheitspolitischen Bereich, seit den Beschlüssen des Kölner Gipfels (1999), konzeptionell (und zunehmend auch in praxi) auf dem Weg aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit gemacht: Aufbau der Battle-Groups (die seit 2007 voll einsatzfähig sind), Verteidigungsagentur u.a.m. Die Europäische Sicherheitsstrategie (2003), die nach der Spaltung in der Irak-Frage formuliert wurde, dokumentiert das ordnungspolitische Selbstverständnis der EU angesichts der Hauptherausforderungen der Gegenwart. Die europäische Antwort weicht deutlich von der amerikanischen Nationalen Sicherheitsstrategie ab, die für die USA das Recht beansprucht, präemptiv bzw. präventiv nach eigenem Gutdünken militärisch zu intervenieren (Bush-Doktrin), einen „Krieg“ gegen den internationalen Terrorismus zu führen und das neuzeitliche internationale Ordnungsprinzip auszuhebeln. . Die ESS vertritt stattdessen ein Weltordnungskonzept, das als „effektives multilaterales System“ charakterisiert wird. Der europäische Konsens wird allerdings (wie sich beim Irak-Konflikt und beim Raketenabwehrprogramm zeigte) dadurch beeinträchtigt, dass nationale Sonderbeziehungen existieren, und zwar u.a. aufgrund des special relationship des Vereinigten Königreichs und wegen der geopolitischen Lagerung der neuen mittel- und osteuropäischen und baltischen Mitgliedstaaten samt ihrer historischen Erfahrungen. Der atlantische Ordnungsrahmen konkurriert mit dem europäischen. Die Konzepte der „Verstärkten Zusammenarbeit“ der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und der „Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit“ der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ( ESVP) tragen diesem Sachverhalt und anderen Unterschieden durch differenzierte Integration Rechnung - siehe den Lissabon-Vertrag (Bildung flexibler Kerngruppen). Die Differenzierung war und ist notwendig, weil die EU-Staaten leider nicht in der Lage waren, vor der <?page no="83"?> Die Rolle der Europäischen Union in der multipolaren Welt 79 Erweiterung die Vertiefung vorzunehmen (vgl. das Schäuble/ Lamers-Papier vom September 1994). Diese Differenzierung ändert jedoch nichts an der fundamentalen Tatsache, dass das ordnungspolitische Selbstverständnis der EU insgesamt durch eine anti-hegemoniale und anti-imperiale Politikorientierung bestimmt ist. Die europäische Geschichtserfahrung ist geprägt von dem Scheitern und der dadurch erfolgten Entmythologisierung hegemonialer und imperialer Politik. In Reaktion darauf haben die europäischen Staaten das innovative Projekt der Europäischen Gemeinschaft entwickelt, das mit dem Konzept des „integrativen Gleichgewichts“ die Hegemonie einer großen Macht strukturell verhindert, aber konsortiale Führung ermöglicht (mit Zustimmung einer hinreichenden Zahl der Mitglieder). Die anti-hegemoniale Ratio bei der Binnenstruktur hat ihre Entsprechung in der anti-hegemonialen Maxime für die globale Ordnung. Da sie der Charta der Vereinten Nationen ebenfalls zugrunde liegt, kann die europäische Politik sich im Einklang mit ihr betrachten, ohne den universellen Geltungsanspruch in einen imperialen Universalismus zu pervertieren. Die EU vertritt also - anders ausgedrückt - eine Konzeption, die eine multipolare und pluralistische Weltordnung zum Ziel hat, in der sie in der Spitzengruppe als force d'équilibre an den multilateralen Entscheidungen mitwirken und so ihre Interessen am besten verfolgen kann. In der Sprache des Lissabon-Vertrags (Titel V, Art.21, Pkt.2) heißt dies, die EU wolle mit ihrem auswärtigen Handeln „eine Weltordnung ... fördern, die auf einer verstärkten multilateralen Zusammenarbeit und einer verantwortungsvollen Weltordnungspolitik beruht“. Dass damit wertepolitisch eine Weltordnung gemeint ist, die dem eigenen Bilde entsprechen soll, wird im ersten Punkt desselben Artikels mit großer Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht (und verdient deshalb zitiert zu werden): Die Union lässt sich bei ihrem Handeln auf internationaler Ebene von den Grundsätzen leiten, welche für ihre eigene Entstehung, Entwicklung und Erweiterung maßgebend waren und denen sie auch weltweit zu stärkerer Geltung verhelfen will: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, die universelle Gültigkeit und Unteilbarkeit der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die Achtung der Menschenwürde, der Grundsatz der Gleichheit und der Grundsatz der Solidarität sowie die Achtung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen und des Völkerrechts. Die realpolitische Problematik dieses Selbstverständnisses ist evident. Ressourcenknappheit, Konkurrenz mit anderen Interessen und die machtpolitische Logik der internationalen Politik erzwingen in praxi eine selektive Politik. <?page no="84"?> Werner Link 80 Wie spielt die EU die skizzierte Rolle in der Weltpolitik? Die operative Weltordnungspolitik der EU muss das strukturelle Handicap der Zweigleisigkeit von nationaler und europäischer Politik verkraften. Abgesehen von der Außenhandelspolitik (die bekanntlich voll in die Zuständigkeit der EU fällt), betreiben die EU-Staaten ihre Außenpolitik sowohl als eigenständige Staaten mit Hilfe ihrer nationalen Diplomatie als auch mittels der EU. Das wird noch geraume Zeit so bleiben. In den Vereinten Nationen ist nicht die EU, sondern sind die einzelnen EU-Staaten Mitglied. Im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ist nicht die EU, sondern sind Frankreich und das Vereinigte Königreich Ständige Mitglieder. In der Gruppe der Sieben bzw. der Acht sind die vier größten EU- Staaten vertreten, und der EU-Kommissionspräsident nimmt beratend teil. Nicht die EU, sondern die (meisten) EU-Staaten sind Mitglieder der NATO, mit der die EU immerhin ein Kooperationsabkommen (Berlinplus) abgeschlossen hat. Erst die (wiederholt auch von offizieller Seite geforderte) Transformation der NATO in eine balancierte europäischnordamerikanische Allianz würde eine partnerschaftliche Ordnungspolitik strukturell ermöglichen. Die Rückkehr Frankreichs in die militärische NATO-Struktur ist ausdrücklich mit diesem Ziel verbunden. In Anbetracht der angedeuteten Defizite und der Heterogenität der Interessen, die mit der quantitativen Erweiterung der EU zugenommen hat, ist es für die Ausübung der weltpolitischen Ordnungsfunktion der EU von größter Bedeutung, dass - teils informell, teils formell - eine Art Auftragshandeln durch die Führungsmächte Deutschland, Frankreich und Vereinigtes Königreich (EU-3) sowie (nach dem Lissabon-Vertrag) durch den Ratspräsidenten und den Hohen Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik praktiziert werden kann. Die EU-3-Verhandlungen mit dem Iran (seit 2003) sind das Musterbeispiel. Das jüngste Beispiel ist die erfolgreiche Führungsfunktion des französischen Ratspräsidenten in der zweiten Hälfte des Jahres 2008 - in enger Abstimmung mit Deutschland. In der aktuellen Finanzkrise ist zu beobachten, wie dieses Auftragshandeln mit dem Kerngruppen-Modell der differenzierten Integration verbunden wird: Zuerst haben sich die Euro-Länder bei einem Gipfeltreffen auf ein abgestimmtes Vorgehen geeinigt (in flexibler Einbeziehung des Vereinigten Königreichs). Dann hat ein Gesamtgipfel der EU diese politische Linie übernommen. Anschließend haben der EU-Ratspräsident und der EU-Kommissionspräsident mit dem US-Präsidenten verhandelt und ein Gipfeltreffen im größeren Kreis der G 20 (in der die EU offiziell Mitglied ist! ) und weitere Konferenzen über eine neue Weltfinanzordnung vereinbart. In einer neuerlichen EU-Gipfelkonferenz wurde die gemeinsame Position für diese Verhandlungen beschlossen - die inhaltliche Grundlage für das Auftragshan- <?page no="85"?> Die Rolle der Europäischen Union in der multipolaren Welt 81 deln und -verhandeln der beiden EU-Spitzen. So geschah es vor den G-20- Gipfeln in Washington (November 2008), in London (April 2009) und in Pittsburgh (September 2009). Vergleicht man dieses Prozessmuster mit der Entstehung des (schon 1971 im Kern von den USA unilateral geänderten) Weltwährungssystem von Bretton-Woods, so wird deutlich, dass inzwischen ein neue Machtverteilung stattgefunden hat: Die USA sind von einem Gläubigerstaat zu einem Schuldnerstaat geworden. Ihre Dominanz besteht außerhalb des Militärischen nicht mehr, und die US-Hegemonie wird nicht mehr akzeptiert, auch nicht im „Westen“; stattdessen ist die EU zu einem initiierenden und mitgestaltenden Akteur der globalen Ordnungspolitik geworden. Dass die EU über keine schlagkräftige Armee verfügt, muss nicht unbedingt ein Nachteil sein. Denn so ist ein blinder globaler Interventionismus ausgeschlossen. Die EU ist strukturell nicht angriffsfähig - und das ist gut so. Das Spektrum der Beiträge der EU zu einer pluralistischen, antihegemonialen Weltordnung Es versteht sich wohl von selbst, verdient aber gleichwohl eine Unterstreichung, dass die EU schon durch ihre bloße Existenz und durch die effektive Ausübung ihrer Ordnungsfunktion in Europa (einschließlich der Neuen Nachbarschaftspolitik) einen konstruktiven Beitrag zu einer regionalistischen Weltordnung leistet. Als größte geo-ökonomische Wirtschaftsmacht (mit 30,3% am Welt-BIP) übt sie tatsächlich die Funktion eines Gleichgewichtsfaktors in der Weltwirtschaft aus. (Der Anteil der USA beträgt nur 23,5%.) Die Währungsunion, die zusätzlich zu der innereuropäischen Funktion der Einbindung Deutschlands die Hegemonie des US-Dollars beseitigen sollte, ist - allen Skeptikern und vor allem amerikanischen Gegner zum Trotz - erfolgreich. Das Euro-Europa (das währungspolitische Kern-Europa) ist neben den USA zu einem weltwährungspolitischen Spitzenakteur geworden. In der Welthandelspolitik gilt das schon längst. In der Welthandelsorganisation (WTO) stehen sich die EU und die USA gleichgewichtig gegenüber und verhandeln auf Augenhöhe in Konkurrenz und in Kooperation bzw. in kooperativer Konfliktregulierung (manchmal mit der Beimischung konfrontativer Elemente). Hingegen ist die Asymmetrie im militärischen Bereich - trotz der Ansätze für eine eigenständige Sicherheitsstruktur - extrem groß. Indes, immerhin hat die EU im Rahmen der ESVP eine Reihe militärischer Einsätze in Krisenregionen, vor allem auf dem Balkan, erfolgreich durchgeführt (siehe die SWP-Studie 23, 2009). <?page no="86"?> Werner Link 82 Generell sollte man freilich im Vergleich mit den anderen Großmächten nicht den Fehler macht, die Macht- und Gleichgewichtsproblematik primär oder gar ausschließlich in militärischen Kategorien zu diskutieren, Der gesamtpolitische Beitrag der EU zur gegenseitigen Machtbeschränkung in der Spitzengruppe der Staaten ist zweifellos real. Die EU balanciert sowohl die USA (et vice versa) als auch Russland (Stichwort „strategische Partnerschaft“). Die „kompetitive Kooperation“ und das „soft-balancing“ finden ihren institutionellen Ausdruck in dem Transatlantischen Dialog bzw. in der Transatlantischen Agenda mit den USA und im Kooperationsabkommen mit Russland (über dessen Erneuerung zur Zeit kontrovers diskutiert wird und das für die Ordnung der Energiemärkte eminent wichtig ist). Bei der Vereinbarung einer globalen Klimaschutzordnung hat die EU eine führende Rolle übernommen - wiederum verbunden mit dem Bestreben, den Widerstand der USA kooperativ zu überwinden. Auch in diesem Bereich wird diese Führungsrolle gemeinsam von Frankreich und Deutschland ausgeübt. Bezüglich der erwähnten EU-Initiative für eine neue Weltfinanzordnung ist die Tatsache bedeutsam, dass das jüngste Asia-Europe-Meeting (ASEM) in Peking erfolgreich genutzt wurde, um eine gemeinsame Position beim Weltfinanzgipfel zu begründen. Dieser spezielle Vorgang verweist auf den wohl wertvollsten Beitrag der EU zur Strukturierung der Weltordnung, nämlich den kooperativen Interregionalismus: Die Europäische Union hat vertraglich institutionalisierte Kooperationsbeziehungen nicht nur mit allen großen Staaten, sondern auch mit fast allen Regionalorganisationen. So werden nicht zuletzt die Entwicklungsländer gleichberechtigt in die Weltordnungspolitik der EU einbezogen. Kurzum: Der interregionale Beziehungszusammenhang bietet der EU optimale Chancen, ordnungspolitischen Einfluss auszuüben, und die EU nutzt diese Chancen. Hingegen ist im universellen Beziehungszusammenhang der Vereinten Nationen der EU-Einfluss dadurch begrenzt, dass die EU nicht Mitglied ist. Ihr Beitrag zur Reform des UN-Sicherheitsrats ist unerheblich, weil Frankreich und das Vereinigte Königreich nicht auf ihren Ständigen Sitz zugunsten der EU verzichten wollen und die deutsche Forderung nach einem Ständigen Sitz nicht nur außerhalb Europas, sondern auch in der EU auf erbitterten Widerstand stößt. Gleichwohl wirkt die EU an zahlreichen UN-Programmen und UN-Missionen mit - vor allem im Kontext der Konfliktregulierung. Dazu - also zur Konfliktregulierung - ein letzter Hinweis: Abgesehen von dem konfrontativen Austrag des Konflikts mit internationalen islamistischen Terrorgruppen, präferiert und praktiziert die EU eine kooperativintegrative Konfliktregulierung - oft im Gegensatz zu der amerikanischen Politik der Isolierung, der Regression und der Konfrontation. Der Irak- und <?page no="87"?> Die Rolle der Europäischen Union in der multipolaren Welt 83 der Iran-Konflikt sind die herausragenden Beispiele, ebenso wie das Aushandeln der Waffenstillstände im Kosovo- und im Georgien-Krieg. Was den Iran-Konflikt anbelangt, so beging m.E. die EU im Februar 2005 (beim Europa-Besuch Bushs) einen großen Fehler: Als Gegenleistung dafür, dass Bush den EU-3-Verhandlungen zustimmte, versprachen sie, gegebenenfalls die von den USA erwünschte Einschaltung des UN-Sicherheitsrats zu unterstützen (was die Sanktionspolitik zur Folge hatte). Inwieweit sich die Lage infolge der Dialogbereitschaft des neuen amerikanischen Präsidenten grundlegend ändert, bleibt abzuwarten. Schlussbemerkungen Die EU-Weltordnungspolitik lässt sich in zwei Schlüsselbegriffen zusammenfassend charakterisieren: Kooperative Balance-Politik und Mitführung in der multipolaren Welt! Die Weltordnungspolitik der EU trägt nach Inhalt und Methode eine unverwechselbare Handschrift. Die EU nimmt vielfach an der Weltordnungspolitik teil - gemäß ihres anti-hegemonialen, balancepolitischen Selbstverständnisses und unter den Bedingungen ihrer internen Struktur und der internationalen Machtstrukturen, die sich über Zeit ändern und jeweils bestimmte Handlungsoptionen eröffnen oder ausschließen. Freilich ist die Konsensfindung bei konkreten Problemen ein mühsames Geschäft. In Krisensituationen wird die reale Machtverteilung offenbar. Die Weltfinanzkrise hat die neue Machtverteilung (nach der Bipolarität und der vermeintlichen Unipolarität) sichtbar gemacht. Auf ihr basiert die multipolare Ordnung, in der die großen Mächte sich gegenseitig beschränken und von Fall zu Fall informell konsortial führen (können), und zwar unter zwei Bedingungen - solange sie die Interessen der anderen Staaten hinreichend berücksichtigen und solange sie kein neuer struktureller Weltkonflikt (wie der Ost-West-Konflikt) trennt. Die EU hat deshalb ein großes Eigeninteresse an einer amerikanisch-russischen Verständigung und an einer konstruktiven Einbindung Chinas. Abschließend noch vier kurze Bemerkungen: 1. Manche Autoren meinen, das innereuropäische Friedensprojekt sei nicht mehr die Ratio des europäischen Einigungsprozesses. Es werde heute ersetzt durch das nach außen gerichtete Konzept eines global players. Das ist meines Erachtens nicht zutreffend. Es gibt nach wie vor Potential für innereuropäische friedensgefährdende Konflikte, die durch die europäische Integration zu regulieren und zu lösen sind. Die weltpolitische Intention ersetzt nicht die innereuropäische, sondern ergänzt sie. 2. Die Sonderwege einzelner EU-Staaten sind gewiss hinderliche Faktoren bei dem Versuch der EU, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspoli- <?page no="88"?> Werner Link 84 tik zu betreiben. Indes, man sollte Lernprozesse in diesen Ländern nicht ausschließen: In Großbritannien ist nach Blairs pro-amerikanischer Politik Ernüchterung über das special relationsship eingetreten. In Polen und Tschechien findet zur Zeit ein „Umdenken“(Sikorski) statt, nachdem beide Staaten unter beispielloser Missachtung der EU und der NATO separate, bilaterale Vereinbarungen mit den USA getroffen und nun eine „Lektion in Realismus“ erteilt bekommen haben. 3. Manche Beobachter meinen, in der erweiterten EU könnten Frankreich und Deutschland ihre frühere gemeinsame Führungsrolle nicht mehr spielen. Auch Sarkozy hat sich einmal in diesem Sinne geäußert. Die Annahme ist inzwischen durch die Realität widerlegt. Und der neue französische Europa-Minister Lelouche hat kürzlich nachdrücklich für die Schaffung einer „neuen deutsch-französischen Agenda für Europa“ plädiert. Im Übrigen haben empirische Untersuchungen gezeigt, dass gerade dann, wenn zunächst deutsche und französische Auffassungen nicht übereinstimmten, ein gemeinsamer Kompromissvorschlag die beste Aussicht hatte bzw. hat, von den anderen EU-Staaten akzeptiert zu werden. 4. Kollektivführung durch Deutschland und Frankreich (möglichst auch unter Mitwirkung Großbritanniens) ist für die Ausübung einer weltpolitischen Rolle der EU unabdingbare Voraussetzung. Unter den gegebenen Umständen ist sie jedoch nur informell, flexibel und von Fall zu Fall denkbar. Und sie ist ein schwieriges Unterfangen. Viel hängt von dem „personalen Faktor“ ab. In der Geschichte der europäischen Integration war das Zusammentreffen und Zusammenspielen von de Gaulle und Adenauer eine „Sternstunde“ (Stefan Zweig) - aber solche Sternstunden sind ja leider selten, was nicht heißt, dass man nicht auf sie hoffen dürfte. 1 1 Zur ausführlichen Erörterung der in diesem Beitrag behandelten Zusammenhänge siehe u.a. Werner Link: Auf dem Weg zu einem neuen Europa, Herausforderungen und Antworten. Nomos Verlag, Baden-Baden 2006. Dort finden sich auch weitere Literaturhinweise und Zitatbelege. Einen guten Überblick über die jährlichen Entwicklungen bietet das Jahrbuch der Europäischen Integration, das vom Institut für Europäische Politik herausgegeben wird (jüngste Ausgabe 2009). <?page no="89"?> Ingo Kolboom Deutschland - Frankreich - Polen: Aktuelle Erinnerungen an das „Weimarer Dreieck“ 1991-2010 Rückbesinnung Die deutsch-französische Zusammenarbeit, die auf dem Elysée-Vertrag von 1963 beruht, war bekanntlich der Modellfall einer bilateralen Sonderbeziehung in Europa. Ihre Formel als Politik der Interessen und der politischen Moral sowie ihre Funktion als binäre Treibkraft, als „linchpin“ (Julius Friend) 1 europäischer Zusammenarbeit, sind so vieldeutig analysiert worden, dass darauf nicht weiter eingegangen werden soll. Ihre Rolle als „Entente élémentaire“ (Hans-Peter Schwarz) 2 in einem eher multilateralen Netz gestattete stets auch eine Öffnungsfunktion hinsichtlich der Erfordernisse der europäischen oder internationalen Politik. Dabei wurden interne bilaterale Referenzen beibehalten, die mit der deutsch-französischen Geschichte untrennbar verbunden sind; es handelt sich um die Fortführung eines - politisch wie ethisch ritualisierten - Projektes im größeren Rahmen des deutsch-französischen Kollektivgedächtnisses. Man muss aber daran erinnern, dass der Elysée-Vertrag nicht, wie heute oft dargestellt, der Ausgangspunkt der deutsch-französischen Versöhnung war; denn deren Ansätze reichen weit in die Zeit der Gründung der Montan-Union zurück. Und er war auch nicht, wie Kommemorationsreden immer wieder glauben lassen wollen, frei von Spannungen: Die Umstände seiner Entstehung waren deutscherseits von heftigen Konflikten zwischen „Gaullisten“ und „Atlantikern“ bestimmt, 3 die den französischen Staatspräsidenten, Charles de Gaulle, zu 1 Friend, Julius W.: The Linchpin. French-German Relations 1950-1990, Foreword by A.W. De Porte, New York/ London, Praeger, 1991. Vgl. auch Campbell, Edwina S.: Germany’s Past and Europe’s Future. The Challenges of West German Foreign Policy, Washington D.C., Pergamon-Brassey’s, 1989. 2 Schwarz, Hans-Peter: Eine Entente Elémentaire. Das deutsch-französische Verhältnis im 25. Jahr des Elysée-Vertrages. Mit einer Dokumentation von Ingo Kolboom. Bonn, Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik/ Europa Union Verlag, 1990. 3 Vgl. Geiger, Tim: Atlantiker gegen Gaullisten. Außenpolitischer Konflikt und innerparteilicher Machtkampf in der CDU/ CSU 1958-1969. München, Oldenbourg, 2008. <?page no="90"?> Ingo Kolboom 86 dem Satz verleiteten: „Verträge sind wie Rosen und Mädchen: sie sind von kurzer Dauer“. 4 Nichtsdestotrotz überlebte der Elysée-Vertrag diese und ähnlich düstere Prognosen und hat schließlich - bis heute - als oft idealisiertes Kooperationsmodell gedient. Ungeachtet der „doppelten Öffnung“ Westdeutschlands in Richtung Frankreichs und der Vereinigten Staaten wurde dank des Elysée-Vertrags aus Paris und Bonn ein rivalisierend-befreundetes Paar, das sich neuen Herausforderungen stellen, „Schicksalsschläge“ - wie die im deutsch-französischen Programm der Nachkriegszeit nicht vorgesehene und unerwartete deutsche Wiedervereinigung - bewältigen und eine europäische Politik der „Integration und Differenzierung“ 5 einleiten konnte. Während des „Völkerfrühlings“ in Mitteleuropa Ende der 1980er Jahre wurde von den neuen osteuropäischen politischen Eliten, insbesondere in Polen, der Charakter der deutsch-französischen Beziehungen, der auf dem Geist einer beispielhaften historischen Versöhnung beruhte, neu interpretiert und damit auch revitalisiert. Die Beziehungen Polens mit dem wiedervereinigten Deutschland befanden sich an einem Punkt, an dem sie neu gedacht werden mussten. Diese Neuinterpretation war mit einer Reihe von besonderen Herausforderungen konfrontiert, die mit den deutsch-polnischen Tragödien des 20. Jahrhunderts sowie mit kollektiven Traumata ganz eigener Art zusammenhingen. Daraus formte sich auf polnischer Seite das Bild des „doppelten Opfers“ in der Geschichte, die von Deutschland und der Sowjetunion, dann von Russland, geschrieben worden war. 6 So wenig wie der Elysée-Vertrag von 1963 den Ausgangspunkt der französisch-deutschen Annäherung darstellte, so wenig war 1990 die „Stunde Null“ der deutsch-polnischen Beziehungen. Die Beziehungen zwischen Polen und der DDR waren letztlich nur ein Nebenprodukt der stalinistischen Geopolitik in Europa und verschwanden mit dem Ende der DDR. Wenn die polnische Elite vor 1990 also von Deutschland sprach oder an Deutschland dachte, dann meinte sie Westdeutschland, wobei man polnischerseits immer mehr zu ermessen begann, dass die Kultur dieses Landes die Gelegenheit wahrgenommen hatte „ihre normativen Grundeinstellungen, man könnte auch sagen ihre moralische Grammatik zu re-evaluieren 4 Diesen berühmten Satz sprach De Gaulle im Juli 1963 anlässlich seines ersten offiziellen Besuchs in Bonn nach der Ratifizierung des Elysée-Vertrags. Zitiert in Kusterer, Hermann: Der Kanzler und der General. Stuttgart, Heske, 1995, S. 349. S. eine andere Version seiner Meinung über die Dauer der Verträge unter: http: / / www.citations.com/ citations-motcle-militaire/ Charles_de-Gaulle/ militaire-les-traites-voyez-vous-sontcomme-les-jeunes-filles-et-les-roses-ca-dure-ce-que-ca-dure--297080-323-5-1.html 5 Vgl. Link, Werner: Integration und Differenzierung unter französisch-deutscher Führung, in: Kolboom, Ingo/ Andreas Ruppert (eds.): Zeit-Geschichten aus Deutschland, Frankreich, Europa und der Welt. Lothar Albertin zu Ehren. Lage, Jacobs Verlag, 2008, S. 89-101. 6 Vgl. Krzemínski, Adam: Polen im 20. Jahrhundert. Ein historischer Essay. München, Beck, 1993. <?page no="91"?> Aktuelle Erinnerungen an das „Weimarer Dreieck“ 1991-2010 87 und [...] zu revidieren“. 7 Dies hieß Überwindung des „überkommene[n] deutsche[n] Decorum[s] mitsamt seinen dunkel-romantischen, heroistischen und ressentimentalen Erblasten im Licht der Kriegsergebnisse, mehr noch im Licht der mitverschuldeten Zivilisationskatastrophe“. 8 Die neue polnische Wahrnehmung kann man mit folgenden, 1988 veröffentlichten Überlegungen Jürgen Schillings zusammenfassen: Wann hätte es das schon einmal gegeben, Deutschland als Hoffnungsträger für die Polen? Solange die Welt besteht, wird der Deutsche dem Polen kein Bruder sein, ein altes polnisches Sprichwort. Viele Polen sehen es noch so, aber das Feindbild ist erschüttert; zu deutlich waren die spontanen, wenngleich kurzlebigen Beweise privater und öffentlicher deutscher Hilfsbereitschaft in der Krise 1980/ 81. Inzwischen weiß die polnische junge Generation, daß ein aufgeschlossenes Deutschland nicht mehr eine existentielle Gefahr für den Bestand Polens bedeutet, sondern einen Pfeiler der Landbrücke nach Westen darstellt und den unverzichtbaren Partner für die ökonomische Wiedergeburt. 9 Beim näheren Hinschauen findet sich bereits in diesem Text eine erste Überlegung zu einer „deutsch-französisch-polnischen Achse“, die in einer trilateralen, verflochtenen und bewegten Geschichte wurzelt: Eine Achse Paris-Bonn-Warschau? - sicher nicht, wohl aber die Bereitschaft, auf dieser geographischen Linie, auf der auch Ost-Berlin liegt, zu sprechen, um die spezifischen Interessen Mitteleuropas in das Konzert der Garantiemächte (USA, Sowjetunion, Frankreich, Großbritannien) einzubringen. Wäre es nicht ein Gewinn für Frankreich, derart aus erster Hand von dem beginnenden Konsens in Mitteleuropa unterrichtet zu werden, ihn zu beeinflussen und mit seinen eigenen 7 Sloterdijk, Peter: Theorie der Nachkriegszeiten. Bemerkungen zu den deutsch-französischen Beziehungen seit 1945, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2008, S. 23. 8 Sloterdijk, a.a.O., S. 39f. Den Begriff des „kultureigenen decorums, das heißt des Inbegriffs von lokal verbindlichen Normen und Lebensformen“ (ebenda, S. 17) verwendet Sloterdijk als überwölbende Hyperreferenz im Sinne des Kulturtheoretikers Heiner Mühlmann (Die Natur der Kulturen: Entwurf einer kulturgenetischen Theorie, Wien/ New York, Springer, 1996), der anhand des Begriffs der „Maximal-Stress-Cooperation“ (MSC) ein Modell zum Verständnis des in allen nationalen Gemeinschaften entstehenden „Decorums“ erarbeitete, das von der Verbindung zwischen Krieg (Siege und Niederlagen) und Kultur ausgeht: Mühlmann zufolge entsteht Kultur durch ein gemeinsames Erregungspotential, das vor allem durch äußere Feinde („Stressoren“) verursacht wird und die jeweilige Gemeinschaft in eine Hochspannung, eine Maximal- Stress-Cooperation (MSC) versetzt. Diese pendelt die Individuen auf ein gemeinsames Stress-Level ein und führt zu kooperativen Verhaltensweisen innerhalb der Gemeinschaft. Im Verlauf des Nachlassens dieser Anspannung entstehen kulturelle Ausformungen, genannt „Decorum“, die sich als signifikante Unterscheidungskriterien verschiedener nationaler Kulturen erweisen. 9 Schilling, Jürgen: Eine Hand für Frankreich - ein Ohr für Polen, in: Liberal, Nr. 3, 1988, S. 69-74, S. 73. S. auch Riechers, Albrecht: Hilfe für Solidarnosc. Zivilgesellschaftliche und staatliche Beispiele aus der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1980-1982, Bonn, Friedrich- Ebert-Stiftung, 2006 (http: / / library.fes.de/ pdf-files/ historiker/ 03788.pdf). <?page no="92"?> Ingo Kolboom 88 Planungen darauf einzugehen? Vertrauen wir auf den Realismus unserer Partner im Westen. 10 Kurz nach der Veröffentlichung dieses Textes begann der osteuropäische „Völkerfrühling“. In den osteuropäischen Staaten wurden die Karten neu gemischt; mit der deutschen Wiedervereinigung fanden die politischen Strategien der Nachkriegszeit ein Ende. Aber nicht alle! Denn die deutschpolnische Versöhnung, die sich in Form internationaler Abkommen abzeichnete (Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland vom 12. September 1990, Deutsch-polnischer Grenzvertrag vom 14. November 1990 und Nachbarschaftsvertrag am 17. Juni 1991), 11 war nicht ganz neu: 12 Schon in seiner 1987 in Warschau gehaltenen Rede maß Johannes Rau, damals noch Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, der Versöhnung mit Polen die gleiche Bedeutung wie der Versöhnung mit Frankreich bei. Der zukünftige Bundespräsident stand nicht allein mit der Einschätzung Polens und der deutsch-französischen Versöhnung als Matrix für die neuen deutsch-polnischen Beziehungen. 13 Schon 1990/ 91 konnte der Prozess der deutsch-polnischen Versöhnung einsetzen, zwar nicht ohne Schwierigkeiten und Zwischenfälle, 14 doch zum ersten Mal auf gleicher Augenhöhe zwischen 10 Schilling, a.a.O., S. 73. 11 Ludwig, Michael: Polen und die deutsche Frage. Mit einer Dokumentation zum deutschpolnischen Vertrag vom 17. Juni 1991. 2. erw. Aufl., Bonn, Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V., 1991. 12 Die ersten Garanten dieser Annäherung erscheinen nicht erst mit der ersten westdeutschen Ostpolitik des Bundeskanzlers Willy Brandt; zu ihnen zählen heute in erster Linie Tausende von früheren Vertriebenen, als würden sie nun am Ende ihres Lebens eine letzte Versöhnung mit der eigenen Vergangenheit sehen. Erinnert sei vor allem an die wegweisende „Ostdenkschrift“ der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) von 1965 sowie an die Erklärung der polnischen Bischöfe über gegenseitige Vergebung, und die deutsche Antwort darauf, ebenfalls 1965. 13 Vgl. Wojna, Ryszard: Deutschland-Frankreich und die neuen Horizonte Polens, in: Dokumente. Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog, Nr. 4, 1990, S. 307-312. 14 S. in diesem Sinne, Eberwein, Wolf-Dieter/ Basil Kerski (eds.): Die deutsch-polnischen Beziehungen 1949-2000. Eine Wert- und Interessengemeinschaft? Opladen, Leske+Budrich, 2001; Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (ed.): Annäherungen - Zblizenia. Deutsche und Polen 1945-1995, Düsseldorf, Droste, 1996; Bingen, Dieter: Deutsch-polnische Beziehungen, in: Bundeszentrale für Politische Bildung (ed.): Polen. Informationen zur politischen Bildung, Nr. 273, 2001 (http: / / www.bpb.de/ publikationen/ 0117168222480146228- 4671266039564,0,0,Deutschpolnische_Beziehungen.html#art0); Bingen, Dieter: Les relations germano-polonaises: bilan et perspective. Notes du Cerfa, Nr. 12 2004 (http: / / www.ifri.org/ files/ Cerfa/ NoteCerfaBingen.pdf); Rotter, Maria Elisabeth/ Roland Freudenstein: Zurück in die Zukunft? Die deutsch-polnischen Beziehungen nach dem Regierungswechsel in Polen, in: Dialog. Deutsch-Polnisches Magazin/ Magazyn Polsko-Niemiecki, Nr. 82, 2008, S. 9-17 (http: / / www.dialogonline.org); Kneip, Matthias/ Mack, Manfred: Polnische Geschichte und deutsch-polnische Beziehungen. Darstellungen und Materialien für den Geschichtsunterricht mit CD-ROM, Berlin, Cornelsen, 2007. - Für die <?page no="93"?> Aktuelle Erinnerungen an das „Weimarer Dreieck“ 1991-2010 89 zwei freien und souveränen Ländern, deren gemeinsame Grenze eine endgültige Regelung im deutsch-polnischen Vertrag von 1991 gefunden hatte. Der Elysée-Vertrag war dafür ein historisches Modell, wovon auch die Ähnlichkeit zwischen dem deutsch-französischen Jugendwerk (DFJW) und dem neu gegründeten deutsch-polnischen Pendant (DPJW) zeugt. Dementsprechend erklärte auch der polnische Außenminister Krzysztof Skubiszewski am 18. Januar 1993 an der Sorbonne: „Aus einer historischen Perspektive betrachtet, gleicht die deutsch-französische Zusammenarbeit einem Wunder. […] Für Polen und seine Nachbarn stellt die deutsch-französische Zusammenarbeit ein Beispiel dar, insbesondere für die Visegrád-Länder. Der Elysée-Vertrag ist in vieler Hinsicht ein Vorbild.“ 15 Von der Geburtsstunde des „Weimarer Dreiecks“ bis zum Ende des Komitees „Weimarer Dreieck e.V.“ Sehr schnell wurde auch klar, dass es bei diesen neuen deutsch-polnischen bilateralen Beziehungen, die dem französisch-polnischen Freundschafts- und Solidaritätsvertrag vom April 1991 16 ähnelten, nicht bleiben konnte. Sowohl Frankreich als auch Polen empfanden anfänglich ein gewisses Misstrauen gegenüber diesem neuen „Großdeutschland“. Aus polnischer Sicht bestand die Gefahr, dass eine ausschließlich bilaterale Beziehung zu diesem Nachbarn zu einer asymmetrischen Abhängigkeit führen könnte. Für die Franzosen hingegen rief diese deutsch-polnische Beziehung Erinnerungen an das Gespenst der Bonner Ostpolitik zum Nachteil Frankreichs wach, aber auch an Erfahrungen mit dem deutschen „Mitteleuropa“ der Vorkriegszeit. Auf deutscher Seite war man sich über dieses beidseitige Misstrauen - und auch über das eigene Dilemma in der neuen Mittlerrolle zwischen Osten und Westen - durchaus im Klaren, was politisch Früchte tragen sollte. Das klar trilaterale Problembewusstsein führte zu der Idee einer Dreierbeziehung, die durch die persönlichen Beziehungen zwischen den drei Außenministern in Paris, Bonn und Warschau begünstigt wurde und die schon seit einiger Zeit in deutsch-französischen „think tanks“ angedacht worden war. Kaum zwei Monate nach der Ratifizierung des deutsch-polnischen kulturellen deutsch-polnischen Beziehungen, s. Institut für Auslandsbeziehungen (ed.): Die deutsch-polnischen Kulturbeziehungen seit 1990. Auswahlbibliografie. Stuttgart (http: / / cms.ifa.de/ pub/ biblio/ bilat/ polen-bib). Für die Zusammenarbeit in Grenzgebieten, s. Nachbarn an Oder und Neiße. Zu Chancen und Barrieren deutsch-polnischer Zusammenarbeit an der Grenze. Epd-dokumentation, Evangelischer Pressedienst, Nr. 10, 1995. 15 Skubiszewski, Krzysztof: La coopération franco-allemande - un modèle pour la Pologne et l’Europe centrale, in: Documents. Revue des questions allemandes, Nr. 1, 1993, S. 8-12, 8. 16 Traité d’amitié et de solidarité entre la République de Pologne et la République française, 9. April 1991 (http: / / www.legifrance.gouv.fr). <?page no="94"?> Ingo Kolboom 90 Vertrags konkretisierte sich die Idee. Auf Initiative von Hans-Dietrich Genscher kam es in Weimar am 29. August 1991, am Geburtstag Goethes, zu einem ersten Treffen der Außenminister der drei Länder. Im Einvernehmen mit seinen zwei Kollegen Roland Dumas und Krzysztof Skubiszewski wollte Genscher die jeweiligen bilateralen Beziehungen ergänzen, die alten politischen Strukturen des Ost-West-Blocks überwinden und dabei diesem im Bau befindlichen „europäischen Haus“ einen neuen Tragpfeiler hinzufügen, der die drei Schlüsselländer Kontinentaleuropas integrierte, die zusammen 180 Mio. Einwohner zählen. In ihrer gemeinsamen „Erklärung zur Zukunft Europas“ ließen die drei Minister verlautbaren: 1. Europa steht an einem historischen Wendepunkt seiner Geschichte. Seine Völker und Staaten haben den Weg zu neuen Formen des Zusammenlebens beschritten. Wir sind uns bewußt, daß für das Gelingen zukunftsfähiger Strukturen europäischer Nachbarschaft Polen, Deutsche und Franzosen maßgebliche Verantwortung tragen. 2. Wir haben jetzt die einmalige Chance, das neue Europa in gemeinsamer Verantwortung im Geist menschlicher Solidarität, im Bewußtsein der Schicksalsverbundenheit und auf der ererbten Grundlage gemeinsamer Werte zu entwickeln. Der natürliche Wunsch aller Völker, Demokratie, Wohlstand und Sicherheit zu verwirklichen, kann auf Dauer nur durch vereinte Kräfte des ganzen Europa Erfüllung finden. 3. Es gilt jetzt, die Netze der Kooperation immer dichter zu knüpfen, die die Völker und Staaten über einst trennende Grenzen hinweg auf allen Ebenen und in der ganzen Breite des Lebens miteinander verbinden. Wir brauchen eine Vielfalt von Beziehungen in Europa und zwischen seinen Regionen. Insbesondere durch grenzüberschreitende regionale Zusammenarbeit wird das Zusammenwachsen Europas für die Bürger erfahrbar. Sie ist zwischen Deutschland und Frankreich selbstverständlich geworden, an der Grenze zwischen Deutschland und Polen ist sie ein Schlüssel für die künftige Gemeinsamkeit der Staaten und ihrer Bürger. Es werden immer mehr gesamteuropäische konföderale Strukturen entstehen. [...] 10. Heute, am Geburtstag Goethes, wird uns hier in Weimar in hohem Maße bewußt, daß die kulturelle Vielfalt Europas und die Kreativität seiner Menschen unser wertvollstes Gemeingut sind. Das kulturelle Leben und das Wohlergehen der Völker Europas sind eng miteinander verknüpft. Die Pflege des reichen europäischen Kulturerbes ist unser gemeinsames Ziel. Das KSZE-Symposium in Krakau hat hierzu wichtige Grundlagen erarbeitet. Wir wollen eine umfassende Politik der Zusammenarbeit in den Bereichen der Kultur, der Bildung, der Wissenschaft, der Medien und der Austauschprogramme. Es bleibt unser Bestreben, menschliche Begegnungen über Länder und Sprachgrenzen hinweg, wo immer möglich, zu fördern. 17 17 Gemeinsame Erklärung der Außenminister von Deutschland, Frankreich und Polen zur Zukunft Europas. Weimar, 29. August 1991: http: / / www.diplo.de/ diplo/ de/ Europa/ DeutschlandInEuropa/ BilateraleBeziehungen/ Polen/ WeimarerDreieck/ WeimarerDreieckErkl_C3_A4rung.html <?page no="95"?> Aktuelle Erinnerungen an das „Weimarer Dreieck“ 1991-2010 91 Die drei Außenminister beschlossen, sich regelmäßig, einmal im Jahr, zu treffen. 18 Zwei Jahre später, 1993 in Danzig, fand auf polnische Initiative das erste (informelle) Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs statt. Als Folge davon wurden ab 1998 „die ‚Weimarer Gipfel’ die sichtbarste medienwirksame Darstellung des an sich abstrakten ‚Weimarer Dreiecks“. 19 1994 schlossen sich die Verteidigungsminister diesem Dreieck an, mit dem Ziel, ihre Verteidigungspolitik zu koordinieren und eine konkrete gemeinsame militärische Kooperation zu beginnen. „Bisher [trafen sie sich] 14 Mal, d.h. genauso oft wie die Außenminister [….]. Die militärische Zusammenarbeit hat sich zur stabilsten Komponente des Weimarer Kooperationsmechanismus mit konkreten Ergebnissen entwickelt.“ 20 Dies gilt weniger für die anderen Fachminister, auch wenn auf dem 8. Außenministertreffen in Paris 1999 vereinbart wurde, dass weitere Fachminister (Justiz, Finanz, Arbeit und Soziales etc.) trilaterale Treffen durchführen sollten. 21 Auch die Parlamentarier bzw. die Auswärtigen Ausschüsse traten dem Weimarer Kooperationsmechanismus bei. 22 Jüngst, am 30. Mai 2010, trafen sich erstmals die Parlamentspräsidien der drei Länder und verabschiedeten „im Lichte der Herausforderungen des Vertrags von Lissabon“ eine gemeinsame Erklärung. 23 Schließlich sei daran erinnert, dass auch die deutschen Bundesländer, die französischen Regionen und die polnischen Woiwodschaften im Juni 2000 übereingekommen waren, eine Zusammenarbeit auf der Ebene der Gebietskörperschaften anzugehen. 24 Von Anfang an stand auch die Zivilgesellschaft mit im Visier des Weimarer Kooperationsnetzes. Schon in der Gemeinsamen Erklärung der Außenminister von 1991 heißt es: „Es gilt jetzt, die Netze der Kooperation im- 18 Standke, Klaus-Heinrich: Die Rolle der Außenminister im Weimarer Dreieck, in: ders. (ed.): Trójk t Weimarski w Europie. Das Weimarer Dreieck in Europa. Le Triangle de Weimar en Europe. Thorn, Verlag Adam Marsza ek, 2009, S. 379-403. 19 Standke, Klaus-Heinrich: Analytische Übersicht der 7 Gipfelgespräche, in: ders., Trójk t Weimarski w Europie, a.a.O., S. 353-373. Bislang fanden sieben Gipfeltreffen statt (1993, 1998, 1999, 2001, 2003, 2005, 2006): http: / / www.weimarer-dreieck.eu/ index.php? id=41&L=0 20 Standke, Klaus-Heinrich: Treffen der Verteidigungsminister des Weimarer Dreiecks, in: ders., Trójk t Weimarski w Europie, a.a.O., S. 407. Das 15. Treffen der Außenminister fand am 23. Juni 2010 in Paris statt. 21 Die Justizminister trafen sich 1997, die Finanzminister 2001, 2002 und 2004, die Sozial- und Arbeitsminister 2003. s. Treffen der anderen Ministerien: http: / / www.weimarerdreieck.eu/ index.php? id=148&L=0 22 Vgl. Kapitel „Die Rolle der Parlamente“ in: Standke, Trójk t Weimarski w Europie, a.a.O., S. 408-423; sowie: http: / / www.weimarer-dreieck.eu/ index.php? id=164 23 Gemeinsame Erklärung der Parlamentspräsidien des Weimarer Dreiecks, 30.05.2010: http: / / www.deutschland-frankreich.diplo.de/ Parlamente-des-Weimarer-Dreiecks,5558.html 24 S. die Malopolska-Erklärung am 7. Juni 2000 in Krakau: http: / / www.weimarer-dreieck.eu/ fileadmin/ templates/ multiflex3/ PDF/ Declaration_de_Malopolska1_FR.pdf - S. auch „Kooperation der Regionen“: http: / / www.weimarer-dreieck.eu/ index.php? id=42 <?page no="96"?> Ingo Kolboom 92 mer dichter zu knüpfen, die die Völker und Staaten […] auf allen Ebenen und in der ganzen Breite des Lebens miteinander verbinden.“ Seitdem gab es Initiativen in den verschiedensten Bereichen: Städte- und Regionalpartnerschaften, Jugendbegegnungen, Kultur, Hochschule, Wissenschaft, Medien, Wirtschaft, Energie etc. Es sind vor allem junge Menschen und Künstler, die in trilateralen Programmen mobilisiert werden und die ohne das Deutsch-Französische und Deutsch-Polnische Jugendwerk kaum denkbar wären. Seit 1990 nahmen mehr als 27.000 Jugendliche an trilateralen Programmen teil. Unter den Hochschulen ist besonders die 1991 gegründete Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder zu nennen; sie ist seit März 2008 in eine „Stiftung Europa-Universität Viadrina“, ebenfalls mit trilateralem Profil, umgewandelt (http: / / stiftung.euv-frankfurt-o.de). Aus dem früheren, 1973 gegründeten „Komitee für den deutsch-französischen Freundschaftsvertrag“ wurde 2002 das „Komitee für die deutsch-französisch-polnische Zusammenarbeit“. Dieses Komitee „Weimarer Dreieck e.V.“, auf dessen jüngste Entwicklung noch zurück zu kommen ist, arbeitet in Polen mit dem 2003 gegründeten „Klub Weimarski“ und in Frankreich mit dem „Französisch-Polnischen Verein für Europa“ zusammen. 25 Ebenfalls öffnete sich ab 2000 - anfänglich gegen den Widerstand des Auswärtigen Amtes - der Deutsch-Französische Kulturrat trilateralen Initiativen mit Polen und folgte damit dem Beispiel des „Institut Berlin-Brandenburg für die deutsch-französische Zusammenarbeit in Europa“, heute die „Stiftung Genshagen“ (die eine dreisprachige Homepage betreibt, http: / / stiftunggenshagen.de). Ob all diese Initiativen und Anstrengungen, die hier nur angedeutet werden können, sich im Sinne der Gründerväter des Weimarer Dreiecks entwickelten, soll hier nicht beurteilt werden, zumal davon ausgegangen werden kann, dass damals in Weimar keiner der drei Außenminister eine konkrete institutionelle Vorstellung von der weiteren Zusammenarbeit hatte; erst im Nachhinein wurde sie mit dem Namen „Weimarer Dreieck“ betitelt. Für Genscher aber gilt, dass ihm sehr wohl im Laufe der Jahre die Idee eines Gesamtkonzepts vorschwebte. Angesichts der Heterogenität all dessen, was seit den 1990er Jahren unter dem Rubrum „Weimarer Dreieck“ an die Öffentlichkeit drang, empfahl er 2006, zum 15. Jubiläum der Gemeinsamen Erklärung vom 29. August 1991, die Schaffung eines offiziellen Koor- 25 Komitee zur Förderung der Deutsch-Französisch-Polnischen Zusammenarbeit e.V. („Weimarer Dreieck“)/ Comité pour la Coopération franco-germano-polonaise („Triangle de Weimar“)/ Komitet Wspierania Wspólpracy Francusko-Niemiecko-Polskie („Trojkat Weimarski“): http: / / www.weimarer-dreieck.eu - Das Komitee (das seit 2006 den Adam-Mickiewicz-Preis verleiht) steht unter Obhut der früheren Außenminister, H.-D. Genscher, R. Dumas und K. Skubiszewski (†), die in Weimar am 28. August 1991 die vertiefte Kooperation zwischen den drei Ländern unterzeichnet haben. Präsident ist der frühere deutsche Diplomat Klaus-Heinrich Standke. <?page no="97"?> Aktuelle Erinnerungen an das „Weimarer Dreieck“ 1991-2010 93 dinators oder gar einer „Stiftung Weimarer Dreieck“, um die Gesamtheit der politischen und privaten Initiativen zusammenzuführen und auszubauen. 26 Die vielfältigen Initiativen, die seit den 1990er Jahren mit dem Namen „Weimarer Dreieck“ auf der regierungsoffiziellen Ebene wie im zivilgesellschaftlichen Bereich verbunden sind, wurden inzwischen nicht minder vielfältig untersucht und bewertet. Eine umfassende, viersprachige Bibliographie ist auf der Internetseite des Komitees „Weimarer Dreieck e.V.“ einsehbar. 27 Es war auch dieses Komitee, das zu Beginn des Jahres 2010 eine umfassende Synthese aller mit dem Namen „Weimarer Dreieck“ verbundenen Initiativen und Arbeiten vorlegte. Unter Federführung seines Präsidenten entstand eine über tausendseitige, dreisprachige Gesamtbilanz des Weimarer Dreiecks, an der sich rund fünfzig Wissenschaftler und Politiker aus Frankreich, Deutschland und Polen beteiligten und deren Empfehlungen für eine Revitalisierung des Weimarer Dreiecks als zivilgesellschaftlicher Beitrag zur deutschen Außenpolitik im Sinne eines „private-public partnership“ zu verstehen sind. 28 Dieses Werk widerlegt einerseits den in den Medien immer wieder zu hörenden Leichengesang über das Weimarer Dreieck, der vor allem daher herrührt, dass entweder die Realitäten des Dreiecks an zu hohen Erwartungen gemessen werden oder aus den Tiefen der Zusammenarbeit wenig Spektakuläres gemeldet wird. Andrerseits illustriert die jüngste Entwicklung des Komitees „Weimarer Dreieck e.V.“ die Schwierigkeiten einer kontinuierlichen zivilgesellschaftlichen Arbeit, die von der Politik zwar immer hoch gelobt aber wenig gefördert, ja oft nicht angemessen respektiert wird. Diese Erfahrungen haben nicht nur die ehrenamtlichen Mitglieder des Deutsch-Französischen Kulturrats immer wieder machen müssen, sondern nun auch das Komitee „Weimarer Dreieck e.V.“, das Ende April 2010 beschloss, seine Tätigkeit mit Wirkung zum 1. September 2010 einzustellen, weil es sich als nicht möglich erwiesen hatte, „seine Vorstellungen aus zivilgesellschaftlicher Sicht im Sinne einer echten ‚private-public partnership’ in die deutsche Außenpolitik einzubringen“ und das Komitee „die hinnehmbare Grenze der Nichtbeachtung seiner Arbeitsergebnisse als überschritten an(sah)“. „Ohne echtes Interesse des für das Weimarer Dreieck federführenden Auswärtigen Amtes macht die Weiterführung seiner zivilgesellschaftlich orientierten Arbeit keinen Sinn.“ 29 Bevor wir auf diese aktuellen Entwicklungen zurückkommen, sollen im Folgenden einige Aspekte des Weimarer Dreiecks in Erinnerung gerufen werden, die die Grenzen und Möglichkeiten dieses Triumvirats verdeutlichen. 26 Vgl. Standke, Klaus-Heinrich: Discours d’ouverture lors du décernement du Prix Adam- Mickiewicz à Weimar, 2007 http: / / www.weimarer-dreieck.eu/ fileadmin/ templates/ multiflex3/ PDF/ KHS_Er_ffnungsstatement_Rev.3.pd 27 „Bibliographie zum Weimarer Dreieck“: http: / / www.weimarer-dreieck.eu/ index.php? id=45 28 Standke, Klaus-Heinrich (ed.): Trójk t Weimarski w Europie, a.a.O. 29 Der Vorgang ist im Anhang zu diesem Beitrag dokumentiert. <?page no="98"?> Ingo Kolboom 94 Von einigen Ingredienzien des Weimarer Dreiecks Das Weimarer Dreieck ist nur vor dem Hintergrund vielschichtiger und sich gegenseitig bedingender historischer und ideeller Entwicklungstendenzen zu verstehen: Die national eingefärbte Bezugnahme auf sich seit Jahrhunderten überschneidende Geschichtserinnerungen; verschiedene „europäische“ Erfahrungen und Sichtweisen von europäischer Identität; 30 sowie, nach dem Krieg, die Referenz des deutsch-französischen „Modells“ und schließlich die große Wende in Europa 1989. Diesen geschichtlich-politischen Flickenteppich hier im Detail darzustellen, ist selbstredend nicht möglich. 31 Es sei aber an einige Überlegungen und Entwicklungen erinnert, die sich in dieser Dreierbeziehung im Jahrzehnt vor dem Eintritt Polens in die Europäische Union 2004 zu einem Netz von Absichten und Interessen verdichteten. Wie bereits erwähnt galt die positive deutsch-französische Erfahrung als Matrix für das Weimarer Dreieck. Der politische Wille, Probleme und Konflikte zu entschärfen, sollte damit im Herzen des Dreiecks stehen, analog zum „Geist“ der deutsch-französischen Zusammenarbeit. Das hieß aber auch, bestimmte Zwänge einer institutionalisierten Zusammenarbeit zu akzeptieren, um die Verpflichtung zur Kooperation für nachfolgende Regierungen zu erhalten und vor konjunkturellen Schwächeperioden des politischen Willens zu schützen. Im Idealfall sollte (und soll) diese trilaterale Zusammenarbeit Frankreich und Deutschland dazu anleiten, mitteleuropäische Probleme als gemeinsame Sache, die Solidarität erfordert, zu betrachten. Im Sinne der Realpolitik übernahm das Weimarer Dreieck zugleich die Funktion eines Kontroll-Labors mit Schlichtungs- und Innovationsaufgaben in der Vorstufe der Osterweiterung. Schon in den Anfängen dieses Prozesses stellte es eine Art Ver- 30 Deutschland und Frankreich berufen sich eher auf ihre identitätsstiftenden karolingischen Wurzeln (mit unterschiedlichen konzeptuellen Ausgängen: Universelle Monarchie vs. Territorialstaat), Polen hingegen beruft sich seit seiner polnisch-litauischen Union auf seine besondere „Europäizität“ zwischen Westen und Osten. Vgl. François, Etienne/ Hartmut Kaelble/ Roland Traba: Drei Wege in der europäischen Geschichte, in: Dialog - Deutsch-polnisches Magazin, n o 65, 2003; Kraft, Claudia/ Katrin Steffen (eds.): Europas Platz in Polen. Polnische Europa-Konzeptionen vom Mittelalter bis zum EU-Beitritt, Osnabrück, fibre Verlag, 2007. 31 Dies haben wir an anderer Stelle ausführlich analysiert. S. u.a. Kolboom, Ingo: France, Allemagne, Pologne: un triangle pour l’Europe? , in: Revue d’Allemagne, Nr. 4, 2000, S. 565-575; ders.: Polen: eine deutsch-französische Annäherung in Europa, in: Politische Studien, Nr. 376, 2001, S. 49-63; ders.: Das Weimarer Dreieck als politische und kulturelle Herausforderung, in: Hertling, Nele/ Eva Hoffmann-Müller (eds.): Künstlerisches Schaffen in der erweiterten EU. Mobilität und Verantwortung, Regensburg, ConBrio, 2007, S. 8-20; ders.: Das ‚Weimarer Dreieck’. Nachgedanken zur Gestaltung der europäischen Mitte, in: Schmitz, Walter (ed.): Ein anderes Europa. Innovation - Anstöße - Tradition in Mittel- und Osteuropa. Dresden, Thelem, 2008, S. 188-209. <?page no="99"?> Aktuelle Erinnerungen an das „Weimarer Dreieck“ 1991-2010 95 bindung dar zwischen dem „alten Europa“ (repräsentiert durch das deutsch-französische „linchpin“) und dem „neuen Europa“, in dem sich Polen als Vorreiter fühlte. Wenden wir uns den realpolitischen „Hintergedanken“ zu, von denen der Franzose Paul Valéry einst sagte, erst sie ermöglichten einen guten Vertrag. Die Deutschen mussten 1989/ 1990 nicht nur das Misstrauen der französischen und polnischen Regierungen ausräumen, sie mussten auch die Implosion des früheren Ostblocks mit auffangen, aus der das benachbarte Polen als neue zentrale Macht hervorging. Ebenfalls musste Deutschland seine Politik mit der seiner beiden direkten Nachbarn abstimmen und seine gelungene Versöhnung mit Frankreich als eine Art Vertrauensvorschuss auf den Annäherungsprozess mit Polen übertragen. Den Franzosen erlaubte das Konzept der trilateralen Abstimmung, deutsche Einflussnahmen in Zentraleuropa auszugleichen und so die Polen zu beruhigen, die sich einem damals zunächst überschätzten Nachbarn ausgeliefert fühlten. Dies erleichterte es ihnen, im deutsch-polnischen Verhältnis mitzuwirken, was nicht hieß, dass jede Seite auch die jeweilige Bilateralität im Sinne ihrer Interessen zu nutzen suchte. 32 Das „Dreieck“ bot sich auch als Forum an, von dem Paris meinte, zwischen Süd- und Osteuropa ausgleichen zu können. In Polen hingegen wurde das Weimarer Dreieck zunächst als Eingangstor nach Westeuropa angesehen, wobei man sich zu Recht die größte Hilfe von den Deutschen erhoffte, denn das offizielle Frankreich stand einer schnellen Osterweiterung skeptisch gegenüber. Auf einen nicht weniger wichtigen Aspekt polnischer Motive kommen wir noch zurück. Was die bilateralen Interessen betrifft, kann zunächst festgestellt werden, dass das Dreieck sich für alle Seiten, aus sehr unterschiedlichen Motiven, für informelle Kontrollstrategien eignete. Aus deutsch-polnischer Sicht konnte die Konstruktion des Weimarer Dreiecks Frankreich daran hindern, sich in seine mediterrane Rolle zurückzuziehen und in einer solchen Arbeitsteilung Polen und Zentraleuropa schmollend zu vernachlässigen, wie dies beispielsweise 2008 hätte geschehen können, als Präsident Sarkozy seine An- 32 Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch das französische Unterfangen, Polen und anderen Ländern Zentraleuropas den Weg zur Internationalen Organisation der Francophonie (OIF) zu öffnen. Polen wurde 1997 Mitglied in der OIF (nach Rumänien und Bulgarien 1993, Moldawien 1996). Seinem Beispiel folgten Litauen, Tschechien, Slowenien, Albanien (1999), Mazedonien (2001), Slowakei (2002), Ungarn, Kroatien, Österreich, Armenien, Georgien (2004), Serbien, Lettland, Ukraine (2006) (http: / / www.francophonie.org/ -Etats-et-gouvernements-.html). S. auch: Déclaration du Président de la République de Pologne et du Président de la République française sur le partenariat stratégique polono-français, Warschau, 28.05.2008: „8. La République de Pologne et la République française coopéreront étroitement en faveur de la diversité culturelle ainsi que pour la promotion en Europe de la connaissance du polonais et du français et coordonneront leurs actions en la matière avec l’Organisation internationale de la Francophonie.“ <?page no="100"?> Ingo Kolboom 96 sprüche auf die Schaffung einer Mittelmeerunion verkündete. Aus deutschfranzösischer Sicht diente das Dreieck als „Kontrollposten“ für die von den jeweils anderen geplante Ostpolitik. Und von der französisch-polnischen Seite aus gesehen teilte man sich die freundliche Überwachung des Nachbarn in der Mitte. Diese realpolitischen Motive verbanden sich sukzessive mit einem Netz von Akteuren in den jeweiligen Zivilgesellschaften, die in dieser neuen Dimension deutsch-französischer Zusammenarbeit mit Polen jenen moralischen Input von europäischer Politik wiederzufinden glaubten, mit dem einst die Nachkriegsgenerationen vom Schuman-Plan bis zum Deutsch- Französischen Jugendwerk sozialisiert worden waren. Wich der Versöhnungsaspekt im deutsch-französischen Verhältnis - abgesehen von der Phase sorgenvoller Empathie für die Wiedervereinigung - sukzessive einer Defaszinierung, so erhielt die polnisch-deutsche Nachbarschaft erstmals seit 1945 eine weitgehend hindernisbereinigte Gestaltungsmöglichkeit. So war es wenig verwunderlich, dass sich auf deutscher Seite gerade jene Menschen dem Gedanken des Weimarer Dreiecks öffneten, die sich dem Gedächtnis der deutsch-französischen Aussöhnung verpflichtet fühlten und nun eine Chance sahen, ihr Engagement in die aufgestaute Versöhnung mit Polen einzubringen. Dass sie daran manchmal mehr glaubten als die offiziellen Regierungsvertreter, erinnert an die 1960er Jahre, als die „Generation DFJW“ der Politik vorauseilte. Wenn wir unsere Überlegungen zum deutsch-französisch-polnischen Ensemble mit denen Peter Sloterdijks und des Kulturhistorikers Heiner Mühlmann 33 verbinden, dann ließe sich folgendes Bild skizzieren. Was die „Frankosphäre“ und die „Polonosphäre“ angeht, sind beide aus verschiedenen Gründen von einer gewissen „eustress fitness“ sowie von nationalen und politischen Messianismusvorstellungen geprägt. Für Frankreich war dies nicht neu und begleitete die Fünfte Republik in wechselnder Mimikry, von de Gaulles „certaine idée de la France“ bis Sarkozys Erinnerung an die „zivilisatorische Mission [Frankreichs]“. In Polen verstärkte sich dieses mentale Doppelprofil - „eustress fitness“ und Messianismusvorstellungen - mit dem Zurückerlangen der „nationalen Energien“, vor allem in der Phase des Duumvirats der Zwillingsbrüder Kaczy ski zwischen 2005 und 2007, 34 und erhielt durch die nunmehr ungehinderte Auseinandersetzung mit dem Stalinismus und der Erinnerung an das Massaker von Katyn einen neuen Impuls. Die „Germanosphäre“, die sich - wie schon angedeutet - nach der generationsübergreifenden Anerkennung ihrer historischen und moralischen Niederlage auf einen „post-stressorischen Zustand“ hin bewegte, 33 S. oben Anm. 8. 34 Vgl. Raabe, Stephan: Potenzielle Stabilität. Polen nach dem Ende der IV. Republik, in: KAS- Auslandsinformationen, Nr. 6, 2008, S. 27-40 (http: / / www.kas.de/ wf/ de/ 33.14422). <?page no="101"?> Aktuelle Erinnerungen an das „Weimarer Dreieck“ 1991-2010 97 revidierte ihr „nationales Decorum“ und ging laut Sloterdijk in einen Zustand der „Metanoia“ 35 über, die sich, wie bei den Fußballweltmeisterschaften 2006 und 2010 ersichtlich, sogar einem fröhlichen „Patriotismus light“ nicht verschloss. Und jede dieser drei verschiedenen kollektiven Sphären verfügt über ein Arsenal von Gründungsmythen und politischen Ritualen, die nicht nur für sich komplexer Natur sind, sondern auch miteinander verflochten und voneinander abhängig sind. 36 Was die bilateralen Beziehungen betrifft, so stellt sich das deutsch-französische Modell als nunmehr „entdramatisiert“ und „entfasziniert“, also normalisiert dar („poststress“); das polnisch-französische Modell ist ebenfalls „entfasziniert“, mit einigen kleinen „dramatischen“ Rückschlägen, wie wir noch sehen werden; das deutschpolnische Modell ist eher noch „dramatisiert“, was vor allem auf die polnische Seite in der Zeit zwischen 2005-2007 zurückgeht. Wie sehr diese unterschiedlichen nationalen und binationalen Dekorums in das Weimarer Dreieck hineinwirkten, erhellt sich namentlich an einer bislang nicht erörterten Dimension der Trilaterale: den Beziehungen zu den Vereinigten Staaten. Das lange polnische Gedächtnis oder: Die „amerikanische Dimension“ des Weimarer Dreiecks Von Anfang an gab es im Weimarer Dreieck einen heimlichen vierten Partner, denn das „europäische Fieber“ Polens nach 1990 war auch ein amerikanisch-atlantisches Fieber. 1990 hatte das „neue“ Polen nicht nur sein europäisches Schicksal wiedererlangt, es hatte sich auch vom kommunistischen Joch befreit. Sein Kollektivgedächtnis, genauso wie das seiner europäischen Nachbarn (von Tschechien bis zu den baltischen Staaten) war geprägt von der Erinnerung an die Entschlossenheit Amerikas, den Status quo oder gar den Eisernen Vorhang zu überwinden. Daher teilte das neue Polen nicht die mehr oder weniger verständnisvolle Haltung des „alten Europa“ gegenüber der Sowjetunion und ihrer Nachfolgerin. Das lange polnische Gedächtnis 35 „Für diese Bereitschaft zur Umformung der als schädlich erkannten Muster verwende ich im Folgenden den Ausdruck Metanoia. Er bedeutet hier nicht so sehr die christliche Buße, sondern das weltliche Umlernen im Dienste erhöhter Zivilisationstauglichkeit.” Sloterdijk, a.a.O., S. 18. S. auch: „In the context of rhetoric, metanoia is a rhetorical device used to retract a statement just made, and then state it in a better way. As such, metanoia is similar to correctio. In the psychological theory of Carl Jung, metanoia denotes a process of reforming the psyche as a form of self healing, a proposed explanation for the phenomenon of psychotic breakdown. Here, metanoia is viewed as a potentially productive process, and therefore patients’ psychotic episodes are not necessarily always to be thwarted, which may restabilize the patients but without resolving the underlying issues causing their psychopathology.“ (http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Metanoia) (Zugriff 30.09.2008). 36 Vgl. Bizeul, Yves (ed.): Politische Mythen und Rituale in Deutschland, Frankreich und Polen, Berlin, Duncker & Humblot, 2000. <?page no="102"?> Ingo Kolboom 98 hatte auch die frühere Haltung der Franzosen, die 1939 „für Danzig nicht sterben“ wollten, in Erinnerung. Dieses politische, auf die USA fokussierte Vertrauen drückte sich in erster Linie im festen Willen Polens aus, der NATO beizutreten, damit sich Polen so schnell wie möglich unter den (militärischen) Schutz der Atlantischen Allianz stellen konnte. Diese atlantische Öffnung verband sich einerseits mit der polnischen Erfahrung als doppeltes dauerhaftes Opfer im 20. Jahrhundert, einer Erfahrung, die in der politischen und affektiven „Polonosphäre“ als kräftigendes Substrat fungierte. Andrerseits wurde sie gefördert von der raschen Amerikanisierung der neuen polnischen Eliten, die von einer starken, in Amerika lebenden polnischen Diaspora profitierte. 37 „Polen haben ein ähnliches Verhältnis zu Amerika wie Italiener oder Iren, die bis heute nicht ganz im Schmelztiegel unkenntlich geworden sind. Es gibt etwa zehn Millionen polnischstämmiger Amerikaner, die dem knapp zwei Jahrhunderte lang dreigeteilten, dann von den Nazis und den Sowjets besetzten, schließlich kommunistischen Polen in seinem Ringen um die Freiheit stets treu zur Seite standen.“ 38 Diese polnische Faszination für Amerika und die offensichtlichen proamerikanischen Komponenten der polnischen Außenpolitik ließen im Alten Europa, besonders in Frankreich, nicht zuletzt das Wort von Polen als dem „Trojanischen Pferd“ der USA in Europa aufkommen. Somit war der polnische Wunsch und Wille nach einer Rückkehr nach Europa von Anfang an begleitet von einer Fokussierung auf die USA, die von Polen als einziger vertrauenswürdiger Schutz gewährender Verbündeter betrachtet wurden; was im Übrigen an die Nachkriegs-BRD erinnert, die zwischen einer europäischen Berufung und einer amerikanisch-atlantischen Faszination pendelte. In diesem Zusammenhang war das „Dreieck“ ein Mittel, den Eintritt Warschaus in die Europäische Union und in die NATO vorzubereiten. In Polen wusste man sehr wohl, dass Frankreich eher Vorbehalte gegen eine Osterweiterung der Union und gegen einen Beitritt Polens zur NATO hatte und dass der neue deutsche Nachbar diesbezüglich der bessere Verbündete war. Dieser gemeinsamen Komplizenschaft ist nicht zuletzt der fünfte, oben noch nicht zitierte Punkt der „Gemeinsamen Erklärung“ der Außenminister vom 29. August 1991 zu verdanken, der an die Präambel erinnert, die der Deutsche Bundestag 1963 im Streit zwischen „Gaullisten“ und „Atlantikern“ dem Deutsch-Französischen Vertrag voranstellte: 5. Nordatlantische Allianz und WEU werden auch in Zukunft eine wichtige Rolle für die Stabilität in Europa spielen. Für die Sicherheit Europas wird auch zukünf- 37 Ausführlich dazu: Majcherek, Janusz A.: Warum lieben die Polen Amerika? In: Dialog, Nr. 64, 2003, S. 22-24; Tychner, Janusz: „Amerika ist ein Teil von uns“. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 18.05.2003, S. 13. 38 Tychner, Janusz: „Amerika ist ein Teil von uns“, a.a.O. <?page no="103"?> Aktuelle Erinnerungen an das „Weimarer Dreieck“ 1991-2010 99 tig die transatlantische Dimension, das heißt die enge Zusammenarbeit mit den USA und Kanada, unerläßlich sein. Dass dieser Wunsch Polens schon 1999, mit dem Beitritt Polens zur NATO, in Erfüllung ging, war nicht zuletzt der deutschen Fürsprache zu verdanken, die sich auch auf den Ministertreffen im Rahmen des Weimarer Dreiecks gegenüber Frankreich artikulierte. Daran erinnerte der damalige Präsident des polnischen Parlaments (und seit dem 4. Juli 2010 polnische Staatspräsident) Bronis aw Komorowski: Wir sind stolz darauf, dass die große Welle der Freiheit, die nach 1989 auch die deutsche Einheit möglich gemacht hat, bei uns an der Danziger Werft begonnen hat. Die Wiedervereinigung Deutschlands haben wir von Anfang an als Chance zu einer vertieften Zusammenarbeit in Europa gesehen. Wir werden uns in Polen immer daran erinnern, welche positive Rolle Deutschland bei unserer Westintegration nach der Wende gespielt hat. Auf dem Weg in die Nato und in die Europäische Union ist Deutschland immer ein wichtiger Anwalt Polens gewesen. 39 Zugleich sei aber auch daran erinnert, wie diese proamerikanische Seite der polnischen Politik auch für Deutschland zum Problem wurde, als unter dem Eindruck des zweites Irakkriegs 2003 die damalige Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder den Schulterschluss mit Paris suchte und die amerikanische Entscheidung nicht mit trug. Europa teilte sich in zwei Lager: das eine distanzierte sich von einem amerikanischen Eingreifen gegen Bagdad, das andere unterstützte vorbehaltlos die Position von Washington. Angefacht von den Zwischenrufen des damaligen US-Verteidigungsministers Donald Rumsfeld entstand der Streit zwischen dem „alten Europa“, das „antiamerikanisch“ geworden sei - in dessen Reihen sich auch das deutschfranzösische Tandem befand - und dem „proamerikanischen neuen Europa“ mit Polen als Galions- und Leitfigur. Unter der Regierung von Leszek Miller gehörte Polen schließlich der Koalition der 35 Staaten an, die gegen Irak Krieg führte; dabei bekam es sogar ein Gebiet zugeteilt, das unter seiner Verantwortung stand. Das Weimarer Dreieck wurde das erste Opfer dieser Spaltung zwischen „alten“ und „neuen“ Europäern. „Noch niemals seit der Gründung des Weimarer Dreiecks 1991 waren die Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich und Polen so belastet wie heute. Noch niemals in den vergangenen zwölf Jahren war Polen an einem so gewichtigen politischen Streit mit den westlichen Partnern beteiligt.“ So redete der ehemalige polnische Botschafter in Deutschland, Janusz Reiter, Präsident des Zentrums für internationale Beziehungen in Warschau, seinen deutschen Freunden ins Gewis- 39 Im Gespräch Sejmmarschall Bronislaw Komorowski, „Gemeinsame Erinnerung an 1989“. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.11.2008, S. 4. <?page no="104"?> Ingo Kolboom 100 sen. 40 Die Krise hatte sich zugespitzt, nachdem der damalige französische Staatpräsident Jacques Chirac seinen berühmt gewordenen Ausspruch „Polen hat die Gelegenheit verpasst, seinen Mund zu halten“ getan hatte. Dies hatte eine Welle der Empörung gegenüber dem „Rüpel Chirac“ - so die Titelblattüberschrift der größten polnischen Tageszeitung „Gazeta Wyborsza“ am 19. Februar 2003 - ausgelöst und auch polnische Frankophile verzweifeln lassen; das vielgelesene Magazin „Wprost“ betitelte die Beziehungen zu Paris und Berlin als „Achse des Verrats“. 41 Marek A. Cichocki, Studienleiter im Zentrum für Internationale Beziehungen in Warschau, kommentierte die Vorgänge rückblickend im August 2004 in der Tageszeitung „Rzeczpospolita“ in kaum zu überbietender Ironie und Bissigkeit: Selbstverständlich darf ein Land vernünftigerweise keine Politik entwickeln, die gegen Frankreich oder dessen Interessen gerichtet wäre. Die französische Einstellung wiederum, die Europäische Union nach dem Dogma zu behandeln, Europa und Frankreich wären ein und dieselbe Sache, führt dazu, dass die Franzosen alle im Rahmen der Erweiterung Europas notwendigen Veränderungen nur schweren Herzens akzeptieren. Es wurde plötzlich evident, dass Europa sich nicht auf das wiedervereinigte Deutschland, auf das transatlantische Großbritannien und auf das von rechten Populisten geprägte Italien reduzieren lässt, sondern - oh Schreck! - auch Länder wie Polen, Litauen oder Ungarn einschließt. Paris hat auf diese Umwälzungen besonders empfindlich reagiert, sie führten in Frankreich zu den größten Befürchtungen und der größten Frustration, was Jacques Chirac in seiner skandalösen Äußerung, Polen hätte den Mund halten sollen, zum Ausdruck brachte. Allein dieser einfache Satz resümiert die letzten fünfzehn Jahre der Politik Frankreichs, das seit 1989 zu unserem großen Bedauern nie versucht hat, mit dem von Polen bewohnten Teil des Kontinents eine politische Partnerschaft einzugehen. In seinen politischen Rechnungen hält Frankreich Polen für ein unwichtiges Land. 42 Ein Jahr später, anlässlich der Debatten über die geplante europäische Verfassung, brachte die französische Kampagne gegen den in Frankreich angeblich Tausende von Arbeitsstellen bedrohenden „polnischen Klempner“ 40 Reiter, Janusz: „Polens unentbehrliche Partner“. Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 09.05.2003, S. 10. 41 „Empörung über den ‚Rüpel Chirac’. Osteuropäische Reaktionen auf die Vorwürfe des französischen Präsidenten“. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.2.2003, S. 6; Ludwig, Michael: „Die Achse des Verrats. Polen entzürnt über Paris und Berlin“. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.02.2003, S. 3; Lang, Kai-Olaf: Wiederbelebung des Weimarer Dreiecks im Zeichen atlantischer Differenzen und europäischer Zerrissenheit. Stiftung für Wissenschaft und Politik, Berlin, SWP-Aktuell, Nr. 19, 2003; Kopernikus-Gruppe (ed.): Interessengemeinschaft auf dem Prüfstand: Die deutsch-polnischen Beziehungen nach dem Irak-Krieg und vor dem EU-Beitritt Polens, Dokument V, Darmstadt/ Stettin 2003 (http: / / www.deutschespolen-institut.de/ projekte/ KopernikusGruppe/ Mitteilungen.html). 42 Marek A. Cichocki in: Rzeczpospolita 25-08-2004, S. A7. Übersetzung ins Französische unter dem Titel „Le Roi est mort, vive le Roi“: http: / / www.rzeczpospolita.pl/ tematy/ pl-fr-2004/ indexfr.html (Polska-Francja 2004, Pologne - France 2004). <?page no="105"?> Aktuelle Erinnerungen an das „Weimarer Dreieck“ 1991-2010 101 (Polski hydraulik) das Vertrauen Polens in Frankreich erneut ins Wanken. 43 Jedoch wurden alle Kassandra-Rufe dementiert, die den Tod des Weimarer Dreiecks infolge der atlantischen Zwietracht sowie der 2003/ 04 entstandenen europäischen Zerrissenheit vorhersahen. 44 In Folge der Desillusionierung Polens über seine Rolle als alliierte Kraft im Irak und der politischen Veränderungen in Frankreich kam es dazu, dass die deutsch-französischpolnische Krise und die damit zusammenhängende französisch-polnische Krise bald schon wieder an Brisanz verloren. Die Hoffnungen, die die polnische Politik seit 2004 auf Nicolas Sarkozy, jenen „ungarischen Einwanderersohn“ (Cichocki), als Präsidentschaftskandidaten setzte, wurden schließlich nicht enttäuscht. Die von Präsident Nicolas Sarkozy vollzogene Rückkehr Frankreichs in die militärische Integration der NATO sowie seine Öffnungsgesten gegenüber Polen 45 bestätigten die Vorhersagen von Marek A. Cichocki: „Sarkozy machte nie einen Hehl daraus, er betrachtete die anti-amerikanische Politik von Jacques Chirac in der Irak-Angelegenheit als schädlich. Er wird als Pro-Atlantiker betrachtet.“ 46 Doch kaum waren die Erinnerungen an den Irakkrieg verblichen, gab die polnische „Liebe zu Amerika“, hinter der auch die Furcht vor Russland stand, Anlass zu neuen Konflikten, die auch das Weimarer Dreieck, diese Begegnungsstätte kollektiver Psychosphären, erneut berührten. Es ging um die Einrichtung eines amerikanischen Raketenschutzschilds auf polnischem Boden. „Zum ersten Mal besteht die Chance, die Sicherheit Polens grundlegend zu stärken. Angesichts der zunehmend autoritären Tendenzen in Russland und der politischen Krise der EU sollte das für die polnische Regierung ein zentrales Anliegen sein“, so der Kommentar Jedrzej Bieleckis am 43 Auslöser dieser Kampagne um den „polnischen Klempner“ war eine Erklärung Philippe de Villiers (Parteichef des Mouvement pour la France) in Le Figaro 15. März 2003: „Die Bolkesteinrichtlinie erlaubt es einem polnischen Klempner oder einem estländischen Architekten, in Frankreich seine Dienste mit dem Gehalt und dem sozialen Schutz seines Herkunftslandes anzubieten. Von den 11 Millionen erwerbsfähigen Menschen, die in diesen Dienstleistungen arbeiten, sind eine Million Arbeitsstellen von dieser Richtlinie direkt bedroht. Es geht um den Abbau unseres ökonomischen und sozialen Modells.“ Vgl. Bavarez, Nicolas: Le plombier polonais, in: Garcin, Jérôme (ed.): Nouvelles mythologies. Paris, Seuil, 2007, S. 25-29. 44 Raabe, Stephan: Werkzeug der Hegemonie oder Ideengeber in Europa? Das Weimarer Dreieck aus polnischer Sicht. Konrad-Adenauer-Stiftung, Warschau, 29.06.2006 (http: / / www.kas.de/ wf/ doc/ kas_8753-544-1-30.pdf). 45 Als der französische Präsident Nicolas Sarkozy wissen ließ, dass er als Gegenleistung für die Unterstützung seines Plans zu einer „Mittelmeerunion“ die Auffassung einer „osteuropäischen Partnerschaft“ des polnischen Premierministers D. Tusk unterstütze, jubelten die katholischen nationalistischen Kreise, die sogar eine bilaterale Achse beäugelten. „Die Traum-Achse Paris-Warschau“. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.05.2008, S. 6. 46 Cichocki, a.a.O. <?page no="106"?> Ingo Kolboom 102 25. Juli 2006 in der „Rzeczpospolita“. 47 Als dann nach mehr als fünfzehn Monaten harter Verhandlungen mit der Bush-Administration, begleitet von russischen Drohgebärden sowie deutschen und französischen Störmanövern, das Abkommen im August 2008 „der Wut Moskaus zum Trotz“ 48 unterzeichnet wurde, hatte der polnische Premierminister Donald Franciszek Tusk nicht nur das Versprechen der USA in der Tasche, bis 2012 zehn Raketenabwehrsysteme in Polen zu installieren. 49 Ihm war auch eine Verstärkung seiner eigenen Verteidigung gelungen, indem die USA dem Aufbau einer Luftabwehranlage vom Typ „Patriot“ mit 96 Raketen und der Verstärkung der militärischen Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern zustimmten. Die russische Gereiztheit hingegen hatte die pro-atlantische Haltung der Polen nur verstärkt und eine nationalistische Welle ausgelöst, für die der dammalige konservative Staatspräsident Lech Kaczy ski - mitten in der georgischen Krise - zum Sprachrohr wurde: „Keiner darf Polen vorschreiben, was es zu tun hat“. 50 Es liegt auf der Hand, dass die georgische Krise die Unterzeichnung des polnisch-amerikanischen Abkommens über die Einrichtung eines amerikanischen Raketenschutzschilds auf polnischem Boden beschleunigte. „Die Steigerung der internationalen Spannung, die uns heute überrascht, macht die Sicherheitsgarantien zu einer noch wichtigeren Frage als je zuvor“, so Radoslaw Sikorski, der polnische Außenminister, der Anfang der 1990er Jahre eine Zeitlang im neokonservativen „American Enterprise Institute“ gearbeitet hatte. 51 Hinzu kommt, dass die russische Offensive in Georgien und die russische Fragmentierung Georgiens es der polnischen Regierung leichter machten, die Akzeptanz des in der Bevölkerung bis dahin eher unpopulären amerikanischen Schutzschilds zu erhöhen. Eine damalige Meinungsumfrage ließ wissen, dass 58% der Polen diesem Schutzschild zustimmten und 37% dagegen waren. 52 Ebenfalls 58% der Polen wa- 47 Zitiert in: Spaltet die US-Raketenabwehr Europa? von Hans-Jörg Schmidt: http: / / www.eurotopics.net/ fr/ magazin/ politik-verteilerseite/ raketenabwehr_2007_04/ debatte_raketenabwehr_2007_04. Bei diesem Anlass erinnerten feierlich die USA an ihr Engagement, im Falle eines Angriffs Polens Territorium zu verteidigen, selbst wenn der Vertrag von der NATO dieses schon garantiert. 48 „Pologne et USA signent leur accord sur le bouclier malgré l’ire de Moscou“, Le Point, 20.08.2008 (http: / / www.lepoint.fr/ actualites-monde/ pologne-et-usa-signent-leur-accord-sur-le-bouclier-malgre-l-ire/ 924/ 0/ 267869). 49 Dieses sollte Langstreckenraketen im Flug zerstören können und durch einen leistungsstarken Radar in Tschechien ergänzt werden. 50 Fernseh-Rede vom 19.08.2008 (http: / / www.lepoint.fr/ actualites-monde/ pologne-etusa-signent-leur-accord-sur-le-bouclier-malgre-l-ire/ 924/ 0/ 267869). Vgl. Kwasniewski, Aleksander: „Kein Zurück zu einem Europa der Einflusszonen“. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.08.2008, S. 10. 51 Testault, Jean-Luc: „Pologne et USA signent leur accord sur le bouclier malgré l’ire de Moscou“. Le Point, 20.08.2010: http: / / www.lepoint.fr/ actualites-monde/ pologne-etusa-signent-leur-accord-sur-le-bouclier-malgre-l-ire/ 924/ 0/ 267869. 52 Quelle ebd. <?page no="107"?> Aktuelle Erinnerungen an das „Weimarer Dreieck“ 1991-2010 103 ren der Meinung, ihr russischer Nachbar sei den Polen gegenüber feindlich gesinnt, bei 8% Gegenmeinung (und 31% ohne Meinung). 53 Mit dem Ende der zweiten Amtszeit George W. Bushs nahmen die polnisch-amerikanischen Beziehungen - und damit auch die Beziehungen Polens zu Frankreich und Deutschland - eine weitere Wendung. Im Zuge des amerikanischen Wahlkampfs wurde auch Polen von der „Obamanie“ erfasst, was die polnischen Emotionen gegenüber den USA nur verstärkte. Umso größer war die Enttäuschung, als der neu gewählte Präsident Obama sich gegenüber Russland von der „harten“ Außen- und Sicherheitspolitik seines Amtsvorgängers abwandte, um einen Hochrüstungswettlauf zu vermeiden. Während sich Deutschlands und Frankreichs Haltung gegenüber Washington zusehends entspannte, zeigte sich die polnische Regierung von Amerika wenig begeistert, als sich abzeichnete, dass die USA im Einvernehmen mit Moskau auf den umstrittenen ursprünglichen Plan eines Raketenschutzschildes verzichteten. 54 Zwar konnte seit Ende 2009 die Enttäuschung in Warschau (und Prag) in dem Maße kompensiert werden, wie die USA ihre Sicherheitsgarantien für Polen bekräftigten und ein neues Raketenabwehrvorhaben mit polnischer Beteiligung in Aussicht stellten. 55 Zwar beschädigte der Kurswechsel der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik den polnischen „atlantisme rustique“, wie ihn das Pariser Nachrichtenmagazin Le Point (20.04.2001, S. 3) einmal nannte, kaum nachhaltig - dafür ist das amerikanische Gedächtnis zu tief im polnischen Kollektiv verankert. Aber die polnische Außenpolitik wurde sich ihrer europäischen Handlungsspielräume, damit auch des Weimarer Dreiecks, wieder stärker bewusst und war bereit, den tief sitzenden antirussischen Reflex zu überprüfen. Letzteres wurde aber zudem von der amerikanischen Politik selbst erleichtert, denn die „Abkehr von Bushs Raketenplänen sowie von dessen robuster Machtpolitik in der Ukraine minderte auch die Spannung zwischen Russland und Polen, dem wichtigsten Alliierten Amerikas in Osteuropa.“ 56 Sie ebnete den Weg Putins nach Danzig, wo er als Gast der polnischen Re- 53 Quelle: Meinungsforschungsinstitut GfK Polonia, zitiert in: Sächsische Zeitung, 30./ 31.08.2008. 54 „Obama-Abkehr von Raketenschild erzürnt Polen. Alternative gefordert“. Handelsblatt, 17.09.2009: http: / / www.handelsblatt.com/ politik/ international/ obama-abkehrvon-raketenschild-erzuernt-polen; 2457990; Patrick Garber: Der 11. November 1918 und das deutsch-polnische Verhältnis. Deutschlandradio Kultur, Kommentar, 11.11.2008: http: / / www.dradio.de/ dkultur/ sendungen/ kommentar/ 874264 55 Das Nachfolgesystem sieht zunächst die Stationierung von Abwehrraketen auf See und dann an Land vor. In Polen könnten danach SM-3-Abfangraketen aufgestellt werden, die zur Bekämpfung von Kurz- und Mittelstreckenraketen geeignet sind. http: / / www.focus.de/ politik/ weitere-meldungen/ raketenschutzschild-polen-bekundigt-interesse-an-nachfolgesystem_aid_446817.html 56 Schuller, Konrad: „Der Weg zu den Gräbern von Katyn“. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.04.2010, S. 6. <?page no="108"?> Ingo Kolboom 104 gierung im September 2009 den Hitler-Stalin-Pakt als „moralisch verwerflich“ verurteilte. Und ebenso führte sie zu der von den Medien als „sensationelle Geste“ kommentierten Einladung des russischen Ministerpräsidenten Putin an seinen polnischen Amtskollegen Tusk für den 7. April 2010 zum gemeinsamen Gedenken in Katyn, das stellvertretend für die Tatorte steht, an denen Stalin im April und Mai 1940 22.000 polnische Soldaten, Beamte, Geistliche und sonstige „Konterrevolutionäre“ hatte erschießen lassen. 57 Aus Sicht des russischen Schriftstellers Viktor Jerofejew kam die russische Staatsmacht den Polen damit weit entgegen, „so weit sie konnte. Und da ereignete sich die Tragödie.“ 58 Es war dann - drei Tage nach dem gemeinsamen Gedenken Putins und Tusks in Katyn - der Absturz der polnischen Präsidentenmaschine beim Anflug auf den Flughafen Smolensk, der die „Geste von Katyn“ in eine neue polnische Tragödie und Katharsis verwandelte. Auf dem Weg zu einer eigenen Gedenkfeier an den Gräbern Katyns starben Präsident Lech Kaczy ski, der stets darum bemüht war, die polnische Opfergeschichte wachzuhalten, 59 seine Frau Maria Mackiewicz und 94 weitere Personen, darunter hochrangige Vertreter aller Parteien und fast die gesamte militärische Führung des Landes. Angesichts des kaum fassbaren Ausmaßes dieser politischen und menschlichen Tragödie und der Reaktionen in Volk und Medien notierte der Schriftsteller Andrzej Stasiuk: „Etwas verschlafen, von mäßigem Temperament und einer Neigung zur Gedankenverlorenheit, zur Melancholie gar, erwacht mein Land von Zeit zu Zeit mit einer Kraft zum Leben, die man ihm gar nicht zugetraut hätte. Seine hemmungslose Vitalität entfaltet sich im Tode. Erst der Tod muss kommen, damit das Leben erwacht.“ 60 Mit der gemeinsamen Trauer von Russen und Polen im „Klangkörper der nationalen Mythologie“ 61 entstand nicht nur eine bis dahin unvorstellbare menschliche Nähe zwischen beiden Völkern, auch die russisch-polnische Nachbarschaftspolitik erfuhr nach dem Unglück von Smolensk eine bis dahin unvorstellbare Wende. Dass Versöhnungsgesten und realpolitische Interessenverfolgung einander fördern können, hatte schon die deutschfranzösische Politik der Nachkriegszeit unter Beweis gestellt; die deutsch- 57 Veser, Reinhard: „Die Geste von Katyn“. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.04.2010; „Russisch-polnische Annäherung. Putin wagt den Kniefall vor Stalins Opfern“. Spiegel-Online, 07.04.2010: http: / / www.spiegel.de/ politik/ ausland/ 0,1518,687773,00.html 58 Jerofejew, Viktor: „In Russland kommt Polen in Mode“. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.04.2010, S. 33. 59 Schuller, Konrad: „Tod vor Katyn“. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.04.2010, S. 1. 60 Stasiuk, Andrzej: „Für die Trauer tun wir alles“. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.04.2010, S. 33. Vgl. Schuller, Konrad: Ein Volk in fassungsloser Trauer vereint. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.04.2010, S. 3; Kijowska, Marta: „Unglück von Smolensk. Nationaltragödie, zweiter Teil“. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.04.2010. (http: / / www.faz.net). 61 Schuller, Konrad: „Das neue Polen“. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.04.2010, S. 6. <?page no="109"?> Aktuelle Erinnerungen an das „Weimarer Dreieck“ 1991-2010 105 polnischen und die deutsch-russischen Beziehungen waren diesem Beispiel nach dem osteuropäischen Völkerfrühling und dem Fall der Sowjetunion gefolgt. Nun könnten die Gesten von Danzig und Katyn, mehr noch die Folgen der Tragödie von Smolensk, eine neue polnisch-russische Ära einleiten - was nicht heißt, dass die polnische Bindung an Amerika darunter zu leiden hätte. Im Gegenteil, es läge auch im Interesse der amerikanisch-russischen strategischen Partnerschaft und der westeuropäischen Partner Polens (Deutschland und Frankreich), die für den antirussischen Reflex des neuen Polens ohnehin wenig (aus polnischer Sicht zu wenig) Verständnis aufbrachten. Diese neue Interessenslage von „Versöhnung und Berechnung“ 62 dürfte die Ausrichtung polnischer und russischer Außenpolitik vorerst bestimmen, ohne dass Polen als eines der großen EU- und NATO-Länder bei seiner bisherigen Europa- und Amerikapolitik Abstriche macht - was auch Russland durchaus zu respektieren weiß. An zwei Ereignissen lässt sich dies ablesen. Einmal an der neuen polnisch-amerikanischen Vereinbarung vom 4. Juli 2010 über eine modifizierte Raketenabwehr, unterzeichnet von den Außenministern Hillary Clinton und Radoslaw Sikorski im symbolträchtigen Krakau, wo Clinton Blumen am Gedenkkreuz für die Opfer der Morde von Katyn niederlegte. 63 Russland, dem gegenüber Sikorski versicherte, dass das System „so transparent wie möglich“ sein solle, „dass vor allem Russland sicher ist“, zeigte sich zwar skeptisch, doch waren die Reaktionen von Seiten Russlands weit entfernt von den Drohgebärden, mit denen es einst auf die Pläne der Bush-Administration reagiert hatte (angedrohte Stationierung von Kurzstreckenraketen vom Typ Iskander in der Exklave Kaliningrad). Das zweite Ereignis bezieht sich just auf diese Exklave und führt uns wieder zurück zum Weimarer Dreieck: Als am 23. Juni 2010 im Rahmen der Weimarer Dreieck-Konsultationen die Außenminister Deutschlands, Frankreichs und Polens in Paris zum 15. Mal zusammentrafen, stieß auf Initiative des französischen Gastgebers der russische Außenminister Sergej Lawrow zu ihnen. Bei dieser ersten Begegnung in dem „3 plus 1“ genannten Format ging es unter anderem um einen visafreien Zugang der Bewohner der russischen Enklave Kaliningrad nach Polen. Dem Trio für dieses Entgegenkommen dankend, erklärte Lawrow, dass Russland bereit sei, seine Beziehungen zum Weimarer Dreieck zu verstärken: „Ein Viereck wäre auch sehr schön“! 64 62 Ludwig, Michael: „Versöhnung und Berechnung“. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.04.2010, S. 1. 63 Die Raketen vom Typ SM-3 sollen zwischen 2015 und 2018 in Nordpolen stationiert werden. „Amerika und Polen vereinbaren Aufstellung von Raketenabwehr. Außenministerin Clinton in Krakau“. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.07.2010, S. 5. 64 „Ausland in Kürze - Lawrow für ‚Weimarer Viereck’“. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.06.2010, S. 7; http: / / www.diplomatie.gouv.fr/ fr/ salle-presse_832/ photos-videospodcasts_4048/ actualite-images_884/ index.html? num=962 <?page no="110"?> Ingo Kolboom 106 Introspektion Die Gründungsideen zum Weimarer Dreieck waren vom Kontext der europäischen Nachwende-Zeit bestimmt. Die Dreier-Konstruktion erleichterte Polens Weg in die Europäische Union, aber auch in die NATO, denn das „Dreieck“ stellte den Partnern eine Art institutionalisierte „Blackbox“ (im Sinne der Systemtheorie) zur Verfügung, nicht immer um Spannungen und Schwierigkeiten aufzulösen, aber um sie zumindest zu entdramatisieren und diese Vorgänge mit den parallel institutionalisierten deutsch-französischen und deutsch-polnischen Beziehungsarchitekturen im Rahmen bestehender Möglichkeiten abzustimmen. Misst man die Aktivitäten an diesem zugegebenermaßen bescheidenen Erwartungshorizont und vermeidet beim Vergleich mit der deutsch-französischen Zusammenarbeit seit 1963 jegliche Idealisierung derselben, ist die Bilanz, wie sie jetzt auch mit dem tausendseitigen deutsch-französisch-polnischen Gemeinschaftswerk vorgelegt wurde, zunächst durchaus vorzeigbar, vor allem im Bereich der Außenpolitik und im Bereich der militärischen und parlamentarischen Zusammenarbeit. Dass sich andere Fachministerien dem Kooperationsmechanismus angeschlossen haben, ist begrüßenswert, wenngleich sich hier offenbar kein selbst auferlegter Zwang zu regelmäßigen Treffen durchgesetzt hat. Gezeigt hat sich auch, dass seit Erfüllung der ersten strategischen Ziele der polnischen Agenda (Eintritt in die NATO und in die EU) die Konstruktion des Weimarer Dreiecks den damit verbundenen Paradigmenwechsel überstanden hat und sich nicht als obsolet erwies, was nicht zuletzt das jüngste russische Interesse am Weimarer Dreieck illustriert. Die auf der offiziellen Ebene eingetakteten Konsultationen der Regierungen, Staatsoberhäupter und einiger Ministerien haben eine gewisse Eigendynamik entwickelt, die den Vorteil hat, nicht dem Erwartungsdruck und der Kaffeesatzlektüre politischer Analysten ausgesetzt zu sein, denen die medial aufgeladenen deutsch-französischen „Gipfel“ unterliegen. Dies ist gerade für die deutsch-polnischen Beziehungen von Vorteil, welche die Phase des „gestressten“ mimetischen Austauschprozesses noch nicht hinter sich gelassen haben. Es ist möglich, dass Polen dem Weimarer Dreieck wieder verstärkte Aufmerksamkeit zukommen lässt, zumal sein Gewicht darin größer geworden ist: Es ist nicht mehr der Juniorpartner Deutschlands und Frankreichs und verfügt seit den Präsidentschaftswahlen vom 4. Juli 2010 - im Gegensatz zu den im Jahre 2010 krisengeschwächten Regierungen in Berlin und Paris - über eine stabile, europaorientierte Doppelspitze, was auch in Moskau zur Kenntnis genommen wird, wo man „Allianzen mit großen Partnern schätzt, [...] aber längst virtuos mit europäischen Eifersüchteleien [spielt].“ 65 65 Holm, Kerstin: „Dieses Europa hätte Amerika nicht entdecken können. Russische Perspektiven auf die Krise der Union“. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.07.2010, S. 35. S. auch Schuller, Konrad: „Ein wichtiger Schritt voran“. Frankfurter Allgemeine Zeitung, <?page no="111"?> Aktuelle Erinnerungen an das „Weimarer Dreieck“ 1991-2010 107 Zu einer anderen Beurteilung kommt man jedoch, legt man die Messlatte höher an und erhofft sich vom Weimarer Dreieck mehr als nur eine nützliche außen- und sicherheitspolitische Blackbox, nämlich - im Sinne des Vorschlags von Hans-Dietrich Genscher - ein trilaterales Netzwerk mit einem offiziellen Koordinator oder gar einer „Stiftung Weimarer Dreieck“ an der Spitze; ein Netzwerk, in dem die vielen zivilgesellschaftlichen Initiativen, die eben nicht von interessenspolitischer Berechnung geleitet sind, anerkannte Impulsgeber sind. Die in dem Band „Trójk t Weimarski w Europie“ vorgelegte „Agenda 2021“ („Notwendigkeit der Formulierung eines konzeptuellen Rahmens zur Vitalisierung des Weimarer Dreiecks“) liefert dazu eine Reihe von Anregungen. 66 In diesem Kontext bieten sich die dichten Netze bilateraler Initiativen in Deutschland, Frankreich und Polen für eine „Weimarisierung“, als ein Stück „Kerneuropa zu Dritt“, an. Gerade die deutsch-polnischen Beziehungen stehen, was das Ausräumen historischer Erblasten angeht, immer noch an ihren Anfängen - misst man dies an der langen Wegstrecke des deutsch-französischen Versöhnungsprozesses. Und die deutsch-französischen Beziehungen, deren zivilgesellschaftliche Euphorie in die „Normalisierung“ übergegangen ist, könnten von dieser Konstellation nur profitieren. Das doppelt „gestresste“ Gedächtnis Polens, aber auch das der anderen Völker Osteuropas, geht auch die Westeuropäer etwas an. Ein Vorbild könnte die in Westeuropa wenig beachtete Visegrád-Gruppe liefern, diese im Februar 1991 initiierte, anfangs sehr lose Kooperation der vier Staaten Ungarn, Tschechien, Slowakei und Polen. Auch sie war - seit 1998 - in ein regelmäßiges Treffen übergeleitet worden. Doch darüber hinaus gründeten die Mitglieder einen gemeinsam finanzierten „Internationalen Visegrád-Fonds“, mit Sitz in Bratislava, der kulturelle Netzwerke und Einzelaktionen unterstützt und Stipendien an Studenten, Doktoranden und Wissenschaftler zum akademischen Austausch vergibt. Die Kooperation strebt auch gemeinsame diplomatische Vertretungen im Ausland an; jüngstes Beispiel ist der Aufbau einer gemeinsamen diplomatischen Vertretung in 06.07.2010, S. 1: „Die Erweiterung nach Osten war - mehr noch als der Reformvertrag von Lissabon - das wichtigste europäische Großprojekt der letzten zehn Jahre. Mit der Stabilisierung Polens, das allein so groß ist wie alle anderen ehemals komunistischen EU-Länder zusammen, ist dieses riskante Projekt unerwartet deutlich geglückt. Polens Wähler und Eliten sind von Europa begeistert. Der frühere Euro-Skeptiker Kaszynski will eine europäische Armee, Ministerpräsident Tusk eine europäische Wirtschaftsregierung. Während in Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien die Mächtigsten wackeln, entwickelt Polen europäische Führungskraft. [...]. [...] Polen ist nicht darauf angewiesen gewesen, die Grundlagen der Demokratie zu importieren. Es hat sie sich selbst geschaffen, noch zu Zeiten der Diktatur, mit der Gewerkschaft ‚Solidarno ’. Heute kann Polen selbst europäische Werte exportieren.“ 66 Standke, Trójk t Weimarski w Europie, a.a.O., S. 829-904. <?page no="112"?> Ingo Kolboom 108 Südafrika im März 2010! 67 Soweit ist das Weimarer Dreieck noch lange nicht. „Bezeichnenderweise konnte selbst ein solches Prestigeprojekt wie die 1993 von den ‚Weimarer’ Außenministern beschlossene gemeinsame Unterbringung eines französischen, deutschen und polnischen Kulturinstituts in einem Gebäude in Warschau bis heute nicht realisiert werden.“ 68 Diese Feststellung aus dem Jahre 1997 (! ) hat noch 2010 Gültigkeit. Das offensichtliche Desinteresse des Auswärtigen Amtes an den zivilgesellschaftlichen Impulsen zum Weimarer Dreieck bestärkt den ohnehin verbreiteten Eindruck, dass die Politik es vorzieht, unter sich zu bleiben und solche Beiträge nur dann abzurufen, wenn Gedenkveranstaltungen oder andere Redeanlässe dies für opportun erscheinen lassen. So betonte der damalige Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier auf dem Deutsch- Russischen Forum 2006 die Notwendigkeit eines zivilgesellschaftlichen Engagements mit dem schönen Satz „Ohne ein solches Netz bewegt sich Politik im luftleeren Raum...“. 69 Wieweit sich Politik „im luftleeren Raum“ ohne Not bewegen kann, zeigte die jüngste Schreibtischidee aus dem Auswärtigen Amt im April 2010, eine geplante deutsch-französisch-polnische Eingreiftruppe mit dem Namen „Weimar Battle Group“, also „Weimarer Kampfgruppe“, zu versehen. Erst der Protest des Oberbürgermeisters von Weimar bewirkte die Entfernung dieser Namensgebung auf der Internetseite des Auswärtigen Amtes, auf der übrigens das Weimarer Dreieck über keine eigene Seite verfügt, sondern erst unter der Seite „Deutsch-Polnische Zusammenarbeit“, hier unter der Rubrik „Politische Beziehungen“, zu finden ist. 70 Über diesen Umgang „seines“ Amtes mit dem Weimarer Dreieck dürfte der ehemalige Bundesaußenminister Genscher alles andere als glücklich sein. Sein Verdikt am 30. August 2009 im „Interview der Woche“ des Deutschlandfunks anlässlich des 70. Jahrestags des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs: „[...] Und ich muss bedauern, dass das Weimarer Dreieck nicht in der Weise benutzt worden ist, wie es eigentlich von mir und meinen Kollegen Roland Dumas und Krzysztof Skubiszewski vorgesehen war.“ 71 67 „Tschechien, die Slowakei, Polen und Ungarn eröffnen Visegrád-Haus in Kapstadt“. Radio Praha, 20.03.2010: http: / / www.radio.cz/ de/ artikel/ 126428 68 Rogall, Joachim: Deutschland - Frankreich - Polen: http: / / www.deuframat.de/ parser/ parser.php? file=/ deuframat/ deutsch/ 6/ 6_4/ rogall/ start.htm (Zugriff 10.07.2010). 69 Quelle: Kommunique des Komitees zur Förderung der deutsch-französisch-polnischen Zusammenarbeit e.V. (‚Weimarer Dreieck’): Chronologie des Versuches, mit dem Auswärtigen Amt in einen Dialog zu treten wegen dessen Beteiligung am geplanten Symposium „Das Weimarer Dreieck: Neue Impulse für das größere Europa“ anlässlich des 15-jährigen Bestehens des Weimarer Dreiecks, vom 18.04.2006. 70 http: / / www.auswaertigesamt.de/ diplo/ de/ Europa/ DeutschlandInEuropa/ BilateraleBeziehungen/ Polen/ Politik/ PolitischeBeziehungen.html (Zugriff 05.07.2010). 71 Quelle: Standke, Trójk t Weimarski w Europie, a.a.O., S. 857. <?page no="113"?> Aktuelle Erinnerungen an das „Weimarer Dreieck“ 1991-2010 109 Aktuelle Dokumentation Dokument 1: „Kampfgruppe Weimar“ - das Außenministerium rudert zurück“. Transkript eines Radio-Interviews von Antje Siefert (Mediathek Thüringen) am 30.4.2010 mit Stefan Bredohl, stv. Sprecher des Auswärtigen Amtes, Berlin Vorspann der Mediathek Thüringen: Das kommt auch nicht oft vor, dass ein Außenministerium für die innenpolitische oder kommunale Verstimmung sorgt. Unserem Außenministerium ist es jetzt innerhalb einer Woche zweimal gelungen. Erst hat das Komitee Weimarer Dreieck e.V. wegen Nichtbeachtung seiner Arbeitsergebnisse seine Auflösung zum 1. September beschlossen. Und jetzt haben die Pläne zur Gründung einer europäischen Eingreifgruppe unter dem Namen „Weimar Battle Group“ - also „Weimarer Kampfgruppe“ - für Stirnrunzeln - nicht nur im Rathaus Weimar gesorgt. Siefert: Gegründet wurde das sog. Weimarer Dreieck 1991 von dem damaligen Außenminister Hans-Dietrich Genscher und seinen französischen und polnischen Kollegen Roland Dumas und Krzysztof Skubiszewski. Das Komitee mit gleichem Namen wurde dann in Weimar ins Leben gerufen. Vorsitzender ist Klaus-Heinrich Standke. Seit fünf Jahren wird (von dem Komitee gemeinsam mit dem Oberbürgermeister der Stadt Weimar) jeweils am 29.8. der „Adam-Mickiewicz-Preis für Verdienste um die deutsch-französisch-polnische Zusammenarbeit“ verliehen. Vor drei Tagen trafen sich die aktuellen Außenminister in Bonn und es gab für das Komitee keine Möglichkeit, eine umfangreiche Festschrift zu überreichen, woraufhin das Komitee seine Auflösung beschloss. Begründung: „Interesselosigkeit des Auswärtigen Amtes an der Arbeit des Komitees.“ Was ist denn da schiefgelaufen? Bredohl: Ja, wir haben auch gehört, dass das Komitee jetzt gesagt hat, dass es sich auflösen will. Ich kann nur sagen, wir haben das mit Bedauern zur Kenntnis genommen, denn man kann nicht sagen, dass wir interesselos für die Arbeit des Komitees sind. Ich kann Ihnen ein Beispiel nennen: Die drei Europaminister aus Deutschland, Frankreich und Polen haben sich Anfang Februar in Warschau getroffen. Und da hat der Vorsitzende des Komitees eine Dokumentationssammlung den drei Europaministern übergeben und selbstverständlich haben die Drei für ihn auch Zeit gefunden. <?page no="114"?> Ingo Kolboom 110 Bredohl (Forts.): Insofern kann ich nur noch einmal sagen, wir kennen die Arbeit des Komitees und schätzen sie auch. Wenn das Komitee sich nun auflöst, ist dies bedauerlich. Siefert: Warum gibt es dann eine Nichtbeachtung der Arbeitsergebnisse, wenn Sie sagen, Sie kennen die Arbeiten und schätzen sie auch? Bredohl: Ja, weil ich Ihnen gerade gesagt habe, die Arbeitsergebnisse werden beachtet, sie wurden beachtet, wie dies beispielsweise Anfang Februar in Warschau geschah. Aber man muss sich selbstverständlich in jedem Einzelfall, sei es bei diesem Treffen der Europaminister oder auch wenn die Außenminister sich treffen, überlegen, wie man es nun im Detail hinbekommt. Da kann es natürlich sicher bei dem einen oder anderen Treffen auch Unterschiede in der Planung oder in der Vorbereitung geben. Nur generell zu sagen, dass es eine Nichtbeachtung der Arbeit des Komitees gab, ich glaube, das kann man nicht machen. Siefert: Das Auswärtige Amt bekennt sich in seiner jüngsten Erklärung zum Weimarer Dreieck; die Rede ist auch von der Gründung einer „Weimarer Dreiecks-Kultur“. Der größte Teil der Erklärung ist aber der Sicherheits- und Verteidigungspolitik gewidmet. In der Vergangenheit las sich dies ganz anders. Da war die Rede „von zivilgesellschaftlichen Komponenten, die für den langfristigen Erfolg und die breite gesellschaftliche Akzeptanz des Weimarer Dreiecks unentbehrlich seien“. Also was soll das Weimarer Dreieck nun sein, in dem es ursprünglich um Verständigung und Austausch ging? Bredohl: Das Weimarer Dreieck ist sicherlich alles davon. Das Weimarer Dreieck, Sie haben es gesagt, wurde vor 20 Jahren gegründet und seither hat es eine ganze Reihe von Treffen gegeben auf den unterschiedlichsten Ebenen und eine ganze Reihe von Initiativen. Wenn Sie die 20 Jahre Revue passieren lassen, werden Sie sicherlich Beispiele für jedes Politikfeld, für jedes kulturelle oder wirtschaftliche Feld finden und dann Beispiele, wie man dort mal zu dem einen oder anderen Thema geredet hat. Bei dem Treffen der Außenminister am vergangenen Dienstag stand z.B. auch ein Treffen mit dem ukrainischen Außenminister auf dem Programm, wo die drei sich gefragt haben, wie kann der weitere Prozess der Annäherung der Ukraine an Europa fortgesetzt werden? Aber - und da haben Sie recht - es wurde auch über außen- und sicherheitspolitische Themen gesprochen; denn es ist so dass Deutschland, Frankreich und Polen bereits vor zwei Jahren entschieden haben, im ersten Halbjahr 2013 eine „Battle Group“, so heißt es auf englisch, auf deutsch würde man vielleicht sagen „schnelle Einsatzkräfte“, eben mit Kräften aus ihren drei Ländern zu bestücken. Die Europäische Union hat „Battle Groups“, in jedem Halbjahr zwei, seit Jahren <?page no="115"?> Aktuelle Erinnerungen an das „Weimarer Dreieck“ 1991-2010 111 und wird es künftig haben und die Mitgliedsländer der EU manchmal auch andere Länder, werden aufgefordert, dafür Truppen zu benennen. Siefert: Nun löst sich nicht nur das Komitee Weimarer Dreieck auf, vielmehr mussten die Weimarer, incl. des Oberbürgermeisters, aus der Zeitung erfahren, dass eine europäische Eingreifgruppe, wie Sie sie gerade nannten, mit dem Namen „Weimar Battle Group“ gegründet werden soll - so jedenfalls steht es auf Ihrer Internetseite, besser gesagt stand es, heute morgen stand es noch, jetzt steht es, glaube ich, nicht mehr. Sie sprechen da von einem Missverständnis. Bredohl: Ja, das ist richtig. Und zwar ist es so, dass diese „Battle Groups“ keinen besonderen Namen haben. Also im Moment beispielsweise gibt es zwei dieser „Battle Groups“. Eine setzt sich zusammen aus Verbänden aus Polen, Deutschland, baltischen Staaten und der Slowakei. Und eine andere aus englischen und holländischen Kräften. Die haben beide auch keine Namen, diese Gruppen. Und auch die Gruppe im I. Halbjahr 2013, Deutschland-Polen-Frankreich, hat offiziell natürlich keinen Namen. Allerdings, und das ist richtig, sind von verschiedensten Leuten in der Vergangenheit umgangssprachlich der Name Weimar damit in Verbindung gebracht worden und deshalb hat sich kurz auf der Homepage des Auswärtigen der Name wiedergefunden, einfach weil die drei Länder, die 2013 diese schnellen Eingreifkräfte zusammenstellen, nun auch die Länder sind, die das Weimarer Dreieck darstellen. Aber, um das noch einmal klar zu sagen, das ist weder der beabsichtigte noch der tatsächliche Namen dieser „Battle Group“. Siefert: Das war also Stefan Bredohl, Vize-Sprecher des Auswärtigen Amtes. Wir sprachen über den Beschluss des Komitees Weimarer Dreieck e.V. sich aufzulösen und über die Irritationen in der Stadt Weimar über die geplante deutsch-französisch-polnische Eingreifgruppe mit dem Namen „Weimar Battle Group“. Diesen Namen, in diesem Moment haben wir es gehört, wird es so nicht geben. Dokument 2: Gegendarstellung des Komitees Weimarer Dreieck e.V. Der stv. Pressesprecher des Auswärtigen Amtes irrt: Am Rande des Treffens der Europaminister Polens, Deutschlands und Frankreichs, Miko aj Dowgielewicz, Werner Hoyer und Pierre Lellouche wurden in der Tat zwar den drei Politikern durch den Herausgeber Klaus- Heinrich Standke die vom Verlag eigens für das Warschauer Treffen angefertigten Vorausexemplare des Sammelbandes „DAS WEIMARER DREIECK IN EUROPA“ am 1.2.2010 übergeben. Obwohl der Herausgeber eigens zu diesem Zweck nach Warschau gereist war, kam es aus „Zeitmangel“ jedoch <?page no="116"?> Ingo Kolboom 112 außer einem freundlichen Händeschütteln zu keinerlei Meinungsäußerung zu den während eines Jahres erarbeiteten Ergebnissen. Das Komitee hat im Hinblick auf den bevorstehenden 20. Jahrestag des Weimarer Dreiecks in dem umfangreichen Sammelband, an dem rund 50 Autoren und Autorinnen aus den drei Ländern beteiligt sind, aus Sicht der Zivilgesellschaft ein dreisprachiges Strategiekonzept zur Revitalisierung des Weimarer Dreiecks „Agenda 2021“ entwickelt. Staatsminister Dr. Hoyer war als einzigem der drei Europaminister der zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit innerhalb des Weimarer Dreiecks durch das zuständige Referat des Auswärtigen Amtes das zivilgesellschaftliche Aktionsprogramm des Komitees vorab zur Kenntnis gebracht worden. Genau so wenig wie bei der Vorbereitung des Europaministertreffens in Warschau fand in der Vorbereitungsphase des am 27.4.2010 durchgeführten Bonner Außenministertreffens die vom Komitee vorgelegte „Road Map“ für das Weimarer Dreieck in irgendeiner Weise Berücksichtigung. Der Herausgeber hat die Bitte geäußert, ihm in Bonn am Rande der Ministerkonferenzen eine Gelegenheit einzuräumen, um den Außenministern Guido Westerwelle, Bernard Kouchner und Rados aw Sikorski, die für sie bestimmten Buchexemplare persönlich zu überreichen. Alle drei sind in dem Sammelband mit Grußworten in deutscher, französischer und polnischer Sprache vertreten. Das Ministerbüro hat am 23.4.2010 die Buchübergabe „aus Zeitgründen“ ausdrücklich verweigert. In Briefen vom 12.1.2010 an Staatsminister Dr. Hoyer und vom 17.4.2010 an Bundesaußenminister Dr. Westerwelle wurden beide Politiker persönlich darüber informiert, dass das Komitee in dem zusammenfassenden Schlusskapitel des Buches detaillierte Handlungsempfehlungen vorgelegt hat, um damit seinen Beitrag zu dem in der Koalitionsvereinbarung vom 24.10.2009 ausdrücklich geforderten ‚Relaunch’ des Weimarer Dreiecks zu leisten. Beide Briefe blieben folgenlos. Ganz anders das Echo von Bundespräsident a. D. Dr. Richard v. Weizsäcker (Ko-Autor des Buches) am Tage der Bonner Außenministerkonferenz: „...Es ist bewunderungswürdig, wie Sie die Politik immer wieder anregen und - mit Ihrem Wort - „vitalisieren“.“ Im Gegensatz zu der am 4.2.2010 in Paris von Staatspräsident Nicolas Sarkozy und Bundeskanzlerin Angela Merkel lancierten Strategie zur Dynamisierung der deutsch-französischen Zusammenarbeit im kommenden Jahrzehnt („Agenda 2020“) ist das Desinteresse an der von dem Komitee propagierten ähnlichen Revitalisierung der zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit innerhalb des Weimarer Dreiecks („Agenda 2021“) offenkundig. Es überrascht daher nicht, dass bei der abschließenden Pressekonferenz der drei Minister in der Villa Hammerschmidt, bei der die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU im Vordergrund stand und - bedingt durch die Anwesenheit des ukrainischen Außenministers - die Europäische Nachbarschaftspolitik, auf die von den drei Gründungsvätern <?page no="117"?> Aktuelle Erinnerungen an das „Weimarer Dreieck“ 1991-2010 113 schon vor nahezu zwei Jahrzehnten geforderten verstärkten Zusammenarbeit der Zivilgesellschaft der drei Länder mit keinem Satz eingegangen wurde. Die Chance, unter deutschem Vorsitz in dem Lande, in dem das Weimarer Dreieck seinen Ursprung nahm, zum 20. Jahrestag im Jahre 2011 eine Perspektive zur Dynamisierung der deutsch-französisch-polnischen Zusammenarbeit aufzuzeigen, die über das rein Politische hinausgeht, ist bei der Bonner Konferenz nicht genutzt worden. Das zivilgesellschaftliche Komitee Weimarer Dreieck e.V. hat hieraus seine Konsequenzen gezogen. Dokument 3: Pressemitteilung des Komitees „Weimarer Dreieck e.V.“ Auflösung des Komitees „Weimarer Dreieck e.V.“ zum 1.9.2010. In dem ehrenamtlich wirkenden Komitee zur Förderung der deutsch-französisch-polnischen Zusammenarbeit e.V. haben sich unabhängige Persönlichkeiten aus Deutschland, Frankreich und Polen zusammengefunden, um die Idee des Weimarer Dreiecks mit ihrem persönlichen Engagement zu unterstützen. Das Komitee ist unter Schirmherrschaft der Gründungsväter des Weimarer Dreiecks, der damaligen Außenminister Hans-Dietrich Genscher, Roland Dumas und Krzysztof Skubiszewski ( ) entstanden. Es stellt die einzige in Deutschland, Frankreich und Polen tätige zivilgesellschaftliche Initiative dar, die sich ausschließlich der Förderung der trilateralen Zusammenarbeit verpflichtet fühlt. Es hat sich für das Komitee jedoch als nicht möglich erwiesen, seine Vorstellungen aus zivilgesellschaftlicher Sicht im Sinne einer echten ‘private-public partnership’ in die deutsche Außenpolitik einzubringen. Das Komitee sieht jetzt die hinnehmbare Grenze der Nichtbeachtung seiner Arbeitsergebnisse als überschritten an. Ohne echtes Interesse des für das Weimarer Dreieck federführenden Auswärtigen Amtes macht die Weiterführung seiner zivilgesellschaftlich orientierten Arbeit keinen Sinn. Das Komitee sieht daher - ein Jahr vor dem 20-jährigen Bestehen des Weimarer Dreiecks - keinen anderen Weg, als seine Tätigkeit mit Wirkung vom 1.9.2010, d.h. nach der diesjährigen Verleihung des Adam-Mickiewicz- Preises für Verdienste um die deutsch-französisch-polnische Zusammenarbeit, einzustellen.“ (Quelle: http: / / www.weimarer-dreieck.eu/ index.php? id=12) <?page no="118"?> Elmar Brok Chancen und Perspektiven einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik - Empfehlungen an die deutsch-französische Zusammenarbeit Einleitung Anfang des 20. Jahrhunderts stellte der französische Schriftsteller Romain Rolland fest „Frankreich und Deutschland sind die beiden Flügel des Abendlands.“ Diese vor 100 Jahren angesichts der Kriege und Streitigkeiten zwischen Deutschland und Frankreich noch visionär anmutende Behauptung Rollands hat sich durch die europäische Einigung seit Gründung der EGKS 1950 und damit der Versöhnung Frankreichs und Deutschlands verwirklicht. In den 60 Jahren der europäischen Erfolgsgeschichte glichen die beiden Nachbarländer im Herzen Europas tatsächlich oftmals dem Bild von Flügeln, die gemeinsam Europa - manchmal in hoher Geschwindigkeit, manchmal langsamer, dennoch stetig - vorantrieben. Heute wird deswegen auch zu Recht das Bild des deutsch-französischen Motors benutzt. Europa steht heute, nach Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags, an einem entscheidenden Wendepunkt. Vor allem im Bereich der Gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GASP/ ESVP) sieht der Lissabonner Vertrag entscheidende Reformen vor. Stand die Außen- und Sicherheitspolitik bisher deutlich unter nationaler Prärogative, wird sie nun immer mehr zu einem Schlüsselbereich europäischer Politik. Die globalen Herausforderungen, denen Europa sich heute gegenübersieht, wie zum Beispiel Klimawandel, Wirtschafts- und Finanzkrise, Terrorismus, Migration und Energiesicherheit können heute nur gemeinsam auf europäischer Ebene gelöst werden. Die GASP/ ESVP ist zwar nach wie vor nicht vergemeinschaftet und weiterhin intergouvermental organisiert, aber es ist nicht zu übersehen, dass die europäischen Mitgliedsländer nur dann auf weltpolitischer Bühne gehört werden und ihre innere Sicherheit und ihren Wohlstand garantieren können, wenn sie gemeinsam vorgehen. Aber die besten Neuerungen und Reformen bringen nichts, wenn sie nicht mit Leben gefüllt und umgesetzt werden. Dabei kommt Deutschland und Frankreich eine entscheidende Rolle zu. Denn immerhin repräsentieren <?page no="119"?> Chancen und Perspektiven einer gemeinsamen europ. Außenu. Sicherheitspolitik 115 sie mit insgesamt ca. 140 Millionen Einwohnern mehr als ein Viertel der EU- Bürger. Auch liegen französische und deutsche Interessen in Europa nah bei einander. Beide wollen ein politisch starkes, sozial abgesichertes, wettbewerbsfähiges Europa, das in der Lage ist, seine Interessen und Werte in der Welt durchzusetzen. Aber es muss auch beachtet werden, dass ein Motor aus vielen Teilen besteht, deren harmonisches und gemeinsames Funktionieren den Antrieb garantieren. Übertragen auf die EU27 heißt dies: Frankreich und Deutschland spielen weiterhin eine überaus wichtige Rolle und funktionieren als „Zündkerzen“, dennoch müssen auch die übrigen kleinen und großen Mitgliedstaaten beachtet werden. Im Alleingang funktioniert der „Motor“ nicht. Im Folgenden wird der aktuelle Stand der GASP/ ESVP und insbesondere die Rolle Frankreichs und Deutschlands beleuchtet: Wo liegen die gemeinsamen Interessen Deutschlands, Frankreichs und der anderen europäischen Mitgliedsländer? Welche Fortschritte wurden gemacht und wo sind noch Schwachpunkte? Welche Chancen bietet der Lissabonner Vertrag? Worauf sollte in Zukunft geachtet werden? Der aktuelle Stand der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik - Wirtschaftlicher Riese und politischer Zwerg? Oftmals als außenpolitischer Zwerg geschimpft, ist die EU als wirtschaftlicher Riese schon lange weltweit respektiert. Die Zahlen sprechen für sich: Die EU repräsentiert mit ihren 27 Mitgliedstaaten ca. 491 Millionen Menschen. Mit ihren Erlösen aus Binnenmarkt und internationalem Handel steht sie für ein Drittel des Wohlstandes der Weltwirtschaft mit ca. 31% des weltweiten BIP (im Vergleich USA 25,5%, Japan 8,1%, China 6,1%) 1 Deutschland und Frankreich stellen insgesamt ca. 37% des europäischen Bruttoinlandsprodukt (Deutschland 20,4%, Frankreich 16,2%). 2 Allein Deutschland exportierte im Januar 2010 Waren im Wert von insgesamt 63,7 Milliarden Euro innerhalb und außerhalb der EU 3 Bezeichnend ist zudem, dass die EU ca. 60% der weltweiten Entwicklungshilfe stellt. Allein aus dem EU-Haushalt und den Haushalten der EU-Mitgliedsländer werden insgesamt dreimal mehr Gelder für Auslandshilfe 4 ausgegeben als aus dem Haushalt der USA. 1 Quelle United Nations Conference on Trade and Development (UNCTD) Handbook of Statistics 2008, www.unctad.org/ en/ docs/ tdstat33_en.pdf, hier S. 388. 2 Quelle Eurostat, abgerufen am 9.6.2010 3 Quelle Eurostat, Pressemitteilung 16. April 2010, http: / / epp.eurostat.ec.europa.eu/ cache/ ITY_PUBLIC/ 6-16042010-AP/ DE/ 6-16042010-AP-DE.PDF, abgerufen am 20.4.2010. 4 Unter Auslandshilfe werden hier alle Zahlungen im Rahmen der sog. „Official Development Assistance“ (ODA) verstanden. Diese betrugen laut OECD 2009 insgesamt bei den 19 EU-Mitgliedsländern, die OECD-Mitglieder sind, 67134,51 Millionen Dollar plus 15,022,32 Millionen Dollar aus dem EG-Haushalt, also insgesamt 82156,83 Millio- <?page no="120"?> Elmar Brok 116 Dies sind alles gute Voraussetzungen, auch ein politischer Riese zu sein: Dementsprechend hat die EU neben ihrem wirtschaftlichen Gewicht auch politisch in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Dies wird beispielsweise deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass sie in 140 Ländern Delegationen hat und zahlreiche Kooperations- und Assoziationsabkommen abgeschlossen hat, die sowohl wirtschaftliche Interessen als auch politische Ziele miteinander verknüpfen. Das Bild wirtschaftlicher Riese versus politischer Zwerg geht also nicht in seiner Gänze auf. Dennoch spricht die polemische Formulierung ein Grundsatzproblem an: Die oftmals vorhandene Schwierigkeit, eine gemeinsame europäische Position zu formulieren: Das Tauziehen um eine Lösung für Griechenland und das Gerangel um den Aufbau eines Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) sind nur zwei der aktuellen Beispiele. Deswegen ist gerade an diesem Punkt der europäischen Einigung eine Vorreiterrolle Frankreichs und Deutschlands nicht nur wünschenswert sondern absolut notwendig. Wo liegen also die Ansatzpunkte, die gemeinsamen Interessen Deutschlands und Frankreichs, die die Basis für ein gemeinsames Engagement im Bereich der GASP/ ESVP bieten? Gemeinsame Interessen Frankreichs und Deutschlands Erstens leitet sowohl Frankreich als auch Deutschland ein realpolitisches Interessenkalkül: Das beste Beispiel bietet die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS). Diese wurde zum einem aus Sicht Frankreichs gegründet, um Deutschland zu kontrollieren. Deutschland seinerseits erhoffte sich dadurch die Rückgewinnung seiner Souveränität sowie seiner Gleichberechtigung und Integration. Aber über diese nationalen Interessen hinaus stand ein gemeinsames Interesse Deutschlands und Frankreichs: Die Sicherung des Friedens. Nur durch Einbeziehung Deutschlands, durch seine Integration in die westliche Staatengemeinschaft und durch die Verknüpfung von Interessen konnte der Frieden in Europa garantiert werden. Und dies ist bis heute das leitende Prinzip der europäischen Integration: Die EU ist zuallererst eine Friedensgemeinschaft. Zweitens werden Frankreich und Deutschland von gemeinsamen Wirtschaftsinteressen geleitet. Nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) in der französischen Nationalversammlung 1954 war die weitere Integration der EU zunächst lange Zeit auf die wirtschaftliche Integration konzentriert, um darüber die politische Integration und damit die Sicherung von Frieden und Wohlstand zu erreichen. Heute haben nen Dollar. Dagegen erfolgten im gleichen Zeitraum aus den USA Zahlungen in Höhe von 28665,33 Millionen Dollar. Quelle: OECD http: / stats.oecd.org/ index.aspx? - DatasetCode=ODA_DONOR <?page no="121"?> Chancen und Perspektiven einer gemeinsamen europ. Außenu. Sicherheitspolitik 117 die EU-Mitgliedsstaaten den europäischen Binnenmarkt und die gemeinsame Währung „Euro“. Ihre Wirtschaften sind aufs engste miteinander verbunden und garantieren damit auch den Frieden innerhalb der EU. Das sollte bei aller Polemik um die Wirtschafts- und Finanzkrise und Griechenland nicht vergessen werden! Nicolas Sarkozy formulierte kürzlich diese wechselseitigen Beziehung zwischen gemeinsamer Währung und Frieden: „Der Euro, das ist Europa. Europa das ist Frieden auf diesem Kontinent.“ Drittens bietet Europa die Antwort auf die zunehmende Globalisierung. Die Angleichung der Standards und verbindliche Vorgaben auch für Leistungen aus Drittstaaten, die nach Europa exportiert werden, helfen, heimische Unternehmen zu unterstützen und ihre Interessen global, zum Beispiel bei der WTO, durchzusetzen. Viertens geht es um Sicherheit. Gemeinsame Interessen definieren sich aus gemeinsamen Herausforderungen. Der Kampf gegen den Terrorismus, die Energieversorgung - all dies verlangt eine gemeinsame europäische Vorgehensweise. Deswegen muss auch der Begriff des nationalen Interesses neu definiert werden. Der neue Sinn der nationalen Interessen im 21. Jahrhundert sollte wie folgt verstanden werden: Sie sind Teil eines europäischen Interesses, das gemeinsam verteidigt werden muss. Die Entwicklung einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ist daher zuerst Schutz der nationalen Interessen! Wenn die EU eine gemeinsame, effiziente Außenpolitik schafft, dient das im Ergebnis ihren nationalen Interessen und trägt zu einer Erhöhung der Staatshoheit und nicht deren oftmals befürchteten Verlust bei. Die Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik dient also der Bewahrung und dem Schutz der nationalen außen- und sicherheitspolitischen Interessen - ganz im Sinne des Mottos „Einheit in Vielfalt“. Souveränität geht nicht verloren, sondern wird „gepoolt“, um wirksam zu werden. Auf Grundlage dieser Interessen, dies hat die Vergangenheit oftmals gezeigt, ergänzen sich der deutsche und der französische Geist zu Gunsten Europas. Ob das Tandem „Adenauer-de Gaulle“, „Schmidt-Giscard“, „Kohl- Mitterand“ oder aktuell „Merkel-Sarkozy“: Deutschland und Frankreich können gemeinsam einiges bewegen! Ihre zwei Staatslenker zeigen etwas, was tiefer in beiden Gesellschaften verwurzelt ist: Gemeinsame Werte, Demokratie, Menschenrechte und der Glaube an die Einheit Europas. Zwar bestehen auch Unterschiede, die zum Beispiel in unterschiedlichen Nuancen der Arbeitsweise zu Tage treten. So sagte Nietzsche mit unverkennbarer Ironie „In Frankreich möchte sich der Esprit gern Genie geben. In Deutschland möchte das Genie sich gern Esprit geben.“ Auch parteipolitische Unterschiede der Führungen spielten keine Rolle, sie bewiesen sich sogar als produktiv. Deutschland und Frankreich haben es in den letzten Jahrzehnten meistens hervorragend geschafft, diese Unterschiede nicht als konträr zu verstehen, sondern als komplementär. Die <?page no="122"?> Elmar Brok 118 größten Schritte für Europa haben sie dann gemeinsam geschafft, wenn sie die Unterschiede nicht als Konkurrenz oder reine Verschiedenheit, sondern als gegenseitige, produktive und kreative Ergänzung verstanden haben. Was wurde also bisher erreicht? Die Kritik und der Spott, dass die EU vielmehr ein „wirtschaftlicher Riese“ oder „global payer“ sei und kein „global player“, geht, wie bereits erwähnt, nicht voll und ganz auf und muss zunächst relativiert werden. Denn wenn man die Ausgangsposition der GASP/ ESVP betrachtet, dann sieht man, dass seit Gründung der ESVP 1999 - vor allem dank des deutschfranzösischen Tandems - erheblich viel erreicht worden ist. Als Beispiel für gemeinsame deutsch-französische Initiativen kann man alle großen institutionellen Schritte für die EU nennen. Hier war das deutsch-französische Tandem - oftmals, aber nicht immer, in Verbund mit Großbritannien - richtungweisend und ausschlaggebend. So kooperieren Deutschland und Frankreich seit dem „Elysee-Vertrag“ von 1963 im Bereich der Sicherheit und Verteidigung und leiteten somit die ersten Schritte zu einer GASP und dann auch der ESVP ein: 1988 wurden der deutsch-französische Verteidigungs- und Sicherheitsrat und die deutsch-französische Brigade sowie 1993 das EUROKORPS gegründet. Diese haben sich bereits bei Einsätzen zur Krisenbewältigung auf dem Balkan bewährt. Ebenso arbeiten die deutschfranzösischen Marinestreitkräfte seit Gründung des deutsch-französischen Marineverbands 1992 eng zusammen. Diese ersten deutsch-französischen Initiativen können als Wegbereiter für den Gipfel von St. Malo und die Gründung der ESVP 1999 gesehen werden. Seither wurden viele gemeinsame Missionen im Rahmen der GASP/ ESVP durchgeführt. Die European Union Monitoring Mission (EUMM) ist ein gutes Beispiel für einen gemeinsamen Einsatz der EU im Bereich der GASP. Es handelt sich hier um ein Überwachungsprogramm, welches 1991 im damaligen Jugoslawien startete und 2007 endete. Im Zuge des russischgeorgischen Krieges im Sommer 2008 wurde die EUMM nach Georgien entsandt, um die Stabilität zu fördern und die Lage zu stabilisieren. Ein Beispiel für einen EUFOR (European Union Force) Einsatz ist die Mission im Kongo 2003 („Artemis“), die im Osten des Kongos für Sicherheit und Stabilität sorgen sollte. Der erste Einsatz mit militärischen Aufgaben, die Mission „Althea“ findet unter großer Beteiligung Deutschlands und Frankreichs seit 2004 in Bosnien-Herzegowina statt. Ebenso bei der Polizeimission der Europäischen Union (EUPM), die seit 2003 in Bosnien und Herzegowina durchgeführt wird, stellen Deutschland und Frankreich große Kontingente. Auch bei der ersten Militärmission der Union in der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien, die sog. Mission „Concordia“ im <?page no="123"?> Chancen und Perspektiven einer gemeinsamen europ. Außenu. Sicherheitspolitik 119 Jahr 2003, waren beide Länder engagiert. Erst vor kurzem wurde auch die erste Marineoperation der EU aufgenommen: Die Mission „Atalanta“, in der neben Deutschland und Frankreich auch Belgien, Griechenland, die Niederlande, Italien, Schweden und Spanien beteiligt sind und die 2008 zum Schutz von humanitären Hilfslieferungen nach Somalia und zur Bekämpfung der Piraterie vor dem Küste Somalias am Horn von Afrika konzipiert wurde. 5 Vor 10 Jahren hätte man es nicht für möglich gehalten, dass es so was unter der Überschrift „Europäische Union“ gibt. Der Maßstab des Erfolgs - Aktuelle Herausforderungen und globales Mächtegleichgewicht Trotz aller Erfolge müssen die europäischen Anstrengungen und Möglichkeiten aber auch an den aktuellen Herausforderungen gemessen werden, denen sich Europa heute gegenübersieht. Welches sind diese Herausforderungen? In der Europäischen Sicherheitsstrategie (ESS) von 2003 sind diese klar benannt: Terrorismus, Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, regionale Konflikte, Klimawandel, illegale Migration, Organisierte Kriminalität, Energiesicherheit, aber auch Probleme in der direkten Nachbarschaft der EU wie ungelöste Konflikte in Osteuropa, ebenso wie Probleme im Nahen Osten, bedrohen die EU potentiell und haben Auswirkungen auf die europäische Sicherheit. Dass diese Fragen nach wie vor aktuell sind, zeigen z.B. erst kürzlich zurückliegende Ereignisse wie der versuchte Terroranschlag auf dem Flug nach Detroit, die russisch-ukrainische Gaskrise vor 2 Jahren, der russisch-georgische Krieg oder der anhaltende Konflikt im Nahen Osten. Ebenso ist die Natur dieser neuen Herausforderungen anders als noch in Zeiten des Kalten Krieges. Die ESS beschreibt es treffend: „Bei den neuen Bedrohungen wird die erste Verteidigungslinie oftmals im Ausland liegen. Die neuen Bedrohungen sind dynamischer Art. [...] Daher muss die EU bereit sein, vor Ausbruch einer Krise zu handeln. Konflikten und Bedrohungen kann nicht früh genug vorgebeugt werden.“ 6 Das bedeutet konkret, Instabilitäten und Konflikte in der europäischen Nachbarschaft und in der ganzen Welt können direkte Auswirkungen auf die Sicherheit in Europa haben. Denn sie rufen zum Beispiel Kriege hervor, führen zu Migrantenströmen, begünstigen kriminelle und terroristische Netzwerke. All dieses macht nicht vor den europäischen Grenzen halt - Terrorismus bietet hier ein Beispiel, welches wir in London oder Madrid am eigenen Leibe erfahren mussten. Deswegen muss sich die EU über ihre Grenzen hinaus frühzeitig in ihrer 5 Insgesamt wurden 24 Missionen seit 1999 durchgeführt. 6 Europäische Sicherheitsstrategie. Ein sicheres Europa in einer besseren Welt. Brüssel, 12. Dezember 2003, S. 7. <?page no="124"?> Elmar Brok 120 unmittelbaren europäischen Nachbarschaft, wie in Georgien, Ukraine und im Kosovo, aber auch in ferneren Regionen wie im Kongo, Somalia etc. engagieren. Nur so kann sie Frieden und Stabilität auch innerhalb ihrer Grenzen sichern. Ein wichtiges Element bei der Analyse der neuen Herausforderungen ist auch die Tatsache, dass neue Mächte aufkommen und sich das Mächtegleichgewicht verschoben hat. Auch das Verhältnis zu Russland ist ungeklärt: Stichwort „Energiesicherheit“. Wenn die EU hier etwas erreichen will, muss sie gemeinsam vorgehen und einen gemeinsamen europäischen Energiebinnenmarkt schaffen. Sonst wird sie der Spielball von ressourcenstarken Mächten wie Russland bleiben. Auch China wird immer mächtiger und stimmt zugleich in vielen Punkten, insbesondere Menschenrechten, nicht mit den Werten und Standards der EU überein. Die EU braucht eine klare Politik gegenüber diesen Mächten. Ebenso muss der Klimawandel, der neben seinen katastrophalen Auswirkungen auf die Umwelt auch die europäische Wirtschaft schädigen kann, gemeinsam angegangen werden. Nach einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung kann bei einer Temperaturerhöhung um 1° Celsius der mögliche Schaden bis 2050 bis zu 2 Billionen US Dollar betragen. Allein in Deutschland könnten, wenn die Treibhausgase nicht vermindert werden, Schäden durch Naturkatastrophen in Höhe von 137 Milliarden Euro bis 2050 auftreten. 7 Deutschland und Frankreich sollten hier gemeinsam mit ihren europäischen Partnern an der Umsetzung der 20-20-20 Ziele arbeiten. 8 Des weiteren ist die weltweite Finanzkrise eine Herausforderung für die EU intern sowie extern. Denn auch hier muss die EU sich nach außen hin, auf globaler Ebene mit ihren Partnern abstimmen und gemeinsame Spielregeln durchsetzen. Ein globaler Ordnungsrahmen im Sinne der Sozialen Marktwirtschaft ist hier vonnöten. Die EU hat das Potential und gemeinsame Interessen - Woran hapert es dann? Wenn man diese Herausforderungen und das globale Mächtegleichgewicht ansieht, dann ist klar, dass noch viel zu tun ist. Die Erkenntnis, die zur 7 Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung http: / / www.diw.de/ deutsch/ wb_42/ 04_die_oekonomischen_kosten_des_klimawandels/ 31209.html, zuletzt abgerufen am 11. Juni 2010. 8 Auf dem Europäischen Rat im März 2007 haben sich die EU Mitgliedstaaten auf verpflichtende Ziele im Bereich der Energie- und Klimapolitik verständigt, die mit der Formel „20-20-20 bis 2020“ beschrieben werden. Es geht konkret darum bis 2020 1. die CO 2 -Emissionen um 20% zu reduzieren 2. den Anteil erneuerbarer Energien am Gesamtenergieverbrauch um 20% zu steigern und 3. 20% des EU-Energieverbrauchs einzusparen. <?page no="125"?> Chancen und Perspektiven einer gemeinsamen europ. Außenu. Sicherheitspolitik 121 Gründung der GASP/ ESVP führte und deren Entwicklungen in den letzten Jahren vorangetrieben hat, ist zwar da: Globale Herausforderungen können nicht von einem europäischen Nationalstaat alleine gelöst werden. Aber trotz dieser Erkenntnis: Bei großen strategischen Entscheidungen haben die Europäer in der Regel nach wie vor keine eigene einheitliche Stimme. Das prominenteste Beispiel bietet der Beginn des Irakkriegs. Der damalige deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder erklärte auf einem Marktplatz in Gosslar: „Niemals mit uns! “ Und Tony Blair erklärte das Gegenteil: „Auf jeden Fall mit uns“. Doch beide wurden vor vollendete Tatsachen gestellt. Beide waren gleichermaßen einflusslos. Auch auf EU-Ebene wurde nicht gehandelt. Die Diskussion wurde sogar erst im Sommer 2002 öffentlich geführt. Und der EU-Außenministerrat befasste sich erstmals im Februar 2003 mit der Irakkrise. Dieses Beispiel zeigt, dass die EU bisher nicht in der Lage ist, erstens mit einer Stimme zu sprechen und zweitens ausreichend Potential zu bündeln, so dass sie ernst genommen wird. Die USA ist der wichtigste Partner der EU, doch zugleich befindet die EU sich hier oftmals in einem „Dienstherren-Vasall Verhältnis“, welches ihrem wirtschaftlichen Gewicht nicht angemessen ist. Um ein ihrem wirtschaftlichen Gewicht entsprechende Rolle auf außenpolitischer Bühne spielen zu können, muss die EU eine Kohärenz in ihrer Außen- und Sicherheitspolitik herstellen. Dabei kommt Deutschland und Frankreich eine entscheidende Rolle zu. Die Frage, ob Deutschland und Frankreich ebenso wie die Briten führen müssen, soll nicht angezweifelt werden. Aber Deutsche und Franzosen müssen sich auch bewusst sein, dass am Ende des Tages alle mitmachen müssen - Die alten und die neuen Mitgliedstaaten, die Großen und die Kleinen. Schweden muss ebenso überzeugt werden wie Spanien und wie Polen und Lettland. Auch die kleineren Mitgliedstaaten, die südlichen und nördlichen und östlichen, müssen sich wiederfinden. Um es noch einmal symbolisch zu veranschaulichen: Ein Motor besteht erstens nicht aus zwei sich voneinander unabhängig bewegenden Teilen, sondern ist ein Ganzes, in dem die Teile Synergien bilden. Zweitens besteht ein Motor aus vielen kleinen Teilchen, die erst im Zusammenspiel den Motor zum Laufen bringen. Deutschland und Frankreich müssen sich also fragen: Sind wir wirklich in der Lage als große Länder in der EU, die anderen Länder mitzunehmen? Hier ist man manchmal schon weiter gewesen. Man denke an die Ära Kohl- Mitterand: Deutsch-französische Initiativen beruhten auf vorherigen Absprachen mit den Kleinen und hatten dadurch ein höheres Maß an Legitimation. Damals war die EU aber auch „nur“ eine „Union der 15“. Nun besteht sie aus 27 Mitgliedstaaten und die Abstimmungsprozesse müssen umso besser und effizienter funktionieren und eventuelle Differenzen schon vorab geklärt werden. <?page no="126"?> Elmar Brok 122 In diesem Zusammenhang spielt auch das Verhältnis zu Russland eine wichtige Rolle. Die Frage, ob es gelingt, das Vertrauen der neuen Mitgliedstaaten in die EU zu schaffen und ihre Sicherheitsinteressen zu berücksichtigen, so dass sie sich gleichwertig fühlen, ist entscheidend. Die neuen Mitgliedstaaten haben eine andere Sicht auf Russland - dies hat geographische, historische und kulturelle Gründe. Ist es hier nicht die besondere Verpflichtung Deutschlands und Frankreichs, gemeinsame europäische Initiativen zu starten, um das Sicherheitsgefühl und das Vertrauen dieser Staaten in die EU zu stärken? Sollte man hier nicht das „Weimarer Dreieck“ voranbringen? Denn Polen ist ein Schlüsselland - in ihm spiegeln sich auch die Gefühle der baltischen Staaten wieder. Vor allem im Bereich der Energiepolitik, die vereinzelt betrieben wurde, haben viele, vor allem osteuropäische Länder, den Eindruck gehabt, dass man sie nicht vollständig einbeziehen wollte - auch wenn dies gewiss nicht so intendiert war. Deswegen hätten beinahe die Verhandlungen zum Kooperationsabkommen mit Russland nicht starten können. Hintergrund war ein Streit um ein Einfuhrverbot polnischer Fleischexporte nach Russland. Die EU wurde hier ein Jahr lang nicht aktiv, obwohl es klare EU Zuständigkeit war. Erst als Polen mit einem Veto die Aufnahme von Verhandlungen über ein neues EU-Russland Kooperationsabkommen blockierte, kümmerte sich die EU um das Einfuhrverbot polnischen Fleisches nach Russland. Solches Zögern führt zu Misstrauen. 9 Ein weiterer kritischer Punkt ist in der Tatsache zu sehen, dass die EU Visafazilitäten mit Russland hat, aber nicht mit Georgien und Ukraine. Es ist also für Bürger aus Südossetien und Abchasien leichter, mit einem russischen als mit einem georgischen Pass einzureisen. Hätte es nicht aus dem strategischen Interesse der EU genau umgekehrt sein müssen? Auch die Frage der Ausrüstung ist ein wichtiger Faktor bei der Analyse, woran es bei der Umsetzung einer effizienten und kohärenten Außen- und Sicherheitspolitik noch mangelt. Die meisten europäischen Armeen sind nicht modern genug ausgerüstet. Diese Debatte wurde auch wieder nach den aktuellen Ereignissen im Kundus geführt. Das Budget der EU Mitgliedsstaaten für Verteidigung beläuft sich zusammen auf ca. 50% des US Budgets. Und trotzdem hat Europa weniger als 10% des operationellen Ergebnisses. 10 Besonders signifikant sind auch folgende Zahlen: Die USA gaben 2008 54,1 Billionen Euro für Forschung und Entwicklung aus, die EU- 9 Russland hatte Ende 2005 ein Embargo gegen Fleischimporte aus Polen verhängt, da es Polen vorwarf, falsch etikettiertes Fleisch aus Drittländern nach Russland exportiert zu haben. Im Gegenzug blockierte Polen die Aufnahme von Verhandlungen über ein neues EU-Russland Kooperationsabkommen. Erste Ende 2007 gelang es unter diplomatischen Anstrengungen der EU den Streit beizulegen. 10 So gaben die USA 2008 454 Billion Euro für Verteidigung aus, die EU-Staaten insgesamt hingegen nur 200 Billionen Euro. Quelle Europäische Verteidigungsagentur http: / / www.eda.europa.eu/ defencefacts/ , zuletzt abgerufen am 11.6.2010. <?page no="127"?> Chancen und Perspektiven einer gemeinsamen europ. Außenu. Sicherheitspolitik 123 Staaten zusammen dagegen nur 8,6 Billionen Euro. 11 Weltweit sind die militärischen Ausgaben gestiegen von 1.053 Billionen Dollar im Jahr 2000, auf 1.572 Billionen Dollar in 2009. Dagegen ist der Anteil an den europäischen Ausgaben von 26,59% auf 20,55% zurückgegangen. 12 Zudem gibt es auf europäischer Ebene noch immer keine gemeinsame Rüstungsindustrie. So hat die EU nicht einmal gemeinsame Funkgeräte. Dadurch, dass die europäischen Mitgliedstaaten nicht gemeinsam planen, sondern jeder für sich, schaffen sie es nicht, effizient und schlagkräftig und vor allem bündnisfähig zu sein. Es gibt zwar seit 2004 die Europäische Verteidigungsagentur, aber diese muss auch genutzt werden. Wenn die EU in dem wichtigen Bereich der Rüstungsindustrie gemeinsam vorgehen würde, dann wäre sie effektiver und hätte eine bessere Ausrüstung zu besseren Bedingungen. Die europäischen Mitgliedstaaten könnten sich hier komplimentieren. Dies wäre auch wirtschaftlich gesehen sinnvoller. Nur wenn die EU eine europäische Rüstungsindustrie hätte, könnte man die „spill-over Effekte“ nutzen. Denn man ist nur solange souverän, als dass man selber die Waffen beschaffen kann. Wenn man Waffen von Alliierten beschaffen kann, bekommt man immer nur die zweite Wahl oder, symbolisch ausgedrückt, es wird nur ein Schlüssel mitgeliefert und der andere wird behalten. Man ist nicht auf der Ebene der Gleichberechtigung. Entscheidend für die Zukunft ist allerdings nicht nur, dass mehr Geld für Verteidigung ausgegeben wird, angesichts der knappen Staatshaushalte muss es besser investiert werden. Europa muss sich selber stärken, um ein reeller Partner für Verbündete zu werden. Priorität ist, dass die EU mit einer Stimme sprechen muss und gemeinsam ihre 27 Staaten und 500 Millionen Bürger repräsentiert. Dafür braucht sie Budget, Kapazitäten, aber auch eine effektive institutionelle Rahmenstruktur. Man sieht also: Die EU muss sich noch mehr vom „global payer“ zum „global player“ entwickeln - erste Grundsteine sind zwar gelegt, aber es fehlt noch einiges, um vollends als globaler Spieler auf weltpolitischer Bühne gleichberechtigt mitzureden und mitzuentscheiden. Das Eingreifen der EU während der Krise in Georgien war ein gutes Beispiel dafür, dass Europa ein potentieller Gesprächspartner in großen Krisen vor allem für skeptische Partner wie Russland sein kann. Hier spielte vor allem der französische Präsident eine große Rolle. Durch das schnelle Eingreifen Sarkozys und das anschließende geschlossene Vorgehen der EU wurde Vertrauen vor allem bei den osteuropäischen Mitgliedstaaten geschaffen. Aber: Der Auftritt Sarkozys fand nicht im institutionellen Rahmen der GASP statt, da diese 11 Quelle Europäische Verteidigungsagentur http: / / www.eda.europa.eu/ defencefacts/ , zuletzt abgerufen am 11.6.2010. 12 SIPRI Yearbook 2010, Armaments, Disarmament and International Security Stockholm International Peace Research Institute, Stockholm 2010. <?page no="128"?> Elmar Brok 124 bisher nicht die notwendigen Mechanismen und Instrumente für ein schnelles, kohärentes und effizientes Auftreten der EU vorsah. Die EU braucht daher neue Instrumente und Mechanismen! Der Lissabonner Vertrag, der am 1. Dezember 2009 in Kraft trat, ist der erste praktische Schritt in die richtige Richtung hin zu einer effizienteren, handlungsfähigeren und kohärenteren GASP/ ESVP. Neue Chance? - Reform der GASP/ ESVP durch den Lissabonner Vertrag Der Vertrag von Lissabon gibt der EU eine flächendeckende institutionelle Rahmenstruktur, angepasst an die neuen weltweiten Gegebenheiten, innere wie externe Probleme zu adressieren. Dieses Vertragswerk, das nach einer langen Entstehungsgeschichte von allen 27 Mitgliedsstaaten ratifiziert wurde und am 1. Dezember 2009 in Kraft trat, sieht wichtige Neuerungen im Bereich der GASP/ ESVP vor. Vor allem Frankreich und Deutschland haben sich gemeinsam im Verfassungskonvent für eine Stärkung der Kompetenzen der EU in Bereich der GASP/ ESVP eingesetzt. So geht zum Beispiel die sog. Solidaritätsklausel des Lissabonner Vertrages (Art. 222) auch auf das Drängen Frankreichs und Deutschlands zurück. Hier heißt es „Die Union und ihre Mitgliedstaaten handeln gemeinsam im Geiste der Solidarität, wenn ein Mitgliedstaat von einem Terroranschlag, einer Naturkatastrophe oder einer vom Menschen verursachten Katastrophe betroffen ist.“ Die entscheidende Frage bei den Verhandlungen im Konvent zum Lissabonner Vertrag war: Angesichts der Tatsache, dass die eigentliche GASP/ ESVP intergouvernementale Politik ist - Mit welchen Methoden erreicht man eine Einigung und gleichzeitig Nachhaltigkeit und Durchsetzungskraft? Als Antwort hierauf und entscheidende Neuerung wurde das Amt des Hohen Vertreters (HV), der zugleich Vizepräsident der Kommission (VP) ist, geschaffen. Bisher gab es die Außenkommissarin, Benita Ferrero-Waldner, der die finanziellen Mittel und ein großer Apparat zur Verfügung standen. Zudem gab es den Hohen Beauftragten, Javier Solana, der ein Verhandlungs-Mandat, aber kein Geld und keinen Apparat hatte. Und es gab die Ratspräsidentschaft, die alle sechs Monate wechselte. Nun wurde all dieses in der Person der HV/ VP vereinigt. Zudem sieht der Vertrag von Lissabon den Aufbau eines Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) vor, der laut Artikel 27 III EUV die HV/ VP bei „der Erfüllung“ ihrer Aufgaben unterstützen soll. Der EAD soll die Außenpolitik der EU kohärenter machen, indem neben der GASP/ ESVP, auch die gemeinschaftlichen Außenpolitiken wie die Entwicklungspolitik, die Nachbarschaftspolitik und die Humanitäre Hilfe integriert werden sollen. Dadurch, dass man verschiedene außenpolitische Bereiche im EAD zusammenfasst, hat die HV/ VP die Chance, mit den Erkenntnissen des Dienstes und den Infos aus den EU-Delegationen, einen <?page no="129"?> Chancen und Perspektiven einer gemeinsamen europ. Außenu. Sicherheitspolitik 125 Vorschlag auf hohem gemeinsamen Niveau vorzustellen, anstelle der bisher von den Mitgliedstaaten vorbereiteten Vorschläge auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Vor allem kann die GASP mit den sonst gemeinschaftlich verfassten auswärtigen Beziehungen und Instrumenten koordiniert werden, ohne diese Bereiche zu intergouvermentalisieren. Durch die Einrichtung des Amtes des HV/ VP und den EAD bietet der Lissabonner Vertrag Verbesserungen für die GASP in zwei Fällen: Die europäische Außenpolitik wird kohärenter und transparenter für den Rest der Welt. Und sie vereint die nationalen und europäischen Ebenen der Diplomatie. Eine andere wichtige Neuerung des Lissabonner Vertrags ist, dass die EU nun als einheitliche rechtliche Person anerkannt wird. Das bedeutet, dass sie mit Zustimmung des Europäischen Parlaments internationale Verträge abschließen kann. In Bezug auf die Entscheidungsmechanismen im Bereich der GASP/ ESVP wurde auf den ersten Blick nicht viel geändert: Außen- und Sicherheitspolitik ist intergouvernemental organisiert und die Entscheidungen müssen dementsprechend einstimmig fallen. Aber dennoch wurden Fortschritte erreicht. So sind nun Mehrheitsentscheidungen möglich. Auch die Möglichkeit der strukturierten Zusammenarbeit stellt eine Chance dar, da sich einzelne Mitgliedstaaten für Projekte im außen- und sicherheitspolitischen Bereich zusammentun können, ohne dass sie dabei auf die Zustimmung aller Mitgliedstaaten angewiesen sind. Ebenso ist die Ausweitung des Instruments der verstärkten Zusammenarbeit und dessen Anpassung an die ESVP vorgesehen, was eine größere Flexibilität schafft. Neu ist auch, dass Staaten, die sich gegen einen Vorschlag aussprechen, nun in Begründungszwang stehen, konnten sie doch vorher einfach ohne Begründung ihre Zustimmung verweigern. Auch das Recht des HV/ VP, die Tagesordnung des Rates zu bestimmen, ist von großer Bedeutung. Er kann hier auf hohem Niveau Entscheidungsinstrumente zusammenbringen, um zu einem frühen Zeitpunkt zu einer gemeinsamen Position zu kommen. Denn die EU muss frühzeitig eine gemeinsame Position haben und auch öffentlich und ihren Verbündeten und Partnern und sonstigen Drittstaaten gegenüber einheitlich auftreten. Vor allem müssen der HV/ VP und die EU im Allgemeinen es schaffen, ihre außenpolitischen Positionen mit ihren wirtschaftlichen Zielen zu verbinden. Nun nach Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags haben die Mitgliedsstaaten auch die strukturellen, institutionellen Voraussetzungen, um eine kohärentere und handlungsfähigere europäische Außenpolitik zu führen. <?page no="130"?> Elmar Brok 126 Empfehlungen an Deutschland, Frankreich und ihre europäischen Partner Damit die Neuerungen des Lissabonner Vertrags auch in der Praxis genutzt werden, sollten folgende Punkte im Bewusstsein der politischen Akteure sein: Erstens müssen wir auch in der Praxis zu einem breiteren Verständnis von Außenpolitik kommen und das gesamte Potential der EU nutzen. In der ESS steht „Im Gegensatz zu der massiv erkennbaren Bedrohung zur Zeit des Kalten Krieges ist keine der neuen Bedrohungen rein militärischer Natur und kann auch nicht mit rein militärischen Mitteln bewältigt werden. Jede dieser Bedrohungen erfordert eine Kombination von Instrumenten. Die Proliferation kann durch Ausfuhrkontrollen eingedämmt und mit politischen, wirtschaftlichen und sonstigen Druckmitteln bekämpft werden, während gleichzeitig auch die tieferen politischen Ursachen angegangen werden.“ 13 Und hier genau liegt die Stärke der EU. Ihr steht eine Reihe von zivilen, militärischen und wirtschaftlichen Instrumenten zur Verfügung, die ihr, wenn sie sie in der richtigen Kombination nutzt, zu einem großen außenpolitischen Gewicht auf internationaler Bühne verhelfen können. Zum Beispiel bieten sich dadurch, dass die Handelspolitik nach dem Lissabonner Vertrag in allen Aspekten in die ausschließliche Zuständigkeit der EU fällt, neue Möglichkeiten, über die Handelspolitik Werte und Interessen in der Welt zu verbreiten. Wirtschafts- und Handelspolitik sind immer auch Außenpolitik und können für die Außen- und Sicherheitspolitik im engeren Sinne als Hebel benutzt werden. Handelskommissar Karel de Gucht bemerkte in dem Zusammenhang richtig: „Freier Handel muss ein Mittel sein, um Wohlstand, Stabilität und Entwicklung zu fördern.“ 14 Und genau darum geht es - internationale Handelspolitik ist mehr als das Importieren und das Exportieren von Waren. Sie muss immer im Gesamtkontext außenpolitischer Beziehungen gesehen werden. Sie ist auch politisches, diplomatisches Instrument. Der Abschluss eines Handelsabkommens kann und wird in den meisten Fällen an andere Bedingungen geknüpft und somit „konditionalisiert“. Handel ist also eine Dimension, ein Teil des außenpolitischen Instrumentenkastens der EU, die neben dem Waren- und Dienstleistungsaustausch über europäische Grenzen hinweg europäische Werte in der Welt verbreitet und europäische Interessen durchsetzen kann. Die Einhaltung von Menschenrechten und Handel sind kaum voneinander zu trennen. Genau so geht es im Bereich der Handelspolitik auch immer um Entwicklungspolitik. Und um Sicherheitspolitik - man denke an Iran und das Druckmittel wirtschaftlicher Sanktionen. 13 ESS, S.7 14 Ausschnitt aus Rede von Karel de Gucht anlässlich seiner Anhörung im EP am 12. Januar 2010, unter http: / / ec.europa.eu/ commission_2010-2014/ degucht/ , abgerufen am 14.5.2010. <?page no="131"?> Chancen und Perspektiven einer gemeinsamen europ. Außenu. Sicherheitspolitik 127 Zweitens muss die EU ihre militärischen Fähigkeiten stärken. Damit sind nicht nur Investitionen in Forschung gemeint, sondern auch neue Kooperationen, bessere Ausrüstung, die Harmonisierung der Bedarfsplanung und die Bündelung von Ressourcen. Es sollte eine europäische Rüstungspolitik definiert werden. Zugleich sollte aber auch auf eine ausgewogene, parallele Entwicklung der militärischen und zivilen Fähigkeiten, die die besondere Qualität der ESVP ausmachen, geachtet und sollten die europäischen Mittel und Stärken im zivilen Krisenmanagement gestärkt werden. Des Weiteren müssen die europäischen Mitgliedstaaten ihre Mittel gemeinsam nutzen: So sollte die deutsch-französische Brigade als sehr rasch verfügbares Element im Rahmen der schnellen Reaktionsfähigkeit der Europäischen Union eingesetzt werden können. Das Programm A400M hat ebenso herausragende Bedeutung und ist sichtbares Zeichen des Willens zur europäischen Zusammenarbeit und ein wichtiger Schritt zur Stärkung der ESVP. Im Bereich der Ausbildung, der Übungen, des Einsatzes und der Logistik sollten Deutschland und Frankreich eine Vorreiterrolle einnehmen. Drittens braucht die EU eine gemeinsame Analyse der Bedrohungen und gemeinsame Strategien. Es scheint ein gewisses Maß an Planung politischer Prioritäten nicht zu geben, zugleich fehlt eine gemeinsame Strategie. Dies wurde besonders deutlich bei den Streitigkeiten um den Irak-Krieg. Dieser hat nicht nur die Ohnmacht Europas verdeutlicht, sondern auch eine andere Tatsache deutlich gemacht, die treffend mit dem Gegensatz „altes versus neues Europa“ bezeichnet wurde. Nämlich, dass in vielerlei Hinsicht eine verschiedene Bedrohungsperzeption und Interessenkonstellation bei den alten und den neuen Mitgliedstaaten vorliegt. Die ESS von 2003 stellt einen guten Anfang dar. Daran sollte angeknüpft werden. Viertens müssen die transatlantischen Beziehungen und die Politik des „soft power“ verbessert werden. Das Ziel sollte sein, eine handlungsfähige, allumfassende europäische Außen- und Sicherheitspolitik zu entwickeln, die als Teil des transatlantischen Bündnisses die Interessen der europäischen Bürgerinnen und Bürger in der Welt vertritt. Dem stärksten Partner „USA“ muss deutlich gemacht werden, dass Strategie nicht heißt, allein vorzugehen, sondern sich mit Verbündeten abzustimmen. Das heißt, die EU muss es schaffen, auf Augenhöhe mit ihrem wichtigsten Partner, den USA zu sein. Wenn sie das nicht schafft, wird die transatlantische Allianz keine Zukunft haben und eine Art „Dienstherr und Vasall Verhältnis“ bestehen bleiben. Wenn die EU nicht die Kraft hat, wird die NATO kein Ort strategischer Entscheidungen werden, sondern die Entscheidungen werden woanders getroffen und die EU kann nicht mitentscheiden und mitgestalten, sondern muss aus Loyalität mit dem Partner notgedrungen folgen. Dafür müssen die europäischen Mitgliedstaaten gemeinsam auftreten. Welche Wirkung das auf die Durchsetzungkraft der EU haben kann, zeigt das Beispiel des SWIFT- Abkommens - dieses ist zwar nicht Außenpolitik, aber vom Prinzip her <?page no="132"?> Elmar Brok 128 ähnlich gelagert. Durch das Scheitern des SWIFT Abkommens in der EU aufgrund der Ablehnung des Europäischen Parlaments und die misslungenen Versuche der USA, durch Verhandlungen mit einzelnen Staaten zum Ziel zu kommen, sieht man in den USA nun ein, dass man nicht mit einzelnen Mitgliedstaaten verhandeln sollte, sondern mit den gemeinschaftlichen Institutionen. Dies wird drastisch deutlich, wenn man sich vor Augen hält, dass eine Delegation des europäischen Rechtsausschusses vor wenigen Monaten in die USA reiste, um zum SWIFT Abkommen Gespräche zu führen, und in den USA nicht offiziell empfangen wurde und ohne Erfolg wieder abreisen musste. Bei ihrem zweiten Besuch im April wurde sie hingegen mit allen Ehren empfangen und als ernstzunehmender Partner behandelt. Diesmal kam sogar Timothy Geitner persönlich zu den Gesprächen dazu. Fünftens muss beachtet werden, dass die Basis der gemeinsamen Sicherheit auch die wirtschaftliche Kraft der EU, also ihr Wohlstand ist. Deswegen muss die deutsch-französische und europäische Zusammenarbeit gestärkt werden, um die derzeitige Wirtschaftskrise zu überwinden. Der französische Vorschlag einer gemeinsamen europäischen Wirtschaftsregierung geht zwar zu weit. Aber grundsätzlich ist es richtig: Die EU braucht mehr Koordinierung der Wirtschaftspolitik auf europäischer Ebene. Die europäischen Kontrollmechanismen und deren Anwendung durch die Kommission müssen ausgebaut und der Währungskommissar und die Eurogruppe gestärkt werden. Der Vorschlag von Wolfgang Schäuble, einen Europäischen Währungsfonds einzurichten, ist ein guter Ausgangspunkt für weitere Diskussionen. Sechstens müssen wir uns weiter um gegenseitige Solidarität auch in außen- und sicherheitspolitischen Fragen sowie um das Schaffen einer europäischen Identität kümmern. Die ökonomische Solidarität kann nicht konsolidiert werden, ohne eine europäische Solidarität in Sicherheitsfragen - und umgekehrt! Leider hat es in den vergangenen Wochen an Solidarität gemangelt. Gerade das Beispiel Griechenland macht deutlich: Die europäischen Mitgliedstaaten sind aufeinander angewiesen. Durch den Binnenmarkt und den Euro sind ihre Wirtschaften, ihre Schicksale eng miteinander verbunden und sie können hier nur gemeinsam eine Lösung finden. Dass sich gerade Deutschland und Frankreich in der Polemik um Griechenland auch noch gegenseitig attackierten (Lagarde vs. Merkel), ist enttäuschend und leitet in die falsche Richtung. Gerade jetzt wird Solidarität gebraucht! Gerade jetzt ist das deutsch-französische Tandem gefordert! Auch die Spaltung zwischen den alten und neuen, den großen und den kleinen Mitgliedsländern muss überwunden werden, damit die Mechanismen des Lissabonner Vertrags greifen können. Wiederum bieten die Diskussionen um die Hilfe für Griechenland ein gutes Beispiel, dass hier aktuell noch ein Defizit herrscht. Als Frankreich und Deutschland die „Sünder“ waren, haben sie die Regeln geändert und den Stabilitätspakt geschwächt. Nun als ein kleiner Mitgliedsstaat zum Sünder wurde, wurde er an den <?page no="133"?> Chancen und Perspektiven einer gemeinsamen europ. Außenu. Sicherheitspolitik 129 Pranger gestellt. Dieser Aspekt wird in Deutschland und Frankreich kaum diskutiert. Wenn das in Deutschland und Frankreich nicht bewusst ist, dass in solchen Fragen Regeln eingehalten werden sollten und man sich solidarisch zeigen sollte, dann wird es schwierig sein, diese notwendige Solidarität für die GASP/ ESVP zu finden. Neben Solidarität braucht die EU aber vor allem auch eine gemeinsame Identität in Sicherheitsfragen. Eng verbunden damit ist die Verankerung der EU in der Zivilgesellschaft: Das Schaffen einer europäischen Identität mit den Bürgern und durch die Bürger. Ein Indikator des Bewusstseins für die Wichtigkeit einer gemeinsamen Zusammenarbeit ist die Zustimmung zur Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik unter den EU25 im Jahre 2006: In Deutschland 87%, in Frankreich 83% (im Vergleich: EU- Durchschnitt 77%). 15 Die Bürger scheinen hier in der Erkenntnis der Notwendigkeit einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik angesichts der mangelnden Möglichkeiten der Nationalstaaten in der globalen Ordnung in vielerlei Hinsicht mancher Regierung voraus. Dies muss ins politische Bewusstsein dringen. Die Bürger, aber auch die Medien und die lokalen Partner stehen hier in der Verantwortung. Wenn den nationalen Regierungen klar wird, dass die Bürger eine starke gemeinsame GASP/ ESVP wollen, dann wird hoffentlich das Zögern bei deren Umsetzung in den europäischen Hauptsstädten aufhören. Wenn man es schafft klar zu machen, dass die EU im Interesse der europäischen Bürgerinnen und Bürger ist und das umgekehrt, diese das auch wollen, dann kommt man hier einen großen Schritt vorwärts. Bedenklich ist allerdings, dass - paradoxerweise - trotz der hohen Zustimmung zur GASP/ ESVP zugleich viele Deutsche und Franzosen sich nicht als Europäer fühlen. So geben zum Beispiel in einem ZEIT-Artikel vom 6. Mai 81% der Deutschen an, dass sie sich als Deutsche fühlen - 62% stimmen aber auch zu, dass Europa „die Zukunft“ sei. Das wäre an sich nicht problematisch, außer wenn aus dieser Haltung, wie im Fall Griechenlands, Polemik wird. Die Diskussionen, die über die aktuelle finanzielle Situation in Griechenland geführt worden sind, waren oft zu unreflektiert, emotional aufgeladen und unsachlich. Es geht in die falsche Richtung, wenn deutsche Tageszeitungen auf der einen Seite Merkel als „kleine Europäerin“ kritisieren und auf der anderen Seite als „eisernen Bismarck“ loben. Ebenso ist der Kommentar der französischen Finanzministerin, die die deutsche Exportstärke als unerträglich bezeichnet, einem europäischen Zusammenwachsen eher abträglich. Was in der heutigen Situation benötigt wird, ist europäische Solidarität mit allen Mitgliedsstaaten. Deutschland braucht Europa heute mehr denn je, da niemand sonst so sehr 15 Quelle: Eurobarometer Nr. 64, Juni 2006, S. 102-109 http: / / europa.eu.int/ comm/ public_opinion/ index_en.htm, zuletzt abgerufen am 21.6.2010. <?page no="134"?> Elmar Brok 130 von einem gut funktionierenden Binnenmarkt profitiert, wie die Exportnation Deutschland, die 60% aller Erlöse aus dem europäischen Binnenmarkt erwirtschaftet. Genauso muss die gesamte EU sich jetzt solidarisch gegenüber Griechenland verhalten. Hier bietet der Vertrag von Lissabon die Möglichkeit, ein gutes Stück voranzukommen. Das geht allerdings nur, wenn große Staaten wie Frankreich und Deutschland ihre nationalen Egoismen aufgeben. Auf diesem Weg wird die Nutzung und praktische Gestaltung des Europäischen Auswärtigen Dienstes ein erster Prüfstein sein. Am Tauziehen um die Gestaltung des EAD wurde die Grundsatzfrage über die zwei europäischen Ansätze, den intergouvermentalen und den gemeinschaftlichen à la Monnet deutlich. Worauf in Zukunft geachtet werden muss, ist, dass der EAD nicht die Bereiche „intergouvermentalisieren“ darf, die bereits Gemeinschaftspolitik sind. Es muss also ein „hybrider“ Dienst sein, der sowohl die intergouvermentalen als auch die gemeinschaftlichen Bereiche der Außenpolitik widerspiegelt. Der EAD muss ein Dienst für die EU sein. Wenn man ihn als Dienst der Mitgliedstaaten ansieht, hat man im Ergebnis eine Verschlechterung und keine Verbesserung Es gibt sowohl in Frankreich als auch in Deutschland die Tendenz zum intergouvernementalen Ansatz. Und dass nicht nur in den Bereichen, die intergouvernemental sind, wie die GASP/ ESVP. Wenn es heißt, Elysée und Kanzleramt haben sich geeinigt, dann geschieht dies oft unter Umgehung der Brüsseler Institutionen. Das Ergebnis ist: Es funktioniert in der Regel nicht oder nur unter großen Kraftaufwänden. Kleine Länder, die übergangen wurden, machen mit, aber mit der Faust in der Tasche. Das ist nicht sinnvoll und bietet auf Dauer keine tragfähige Lösung. „Der Tag wird kommen, an dem du, Frankreich, [...], du, Italien, du, England und du, Deutschland, all ihr Völker dieses Erdteils, zu einer höheren Einheit verschmelzen werdet, ohne eure verschiedenen Vorzüge und eure ruhmreiche Einzigartigzeit einzubüßen, und ihr werdet eine europäische Bruderschaft bilden, genauso wie die Normandie, die Bretagne, Burgund, Lothringen und das Elsaß, all unsere Provinzen, in Frankreich aufgegangen sind.“ 16 Damit nahm Victor Hugo das Motto „Einheit in Vielfalt“ voraus. Schlussfolgerungen - Deutschland und Frankreich müssen die Stärken der EU nutzen Die Nationalstaaten können die aktuellen Herausforderungen nicht im Alleingang bewältigen. Sie müssen ihre Souveränitäten bündeln und effektivere Entscheidungsmechanismen entwickeln. Der Lissabonner Vertrag ist 16 Victor Hugo, Douze discours, Paris 1850. <?page no="135"?> Chancen und Perspektiven einer gemeinsamen europ. Außenu. Sicherheitspolitik 131 die bestmögliche Lösung, um heutigen und zukünftigen Herausforderungen gemeinsam gerecht zu werden. Deutschland und Frankreich sind nach wie vor das entscheidende Paar in Europa. Ebenso ist aber die Rolle Großbritanniens sehr wichtig und die neue Regierung sollte schnell eingebunden werden. Auch die Rolle Polens sollte nicht unterschätzt und das „Weimarer Dreieck“ gestärkt werden. Es ist auch von besonderer Bedeutung, dass Frankreich und Deutschland ihr Vertrauen ineinander stärken, sowohl auf politischer Ebene als auch im Wirtschafts- und Handelswesen. Das Beispiel des Streits um den Kommentar der französischen Finanzministerin Lagarde zeigen, dass es noch Defizite gibt und dass immer noch emotional bedingte Schwierigkeiten beseitigt werden müssen. Auch Schlagzeilen wie „Deutsch-französischer Disput“ am 8. Juni in der Süddeutschen Zeitung oder „Der deutsche Euro ist tot, es lebe der Euro à la francaise“ (FAZ, 13.6.2010) sollten aufhorchen lassen. Hier ging es zwar nicht direkt um Außenpolitik, sondern um die Frage einer Wirtschaftsregierung auf europäischer Ebene. Während Frankreich eine Euro-Wirtschaftsregierung fordert, setzt sich Deutschland dafür ein, dass der Europäische Rat als Wirtschaftsforum ausgebaut wird. Dass eine Differenz besteht, ist an sich nicht das Problem. Problematisch wird es dann, wenn die Kommunikation gestört ist. So wurde das vorgesehene Treffen zwischen Merkel und Sarkozy zu der Frage der Wirtschaftsregierung am 7. Juni kurzfristig abgesagt und auf eine Woche später angesetzt. Das Beispiel zeigt zweierlei. Zum einem, dass in einem gemeinschaftspolitischen Bereich wie der Gemeinsamen Währungspolitik der EU, dennoch das Elysée und das Kanzleramt unter weitgehender Umgehung der Brüsseler Institutionen miteinander verhandeln. Dabei besteht die Gefahr, dass die EU als Ganzes handlungsunfähig wird. Denn Währungspolitik ist Gemeinschaftspolitik! Deswegen sollte die Euro-Gruppe und die Kommission gestärkt werden und sowohl Merkel als auch Sarkozy im Rahmen dieser Institutionen verhandeln und nicht außerhalb. Ansonsten wird man keine tragfähige Lösung finden. Zum anderen sieht man aber auch an diesem Beispiel, dass ohne eine deutschfranzösische Kooperation die Gefahr einer Blockade in entscheidenden Fragen entstehen kann und dass diese beiden Länder in Europa immer noch sowohl in der öffentlichen Wahrnehmung als auch EU-intern meinungsbildend und entscheidend sind. Deswegen haben Deutschland und Frankreich hier nun die gemeinsame große Verantwortung, in enger Kooperation mit ihren europäischen Verbündeten und im Rahmen der EU-Institutionen an einer Lösung zu arbeiten. Vor allem sollte Frankreich auf Dauer die Unabhängigkeit der EZB akzeptieren und Deutschland dann viel ungezwungener an einer wirtschaftspolitischen Koordination im Rahmen des Vertrages mitarbeiten. Dieser Qualitätssprung muss endlich kommen. Deutschland und Frankreich müssen sich nun aufrütteln: Ob Wirtschafts- und Finanzkrise, Klimawandel oder Terrorismus - Neue, große Herausfor- <?page no="136"?> Elmar Brok 132 derungen brauchen gemeinsame europäische Antworten. Kein EU Land ist fähig, alleine zu agieren. Die Entwicklung einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ist daher zuerst Schutz der nationalen Interessen! Der Verlust von Staatshoheit durch eine supranationale EU wird ausbalanciert durch neue Kräfte. Wenn die jeweils effizientere Wirkungsebene genutzt wird, kann die EU zu einer wahren, gemeinsamen Außenpolitik kommen. Die nationalen Interessen als Teil der europäischen Interessen müssen gemeinsam verteidigt werden. Die internationalen Partner erwarten ein stärkeres Europa im Bereich Verteidigung und Sicherheitsangelegenheiten, z.B die USA in Afghanistan oder Irak. Europa muss ein eigenes politisches Konzept und institutionelle Prozesse und Kapazitäten entwickeln. Die EU muss zudem aber auch frei sein, ihre eigenen Konzepte von Sicherheit und Verteidigung zu verfolgen. Um zum Schluss noch einmal auf die Worte Schumans zurückzukommen: „Europa lässt sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht durch eine Zusammenfassung: Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen.“ Man sollte aber nicht den Vorwurf an die anderen richten, sondern an sich selber. Dies bedeutet auch, dass man bereit sein muss, sich in den europäischen Hauptstädten zurückzunehmen. Die Energiepolitik gegenüber Russland bietet ein gutes Beispiel. Jeder Nationalstaat ist dort alleine, um seine Pipelines und Deals zu machen. Wenn jeder einzeln vor Ort ist, dann wird auch einzeln verhandelt und im Endeffekt kann die EU nichts ausrichten und wird zum Spielball der Großmächte. Wenn man es aber gemeinsam macht, dann funktioniert es auch. Wenn man in der Lage wäre, die europäische Wirtschafts- und Handelsmacht und ihre Potentiale zu einer „one-voice policy“ zu bündeln und die europäischen Institutionen und die neuen Möglichkeiten, die der Lissabonner Vertrag bietet, zu nutzen, dann hätte die EU etwas zu sagen und wäre in der Lage, eine ihrem wirtschaftlichen Gewicht entsprechende außenpolitische Rolle in der Welt wahrzunehmen. Wenn es den europäischen Hauptstädten hingegen nicht gelingen wird, in Fragen und Strategien gegenüber USA, China und Russland nationale Eitelkeiten zurückzunehmen, dann wird Europa die Herausforderungen nicht bewältigen und seine Interessen nicht durchsetzen können. Wie sagte einst der französische Philosoph Paul Valery? - „Europa wird sich einen oder als Wurmfortsatz des eurasischen Kontinents enden.“ Europa und sein deutschfranzösisches Tandem sollten dies ernst nehmen. <?page no="137"?> Henrik Uterwedde Welche Vision(en) für die europäische Wirtschaft? Französische und deutsche Ansätze Immer wenn es um die europäische Wirtschaftspolitik geht, treten Meinungsunterschiede zwischen Frankreich und Deutschland zutage - wie zuletzt im Frühjahr, als es zwischen beiden Regierungen zu heftigen Auseinandersetzungen über die Reaktion auf die europäische Währungskrise kam. Ob es um einen europäischen Rettungsplan für die Banken ging, um die Schaffung eines europäischen Staatsfonds zum Schutz europäischer Konzerne, um ein gemeinsames Konjunkturprogramm, um das Ausmaß der nationalen Konjunkturpakete oder um eine „europäische Wirtschaftsregierung“: Jedes Mal prallten die Initiativen des französischen Staatspräsidenten (und damaligen EU-Ratspräsidenten) Sarkozy auf deutsche Widerstände; gemeinsames Handeln wurde dadurch erschwert. 1 Hinter den unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Reaktionen, Argumenten und Handlungsweisen kommt ein dies- und jenseits des Rheins unterschiedliches Grundverständnis der wirtschaftspolitischen Rolle Europas zum Vorschein: Soll die EU eine Markt- und Währungsordnung sein, die in erster Linie durch gemeinsame Regeln (Stabilitäts- und Wachstumspakt; Fusions- und Subventionskontrolle) durchgesetzt und am Leben erhalten wird, während sie sich einer interventionistischen Politik weitgehend enthalten sollte? Dies kennzeichnet die deutsche Auffassung. Oder soll sie ein handlungsfähiger wirtschaftspolitischer Akteur sein, der aktiv in das Wirtschaftsgeschehen eingreift und entsprechende Kompetenzen und Instrumente besitzt? Frankreichs Politiker und zahlreiche Wirtschaftsexperten - jenseits parteipolitischer Grenzen - plädieren für diese Position. Wo liegen die Wurzeln für das unterschiedliche Verständnis des europäischen Wirtschaftsraums? In welchen Bereichen der europäischen Wirtschaftspolitik kommt dies zum Ausdruck? Was ergibt sich daraus für die europäische Politik; wo liegen Kompromissmöglichkeiten? Diese Fragen sollen im Folgenden beantwortet werden. 2 1 Vgl. dazu Joachim Schild: „La force de l’imprévisible: la présidence française de l’UE face à la crise financière. Un point de vue allemand“, in: Regards sur l’économie allemande 89, 2008, 11-20. 2 Der vorliegende Beitrag ist die modifizierte Weiterentwicklung eines Aufsatzes, der die französischen Visionen thematisierte. Vgl. Henrik Uterwedde: „Europa als Ersatz des Nationalstaates? Frankreichs politisches Verständnis der europäischen Wirtschaft“, <?page no="138"?> Henrik Uterwedde 134 1. Frankreich: Europa als wirtschaftspolitischer Akteur Das Beharren Frankreichs auf einer aktiven europäischen Wirtschaftspolitik hat einen doppelten Ursprung. Erstens kommt darin die spezifische politische Kultur unseres Nachbarlandes zum Ausdruck. Das republikanische Politikmodell, dessen Ursprünge auf die französische Revolution zurück geht, betont den Primat der Politik gegenüber der Wirtschaft: Letztere kann nicht sich selbst bzw. alleine den Marktprozessen überlassen werden; die demokratisch legitimierte Volksvertretung und die Regierung haben das Recht und die Pflicht, die Wirtschaft zu steuern. Dieses klare Hierarchieverständnis zwischen Politik und Wirtschaft wurde nach 1944 noch akzentuiert, als die - bis dahin jahrzehntelang verschleppte - Modernisierung der Wirtschaft in die Hände des Staates gelegt wurde. Der Wiederaufbau und der Sprung von einer veralteten in eine hochmoderne Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft wurden in den Nachkriegsjahrzehnten auch dank einer umfassenden staatlichen Intervention bewerkstelligt und haben damit in den Augen vieler Franzosen die herausgehobene Rolle des Staates für Wachstum und Beschäftigung, industrielle Entwicklung und Wettbewerbsfähigkeit gerechtfertigt. Das Leitbild des interventionistischen Staates (man spricht auch gerne von Voluntarismus, d.h. von dem Versuch, die Wirtschaftsentwicklung gemäß dem politischen Willen zu lenken) unterscheidet sich somit deutlich vom Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft, das sich in der Bundesrepublik Deutschland nach 1945 durchgesetzt hat. 3 Wenngleich die starke Rolle des Staates im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte abgemildert wurde und die wirtschaftspolitische Praxis Frankreichs - auch unter dem Eindruck der europäischen Integration und der damit entstehenden Regeln - liberaler geworden ist, bleiben doch wesentliche Unterschiede bestehen: Verbände, Sozialpartner und auch Unternehmen sind weniger als hierzulande bereit und in der Lage, Mitverantwortung zu übernehmen, und Tarifautonomie und sozialer Dialog sind unterentwickelt. Daher konzentriert sich öffentliches Handeln in Frankreich weiterhin auf den Staat - einen Zentralstaat, der trotz der seit 1982 durchgeführten Dezentralisierungsreformen weiterhin das Monopol der Wirtschaftspolitik innehat. Gemäß der Auffassung, wonach allein die demokratisch legitimierte Politik das Recht und die Pflicht zur Beeinflussung der Wirtschaftsentwicklung hat, tun sich französische Politiker, aber auch die Öffentlichkeit weiterhin schwer, die Existenz autonomer Instanzen (Zentralbank, Kartellbehörden) in: Bernd Rill (ed.): Frankreichs Außenpolitik, München, Hanns Seidel Stiftung, 2009, 49- 58. 3 Vgl. Henrik Uterwedde: „Staatsverständnis und Wirtschaftspolitik in Frankreich: Politik zwischen Etatismus und Marktwirtschaft“, in: Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 103, 2006, 51-57. <?page no="139"?> Welche Vision(en) für die europäische Wirtschaft? Französische und deutsche Ansätze 135 anzuerkennen. Dementsprechend hat Frankreich die von Deutschland durchgesetzte Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank nur widerwillig akzeptiert, und französische Politiker werden nicht müde, deren Politik zu attackieren und ihr unabhängiges Statut in Frage zu stellen. Europäische Anpassungszwänge Vor diesem Hintergrund hat, zweitens, die europäische Integration mit der schrittweisen Verlagerung von Kompetenzen (Außenhandelspolitik, später Geld- und Währungspolitik) und der Einführung liberaler Regeln (Freizügigkeit, Wettbewerb, Subventionskontrolle) von der französischen Politik und Öffentlichkeit ein schmerzhaftes Umdenken erfordert - umso mehr, als die französische Wirtschaft eine Reihe von Wettbewerbsschwächen überwinden musste, um im entstehenden Binnenmarkt mithalten zu können. Dazu kam, dass die neuen europäischen Regeln (Marktintegration mit der Durchsetzung liberaler Regeln für einen echten Binnenmarkt mit unverfälschtem Wettbewerb) oft im Widerspruch zu der stark reglementierten, staatsinterventionistischen französischen Wirtschaftsordnung standen und insofern von Frankreich einen erheblichen Anpassungs- und Umstellungsbedarf erforderten. Es verwundert daher nicht, dass es im Zuge der europäischen Integration immer wieder zu Auseinandersetzungen über wirtschaftspolitische Regeln und Entscheidungen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft kam. In den 1960er Jahren war vor allem die im Aufbau befindliche EWG-Außenhandelspolitik Stein des Anstoßes. Die französische Politik tat sich schwer, ihren traditionellen Protektionismus zugunsten dem - von Deutschland und einigen anderen Partnern geforderten und schließlich auch weitgehend durchgesetzten - Freihandelskurs der EWG aufzugeben. In den 1970er Jahren stieß auch die strukturlenkende Industriepolitik Frankreichs bei Partnern auf Widerstand und kollidierte zunehmend mit den europäischen Regeln. Dennoch konnte Frankreich hier, vor allem auf der Grundlage der deutschfranzösischen Zusammenarbeit, die Bundesrepublik zu staatlich beeinflussten industriellen Kooperationen in damals staatsnahen Schlüsselsektoren wie der Luft- und Raumfahrt (Airbus, Ariane) oder der Rüstungsindustrie bewegen. Insgesamt war die französische Politik darauf bedacht, dass ihre Handlungsfreiheit zur Stärkung und Modernisierung der eigenen Wirtschaft nicht durch die EWG beschnitten wurde, und stand weiteren Fortschritten der europäischen Wirtschaftsintegration sehr zögerlich gegenüber. Die französische Haltung sollte sich in den 1980er Jahren ändern. Nach 1981 geriet der damalige binnenwirtschaftliche Wachstumskurs Frankreichs in einen Gegensatz zur Politik der Nachbarländer, was zu Spannungen innerhalb des Europäischen Währungssystems (EWS) führte. Der Franc geriet wiederholt unter Abwertungsdruck; die Partner - allen voran Deutschland - <?page no="140"?> Henrik Uterwedde 136 stellten Frankreich vor die Wahl, entweder das EWS zu verlassen (was aus verschiedenen Gründen als schädlich für Frankreich angesehen wurde) oder aber seine gesamtwirtschaftliche Politik an die stabilitätsorientierte Politik der Nachbarn anzupassen. 4 Dieser Konflikt wurde zum Schulbeispiel dafür, wie sehr die nationalen Regierungen im Zuge der EU-Integration immer weniger Herr ihrer eigenen Wirtschaftspolitik sind und zunehmend von Regelwerken eingeengt werden. Dies wurde in Frankreich zunächst auch sehr kritisch diskutiert, weil ein Teil der Politiker und der öffentlichen Meinung darin eine unzulässige Beeinträchtigung der demokratisch gewählten Regierung sahen. Dennoch setzte sich allmählich eine positivere und realistischere Haltung zur europäischen Wirtschaftsintegration durch. Wirtschaftspolitische Initiativen Dieser neue Blick führte auch dazu, dass Frankreich sich aktiv für eine Intensivierung der EU-Wirtschaftspolitik einsetzte. Es galt nunmehr, Zielsetzungen, die im nationalen Alleingang nicht mehr zu erreichen waren, auf europäischer Ebene durchzusetzen: - Wurde früher die nationale Unabhängigkeit auch auf wirtschaftlichem Gebiet proklamiert, so verfolgte man nunmehr das Ziel der „europäischen Selbstbehauptung“; das 1981-83 offenkundige Scheitern des Keynesianismus in einem Lande führte dazu, dass Frankreich jetzt verstärkt auf europäische Konjunkturbelebungen drang; die damalige Dominanz des EWS durch die Bundesbank (aufgrund der herausragenden Stellung der deutschen Währung) sollte durch eine wirkliche europäische Währungsunion überwunden werden; die Grenzen der nationalen Industriepolitik versuchte Frankreich durch Initiativen zugunsten einer aktiven europäischen Industrie- und Technologiepolitik zu überwinden; wo nationaler Protektionismus nicht mehr erlaubt war, wurde nach einem fallweisen europäischen Protektionismus gerufen. Was der Nationalstaat in einer immer stärker integrierten EU nicht mehr zu leisten vermag, so ist die Logik der französischen Vorstöße seit den 1980er Jahren, soll durch eine aktive EU-Wirtschaftspolitik kompensiert werden. Denn aus französischer Sicht kann der europäische Wirtschaftsraum sich nicht auf den Charakter einer großen Freihandelszone oder eines großen Marktes beschränken, sondern bedarf der politischen Gestaltung, um die 4 Zum Umfang der Veränderungen vgl. Henrik Uterwedde: „Paradigmenwechsel der Wirtschaftspolitik: Vom Etatismus zur gouvernance à la française? “, in: Joachim Schild/ Henrik Uterwedde (eds.): Frankreichs V. Republik: ein Regierungssystem im Wandel, Wiesbaden, VS Verlag, 2005, 162-183. <?page no="141"?> Welche Vision(en) für die europäische Wirtschaft? Französische und deutsche Ansätze 137 europäischen Produzenten zu stärken und wenn nötig zu schützen. Dies ist der Hintergrund der wiederholten Initiativen französischer Regierungen, die EU stärker zu einem wirtschaftspolitischen Akteur auszubauen. Wenngleich diese Initiativen nicht immer von Erfolg gekrönt waren, haben sie doch die Ausgestaltung des Binnenmarktes und die Schaffung der Währungsunion in ihrem Sinne beeinflussen können. Dies ist vor allem an der langen Geschichte der europäischen Währungsunion von den 1980er Jahren und teilweise auch in der Industriepolitik bis heute zu beobachten (siehe unten). 2. Deutschland: Europa als ordnungspolitischer Rahmen Die reserviertere Haltung Deutschlands in Bezug auf eine aktive europäische Wirtschaftspolitik erklärt sich ebenfalls aus strukturellen Gründen, die mit der deutschen Nachkriegsgeschichte zusammenhängen. Zunächst einmal hat Westdeutschland nach 1945 eine andere ordnungspolitische Weichenstellung vorgenommen als Frankreich. Mit dem Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft, das für Institutionen und Praxis der Wirtschaftspolitik entscheidende Vorgaben machte, wurde eine Wirtschaftsordnung installiert, die grundsätzlich den Marktprozessen Vorrang einräumte und staatliche Eingriffe nur in bestimmten, eng umrissenen Grenzen vorsah: „Soviel Markt wie möglich, sowenig Staat wie nötig“. 5 Auch wenn man in der Praxis immer wieder eine wachsende Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit des Konzeptes konstatieren konnte, hat sich doch der politische Grundansatz, der Sphäre der Wirtschaft ihre relative Autonomie zuzuerkennen und sich mit direkten Interventionen zurückzuhalten, parteiübergreifend durchgesetzt und wird bis heute als Maxime der Wirtschaftspolitik akzeptiert. Diese staatliche Zurückhaltung war umso leichter zu proklamieren, als die westdeutsche Wirtschaft auf der Basis einer hoch entwickelten und wettbewerbsfähigen Industrie in der Nachkriegszeit eine außerordentliche Dynamik an den Tag legte. Dazu kam, dass sich mit dem rheinischen, kooperativen Kapitalismus eine spezifische, korporatistische Variante durchsetzte, in dem der Staat Regulierungsfunktionen an Sozialpartner oder Wirtschaftsverbände übertragen hat. Die Diversifizierung des öffentlichen (wirtschaftspolitischen) Handelns durch den kooperativen Föderalismus tat ein Übriges, um die Rolle direkter staatlicher Interventionen zu relativieren. Der liberale, marktwirtschaftliche Diskurs und die proklamierte Allergie 5 Vgl. Uwe Andersen (ed.): Soziale Marktwirtschaft - eine Einführung, Schwalbach, Wochenschau Verlag, 2004; Michael von Hauff (ed.): Die Zukunftsfähigkeit der Sozialen Marktwirtschaft, Marburg, Metropolis, 2007. - Das Zitat ist aus dem Godesberger Programm der SPD 1959, in dem die Partei erstmals die Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft annimmt. <?page no="142"?> Henrik Uterwedde 138 gegen staatlichen „Dirigismus“ gingen so einher mit einer Praxis, in der zahlreiche Regulierungen durch eine Vielzahl öffentlicher, halböffentlicher und privater Akteure gewährleistet wurden. 6 Das westdeutsche Engagement für die europäische Integration war überwiegend politisch motiviert, entsprach aber auch den Interessen der traditionell exportorientierten Wirtschaft, die auf den Abbau nationaler Zollbarrieren setzte. So stellte die erste Phase der europäischen Integration, die ab 1958 in der allmählichen Marktöffnung, dem Abbau von Zollschranken und anderen Mobilitätshemmnissen stand (negative Integration), aus deutscher Sicht keine einschneidende Herausforderung wie in Frankreich dar, sondern erleichterte es der wieder erstarkten exportorientierten Wirtschaft, sich in Europa neue Märkte zu erschließen. Die EU übte also deutlich weniger Veränderungs- und Anpassungsdruck auf Unternehmen und Wirtschaftspolitik aus als in Frankreich. Denn die Phase der negativen Integration stand in Einklang mit der wirtschaftspolitischen Grundorientierung der Bundesregierung und den Interessen der deutschen Wirtschaft. In wichtigen Politikfeldern, wie der Definition einer EWG/ EU-Außenhandelsdoktrin, konnte die Bundesregierung zudem einen weitgehend liberalen, am Freihandel ausgerichteten Kurs durchsetzen. Stabilitätsorientierung und Exportabhängigkeit Mit dem Beginn weltwirtschaftlicher Turbulenzen in den 1970er Jahren verfestigte sich das deutsche exportorientierte Wachstumsmodell. Die deutsche Wirtschaft konnte ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit ausbauen und steigende Exportüberschüsse verzeichnen. Damit schien sie besser als ihre Nachbarn in der Lage, mit den Ölschocks und den Verwerfungen auf den Weltmärkten zurechtzukommen. Die Deutsche Mark wurde zur Ankerwährung in Europa; das 1978 von Schmidt und Giscard geschaffene Europäische Währungssystem wurde zunehmend von der Stärke der deutschen Wirtschaft und Währung sowie den Vorgaben der Bundesbank geprägt. Im erwähnten Konflikt 1982/ 83 verlangte die Bundesregierung ein klares Engagement Frankreichs zugunsten einer stärker stabilitätsorientierten Politik und war nur zu diesen Bedingungen bereit, einer neuerlichen Anpassung der Wechselkurse im EWS zuzustimmen. Es wurden dabei auch die Asymmetrien der europäischen Wirtschaft deutlich: Das EWS war de facto eine „DM-Zone“ und stark von der Politik der Bundesbank abhängig; die hohen und steigenden Exportüberschüsse der deutschen Wirtschaft schufen ein 6 Vgl. Wolfgang Streeck: „Deutscher Kapitalismus: Gibt es ihn? Kann er überleben? “, in: Wolfgang Streeck: Korporatismus in Deutschland. Zwischen Nationalstaat und Europäischer Union, Frankfurt/ New York, Campus, 1999, 13-40; Henrik Uterwedde: „L’avenir du capitalisme allemand“, in: Hans Stark/ Michèle Weinachter (ed.): L’Allemagne unifiée 20 ans après la chute du mur, Villeneuve d’Ascq, Septentrion, 2009, 35-49. <?page no="143"?> Welche Vision(en) für die europäische Wirtschaft? Französische und deutsche Ansätze 139 Gefälle zu den EU-Partnern. Dies provozierte vor allem in Frankreich die Kritik, Deutschlands Wachstumsmodell, das einseitig auf Exporte setze und die deutsche Binnennachfrage vernachlässige, sei unkooperativ und „egoistisch“, weil es auf Kosten der EU-Partner durchgesetzt werde - eine Kritik, die bis heute aktuell geblieben ist. 7 Auch die permanenten deutschen Handels- und Leistungsbilanzüberschüsse wurden als Quelle europäischer Ungleichgewichte angesehen. Die seit den 1970er Jahren von Frankreich angestoßene und ab 1983 verstärkte Debatte über eine wirkliche europäische Währungsunion wurde in Deutschland zurückhaltend bis ablehnend geführt. Die Bundesregierung hatte die Sorge, die „harte DM“ zugunsten eines „weichen Euro“ opfern zu müssen, da in Nachbarländern die Inflationsraten deutlich höher waren. Später zeigte sie sich aufgeschlossener für die Idee der Währungsunion, formulierte aber klare Bedingungen (Unabhängige Zentralbank, Stabilitätsorientierung; später quantifizierte, sanktionsbewehrte Stabilitätskriterien), die dann auch im Vertrag von Maastricht 1991 und dem Vertrag von Amsterdam 1997 ihren Niederschlag fanden. Der Fall der Währungsunion macht deutlich, dass Deutschland generell ein großes Interesse an einem europäischen Regelsystem, also einer Art europäischer Marktordnung hatte, weitergehenden Forderungen nach einer aktiven europäischen (oder doch koordinierten) Wirtschaftspolitik aber meistens ablehnend gegenüberstand. Die Europäische Union wird vor allem als Ordnungsrahmen gesehen, der Spielregeln für den gemeinsamen Binnenmarkt und die nationale Haushaltspolitik festlegt und über seine Einhaltung wacht. Dabei scheut sich die deutsche Wirtschaftspolitik nicht, diese Regeln im Sinne ihrer nationalen Interessen zu beeinflussen. Weitergehende Vorschläge einer konzertierten oder gemeinschaftlichen Wirtschaftspolitik werden abgewehrt; in ihnen wird die Gefahr gesehen, dass sie den deutschen Interessen schaden könnten: sei es, weil sie wirtschaftspolitische Prioritäten setzen könnten, die den deutschen Vorstellungen widersprechen (etwa expansive Wachstumsstatt Stabilitätspolitik), sei es, weil damit zusätzliche Kosten verbunden sein könnten. 7 Vgl. dazu Henrik Uterwedde: „Vorbild oder unbequemer Nachbar? Die deutsche Wirtschaftspolitik in französischer Sicht“, in: Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 115, 2008, 57-62, 59sq. Zur aktuellen Diskussion in Frankreich vgl. die Bewertung von Patrick Artus: „La politique économique de l’Allemagne est-elle un problème pour les autres pays européens? “, in: Natixis flash économie, 138, 8.12.2009. Diese Kritik wird auch von linker und gewerkschaftlicher Seite in Deutschland geäußert; vgl. z.B. Sebastian Dullien et al.: Der gute Kapitalismus… und was sich dafür nach der Krise ändern müsste, Friedrich Ebert Stiftung, Internationale Politikanalyse, Oktober 2009, pp. 5 sq. <?page no="144"?> Henrik Uterwedde 140 Deutschland im Bremserhäuschen? Insgesamt scheint Deutschland mit der unvollkommenen EU-Integration, die nur wenig Möglichkeiten für eine aktive, diskretionäre EU-Wirtschaftspolitik eröffnet, gut leben zu können. So kommt es, dass die Bundesregierung gegenüber Vorschlägen einer intensiveren Konzertierung, Kooperation oder Europäisierung im Bereich der Wirtschaftspolitik zumeist als „Bremser“ wahrgenommen wird, wie zuletzt nach Ausbruch der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise. Wenn es allerdings um eine verstärkte bzw. verbesserte Regulierung der internationalen Finanzmärkte, -akteure und -produkte ging, wirkte die Bundesregierung aktiv und kooperativ mit - hier geht es schließlich um die Ausgestaltung eines gemeinsamen Ordnungsrahmens, was im Einklang mit den deutschen Grundorientierungen steht. Die Frage ist, ob sich die deutsche Politik auf Dauer einer verstärkten Koordinierung auf EU-Ebene verweigern kann bzw. sollte. Die weltweite Finanzkrise hat deutlich aufgezeigt, dass gemeinsames europäisches Handeln angesagt ist, und sei es auch nur, um ein unkoordiniertes nationales Neben- und Gegeneinander zu verhindern. Eine dauerhafte deutsche „Neinsager“-Position kann auch zum Bumerang werden, wenn es um die Durchsetzung deutscher Interessen in Europa geht. Für die deutsche Wirtschaftspolitik käme es darauf an, sich Ansätzen zu gemeinsamem Handeln nicht systematisch zu verschließen, sondern sie positiv aufzugreifen und gleichzeitig aktiv auf ihren Inhalt und ihre Stoßrichtung einzuwirken. 3. Das Beispiel der „europäischen Wirtschaftsregierung“ Nirgendwo wird der Unterschied zwischen französischen und deutschen Vorstellungen einer europäischen Wirtschaftspolitik so deutlich wie im Ruf nach einer „europäischen Wirtschaftsregierung“ (gouvernement économique), der mit schöner Regelmäßigkeit aus Frankreich erschallt und von deutscher Seite ebenso regelmäßig zurückgewiesen wird - zuletzt im Herbst 2008, als der französische Präsident Nicolas Sarkozy im Zuge der Bekämpfung der weltweiten Finanzkrise eine solche Wirtschaftsregierung forderte. Die Diskussion ist alt: Seit Beginn der Diskussionen über die Ausgestaltung der Europäischen Währungsunion, also seit gut 20 Jahren, wird sie von französischen Politikern und Wissenschaftlern regelmäßig in die Debatte eingebracht und liefert den Anlass für kontroverse Diskussionen auf europäischer Ebene. Eine bessere makroökonomische Steuerung? Das Problem dabei ist, dass in der politischen Diskussion um die Wirtschaftsregierung oft unterschiedliche Ebenen und Interpretationen ver- <?page no="145"?> Welche Vision(en) für die europäische Wirtschaft? Französische und deutsche Ansätze 141 mischt werden, die eine Kompromissbildung extrem erschweren. Der ökonomische Kern der französischen Vorschläge zielt auf eine aktive und wirksame makroökonomische Globalsteuerung im gemeinsamen Euro- Währungsraum. Denn dort ist mit der Geldpolitik ein wichtiger Hebel der Konjunkturpolitik in den Händen der unabhängigen Europäischen Zentralbank (EZB). Die Haushaltspolitik dagegen, zweite Säule der Konjunkturpolitik, ist weiterhin Sache der Nationalstaaten, wenngleich sie den Regeln des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes unterworfen ist (die insbesondere die staatliche Neuverschuldung beschränken). Der EU-Haushalt ist demgegenüber zu geringfügig, um eine nennenswerte konjunkturpolitische Wirkung auf europäischer Ebene entfalten zu können. Französische Politiker und Wissenschaftler verweisen nun - durchaus zu Recht - darauf, dass es einer optimalen Abstimmung zwischen Geld- und Haushaltspolitik bedürfe, um die Rahmenbedingungen für das Wirtschaftswachstum zu verbessern. Grundidee der französischen Vorschläge ist es, mit Hilfe der haushaltspolitischen Koordinierung der Mitgliedsländer der Währungsunion eine solche optimale Abstimmung zwischen Geld- und Zinspolitik der EZB und der nationalen Haushaltspolitiken zu erreichen. Dadurch könne man, so eine Argumentation des französischen Finanzministeriums aus dem Jahre 1998, ungleichmäßige nationale Konjunkturverläufe besser ausgleichen, unterschiedliche nationale Haushaltssituationen berücksichtigen, ein optimales Zusammenspiel (im Fachjargon „policy mix“ genannt) zwischen Geld- und Budgetpolitik erreichen sowie die Nachhaltigkeit der nationalen Haushaltspolitiken unterstützen. 8 Folgerichtig haben französische Regierungen immer wieder Vorschläge für den Ausbau entsprechender Koordinierungsmechanismen zwischen den Finanzministern der Eurozone gemacht, die mit dem Begriff „Wirtschaftsregierung“ bezeichnet wurden. Zwar verhinderte die Bundesregierung die Institutionalisierung einer solchen Wirtschaftsregierung im Amsterdamer Vertrag von 1997, aber Frankreich setzte immerhin durch, dass sich eine informelle Gruppe der Finanzminister des Euroraums („Eurogruppe“ genannt) zu regelmäßigen Beratungen und auch zu Diskussionen mit der EZB traf. In den darauf folgenden Jahren hat sich Frankreich immer wieder für eine formelle Aufwertung dieser Eurogruppe eingesetzt, um ihre Position als Partner der EZB zu stärken. Auf französisches Betreiben wurde im (inzwischen gescheiterten) Verfassungsvertrag von 2005 und im Vertrag von Lissabon 2007 die Existenz der Eurogruppe in einem gesonderten Protokoll auch offiziell festgeschrieben. 8 Vgl. dazu den Jahreswirtschaftsbericht des französischen Finanzministeriums: La politique économique de la France. Rapport économique, social et financier, Ministère de l’économie, des finances et de l’industrie, Paris, 1998, 16-20; ähnlich der Jahresbericht 1999, 45-55. <?page no="146"?> Henrik Uterwedde 142 Politisierung der Wirtschafts- und Währungsunion? Die deutsche Haltung gegenüber den französischen Vorstößen war immer reserviert, wenn nicht offen ablehnend. Die bestehenden Mechanismen der (informellen) Abstimmung in der Eurogruppe wurden als ausreichend angesehen und ihre institutionelle Aufwertung nur zögerlich hingenommen. Hinter den deutschen Reserven stehen aber auch unausgesprochene Ängste: Man befürchtet, dass sich hinter den Plänen einer „Wirtschaftsregierung“ die Absicht verbirgt, die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank zu unterminieren und die vorrangige Ausrichtung der EZB am Stabilitätsziel ebenso aufzuweichen wie den Stabilitäts- und Wachstumspakt mit seinen harten, quantifizierten Vorgaben. Darüber hinaus wird in den Vorstößen Frankreichs die Absicht vermutet, einer stärkeren Politisierung bzw. einem stärkeren Interventionismus auf EU-Ebene den Weg ebnen zu wollen. Hier kommt, neben dem oben erwähnten sachlichen Kern, eine zweite, sehr grundsätzliche Interpretation der Wirtschaftsregierung zum Tragen: Es geht um einen verstärkten Einfluss der Politik in der Wirtschaft. Der Begriff Wirtschaftsregierung wird von französischer Seite oft extensiv ausgelegt. Dabei kommt neben den Zielen einer verbesserten makroökonomischen Koordinierung immer auch die französische Grundüberzeugung zum Ausdruck, dass Geld- und auch Währungspolitik - zwei entscheidende Variablen für die Wachstums- und Beschäftigungschancen - selbstverständlich auch politischen Entscheidungen zugänglich sein müssen. Frankreich hat sich nie ganz damit abgefunden, dass diese Instrumente auf deutschen Druck hin in die Hände einer unabhängigen Zentralbank gelegt worden sind, um sie politischem Einfluss zu entziehen. Das folgende Zitat von Präsident Sarkozy legt diese Stoßrichtung in aller Deutlichkeit offen: „… ich will meine Überzeugung ausdrücken, dass die EZB unabhängig sein muss, aber damit ihr Handeln ihre volle Wirkung entfaltet, muss sie mit einer Wirtschaftsregierung diskutieren können… Und für mich ist die wirkliche europäische Wirtschaftsregierung eine Eurogruppe, die auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs zusammentritt.“ 9 Wenn aber die Eurogruppe nicht mehr die Finanzminister der am Euro beteiligten Länder umfassen, sondern ein Organ der Staats- und Regierungschefs werden soll, so ist eine Politisierung der bislang stark regelgebundenen makroökonomischen Globalsteuerung unausweichlich, wie man in Deutschland nicht zu Unrecht vermutet. Es ist daher kein Wunder, dass derartige Forderungen in Deutschland auf strikte Ablehnung stoßen. Ähnlich kritisch werden auch die wiederholten Versuche französischer Verantwortlicher gesehen, die strenge Bindung der nationalen Haushaltspolitiken an die Regeln des Stabilitäts- und Wachstums aufzuweichen. Dass die französische Haushaltspoli- 9 Zitiert in: Guillaume Duval: „Bientôt un gouvernement économique européen? “, in: Alternatives économiques 275, 2008, 13. <?page no="147"?> Welche Vision(en) für die europäische Wirtschaft? Französische und deutsche Ansätze 143 tik in den vergangenen Jahren dazu neigte, die Vorgaben des Stabilitäts- und Wachstumspaktes zu vernachlässigen (2009 betrug das französische Haushaltsdefizit 8%, das deutsche 3% des BIP), hat die deutsche Skepsis noch verstärkt. Im Ergebnis bietet sich das unbefriedigende Bild, dass über den ökonomischen Kern der französischen Vorschläge (verbesserte makroökonomische Koordinierung), der durchaus Sinn macht, nicht wirklich geredet oder verhandelt wird, weil Frankreich diese Vorschläge mit weitergehenden, für Deutschland inakzeptablen Inhalten belastet - ein typisches Beispiel für einen unproduktiven dialogue des sourds. Es bleibt zu hoffen, dass beide Länder einen Weg finden, um die Debatte präziser und unbelasteter wieder aufzugreifen. Denn es steht außer Frage, dass das gegenwärtige Zusammenspiel zwischen Geld- und Budgetpolitik in der EU den europäischen Wachstumsperspektiven schadet. 4. Das Beispiel der europäischen Industriepolitik Ein zweiter permanenter deutsch-französischer Zankapfel ist der Ruf Frankreichs nach einer europäischen Industriepolitik. Frankreich hatte nach 1945, um seine rückständige Wirtschaft zu modernisieren, Instrumente einer aktiven sektoralen Industriepolitik entwickelt. Direkte staatliche Eingriffe waren an der Tagesordnung; ein reichhaltiges Instrumentarium ermöglichte die sektorale Strukturlenkung (staatliche Unternehmen, Investitionslenkung über staatliche Banken, Subventionen, Sektoren-Entwicklungspläne, staatlich geförderte Konzentrationen…). Nach Gründung der EWG 1957 stellte sich für Frankreich schnell die Frage einer gemeinsamen EU-Industriepolitik. Lange Zeit standen sich hier zwei gegensätzliche Grundansätze gegenüber. Deutschland lehnte die französischen Forderungen ab, weil sich die französischen Vorstellungen einer strukturlenkenden Industriestrategie für Europa als wenig vereinbar mit den deutschen ordnungspolitischen Vorstellungen erwiesen. Dies hat konkrete Fortschritte nicht verhindert, etwa wenn es um die gemeinsame industrielle Kooperation etwa in der Luft- und Raumfahrt (Airbus, Ariane-Weltraumrakete) oder dem Rüstungssektor ging. Auch das französische Drängen nach europäischen Kooperationsprojekten in der Technologiepolitik in den 1980er Jahren hatte teilweise Erfolg, weil in der Praxis die deutschen und französischen Vorstellungen nicht allzu weit voneinander entfernt waren. 10 Dennoch führte noch 1990 die Frage, ob die Industriepolitik in den Rang einer EU-Politik erhoben werden solle, zu einem harten Konflikt zwischen den Nachbarn. Er endete mit einem EU-typischen Kompromiss: Frankreich erreichte gegen den deutschen Widerstand, 10 Vgl Wolfgang Neumann/ Henrik Uterwedde: Industriepolitik - ein deutsch-französischer Vergleich, Opladen, Leske und Budrich, 1986. <?page no="148"?> Henrik Uterwedde 144 dass die Industriepolitik nunmehr (im Artikel 157 des EG-Vertrages) als Aufgabe der EU aufgeführt ist, aber Deutschland setzte eine „marktwirtschaftskonforme“ Formulierung der Zielsetzungen und vor allem das Einstimmigkeitsprinzip etwaiger Maßnahmen durch. Mittlerweile haben sich die Perspektiven deutlich verschoben. Die marktwirtschaftliche Wende der Wirtschaftspolitik in Frankreich nach 1983 beinhaltete auch eine grundlegende Neuausrichtung in der Industriepolitik, die sich nunmehr den deutschen Grundorientierungen annäherte und insbesondere auf massive Staatseingriffe und Strukturlenkungsansprüche weitgehend verzichtete. 11 Allerdings hält Frankreich weiterhin - und seit einigen Jahren wieder verstärkt - an der Notwendigkeit einer Industriepolitik sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene fest. Die Praxis folgt nunmehr einer veränderten Logik, die der deutschen Standortpolitik entspricht und in der es um geeignete Rahmenbedingungen für die Unternehmen, um regionale Cluster und Innovationsfähigkeit, um Bildung und Ausbildung geht. Die früher dominierende Rolle des Zentralstaates hat einem Denken in Netzwerken und Partnerschaften Platz gemacht. 12 Damit ergeben sich heute stärkere Gemeinsamkeiten mit der deutschen Position. Die jüngste weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise hat - trotz mancher unterschiedlicher Akzente - in beiden Ländern ähnliche Reaktionen hervorgerufen. Es hat sich herausgestellt, dass auch in Deutschland die Politik sich in der Pflicht sieht, in Schwierigkeit geratenen Banken oder Industrieunternehmen zu helfen. Dennoch bleiben Unterschiede: In Frankreich ist der lange Arm des Zentralstaates in der Wirtschaft weiterhin präsent. Französische Regierungen greifen mit großer Selbstverständlichkeit ein, wenn es darum geht, große Unternehmen vor dem Zugriff ausländischer Investoren zu schützen oder krisenbedrohte Firmen und Sektoren zu unterstützen. Ordnungspolitische Debatten über die Sinnhaftigkeit derartiger Staatseingriffe, wie sie in Deutschland etwa über die Rettung von Opel oder Arcandor/ Karstadt geführt worden sind, sind der französischen Politik fremd. Auf jeden Fall bleibt die Herausbildung eines gemeinsamen, wettbewerbsfähigen europäischen Wirtschaftsraumes mit eigener Identität weiterhin präsent in der französischen Diskussion. Aus französischer Sicht ist die EU gefordert, eine eigene Industriepolitik zu entwickeln. Die Vorherrschaft der Wettbewerbspolitik (europäische Fusionskontrolle) und die strengen Regeln für Beihilfen an Unternehmen in diesem Bereich engen nach französischen Vorstellungen den Spielraum für die EU-Industriepolitik zu sehr ein, 11 Henrik Uterwedde: „Abschied vom französischen Modell? Staat und Wirtschaft im Wandel“, in: Marieluise Christadler/ Henrik Uterwedde (ed.): Länderbericht Frankreich, Opladen, Leske und Budrich, 1999, 201-227. 12 Vgl. Jean-Marc Trouille/ Henrik Uterwedde: „From Industrial to Competitiveness Strategy? The New French Approach“, in: Mairi Maclean/ Joe Szarka (eds.): France in the World Stage. Nation State Strategies in the Global Era, London, Palgrave, 2008, 162-180. <?page no="149"?> Welche Vision(en) für die europäische Wirtschaft? Französische und deutsche Ansätze 145 weil sie die Herausbildung großer europäischer Konzerne oder gezielte Hilfen für innovative mittelständische Firmen verhinderten. So sehen französische Experten „die europäische Industriepolitik in einer doppelten Falle: die rechtlichen und institutionellen Regeln (mit der Wettbewerbs- und der Außenhandelspolitik als Eckpfeiler) sowie ein fehlender politischer Wille.“ 13 Philippe Herzog, Präsident des angesehenen think tanks Confrontations Europe, steht nicht allein, wenn er ein verstärktes gemeinsames industriepolitisches Handeln auf EU-Ebene fordert: „Die Union muss Felder von gemeinsamem strategischem Interesse definieren: Energie, Kampf gegen die Auswirkungen des Klimawandels, Humankapital. Andere Bereiche müssen ebenfalls in Betracht gezogen werden, wie der Gesundheitssektor, die Ernährungswirtschaft…“ 14 Aber der Dialog zwischen Paris und Berlin bleibt schwierig, weil die in den Diskursen zum Ausdruck kommenden wirtschaftspolitischen Grundansätze sich trotz aller faktischen Annäherungen weiterhin unterscheiden und in Deutschland das Misstrauen gegenüber industriepolitischen Vorschlägen des Nachbarn - die als dirigistisch und „colbertistisch“ eingestuft werden - weiterhin wach bleibt. 15 5. Gemeinsames Handeln ist möglich Europäischer Ordnungsrahmen kontra aktive europäische Wirtschaftspolitik: Die unterschiedlichen Grundvorstellungen Deutschlands und Frankreichs haben die europäische Integration seit ihren Anfängen gekennzeichnet. Die Debatte hat durch die Finanz- und Wirtschaftskrise neue Nahrung erhalten. In Frankreich haben sich die Stimmen vermehrt, die nach mehr europäischen Gemeinsamkeiten in der Wirtschaftspolitik rufen. Während der französischen Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2008 wurde Präsident Sarkozy nicht müde, eine aktive Rolle der EU bei der Suche nach Lösungen zu forcieren. Rückenwind haben die französischen Vorstellungen auch dadurch erhalten, dass mit der Krise die Kritik am ungezügelten Kapitalismus und der Ruf nach einer stärkeren Rolle des Staates lauter gewor- 13 Pascal Kauffmann: „Politique industrielle ou de compétitivité: L’Allemagne, la France, l’Europe“, in: Klaus Mangold/ Uwe Blaurock/ Fernand Hörner (ed.): Schutz vo(r)m Staat. Industriepolitik in Deutschland und Frankreich, Freiburg, Frankreich-Zentrum der Universität Freiburg, 2010, 90, 10. Vgl. dazu auch Elie Cohen/ Jean-Hervé Lorenzi: Des politiques industrielles aux politiques de compétitivité en Europe, Paris, La Documentation française, 2000. 14 Philippe Herzog: „Consolider l’Union européenne pour sortir de la crise“, Beilage zu La Revue de Confrontations Europe, 85, 2009, 7. 15 Vgl. dazu Henrik Uterwedde: „Industriepolitik - ein deutsch-französisches Missverständnis? “, in: Klaus Mangold et al., op.cit., 90, sowie die übrigen deutschen und französischen Beiträge in diesem Band, die die Kontroversen gut wiedergeben. <?page no="150"?> Henrik Uterwedde 146 den sind. Für Nicolas Sarkozy besteht das Hauptereignis der Krise in der „Rückkehr des Staates“ und dem „Ende der Ideologie der öffentlichen Ohnmacht, die die Kehrseite der Allmacht des Marktes war.“ Er ruft nach einem neuen Gleichgewicht zwischen Staat und Markt und bekräftigt: „Im Kapitalismus des 21. Jahrhundertes gibt es einen Platz für den Staat.“ 16 Hatte sich Frankreich mit seinem Ruf nach mehr Interventionismus und Wirtschaftssteuerung auf EU-Ebene bislang oft in einer Außenseiterrolle gegenüber den liberalen Auffassungen der meisten übrigen Mitgliedstaaten befunden, so scheint dies heute verändert. „Die neoliberale Welle, die die Debatten und die Wirtschaftspolitik seit Ende der 1970er Jahre beherrscht hatte, scheint nun beendet zu sein. […] Frankreich könnte also eine zentralere Position in Europa einnehmen.“ 17 Unabhängig von dieser Einschätzung stellt sich die Frage nach der wirtschaftspolitischen Rolle der EU in neuer Dringlichkeit. Welchen Handlungsbedarf gibt es auf europäischer Ebene, in welchen Feldern (Ordnungs-, Prozess- oder Strukturpolitik)? Sind dafür neue Instrumente, neue Kompetenzen oder neue Koordinierungsstrukturen notwendig? Die Diskussionen um diese Kernfragen müssen geführt werden. Frankreichs Vorstellungen - gespeist aus seinen eigenen Erfahrungen, seiner Wirtschafts- und seiner politischen Kultur - laufen auf „mehr Europa“ und „mehr Intervention“ hinaus. Deutschland hat ein unterschiedliches ordnungspolitisches Grundverständnis und setzt andere Akzente. So wirbt die Bundeskanzlerin dafür, dass „es in Zukunft Aufgabe der Europäischen Union sein [wird], eine Stimme der Sozialen Marktwirtschaft - so würde ich es als deutsche Kanzlerin sagen - für die internationale Ordnung zu sein.“ 18 Dennoch: gemeinsames Handeln ist möglich. Beide Länder sind in der wirtschaftspolitischen Praxis näher, als es die unterschiedlichen Diskurse vermuten lassen. 19 Wenn Nicolas Sarkozy eine „Neufundierung des Kapitalismus“ fordert und Angela Merkel zu einer Rückbesinnung auf Grundprinzipien der Sozialen Marktwirtschaft anmahnt, so sind sich beide - trotz unterschiedlicher Rhetorik - im Kern einig: Beide lehnen einen ungeregelten liberalen Marktkapitalismus ab und bevorzugen das Leitbild eines regulierten, sozial gesteuerten Kapitalismus gemeinsam, und diese Gemeinsamkeit ist gerade auch nach Ausbruch der Finanzkrise wieder deutlich geworden. Dies eröffnet Spielräume für konstruktive Kompromisse und pragmatisches 16 Nicolas Sarkozy: Rede auf dem internationalen Kolloquium „Nouveau monde, nouveau capitalisme“, Paris, 8.1.2009. 17 Joachim Schild, op.cit., 19. 18 Rede der Bundeskanzlerin auf dem Kolloquium „Neue Welt, neuer Kapitalismus“, Paris, 8.1.2009 (abrufbar unter www.bundesregierung.de). 19 Vgl. Commissariat général du Plan/ Deutsch-Französisches Institut (ed.): Standortpolitik in der Globalisierung: deutsch-französische Perspektiven, Opladen, Leske und Budrich, 2001. <?page no="151"?> Welche Vision(en) für die europäische Wirtschaft? Französische und deutsche Ansätze 147 Handeln. In der Dialektik zwischen Divergenzen und Gemeinsamkeiten kommt es darauf an, Brücken zu bauen, anstatt das Trennende gebetsmühlenartig hervorzuheben, oder anders ausgedrückt: Komplementaritäten statt Unvereinbarkeiten zu sehen und herauszuarbeiten. Damit könnten beide Länder einen konstruktiven Beitrag dazu leisten, dass Europa eine aktive Rolle bei der Überwindung der Krise und der Suche nach einem neuen internationalen Ordnungsrahmen für die Weltwirtschaft spielen kann. Tabelle 1: Französische und deutsche Grundeinstellungen zur europäischen Wirtschaft Themenfeld Frankreich Deutschland Generell EU als wirtschaftspolitischer Akteur EU setzt Regeln (Ordnungspolitik) Binnenmarkt Liberaler Ordnungsrahmen, aber Ausgleich zwischen Wettbewerbs- und Strukturzielen Schutz öffentlicher Dienstleistungen (service public) Europäische Fusionen und „Champions“; Kooperationsprojekte Liberaler Ordnungsrahmen: Wettbewerb, Freizügigkeit, Subventionskontrolle Schutz öffentlicher Dienstleistungen (Daseinsvorsorge) Außenwirtschaft Freihandel, aber auch Gemeinschaftspräferenz und Schutz gegen „Sozialdumping“ „Wirtschaftspatriotismus“: Schutz nationaler Firmen vor ausländischen Übernahmen Europäischer Staatsfonds (Sarkozy) Freihandel Freier Kapitalverkehr (teilweise Schutz gegen ausländische Übernahmen) Währung, Konjunktur Veränderung der Regeln des Stabilitätspaktes Wirtschaftsregierung: Eurogruppe als Partner der EZB Aktive Konjunktursteuerung Stabilitäts- und Wachstumsziel Unabhängige Zentralbank (EZB) Stabilitäts- und Wachstumspakt: strenge Schuldenregeln Stabilitätsziel Industrie „vertikale“ Industriepolitik: sektorale Strategien; aktive Technologiepolitik Ruf nach „produzentenfreundlichen“ Regeln „horizontale“ Industriepolitik: Rahmenbedingungen, Wettbewerb Ruf nach „produzentenfreundlichen“ Regeln Quelle: eigene Zusammenstellung <?page no="152"?> Adolf Kimmel Das deutsch-französische Paar in der erweiterten Europäischen Union Rahmenbedingungen der deutsch-französischen Sonderbeziehung Der „Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik über die deutsch-französische Zusammenarbeit“, wie der am 22. Januar 1963 unterzeichnete Vertrag offiziell heißt, 1 steckt zwar einen allgemeinen Rahmen für die bilateralen Beziehungen zwischen den beiden so lange verfeindeten Nachbarn am Rhein ab, 2 aber die konkrete Ausgestaltung dieser Beziehungen hängt von einer Reihe von Faktoren ab, die Veränderungen unterworfen sind und sich in den vergangenen Jahrzehnten auch wiederholt geändert haben. Die wichtigsten dieser Faktoren sind der jeweilige internationale und europäische Kontext; die nationalen Interessen Frankreichs und Deutschlands, die es natürlich weiterhin gibt, sowie die Persönlichkeiten der maßgeblichen politischen Akteure, also des französischen Staatspräsidenten und des deutschen Bundeskanzlers bzw. der Bundeskanzlerin. Hingegen sind die innenpolitische Situation in den beiden Staaten und die sich daraus ergebende parteipolitische Orientierung der entscheidenden Politiker von nur nachgeordneter Bedeutung. So entwickelten sich unter den parteipolitisch konträren „Paaren“ 3 Valéry Giscard d’Estaing und Helmut Schmidt sowie François Mitterrand und Helmut Kohl die Beziehungen besonders gut und haben dadurch auch wichtige europapolitische Fortschritte herbeigeführt (Europäischer Rat, Europäisches Währungssystem, Binnenmarkt, Währungsunion mit Euro). Diese parteipolitische „Neutralität“ hat ihre Ursache darin, dass die deutsch-französische Sonderbeziehung von keiner politischen Kraft in einem der beiden Länder in Frage gestellt wird, so dass sie durch Regierungswechsel grundsätzlich nicht gefährdet ist. Au- 1 Nach dem Unterzeichnungsort wird er oft Elysée-Vertrag genannt. Die Bezeichnung Freundschaftsvertrag wird vor allem in Deutschland gebraucht. 2 Dazu die kommentierte Dokumentation von Adolf Kimmel/ Pierre Jardin (eds.): Die deutsch-französischen Beziehungen seit 1963, Opladen, Leske+Budrich, 2002. 3 Der Begriff „couple franco-allemand“ ist im Französischen sehr gebräuchlich, während man im Deutschen eher von einem Tandem spricht. Da der Begriff „Paar“ zutreffender erscheint, wird er hier verwendet. <?page no="153"?> Das deutsch-französische Paar in der erweiterten Europäischen Union 149 ßerdem haben auch die Politiker, die nicht als Verfechter einer engen deutsch-französischen Beziehung galten, die Bedeutung dieser Beziehung erkannt und sie nicht in Frage gestellt, sobald sie das verantwortliche Amt einmal innehatten (besonders deutlich bei Helmut Schmidt). Eine unzulängliche oder gar fehlerhafte Kenntnis des Regierungssystems des Partnerlandes mit seinen Auswirkungen auf die Handlungsmöglichkeiten des Gegenübers kann jedoch zu Missverständnissen oder auch vorübergehenden Verstimmungen führen. Diesem mitunter vernachlässigten Aspekt kommt vor allem deshalb eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu, weil sich die politische Struktur und die kulturellen Praktiken der beiden Staaten erheblich unterscheiden. 4 Insbesondere haben französische Politiker zumindest anfängliche Schwierigkeiten, die in Frankreich oft nicht hinreichend bekannten Besonderheiten des deutschen Regierungssystems (Koalitionen, Föderalismus, Rolle des Bundesverfassungsgerichts) und seiner Folgen für den Entscheidungsspielraum des Kanzlers angemessen zu berücksichtigen. So hat Nicolas Sarkozy offenbar nicht verstanden, dass die Bundeskanzlerin „ihren“ Finanzminister Peer Steinbrück nicht zumindest ordentlich gerüffelt hat, als dieser auf dem (Europäischen) Rat der Wirtschafts- und Finanzminister im Juli 2007 (zu dem sich Sarkozy unüblicherweise selbst eingeladen hatte) mit dem französischen Staatspräsidenten einen heftigen Zusammenstoß hatte und ihm mit einer diesem sichtlich ungewohnten Respektlosigkeit widersprach. Nach eigenem Eingeständnis hat er inzwischen „viel von Angela Merkel gelernt. Vor allem habe ich verstanden, dass die beiden Länder eine grundverschiedene Struktur haben […] Die Kultur des Konsenses, der Föderalismus, die Koalitionsbildungen sind eine Wirklichkeit, […] die in Deutschland weitaus präsenter ist als in Frankreich.“ 5 Die Unterschiedlichkeit der politischen Systeme und die sich daraus ergebenden unterschiedlichen Entscheidungsverfahren können zwar mitunter störende Auswirkungen auf die bilateralen Beziehungen haben, aber da sie von der jeweils anderen Seite berücksichtigt werden können und sollten, hat sich dieser Faktor nicht als dauerhaftes Hindernis für die Entwicklung der Sonderbeziehung erwiesen. Gravierender sind die Verschiedenheit der politischen Kultur, also der Einstellungen und Verhaltensweisen von Franzosen und Deutschen. Ihre Kernelemente sind historisch tief verwurzelt und können nicht einfach verändert werden wie die Strukturen eines politischen 4 Darauf weisen nachdrücklich hin: Xavier Pacreau/ Wolfram Vogel: „France-Allemagne: Dialectique d’une relation entre partenaires et concurrents“, in: Annuaire français de relations internationales, vol. X (2009), 533-539. Auch Sylvie Goulard, „Allemagne- France, un avenir commun“, in: Etudes, no. 4106 (Juni 2009), 731. 5 So in seiner Laudatio auf Angela Merkel am 1. Mai 2008, anlässlich der Verleihung des Aachener Karlspreises an die Bundeskanzlerin. Der Text findet sich, wie auch die anderen, im Folgenden zitierten offiziellen Reden, auf der Homepage des Präsidentenamtes: www.elysee.fr. <?page no="154"?> Adolf Kimmel 150 Systems (etwa von der IV. zur V. Republik oder von der Weimarer zur Bundesrepublik). Zu diesen Kernelementen gehören ein in wichtigen Aspekten noch immer unterschiedliches Verständnis vom Verhältnis von Staat und Wirtschaft, vom Nationsbegriff oder der Beziehung der Bürger zum Staat. Die Politiker müssen diesen Einstellungen der jeweiligen Bevölkerung nicht nur Rechnung tragen, sondern sie sind auch selbst geprägt durch diese politische Kultur. Viele Differenzen sowohl in den bilateralen Beziehungen wie in der Europapolitik beider Staaten lassen sich auf die unterschiedliche politische Kultur zurückführen und durch sie erklären. So führt das tiefsitzende und nachwirkende Trauma der Hyperinflation von 1923 dazu, dass für die Deutschen Haushaltsdisziplin und die Vermeidung von Schulden oberstes Gebot der Finanz- und Wirtschaftspolitik sein sollen. Für die Franzosen sind ein ausgeglichener Haushalt und Einsparungen weniger wichtig als wirtschaftliches Wachstum, das vorrangig nötig erscheint, um aus einer Krise herauszukommen, um Stagnation und Deflation zu vermeiden. Die Kontroversen um das deutsche Sparpaket in Frankreich haben diese Unterschiede wieder in aller Deutlichkeit zu Tage treten lassen. Nach deutscher Auffassung, die durch den wirtschaftlichen Aufschwung nach 1945 bestärkt wurde, soll sich der Staat aus der Wirtschaft möglichst heraushalten, da die Unternehmen besser in der Lage seien, die richtigen Entscheidungen zu treffen. In Frankreich wird dagegen die Verantwortung des Staates für seine Bürger betont, die sein Eingreifen in die Wirtschaft rechtfertigt, ja verlangt. Es gilt der ebenfalls durch historische Erfahrungen und Traditionen verankerte Primat der Politik. So zahlreich die Begegnungen zwischen den Politikern und auch zwischen den Bürgern sind - Frankreich und Deutschland sind eben doch „zwei sehr verschiedene Nachbarn“. 6 Inwiefern haben sich die genannten Rahmenbedingungen unter dem Paar Angela Merkel/ Nicolas Sarkozy, das seit Sarkozys Wahl zum Staatspräsidenten am 6. Mai 2007 besteht, geändert? Eine fundamentale Veränderung des internationalen Koordinatensystems, wie sie der Zerfall der Sowjetunion, das Ende des Ost-West-Konflikts und die Wiedervereinigung Deutschlands darstellten, gab es nicht. Die beiden folgenreichsten Ereignisse waren die Wahl Barack Obamas zum Präsidenten der USA am 5. November 2008 und die Finanz- und Wirtschaftskrise. Die Wahl Obamas hat die französisch-amerikanischen wie die deutsch-amerikanischen Beziehungen fühlbar verbessert. Da sowohl Sarkozy wie Merkel grundsätzlich amerikafreundlich sind und sie auch in der Beurteilung von weiterhin bestehenden Divergenzen zu den USA (Klimapolitik, Regulierung der Finanzmärkte) weitgehend übereinstimmen, sind die Beziehungen zu den USA, die in der Vergangenheit das deutsch-französische Verhältnis mitunter beeinträchtig- 6 So der Titel eines Artikels von Daniel Brössler in der Süddeutschen Zeitung vom 16.6.2010. <?page no="155"?> Das deutsch-französische Paar in der erweiterten Europäischen Union 151 ten, kein Störfaktor mehr. Die Reaktion auf die Finanz- und Wirtschaftskrise, auf die noch zurückzukommen ist, hat zwar zunächst zu Spannungen zwischen Frankreich und Deutschland geführt, aber diese konnten ziemlich rasch überwunden werden und das Paar agierte wieder recht harmonisch. Der Aufstieg Chinas und einiger Schwellenländer hat zweifellos Auswirkungen auf die Politik der EU und erst recht auf die G 8 bzw. die G 20, in der die EU als kollektiver Akteur wie auch Frankreich und Deutschland als Nationalstaaten vertreten sind, aber diese weltpolitischen Veränderungen berühren kaum die bilateralen deutsch-französischen Beziehungen. Der europäische Kontext hat sich in einem wichtigen Aspekt verändert: Der Verfassungsvertrag, der durch Referenden in Frankreich (31. Mai 2005) und den Niederlanden (1. Juni 2005), also noch vor dem Amtsantritt des Präsidenten abgelehnt worden war, wurde nach einigen Veränderungen als Vertrag von Lissabon am 17. Dezember 2007 unterzeichnet. Am 1. Dezember 2009 trat er in Kraft. Er bildet den neuen Rechtsrahmen für die EU. Dagegen sind die Beitritte Bulgariens und Rumäniens (am 1. Januar 2007) in ihrer Bedeutung nicht zu vergleichen mit der „großen“ Osterweiterung von 2004. Bei den wichtigsten nationalen Interessen Frankreichs und Deutschlands hat es weder in den Jahren vor dem Amtsantritt Sarkozys bzw. Merkels noch seitdem nennenswerte Veränderungen gegeben. Auf die beiden am Herzen liegende Verbesserung der Beziehungen zu den USA wurde schon hingewiesen. Eine gewisse, aber nicht tiefgreifende Entwicklung gibt es bei den Beziehungen zu Russland. Das männerfreundschaftliche Verhältnis Chirac-Schröder-Putin besteht nicht mehr und Wladimir Putin ist für Angela Merkel kein „lupenreiner Demokrat“. Gleichwohl ist Frankreich wie Deutschland an möglichst guten Beziehungen zu Russland interessiert, wobei das deutsche Interesse wegen der intensiveren Wirtschaftsbeziehungen und insbesondere der Erdgaslieferungen stärker ist. Bemerkenswert ist, dass es keine tiefer gehenden politischen Konflikte zwischen dem Präsidenten und der Kanzlerin mehr gibt, wie es sie unter François Mitterrand und Helmut Kohl (deutsche Einheit) und auch unter Jacques Chirac und Gerhard Schröder (über den „Rang“ der beiden Staaten in der EU; Gipfel von Nizza im Dezember 2000) zeitweise noch gegebenen hat. Die bei verschiedenen Problemen auftretenden Meinungsunterschiede und die mitunter scharfe Konkurrenz der jeweiligen wirtschaftlichen Interessen führen zwar immer wieder zu Verstimmungen, aber sie eskalieren nicht zu ernsten und anhaltenden Spannungen, wie es in der Vergangenheit wiederholt der Fall war. Bleibt der „persönliche Faktor“. <?page no="156"?> Adolf Kimmel 152 „Pfau und Eule“ 7 Man muss kein Anhänger des allzu simplen Satzes sein, dass Männer (und auch Frauen) Geschichte machen, um bei der Beschäftigung mit den deutsch-französischen Beziehungen zu konstatieren, dass der persönliche Faktor dabei immer eine Rolle gespielt hat. Ein gutes persönliches Verhältnis der beiden wichtigsten Akteure zueinander hat mitgeholfen, für die anstehenden Probleme eine Lösung zu finden und damit auch die Zusammenarbeit zwischen den beiden Regierungen zu verbessern (so für die Paare de Gaulle/ Adenauer, Giscard d’Estaing/ Helmut Schmidt und Mitterrand/ Kohl); konnten Präsident und Kanzler nicht gut miteinander (insbesondere de Gaulle/ Erhard und Pompidou/ Brandt), so litten auch die zwischenstaatlichen Beziehungen darunter. Wie ist der „persönliche Faktor“ beim Paar Sarkozy/ Merkel einzuschätzen? Nach jedem Wechsel im politischen Spitzenpersonal bedarf es erst einer Zeit des gegenseitigen Kennenlernens, des Sich-Aneinander-Gewöhnens, um - im günstigen Fall - ein gegenseitiges Vertrauensverhältnis zu begründen. Zudem müssen sich die Akteure erst mit den eingespielten Mechanismen der Sonderbeziehung vertraut machen. Bei Angela Merkel und Nicolas Sarkozy schienen die Voraussetzungen dafür, dass es rasch zu einem guten persönlichen Einvernehmen zwischen ihnen kommen würde, besonders gut zu sein. Sie gehören beide der gleichen Generation an, wodurch sich eine ähnliche Grundeinstellung zum deutsch-französischen Verhältnis zwar nicht zwingend einstellen muss, aber doch erleichtert werden kann. Sie stehen beide auf derselben Seite des parteipolitischen Spektrums und - noch wichtiger - sie stimmen in wichtigen Fragen überein (Beziehungen zu den USA und zu Russland, Verhältnis EU-Türkei). Sie haben bei einer liberalen Grundhaltung ein ähnliches Verständnis von der Rolle von Staat und Wirtschaft, sind beide aber auch keineswegs dogmatisch, sondern ausgesprochen pragmatisch, wobei Sarkozy allerdings, der colbertistischen Tradition treu, in weit stärkerem Maße zu staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft neigt. Auch hinsichtlich des Fortgangs der Europäischen Integration vertraten beide nach der Ablehnung des Verfassungsvertrages durch Frankreich und die Niederlande eine ähnliche, eben pragmatische Auffassung. Mit den deutsch-französischen Beziehungen waren beide vor ihrer Wahl in die Führungspositionen allenfalls am Rande befasst. Für Angela Merkel war Frankreich bis zur deutschen Wiedervereinigung nach ihrer eigenen Aussage „ein fernes Land“, das kennenzulernen sie keine Möglichkeit hatte und dessen Sprache sie nicht spricht. Zwar hatte sie in den Kabinetten Kohl schon Regierungserfahrung gesammelt, aber die ihr anvertrauten Ressorts hatten keinen spezifischen Bezug zu den deutsch-französischen Angelegen- 7 Dies der Titel eines Kommentars in der Süddeutschen Zeitung vom 29.10.2009. <?page no="157"?> Das deutsch-französische Paar in der erweiterten Europäischen Union 153 heiten. Als CDU-Vorsitzende (ab 2000) und als Vorsitzende der CDU/ CSU- Bundestagsfraktion (ab 2002) hatte sie immerhin Gelegenheit, wichtigen Politikern vor allem der französischen „Schwesterpartei“ UMP, auch Sarkozy, zu begegnen. Nicolas Sarkozy hatte vor seiner Wahl zum Staatspräsidenten ebenfalls schon verschiedene Ministerressorts innegehabt, darunter so wichtige wie das Innenministerium und, allerdings nur für ein paar Monate (2004) ein „Superministerium“ für Wirtschaft, Finanzen und Industrie. In diesem Amt war er gegenüber Deutschland als harter Verfechter nationaler französischer Interessen aufgetreten (z.B. die„Affären“ Siemens-Alstom und Aventis-Sanofi-Synthélabo). Zu Deutschland hatte er keine engere Beziehung, bekundete kein besonderes Interesse und besaß, anders als de Gaulle oder Mitterrand, auch keine einschlägige historische Bildung. Für ihn wie auch für Angela Merkel besaß das deutsch-französische Verhältnis aufgrund ihres Alters und ihrer politischen Sozialisation keine emotionale Dimension, war keine „Herzensangelegenheit“ mehr (wie noch für Mitterrand und Kohl). Diese nüchternere Einstellung kann zur Folge haben, dass Konflikte, die das Verhältnis möglicherweise sogar nachhaltig stören können, eher in Kauf genommen werden. Sehr bald wurde allerdings deutlich, dass die Kanzlerin und der Präsident zwei sehr ungleiche Charaktere, sehr unterschiedliche Temperamente waren, dass ihre „Herzen nicht im Gleichtakt schlugen“. 8 Auf der einen Seite ein hyperaktiver, ungeduldiger Präsident, der impulsiv, sprunghaft-agil handelte und der Entscheidungen auch ohne die erforderliche vorherige Information oder Abstimmung traf. Vor allem hatte er die Neigung, im Mittelpunkt zu stehen, Erfolge sich allein gutzuschreiben, selbst wenn andere einen wichtigen Anteil daran hatten, eben ein pfauenhaftes Gehabe an den Tag zu legen. Sein Auftreten als eine Art Neureicher, der sich und seine Erfolge ostentativ zur Schau stellt, 9 war geeignet, den Kontrast zur Kanzlerin noch zu unterstreichen. Auf der anderen Seite eine Kanzlerin, die sich erst nach reiflicher Überlegung, oft langem Zögern entscheidet, eine ausgesprochen zurückhaltende, spröde, fast scheue, gelegentlich rätselhafte Persönlichkeit, nüchtern-gelassen, die nichts Glamourhaftes hat und die die großen Auftritte nicht liebt („sans chichis“). „Die Liste ihrer Unverträglichkeiten ist schier unendlich.“ (Pascale Hugues) Zwei derart verschieden „gestrickte“ Menschen mussten sich erst aneinander gewöhnen, mussten lernen, die Eigenarten des Anderen zu verstehen und zu akzeptieren, mit ihnen „klar zu kommen“. Das ist ihnen inzwischen auch gelungen, aber die demonstrativen Freundschaftsgesten, bei denen sich vor allem Sarkozy recht freigiebig 8 So Pascale Hugues in der Süddeutschen Zeitung vom 18.6.2010. 9 Es trug ihm die Bezeichnung „Président bling-bling“ ein, nach dem Klimpern der Goldkettchen, mit denen Rap-Musiker gern auftreten. <?page no="158"?> Adolf Kimmel 154 zeigt, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der Beziehung dieses Paares das enge persönliche Verständnis, die Herzlichkeit, ja Freundschaft fehlt, die frühere Paare ausgezeichnet haben. Es ist bei einer „Arbeitsbeziehung“ 10 geblieben, die jedoch, ungeachtet gelegentlicher Störungen, gut funktioniert. Ein schwieriger Anfang Obwohl Sarkozy noch am Tag seiner Amtseinführung die erste Auslandsreise nach Berlin antrat, „chère Angela“ besonders herzlich begrüßte und die deutsch-französische Freundschaft als „heilig“ beschwor, entwickelten sich die deutsch-französischen Beziehungen unter dem neuen Paar keineswegs so harmonisch wie man es im Allgemeinen erwartet hatte. Die Wahl Sarkozys war in den politischen Kreisen Deutschlands begrüßt worden, da man hoffte, mit ihm eher einen Ausweg aus der europäischen Sackgasse nach dem Nein im französischen Referendum zu finden. Sarkozy hatte im Wahlkampf erklärt, über einen neuen, aber nicht grundlegend veränderten Vertrag parlamentarisch abstimmen zu lassen, aber kein neues, hinsichtlich seines Ausgangs ungewisses Referendum anzuberaumen, wofür seine Gegenkandidatin Ségolène Royal plädierte. Außerdem hoffte man, namentlich in der CDU/ CSU, dass es mit ihm geringere Differenzen in der Wirtschafts- und Finanzpolitik geben würde als mit der Sozialistin Ségolène Royal. Bald beklagten jedoch französische wie deutsche Zeitungen ein Klima, das „so schlecht [ist] wie seit dem katastrophalen Gipfel in Nizza im Jahre 200 nicht mehr“; sie konstatierten eine merkliche „Spannung“ zwischen Paris und Berlin und machten sich sogar Sorgen um das deutsch-französische Verhältnis. 11 Woran lag das? Die Unterschiede der Temperamente erschwerten zwar ein problemloses Sich-Verstehen und sie führten gelegentlich zu Verstimmungen, wenn der Präsident seiner Neigung nicht widerstehen konnte, sich allein als Vater von politischen Erfolgen darzustellen und diese noch entsprechend zu inszenieren (Befreiung bulgarischer Krankenschwestern aus libyscher Haft, Zustandekommen des Lissabon-Vertrages). Seine Vorliebe zu Alleingängen hat ihm ein empfindliches Scheitern seines wichtigen europapolitischen Vorhabens, der Mittelmeerunion, beschert. Das Projekt, das man auch als einen europäisch verkleideten Versuch sehen kann, die französische Einflusssphäre in der EU auszudehnen und dadurch das Gewicht Deutschlands unter den neuen, ostmitteleuropäischen Mitgliedern auszubalancieren, war insbesondere nicht mit Deutschland abgestimmt. Zum ersten Mal sollte sogar, auf franzö- 10 Vgl. Michaela Wiegel, „Szenen einer Arbeitsbeziehung“, in: Frankfurter Allgemeine vom 24.11.2008. 11 Die Zitate aus Le Monde vom 23. 2 2008 und der Süddeutschen Zeitung vom 12. 9 2007. <?page no="159"?> Das deutsch-französische Paar in der erweiterten Europäischen Union 155 sische Initiative, eine Zusammenarbeit mehrerer Staaten in der EU ohne Deutschland organisiert werden. So ist es nicht verwunderlich, dass Sarkozys ehrgeiziges Vorhaben vor allem am Widerstand der Bundeskanzlerin scheiterte. Aus der Mittelmeerunion wurde die „Union für das Mittelmeer“, der außer den Mittelmeeranrainern alle EU-Mitgliedstaaten angehören. Aus der einseitig an französischen Interessen orientierten Initiative ist nun nur mehr eine durchaus wünschenswerte und notwendige Verbesserung des bereits 1995 initiierten Barcelona-Prozesses gworden, mit dem die EU die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zum Mittelmeerraum ausbauen und zur Stabilisierung dieser für sie wichtigen Region beitragen will. Die von Sarkozy schon im Wahlkampf geäußerte Kritik am seiner Meinung nach zu starken Euro und an der Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank (EZB) nahm er wieder auf und versuchte, den Europäischen Stabilitätspakt aufzuweichen. Auch damit traf er auf entschiedenen Widerstand Deutschlands. Auf der bilateralen Ebene zeigte die Auseinandersetzung um den EADS-Konzern (zu dem Airbus gehört), dass sich Sarkozy auch als Staatspräsident als besonders energischer, hartnäckiger Anwalt nationaler französischer Interessen verstand, der das Gleichgewicht zwischen Frankreich und Deutschland auf den Entscheidungsebenen aushebeln wollte. Freilich musste er auch in dieser Frage die Erfahrung machen, dass die Kanzlerin ebenso hartnäckig und letztlich erfolgreich Widerstand leistete. Ausschlaggebend war aber das der Europa- und Deutschlandpolitik Sarkozys in der ersten Phase seiner Amtszeit zugrunde liegende Bestreben, die deutsch-französische Sonderbeziehung herabzustufen, zu relativieren. So fällt auf, dass er sich in seiner kurzen Rede am Wahlabend (6. Mai 2007) in „Aufrufen“ an „unsere europäischen Partner“, „unsere amerikanischen Freunde“, an „alle Völker des Mittelmeeres“ und an „alle Afrikaner“ wendet, das besondere deutsch-französische Verhältnis aber mit keinem Wort erwähnt. Die Lektüre seines 2006 erschienen Buches Témoignage lässt erkennen, dass er ihm tatsächlich nicht den gleichen Stellenwert beimisst, den es in der Vergangenheit für die Politik beider Staaten gehabt hat. Er hielt es für „ausgehöhlt“. 12 Er erinnert daran, dass er bereits 2002 vorgeschlagen hatte, in der EU sollte eine Gruppe der größten Mitgliedstaaten - neben Frankreich und Deutschland Großbritannien, Italien, Spanien, Polen - besonders eng zusammenarbeiten und vorangehen. 13 Das deutsch-französische Paar habe der Europäischen Integration zwar lange Zeit Impulse gegeben, sei aber nun zu träge („immobile“) geworden. Ein anderes Mal hatte er geäußert, dass für 12 Das berichtet zumindest die Dramatikerin Yasmina Reza, die Sarkozy im Wahlkampf ein Jahr begleitet hat, in ihrem Buch: Frühmorgens, abends oder nachts, München, Carl Hanser Verlag, 2008, 46. Für sein zwiespältiges Verhältnis zu Deutschland auch folgende Passage (97): „Ich sage, du fühlst dich in Sevilla besser als in Oslo. Berlin! , korrigiert er, Berlin! Berlin, das ist der Horror für mich! Und Frankfurt auch! “ 13 Nicolas Sarkozy, Témoignage, Paris, XO Editions, 2006, 70sq. <?page no="160"?> Adolf Kimmel 156 die größer gewordene EU ein Zweitakter nicht mehr genüge; sie brauche einen Sechs-Zylinder-Motor. Er machte nicht nur aus seiner Bewunderung der USA keinen Hehl - besonders deutlich in seiner Rede vor dem US-Kongress am 7. November 2007 -, sondern gab auch zu erkennen, dass in der EU die französisch-britischen Beziehungen genau so wichtig sein sollten wie die deutsch-französischen. 14 Bei einem Staatsbesuch in Großbritannien im März 2008 erklärte er, die alte Entente cordiale müsse zu einer Entente amicale weiterentwickelt werden. Allerdings darf man das Bild auch nicht zu schwarz malen. Das neue deutsch-französische Paar befand sich keineswegs im Zustand eines tiefgreifenden Zerwürfnisses oder stand gar vor einer Scheidung. Zum einen zeigte Sarkozy durchaus Kompromissbereitschaft, wenn sich Angela Merkel unnachgiebig zeigte. Eine ernste Krise im deutsch-französischen Verhältnis wollte er offenbar doch nicht riskieren. Zum anderen gibt es bereits in diesen ersten Monaten seiner Amtszeit mehrfach eine gute und erfolgreiche Zusammenarbeit mit der Bundeskanzlerin. So trug ihr gemeinsames Vorgehen in entscheidender Weise dazu bei, dass auf dem Europäischen Rat in Brüssel vom 21. bis 23. Juni 2007 - noch unter deutscher Präsidentschaft - eine Einigung über den künftigen Vertrag von Lissabon zustande kam. Sein gewohnt egozentrisches Auftreten darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Sarkozy maßgeblich mitgeholfen hat, die EU aus der Krise herauszuführen. Auch auf dem G 8-Gipfel in Heiligendamm vom 6. bis 8. Juni 2007, ebenfalls unter deutscher Präsidentschaft, zogen der Staatspräsident und die Kanzlerin an einem Strang. Sie übten gemeinsam Druck auf den amerikanischen Präsidenten George W. Bush aus, bei den Verhandlungen über einen besseren Klimaschutz nachzugeben und einer Vereinbarung zuzustimmen, die entschiedener als er ursprünglich wollte, formuliert war, auch wenn sie immer noch recht unverbindlich ausgefallen ist. Schließlich bezogen sie auch in der NATO- und der Georgienfrage eine gemeinsame Position. Sie widersetzten sich erfolgreich dem amerikanischen Ansinnen, auf dem NATO-Gipfel in Bukarest vom 2. bis 4. April 2008 Georgien und die Ukraine schon in absehbarer Zeit in die NATO aufzunehmen. Auch bei der Beendigung des Krieges zwischen Russland und Georgien im September/ Oktober 2008 spielte Sarkozy als EU-Ratspräsident, unterstützt von der Bundeskanzlerin, eine wichtige und positive Rolle. Die bilateralen Beziehungen hellten sich ebenfalls auf, als beim deutschfranzösischen Gipfeltreffen in Straubing am 9. Juni 2008 eine Verständigung über die Reduzierung des CO 2 -Ausstoßes von Pkws erzielt wurde. 14 Yasmina Reza überliefert folgende Äußerung von ihm: „Also, keine indiskreten Ohren? Tony [Blair] und ich, wir haben etwas beschlossen, wir werden Europa erobern! “ Op.cit., 81. <?page no="161"?> Das deutsch-französische Paar in der erweiterten Europäischen Union 157 Liebe auf den zweiten Blick? Insofern ist die Liebeserklärung Sarkozys an Angela Merkel anlässlich der Verleihung des Karlspreises nicht als diplomatische Pflichtübung zu verstehen, sondern - mit dem üblichen Sarkozy-Überschwang - durchaus aufrichtig gemeint. Nach einem Jahr Amtszeit hat er sich nicht nur an seine Partnerin mit ihrer so ganz anderen Persönlichkeit gewöhnt, sondern offenbar auch einen politischen Lernprozess absolviert. Er hat begriffen, dass ohne ein einigermaßen gut zusammenarbeitendes deutsch-französisches Paar nicht nur keine Fortschritte bei der Europäischen Integration zu erreichen sind, sondern dass auch die französischen Interessen in der EU schwerer oder gar nicht durchzusetzen sind. Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat diese Einsicht bestätigt und den Lernprozess weiter geführt, vielleicht zu einem Abschluss gebracht. Mochte seine Sympathie auch den Briten (und vor allem den Amerikanern) gehören, so wurde Sarkozy doch klar, dass ein engeres Zusammengehen mit Großbritannien in der EU wegen allzu großer unterschiedlicher Auffassungen in wichtigen Fragen nicht möglich ist. Die Aussicht auf eine möglicherweise konservative, euroskeptischere britische Regierung nach den Unterhauswahlen im Frühjahr 2010 dürfte die eventuell noch bestehende schwache Hoffnung auf französisch-britische Gemeinsamkeiten in der Europapolitik zum Verschwinden gebracht haben. Dagegen kam es nach einer anfänglich unterschiedlichen Reaktion auf die Krise 15 zu weitgehend parallelen Beurteilungen und Maßnahmen zwischen Frankreich und Deutschland. Auch die Bundesregierung der Großen Koalition war nun bereit, Stützungsmaßnahmen für die angeschlagenen Banken zu beschließen und Konjunkturpakete in beträchtlichem Umfang zu schnüren, um die Auswirkungen der Krise, insbesondere auf den Arbeitsmarkt abzumildern. Vor allem waren sich Merkel und Sarkozy im Unterschied zu den USA und Großbritannien einig, dass die Finanzmärkte stärker staatlich kontrolliert werden mussten, um ähnliche Entwicklungen für die Zukunft zu vermeiden. Diese Übereinstimmung ermöglichte ein gemeinsames Auftreten auf dem G 20-Gipfel in Pittsburgh am 24. und 25. September 2009 und die Durchsetzung einiger ihrer Forderungen (z.B. hinsichtlich der Boni). Die französische wie die deutsche Presse sind ein Echo dieser wiederbelebten Entente élémentaire. 16 Die Gedenktage des 9. und des 11. November boten reichlich Gelegenheit sie zu feiern. Bereits der Ausgang der Bundes- 15 Auf einer Pressekonferenz am 24.11.2008 erklärte Sarkozy mit einem gewissen Sarkasmus: „Frankreich handelt, Deutschland denkt noch nach.“ 16 Eine Auswahl von Überschriften: Sarkozy plaide pour une association plus étroite avec l’Allemagne (Le Monde 11.11.2009); Sarkozy-Merkel, la nouvelle entente (Le Figaro 11.11.2009), Triumph der Freundschaft (Süddeutsche Zeitung 12.11.2009). <?page no="162"?> Adolf Kimmel 158 tagswahl und die Bildung der Regierungskoalition zwischen der CDU/ CSU und der FDP hatten den französischen Präsidenten außerordentlich erfreut. Noch am Tag ihrer (zweiten) Wahl zur Kanzlerin am 28. Oktober 2009 reiste Angela Merkel nach Paris zu einem ausgesprochen freundschaftlichen Treffen mit cher Nicolas. Der Präsident äußerte sich sehr zufrieden über die Vorhaben der Bundesregierung, das Wachstum durch Steuersenkungen anzukurbeln und dabei auch die Verletzung der Defizitgrenze des Stabilitätspaktes in Kauf zu nehmen. Diese Entscheidung sei, so Sarkozy, gut für Europa und geeignet, die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich noch zu vertiefen. (Schließlich lag sie auf der Linie der französischen Politik.) Die französische Presse hob hervor, dass Peer Steinbrück, „la bête noir de M. Sarkozy“, im wichtigen Finanzministerium durch den überzeugten Europäer Wolfgang Schäuble ersetzt würde. Unausgesprochen blieb allerdings, dass die seit langem bestehenden Differenzen hinsichtlich der Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank (EZB), ihrer Zinspolitik und der nationalen Haushaltsdisziplin weiterbestanden. Nach deutscher Auffassung durfte auch die Krise allenfalls zu einer vorübergehenden Überschreitung der 3%-Marke führen, aber nicht dazu, den Pakt grundsätzlich nicht mehr als verbindlich anzusehen. Die in das Grundgesetz eingefügte Schuldenbremse zwingt bekanntlich die Bundesregierung dazu, ab 2011 durch eine rigorose Sparpolitik das Haushaltsdefizit zu reduzieren. Für die französische Politik hat dagegen, trotz eines deutlich höheren Defizit (für 2009 8% gegenüber 3,3% für Deutschland) die Haushaltskonsolidierung keineswegs Priorität. Neu-alter Dissens ist also programmiert. Große Gesten sollen aus französischer Sicht den neuen deutsch-französischen Frühling als besonders schön blühend erscheinen lassen (und die lästigen Differenzen über diese oder jene Frage überdecken). Der französische Präsident nahm an den Feiern zum 20. Jahrestags des Falls der Mauer in Berlin teil und die Kanzlerin war als erste deutsche Regierungschefin am 11. November am Triumphbogen in Paris anwesend, als in einer feierlichen Zeremonie an das Ende des Ersten Weltkrieges, für Frankreich immer noch „la Grande Guerre“, gedacht wurde. Auch der französische Vorschlag, in die französische und in die Bundesregierung einen Minister aus dem Partnerland zu entsenden, ist vor allem als Symbolpolitik zu verstehen. Die Bundeskanzlerin, der derartige große, aber politisch wenig gehaltvolle Gesten ohnehin fremd sind, hat auf diese Initiative ziemlich kühl reagiert und sie mit Verweis auf verfassungsrechtliche Probleme abgelehnt. Konkrete Fortschritte, selbst bescheidene sind ihr offenbar lieber. Der zwölfte deutsch-französische Ministerrat, der am 4. Februar 2010 in Paris tagte, hat eine Agenda 2020 verabschiedet, die 80 Einzelprojekte auf nahezu allen Politikfeldern umfasst, vom Klimaschutz, von Bildung und Forschung bis zur Regulierung der Finanzmärkte und zur Außen- und Ver- <?page no="163"?> Das deutsch-französische Paar in der erweiterten Europäischen Union 159 teidigungspolitik. Auch wenn der ehrgeizigen Agenda so etwas wie ein Leuchtturmprojekt fehlt, ist sie geeignet, die bilateralen Beziehungen auszubauen und zu vertiefen - vorausgesetzt, es bleibt nicht bei guten Vorsätzen, sondern die Vorhaben werden umgesetzt. Vor allem könnten Frankreich und Deutschland damit wieder eine Vorreiterrolle für die EU übernehmen. Mit dem Fremdeln zwischen dem deutsch-französischen Paar ist es offenbar vorbei. Ob die deutsch-französischen Beziehungen tatsächlich neuen Schwung oder gar eine neue Qualität erhalten, wird die nahe Zukunft zeigen. Zwei Punkte sind besonders bemerkenswert: Sarkozy erklärte, Frankreich werde keine internationale Initiative ergreifen, ohne sie vorher mit Deutschland abgesprochen zu haben. Aus der schmerzlichen Erfahrung mit seiner Mittelmeerunion hat er offenbar die Lehre gezogen. Noch überraschender ist, dass die Kanzlerin das Wort Wirtschaftsregierung in den Mund nahm, und zwar nicht, um sie, wie bisher, strikt abzulehnen, sondern den Europäischen Rat als „eine wirkliche Wirtschaftsregierung“ zu bezeichnen. 17 Dabei handelt es sich nicht um einen Ausrutscher, denn wenige Tage später (am 10.3.2010) erklärte sie anlässlich des Treffens mit Premierminister François Fillon in Berlin auf einer Pressekonferenz, „dass eine wirkliche Wirtschaftsgemeinschaft geschaffen werden soll… Die Wirtschaftsregierung, so wie wir sie verstehen, ist praktisch die Beschäftigung der Staats- und Regierungschefs mit wirtschaftspolitischen Themen.“ Allerdings versäumte sie es nicht zu betonen, „dass der Stabilitätspakt voll und ganz eingehalten und die Unabhängigkeit der EZB sichergestellt werden soll“. 18 Der französische Premierminister stimmte ihr zwar zu, aber es waren genau diese beiden Elemente der Wirtschafts- und Währungsunion, die die Bundesregierung bisher durch die von Frankreich immer wieder geforderte Wirtschaftsregierung gefährdet sah. Die Ursache dieser „Bekehrung“ ist in der griechischen Krise zu sehen, die die Notwendigkeit einer stärkeren Koordinierung der Wirtschaftspolitik der EU-Mitgliedstaaten auch den bisher widerstrebenden Deutschen einsichtig gemacht hat. 19 Allerdings heißt das nicht, dass sich in dieser Frage nun plötzlich deutsch-französische Einigkeit eingestellt hätte. Der Begriff ist ungeklärt und zwischen der deutschen und der französischen Vorstellung darüber, wie eine Wirtschaftsregierung aussehen und welche Kompetenzen sie haben soll, wie weit sie in die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten eingreifen darf, sind nach wie vor tiefgreifende Unterschiede unübersehbar. Nach Auffassung der Bundeskanzlerin, die damit die in Deutschland vermutlich vorherrschende Meinung wiedergibt, sind offenbar die Gespräche im Europäi- 17 Pressekonferenz Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Sarkozy am 4.2.2010, auf dem Regierungsportal: www.bundesregierung.de. 18 Gleiche Internetquelle. 19 Vgl. auch eine entsprechende Äußerung von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble in einem Interview in: Die Zeit vom 31.3.2010. <?page no="164"?> Adolf Kimmel 160 schen Rat der Staats- und Regierungschefs über wirtschaftspolitische Fragen sowie die Einhaltung des Stabilitätspaktes für die Mitglieder der Eurozone ausreichend. Sicher nicht zufällig verwendet sie lieber den ungenaueren Begriff gouvernance économique. Sarkozy dagegen - und er spricht vermutlich ebenso für die Mehrheit der Franzosen und der französischen Politiker - will die Wirtschaftsregierung auf die Länder der Eurozone beschränken. Vor allem will er dafür ein eigenes Sekretariat einrichten, das für ein echtes gouvernement économique (und darum geht es ihm) unentbehrlich ist. Die Wirtschaftsregierung soll über mehr oder weniger verbindliche Empfehlungen hinausgehen und eine echte Steuerungsfunktion übernehmen, um die Wirtschaftspolitik der Euroländer stärker zu harmonisieren. 20 Auf dem Brüsseler EU-Gipfel vom 17. Juni 2010 wurde ein Kompromiss erzielt, der allerdings klar die deutsche Handschrift trägt. Es gibt kein neues Gremium und an der stärkeren „Koordinierung unserer Wirtschaftspolitiken“ sind grundsätzlich alle 27 Mitglieder beteiligt. Auf den Kreis der Euroländer ist die „Wirtschaftsregierung“ nur eingeschränkt, wenn es um nur sie betreffende Fragen geht. Wie die „wirtschaftspolitische Steuerung“ konkret aussehen soll, wird erst der Abschlussbericht einer dafür eingesetzten Arbeitsgruppe im Oktober vorlegen. Da Sarkozy auch auf eine Wiederholung seiner vorher geäußerten Bedenken gegen die deutsche Sparpolitik verzichtet hat, kann in der Tat der Eindruck entstehen, die EU sei „deutscher“ geworden. 21 Kein Wunder, dass in der französischen Presse vom Europe germanique die Rede ist. Unsolidarisches Deutschland? In einem Interview in der Financial Times vom 15. März 2010 kritisierte die französische Wirtschafts- und Finanzministerin Christine Lagarde die vor allem durch die im europäischen Vergleich niedrigen Lohnstückkosten erzielten hohen Exportüberschüsse Deutschlands. Es erreiche sein Wirtschaftswachstum und seinen Wohlstand zumindest teilweise auf Kosten anderer EU-Staaten, bringe die wirtschaftlich schwachen Mitgliedstaaten in Schwierigkeiten und fördere allgemein wirtschaftliche Ungleichheiten in der Gemeinschaft. Sie forderte, Deutschland müsse die Binnennachfrage beleben, um dadurch die Exporte und allgemein die wirtschaftliche Lage defizitärer Länder der Union zu unterstützen. Zwar könne man von Deutschland 20 In diesem Sinn Christine Lagarde nach einem Bericht der Süddeutschen Zeitung vom 14.6.2010: „Paris drängt auf Wirtschaftsregierung“. 21 Vgl. die Analyse von Claire Demesmay in der Süddeutschen Zeitung vom 17.6.2010: „Frankreich-Deutschland: 2: 0“. Die Verfasserin leitet das Frankreich-Programm bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Die Zitate im Text sind den „Schlussfolgerungen“ des Europäischen Rats in Brüssel entnommen. <?page no="165"?> Das deutsch-französische Paar in der erweiterten Europäischen Union 161 nicht verlangen, gewissermaßen als Lokomotive die anderen 26 Wagen des EU-Zuges allein zu schleppen, aber „es muss einen Sinn für das Schicksal geben, das wir mit unseren Partnern gemeinsam haben“. Es soll hier nicht die durch das Interview ausgelöste wirtschaftliche Debatte analysiert werden, sondern die zugrundeliegende politische Problematik, die unüberhörbar angesprochen wird. Der deutschen Politik, insbesondere der Bundeskanzlerin, wird ein unsolidarisches, unkooperatives Verhalten angekreidet. Der „deutsche Egoismus“ habe die Eurozone in Schwierigkeiten gebracht. 22 In der griechischen Krise ist das Problem in verschärfter Form ebenfalls zutage getreten. Die harte Haltung Angela Merkels bezüglich einer Finanzhilfe der EU wurde als eine unsolidarische, zu einseitig an nationalen Interessen ausgerichtete Politik verstanden und kritisiert. Während in der Debatte in der deutschen Öffentlichkeit die Zustimmung darüber, dass die neue Eiserne Lady den Steuerzahler vor weiteren Belastungen verschonte, überwog, galt sie in Frankreich (und auch in anderen EU-Staaten) als „Madame Non“, als „Mère Fouettard“, die die ungehörigen Kinder nicht nur verwarnt, sondern auch züchtigen will. 23 Europa sei für sie kein großes, kein vorrangiges Ziel deutscher Politik, schon gar keine Vision mehr, für die gegebenenfalls auch gewisse nationale Opfer gebracht werden müssten, sondern nur noch ein buchhalterisches Kosten-Nutzen- Problem. 24 Auch ein Europapolitiker wie der luxemburgische Regierungschef Jean-Claude Juncker macht sich Sorgen, dass es in Deutschland „zu großes Zögern gibt, wenn es um Europa geht.“ Sicher denkt er an Angela Merkel, wenn er fortfährt, dass er sich sorge, „dass man zuerst einen innenpolitischen Blick auf europäische Themen wirft anstatt einen europäischen Blick auf innenpolitische Zustände.“ 25 Diese gänzlich pragmatisch-utilitaristische Einstellung gilt als charakteristisch für eine neue Generation von „Vernunfteuropäern“ (auch Gerhard Schröder gehörte schon dazu), für die - anders als noch für Helmut Kohl - die deutsch-französischen und damit europäischen Konflikte ferne Vergangenheit und nicht mehr für ihre politischen Entscheidungen prägend sind. Bei aller Verschiedenheit verband Kohl und Mitterrand „eine gemeinsame und tiefgehende Erfahrung, die Angela Merkel und Nicolas Sarkozy fehlt: Sie hatten beide den Krieg erlebt.“ Merkel und Sarkozy haben andererseits den Nachbarn auch nicht im Schüleraustausch oder als Erasmus-Studenten kennengelernt. „Merkel hat Frankreich nach dem Mauerfall entdeckt, 22 So der Leitartikel von Le Monde vom 17.4.2010. 23 Die bekannteste, aber relativ isolierte Zustimmung in der deutsche Debatte stammt von Joschka Fischer, „Mrs. Europa ist jetzt Frau Germania“, in: Süddeutsche Zeitung vom 29.3.2010. 24 So insbesondere Marion Van Renterghem, „Angela Merkel, la chancelière comptable de l’Europe“, in: Le Monde vom 1.4.2010. 25 So in seinem Interview in der Financial Times Deutschland vom 14.4.2010. <?page no="166"?> Adolf Kimmel 162 für Sarkozy war Deutschland terra incognita. Beide haben Europa nicht wirklich gelebt. 26 Noch beunruhigender ist, dass auch eine zunehmende Distanz der deutschen Bevölkerung zur europäischen Einigung zu konstatieren ist. Während die Deutschen traditionell zu den europafreundlichsten Nationen gehörten, ist die Zustimmung zur EU seit der Wiedervereinigung gesunken, wenn auch nicht dramatisch. Die Eurobarometer-Werte liegen (leicht) unter dem EU-Durchschnitt und eine neuerliche Erweiterung wird von einer deutlichen Mehrheit abgelehnt. 27 Diesem wachsenden „sanften“ Euroskeptizismus kann nicht erfolgreich entgegengetreten werden, wenn die politisch Verantwortlichen undifferenzierte Kritik an „Brüssel“ üben oder den Eindruck erwecken, sie stimmten der mehr als fragwürdigen Stammtischparole vom „Zahlmeister Europas“ zu, anstatt nachdrücklich auf die Vorteile hinzuweisen, die der Binnenmarkt dem Exportland Deutschland bringt. Vor allem müssen die deutschen Politiker die Problematik, die die Stellung Deutschlands als „Zentralmacht Europas“ (Hans-Peter Schwarz) aufwirft, ernster nehmen, müssen sich an die Warnung des ehemaligen Bundeskanzlers Kurt Georg Kiesinger erinnern, ein eventuell wiedervereinigtes Deutschland habe für Europa „eine kritische Größenordnung“. Die schiere Größe, die geographische Lage und insbesondere die wirtschaftliche Stärke machen Deutschland zu einem „Semi-Hegemon“. 28 Es kann aufgrund dieser Position seine Interessen wirksamer durchsetzen und es weckt dadurch unter den anderen EU-Mitgliedstaaten die durch die Erinnerung an die Vergangenheit verständlichen Befürchtungen vor einer deutschen Dominanz. Derartige Befürchtungen sind am besten dadurch zu zerstreuen, dass die deutsche Politik sich in besonderem Maße bemüht, die natürlich auch unter den EU-Mitgliedern bestehenden und legitimen nationalen Interessen zu europäisieren. Europäische und nationale Interessen dürfen nicht einander entgegengestellt werden. Schon gar nicht darf sich die deutsche Politik als neues Motto geben: „Wir sind nicht in erster Linie für Europa da, sondern für das deutsche Volk.“ 29 Wenn der frühere EU-Kommissar Jacques Delors von einem „schleichenden Nationalismus“ spricht, denkt er vermutlich auch an Deutschland. 30 Ein Verweis auf andere nationale Egoismen zur Rechtfertigung des eigenen entsprechenden Ver- 26 Pascale Hugues, Anm.8. 27 Vgl. dazu Siegfried Schieder, „Germany: Problematising Europe, or evidence of an emergent Euroscepticism? , in: Robert Harmsen/ Joachim Schild (Hg.): National European Debates and the European Parliament Elections 2009, Baden-Baden, Nomos, 2010 (im Druck). Dort die entsprechenden Tabellen aus dem Eurobarometer. 28 Vgl. den Artikel der französischen Deutschland-Spezialisten Anne-Marie Le Gloannec, „Ein halber Hegemon“, in: Die Zeit vom 31.3.2010. 29 So Nikolaus Busse, „Merkels neue Spielregeln für Europa“, in: Frankfurter Allgemeine vom 23.3.2010. 30 In Le Monde vom 17.4.2010. <?page no="167"?> Das deutsch-französische Paar in der erweiterten Europäischen Union 163 haltens ist deshalb nicht angebracht, weil eben die EU Orwells Farm der Tiere ähnelt: Im Prinzip, d.h. rechtlich sind zwar alle gleich, aber faktisch ist Deutschland „gleicher als die anderen“. Die deutsche Politik muss nicht nur im Interesse Europas, sondern im eigenen Interesse den europäischen Einigungsprozess als ihre entscheidende Orientierung beibehalten. Die europäischen Partner, auch und insbesondere der engste, Frankreich, haben den Eindruck, dass sich die europäische Orientierung der deutschen Politik abschwächt, dass die Bundesregierung und nicht zuletzt die Kanzlerin selbst in letzter Zeit einseitig nationale Interessen in den Vordergrund stellen. Sarkozy sei, so die „Frankfurter Allgemeine“, „der erste französische Präsident, der mit einer Bundeskanzlerin auskommen muss, die von der Idee einer verstärkten Zusammenarbeit als Antrieb für die europäische Integration abgerückt ist.“ 31 Eine Reihe von Entscheidungen - vom Zögern Angela Merkels in der Griechenland-Krise, dem Verbot von Leerverkäufen bis zum Sparpaket - werden als egoistische Alleingänge empfunden, die nicht ausreichend Rücksicht auf europäische Interessen nehmen. Die europäischen Partner fühlen sich unter Druck gesetzt oder gar überfahren. Was von den Politikern nur hinter vorgehaltener Hand, aber ziemlich beunruhigt und verstimmt geflüstert wird, sprechen die französischen Medien öffentlich aus: Das starke Deutschland will Europa sein Wirtschaftsmodell aufzwingen. Das deutsche Sparpaket wurde sogar mit einer neuen Emser Depesche verglichen! 32 Deutsch-Französische Führung in der erweiterten EU? „Die Kraft der Versöhnung befähigt uns, neue Herausforderungen gemeinsam anzugehen und Verantwortung gemeinsam wahrzunehmen… Aus der Kraft der Versöhnung wurde Freundschaft…Die deutsch-französische Freundschaft findet ihr Ziel in Europa.“ Mit diesen Sätzen aus ihrer Rede zum Gedenktag des Waffenstillstands von 1918 in Paris bringt die Bundeskanzlerin eine allgemein akzeptierte Auffassung zum Ausdruck: Nachdem nach dem Zweiten Weltkrieg die Aussöhnung der ehemaligen „Erbfeinde“ in relativ kurzer Zeit gelungen ist, ist es die Aufgabe der von den kriegerischen Konflikten zwischen den „Nachbarn am Rhein“ nicht mehr direkt geprägten Generationen, der deutsch-französischen Entente ein neues Ziel zu setzen, nämlich beim Auf- und Ausbau des sich einenden Europa tatkräftig mitzuhelfen. Dieses Ziel war im Übrigen schon in der Gemeinsamen Erklärung des Staatspräsidenten (Charles de Gaulle) und des Bundeskanz- 31 Michaela Wiegel, „Die Pein des langen Wartens“, in: Frankfurter Allgemeine vom 26.6.2010 (Leitartikel). 32 So Yves de Kerdrel in Le Figaro vom 14.6.2010 unter dem Titel: „Angela Merkel „über alles““. <?page no="168"?> Adolf Kimmel 164 lers (Konrad Adenauer) anlässlich der Unterzeichnung des Elysée-Vertrages ausdrücklich formuliert worden. Die Geschichte der Europäischen Integration zeigt, dass Fortschritte eine deutsch-französische Verständigung voraussetzen. Stottert der deutschfranzösische Motor, fehlt die gegenseitige Abstimmung oder kommt es gar zu Rivalitäten der beiden Schlüsselstaaten der EU um die Führung (wie etwa auf dem Europagipfel von Nizza im Dezember 2000), so geht es mit dem Aufbau Europas nicht voran. In der Vergangenheit gab es mehrfach wichtige Fragen, über die unterschiedliche Auffassungen zwischen Frankreich und Deutschland bestanden und über die es auch zum Streit kam: das Verhältnis Europas zu den USA und zur NATO, die Erweiterungen, die künftige Struktur und Funktionsweise der EG (supranational oder intergouvernemental). Diese großen Streitpunkte sind weitestgehend beigelegt, selbst wenn es zu dieser oder jene Einzelfrage immer wieder zu Meinungsverschiedenheiten kommen kann. Aus den obigen Ausführungen geht hervor, dass - wie schon für ihre Vorgänger - auch für Angela Merkel und Nicolas Sarkozy die Europapolitik neben den bilateralen Fragen eine mindestens genauso wichtige Rolle spielt. Dazu kommt es unvermeidlicherweise schon deshalb, weil die Fortschritte der Europäischen Integration und die damit einhergehende immer engere Verflechtung der nationalen und der europäischen Politik dazu geführt haben, dass unterschiedliche Einstellungen zu politischen und wirtschaftlichen Problemen, die vorher auf die nationale Ebene begrenzt waren, sich nun zunehmend auch auf der europäischen Ebene bemerkbar machen. Die wichtigste Differenz ist mit der Währungsunion aufgetreten. Die zögernde Bundesrepublik hat der Währungsunion und dem Euro nicht zuletzt deshalb zugestimmt, weil die EZB nach dem Modell der Bundesbank eingerichtet wurde: Sie musste von politischen Wünschen und Entscheidungen unabhängig und vorrangig der Geldwertstabilität verpflichtet sein. Aus seinem Verständnis des Verhältnisses zwischen Politik und Wirtschaft, das in der nationalen Tradition des Colbertismus begründet ist, erhebt Frankreich immer wieder, auch Sarkozy, die Forderung, der EZB eine Wirtschaftsregierung an die Seite zu stellen, die unvermeidlich - aus französischer Sicht beabsichtigt - die Unabhängigkeit der EZB einschränken, letztlich wohl aufheben würde. Damit im Zusammenhang ist die ebenfalls häufiger, auch von Sarkozy, vorgebrachte Forderung zu sehen, die EZB solle sich nicht einseitig an der Stabilität des Euro orientieren und dadurch die Exporte der Staaten der Eurozone verteuern und damit gefährden, sondern solle, wenn es die Lage erfordert, das Wirtschaftswachstum durch eine entsprechende Zinspolitik fördern und auch die Defizitgrenze des Stabilitätspaktes flexibler handhaben. Es liegt auf der Hand, dass derartige Differenzen zwischen Frankreich und Deutschland, die auch in der zitierten Kritik Christine La- <?page no="169"?> Das deutsch-französische Paar in der erweiterten Europäischen Union 165 gardes zum Ausdruck kommt, die Wahrnehmung einer gemeinsamen Führung in der EU erheblich erschweren. Aber, so die häufig gestellte und meist verneinend beantwortete Frage: Soll und kann das deutsch-französische Paar überhaupt noch eine Führungsrolle in einer EU mit 27 Mitgliedstaaten übernehmen? 33 Ist der Zweitakt-Motor dafür noch stark genug oder bedarf es dazu, wie Sarkozy einmal gefordert hat, eines Sechszylinders? Eine Gemeinschaft von 27 Staaten bedarf sicher in stärkerem Maße einer Führung als eine Sechser-Gemeinschaft (oder eine Gemeinschaft mit neun oder zwölf Mitgliedern). Trotz einer relativen Schwächung sind die beiden Gründerstaaten Frankreich und Deutschland nach wie vor die stärksten Wirtschaftsmächte in der EU (sie erbringen 48% des BIP der Eurozone und kommen für 36% des EU-Budgets auf) und es ist kaum strittig, dass sie zur Führungsgruppe gehören müssen. Sollen, müssen noch andere Mitgliedsstaaten dazugehören? Der erste Kandidat wäre Großbritannien, das aber diese Rolle nicht wahrnehmen kann, so lange es in seiner Bevölkerung und seiner politischen Klasse ein so großes Maß an Euroskeptizismus gibt. Mögliche andere Kandidaten - Italien, Spanien, Polen - kommen aufgrund ihres geringen politischen und wirtschaftlichen Gewichts dafür nicht in Frage. Zudem muss man damit rechnen, dass bei Hinzuziehung nur eines dieser Staaten die anderen den gleichen Anspruch erheben und man dann rasch bei einem für eine effiziente Führung zu großem und zu heterogenem Gremium wäre. Allerdings müssen Frankreich und Deutschland bedenken, dass die Führungsrolle in der erweiterten EU nicht in gleicher Weise wahrgenommen werden kann wie im Europa der Sechs, der Neun oder selbst der Zwölf. Sie erfordert ein höheres Maß an Rücksichtnahme, an Koordination, an diplomatischem Bemühen und Geschick. Wie schon bisher, darf das „Paar“ bei den anderen Mitgliedstaaten nicht den Eindruck entstehen lassen, die beiden Führungsstaaten arbeiteten sozusagen auf eigene Rechnung, versuchten, eigene nationale Interessen, europäisch verkleidet, zur Geltung zu bringen. Die Wahrnehmung einer Führungsrolle setzt geradezu voraus, dass nationale Interessen zwar nicht aufgegeben, dass sie aber gesamteuropäisch „aufgehoben“ werden müssen, dass nicht versucht wird, sie einseitig, gestützt auf die eigene Stärke, durchzusetzen. Beide Staaten sind vor dieser Versuchung nicht gefeit. Sie müssen noch überzeugender als bisher europäische Rücksichtnahme in ihre nationale Politik hineinnehmen, 34 müssen bereit sein, dafür bei ihren nationalen Interessen auch Abstriche zu machen. 33 Diese Frage wird systematisch erörtert von Joachim Schild, „Mission impossible? The Potential for Franco-German Leadership in the Enlargend EU“, in: Journal of Common Market Studies, vol. 48 (2010), n° 5, 1367-1390. 34 So kann man durchaus die Frage stellen, ob die Einfügung einer Schuldenbremse in das Grundgesetz nicht eine stärkere wirtschaftliche Koordinierung auf EU-Ebene erschwert. <?page no="170"?> Adolf Kimmel 166 Vor allem dürfen Frankreich und Deutschland auf keinen Fall Befürchtungen hervorrufen, namentlich bei den „Kleinen“, die beiden Großen wollten so etwas wie eine Dominanz, ein immer wieder beschworenes Direktorium errichten. Mit diesen Vorbehalten sollten Frankreich und Deutschland sich nicht scheuen, im europäischen Interesse eine gemeinsame Führung wahrzunehmen, Initiativen zu ergreifen, Impulse zu geben, Ziele zu setzen. Auf dem deutsch-französischen Ministerrat vom 4. Februar 2010 wurde diese Absicht, dieser Anspruch wieder betont. 35 Freilich setzt der Führungsanspruch voraus, dass sich Frankreich und Deutschland zumindest über die wichtigsten, in der EU zu treffenden Entscheidungen einigen können. Die Meinungsverschiedenheiten, Missverständnisse und Zwischenfälle der jüngsten Zeit zeigen, dass sie davon momentan ziemlich weit entfernt sind. Der frühere Außenminister Roland Dumas (von 1984 bis 1986 und von 1988 bis 1993) erinnert daran, dass es zwischen ihm und Hans Dietrich Genscher häufige, wöchentliche Kontakte gegeben hat, dass es auch zwischen ihren Beratern zu regelmäßigen, außerhalb der formalen Rahmen stattfindenden Gesprächen gekommen war. Durch diese konstante Abstimmung und Zusammenarbeit habe sich ein gegenseitiges Verständnis entwickelt, das Entscheidungen „im Geist eines Kompromisses“ ermöglichte. Es sei nun vordringlich, die deutsch-französische Flamme wieder anzufachen (so der Titel des Artikels), das gegenseitige Vertrauen zwischen dem deutsch-französischen Paar, die deutsch-französische „Intimität“ auf allen Ebenen wieder herzustellen. 36 Das deutsch-französische Paar ist zwar nicht die ganze EU, aber ohne seine Zusammenarbeit und ohne seine abgestimmten Initiativen droht der EU Stillstand; die Gemeinschaft wäre „blockiert“. 37 In dieser verantwortungsvollen Rolle findet die deutsch-französische Sonderbeziehung ihre neue Bestimmung. 35 Dass Sarkozy auf der Pressekonferenz mehrfach den in Deutschland verpönten Begriff „deutsch-französische Achse“ benutzt hat, ist allerdings geeignet, Missverständnisse und Befürchtungen hervorzurufen. 36 Roland Dumas/ Antoine Boulay/ Mathieu Collet, „Il faut ranimer la flamme francoallemande“, in: Le Monde vom 11.6.2010. 37 So der EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy in: Frankfurter Allgemeine vom 9.4.2010. <?page no="171"?> Roland Höhne Die Europafrage in den nationalistischen Strömungen Frankreichs Die Europafrage spielt in der diskursiven Strategie des französischen Nationalismus eine wachsende Rolle. Sie steht im engen Zusammenhang mit seinen inneren Mobilisationsthemen Einwanderung und Sicherheit und muß deshalb im Kontext der innerfranzösischen Auseinandersetzungen gesehen werden. Als politische Bewegung ist der französische Nationalismus im ausgehenden 19. Jahrhundert in der Auseinandersetzung autoritärer Kräfte mit der liberalen Führungsschicht der III. Republik (1870-1940) entstanden. Seine Blütezeit erlebte er in der Zwischenkriegszeit (1919-1939), als Staat und Gesellschaft in eine schwere Krise gerieten. Die militärische Niederlage von 1940 führte zu seiner grundlegenden Spaltung. Eine Minderheit schloß sich General de Gaulle an und verteidigte die Republik, die Mehrheit unterstützte den autoritären Etat français (Regime von Vichy) von Marschall Pétain, der mit dem nationalsozialistischen Deutschland zusammenarbeitete. Durch seine Haltung während der Besatzungszeit diskreditierte sich der antirepublikanische Nationalismus nachhaltig, so daß er nach dem II. Weltkrieg keine Rolle mehr spielte. Die Kolonialkriege in Indochina und Algerien führten zwar in den fünziger Jahren zu seiner Renaissance, seine Zersplitterung in zahlreiche Gruppen, Grüppchen und Sekten begrenzte jedoch erheblich seinen Einfluß. 1 Erst dem 1972 gegründeten Front National (FN) gelang es unter der Führung von Jean-Marie Le Pen, die Zersplitterung weitgehend zu überwinden und ihn erneut zu einer relevanten politischen Kraft zu machen. 2 Zwischen 1986 und 2002 gewann der FN bei nationalen Wahlen zwischen 11 und 14% der Stimmen. Bei den Präsidentschaftswahlen von 2002 gelang sein Präsidentschaftskandidaten Le Pen sogar in die Stichwahl des zweiten Wahlgangs und erhielt fast 18%. 3 Auch wenn er anschließend wieder an Stimmen verlor, so konnte er sich dennoch bis heute als viertstärkste politische Kraft behaupten. 4 Neben dem FN existieren weiter- 1 Cf. Michel Winock (ed.): Histoire de l’extrême droite en France, Paris, Seuil, 1993. Ferner Jean-Paul Gautier: Les extrêmes droites en France: de la traversée du désert à l’ascension du Front national (1945-2008), Paris, Syllepse, 2009. 2 Cf. Jean-Paul Gautier: Les extrêmes droites en France, op. cit., 365-411. Dort auch zahlreiche bibliographische Hinweise. 3 Im 1. Wahlgang erhielt Le Pen 16,86 %, im 2. Wahlgang 17,79%. 4 Bei den EU-Wahlen 2009 fiel der FN-Stimmenanteil auf 6,34%, bei den Regionalwahlen 2010 stieg er aber bereits wieder auf 12,31%. <?page no="172"?> Roland Höhne 168 hin andere nationalistische Gruppierungen, sie fallen politisch jedoch kaum ins Gewicht. Eine Ausnahme bildete zeitweise das nationalkatholische Mouvement pour la France (MPF), das unter der Führung von Philippe de Villiers am rechten Rande des demokratischen Spektrums operierte. Die „inneren Feinde“ in der nationalistischen Polemik Ideologisch zerfällt der französische Nationalismus seit seiner Entstehung in mehrere Strömungen. Die radikalste von ihnen war der integrale Nationalismus von Charles Maurras. Dieser wollte die Monarchie restaurieren, die Nation politisch und geistig einen und ihre Identität sowie Souveränität gegen ihre inneren und äußeren Feinde verteidigen. Zu den inneren Feinden zählte er die naturalisierten, aber nicht assimilierten Einwanderer (Metöken), die Juden, die Freimaurer und die Protestanten. Sie verkörperten für ihn die Anti-France, d.h. die Antithese zum „wahren Frankreich“, welche dessen historisch gewachsene Identität zerstören wolle. Der Zerstörungsprozeß habe mit der Französischen Revolution begonnen und werde durch die III. Republik, d.h. die parlamentarische Demokratie fortgesetzt. 5 Hinter dieser These verbargen sich ein geschlossenes Identitätskonzept und daraus folgernd die Ablehnung der offenen Gesellschaft. Die französische Identität sei durch das griechisch-römische Erbe, den Katholizismus und die Monarchie geprägt. Alle Veränderungen ihrer Kernsubstanz führten demnach zum Untergang. Seine Ideen übernahmen in verschiedenen Varianten nationalistische Bewegungen der Nachkriegszeit, so z.B. der Poujadismus in den fünfziger Jahren. An die Stelle der Protestanten traten die Linksintellektuellen als zersetzendes kulturelles Element. Zeitbedingt richtete sich die nationalistische Polemik nun gegen den Kommunismus und die republikanischen Parteien einschließlich des gaullistischen Rassemblement du Peuple Français RPR. 6 Der Antisemitismus, der seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert (Dreyfus-Affäre) ein zentraler Bestandteil der nationalistischen Ideologie bidlete, war zwar weiterhin latent vorhanden, spielte aber als Mobilisationsthema keine große Rolle mehr. Wie die von Charles Maurras gegründete Action Française sieht auch der FN Frankreich vom Niedergang bedroht. Die Jahre des wirtschaftlichen Aufschwungs und sozialen Fortschritts nach dem II. Weltkrieg, Les Trente Glorieuses (1945-1973) bezeichnete Le Pen als Les trente décadentes, die durch eine sinkende Geburtenrate, die Krise der französischen Identität, den An- 5 Cf. Eugen Weber: L’Action Française, Paris, Stock 1964; ferner René Rémond: La droite en France de la Première Restauration à la V è République, Paris, Aubier, 2. Aufl., 1963, 179sqq. 6 Cf. Jean-Luc Pinol: 1919-1958. Le temps des droites? , in: Jean-François Sirinelli (ed.): Histoire des Droites en France, Paris, Gallimard, Bd.1, 1992, 291-389. <?page no="173"?> Die Europafrage in den nationalistischen Strömungen Frankreichs 169 stieg der Kriminalität und den Macht- und Ansehensverlust Frankreichs in der Welt gekennzeichnet seien. 7 Verantwortlich machte er dafür vor allem die seit 1945 regierende politische Klasse, die Linksintellektuellen und die Kommunisten. Verstärkt werde der Niedergang seit den siebziger Jahren durch die Masseneinwanderung aus Nordafrika. Sie bilde eine tödliche Bedrohung für die französische Identität, denn die muslimischen Einwanderer seien im Gegensatz zu den christlich geprägten europäischen Einwanderern nicht assimilierbar. 8 Daran ändere auch ihre Einbürgerung nichts. Sie blieben Ausländer mit französischem Paß, „des Français de papier“, Pseudofranzosen. 9 Eine Folge der muslimischen Einwanderung seien die wachsende Unsicherheit und die Straßenkriminalität in den städtischen Ballungszentren 10 sowie die verstärkte Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, wo die Immigranten den Franzosen die Arbeitsplätze wegnähmen. Drei Millionen Arbeitslose seien drei Millionen Einwanderer zu viel. 11 Die Hauptgefahr der muslimischen Immigration sei jedoch nicht sozial und kulturell, sondern demographisch. Durch die höhere Regenerationsrate der muslimischen Einwanderer würden die Franzosen mit der Zeit ähnlich wie die Indianer in Nordamerika zu einer Minderheit im eigenen Lande. 12 Bereits heute seien sie es in den Vororten der städtischen Ballungsgebiete. Auch wenn sie (noch) friedlich verlaufe, sei die muslimische Einwanderung daher weit gefährlicher als die kriegerischen Einfälle der Jahre 732, 1815, 1870, 1914 und 1940. 13 Frankreich müsse deshalb erneut um sein Überleben kämpfen. Diese Furcht vor dem nationalen Untergang kommt in der Wahl von Jeanne d’Arc zur Schutzpatronin zum Ausdruck. Sie verkörpert im Geschichtsdiskurs des FN den nationalen Widerstand gegen den äußeren Feind und seine inneren Parteigänger par excellence. 14 Die Ablehnung der muslimischen Einwanderung bedeute jedoch keine generelle Ablehnung der muslimischen Nordafrikaner. Wenn diese für Frankreich gekämpft hätten, wie die Harki während des Algerienkrieges, 7 Cf. Jean-Marie Le Pen: Pour la France. Programme du Front National, Paris 1985, 25. 8 Cf. Front National: Pour un avenir français. Le Programme de gouvernement du Front National, Paris 2001, 56-64. 9 Ibid., 50. 10 Ibid., 61. 11 Cf. Front National: 20 ans au Front, L’Histoire vraie du Front National, Paris 1993, 166. 12 Cf. Le Pen: Pour la France, op. cit., 113. 13 So Le Pen in einem Werbespot während des Präsidentschaftswahlkampfes 2002, in: Dimitri Joaquim Meneses Guimaraes de Almeida: Götter und Dämonen der Nation: eine Analyse der Mythologie des Front national, Magisterarbeit, Freiburg i. Br., 2004, 59 sq. 14 Dimitri Almeida: Götter und Dämonen der Nation, op. cit., 92sqq. Eine gute Analyse der vielseitigen Interpretationen von Jeanne d’Arc bietet Gerd Krumeich: Jeanne d’Arc, die Geschichte der Jungfrau von Orléans, München, Beck 2006. <?page no="174"?> Roland Höhne 170 dann seien sie als Français Musulmans willkommen. 15 Das gelte auch für ihre Nachkommen, wenn sie sich in die französische Nation integrieren. Der FN sei daher nicht fremdenfeindlich. Auch sei er nicht rassistisch. Wenn die nord- und schwarzafrikanischen Immigranten in ihre „natürlichen Räume“ zurückkehrten, d.h. Frankreich wieder verlassen, dann bildeten sie auch keine Gefahr mehr für die Franzosen und könnten damit „Freunde Frankreichs „ sein. 16 Auch Juden und Freimaurer bedrohen weiterhin im nationalistischen Diskurs Frankreich. Allerdings vertritt der FN seinen Antisemitismus nicht offen, weil dies zu seinem Verbot führen würde. Le Pen umwarb jedoch antisemitische Wähler, indem er in seinen Diskursen die historische Bedeutung der Shoa herunterspielte. So erklärte er in einer Radiodebatte, sie sei „ein Detail der Geschichte des zweiten Weltkrieges“ 17 Aufgrund der allgemeinen Empörung, welche diese Aussage hervorrief, änderte er seine rhetorische Taktik. Nun sprach er vom „lobby mondialiste“, das sich gegen die Völker verschworen hätte. 18 Zu dessen bekanntesten Propagandisten gehörten François Kahn, Jean Daniel, Ivan Levai, Jean-Pierre Elkabbach, d.h. Journalisten bzw. Publizisten mit typisch jüdisch klingenden Namen. 19 Die heimlichen Antisemiten verstanden die Botschaft, ohne daß er die Betreffenden direkt als Juden bezeichnen mußte. Wesentlich radikaler als Le Pen äußerten sich einige FN-Wortführer, so François Brigneau. Wie Maurras behauptete er in einer Kolumne in der Parteizeitung Nationl-Hebdo, daß die Juden in Frankreich in allen Führungsgruppen überrepräsentiert seien. 20 Die logische Folgerung aus dieser Behauptung ist die Forderung nach Begrenzung ihres Einflusses. Wie Maurras begründet der FN seine Feindschaft gegen Juden politisch und kulturell, nicht ethnisch. Sie entspringt seinem Konzept der nationalen Identität, das im Gegensatz zum republikanischen nicht offen sondern geschlossen ist. Juden können daher in seiner Sichtweise nicht wirklich Franzosen werden bzw. sein, sondern nur so tun, als ob sie es wären. So behauptete Le Pen 1983, linke Politiker wie Henri Krasucki, Charles Fiterman, Robert Badinter und Jack Lang seien französisch nur dem Anschein nach, in Wirklichkeit aber Juden, d.h. Fremde. Diese Argumentation impliziert, daß nicht der Wille, die Staatsangehörigkeit, der Wohnort, die Sozialisation, die 15 Cf. Le Pen, Soutien au rassemblement en faveur de Mohamed Bellebou, Front National, Homepage, 7.Mai 2010, abgerufen am 2. Juni 2010. 16 Cf. Front National: Pour un avenir français, op. cit, 133. 17 Jean-Marie Le Pen in: Le Grand Jury RTL-Le Monde, 13.09.988 18 Interview in der Zeitschrift Présent, 11. 08.1989. 19 So anläßlich des Parteifestes bleu-blanc-rouge im Jahre 1985, l. c., in: Front National: 20 ans auch Front., op. cit., Paris 1993, 68. 20 François Brigneau: Le journal d’un homme libre, in: National Hebdo, 15-21. Februar 1990, S. 4fsq. <?page no="175"?> Die Europafrage in den nationalistischen Strömungen Frankreichs 171 Kultur, die Überzeugung konstitutiv für die französische Volkszugehörigkeit sind, sondern die Abstammung. Auch hier zeigt sich die Verwurzelung des modernen Nationalismus in der antirepublikanischen Gedankenwelt des integralen Nationalismus. Ähnlich wie die Juden verkörpern für den FN auch die Freimaurer den staatenübergreifenden Mondialismus, dessen Ziel die Auflösung der Nationalstaaten sei. Sie übten über ihre Logen, insbesondere über den Großen Orient eine geheime Kontrolle des französischen Geisteslebens aus. Auch sie seien in Staat und Gesellschaft überrepräsentiert. Ihr Einfluß müsse daher begrenzt werden. Der FN hütet sich jedoch, entsprechende Gesetze zu fordern, wie sie das Vichy-Regime erlassen hatte, um Gerichtsprozesse wegen Diffamierung und Volksverhetzung zu vermeiden. Schließlich zählt auch der FN wie einst Maurras die „politische Klasse“ zu den inneren Feinden. Darunter versteht er die Eliten der dominierenden Parteien, in den siebziger und achtziger Jahren die „Viererbande“ aus Kommunisten, Sozialisten, Liberal-Konservativen und Gaullisten, heute die „UMPS“ d.h. die regierende UMP und die oppositionelle PS. 21 Sie verfolgten nur ihre eigenen Interessen, nicht die des Volkes. Die Auseinandersetzungen zwischen ihnen seien nur Scheingefechte, eine „adversité complice“ da es keine wirklichen ideologisch-programmatischen Unterschiede zwischen ihnen gäbe. 22 Gemeinsam beherrschten sie die Politik, Wirtschaft und die Medien. Der FN übernimmt hier die Unterscheidung von Maurras zwischen „pays réel“ und „pays légal“, d.h. zwischen dem Volk und der politische Kaste, welche die Institutionen beherrsche. Hinter der Kritik der politischen Eliten verbirgt sich somit die alte Ablehnung der repräsentativen Demokratie durch den antirepublikanischen Nationalismus. Allerdings hat der FN diese Ablehnung diskursiv der Globalisierung angepaßt. So argumentiert er, die „politische Klasse“ Frankreichs bilde Teil einer weltweiten Verschwörung gegen die Nationen. Durch ihre immigrationsfreundliche und proeuropäische Politik bedrohe sie die französische Identität. Allein der FN verteidige die wahren Interessen des französischen Volkes. Die Bedrohung ist also weltweit, nicht nur national. Innere und äußere Feinde bilden damit diskursiv eine Einheit. Die „äußeren Feinde“: die Europäische Union als Schreckensszenario Die französischen Nationalisten der Vor- und Zwischenkriegszeit betrachteten Großbritannien als historischen Feind und als Rivalen in Übersee, Deutschland als unmittelbare Bedrohung und Gegner auf dem europäischen Kontinent. Ab 1945 übernahm die Sowjetunion die primäre Feindrolle. Sie 21 So Marine Le Pen in einer Rede vom 21.03.2004. 22 Le Pen: La France est de retour, op.cit., 20. <?page no="176"?> Roland Höhne 172 behielt diese bis zu ihrem Untergang 1991, verlor aber im nationalistischen Bedrohungsszenario gegenüber der europäischen Integration und der amerikanischen Dominanz im Laufe der Zeit an Bedeutung. Gegenüber Europa nahmen die Nationalisten seit Beginn des europäischen Einigungsprozesses eine ambivalente Haltung ein. Sie bekannten sich zum Europa der freien Nationen und zur westlichen Kultur, lehnten die europäische Integration jedoch ab. Diese sei ein apokalyptischer Prozeß der Zerstörung der freien Völker. 23 Sie fürchteten, daß ein integriertes Europa Frankreich seine Souveränität nehmen würde. Der französische Staat verlöre dann seine Fähigkeit, die Identität und die Interessen des französischen Volkes zu verteidigen. In dieser Furcht kommt die Angst des FN vor Entdifferenzierung, vor Nivellierung der nationalen Unterschiede zum Ausdruck. In dem Maße, in dem die europäischen Institutionen nationale Souveränitätsrechte übernahmen oder beschnitten, verstärkte sich daher die antieuropäische Haltung der französischen Nationalisten. So bekämpften sie heftig die Verträge von Maastricht und Amsterdam, den europäischen Verfassungsentwurf und den Lissabon-Vertrag. Diese seien ein Pakt mit dem Teufel, in dem die Franzosen ihre Seele verkauft hätten. Sie raubten ihnen ihr Vaterland, ihr Territorium, ihre Identität, ihr väterliches Erbe. 24 Seinen antieuropäischen Diskurs unterfütterte der FN mit wirtschaftlichen und sozialen Argumenten. Er hoffte auf diese Weise, ehemalige Wähler aus der Unter- und unteren Mittelschichten zurückzugewinnen, die er bei den nationalen Wahlen von 2007 an Sarkozy und seine Anhänger verloren hat. Sarkozy habe höhere Arbeitseinkommen durch Mehrarbeit versprochen (Travailler plus pour gagner plus). Das Gegenteil sei eingetreten. Der von ihm vertretene „Euromondialismus“ habe zu einer weiteren Vernichtung von Arbeitsplätzen in Frankreich durch Produktionsauslagerungen und die Überschwemmung des französischen Marktes mit ausländischen Produkten geführt. 25 Angesichts dieser tödlichen Bedrohung gäbe es nur eine Rettung: Die Kündigung der Verträge und den Austritt aus der EU. Als Alternative zu ihr böten sich bilaterale Kooperationsabkommen sowie die Gründung einer „Union latine“ aus Italien, Spanien, Portugal, Rumänien und Frankreich an. Mit ihr könne Frankreich eine „große Politik“ betreiben. 26 In seiner Auseinandersetzung mit der europäischen Gemeinschaftsidee berief sich Le Pen auf die „traditionellen Werte“ Europas: das christliche Verständnis der Familie, die westliche Konzeption der Arbeit, die Verteidigung des universellen Begriffs des Vaterlandes. Nur diese gemeinsamen Werte könnten die Vielfalt der nationalen Traditionen und Kulturen der 23 Cf. Front National: Pour un avenir français, op.cit., 144. 24 Cf. Jean-Marie Le Pen: Rede zur Jeanne d’Arc-Feier, 1. Mai 2003. 25 Cf. Le Monde, 23.05.09, 8. 26 Cf. Front National: Pour un avenir français, op. cit., 137 u. 160. <?page no="177"?> Die Europafrage in den nationalistischen Strömungen Frankreichs 173 europäischen Völker überwölben und so ihre höhere Einheit in einem „Europa der Vaterländer“ ermöglichen. 27 Le Pen übernahm damit in sprachlich leicht modifizierter Form die Devise des Regimes von Vichy: Arbeit, Familie, Vaterland. Es handelt sich dabei um die zentralen Werte des Traditionalismus, welche die ideologische Grundalge des antirepublikanischen Nationalismus der Action française bildeten. Seine Angriffe auf den „Euromondialismus“ verband der FN mit Angriffen auf den Neo-Liberalismus. Ihn machte die Tochter des Parteiführers und dessen präsumptive Nachfolgerin, Marine Le Pen, für die steigende Arbeitslosigkeit verantwortlich. Das europäische Prinzip der freien und ungehinderten Konkurrenz habe „uns in die Scheiße geführt.“ Diese vernichte Arbeitsplätzen in Frankreich durch die Überschwemmung des französischen Marktes mit ausländischen Produkten. Der FN forderte daher erneut die Wiedereinführung von Schutzzöllen auf bestimmte Waren. 28 In seiner antieuropäischen Polemik propagierte der FN aber auch weiterhin seine traditionellen Themen Immigration und Unsicherheit. Die EU- Asylpolitik erlaube im Namen der Menschlichkeit den weiteren Zuzug von Nichteuropäern, insbesondere aus Afrika, und eine EU-Mitgliedschaft der Türkei würde die Masseneinwanderung nichtintegrierbarer muslimischer Einwanderer drastisch erhöhen und damit die nationale Identität zusätzlich gefährden. 29 Während der Eurokrise von 2010 konzentriert der FN seine antieuropäische Agitation auf die europäische Währungsunion. Er benutzt dabei vor allem wirtschafts - und soziapolitische Argumente. So erklärte Marine Le Pen: 1. Die Zugehörigkeit zur Eurozone begrenze die monetäre Handlungsfähigkeit der Mitgliedsstaaten, da diese durch den Maastrichter Vertrag einem strengen Regelsystem unterworfen seien. Die drei hochverschuldeten Südstaaten Griechenland, Spanien und Portugal müßten sich den strengen Sparmaßnahmen der EU unterwerfen. Die Folge seien massive Kürzungen der Ausgaben für Soziales und Gesundheit, der Gehälter, der Pensionen und Renten. Davon sei die Masse der Bevölkerung betroffen. Diese drei Länder hätten sich somit aus ideologischen Gründen unter dem Druck der europäischen Instanzen für die Einheitswährung gegen ihre Völker entschieden. 30 2. Die Finanzhilfen des IWF und der EU lösten nicht die Probleme dieser Länder, sondern zögerten ihren Zusammenbruch nur etwas hinaus. Sie verschlechterten aber die finanzielle Situation der anderen Euro-Staaten, insbe- 27 Front National: La Souveraineté, Paris 2000. 28 Cf. Le Monde, 28.05.09, 10. 29 Cf. Le Monde, 26.05.09, 9. 30 Marine Le Pen, Front National, Homepage, veröffentlicht am 4.05.2010. Catégorie: Actu nationale, Discours, Emissions internet. <?page no="178"?> Roland Höhne 174 sondere Frankreichs. Sie erhöhten deren Schuldenlast und drohten daher diese in eine schwere Krise zu stürzen. 31 3. Der europäische Rettungsplan für die schwachen Euro-Länder solle das Bankensystem retten, das die meisten Schuldverschreibungen dieser Länder besitze. Die Europäische Zentralbank spiele dabei eine verhängnisvolle Rolle. Indem sie wertlose griechische Staatsanleihen aufkauft, vermehre sie die Geldmenge des Euroraums und fördere damit die Inflationsgefahr 32 Die Folge werde eine Hyperinflation sein, welche besonders die Rentner und Sparer treffe. 33 5. Die neuen monetären Regeln der EU unterwürfen den Haushalt der Euro-Länder der Brüsseler Kontrolle und nähmen ihnen damit ihre letzte finanzpolitische Gestaltungsmöglichkeit. „Sie werden damit unter europäische Vormundschaft gestellt, was unvereinbar mit den elementaren Prinzipien der Demokratie ist. Dies bedeutet die komplette Machtergreifung der Technokratie über die Politik. 34 6. Die Währungsunion sei gescheitert. Der hohe Wechselkurs des Euro verlangsame das Wirtschaftswachstum, begünstige die Produktionsverlagerung ins Ausland und treibe die Preise in die Höhe. 35 7. In Frankreich wirke sich der Euro wie in anderen Euro-Ländern hemmend auf das Wirtschaftswachstum aus. Er zwänge es jedoch, sich an der Rettungsaktion für überschuldete Mitgliedsländer der Währungsunion zu beteiligen. 36 8. Der Euro habe Frankreich während der Finanzkrise nicht geschützt, sondern im Gegenteil die Auswirkung der Krise in Frankreich verstärkt. Die Rezession, die Arbeitslosigkeit, der Kaufkraftverlust seien die direkten Konsequenzen einer verfehlten Währungspolitik. „Der Euro ist eine Absurdität, ein wirtschaftlicher Unsinn. So viele unterschiedliche Länder können nicht mit der gleichen Währung, der gleichen Zentralbank leben.“ Frankreich müsse seine monetäre Freiheit zurückgewinnen und aus der Eurozone austreten. Es könne dann „die monetäre Waffe“ mit viel größerer Klugheit und Effizienz einsetzen als heute. Eine wiedergewonnene nationale Währung würde es erlauben, erfolgreich die Zahlungsdefizite, die Produktionsauslagerungen und die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. 37 31 Ibid. 32 Ibid. 33 Ibid. 34 Pressemitteilung von Marine Le Pen, Front national, Homepage, veröffentlicht am 12.05.2010, Catégorie: Communiqués de presse. 35 Ibid. 36 Ibid. 37 Marine Le Pen, Rede vom 2.05.2010, Front national, Homepage, veröffentlicht am 4.05.2010, Actu nationale. <?page no="179"?> Die Europafrage in den nationalistischen Strömungen Frankreichs 175 Die gesellschaftliche Basis und die Zukunft des antieuropäischen Nationalismus Die bei der antieuropäischen Polemik verwendeten wirtschaftlichen und sozialen Argumente richten sich vor allem an die Angehörigen der Unter- und unteren Mittelschichten: Arbeiter, Arbeitslose, Angestellte, kleine Selbständige, Rentner. Diese sozialen Gruppen sind die Hauptbetroffenen der sozio-ökonomischen Transformations- und Modernisierungsprozesse seit den siebziger Jahren, und sie sind besonders in den Vororten der städtischen Ballungsgebieten am stärksten von allen sozialen Wählergruppen mit den sozio-kulturellen Problemen der Immigration konfrontiert. Sie sind daher weit stärker als andere Wählergruppen sozialen und einwanderungsfeindlichen Argumenten zugänglich. Vor allem ihnen verdankte Le Pen bzw. der FN in den Jahren 1984-2002 seine spektakulären Erfolge. 38 In den Präsidentschaftswahlen von 2002 verlor Le Pen jedoch einen Teil seines vote populaire an den Kandidaten der liberal-konservativen Rechten, Nicolas Sarkozy. Seither versucht vor allem seine Tochter, Marine Le Pen, durch die stärkere Betonung sozio-ökonomischer Themen dieses zurückzugewinnen. Die antieuropäische Agitation dient dabei als Bindeglied zwischen dem inneren und äußeren Feindbild. Die EU verkörpert heute wie einst England bzw. Deutschland den äußeren Feind, die muslimischen Einwanderer, demokratische Politiker, Journalisten und Linksintellektuelle wie einst Juden, Freimaurer, Metöken und Protestanten die inneren Feinde. Die von ihnen ausgehende Bedrohung der nationalen Identität und Souveränität bilden in der Weltsicht des antirepublikanischen Nationalismus eine Einheit. Seinen ersten großen Wahlerfolg erzielte der FN bei den Europawahlen von 1984 mit 11% der Stimmen. Bei den EU-Wahlen 2009 sank sein Stimmenanteil auf 6,34%. 39 Auch bei nationalen Wahlen ging der Stimmenanteil des FN seit den Präsidentschaftswahlen von 2002 kontinuierlich zurück. Viele Kommentatoren prophezeiten daher sein baldiges Ende als relevanten politische Kraft. Sie hatten sich getäuscht, denn bei den Regionalwahlen 2010 erhielt er landesweit 9,4%. Selbst wenn er auf nationaler Ebene völlig marginalisiert würde, wäre dies nicht das Ende des antieuropäischen Nationalismus. Andere nationalistische Bewegungen stehen bereits bereit, sein Erbe anzutreten, so der von dem FN-Dissidenten Carl Lang im Februar 2009 gegründete Parti de la France. Solange der von der europäischen Integration und der Globalisierung beschleunigte tiefgreifende gesellschaftliche Transformationsprozeß anhält, wird es weiterhin politisch organisierte Gegner der europäischen Integration in Frankreich geben. 38 Cf. Hervé Lebras: Les trois France, Paris 1986; ferner Pascal Perrneau: Le Symptôme Le Pen. Radiographie des électeurs du Front National, Paris 1997 39 Cf. Roland Höhne: Europawahlen in Frankreich 2009, in: lendemains, 136, 2002, 74-85. <?page no="180"?> Andreas Ruppert „Europa muss europäisch bleiben und Deutschland deutsch“ - Das Bild von Europa im deutschen Rechtsextremismus Prolog Als ich im Frühsommer 1994 von einer Reise in die Provence zurückkehrte, fiel an einer Autobahnbrücke bei Lyon unübersehbar ein Grafitto ins Auge: „Degrelle - salut, camarade“. Er galt dem im März des Jahres in Madrid verstorbenen Léon Degrelle. Degrelle war ein Mustereuropäer: in Belgien geboren als Sohn französischer Emigranten, Soldat in der Wehrmacht, dann als Ausländer überführt in die SS, dort mit einer Karriere bis zum hoch dekorierten Kommandeur der 28. SS-Panzergrenadier-Division „Wallonien“. 1 Nach dem Krieg war Degrelle nach Spanien geflüchtet, um unter Francos Schirm und mit neuem Namen eine Karriere in der Wirtschaft zu starten. Gleichzeitig aber blieb er verehrt von der europäischen Rechten. Zu seinen Besuchern in Madrid gehörte u. a. der seinerzeitige selbsternannte „Führer“ der deutschen Neonazi-Szene, Michael Kühnen. Bemerkenswert war, dass Kühnen vom deutschen Fernsehen begleitet wurde, das schon damals der Faszination durch die Täter wenig entgegen zu setzen wusste, ihr ganz im Gegenteil eher noch erlag und sie gleichzeitig schürte. Degrelle definierte sich als Europäer und wollte ein starkes Europa verteidigen. Seine Bedingung für den Eintritt in die Wehrmacht war, dass er nur an der Ostfront eingesetzt werde - denn Russland gehörte nicht in sein Bild von Europa. Sein Feindbild stimmte an diesem Punkt exakt mit dem der deutschen Führung überein. An seiner Idee und an seinen Handlungen hat Degrelle nie gezweifelt und am Zweiten Weltkrieg nur bereut, dass die Wehrmacht ihn verloren habe. Vereintes Europa - ein Wendepunkt in der Geschichte Platon hat mit Blick auf die Erfahrungen seiner Zeit den „Frieden“ für ein bloßes Wort gehalten und das Verhältnis zwischen Staaten als einen zwar 1 Zu Degrelle s. http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ L%C3%A9on_Degrelle (15. Oktober 2009). <?page no="181"?> Das Bild von Europa im deutschen Rechtsextremismus 177 nicht offiziell erklärten, aber von Natur aus vorgegebenen Krieg bezeichnet. 2 Die europäische Geschichte gibt ihm bisher Recht. Die Kultur des Krieges überlagerte alles. Ich erinnere nur daran, dass das bis heute so oft gelobte Bismarckreich in drei Kriegen entstanden war und in zwei Weltkriegen unterging, oder dass die Jahrzehnte lang gültige Pax Jugoslavica sich in unserer erlebten Gegenwart innerhalb eines unfassbar kurzen Zeitraums in einer Abfolge von Kriegen auflöste - ohne dass die Europäische Gemeinschaft dies zu verhindern versucht hätte. Diese Kriege können jederzeit wieder aufflammen. Die Erfahrungen von zwei Weltkriegen haben aber die führenden Politiker in einigen Staaten davon überzeugt, dass im Denken und im Verhalten der europäischen Völker ein radikaler Umbruch erfolgen müsse. Ich möchte Robert Schuman als Akteur und als Symbol für dieses Umdenken herausheben. Es waren die Kernländer der EWG, die diesen Wendepunkt in der europäischen Geschichte bewirkten. Diese Länder - Benelux, Italien Frankreich und die Bundesrepublik - werden keinen Krieg mehr gegeneinander führen. Der Generation der nach 1968 Geborenen, die Schulen mit englischen, französischen, amerikanischen und sogar polnischen Partnerschulen besucht haben, ist der Begriff des „Erbfeindes“ nicht nur unbekannt, sondern so unverständlich, als stamme er aus der Steinzeit. Die EWG hat sich weiter entwickelt, über die Europäische Gemeinschaft zur Europäischen Union. Bei einigen der Staaten, die seit 2004 dazu gekommen sind, und bei einigen aktuellen Anwärtern sind allerdings größte Zweifel angebracht, ob sie die Dimension dieses Wendepunktes verstanden haben und ihn wirklich mittragen. Es bleibt leider auch zu konstatieren, dass die neue Friedensordnung Europas nur intern gilt. Die militärischen Interventionen von Staaten der EU im Irak, in Somalia und Afghanistan sowie ihre Einbindung in die NATO zeigen, dass Platons Diktum weiterhin gilt - nur dass die EU inzwischen wie ein Staat unter Staaten auftritt. Die Theorie mag auf eine Weltfriedensordnung zielen, die Praxis ist davon weit entfernt. Die Crux der deutschen Rechtsradikalen Grundsätzlich - das nehme ich als Ausgangsthese und Fazit zugleich vorweg - haben die deutschen Rechtsradikalen diese radikale politische Umkehr mit dem Ziel einer europäischen Friedensordnung niemals akzeptiert und werden sie niemals mittragen. Auch das macht sie zu Rechtsradikalen. Sie sind dem Prinzip des bellum omnium contra omnes verhaftet und sie wollen diesen Krieg. Da sie soziale Wesen sind, suchen sie eine Gruppenidentität und finden sie in den Anhängern zweier Ideen: der von der einheitlichen Nation und der von der gleichen Rasse. Beide gehen untrennbar ineinander 2 Leonhard Burckhardt: Militärgeschichte der Antike, München 2008, S. 7. <?page no="182"?> Andreas Ruppert 178 über, Trennstriche werden nur aus taktischen Erwägungen nach außen gezogen. Ein grundsätzlicher Verzicht auf den Krieg gegen andere Nationen und Staaten widerspricht ihrer Selbstdefinition, hier ist auch kein Kompromiss denkbar. Allerdings stoßen die deutschen Rechten an eine empirische Grenze, die sie nicht übersehen können - dass im 20. Jahrhundert ihre eigene Nation und das Deutschtum Kriege zwar anzetteln, aber nicht siegreich beenden konnten. Deutsche Rechtsradikale Es gibt in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert verschiedene Abstufungen rechtsradikaler Gedankengänge in einem Geflecht von Organisationen. Sie haben sich sukzessive entwickelt, liefen teilweise parallel, vermischten sich in unterschiedlichem Grad und wurden im 20. Jahrhundert praktisch in zwei Weltkriegen wirksam. Die Niederlagen haben nicht „geheilt“, die verschiedenen Gedankenmosaike leben weiter und können sich weiterhin in unterschiedlicher Weise miteinander verbinden, gerade so, wie es gebraucht wird. Sie sind eine Gefahr für sich, aber auch dadurch, dass sie ihre Faszination bis weit in das Spektrum der Mitglieder und Wähler der demokratischen Parteien, ja bis hin zur Linken ausübten und weiterhin ausüben. Der heutige Rechtsradikalismus hat verschiedene Formen, die nur kurz genannt werden sollen. Auf der extremen Seite stehen Straßenkämpfer, die Gewalt ausleben wollen. Sie haben keine ausgefeilte Theorie, aber ein Feindbild, über das sie sich konstituieren. Bemerkenswert ist in der Entwicklung der letzten Jahre, dass in diesem Umfeld Begriffe und Formen der linksextremen Szene kopiert werden. Damit behaupte ich keine Gleichwertigkeit, sondern stelle nur die Tatsache der Kopie fest. Es gibt inzwischen Gruppen, die sich als „Autonome Nationalisten“ bezeichnen, und es gibt auf der Rechten den „Schwarzen Block“, der bei Demonstrationen ähnlich auftritt wie der Schwarze Block der Linken - gruppiert, unerkennbar maskiert und irrational in den zerstörerischen Handlungen. 3 Theoretische Überlegungen sind hier nicht zu erkennen und „Europa“ ist den Aktivisten dieser Richtung ein ferner Stern. Daneben gibt es die Skinhead-Szene, die sich mit den seit Jahrzehnten in den alten Bundesländern agierenden neonazistischen Gruppen unterhalb der Parteienschwelle verbunden hat. Ihre inzwischen die ganze Bundesrepublik überziehenden Gruppen und Verbände tragen viele Namen, auch 3 Zu den Autonomen Nationalisten und zum Schwarzen Block s. Marc Brandstetter: „Feinde im Alltag, Brüder im Geiste - Autonome Nationalisten im Vergleich zu den linksextremen Autonomen“. In: Uwe Backes & Eckhard Jesse (eds.): Jahrbuch Extremismus und Demokratie, 20. Jg., Baden-Baden 2008, 185-203. <?page no="183"?> Das Bild von Europa im deutschen Rechtsextremismus 179 bedingt durch regelmäßige Verbote, sie bleiben aber mit diversen Neugründungen immer aktiv: Nationale Sozialisten, Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei - die vor einigen Jahren auch in Ostwestfalen-Lippe mit dem Zentrum Bielefeld und dem Versuch einer Schulungsstätte in Detmold-Pivitsheide sehr aktiv war -, und andere mehr. Ihre Führungspersonen und ihre Strukturen sind bekannt. Auch hier ist an Theorie eher wenig zu erwarten, aber in ihrer Praxis manifestieren sie ein klares Weltbild: Ausländer sind per se Feinde, die es zu bekämpfen und zu vertreiben gilt, und dies umso mehr, wenn sie rassistischen Kategorien zugeordnet werden können (Schwarze, Gelbe, Türken und Polen). Auch ihnen ist Europa keine wichtige Kategorie. Eine dritte Gruppe bilden die rechtsextremen Parteien Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD), Deutsche Volksunion (DVU) und Die Republikaner (REP), die sowohl über ihre Parteiprogramme als auch in ihren Periodika erkennbar sind. Sie müssen sich zu Europa äußern, aus grundsätzlichen Erwägungen, aber auch aus ganz pragmatischen - bringt ihnen doch die Teilnahme an den Wahlen zum Europäischen Parlament das Geld in die Parteikasse, das sie hin und wieder vor dem finanziellen Abgrund retten muss. Zuletzt bleibt die zahlenmäßig kleine, aber einflussreiche Gruppe der rechtsradikalen Presseorgane, die theoriebildend und unterstützend wirken. Zu ihnen gehören die inzwischen eingestellte Zeitschrift criticón, dann Nation und Europa (früher: Nation Europa), Europa vorn und die Junge Freiheit. Vor allem die letztgenannte versucht, so etwas wie eine intellektuell ausgerichtete Neue Rechte in Parallele zu einer entsprechenden Entwicklung in Frankreich zu generieren. Die hier vorgenommene trennende Aufzählung ist eine schematische und übersieht die vielen Querverbindungen. Alle diese Gruppen sind untereinander vernetzt, arbeiten sich zu und weisen partielle Übereinstimmungen inhaltlicher und personeller Art auf. Wichtig ist dabei, um schon oben Gesagtes noch einmal aufzugreifen, dass die Querverbindungen weit in Milieus hinein reichen, die nicht als „rechtsradikal“ eingestuft werden. Das gilt für Parteien wie Die Republikaner, die aus CSU-Abspaltungen entstanden sind, aber auch für eine Zeitschrift wie die Junge Freiheit, die eine milieuübergreifende rechte Elite fördern will. Zum Schluss sei angemerkt: Keine der genannten Gruppierungen hat, von konjunkturell bedingten Eintagsfliegen abgesehen, nachhaltige Erfolge bei den Wählern. Dennoch decken sie gleichzeitig ein Spektrum an rechter Mentalität ab, das nach unterschiedlichen Schätzungen 15 bis 30% der Bevölkerung umfasst. 4 4 Zum Thema s. Thomas Grumke u. Bernd Wagner (eds.): Handbuch Rechtsradikalismus. Personen - Organisationen - Netzwerke vom Neonazismus bis in die Mitte der Gesellschaft, Opladen 2002. <?page no="184"?> Andreas Ruppert 180 Sprache und „Täuschung“ Die Gedanken sind frei, die Begriffe auch. Wenn Gruppen Begriffe unterschiedlich verwenden, reicht das nicht, um von „Täuschung“ zu sprechen. Von der bewussten Täuschungs- und Lügensprache der NS-Propaganda, der von Victor Klemperer so bezeichneten Lingua Tertii Imperii (LTI), 5 lässt sich der Faden noch nicht zum Gebrauch der Begriffe der modernen Rechtsradikalen ziehen. Deren Gedankengänge zeichnen sich dadurch aus, dass ihre Inhalte anders definiert sind als im Mehrheitsdiskurs. Dabei ist der Aspekt des Oszillierens, der Verführung durch die Bandbreite der Deutungsmöglichkeit durchaus eingeplant und wird bewusst eingesetzt. Das gilt für die Anziehungskraft von Begriffen wie „Republikaner“, „nationaldemokratisch“ oder „Ordnung“, „Freiheit“, „deutsche Tugenden“ auf der einen Seite ebenso wie die schon genannten Selbstbezeichnungen als „Autonome Nationalisten“ oder als „Schwarzer Block“ auf der anderen. Täuschung spielt auf einem anderen Gebiet eine Rolle: Wenn rechtsradikale Politik einen Legalitätskurs einhält, um die verfassungsmäßige Legalität aufzuheben, wie es die NSDAP vorgemacht hat. 6 Das würde ich allen rechtsradikalen Parteien und Gruppen so attestieren - verfassungskonform ist keine von ihnen. „Täuschung“ ist im Übrigen aber auch eine Rettungsmetapher im Scheitern - wenn der rechte Omnibus an die Wand gefahren ist, erklären sich die Insassen zu getäuschten Opfern - vorher haben sie allerdings diese Sprache nicht nur geglaubt, sondern sie zu ihrer eigenen gemacht. Die historische Erfahrung Deutsche Geschichte ist im 19. und 20. Jahrhundert von nationalistischer und rassistischer Politik geprägt. Nationalismus ist dabei die Vorstellung, dass die Angehörigen der eigenen Nation insofern etwas Besonderes darstellen, als sie über denen anderer Nationen stehen. Bei einer auch zahlenmäßig großen Nation führt das zur Vorstellung, dass man auch zur Herrschaft über andere Nationen berufen sei. Die Besonderheit sei durch den Erwerb und den Einsatz bestimmter Tugenden erreicht worden. Dieser Aberglaube erscheint in Deutschland zeitlos und milieuunabhängig, wie es sich zum Beispiel darin zeigt, dass erfolglose Fußballspieler und Fußball- 5 Viktor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen. Erstausgabe Berlin 1947. 6 In einem Interview mit der rechten Wochenzeitung Junge Freiheit sagte etwa der NPD- Vorsitzende Udo Voigt: „Es ist unser Ziel, die BRD ebenso abzuwickeln, wie das Volk vor fünfzehn Jahren die DDR abgewickelt hat. Dies geht offensichtlich auch über die Wahlurne.“ Ausgabe vom 24. September 2004. <?page no="185"?> Das Bild von Europa im deutschen Rechtsextremismus 181 trainer regelmäßig die „deutschen Tugenden“ als Allheilmittel einfordern, ohne dass sie dafür jemals öffentlich zurückgewiesen würden. Der Rassismus gestaltet die Wirklichkeit allerdings einfacher: Die behauptete Überlegenheit muss nicht erworben werden, sondern ist biologisch vorgegeben und damit unveränderbar. Dieses Modell hat eine hohe Anziehungskraft, da es keine weitere Definition benötigt und konsequent auch keine Diskussion zulässt, gleichzeitig aber all denen eine Perspektive gibt, die außer ihrer „Rasse“ nichts oder wenig besitzen, auf das sie stolz sein könnten. Der Rassismus kann seinen Anspruch auf eine einzelne Nation beschränken, er wird aber gerade dadurch so gefährlich, dass er die Möglichkeit bietet, darüber hinaus zu gehen und etwa, auf Europa bezogen, einen „Pangermanismus“ oder ein „arisches“, zumindest aber „weißes“ Europa zu propagieren, das dem Herrschaftsanspruch eine Massenbasis gibt. Gleichzeitig lassen sich diese Ideen erstaunlich gut mit der Vorstellung vom christlichen Abendland verbinden - eine in meinen Augen bemerkenswerte Parallele zum fließenden Übergang der Denkkategorien eines christlichen „Antijudaismus“ zum „modernen“ rassistischen Antisemitismus. Die Anziehungskraft eines „arischen“ Europas liegt darin, dass es tendenziell alle Nationen erfasst und dennoch gleichzeitig vorher definierte Minderheiten ausgrenzen kann: Juden und Zigeuner z. B. sind dann eben keine Europäer. Alle diese Elemente - Nationalismus, Deutschtum, Ariertum - können sich miteinander verbinden. Im Zweiten Weltkrieg haben sie das getan und ihre ganze immanente Brutalität ausgelebt. Als der deutsche Krieg im Dezember 1941 verloren zu gehen drohte, wurde er zum europäischen Krieg erklärt, erst zum pangermanischen, dann zum allgemein arischen. Trotzdem ging er gegen die „asiatischen Horden“ aus der Sowjetunion - man könnte in der erwähnten Lingua Tertii Imperii auch sagen: die jüdisch-bolschewistisch aufgehetzten Horden - und gegen die „kulturlosen Barbaren“ des USamerikanischen Schmelztiegels - in der Lingua Tertii Imperii: die jüdische Wallstreet - verloren. Um den im Westen und im Osten so definierten „Feind“ aufzuwerten, braucht der deutsche Rassismus die Verbindung zum „dämonischen“ Judentum, über das er sich selbst immer definiert hat. Aus dem Trauma der Niederlagen in zwei Weltkriegen haben sich weder deutsche Rechtsradikale noch andere deutsche Nationalisten und Rassisten befreit. Ihr Interesse an Europa ist einzig und allein in diesem nicht verarbeiteten Trauma begründet. „Großdeutschland“ und „Pangermanien“ waren gescheitert, aber noch lange nicht die Idee von einem Europa unter deutscher Führung. <?page no="186"?> Andreas Ruppert 182 Das Europabild der rechtsradikalen Parteien Von ihrer ganzen Haltung her lehnen die rechtsradikalen Parteien und Gruppen ein „Europa“ ab, das die nationalstaatlichen Grenzen programmatisch überwindet. Eine politisch handlungsfähige Kraft über die nationalen Grenzen hinaus ist ihnen prinzipiell weder vorstellbar noch geheuer. Für alle drei Parteien lässt sich sagen, dass sie einem engen nationalistisch-rassistischen Weltbild verpflichtet sind, in dem Europa nur einen funktionalen Stellenwert besitzt. Die Deutsche Volks-Union (DVU) Dabei ist die DVU am konsequentesten und damit auch am rückständigsten, wie es einleitend zum ersten Abschnitt im ersten Satz ihres Parteiprogramms heißt: „Deutschland soll das Land der Deutschen bleiben.“ 7 Etwas weiter heißt es: „Alle Anstrengungen für die Bewahrung des deutschen Charakters unseres Vaterlands und die Sicherung seiner Zukunft würden sinnlos, wenn es Politikern im Bund mit der Meinungsindustrie gelänge, Deutschland in einem Vielvölkerstaat beziehungsweise einer „Europäischen Union“ aufzulösen.“ Es geht aber auch platter, wie ein Zitat aus einem Flyer zur Landtagswahl in Schleswig-Holstein vom 5. April 1992 zeigt - eine Wahl, bei der die DVU mit 6,3 Prozent den Einzug in den Landtag schaffte: „Anatolien den Türken! Schleswig-Holstein den Deutschen! Unser Land soll deutsch bleiben! Die D-Mark darf nicht geopfert werden, Schluss mit dem EG-Fimmel auf deutsche Kosten! “ 8 Die DVU lehnt die EU als „Vielvölkerstaat“ ab und fordert, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Die Wiedereinführung der Deutschen Mark soll dabei den Anfang machen. Das ist populistisch, aber nicht zukunftsfähig. Allgemein muss man allerdings sagen, dass die DVU mit ihrem Vorsitzenden Frey und ihrer National-Zeitung ein Auslaufmodell ist, dessen bisherige Anhänger von NPD und REP aufgefangen werden. 9 Auch die aktuell durchaus brisante Forderung: „Deutsche Soldaten dürfen nicht für fremde Interessen und in fernen Kriegs- und Krisengebieten eingesetzt werden“, wird das nicht verhindern. 10 7 Das aktuelle Parteiprogramm der DVU: http: / / www.dvu-buergerbuero-brb.de/ index-dateien/ Parteiprogramm.pdf (7. Oktober 2009). 8 Zitiert nach Uwe Backes u. Eckhard Jesse: Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1993, 122. 9 S. dazu auch den Beitrag „Der langsame Tod der DVU“ in der taz v. 7. Oktober 2009. 10 Punkt 3 des Parteiprogramms, s. Anm. 7. <?page no="187"?> Das Bild von Europa im deutschen Rechtsextremismus 183 Die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) Die NPD ist ideologisch nicht anders ausgerichtet und verharrt ebenfalls auf diesem nationalistisch-rassistischen Niveau. Sie sieht „Volkstum“ und „Familie“ als die Basis der Nation an und lehnt jede Vermischung ab: „Deutschland ist das Land der Deutschen und somit die Heimstatt unseres Volkes“, und: „Volkstum und Kultur sind die Grundlagen für die Würde des Menschen.“ Dem entspricht die radikale Ablehnung jeder Art von Integrationsversuch gegenüber Ausländern, wobei die NPD keinen qualitativen Unterschied zwischen Arbeitskräften und Asylbewerbern macht. Ihr Ziel ist die Entfernung aller Ausländer aus Deutschland. Eine rassistische Differenzierung innerhalb der Gruppe der Ausländer wird nicht vorgenommen. Außenpolitisch kann eine solche Partei die Entwicklung zur EU nicht akzeptieren, nicht einmal aus realpolitischem Kalkül, denn jede Union bedroht die völkisch definierte Identität: „Es schadet dem Volk, wenn Deutschland sich als unabhängiger Staat selbst aufgibt, um abhängiger fremdbestimmter Teil eines keinem Volk verpflichteten Wirtschaftsimperiums „EG/ EU-Europa“ zu werden“. Sie fordert eine Rückkehr zur alten Idee eines „Europa der Völker“ - die wie bei der DVU von der Rückkehr zur D-Mark eingeleitet werden solle. Der völkische Nationalstaat, wie ihn die NPD definiert, ist aber ein kriegerischer, aggressiver, der die Forderung nach einer Revision der nach dem Zweiten Weltkrieg gezogenen Grenzen einschließt. Auch dazu finden sich im Parteiprogramm klare Formulierungen: „Die Wiederherstellung Deutschlands ist mit der Vereinigung der Besatzungskonstruktionen BRD und DDR nicht erreicht. Deutschland ist größer als die Bundesrepublik! “ Immerhin verspricht die NPD - und das klingt schon wieder nach der Lingua Tertii Imperii -, dass „das deutsche Volk Freundschaft und gute Beziehungen zu allen gutwilligen Nationen anbietet“ (Hervorhebung durch Verf.). 11 Die immanente Drohung des „Wir können auch anders“ ist die schärfste Absage an die Möglichkeit einer friedensorientierten Europapolitik. Die Republikaner (REP) Diese Partei stellt insofern einen Sonderfall dar, als sie aus einer Abspaltung von CSU-Mitgliedern entstanden ist, die ursprünglich nicht prinzipiell gegen die europäische Einigung eingestellt waren. Im ersten Parteiprogramm vom 26. November 1983 wandte man sich deshalb auch noch gegen „nationalstaatlichen Egoismus“ 12 und setzte sich für die politische Einigung Euro- 11 Alle Zitate aus dem aktuellen Parteiprogramm der NPD: http: / / www.npd.de/ parteiprogramm/ (8. Oktober 2009). 12 Zu den REP s. Bernd Neubacher: Die Republikaner im baden-württembergischen Landtag - von einer rechtsextremen zu einer rechtsradikalen, etablierten Partei? , Diss. Stuttgart 2002, s. <?page no="188"?> Andreas Ruppert 184 pas ein. Das rasante Abdriften der Partei ins rechtsradikale Lager ist wesentlich der parteiinternen „Machtergreifung“ des Demagogen Franz Schönhuber zu verdanken, der nicht nur durch das offene Bekenntnis zu seiner Mitgliedschaft in der Waffen-SS, sondern auch durch Programmatik, diktatorische Herrschaft in der Partei und in der Praxis seiner Wahlkämpfe rechtsradikale Wähler mobilisieren wollte, um mit ihrer Hilfe in die Parlamente einziehen zu können. In der Dinkelsbühler Erklärung vom 3. Dezember 1989 - ein halbes Jahr nach ihrem großen Erfolg bei der Europawahl vom Juni des Jahres, als die Republikaner mit 7,1% der Stimmen ins Straßburger Parlament einzogenheißt es: „Wir Republikaner halten den deutschen Nationalstaat ebenso wenig für überholt wie alle Nationalstaaten in Europa und wollen auf dieser Grundlage das wiedervereinigte Deutschland als starken und ehrlichen Partner in eine gesamteuropäische Konföderation der Vaterländer führen, die jedem Land seine nationale Souveränität, seine kulturelle Eigenart und seine wirtschaftliche Potenz im freien Handel zum gegenseitigen Nutzen bewahrt.“ 13 Um das Stichwort „Täuschung“ noch einmal aufzugreifen - hier würde Victor Klemperer vermutlich warnen: „Passen Sie auf, wenn die von „ehrlich“ sprechen.“ Ich zitiere zum Europabild der REP noch aus dem aktuellen Parteiprogramm: „Europa der Vaterländer Wir sagen ja zu Europa, aber nein zu dieser EU. Deutschland ist untrennbar verbunden mit der europäischen Kultur- und Geistesgeschichte. Als großem Staat in der Mitte Europas kommt Deutschland eine besondere Verantwortung dabei zu, dieses geschichtliche Erbe zu bewahren und weiterzuentwickeln. Die Stärke Europas liegt in seiner Vielfalt. Sie darf nicht durch Gleichmacherei abgelöst werden. Grundlage Europas muss in Zukunft die freundschaftliche Zusammenarbeit unabhängiger Nationalstaaten sein.“ 14 Immerhin wird nicht die „Gutwilligkeit“ als Bedingung genannt - die REP möchten salonfähig bleiben und vermeiden den offenen Rekurs auf den Nationalsozialismus, den umgekehrt die NPD bewusst betont. Im Detail wird im Übrigen, ehrlich und populistisch, ausgeführt, was aktuell am meisten stört: die Nachzugregelungen für in der EU lebende Ausländer. Und nun erscheint plötzlich eine verräterische Forderung - die nach der http: / / elib.uni-stuttgart.de/ opus/ volltexte/ 2002/ 1139/ pdf/ Dissertation_Bernd_Neubacher.pdf (15. Oktober 2009), Zitat S. 64. 13 Deutsche Interessen haben Vorrang, Dinkelsbühler Erklärung der Republikaner zur Europawahl, 1989. 14 Parteiprogramm der REP unter: http: / / www.rep.de/ upload/ CMS/ rep.de/ Daten/ Partei/ Parteiprogramm/ programm_word.doc (14.9.2009) <?page no="189"?> Das Bild von Europa im deutschen Rechtsextremismus 185 „Einhaltung deutscher Reinheitsgebote“. 15 Was mag damit gemeint sein? Die Denkmöglichkeiten reichen vom berühmten „Bayerischen Reinheitsgebot“ von 1516 bis zu den Nürnberger Gesetzen von 1935. Beide schließen sich nicht aus, hat doch Kurt Tucholsky in einem Bonmot auf die beiden wichtigsten deutschen Leidenschaften hingewiesen, das Biertrinken und den Antisemitismus. Die REP fallen im Übrigen noch dadurch auf, dass sie die Gleichberechtigung der slawischen Staaten nicht anerkennen. Das hat eine rassistische Basis - denn der Slawe ist immer noch der „Untermensch“, und eine historische - man hat gegen die slawischen Völker den letzten Krieg zuerst gewonnen und zuletzt verloren. Dazu kommt ein aktuelles politisches Kalkül mit dem Anspruch, nunmehr für die Vertriebenen oder zumindest für ihren organisierten Teil zu sprechen, nachdem die bisherigen Führungsmächte auf diesem Gebiet, CDU und CSU, begonnen haben, sich tendenziell von dieser lange so wichtigen Klientel abzuwenden. Das Parteiprogramm formuliert die Forderung, die allerdings merkwürdig verhalten klingt und eher wie ein Rückzugsgefecht aussieht: „Keine Freizügigkeit für Angehörige ost- und südosteuropäischer Staaten, die in die Europäische Union aufgenommen werden“. 16 Die Republikaner hatten bei der Wahl zum Europäischen Parlament im Juni 1989 7,1 Prozent erhalten. In diesem Jahr sind sie mit 1,3% gescheitert. Das muss noch nicht darauf hindeuten, dass ihre Ansprüche keine Akzeptanz gefunden hätten. pro NRW Diese neue Bürgerbewegung, die bei den Kommunalwahlen in NRW vom 30. August 2009 einige Erfolge erzielen konnte, kann man hier außer Acht lassen, da ihr „Kurzprogramm“ noch keine europapolitische Aussage enthält. Ihre innenpolitischen Ziele aber gehen mit denen der genannten Parteien konform: Deutsche Ordnung und Sauberkeit werden gegen die Überfremdung durch Ausländer und vor allem Zuwanderer aus islamischen Ländern gesetzt. Die „Bewegung“ ist aus dem Widerstand gegen den Bau einer Moschee in Köln entstanden und breitet sich auf kommunalpolitischer Ebene aus. Andere Städte, etwa Frankfurt am Main, haben mit ähnlichen Problemen zu kämpfen. 15 Parteiprogramm REP, wie Anm. 14. 16 Parteiprogramm REP, wie Anm. 14. <?page no="190"?> Andreas Ruppert 186 Fazit Die Konsequenz aus den Widersprüchen zwischen einer tradierten Theorie und einer gegenwärtigen Realität, die anerkannt werden muss, ist die Vorstellung eines Europas ohne Europa. Damit meine ich die Akzeptanz der Notwendigkeit einer Zusammenarbeit europäischer Staaten unter drei Voraussetzungen, die unverrückbar sind: die Eigenständigkeit des eigenen Staates darf nicht berührt werden die ethnische Identität darf nicht durch Zuwanderung gefährdet werden - Deutschland muss eine führende Rolle garantiert bleiben. In Konsequenz ist das Ganze eine Absage an unsere Vorstellung von Gleichheit und stattdessen die Postulierung der Ungleichheit von Individuen, Ethnien und Staaten. Auch hier ist die NPD in ihrem Programm am deutlichsten: „Wir Nationaldemokraten bekennen uns zur Vielfalt des Lebens und seiner Erscheinungen in Natur und Kultur und deshalb zur Anerkennung und Achtung der natürlichen Ungleichheit der Menschen. Gleich sind die Menschen vor dem Gesetz und in der Unantastbarkeit ihrer Würde.“ 17 Das ist das Programm einer rassistischen Politik, die dem Geist der EU widerspricht. Die Haltung der rechtsradikalen Presse: Nation und Europa und Junge Freiheit Nation und Europa Auch in der rechtsextremen Presse spiegeln sich die verschiedenen Standpunkte. Am fortschrittlichsten klingt der Name der Zeitschrift Nation und Europa. Tatsächlich war ihr Gründer Arthur Ehrhardt ein Sturmbannführer der Waffen-SS gewesen, dessen Erfahrungshorizont das verzweifelte Bemühen seiner Truppe war, aus den angeblich „germanischen“ Bestandteilen Europas ihren Nachwuchs zu rekrutieren - also ein Mann vom ideologischen Kaliber Léon Degrelles. Wie stark die Zeitschrift noch in der Tradition ihres Gründers steht, zeigt das aktuelle Buchprogramm, dessen Gewinne die Zeitschrift überhaupt am Leben halten: Es handelt sich überwiegend um apologetisches Schrifttum über die Waffen-SS. Das Europabild dieses Mannes ist also nationalistisch und rassistisch von Anfang an und damit ein genaues Gegenbild zur Vision Robert Schumans. Allerdings ist es dem Gründer gelungen, seine Zeitschrift zu einem in der westeuropäischen Rechten anerkannten Sprachrohr zu machen und damit in der Öffentlichkeit zu demonstrieren, dass es einen hartnäckigen rechten 17 Parteiprogramm der NPD, wie Anm. 11. <?page no="191"?> Das Bild von Europa im deutschen Rechtsextremismus 187 Gegenentwurf zum Europabild der späteren EU gibt. 18 Die Nachfolger Ehrhardts in der Redaktion weisen im Übrigen enge Beziehungen zu den parteipolitisch gebundenen Rechten auf, vor allem zu NPD und REP. Selbst das Gründungsfossil der NPD, Adolf von Thadden, tauchte als Mitherausgeber wieder auf. Die internationale Ausrichtung schloss dabei nicht aus, die „Ausländerfrage“ in den Mittelpunkt der Berichterstattung zu stellen und die Panik vor einer „Überfremdung“ auszubeuten. Die dahinter stehende Angst ist die aller Rechten in allen Ländern vor der „multikulturellen Gesellschaft“. Dazu sei nur ein Beispiel aus dem Jahr 1988 zitiert: „Die Nachrichten mehren sich, dass farbige Ausländer vermehrt dazu übergehen, sich als Staat im Staate zu etablieren“. 19 Etwas platt wird die Brücke von der ganz kleinteiligen Angst vor dem Fremden zum internationalistischen Anspruch gezogen, indem diese „Feinde Deutschlands“ zugleich als „Feinde Europas“ markiert werden. Immerhin darf ich im Vorgriff darauf hinweisen, dass das hier von einer rechtsradikal und rassistisch agierenden Zeitschrift gemalte Bild an anderer Stelle in dem von der „Festung Europa“ ganz offiziell wieder auftauchen wird. 20 Junge Freiheit Die 1986 als Schüler- und Studentenzeitung von Dieter Stein in Freiburg gegründete Junge Freiheit ist ein Scharnier zwischen rechtsradikalen und bürgerlich-konservativen Lesern. Sie geht dabei so zurückhaltend vor, dass das Bundesverfassungsgericht im Mai 2005 den Verfassungsschutzbehörden einzelner Länder verbot, sie der Kategorie „Rechtsextremismus“ zu subsumieren und sie zu beobachten. Auch ist es ihr gelungen, nicht nur Leser, sondern auch Interviewpartner aus allen politischen Richtungen zu gewinnen. So fällt es dann nicht auf, wenn auch Antisemiten zu Wort kommen oder Holocaust-Leugner verteidigt werden - auch diese werden in die Behauptung einer „Vergrößerung der Vielfalt und Lebendigkeit der demokratischen Meinungsbildung“ eingebunden. Im Medien-Mainstream findet diese Indifferenz in der Idee der „Ausgewogenheit“, die es zu bewahren gelte, ihre Parallele. Es ist dabei Methode, dass Äußerungen, die eindeutig rechtsextrem sind, von Interviewpartnern zu verantworten sind, so dass die Zeitschrift und ihr 18 Die Zeitschrift bietet ihrer Leserschaft die regelmäßige Rubrik „Eurorechte im Blickpunkt“. 19 Nation und Europa, 38. Jahrgang/ 1988, Nr. 1. Hier zitiert nach Uwe Backes u. Eckhard Jesse (eds.): Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Band III: Dokumentation, Berlin 1988, 82. 20 Die Zeitschrift Nation und Europa bietet ihrer Leserschaft eine eigene regelmäßige Rubrik mit dem Titel „Aktuelles aus Multikultopia“. <?page no="192"?> Andreas Ruppert 188 Herausgeber selbst nicht angegangen werden können. Verräterisch ist auch der Buchdienst der Zeitschrift, der unter dem Stichwort „Politik, Wirtschaft, Gesellschaft“ gleich sieben Titel von Alain de Benoist auflistet, dem „Vordenker“ der Neuen Rechten in Frankreich. Der Verfassungsschutz verweist darauf, dass es vor allem die Junge Freiheit sei, die ihm in Deutschland eine Plattform biete. Andererseits wird jede äußere Zusammenarbeit der Jungen Freiheit mit rechtsextremen Parteien peinlich vermieden. Zu Europa äußert sich die Junge Freiheit nicht grundsätzlich, sondern nur in Einzelfällen. So gibt sie etwa der Kritik am Vertrag von Lissabon breiten Raum, vor allem nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum deutschen Begleitgesetz vom Juni 2009. Eine Ablehnung der EU wird nicht erkennbar, sondern nur eine Ablehnung einer weitgehenden Preisgabe eigenstaatlicher Rechte. Die Option der Jungen Freiheit ist die Vorstellung einer Neuen Rechten, die sich nicht mehr aus dem Lager alter oder neuer Nationalsozialisten herleitet. 21 Widersprüche Die Rechtsradikalen verwickeln sich mit ihrer internationalen Ausrichtung in verschiedene Widersprüche. Die Feinde werden unterschiedlich akzentuiert und mögliche Bündnissysteme durchgespielt. Sie wirken manchmal skurril, müssen aber ernst genommen werden. Ich will nur abstrakt die Linien nennen. Die USA werden einerseits radikal abgelehnt. Der „melting pot“ ist das Symbol für eine Gesellschaft, die die Rechtsradikalen wie keine andere in Panik versetzt, jene schon genannte „multikulturelle“ Gesellschaft, wie sie sich in Großstädten wie Berlin und Frankfurt längst entwickelt hat. Das aktuelle Parteiprogramm der REP bringt die Ängste auf den Punkt: „Außerdem ist erfahrungsgemäß jede multikulturelle Gesellschaft eine Konfliktgesellschaft.“ 22 Andererseits aber werden die USA als der mächtigste Bündnispartner gegen Russland und gegen den internationalen Islam benötigt. Die Haltung gegenüber Russland ist ähnlich widersprüchlich. Russland zeigt heute eine Gesellschaft, in der sich rechtsradikale, nationalistische und antisemitische Strömungen am ungestörtesten artikulieren können und damit fast eine Vorbildfunktion für die westeuropäische Rechte erhalten. Entgegen allem anti-slawischen Rassismus gibt es immer wieder eine Zusammenarbeit zwischen deutschen und russischen Rechtsradikalen. Ich nenne nur die zeitweilige Zusammenarbeit des Verlegers und DVU-Vorsit- 21 Zur Jungen Freiheit s. Stephan Braun u. Ute Vogt (eds.): Die Wochenzeitung „Junge Freiheit“, Wiesbaden 2007. 22 Parteiprogramm REP, wie Anm. 14. <?page no="193"?> Das Bild von Europa im deutschen Rechtsextremismus 189 zenden Frey mit dem bekanntesten Anführer der russischen Rechtsradikalen, Wladimir Schirinowski. Innenpolitisch zielt der Kampf gegen Überfremdung bevorzugt gegen jene Ausländer, die nicht nur ethnisch, sondern auch durch ihre Religion als Bedrohung empfunden werden - die Moslems. Gleichzeitig ist der internationale Islam aber ein „verlässlicher Partner“ sowohl gegen das Feindbild USA und gegen das ewige Feindbild Israel, denn antisemitisch sind alle diese rechten Bewegungen, auch wenn sie es aus rein taktischen Gründen nicht immer offen sagen und schreiben. Nur Nation und Europa ist da offen - das Blatt dankte in seiner Ausgabe von Juli/ August 2006 dem iranischen Präsidenten Ahmadinedschad ausdrücklich für seine Unterstützung der internationalen Holocaust-Leugner: „Danke, Herr Präsident“. Die umgekehrte Idee eines Bündnisses mit Israel gegen den Islam ist in Deutschland bisher nicht thematisiert worden. Eine Zusammenarbeit mit Israel ist für deutsche Rechte nicht einmal vorstellbar - an diesem Punkt ist die französische Neue Rechte in ihrem Kampf gegen den Islam im Allgemeinen und die maghrebinischen Minderheiten im Besonderen flexibler. Am Ende kann es aber auch geschehen, dass eine eigenständige europäische Politik von Parteien wie DVU und NPD gefordert wird, die sonst Europa ablehnen. Dies zeigte sich im sog. Kaukasuskonflikt, ich zitiere dazu die NPD-Zeitung Deutsche Stimme vom 3. September 2008: „Die Beschlüsse des EU-Kaukasusgipfels vom Montag haben gezeigt, daß die Europäische Union nach anfänglicher Zurückhaltung gegenüber Rußland nun endgültig auf US-Vasallentum umgeschwenkt hat […] In ihrer Hörigkeit gegenüber den Amerikanern vertritt die EU lieber transatlantische als europäische Interessen. Es stellt sich wieder einmal die Frage nach dem Sinn einer EU, die nicht bereit ist, die Interessen Europas zu vertreten.“ 23 Letzten Endes würde alles darauf hinauslaufen, dass Rechtsradikale auch international verschiedene Bündnisse einzugehen bereit wären, um die gemeinsamen Gegner zu bekämpfen und zu vernichten. „Vernichten“ des Gegners ist immer das letzte Ziel dieser Gruppierungen. Danach würden sich allerdings die Bündnispartner gegenseitig anfallen, denn das Ziel ändert sich nicht. 24 23 S. http: / / www.deutsche-stimme.de/ ds/ ? p=383 (14.9.2009) 24 In einem Geleitwort zu einer NPD-Veröffentlichung schreibt der Schweizer Rechtsradikale Gaston Armand Amaudruz im Jahre 1999: „In diesem Kampf ist jeder Gegner des heutigen Amerika objektiv unser Verbündeter, auch wenn er morgen unser Feind werden sollte.“ Zitiert in Thomas Grumke: „’Solidarität ist eine Waffe’. Die rechtsextreme Internationale: Ideologie, Vernetzung und Kooperation. In: Thomas Grumke, wie Anm. 3, 43-59, hier 47. Zur europäischen Rechten s. auch Jean-Yves Camus: „Strömungen der europäischen extremen Rechten - Populisten, Integristen, Nationalrevolutionäre, Neue Rechte“. In: Thomas Grumke, wie Anm. 4, 236-260. <?page no="194"?> Andreas Ruppert 190 Die Anziehungskraft rechter Gedankengänge Die Attraktivität rechtsradikaler Gedankengänge liegt in ihrer partiellen, teilweise überraschend hohen Übereinstimmung mit Grundhaltungen von Bevölkerungsteilen, die in den modernen demokratischen Gesellschaften der europäischen Länder als „konservativ“ oder einfach als „rechts“ akzeptiert werden. Die Übereinstimmung ist aber nicht eine Schimäre, die von den Propagandisten der Rechten erfunden wurde, um über ihren eigenen engen Zirkel hinaus Menschen zu täuschen, sondern ist in den Grundhaltungen selbst angelegt. Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und die Bereitschaft zur Aggressivität können eingebracht werden, wenn man das Europa der EU als neuen eigenen Staat definiert. Man hat zwar auch Angst vor ihm, sieht aber auch eine Schutzfunktion durch die neu gewonnene Stärke. Die Zeitschrift Nation und Europa etwa nimmt ihre offensive Propagierung des Nationalstaats in den jüngsten Ausgaben zurück und reiht sich in die Gruppe derer ein, die defensiv vor EU-Zentralismus und EU-Bürokratie warnen. 25 Und es ist der CSU-Politiker Gauweiler, der das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon erwirkt hat - ein Urteil, das von den Einigungsgegnern als Sieg gefeiert wird. Man muss weder Nationalist noch Rassist sein, um vor der EU-Bürokratie besorgt zu sein und einen Verlust an Demokratie zu befürchten - die geringe Wahlbeteiligung bei der Europawahl 2009 ist auch Ausdruck dieser gefühlten Ohnmacht. Man muss auch kein Rassist sein, um seinen Wahlkampf mit Appellen an die ausländerfeindlichen Teile der Bevölkerung zu bestreiten, wie es der hessische Ministerpräsident Koch vor vier Jahren oder wie es vor der Kommunalwahl vom 30. September 2009 in Nordrhein-Westfalen der nordrheinwestfälische Ministerpräsident Rüttgers taten. 26 Offen rassistisch aber äußerte sich der Sozialdemokrat Thilo Sarrazin - sieben Jahre lang Finanzsenator in Berlin und seit 2009 im Vorstand der Deutschen Bundesbank -, als er im Herbst 2009 die Emigranten in Berlin beschimpfte und dafür Zustimmung aus weiten Kreisen bis hin zum ehemaligen BDI-Präsidenten Hans- 25 Vgl. etwa den Beitrag „EU bleibt ‚Eliten’-Projekt“ in der Ausgabe 9/ 2009 oder den Beitrag „Wie uns die EU regiert“ in der Ausgabe 7-8/ 2009. 26 Zu Koch s. seine rassistischen Äußerungen und ein ebenfalls rassistisches Plakat im Vorfeld der hessischen Landtagswahl vom 27. Januar 2008; selbst der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland attestierte ihm darauf hin geistige Nähe zur NPD, s. http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Roland_Koch (7. Oktober 2009). Zu Rüttgers Bemerkungen am 26. August 2009 s. Spiegel-Online: http: / / www.spiegel.de/ politik/ deutschland/ 0,1518,646974,00.html (7. Oktober 2009). Die Hetze im Wahlkampf hat übrigens dem Düsseldorfer CDU-Kandidaten für das Amt des Oberbürgermeisters nicht geschadet. <?page no="195"?> Das Bild von Europa im deutschen Rechtsextremismus 191 Olaf Henkel erhielt. 27 Die einen sind Rassisten, die anderen bedienen rassistische Ängste und ich möchte nicht entscheiden, wer hier die schlimmere Bedrohung für den gesellschaftlichen Frieden darstellt - wobei ich aber auch davor zurückscheue, von vornherein jeden originären Rassismus bei denen auszuschließen, die angeblich „nur“ taktisch rassistisch argumentieren. Wer sich rassistisch äußert, muss nicht von vornherein gegen den Vorwurf des Rassismus verteidigt werden. In jedem Falle werden tief sitzende Vorstellungen in Teilen der Bevölkerung bedient, und jeder Rechtsradikale darf sich darüber freuen. 28 Dies hat innenpolitische und außenpolitische Konnotationen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen. Innenpolitisch will ich, auf Europa bezogen, nur auf zwei Elemente hinweisen: Die seit Jahren immer weiter verschärften Asylbestimmungen in der Bundesrepublik, die kaum noch die Aufnahme von Flüchtlingen zulassen, und die Verfolgung von Minderheiten in zahlreichen europäischen Ländern: In der angeblich friedlichen Europäischen Union werden in Belgien, Tschechien, in der Slowakei, in Ungarn, Rumänien, Griechenland und anderen Mitgliedsstatten Minderheiten diskriminiert, verfolgt und ihre Angehörigen auch gegen Körperverletzung und Mord oft nur unzureichend geschützt. Außenpolitisch möchte ich die „Festung Europa“ ansprechen, die sich an ihren Grenzen abschottet und gleichzeitig angeblich gemeinsame europäische Interessen an verschiedenen Stellen der Welt verteidigt. Am Mittelmeer betreibt Europa eine Politik, der jeder Rassist zustimmen kann: Das „weiße“ Europa wehrt das „schwarze“ Afrika ab - mit logistischer Hilfe der deutschen Bundespolizei. 29 Nation Europa schrieb schon 1988: „Wir können auf zahlreiche Verbündete in vielen europäischen Ländern verweisen, die zum Teil sehr viel entschiedener gegen die Flut der Farbigen vorgehen, als dies noch in der Bundesrepublik Deutschland der Fall ist. Sie sind unsere Verbündeten, gemeinsam werden wir es schaffen, wenn wir alles daran setzen, unserer Sache zum Erfolg zu verhelfen: Europa muss europäisch bleiben und Deutschland deutsch! “ 30 Die an den südeuropäischen Küsten angetrie- 27 Thilo Sarrazin: Klasse statt Masse. Von der Hauptstadt der Transferleistungen zur Metropole der Eliten, in: Lettre International 86, Herbst 2009, 197-201. 28 Sarrazins Bemerkungen, für die er sich entschuldigte, nachdem sein gut bezahlter Job im Vorstand der Deutschen Bundesbank in Gefahr geriet, fanden Zustimmung z. B. in den Leserbriefen der Frankfurter Rundschau, eines (immer noch) linksliberalen Blattes, s. den Leserbrief von Paula Brandner, Berlin, v. 7. Oktober 2009: „Danke, Herr Dr. Sarrazin! “, oder von Leyla Adatepe, Istanbul, in der gleichen Ausgabe: „Herr Sarrazin sagt, was der „Durchschnittsdeutsche“ denkt, aber nicht aussprechen darf“, aber auch z. B. beim BDI-Präsidenten Henkel, s. Frankfurter Rundschau vom 8. Oktober 2009. Zu Henkel s. auch http: / / deutschlandpolitik.wordpress.com/ 2009/ 10/ 06/ fall-sarrazininterview-mit-hans-olaf-henkel/ (15. Oktober 2009). 29 Frankfurter Rundschau vom 8. Oktober 2009. 30 Nation Europa 38/ 1988, Heft 1; zitiert nach Backes/ Jesse, wie Anm. 3. <?page no="196"?> Andreas Ruppert 192 benen Ertrunkenen beweisen ständig, dass das geeinte Europa seine auch historisch begründete ethische und politische Verantwortung gegenüber der Dritten Welt bisher nicht verstanden hat. Eine eher geistige und politische Grenze wird im Südosten gezogen, gegenüber der Türkei. Hier wird offensichtlich nicht nur das moderne Europa, sondern auch das christliche Abendland verteidigt und eine Grenze gezogen, die bei Rechtsradikalen wie bei einem großen Teil der Bevölkerung zementiert ist, und zwar ungeachtet der Tatsache, dass die deutsche Gesellschaft seit mehr als drei Jahrzehnten mit einer großen türkischen Minderheit weitgehend friedlich zusammenlebt. Man hat manchmal den Eindruck, dass die 1529 und 1683 berechtigte Angst vor den „Türken vor Wien“ heute für die Türken vor Straßburg oder Brüssel neu provoziert wird. Mich hat diese Abwehrhaltung immer überrascht, denn rational nachvollziehbar ist sie nicht und politisch klug auch nicht. Es ist schwer nachvollziehbar, dass Länder in die Europäische Union aufgenommen wurden, die bis zu einer modernen demokratischen und nicht-korrupten Gesellschaft noch einen weiten Weg zurückzulegen haben, einer Türkei aber das Tor versperrt wird, die seit mehr als 80 Jahren als demokratischer und laizistischer Staat funktioniert, ohne dass ich die schwarzen Flecken der türkischen Demokratie dabei übersehe. Eine ähnlich starke, nur nicht ganz so einfach zu begründende Ablehnung gibt es gegenüber den osteuropäischen Ländern. Wobei die Grenzen unterschiedlich gezogen werden. Die NPD hetzte im jüngsten Bundestagswahlkampf massiv gegen Polen, die Rumänenhetze von Ministerpräsident Rüttgers wurde schon erwähnt. Zuletzt sei aber auf die geschlossene Ablehnung der Ukraine hingewiesen. Hier lebt das alte Bild der „Untermenschen“ wieder auf, wobei die traditionelle Grenze aber hinausgeschoben wurde. Während das katholische Polen mehrheitlich von den Staaten der Europäischen Union als „Familienmitglied“ anerkannt ist, sind sich in der Ablehnung der Ukraine fast alle einig - und auch hier können sich die Rechtsradikalen gut einbringen. Ich habe eingangs Robert Schuman erwähnt. In Scy- Chazelles nahe Metz, dem Sterbeort von Schuman, besteht das Europazentrum Robert Schuman (Centre européen Robert Schuman - CERS). 31 Dessen Directeur Général Richard Stock hielt in Detmolds französischer Partnerstadt St. Omer im Mai 2007 einen klugen Vortrag über Europa - in dem er gleichzeitig scharf auch nur den Gedanken daran zurückwies, dass die Ukraine ebenfalls dorthin gehören könne. Von Russland will ich gar nicht erst reden - das doch auch unbezweifelbar ein europäisches und sogar ein christliches Land ist - jedoch in keinem politischen Europakonzept vorkommt, außer als Gegner, vor dem die Angst ständig neu geschürt wird. 31 S. http: / / www.centre-robert-schuman.org/ index.php? lang=de (30. Dezember 2009). <?page no="197"?> Das Bild von Europa im deutschen Rechtsextremismus 193 Epilog Ich möchte zum Schluss den Lichtkegel auf eine Episode in Ostwestfalen richten, denn historische und politische Analysen verifizieren sich im konkreten lokalen Geschehen. Ein Paderborner Gymnasium pflegt seit Jahren eine Freundschaft mit einem polnischen Gymnasium in der Partnerstadt Przemysl. Przemysl liegt in Ostpolen, nahe der ukrainischen Grenze, und beiderseits der Grenze gibt es jeweils polnische und ukrainische Minderheiten. In Przemysl besteht auch ein ukrainisches Gymnasium. Als ein Paderborner Hochschullehrer, der Pädagoge Wolfgang Keim, nach einem Besuch mit seinen Studierenden in Przemysl die Einrichtung einer Partnerschaft auch zu dieser Schule anregte, traf er hier wie dort auf eisige Ablehnung - er hatte ganz offensichtlich ein Tabu verletzt. 32 Das „christliche Abendland“ endet am Bug und wird auch dort verteidigt, im Übrigen auch hier wieder mit logistischer Unterstützung der deutschen Bundespolizei. Mir scheint, da sind zu viele Ausgrenzungen nach innen und nach außen - es wäre konsequent, diese Grundhaltungen in Frage zu stellen, wenn man es mit Europa ernst meint. Denn ein neuer europäischer Nationalstaat, der nach den Regeln der alten einzelnen Nationalstaaten funktioniert, kann nicht das Ziel der Überwindung der Grenzen in Europa sein. 32 Gespräch mit Wolfgang Keim am 4. April 2007. <?page no="198"?> Vincent Hoffmann-Martinot Deutschland und Frankreich in einem dezentralisierten Europa Mit mehr als 2.100 deutsch-französischen Städte-, Gemeinde- und Kreispartnerschaften - das sind rund 38 Prozent aller europaweit und 35 Prozent aller weltweit bestehenden Verbindungen - unterstreichen die deutsch-französischen Partnerschaften eindrucksvoll die deutsch-französische Achse. Das Beispiel der deutschen Städte- und Gemeindepartner hat französische Gebietskörperschaften dazu veranlaßt, sich gegenüber dem Staat mehr zu autonomisieren, genauso wie die Kooperation zwischen den vier “Motoren“ für Europa Baden-Württemberg, Rhône-Alpes, Katalonien und der Lombardei den Emanzipationswillen der französischen Regionen stark stimuliert hat. Die meisten französischen lokalen Politiker und Verantwortlichen beneiden die deutschen Kommunen um ihre Macht und ihre hohe Legitimität. Um die Verschiedenheit der heutigen Strukturen der kommunalen Selbstverwaltung in Europa zu deuten und zu verstehen, ist es notwendig, sich geschichtliche und politische Prozesse zu vergegenwärtigen, 1 bevor man Konvergenzfaktoren und dann Chancen von institutioneller Verbesserung (métissage) - das heißt eine Übernahme der geeignetsten Elemente der verschiedenen kommunalen Modelle - erwägen kann. I. Traditionen und Modelle der kommunalen Selbstverwaltung in Europa Die Entstehung und Verbreitung des napoleonischen Modells Während der Revolution und der napoleonischen Zeit hat Frankreich seine territoriale Verwaltungsstruktur mehr oder weniger autoritär vom Norden bis zum Süden Europas exportiert, so daß allmählich mehr als die Hälfte der Europäer im selben einheitlich organisationellen Rahmen verwaltet wurden, 1 Lothar Albertin: „Frankreichs Regionalisierung. Abschied vom Zentralismus? “, in: Frankreich-Jahrbuch 1988, Opladen: Leske+Budrich: 135-156. Lothar Albertin: „Les rapports entre les Länder et les communes en Allemagne fédérale“, communication au colloque Les relations entre les pouvoirs locaux en France et en Europe occidentale, Bordeaux, CERVL, 9-11 décembre 1982; Lothar Albertin: „Urbanisierungsdruck und Kommunalreform in der Bundesrepublik und in Frankreich“, in: Sociologia Internationalis, Bd. 15, Nr. 1/ 2, 1977: 9-30. <?page no="199"?> Deutschland und Frankreich in einem dezentralisierten Europa 195 mit départements (oder provinces) und Gemeinden, die von Präfekten und Unter-Präfekten überwacht wurden. Dieses Modell fand ein starkes Echo im Ausland, sogar nach Napoleon, denn es bedeutete vermutlich Modernität, Ordnung, Rationalität, und Gleichheit. Zu dieser Zeit war Frankreich das Ideal des modernen Staates, der stark war, denn es war vereinigt und geeint. Er wurde zum Vorbild der anderen oder neuen Nationen und beeinflußte insbesondere viele deutsche Politiker, die die extreme territoriale Zersplitterung ihrer Nation zu einem Ende bringen wollten. 2 Mehrere Komponenten des französischen Modells wurden im 19. Jahrhundert in die deutschen Institutionen integriert, wie die Schaffung der Präfekturen-ähnlichen Regierungsbezirke mit den Regierungspräsidenten und Regierungsvizepräsidenten, oder das Verschwinden der Provinzen, denen eine territoriale Verwaltung auf zwei Ebenen (Gemeinden und Kreise) nachfolgte. Aber die napoleonische Ära wurde vor allem vom Vereinheitlichungsprozess der deutschen Territorien geprägt, dank einerseits der Politik Frankreichs, in seiner Einflußzone Staaten mittlerer Größe wie Württemberg als Gegengewichte zu Preußen schaffen zu helfen, und andererseits der Restrukturierung des preußischen politisch-administrativen Systems, dem französischen Vorbild folgend. Für die Renaissance und Verstärkung der Gemeinden im Sinne der kommunalen Selbstverwaltung am Anfang des 19. Jahrhunderts kennt man die entscheidende Rolle des Freiherrn vom Stein, des „preußischen Turgot“. Seine ganz neue Auffassungen, die den demokratischen Weg Preußens nach der Niederlage durch die napoleonischen Truppen vorbereiteten, kombinierten zwei bestehende Traditionen: die französische, die stark von den revolutionären Prinzipen der Einheitlichkeit der Gesetzgebung und der allgemeinen Bürgerschaft geprägt war, und die germanische (die Institution des Magistrats einerseits, und die relativ große Handlungsfreiheit der Gebietskörperschaften gegenüber einer begrenzten staatlichen Kontrolle andererseits). Der Umfang, die Schnelligkeit und die Dauer des Verbreitungsprozesses des französischen Modells waren einzigartig. Der Einfluß dieses Modells war besonders groß in Ländern, wo die Prinzipien der französischen öffentlichen Verwaltung und des Rechtes schon importiert waren: in den Niederlanden, Belgien, Italien, Spanien, Portugal, Griechenland, aber auch in anderen Kontinenten wie in Afrika und in Südamerika. Obwohl das französische Modell während des 19. Jahrhunderts vorherrschte, traten nach und nach andere Modele in Konkurrenz mit ihm, die später aufkamen und die auch von revolutionär-napoleonischen Prinzipien beeinflußt waren. Als sich die japanische Regierung in den ersten Jahren der 2 Vincent Hoffmann-Martinot: „Zentralisierung und Dezentralisierung“, in: Robert Picht, Vincent Hoffmann-Martinot, René Lasserre & Peter Theiner (eds.): Fremde Freunde. Deutsche und Franzosen vor dem 21. Jahrhundert. München: Piper, 1997: 168-175. <?page no="200"?> Vincent Hoffmann-Martinot 196 Meiji-Ära entschied, die lokalen Institutionen zu modernisieren, begann sie, das japanische Territorium in Präfekturen und Unterpräfekturen zu teilen. Aber sie ging damit nicht weiter, statt dessen importierten die Japaner in den späteren Jahren viel mehr Regeln und Institutionen aus Preußen als aus Frankreich. Welche Hauptmodelle der kommunalen Selbstverwaltung gelten in Europa? Der auf grundlegenden Werten basierenden Klassifizierung von Lawrence J. Sharpe nach, 3 sind drei Hauptwerte entscheidend, wenn man versucht, local government Systeme international zu vergleichen und Muster oder Idealtypen zu identifizieren. Diese sind: Freiheit, Partizipation, und Effizienz. Drei Modelle mit differenzierten Wertekonstellationen sind demnach zu unterscheiden: das französische (einschließlich der meisten südeuropäischen Länder), das britische (Großbritannien, Irland) und das nördlich-zentraleuropäische Modell (die Bundesrepublik, Österreich, die Schweiz, die Niederlande, Skandinavien, und allmählich die neuen oder wiederbelebten osteuropäischen Demokratien). 4 Der Freiheitsbegriff bezieht sich auf die Handlungsinitiative und den Handlungsspielraum der Gebietskörperschaften gegenüber dem Staat. Eine der schwierigste Fragen ist in diesem Zusammenhang: Wie kann man den Grad dieser Freiheit in einem bestimmten Land messen und dann mit anderen Staaten vergleichen? Das ist nicht nur ein rein wissenschaftlich-methodologisches Problem, mit dem sich Politik- oder Verwaltungswissenschaftler beschäftigen, sondern auch ein sehr wichtiges rating-Instrument, das internationale Organisationen wie Internationaler Währungsfonds oder die Weltbank regelmäßig benutzen, um die mehr oder weniger fortschriftliche Lage eines Landes auf dem Weg der Demokratisierung und der Dezentralisierung zu evaluieren, wenn ihm eventuell Kredite zu gewähren sind. Es werden dabei verschiedene finanzielle Kriterien gebraucht, um Ranglisten der dezentralisiertesten Länder je nach dem Anteil der lokalen öffentlichen Finanzen im gesamten Volumen der nationalen Finanzen aufstellen zu können. Solche Konstruktionen sind zwar nützlich, müssen aber von qualitativen Analysen ergänzt werden. Unter den drei Hauptmodellen wirkt das französische als das zentralistischste wegen der pyramidalen und hierarchischen Struktur der öffentlichen Verwaltung (der sogenannten tutelle), wegen 3 Lawrence J. Sharpe: „Theories and values of local government“, Political Studies, Vol. XVIII, No. 2, 1970: 153-174. 4 Joachim Jens Hesse und Lawrence J. Sharpe: „Local Government in International Perspective: Some Comparative Observations“, in: Joachim Jens Hesse (ed.): Local Government and Urban Affairs in International Perspective. Baden-Baden: Nomos, 1991: 603-621. <?page no="201"?> Deutschland und Frankreich in einem dezentralisierten Europa 197 der unmittelbar vom Staat ausgeübten Vielfalt von Funktionen, und der starken territorialen Präsenz der staatlichen Verwaltung. Seit 25 Jahren haben soziologische und politikwissenschaftliche Analysen das Gewicht und die Macht der Zentralverwaltung neu bewertet und relativiert: es gibt Gegengewichte und viele Mechanismen, wie die Ämterhäufung, die Lokalpolitikern einen gewissen Einfluß gegenüber dem Staat verschaffen. Trotzdem bleibt Frankreich auch heute noch eines der zentralistischsten Länder im Westen: weniger als 30% der öffentlichen Beschäftigten arbeiten für Gebietskörperschaften, verglichen mit 60% in Skandinavien oder 70% in den Vereinigten Staaten. Der Staat ist viel präsenter als bei dem britischen und dem nördlich-zentraleuropäischen Modell in Sektoren wie Erziehung, Gesundheit und Polizei, wo die Beamten, Angestellten und Arbeiter in der Lage sind, Dezentralisierungsplänen zu widerstehen. Um nochmals Sharpe zu zitieren: „der Bestandsgrund der Zentralverwaltungen ist die funktionale Unfähigkeit der meisten Gebietskörperschaften; nach dem britischen Motto, „Puten mögen Weihnachten nicht“, 5 und das Interesse der Ministerien ist, den Status quo beizubehalten …“. Der zweite Hauptwert betrifft Typ und Intensität der Teilnahme der Bürger an der Lokalpolitik. Inwieweit ist sie bedeutend in einem bestimmten local government System ? Das britische System weist der aktiven Mitwirkung der Büger in der Lokalpolitik relativ wenig Gewicht zu. In den beiden anderen Modellen ist zweifellos die Rolle der demokratischen Legitimierung, ihrer Prozeduren, Rituale und Symbole besser verankert. Aber die lokale Demokratie ist schwächer im französichen zäsaristischen Modell als im nördlich-zentraleuropäischen Modell, und zwar aus zwei Hauptgründen. Erstens sind die mittelbar und unmittelbar wirkenden Einflußmechanismen der Zentralregierung, die Hauptthemen und Entscheidungen vorbestimmen, relativ stärker. Zweitens sind die Macht und die Herrschaft des (Ober-)bürgermeisters so stark, dass ihm fast keine Akteure in der gemeindlichen oder städtischen Organisation effektiv widerstehen können. Die Allmacht des Bürgermeisters - wie auch die des Präsidenten des Departementsbzw. der Regionalverwaltung seit den Dezentralisierungsgesetzen der 1980er Jahren - wird verstärkt durch seine lange Amtsdauer in der Praxis. Zwar muß sich der französische Bürgermeister alle sechs Jahre zur Wiederwahl stellen, aber die Fälle von Dauer-Amtsinhabern sind zahlreich: Beispiele sind Tony Larue, der erstmals 1935 in Grand-Quevilly Bürgermeister wurde und sechzig Jahre lang ohne Unterbrechung wiedergewählt wurde; oder Jacques Chaban-Delmas, Oberbürgermeister von Bordeaux von 1947 bis 1995, der bezeichnenderweise mit dem Spitzennamen 5 Lawrence J. Sharpe: „Local Government Reorganization: General Theory and UK Practice“, in: Bruno Dente & Francesco Kjellberg (eds.): The Dynamics of Institutional Change. Local Government Reorganization in Western Democracies. London: Sage, 1988: 89-129. <?page no="202"?> Vincent Hoffmann-Martinot 198 „Herzog von Aquitanien“ versehen wurde. Eine solche praktisch unbegrenzte Langlebigkeit gilt in Frankreich - oder galt, dank der Änderungen in den letzten Jahren - als natürlich und ist bisher nie hinreichend in Frage gestellt oder diskutiert worden - trotz einer zunehmenden Zahl von Korruptionsaffären, die das Problem der Machtbegrenzung der Bürgermeister neu aufwerfen. Die extrem starke Position des Chefs der Exekutive in den Gebietskörperschaften wird in Frankreich durch die traditionell verbreitete Ämterhäufung noch verstärkt. Seit 1985 haben Gesetze jedoch begonnen, dieser Praxis der unbeschränkten Ämterhäufung Grenzen zu setzen. Die letzte Linksregierung hatte eine noch restriktivere Gesetzgebung vorangetrieben, die die parallele Ausübung eines Parlamentsmandats und eines lokalen exekutiven Mandats oder den Vorstitz in zwei lokalen Exekutivorganen untersagt. Diese bedeutende Entwicklung der Konzeptionen und Regeln der berufsmäßig betriebenen Politik, die von den meisten Bürgern befürwortet wird, dürfte Ausdruck der unabdingbaren Modernisierung des politischen Lebens sein. Schließlich sollte die politische Beteiligung der Bürger in Frankreich durch eine Reihe von unterstützenden institutionellen und politischen Faktoren begünstigt werden: Mechanismen einer repräsentativen und direkten Demokratie - das lokale Referendum wurde in der Bundesrepublik seit ihren Anfangsjahren anerkannt, während es in Frankreich bis heute fast nur eine konsultative Funktion besitzt - lebendige Repräsentationsstrukturen unter- und oberhalb der kommunalen Ebene sowie regelmäßige thematische Mobilierungs- und Sensibilisierungsarbeit lokaler Parteiorganisationen. 6 Effizienz ist der dritte Wert, durch den die Klassifizierung der local government Systeme vorgenommen werden kann. Die lokale Autonomie kann nur gewährleistet werden, wenn Gebietskörperschaften über ausreichende Ressourcen verfügen, die auf die effizienteste Weise genutzt werden. In Europa unterscheidet sich das traditionell französische Modell von den anderen, indem es der Effizienz eine schwache Bedeutung beimißt. Im britischen Modell werden die Gebietskörperschaften vor allem als funktionale Einheiten betrachtet, und nur sekundär als politische und demokratische Strukturen. Hingegen gelten diese mehr im nördlich-zentraleuropäischen Modell. Einer der relevantesten Indikatoren, der die Bedeutung der Effizienz in einem bestimmten Land widerspiegeln kann, ist die allgemeine Haltung und Strategie gegenüber den Kleingemeinden. In keinem Land Europas ist die Anzahl der Kommunen so hoch wie in Frankreich. Die Zahl ist mehr als 6 Christophe Prémat: „Les effets de l’institutionnalisation du référendum local en France et en Allemagne“, Revue française de science politique, 58(2), avril 2008: 257-284. <?page no="203"?> Deutschland und Frankreich in einem dezentralisierten Europa 199 doppelt so hoch wie in Deutschland. 7 Die territoriale Neuordnung ist ebenso wie die Rationalisierung des französischen Verwaltungsraums ein altes Vorhaben, das sich bis zur Französischen Revolution zurückverfolgen läßt. Aber erst in den 1960er Jahren, vor dem Hintergrund tiefgreifender sozioökonomischer Umwälzungen und einer rapiden Urbanisierung, erschien sie wirklich auf der Tagesordnung. 1971 wurde ein Gesetz zur kommunalen Neugliederung verabschiedet. Die Bilanz seiner Anwendung muß allerdings als ausgesprochen mager bezeichnet werden. Die meisten Eingemeindungen betrafen lediglich zwei oder drei kleine Orte. Dieser Mißerfolg ist auf mangelnde Unterstützung von Seiten der Bevölkerung der betreffenden Kommunen, vor allem aber auf das von Pierre Grémion als „periphere Macht“ bezeichnete Zusammenspiel zwischen Vertretern des Zentralstaates und gewählten öffentlichen Notabeln zurückzuführen. Wie Grémion richtig bemerkte: „Beamte auf territorialer Ebene und gewählte örtliche Repräsentanten sind Mitglieder desselben Systems von Honoratiorenmacht. Ein subtiles Spiel von Konfliktaustragung und Komplizenschaft bindet sie einander. Gewählte und Bürokraten sind aufeinander angewiesen, wenn es darum geht, die öffentlichen Angelegenheiten zu verwalten. Ihre gegenseitige Abhängigkeit kann so weit gehen, daß sich ihre Rollen überschneiden“. II. Der Trend zur Konvergenz der Modelle in Europa Nach einer Reihe von Artikeln, Berichten und Studien aus den letzten Jahren, unterliegt die gegenwärtige Entwicklung der Gebietskörperschaften ähnlichen allgemeinen Tendenzen, und zwar in allen europäischen Ländern, so daß die von einem Land zu einem anderen beobachteten Unterschiede viel weniger bedeutend sind als noch vor zehn Jahren. Dieselben Ursachen haben demnach identische Auswirkungen, was zu einer allmählichen Homogenisierung der bestehenden local government Modelle führen sollte. Folgt man der These der Befürworter des sogenannten Governance-Approach, so verbreiten sich im heutigen öffentlichen Sektor der westlichen Länder neue Weltanschauungen, Spielregeln und Verhaltensweisen, die eine tiefe Wandlung der bestehenden Strukturen mit sich bringen, und zwar in Richtung eines New Public Managements, in Deutschland Neues Steuerungsmodell genannt. Dies soll zu einer Konvergenz der local government Systeme führen, im Sinne von mehr Dezentralisierung, weniger Fragmentierung und mehr Demokratie. 7 M.R. Martins: „Size of municipalities, efficiency, and citizen participation: a crosseuropean perspective“, Environment and Planning C, vol. 13, no. 4, November 1995: 441-458. <?page no="204"?> Vincent Hoffmann-Martinot 200 Der Dezentralisierungsprozeß Insbesondere in traditionsgemäß stark zentralisierten Ländern wie Griechenland, Italien, Spanien, und Frankreich ist dieser Prozeß nicht zu unterschätzen. Der französische Fall ist klar. Bis in die achtziger Jahre hinein war die rechtliche, technische und finanzielle Aufsichtsfunktion das traditionelle Mittel für den Staat, die Kommunen zu kontrollieren. Die Präfekten übten sie im Namen des Staates in den Departements aus. Andere staatliche Vertreter oder Verwaltungsinstanzen trugen ebenfalls zur Kontrolle und zur Zentralisierung des Territoriums bei, z.B. die Ingenieure der Tiefbauverwaltung (Ponts et Chaussées). Zahlreiche ländliche Kommunen sind immer noch weitgehend von der Fachkompetenz und den technischen Mitteln der zentralstaatlichen Stellen auf Departementsebene abhängig . Die Kommunen wurden allzu oft als vollkommen von den staatlichen Verwaltungsinstanzen abhängig dargestellt, womit der Grad der Zentralisierung sicherlich übertrieben wurde. Seit dem Ende der sechziger Jahren hat sich die staatliche Aufsicht in dem Maße gelockert, wie der Staat begriff, daß Anreize und Kompromisse gegenüber den Gebietskörperschaften effizienter waren als Anordnungen. Unter Präsident Valéry Giscard d’Estaing (1974-1981) unternahm die Regierung erste dezentralisierende Reformen, insbesondere durch die Lockerung der Kontrolle der Haushaltspolitik der Gebietskörperschaften (Einführung von staatlichen Globalzuweisungen für die Gebietskörperschaften, Abschaffung der staatlichen Festsetzung der Gemeindesteuersätze, Lockerung einschränkender Regelungen bezüglich der staatlichen Finanzzuweisungen an die Gebietskörperschaften). Die Dezentralisierungsgesetze der achtziger Jahre - die François Mitterrand selbst als „die wichtigste Angelegenheit“ seiner ersten Amtsperiode bezeichnete - mögen zwar heute als grundlegend erscheinen, stellen jedoch lediglich eine Fortsetzung und Bestätigung der Emanzipationsbestrebungen der Gebietskörperschaften dar, die bereits einige Jahre vorher eingesetzt hatten. Bei der Dezentralisierungsreform hat man es freilich sorgfältig vermieden, heikle Probleme anzupacken: die unabdingbare Umgestaltung des Systems der Gemeindesteuern, das extrem ungerecht und archaisch ist; die offiziell befürwortete, aber niemals verwirklichte Zusammenlegung der 36.000 Kommunen; die Verstärkung der Mechanismen, die die Partizipation der Bürger fördern. Weite Teile der staatlichen Verwaltung waren nicht sehr geneigt, die Neugewichtung der territorialen Kräfte zu unterstützen. Die trotz ihrer Unzulänglichkeiten umfassende Reform hat eine Reihe von Auswirkungen auf die französische Gesellschaft nach sich gezogen, die sowohl von der Bevölkerung als auch von den wichtigsten betroffenen Akteuren vor Ort (Mandatsträger, staatliche und territoriale Beamte, Vereine, Unternehmer) positiv bewertet werden. Allerdings hat sich ein Unbehagen ausgebreitet, das vielen lokalen Verantwortlichen die unklare Entwicklung <?page no="205"?> Deutschland und Frankreich in einem dezentralisierten Europa 201 ihres Amtes einflößt und zum großen Teil auf die fehlende Abgrenzung der jeweiligen Aufgabenbereiche zurückzuführen ist. Die Aufteilung der Zuständigkeitsbereiche zwischen Staat, Kommunen, Departements und Regionen existiert zwar auf dem Papier, ist aber in der Praxis sehr viel fluktuierender. In zahlreichen Sektoren (wie Erziehung, Kultur, Soziales) kommt es zu Überlappungen (insbesondere durch die weit verbreitete Praxis der Mischfinanzierungen), was die Entscheidungskanäle extrem undurchsichtig werden läßt. Das entspricht einer Veränderung der öffentlichen Politik seit der Dezentralisierungsreform; die Mischfinanzierungen oder die Zusammenarbeit von mehreren öffentlichen Akteuren auf territorialer Ebene sind Ausdruck der politischen Dominanz „großer Mandatsträger“ auf einem durch eine Vielzahl von formal autonomen „kleinen Mandatsträgern“ gekennzeichneten Markt. Sicherlich hat sich das wirtschaftliche und demographische Gewicht der Hauptstadt Paris und ihrer Region Ile-de-France in den letzten 20 Jahren kaum verringert. Die Einwohnerzahl des städtischen Großraums Paris beträgt das 7.4-fache des nächstgrößeren Ballungsraums Lyon. 8 Die Pariser Dominanz ist in Europa eine Ausnahmeerscheinung. Aber trotzdem haben die politisch-administrativen Ressourcen des übrigen französischen Territoriums an Bedeutung gewonnen. Es gibt zahlreichen Anzeichen eines tiefgreifenden Mentalitäts- und Strategiewandels bei den politischen, administrativen und ökonomischen Eliten. Der öffentliche Dienst der Gebietskörperschaften zieht heute oft brillante und ehrgeizige Hochschulabsolventen an, weil er Möglichkeiten und Vorteile bietet, über die Ministerien nicht mehr verfügen: das ist eine radikale Veränderung zu der Lage, die wir noch vor 20 Jahren erlebten. Auch die Politiker tendieren dazu, sich auf ihre territoriale Basis zu besinnen, und geben der Konsolidierung ihrer lokalen Mandate und Beziehungen den Vorzug vor einer national ausgerichteten politischen Laufbahn. Die von Sharpe vorgeschlagene Definition und Einschätzung des französischen Modells bedarf der Korrektur. Frankreich wie die anderen südlichen Länder weichen seit den Dezentralisierungsreformen vom Ausgangsmodell ab. Die von Honoratioren verkörperte politische Interessenvertretung ist zwar nach wie vor eine französische Besonderheit. Gleichzeitig aber haben die Gebietskörperschaften noch nie über so viel Handlungsspielraum gegenüber dem Staat verfügt, dem man heute paradoxerweise eher vorwirft, unzureichend präsent zu sein und sich um die Politik auf territorialer Ebene nicht mehr zu kümmern. Was die Effizienz anbelangt, so haben die Kompetenztransfers in zahlreichen Bereichen bewiesen, daß die Gebietskörper- 8 Vincent Hoffmann-Martinot & Jefferey Sellers: „Metropolitan Governance“, in: United Cities and Local Governments, Decentralization and Local Democracy in the World. First Global Report. Barcelona: United Cities and Local Governments 2007: 252-279. <?page no="206"?> Vincent Hoffmann-Martinot 202 schaften ihren Rückstand seit Anfang der achtziger Jahre rasch aufgeholt haben und daß sie sich oft innovativer als die staatlichen Verwaltungen verhalten. Die Fragmentierung und ihre Begrenzung Hier ist die Situation eher negativ zu bewerten. Seit etwa 20 Jahren ist insbesondere in den städtischen Ballungsgebieten eine Intensivierung der sozioökonomischen und politischen Konflikte zu beobachten, zu deren Bewältigung die existierenden öffentlichen Akteure immer weniger in der Lage zu sein scheinen. Die Gebietskörperschaften werden mit neuen Problemen wie der zunehmenden Bedeutung der sozialräumlichen Trennung (urbane Ghettos, Verarmung von ländlichen Territorien), der wirtschaftlichen Entwicklung und des Umweltschutzes konfrontiert, die mehr denn je kooperative Verhaltensweisen erfordern. Gleichzeitig befinden sie sich in einem Prozeß der Zersplitterung, der dazu beiträgt, die Legitimität ihres Wirkens erheblich zu schwächen. Die territoriale Zesplitterung spiegelt die Fragmentierung des Territoriums in zahlreichen Verwaltungseinheiten wider. Diese Balkanisierung führt zu einer Reihe von Funktionsstörungen: mangelnde Kontrolle bzw. mangelnde Betreuung der Entwicklung auf lokaler Ebene, unzureichende Ressourcen, Mangel an Führungsgeschick und Sachkenntnis, soziale und ethnische Spaltungen sowie die Tendenz zunehmender steuerlicher Disparitäten. 9 In mehreren Ländern wie beispielsweise in der Schweiz, ist die Frage der territorialen Fragmentierung vor einigen Jahren wieder aufgetaucht. Viele Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Verbänden machten sich für Zusammenschlüsse stark, die es erleichtern sollen, tausende kränkelnder Landgemeinden zu reaktivieren und die Politik in den städtischen Regionen kohärenter zu gestalten. Ob es sich um die in Ballungsräumen erhobene Gewerbesteuer oder um die Neukonzeption der Stadt-Umland-Verbände handelt: die örtlichen Initiativen, Experimente oder globalen Reformvorhaben sind Ausdruck dieses neuen Willens, die Tabus zu beseitigen, die seit vielen Jahren jede bedeutende Veränderung der geographischen Gebietsaufteilung verhindern. In diesem Zusammenhang muß die starke „Metropolisierung“ der Wirtschafts- und Siedlungsentwicklung seit 20 Jahren erwähnt werden - ein in vielen Ländern zu beobachtender Trend, der sich in einer steigenden Konzentration der Bevölkerung wie der wirtschaftlichen Produktion im Umfeld der bedeutendsten und wettbewerbsfähigsten Metropolen äußert. Die Met- 9 Vincent Hoffmann-Martinot: Le gouvernement des villes. Une comparaison internationale. Paris: L’Harmattan, 2007 (Coll. Logiques politiques). <?page no="207"?> Deutschland und Frankreich in einem dezentralisierten Europa 203 ropolisierung ist Ausdruck einer Verschärfung der Disparitäten im Hinblick auf Dynamik und Wachstum, und zwar zwischen den Ballungsgebieten selbst wie zwischen den städtischen Polen und ihrem Hinterland. 10 Die Natur der Probleme hat sich indessen spürbar verändert. Die mehr oder weniger integrierten interkommunalen Kooperationsformen, die in den sechziger und siebziger Jahren geschaffen worden sind, haben ihre Unzulänglichkeit bei der Behandlung von immer stärker mit Konflikten belasteten Fragen unter Beweis gestellt, wie die Beispiele Städteplanung, wirtschaftliche Entwicklung, Verschärfung der sozioökonomischen Disparitäten, Steuerung der großen Kollektiveinrichtungen sowie Umweltschutz zeigen. So leiden die französischen Stadt-Umland-Verbände (communautés urbaines, jetzt communautés de villes) darunter, daß ihre territoriale Zuständigkeit infolge der Ausbreitung der städtischen Ballungszonen nicht mehr realitätsgemäß ist. Vor allem aber fehlt es ihnen aufgrund ihrer Zusammensetzung (aus Delegierten der am Verband beteiligten Kommunen) an der die einzelnen Gemeinden übergreifenden Legitimität, die es erlauben würde, Konflikte und Blockaden zu überwinden. Die Tendenz zur Zersplitterung ist nicht nur territorialer, sondern auch funktionaler Natur. Die Regulierung der kommunalen Aktivitäten hängt mehr und mehr von einer Vielzahl von Instanzen ab, unter denen keine hierarchischen Beziehungen bestehen. Die negativen Auswirkungen dieser Fülle von unterschiedlichen Organisationen sind bekannt: steigende Kosten für die institutionenübergreifende Zusammenarbeit, geringere Transparenz des territorialen Systems für die Bürger und schließlich häufig eine Verschlechterung der Dienstleistungen. Der Staat ist für diese Entwicklungen teilweise verantwortlich. Denn die Dezentralisierung hat die Komplexität der Entscheidungskanäle erhöht, die aus der Häufung der Zuständigkeitsebenen resultiert. Daß eine Minimaldefinition für die Verteilung der Aufgabenbereiche auf die Gebietskörperschaften fehlt, äußert sich täglich in der Zunahme von konkurrierenden, nicht koordinierten Initiativen, die dasselbe Territorium betreffen, und im exzessiven Rückgriff auf Mischfinanzierungen. Die Beschaffenheit der Zuständigkeitsbereiche ist darüber hinaus undurchsichtig. Zahlreiche Beobachter und Experten sehen die Einheit der Gebietskörperschaften heute am meisten durch die wachsende Privatisierung lokaler öffentlicher Dienste bedroht. Mit dieser Entwicklung ist eine mehr oder weniger radikale Veränderung der Funktionsweise der politisch-administrativen Systeme auf lokaler Ebene verbunden. Zum ersten Mal seit knapp hundert Jahren ist eine Zäsur in der Tendenz des kontinuierlichen Ausbaus des Interventionismus der Gebietskörperschaften festzustellen. Der „kom- 10 Vincent Hoffmann-Martinot & Jefferey Sellers (eds): Metropolitanization and Political Change. Wiesbaden: VS-Verlag, 2005 (Urban Research International, 6). <?page no="208"?> Vincent Hoffmann-Martinot 204 munale Sozialismus“, der zu Anfang dieses Jahrhunderts triumphierte und die unabwendbare Entwicklung zum Fortschritt symbolisierte, findet heute viel weniger Anhänger: er ist im Zuge der ideologischen Tendenzwende der achtziger Jahre durch den kommunalen Liberalismus verdrängt worden. Die Übertragung von Verantwortung auf Privatunternehmen entspricht in bestimmten Fällen einer offensichtlichen Kampfstrategie gegen einen öffentlichen Sektor, den man der Unbeweglichkeit, der mangelnden Anpassung an die sozialen Erwartungen und Bedürfnisse, der Schaffung von bürokratischen Privilegien und der finanziellen Verschwendung beschuldigt. Die territoriale Demokratie modernisieren Oberbürgermeister, die aufgrund ihrer Belastung mit anderen politischen Mandaten ihre Stadt nur am Wochenende regieren; Stadtoberhäupter, die sich sogar als Siebzigjährige ohne weiteres zur Wiederwahl stellen können; auf der lokalen Ebene fehlende Beteiligungsrechte wie das Referendum oder der Bürgerentscheid: dies sind die Charakteristika des tradierten Notabelnsystems in Frankreich und in anderen europäischen Ländern, das sich von der kommunalpolitischen Praxis in Deutschland erheblich unterscheidet. Allerdings gewinnt das Leitbild eines modernen kommunalen Berufspolitikers zunehmend an Bedeutung. Zwei Faktoren tragen dazu bei: zum einen der Dezentralisierungsprozeß, in dessen Folge der Zugang zur Zentralmacht für die Mandatsträger sehr viel weniger bedeutsam wird; zum anderen die steigenden Erwartungen und Ansprüche der Bürger an die Ergebnisse der kommunalen Politik. Diese Tendenz ist bereits seit den 1980er Jahren auszumachen, als eine neue Generation von Mandatsträgern an die Macht kam. Diese versuchten, die Beziehungen neu zu gewichten, die zwischen ihnen selbst, den Generalisten oder „Dilettanten“ (um die Terminologie von Max Weber aufzugreifen) und den Spezialisten (d.h. Verwaltungsexperten) existierten. Letztere waren seit langem daran gewöhnt gewesen, praktisch allein über ihre Bereiche zu herrschen. Nun aber näherten sich ihnen die neuen Mandatsträger teilweise so stark an, daß sie ihnen Konkurrenz machten oder sie sogar ersetzten. Diese Spezialisierung bzw. Professionalisierung wurde durch die berufliche Disponibilität der neuen Mandatsträger gefördert, die häufiger als zuvor im öffentlichen Sektor beschäftigt waren. Das Vorhaben, die Gebietskörperschaft transparenter, offener und sichtbarer zu machen, veranlaßte die Mandatsträger, in den Dienststellen stärker präsent sowie aktiv zu sein und durch ihre täglichen, vielfältigen Interventionen zu zeigen, daß sie eine dynamische Politik betrieben, die in einer Periode wirtschaftlicher Umstrukturierung stark gefragt ist. <?page no="209"?> Deutschland und Frankreich in einem dezentralisierten Europa 205 III. Fünf Thesen über die Verbesserung (métissage) der institutionellen Modelle der kommunalen Selbstverwaltung durch die Europäisierung 1. Die drei traditionellen Modelle der kommunalen Selbstverwaltung charakterisieren drei Hauptkonfigurationen oder Ideal-Typen der kommunalen Selbstverwaltung, die unterschiedliche Kombinationen von Freiheit, Partizipation, und Efficienz widerspiegeln. Keines ist unwandelbar, was beispielsweise das französische Modell anbelangt: die in den letzten Jahren registrierte Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung in Spanien oder die in den 1990er Jahren durchgesetzte wichtige territoriale Reform in Griechenland - die Zahl der Städte und Gemeinden wurde von ungefähr 6.000 auf 1.000 reduziert - haben diese beiden Länder vom französischen Modell noch weiter entfernt. 2. Das französische und britische Modell beinhalten eine schwächere kommunale Selbstverwaltung aus dem selben Grund: beide beruhen auf einem System von staatlich-zentralistischen Referenzen und Werten, denen zufolge sich die Kommunen als nachgeordnete Akteure gegenüber dem Hauptlegitimitätsträger, dem Staat, erweisen. 11 Unter diesem Gesichtspunkt sind die gegenwärtigen Debatten in Frankreich über die Fortentwicklung der Dezentralisierung klar: alle sind mehr oder weniger von dieser Zentralisierungsideologie geprägt, der zufolge jeder Schritt in Richtung Dezentralisierung unvermeidlich zu größeren sozialen und territorialen Ungleichheiten führt. 3. Der Prozeß der europäischen Einigung wird keine Standardisierung oder Homogenisierung der kommunalen politisch-administrativen Strukturen mit sich bringen. 12 Auch wenn dies die nationalistischen politischen Gruppen hier und da unbefriedigt stimmt, die Europäische Union ist ein Bund von Nationalstaaten, die künftig ihre eigenen kommunalen Selbstverwaltungssysteme weiter organisieren und regulieren werden. Diese Vielfalt von nationalen Regeln und Institutionen ist grundsätzlich, nicht nur weil sie spezifische historische Entwicklungen und Traditionen ausdrückt, sondern auch weil sie uns erlaubt, die Leistungen der Gebietskörperschaften in den jeweiligen Nationen zu messen, zu evaluieren und zu vergleichen. 4. Dieser de facto Wettbewerb scheint eine sehr stimulierende Rolle im gegenwärtigen Prozeß der europäischen Einigung zu spielen. Der euro- 11 Pierre Sadran: „De nouveaux modes d’expression démocratiques. La démocratie locale: quels enseignements ? “, Les Cahiers Français (Les démocraties ingouvernables? ), n° 356, 2010. 12 Angelika Vetter: Lokale Politik als Ressource der Demokratie in Europa? Lokale Autonomie, lokale Strukturen und die Einstellungen der Bürger zur lokalen Politik. Opladen: Leske + Budrich, 2002. <?page no="210"?> Vincent Hoffmann-Martinot 206 päische Rahmen ist nicht nur ein großer Währungs- und Wirtschaftsraum, sondern auch ein weiter Markt der Gedanken und Erfahrungen. Er muß mittel- oder langfristig eine institutionelle Verbesserung fördern. Der in den letzten Jahren beschleunigte Austausch von Erfahrungen und Personen - von Schülern zu lokal Verantwortlichen über Studierende der akademischen Erasmus- Programme bis zu vielen anderen Typen von Partnerschaften - hat dazu kräftig beigetragen, daß Akteure nicht mehr strikt national sondern europäisch und global konzipieren und nachdenken. In föderalen Ländern wie der Bundesrepublik, Österreichs und der Schweiz werden schon seit langem Leistungen der jeweiligen gemeindlichen Institutionen zwischen Ländern oder Kantonen verglichen. Die Europäisierung erleichtert die Verallgemeinerung und die Systematisierung dieser vergleichenden Arbeit, die in einem hohen Maße dazu beitragen kann, die institutionelle Leistungsfähigkeit in jedem Staat zu optimieren. Natürlich benötigt ein solch faszinierender Prozeß eine enge Kooperation zwischen Praktikern und Forschern. In diesem Rahmen sollten zum Beispiel folgende Zentralfragen gestellt and beantwortet werden: - Entsprechen sogenannte konsensuale politische Systeme mehr den heutigen Erwartungen und Präferenzen der Bürger als Mehrheitssysteme? - In welchem Maße verbessert die direkte Demokratie (via Referenda und Initiativen) inhaltlich die traditionellen Instrumente der repräsentativen Demokratie? - Durch welche Mechanismen können Ausländer in der Kommunalpolitik wirklich mitwirken? - Welche Funktionen werden von den Kommunen effizienter als vom Staat oder vom privaten Sektor erfüllt? - Kann eine bestimmte Bevölkerung ihr eigenes lokales Regierungssystem bestimmen, und wenn ja, inwieweit? 5. Diese vergleichende Sammlung von Informationen über Strukturen, Innovationen und Fallstudien entwickelt sich auf der nationalen und internationalen Ebene, insbesondere durch den “Rat der Gemeinden und Regionen Europas“. Dieses Streben nach Ausbau des Erfahrungsaustausches und der Kenntnis der Länder voneinander ist die sicherste Basis für die Erneuerung der kommunalen Selbstverwaltung durch Europa und dank Europas. <?page no="211"?> Wolfgang Asholt „Longtemps, l’Allemagne“: Deutschland in französischen Gegenwartsromanen Deutschland und der „Renouvellement des Questions“ im französischen Gegenwartsroman Wenn der Dichter, Übersetzer und Mittler Alain Lance seinen Erinnerungen im deutsch-französischen Kontext den Titel Longtemps l’Allemagne (Tarabuste 2007) gibt, so kommt darin eine lebenslange Beziehung zum Deutschen, zu Deutschland, zu den beiden Deutschlands und zur deutschen Literatur zum Ausdruck. Wenn aber in den letzten Jahren eine größere Zahl französischer Deutschland-Romane erscheint, 1 dann reflektiert das nicht mehr nur eine solche individuelle Deutschland-Beziehung der „longue durée“, sondern vielleicht ein (neues? ) Interesse der französischen Literatur am Nachbarn jenseits des Rheins, das angesichts der allgemein konstatierten und teilweise begrüßten Normalisierung der deutsch-französischen Beziehungen, auch wenn man eigentlich eher von einem zunehmenden Desinteresse sprechen müßte, 2 auf den ersten Blick erstaunt. Dieses Interesse für Deutschland steht allerdings im Kontext dessen, was Dominique Viart als ein „Renouvellement des Questions“ innerhalb der französischen Gegenwartsliteratur bezeichnet hat, und dem ich gerade am Beispielt von Jean Rouaud einen Aufsatz gewidmet habe. 3 Für Viart vollzieht sich die Erneuerung der französischen Literatur in dreifacher Hinsicht: jener der „Ecritures de soi“, des „Ecrire l’Histoire“ und des „Ecrire le monde“. Nach einer Zeit der Geschichtsvergessenheit, ja der Exklusion der Geschichte aus der Literatur, 4 wie sie mit dem Nouveau Roman (mit Aus- 1 Ich danke Alain Lance dafür, mich auf die Deutschland-Romane aufmerksam gemacht zu haben. 2 Dazu: Wolfgang Asholt/ Hans Manfred Bock: Editorial, in: Lendemains 138 (2010). 3 Dominque Viart/ Bruno Vercier: La littérature française au présent, Bordas ²2008, S. 27- 298; W. Asholt: „Jean Rouad et l’invention de l’histoire“, in: ders./ Marc Dambre (eds.): Un retour des normes romanesques dans la littérature française contemporaine, PSN 2010, S. 111-126. 4 Dies betrifft allerdings nicht den historischen Roman im engeren Sinne, etwa die Werke von Jeanne Bourin, Françoise Chandernagor oder Pierre Miquel, und ebenso wenig die Geschichtserzählungen eines Georges Duby (Le Dimanche de Bouvines, 1973) oder Emmanuel Le Roy Ladurie (Montaillou, 1975). <?page no="212"?> Wolfgang Asholt 208 nahme Claude Simons) und dem Strukturalismus als dominierender Literaturtheorie in den 1960er und 1970er Jahren einher ging, kommt es zu Ende der 1980er Jahre zu einer dreifachen „Réémergence d’un objet littéraire“, wie Dominique Viart diese Entwicklung qualifiziert: der Wiederentdeckung der Individualität im Zusammenhang mit Autobiographie und Autofiktion, jener der (sozialen, kulturellen, regionalen usw.) „Welt“ und ihrer Probleme sowie jener der Geschichte; und die Romane, die ich untersuchen werde, partizipieren manchmal an allen drei Tendenzen, zumeist aber zumindest an mehreren. Eingebettet in den großen Veränderungsprozeß des französischen Romans der letzten drei Jahrzehnte, 5 wird die Wiederentdeckung der Geschichte von zwei Romanen unübersehbar markiert: Claude Simons 1989, also ein Jahr nach seinem Nobelpreis erschienener L’Acacia und Jean Rouauds 1990 veröffentlichten Les Champs d’honneur, die im gleichen Jahr den Prix Goncourt erhalten. In beiden Romanen handelt es sich um eine Rückkehr zur Ursprungskatastrophe des 20. Jahrhunderts, dem Ersten Weltkrieg, der in Frankreich bis heute als „La Grande Guerre“ bezeichnet wird. In der Folgezeit kommt es zu einer Fülle von Romanen, die diesem „événement fondateur“ (Jean Rouaud) gewidmet werden, 6 doch die Thematik des „Großen Krieges“ verweist zumindest implizit immer auch auf das, was Aragon in einem Gedicht mit dem Titel „Vingt ans après“ 7 als Wiederholung der Tragödie des Ersten Weltkriegs bezeichnet: den Zweiten Weltkrieg und den mit ihm verbundenen Zivilisationsbruch der Shoah. Die Erinnerung an diesen Krieg und die mit ihm einhergehende Katastrophe war zwar nie in dem Ausmaß verdrängt worden wie der Erste Weltkrieg, was beispielsweise nahezu alle Romane von Patrick Modiano seit La Place de l’Etoile illustrieren, dennoch hat es gerade für die Shoah ein Amnesie-Risiko gegeben, von dem nicht nur die Romane der unmittelbaren Nachkriegszeit betroffen waren (Robert Antelme: L’Espèce humaine (1947) oder Les Jours de notre mort von David Rousset aus dem gleichen Jahr), 8 und das erst mit Claude Lanzmanns Shoah-Film des Jahres 1985 definitiv beendet wird. In den meisten der der Geschichte des Jahrhunderts der Extreme gewidmeten Texten spielt Deutschland verständlicherweise eine mehr oder weniger wichtige Rolle, und Jonathan Littells Bestsellerroman Les Bienveillantes (Gallimard 2006) belegt dies in jeder Hinsicht (literarisch, historisch und auch kommerziell). 5 Ich habe Anfang der 1990er Jahre versucht, diesen Prozeß zu analysieren: Der französische Roman der achtziger Jahre, Darmstadt: WGB 1994. 6 Siehe: Viart/ Vercier, a.a.O., S. 127-141. 7 Mit dem Titel, „Vingt ans après“, spielt Aragon auf einen Roman von Alexandre Dumas père an. Sein Gedicht, das später als Auftakt in den Crève-coeur aufgenommen wird, erscheint am 1. Dezember 1939 in der Nouvelle Revue française. 8 Georges Perecs W ou le souvenir d’enfance (Denoël 1975) oder die Romane Jorge Sempruns (seit Le grand Voyage 1963) stellen in dieser Hinsicht vielbemerkte Ausnahmen dar. <?page no="213"?> „Longtemps, l’Allemagne“: Deutschland in französischen Gegenwartsromanen 209 Littells Roman bildet aber insofern eine Ausnahme, als er sich ausdrücklich und bewusst schockierend mit der Person eines Täters identifiziert, also eine zutiefst deutsche Perspektive entwickeln möchte. Eine solche Perspektive, wenn auch in ganz anderer Weise, charakterisiert ebenfalls die sechs Romane mit denen ich mich im folgenden beschäftigen will, und die in der Zeit von Juni 2008 bis Juni 2010 erschienen sind. Es handelt sich zwar um keine repräsentative Auswahl, doch die Romane sind insofern für eine bestimmte Situation aussagekräftig, als sie bei eher größeren Verlagen erschienen sind und mit einer Ausnahme von bekannteren Autoren stammen, die schon ein umfangreicheres romaneskes Werk vorgelegt haben. Die Romanciers sind (in alphabetischer Reihenfolge): Jean-Yves Cendrey (Honecker 21, Actes Sud, August 2009), Didier Daeninckx (Galadio, Gallimard, Juni 2010), Brigitte Giraud (Une Année étrangère, Stock, September 2009), Fabienne Swiatly (Une Femme allemande, La fosse aux ours, Juni 2008), Cécile Waijsbrot (L’Ile aux musées, Denoël, Juni 2008) und Anne Wiazemsky (Mon Enfant de Berlin, Gallimard, Juni 2009). 9 Die Romane situieren sich mit einer Ausnahme (Daeninckx) in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts oder der Gegenwart, wobei Nachkriegszeit und Gegenwart offensichtlich besonderes Interesse erregen. Die Autoren und Autorinnen sind auch insofern nicht repräsentativ, als sie keiner deutlicheren Richtung oder Tendenz des Gegenwartsromans zugeordnet werden können, wie das etwa mit Jean-Philippe Toussaints Berlin-Roman La Télévision (Minuit 1997) oder François Bons im Berlin vor dem Mauerfall spielenden Calvaire des chiens (Minuit 1990) im Zusammenhang mit ihrem Verlag in den 1980er und 1990er Jahren der Fall ist. Zumeist deutlich auf eine Hauptperson konzentriert (als Ich-Erzähler bei Daeninckx und Giraud) handelt es sich bei den Protagonisten teils um Französinnen (Giraud, Waijsbrot, Wiazemsky), teils um Deutsche, worauf schon die Titel von Cendrey und Swiatley verweisen, und der Eigennamen-Titel von Daenincks stellt einen Sonderfall dar. Es wird durchweg chronologisch erzählt, d.h. eine Entwicklung berichtet, die in der Begegnung mit Deutschland zu einer Erfahrung mit dem Anderen (und mit sich selbst) wird, wobei Cendreys Roman eine deutliche Ausnahme repräsentiert, und Swiatlys Roman für die junge deutsche Frau, die nach Frankreich geht, die Begegnungsrichtung umkehrt. Offensichtlich bedürfen die meisten Romane, wenn auch in höchst unterschiedlicher Ausgestaltung und Intensität, der deutsch-französischen Differenz, wie sie durch die Begegnung mit dem Anderen (historisch, kulturell, politisch, sentimental) garantiert zu sein scheint. 9 Pascal Hugues’ Marthe et Mathilde (Les Arènes 2008, deutsch: Marthe und Mathilde, Reinbek: Rowohlt 2008) habe ich als eher biographisch-historischen Text nicht berücksichtigt. <?page no="214"?> Wolfgang Asholt 210 Ein Roman gegen das Vergessen? Didier Daeninckx’ in der NRF-Abteilung von Gallimard erschienener Galadio entwickelt wie fast alle Romane und Kriminalromane (angefangen mit Meurtres pour mémoire, Gallimard Série noire 1985) des Autors eine „longue durée“-Dimension, die hier die Zeit zwischen der französischen Ruhrbesetzung und der unmittelbaren Nachkriegszeit umfasst. Der Klappentext verkündet: „Comme toujours, Didier Daeninckx s’appuie sur une documentation très fouillée pour éclairer un aspect méconnu de l’histoire du vingtième siècle. Il révèle ici le sort terrible des Allemands métis dans un pays emporté par le délire nazi.“ 10 Wie zumeist liegt der „Schlüssel“ zur Gegenwart in einem Ereignis der Vergangenheit, nur daß dieses Ereignis, anders als sonst, nicht versteckt worden ist und entdeckt werden muß. Was dem jungen Ulrich nach 1933 zum Verhängnis wird, ist seine Hautfarbe, die keiner besonderen Markierung bedarf, um ihn als andersartig kennzuzeichnen. Aus der Beziehung zwischen einer jungen deutschen Frau und einem afrikanischen Soldaten der französischen Armee zur Zeit der Ruhrbesetzung hervorgegangen, hatten Ulrich und seine Mutter schon bis 1933 kein einfaches Leben, doch die „Rassenschande“ wird nach der Machtübernahme immer stärker gebrandmarkt. Was dann allerdings folgt, ist weniger eine historisch (wie gut auch immer) dokumentierte Erzählung, als vielmehr eine Aneinanderreihung von (inzwischen in Deutschland allgemein) nicht unbekannten Fakten und gewisser Stereotypen. Die Dokumentation versagt nicht nur bei Details, so etwa, wenn Duisburg (schon damals) eine Universität zugestanden wird, 11 wenn die Stadt einen Kriegshafen erhält: „Habitué au passage des forces navales dans le port de Duisbourg, je reconnais les formes caractéristiques de sept bâtiments, un porte-avions, trois croiseurs et autant de contre-tropilleurs.“ (S. 114) oder wenn der Weg von Köln nach Babelsberg über den 10 Didier Daeninckx: Galadio, Gallimard 2010. Ganz so unbekannt ist die Thematik allerdings auch in Frankreich nicht. Am 29. Juli 2003 gab es einen Afrika-Themenabend bei Arte, in dessen Zusammenhang auch der den schwarzen Besatzungskindern gewidmete Dokumentarfilm Die schwarze Schmach am Rhein (1991) gezeigt wurde. Im übrigen gibt es mehrere größere historische Untersuchungen, angefangen mit Reiner Pommerin: Sterilisierung der Rheinlandbastarde. Das Schicksal einer farbigen Minderheit 1918-1937, Düsseldorf: Droste 1979 bis zu Iris Wigger: Die „Schwarze Schmach am Rhein“. Rassistische Diskriminierung zwischen Geschlecht, Klasse, Nation und Rasse, Münster: Westfälisches Dampfboot 2007. 11 „Mon père ne peut plus donner de cours à l’université“ (S. 15) und: „J’avais écumé tout ce qui concernait l’histoire de Duisbourg […] en passant par la fondation de l’Université et l’inauguration de la statue de Wilhelm I.“ (S. 33) Zwar gab es im 17. Jahrhundert in Duisburg eine Universität, doch im 20. Jahrhundert erst wieder seit den 1970er Jahren. <?page no="215"?> „Longtemps, l’Allemagne“: Deutschland in französischen Gegenwartsromanen 211 Tegeler See führt. 12 Sie versagt vor allem, wenn sie im Vergleich zwischen den an ihrer Hautfarbe sichtbaren Kindern der Zeit der Ruhrbesetzung und den Juden in Deutschland zu dem Schluß kommt: „Leur sort ne sera en général guère plus enviable que celui des Juifs.“ (Klappentext) Angesichts solcher Pauschalisierungen wundert es wenig, dass Ulrich, der seinen zweiten (Vor-)Namen Galadio nicht tragen darf, eine jüdische Freundin (Déborah) hat, die ihn vor den Nazis versteckt, zu denen insbesondere sein ehemaliger Fußballtrainer und sein Onkel Ludwig zählen. Zwar wird er auf der Flucht festgenommen und nach Köln zur Sterilisierung gebracht, 13 die ihm dank einer Freundin seiner Mutter erspart bleibt, doch dann wählt man ihn für Statistenrollen als Farbiger in NS-Filmen aus, und er macht in Babelsberg Karriere, um schließlich zu Außenaufnahmen eines Bavaria-Kolonialfilms über Carl Peters mit Hans Albers als Hauptdarsteller Mitte August 1939 [! ] nach Portugiesisch-Guinea (Guinea-Bissau) mitzufliegen. 14 Als die Filmequipe nach Ausbruch des Krieges nach Deutschland zurückkehrt, bleibt der nun Galadio gewordene Ulrich in Afrika und schlägt sich zu seiner Familie im Französischen Sudan durch. 15 Nachdem er erfahren hat, dass sein Vater bei den Kämpfen im Mai/ Juni 1940 gefallen ist, verpflichtet er sich als Soldat und nimmt an der Befreiung Europas und Deutschlands teil: als er im Sommer 1945 nach Duisburg kommt, erfährt er, dass seine Mutter seinetwegen in ein KZ gebracht worden und dort offensichtlich umgekommen ist, und macht sich auf die Suche nach Déborah, deren gesamte Familie in Auschwitz umgebracht wurde. Trotz dieses „offenen“ Endes bedient der Roman vor allem standardisierte Erwartungen: Galadios Vater wusste nichts von seinem Kind (und hat sich auch nie wieder bei seiner Geliebten gemeldet), Galadios Mutter hingegen schreibt an seine afrikanische Familie und unterzeichnet mit „Ton amour pour toujours“ oder „pour l’éternité“ (S. 133 und 134), in Duisburg 12 „Je ne verrai même pas les lumières de Berlin. […] Nikolassee, Tegeler See, Wannsee.“ (S. 70) 13 Ab 1937 gab es ein geheim gehaltenes Sterilisierungsprogramm, das durch keine gesetzliche Grundlage (auch nicht die „Nürnberger Gesetze“) gedeckt war. Teilweise werden die schwarzen Besatzungskinder in KZs eingeliefert; von KZ-Deportationen von Müttern ist allerdings nichts bekannt (dazu zuerst: Reiner Pommerin (1979), s. Fußnote 10). 14 Der Carl Peters-Film (Regie Herbert Selpin) mit Hans Albers in der Hauptrolle wird allerdings erst 1941 gedreht, und die Außenaufnahmen finden dementsprechend nicht in Afrika sondern auf Rügen statt. 15 Es scheint so, als ob die historische Figur von von Mohamed Husen als Vorbild für Galadio gedient hat. Der Farbige Husen spielt im Film den Dolmetscher von Peters/ Albers; er wird anschließend wegen der Beziehung zu einer „arischen“ Frau verhaftet und ins KZ Sachsenhausen deportiert, wo er 1944 umkommt. Offensichtlich scheint das spätere Schicksal von Husen Daeninckx jedoch für seinen Roman ungeeignet. <?page no="216"?> Wolfgang Asholt 212 gibt es in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre „Swing Boys“, 16 das Filmmilieu ist den Nazis ergeben, aber relativ liberal, das Filmteam bejubelt den Kriegsausbruch, während seiner Flucht spricht Galadio plötzlich Französisch (S. 110) und in Dakar erlebt Galadio die Kämpfe zwischen Vichy und den Gaullisten usw. Leider gelingt es Daeninckx nicht, seine Protagonisten zu individualisieren, und dies gilt auch für Galadio/ Ulrich. Sie bleiben Figuren, die mehr die Geschichte illustrieren und durchlaufen als dass sie eine eigene Entwicklung vollziehen. Und selbst der „aspect méconnu de l’histoire du vingtième siècle“ ist dies zumindest in Deutschland nicht mehr so sehr, seitdem es historische und filmische Dokumentationen über das Schicksal von Kindern wie Galadio/ Ulrich gegeben hat, so daß man sich fragt, für wen hier Erinnerungsarbeit unternommen werden soll oder ob dieser Roman nicht vor allem auf Picapers Kinder der Schande ‚reagiert’. 17 Das Nachkriegs-Berlin als Selbsterfahrungs- und Selbstfindungsort Mit dem Roman von Anne Wiazemsky erfährt der Roman von Daeninckx eine zeitliche Fortsetzung, doch Figuren und Thematik ändern sich grundlegend. Bei Mon Enfant de Berlin 18 handelt es sich um einen autobiographischen Filiationsroman, denn das Kind des Titels ist die Autorin, die die Geschichte ihrer Mutter während des Krieges (1940-1945), ihre Arbeit in Berlin seit dem Sommer 1945, das Kennenlernen des Vaters, die Heirat und die (abschließende) Geburt der Tochter in Berlin („Mon enfant de Berlin“, S. 243), also ihre Familiengeschichte erzählt. Dieser Aspekt wird noch dadurch verstärkt, dass die Mutter (Claire) eine Tochter von François Mauriac ist (was die Leser auf der ersten Seite erfahren! ) und der Vater Yvan Wiazemsky aus einer exilierten russischen Fürstenfamilie stammt. Claire sucht sich durch ihre Arbeit für das Rote Kreuz (und teilweise auch für die Résistance) von ihrer Familie und dem dominierenden Vater zu emanzipieren, bleibt jedoch, vor allem in Frankreich, den Vorurteilen ihres Milieus verhaftet. Nach Ende des Krieges ist die Auffindung und Repatriierung von Zwangsarbeitern und (Kriegs-)Gefangenen (häufig Elsässern) von Berlin aus für sie eine ideale Gelegenheit, wirklichen Abstand von ihrer Familie zu gewinnen. Unter Verwendung des Tagebuchs und von Briefen ihrer Mutter (und seltener ihres Vaters), was den permanenten Wechsel von der Ichzur Sie-Erzählung ermöglicht, zeichnet die Autorin das desolate Bild Berlins, der Berliner und 16 Das Phänomen der Swing Boys existiert zwar schon vor dem Beginn des Krieges, zu Verfolgungen kommt es jedoch erst in der Kriegszeit. 17 Jean-Paul Picaper/ Ludwig Norz: Enfants maudits, Eds. Des Syrthes 2004; dies.: Die Kinder der Schande, München: Piper 2005. 18 Anne Wiazemsky: Mon Enfant de Berlin, Gallimard 2009. Für ihren Roman Une Poignée de gens hat Anne Wiazemsky 1998 den Grand Prix du roman de l’Académie française erhalten. <?page no="217"?> „Longtemps, l’Allemagne“: Deutschland in französischen Gegenwartsromanen 213 vor allem der Berlinerinnen in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Das Elend, der Hunger und die Zerstörungen werden zwar notiert („l’aspect si horriblement fantômatique des Berlinois [qui] continuent à se cacher dans les caves“, S. 77), doch die Französinnen der Rotkreuz-Delegation leben relativ luxuriös in einem unzerstörten Gebäude („96 Kurfürstendamm“, S. 9). Der Roman zeigt, wie schwer es einer jungen Französin (und ihren Kolleginnen) fällt, das Nachkriegsdeutschland zu verstehen, auch wenn sie ihr Résistance-Deutschlandbild früh infrage stellt: „Claire, au début de son séjour à Berlin, prétendait haut et fort n’avoir aucune pitié pour les Allemands, jurait qu’elle ne leur pardonnerait jamais les atrocités qu’ils avaient commises et que ce qu’ils enduraient n’était que justice. Maintenant, elle ne peut plus parler de la sorte.“ (S. 84; Oktober 1945). Was entsteht, ist ein aus Impressionen zusammengesetztes Deutschland- und Berlinbild, das verständlicherweise hinter der Liebe zu dem in der gleichen Dienststelle arbeitenden Yvan Wiazemsky („Wia“) zurücktritt, gerade weil diese für die Mauriac-Tochter in Paris schon wegen der unterschiedlichen sozialen Milieus unmöglich gewesen wäre. Zwar gelingt es der Autorin, jede Dramatisierung zu vermeiden, auch als die deutsche Übersetzerin Hilde 19 gegen Ende des Romans erstmals von sich und ihren Erfahrungen während der Eroberung Berlins durch die Rote Armee berichtet: „le silence désormais imposé aux Berlinoises; l’obligation qui leur est faite d’oublier.“ (S. 231/ 32), doch die Erzählung aus der Perspektive der eigenen Mutter (und seltener des Vaters) führt auch dazu, dass die Erzählerin zu ihrer Hauptfigur kaum Distanz aufbaut und offensichtlich bewußt nicht nur deren konventionelle und teilweise klischeehafte Sicht übernimmt, sondern sich teilweise auch stilistisch dem Ton der Briefe (der Tochter an die Eltern anpasst). Berlin repräsentiert in jeder Hinsicht eine Ausnahmesituation: biographisch eben so wie historisch oder kulturell. In einem letzten, in der Erzählgegenwart spielenden Kapitel bilanziert eine Freundin der Eltern, die ebenfalls in Berlin gewesen war: „Après Berlin, la vie ne fut plus jamais comme avant.“ (S. 246). Berlin bildet den biographisch-historischen Hintergrund einer persönlichen und sozialen Emanzipation, doch Claires Tätigkeit, vor allem die zahlreichen Fahrten zu Deportationszügen, in Lager und Krankenhäuser der sowjetischen Besatzungszone, lässt ein Bild der deutschen Nachkriegszeit entstehen, das gerade wegen der privilegierten Distanz und mancher historisch und sozial und familiär bedingter Wahrnehmungsbarrieren von Reiz ist und das französische Deutschlandbild der Nachkriegszeit besser verstehen lässt. 19 Offensichtlich ist die Figur Hildes von den Erinnerungen Marta Hillers (Eine Frau in Berlin, Frankfurt: Eichborn 2003; Une Femme à Berlin, Gallimard 2006) und von den Memoiren Hildegard Knefs (Der geschenkte Gaul, Wien: Molden 1970; A cheval donné, Laffont 1972) inspiriert. <?page no="218"?> Wolfgang Asholt 214 Die andere Seite deutsch-französischer Nachkriegsbeziehungen Der Roman von Fabienne Swiatly 20 spielt ebenfalls in der Nachkriegszeit und bildet in gewisser Weise das Pendant zu jenem von Anne Wiazemsky: die „femme allemande“ bekommt ein Kind von einem französischen Soldaten, heiratet ihn und zieht mit ihm in eine lothringische Industriegegend, wo er in einer Fabrik arbeitet. Das erste Kapitel spielt noch in Deutschland (Bremen) und entwickelt das Bild der unmittelbaren Nachkriegszeit aus der Perspektive einer jungen Frau, die mit Besatzungssoldaten Geschäfte macht, um zu überleben. Trotz einiger Unwahrscheinlichkeiten (zum Beispiel die französischen Soldaten in Bremen, vor allem aber: „Mais bientôt viendront les soldats russes, sillonnant les rues par petits groupes bruyants.“ (S. 11)) entwickelt dieses Kapitel überzeugend die Stimmung dieser Zeit: „Les phrases restent en suspens, ne rien dire sur avant. Ne rien dire qui puisse être entendu par ceux qui demanderont des comptes et désigneront les coupables.“ (S. 17). Das zweite Kapitel zeigt die junge Frau drei Jahre später mit ihrem Kind in der ärmlichen Küche der Familie ihres Mannes in Lothringen, umgeben von Menschen deren Deutsch („Le mari lui a expliqué que dans cette région tout le monde parlait allemand, qu’elle ne serait pas dépaysée.“ S. 22) sie nicht versteht. Das Postkarten-Frankreich, das sie sich ausgemalt hatte (S. 27), wird sie nie sehen, „Ce qu’elle va voir maintenant ne va pas lui plaire, elle le sent.“ (S. 31) Diesem unbekannten Frankreich der Armut und der Arbeit versucht sie anfangs dank ihrer Jugend und ihres Aussehens zu widerstehen, doch sie wird deshalb nur stärker marginalisiert: „Et les femmes trouvent que l’Allemande fait bien des manières.“ (S. 35) Schließlich ergibt sie sich in ihr Schicksal, bekommt weitere Kinder, vernachlässigt den Haushalt, raucht und trinkt immer mehr, und auch momentane Beziehungen zu einem Italiener oder einem Algerier sind aussichtslos und lassen sie ihre eigene Ausweglosigkeit erfahren. Die sprachliche Situation wird zum Sinnbild des eigenen Scheiterns: „Elle pense de choses qu’elle ne sait pas dire aux autres, difficile d’être soi-même dans l’imprécis des mots. L’entre-deux-langues qui ne parvient pas à dire l’essentiel et l’oblige à rester à la superficie de sa vie. Mais voudraient-ils seulement l’entendre, ceux d’ici? “ (S. 94) Ohne zu dramatisieren oder zu sentimentalisieren erzählt der Roman in einem merkwürdig nüchternen, teilweise minimalistischen Stil die Geschichte eines Scheiterns, auf der persönlichen Ebene ebenso wie auf der historischen und sozialen. Und er führt die Leser in ein Nachkriegsfrankreich, das von jenem der Familie Mauriac im XVI. Arrondissement vielleicht 20 Fabienne Swiatly: Une Femme allemande, La Fosse aux ours (Lyon) 2008. Fabienne Swiatly hat zwei weitere Werke veröffentlicht: Gagner sa vie (La Fosse aux ours 2006) und Boire (Ego 2008) <?page no="219"?> „Longtemps, l’Allemagne“: Deutschland in französischen Gegenwartsromanen 215 noch weiter entfernt ist als vom Nachkriegsdeutschland. Eine deutsch-französische Entente kann unter solchen Bedingungen nicht gelingen, stattdessen erfahren die Protagonisten (die „deutsche“ Frau ebenso wie ihr französischer Mann) nur ihre eigene Unzulänglichkeit und das doppelte Scheitern aller Hoffnungen: an einer sozialen Situation, wie sie in deutsch-französischen Romanen nur zu selten auftaucht, und an einer sprachlich-kulturellen Unfähigkeit, sich zu verstehen, die die entsprechenden Romane ebenfalls fast nie zur Kenntnis nehmen. Die im lothringischen Industrierevier verlorenen Illusionen der jungen deutschen Frau repräsentieren nicht nur das Gegenteil der Berliner Ausnahmesituation des Romans von Anne Wiazemsky. Wenn es dort in Hinblick auf die Zeit nach Berlin heißt: „la vie […] ne nous a pas distribué que des cadeaux“ (S. 246), so hat die Zeit in Frankreich der jungen Frau nicht nur nichts geschenkt, sondern fast alles genommen: die soziale Situation gestattet weder deutsch-französische noch andere Illusionen. Verständigung und Verständigungsprobleme in Zeiten der Normalität Brigitte Girauds Année étrangère 21 spielt während eines halben Jahres Anfang der achtziger Jahre in der Nähe von und in Lübeck. Die siebzehnjährige Französin Laura geht als Au Pair-Mädchen in eine deutsche Familie mit zwei etwas jüngeren Kindern (Sohn und Tochter), um vor ihrer eigenen Familie zu fliehen: sie will das durch den Unfalltod ihres jüngeren Bruders verursachte Trauma überwinden, sie will sich von ihren (seit dem Tod des Sohnes zerstrittenen) Eltern emanzipieren und sie hofft, in einer anderen Sprache und Kultur besser als zu Haus mit anderen kommunizieren zu können. Der Roman spielt in einer von den Gegenwartsromanen nur selten evozierten Zeit und in einer deutschen Familie, die soziologisch ebenso durchschnittlich ist wie jene, aus der Laura kommt. Wie die Protagonistin der Femme allemande macht Laura die Erfahrung einer Sprachbarriere, über die sie umso mehr erstaunt ist, als sie trotz eines mehrjährigen Deutschunterrichts zu Anfang fast nichts versteht und unfähig ist, über Alltagsangelegenheiten zu kommunizieren. Doch diese Unfähigkeit bildet nur die Oberfläche tiefergehender Verständigungsprobleme. Laura versteht den Alltag ihrer Gastfamilie nicht, bis sie merkt, dass die Mutter der beiden Kinder, um die sie sich zu kümmern hat, schwer an Krebs erkrankt ist. Und trotz ihrer schulischen Thomas Mann-Lektüre (Der Zauberberg), die sie fortsetzt, bilden die deutsche Vergangenheit und Gegenwart für sie ein Rätsel: dass Lübeck an der Zonengrenze liegt, überrascht sie bei einem 21 Brigitte Giraud: Une Année étrangère, Stock 2009. Brigitte Giraud hat zwischen 1997 und 2009 5 Romane und einen Novellenband (L’Amour est très surestimé, Prix Goncourt de la nouvelle 2007), überwiegend bei Stock, veröffentlicht. <?page no="220"?> Wolfgang Asholt 216 Sonntagsausflug und lässt sie ratlos. Und als sie unter den Büchern des Großvaters, der ins Altersheim umziehen soll, Hitlers Mein Kampf findet, versucht sie mit einer weiteren Lektüre ohne größeren Erfolg, die deutsche Geschichte besser zu verstehen. Erst als der Großvater erwähnt, dass er während des Krieges in Paris gelebt habe und sein Sohn durchblicken lässt, dass er eine französische Mutter habe, die er nie kennengelernt hätte (er ist offensichtlich wie Galadio ein Kriegs-Besatzungskind), beginnt sie etwas von der Komplexität der deutsch-französischen Beziehungen zu ahnen. Auch hier bildet die Fremdheit der Sprache der Anderen eine Synekdoche für die Verständigungs- und Verstehensprobleme insgesamt. „Parce que, en allemand, j’ai l’impression que ma pensée se rétrécit, je perds de mon acuité, je me laisse gagner par une simplification du monde qui m’effraie. J’ai peur de me perdre, de perdre le sens des mots, j’ai peur de disparaître.“ (S. 22), heißt es zu Anfang, doch zur Hälfte des Aufenthalts von Laura hat sich ihr Verhältnis zur deutschen Sprache radikal geändert: „je fais la promesse de continuer de parler allemand à mon retour, de parler allemand toujours, de ne pas oublier un seul des mots appris, de ne pas perdre ce qui, dans cette langue, m’a permis d’éprouver ce que j’éprouve depuis trois mois […]“ (S. 1134) Was die junge Französin erfahren hat, ist das, was sie als ein „exil volontaire“, als eine „épreuve de la perte“ (S. 114) bezeichnet, und dieses Exil und der Verlust der gewohnten Referenzen stellen eine notwendige Bedingung des Zu-Sich-Selbst-Findens dar. Als der Gast-Vater (und Halb-Franzose) zum Schluß mit ihr Französisch spricht, findet sie zu sich und ihrer Sprache als „la simple évidence de la parole retrouvée […] d’une libération“ (208) zurück: der Selbstfindungs- und Emanzipationsprozeß ist vollzogen. Der Roman schildert dies ohne dramatische Zuspitzungen, ohne sonst obligate historische Standardreferenzen, ohne Klischees und Stereotype. Tragische Situationen situieren sich in der Vergangenheit und werden mehr evoziert als aktualisiert, und die Fremdheit manifestiert sich im Alltagsleben wie in der Literatur auf unaufdringlich-selbstverständliche Weise. Diesen Prozeß am Beispiel einer 17jährigen Ich-Erzählerin zu verfolgen, vermittelt vielleicht mehr über die alltäglichen Verstehensprobleme und Verständigungsprozesse als historische Ausnahmesituationen und insofern ist dieser Aufenthalt einer (jungen) Französin in Norddeutschland ein (nicht nur für sie) gelungenes Beispiel einer französisch-deutschen romanesken Verständigung. <?page no="221"?> „Longtemps, l’Allemagne“: Deutschland in französischen Gegenwartsromanen 217 Deutsche und Berliner Phantasmagorien heute Jean-Yves Cendreys Honecker 21 22 ist einer der beiden Romane, die in der Gegenwart spielen: „Berlin, de nos jours, veille d’une année nouvelle.“ (Klappentext). Von zahlreichen Rückblenden unterbrochen spielt der Roman an Silvester und Neujahr des Jahreswechsels 2007/ 08 (zu Ende des Romans wird die Aufhebung der Grenzkontrollen zwischen Deutschland und Polen am 21.12.2007 erwähnt). Und er ist auch insofern ein Deutschlandroman, als nur deutsche Protagonisten auftreten, und darüber hinaus ein West-Berlin- Roman, da die Handlungsorte, von Anfang und Ende abgesehen, sich ausnahmslos im Westteil der Stadt situieren. Mathias Honecker arbeitet mit großem finanziellen Erfolg bei einer Telefongesellschaft und lebt im Charlottenburger Westen mit der Radiojournalistin Turid Köppen, die eine regelmäßige Kultur-Interview-Sendung hat: eigentlich müssten sie also zwischen Berlin-Mitte und Prenzlauer Berg wohnen. Honecker würde gern ins noch westlichere Corbusier-Haus aus den 1950er Jahren ziehen. Beide sind Mitte Dreißig, und Turid erwartet und bekommt ein Kind, das sie ihren Job verlieren lässt. Honecker ist anpassungswillig: er liest auf Turids Empfehlung Hermann Brochs Schlafwandler und anschließend den Simplizissimus, er geht mit ihr ins Fitness-Studio und lernt mit ihr Italienisch, er kauft bei Karstadt Espressomaschinen und bei Gebrauchthändlern pannenanfällige französische Limousinen oder er sucht für seinen Chef ein familiäres Bordell für einen Geschäftsbesuch. Als er sich bei dieser Suche in die taubstumme Hausgehilfin dieses Bordells verliebt, setzt eine Midlife-Krise ein, die ihn zwischen Traum und Realität hin-und-her reißt und immer radikalere Entscheidungen treffen lässt, die von Erinnerungen an seine Westberliner Kindheit und seine professoralen Eltern unterbrochen und beeinflusst werden. Der Roman beginnt und endet mit der phantasmagorischen Rückfahrt von Usedom, wohin sein Chef die Führungskader seines Unternehmens zum 31. Dezember 2007 zu einem Motivations-Silvesteressen nach Swinoujscie-Swinemünde eingeladen hatte, um ihnen seine uneingeschränkte Verfügungsgewalt über sie zu demonstrieren. Honecker darf ihn am frühen Neujahrsmorgen in sein Ahlbecker Hotel zurückbringen und nimmt auf der Rückfahrt nach Berlin ein polnisches Tramperpaar mit, das ihn zwingt, es nach Szczecin-Stettin zu bringen, wo er fast ermordet wird oder dies phantasiert. Die Rückfahrt im Anfangs- und Schlusskapitel („Il se souvient d’avoir dépassé Babigoszcz.“ (S. 10); „A-t-il vraiment dépassé Babigoszcz? “ (S. 200)) eröffnet zwei Perspektiven. Zu Beginn wie zu Ende des Romans 22 Jean-Yves Cendrey: Honecker 21, Actes Sud 2009. Cendrey hat bisher acht Romane sowie mehrere weitere Texte bei POL, L’Olivier und Gallimard veröffentlicht, darunter drei Theaterstücke mit seiner Frau Marie NDiaye unter dem Titel Puzzle (Gallimard 2007). <?page no="222"?> Wolfgang Asholt 218 fährt er durch eine bedrohliche Traumlandschaft („La brume y est constante, poisseuse, et de fauve moutarde, comme encore chargée d’ypérite. Nourris à l’excès de cadavres, les vieux arbres ont pris forme humaine.“, S. 15), und zum Schluß wird diese Phantasie in einer desindustrialisierten Ruinenlandschaft bei Stettin zu einer unerträglichen Realität: „Il approcha de sa tempe le canon de l’arme, confiant dans le fait que cette cible-là était immanquable, qu’il allait faire quelque chose et que la simplicité allait lui réussir.“ (S. 223) Warum Honecker 21, warum die Simplicissimus-Lektüre und das längere Grimmelshausen-Zitat kurz vor Schluß, warum Tokio-Hotel mit „Schrei! Bis du du selbst bist“ (S. 10 und 201)? Befinden wir uns immer noch in einem nicht enden wollenden Dreißigjährigen Krieg? Ist dieses Berlin und dieses Deutschland ein Wahnbild, das unserer Gegenwart in seinen Verzerrungen und Übertreibungen den Spiegel vorhält? Ohne eine Antwort geben zu können scheint es bemerkenswert, dass Cendrey seinen Roman in Berlin situiert und in einem Pommern (anfangen und) enden lässt, das mit jenem des vorletzten Kapitels der Bienveillantes wohl eher ungewollt Parallelen aufweist. Deutschland und vor allem sein Osten sind für französische Autoren wie Cendrey offensichtlich ebenso „exotisch“, wie die Karibik oder manche französischen Gegenden für seine Frau Marie NDiaye, und mit seinem Überdruß an dem so trendigen Berlin steht auch Honecker für die „incertitudes allemandes“. Mit diesem impliziten Deutschlandbild steht der Roman in einer Deutschlandtradition der französischen Literatur, wie es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Michel Tourniers Le Roi des Aulnes repräsentiert wird. Präsenz und Opazität der Geschichte als ‚Wissen’ von Kunst und Literatur Auch Cécile Wajsbrots L’Ile aux musées 23 spielt in der Gegenwart, wobei nicht nur die Handlungsorte Paris und Berlin aufeinander verweisen und sich widerspiegeln, sondern auch die Personenkonstellation in Verbindung mit den Orten des Geschehens komplexe Beziehungen zwischen den Städten und ihren privilegierten Orten sowie den Protagonisten entstehen lässt. Eine Französin, die vor ihrem Freund (einem Maler in einer Orientierungskrise) für ein Wochenende nach Berlin geflohen ist, trifft auf der Museumsinsel (dem praktisch ausschließlichen Berliner Handlungsort) einen etwa gleichaltrigen Franzosen, der angesichts der Aussichtslosigkeit seiner Liebe zu einer jungen Frau die gleiche kurze Flucht unternommen hat. Und in Paris treffen sich ich in den Tuilerien die beiden daheim Gebliebenen: der Maler und die junge Frau: ein doppelter „objektiver“ Zufall. Ihre wahre Dimension 23 Cécile Wajsbrot: L’Ile aux musées, Denoël 2008. Cécile Wajsbrot hat seit Anfang der 1990er Jahre mehr als 10 Romane sowie den Essay Pour la Littérature (Zulma 1999) veröffentlicht. <?page no="223"?> „Longtemps, l’Allemagne“: Deutschland in französischen Gegenwartsromanen 219 erhält diese zunächst konventionell wirkende Konstellation jedoch dadurch, dass diesen romanesken Figuren ein kollektiver Protagonist an die Seite gestellt wird, der gleichzeitig die Kunst und ihre Geschichte sowie die Geschichte insgesamt repräsentiert: die als „Nous“ auftretenden Statuen (seltener bestimmte Bilder) in und um die Museen, die als kollektives Gedächtnis einer abendländischen „longue durée“ sprechen und die jüngste Geschichte „vertiefen“ und zugleich relativieren. Jeweils durch einen Eröffnungsteil eingeleitet, in dem die Erzählerin eine konkrete Statue evoziert und kontextualisiert, situieren sich die 12 Kapitel, die den Titel der konkreten Eingangsstatue tragen (Celui qui appelle, Le jour et la nuit, L’ombre, Panta rei, Allemagne, mère blafarde, Le pas du siècle, La pièce abandonnée, La foule, Méditation contre le silence, Caïn venant de tuer son frère Abel, , L’arbre à voyelles, Le cri) abwechselnd in Berlin und Paris und bringen die beiden momentanen Paare mehrfach und zufällig in oder in der Nähe von Museen (jenen der Museumsinsel und jenen der Tuilerien) zusammen. Die Liebes-Geschichte der beiden (doppelten) französischen Paare korrespondiert dabei mit der durch die Statuen repräsentierten kollektiven Geschichte, manchmal nehmen die Paare diese historische Perspektive auf, doch ihre eigentliche Tiefe und Bedeutung erhält sie durch die Erinnerungen und Reflexionen der Statuen. Die Eingangsstatuen stammen aus dem späten 19. und der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wobei die jüngeren auf die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und des Zivilisationsbruches der Shoah reagieren. Die monologisierenden Statuen und Kunstwerke der eigentlichen Kapitel hingegen sind häufig in der (ägyptisch, babylonisch, griechischen) Antike entstanden und sie sehen und reflektieren die jüngere Geschichte mit geduldigem Erstaunen. Ihre Monologe, die die Menschen nicht vernehmen, kommentieren deren historische Reflexionen und aktuelle Probleme, haben aber keinen Einfluß auf sie, als ob die Geschichte sich mit ihrer Opazität den Zeitgenossen unabänderlich entzieht. Die Komplexität der erzählerischen Struktur wird noch dadurch gesteigert, dass die vier Hauptfiguren jeweils als Ich-Erzähler/ in auftreten: dies geschieht sowohl in direkter Rede wie mit (inneren) Monologen, die so etwas wie eine Sarrautesche „sous-conversation“ bilden, und die Übergänge von der einen zur anderen Erzählfigur sind manchmal kaum markiert so dass die Gedanken des/ der Einen auch dem jeweils Anderen zugeordnet werden oder ihn beeinflussen können. Neben die Beziehungsfragen der (vier) Paare treten, durch die Museen ausgelöst, immer wieder Reflexionen und Diskussionen über Kunst und Geschichte. Die verstümmelten Körper der Bilder ihres (in Paris gelassenen) Malerfreundes findet die Berlinbesucherin im Alten Museum als Statuen wieder, und deren „Nous“-Stimmen betten diese Körper in die (Berliner) Geschichte des 20. Jahrhunderts ein: „Nous étions emmenées en secret dans des voitures blindées - on prenait soin de nous, on faisait attention à ne pas nous casser, on nous maniait avec <?page no="224"?> Wolfgang Asholt 220 précaution quand on vous entassait dans des wagons sans air pour vous transporter dans les camps qui essaimaient l’Europe.“ (S 16). Angesichts der Tuilerien (zuvor haben die „Nous“ ebenso die Geschichte der Kommune wie die der deutschen Besatzung und ihrer Kunstdeportationen erwähnt) formulieren die Statuen-„Nous“ ihre Funktion deutlicher: „Mais nous voyons au-delà de l’espace et du temps […] nous sommes aux avant-postes. Regardant vers le ciel, regardant sur la terre. Nous voyons l’histoire se mettre en mouvement.“ (S. 180). Die „Nous“ entsprechen damit dem „Engel der Geschichte“ Walter Benjamins, und so wenig die Menschen ihre Stimmen vernehmen, so wenig verstehen sie ihre Geschichte oder lernen aus ihr. Auf die Plastik des „Celui qui appelle“ (im Tiergarten) von Gerhard Marcks im ersten Kapitel antwortet „Le cri“ von Marino Marini vor der Neuen Nationalgalerie im letzten. „Ecoutez, dit le bronze [des ersten Kapitels], la voix que vous n’entendez pas cherche à vous prévenir“ (S. 8), doch Reiter und Pferd des „Schreis“ im letzten Kapitel liegen als verstümmelte Körper auf dem Boden: „une catastrophe invisible et terrible dont l’unique signe est leur désintégration commune.“ (212) Anders als die Geschichte(n) der vier Protagonisten, für die es individuell so etwas wie einen Hoffnungsschimmer gibt, bleibt der Ruf und die Lehre der Geschichte für die Menschen unhörbar und unverstehbar. Wenn überhaupt, lässt er sich in Berlin (mit den Statuen) vielleicht besser sehen und mit der Museumsinsel deutlicher „lesen“ als anderswo, zumindest verspüren die Protagonisten des Romans, ob sie in Berlin sind oder den/ die jeweils Andere(n) dort wissen, so etwas wie eine Ahnung davon. Dem Roman gelingt es, diese Ahnung zu formulieren und über die deutsch-französische Geschichte etwas von historischer Tragik insgesamt sichtbar werden zu lassen. Die Unausweichlichkeit der Geschichte im Gegenwartsroman Die sechs Romane kombinieren in unterschiedlicher Weise die „Ecritures de soi“, das „Ecrire le monde“ und das „Ecrire l’histoire“. Und angesichts der Deutschlandthematik spielt gerade die Präsenz der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle, wobei fast immer die NS-Zeit und zumeist auch die Shoah zentrale Bedeutung haben. Wohin es führt, wenn die Geschichte den eigentlich ausschließlichen Motivations- und Bezugspunkt darstellt, illustriert der Roman von Didier Daeninckx: die romaneske Handlung wird der Gefahr historischer Stereotypen ausgeliefert. Bei Anne Wiacemsky sind es weniger solche Stereotypen als soziale und kulturelle Voreinstellungen, die den Blick auf Deutschland und das Nachkriegsberlin beeinträchtigen. Trotz der außergewöhnlichen Situation des Berlins nach 1945 geht es mehr um die Selbstfindung und ihre Erfüllung in der großen Liebe der jungen Französin, als um die Stadt, ihre Bewohner und die deut- <?page no="225"?> „Longtemps, l’Allemagne“: Deutschland in französischen Gegenwartsromanen 221 sche Geschichte. Fabienne Swiatlys Roman weist den Vorzug auf, dass sein Milieu nicht das der Privilegierten der meisten anderen Romane ist: insofern scheitert die Protagonistin an der sozialen Situation der Nachkriegszeit. Brigitte Girauds Roman betont die Rolle von Sprache und Kultur der Anderen als Mittel der Selbsterfahrung und Selbstfindung, doch anderes als in Wiacemskys Roman dient die Geschichte dabei nicht als Dekor, sondern wirkt durch ihre unmerklich-unheimliche Präsenz. Das Alltägliche, das im Berlin unserer Tage bei jungen und (post-)modernen (West-) Berlinern ins Phantasmagorisch-Unheimliche umschlagen kann, prägt den Roman von Yves Cendrey, der nicht nur mit seinem Titel auf die untergründige Präsenz der Geschichte des 20. Jahrhunderts verweist. Diese Geschichte steht als solche im Zentrum des Romans von Cécile Wajsbrot und für die französischen Protagonist(inn)en wird Berlin zum privilegierten Ort, an dem die persönlichen Geschichten und die Geschichte insgesamt parallel und zusammengeführt werden, wobei die Katastrophen und der Zivilisationsbruch des 20. Jahrhunderts nicht nur Spuren, sondern tiefe Narben hinterlassen haben. Diese Omnipräsenz der Geschichte, insbesondere jener des Krieges, des Faschismus und der Shoah bilden den gemeinsamen Hinter- und nicht selten Vordergrund der Romane. Zumindest in der romanesken Literatur scheint also eine diese Geschichte (zufrieden) hinter sich lassende Normalisierung (noch) nicht möglich. Damit werden die Romane in unterschiedlicher (und nicht immer überzeugender) Weise dem gerecht, was in einer durch Lendemains ausgelösten Diskussion als ein Teil des Lebenswissens von Literatur (und Literaturwissenschaft) 24 bezeichnet worden ist: ihre Fähigkeit, das nicht Eingelöste und nicht Aufgehobene der Geschichte zu bewahren und sichtbar zu machen. 24 Ich verweise auf die „Programmschrift“ von Ottmar Ette in Lendemains Heft 125 (2007) und auf den diese und die folgende Diskussion dokumentierenden Band: Wolfgang Asholt/ Ottmar Ette (eds.): Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Programm - Projekte - Perspektiven, Tübingen: Narr 2010 (edition lendemains Nr. 20). <?page no="226"?> Kurzbiographien der Autoren Prof. Dr. Lothar Albertin geb. 1924 in Ortelsburg/ Ostpreußen. Studium der Geschichte, Germanistik und Staatsphilosophie in Köln und Amsterdam. 1953 Promotion. Lehr- und Forschungstätigkeit an der Universität Marburg (1961-1967). Habilitation für Zeitgeschichte (1968) und Politische Wissenschaften (1969) an der Universität Mannheim. Gastprofessuren in New York, Bordeaux und Antananarivo/ Madagaskar. 1974 Wechsel zur Pädagogischen Hochschule Westfalen- Lippe in Bielefeld. Ab 1979 an der Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie der Universität Bielefeld. 1989 Directeur d’Etudes à l’Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales in Paris. 1990 Gastprofessur am Institut d’Urbanisme de Paris. Mitherausgeber des „Frankreich-Jahrbuch“ (1988- 2005). Forschungen und Publikationen zur Geschichte des Liberalismus und der politischen Parteien, zur Reformpolitik von Städten im internationalen Vergleich und zum europäischen Einigungsprozess. Prof. Dr. Wolfgang Asholt geb. 1944; Professor für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Osnabrück (seit 1984), zwischenzeitlich an der Universität Potsdam. Gastprofessuren an den Universitäten Clermont-Ferrand, Orléans, Paris III und Paris IV. Mitherausgeber des „Frankreich-Jahrbuch“ (1996-2005) und der Zeitschrift „Lendemains. Vergleichende Frankreichforschung“ (seit 2000). Forschungsschwerpunkte: Französische und spanische Literatur des 19. Jahrhunderts, Avantgarde-Literatur und -Theorie, Reiseliteratur, Französischer Gegenwartsroman, deutsch-französische Kulturbeziehungen, Literatur- und Kulturwissenschaft. Prof. Dr. Hans Manfred Bock geb. 1940; Professor für Politikwissenschaft/ Komparatistik an der Universität Kassel (1970-2005), zuvor DAAD-Lektor in Paris. Mitherausgeber der Zeitschrift „Lendemains. Vergleichende Frankreichforschung“ (seit 1977) und des „Frankreich-Jahrbuch“ (1994-2005). Gastprofessuren an der Universität Paris III. Forschungsschwerpunkte: Politische Soziologie und Sozialge- <?page no="227"?> Kurzbiographien der Autoren 223 schichte Deutschlands und Frankreichs sowie der deutsch-französischen Beziehungen seit Anfang des 20. Jahrhunderts. Elmar Brok, MdEP geb. 1946; Vorstandsmitglied der EVP und der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament, Außenpolitischer Sprecher der EVP-Fraktion; Vorsitzender der interparlamentarischen Delegation zum US-Kongress und des Transatlantic Legislators’ Dialogue; Stellv. Mitglied im Europaausschuss des Deutschen Bundestages, Vorsitzender der Europäischen Union Christlich-Demokratischer Arbeitnehmer (EUCDA). Mitglied im CDU-Bundesvorstand, Vorsitzender des CDU-Bundesfachausschusses Außen-, Sicherheits- und Europapolitik (seit 1989); Stellv. Vorsitzender des Kuratoriums des Instituts für Europäische Politik (IEP); Mitglied des Präsidiums der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V.; Mitglied des Kuratoriums Institut für deutsches und europäisches Parteienrecht / Mitglied des Kuratoriums des Instituts für Europäische Verfassungswissenschaften der Fernuniversität Hagen; Co-Vorsitzender des Deutsch-Ungarischen Forums. Frühere politische Funktionen: Vertreter des Europäischen Parlaments in der Regierungskonferenz zum Vertrag von Lissabon (2007) und zum EU- Verfassungsvertrag (2003/ 2004) sowie in den Regierungskonferenzen für die Verträge von Nizza und Amsterdam; Vorsitzender der EVP/ ED Fraktion im EU-Verfassungskonvent (2001-2002). Prof. Dr. Dr. h. c. Vincent Hoffmann-Martinot geb. 1957; Direktor von Sciences Po Bordeaux. Mitglied des Exekutivkomitees der Political Science Association. Ko-Initiator des integrierten deutschfranzösischen Studienganges für Politische Wissenschaft Bordeaux-Stuttgart. Forschungsschwerpunkte: Vergleichende Politik, Politikverhalten, Lokale Demokratie, politische Partizipation. Prof. Dr. Roland Höhne geb. 1936; Professor für romanistische Landeswissenschaften an der Universität Kassel (1981-2004), zuvor Assistenzprofessor am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin für internationale Beziehungen und Regionalstudien. Gastprofessuren in Paris XII, Halle/ S. und seit 2005 am Freien Russisch-Deutschen Institut für Publizistik Rostow-am-Don (FRDIP). Forschungsschwerpunkte: politische Systeme, Parteien, soziale Bewegungen und Wahlen in Frank- <?page no="228"?> Kurzbiographien der Autoren 224 reich, Italien und Spanien, französische Kolonialgeschichte des 19. u. 20. Jahrhunderts, deutsch-französische, deutsch-italienische und deutsch-russische Beziehungen. Prof. Dr. Adolf Kimmel geb. 1938; Professor für Politikwissenschaft (vergleichende Regierungslehre, westliche Regierungssysteme) an den Universitäten Würzburg und zuletzt Trier (bis 2004), zuvor Lehrtätigkeit an den Universitäten in Berlin (FU), Saarbrücken, Bochum und München. Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft (1993-1995). Mitherausgeber des „Frankreich- Jahrbuch“ (1988-2005). Forschungsschwerpunkte: Politisches System der V. Französischen Republik, deutsch-französische Beziehungen, politisches System der Bundesrepublik Deutschland, verfassungspolitische Probleme im westeuropäischen Vergleich. Prof. Dr. Dr. h. c. Ingo Kolboom geb. 1947; Lehrstuhl für Frankreichstudien, für deutsch-französische Beziehungen und internationale Frankophonie an der Technischen Universität Dresden; Assoziierter Professor für Geschichtswissenschaft an der Universität Montréal, zuvor Senior Research Fellow im Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Bonn und Lehrtätigkeit (Romanistik, Politik) an den Universitäten Berlin (TU, FU) und Hamburg. Draeger-Fellow an der Harvard University; Gastprofessor in Montréal; Mitglied im Vorstand des Comité d’études des relations franco-allemandes (CERFA) und im Komitee für die deutsch-französisch-polnische Zusammenarbeit („Weimarer Dreieck“); Präsident der Sächsisch-Bretonischen Gesellschaft e.V. Von 1995 bis 2004 Mitglied im Deutsch-Französischen Kulturrat. Mitherausgeber des „Frankreich-Jahrbuch“ (seit 1990): Präsident der Association internationale des études québécoises (1999-2004). Prof. Dr. Werner Link geb. 1934; Professor für Politikwissenschaft in Marburg, Kassel, Trier und zuletzt Köln (1971-1999). Vorsitzender des Wissenschaftlichen Direktoriums des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln (seit 1992, 2000 Fusion mit der Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin). Gastprofessur in Washington. Mitherausgeber der Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland. Forschungsschwerpunkte: <?page no="229"?> Kurzbiographien der Autoren 225 deutsche Außenpolitik, Ost-West-Beziehungen, deutsch-amerikanische Beziehungen, gesamteuropäische Ordnung. Dr. Andreas Ruppert geb. 1948; Historiker und Slawist, Stadtarchivar der Stadt Detmold (seit 2001), zuvor Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Gedenkstätte Wewelsburg, der Universitätsbibliothek Paderborn und an der Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie der Universität Bielefeld. Veröffentlichungen zur Zeitgeschichte und zur Regionalgeschichte, Durchführung von stadtgeschichtlichen Projekte und Ausstellungen. Mitherausgeber des E- Journals „Rosenland. Zeitschrift für lippische Geschichte“. Prof. Dr. Henrik Uterwedde geb. 1948; Honorarprofessor an der Abteilung Politische Systeme und Politische Soziologie der Universität Stuttgart (seit 2003). Stellv. Direktor des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg (seit 1996), zuvor dort Wissenschaftlicher Mitarbeiter. Habilitation (Politikwissenschaft) an der Universität Osnabrück (2004). Mitherausgeber des „Frankreich-Jahrbuch“ (seit 1996). Forschungsschwerpunkte: Vergleichende Politikfeldanalyse (Deutschland-Frankreich), Ökonomie, Gesellschaft und Politik in Frankreich, deutsch-französische Beziehungen, europäische Wirtschaftsintegration. <?page no="230"?> Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@narr.de • www.narr.de NEUERSCHEINUNG SEPTEMBER 2010 JETZT BESTELLEN! Niklas Bender / Steffen Schneider (Hrsg.) Objektivität und literarische Objektivierung seit 1750 edition lendemains, Band 22 2010, 241 Seiten, €[D] 68,00/ SFr 96,90 ISBN 978-3-8233-6583-9 Objektivität ist seit der Aufklärung ein Leitbegriff der Naturwissenschaft und hat die Literatur der Moderne geprägt - trotzdem widmet sich ihm bisher keine literaturwissenschaftliche Untersuchung. Der Band analysiert wesentliche Entwicklungen von Objektivität, v.a. in der französischen Literatur: Objektivität zeigt sich in der Literatur des 19. Jahrhunderts als dialektischer Gegenspieler von Subjektivität; im 20. Jahrhundert kommt es zu komplexen Steigerungsformen, ja zur Infragestellung - das Konzept wird jedoch nicht aufgegeben, sondern als Reflexionsbegriff weiterentwickelt. Zwölf Beiträge untersuchen auf methodisch und inhaltlich kohärente Weise Objektivität in zentralen Werken der Moderne. <?page no="231"?> Hans Manfred Bock Topographie deutscher Kulturvertretung im Paris des 20. Jahrhunderts edition lendemains, Band 18 2010, 400 Seiten, €[D] 68,00/ SFr 96,90 ISBN 978-3-8233-6551-8 An welchen Orten und mit welchen Motiven, Absichten und Ergebnissen traten deutsche Kulturrepräsentanten im 20. Jahrhundert in Paris in die mehr als episodische, strukturierte Interaktion mit Vertretern der französischen Kultur und Gesellschaft ein? Bedingt durch die internationalen und bilateralen Machtkonstellationen entstanden symbolische Begegnungsorte, in deren Aktivitäten in der Regel außenkulturpolitischer Gestaltungswille und zivilgesellschaftliche Initiativen zusammenwirkten mit dem Ziel der Repräsentation, der Penetration oder der Mediation. Hans Manfred Bock, ausgewiesener Kenner der Materie, stellt erstmals in markanten Fallbeispielen die Entstehung, Entwicklung und Funktion deutsch-französischer Begegnungsorte in Paris vom Ende des Ersten Weltkrieges bis in die Gegenwart dar. Deren Spektrum reicht vom Carnegie-Haus und dem Sitz der Union pour la vérité bis zur Vertretung im Internationalen Institut für geistige Zusammenarbeit und dem Institut d’Etudes germaniques, vom Deutschen Haus in der Cité Universitaire und der Außenstelle des DAAD bis zu den Ursprüngen des DFJW in den Pariser Verständigungsorganisationen der Nachkriegsjahre und zur Gründung des Institut d’Allemand d’Asnières. Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@narr.de • www.narr.de NEUERSCHEINUNG AUGUST 2010 JETZT BESTELLEN! JE <?page no="232"?>