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Sprachkontakte, Sprachvariation und Sprachwandel

Festschrift für Thomas Stehl zum 60. Geburtstag

0216
2011
978-3-8233-7601-9
978-3-8233-6601-0
Gunter Narr Verlag 
Lena Busse
Claudia Schlaak

In der vorliegenden Festschrift werden Beiträge zur Feier des 60. Geburtstags von Herrn Prof. Dr. Thomas Stehl publiziert. Es finden sich Beiträge vor allem von Sprachwissenschaftlern, aber auch von Literatur- und Kulturwissenschaftlern, die mit dem wissenschaftlichen Lebenswerk von Thomas Stehl eng verbunden sind. Ziel der Festschrift ist es, die wesentlichen Forschungen des Jubilars, dazu zählen vor allem seine Arbeiten im Bereich der Variationslinguistik, zu würdigen und zu seinen wissenschaftlichen Kernfragen Stellung zu nehmen. Alle Beiträge greifen daher aus der Perspektive verschiedener Einzelphilologien sein breit angelegtes und spannendes wissenschaftliches Lebenswerk zu den Bereichen der Kontaktlinguistik, der Mehrsprachigkeit, der Pragmalinguistik, der Variationslinguistik, der Sprachvariation und des Sprachwandels in europäischen und außereuropäischen Ländern, der Geolinguistik, der Kreolistik und der Migrationslinguistik auf.

<?page no="0"?> In der vorliegenden Festschrift zur Feier des 60. Geburtstags von Thomas Stehl finden sich Beiträge vor allem von Sprachwissenschaftlern, aber auch von Literatur- und Kulturwissenschaftlern, die mit dem wissenschaftlichen Lebenswerk des Jubliars eng verbunden sind. Ziel der Festschrift ist es, die wesentlichen Forschungen des Jubilars - dazu zählen vor allem seine Arbeiten im Bereich der Variationslinguistik - zu würdigen und zu seinen wissenschaftlichen Kernfragen Stellung zu nehmen. Alle Beiträge greifen daher aus der Perspektive verschiedener Einzelphilologien sein breit angelegtes und spannendes wissenschaftliches Lebenswerk zu den Bereichen der Kontaktlinguistik, der Mehrsprachigkeit, der Pragmalinguistik, der Variationslinguistik, der Sprachvariation und des Sprachwandels in europäischen und außereuropäischen Ländern, der Geolinguistik, der Kreolistik und der Migrationslinguistik auf. Schlaak / Busse (Hrsg.) Sprachkontakte, Sprachvariation und Sprachwandel ISBN 978-3-8233-6601-0 Claudia Schlaak / Lena Busse (Hrsg.) Sprachkontakte, Sprachvariation und Sprachwandel Festschrift für Thomas Stehl zum 60. Geburtstag <?page no="1"?> Claudia Schlaak / Lena Busse (Hrsg.) Sprachkontakte, Sprachvariation und Sprachwandel Festschrift für Thomas Stehl zum 60. Geburtstag <?page no="2"?> Sprachkontakte, Sprachvariation und Sprachwandel <?page no="4"?> Claudia Schlaak / Lena Busse (Hrsg.) Sprachkontakte, Sprachvariation und Sprachwandel Festschrift für Thomas Stehl zum 60. Geburtstag <?page no="5"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. Gedruckt mit Unterstützung der Universität Potsdam und der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam. © 2011 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Druck und Bindung : Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISBN 978-3-8233-6601-0 <?page no="6"?> Tabula gratulatoria R OLAND B AUER Salzburg G ERALD B ERNHARD Bochum L ENA B USSE Potsdam U LRICH B USSE Halle/ S. W OLF D IETRICH Münster O TTMAR E TTE Potsdam H ANS G OEBL Salzburg J EAN -P IERRE G OUDAILLIER Paris S YBILLE G ROßE Potsdam/ Leipzig J ENS H ÄSELER Potsdam G ERDA H AßLER Potsdam D ORIT H EINRICH Berlin A NJA H ENNEMANN Potsdam I NSTITUT FÜR R OMANISTIK , U NIVERSITÄT W IEN Wien F RANK J ABLONKA Beauvais D IETER K ATTENBUSCH Berlin C ORNELIA K LETTKE Potsdam P ETER K OSTA Potsdam G EORG K REMNITZ Wien F ERNANDE K RIER Rennes G EORGES L ÜDI Basel H ELMUT L ÜDTKE Kiel T RUDEL M EISENBURG Osnabrück I SOLDE P FAFF Potsdam E LTON P RIFTI Potsdam A NDREAS R AUHER Berlin E DGAR R ADTKE Heidelberg C LAUDIA S CHLAAK Potsdam P ETER S TEIN Berlin L ARS S TEINICKE Potsdam <?page no="7"?> T ILL S TELLINO Heidelberg H ARALD T HUN Kiel F ABIO T OSQUES Berlin G ESINA V OLKMANN Potsdam S TEFANIE W AGNER Potsdam H EIDE W EGENER Potsdam E DELTRAUD W ERNER Halle/ S. H ARALD W EYDT Berlin O TTO W INKELMANN Gießen I LSE W ISCHER Potsdam <?page no="8"?> Inhaltsverzeichnis Vorwort .............................................................................................................. XI Verzeichnis der Schriften von Thomas Stehl ..................................................... XXIII I. THEORIE, METHODOLOGIE, TERMINOLOGIE Helmut Lüdtke Bemerkungen zur kulturgeschichtlichen Bedingtheit der Linguistik ................ 1 Hans Goebl Quo vadis, atlas linguistice? Einige wissenschaftshistorische und zeitgeistkritische Reflexionen zur atlasgestützten Geolinguistik ............... 5 Frank Jablonka Zur Differenzierung von “emischen” und “etischen” Kategorien in der Sprachwissenschaft. Diskursnormen und -traditionen revisited .......... 29 Gerda Haßler Grammatikalisierung oder Lexikalisierung? Zur Entwicklung von Topik- und Fokusmarkern in romanischen Sprachen ................................. 49 Gesina Volkmann Das Hypertext-Kontinuum. Medium und Konzeption von Text und Hypertext ........................................... 69 II. SPRACHKONTAKT, MIGRATION, VARIATION Harald Weydt Über Sprachkonflikte und ihre Vermeidung ...................................................... 91 Georges Lüdi Vom Einfluss der Politik der Sprachpflege auf Sprachkontaktphänomene und Sprachwandel. Das Beispiel der Anglizismen in Frankreich und Deutschland ........................ 105 Jean-Pierre Goudaillier De l’intérêt de décrire en linguistique les parlures argotiques traditionnelles et contemporaines........................................................................ 119 <?page no="9"?> Inhaltsverzeichnis VIII Lars Steinicke / Claudia Schlaak Das Okzitanische: Zur Selbstdarstellung französischer Minderheiten im Internet ............................................................. 129 Fernande Krier Binômes, trinômes, quadrinômes : toponymes plurilingues ............................... 145 Claudia Schlaak Sprachliche und kulturelle Vielfalt auf Mayotte: Das Bekenntnis zur “französischen Identität” ................................................... 157 Gerald Bernhard Italienische Vornamen im Ruhrgebiet: eine kleine migrationslinguistische Umfrage ...................................................... 177 Elton Prifti Italo-Albanians between Dialetto and Arbërisht.............................................. 191 Wolf Dietrich Zur Herausbildung koordinierender Konjunktionen in den Tupí-Guaraní- Sprachen. Europäischer Einfluss auf die Syntax eingeborener Sprachen .......... 215 Sybille Große Sprachkontakt in Paraguay: ndaje als modaler bzw. evidentieller Marker des Guaraní in Spanischvarietäten Paraguays ................................................... 231 Peter Kosta Modalité Epistémique et Evidentialité et sa disposition à la base déictique ....... 257 III. DIALEKTOLOGIE, SPRACHGESCHICHTE, EINZELSPRACHEN Ulrich Busse Anglizismen europäisch und historisch: Ein Vergleich der historischen und soziokulturellen Faktoren im anglo-europäischen Sprachkontakt ..................... 287 Isolde Pfaff Englisch als Wissenschaftssprache auch in der Romanistik? .......................... 311 Ilse Wischer Lexicalization of paraphrasal verb constructions with have and take ............. 325 Heide Wegener Eine Lücke im Paradigma des deutschen Futurhilfsverbs werden ................... 341 <?page no="10"?> Inhaltsverzeichnis IX Harald Thun Die diachrone Erforschung der français régionaux auf der Grundlage des Corpus Historique du Substandard Français ........................................ 359 Stefanie Wagner Lou Nissart - (K)ein Platz in Europa? ............................................................... 395 Peter Stein / Dorit Heinrich Ohck-Wohlkebohrne Ehrr, Mein knädigk grand Patron! Vor Die ick ahb allßeit kroß Veneration. Bericht eines “Deutsch-Franzosen” über seinen Besuch in Berlin und Potsdam, anno 1730 ........................................................ 411 Cornelia Klettke Die Stimme des Anderen - Heterotopie und Heterologie in Combat de nègre et de chiens von Bernard-Marie Koltès ........................ 425 Dieter Kattenbusch / Fabio Tosques / Andreas Rauher Umbria Dialettale ............................................................................................... 443 Roland Bauer Tra napoletano e siciliano? Randbemerkungen zur Metaphonie im Dialekt der äolischen Inseln .......................................................................... 461 Till Stellino Parole e cose in un mondo che cambia: Il prestigio della tradizione nel settore vitivinicolo e le sue manifestazioni linguistiche in Puglia, Basilicata e Campania ........................................................................................ 473 Ottmar Ette Daniel Alarcón, Lost City Radio: Vom Krieg, den Sprachen der Diktatur und der Erfindung eines anderen Lebens ........................................................... 485 Lena Busse El habla andaluza - Eine sprachwissenschaftliche Betrachtung der andalusischen Sprache ................................................................................. 503 Helmut Lüdtke Rumänisch: Überlegungen zu einer sprachlichen Erfolgsbilanz ....................... 523 <?page no="12"?> Vorwort 1. Ziel und inhaltliche Fragestellungen der Festschrift In der vorliegenden Festschrift werden Beiträge zur Feier des 60. Geburtstags von Herrn Prof. Dr. Thomas Stehl publiziert. Wie bereits der Titel der Festschrift Sprachkontakte, Sprachvariation und Sprachwandel. Festschrift für Thomas Stehl zum 60. Geburtstag deutlich macht, finden sich in diesem Band Beiträge vor allem von Sprachwissenschaftlern, aber auch von Literatur- und Kulturwissenschaftlern, die mit dem wissenschaftlichen Lebenswerk von Thomas Stehl eng verbunden sind. Ziel der Festschrift, und damit gleichzeitig die Bitte an alle Beiträger, war es, die wesentlichen Forschungen des Jubilars, dazu zählen vor allem seine Arbeiten im Bereich der Variationslinguistik, zu würdigen und zu seinen wissenschaftlichen Kernfragen Stellung zu nehmen. Alle Beiträge greifen daher sein breit angelegtes und spannendes wissenschaftliches Lebenswerk zu den Bereichen der Kontaktlinguistik, der Mehrsprachigkeit, der Pragmalinguistik, der Variationslinguistik, der Sprachvariation und des Sprachwandels in europäischen und außereuropäischen Ländern, der Geolinguistik, der Kreolistik und der Migrationslinguistik auf. Es ist mit dieser Festschrift sicher nur bedingt möglich, die Vielschichtigkeit und die Vielfalt der Forschungen von Thomas Stehl darzustellen; viele seiner wissenschaftlich innovativen Ansätze können mit dem vorliegenden Band leider gar nicht berührt werden. Daher werden nur seine wesentlichen Forschungsansätze thematisiert. Es freut uns sehr, dass viele seiner Kollegen, Freunde, bedeutenden Wegbegleiter und Schüler bei unserer ersten Anfrage im September 2009 sofort zugesagt haben, sich an der Festschrift zu beteiligen und das Werk Thomas Stehls zu würdigen. So auch Helmut Lüdtke, der mit seiner Doktorarbeit Zur Strukturellen Entwicklung des romanischen Vokalismus ein Vorbild für die Arbeiten von Thomas Stehl war und der als erster Assistent von Heinrich Lausberg einen Bogen eröffnete, den Thomas Stehl als letzter Lausberg-Assistent schließen sollte. So stellte Helmut Lüdtke durch sein herausragendes oeuvre, seine inhaltliche Reife und seine Erfahrungen für Thomas Stehl einen bedeutenden Wegbegleiter dar, an den er sich in langen Jahren stets als Ratgeber wenden konnte. So ist es nicht verwunderlich, dass Thomas Stehl Lüdtkes Arbeiten zum Sprachwandel fortführt und sich mit der Differenzierung des divergenten und des konvergenten Sprachwandels detailliert auseinandersetzt. Zentraler Gegenstand von Stehls 2005 erschienenen Sammelband Unsichtbare Hand und Sprecherwahl. Typologie und Prozesse des Sprachwandels in der Romania ist die Beschrei- <?page no="13"?> Vorwort XII bung und die Methodendiskussion des endogenen, divergenten, zentrifugalen Sprachwandels nach Helmut Lüdtke, und nunmehr des kontaktdynamischen, konvergenten und zentripetalen Sprachwandels nach Thomas Stehl. Auf das wissenschaftliche Lebenswerk von Thomas Stehl kann in dieser Festschrift aufgrund seiner Breite wie folgt nur in Ansätzen eingegangen werden: Mit Stolz hat Thomas Stehl stets darauf hingewiesen, dass er 1978 als letzter Doktorand von Heinrich Lausberg promovierte. Seine 1980 publizierte Dissertation behandelte Die Mundarten Apuliens. Historische und strukturelle Beiträge und stellt einen Meilenstein in der historischen Phonologie süditalienischer Dialekte dar - nicht umsonst wurde die Drucklegung dieser Arbeit von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützt. Nach der Promotion ging Thomas Stehl an die Universität Paderborn. Dort habilitierte er sich 1992 mit der Arbeit Funktionale Analyse der sprachlichen Variation. Untersuchungen zur Dynamik von Sprachkontakten in der Galloromania und Italoromania - es sollte betont werden, dass auch diese Arbeit durch ein zweijähriges Habilitandenstipendium der DFG unterstützt wurde. Das Werk stellt eine der wesentlichen und bahnbrechenden Forschungen im Bereich der Variationslinguistik dar. Stehl setzte mit dieser Arbeit einen Meilenstein, vor allem im Bereich der Funktionalen Variationslinguistik. So liegt es auf der Hand, dass er diesen Ansatz in den Folgejahren in zahlreichen Beiträgen, Artikeln und Vorträgen weiter ausführte, und dass dieser als methodologische Basis für zahlreiche seiner Doktoranden diente und noch heute dient. Nach der Habilitation wird Thomas Stehl 1992 als Professor an die Universität Bremen berufen, wo er nicht nur an der Reform der Studiengänge der Romanistik wesentlich beteiligt war, sondern sich auch mit großem Erfolg der Einrichtung des Faches Italianistik widmete. In den Jahren seiner Bremer Tätigkeit von 1992 bis 1998 fand seine Arbeit in Fachverbänden der Romanistik und in der Entwicklung neuer, anwendungsorientierter Studiengänge genauso viel Beachtung wie seine wissenschaftlichen Beiträge zur Variationslinguistik und zur Historischen Linguistik. Zum Wintersemester 1998/ 1999 erfolgte der Ruf auf den Lehrstuhl für Romanische Philologie/ Sprachwissenschaft an der Universität Potsdam, wo er sich seitdem den Aufgaben von Forschung und Lehre in seinen Schwerpunkten widmen konnte. Das sprachwissenschaftliche œuvre von Thomas Stehl ist vor allem durch seine Habilitationsschrift Funktionale Analyse der sprachlichen Variation. Untersuchungen zur Dynamik von Sprachkontakten in der Galloromania und Italoromania gekennzeichnet. In diesem Werk stellt er seinen auf Coseriu und Lausberg basierenden Ansatz einer funktionalen Analyse der sprachlichen Variation vor. Hierbei entwickelt er eine kohärente Methode der funktionalen Analyse von sprachlicher Variation, materialsprachlicher Interferenz, sprachdynamischer Konvergenz und nachfolgender Sprachgenese regionaler Dialekte der Standardsprachen in der Romania. Mit seinen variationslin- <?page no="14"?> Vorwort XIII guistischen Forschungen machte sich Thomas Stehl in der Romanistik vor allem in Deutschland, Frankreich und Italien einen Namen. Doch auch andere Forschungszweige bestimmten seine wissenschaftliche Tätigkeit mit. In seinen Arbeiten beschäftigte er sich mit sprachwissenschaftlichen Fragestellungen in den Bereichen der Dialektologie der romanischen Sprachen, der Sprachkontakte, der Sprachvariation und des Sprachwandels der Galloromania (Französisch, Okzitanisch, Französische Kreolsprachen etc.), der Räto- und Italoromania (sprachliche Verhältnisse in Apulien, auf Sizilien und in den Dolomiten etc.), in der Lehre auch in Spanien und Lateinamerika, der Empirie von Sprachkontakten in Europa, der Geschichte und der Historiographie der romanischen Sprachen, der Theorie des Sprachwandels und der Wechselbeziehung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit sowie der Wissenschaftstheorie der Linguistik. Neben seinen Forschungen und seinen Veröffentlichungen war Thomas Stehl außerordentlich bemüht, seine Erfahrungen seinen Studierenden, seinen Doktoranden und anderen Nachwuchswissenschaftlern weiterzugeben. Aufgrund seiner Erfahrungen, seiner Innovativität und seiner Hilfsbereitschaft ist Thomas Stehl vielen ein wichtiger Ratgeber. Mit etlichen Kolleginnen und Kollegen der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam ist er darüber hinaus in Kooperationsprojekten verbunden. So verwundert es nicht, dass Thomas Stehl sich nicht nur in der Linguistik einen Namen machte, sondern auch in zahlreichen Tätigkeiten ehrenamtlich aktiv war. Er war über lange Jahre als Fachgutachter des DAAD, als stellv. Vorsitzender und als Vorsitzender des Frankoromanisten-Verbandes tätig und organisierte zahlreiche Sektionen und Kongresse. Zudem ist er bis heute als Vorsitzender des Fakultätsrates der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam tätig. Mit dieser Festschrift möchten wir Thomas Stehl zu seinem 60. Geburtstag und zu seinen Leistungen in Forschung und Lehre herzlich gratulieren und wünschen ihm, dass er noch lange Jahre mit der Vitalität in der Wissenschaft aktiv sein kann. 2. Die Beiträge In diesem Band werden zu Thomas Stehls 60. Geburtstag Beiträge von Kollegen, Freunden, wichtigen Wegbegleitern und Schülern publiziert. Weitere interessierte Kollegen, die aufgrund anderer Verpflichtungen keinen Beitrag erstellen konnten, wurden ihrem Wunsch entsprechend in die Tabula gratulatoria aufgenommen. <?page no="15"?> Vorwort XIV Mit Freude konnten wir Helmut Lüdtke, als wichtigsten wissenschaftlichen Mentor von Thomas Stehl, für zwei Beiträge gewinnen. Er verstarb jedoch vor der Fertigstellung dieses Bandes am 27.04.2010, so dass er die Publikation der Festschrift nicht mehr miterleben konnte. Die Veröffentlichung seiner hier posthum erscheinenden zwei Beiträge dient daher auch dem Andenken an einen großen Romanisten, der die Romanische Sprachwissenschaft wesentlich geprägt hat und entscheidenden Einfluss auf den wissenschaftlichen Werdegang von Thomas Stehl genommen hat. Der Sammelband ist in drei Themenblöcke gegliedert, wobei der erste thematische Block Beiträge zur Theoriebildung, zur Methodologie und zur Terminologie gewidmet ist. Dieser Block ist insofern von Bedeutung, da Thomas Stehl großen Wert auf fundierte, methodologische Analysen legt, eine terminologische Präzision fordert und bei Definitionsfragen unterschiedliche Ansätze kontrastiv gegenüberstellt. Im zweiten Block werden Sprachkontakte, Migrationsprozesse und die damit einhergehende sprachliche Variation behandelt - die zentralen Forschungsthemen von Thomas Stehl. Zu diesen sprachwissenschaftlichen Teildisziplinen erstellte er nicht nur zahlreiche Publikationen, sondern bestimmte seit seiner Promotion die sprachwissenschaftlichen Debatten in der Romanistik in Deutschland, Frankreich und Italien wesentlich mit. Der dritte und letzte Block beinhaltet Fragestellungen zur Dialektologie und zur Sprachgeschichte aus der Perspektive verschiedener Einzelphilologien. Zu den einzelnen Beiträgen: Den ersten Themenblock Theorie, Methodologie, Terminologie beginnt Helmut Lüdtke mit seinem Beitrag “Bemerkungen zur kulturgeschichtlichen Bedingtheit der Linguistik”. Zunächst skizziert Lüdtke die Problematik des Ursprungs der romanischen Sprachen und setzt sie in Verhältnis zur Notwendigkeit einer Alphabetschrift, die wiederum für die Linguistik von großer Bedeutung ist. Daran anschließend beschreibt Lüdtke die Problematik der Struktur semitischer Sprachen - dazu zählt er u.a. das Arabische. Im weiteren Verlauf des Beitrags sind das Alphabet als sogenannter Störfaktor sowie die Entwicklung der romanischen Sprachen aus dem Latein Gegenstand der Ausführungen. Hans Goebls Beitrag “Quo vadis, atlas linguistice? Einige wissenschaftshistorische und zeitgeistkritische Reflexionen zur atlasgestützten Geolinguistik” befasst sich mit Sprachatlanten der Romanistik, der Anglistik, aber auch der Germanistik und deren Funktionen, die exemplarisch am Beispiel des ALF (Atlas linguistique de la France) dargestellt werden. Hierbei bezieht sich Hans Goebl auch auf die Zusammenarbeit mit Thomas Stehl bei der Erstellung des Atlante linguistico del ladino dolomitico (ALD). Darüber hinaus vergleicht <?page no="16"?> Vorwort XV er die romanistische mit der englischen Sprachgeographie und beschäftigt sich mit der Beziehung zwischen Dialektometrie und Sprachatlanten. Frank Jablonka stellt in seinem Beitrag “Zur Differenzierung von ‘emischen’ und ‘etischen’ Kategorien in der Sprachwissenschaft. Diskursnormen und - traditionen revisited” eine neue und ergänzte Definition der Termini ‘emisch’ und ‘etisch’ vor, die eng im Zusammenhang mit der Variations- und Kontaktlinguistik stehen. Ziel seines Beitrags ist es, die Begrifflichkeiten ‘Diskursnormen’ und ‘Diskurstraditionen’ als emische Kategorien sowie deren Realisierungen im Diskurs als etische Kategorien, einst von Thomas Stehl selbst in den 90er Jahren so unterschieden, aufzugreifen und die Definition dieser Begriffe zu erweitern. Gerda Haßler befasst sich in ihrem Artikel “Grammatikalisierung oder Lexikalisierung? Zur Entwicklung von Topik- und Fokusmarkern in romanischen Sprachen” mit der schwierigen Abgrenzung von Lexikalisierung und Grammatikalisierung. Bedingt durch Sprachwandelprozesse kommt es zu einer Verschiebung der Grenzen zwischen Lexik und Grammatik. In dem Beitrag werden die Grammatikalisierung und die Lexikalisierung synchronisch und diachronisch betrachtet sowie die Entwicklung und Funktionen von Topik- und Fokusmarkern in den romanischen Sprachen an zahlreichen Beispielen erläutert. In ihrem Beitrag “Das Hypertext-Kontinuum. Medium und Konzeption von Text und Hypertext” beschreibt Gesina Volkmann die verschiedenen Formen des Hypertextes. Zunächst wird der Terminus ‘Hypertext’ definiert und die einzelnen Eigenschaften erörtert. In diesem Zusammenhang werden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowie die Vor- und Nachteile eines Hypertextes mit einem traditionellen Text verglichen. Darüber hinaus verdeutlicht Gesina Volkmann die Merkmale eines Hypertextes und verweist u.a. darauf, dass er selten ein Endprodukt darstellt. Es handelt sich demnach um dynamische Erzeugnisse. Den zweiten thematischen Block Sprachkontakt, Migration, Variation eröffnet Harald Weydt, der sich in seinem Beitrag “Über Sprachkonflikte und ihre Vermeidung” mit der Entstehung von Sprachkonflikten, deren Ausprägung und deren Vermeidung beschäftigt. Nach eigenen Erfahrungen auf Kongressen, den daraus resultierenden Konsequenzen für den Nicht-Muttersprachler sowie nach der Analyse der Gründe der diskurstechnischen und inhaltlichen Unterlegung analysiert Harald Weydt am Beispiel Québecs und Belgiens die Rivalität in zweisprachigen Gebieten. Hierbei bietet er Lösungsansätze zur Vermeidung von Sprachkonflikten zwischen verschiedenen Sprachgemeinschaften an. <?page no="17"?> Vorwort XVI Georges Lüdi diskutiert in seinem Beitrag “Vom Einfluss der Politik der Sprachpflege auf Sprachkontaktphänomene und Sprachwandel. Das Beispiel der Anglizismen in Frankreich und Deutschland” den aktuellen Einfluss des Englischen im Alltagsleben. Hierbei stellt Lüdi den unterschiedlichen Sprachgebrauch sowie die sprachpflegerischen Maßnahmen in Deutschland und in Frankreich vor. Anhand zahlreicher Beispiele wird die dominante Stellung der englischen Sprache im Werbebereich erläutert. Vor dem Hintergrund der gesetzlichen Grundlagen, der sprachpflegerischen Maßnahmen und der Spracheinstellung werden die spezifischen Charakteristika der Werbesprache in Frankreich und in Deutschland gegenübergestellt. Gerald Bernhard beschäftigt sich in seinem Beitrag “Italienische Vornamen im Ruhrgebiet: eine kleine migrationslinguistische Umfrage” mit der Herkunft von Vornamen im Ruhrgebiet. Der Verfasser untersucht hierbei die im Ruhrgebiet allgemein vorzufindenden italienischen Vornamen. Auf der Grundlage einer empirischen Umfrage wurden Studierende mit und ohne Migrationshintergrund nach ihrer Namensgebung für die Folgegeneration befragt. Im Anschluss werden die Daten ausgewertet, wobei die beliebtesten weiblichen und männlichen italienischen Vornamen vorgestellt werden. Elton Prifti stellt in seinem Beitrag “Italo-Albanians between Dialetto and Arbërisht” auf der Grundlage von Thomas Stehls “Funktionaler Variationslingusitik“ die Dynamik des migrationsbedingten Kontaktes zwischen der italienischen und der albanischen Sprache in Süditalien vor. Der Autor gibt zunächst einen kurzen historischen Überblick über die Immigration der Albaner nach Süditalien. Im Anschluss daran stellt Elton Prifti seine empirischen Daten vor und erläutert anhand dieser die von Thomas Stehl unterschiedenen drei Beschreibungsebenen der Kompetenz der Variation, der Pragmatik der Variation und der Linguistik der Variation. Wolf Dietrich beschäftigt sich in seinem Beitrag “Zur Herausbildung koordinierender Konjunktionen in den Tupí-Guaraní-Sprachen. Europäischer Einfluss auf die Syntax eingeborener Sprachen” mit den sprachlichen Auswirkungen des europäischen Sprachkontakts auf die indigenen Sprachen in Lateinamerika. Zunächst stellt er koordinierende Konjunktionen außereuropäischer Sprachen vor und erläutert anhand zahlreicher Beispiele die äquivalenten Formen in der spanischen Sprache. Im Anschluss daran diskutiert Dietrich die im paraguayischen Guaraní verwendeten spanischen Entlehnungen. Sybille Große behandelt in ihrem Artikel “Sprachkontakt in Paraguay: ndaje als modaler bzw. evidentieller Marker des Guaraní in Spanisch-Varietäten” den Sprachkontakt zwischen dem Spanischen und dem Guaraní in Para- <?page no="18"?> Vorwort XVII guay. Hierbei erläutert sie modale bzw. evidentielle Markierungsverfahren, die darüber Auskunft geben, welchen Wahrheitsgehalt die wiedergegebene Information besitzt. Anhand spanischsprachiger Tageszeitungen Paraguays - u.a. Diario Popular - werden die sprachlichen Einflüsse des Guaraní auf das Standardspanische im Bereich der Morphosyntax exemplarisch erläutert. Jean-Pierre Goudaillier analysiert in seinem Beitrag “De l’intérêt de décrire en linguistique les parlures argotiques traditionnelles et contemporaines” das Argot in Frankreich. Unter Verwendung zahlreicher Beispiele wird die Entstehung, die Entwicklung und die Funktion des Argot erläutert. Dabei diskutiert Goudaillier auch die soziale Bedeutung des Gebrauchs der Argot- Varietäten und die beabsichtigte Abgrenzung von der Standardsprache. Es werden aktuelle Entwicklungen aufgezeigt und der Einfluss der Immigrantensprache auf das Argot exemplarisch erläutert. Lars Steinicke und Claudia Schlaak erläutern in ihrem Beitrag “Das Okzitanische: Zur Selbstdarstellung französischer Minderheiten im Internet” am Beispiel des Okzitanischen die soziolinguistische Selbstdarstellung der Minderheitensprachen in Frankreich im Internet. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Verwendung des Internets wird analysiert, wie die Okzitanisch-Sprecher über sich selbst, ihre Sprache und ihre Sprachgemeinschaft im World Wide Web informieren. Die Verf. bewerten die sprachliche und kulturelle Präsentation und weisen bestehende Informationslücken nach. Fernande Krier befasst sich in ihrem Beitrag “Binômes, trinômes, quadrinômes: toponymes plurilingues” mit der Analyse letzeburgischer Toponyme. Die Herausbildung der Toponyme wird von politischen, militärischen und kulturellen Faktoren, aber auch von Sprachgrenzen und von Sprachkontakten beeinflusst. Insbesondere das Letzeburgische ist durch seine besondere geographische Lage und durch seine Geschichte von Sprachkontakten gekennzeichnet. Fernande Krier stellt Toponyme des Letzeburgischen den deutschen und den französischen Entsprechungen kontrastiv gegenüber und erläutert die spezifischen sprachlichen Charakteristika. Claudia Schlaak analysiert in ihrem Beitrag “Sprachliche und kulturelle Vielfalt auf Mayotte: Das Bekenntnis zur ‘französischen Identität’” die besondere sprachliche und kulturelle Situation der Insel Mayotte im frankophonen Raum. Hierbei werden die Stellung des Französischen sowie die Gründe für das Streben nach einer stärkeren Integration in den französischen Staat erläutert. Vor dem Hintergrund der sprachlichen und kulturellen Vielfalt und den migrationspolitischen Entwicklungen wird das Streben der Bevölkerung nach einer “französischen Identität” diskutiert. <?page no="19"?> Vorwort XVIII In seinem Beitrag “Modalité Epistémique et Evidentialité et sa disposition à la base déictique” befasst sich Peter Kosta mit der Beziehung von Evidentialität und epistemischer Modalität. Anhand zahlreicher Beispiele und unter Berücksichtigung diverser sprachwissenschaftlicher Ansätze erläutert der Verfasser diese Begriffe. In diesem Kontext werden die sich hieraus ergebenden sprachlichen Besonderheiten von romanischen und slawischen Sprachen kontrastiv gegenübergestellt. Den Schwerpunkt der Analyse bilden hierbei die slawischen Sprachen. Der dritte Block Dialektologie, Sprachgeschichte, Einzelsprachen wird von Ulrich Busse eingeleitet. In seinem Beitrag “Anglizismen europäisch und historisch: Ein Vergleich der historischen und soziokulturellen Faktoren im angloeuropäischen Sprachkontakt” beschreibt er die Auswirkungen des lexikalischen Einflusses der englischen Sprache auf andere europäische Sprachen. Bei der Analyse diverser Wörterbücher werden die in den jeweiligen europäischen Sprachen vorkommenden Anglizismen quantitativ gegenübergestellt und tabellarisch veranschaulicht. Isolde Pfaff betrachtet in ihrem Beitrag “Englisch als Wissenschaftssprache auch in der Romanistik? ” die Stellung der englischen Sprache als Wissenschaftssprache. Sie verdeutlicht, dass der Stellenwert des Deutschen in der Wissenschaftsgemeinde stetig abnimmt und der Status des Englischen als Wissenschaftssprache kontinuierlich steigt. Isolde Pfaff erläutert hierzu Anstrengungen einiger Forschungseinrichtungen, die dieser Entwicklung entgegenzusteuern versuchen. Auch die Präsenz des Englischen innerhalb der romanischen Länder wird untersucht und schließlich mit der Situation in Deutschland verglichen. Ilse Wischer befasst sich in ihrem Beitrag “Lexicalization of paraphrasal verb constructions with have and take” mit der Entwicklung von verbalen Kollokationen mit have und take in der englischen Sprache. Nach einer Begriffsdefinition des Terminus ‘Lexikalisierung’ erläutert sie anhand zahlreicher Beispiele die historische Entwicklung der Verwendung von have + ‘noun phrase’ im britischen Englisch. Im Anschluss hieran analysiert sie die idiomatischen Verbalkonstruktionen take + ‘noun phrase’ im amerikanischen Englisch und stellte diese der britisch-englischen Verwendung kontrastiv gegenüber. Heide Wegeners Beitrag “Eine Lücke im Paradigma des deutschen Futurhilfsverbs werden” befasst sich mit der Tempusform ‘Zukunft in der Vergangenheit’. Die morphologischen Verbformen, um diese Zeitform auszudrücken, fehlen in der deutschen Sprache, finden jedoch in einigen romanischen Sprachen Verwendung. Das Fehlen der morphologischen <?page no="20"?> Vorwort XIX Formen dieser Zeitform wird anhand der in den romanischen Sprachen entsprechenden Formen erläutert. So stellt Heide Wegener die im Deutschen verwendeten Ersatzformen für das Präteritum Indikativ des Futurhilfsverbs exemplarisch dar und vergleicht diese mit den romanischen Sprachen. In seinem Beitrag “Die diachrone Erforschung der français régionaux auf der Grundlage des Corpus Historique du Substandard Français” stellt Harald Thun Ziele und Aufgaben eines Forschungsprojekts, das Corpus Historique du Substandard Français (CHSF), vor. Hierbei steht die sprachliche Einheit Frankreichs unter Berücksichtigung der diversen Prozesse von Alphabetisierung und Französisierung im 19. Jahrhundert im Zentrum der Forschung. Über die genaue Ausdifferenzierung des Standards in verschiedene français régionaux ist bisher wenig bekannt; hierzu weist Harald Thun in seinem Beitrag zahlreiche Wissenslücken nach und erläutert den Stand der Forschung der Geschichte der français régionaux in Frankreich. Stefanie Wagner analysiert in ihrem Beitrag “Lou Nissart - (K)ein Platz in Europa? ” die aktuelle Sprachsituation des Nissart in Frankreich. Nach einer Darstellung der rechtlichen Position von Minderheitensprachen in Europa und einer Gegenüberstellung der Sprachpolitik und der Sprachgesetze von Spanien, Frankreich und Italien wird der länderspezifische und einheitliche Umgang mit den Minderheitensprachen und den Dialekten kritisch diskutiert. Am Beispiel des Nissart werden die politischen Auswirkungen auf die Findung einer einheitlichen Graphie, sowie auf die aktuelle Situation im Bildungswesen und in der Kultur erläutert. Peter Stein und Dorit Heinrich analysieren in ihrem Beitrag “Ohck- Wohlkebohrne Ehrr, Mein knädigk grand Patron! Vor Die ick ahb allßeit kroß Veneration” ein Gedicht (gedruckt 1730) von Johann Christian Trömer. In ihrem Auszug gehen sie auf die kulturellen und insbesondere die sprachlichen Besonderheiten von Berlin und Potsdam ein. Es werden sowohl französische Entlehnungen im Deutschen als auch die deutsche Sprache der französischen Emigranten analysiert. Zudem betrachten die Verfasser die in diesem Gedicht dargestellten Aussprachegewohnheiten sowie die sprachlichen Charakteristika im Bereich der Morphologie und Syntax. In ihrem Beitrag “Die Stimme des Anderen - Heterotopie und Heterologie in Combat de nègre et de chiens von Bernhard-Marie Koltès” erläutert Cornelia Klettke die Struktur dieses Dramas und dessen Bedeutung für das französische Theater. Die Autorin skizziert den Inhalt des Dramas, stellt die für die Handlung des Bühnenstücks bedeutenden Protagonisten vor und erläutert die Problematik der Kritik am westlichen Kapitalismus. Nachfolgend beschreibt die Verf. die Bedeutung der Bühne sowie deren Funktion, allen <?page no="21"?> Vorwort XX Stimmen des Dramas Gehör zu verschaffen. Die Charaktere und die Relevanz der Figuren des Dramas werden detailliert beschrieben. Dieter Kattenbusch, Fabio Tosques und Andres Rauher untersuchen in ihrem Beitrag “Umbria Dialettale” aktuelle Besonderheiten der gesprochenen Dialekte in Umbrien. Hierzu werden anhand primärer Quellen phonetische, morphologische und lexikalische Merkmale analysiert. In diesem Kontext gehen die Verfasser auch auf die in früheren Untersuchungen eingeteilten Dialektzonen Umbriens sowie auf die Dialekttypen umbro settentrionale, sud-orientale und orvietano ein. Die Mundarten Umbriens wurden durch den Sprachkontakt mit anderen italienischer Regionen beeinflusst. Roland Bauer beschreibt in seinem Artikel “Tra napoletano e siciliano? Randbemerkungen zur Metaphonie im Dialekt der äolischen Inseln” den Dialekt der äolischen Inseln. Bauer beschreibt in seinem Artikel den sizilianischen Vokalismus und vergleicht diesen mit dem Dialekt der äolischen Inseln. Der Schwerpunkt wird auf die Metaphonie gelegt, um nachfolgend die sprachliche Nähe zum Neapolitanischen bzw. zum Sizilianischen zu klären. Bauer betont jedoch, dass etwaige Folgerungen bezüglich der Positionierung des äolischen Dialekts nur in Ansätzen und eher unverbindlich getroffen werden können. Till Stellino erläutert in seinem Artikel “Parole e cose in un mondo che cambia: Il prestigio della tradizione nel settore vitivinicolo e le sue manifestazioni linguistiche in Puglia, Basilicata e Campania” sprachliche Veränderungen im Bereich des Weinanbaus in Süditalien. Hierbei gibt er einen Überblick über die Önologie als Wissenschaft und beschreibt den Einfluss des technischen Fortschritts bzw. der Technologisierung auf die sprachlichen Bezeichnungen der Arbeit der Winzer. Stellino analysiert anhand ausgewählter süditalienischer Orte diese Veränderungen im Kontext der Dynamik im Varietengefüge des Italienischen. Ottmar Ette reflektiert in seinem Beitrag “Daniel Alarcón, Lost City Radio: Vom Krieg, den Sprachen der Diktatur und der Erfindung eines anderen Lebens” die von Daniel Alarcón beschriebenen bürgerkriegsähnlichen Zustände eines Landes im Roman Lost City Radio. Der Verf. beschreibt Lost City Radio als einen Roman, der repräsentativ für jegliche Kriege und Diktaturen und deren Konsequenzen steht. Ferner skizziert Ette die Rolle der beiden Hauptdarsteller des Romans, die die verschiedenen im Roman dargestellten Aspekte bzw. Erfahrungen des Bürgerkriegs und der Diktatur aus verschiedenen Blickweisen repräsentieren. <?page no="22"?> Vorwort XXI Der Beitrag “El habla andaluza - Eine sprachwissenschaftliche Betrachtung der andalusischen Sprache“ von Lena Busse beschreibt die sprachlichen Charakteristika des Andalusischen, wobei vor allem die phonetischen und phonologischen Merkmale der andalusischen Sprache im Vordergrund stehen. Im ersten Teil des Beitrags werden die Termini ‘Sprache’ und ‘Dialekt’ nach Eugenio Coseriu definiert. Im Anschluss daran beschreibt die Verf. die wichtigsten Merkmale des Andalusischen, so z.B. den seseo oder den yeísmo. Zudem werden die soziolinguistische Situation, die Sprachpolitik und die Identität der andalusischen Sprachgemeinschaft betrachtet. Helmut Lüdtke bearbeitet in seinem Artikel “Rumänisch: Überlegungen zu einer sprachlichen Erfolgsbilanz” die Entwicklung und die Stellung der rumänischen Sprache. Hierbei erläutert Helmut Lüdtke nicht nur den sprachgeschichtlichen Hintergrund des Rumänischen, sondern skizziert zugleich die Verwendung sowohl im mündlichen als auch im schriftlichen Bereich. Allen Beiträgern und Unterstützern, die an der Publikation des vorliegenden Bandes beteiligt waren, sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Wir möchten insbesondere Lars Steinicke danken, der als langjähriger Schüler von Thomas Stehl in den verschiedenen Entstehungsphasen des vorliegenden Bandes sowohl wissenschaftlich als auch computertechnisch mit großem Engagement mitgearbeitet hat. Potsdam, im Oktober 2010 Claudia Schlaak Lena Busse <?page no="24"?> Verzeichnis der Schriften von Thomas Stehl Im nachfolgenden Schriftenverzeichnis werden alle bis zum 15.10.2010 vorgefundenen Publikationen zu den Schriften von Thomas Stehl erfasst: 1. Monographien 1980 Die Mundarten Apuliens. Historische und strukturelle Beiträge, Münster: Aschendorffsche Verlagsbuchhandlung (= Forschungen zur Romanischen Philologie 22). 1988 (in Mitarbeit): Fragebuch zum Sprach- und Sachatlas zum Studium des Dolomitenladinischen - ALD I / Questionario per l’Atlante linguistico per lo studio del ladino dolomitico - ALD I, in Zusammenarbeit mit Dieter Kattenbusch und Thomas Stehl, kompiliert von Hans Goebl, Salzburg: Institut für Romanistik. 1999 (in Mitarbeit): Evaluation von Lehre und Studium in den Fächern Anglistik und Romanistik an den niedersächsischen Universitäten. Evaluationsbericht, von Doris Hermann, Jürgen Harnisch, Gisela Hermann-Brennecke, Ernst Burgschmidt, Manfred Pfister, Henning Krauss, Ludger Schiffer, Thomas Stehl, Hannover: Universität Hannover. 2. Herausgeberschaften und Mitherausgeberschaften Dialektgenerationen, Dialektfunktionen, Sprachwandel, Vorträge der AG 1 zur 17. Jahrestagung der DGfS in Göttingen, 1.-3.3.1995, Tübingen: Narr (= TBL 411). 2003 (in Zusammenarbeit mit Grimm, Reinhold R. / Koch, Peter / Stehl, Thomas / Wehle, Winfried): Italianità. Ein literarisches, sprachliches und kulturelles Identitätsmuster, Tübingen: Narr (= Akten des 9. Deutschen Italianistentages 1999 an der Universität Eichstätt). <?page no="25"?> Verzeichnis der Schriften von Thomas Stehl XXIV 2005 Unsichtbare Hand und Sprecherwahl. Typologie und Prozesse des Sprachwandels in der Romania, Tübingen: Narr (= TBL 471). 2008 Kenntnis und Wandel der Sprachen. Beiträge zur Potsdamer Ehrenpromotion für Helmut Lüdtke, Tübingen: Narr (= TBL 507). 3. Beiträge und Rezensionen 1981 “Minderheiten, Dialektologie und Soziolinguistik”, in: Christoph Schwarze (Ed.), Italienische Sprachwissenschaft. Beiträge zu der Tagung ‘Romanistik interdisziplinär’, Saarbrücken 1979, Tübingen: Narr, 159-177 (= Ergebnisse und Methoden moderner Sprachwissenschaft 8). 1983 “Rezension zu: Rainer Bigalke, Dizionario dialettale della Basilicata, con un breve saggio della fonetica, un’introduzione sulla storia dei dialetti lucani e note etimologiche, Heidelberg: Winter 1980”, Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 220, 206-208. 1987 “Note storiche sul dialetto di Trinitapoli”, in: Pietro di Biase (Ed.), Trinitapoli nella civiltà del Tavoliere, Fasano di Puglia: Schena Editore, 297-320. “Sostrato, variazione linguistica e diacronia”, in: Arnold Arens (Ed.), Textetymologie. Untersuchungen zu Textkörper und Textinhalt. Festschrift für Heinrich Lausberg zum 75. Geburtstag, Stuttgart: Steiner, 410-420. 1988 “Italiano: Aree linguistiche XI. Puglia e Salento / Italienisch: Areallinguistik XI. Apulien und Salento”, in: Günter Holtus / Michael Metzeltin / Christian Schmitt (Eds.), Lexikon der Romanistischen Linguistik (LRL), Bd. 4: Italienisch - Korsisch - Sardisch, Tübingen: Niemeyer, 695-716. “Kommunikative Dialektologie oder Dialektometrie? ”, in: Hermann Bluhme (Ed.), Beiträge zur quantitativen Linguistik. Gedächtniskolloquium für Eber- <?page no="26"?> Verzeichnis der Schriften von Thomas Stehl XXV hard Zwirner, Antwerpen, 9.-12. April 1986, Tübingen: Narr, 238-247 (= TBL 329). “Les concepts de continuum et de gradatum dans la linguistique variationnelle”, in: Dieter Kremer (Ed.), Actes du XVIIIe Congrès International de Linguistique et de Philologie Romanes. Université de Trèves (Trier) 1986, Bd. V: Section IV. Linguistique pragmatique et linguistique sociolinguistique, Tübingen: Niemeyer 28-40, 51-54. “Rezension zu: Günter Holtus / Edgar Radtke (Eds.), Sprachlicher Substandard, Tübingen: Niemeyer 1986 (= Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft. Band 36)”, Romanische Forschungen 100, 351-355. “Rezension zu: Joseph Gioscio, Il dialetto lucano di Calvello, Stuttgart: Steiner 1985”, Romanistisches Jahrbuch 39, 191-194. 1989 “Fonetica e fonologia: sistemi in contatto nello spazio”, in: Günter Holtus / Michael Metzeltin / Max Pfister (Eds.), La Dialettologia italiana oggi. Studi offerti a Manlio Cortelazzo, Tübingen: Narr, 3-16 (= TBL 335). “Sono ancora possibili gli atlanti regionali? Note in margine all’Atlante linguistico del ladino dolomitico (ALD)”, in: Atlanti regionali. Aspetti metodologici, linguistici e etnografici. Atti del XV Convegno del Centro di Studio per la Dialettologia italiana (Palermo, 7 - 11 ottobre 1985), Pisa: Pacini, 549-571. “Typologie des contacts linguistiques: langues romanes, créoles français et dialectes italiens”, in: Fabio Foresti / Elena Rizzi / Paola Benedini (Eds.), L’Italiano tra le lingue romanze. Atti del XX Congresso Internazionale di Studi (Bologna, 25 - 27 settembre 1986), Roma: Bulzoni, 115-124, 331-332 (= Pubblicazioni della Società di Linguistica Italiana 27). 1990 “Ansätze einer strukturalistischen Beschreibung der Variation im Französischen und Italienischen”, in: Günter Holtus / Edgar Radtke (Eds.), Sprachlicher Substandard III. Standard, Substandard und Varietätenlinguistik, Tübingen: Niemeyer, 172-210 (= Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 45). “Geolinguistica regionale e analisi variazionale. Considerazioni metodologiche per l’Atlante Linguistico della Sicilia”, Bollettino del Centro di Studi Filologici e Linguistici Siciliani 16, 119-159. <?page no="27"?> Verzeichnis der Schriften von Thomas Stehl XXVI “Il problema di un italiano regionale in Puglia”, in: Michele A. Cortelazzo / Alberto Mioni (Eds.), L’Italiano regionale. Atti del XVIII Congresso Internazionale di Studi (Padova - Vicenza, 14 - 16 settembre 1984), Roma: Bulzoni, 265-280 (= Pubblicazioni della Società di Linguistica Italiana 25). 1991 “Hétérogénéité et homogénéité: le problème de la norme dans la dialectologie urbaine”, in: Elisabeth Feldbusch / Reiner Pogarell / Cornelia Weiß (Eds.), Neue Fragen der Linguistik. Akten des 25. Linguistischen Kolloquiums, Paderborn 1990. Bd. 2: Innovation und Anwendung, Tübingen: Niemeyer, 133-142 (= Linguistische Arbeiten 271). “Il concetto di italiano regionale e la dinamica dell’italiano nelle regioni”, in: Johannes Kramer (Ed.), Siue Padi ripis Athesim seu propter amoenum. Studien zur Romanität in Norditalien und Graubünden. Festschrift für Giovan Battista Pellegrini, Hamburg: Buske, 385-402. 1992 “Contacts linguistiques verticaux et traditions du discours comme objet d’une linguistique variationnelle historique”, in: Ramón Lorenzo (Ed.), Actas do XIX Congreso Internacional de Lingüística e Filoloxía Romanicas (Universidade de Santiago de Compostela, 1989), Bd. III: Lingüística Pragmatica e Sociolingüística, La Coruña: Fundación Pedro Barrié de la Maza, 249- 268. 1993 “Français régional et variation linguistique en Périgord. Projet de recherche”, in: Giuliano Gasca Queirazza (Ed.), Atti del Secondo Congresso Internazionale della ‘Association Internationale d’Etudes Occitanes’ (Torino, 31 agosto - 5 settembre 1987), Bd. II, Torino: Dipartimento di Scienze Letterarie e Filologiche, Università di Torino, 871-883. “Variationslinguistik und Geolinguistik: Sprachkontakt und Sprachdynamik im geographischen Raum”, in: Otto Winkelmann (Ed.), Stand und Perspektiven der romanischen Sprachgeographie, Wilhelmsfeld: Egert, 225-259 (= pro lingua 15). 1994 “Français régional, italiano regionale, neue Dialekte des Standards: Minderheiten und ihre Identität im Zeitenwandel und im Sprachenwechsel”, in: Uta Helfrich / Claudia Maria Riehl (Eds.), Mehrsprachigkeit in Europa - Hindernis oder Chance? , Wilhelmsfeld: Egert, 127-147 (= pro lingua 24). <?page no="28"?> Verzeichnis der Schriften von Thomas Stehl XXVII 1995 “Heinrich Lausbergs Linguistik der parole und das Problem sprachlicher Gliederung in Zeit und Raum”, in: Wolfgang Babilas (Ed.), Heinrich Lausberg zum Gedenken. Akten eines wissenschaftlichen Kolloquiums (Münster, 24. und 25. Januar 1994), Münster: Nodus, 71-86 (= Münstersche Beiträge zur Romanischen Philologie 9). “La dinamica diacronica fra dialetto e lingua: per un’analisi funzionale della convergenza linguistica”, in: Maria Teresa Romanello / Immacolata Tempesta (Eds.), Dialetti e lingue nazionali. Atti del XXVII Congresso Internazionale di Studi (Lecce, 28 - 30 ottobre 1993), Roma: Bulzoni, 55-73. “Sprachdynamik in Frankreich und Italien: Zur Funktion des Wortschatzes im Konvergenzprozeß”, in: Ulrich Hoinkes (Ed.), Panorama der Lexikalischen Semantik. Thematische Festschrift aus Anlaß des 60. Geburtstags von Horst Geckeler, Tübingen: Narr, 641-650. 1996 “Competenza, pragmatica e linguistica della variazione: problemi d’inchiesta e d’interpretazione in geolinguistica”, in: Edgar Radtke / Harald Thun (Eds.), Neue Wege der romanischen Geolinguistik. Akten des Symposiums zur empirischen Dialektologie (Heidelberg/ Mainz, 21.- 24.10.1991), Kiel: Westensee, 620-640. “Urbanità linguistica: Die Stadt als Kommunikationsraum in der italienischen Sprachwissenschaft”, Italienisch. Zeitschrift für italienische Sprache und Literatur 35/ 1, 56-71. 1999 “Dialektgenerationen und Dialektfunktionen im sprachlichen Wandel”, in: Thomas Stehl (Ed.), Dialektgenerationen, Dialektfunktionen, Sprachwandel, Tübingen: Narr, VII-XV (= TBL 411). “Italianista in Germania, Germanista d’Italia: Considerazioni sulla figura del lettore d’Italiano”, in: Daniela Giovanardi / Hans Ingo Radatz (Eds.), L'insegnamento dell'italiano nelle università tedesche. Didattica, culture e civiltà: nuove proposte, Frankfurt am Main: Sauerländer, 17-25. 2000 “[Kongressbericht] ‘Francophonie - Kulturelle Vielfalt. Unité - Pluralité - Diversité’. Bericht über den Zweiten Franko-Romanisten-Kongreß, <?page no="29"?> Verzeichnis der Schriften von Thomas Stehl XXVIII 25.-27. September 2000 in Dresden”, Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 24, 427-460. “Tempo, spazio, dinamica linguistica: Aspetti ‘dia-sincronici’ della linguistica italiana”, in: Bruno Staib (Ed.), Linguistica romanica et indiana. Festschrift für Wolf Dietrich zum 60. Geburtstag, Tübingen: Narr, 401-421. 2002 “Thème 2: Standard et dialecte(s). Compte-rendu des interventions” [= Sektionsbericht XXVe Colloque International de la Société Internationale de Linguistique Fonctionelle (Frankfurt/ Oder, April 2001)], in: Harald Weydt (Ed.), Langue - Communauté - Signification. Approches en Linguistique Fonctionelle. Actes du XXVème Colloque International de Linguistique Fonctionelle, Frankfurt am Main et al.: Lang, 136-141. 2003 “ ‘Sur les frontières … / Auf der Grenze ...’. Bericht über den Dritten Franko- Romanisten-Kongress, 26.-29. September 2002 in Aachen”, Lendemains 110/ 111, 224-227. 2005 “L’italiano in Italia e in Europa: La lingua italiana fra cultura regionale e identità nazionale”, in: Maria Giovanna Tassinari / Gherardo Ugolini (Eds.), Italia regione d’Europa. Lingua - cultura - identità. Atti del convegno internazionale di studi tenutosi nell’ambito della Settimana della Lingua Italiana nel Mondo. Organizzato dall’ufficio culturale dell’Ambasciata d’Italia (Berlino 20-22 ottobre 2003), Frankfurt am Main et al.: Lang, 37-49. “Vorwort”, in: Thomas Stehl (Ed.), Unsichtbare Hand und Sprecherwahl. Typologie und Prozesse des Sprachwandels in der Romania, Tübingen: Narr, VII- XVIII (= TBL 471). “Sprachkontakt und Konvergenzdynamik. Aktuelle Dimensionen der historischen romanischen Sprachwissenschaft”, in: Thomas Stehl (Ed.), Unsichtbare Hand und Sprecherwahl. Typologie und Prozesse des Sprachwandels in der Romania, Tübingen: Narr, 1-24 (= TBL 471). “Sprachwandel und Sprachgenese. Kontinuität und Bruch in der Sprachgeschichte”, in: Thomas Stehl (Ed.), Unsichtbare Hand und Sprecherwahl. Typologie und Prozesse des Sprachwandels in der Romania, Tübingen: Narr, 87-110 (= TBL 471). <?page no="30"?> Verzeichnis der Schriften von Thomas Stehl XXIX 2008 “Vorwort”, in: Thomas Stehl (Ed.), Kenntnis und Wandel der Sprachen. Beiträge zur Potsdamer Ehrenpromotion für Helmut Lüdtke, Tübingen: Narr (= TBL 507), VII-XIII. “Phonologischer Wandel im Sprachkontakt: Divergenz, Konvergenz und zyklische Drift”, in: Thomas Stehl (Ed.), Kenntnis und Wandel der Sprachen. Beiträge zur Potsdamer Ehrenpromotion für Helmut Lüdtke, Tübingen: Narr (= TBL 507), 195-215. 4. Im Druck befindliche Monographien, Herausgeberschaften sowie Beiträge 2011 “Regionale Sprachgemeinschaften und Sprachdynamik: Zwischen Kodifizierung und Schreibtradition”, in: Sandra Herling / Carolin Patzelt (Eds.), Sprachkontakt, Sprachausbau und Verschriftungsproblematik: Aspekte der Normalisierung von Regionalsprachen in der Romania. Akten der gleichnamigen Sektion auf dem XXXI. Romanistentag in Bonn (27.09-1.10.2009), München: Meidenbauer. “Mobilität, Sprachkontakte und Integration: Aspekte der Migrationslinguistik”, in: Norbert Franz / Rüdiger Kunow (Eds.), Mobilisierte Kulturen. Themen, Theorien, Tendenzen, Potsdam: Universitätsverlag, Bd. 1. Sprachen in mobilisierten Kulturen: Aspekte der Migrationslinguistik, Potsdam: Universitätsverlag, (= Potsdamer Beiträge zur kulturellen Mobilitätsforschung; Bd. 2). “Sprachen und Diskurse als Träger und Mittler mobiler Kulturen: Kommunikative Aspekte der Migrationslinguistik”, in: Thomas Stehl (Ed.), Sprachen in mobilisierten Kulturen: Aspekte der Migrationslinguistik, Potsdam: Universitätsverlag, Bd. 2. Funktionale Variationslinguistik. Untersuchungen zur Dynamik von Sprachkontakten in der Galloromania und Italoromania, Frankfurt am Main: Peter Lang (= Aktualisierte Fassung der Habilitations-Schrift Paderborn 1992). <?page no="32"?> I. THEORIE, METHODOLOGIE, TERMINOLOGIE <?page no="34"?> Helmut Lüdtke Bemerkungen zur kulturgeschichtlichen Bedingtheit der Linguistik 1. Prolegomena Die herkömmliche Linguistik geht von damals selbstverständlichen Voraussetzungen aus, die jedoch im heutigen Licht uns als naiv erscheinen mögen. Das Fortschrittstempo der Ideen ist dabei unerbittlich. 2. Unerbittlichkeit des Fortschritts der Wissenschaft Bereits Walther von Wartburg musste es hinnehmen, dass seine Vorstellungen von der “Ausgliederung” der romanischen Sprachräume noch zu seinen Lebzeiten als überholt erscheinen konnten. In ähnlicher Weise ergeht es nunmehr Spitzenforschern wie André Martinet und sogar Eugenio Coseriu, wie auch mir selbst, dass diese vormals als selbstverständlich erachteten Vorstellungen ihre Gültigkeit eingebüßt haben. Das bezieht sich vor allem auf Phonemgläubigkeit, die sich bei den Chinesen gar nicht einstellte, da man sie erst mit der Erlernung der Alphabetschrift bekommt. Darauf hebt J. Taylor, aufgrund ihres persönlichen Erlebens als Chinesin, ab. Ihre Wörter (wén (eigentlich ‘Laut-Reim’), zì ‘Logogramm’, hán ‘Sprache’/ ‘Muster’) sind nicht endemisch. Sie beruhen auf fremdem Einfluss. 3. Die Ursprungsproblematik Die Problematik der romanischen Ursprünge beruht nicht zuletzt auf einer früher noch nicht so deutlich gesehenen, heute jedoch klarer werdenden Unterscheidung zwischen Zuständen und Prozessen und den Verläufen letzterer. So entsteht ein Begriff von Gerichtetheit (‘spin’) auf der Grundlage empirisch gewonnener Beobachtungen. Die romanischen Beispiele sprechen für sich: Latein Französisch Rumänisch B ONUM bien bun C AELUM ciel cel C ÁPITA chefs capuri <?page no="35"?> Helmut Lüdtke 2 D IEM -di zi S EPTIMÁNAM semaine - T EMPÓRE temps timp Diese - beliebig verlängerbare - Liste suggeriert Gerichtetheit, indem (fast) alle nicht einsilbigen Wörter erheblich kürzer geworden sind, und durch Wortersatz längere an die Stelle kürzerer bzw. einfacherer Ausdrücke getreten sind: IRE aller / MONSTRARE faire voir / PLUS VETUS rum. mai vechi; span. más viejo. Um diese Phänomene richtig zu würdigen, bedarf es der Einbeziehung der Schrift - und das heißt Alphabetschrift - in die Entstehungsgeschichte der Linguistik. Linguistik setzt irgendeine Art von Sprachbegriff voraus. Diese Formulierung ist jedoch schwammig, sofern wir noch keine bessere haben. Zum Verständnis dieser Problematik sind wir gezwungen, die Rolle der Alphabetschrift des näheren zu untersuchen. 4. Die semitischen Sprachen Das Alphabet als Findung, nicht Erfindung. Quelle der Problematik ist die semitische Sprachstruktur. Die Eigenart der semitischen Sprachen - sie soll hier am Beispiel des Arabischen demonstriert werden - besteht darin, dass man das Gros der Wörter so beschreiben kann, und tatsächlich beschrieben hat, als ob das Wort aus jeweils drei Elementen zusammengesetzt ist, denen als Komplex Bedeutung zugewiesen werden kann. Dieser Sachverhalt sei am Beispiel zweier Sammelbegriffe (‘Schreibwesen’ und ‘Justiz- und Tötungswesen’) erläutert. Zu einer schreibbaren Wurzel Q-T-B (‘Schriftwesen’) bildet man die Formen qátaba “er schrieb”, qatábta “sie schrieb”, k tib “Schreiber”, q t ba “Buch” u. ä. Und zu einer schreibbaren Wurzel Q-D-L (‘Justiz- und Tötungswesen’) bildet man die Formen ’adala “gerecht” ’adl “Geradheit, Gerechtigkeit” <?page no="36"?> Bemerkungen zur kulturgeschichtlichen Bedingtheit der Linguistik 3 ’adl “Justiz” ’idl “gleich, entsprechend” ’ad l “ ’adl ya “ ’ d l “Aufgabe” ’ad la “Redlichkeit” ’ d l “rechtschaffen” ta’d l “Verbesserung” mu’ádal “Summe” und weitere Formen. Nur mit derartigen Überlegungen kann uns die Rolle der Schrift in der Linguistik verständlich werden. 5. Schrift als Störfaktor: das Alphabet In der Weltgeschichte der Schrifterfindungen verläuft die Entwicklung durchweg von lautbezogenen Systemen mit vielen Elementen und - parallel dazu - semantisch basierten Systemen zu solchen mit wenigen Elementen. Beispiele dafür sind einerseits die Schriften der Chinesen (hán zì ) sowie die Hieroglyphen im Alten Ägypten, deren Texte noch keine bestimmte Lesart widerspiegeln, andererseits die zahlreichen Silbenschriften in Japan (kan-ji ) und im präkolumbianischen Nordamerika (Sioux, Dakota, Apachen, Komantschen, Siminolen), die auf eine festliegende Aussprache referieren. Das Alphabet entzieht sich dieser gerichteten Entwicklung. Ursachen hierfür sind derzeit (2010) auch mir noch völlig unklar. Sie beruhen auf revolutionären Erkenntnissen der neueren Hirnforschung. 6. Prozesse Zustände: Romanisch vs. Latein. Täuschung durch ahistorische Typologie Am Beispiel der Typologie spiegeln sich zwar Abfolgen von Sprachzuständen wider, jedoch keine kulturgeschichtliche Entwicklung. Es fehlt an dynamischer Verbindung zwischen ausdifferenzierten Sprachstrukturbeschreibungen. Die in Kapitel 3 gegebenen romanischen Beispiele bieten säulenartig isolierenden Befund: Romanisch Latein; das heißt, das eigentlich mit dem Latein der Antike identische “Romanisch” erscheint als neue, selbständige Sprache. Dieser Sachverhalt steht in komplexem Zusammenhang mit revolutionären Erkenntnissen der neueren Hirnforschung. <?page no="37"?> Helmut Lüdtke 4 7. Spiegelneuronen Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist die Frage nach dem Ursprung der (menschlichen) Sprache erneut in den Blickpunkt der Philosophie und der Neurologie im Besonderen gerückt. Zum Zeitpunkt der Abfassung des vorliegenden Textes (2010) war die Tragweite dieser Problematik alles andere als klar verstanden. Anlass dazu war die aufgeflammte Diskussion um die Spiegelneuronen. Das sind Zellverbände im Gehirn nicht nur von Menschen, sondern überhaupt von Primaten. Es sind freilich keine Module, denn das Gehirn konstruiert sich von Moment zu Moment stets neu; es ist selbstreferenziell 1 . Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ist unsere Sprache an einer bestimmten Stelle der Welt entstanden, nämlich im (süd)östlichen Afrika bei einer kleinen Menschengruppe. 8. Hören und Verstehen als Zeitverlaufsprozess Was geschieht, wenn wir gesprochene Rede wahrnehmen? Am Trommelfell des Hörers treffen Luftschwingungen ein. Das sind Longitudinalwellen, die der Sprecher mittels seiner Stimme erzeugt hat. Durch das Zusammenwirken seiner Artikulationsorgane (Lippen, Zunge, Gaumen, Kehlkopf) entsteht für den Hörer ein Bewegungskontinuum. Das Verständnis des Gehörten ergibt sich für ihn als fortschreitender Zeitverlauf, das heißt, von Moment zu Moment versteht er mehr. Dieser Hergang ist zurzeit (2010) noch kaum verstanden. 9. “Geist” und “Sprache” als Anderwörter Beide sind Anderwörter, d.h. Bezeichnungen für Vorgänge im Gehirn, die auch der Verfasser dieser Zeilen selbst (2010) noch nicht völlig verstanden hat bzw. hatte. Wer sie heute noch verwendet, zeigt damit an, dass er sich die jüngsten Erkenntnisse der Hirnforschung noch nicht zu Eigen gemacht hat oder sie seinem Publikum nicht zuzumuten wagt! Hiermit schließen meine Bemerkungen. 1 Cf. Roth, Gerhard (1986): “Selbstorganisation - Selbsterhaltung - Selbstreferenzialität: Prinzipien der Organisation der Lebewesen und ihre Folgen für die Beziehung zwischen Organismen und Umwelt”, in: Andreas Dress / Hubert Hendrichs / Günter Küppers, Selbstorganisation: Die Entstehung von Ordnung in Natur und Gesellschaft, München / Zürich: Piper. <?page no="38"?> Hans Goebl Quo vadis, atlas linguistice? Einige wissenschaftshistorische und zeitgeistkritische Reflexionen zur atlasgestützten Geolinguistik Lieber Thomas! Festschriften und ein gerüttelt Maß an Berufs- und Lebenserfahrung gehören ja wie siamesische Zwillinge zusammen. Da unser beider Lebenswege in wissenschaftlicher Hinsicht vor einem Vierteljahrhundert ziemlich parallel verlaufen sind, Du beim Stapellauf des ALD kräftig mitgeholfen hast und wir damals zur Sprachatlasfrage viele engagierte Gespräche geführt haben, präsentiere ich Dir in der Folge ein darauf bezogenes, durchaus persönlich abgetöntes donum natalicium. Darin habe ich neben diversen atlas-bezogenen Reflexionen und Rückerinnerungen auch einige Hinweise auf meine seit damals mit unserem Sprachatlas ALD und auch der Dialektometrie gemachten Erfahrungen verpackt. Da, wie der Verlauf verschiedener facheinschlägiger Biographien deutlich zeigt, gestandene Dialektologen in aller Regel steinalt werden, hat der folgende, sehr herzlich gemeinte Wunsch fast den Rang einer Prophezeiung: Ad multos, permultos annos! 1. Vorbemerkung Im Jahr 1989 ist von Thomas Stehl ein sprachatlasbezogener Beitrag erschienen, den er vier Jahre zuvor bei einem in Palermo durchgeführten Dialektologie-Kongress präsentiert hatte 1 . Noch unter dem Eindruck der im selben Jahr (1985) von uns beiden zum ALD gemeinsam durchgeführten Probe- Enquêten stehend behandelte er darin die damals (und auch heute) keineswegs triviale Frage, ob denn Regionalatlanten noch “possibili” seien oder - anders herum - überhaupt (noch) als “zeitgemäß” angesehen werden könnten. Nach vorsichtiger Abwägung aller theoretischen und praktischen Implikationen, die einerseits den Typ des traditionell gestrickten atlante 1 Hier sei auch noch auf den 1993 erschienenen Beitrag von Thomas Stehl verwiesen, der ursprünglich im Jahr 1991 beim 22. Romanistentag in Bamberg vorgetragen worden war. Die darin besprochene Thematik deckt sich weitgehend mit jener von Stehl 1989. <?page no="39"?> Hans Goebl 6 basilettale und andererseits jenen des (damals immer stärker favorisierten) atlante repertorio kennzeichnen, hat er dem Stapellauf eines atlante linguistico regionale, ein welch solcher der ALD ab ovo immer einer sein sollte, durchaus gute Chancen eingeräumt: Ed è soltanto dopo aver scrupolosamente cercato le risposte a queste domande che vale la pena iniziare dei lavori concreti per un atlante linguistico regionale. In questo senso si può dire, a nostro parere, che sono ancora possibili gli atlanti regionali: se compiliamo quelli tradizionali nella consapevolezza che essi non danno di regola non più, ma neanche meno, di un’immagine parziale di un idioletto che serve da campione per una complessa comunità geolinguistica. (Stehl 1989: 565). Zwischenzeitlich ist es keineswegs zu einer gedeihlichen Parallel-Entwicklung der beiden von Stehl diskutierten Atlas-Typen gekommen. Vielmehr haben sich zum klassischen Sprachatlasprinzip, das ich als Romanist in idealer Form in den “Königsatlanten” ALF und AIS verkörpert sehe, eine ganze Menge höchst kontroversieller Diskurse 2 aufgebaut, denen aber erstaunlicherweise auf Seiten der Vertreter des atlante repertorio recht wenige als exemplarisch oder gar als wegweisend zu bezeichnende Taten gefolgt sind, vor allem keine solchen, die die heuristische Fruchtbarkeit des Atlas- Prinzips (klassischen Zuschnitts) für andere als das basilektale Register schlagend erwiesen hätten 3 . In meiner eigenen geolinguistischen Arbeit - die sich nicht nur auf die Aus-Arbeitung eines traditionellen Regionalatlasses (hier: des ALD), sondern auch auf die dialektometrische Aus-Wertung vieler anderer - älterer bzw. schon lang existierender - Sprachatlanten 4 stützt, habe ich mich davon nicht 2 Ich verweise dazu exemplarisch auf den 1996 von E. Radtke und H. Thun herausgebrachten Sammelband und die 1998 beim 22. Romanistenkongreß in Brüssel durchgeführte Table ronde. 3 Für die in der Romanistik gepflegte pluridimensionale Dialektologie wird neben dem ADDU (siehe dazu gegen Ende dieses Beitrags) immer wieder auch der diagenerationell erstellte “Atlante lessicale toscano” (ALT) von G. Giacomelli zitiert. Nun wurde in Salzburg etwa ein Drittel der 745 Kartenthemen des ALT von meinem Mitarbeiter Slawomir Sobota einer dialektometrischen Analyse unerzogen. Dabei ergab sich, dass hinsichtlich der verschiedenen Generationen bei nicht einmal einem Dutzend der untersuchten Kartenthemen des ALT als “signifikant anders” zu bezeichnende räumliche Strukturen auftraten. Auch bei dem in der Germanistik ähnlich oft zitierten “Mittelrheinischen Atlas” - bei dem neben ortsfest wohnenden auch aus beruflichen Gründen pendelnde Gewährspersonen befragt wurden - hält sich die Zahl jener Karten in ganz engen Grenzen, auf denen sich Raumstrukturen abzeichnen, die auf deutliche basilektale Differenzen zwischen Ortsfesten und Pendlern hinweisen: cf. Bellmann (1996: passim). 4 Bislang wurden in Salzburg unter meiner Leitung die folgenden (Groß)Atlanten (über die Gesamtheit der betreffenden Netze und den Großteil der vorhandenen Karten) dialektometrisiert (jeweils in alphabetischer Reihenfolge): aus der Romanistik: AIS, ALDC, ALF, ALPI; aus der Anglistik: AES, CLAE, LAE, LANE, WGE. <?page no="40"?> Quo vadis, atlas linguistice? 7 besonderes irritieren lassen. Und zwar weniger wegen der in diesen beiden Bereichen lang vor meiner Zeit erzielten Erfolge, sondern vielmehr aus wohl überlegten methodischen und wissenschaftstheoretischen Gründen, die ich in der Folge mit knappen Worten darstellen möchte. 2. Ein Rückblick zur Vergewisserung: was sind und worauf gründen klassische Sprachatlanten wie der ALF? Der wenigstens als Zitiergröße weit über die Romanistik hinaus bekannte “Atlas linguistique de la France” (ALF) ist keineswegs “nur” das Produkt des Genies von Jules Gilliéron (1854-1926) und der operativen Zuverlässigkeit und Effizienz seines Explorators Edmond Edmont (1849-1926), sondern beruht auch auf zwei ursprünglich getrennt zu haltenden, hier aber synergetisch zusammengeflossenen Forschungstraditionen, die beide tief in das 19. Jahrhundert und fallweise auch darüber hinaus zurückreichen: mit Blick auf ganz Europa: auf der sich seit dem frühen 19. Jahrhundert über Stimmführer wie Lorenzo Hervás y Panduro (1735-1809), Johann Christoph Adelung (1732-1806), Johann Severin Vater (1771-1826) oder Jakob Grimm (1785- 1863) immer mehr verdichtenden Überzeugung, dass die wissenschaftliche Durchdringung - vor allem in diachroner, aber auch in synchroner Hinsicht - der überlieferten Hoch- und Kultursprachen Europas durch das mit allen Mitteln zu systematisierende Studium von deren Dialekten entscheidend zu verbessern sei. Diese Auffassung repräsentiert im Grunde eine echte Forschungstheorie, auf deren Justi- oder Falsifizierung man damals also gespannt warten durfte. Zu dieser auch aus heutiger Sicht zu Recht als “wissenschaftlich” (und keineswegs nur als “vor-wissenschaftlich”) zu bezeichnenden Grundstimmung stand die in vielen Ländern in steigendem Maß praktizierte (und vom romantischen Zeitgeist kräftig angeheizte) historisch-nostalgische Zuwendung zu denselben Dialekten keineswegs in Widerspruch. mit Blick auf Frankreich: Der ab 1883 mit einem französischen Pass ausgestattete und seit 1882 bis zu seinem Tod (1926) in Kontinuität an der Pariser École Pratique des Hautes Études lehrende Welschschweizer Jules Gilliéron stand vollauf in der Tradition der in Frankreich seit Beginn des 19. Jahrhunderts zu besonderer Blüte gekommenen “Départment-Statistik”. Darunter ist eine schiere Unzahl von offiziell veranlassten (und stets mit eindrucksvollen <?page no="41"?> Hans Goebl 8 Publikationen abgeschlossenen) physio- und humangeographischen Aktivitäten zu verstehen, die in den Köpfen praktisch aller französischen Intellektuellen die Dimension des Raumes bzw. der Fläche Frankreichs zu einer omnipräsenten und sehr konkret gesehenen Denkfigur gemacht hatten. Ich habe diese ideengeschichtlichen Filiationen vor ein paar Jahren (2006) im Detail dargestellt. Wenn seit mehr als 30 Jahren aus Kreisen der Varietäten- oder Variations- Linguistik Sprachatlanten wie dem ALF oder AIS vorgeworfen wird, dass sich deren Autoren nur für basilektales Material interessiert und keine Totaldeskription der örtlichen Sprachvariation vorgenommen hätten, so verkennt dieser Vorwurf deren explizit nur auf dieses Register ausgerichtete Grundintention und geht damit völlig ins Leere. Neben dem in illis temporibis allgemein verbreiteten prinzipiellen Interesse an den Dialekten ist auch jenes am multiplen Sprachenbzw. Dialekt- Vergleich zu erwähnen. Dieses war nicht nur das Hauptmovens der Indogermanistik bzw. der grammaire comparée, sondern auch eine sehr starke Triebfeder der sich an den Atlasunternehmungen von Georg Wenker (1852- 1911; “Deutscher Sprachatlas”, DSA) und Jules Gilliéron in verschiedenen Facetten zu beiden Seiten des Rheins emporrankenden Sprachgeographie (géographie linguistique etc.). Die aus einer ”typisch französischen Denktradition” stammende Art und Weise des Umgangs mit Raum und geographischen Problemen 5 hat uns darüber hinaus beim ALF (und allen seinen Nachfolgern) (unter anderem) eine Reihe sehr praktischer Vorteile beschert, die ich noch immer für Edelsteine in der auch sonst recht ansehnlichen Krone der Romanistik halte: die Beschränkung auf eine geographisch (und arbeitspraktisch) “vernünftige” und dabei wissenschaftlich noch immer “ausreichende” Anzahl von explorierten Messpunkten 6 5 Siehe dazu unsere wissenschaftshistorische Skizze von 2006 sowie die am Ende des dritten Kapitels zu Leo Spitzer beigebrachten Hinweise. 6 Die von Georg Wenker nicht nur angepeilte, sondern auch mit enormem Aufwand durchgezogene Erforschung der Dialekte aller 36.000 Schul-Gemeinden Deutschlands wurde ja nach dem Ersten Weltkrieg mit derselben Zielsetzung in Österreich, der Schweiz und sonstigen germanophonen Gebieten bis zur Erreichung von mehr als 51.000 Totalerhebungen fortgesetzt. Zwar würde kein Germanist offiziell zugeben, dass seine Disziplin bis heute unter dieser (inhaltlich noch nicht voll bewältigten) Datenmenge leidet bzw. ächzt; doch ist das ein Eindruck, der sich für jeden Außenbeobachter sozusagen von selber ergibt. Die 638 Meßpunkte des ALF sind demgegenüber zwar eine nur „verschwindend kleine“, aber auf der Grundlage optimaler Vorerfahrungen gewählte bzw. zustande gekommene Menge bzw. Stichprobe. <?page no="42"?> Quo vadis, atlas linguistice? 9 die Erstellung und standardisierte Anwendung eines linguistisch sehr diversifizierten 7 Fragebuchs und schließlich die Publikation der Gesamtheit der im Feld gesammelten Daten (bzw. der ebendort erstellten Transkriptionen) auf großformatigen Volltext- Karten. Was Letzteres betrifft, so darf man nicht vergessen, dass - vor Gilliérons kleinem Wallis-Atlas und Georg Wenkers “Sprach-Atlas von Nord- und Mitteldeutschland”, beide aus dem Jahr 1881 - die Präsentation größerer Mengen von zum (durchaus geographischen) Vergleich bestimmter Daten allgemein in Tabellen-, jedoch noch keineswegs in Karten-Form üblich war 8 . Georg Wenker musste wegen der überaus feinen Granulierung seines Messpunktenetzes bei der Veröffentlichung seiner Daten ab ovo den Weg der Symbol-Verkodung beschreiten. Doch trennten sich damit die Wege der romanistischen und der germanistischen Sprachgeographie in methodologisch sehr entscheidender Weise. Zum Bemühen Gilliérons, die ALF-Daten in Karten- und eben nicht in Tabellen-Form zu publizieren, wird berichtet, dass sein ihm stets sehr kritisch begegnender Kollege Antoine Thomas brieflich dem französischen Innen- Minister empfohlen hätte, den Druck des ALF nur dann finanziell zu unterstützen, wenn dessen Daten in Tabellen-Form publiziert würden. Welches Glück, dass Gilliéron sich damals durchsetzen konnte! In diesem Zusammenhang ist eine andere Besonderheit der mit dem ALF einsetzenden romanischen Sprachgeographie zu erwähnen, über deren Vorteile andere Neuere Philologien wie die Germanistik, Anglistik, Slawistik oder Nederlandistik nie verfügt haben: ich spreche von der von vielen Köpfen an den Daten des ALF (und fast aller seiner zahlreichen Nachfolger) anhand von “stummen Karten” geleisteten Auswertungs- und Interpretations-Arbeit. Es ist das eine keineswegs nur als “materiell” oder gar als “sekundär” zu bezeichnende Besonderheit! Es ist auch unter Romanisten kaum mehr bekannt, dass die Imprimerie Protat & Frères in Mâcon - wo der ALF gesetzt und gedruckt wurde - seit 1902 zu den ersten Faszikeln des ALF auch formatgleiche stumme Karten des ALF-Netzes zum Kauf in größeren Stückzahlen angeboten hat. Karl Jaberg (1877-1958), der in den Jahren 1900 und 1901 - also noch vor dem Erscheinen 7 So ist das Fragebuch des ALF hinsichtlich der darin behandelten linguistischen Kategorien diversifizierter als jenes des DSA. 8 Ich verweise dazu auf die “Asia Polyglotta” von Heinrich Julius Klaproth (1823, 1831), wo jener Teil, worin die von ihm in standardisierter Form gesammelten Sprachdaten in Tabellen-Form präsentiert werden, explizit (und erstmals) mit “Sprachatlas” tituliert wird. <?page no="43"?> Hans Goebl 10 des ALF - in Paris bei Gilliéron studiert und dabei alle Aspekte der Sprachatlasarbeit kennengelernt hatte 9 , wies im Jahr 1906 in einer kurzen Miszelle auf die Technik und die heuristischen Vorteile der Benützung von stummen Karten bei der Auswertung der Daten des neu erschienenen ALF hin. Zwei Jahre später erschien (auf Deutsch) seine noch heute sehr lesbare Einführung in den ALF, in deren Anhang der Autor zahlreiche (färbige) “Diskussionen” diverser ALF-Kartenblätter präsentierte, die er mit Hilfe der von Protat & Frères angebotenen stummen Karten erstellt hatte. Zu diesem überaus verdienstvollen Büchlein hat mehr als ein halbes Jahrhundert später Manual Alvar völlig zu Recht eine spanische Übersetzung (mit einem in Farbe gehaltenen Neudruck aller Beilagen) besorgt. Die Arbeit mit den stummen Karten zum ALF ist ja in sehr diversifizierter Weise an allen Romanischen Seminaren Europas (und darüber hinaus) betrieben worden 10 . Die besten Erträge dieser “Karten-Diskussionen” sind in bis heute ungebrochen andauernder Tradition immer wieder in den romanistischen Fachzeitschriften und Monographien - oft sogar in Farbe - publiziert worden. Gilliéron selber und andere Pioniere der romanischen Sprachgeographie haben diesbezüglich noch vor dem Ersten Weltkrieg schöne Kostproben geliefert. Dass in vielen Fällen an den diversen Universitäten die kartographisch durchaus anspruchsvolle Auswertungs-Arbeit mit den stummen Karten sehr intensiv gepflegt wurde, belegt das 2005 publizierte ALF-Buch von G. Brun-Trigaud, Y. Leberre und J. Le Dû. Die Substanz dieses Werks beruht auf der EDV-unterstützt vorgenommenen Umzeichnung von mehreren Hunderten bunt eingefärbter stummer Karten zum ALF, die vom Brester Keltologen François Falc’hun (1909-1991) nach dem Zweiten Weltkrieg mit Blick auf die phonetische, morphologische und lexikalische Gliederung der Galloromania verfertigt und die nach dessen Abgang von der Universität Brest im Keller derselben schlichtweg vergessen worden waren. Jean Le Dû - selber Keltologe wie Falc’hun und als solcher dessen Nachfolger - hat sie dort in den 90-er Jahren des letzten Jahrhunderts wieder aufgefunden und deren großen linguistischen Wert glücklicherweise sofort erkannt. Die auch von Gilliéron sehr intensiv praktizierten “Diskussionen” der Blätter seines Atlasses mit Hilfe der cartes muettes aus Mâcon haben sicher seine sehr spezifische Auffassung zur aréologie und biologie du langage entscheidend geprägt, wenn nicht überhaupt erst ermöglicht. Es ist nicht auszudenken, wie die spätere Entwicklung der romanischen Sprachgeographie verlaufen wäre, wenn sich Antoine Thomas mit seiner Forderung durchgesetzt hätte, die von Edmont gesammelten Daten nicht in Kartensondern in Tabellen-Form zu veröffentlichen! 9 Cf. Pop/ Pop (1959: 59). 10 Siehe dazu auch unsere Miszelle aus dem Jahr 1998. <?page no="44"?> Quo vadis, atlas linguistice? 11 Diesbezüglich kann man sich durch einen vergleichenden Blick über den Gartenzaun Gewissheit verschaffen. Die hinsichtlich der Erhebung und Publikation der flächendeckenden Grunddaten gegenüber der Romanistik um ein halbes Jahrhundert verzögerte englische Sprachgeographie, deren basilektale Ersterschließung erst in den 50-er Jahren des 20. Jahrhunderts anhand von 313 Messpunkt-Explorationen durchgeführt worden war, ist - natürlich ohne es zu wissen - den von Antoine Thomas empfohlenen Weg gegangen: die Originaldaten des von der in Leeds beheimateten Anglistik besorgten “Survey of English Dialects” (SED) wurden aus Gründen, die der SED-Herausgeber Harold Orton (1892-1986) ex post im Jahr 1971 genau benannt hat 11 , zwischen 1962 und 1971 in der Form von Listen publiziert, die zudem nicht nach den aufsteigenden Lauf-Nummern der 313 untersuchten Ortschaften, sondern nach den Namen der für das englische Raumverständnis unerlässlichen counties sortiert wurden. Diese (kulturhistorisch sehr interessante, aber wenig arbeitspraktische) Form der Präsentierung der Original-Daten hatte zur Folge, dass jede kartographische Diskussion der rund 1300 Antwort-Serien des SED-Fragebuchs zu einer “Haupt- und Staats-Aktion” geriet, der nicht - wie in der Romanistik - ein bloß explorativ-provisorischer, sondern sogleich ein definitiver, wenn nicht sogar kanonischer Charakter zukam. Die solcherart (in stark variierender kartographischer Güte) verfertigten und nach verschiedenen linguistischen Kategorien typisierten Karten wurden - jeweils zusammengefasst zu einigen Hundertschaften - unter Titeln wie “Linguistic Atlas of England” (LAE), “Atlas of English Sounds” (AES) oder “Computer Developed Linguistic Atlas of England” (CLAE) publiziert. Damit hatte aber - was uns weiter unten erneut beschäftigen soll - der bislang im Bereich der Sprachgeographie seit rund einem halben Jahrhundert exklusiv auf Original-Daten bezogene Begriff Atlas eine neue Bedeutung erhalten. Methodisch stehen demnach LAE, AES oder CLAE nicht mit der Original-Daten-Quelle ALF, 11 “Some factual atlases [gemeint sind Atlanten mit Volltext-Karten; HG], for example the Linguistic Atlas of New England, have been beautifully executed. Nevertheless for myself, after much experimentation with maps that attempted to display all the responses to one notion on a single map - devising eighty different symbols can be quite a diversion - I am by now a firm believer in the “Interpretative Atlas”. Consequently, I have put forward proposals below for an interpretative, small-sized, simple, clear, and inexpensive atlas, one that must not be beyond the pocket of the private individual, the scholar, the teacher, the student, or the interested amateur. It may be noted here that our printed books of basic material serve all the purposes of the factual atlas. Further, they enable the mapper to make his maps without first having to copy the phonetic transcriptions onto separate sheets. Anyone who has worked from a factual atlas will know how tedious [Kursivsetzung durch mich; HG] this task can be.” (Orton 1971, 81). Man beachte, dass hier ein Sprach-Geograph die Arbeit mit dem vornehmsten Heuristikum seiner Disziplin als tedious bezeichnet! <?page no="45"?> Hans Goebl 12 sondern mit dem weiter oben erwähnten ALF-Auswertungs-Buch von Brun- Trigaud/ Leberre/ Le Dû (2005) auf einer Stufe. Im Zuge meiner doch schon seit mehr als 15 Jahre andauernden dialektometrischen Arbeit an den Daten anglistischer Auswertungs-Atlanten wie CLAE, LAE, WGE oder AES 12 habe ich den Eindruck gewonnen, dass die in England gegenüber Frankreich an sich ja deutliche geringere Lust, in sprachvariationeller Hinsicht der Dimension des geographischen Raumes seriös Rechnung zu tragen, sich zu einem guten Teil aus der völlig anderen Disponibilität des “Basic Materials” des SED erklärt. Dies geht auch aus nicht wenigen kritischen Bemerkungen der anglistischen Fachwelt zu der beim älteren “Linguistic Atlas of New England” (LANE; 1939-1943) von dessen Herausgeber Hans Kurath (1891-1992) umgesetzten Publikations- und Auswertungs-Strategie hervor. Kurath, der sich bei der Vorbereitung des LANE in den Jahren 1930 und 1931 von Karl Jaberg und dem AIS-Explorator Paul Scheuermeier (1888- 1973) beraten ließ und darnach viel von den beim AIS angewandten Methoden übernahm, publizierte seinen (durchgehend bidimensional angelegten) LANE auf (nach dem Vorbild des AIS) kalligraphisch erstellten Volltext- Karten und verwies in seinem dazu verfassten Handbuch (Kurath 1939: 54) explizit auf von ihm zur Auswertung des LANE bereitgestellte stumme Karten (“separate charts”). Diese wurden aber allem Anschein nach nur von ihm selber benützt und sind unter Anglisten wie Amerikanisten weitgehend unbekannt geblieben 13 . 3. Die Interkomparabilität der Atlas-Daten: der springende Punkt bei ALF, AIS und Co. Doch kommen wir zu den dem ALF (etc.) zu Grunde gelegten methodischen Prinzipien zurück. Gilliérons Ziel war es, zum einen perfekt interkomparables und zum anderen exklusiv basilektales Material zu sammeln und zu präsentieren. Das bedeutete aber nicht, dass er sich der Tatsache nicht bewusst gewesen wäre, dass die von Edmont zu befragenden Gewährsleute nicht bloß monoglott-basilektal, sondern per definitionem mehrsprachig waren. Immerhin mussten alle Aufnahmegespräche auf Französisch und mit dem 12 Cf. dazu u. a. Goebl (1997) (nur den CLAE betreffend). Die (sehr interessanten) Ergebnisse der Dialektometrisierung von LAE, AES und WEG liegen derzeit nur in Salzburg vor und sind noch nicht publiziert worden. Daran Interessierte können aber jederzeit eine CD anfordern. 13 Kurath hatte eigenen Angaben zufolge die fraglichen separate charts am Sitz der “American Dialect Society” verwahrt. Ich habe mich vor ein paar Jahren bei Bill Kretzschmar, dem derzeitigen Direktor dieser Gesellschaft, nach dem Verbleib letzter Reste dieser separate charts erkundigt und wurde dahingehend beschieden, dass davon keine Spuren mehr vorhanden wären. <?page no="46"?> Quo vadis, atlas linguistice? 13 (just in dieser Sprache mitzuteilenden) Ziel durchgeführt werden, die befragten Personen zu veranlassen, aus ihrer multiplen Kompetenz nur das dia- oder basilektale Register zum Besten zu geben. Hier sei zusätzlich daran erinnert, dass Gilliéron gegenüber einer zu barschen Befragung (“extorsion”) der Gewährsleute starke Bedenken hatte und Edmont empfohlen hatte, stets die “spontan” und damit zuerst gegebene Antwort zu notieren. Über die eingangs genannten zwei Prinzipien stand Gilliéron durchaus in Einklang mit auch woanders vor und zu seiner Zeit weit verbreiteten Forderungen. Was das Postulat der Interkomparabilität betrifft, so findet man aus wissenschaftshistorischer Sicht eine direkte Linie zwischen den Parallel-Text-Erhebungen von Charles-Étienne Coquebert de Montbret (1755-1831) und dem ALF, die bei diesem aber keineswegs abreißt, sondern bis zu dem im Jahr 2005 veröffentlichten “World Atlas of Language Structures” (WALS) und den diesem zu Grunde gelegten Forschungsinteressen der modernen Arealtypologie verlängert werden kann 14 . Was nun die programmatische Beschränkung der Datenerhebung auf basilektales Material betrifft, so entsprach auch diese den damals dominierenden Forschungsinteressen, deren Aktualität aber - nun einmal abgesehen von der Brillanz der auf der Grundlage dieser Datenselektion in den letzten hundert Jahren erzielten wissenschaftlichen Ergebnisse - im Grunde auch heute noch immer aufrecht ist. Denn auch noch heute ist die säkuläre General-Erfahrung vollinhaltlich gültig 15 , derzufolge der großflächige Sprachvergleich seine höchste Qualität dann erreicht, wenn er anhand von standardisiert erhobenem Dialekt-Material durchgeführt wird. Wenn heute aus den Rängen der Varietäten-Linguistik Atlanten wie ALF oder AIS Desinteresse an der an den explorierten Ortschaften (bzw. in den Köpfen der dort wohnenden Sprecher) vorhandenen Mehrsprachigkeit angekreidet bzw. sogar als ex post zu reparierendes Forschungsdesiderat vorgehalten wird 16 , so ist das nicht nur eine völlig anachronistische Verkennung 14 Cf. dazu Bisang (2010: passim). 15 Die Beantwortung der Frage nach den hierfür heranzuziehenden Gründen kann nur in sehr weitläufiger Weise erfolgen und würde zudem unweigerlich in sprachphilosophische Tiefen führen. Hier sei nur angemerkt, dass die Basilekte im Bewusstsein ihrer Sprecher ganz offenbar einen ganz wesentlichen Teil ihrer sozialen und individuellen Identität darstellen und demnach nicht nur Träger vielfältiger metalinguistischer Funktionen, sondern auch immer wieder Gegenstand von außerlinguistisch induzierten Umformungen, Adaptierungen und Änderungen sind bzw. waren. Aus informationstheoretischer Sicht ist demnach das basilektale Signal mit zahlreichen außerlinguistischen Informationen angereichert, deren Analyse im Kontext des geographischen Raumes nicht nur im Rahmen der Linguistik, sondern auch weit darüber hinaus sehr interessant ist. 16 Wie z.B. in Krefeld (2004) oder - ganz offenbar auf dessen Spuren - in Lindorfer (2010) geschehen. <?page no="47"?> Hans Goebl 14 der den betreffenden Atlanten zu Grunde gelegten methodischen Prinzipien und wissenschaftlichen Ziele, sondern ignoriert auch die bei der Erstellung von ALF und AIS ganz bewusst umgesetzten praktischen Prozeduren. Es ist das aber auch eine Verkennung dessen, was über die Applikation der (romanistischen) Sprachatlas-Technik in rein arbeitspraktischer Hinsicht erreicht werden kann. Ich will das einmal anhand meiner eigenen Erfahrungen darlegen, die ich den letzten 25 Jahren bei der Arbeit an den zwei Teilen des Ladinienatlasses ALD gemacht habe. Dabei sollen zwei Bereiche in besonderer Weise beleuchtet werden: a) die Elizitation basilektalen Materials im Gespräch mit den Gewährsleuten b) der Umgang mit der eo ipso multiplen Kompetenz derselben. Zu a): Schon im Rahmen der vorbereitenden Probe-Enquêten habe ich mich dafür entschieden, den Gewährspersonen in einfachen Worten zu erklären, dass ich mich dafür interessiere, was sie selber als den für ihre Ortschaft “typischen Dialekt” ansehen. Es hat sich nämlich schon vor Beginn der offiziellen Enquêten (Oktober 1985) immer wieder ganz deutlich gezeigt, dass in allen Teilen der ALD-Zone ein sehr deutlich ansprech- und mobilisierbares (Sprach-)Gefühl dafür vorhanden war, was der vor Ort “typische Dialekt” nun sei. Im Verlauf der regulären Enquêten hat sich dann erwiesen, dass Diskussionen über die “Typizität” des örtlichen Dialekts nicht nur von Ort zu Ort immer wieder von neuem leicht in Gang zu bringen waren, sondern sich unsere Gewährsleute in der weit überwiegenden Mehrzahl der routinemäßig abgeführten Interviews an solchen Gesprächen mit großem Engagement und Interesse an der Sache beteiligt haben. Zur quantitativen Klarstellung: beim ALD-I wurden in toto 488 und beim ALD-II 833 Explorations-Gespräche durchgeführt und integral auf Tonband aufgenommen. Der gesamte Tonertrag des ALD-II kann bereits im Netz (durch Eingabe der Nummern der angepeilten Ortschaft und Frage) abgehört werden 17 . Der in den diversen Arbeitsberichten zu ALD-I 18 und ALD- II 19 dokumentierte Eindruck von insgesamt 13 Exploratoren (beiderlei Geschlechts) ging unisono dahin, dass die gezielte Elizitation von durch die 17 Interessenten können aus Salzburg ein Merkblatt erhalten, das es ihnen - die Existenz entsprechender EDV-Strukturen vorausgesetzt - gestattet, in kurzer Zeit die Verbindung zu jenem Server herzustellen, auf dem sich die betreffende Ton-Daten-Bank befindet. 18 Siehe dazu: http: / / ald.sbg.ac.at/ ald/ ald-i/ index.php? id=0009&lang=de. 19 Zu einer bibliographischen Aufstellung siehe unter: http: / / www.sbg.ac.at/ rom/ people/ prof/ goebl/ publik_r.htm. <?page no="48"?> Quo vadis, atlas linguistice? 15 Einheimischen selber als “dialektal” eingestuftem Wortgut überall glatt und zudem unter durchgehend vergleichbaren diskursiven Begleiterscheinungen vor sich gegangen ist. Zu b): Aus psycho-, pragma- und soziolinguistischer Sicht ist dabei völlig klar, dass wir es in allen 1.321 Fällen mit mehrsprachigen Sprechern zu tun hatten, aus deren Repertoire im Zuge der Aufnahmegespräche mindestens zwei Register - der elizitierte Basilekt und der zur Kommunikation verwendete Meso- oder Akrolekt (meist Umgangs- oder Hoch-Italienisch bzw. -Deutsch) “mobilisiert” wurden. Bei näherem Zusehen und auch bei der Lektüre der vorhandenen Quellen hatte ich schon immer den Verdacht, dass - entgegen der heute allgemein üblichen Hochstilisierung des Umfangs der in den letzten 50 Jahren stattgehabten sprachlichen “Umwälzungen” - die beim ALF von E. Edmont und beim AIS von P. Scheuermeier, Gerhard Rohlfs (1892-1986) und Max Leopold Wagner (1880-1962) durchgeführten Aufnahme-Gespräche durchaus nach dem auch beim ALD angewandten Strickmuster stattgefunden haben. Wenn ich also lesen muss, dass heute ”the end of the traditional focus on monolingual immobile speakers” gekommen sei (Auer/ Schmidt 2010, X), dann kann ich als Romanist nur vermuten, dass damit ein Toter erneut und unter publikumswirksamem bzw. unüberhörbarem Lamento zu Grabe getragen werden soll. Cui bono? Außerdem kann ich mir nur schwer vorstellen, dass es beim DSA bei der mehr als 50.000 Mal (oft unter Mitwirkung minderjähriger Schüler) erfolgten Niederschrift der Übersetzungen der 40 Wenker-Sätze nicht ebenso polyglott bzw. multikompetentiell zugegangen ist. Auf Grund meiner praktischen Erfahrungen neige ich sehr stark zur Annahme, dass der von Auer und Schmidt evozierte (wirklich) monolinguale Dialektsprecher schon ein paar Jahrzehnte vor Gilliéron und Wenker ausgestorben ist; vielleicht dann, als die Alphabetisierungs-Rate sowohl in Deutschland als auch in Frankreich die 50%-Marke deutlich überstiegen hatte 20 . Hier ist noch ein zeitgeistkritisches Romanisten-Wort zur Problematik der “unité phonétique dans le patois d’une commune” fällig. Bekanntlich werden ja die hierher gehörenden Schlüsseltexte von Rousselot 1881 und Gauchat 1905 (nebst Hermann 1929) immer wieder zur Diskriminierung der klassischen Sprachatlasarbeit zitiert und oft als veritable Argumentationskeulen gegen diese verwendet. Aus meiner Kenntnis dieser Texte und aller damit verbundenen praktischen Implikationen hält sich die darin verborgene anti-atlantistische Sprengwirkung sehr in Grenzen. Dies dürfte wohl auch 20 Sofern die Idee (oder Anmutung? ) des (tatsächlich) monolingualen Dialektsprechers nicht sowieso in das Eck der gar nicht so seltenen “Linguistik-Enten” gehört. <?page no="49"?> Hans Goebl 16 die Meinung des abbé Jean-Pierre Rousselot (1846-1924), des langjährigen Weggefährten Jules Gilliérons, und auch von Louis Gauchat (1866-1942), dem Mitautor (und Enquêteur) des Welschschweizer Sprachatlasses “Tableaux phonétiques des patois suisses romands” (TPPSR) 21 , gewesen sein. Mich hat zudem immer wieder gewundert, weshalb in diesem Kontext nicht auch der brillante und grundwahre Forschungsbericht der AIS-Autoren K. Jaberg und J. Jud aus dem Jahr 1927 zitiert wurde und wird, worin völlig unumwunden von der prinzipiellen Nicht-Einheitlichkeit der gesamten Aufnahme-Arbeit (von der Elokution der Sprecher bis zur Perzeption durch den Linguisten) die Rede ist. Für mich steht fest, dass weder Gauchat noch Jaberg oder Jud einen prinzipiellen Gegensatz zwischen ihren punktuellen Mikro-Befunden und ihrer flächendeckenden Makro-Arbeit gesehen haben und schon gar keinen Anlass, die ersteren zur Denigrierung des Ertrags bzw. des Stellenwerts der letzteren zu verwenden. Nur nebenbei sei erwähnt, dass in der Romanistik - anders als in der Germanistik - allen Quellen nach zu schließen bei der Erstellung von Sprachatlanten nach “ortstypischen” Basilekten und damit nach Leuten gesucht wurde, die für fähig gehalten wurden, darüber zu informieren. Aus den vorhandenen Feldberichten (v. a. aus der Hand von Paul Scheuermeier 22 , aber auch bei Jaberg/ Jud 1928 und 1987) geht zwar nicht eindeutig hervor, wer dabei - ob Gewährsperson oder Enquêteur - die definitive Entscheidung über die “Ortstypizität” zu treffen hatte. Im Falle des ALD lag diese jedenfalls immer bei den Gewährsleuten bzw. bei den von diesen gegebenen Hinweisen. In der Germanistik bestand dagegen bis in die allerneueste Zeit das Hauptziel der Enquêten in der Erhebung des vor Ort jeweils “ältesten” Dialekts. Dass dadurch das Durchschnittsalter der Gewährsleute höher als bei den Romanisten ausfiel, ist nicht weiter verwunderlich. Im Zuge der in der Germanistik variationslinguistisch bedingten Öffnung der Sprachatlas- Arbeit auch für supra-basilektale Register 23 wurde die vor Ort vorgenom- 21 Gauchat war ja zusätzlich der Begründer des offiziell seit 1899 existierenden, enzyklopädisch ausgerichteten Schweizer Nationalwörterbuchs “Glossaire des Patois de la Suisse romande”: cf. www.glossaire-romand.ch/ default.asp/ 2-0-81-6-6-1/ . 22 Siehe dazu beispielsweise Scheuermeier (1969), (italienische Publikation: 1997). 23 Einer der Gründe, weshalb beim ALD die suprabasilektalen Register nie berücksichtigt wurden, besteht darin, dass diese - anders als die genuin basilektalen Register - im Gespräch mit den Gewährsleuten nur sehr schwer bis kaum im Interview-Weg elizitiert werden können. Diese Erfahrung wurde auch beim italienischen Mesolekt-Projekt NADIR gemacht, das deshalb die selbst gesteckten Forschungsziele nicht erreicht hat. Ganz zu schweigen von der Schwierigbis Unmöglichkeit, die Elizitierung suprabasilektaler Daten mit der Notwendigkeit in Einklang zu bringen, dabei durchgängig interkomparables Material zu sammeln. <?page no="50"?> Quo vadis, atlas linguistice? 17 mene Suche nach dem jeweils “ältesten” Dialekt konsequenterweise durch jene nach “jüngeren” Registern (wie Regiolekten) ergänzt 24 . Eine der praktischen Konsequenzen dieser empirischen Öffnung bestand in der radikalen Vermehrung der pro Messpunkt anfallenden bzw. vermerkten Mehrfachantworten. Bei den romanischen Atlanten wurde - von wenigen Ausnahmen abgesehen - dieser Weg (glücklicherweise) nicht beschritten. Der ALD macht da - aus wohlüberlegten Gründen - keine Ausnahme. Auf die Prekarietät des konsequenten Auftretens einer relativ großen Anzahl von hinsichtlich ihres soziolinguistischen Status oft unmarkierten Mehrfachantworten bin ich in völlig unerwarteter, aber sehr handfester Weise im Zug dialektometrischer Arbeiten zum englischen (Auswertungs-) Atlas CLAE gestoßen. Die Vorbereitung und Publikation der 315 Symbol- Karten der zwei Bände des CLAE erfolgte mit EDV-Hilfe, wobei der Computer im Grunde nur als kartographisches Hilfsmittel eingesetzt wurde. Da es bei Ansichtigwerdung des CLAE für einen Dialektometer wie mich völlig klar war, dass die Grundstruktur dieses Atlasses alle Eigenschaften einer Datenmatrix erfüllte, habe ich in der Mitte der Neunziger-Jahre den CLAE- Herausgeber Wolfgang Viereck um Überlassung der bei der Publikation der CLAE-Karten generierten EDV-Files gebeten. Im Zuge von deren nachfolgender Präparation für die dialektometrische Verrechnung wurden schließlich die überraschend großen Mengen an Mehrfachantworten (pro Ort und Frage fallweise bis zu 11 Antworten) sichtbar. Dabei erhoben sich zwei Fragen: a) Welcher der bei der Erhebung der SED-Daten eingesetzten Aufnahmetechnik ist die Tatsache zu verdanken? b) Wie kann man Mehrfachmit Einfachantworten dialektometrisch vergleichen? Bei der Suche nach der Antwort auf die erste Frage habe ich Hinweise darauf gefunden, dass die Leedser Dialektologen gezielt in Richtung atlante repertorio gearbeitet haben. Dagegen hat sich bei der Behandlung der zweiten Frage sehr rasch herausgestellt, dass die dialektometrische Erfassung von Mehrfachantworten in statistisch-mathematischer Hinsicht kein prinzipielles Problem darstellt und zudem rein taxometrisch in vielfältiger Weise gelöst werden kann. Allerdings müssen dabei rein linguistisch relevante Vorentscheidungen getroffen werden, die aber nur aus der theoretischen Sicht des sachkundigen Dialektologen (hier: des Anglisten) gefällt werden können. 24 Siehe dazu die Einführung zum SBS (“Sprachatlas von Bayerisch-Schwaben”) von W. König (1997: 15-28). <?page no="51"?> Hans Goebl 18 Eine der entscheidenden Fragen war dabei, ob bei der quantitativen Festlegung der Ähnlichkeit zweier Ortschaften (A und B) das Vorhandensein verschieden großer Potenziale an Mehrfachantworten in A und B prinzipiell zu einer Erhöhung oder Verringerung der quantitativen Ähnlichkeit führen soll. Ich habe dazu bis heute von den kompetenten Fachkollegen keine schlüssige Antwort erhalten. Die von mir 1997 zum CLAE vorgelegten dialektometrischen Verdichtungen sahen daher Lösungen in beide Richtungen vor. Aus rein (geo)linguistischer Sicht ist eine solche Ratlosigkeit natürlich nicht befriedigend. Ein zum SED analoges Beispiel haben die Groninger Computerlinguisten John Nerbonne und Peter Kleiweg im Jahr 2003 für den US-amerikanischen Atlas LAMSAS (“Linguistic Atlas of the Middle and South Atlantic States”) dokumentiert 25 . Dabei zeigte sich, dass hinsichtlich der Mehrfachantworten nicht nur zwischen den beiden Haupt-Exploratoren Guy S. Lowman (1909- 1941) und Raven I. McDavid (1911-1984), sondern auch zwischen diesen und den in geringerem Umfang an den LAMSAS-Enquêten beteiligten Neben- Exploratoren große Unterschiede bestanden. Diese Unterschiede beruhen natürlich auf der keineswegs nach einheitlichen Prinzipien abgelaufenen Explorationsarbeit, die sich zudem über 41 Jahre (1933-1974) hingezogen hat. Im zitierten Beitrag von J. Nerbonne und P. Kleiweg haben die Autoren - abgesehen von der eben erwähnten mengenmäßigen Auflistung der Mehrfachantworten - einen Teil des in EDV-lesbarer Form vorhandenen LAMSAS-Materials in lexikalischer Hinsicht dialektometrisiert. Sie haben dabei in statistischer Hinsicht für die Behandlung des Problems der lexikalischen Mehrfachantworten die Annahme getroffen, dass mit der Anzahl der in den paarweisen Vergleich einbezogenen Mehrfachantworten auch die quantitative Ähnlichkeit zwischen den beiden Messpunkten steigt 26 . Allerdings haben sie für ihre Entscheidung keine linguistisch relevante Begründung angeführt. Kurzum: es geht also darum, ob man - so wie die Pioniere der klassischen Sprachgeographie unserer Disziplin - unter Sprachatlas ein nach genau definierten Vorgaben zu erstellendes Forschungsinstrument versteht und auch bereit ist, die damit verbundenen theoretischen Vorgaben (und Beschränkungen) zu akzeptieren. Die sub signo linguisticae variationalis in den letzten zwei Jahrzehnten diesbezüglich beobachtbaren perplessità sind aber keineswegs so neu, wie es den Anschein haben mag. In analoger Weise ist es in der Romanistik der 20-er und 30-er Jahre des letzten Jahrhunderts zu einer auch heute noch interessanten Auseinandersetzung zwischen Leo Spitzer (1928) auf der einen sowie Walther von Wartburg (1946/ 1963) und Karl Jaberg (1954) auf der anderen Seite gekommen. 25 Cf. Nerbonne/ Kleiweg (2003: 341-343). 26 Cf. Nerbonne/ Kleiweg (2003: 349). <?page no="52"?> Quo vadis, atlas linguistice? 19 Leo Spitzer (1887-1960), der überdies so wie Jaberg (1900-1901) und Wartburg auch (1911-1912) in den Jahren 1910 und 1911 bei Gilliéron in Paris studiert hatte 27 , war als auf die Erschließung des Reichtums aller existierenden stilistischen Ausdrucksmittel erpichter “(universalistischer) Feingeist” von der reduktionistischen rigueur des ALF keineswegs erbaut und empfahl - aus Anlass des 1928 in Den Haag abgehaltenen ersten Linguistenkongresses - seinen damals bereits an die Schaffung eines basilektalen Sprachatlasses denkenden baskischen Freunden, als Sprecher einer kleinen Sprache doch lieber ein Wörterbuch zu erstellen. Am Ende seines Beitrags findet sich die folgende Passage: “Celui qui cherche dans la langue les faits automatisés et normaux, le fonctionnement systématique, préférera l’atlas, celui qui cherche les faits affectifs et expressifs, l’élément créateur dans la langue, fera choix du dictionnaire. (175)” Und weiter : “[…] en outre, je trouve que l’heure actuelle, qui travaille partout et dans tous les domaines de l’esprit à nous libérer des chaînes de la philosophie positiviste, demande à la linguistique, plutôt que de rassembler les faits automatisés et cristallisés, de comprendre le travail créateur inhérent au devenir linguistique.” (175). Angesichts dessen, was man heute zur klassischen Sprachatlasarbeit alles so liest, sind das durchaus “taufrische” Worte. Interessant ist, dass Spitzer in seinem kurzen Beitrag mehrfach die Gesamtkonzeption des ALF als Emanation einer als typisch französisch anzusehenden Geistestradition bezeichnet und sich dabei auch vom “parti pris comparatiste” distanziert, der damals beim ALF dem bekannten Indogermanisten Antoine Meillet (1866-1936) in besonderer Weise zugesagt hatte. Letzteres erstaunt in Kenntnis dessen, was sich im 19. Jahrhundert im Bereich der grammaire comparée vorbereitet hatte, keineswegs. Die von Spitzer im Jahr 1928 aufgeworfene Frage wurde in den 30-er Jahren von Walther von Wartburg (1937) im Lichte seiner Erfahrungen mit dem FEW aufgegriffen und zuletzt in der französischen Version seines Klassikers “Einführung in Problematik und Methodik der Sprachwissenschaft” (deutsche Version: 1943, erweiterte französische Übersetzung: 1963: 159-160) sehr differenziert und in Kenntnis aller Facetten des Problems beschrieben 28 . Ähnliches hat im Jahr 1954 auch K. Jaberg getan (op. cit.: 60-61), der dabei Spitzers Aufsatz aus dem Jahr 1928 “sehr angriffig” nennt, worin “Korn und Spreu durcheinanderstieben”. Der erfolgreiche und vor allem sehr erfahrene Atlas-Macher, -Benutzer und -Interpret K. Jaberg lässt dabei aber deutlich 27 Cf. Pop/ Pop (1959: 59). 28 Zu unterstreichen ist, dass der Lexikograph und Lexikologe W. von Wartburg im von L. Spitzer dem ALF (und dessen Autor) angekreideten “Reduktionismus” (etc.) kein prinzipielles wissenschaftliches Handikap sah. Man erkennt dies auch daran, dass er dem ersten Band seines FEW eine persönliche Widmung just an die Adresse von Jules Gilliéron [und Wilhelm Meyer-Lübke, 1861-1936] vorangestellt hat. <?page no="53"?> Hans Goebl 20 erkennen, dass er in dieser Sache eher mit “tatkräftigen Initiativen” als mit “einseitiger Rechthaberei” (beide Male: 61) sympathisiert. 4. « Il faut appeler un chat un chat. » Ich habe schon seit geraumer Zeit den Eindruck, dass die um das Forschungsinstrument Sprach-Atlas entstandenen Friktionen letztendlich auch terminologischer Natur sind. Es werden einfach zu viele empirisch anspruchsvolle Projekte unter dem offenbar als besonders attraktiv angesehen Label Atlas subsumiert. Im Lichte der in den vorhergehenden Kapiteln geleisteten Klarstellungen bzw. Rückerinnerungen dürfte klar sein, dass nicht jedes (auch) diatopisch angelegte Forschungsprojekt eo ipso den Namen Atlas verdient 29 . Alternative Termini gibt es genug: Archives, Trésor, Osservatorio, Sportello etc. Ein Leit-Opus der “pluridimensionalen Sprachgeographie” ist bekanntlich der ADDU - “Atlas lingüístico diatópico y diastrático del Uruguay” - von Harald Thun. Diesem unzweifelhaft mit Pioniercharakter versehenen Werk kann man seine Hochachtung unter gar keinen Umständen versagen. Nur würde ich keinen Schaden darin sehen, wenn das Kürzel ADDU wie folgt aufgelöst werden könnte: “Análisis lingüístico diatópico y diastrático del Uruguay”. Denn im ADDU findet man sehr interessante Analysen des im Zeichen der pluridimensionalen Erhebung im Feld gesammelten Materials, aber keine zur weiteren Verarbeitung durch Dritte bereitgelegten Rohdaten wie in ALF und Co. Auch scheint mir die im Rahmen des ALS (“Atlante linguistico della Sicilia”) geleistete Arbeit, die ja auf die empirische Erfassung aller auf Sizilien gesprochenen Register abzielt und daher (unter anderem) auch diatopisch ausgerichtet ist 30 , letztendlich eher in die Richtung eines regionalen Thesaurus zu gehen. Es mag ja sein, dass im Rahmen des Gesamt-Unternehmens ALS eines Tages neben zahlreichen anderen, heute schon zugänglichen Publikationen auch etwas auf dem Tisch liegen wird, was hinsichtlich seiner Methodik und Zielsetzung an AIS oder ALF erinnert. Doch scheinen die 29 So gestehe ich ehrlich, dass ich über den im Jahr 1996 von Guillaume Schiltz für seine (nach den Salzburger dialektometrischen Methoden und anhand der damals vorliegenden Daten des “Südwestdeutschen Sprachatlasses” erarbeitete) Doktorarbeit gewählten Titel (“Der Dialektometrische Atlas von Südwest-Baden (DASB). Konzepte eines dialektometrischen Informationssystems”) nicht glücklich war. Sachlich zutreffend ist hier in erster Linie der Untertitel des Informationssystems. Heute darf man die dialektometrische Analyse der Daten eines beliebigen Sprachatlasses ungestraft als “Dialektometrisierung” bezeichnen. 30 Cf. dazu die methodisch und programmatisch ausgerichtete General-Übersicht von D’Agostino/ Ruffino (2005: passim). <?page no="54"?> Quo vadis, atlas linguistice? 21 Propugnatoren des ALS die Herausgabe just einen solchen Cartographicums nicht an die Spitze ihrer to do-Liste gesetzt zu haben. Nur noch ein kurzer wissenschaftshistorischer Rückblick zu einem mehr als 150 Jahre alten Opus, wo meines Wissens zum ersten Mal das italienische Binom atlante linguistico auftritt und das deshalb (! ! ! ) verschiedentlich in die Ahnengalerie unserer Sprachatlanten eingereiht wird: es ist die Rede vom 1841 erschienenen “Atlante linguistico d’Europa” des bekannten Mailänder Linguisten (und Polyhistors) Bernardino Biondelli (1804-1886). Dabei handelt es sich um ein graphisch recht engagiert erstelltes Elaborat 31 , das allerdings - mit den beiden Umschlägen - nur aus insgesamt fünf großformatigen Papier-Blättern (in den Dimensionen 56 mal 43 cm) besteht 32 . Auf dem vorderen Umschlag findet man inmitten einer im allegorischen Stil gestalteten “Denk-Landschaft” die (Familien)Namen von (Jakob) Grimm, (Rasmus) Rask, (Johann Severin) Vater und (Franz) Bopp, die die Deckel einiger in eben dieser Landschaft liegender Bücher zieren. Es folgen zwei Seiten mit kartographischen Informationen und eine Seite mit Text. Die erste Karte (Tavola I) ist mit “Regno delle lingue indo-europee” übertitelt und zeigt - anhand bunter Flächensignaturen und dazupassender knapper Beschriftungen - deren Verteilung über die ganze Welt. Die zweite, ebenso bunt gehaltene Karte (Tavola II) heißt “Prospetto topografico delle lingue parlate in Europa” und visualisiert das geographische Nebeneinander der Sprachen Europas (von Portugal bis zum Ural). Das dritte Blatt dieses atlante linguistico enthält nur Text, trägt die Überschrift “Prospetto delle lingue indo-europee” und zudem rechts oben den Vermerk “Illustr. della Tav. I”. Dieses Text-Blatt bietet keineswegs uninteressante sprachtypologische Charakterisierungen 33 zu insgesamt 11 indo-europäischen Sprachgruppen und den dazu zu zählenden Einzelsprachen. Dann folgt der hintere Umschlag. Bei allem Respekt vor den Elaboraten unserer Vorgänger und deren Benamsungen: mit einem Sprachatlas in unserem Sinne hat dieser atlante linguistico rein gar nichts zu tun. 31 Als Lithograph ist ein gewisser P. Berlotti vermerkt. 32 Ich konnte vor kurzem das Exemplar der Wiener Nationalbibliothek mit der Signatur 180 296-F einsehen. 33 Bei der Charakterisierung der romanischen Sprachen fällt auf, dass Biondelli ganz offenbar noch immer ein Anhänger der damals seit rund 25 Jahren (durch August W. Schlegel [1818] und Friedrich Diez [1836]) schlagend widerlegten Lehre von der langue romane commune war. Das liest sich wie folgt: “+ ROMANA RUSTICA, o romanza, parlata anticamente in tutta l’Europa latina, ove suddividevasi nei dialetti: romanzo-itàlico, gallico, ispànico, rético e valacco. Dopo aver subíto molte modificazioni, nell’anno 1100 successe alla latina, come lingua scritta, ebbe una vasta letteratura, e dopo il 1300 si decompose e diede orígine alle lingue moderne.” <?page no="55"?> Hans Goebl 22 5. “Extra atlantes linguisticos nulla salus dialectometrica.” Noch ein abschließendes Wort zur Rolle der Dialektometrie (DM) in der Sprachatlasfrage. Der in Abwandlung des uralten kirchlichen Dictums Extra ecclesiam nulla salus 34 von mir vor etwa zwei Jahrzehnten konzipierte lateinische Spruch diente ursprünglich dazu, in den 80er Jahren an die Dialektometrie gerichtete, soziolinguistisch unterspickte Anmutungen zurecht zu rücken 35 . Zunächst ist festzuhalten, dass die Sprachatlanten lange Zeit ihre fruchtbare Funktion ganz ohne DM ausüben konnten und dass letztere - gemessen an der Gesamttradition der vor allem romanischen Sprachatlanten - angesichts des Datums ihres Aufkommens (1973) doch ziemlich jung ist. In meiner eigenen praktischen und publikatorischen Arbeit rund um die DM habe ich ab ovo vorausgesetzt und in weiterer Folge immer wieder erfahren - und keineswegs für mich behalten -, dass die DM ein direktes Kind und zugleich eine Verlängerung bzw. Fortsetzung der klassischen romanischen Sprachatlasarbeit ist. Das letztere Charakteristikum erklärt sich dadurch, dass das Hauptziel der DM darin besteht, durch die zunächst induktiv vorzunehmende Synthese möglichst vieler Atlas-Daten jene Gesetzmäßigkeiten aufzudecken und erforschen, die der “basilektalen Bewirtschaftung des Raumes durch den HOMO LOQUENS (bzw. durch dessen Bewohner)” zu Grunde liegen. Dies setzt aber voraus, dass man die Atlas-Daten an sich als Träger von Informationen ansieht, die zur Entschlüsselung der zitierten “basilektalen Bewirtschaftung” führen können. Das ist natürlich eine theoretische Postulierung, die - wie viele andere auch - vor Arbeitsbeginn zu treffen ist. Überdies schließt dieses durchaus als “systematisch” zu bezeichnende Ziel 36 an ähnlich “systematische” Fragen an, die man v.a. bei J. Gilliéron und K. Jaberg immer wieder - wiewohl oft versteckt platziert sowie in eher implizit als explizit verworteter Form - finden kann. Im Lichte der heutigen, aus vielerlei Nachbardisziplinen herbeigeholten Erfahrungen können die mit den klassischen Sprachatlanten verbundenen Probleme viel klarer angesprochen und benannt werden. Sprachatlasdaten 34 Es soll auf den Kirchenschriftsteller Cyprian von Karthago (200/ 210-258) zurückgehen, in dessen Werk man den folgenden Satz findet: Extra ecclesiam salus non est. 35 Daran nicht unbeteiligt war (auch) ein 1988 erschienener Beitrag des Festeggiando. Siehe dazu - exempli causa - die expliziten Verwendungen dieser (neu)lateinischen Sentenz zur Textung ganzer Kapitelüberschriften in meinen dialektometrischen Schriften von 1992 (430, Abschnitt 1.1.) und 1993 (39, Abschnitt 1.1.) 36 Dem “Automatismen“ und “Kristallisierungen” abgeneigten Leo Spitzer hätte dieses Ziel bestimmt nicht gefallen. Dies betraf und betrifft ganz eindeutig auch den italienischen Dialektologen Corrado Grassi, der sich im Zeichen der von seinem Lehrer B. A. Terracini hochgehaltenen libertà linguistica weder mit der Dialektometrie noch mit der prinzipiellen rigueur des Sprachatlas-Prinzips anfreunden konnte: cf. dazu (exempli causa) Grassi (1989). <?page no="56"?> Quo vadis, atlas linguistice? 23 sind wegen ihres matrizen-artigen Aufbaus (N Messpunkte mal p Items des Fragebuchs bzw. Atlaskarten) - abgesehen von der philologisch zu beurteilenden Qualität der in ihnen enthaltenen Daten 37 - eo ipso Massen-Daten, die als solche (quantitative) Strukturen und Regularitäten abbilden bzw. enthalten. Diese können sich sowohl entlang der Dimension N (= des geographischen Raumes) als auch entlang der Dimension p (= der im Fragebuch enthaltenen Begriffe) entfalten. Die in der “Tiefe” der N mal p-Matrix eines jeden Sprachatlasses verborgenen Strukturen übersteigen - wie wir heute wissen - das, was Gilliéron und Co. auf einzelnen Kartenblättern gesehen, analysiert und interpretiert haben, an Systematizität bei weitem. Nur sieht man derartige Strukturen prima vista nicht. Sie offenbaren sich auch nicht auf einfachem Weg. Man muss sich von der Möglichkeit ihrer Existenz zunächst eine theoretische Vorstellung verschaffen, um daran anschließend unter Entfaltung nicht geringer philologisch-linguistischer, informatischer, kartographischer und sonstiger Mühen darnach zu suchen. Angesichts der mir derzeit aus den Bereichen von Romanistik, Anglistik und auch Germanistik vorliegenden dialektometrischen Erfahrungen kann ich getrost feststellen, dass sich die Suche nach diesen verborgenen bzw. tief liegenden Regularitäten nicht nur an sich gelohnt, sondern auch dazu gedient hat, das Postulat aufzustellen, dass nunmehr für die zweite der unser aller Leben elementar bestimmenden Dimensionen - nämlich nach der Zeit auch für den Raum - ein bona fide als gesetzesgesteuert zu bezeichnendes Verhalten des HOMO LOQUENS nachgewiesen werden konnte. Was heute mit den Mitteln der Dialektometrie aus den Daten eines nach klassischen Prinzipien erstellten Sprachatlasses herausgeholt werden kann, darf als das Produkt einer langen Kette methodischer Reflexionen und empirischer Vorarbeiten angesehen werden, die sich aus meiner Sicht der Dinge ziemlich bruchlos über die letzten zwei Jahrhunderte erstrecken und zusammengenommen einen weit gespannten Bogen bilden, der von Charles- Étienne Coquebert de Montbret über J. Gilliéron, K. Jaberg oder J. Jud bis zum dialectométrie-Erfinder Jean Séguy (1914-1973) und dessen Zeitgenossen und Nachfolgern reicht. Insofern hat das Forschungsinstrument atlas linguisticus einen wirklich weiten Weg zurückgelegt und durchaus das Zeug in sich, noch einmal so weit zu marschieren. 37 Nur der Vollständigkeit halber sei hier erwähnt, dass Sprachatlanten ja immer auch als punktuell zu konsultierende Quellen interessanter bzw. empirisch hochwertiger Einzeldaten (in salopper Diktion: als “Daten-Steinbrüche”) benützt und zu Recht geschätzt wurden. <?page no="57"?> Hans Goebl 24 Bibliographie ADDU: Thun, Harald / Forte, Carlos E. / Elizaincín, Adolfo (Eds.)(1989, 2000): El Atlas lingüístico diatópico y diastrático del Uruguay, Kiel: Westensee-Verlag, 2 Bde. AES: Kolb, Eduard (1979): Atlas of English Sounds, Bern: Francke. AIS: Jaberg, Karl / Jud, Jakob (Eds.)(1928-1940): Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz, Zofingen: Ringier, 8 Bde. [Neudruck: Nendeln: Kraus, 1971]. ALD-I: Goebl, Hans / Bauer, Roland / Haimerl, Edgar et al. 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Der Reiz, die Kategorien “emisch” und “etisch” unter die terminologische Lupe zu nehmen, besteht in der Diskrepanz zwischen der oberflächlichen Trivialität dieser Differenzierung aus strukturalistischer Sicht einerseits und der ihnen zu Grunde liegenden Komplexität andererseits, hatte doch etwa insbesondere Pike (1967), auf den diese Unterscheidung zurückgeht, aber auch Marvin Harris (1980) versucht, auf dieser Basis eine integrale linguistisch-anthropologische Grundlagenwissenschaft aufzubauen. Demgegenüber kommt das Grundprinzip dieser Unterscheidung, nach der die “etische” Ebene der vorstrukturalen Ereignisebene angehöre (in der Sprachwissenschaft entsprechend der parole-Ebene, bzw. Text oder Diskurs, wie die Phonetik), in Abgrenzung zu der auf einem höheren Abstraktionsgrad liegenden “emischen” Strukturbzw. Systemebene (wie die Phonologie bzw. Phonemik), geradezu bescheiden daher. Bei genauerer Betrachtung fällt jedoch auf, dass diese strenge Differenzierung keineswegs in der imperativen Eindeutigkeit aufrecht zu erhalten ist, wie dies seit Saussure die kategoriale epistemologische Trennung von langue (System) und parole geboten erscheinen lässt. Diese leicht zu übersehende, und in der Tat gewöhnlich übersehene Problematik fällt insbesondere dann ins Auge, wenn man, wie Thomas Stehl selbst, getreu der Devise Coserius (1988a) “Über den Strukturalismus hinaus”, zu einer Linguistik der parole vorzustoßen beabsichtigt. Es erweist sich, dass bei dem Bestreben, den Strukturalismus aus sich selbst heraus pragmatisch zu überbieten, eine gewisse Hybridität der Kategorien “emisch” und “etisch” in Erscheinung tritt, die bereits in der epistemologischen Grundkonzeption angelegt war, deren Wahrnehmung jedoch einer disziplinären “Komplexitätsreduktion” (Luhmann 1992) zum Opfer fiel. Ziel dieses Beitrags soll es daher sein, diese Problematik ein Stück weit aufzuarbeiten und damit einer Begriffsklärung zuzuführen, die im Herzen der funktionalen Variations- und Kontaktlinguistik angesiedelt ist. <?page no="63"?> Frank Jablonka 30 2. Damit wird auf eine für den genannten Ansatz zentrale Beschreibungsebene abgezielt, nämlich die der Diskursnormen und -traditionen. In seinen Analysen von vertikalen Kontaktdynamiken zwischen Dialekt und Standard hat Stehl bereits in den frühen neunziger Jahren Explikationsversuche zu dieser variationslinguistischen Begrifflichkeit vorgelegt (Stehl 1992a, b). In der Folgezeit wurde im Sinne der Vorlage ausgereifterer Konzeptionen dieser Begrifflichkeit von Stehl selbst und seiner Schule ausdrücklich auf das Begriffspaar “emisch” und “etisch” rekurriert. Dies trifft insbesondere auf den Band von U. Helfrich und Cl. M. Riehl (1994) zu, in dem Beiträge des damaligen Bremer Tandems Stehl/ Jablonka versammelt sind. Beide Beiträge operieren zeitgleich und im gleichen Sinne mit diesem Begriffspaar zwecks Explikation der Problematik von Diskursnormen und -traditionen, wobei Jablonka (1999) in einem in deutscher und französischer Sprache verfassten Übersichtsbeitrag diesen Gedanken nochmals aufnimmt und dabei sprachphilosophisch und sprachsoziologisch vertieft. Es wird sich im Rekurs auf Pike zeigen, dass es sich lohnt, diesen Gedankenstrang in der genannten Perspektive, die bereits in Jablonka (1994) angeklungen ist, weiterzuführen. 2.1. In einem frühen Aufsatz definiert Stehl (1992b: 257) Diskurstraditionen als “les traditions que l’on respecte dans une communauté linguistique pour la réalisation de la communication orale ou de textes écrits”. Im diesen Sinne handelt sich sich bei Diskurstraditionen ebenso wie bei -normen um durch Konventionalisierung abgesicherte, historisch begründete, sozial verbindliche Verfahren der Textgenese in der Interaktionssituation, die sich aus der Kommunikationsgeschichte einer mehr oder weniger großen Interaktionsgemeinschaft herausdifferenziert und stabilisiert haben und tradiert werden. Stehl verfolgt bei seinen Explikationsbemühungen die Absicht, zu erklären, wie es Sprechern gelingt, in fortgeschrittenen Stadien vertikaler und konvergenter Sprachkontaktdynamiken tertiäre Dialekte als identitätsstiftende Regionalvarietäten des Standards zu erkennen, auch wenn materialiter auf den phonischen und morphosyntaktischen, ja lexikalischen Gliederungsebenen keine auffälligen Interferenzerscheinungen vorliegen. In diesem Falle, wie etwa im Périgord, “leben die Minderheitensprachen und Dialekte […] ‘unter der materialsprachlichen Oberfläche’ fort: wenn auch eine Funktionsübertragung des ‘dialektalen Sprechens’ von den Minderheitensprachen auf die tertiären Dialekte des Standards stattgefunden hat, so bleibt gerade die Übertragung von Diskursnormen und -traditionen der Minderheitensprache in standardseitiges ‘Sprachmaterial’ eine der wichtigsten Dimensionen sprachlicher Identität in ehemaligen Minderheitengebieten.” (Stehl 1994: 138) Dabei werden synchron gegebene hochkonventionalisierte Normen zur Textverfertigung und -gestaltung beim Übergang von der aufgegebenen Minderheitensprache oder primären Dialektvarietät an den sich durchsetzenden Standard weitergegeben, so dass die emergierende (oder emergierte) <?page no="64"?> Zur Differenzierung von “emischen” und “etischen” Kategorien 31 regionale Standardvarietät diese Normen unter diachronem Blickwinkel in Form von Diskurstraditionen inkorporiert. 1 Demnach vollzieht sich nach Auflösung der primären Diglossie in eine Pluriglossie mit mehreren intermediären Interferenzvarietäten die Textgenese in der H-variety nach Prinzipien, die ihr prima facie fremd sind, sondern eigentlich der unterliegenden L-variety angehörten. Die Folge ist, dass die Sprecher “beim materiellen Wechsel in die Zweitsprache zumeist weiter die Regeln der Diskurstraditionen ihrer Erstsprache beachten und dabei Texte (und damit Sprachformen) hervorbringen, die es zuvor in dieser Sprache so nicht gegeben hat.” (Stehl 1994: 139; im Original fett). Dabei betont Stehl (ibid., p. 138), dass Diskursnormen (in synchroner Sicht) bzw. -traditionen (in diachroner Sicht) “in der Trias von ‘System’, ‘Norm’ und ‘Rede’ auf der letzteren Ebene angesiedelt sind”. Stehl erkennt, dass die von seiner Variationslinguistik aufgerissene Linguistik der parole, die einer Pragmatisierung des Strukturalismus entgegensteuert, die epistemologische Opposition von langue und parole als dichotomisches Begriffspaar nicht aufrecht zu erhalten ist. Wenn sich nun herausstellt, dass entgegen der strukturalistischen Tradition, an der während der gesamten Dauer des “kurzen zwanzigsten Jahrhunderts” nicht zu rütteln war, 2 die Konzeptualisierung einer dialektischen Beziehung, oder möglicherweise eines komplementär-polaren Interaktionsverhältnisses weiterführt, ja vonnöten ist, um die komplexen emergenten Sprachkontaktphänomene begrifflich zu fassen, muss in der Tat die Frage nach dem WIE dieser Relation gestellt werden. 3 Diese Frage wirft Stehl unter Rückgriff auf das Begriffs- 1 Dieses Grundprinzip hat sich offenbar auch über konvergente Sprachkontaktdynamiken hinaus in der diachronen Linguistik durchgesetzt; cf. in einem allgemeiner gehaltenen Sinn Gleßgen (2005: 209seq.): “Zu einem gegebenen Zeitpunkt entsprechen der Diskurstradition definierbare Diskursnormen und -regeln, die jeweils die Grundmuster der zugehörigen Textsorten prägen; die diachrone Veränderung dieser Normen wird dann zur Tradition.” 2 In der Tat, folgt man Philippe Blanchets (2003: 287) diachron-wissenschaftstheoretischen Ausführungen, sind die Fortschritte sowohl gegenüber dem Saussureschen Strukturalismus als auch gegenüber der Generativen Transformationsgrammatik gewaltig. Die Fixierung der genannten Ansätze auf Invarianz verleitet unweigerlich und einseitig zum “renvoi des variations « aux marges » -étiques et non -émiques (par exemple le traditionnel renvoi des variations phoniques au niveau phonétique et non au niveau phonologique” (ibid.). 3 Hier geht es terminologisch bunt durcheinander. In der von Hahn (2005: 201) gut nachgezeichneten Diskussion verwirft Hymes eine dichotomische Beziehung zwischen den beiden Termen und lobt Harris, denn dieser “erkennt nach Hymes Ansicht die dialektische Qualität in Pikes Konzept und verarbeitet sie in seiner Feedback-Idee”, was wiederum in die Ethnographie der Kommunikation einfließt. Dabei sollte jedoch, bei aller semantischen Überlappung, vor einer Vermengung der Begriffe “Dialektik” und “Feedback” gewarnt werden. Diese Begriffsverwirrung ist vermutlich ein Echo des Zeitgeists der späten sechziger und frühen siebziger Jahre. Gleichwohl sollte eine geläuterte Version dieses Zeitgeistes deutlich zur Kenntnis nehmen, dass der Kerngedanke, nämlich die Interdependenz von “emisch” und “etisch”, der für den vorliegen- <?page no="65"?> Frank Jablonka 32 paar “emisch” und “etisch” auf (wenngleich ohne sie einer befriedigenden Antwort zuführen zu können): “Betrachtet man die synchronischen Diskursnormen und die diachronischen Diskurstraditionen nun als übergeordnete, emische Kategorie der Sprachdynamik, so stellt sich die Frage nach ihrer Konkretisierung, nach ihrer Realisierung auf der etischen Ebene der Diskurse selbst.” (Stehl 1994: 139; im Original fett) 2.2. Die Tragweite dieser von Stehl aufgeworfenen Fragestellung spiegelt sich in Jablonkas (1994: 189) Formulierung wieder, bei Diskursnormen und -traditionen handle es sich um “emische Einheiten auf der Textebene, die den Sprecher über die jeweils anzuwendende Technik bei der Vertextung von Sachverhalten orientieren”, und zwar hätten diese jeweils Geltung in einer intersubjektiven “Regelbefolgungsgemeinschaft”, 4 deren Sozialität auf der kohäsionsstiften Kraft eines Stocks anerkanntermaßen geteilten Wissens beruhe. Nun gilt diese Textebene als die klassische Domäne der parole, also einer genuin etischen Ebene. Konsequent führt Jablonka (1999) diesen Gedankengang zu Ende: “Diskursnormen lassen sich als emische, d.h. auf der Ebene der langue angesiedelte Entitäten begreifen, die die spezifische Konfiguration der etischen (also der parolebzw. Diskurs-)Ebene steuern.” Quintessenz: Diskursnormen sind emische Entitäten auf etischer Ebene. 5 Wie aber können emische Einheiten auf einer etischen Ebene lokalisiert sein, ohne dass man ein hölzerndes Eisen postuliert? Es tritt damit klar zu Tage, dass sowohl emische als auch etische Einheiten in einem durchaus hybriden Dämmerlicht erscheinen. Diese Feststellung ist keineswegs trivial, und es fragt sich, ob dies an Schwächen liegt, die in dem Stehlschen Ansatz einer funktionalen Variationslinguistik begründet sind, oder ob nicht die Ursachenforschung bei der konzeptionellen Anlage der strukturalistischen Pioniere anzusetzen hat. Zu diesem Zweck erscheint es tunlich, zunächst die Konzeption von K. L. Pike (1967), dem Vater der begrifflichen Unterscheidung von “emisch” und “etisch”, eingehend in Augenschein zu nehmen. 3. Kommt man dieser Empfehlung nach, so sticht ins Auge, dass die Unterscheidung Pikes von “emisch” und “etisch” zunächst nur wenige Zusammenhänge mit der strukturalistischen Differenzierung von langue und parole aufzuweisen scheint. In der Tat erscheint die Motivierung durch die linguiden Zusammenhang zentral ist, klar erfasst ist. Dass es sich in der Tat aufdrängt, von einer dialektischen Beziehung auszugehen, dazu Abschnitt 4.2. 4 D.h. einer habituell in intersubjektiven Kommunikationsbezügen stehenden Gemeinschaft (Jablonka 1994: 194); der Begriff stammt von K.-O. Apel (für Einzelheiten siehe ibid.) 5 In dieser Weise kondensiert bereits in Jablonka (1997: 94): “emische Einheiten, die auf der etischen Textebene realisiert und konkretisiert werden”. <?page no="66"?> Zur Differenzierung von “emischen” und “etischen” Kategorien 33 stischen Termini “Phonetik” und “Phonemik” nur oberflächlich, wie dies das folgende für den vorliegenden Zusammenhang zentrale Zitat nahelegt: The etic viewpoint studies behavior as from outside of the particular system, and as an essential initial approach to an alien system. The emic viewpoint results from studying behavior as from inside the system. (I coined the words etic and emic from the words phonetic and phonemic, following the conventional linguistic usage of these latter terms. The short terms are used in an analogous manner, but for more general purposes.) (Pike 1967: 37) Demnach ist also das entscheidende Kriterium, von welcher Perspektive die Betrachtungs- und Bewertungsmaßstäbe an den Gegenstand herangetragen werden: von der Außenperspektive des Betrachters, der vorgeblich universelle (d.h. in concreto im Regelfall: seine eigenen - etischen) 6 Kategorien anlegt, oder vom internen Standpunkt der jeweils untersuchten Gemeinschaft gemäß der inneren (“emischen”) Logik ihrer jeweiligen Bezugssysteme. Die Unterscheidung zwischen “Phonetik” und “Phonemik” erscheint nur als Spezialfall, wenngleich als ein charakteristischer, dieser übergeordneten Differenz. In der Tat kann ein Phonetiker mit universell einsetzbaren Instrumenten und ubiquitär anwendbaren Verfahrensweisen die artikulatorischen und akustischen Eigenschaften jeder beliebigen Sprache der Welt nach den Regeln der Kunst - seiner Kunst - in sämtlichen Einzelheiten beschreiben. Die für die jeweilige Sprachgemeinschaft gültige Sinnebene hat er damit noch gar nicht tangiert. Die Sinnebene ist immer nur innerhalb der Logik des jeweiligen Systems zugänglich, in diesem Falle von der Innenperspektive der für die Sprechergruppe geltenden Regeln des Phonemsystems, die etwa bestimmt, dass im Französischen / sol/ und / sul/ zwei verschiedene Wörter mit unterschiedlichen Bedeutungen sind, nicht jedoch im Arabischen, wo [o] und [u] Varianten desselben Phonems / u/ sind. Unabhängig von dem auf der emischen Ebene operierenden Phonologen kann der Phonetiker feststellen, dass arab. sul ‘fragen’ und frz. saoûl(es) sehr ähnliche messbare Schalleigenschaften aufweisen. 3.1. Nach diesem Muster beabsichtigt Pike (1967), das gesamte menschliche Verhalten und sämtliche Kultureigenschaften zu erfassen, wofür er das umfassende Konzept einer Tagmemik (in Kombination mit einer “Tagmatik”) genannten integralen scienza nuova (“unified theory”) prägt. Dabei betont Pike, dass, ähnlich wie bei der Unterscheidung der Standpunkte des Phonetikers und des Phonologen, der etische Ansatz für alle Kulturen der Welt gültig ist, der emische dagegen immer nur kulturspezifisch ist. Komparative Orientierungen sind nach Pike daher starr auf der etischen Ebene fixiert. Wenn es daher nicht möglich ist, auf der emischen Ebene verschiedene Systeme, seien sie im strengen Sinne sprachlicher oder im weiteren Sinne kultureller Art, in 6 Hier öffnet sich weit ein Einfallstor für den Ethnozentrismus; cf. Ascher (1989: 102). <?page no="67"?> Frank Jablonka 34 Beziehung zu setzen, ist kaum ersichtlich, wie vom Standpunkt einer Emisch-Etisch-Differenzierung nach den Kategorien der Tagmemik, von der diese stammt, eine funktionale Variationslinguistik, die ja gerade in Beziehung stehende Systeme von innen her zu erfassen trachtet, zu konzeptualisieren wäre. Es müsste dazu gleichzeitig die Innenperspektive vom systeminternen Standardstandpunkt, vom systeminternen Dialektstandpunkt, und schließlich vom systeminternen Interlektstandpunkt eingenommen werden. Pikes Terminologie ist auf derartige Fälle gar nicht zugeschnitten, da er in einem relativ statischen, d.h. synchronistischen Verständnis von Sprachen und Kulturen befangen ist; exogener, also kontaktinduzierter Sprachwandel kommt bei ihm überhaupt nicht in den Blick. Dies lässt Zweifel daran aufkommen, ob die Verwendung der Pikeschen Termini in der funktionalen Variationslinguistik eine glückliche Wahl ist. 3.2. Was diese Feststellung zu erschweren scheint, ist der Umstand, dass diese Probleme augenscheinlich nur bei der der struktural-deskriptiven Tradition verpflichteten Orientierung auftreten, nicht jedoch bei kontaktlinguistischen Arbeiten, die eine kritisch-interventionistische Zielsetzung verfolgen (Alby 2007, Feussi 2004, Lüdi 2007, Robillard 2005; cf. außerdem De Gajo/ Matthey et al. 2004, Mondada 2001). In diesen Fällen wird der Umgang mit den linguistischen Termini auf Grund des Wegfalls der Verpflichtung, der kategorialen Unterscheidung von langue und parole Rechnung zu tragen, in erheblicher Weise entkrampft. So entfällt etwa bei der sprachanthropologischen Untersuchung Feussis die Veranlassung zu einer solchen Abstraktionsleistung, was ihm erlaubt, “emisch” und “etisch” schlicht synonym mit “von der Außenperspektive” nach wissenschaftlichen Kategorien versus “aus der Innenprespektive” nach volkstümlichen Kategorien - jeweils in Bezug auf die beobachtete Gruppe - zu verwenden. Dieser Sachverhalt dürfte mit der “Familienähnlichkeit” (Vorwort Schmitz in Hahn 2005: 5) der Gebrauchsweisen und Bedeutungsnuancen im Zusammenhang stehen, die die Termini “emisch” und “etisch” in den zahlreichen disziplinären und interdisziplinären Diskursen seit Pike angenommen haben. Im vorliegenden Falle war es Dell Hymes (1974, 1979, 1990), dessen Ansatz der “Ethnographie des Sprechens” (später “Ethnographie der Kommunikation”) zu diesem Verständnis in der Sprachwissenschaft nachhaltig beitrug: While Pike’s conception of the emic/ etic contrast was closely tied to principles of structural linguistics (i.e., the determination of complementarity and contrast between significant units), these subtleties of usage have largely disappeared in later anthropological writings. (Winthrop 1991: 93) 3.3. Hierbei treten nun freilich andere Schwierigkeiten zu Tage, vor denen die funktionale Variationslinguistik, allerdings unter Verwendung einer völlig anderen Begrifflichkeit, zu Recht warnt. In einer mit der Feussis vergleichbaren Stoßrichtung wirft Lüdi (2007) die berechtigte Frage auf, ob <?page no="68"?> Zur Differenzierung von “emischen” und “etischen” Kategorien 35 transkodische Markierungen, und allgemein das “parler bi-” bzw. “plurilingue”, emische oder etische Kategorien seien. Abgesehen davon, dass sie, je nach Standpunkt, zweifellos beides sind, plädiert Lüdi dafür, diese keinesfalls zu vermischen, d.h. dem Sprecherverhalten keine von außen angelegten Kategorien aufzupfropfen, sondern gemäß ihrer eigenen soziokulturellen Maßstäbe zu erfassen und zu bewerten. In der strukturalen Analyse entspricht dies dem Verdikt, den Sprecherkategorien Linguistenkategorien unterzuschieben und damit das, was zur Sprache gehört, mit dem, was zur Linguistik gehört, zu vermengen. Die Frage, die Françoise Gadet (2007: 25), die sich auf einen von Coseriu inspirierten variationslinguistischen Standpunkt stellt, aufwirft, findet daher eine ebenso einfache wie eindeutige Beantwortung: “S’il y a décalage entre la perception de l’usager et l’analyse de l’expert, jusqu’où faut-il les opposer (perspective émique vs étique)? ” Selbstverständlich hat sich die Linguistik in ihrer Kategorisierungtätigkeit nach den Kategorien der Sprecher zu richten, und nicht umgekehrt, denn die Sprecherkategorien sind Gegenstände der Sprachwissenschaft selbst. Ersichtlichermaßen hat die funktionale Variationslinguistik nach der von Feussi und Lüdi gebrauchten Terminologie die “emische” Innenperspektive bereits fest in ihre “etischen” Beschreibungskategorien integriert. Demnach greift der Stehlsche Ansatz auch der Forderung Robillards (2005) voraus, der eine echte “emische” Linguistik fordert, die im Sinne eines sprachanthropologischen (entsprechend Feussi 2004: 27, im Anschluss an Calvet: sprachökologischen) Ansatzes gemäß der dialogischen Einsicht, dass die Wahrheit zu zweit beginnt, über die rein strukturell-oppositive Bedeutungsebene hinausgeht und identitäre Implikationen in die emische Ebene einbezieht. Mit einer ähnlich gelagerten Stoßrichtung empfiehlt Alby (2007: 300) aus sprachdidaktischer Perspektive, in Bezug auf die plurilinguale Situation in Guyana solle man “accorder une place fondamentale à la dimension émique, à la façon dont les situations plurilingues ‘sont vécu[e]s dans les actes mêmes des personnes qui se trouvent impliquées’ dans ces situations”. Eine von den emanzipatorischen Impulsen der Ethnographie der Kommunikation inspirierte sprachdidaktische Orientierung hat hierzu gewiss gute Gründe. In der Tat dürften in Frankreich Vertreter der Linguistique Appliquée (cf. exemplarisch Bono 2007: 28, dort weitere Literatur) weitestgehend mit Robillard darin übereinstimmen, dass auf keinen Fall eine Linguistik anzustreben ist, qui essaie désespérément de gommer la présence de l’observateur en essayant à toute force de reconstruire le point de vue de l’acteur social « pur », mais une approche qui, assumant son geste créateur, essaie de faire participer des acteurs sociaux à cette création, le rôle du chercheur ne se bornant pas à être simplement un impossible « greffier » du réel qui n’existe pas sans observateur, mais un interactant qui, avant de donner sa réponse, essaie déjà de bien penser à sa question et à sa formulation même, en se demandant quelle en est la pertinence pour la société à laquelle il participe. (Robillard 2005: 148) <?page no="69"?> Frank Jablonka 36 Wie man sieht, läuft dies auf ein entgegengesetztes Verfahren hinaus, allerdings mit denselben Konsequenzen: Nicht die “etische” Verfahrensweise des Linguisten soll die “emische” Betrachtungsweise integrieren, sondern die “etische” Sprachwissenschaft soll durch Einnahme der “emischen” soziokulturellen Innenperspektive selbst “emisch” werden. Allem Anschein nach sind hier die Begriffe “emisch” und “etisch” miteinander vertauscht worden, ohne dass sich der Gesamtsinn ändert. Wenn nun aber der eine Term durch den anderen ohne manifeste Bedeutungsänderung ersetzt werden kann, so drängt sich nach den Regeln der strukturalen Kommutationsprobe der Schluss auf, dass keine semantische Opposition besteht, sondern dass es sich um zwei fakultative Varianten für den Ausdruck desselben Sachverhalts handelt. Wir stehen damit vor einem weiteren Problem. Es ist im Folgenden zu begründen, dass dieses Problem der epistemologischen Anlage der Gegenüberstellung von emischen und etischen Kategorien bereits bei Pike selbst entspringt. 3.4. So räumt Pike von vornherein ein, dass zwischen “emisch” und “etisch” keine rigorose dichotomische Trennung besteht, sondern die beiden Terme “describe behavior from two different standpoints, which lead to results which shade into one another.“ (Pike 1967: 37) In der Tat gaben und geben die Begriffsinhalte von “emisch” und “etisch” auf Grund weitreichender Überlappungen zu erheblichen Konfusionen Anlass. Pike (1967: 75) gerät bei seiner tagmemischen Analyse eines Gottesdienstes in Schwierigkeiten, wenn er versucht, das Segment, das mit dem Aufstehen des Vorsängers und der Gemeinde zum Singen beginnt, als emisch oder als etisch zu klassifizieren, und muss feststellen, dass dieses Segment beiden Kategorien zugleich angehört (für die Diskussion von derlei Inkohärenzen bei Pike selbst cf. Müller 2001: 60seqq). Beim Frühstück und bestimmten Mannschaftssportarten ergeben sich analoge Schwierigkeiten. Für Müller (ibid., p. 66) ist die Emisch- Etisch-Unterscheidung (wenn überhaupt) nur in jenen begrenzten Spezialbereichen sinnvoll und zulässig, in denen ein natürlich gegebenes Substrat vorliegt, das selbst bereits über eine binäre Organisation verfügt, die zu einer Taxonomie von sich aus geradezu einlädt. Hierfür seien der lautliche Bereich in der Sprachwissenschaft und die Verwandtschaftsbeziehungen, wie sie in der Strukturalen Anthropologie (Lévi-Strauss 1977) in Anlehnung an die Phonologie Trubetzkoys untersucht werden, Paradebeispiele: “Zwischen Phonetik und Etik der Verwandtschaft besteht eine auffällige Parallele, die bei allen anderen […] Beispielen fehlt: beide rekurrieren auf ein natürlich Gegebenes. Für die Phonetik ist das der Bau des menschlichen Sprachapparates, für die Verwandtschaft die binären Bedingungen der geschlechtlichen Fortpflanzung.” (Müller 2001: 66) Texte bzw. Diskurse sind, im Gegensatz zu der Auffassung Lévi-Strauss‘ (1977: 99) hiervon ausgenommen, da hier diese Voraussetzungen offensichtlich nicht vorliegen, was <?page no="70"?> Zur Differenzierung von “emischen” und “etischen” Kategorien 37 der begrifflichen funktional-variationslinguistischen Begriffskonzeption von Diskursnormen und -traditionen nicht unbedingt entgegenkommt. Überdies bemerkt Ascher (1989: 101), dass auch der Standpunkt des Außenstehenden seine emische Dimension hat, der sich, einmal von außen herangetragen, eingenistet, einer genuinen, “autochtonen” emischen Perspektive entgegenstellen mag. Wie Marvin Harris (1976: 10) berichtet, hat Lévi-Strauss dies in einem Vortrag in einer Weise radikalisiert, deren Affinitäten zu der oben aufgezeigten Konfusion geradezu frappant sind: “Le seul véritable niveau ‘étique’ est le niveau ‘émique’” (zitiert ibid.). 7 Es soll im Folgenden versucht werden, etwas Ordnung in dieser Unübersichtlichkeit zu schaffen. 4. Lévi-Strauss hat die Emisch-Etisch-Problematik auf originelle Weise in seinem Buch Le regard éloigné (1983: 161seqq) diskutiert, und zwar in der Absicht, diese ein für allemal zu den Akten zu legen. Dafür führt er vom Standpunkt eines ontologischen Strukturalismus in der Tat gewichtige Gründe an. Er stützt sich dabei auf Befunde der sowjetischen Psycholinguistenschule (Luria), wonach die akustische Sprachwahrnehmung nicht ganze Laute erfasst; vielmehr werde der Lautstrom in distinktive Merkmale analysiert. Nun liegen die wahrgenommenen distinktiven Merkmale, fernab von mentalistisch-idealistischen Abstraktionen und Spekulationen, unbestreitbar auf einer sehr konkret physisch-empirischen Ebene, also auf just jener Ebene, für die nach der gängigen strukturalistischen Terminologie nach Pike der Terminus “etisch” reserviert ist, ohne dass zugleich den distinktiven Merkmalen ein logischer (“emischer”) Status abzusprechen wäre. Mit analogen Argumenten zur visuellen Wahrnehmung gelingt es Lévi- Strauss damit zunächst, den Strukturalismus in der Nachfolge seiner amerikanischen Ausprägung in Widersprüche zu verwickeln. Die Schlussfolgerung ist, dass der menschliche “Geist” - wir würden heute eher von Kognition sprechen -, den die ihrerseits nach ihren jeweiligen Strukturprinzipien der differenziellen Merkmalanalyse funktionierenden Sinnesorgane mit bereits vorstrukturierten (und daher schon in diesem Stadium auf der “emischen” Ebene lokalisierten) Sinnesdaten versorgen, selbst bereits von Natur aus im Wesentlichen “relativ homogen” (Lévi-Strauss 1977: 93) nach universellen Prinzipien vorstrukturiert ist und daher a priori durch und durch emisch ist. 8 Gleiches gilt infolgedessen für die Gegenstände, insofern sie uns 7 Wobei der Anthropologe Harris diese Auffassung freilich keineswegs teilt. 8 Die Idee einer prinzipiellen binären Strukturierung der (nicht nur) menschlichen Kognition findet neurowissenschaftliche Schützenhilfe beim Konstruktivismus (“Prinzip der undifferenzierten Codierung”, von Foerster 1990: 138), wonach die Nervenzellen nur zwei Grundzustände kennen: Feuern oder Nicht-Feuern. Wenn dies die Frage ist, und der menschliche Geist nach dem reinen Prinzip eines binären informatischen Logaritmus mit den beiden distinktiven Werten 0 und 1 arbeitet, so ergibt sich nach konstruktivistischer Auffassung gleichwohl eine unendlich größere Offenheit und Variabi- <?page no="71"?> Frank Jablonka 38 gegeben sind und in unserer Wahrnehmung der durch unseren Geist vorgegebenen Strukturierung folgen: Le niveau “émique” est, au contraire, 9 celui où les opérations sensibles et le fonctionnement le plus intellectuel de l’esprit se rencontrent et, se fondant ensemble, expriment leur commune adéquation à la nature du réel. Loin de voir dans la structure un pur produit de l’activité mentale, on reconnaîtra que les organes des sens ont déjà une activité structurale et que tout ce qui existe en dehors de nous […] possède des caractères analogues. Puisque ces structures, les unes externes, les autres internes, ne se laissent pas appréhender au niveau “étique”, il en résulte que la nature des choses est d’ordre “émique”, non “étique” (Lévi-Strauss 1983: 162seq). 4.1. Allerdings folgen in der Konzeption Lévi-Strauss’ weniger die durch den “Geist” für uns geschaffenen Gegenstände dessen strukturellen Konstruktionsprinzipien, 10 sondern umgekehrt folge der Geist in seinen Bauprinzipien den in die Welt eingeprägten Prinzipien. Wäre nicht der Geist der Welt wesensverwandt, so wäre diese für ihn gar nicht fassbar: Quand l’esprit se saisit des données empiriques préalablement traitées par les organes des sens, il continue à travailler structuralement […] une matière qu’il reçoit déjà structurée. Il ne pourrait le faire si l’esprit, le corps auquel l’esprit appartient, et les choses que le corps et l’esprit perçoivent, n’étaient partie intégrante d’une seule et même réalité. (Lévi-Strauss 1983: 163; cf. im selben Sinne die Ausführungen pp. 164seq) Lévi-Strauss (1975: 28) zitiert in diesem Zusammenhang Goethe (aus “Die Metamorphose der Pflanze”): “Alle Gestalten sind ähnlich, und keine gleichet der andern / Und so deutet das Chor auf ein geheimes Gesetz.” Die Suche nach universellen (“emischen”) für Geist und Welt homologen und damit diese verbindenden Strukturprinzipien führt Lévi-Strauss zu einer Wahlverwandtschaft mit Goethe, zu der in der Linguistik im übrigen auch der mit strukturalen Analyseverfahren operierende Helmut Gipper (insbesondere in seinen Bausteinen) gelangt, der folgendes Zitat in aller Ausführlichkeit diskutiert und als Beleg für seine neo-humboldtschen Konzeption einer sprachlichen “Zwischenwelt” zwischen dem Geist und den Gegenlität als bei Lévi-Strauss, in dessen Perspektive die beobachteten Phänomene letztlich nur verschiedene Spielarten des überhistorisch Gleichen sind. 9 D.h. im Gegensatz zu “des auteurs imbus d’un matérialisme mécaniste et d’une philosophie sensualiste” (ibid., p. 162), für die die “etische” Ebene die einzig reale, oder jedenfalls doch entscheidende sei. Lévi-Strauss nimmt hier primär den Anthropologen und Pikes amerikanischen Widerpart Harris aufs Korn (cf. Harris 1980; direkt gegen Lévi-Strauss cf. Harris 1976). 10 Konsequenterweise würde Lévi-Strauss eher von Rekonstruktion sprechen: “A partir de toutes ces informations, le cerveau reconstruit […] des objets qui ne furent pas perçus comme tels.” (Lévi-Strauss 1983: 161) Offenbar ist diese Grundorientierung von Husserl aus über Jakobson allgemein in den Strukturalismus gewandert, cf. Holenstein (1976: 20). <?page no="72"?> Zur Differenzierung von “emischen” und “etischen” Kategorien 39 ständen, kraft welcher letztere in das Eigentum des ersteren “umgeschaffen” würden, verwendet: “Wär nicht das Auge sonnenhaft, / Die Sonne könnt‘ es nie erblicken! ” 11 Dieser kurze Auszug ließe sich im Sinne Lévi-Strauss‘ als Motto einer Universal-Emik wie folgt umformulieren: Wären nicht der Geist und die Sprache naturhaft, die Welt könnten sie niemals erfassen. Über Goethe treffen sich Lévi-Strauss und Pike, dessen linguistische Tätigkeit von missionarischen Motiven angetrieben war und in tief religiösen Glaubensgrundsätzen verwurzelt war. Hinter seinem universalen strukturellen Ansatz, der die Grundprinzipien menschlichen Verhaltens integral zu erfassen und zu erklären trachtete, steckt letzten Endes die Suche nach dem Weltbauplan des “ultimate designer” (Hahn 2005: 119). In der gleichen Weise forscht Lévi-Strauss, wenn nicht nach der Weltformel, so doch gewissermaßen nach dem emischen ‘Quellcode’, einer Art mathesis universalis aller kulturellen Codes, die in menschlichen Gesellschaften vorliegen mögen. Lévi- Strauss‘ (1983: 164) erklärtes Ziel ist dabei, einen überkommenen metaphysischen Dualismus zu überwinden, der in der Emisch-Etisch-Unterscheidung widerhallt. 12 Wenn der hier diskutierten Begriffsdyade der Term “etisch” amputiert wird, wird die Gesamtgestalt der binären Unterscheidung hinfällig: “Wenn man, nach dem üblichen wissenschaftlichen Sprachgebrauch, ‘emisch’ auf die distinktiven Merkmale beschränkt, alles andere ignoriert und aus dem Begriff ‘etisch’ jeden Bezug auf den Zweck der beobachteten Lauterscheinungen ausschließt, verliert die Dyade emisch-etisch jede Verwendbarkeit für die moderne Sprachwissenschaft.” (Jakobson/ Waugh 1986: 51) Übrig bleibt damit allein ein allumfassender und unhintergehbarer Strukturmonismus. Insofern ist der Strukturalismus in der Lévi- Strauss’schen Prägung zu Recht als ein ontologischer zu bezeichnen, wie Umberto Eco (1972) dies tut. 4.2. Im Gegensatz zu dem Missverständnis, das der italienische Originaltitel La struttura assente suggerieren mag, bestreitet Eco (1972) nicht grundsätzlich die wissenschaftliche Legitimität des Postulats von Strukturen sprachlicher Codes oder anderer Zeichensysteme und damit die prinzipielle Berechtigung des Strukturalismus. Allerdings unterscheidet Eco den problematischen ontologischen Strukturalismus, als dessen Hauptvertreter er Lévi- Strauss identifiziert, von einem heuristisch zunächst durchaus berechtigten methodologischen Strukturalismus, der das Vorliegen von Strukturen nicht in re, sondern nominalistisch gewissermaßen als nützliche Fiktion ansieht 11 Das Gedicht “Zahme Xenien” (Goethe 1988: 645), dem das Zitat entnommen ist, wird bei Goethe wie folgt fortgesetzt: “Läg‘ nicht in uns des Gottes eigne Kraft, / Wie könnt‘ uns Göttliches entzücken? ” 12 Cf. Lévi-Strauss (1983: 164): “unifier les perspectives que, depuis deux ou trois siècles, une vision scientifique trop étroite tenait pour incompatibles: sensibilité et intellect, qualité et quantité, concret et géométrique […], ‘étique’ et ‘émique’.” <?page no="73"?> Frank Jablonka 40 (cf. Eco 1972: 362). Das von Eco (ibid., 63) formulierte Problem lautet wie folgt: “Ist die so definierte Struktur eine objektive Realität oder eine operationelle Hypothese? “ Ähnlich wie Derrida (1990) in seiner Debatte mit Searle plädiert Eco gegenüber Lévi-Strauss für eine Verflüssigung von sprachlichen Strukturen. Während Lévi-Strauss (1983) davon ausgeht, dass die Heisenbergsche Unschärferelation für die Sozialwissenschaften nicht gelte, weil sich die beobachteten und beschriebenen Strukturen durch die Beobachtung und die Beschreibung nicht änderten, ist dies einer der entscheidenden Punkte, die Eco, im übrigen völlig d’accord mit Derrida, bestreitet: “dass, jedesmal wenn eine Struktur beschrieben wird, sich etwas im Universum der Kommunikation ereignet hat, das diese Struktur nicht mehr völlig glaubwürdig macht.” (Eco 1972: 132; im Original kursiv). Demnach besteht also zwischen der emischen und der etischen Ebene tatsächlich eine dialektische Beziehung, und nicht nur ein Rückkopplungsverhältnis (im Gegensatz zu Gleßgen 2005: 207, der hier zu schwach argumentiert): “Auf der Ebene der parole können wir die langue erschüttern und uns so aus der Gefangenschaft befreien, in der uns die langue hält.” (Eco 1972: 177) Weiterführend ist allerdings Gleßgens (ibid.) Einsicht, dass es sich um einen Aspekt der energeia handelt, der hier zur dynamischen Entwicklung der Diskursnormen zu -traditionen beiträgt. 13 Die emischen Einheiten können sich eben deswegen fortentwickeln, weil sie auf derjenigen Ebene angesiedelt ist, wo die wirkende Kraft im konkreten pragmatischen Sprechakt greifen kann, nämlich der etischen. Wir sind hier mit der Identität eines Gegensatzpaares konfrontiert, deren Synthese eben diejenige Dynamik darstellt, die die diachrone Sprachwissenschaft interessiert, nämlich Sprachgeschichte, in diesem speziellen Falle historische Pragmatik. Die oben erwähnte Hybridität von Diskursnormen und -traditionen in Bezug auf ihre emisch-etische Klassifikation hat also durchaus ihr klar identifizierbares fundamentum in re, das sich semiotisch schlüssig spezifizieren lässt. 4.3. Damit ist das Problem jedoch noch nicht gelöst. Ebenso abwegig wie das Postulat ubiquitärer hart kodifizierter ontogenetischer Grundstrukturen, deren Observanz zu einer weitreichenden Immobilität in den sprachlichen bzw. allgemein sozialen Codes führt und zur Aufgabe der Emisch-Etisch- Unterscheidung führt, ist die Annahme Ecos, wonach das Emische im Etischen löslich sei. Danach hätte die kreative Dynamik der energeia die reproduktive und stabilisierende dynamis gewissermaßen aufgesogen. Suchen wir nun innerhalb dieser beiden polaren Auffassungen selbst nach Wegen, diesem Dilemma zu entkommen. 13 Im Gegensatz zur dynamis, der der reproduktive (und stabilisierende) Anteil zukommt. Zur Einbettung der vorliegenden Betrachtungen in den sprachtheoretischen Ansatz (“Doxa”! ) Coserius cf. die Diskussion in Gleßgen (2005: 218). <?page no="74"?> Zur Differenzierung von “emischen” und “etischen” Kategorien 41 4.3.1. Einer der interessantesten Aspekte im Ansatz von Lévi-Strauss (1975, 1977), der hier weiterführen sollte, ist die Konzeption mehrstufiger Codes. So fänden sich etwa in der Mythologie diskursive Codes zweiter Ordnung, die dem primären sprachlichen Code, wie er von der strukturalen Linguistik beschrieben wird, überlagert sind. In der Tat drängt sich die Annahme mehrstufiger Codes zwingend auf, wenn man nach dem universellen ‘Quellcode’ des menschlichen Geistes sucht, der die “transzendentale Matrix” (Eco 1972: 171) für alle soziokulturellen Codes (nicht nur sprachliche) abgibt. In diesem Falle ist ein logischer regressus ad uterum (Matrix) vonnöten, der eine hierarchische Gradation von typologisch übereinandergelagerten und auseinander hervorgehenden, verschiedenen logischen Ordnungen angehörenden Codes sichtbar macht. 4.3.2. Das im Folgenden zu Grunde gelegte regressive Prinzip des universalstrukturalen retour aux sources wird bei Eco (1972: 364seq) gut nachvollziehbar dargestellt und ausgiebig diskutiert. In dem Unterfangen, dieses Prinzip auf unsere Problematik anzuwenden, sehen wir uns durch die Reflexion eines so wenig metaphysisch-spekulativen, vielmehr durch die Praxis empirischer Felderfahrungen nach sozialwissenschaftlichen Methoden geprägten Kommunikationswissenschaftlers und Anthropologen wie Yves Winkin (2001: 96) ermutigt: Certes, une régression à l’infini s’engage dès le moment où l’on adopte la distinction entre langage-objet et métalangage, entre description émique et description étique, puisque le métalangage est nécessairement produit par une culture donnée, devenant ainsi langage-objet d’un métalangage d’ordre deux et ainsi de suite. Mais le passage essentiel est celui du premier langage-objet au premier métalangage. 4.3.3. Über Ecos Analyse in diesem Sinne hinausgehend ist nach meinem Verständnis eine typologische Differenz im Sinne der Russellschen Typenlehre zu konstatieren, wonach etwa eine Klasse auf einem logischen Typ höherer Ordnung steht als ihre Elemente, was sich daran erweist, dass eine Klasse sich nicht selbst als Element erhalten kann, da ansonsten Paradoxien auftreten (Whitehead/ Russell 1986; cf. die auf kommunikative Phänomene bezogene ausführliche Diskussion in Jablonka 1998: 144seqq). Dieselbe logische Typendifferenz besteht zwischen token und type, Phon und Phonem, Morph und Morphem … etisch und emisch. Während Umberto Eco von einer Art Ur-Code spricht, “durch den andere, darunter liegende Codes definiert und benannt werden” (Eco 1972: 365; kursiv durch F.J.), erscheinen in meinem Stufenschema (siehe Anhang) diese Codes als von dem auf dem “Punkt A” lokalisierten ‘Quellcode’ aus grafisch aufsteigend, entsprechend dem wachsenden Grad an sozialem, und damit geschichtlichem Sinngehalt. An der Sache ändert dies jedoch nur wenig, und vor allem lässt sich die <?page no="75"?> Frank Jablonka 42 allenthalben anzutreffende Konfusion von “emisch” und “etisch” dadurch in den Griff bringen, indem man deutlich macht, dass das, was auf einem gegebenen Niveau als “emische” Einheit erscheint, das “etische” Rohmaterial auf der nächsthöheren typologischen Ordnung abgeben kann. Konzediert man Lévi-Strauss etwa, dass die Sinnesreize durch die binär-differenzielle Organisation der Sinnesorgane bereits vorstrukturiert (und daher auf dieser Ebene “emisch”) sind, so geben sie doch vom Standpunkt der kortikalen Verarbeitung, der ein strukturelles Organisationsniveau ungleich höherer Ordnung zuzusprechen ist, lediglich die “etische” Grundsubstanz ab. Umgekehrt mag die mathesis universalis, die die allgemeine Struktur der Welt (“an sich”) hinter der “Mannigfaltigkeit der Erscheinungen” (Kant) 14 repräsentiert, zwar von dieser Ebene aus gesehen “emisch” sein, sie wäre jedoch vom Standpunkt der Sinnesreize, für die diese lediglich den Baustoff liefert, als “etisch” zu klassifizieren. Es ist zu beachten, dass diesem Schema der von allen Autoren (von Pike an) geteilte Konsens zugrunde liegt, wonach die Grundunterscheidung der Leitdifferenz zwischen Innenperspektive (“emisch”) und Außenperspektive (“etisch”) folgt. Nach dieser Lesart ist es etwa keineswegs absurd, die Strukur des menschlichen Geistes als eine “emische” Entität zu charakterisieren, die quasi den “etischen” Einheiten physiologischer Sinnesreize ‘aufgesattelt’ ist. Dieses Verständnis lässt sich für alle Ebenen sowohl in aufsteigender als auch in absteigender Richtung mutatis mutandis fortsetzen. Nun wird auch deutlich, was daran auszusetzen ist, wenn man Diskursnormen und -traditionen, schematisch gesprochen, als emische Einheiten auf der etischen Ebene ansieht: Hier werden umgangssprachlich die verschiedenen Ordnungen der logischen Typen (im Sinne Russells und Whiteheads) miteinander vermengt. Es soll daher versucht werden, dies für den vorliegenden Fall, der uns als Variationslinguisten in besonderem Maße angeht, in präziser Form wie folgt umzuformulieren: Diskursnormen und -traditionen sind Abstraktionsprodukte, die aus der schematisierten Sedimentierung empirischer (“etischer”) Texte als soziale Institutionen (“emisch”) hervorgehen, von jenen fortwährend reproduziert und stabilisiert werden (dynamis), aber ebenso stets aufs Neue - à la merci de la réfutation prochaine - in Frage gestellt, umstrukturiert und gar neubegründet werden. Diese Formulierung trägt der Dialektik der beiden logischen Typenebenen deutlich Rechnung und lässt mit der wünschenswerten Präzision die Grundprinzipien pragmatischer Geschichtlichkeit zu Tage treten. In den Worten Alfred Schütz‘ (1982: 112), der sich bemüht, die Emergenz sozialer Institutionen durch typisierende und regressive Sedimentierung von biografischen Einzelerfahrungen zu konzeptualisieren, 14 Zu Ricœurs Definition von Lévi-Strauss‘ Ansatz als “Kantianismus ohne transzendentales Subjekt” cf. Eco (1972: 372), Holenstein (1975: 55). Zu Pikes diesbezüglichen Anleihen bei Kant siehe Hahn (2005: 156, 172). <?page no="76"?> Zur Differenzierung von “emischen” und “etischen” Kategorien 43 hat der von uns sogenannte zuhandene Wissensvorrat seine Geschichte, die man als die Sedimentierung früherer Erfahrungen interpretieren kann. […] Wenn wir den Konstitutionsvorgang der Sedimentierung unseres gerade zuhandenen Wissens analysieren, werden wir immer auf eine vorhergehende biographisch bestimmte Situation zurückgeführt mit ihrem damals eigenen zuhandenen Wissensvorrat. 15 4.3.4. Ich sehe nicht, was dagegen spricht, dieses Schema auf einem noch höheren Abstraktions- und Allgemeinheitsgrad fortzuführen. Wenn Gleßgen (2005: 209) auf der historischen Ebene feststellt, “[e]ine Text- oder Diskurstradition […] entspricht der Gesamtheit der Äußerungen einer bestimmten Textsorte (oder eines Diskurstyps) über die Zeiten hinweg”, so lässt sich von einem übergeschichtlichen Standpunkt mutatis mutandis in Bezug auf den Textkosmos formulieren, dass es sich bei diesem um die Gesamtheit der Textnormen und -traditionen in der Logosphäre (als Komponente des Noosphäre) handelt. Die “emische” Struktur des transhistorischen Textkosmos wäre damit diejenige typologische Ordnung, die auf den Diskursnormen und -traditionen, auf die “etische” Ebene degradiert, aufsattelt. 5. Einer der sprachphilosophischen Fragen die sich aus dem vorliegenden Versuch der “Diskursnormen und -traditionen revisited” ergeben, die aber im Kielwasser sowohl des anthropologischen Strukturalismus als auch der in den Poststrukturalismus überleitenden Semiotik Umberto Ecos in dem vorliegenden empirischen Text nicht beantwortet, sondern lediglich als Ausblick aufgeworfen werden kann, wäre die, ob es einen Punkt gibt (und wenn ja welchen), an dem sich der Punkt A mit dem Punkt , der universelle ‘Quellcode’ (mathesis universalis) mit dem transhistorischen Textkosmos berührt. Diese Frage tangiert in einem allgemeinen Sinne das Verhältnis der empirischen Geschichtswissenschaft zur Universalgeschichte, in Bezug auf die Sprachwissenschaft das zwischen (nicht nur pragmatischer) Sprachgeschichte und (nicht nur diachroner) Universalienforschung. 15 Cf. Schütz/ Luckmann (1994: 29) “Jedes lebensweltliches Auslegen ist ein Auslegen innerhalb eines Rahmens von bereits Ausgelegtem, innerhalb einer grundsätzlich und dem Typ nach vertrauten Wirklichkeit”. Im Lichte des folgenden Zitats von Pike (1967: 37), dem in der Tat eine Hierarchie von mehreren übereinander gelagerten emischen Ebenen vorzuschweben scheint, dürfte sich diese prinzipielle Aussage auf eine allgemeinere Ebene hin verlängern und iterieren lassen: “The etic view does not require that every unit be viewed as part of a larger setting. The emic view, however, insists that every unit be seen as somehow distributed and functioning within a larger structural unit or setting, in a hierarchy of units and hierarchy of settings as units.” A fortiori gilt dies für den hier vorgelegten Ansatz einer dialektisch integrierten emisch-etischen Perspektive (die damit im Übrigen der Forderung von Dell Hymes - cf. Abschnitt 2.1. - nachkommt). <?page no="77"?> Frank Jablonka 44 Die in diesem Beitrag behandelte Thematik zeigt exemplarisch, dass der variationslinguistische Ansatz zur Beschreibung kontaktinduzierter Sprachdynamiken Schätze birgt, die nicht nur noch längst gehoben sind, sondern die überhaupt erst noch zu identifizieren sind. Dies gilt auch für die phänomenologische Explikation der Diskursnormen und -traditionen, zu der zwar in meinen eigenen Vorarbeiten (Jablonka 1994 und 1999) Ansätze bestehen - und die auch im vorliegenden Beitrag gelegentlich anklingt -, die aber vorerst weiterhin ihrer Ausführung harrt. Wenn der Strukturalismus, zumindest in Europa, aus der Phänomenologie entsprungen ist (Holenstein 1975, 1976), so sollte die Phänomenologie ebenfalls hinreichend Anhaltspunkte bieten, um über ihn hinaus zu wachsen. Dies würde im Übrigen auch ein konzeptionelles und methodologisches Arsenal an die Hand geben, um die noch unausgeschöpften Explanationspotentiale für eine engagierte und emanzipatorische Soziolinguistik, die die terminologische Differenzierung “emischer” und “etischer” Kategorien wie oben (Abschnitt 3.2.-3.3.) gesehen eröffnet, nutzbar zu machen. Sich diese nicht leisten zu können, können die Romanische und Allgemeine Sprachwissenschaft sich wahrlich nicht leisten. Bibliographie Alby, Sophie (2007): “Place ‘officielle’ du français à l’école et place ‘réelle’ dans les pratiques des acteurs de l’école. Conséquences pour l’enseignement en Guyane”, in: Isabelle Léglise / Bettina Migge (Eds.), Pratiques et représentations linguistiques en Guyane. 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Dieses herkömmliche Bild hat jedoch in den letzten Jahrzehnten eine deutliche Veränderung erfahren (cf. Helbig 1998: 1), wozu Untersuchungen zu Grenzbereichen nicht unerheblich beigetragen haben dürften. Forschungen zur Lexikalisierung und zur Grammatikalisierung haben dazu geführt, die Verschiebung der Grenzen zwischen Lexik und Grammatik als Prozesse des Sprachwandels zu erklären. Dabei erweist sich jedoch die Einordnung bestimmter Entwicklungen als Lexikalisierung oder Grammatikalisierung als problematisch. Im Folgenden soll dieses Problem im Hinblick auf einige Topik- und Fokusmarker in romanischen Sprachen diskutiert und eine Lösung versucht werden. 1. Lexikalisierung oder Grammatikalisierung: ein Kontinuum Der Terminus Lexikalisierung ist für zwei grundsätzlich verschiedene Forschungsgegenstände genutzt worden. Synchronisch betrachtet versteht man unter Lexikalisierung die Kodierung konzeptueller Kategorien, während unter diachronischem Gesichtspunkt damit die Aufnahme sprachlicher Elemente ins Lexikon verstanden wird, durch die sie gleichzeitig außerhalb der produktiven Regeln der Grammatik verankert werden. So wurde das italienische allarme lexikalisiert und steht heute nicht mehr in Beziehung zur produktiven Verbindung innerhalb der Präpositionalgruppe (Präposition a + Artikel le + Plural von arma). Die Bedeutung eines lexikalisierten Wortes ist nicht aus der Bedeutung seiner Bestandteile zu erkennen; im Fall von allarme gibt die etymologische Umschreibung ‘zu den Waffen’ keinen Aufschluss über die heutigen Bedeutungen des Wortes ‘Alarm, Warnung’, ‘Alarmanlage’, ‘Warnton’, ‘Angst’, ‘Notbremse’, ‘Unruhe’. Ein lexikalisierter Ausdruck wird von den Sprechern nicht mehr analysiert, da auf ihn als Ganzes zuge- <?page no="83"?> Gerda Haßler 50 griffen wird. Nicht analysierte Ausdrücke werden nicht in ihrer inneren Struktur gebraucht, die daher zerstört werden kann. Die Verwendung von nicht analysierten Ausdrücken setzt deren Inventarisierung im Lexikon der Sprache voraus, da ihre Bedeutung sonst nicht mehr erschlossen werden kann. Die Zerstörung der “relativen Motivation” der Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat ist nach Lehmann (2002) das definierende Kriterium der Lexikalisierung, das sie von der Grammatikalisierung unterscheidet. Lexikalisierung ist außerdem typischerweise ein Reduktionsprozess, in dem der Signifikant vereinfacht wird (cf. *hiu tagu ‘an diesem Tage’ > ahd. hiutu > nhd. heute, ae. hloaf-weard ‘Brot-Wärter’ > lord). Lexikalisierung wird als Entwicklung, in der neue lexikalische Einheiten entstehen, in der Regel auf Wortbildungsprozesse, Fusionsprozesse, die zu geringerer Kompositionalität führen, und Separationsprozesse, in deren Folge die Autonomie als lexikalische Einheiten anwächst, bezogen. Auch der Terminus Grammatikalisierung wird sowohl auf synchrone als auch auf diachrone Gegebenheiten angewandt. Synchronisch erscheint Grammatikalisierung als morphosemantisches oder diskurspragmatisches Element (z.B. das zu einer einheitlichen Partikel gewordene I think, cf. Brinton / Traugott 2005: 22, Aijmer 1996). Diachronisch geht es dabei um die Untersuchung, wie lexikalische Elemente unter teilweisem Verlust ihrer lexikalischen Bedeutung grammatische Funktionen erfüllen können. Grammatikalisiert wird also ein Konzept oder eine Operation, die der Bildung von Ausdrücken nach Regeln dienen, also dem analytischen Zugriff dienstbar gemacht werden. Als Beispiel seien die französischen und spanischen Bewegungsverben aller und ir genannt, die in der Periphrase aller faire qc. und ir a hacer das semantische Merkmal ‘Bewegung’ verloren haben und systematisch zukünftiges Geschehen ausdrücken. Im Prozess der Grammatikalisierung geht also eine autonomere zu einer fester ins System integrierten signifikativen sprachlichen Einheit über. Für den Sprecher besagt das, dass er die Freiheit, die sprachlichen Einheiten nach seinen kommunikativen Bedürfnissen zu manipulieren, verliert und ihm stattdessen die Grammatik den Umgang mit ihnen diktiert. Der Unterscheidung von Lexikalisierung und Grammatikalisierung entspricht auch die Zuordnung von Wortarten zu Inhaltswörtern (content words) und Funktionswörtern (function words), wobei zu letzteren Präpositionen, Konjunktionen, Pronomen und Demonstrativa gezählt werden: Frequently it can be shown that function words have their origin in content words. When a content word assumes the grammatical characteristics of a function word, the form is said to be “grammaticalized”. Quite often what is grammaticalized is not a single content word but an entire construction that includes that word, as for example Old English a hwile e ‘that time that’ > hwile ‘while’ (a temporal connective). (Hopper / Traugott 1993: 4) <?page no="84"?> Grammatikalisierung oder Lexikalisierung? 51 In einigen Fällen ist jedoch die Zuordnung bestimmter Entwicklungen zur Grammatikalisierung oder Lexikalisierung umstritten (cf. Wischer 2000). Nach Knobloch und Schaeder scheint der elementare Gegensatz von Grammatik und Lexikon in der Sprachwissenschaft viel von seiner Schärfe zu verlieren. Was heute als ‘Grammatik’ imponiert, das wirkt weniger fremd und eigenständig, wenn es als diachron transformierte, kontextgeneralisierte und semantisch verdünnte Lexik reinterpretiert werden kann. Je näher man indessen dem harten Kern der grammatischen Tradition kommt, desto deutlicher werden die Paradoxien des Grammatikalisierungsgedankens. Aus dem diachronen Faktum der Grammatikalisierung bestimmter, spezifischer lexikalischer Bestände wird die Frage nach den Triebkräften, die aus dem grenzenlosen Fundus der lexikalischen Semantik wenige Bestände als ‘grammatikalisierungsfähig’ auslesen und sie in allgemein-darstellungstechnische Funktionen überführen können. (Knobloch / Schaeder 2005: V) Die Autoren beziehen diese Aussage vorrangig auf die Wortarten als Bestandteile des harten Kerns der Grammatik. Die systemische Anatomie der klassischen Wortarten mit ihren Prägekräften wird eigentlich immer bereits vorausgesetzt, wenn von Grammatikalisierung die Rede ist. Hinzu kommt, dass die Wortarten als metasprachliches Konstrukt (Haßler/ Neis 2009: 1149- 1170) überliefert sind und nicht aus dem realen Sprachgebrauch abgeleitet wurden. Auf die Frage nach der Entstehung der Grammatik einer Sprache vermag die Grammatikalisierungstheorie keine Antwort zu geben. ‘Grammatikalisieren’ kann sich ein stärker lexikalisches Element dann und nur dann, wenn die “darstellungstechnischen Kraftfelder der Grammatik bereits hinreichend abgesetzt und verselbständigt sind gegenüber der Nenn-, Prädikations- und Deskriptionslexik” (Knobloch/ Schaeder 2005: V). Auch Lehmann (2005: 5) stellt fest, dass eine Wortart als Input zu einem Grammatikalisierungskanal dienen, dass sie aber nicht sein Output sein kann, denn der Output der Grammatikalisierung sind Paradigmen von grammatischen Markern. Folglich müssen Wortarten auf irgendeine Weise entstehen, aber nicht durch Grammatikalisierung. Das heißt mit anderen Worten, dass Grammatik immer schon unterstellt werden muss, damit sich Motive für die Grammatikalisierung lexikalischer Bestände finden lassen. Brinton und Traugott (2005) haben die Ansichten zum Verhältnis von Lexikalisierung und Grammatikalisierung nochmals diskutiert, viele widerspruchsvolle Definitionen und auch Anlass zur Revision früherer Ansichten gefunden. Sie haben einen Versuch der Vereinbarung unterschiedlicher Positionen vorgeschlagen, der von der Auffassung des Lexikons als Inventar sowohl lexikalischer als auch grammatischer Einheiten ausgeht. Die Verwendung ursprünglich freier Elemente in fixierten Phrasen bei manchmal weiterer Reduzierung durch Koaleszenz ist sowohl für Lexikalisierung (cf. aujourd’hui) als auch für Grammatikalisierung (cf. chanterai) charakteristisch. Alle Veränderungen im Formeninventar einer Sprache, sowohl die als proto- <?page no="85"?> Gerda Haßler 52 typische Lexikalisierung als auch die als prototypische Grammatikalisierung beschriebenen, werden unter diesem Gesichtspunkt als Lexikalisierung betrachtet. Da auch grammatische Einheiten Form-Bedeutung-Paare sind, plädieren sie für ein Kontinuum zwischen Lexikalisierung und Grammatikalisierung, das auf verschiedenen Ebenen zu untersuchen ist (Brinton/ Traugott 2005: 92): Level Continuum Lexicon Lexical Grammatical Category Open / Major Closed / Minor Syntax Free Obligatory Semantics Contentful Functional Morphology Nonproductive Productive Im Hinblick auf den im Folgenden darzustellenden Gegenstand der Topik- und Fokusmarker haben allerdings verschiedene Autoren für eine Betrachtung unter dem Gesichtspunkt der Grammatikalisierung plädiert. So beschreibt Eckhardt (2006: 171-201) die Entwicklung des Intensifiers selbst zur Fokuspartikel. Während selbst in dem Satz Der König selbst öffnete die Tür als Intensifier fungiert, wird es in Selbst der König verstand den Witz zur Fokuspartikel. Die Verwendung von selbst als Fokuspartikel beginnt um 1700 und ist damit wesentlich jüngeren Datums als die intensivierende Bedeutung. Auch Diskursmarker, die in ihrer suprasegmentalen Stellung den Topik und Fokusmarkern nahe stehen, werden als Ergebnis von Grammatikalisierung erklärt (cf. Brinton/ Traugott 2005: 138). Eckardt (2006: 46-50) geht der Frage nach, wie der auf Weile zurückgehende kausale Konnektor die Funktion annehmen konnte, zu begründen, warum der Sprecher die Äußerung produziert hat (cf. Gehst du am Sonntag ins Schwimmbad? Weil, es wird regnen). Offensichtlich sind jedoch Diskursmarker für die Erklärung als Grammatikalisierungsphänomene weniger geeignet. Während Grammatikalisierung in der Regel zur Verringerung des Skopus führt, haben Diskursmarker häufig einen höheren Skopus als die Einheit, von der sie sich entwickelt haben. So ist der Skopus in dem Satz Weil, es wird regnen die gesamte Äußerung, während die Konjunktion weil nur eine begründende Proposition einleitet. Diskursmarker sind wie auch Fokus- und Topikmarker weniger in den Satz eingebunden. Sie können auch höhere syntaktische Variabilität als ihre Ausgangswörter aufweisen und widersprechen somit der Feststellung, dass grammatikalisierte Einheiten stärkeren Zwängen unterliegen. Außerdem wechseln Elemente, die zu Diskursmarkern werden, in der Regel von einer geschlossenen Klasse zur anderen und bewegen sich nicht vom rein lexikalischen Bereich im engeren Sinne in einen grammatischen. Obwohl eine <?page no="86"?> Grammatikalisierung oder Lexikalisierung? 53 Kommunikation ohne sie problematisch würde, kann man Diskursmarker nicht im strengen Sinne als grammatisch notwendig bezeichnen. Obwohl sie durch eine semantische und syntaktische Reorganisation sprachlichen Materials entstehen und häufig auch Fusion aufweisen, entsprechen sie nicht den Kategorien, die typischerweise als grammatisch angenommen werden. Sie nehmen in der Regel eine Position außerhalb des Satzes ein, haben keine für den Wahrheitswert ausschlaggebende Bedeutung und funktionieren pragmatisch, d.h. sie werden als etwa “extra-Grammatisches” angesehen (Brinton/ Traugott 2005: 139). Diese Besonderheit von Diskursmarkern, Fokus- und Topikpartikeln hat insbesondere schwedische Forscher (Erman / Kotsinas 1993; Aijmer 1996) veranlasst, von Pragmatikalisierung (pragmaticalization) zu sprechen. Inzwischen hat man jedoch festgestellt, dass viele zur Kerngrammatik gehörende Kategorien, wie Tempus, Aspekt, Modus nicht unter dem Gesichtspunkt des Wahrheitswerts betrachtet werden können. Ob Diskurs-, Topik- und Fokusmarker als lexikalisiert, grammatikalisiert oder pragmatikalisiert zu betrachten sind, hängt also letztlich vom Status der Funktion ab, die sie im Diskurs erfüllen. 2. Funktionen von Topik und Fokusmarkern Topik und Fokusmarker gehören zu den Ausdrucksmitteln der Informationsstruktur, unter der man die “Verpackung” sprachlicher Information zum Zweck der Optimierung des Informationstransfers versteht. Dieselbe Information muss je nach Hintergrund und Ziel der Äußerung verschieden aufbereitet und unterteilt werden. Ohne detailliert auf den sehr entwickelten Stand der Forschung zur Informationsstruktur eingehen zu können, 1 gehen wir davon aus, dass die Sprachen die Strukturierung der Information mindestens in folgenden drei Dimensionen erlauben (cf. Gutiérrez Ordóñez, Salvador 1997): (1) Ein Teil der Äußerung kann als relevante Antwort (Rhema) auf eine gestellte Frage, Situation oder textuelle Kontinuität gekennzeichnet werden. Treten keine weiteren Mittel der Informationsstruktur auf, stehen die rhematischen Elemente am Schluss der Äußerung, während der Äußerungsansatz (Thema) am Anfang steht: A: [¿Quién trajo los pasteles anoche? ] B: Los pasteles los trajo papa. 1 Auf die Problematik der Informationsstruktur kann hier nicht im Einzelnen eingegangen werden. Verwiesen sei auf Schwabe (2007), Zimmermann (2010), Sudhoff (2010). <?page no="87"?> Gerda Haßler 54 (2) Ein Teil der Äußerung kann fokussiert werden, was möglicherweise auch mit Kontrast oder Korrekturfunktion verbunden ist. Neben prosodischen Merkmalen übernehmen diese Funktion in den romanischen Sprachen vor allem die sogenannten Spaltsätze (Cleftsätze), deren Status im Hinblick auf unsere Fragestellung noch zu überprüfen sein wird: C'est eux qu'on battait mais c'est nous qui avions mal. (R853 2 - LANZMANN Jacques, Le Têtard, 1976: 106) El decano es quien ha convocado junta para el lunes. Un coche es lo que quiere el niño. (3) Schließlich kann eine referentiell einschränkende Kennzeichnung des Gegenstands der Aussage (Topikalisierung) vorgenommen werden. Topikalisierung findet durch die Dislokation eines Satzglieds aus seiner Grundsatzstellung in eine diskurspragmatisch herausgehobene Position statt: Los libros, no sabemos ya dónde ponerlos. Das Topik kann dabei auch ein Verb sein, das als Infinitiv vorangestellt wird: ¿Ya qué se podrá hacer en uno de esos cafés? Charlar, yo no charlo. Nominale Topiks müssen durch ein Pronomen im Satz aufgenommen werden, wobei auch eine Nachstellung des Topiks als Antitopik möglich ist: La escuela primaria la hice en casa. La hice en casa, la escuela primaria. Neben der Dislokation als hauptsächlicher Form der Topikalisierung gibt es auch die Möglichkeit, Topiks durch Topikmarker zu kennzeichnen. Auf den ersten Blick handelt es sich dabei um lexikalische Elemente, die vor dem Topik stehen (cf. span. en cuanto a, con respecto a, respecto de, por lo que toca): Y en cuanto a su situación personal, su futuro dependerá de su salud y de su capacidad mental Quant à l'enseignement technique, il doit être massivement développé. (S190 - MENDÈS-FRANCE Pierre, Œuvres complètes. 4. Pour une République moderne. 1955-1962., 1987: 135) Neben Elementen, die nominale Topiks markieren, gibt es auch Topikmarker, die mit Adverbialen und Adjektiven verbunden werden können: Lo que es cara a cara ya nadie se reía de él. Como guapa, es guapísima. 2 Die französischen Beispiele entstammen der Datenbank Frantext www.frantext.fr. <?page no="88"?> Grammatikalisierung oder Lexikalisierung? 55 Fokus- und Topikmarker sind neben der Satzsyntax und Wortstellung und der Prosodie (Pause, Akzent, Tonhöhe) die wichtigsten Elemente der Kennzeichnung der Informationsstruktur. Nimmt man Funktionsähnlichkeit mit syntaktischen Mitteln an, so liegt tatsächlich eine Einordnung der Fokus- und Topikmarker als Ergebnisse von Grammatikalisierungsprozessen nahe. Als grammatisches Element erfüllt der Topikmarker en cuanto a dieselbe Funktion wie die Dislokation, dies allerdings expliziter: El hermano, parece que los padres hablan de él todo el tiempo. En cuanto al hermano, parece que los padres hablan de él todo el tiempo. In dieser Explizitheit, die auf dem kompositionalen Charakter der Bedeutung von en cuanto a beruht, ließe sich aber auch ein Argument für sein primär lexikalisches Wesen sehen. Fusion, die sowohl in der Grammatikalisierung als auch in der Lexikalisierung typisch ist, liegt in diesem Fall nicht vor. Im Folgenden sollen die Topikmarker frz. quant à und span. en cuanto a und die Spaltsätze als Fokusmarker in ihrer Entwicklung untersucht werden. Auf dieser Basis sollte eine Einschätzung dieser Entwicklungsprozesse als Grammatikalisierung oder Lexikalisierung möglich sein. 3. Franz. quant à und span. en cuanto a als Topikmarker 3.1. Zur Entwicklung von quant à Etymologisch geht der Topikmarker auf quantum ad + subst. zurück und ist bereits im mittelalterlichen Latein zu finden (Combettes 2003: 152). Es setzt sich aus dem Adverb, das auf das Neutrum von quantus zurückgeht und das häufig mit tantum in Korrelation trat, und der Präposition ad zusammen. Möglicherweise lässt sich sogar für das Lateinische von einer Grammatikalisierung sprechen, insofern die Präposition ad die Bedeutung ‘was X betrifft’ trug und sich später im Ergebnis einer Reanalyse mit quantum verband. Im Altfranzösischen ist eine Verwendung von quant à X jedoch extrem selten (Prévost 2003: 443). Mit ihr verbindet sich ein quantifizierender Ausdruck des Zutreffens der Äußerung auf X. Als Markierung des vorangestellten und aus dem Satz dislozierten Topiks ist quant à heute redundant, drückt jedoch den Topikcharakter zusätzlich und explizit aus: (Quant à) Jean, il n’est pas venu. Das Topik kann noch stärker betont werden, wenn nicht das Nomen, sondern das entsprechende Pronomen mit quant à verbunden wird: Jean, quant à lui, n’a pas d’avis. Schließlich kann sich quant à mit eingeschränktem Skopus auch mit der Benennung dessen verbinden, worauf die Aussage zutrifft, und nicht am Anfang des Satzes stehen: Ce médicament est néfaste quant à ses effets secondaires. Das quantifizierende Merkmal ‘soviel wie auf X von der Aussage entfällt’ ist <?page no="89"?> Gerda Haßler 56 in all diesen Verwendungsweisen vollständig zugunsten der expliziten Markierung des Redegegenstands, der mit anderen kontrastiert oder eingeschränkt werden kann, zurückgetreten. Im heutigen Französisch ist die Stellung von quant à in ihrer Freiheit sehr eingeschränkt. Während quant à in initialer Stellung dominiert, hängt seine Verwendung in anderen Stellungen von syntaktischen und semantischen Bedingungen ab. Die Entwicklung von quant à zum geläufigen Topikmarker und zur Dominanz der initialen Stellung vollzog sich im Mittelfranzösischen und wurde von Prévost (2003) quantitativ anhand des Korpus des Dictionnaire du Moyen Français nachgewiesen. Während im 14. Jahrhundert der Anteil der initialen Stellung nur ein Fünftel aller quant à-Verwendungen ausmacht, erhöht sich der Anteil bis zum 16. Jahrhundert auf 59 %, in den Romanen sogar auf 67 % (cf. Prévost 2003: 445). Interessant ist dabei auch die Entwicklung des vorzugsweise topikalisierten Elements X. In der folgenden Tabelle sind die Anteile der einzelnen nominalen Elemente in Prozentzahlen aufgeführt: 3 X Nominalgruppe ce que Infinitiv ce moi andere Pronomen 14. Jh. 37 19 10 11 11 11 15. Jh. 44 7 9,5 3 27 9,5 16. Jh. Abhandlungen 43 32 0,6 0 10 14 16. Jh. Romane 19 2,4 2,4 0 57 19 Während die Nominalgruppen an der Spitze liegen und diese Position zunächst auch halten, nimmt der Anteil des Personalpronomens moi bereits im 15. Jahrhundert deutlich zu, um schließlich in den Romanen des 16. Jahrhunderts mehr als die Hälfte zu erreichen. Ce que erscheint eher in den nicht fiktionalen Texten. Insgesamt ist eine deutliche Abnahme der Infinitive und der Wendungen mit ce que als mit quant à eingeführte Topiks zu beobachten. Auch in der vorzugsweisen syntaktischen Rolle des mit quant a topikalisierten Elements trat vom 14. bis zum 16. Jahrhundert eine Veränderung ein. Im 14. Jahrhundert traten noch in der Hälfte der Fälle Elemente auf, die keine syntaktische Rolle im nachfolgenden Satz spielten. Auch im 15. Jahrhundert sind solche Vorkommen mit 30% noch relativ häufig: Car, quant à la prinse d’une ville, on doibt doubter le pillage sur toutes choses et le ralyment des enemys ; (5601 Jean de BUEIL Le Jouvencel, t.1, 1461-1466: 92) 3 Tabelle in Anlehnung an Prévost (2003: 446). <?page no="90"?> Grammatikalisierung oder Lexikalisierung? 57 Bereits im 15. Jahrhundert hatten jedoch die Subjekte mit 47% den ersten Platz in der Verbindung mit quant à erreicht, was sich in den Romanen des 16. Jahrhunderts sogar auf 64% erhöhte. In der Regel wird dabei das topikalisierte Element von einem Pronomen wieder aufgenommen, das als Platzhalter die Rolle des Subjekts übernimmt: Et quant a la mort, elle fut telle que dessus est dit, et le firent morir mauvaisement, et de ce est voix et commune renommee. (6607 Jean JUVENAL DES URSINS Tres Crestien, tres hault, tres puissant roy, c.1446: 145) In einigen Fällen ist es jedoch auch möglich, dass das topikalisierte Element über den ausgelagerten Teil hinaus als Subjekt fungiert und nicht durch ein unbetontes Pronomen wieder aufgenommen wird: Quant à luy, Ø onques ne fit excès, (...) (Nicolas de Baye, Journal, t. 1, 1400-1410: 107) Über das Subjekt hinaus kann das topikalisierte Element auch in anderen Argumentrelationen (Objekt, Prädikativum) im Satz stehen. Im folgenden Satz übernimmt es in dem wiederaufnehmenden Pronomen le die Rolle des Subjektsprädikativums: Quant à estre suspicionneux, tous grandz princes le sont. (Philippe de Commynes, Mémoires II, 1489-1491: 289) Das topikalisierte Element kann auch eine thematische und semantische Relation zu einem Bezugspunkt im Satz haben, jedoch kein Argument des Hauptsatzes sein: Quant a celle qui ne t'a riens meffait / Tu as osté ce qu'el n'a pas forfait / Et qui jamais ne puet estre reffait. 0106 Alain CHARTIER LA COMPLAINTE, 1424: 322 Das mit quant à topikalisierte und ausgelagerte Element kann als vorangestelltes Komplement des Satzes fungieren: Et, quant à l'exercice de l'office dudit greffier, a esté appoinctié que, durant son absence ou jusques à ce que autrement y soit pourveu (6305 Clement de FAU- QUEMBERGUE Journal, 1431-1435: III, 169) Schließlich ist auch eine nicht syntaktische Relation möglich, die auf der pragmatischen Beziehung der Relevanz des Topiks für den Inhalt des Satzes beruht: Quant à la forme de donner l'assault, de raison les approches sont si bien faictes que on entre ou fossé sans perdre riens et envoye l'en une compaignie de gens pour le premier assault. (5602 Jean de Bueil, Le Jouvencel, 1461-1466: II, 42) In der folgenden Tabelle sind nach Prévost (2003: 449) die Anteile der syntaktischen Funktionen der mit quant à fokussierten Elemente im nachfolgenden Satz aufgeführt: <?page no="91"?> Gerda Haßler 58 Subjekt andere Argumentrelation Syntaktische Relation, jedoch nicht Argument im Hauptsatz vorangestelltes Komplement keine syntakt. Relation 14. Jh. 22 6 15 7 50 15. Jh. 47 13,6 8 1,4 30 16. Jh. Abhandlungen 40 21 22 0 17 16. Jh. Romane 64 12 17 0 7 Betrachtet man die Entwicklung von quant à vom 14. bis zum 16. Jahrhundert, kann man eine deutliche Tendenz hin zur Markierung als Subjekt auftretender Nominalgruppen als Fokus erkennen, während die Verbindung mit vorangestellten Komplementen und Elementen ohne syntaktische Relation zum Hauptsatz deutlich zurücktritt. Abhängig von der Textsorte ist auch eine starke Dominanz des Pronomens moi als fokussiertes Element nachweisbar. Eine semantische Relation zu lat. quantum ist nicht mehr gegeben. Ist also quant à zu einem Topikmarker der als Subjekt auftretenden Nominalgruppe geworden? Dagegen sprechen eine Reihe von Tatsachen, die sich aus dem Korpus Frantext Moyen Français (1330-1500) wie auch aus dem gesamten Korpus Frantext ableiten lassen. Erwähnt sei zunächst, dass die Präpositionalphrase quant à auch in nicht topikalisierender Funktion zur Einführung der Ergänzung eines Nomens oder Verbs weiter verwendet wurde: Car les autres sont engendrez de lui ou par congregacion ou disgregacion, lesquelles guises toutesfois se different quant a priorité ou posteriorité, (...) (0233 Christine de PIZAN Le Livre de l'advision Cristine, 1405: 72) Das ‘Differieren’ wird hier im Hinblick auf die Differenzierungsrichtungen des ‘Vorher’ und des ‘Nachher’ betrachtet, die mit quant à eingeleitet werden. Diese Bezeichnung der Richtungen des Differierens einer Eigenschaft, Haltung oder Handlungsweise hat zu Kollokationen von différer bzw. différences und quant à geführt, die bis heute auftreten: Les opinions diffèrent quant à l'origine de cet art. (P839 - COLLECTIF, Jeux et sports, sous la dir. de Roger Caillois, 1967: 1441) (...) ceci explique pourquoi les protéines virales diffèrent, quant à leur composition, de celles de l'hôte (...) (MORAND Pierre, Aux confins de la vie : perspectives sur la biologie des virus, 1955: 110). <?page no="92"?> Grammatikalisierung oder Lexikalisierung? 59 Les opinions diffèrent quant aux résultats de la réunion de la Commission thonière de l'Océan indien (http: / / agritrade.cta.int/ fr/ Peche/ Relations-ACP-UEdans-le-secteur-de-la-peche-APP/ Nouvelles/ Les-opinions-different-quant-auxresultats-de-la-reunion-de-la-Commission-thoniere-de-l-Ocean-indien) Les différences interculturelles quant à l’utilisation de la publicité humouristique au Québec, au Canada anglais et au Mexique (http: / / www.archipel.uqam.ca/ 2861/ 1/ M9351.pdf). Wenn man von einer Grammatikalisierung von quant à ausgehen will, ist also zumindest die dazu parallele Verwendung der Präpositionalgruppe zum Anschluss einer Bezugsmöglichkeit zu berücksichtigen, eine Erscheinung, die sich als Heterosemie (Authenrieth 2002) betrachten ließe und die der Deutung des Entwicklungsprozesses als Grammatikalisierung nicht grundsätzlich widersprechen würde. Daneben ist aber auch in Betracht zu ziehen, dass quant à im modernen Französisch 4 zwar vor allem das Subjekt topikalisiert, dass es aber auch für die Topikalisierung anderer Satzglieder oder nur pragmatisch mit dem Satz verbundener Elemente genutzt wird, cf. z.B. Quant à mon compagnon, je lui ai fait la lecture à haute voix. (R039 - DUPEREY Annie, Je vous écris, 1993: 30) Quant à la nationalisation des assurances, malgré tous mes efforts, je n'ai pu à ce jour obtenir du conseil une décision. (S188 - MENDÈS-FRANCE Pierre, OEuvres complètes. 2. Une politique de l'économie. 1943-1954., 1985: 151) Quant à Capdeverre, en tablier gris et manchettes noires, son père était sergent de ville. (R763 - SABATIER Robert, David et Olivier, 1985: 44) Quant à l'Allemagne, n'oublions pas sa puissance d'expansion, ses ressources, son dynamisme. (MENDÈS-FRANCE Pierre, OEuvres complètes. 4. Pour une République moderne. 1955-1962., 1987: 252) Prévost stellt fest, das heute die Verwendung von quant à als Marker für syntaktisch wiederaufgenommene Topiks dominiere, während es im Falle nur pragmatisch verbundener Topiks eher durch en ce qui concerne oder à propos de ersetzt würde: Une construction telle que Quant à Paris, la tour Eiffel est impressionnante est sans doute moins fréquente en français moderne qu’une tournure du type En ce qui concerne / À propos de Paris, la tour Eiffel est vraiment impressionnante. On la trouve néanmoins fréquemment. (Prévost 2003: 454) Der letzte Teil dieser in sich widersprüchlichen Aussage kann auf der Basis von Korpusuntersuchungen bestätigt werden. Wenn also überhaupt von 4 Zur Verwendung von quant à im modernen Französisch cf. Choi-Jonin (2003) und Fløttum (2003). <?page no="93"?> Gerda Haßler 60 Grammatikalisierung von quant à die Rede sein kann, so ist die Topikalisierung als ihr zugrunde liegende Funktion über das Subjekt hinaus auf alle Satzglieder auszudehnen. Es ist auch fraglich ob ein Satz wie Quant à Paul, personne ne lui parle die Topikalisierungsfunktion besser repräsentiert als Quant à Paris, la Tour Eiffel est vraiment impressionnante. Zwar bezieht sich das Pronomen lui eindeutig auf Paul, die semantische Kontiguitätsbeziehung zwischen Paris und la Tour Eiffel lässt jedoch einen nicht minder eindeutigen Bezug zu. Jedoch auch bei weniger eindeutigen syntaktischen oder semantischen Beziehungen zwischen dem topikalisierten Element und dem wiederaufnehmenden Element im Satz lässt sich von analoger Funktion ausgehen. Combettes‘ (2003: 151) Feststellung vom textuellen Wert, den sprachliche Einheiten im Zuge der Grammatikalisierung annehmen, lässt sich auch auf die Topikmarker beziehen. Dennoch kann gerade am Beispiel von quant à festgestellt werden, dass der Funktionswandel die Ausgangskonstruktion und ihre Bedeutung nicht völlig eliminiert. Strukturen des Typs j’ai mon opinion quant à X bleiben auch im heutigen Französisch produktiv und zeigen, dass die Grammatikalisierung nicht abgeschlossen ist. Nach Combettes (2003: 154-166) trifft dies umso mehr auf andere Topikmarker des Französischen zu (par rapport à, sous le rapport de, à l’égard de, du côté de usw.), deren ursprüngliche Bedeutung leicht eine Ausweitung zur Topikalisierung erlaubt. 3.2. Zur Funktion von span. en cuanto a Auch die spanische präpositionale Wortgruppe hat eine ähnliche Entwicklung durchlaufen. Im 13. Jahrhundert dominierte noch die ohne die Präposition en erfolgende Kennzeichnung des Bezugs auf ein nachfolgendes Wort oder eine Wortgruppe: Esta uina así determinada uendemos a uos, don Domingo, por V morauedís de los dineros blancos de la gera, ha VIII sueldos el moranedí, que nos ya diestes, onde somos ben pagados, e en rouación de la carta cuanto a uos e nos plogo, tanto nos diestes. (CORDE, 5 León 1994 1276 10 103 L Documento de venta Anónimo) Es finden sich jedoch auch ausdrückliche Kennzeichnungen des Redegegenstands mit en cuanto a: En cuanto a caza, habla de alcones, y duraba la veda de la pesca desde Cinquaesma, o sea desde Pentecostés […] (CDE 6 , Memoria sobre el Fuero de Madrid del año 1202) 5 Die mit CORDE gekennzeichneten Beispiele entstammen dem Corpus Diacrónico del Español (CORDE) der Real Academia Española (http: / / corpus.rae.es/ cordenet.html). 6 Die mit CDE gekennzeichneten Beispiele entstammen dem Corpus del Español (www.corpusdelespanol.org). <?page no="94"?> Grammatikalisierung oder Lexikalisierung? 61 Das Zutreffen einer Aussage auf einen bestimmten im Diskurs erwähnten Gegenstand wurde im 15. Jahrhundert vor allem mit Nachstellung von en cuanto a formuliert, was möglicherweise zur Verstärkung der Funktion als Topikmarker bei Voranstellung beitrug. Außerdem variiert die Verwendung mit und ohne en: Es muy hermoso y lleno de árboles verdes y claros sin nieve y sin niebla, y era entonçes por allí el tiempo, cuanto a los aires y, templança, como por Março en Castilla y, en cuanto a los árboles y yervas, como por Mayo (CDE, Textos y documentos completos de Cristobal Colón) Die topikalisierende Bedeutung von en cuanto a setzte sich im 16. Jahrhundert durch, wobei zunächst der pragmatische Bezug zwischen dem topikalisierten Element und dem Inhalt des Hauptsatzes dominiert. Das mit en cuanto a topikalisierte Wort, muss also nicht im Satz durch ein Pronomen aufgenommen werden, es steht aber in Relevanzbeziehung zu Elementen des nachfolgenden Satzes. Das folgende Beispiel illustriert außerdem die häufig auftretende Spaltung des Themas, die für eines davon mit en cuanto a verdeutlicht wird: Ante todo te diré que no pienso seguir tu consejo; ello no quiere decir que me declare enemigo de los estudios puramente literarios o filosóficos. Sabida de todos es mi dedicación a los primeros; y, en cuanto a los segundos, los filosóficos, ahí están mis cuidadas traducciones latinas de las obras filosóficas griegas como claro testimonio de mi afición a ellos. (CDE, Juan Ginés de Sepúlveda, Epistolario. Selección, 1532) Daneben tritt en cuanto a regelmäßig als Kennzeichnung des Redegegenstands unabhängig von der als Topik markierten Wortart auf. Neben Subjekten werde auch Verben (en cuanto a lo de gobernaros) topikalisiert und zusätzliche Einschränkungen vorher bereits erwähnter Redegegenstände (en cuanto a lo de las bellotas) vorgenommen. Das im Spanischen erhalten gebliebene neutrale Pronomen lo tritt dabei häufig als nominaler Träger auf: […] pero en cuanto a lo de gobernaros ya por ajeno albedrío, me parece difícil de creer por ser vos fácil en fingir (Alonso de Castillo Solórzano, Lisardo enamorado, 1616) pero basta que sea un lugar de más de mil vecinos; y en cuanto a lo de las bellotas, digo que mi señora la Duquesa es tan llana y tan humilde..., que no decía él enviar a pedir bellotas a una labradora; […] (Miguel de Cervantes Saavedra, Don Quijote de la Mancha, 1582 Wie im Französischen können auch im Spanischen unterschiedliche Relationen zum Hauptsatz bestehen (cf. Zubizarreta 1999: 4221): Aufnahme durch betontes Pronomen: En cuanto al hermano, parece que los padres hablan de él todo el tiempo. <?page no="95"?> Gerda Haßler 62 Aufnahme durch Klitikon: En cuanto al hermano, parece que los padres lo contemplan mucho. Beziehung zu einem substantivierten Adjektiv im Satz: En cuanto al hermano, parece que el desgraciado se lleva bien con todo el mundo, inclusivo con los padres. Pragmatische Relevanzbeziehung nicht syntaktischer Art: En cuanto a la capacidad científica del Sr. González, basta mencionar que este acaba de ganar un premio de renombre internacional. Zusammenfassend lässt sich zu franz. quant à und span. en cuanto a feststellen, dass sie auf einen in Ansätzen bereits im Lateinischen vorliegenden Topikmarker zurückgehen und ihre Bedeutung und Funktion wenig geändert haben. Zwar ist das quantifizierende Merkmal von quantum ad verschwunden, die Bedeutung kann jedoch als kompositional betrachtet werden. Außerdem werden beide Präpositionalgruppen nicht nur als Topikmarker, sondern auch zur Einleitung präpositionaler Ergänzungen verwendet. Die beiden Topikmarker sind weglassbar, ohne dass die Informationsstruktur verändert würde, sie bringen sie jedoch explizit zum Ausdruck. Schließlich gibt es in beiden Sprachen auch andere Topikmarker, die mit semantischen Nuancen die gleiche topikalisierende Funktion übernehmen können. Obwohl die Funktion der Topikalisierung nachgewiesen ist und diese nicht an bestimmte syntaktische oder semantische Elemente gebunden ist, fällt es schwer, von Grammatikalisierung oder Lexikalisierung im strengen Sinne zu sprechen. Da die Informationsstruktur letztlich eine pragmatische Gegebenheit ist und die Topikmarker als solche im Diskurs fungieren, liegt die Kennzeichnung des Prozesses ihrer Entstehung als Pragmatikalisierung (pragmaticalization im Sinne von Erman / Kotsinas 1993) nahe. 4. Cleftsätze als explizite Markierung des Fokus Die Nutzung von Cleftsätzen (Spaltsätzen) ist in vielen Sprachen zur Fokusmarkierung möglich, im Deutschen wird sie allerdings wenig gebraucht und als eher umständlich empfunden, cf. Es war sein Sohn, der ihm Probleme machte. Formal hat ein Cleftsatz ein semantisch leeres Subjekt, eine Kopula und ein Prädikativum, das dem fokussierten Element entspricht. Es folgt darauf ein abhängiger Satz, der sich außerhalb des Fokus befindet. Lehmann (2008) gibt dafür folgende Darstellung: <?page no="96"?> Grammatikalisierung oder Lexikalisierung? 63 [ [ X ] S 1 [ … ] S 2 ] S 3 expletive/ zero subject non-verbal predicate focus expression extrafocal clause [ non-verbal clause ] [ open clause ] [ main clause ] [ dependent clause ] Es war sein Sohn, der ihm Probleme machte. In mehreren romanischen Sprachen ist der Cleftsatz eine optionale Lösungsmöglichkeit für die Fokussierung, während er im Französischen praktisch das einzige Mittel außerhalb der Intonation ist. 7 Es liegt also nahe, den französischen Cleftsatz im Hinblick auf seine Grammatikalisierung zu untersuchen. Es wird dabei davon ausgegangen, dass keine einzelne Komponente der Informationsstruktur isoliert grammatikalisiert werden kann. Grammatikalisierung der Informationsstruktur bedeutet, dass pragmatische Relationen ihre Spezifik verlieren und dass Unterschiede zwischen pragmatischen Komponenten verschwinden. Im Französischen weist der Cleftsatz insofern eine Besonderheit gegenüber einer normalen Kopulakonstruktion auf, als das Kopulaverb nicht mehr mit dem nominalen Prädikat kongruiert: C’est qui? - Ce sont les enfants. C’est les enfants qui l’ont fait. Der Verlust der Kongruenz im Cleftsatz deutet auf fehlende grammatische Differenzierung hin und damit auf einen gewissen Grad an Grammatikalisierung. Lässt sich jedoch sagen, dass der Cleftsatz im Französischen schon Symptome einer Grammatikalisierung aufweist, wie in Lehmann (2008) festgestellt wird? Ein Blick in die Daten des Korpus Frantext zeigt, dass die Kongruenz im Cleftsatz seit langem nicht obligatorisch ist. C'est nous qui nous vangeons : nous vangeons mil forfaicts, / Mille meurtres à tort que cestui-cy a faits (S202 -LA TAILLE Jean de, Alexandre, 1573: 24) C'est nous qui sommes Dieux, qui la donnons aux hommes (Q887 - URFÉ Honoré d', L'Astrée : t. 3 : 3ème partie : livres 1 à 12, 1631: 306) Neben dem Subjekt kann der Cleftsatz auch verschiedene andere Satzglieder fokussieren: C'est declairé que vous estes bien foulz / De vous donner et voulloir estre à vous. (R671 - MAROT Jean, Le Voyage de Gênes, 1507: 86) C'est bien raison que soit couchee / Auprés des autres la jonchee. (R970 - LA CHESNAYE Nicolas de, La Condamnation de Banquet, 1508: 141) C'est par vous que cella se pert. (R578 - ANONYME , Farce de Maistre Jehan Jenin, vray prophète, à deux personnages, 1515: 75) 7 Zum Cleftsatz cf. Lambrecht (1994), (2001), (2004), Dufter (2009). <?page no="97"?> Gerda Haßler 64 Mindestens seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts gibt es also im Französischen mit dem Spaltsatz ein Mittel der Fokussierung, das Merkmale von Grammatikalisierung aufweist und das man als gespaltenes Morphem c’est X qui/ que betrachten könnte. Die Regularität dieser Art der Fokussierung stellte sich ein, nachdem die Wortstellung weitgehend festgelegt worden und der Wortakzent zugunsten des Akzents des mot phonétique aufgegeben war (cf. Wehr 2005). Im Altfranzösischen gab es wenig Cleftsätze, da Fokussierung mittels Voranstellung des fokussierten Elements und mit prosodischen Mitteln möglich war: Li nies Marsilie, il est venuz avant sur un mulet. ‘Voici que s’avance sur un mulet le neveu de Marsilie.’ (Roland) Das dislozierte Element (li nies Marsilie) nimmt in diesem Satz eine hohe Position an der linken Peripherie ein: [DisP Li nies Marsilie … [ForceP il [Force e ][[ FinP t [Fin est venuz] [IP t t t avant sur un mulet]]]]]]] Nach Marchello-Nizia (1998) und Muller (2003) sind die Cleftsätze im mittelalterlichen Französisch selten, der Verlust der V2-Struktur förderte ihr Aufkommen als Fokusmarker im 13. Jahrhundert und ihre Durchsetzung beginnend mit dem 14. Jahrhundert. Sie haben jedoch den entscheidenden Auslöser für die Durchsetzung der Cleftsätze als Fokusmarker im Wegfall der Kasusflexion erkannt. Bis zum 12. Jahrhundert konnte ce Subjekt oder Prädikativum sein, wobei allerdings die Position als Prädikativum bevorzugt wurde. Mit dem Wegfall der morphologischen Kasus wurde ce als Subjekt der Kopula reanalysiert. Diese Reanalyse erfolgte im 13. Jahrhundert, als zusätzlich eine neue Varietät des Französischen aufkam. Diese syntaktische Entwicklung gewann im 14. Jahrhundert an Breite, als die neue Varietät sich durchsetzte und die alte V2-Varietät im 15. Jahrhundert verschwand. Cleftsätze als Fokusmarker treten jedoch bereits vor diesen Ereignissen in der Geschichte der französischen Sprache auf, wie das von (Bouchard/ Dupuis / Dufresne 2007: 11) zitierte Beispiel aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts beweist: C’est Huelin qui vos meisele. ‘C’est Huelin qui vous maltraite.’ (Gormont) Das Auftreten von c’est X qui/ que-Konstruktionen scheint also auf eine Zeit weit vor dem Verlust des V2-Charakters zurückzugehen. Auch wenn das vermehrte Verwenden von Cleftsätzen auf die Festlegung der Wortstellung zurückgeht, ist der Zusammenhang nicht so deutlich ausgeprägt, wie sich erwarten ließ. Im Spanischen war der Druck zur Verwendung des Cleftsatzes weniger groß, da die Wortstellung und die Prosodie weiterhin problemlos für die <?page no="98"?> Grammatikalisierung oder Lexikalisierung? 65 Kennzeichnung des Fokus zur Verfügung stehen. Soll zum Beispiel das Subjekt eines Satzes fokussiert werden, kann es an das Satzende gestellt werden und dort auch den Hauptakzent tragen: El libro lo compró Juan. Ein mit Kontrastfokus belegtes Element kann an die linke Peripherie des Satzes rücken: Mazanas compró Pedro (y no peras). Die Verwendung des Cleftsatzes ist im Spanischen eine sehr explizite Möglichkeit der Fokussierung, bei welcher der fokussierte Ausdruck Kopf eines mit lo que, quien, donde, con quien usw. eingeleiteten Relativsatzes ist. El decano es quien convocó junta. Fue manzanas lo que compró Pedro (y no peras). Da in diesen Fällen der Kopf des Relativsatzes mit dem Fokus übereinstimmt, ist es nicht möglich, ein anderes Element emphatisch zu betonen: *Fue manzanas lo que compró Pedro (y no Juan). 5. Lexikalisierung, Grammatikalisierung, Pragmatikalisierung? Auch nach der Relativierung der Grenzen zwischen Lexikalisierung und Grammatikalisierung (Brinton/ Traugott 2005) bleibt eine eindeutige Zuordnung der Fokus- und Topikmarker schwierig. Sowohl im Ergebnis der Lexikalisierung als auch der Grammatikalisierung entstehen neue Einheiten, deren Bedeutung nicht mehr aus den Ausgangselementen kompositional erschließbar ist und die möglicherweise auch formalen Verschmelzungen unterliegen. Bei lexikalisierten Elementen wäre die neue Bedeutung eine vorwiegend nominative, was gegen eine Einordnung der Fokus- und Topikmarker als lexikalisiert spricht. Doch auch die Zuordnung zu grammatikalisierten Elementen ist nicht unproblematisch, da allenfalls die nicht mehr gegebene grammatische Kongruenz bei c’est X qui/ que als ansatzweise Verschmelzung gedeutet werden könnte und da die Konstruktionen möglicherweise analysierbar bleiben. Wenn wir trotzdem feststellen, dass ihre Bedeutung nicht mehr kompositional ist und nicht ohne Weiteres durch Analyse erschlossen werden kann, so hängt es doch letztlich von der Funktion des entstandenen Elements ab, ob eine eindeutige Zuordnung vorgenommen werden kann. Die Einordnung als grammatikalisiertes Element würde also voraussetzen, dass die Kennzeichnung der Informationsstruktur als grammatische Funktion betrachtet wird. Da sie jedoch wesentlich von der Perspektive des Sprechers abhängt und pragmatischen Prinzipien unterliegt, erscheint eine solche Bestimmung problematisch. <?page no="99"?> Gerda Haßler 66 Schließlich spricht auch die Geschichte der Topik- und Fokusmarker eher für eine Deutung des stattgefundenen Prozesses als Pragmatikalisierung. Zwar konnte nachgewiesen werden, dass sie sich im 14. bis 16. Jahrhundert durchsetzten und seither für die Kennzeichnung der Informationsstruktur verwendet werden, sie treten jedoch auch in früheren Texten mit ähnlicher Funktion vereinzelt auf und sind teilweise bis zum Lateinischen zurück verfolgbar. Die Verwendungshäufigkeit im System der Sprachen seit langem bereits angelegter Elemente wurde durch entsprechende pragmatische Bedingungen erhöht. Die Veränderung der Häufigkeit der Verwendung in topikalisierender bzw. fokussierender Funktion ist Ergebnis eines diachronischen Prozesses, durch den ursprünglich wahrheitskonditionale Ausdrücke zu mehr diskursbezogenen, expressiven Ausdrücken wurden. Bibliographie Aijmer, Karin (1996: “I think - an English modal particle”, in: Toril Swan / Olaf Jansen Westvik (Eds.), Modality in Germanic Languages: Historical and Comparative Perspectives, Berlin / New York: de Gruyter, 1-47. (= Trends in Linguistics, Studies and Monographs, 99) Authenrieth, Tanja (2002): Heterosemie und Grammatikalisierung bei Modalpartikeln. Eine synchrone und diachrone Studie anhand von »eben«, »halt«; »e(cher)t«, »einfach«, »schlicht« und »glatt«, Tübingen: Niemeyer. Bouchard, Jacynthe / Dupuis, Fernande / Dufresne, Monique (2007): “Un processus de focalisation en ancien français: le développement des clivées”. Actes du congrès annuel de l’Association canadienne de linguistique 2007. 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Es existieren unterschiedliche Definitionen für Hypertext. 1 Vorwissenschaftlich gesehen ist der Hypertext ein elektronischer Text, der aus verschiedenen Informationseinheiten (z.B. Einzelseiten einer Webseite) besteht, die untereinander durch Verknüpfungen, Hyperlinks, verbunden sind. Die wichtigsten Eigenschaften des Hypertextes werden an dieser Definition schon deutlich: Ein Hypertext ist ein computergestützter Text, d.h. er wird am Computer erstellt und kann auch nur am Computer rezipiert werden. Das zweite wichtige Merkmal, das aus dieser Definition hervorgeht, betrifft den Aufbau des Textes aus Einzelmodulen, die durch vielfache Verknüpfungen zusammengehalten werden. Daraus leitet sich die dritte wichtige Eigenschaft des Hypertextes ab: die Multilinearität, die an die Stelle der Linearität des traditionellen Texts tritt (cf. Storrer 2000: 228). Es folgt nicht mehr genau ein Textteil nach dem anderen, die Textteile sind vielmehr netzförmig angeordnet, dem Rezipienten bieten sich viele verschiedene mögliche Abfolgen an, die Textteile bzw. eine Auswahl davon zu rezipieren. 1.1. Hypertext - ein Text im sprachwissenschaftlichen Sinne? Bei der Vielzahl und Vielfalt der Informationen, die in digitaler Form angeboten werden, stellt sich die Frage, inwiefern auf sie eine linguistische Textdefinition überhaupt zutrifft, bzw. welche dieser Symbolkomplexe noch als Text zu betrachten sind. Bevor wir uns den Hypertexteigenschaften im Speziellen widmen, soll deswegen zunächst die Texteigenschaft von Hypertexten geklärt sein. 1 Wie es zu der Idee und Entwicklung des Hypertextes kam, soll nicht Gegenstand dieses Artikels sein. Dazu existiert eine Vielzahl von Studien, cf. z.B. Dehmer (2006: 12seq); Storrer (2000: 224seqq). <?page no="103"?> Gesina Volkmann 70 Innerhalb der Linguistik findet man die grammatische Definition des Textes als über die Satzgrenze hinausgehende sprachliche Einheit und die pragmatische Definition, die den Text als kommunikative Einheit sieht. Der integrative Textbegriff von Brinker, der den Text als sprachliche und zugleich kommunikative Einheit beschreibt, umfasst beide Ansätze: Der Terminus ‘Text’ bezeichnet eine begrenzte Folge von sprachlichen Zeichen, die in sich kohärent ist und die als Ganzes eine erkennbare kommunikative Funktion signalisiert (Brinker 5 2001[ 1 1985]: 17). Diesem Textbegriff soll nun eine sprachwissenschaftliche Definition für Hypertext gegenübergestellt werden: Ein Hypertext ist ein kohärenter, nichtlinearer, multimedialer, computerrealisierter, daher interaktiv rezipier- und manipulierbarer Symbolkomplex über einem jederzeit vom Rezipienten unterschiedlich nutzbaren Netz von vorprogrammierten Verknüpfungen (cf. Burger 429, Sager 2000: 589, Huber 1998: 2.1.). 1.1.1. Begrenzt vs. offen Einen Text als “begrenzte Zeichenfolge” zu definieren wirft gleich zwei Probleme für die Hypertextdefinition auf. Zum einen ist durch seine durch vielfältige interne Verknüpfungen entstandene Multilinearität die streng lineare Zeichenfolge aufgebrochen. In der oben zitierten Definition wird deswegen nicht mehr von Folge von sprachlichen Zeichen sondern von Symbolkomplex gesprochen. Ein Komplex ist eine mehrdimensionale Anordnung von Einheiten. Zum anderen fällt es wegen der externen Verknüpfungen eines Hypertextes schwer, seine genauen Grenzen zu bestimmen. Hier muss bei jeder Untersuchung der Untersuchungsbereich sinnvoll abgesteckt werden, um zu analysierbaren Symbolkomplexen zu gelangen. Es lassen sich jedoch auch bei Hypertexten formale Grenzsignale feststellen, die vor allem den Beginn eines Hypertextes markieren und dem Rezipienten den Einstieg in den jeweiligen Symbolkomplex erleichtern sollen. So enthält jede Webseite eine Ausgangsseite, die “Index”, “default”, “home” oder dergleichen genannt wird. Es ist die erste Seite, die beim Aufrufen der entsprechenden Domäne auf dem Bildschirm erscheint. Sie gibt Orientierungshilfen für den gesamten Symbolkomplex und kann meist von jeder zugehörigen untergeordneten Seite aus leicht wieder aufgerufen werden. Der Beginn des Symbolkomplexes wäre somit deutlich gekennzeichnet, die Frage, wo der Hypertext endet, ist jedoch nicht so leicht zu beantworten. Wegen der aufgelösten Linearität gibt es kein “Ende des Fadens”: Es sind verschiedene Wege durch das Netz eines Hypertextes möglich, die in der Regel auch mehrfach über denselben Knoten führen und somit kein Ende haben, sondern in Schleifen durch den Hypertext führen. Wer im Internet surft, bewegt <?page no="104"?> Das Hypertext-Kontinuum 71 sich jedoch nicht nur auf Endlosschleifen innerhalb eines Hypertextes. Vielmehr führen zahlreiche externe Verknüpfungen zu anderen Hypertexten und der Rezipient merkt unter Umständen gar nicht, wann er/ sie eine Internetdomäne verlässt und auf eine andere gelangt. Als Grenzsignal ist dabei die Internetadresse zu werten. Alle Inhalte, die unter einer Adresse oder einem Domänenname angesiedelt sind, z.B. www.beispieladresse.com, sind einem Verantwortungsbereich unterstellt. Der Internetrezipient kann am Wechsel des Domänennamens in der Adresszeile des Browsers erkennen, dass er von einem Symbolkomplex zu einem anderen gelangt ist. Aufgrund von internationalen Gesetzen haften Internetanbieter inzwischen für die präsentierten Inhalte - auch die der verlinkten Seiten -, es sei denn, sie distanzieren sich explizit davon. Aus diesem Grund markieren viele Autoren die Grenzen ihrer Haftung, sei es durch eine permanente Distanzierungserklärung auf einer ihrer Seite oder durch eine Meldung, die immer dann aktiviert wird, wenn der Benutzer ihre Domäne verlässt. Eine solche Meldung ist ebenfalls ein Grenzsignal des Hypertextes. 1.1.2. Sprachliche Zeichen vs. Symbole Ein weiteres Element aus Brinkers Textdefinition muss für den Hypertext erweitert werden: Anstelle von “Folge sprachlicher Zeichen” heißt es in der Hypertextdefinition “Symbolkomplex”. Es ist klar, dass in der Sprachwissenschaft in erster Linie sprachliche Einheiten untersucht werden und der Text als sprachliche Einheit verstanden wird, obwohl er neben sprachlichen Zeichen auch andere Symbole, wie Schriftformate (z.B. Kursivdruck, Unterstreichungen), Bildelemente oder Tabellen enthalten kann. Texte der gesprochenen Sprache enthalten viele nonverbale Elemente wie Mimik, Gestik oder Proxemik und sind vielfach in außersprachliche Kontexte eingebunden, die ebenfalls Symbolcharakter haben. 2 Beim Hypertext ist die Einbeziehung nichtsprachlicher Symbole, wie Geräusche, Musik, Bilder, Filme und interaktiver Elemente, wesentlich stärker als beim traditionellen gedruckten Text, so dass dies bereits in der Definition berücksichtigt werden muss. Genaugenommen könnte man zwischen den Bezeichnungen Hypertext und Hypermedia unterscheiden. Hypermedia hebt dabei auf den Umstand ab, dass es sich bei den Informationseinheiten nicht nur um Texte geschriebener Sprache handelt, sondern um Informationen, die in verschiedenen semiotischen Systemen kodiert sind und über verschiedene audio-visuelle Kanäle 2 Die räumliche Position der Gesprächspartner ist ein solcher außersprachlicher Kontext. So ist beispielsweise aufschlussreich, wo der Sprecher sich befindet: am Rednerpult oder im Zuschauerraum, vor oder hinter der Ladentheke, im Vorzimmer oder dem Büro der Direktorin. Auch die Kleidung einer Person hat Symbolcharakter, so dass man z.B. einen Monteur, eine Ärztin, einen Piloten oder eine Reinigungskraft daran erkennen kann. <?page no="105"?> Gesina Volkmann 72 übermittelt werden, also auch Ton und Bild eine Rolle spielen. Hypertext wird jedoch meist als Überbegriff für beide Arten von Symbolkomplexen verwendet. 1.1.3. Kohärenz Die Kohärenz ist ein wesentliches textbildendes Element, das auch beim Hypertext nicht fehlen darf. Nicht umsonst ist es die erste Eigenschaft, die in der Hypertextdefinition genannt wird. Mit der Möglichkeit der Verlinkung verfügt der Hypertext über ein formales Mittel, das eine Kohärenz an der Textoberfläche sichtbar machen kann, bzw. den Leser durch Mausklick im Bruchteil von Sekunden von einer Textstelle zur nächsten führen kann. Auch die verschiedenen von Internetanbietern oder Browsern zur Verfügung gestellten Suchmaschinen können innerhalb von Sekunden formale Zusammenhänge innerhalb des Textes sowie intertextuelle Bezüge aufzeigen. Diese Möglichkeit darf jedoch nicht mit der tatsächlichen Kohärenz des Hypertextes verwechselt werden. Innerhalb der Textmengen im Internet, werden nur die als Einheit empfunden, die in sich kohärent sind, d.h. durch eine thematische Ordnung zusammengehalten werden. 1.1.4. Kommunikative Funktion Ähnlich verhält es sich mit der kommunikativen Funktion, auf die die pragmatische Textdefinition abhebt. Sie stellt ebenfalls ein wesentliches textbildendes Merkmal dar. Eine formal und thematisch zusammenhängende sprachliche Äußerung wird nur dann als Text empfunden, wenn eine klare kommunikative Funktion erkennbar ist (Brinker 5 2001: 19). Der Text ist in diesem Sinne ein Handlungsinstrument, das in einer konkreten Äußerungssituation die Mitteilungsabsicht des Senders erfüllt und auf das Informationsbedürfnis des Empfängers trifft. Der Begriff der Textfunktion orientiert sich am Begriff des illokutiven Sprechakts nach Austin und Searle (Brinker 5 2001: 18). Jede komplexe Äußerungseinheit, die als Text definiert werden kann, lässt eine Gesamtfunktion erkennen, dabei kann es sich z.B. um Funktionen handeln, die zu Textsortenbenennungen geführt haben oder sogar als Titel für einen solchen Text verwendet werden, wie Einladung, Kündigung, Protokoll. Auch computerverwaltete Symbolkomplexe, die als Hypertext definiert werden können, müssen dazu eine erkennbare kommunikative Funktion erfüllen. Wie bei anderen Texten aus Massenmedien, ist auch bei Hypertexten vielfach die assertive Textfunktion gegeben: die Informationsübermittlung bzw. Bereitstellung von Daten zu einem bestimmten Thema; zum Beispiel Informationen zu tagespolitischen Ereignissen, wie sie sonst über Zeitungen, Rundfunk oder Fernsehen verbreitet werden (cf. Hypertexte auf www.elpais.com, www.tagesschau.de), Informationen über Bücher, wie sie in Bibliothekskatalogen zu finden sind (Hypertexte auf <?page no="106"?> Das Hypertext-Kontinuum 73 www.bne.es, http: / / staatsbibliothek-berlin.de), Informationen zu bestimmten Themen aus dem Alltag, Gesundheit, Sport, Musik (Hypertexte auf www.frag-mutti.de, www.libase.de), Informationen zu bestimmten politischen oder kulturellen Bildungseinrichtungen (Hypertexte auf www.lamoncloa.es, www.cervantes.es, www.uam.es, www.fu-berlin.de) und viele weitere. 3 Bei den genannten Beispielen stellt sich erneut die Frage, nach den Grenzen eines einzelnen Hypertextes. Denn bei den genannten Websites, handelt es sich eher um Hypertextsammlungen, als um einzelne Hypertexte. Thematische Kohärenz und kommunikative Funktion sind zwei Kriterien, die neben formalen Grenzsignalen dazu dienen können, Hypertexte als begrenzte Einheiten zu erfassen. In diesem Zusammenhang ist Storrer (2000: 235) zu nennen, die zwischen Hypertext und Hypertextnetz unterscheidet. Als Hypertext bezeichnet sie eine von einem Hypertextsystem verwaltete Menge von Modulen mit einem gemeinsamen Textthema und einer gemeinsamen Textfunktion, die den kontextuellen Rahmen für das Verständnis der einzelnen Module bilden. Interne Links verknüpfen einzelne Seiten und Textteile eines Hypertextes untereinander. Als Hypertextnetze bezeichnet Storrer (2000: 236) netzartige Verknüpfungen einzelner Hypertexte sowie anderer Ganzheiten. Das größte Beispiel für ein Hypertextnetz ist das weltweite Web WWW, das jedoch aufgrund seines immensen Volumens und durch seine ständige Veränderung nicht mehr zu überblicken ist. Es ist nicht möglich, das ganze World- Wide-Web als einen (1) Hypertext zu betrachten, denn es besitzt weder ein einheitliches Textthema noch eine einheitliche Textfunktion. Laut Schröder (2008: 2) ist das Web eher vergleichbar mit einer ganzen Bibliothek, in dem ein einzelner Hypertext dem Buch [einer Zeitschrift, einem Katalog oder anderem Einzelmedium] entspräche. Wo ist aber nun die Grenze zwischen Hypertextnetz, Hypertextsammlung, Hypertext und Hypertextmodulen zu ziehen? Es lassen sich unzählige computerverwaltete Symbolkomplexe finden, die von ihrer Größe zwischen dem einzelnen Hypertext und dem WWW anzusiedeln sind. Soll man eine einzelne Website wie z.B. eine private oder institutionelle Homepage, eine kommerzielle Verkaufsplattform oder ein privates Interessen-Portal als Hypertext oder Hypertextnetz betrachten? 3 Hypertexte im Internet sind als Massenmedien einzuordnen, weil sie der Definition von Massenkommunikation, wie bei Burger (2005: 1) angenommen, entsprechen: Es sind Inhalte, die im überwiegenden Maße für den kurzfristigen Verbrauch bestimmt sind, in formalen Organisationen mittels hochentwickelter Technologien hergestellt und mit Hilfe verschiedener Techniken (Medien) zumindest potenziell gleichzeitig einer Vielzahl von Menschen (disperses Publikum), die für den Autor anonym sind, dargeboten werden. Es gibt darüber hinaus auch Hypertexte, die für den längerfristigen Gebrauch bestimmt sind, wie z.B. Lexika oder Lernprogramme auf CD-ROM. <?page no="107"?> Gesina Volkmann 74 Für eine Antwort hierauf ist die Struktur dieser Symbolkomplexe zu betrachten. Hypertexte sind modular aufgebaute Texte. Ein einfacher Hypertext besteht aus einzelnen Modulen. Das gesamte Hypertextthema ist auf diese einzelnen Informationseinheiten verteilt, die durch Hyperlinks miteinander verbunden sind. Jedes Modul hat somit einen bestimmten Stellenwert im gesamten Hypertext und ist thematischer und funktioneller Bestandteil des gesamten Hypertextes. Jedes Modul stellt aber selbst auch wieder einen strukturierten Symbolkomplex dar, der auf andere Module des übergeordneten Hypertextes verweisen kann oder wiederum in neue untergeordnete Module gegliedert sein kann. Mit Hilfe des Hypertextes wird eine komplexe sprachliche Handlung vollzogen, die in verschiedene weniger komplexe Teilhandlungen gegliedert ist. Schröder (2008: 3) spricht von einem rekursiven Zerlegungszusammenhang. Das gesamte Web besteht also aus unzähligen, unterschiedlich großen Symbolkomplexen, die mit abnehmender Größe als Hypertextnetze > Hypertextsammlungen > Hypertexte > Hypertextmodule bezeichnet werden können. Die einzelnen Informationseinheiten können durch Hyperlinks über jede thematische oder funktionelle Hierarchie- oder Autoritätsgrenze hinweg miteinander verbunden sein. 4 Ein Hypertext ist demnach ein Text, dessen Bestandteile sich in einzeln abgrenzbare Hypertextmodule verselbstständigt haben (Schröder 2008: 3). In einem solchen Netzwerk, das sich dazu noch im Sekundentakt verändert, ist es unmöglich, klare Grenzen zu ziehen. Es lassen sich aber nach formalen Grenzsignalen, nach thematischen und funktionellen Kriterien Bereiche abstecken, die mit einem “dehnbaren” Begriff als Hypertext benannt werden können. Bei der Frage nach den Grenzen eines Hypertextes kann auch die von Storrer (2000: 236) genannte Unterscheidung zwischen offenen und geschlossenen Hypertexten angeführt werden. Sie unterscheidet Hypertexte, die mit “offenen Enden” angelegt sind, an die Autoren und Benutzer weitere Module jederzeit anknüpfen können und sollen. Ein zugrundeliegendes Thema wird über eine unbestimmte Zeit hinweg im Gespräch gehalten; es entstehen Dialoge und Diskussionen zwischen Autoren und Besuchern. Ein offener Hypertext wird nicht nur einmal rezipiert, sondern in vielfachen “Besuchen” gelesen und weitergeschrieben (Storrer 2000: 236seq). Als geschlossene Hypertexte bezeichnet sie dagegen statische Produkte, die mit stabiler Struktur und einer festen Anzahl von Modulen konzipiert sind (Storrer 2000: 236). Ein 4 Beispiele für kleinere und größere abgrenzbare Bereiche im Web findet man bei jeder Website einer Universität. Entsprechend der Struktur der Universität selbst, so gliedert sich auch ihr Webauftritt in viele Einzelbereiche (Rektorat, Dezernate, Fakultäten, Institute), die von unterschiedlichen Einzelverantwortlichen gepflegt werden, mit zahlreichen internen Links (Querverweise und hierarchische Verweise) und externen Links zu Seiten außerhalb der Universität. Ein abgrenzbarer Bereich innerhalb der Website einer Universität wären also beispielsweise die Seiten eines einzelnen Instituts. <?page no="108"?> Das Hypertext-Kontinuum 75 auf CD-ROM gebranntes Lexikon oder Lernprogramm stellen beispielsweise einen solchen geschlossenen Hypertext dar. Auch im Internet sind Hypertexte dieser Art als abgeschlossene Bereiche in übergeordnete Hypertextnetze eingebunden zu finden, zum Beispiel Mi mundo en palabras ein Spanischkurs für Kinder auf den Seiten des Instituto Cervantes http: / / cvc.cervantes.es/ ensenanza/ mimundo. Ein in dieser extremen Form geschlossener Hypertext, der keine externen Links enthält, ist im Internet selten zu finden. In den meisten Fällen haben wir es mit Zwischenformen zu tun, die in größerem oder geringerem Maße durch externe Links mit anderen Hypertexten des Internets verbunden sind und die regelmäßig aktualisiert werden. In jedem Fall bleibt festzuhalten, dass für die Produktion offener oder geschlossener Hypertexte unterschiedliche Konzeptionen anzusetzen sind. 1.2. Der Hypertext als Text im sprachwissenschaftlichen Sinne Es kann festgestellt werden, dass es sich bei einem Hypertext auch im sprachwissenschaftlichen Sinne um einen Text handelt, mit wesentlichen formalen, semantischen und pragmatischen Texteigenschaften, was ich in folgender Zwischendefinition festhalten möchte: Der Terminus Hypertext bezeichnet einen computerverwalteten, modular aufgebauten Symbolkomplex, der durch formale Grenzsignale, ein gemeinsames Thema und eine kommunikative Funktion von dem ihn umgebenden Hypertextnetz, dessen Bestandteil er ist, abgrenzbar ist. Somit wäre der zweite Teil der Bezeichnung Hypertext gerechtfertigt. Im nun folgenden Abschnitt möchte ich auf den ersten Teil der Bezeichnung eingehen und beschreiben, welche Eigenschaften ein Hypertext enthält, die nicht automatisch mit dem traditionellen Textbegriff mitverstanden werden. Der traditionelle sprachwissenschaftliche Textbegriff bezieht sich sowohl auf mündliche wie auch auf schriftliche Texte. Da der Hypertext wesentlich mehr sprachliche Elemente in schriftlicher als in mündlicher Form enthält, soll in dem nun folgenden Vergleich der schriftliche elektronische Hypertext dem schriftlichen gedruckten Text (Printtext) gegenübergestellt werden. 1.3. Was ist “Hyper” am Hypertext 5 Das von dem griechischen hypér abgeleitete Präfix hyper ist etymologisch mit dem lateinischen super und dem neuhochdeutschen über verwandt und bedeutet ‘über, über - hinaus, übermäßig’ (Drodowski 1989: 297). Bei dem Hypertext handelt es sich sozusagen um eine Art Super- oder Übertext, 5 Cf. den Titel des Aufsatzes von Storrer (2000) . <?page no="109"?> Gesina Volkmann 76 einen Text, dessen Eigenschaften über den normalen, traditionell bekannten Text hinausgehen, einen Text, bei dem gewisse Eigenschaften stärker ausgeprägt sind als beim traditionellen Text (cf. Huber 1998: 2.1.1). Storrer greift diesen Aspekt unter der Bezeichnung “Mehr-als-Text” auf (2000: 231). Der Hypertext geht in mancherlei Hinsicht über den Printtext hinaus. Der Hypertext ist nicht nur ein Text sondern die Verknüpfung vieler Texte. Er besteht aus einzelnen relativ selbstständigen Modulen. Die Grenzen zwischen Hypertextmodul, Hypertext, Hypertextsammlung und Hypertextnetz sind fließend. Der Hypertext ist nicht nur linear sondern multilinear. Er ist netzförmig. Der Hypertext hat nicht nur eine vorgegebene Progression, der Leser kann/ muss sich selbst die Auswahl und Reihenfolge der Module festlegen. Der Hypertext hat nicht nur einen passiven Rezipienten, sondern einen aktiven und kreativen Leser. Der Hypertext ist somit nicht nur monologisch sondern durch interaktive Elemente mehrstimmig. Der Hypertext ist mehrfachkodiert: Er ist nicht nur monomedial, enthält nicht nur geschriebenen Text, er ist vielmehr multimedial, enthält außerdem Bilder, Videos, Ton (Geräusche, Musik, gesprochene Sprache). Der Hypertext verweist nicht nur auf andere Textstellen und Texte, er führt den Leser direkt zu diesen Textstellen hin. Er enthält ausführbare Links. Dies ist nun eine Reihe von Eigenschaften, die den Hypertext als “Mehrals-Text” auffassen lassen (Storrer 2000: 231). Es gibt jedoch auch die gegenteilige Auffassung, die den Hypertext als “Noch-nicht-Text” beschreibt (Storrer 2000: 232seq). Hier lassen sich Eigenschaften des Hypertextes anführen, die ihn als noch unfertiges Gebilde betrachten, als von verschiedenen Beitragenden gesammelte Informationseinheiten, die für die Produktion eines monumentalen Textes dienen können. Der Hypertext ist in diesem Sinne dynamisch, erweiterbar und aktualisierbar, aber auch flüchtig, weil einmal dort gespeicherte Informationen zu einem späteren Zeitpunkt schon wieder überschrieben oder gelöscht sein können. Viele Hypertexte im Internet sind als solche “Noch-nicht-Texte” angelegt. In Blogs oder Foren zu den verschiedensten Themen tragen die Internetbesucher ihre Kommentare ein, diskutieren miteinander und tauschen Informationen aus, die für Mitdiskutierende und “Nur-Leser” gleichermaßen von Interesse sein können. Während manche Internetauftritte diese Hypertextform in den Vordergrund stellen, enthalten andere Websiten einen Unterbereich, in dem ein Informationsaustausch möglich ist. Zu der ersten Form gehört beispielsweise die deutsche Internetseite www.wer-weiss-was.de. Sie bezeichnet sich selbst als <?page no="110"?> Das Hypertext-Kontinuum 77 “kostenloses Netzwerk zum gegenseitigen Austausch von Know-how”. In einem thematisch sortierten Forum tauschen Benutzer ihr Wissen in über 4.000.000 Artikeln aus. Der dort entstehende Hypertext ist in eine Vielzahl und ständig wachsende Anzahl von Modulen gegliedert, deren gemeinsame Funktion nur noch der gegenseitige Austausch von Wissen ist. Der Besucher dieser Seite kann sich mit etwas Glück und Geschick aus dem Angebot von Modulen den Text zusammenstellen, der sein Informationsbedürfnis stillt. Der Hypertext hat hier die Form eines flexibel durchsuchbaren digitalen Zettelkastens. Bei der Onlinepräsenz der spanischen Tageszeitung El País gibt es eine Rubrik “Participación” www.elpais.com/ participacion. Hier können LeserInnen unter anderem Fragen stellen, eigene Artikel einsenden, Fotos hochladen und miteinander in Foren diskutieren. Diese Form von Hypertext wird dem Bedürfnis nach Mitteilung, Gedankenaustausch und Selbstdarstelung der LeserInnen gerecht. 2. Das Hypertext-Kontinuum 2.1. Medium und Konzeption Man kann also festhalten, dass Hypertexte eine Reihe von Eigenschaften aufweisen, die sie in größerem oder geringerem Maße von traditionellen Texten unterscheiden. In einem gewissen Sinne gehen Hypertexte über die traditionellen Printtexte hinaus und in anderen Bereichen stellen sie eine Vorstufe des Textes dar. Es ist vielfach diskutiert worden, welchen Einfluss das Aufkommen des Hypertextes auf die konzeptuelle Schriftlichkeit von Sprache hat, ob die Sprache des Hypertextes der gesprochenen oder geschriebenen Sprache näher ist oder eine weitere, davon unabhängige Form darstellt (cf. Wenz 1998). Das ist keine Frage, die mit wenigen Worten beantwortet werden kann, dazu sind die einzelnen Hypertext-Exemplare zu unterschiedlich. Ähnlich wie bei dem Nähe-Distanz-Kontinuum zur Unterscheidung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit von Koch/ Österreicher (1990: 12) muss auch bei der Unterscheidung Hypertext - traditioneller Printtext zwischen der materiellen Realisierung, dem Medium, einerseits und der Konzeption andererseits unterschieden werden. Inzwischen bereitet es keine Schwierigkeit das Medium zu wechseln: Jeder gedruckte Text kann mit Scanner und Texterkennungssoftware digitalisiert werden und jeder digitale Text kann ausgedruckt werden und so das Medium wechseln. Die Textorganisation eines traditionellen Printtextes und eines als Hypertext konzipierten Textes ist jedoch von Grund auf verschieden. Der Autor eines Textes kann die Eigenschaften des Mediums optimal nutzen, wenn er seinen Text entsprechend konzipiert. <?page no="111"?> Gesina Volkmann 78 Wir finden also in jedem Text, ob Hypertext oder traditionellen Printtext eine Reihe von Eigenschaften, die bei den Hypertexten tendenziell stärker und bei den Printtexten tendenziell schwächer ausgeprägt sind (oder umgekehrt). Je nach Ausprägung dieser Eigenschaften lässt sich jeder einzelne (Hyper-)Text an einer bestimmten Stelle eines Kontinuums ansiedeln, das ich das Hypertext-Kontinuum nennen möchte (cf. Abb. 1). Es stellt die Eigenschaften des Printtextes und des Hypertextes einander gegenüber, wobei jede Eigenschaft als einzeln graduierbar aufgefasst wird, dargestellt durch zwei gegenläufige Dreiecke. Printtext Hypertext linear multilinear monomedial multimedial statisch dynamisch monologisch interaktiv geschlossen offen fixiert aktualisierbar fertig unfertig fest flüchtig konkret virtuell statische Verweise ausführbare Links gedruckt computerverwaltet Abb. 1: Das Hypertext-Kontinuum 2.2. Printmedium, E-Text, Online-Magazin. Lokalisierung Verschiedener Text-Versionen auf dem Hypertext-Kontinuum Bereits bei einer Reihe traditioneller Textsorten findet man Merkmale, die sich für eine Überführung dieser Texte in eine computerverwaltete Form besonders gut eignen. Es sind Texte, die nicht für die lineare sondern selektive Lektüre gedacht sind, beispielsweise Lexika und Wörterbücher, Waren-Kataloge, Telefonbücher, Fahrpläne aber auch die Massenmedien Zeitung und Zeitschrift. Diese Textsorten findet man in drei deutlich verschiedenen medialen und konzeptionellen Versionen vor, die jeweils ihre eigene Bezeichnung tragen: 1. Printversion/ Textdesign, 2. E-Text/ E-Paper, 3. Online Version. Die gedruckte Printversion ist im Normalfall die ursprüngliche Version und über Jahre hinweg auch die einzige Publikationsform gewesen. In den letzten Jahren werden neben diesen Printversionen auch elektronische Ver- <?page no="112"?> Das Hypertext-Kontinuum 79 sionen angeboten. Die E-Text oder E-Paper-Version ist die digitalisierte Form der Printversion. Alle Seiten der jeweiligen Printversion werden, ohne die Linearität des ursprünglichen Dokuments zu verändern, in die elektronische Form gebracht. Als Format dient zum Beispiel eine pdf-Datei (Portable Document Format), die mit dem entsprechendem Lesegerät (PC, Notebook, mobile Geräte) und Programm (Acrobat Reader) angezeigt werden kann. Das Anzeigeprogramm erlaubt außer dem Lesen des Texts und Betrachten der Bilder weitere Aktionen. Es kann nach Text gesucht werden oder Text in die Zwischenablage kopiert und in andere Programme eingefügt werden. In den E-Text kann auch eine weiterreichende Navigation eingebettet sein: Es können Lesezeichen und interne ausführbare Verknüpfungen gesetzt werden. Bei der mir vorliegenden E-Paper-Version des deutschen Wochenmagazins Der Spiegel gab es keine solchen internen Links, bei der E-Paper- Version der spanischen Zeitschrift ¡Hola! durchaus: das Inhaltsverzeichnis ist mit internen Links auf die entsprechenden Seiten versehen. Bei einigen Anbietern von E-Papers wird mit Hilfe von Animationen das Umblättern nachempfunden. Auf Mausklick hin wird der Übergang von einer Seite zur nächsten so dargestellt, als würde ein Blatt Papier gewendet So beispielsweise in der E-Paper-Version der Zeitschrift Muy interesante http: / / issuu.com/ fabis/ docs/ muy_interesante_junio_2009 in der Ansicht des E-Paper Anbieters issuu. Manche Warenhäuser geben ihre Kataloge auch in E-Paper-Form heraus. Der Benutzer kann dann wie gewohnt darin blättern http: / / onlinecatalogue.ikea.com/ 2010/ ikea_catalogue/ DE/ . E-Texte sind meist auf unterschiedliche Art mit anderen Hypertexten verknüpft. Wir finden Verweise von der Onlineausgabe auf das E-Paper: So bietet die Online-Präsenz verschiedener Zeitungen oder Zeitschriften die Möglichkeit in eine kostenlose E-Paper-Version zu schauen, mit dem Ziel Abonnenten oder Käufer für dieses Medium oder die Printversion zu gewinnen. Die Online-Zeitschrift Brigitte erlaubt das Blättern in einer Kurzversion ihrer Printausgabe: www.brigitte.de/ service/ heft-161299. Links aus dem E-Paper heraus sind seltener: Beim E-Katalog von IKEA kann man beispielsweise die dort gefundenen Waren per E-Mail anderen Personen weiterempfehlen oder in einen Bestellvorgang aufnehmen. Die im E-Katalog angebotenen Waren sind mit der jeweiligen Position im Online-Katalog verlinkt. Die E-Textversion von stark linear konzipierten, monosequenzierten Print-Texten, wie Gesetzestexten oder wissenschaftlichen Werken sind auf dem Hypertextkontinuum in allen Merkmalen bis auf “virtuell konkret” und ggf. “ausführbare Links statische Verweise” sehr nah bei den entsprechende Printmedien positioniert [Abb. 2 ] 6 6 Beispiele für solche E-Texte wären juristische Texte, wie Prüfungsordnungen, (cf. www.fu-berlin.de/ studium/ docs/ texte/ oder wissenschaftliche Texte, wie <?page no="113"?> Gesina Volkmann 80 Dasselbe gilt für das mehrfachsequenzierte E-Paper (die E-Textversion von Zeitung oder Zeitschrift). Im Falle der Eigenschaft “multimedial monomedial” ist das E-Paper sogar noch weiter in Richtung monomedial als die Papierversion zu lokalisieren, denn während die konkrete Zeitung oder Zeitschrift auch über den Tastsinn wahrnehmbar ist und mit beigelegten Warenproben oder Geschenken auch noch andere Sinne anregen kann, bleibt diese Möglichkeit dem virtuellen E-Text verwehrt. Die zugrundeliegenden Printversionen dieser Massenmedien sind aber bereits nicht mehr streng linear und monomedial konzipiert [Abb. 2 ]. Bei dem Waren-Katalog in der Printversion kommt darüber hinaus ein stärkeres Maß an Interaktivität hinzu: Der Leser soll hier mit Hilfe des Katalogs einen eigenen Text (die Bestellung) produzieren, mit dem er mit dem Textproduzenten in Dialog tritt. Der entsprechende E-Katalog nutzt die Mittel des Hypermediums für die interaktiven Ziele dieser Textsorte [Abb. 2 ]. Texte dieser Art werden meist stark mit Internetseiten verlinkt, so dass hier die Grenze zwischen E-Text und Onlineversion verschwimmt. In Abb. 2 werden die Positionen von Printtext und die E-Text derselben Art von Veröffentlichung auf dem Hypertext-Kontinuum mit einander verglichen. 7 Man erkennt also, dass die Position des E-Textes sich kaum von der Position des jeweils zugrundeliegenden Printtextes unterscheidet. E-Texte sind für das Printmedium konzipierte Texte, die anschließend lediglich in ein anderes Medium überführt wurden. Um die Hypertexteigenschaften im Einzelnen zu verstehen, muss ein Vergleich zwischen unterschiedlich konzipierter Printversion und Onlineversion gezogen werden. Dies soll im folgenden Abschnitt am Beispiel von Publikationen der Massenmedien Zeitung und Zeitschrift passieren. Die E-Texte scheinen zum einen für Benutzer konzipiert zu sein, die an traditionelle Formen gewöhnt sind und sich besser in einer linearen Konzeption zurechtfinden. Zum anderen stellt sie eine kostengünstige und schnelle Publikationsmöglichkeit dar, eine platzsparende Speicherung umfangreicher Textmengen, die auch für computergestützte Analysen oder gezielte Informationssuche genutzt werden kann (Storrer 2004: 11). Es lassen beispielsweise ganze Bibliotheken literarischer Werke, mehrere Jahrgänge von Zeitungen oder Zeitschriften oder 5 Bände des Berliner Telefonbuchs Abschlussarbeiten www.4fo.de/ download/ diplomarbeit_kunze.pdf oder Fachaufsätze, wie sie von den Internetseiten vieler Universitäten oder Websites von Wissenschaftlern zur Verfügung gestellt werden: http: / / users.physik.fu-berlin.de/ ~femtoweb/ newfemtos/ publications/ thesis.php. 7 Ich bin dabei von den zurzeit für ein breites Publikum verfügbaren Ausgaben ausgegangen, d.h. bei den digitalen Versionen für die Ansicht an einem PC. Versionen für Mobilgeräte wurden nicht berücksichtigt. Betrachtet man die Beschreibung der Onlineversionen von Zeitungen und Zeitschriften in Publikationen von vor 5 Jahren, stellt man fest, dass hier eine rasante Entwicklung stattfindet, die es kaum möglich macht, einen Zustand festzuhalten, man kann lediglich Tendenzen beschreiben. <?page no="114"?> Das Hypertext-Kontinuum 81 auf wenige CD-ROM pressen. Auch in der wissenschaftlichen Forschung bietet der E-Text die Möglichkeit, einzelne Fachaufsätze und ganze Bücher schnell und kostengünstig weltweit zu verbreiten. Printtext Hypertext linear multilinear monomedial multimedial statisch dynamisch monologisch interaktiv geschlossen offen fixiert aktualisierbar fertig unfertig fest flüchtig konkret virtuell statische Verweise ausführbare Links gedruckt computerverwaltet Hypertext-Kontinuum mit der Position von Printtexten E-Texten Monosequenzierter Text: Fachaufsatz Mehrfachsequenzierter Text: Zeitung/ Zeitschrift Unsequenzierter Text: Warenkatalog Abb. 2 3. Die Hypertext-Merkmale Online-Versionen weisen wesentlich mehr Elemente des Hypertextes auf als die E-Texte; sie sind von vorne herein als Hypermedium konzipiert worden. 3.1. Linear vs. Multilinear: Modulare Konzeption 8 Das wichtigste Merkmal, das einen Hypertext kennzeichnet, ist die modulare Konzeption. Es folgt nicht mehr linear ein Satz nach dem anderen, ein Sinnabschnitt nach dem anderen (Dehmer 2006: 11). Der gesamte Text ist vielmehr in Module aufgeteilt, die durch Hyperlinks netzförmig miteinan- 8 Storrer (2000: 240seq) verwendet für konzeptionelle Linearität den Ausdruck “Sequenziertheit” und unterscheidet zwischen monosequenziert (z.B. ein Fachaufsatz), mehrfachsequenziert (z.B. ein Reiseführer) und unsequenzierten (z.B. ein Lexikon). <?page no="115"?> Gesina Volkmann 82 der verbunden werden. Diese Möglichkeit der mehrdimensionalen Darstellung kann als Beweggrund für die Entwicklung des Hypertextes angesehen werden. 9 Während der gedruckte Text den Autor zwingt, seine vielschichtigen Gedanken künstlich zu sequenzieren, um sie in eine Linie zu bringen, erlaubt der Hypertext es dem Autor, seine assoziativ verbundenen Ideen in mit Hyperlinks verbundenen Einheiten den Modulen (Knoten, nodes) eines Hypertextes darzustellen (cf. Storrer 2004: 4). Durch die aufgebrochene Linearität bekommt der Rezipient eines Hypertextes eine ganz neue Rolle. Er wird vom Textautor nicht mehr so stark geführt wie durch einen linearen Printtext, sondern hat Wahlmöglichkeiten. Er kann bzw. muss sich entscheiden, welchen Verknüpfungen er folgt, welche Informationseinheiten er rezipiert und in welcher Reihenfolge er es tut. Der Autor eines Hypertextes muss durch eine geeignete Navigation dem Rezipienten den Weg durch das Informationsnetz zeigen und durch optimale Organisation die Information übersichtlich darstellen. Dem Rezipienten bieten sich viele verschiedene mögliche Abfolgen an, die Textteile bzw. eine Auswahl davon zu rezipieren (cf. Storrer 2000: 229, Abb. 1 verschiedene Lesewege durch den Hypertext). Bei den Massenmedien Zeitschrift und Zeitung handelt es sich bereits bei den Ausgaben in gedruckter Form um Textsammlungen, die nicht dazu angelegt sind, vollständig von der ersten bis zur letzten Seite gelesen zu werden. Der Leser soll aus einem Informationsangebot wählen. Auch die einzelnen Texte, die Artikel, sind so angelegt, dass der Leser zu Beginn bereits die wichtigsten Informationen erhält und die Lektüre jederzeit abbrechen kann, sobald sein Informationsbedürfnis befriedigt ist, bzw. am Ende eines Artikels auf weitere Texte verwiesen wird, die thematisch mit diesem in Zusammenhang stehen, falls er noch Bedarf an weiterer Information hat. Titelblatt, Schlagzeile und Inhaltsverzeichnis erfüllen dabei die wichtige Funktion, den Leser zu gewinnen und durch das Informationsangebot zu führen. Bei einem Hypertext wie einer Online-Zeitschrift werden die von der Redaktion zur Verfügung gestellten Informationen in digitale Informationseinheiten organisiert, die durch Hyperlinks miteinander verbunden sind. Die einzelnen Module sind teilweise im Umfang und im Textaufbau mit den Artikeln einer gedruckten Zeitschrift vergleichbar. Es ist davon auszugehen, dass viele Artikel der Printversion auch in der Online-Version derselben Zeitung/ Zeitschrift zu finden sind. Diese Artikel sind in sich linear strukturiert. Es bleibt festzuhalten, dass die einzelnen Module oder Knoten, sofern sie Text enthalten, linear aufgebaut sind, was dem linearen Charakter von Sprache entspricht. Manche Hypertexte sind stärker linear ausgerichtet und 9 Cf. Bush, Vanevar (1949): “As we may think”. The Atlantic Monthly. July 1945. www.ps.uni-sb.de/ ~duchier/ pub/ vbush/ vbush.shtml <?page no="116"?> Das Hypertext-Kontinuum 83 enthalten umfangreiche Textmodule, die im Ausdruck einem mehrseitigen Text entsprechen. Das ist bei vielen Online-Nachrichtenmedien der Fall (Der Spiegel, El País …). Einen stärker multilinearen also netzförmigen Aufbau weisen Unterhaltungsmedien auf, z.B. www.mujeractual.com. Sie bestehen aus kürzeren Textmodulen und Modulen, die auf einem anderen Medium als geschriebener Sprache basieren (Fotos, Videos, Animationen) und entsprechend weniger linear ausgeprägt sind. Ein weiteres Beispiel für einen stärker modular und somit multilinear aufgebauten Hypertext stellt Lecturas y educación dar 10 . Dieser Hypertext zeigt gleichzeitig, dass Multilinearität nicht zwangsläufig auf Unübersichtlichkeit hinausläuft. Er ist klar gegliedert in 8 Bereiche zu jeweils einem Autor. Jeder dieser Bereich enthält fünf Module, die nacheinander (durch Buttons siguiente - anterior) oder in Auswahl (durch Navigation) zugänglich sind. 3.2. Monologisch vs. interaktiv Vom Leser eines Hypertextes wird wesentlich mehr Aktivität verlangt als bei Printmedien. Die Rezeption des Hypertextes beschränkt sich nicht nur auf eher passives Lesen und Anschauen. Schon die Netzförmigkeit verlangt das Suchen eines eigenen Wegs durch den Hypertext. Nur in seltenen Fällen gibt es eine “geführte Tour” durch das Netz. Der Leser stellt sich durch seine Auswahl von Links aus dem vorhandenen Angebot seinen Text zusammen. Er wird in diesem Sinne Autor seines eigenen Textes. Manche Webauftritte sind so aufgebaut, dass sich dem Leser ohne seine eigene Aktivität die gewünschte Information gar nicht oder nur teilweise präsentiert. Sie enthalten unsequenzierte Hypertexte (Storrer 2000: 241), wie zum Beispiel im Falle von Fahrplänen, Bibliothekskatalogen oder Telefonbüchern. Der Leser kann (oder muss) nicht, wie in einem gebundenen Buch blättern oder einem Karteikasten suchen, bis er an der richtigen Stelle angekommen ist, sondern gibt seine Fragen in vorgegebene Suchmaschinen ein, die Informationen aus dem System abfragen. Der Leser wird zum Autor seines persönlichen Textes, den er sich auf diese Weise aus dem Informationsangebot des Hypertextes zusammenstellt. So entsteht z.B. ein persönlicher Fahrplan oder eine Literaturliste zu einem bestimmten Thema. Der Text, der Ergebnis seiner Suche ist, wird ihm dann vielfach auch in ausdruckbarer Form dargestellt. In anderen Fällen wird eine Suchmaschine neben bereits fertigen Texten angeboten. So findet man Internetseiten mit Kochrezepten, zu denen man entweder über ein Register/ Inhaltsverzeichnis oder eine Suchmaschine gelangt. Im Register kann man sich von einem Rezept zum nächsten bewegen, ähnlich, wie man in einem Kochbuch blättern würde. Durch die Such- 10 http: / / comunidad-escolar.pntic.mec.es/ documentos/ introduc/ lectura.html <?page no="117"?> Gesina Volkmann 84 maschine kann man gezielt nach Rezepten suchen und dabei Kriterien wie Anlass, Zutaten, Unverträglichkeiten angeben (cf. Verträgliche Rezepte auf www.libase.de/ wbb/ index.php? page=Board&boardID=28). Durch ähnliche Interaktivität werden persönliche Zusatzinformationen zu Hypertexten angeboten, zum Beispiel erhält eine Leserin in der Rubrik Madres neben Informationen für Mütter von Kindern in verschiedenen Altersgruppen, das Angebot mit Hilfe eines Rechenmoduls die persönliche Gewichtszunahme in der Schwangerschaft zu kontrollieren. In der Rubrik Fitness der Onlineversion der Süddeutschen Zeitung kann der Leser den eigenen Body-Mass- Index ermitteln lassen. Bei diesen Interaktionen erhält der Leser selbst sofort nach Eingabe die gewünschten Informationen. 11 Eine andere Form der Interaktivität geht noch weiter, hier wird der Leser selbst zum Autor für andere. Seine eingegebenen Texte stehen auch für andere Leser zur Verfügung. So gibt es auf manchen Websites die Möglichkeit, Fragen zu stellen, die dann von Experten der Website-Redaktion beantwortet werden. Auf der Online-Präsenz der Zeitschrift Ser Padres http: / / elbebe.serpadres.es/ index.php/ expertos können Experten zu fünf verschiedenen Themen rund um die Elternschaft befragt werden. Die gestellten Fragen und Antworten der Experten darauf sind dann für alle Leserinnen zugänglich. Auf anderen Seiten können Leser in Foren, Blogs oder Chats in Kontakt zueinander treten. Beliebt sind auch Meinungsumfragen und Abstimmungen, bei denen die Leser sofort nach Eingabe ihrer persönlichen Meinung das Gesamtergebnis ablesen können. Im Printtext gibt es kaum die Möglichkeit der Interaktivität, aber auch hier bieten die Massenmedien Zeitschrift und Zeitung wesentlich mehr Interaktivität an als Fachbücher oder Romane. Es finden sich Spiele, Rätsel oder Preisausschreiben, die eine Leserzuschrift fordern. Beliebt sind auch psychologische Tests, bei denen der Leser seine Antworten anhand eines Punkteschemas selbst auswerten kann. Darüber hinaus können Leser in Form von Leserbriefen in Kontakt mit der Redaktion und anderen Lesern treten. Vielfach verweisen die Printmedien hierzu jedoch auf ihre jeweilige Onlinepräsenz, da hier ein Austausch zeitnah erfolgen kann. 3.3. Monomedial vs. multimedial Die einzelnen Informationseinheiten oder Knoten eines Hypertextes bestehen nicht nur aus Text (digital dargestellter schriftlicher Sprache) sondern sind multimedial, das heißt neben Bildern, Graphiken und Fotos kommen auch Animationen und Filme sowie auditive Elemente (Geräusche, gespro- 11 Cf. www.mujeractual.com/ madres/ embarazo/ calculadora2.html, www.sueddeutsche.de/ app/ gesundheit/ bmirechner. <?page no="118"?> Das Hypertext-Kontinuum 85 chene Sprache, Musik) hinzu. Die Gewichtung der nichtsprachlichen multimedialen Elemente variiert von Hypertext zu Hypertext. Eine gedruckte Zeitschrift ist bis zu einem gewissen Grad ebenfalls multimedial. Das Synonym für Zeitschrift “Illustrierte” sagt schon, dass neben dem Text, Fotos und Bilder eine große Rolle spielen. Eine Zeitschrift besteht meist aus Papier von unterschiedlicher Stärke, Farbe und Glanz und enthält oft beigefügte Objekte (Warenproben, Autogrammkarten, CDs, DVDs u.v.m.). 3.4. Gedruckt vs. computerrealsiert, elektronisch Ein Hypertext wird mit Hilfe eines Computers erstellt und ist auch nur mit Hilfe eines Computers rezipierbar (Dehmer 2006: 12). Der Rezipient benötigt ein elektronisches Lesegerät (PC, Handhold, Handy) und ein geeignetes Anzeigeprogramm (Browser), um einen Hypertext lesen zu können. Ein einmal im Internet bereitgestellter Hypertext kann gleichzeitig von den verschiedensten Stellen der Welt aus gelesen werden, jeder einzelne Leser ist jedoch an einen entsprechend ausgerüsteten Leseplatz mit Internetzugang gebunden, sobald dieser Platz verlassen wird, endet auch die Lektüre. Die gedruckte Zeitschrift gelangt über den Verkauf oder durch Ausleihe zum Leser. Der Leser kann die Zeitschrift physisch als Festkörper erfahren und über ihren Verbleib verfügen, sie bei Ortswechsel mitnehmen, an verschiedenen Orten auch während der Fahrt lesen. 3.5. Statisch vs. dynamisch, geschlossen vs. offen Die beschriebene Multimedialität und Interaktivität von Hypertexten enthält dynamische Elemente, die es in der Printversion nicht geben kann. Die gedruckte Zeitung/ Zeitschrift ist ein fixiertes Endprodukt. Ein Hypertext ist ein “Text in Bewegung”, auf einem flüchtigen, virtuellen Medium. Ihm fehlt die Eigenschaft, eine ohne weitere Hilfsmittel wahrnehmbare Spur auf einem festen Material zu hinterlassen (cf. Storrer 2000: 233). Selbst gespeicherte Dateien können auch nur mit geeignetem Lesegerät wieder wahrnehmbar gemacht werden. Der Hypertext lässt sich nicht, um mit Goethe zu sprechen, “schwarz auf weiß […] getrost nach Hause tragen”. Jeder weiß, wie leicht digitale Daten ungewollt verloren gehen können. Dass man manchmal vergeblich versucht, Informationen im Internet wiederzufinden, die man kurze Zeit vorher noch lesen konnte. Der Hypertext ist nun aber so konzipiert, dass seine ständige Bewegung beabsichtigt ist. Hypertexte, die nicht in regelmäßigen Abständen aktualisiert werden, gelten schnell als veraltet. Online-Zeitungen und Zeitschriften haben eine wesentlich schnellere Aktualisierungsrate als ihre jeweiligen Printversionen. So ändern sich die Schlagzeilen von Online-Zeitungen <?page no="119"?> Gesina Volkmann 86 häufig und berichten sehr zeitnah über neueste Ereignisse. Manchmal ändern sich die Inhalte sogar im Minuten- oder Sekundentakt. So beim sogenannten Newsticker, cf. www.elpais.com/ loultimo/ , einer Rubrik der spanischen Onlineversion von El País, in der fünf bis zehn neue Artikel pro Stunde erscheinen. 3.6. Ausführbare Links vs. statische Verweise Der große Unterschied zwischen den Hypertext-Links und den Querverweisen in Printmedien ist der, dass Hypertextverweise ausführbare Links sind, das heißt sie verweisen nicht nur auf andere Stellen im Hyperkontext, sondern sie verbinden zwei Kontexte elektronisch miteinander. Durch Klicken auf den Link-Anker gelangt man im Bruchteil einer Sekunde an das Link-Ziel. Bei der Online-Version von Zeitungen und Zeitschriften sind deswegen viele Arten von Module zu finden, die bei der Printversion ausgeschlossen sind. Auf der Eingangsseite haben die Schlagzeile, ein Foto und der erste Satz einer großen Anzahl von Artikeln Platz (ca. 20), zu denen dann mit Hilfe von Hyperlinks weitergeleitet wird, sowie eine Vielzahl weiterer Navigationselemente. Bei den Printmedien muss der Leser den Weg eines Verweises selbst zurücklegen: im einfachsten Fall nur die Blickrichtung ändern, oder umblättern, bzw. die genannte Seitenzahl suchen; in anderen Fällen kann man dem Link aber gar nicht sofort folgen, weil das Verweisziel nicht in derselben Äußerungssituation vorliegt; es müssten beispielsweise erst vorangehende oder folgende Zeitschriftenausgaben erworben werden oder man müsste zum digitalen Medium wechseln. 3.7 Die Positionen mehrfachsequenzierter und unsequenzierter Texte auf dem Hypertext-Kontinuum Abschließend kann die oben (cf. 1.2.) genannte Definition bestätigt und wie folgt erweitert werden. Jeder (Hyper)Text weist die im Hypertext-Kontinuum genannten graduellen Merkmale auf. Seine Affinität zum Hypertext oder Printtext kann für jedes Merkmal einzeln bestimmt werden. Die Positionen der Massenmedien Zeitung/ Zeitschrift und Warenkatalog müssten wie folgt auf dem Hypertext-Kontinuum markiert werden: <?page no="120"?> Das Hypertext-Kontinuum 87 Printtext Hypertext linear multilinear monomedial multimedial statisch dynamisch monologisch interaktiv geschlossen offen fixiert aktualisierbar fertig unfertig fest flüchtig konkret virtuell statische Verweise ausführbare Links gedruckt computerverwaltet Das Hypertext-Kontinuum mit den Positionen von Massenmedien Zeitungen/ Zeitschriften als Printtexte E-Texte und in der Online-Version Kataloge als Printtexte E-Texte und in der Online-Version Abb. 3 Weit stärker als das Medium bestimmt die zugrundeliegende Konzeption die Position eines Textes auf dem Hypertext-Kontinuum. Während ein für die vollständige, lineare Lektüre konzipierter Fachaufsatz, also ein monosequenzierter Text, ganz links am Pol des Printtextes anzusiedeln ist (cf. Abb. 2), nimmt ein unsequenzierter Text, wie z.B. die Online-Version eines Katalogs, dessen Teile ohne Risiko für das Verständnis in beliebiger Abfolge rezipiert werden können, eine Position ganz rechts auf dem Kontinuum ein (cf. Abb. 3). Mehrfachsequenzierte Texte, wie Zeitungen und Zeitschriften decken in der Print- und Onlineversion das Mittelfeld ab (cf. Abb. 3). Bibliographie Brinker, Klaus ( 5 2001): Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in die Grundbegriffe und Methoden. [ 1 1985], 5. durchgesehene und ergänzte Auflage, Berlin: Erich Schmidt Verlag. Brinker, Klaus / Antos, Gerd, / Heinemann, Wolfgang / Sager Sven F. (Eds.) (2000/ 2001): Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung, Berlin: New York: Walter de Gruyter. Burger, Harald (2005): Mediensprache. 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In Belgien führt der Sprachenstreit zwischen Flamen und Wallonen weiter in eine aussichtslose Situation (so sieht es am 17. 6. 2010 aus), die Zweiteilung des Landes, die bislang wegen der geographischen Lage des mehrheitlich inzwischen frankophonen Brüssel im flämischen Sprachgebiet unmöglich schien, wird wieder ins Auge gefasst. In Kirgisistan könnte Militär, evtl. Russland und seine Verbündeten, eingreifen, um die blutigen Angriffe der Kirgisen gegen die Usbeken im Lande zu stoppen. Ich bin zu weit von Kirgisien und Usbekistan entfernt und meine eigenen Erfahrungen mit beiden Ländern liegen zu weit zurück, um die Situation wirklich begreifen zu können, zudem weiß ich nicht, wie sich die Kirgisien-Russen positionieren und welchen Anteil die Sprachen an dem Konflikt haben. Nur scheint es mir einseitig, und deshalb ungerecht, wenn westliche Medien, wenn sie in der Analyse überhaupt so weit kommen, nun Stalin Vorwürfe machen: er habe bei der Einteilung der Republiken die ethnischen Grenzen der Bevölkerungen nicht besondern sie missachtet, und er habe so die jetzigen Konflikte verursacht. Es stimmt ja, aber er war da nicht allein: Kolonisten und Großmächte sind so vorgegangen. Man sehe sich die wie mit dem Lineal gezogenen heutigen Staatsgrenzen im Westen der USA und in Afrika an, die sich nicht nach der Besiedlung durch autochthone Bevölkerungen richtete, und man betrachte die augenblicklichen, von Kolonisatoren hinterlassenen nicht mit ethnischen und sprachlichen Grenzen übereinstimmenden Staatsgrenzen im Nahen und Mittleren Osten, einschließlich Afghanistan. So wurden viele problematische zwei- und mehrsprachige Gebiete geschaffen. Wie immer sie zustande gekommen sind, offene Sprachkonflikte und latente, die jederzeit in offene umschlagen können, trifft man häufig. Man findet sie fast überall auf der Weltkarte an den Orten, in denen Sprecher verschiedener Sprachen am selben Ort zusammenleben. Gemeint sind gemischtsprachige Regionen, in denen die Sprecher Haus-an-Haus leben (im Gegensatz zu etwa Föderationen mit getrennten Sprachgebieten). Mir ist aus eigener Erfahrung nicht eine Region bekannt, und ich kenne auch aus der <?page no="125"?> Harald Weydt 92 Literatur keine, bei der dieses Zusammenleben ohne Spannungen abliefe; Spannungen und Konflikte sind eher die Regel als die Ausnahme. Es lohnt sich, darüber nachzudenken, warum sie entstehen und wie man sie entschärfen kann. Zunächst eine eigene Erfahrung in einem zweisprachigen Gebiet und dann eine Beobachtung auf einem Kongress. Meine erste Prägung und die erste nachhaltige Desillusionierung in Bezug auf die Friedfertigkeit von Diglossie erlebte ich in Montréal in den Jahren 1969 bis 1971. Ich war mit der Vorstellung nach Montréal gekommen, dass dort die Menschen großes Glück hätten, seien sie doch alle zweisprachig, noch dazu in den - so schien es damals - beiden wichtigsten Sprachen der Welt, Englisch und Französisch. Beneidenswert. Ich erlebte aber Furcht, Unverständnis und eine entschlossene, tiefgehende, verbitterte Kampfbereitschaft. - Die Situation, wie ich sie z. T. persönlich in anderen Teilen der Welt erlebt habe, ist nicht viel besser: Konflikte in Jugoslawien, besonders im Kosovo, in Belgien, besonders intensiv die Entwicklungen in den selbständig gewordenen Republiken der Sowjetunion und des sozialistischen Lagers. Bei den folgenden Ausführungen denke ich vor allem an meine Erfahrungen in Québec, Kasachstan, und Belgien. 2. Die Benachteiligung des Nicht-Muttersprachlers 2. 1. “Quartiers en danger”. Beobachtungen Unter welchen Konstellationen entstehen Sprachkonflikte? Dazu zunächst konkret und anschaulich einige Beobachtungen. An ihnen wird das ganze Ausmaß des Babelschen Fluchs der Vielsprachigkeit zur Sprache kommen. Es sei im Voraus gesagt, dass ich Sprachkonflikte nicht als etwas Künstliches ansehe, nicht als einen unverständlichen und irrationalen Rückfall in längst überholte Barbarei, nicht als von außen “gepuscht”, sondern als etwas Unausweichliches, als eine unvermeidbare Konsequenz. In dieser Einsicht liegt dann auch der Schlüssel zu ihrer Beherrschung. Im Jahr 1995 nahm ich am Kongress des europäischen Projekts/ Quartiers en danger / Endangered Neighbourhoods (“Gefährdete Nachbarschaft”) in Lyon teil. Das Projekt brachte Sozialarbeiter aus vielen europäischen Städten zusammen und gab ihnen Gelegenheit zum Gedankenaustausch über benachteiligte Stadtteile, Problemviertel, Slums. Als Kongress-Sprachen waren Englisch und Französisch zugelassen, Beiträge wurden in die jeweils andere Kongresssprache übersetzt. Am zweiten Tag wurde Bilanz gezogen, ein Sprecher jeder Arbeitsgruppe stellte im Plenum deren Ergebnisse vor, darauf folgte eine Plenardiskussion. Ich habe die Redebeiträge der Delegierten in der Diskussion wie folgt protokolliert: ein Großbuchstabe symbolisierte die Nationalität des Sprechers (E für Spanisch, D für Deutsch, F für Französisch, I für Italienisch etc.), danach notierte ich die verwendete Sprache mit <?page no="126"?> Über Sprachkonflikte und ihre Vermeidung 93 einem Kleinbuchstaben (f für Französisch, e für Englisch), dann vermerkte ich die Länge des Beitrags (1: 55 bedeutet, eine Minute und 55 Sekunden). Es ergaben sich Reihen wie das folgende, prototypische und jetzt von mir erfundene Beispiel: 1) IR (Irish)e 03: 15, (zu lesen als: “Der erste Redebeitrag kommt von einem Iren, der spricht 3 Minuten, 15 Sekunden, auf Englisch”); 2) Ff 2: 50; 3) P (Portugiesisch)e 00: 15; 4) B(ritish)e 04: 16 (locker, beredt und humorvoll); 5) De 0: 10; 6) I (Italiener)f 0: 34) 7) Ff 3: 11, und so weiter. Anglophone und frankophone Muttersprachler lieferten viel längere Beiträge, sie ergriffen überproportional oft das Wort, ihre Beiträge waren weit überdurchschnittlich lang. Darüber hinaus waren ihre Argumente überzeugender. Die Aufmerksamkeit der Hörer hing zu einem hohen Maße von der sprachlichen Fähigkeit des jeweiligen Sprechers ab. Kurzen und schlecht formulierten Beiträgen wurde nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Alle Berichte über die Arbeit der Arbeitsgruppen wurden von Muttersprachlern vorgestellt. Wenn innerhalb der Arbeitsgruppen ein Berichterstatter bestimmt wurde, waren die Nicht-Muttersprachler mehr als froh, diese Aufgabe an Anglophone oder Frankophone abzutreten. Es ist selbstverständlich, dass die Berichterstatter die Ergebnisse aus ihrer Sicht darstellten, somit die Meinungsbildung des Plenums kontrollierten und dass ihre Gedanken in die Formulierung der Endresolution einflossen. Es gab nur eine Ausnahme: eine Deutsche, die ihren Bericht auf Englisch erstattete. Aber im Gegensatz zu den englischen und französischen Berichterstattern, die nahezu frei sprachen, verbrachte sie die ganze Mittagszeit, wie ich beobachtete, damit, ihre Rede Wort für Wort zu Papier zu bringen. Die Muttersprachler nutzten einen weiteren beträchtlichen Vorteil. Englisch- und französischsprachige Städte konnten als ihre Vertreter in den Kongress ihre besten Experten entsenden, die Fachleute mit den besten Ideen und der breitesten Erfahrung. Städte in anderen Ländern, ob in Griechenland, Portugal oder Dänemark mussten andere Kriterien an die Auswahl ihrer Vertreter anlegen. Die entscheidende Frage war: “Wer spricht so gut Französisch oder Englisch, dass er/ sie fähig ist, unsere Stadt zu repräsentieren? ” Dem gegenüber wurde die fachliche Qualifikation und die Durchsetzungs- und Überzeugungskraft sekundär. Folglich waren die Anglophonen und die Frankophonen sowohl sprachlich als auch fachlich überlegen. Selbstverständlich wären die Verhältnisse genau umgekehrt gewesen, wenn für den Kongress andere Sprachen zugelassen gewesen wären. Auf dem gleichen Kongress mit den Sprachen Dänisch und Italienisch hätten die Dänen und Italiener mit großem, souverän vermitteltem Expertenwissen <?page no="127"?> Harald Weydt 94 und mit tiefgehender Problemanalyse geglänzt. Sie hätten wichtige und interessante Überlegungen vorgetragen und Vorschläge unterbreitet, während die Anglophonie und die Frankophonie in marginale Rollen abgedrängt und weitgehend zum Schweigen verurteilt gewesen wären. 2.2. Konsequenzen Mit diesem Beispiel von der Kommunikation zwischen Muttersprachlern und Nicht-Muttersprachlern soll veranschaulicht werden, dass der Nicht- Muttersprachler dem Muttersprachler intellektuell und diskurstechnisch unterlegen ist. Hier sei nur ein unvollständiger Katalog von Konsequenzen aufgelistet 1 . Es ist offensichtlich, dass der Nicht-Muttersprachler erheblich größere Schwierigkeit hat, passende Wendungen und grammatische Konstruktionen zu finden, um genau auszudrücken, was er sagen will. Das dauert länger und lässt den Sprecher selbst unbefriedigt. Er macht viele Fehler oder er benutzt zumindest unpassende Wendungen. Sein muttersprachlicher Gesprächspartner, der sich besser äußern kann, bemerkt das, und diese Beobachtungen verstärken seine natürliche Überlegenheit. Der Nichtmuttersprachler, der mit der Fremdsprache ringt, ist sich natürlich seiner eigenen Unzulänglichkeit bewusst, er erkennt die höhere Sprachbeherrschung seines Partners an und fühlt sich automatisch unterlegen. Der Nicht-Muttersprachler ist weniger im Stande, Argumenten schnell zu begegnen. Er erhält automatisch weniger Redebeiträge. Er kann sich im Gespräch nicht an den passenden Redeübergabepunkten (transition points) einschalten, schon deshalb nicht, weil er zu viel Zeit zur sprachlichen Vorbereitung seines Beitrages braucht. Seine Redezeit ist geringer. Seine Redebeiträge werden als abrupt und schroff wahrgenommen. Er kann wenig tun, um an seinem eigenen face oder an dem des Gesprächspartners zu arbeiten, zumindest beträchtlich weniger als der Muttersprachler. Seine Beiträge schließen nicht geschmeidig an die vorhergehenden Beiträge an. Deshalb wird angenommen, sie seien akzeptiert, da ihnen ja nicht widersprochen wurde. Er kann nicht leicht und beiläufig in Frage stellen, was im Vorgängerzug behauptet wurde, geschweige denn dem widersprechen. Will er eine Gegenmeinung äußern, so ist er 1 Ich lehne mich an die Beobachtungen von Kotthoff (1991) an, deren Katalog ich weiterentwickelt habe. <?page no="128"?> Über Sprachkonflikte und ihre Vermeidung 95 gezwungen, in einem Maße Konfliktbereitschaft zu demonstrieren, die der Muttersprachler sich auf dieser niedrigen Ebene des Dissenses sparen, bzw. für wichtige Fälle aufheben kann. Seinen Gegenargumenten fehlt es an Leichtigkeit und lockerer Eleganz; so verzichtet der Nichtmuttersprachler häufig auf Widerspruch, um einen offenen Konflikt zu vermeiden. Der Nicht-Muttersprachler ist weniger im Stande, sich auf allgemeines Hintergrundwissen zu beziehen: Folglich wirken seine Behauptungen unbegründet und leicht abwegig, wohingegen der Muttersprachler sie als von gegenseitigem Interesse geprägt und auf gemeinsamen Überzeugungen fußend hinstellen kann. Die Rede des Nicht-Muttersprachlers ist zu direkt. Seine Fähigkeit Kompromisse vorzubereiten und zustande zu bringen, ist sehr beschränkt. Er muss sozusagen mit dem Vorschlaghammer statt mit dem Gravierstichel arbeiten. Redebeiträge von Nicht-Muttersprachler zeigen abrupte Übergänge von einem Gedanken zum andern; es fehlt ihnen an weichen und überzeugenden Überleitungen in der Gedankenführung. Da Begleitsignale fehlen, kann der pragmatische Sinn einer Äußerung oft nur schwer erschlossen werden, zuweilen erst nach der Äußerung; das macht diese weniger überzeugend. Das feine Spiel der Annäherung zweier Positionen kann nicht gespielt werden. Der Nicht-Muttersprachler ist nicht in der Lage, die Schärfe einer Auseinandersetzung zu dämpfen. Um es kurz zusammen zu fassen: Der Preis, den der Nicht-Muttersprachler für seine intensive Konzentration auf Inhalt und Form seiner Äußerungen entrichtet, besteht darin, dass er die diplomatischen Begleitsignale vernachlässigen muss, die sich häufig auf der persönlichen Ebene dämpfend auswirken. Ein Nichtdeutscher kann z.B. kaum sagen: “Na, dann setzen Sie sich doch erst mal hin”, er sagt stattdessen: “Setzen Sie sich! ”. In der gesprochenen Kommunikation, im Dialog oder im Hören von Vorträgen ist der Nicht-Muttersprachler stark benachteiligt, wenn Nebengeräusche zu hören sind. Das können Gespräche anderer Tischgenossen sein, Radio- oder Fernsehlaute, Straßenverkehr, mechanischer Lärm. Wo der Muttersprachler noch alles klar aufnimmt, da er die Redundanz der Sprache ausnutzt, wird der Nicht-Muttersprachler durch solche Störungen von der Kommunikation weitgehend oder vollständig ausgeschlossen. Eine ähnliche Schwäche zeigt sich bei ihm, wenn der Gesprächspartner nicht genau die Variante spricht, die er gewohnt ist. Z.B. haben Ausländer, die Hochdeutsch gelernt und im mitteldeutschen oder nord- <?page no="129"?> Harald Weydt 96 deutschen Raum gewohnt haben, kaum Chancen, Sprecher mit markantem schwäbischem, bairischem oder schweizerdeutschem Einschlag zu verstehen. Wer als Fremdsprache Britisch gelernt hat, wird zunächst US-Amerikaner oder Australier nur eingeschränkt verstehen. Das gleiche gilt für schnelles und undeutliches Sprechen. Alle drei Komponenten kumulieren, besser gesagt, potenzieren sich, wenn sie zusammen auftreten. In der schriftlichen Kommunikation ist der Nicht-Muttersprachler deutlich unterlegen. Es ist außerordentlich schwer und verlangt jahrelange Übung, einen fremdländischen Text schnell zu überfliegen und ihm dabei die wichtigen Informationen sicher zu entnehmen. Das Produzieren von Texten, z.B. das Schreiben eines anspruchsvollen Artikels, eines Buches oder eines überzeugenden Antrages fällt ebenfalls in der Fremdsprache um ein Vielfaches schwerer. Mutatis mutandis - also bei gleicher Berufsausbildung, gleicher Intelligenz und gleichen Erfahrungen - wird es kaum einem Nicht-Muttersprachler gelingen, mit dem Muttersprachler gleich zu ziehen. Dies alles wird wahrgenommen. Es hat zur Folge, dass Muttersprachler dazu neigen, mit Ausländern herablassend und gönnerhaft (patronizing), wie mit Kindern, zu sprechen. Außerdem neigen Muttersprachler bei internationalen Treffen dazu, länger, freier, auf intelligentere und viel überzeugendere Weise zu sprechen, viel mehr Humor und mehr Sensibilität zu entwickeln als die nicht-muttersprachlichen Teilnehmer. 2.3. Gründe Wie erklärt sich das? Offenbar verfügt ein Sprecher zu einem beliebigen Zeitpunkt nur über eine gewisse, begrenzte Menge an intellektueller Kapazität. Je mehr er sich darauf konzentrieren muss, wie er etwas sagt, desto weniger hat er für das Was, die Inhalte, zur Verfügung, für das, was Kleist ”die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden” nennt. Der Nachteil dessen, der sich in einer Fremdsprache ausdrücken muss, ist nicht nur, dass er/ sie weniger in der Lage ist, seine Ideen auszudrücken: er ist auch weniger in der Lage, sie zu entwickeln/ zu verfertigen. In gewisser Weise scheint er nicht nur weniger intelligent, sondern er ist weniger intelligent. <?page no="130"?> Über Sprachkonflikte und ihre Vermeidung 97 Eine Zeichnung mag das erläutern: Abb. : Ansteigen der mentalen Kapazität, die für die inhaltliche Auseinandersetzung zur Verfügung steht, bei wachsender Sprachkompetenz. Als a ist auf der Vertikalen die mentale Kapazität aufgetragen, die ein Nicht- Muttersprachler zu einem gegebenen Zeitpunkt zur Verfügung hat. Sie teilt sich in zwei Komponenten: die, die den sprachlichen Aufwand verwaltet, der zur Rezeption und Produktion des Redewechsels nötig ist (b), und den Anteil (c), der auf den inhaltlichen und diskurstechnischen Aufwand entfällt. Auf der Horizontalen sind Sprecher angeordnet, die die Sprache unterschiedlich gut sprechen: am linken Ende stehen Sprecher mit sehr eingeschränkter Sprachkenntnis, rechts außerordentlich gute Kenner der betreffenden Fremdsprache. Die diagonale Linie zeigt, dass dem betreffenden Sprecher mit wachsender Sprachkompetenz mehr Denkkraft zur Verfügung steht, um kluge und kreative Gedanken azu entwickeln, den Überbülick zu behalten, und seine Gesprächspartner zu überzeugen und für sich zu gewinnen. Jemand, der die Sprache unvollkommen beherrscht, muss außerordentlich viel Energie in Verstehen, Wortfindung, Morphologie, Syntax etc. investieren, sodass ihm nicht mehr viel übrig bleibt, um kluge Gedanken zu entwickeln. Je besser andererseits einer die Sprache beherrscht, desto mehr bleibt ihm fürs Inhaltliche übrig. So entlastet vom sprachlichen Aufwand wie der Muttersprachler (d) wird er nur in seltenen Einzelfällen sein. Aus alledem ergibt sich, dass man in einem zweisprachigen Land keiner Seite raten kann, die eigene Sprache hintan zu stellen. Man kann die Beziehung und die Interessenlage von Sprechern zweier verschiedener Sprachen, von denen jeder die andere nur eingeschränkt beherrscht, mit der Situation zweier Sportler vergleichen, die einen Wettkampf <?page no="131"?> Harald Weydt 98 mit einander austragen wollen. Der eine ist ein Marathon-Läufer, der andere ein Gewichtheber. Wer von den beiden sich darauf einlässt, in der Disziplin des anderen anzutreten, hat von vornherein unweigerlich verloren. 3. Natürliche Rivalität in zweisprachigen Gebieten Québec: Die frankophonen Einwohner der Provinz Québec bedrückte in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts ein unerträglicher Gedanke: die geschichtliche Entwicklung, die sie genau kannten und deren aktuelle Fortsetzung sie in ihrer größten Stadt Montréal erlebten, sei dabei, sich fortzusetzen. Noch im 17. Jahrhundert reichte “La Nouvelle France”, das der französischen Krone untertan war, in einem großen Bogen, der weit nach Westen ausgriff, vom heutigen Québec im Norden bis nach Louisiana im Süden. Französische Namen zeugen noch immer von der Erstinbesitznahme und von der Sprache der ersten europäischen Siedler: Detroit, Les Moines, Prairie du Chien, Vermont. La Nouvelle France umklammerte die britischen New England States. Die Geschichte der folgenden Jahrhunderte kann als eine Geschichte der Ausbreitung des Englischen und als eine der Zurückdrängung des Französischen geschrieben werden. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts “drohte” Montréal, die Millionenstadt des frankophonen Québec, mehrheitlich englisch zu werden. Kanada ist traditionell ein Einwandererland. Man stellte den in Montréal ankommenden Einwanderern anheim, die Schulsprache für ihre Kinder zu wählen. Da sie keinerlei Bindung an die französische Sprache aufwiesen, zudem Montréal oft nur als mögliche Durchgangstation betrachteten und sahen, welche Möglichkeiten der nordamerikanische Kontinent mit dem kanadischen Westen und dem Gebiet der USA zwischen Pazifik und Atlantik ihnen und ihren Kindern bot, votierten sie recht einhellig für Englisch, sodass Schule um Schule durch Elternentscheid an die Anglophonie fiel und Montréal sich immer mehr eine Englisch sprechende Stadt verwandelte. Von Angst vor dem Verlust ihrer Identität und Kultur getrieben und im Bewusstsein, dass es allerhöchste Zeit sei, der Entwicklung in den Arm zu fallen, zogen die Québecer “die Notbremse” und verabschiedeten die berühmte Loi 101; viele Anglophone verließen die Provinz und zogen nach Westen, aber dieses harte Sprachgesetz bewirkte in den folgenden Jahrzehnten, dass die offenen Feindseligkeiten nachließen, dass die Gefahr einer Separation Québecs von Rest-Kanada vorerst gebannt ist. Montréal ist inzwischen wieder eine vorwiegend frankophone Stadt. <?page no="132"?> Über Sprachkonflikte und ihre Vermeidung 99 Belgien: Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Belgien dominant wallonisch. In Brüssel dagegen sprach man mehrheitlich flämisch. Wallonien war industriell und wirtschaftlich stärker als der flämische Norden. Dieser war arm und landwirtschaftlich geprägt. Die französische Kultur hatte in ganz Belgien ein weitaus höheres Prestige. Die Bevölkerung der Hauptstadt Brüssel übernahm in ihrer Mehrheit das Französische, ebenso wie viele gebildete Flamen. Zur Beurteilung der soziolinguistischen Lage gebe ich zwei Darstellungen. Die erste trug mir ein älterer verbitterter Wallon im vergangenen Sommer vor: Zur Zeit der Gründung Belgiens wurde in der Wallonie nicht Französisch gesprochen, sonder Wallonisch, eine Sprache, die sich vom Französischen deutlich unterschied. 2 Die wallonische Volksgruppe habe sich bewegt, einen Sprachwechsel vollzogen, indem sie aufs Französische übergewechselt sei. Nun sei es an den Flamen, den entsprechenden Schritt zu tun, sich ebenfalls zu bewegen und ihrerseits das Französische als gemeinsame Sprache zu übernehmen. Sie verharre aber stur bei ihrer Sprache und verweigere den eigenen Beitrag, den Übergang zum Französischen. Soweit diese Version. - Man sieht zudem in der Wallonie nicht ein, warum man in das Erlernen einer nur von wenigen gesprochenen und international bedeutungsarmen Sprache investieren soll, mit der man im internationalen Verkehr wenig oder nichts anfangen kann und die - so die Einschätzung - im innerbelgischen Verkehr entbehrlich ist. Die zweite Version: Die Situation, wie sie von flämischer Seite gesehen wird, sieht folgendermaßen aus: Wallonische, also frankophone Sprecher weigern sich, Flämisch zu sprechen, und damit entfällt für Flamen die Gegenseitigkeitsbasis, die Verpflichtung zur Gegenleistung,; sie weigern sich ihrerseits, Französisch zu benutzen. Den Übergang vom Wallonischen zum Französischen, auf den sich die Wallonen berufen, halten sie für dialektal und vernachlässigenswert. - Flamen nehmen trotzig in Kauf, dass sie sich in der Kommunikation mit Wallonen des Englischen bedienen müssen, zumal ihr Lernaufwand bei Erwerb und Gebrauch des Englischen unvergleichlich geringer ist. Wenn sie Englisch sprechen, sind die Flamen klar überlegen. Sie empfinden die wallonische Forderung, aufs Französische überzugehen, als unangemessene Zumutung und sind nicht gewillt, sich von einer zahlenmäßig und wirtschaftlich schwächeren Gruppe die Sprache aufzwingen zu lassen. 2 Der Status des Wallonischen, das noch 1908 von zwei Millionen Sprechern gesprochen wurde, wird unterschiedlich beurteilt. Es gilt einigen als galloromanische Sprache, anderen als französischer Dialekt. (Anm. H. W. ) <?page no="133"?> Harald Weydt 100 Beide Sprachgruppen sehen mit Besorgnis die Fortsetzung je einer historischen Entwicklung, die sie benachteiligt. Die Wallonen beobachten seit Beginn des 20. Jahrhunderts ein stetiges kulturelles und sprachliches Anwachsen der “Flämischen Bewegung”, die Flamen konstatieren mit Argwohn, dass in der gleichen Zeit Brüssel mehrheitlich an die Frankophonie gefallen ist und dass sich die Frankophonie “wie ein Ölfleck” in den Brüssel umgebenden flämischen Gebieten ausbreitet. - Die Weigerung der Flamen, die Sprache ihrer frankophonen Landsleute zu lernen, die ihrerseits nicht flämisch lernen wollen, wird noch durch einen zweiten Umstand verstärkt. Dieser trifft ganz analog auch auf das Französische Kanadas, das sich die Anglophonen nicht gerne aneignen, und auf das Deutsche der Schweiz zu. Sie fürchten, wenn sie belgisches Französisch lernen, mit dieser Sprache in Frankreich aufzufallen und sogar belächelt oder verspottet zu werden (es gibt in Frankreich viele Witze über “les Belches”); französische Schulen in der Schweiz suchen für ihre Schüler Austauschmöglichkeiten mit Deutschland, nicht mit der deutschsprachigen Schweiz, man sieht, wenn man deutsche Sendungen sehen will, deutsche oder jedenfalls keine schwyzerdeutsche Sendungen; die anglophonen Bewohner Mittel- oder Westkanadas begründen ihre Abneigung, Französisch zu lernen, häufig damit, das Québecer Französisch sei zu schlecht, und Europa zu weit. Eine schöne Ausrede, weder das eine noch das andere zu lernen. - Die Situation in Belgien ist mittlerweile so verfahren, dass viele Belgier resignieren. Man sieht, dass die Konflikte nicht irrationale, archaische, unerklärliche Verhaltensweisen sind, sondern dass sie auf rationalen Kosten-Vorteils- Kalkülen beruhen. Für die Sprachpolitik ergibt sich dadurch ein Dilemma. Einerseits muss man die Logik derer anerkennen, die sich weigern, für das Zusammenleben und für die interethnische Kommunikation einfach die Sprache der anderen zu übernehmen: sie erkennen völlig richtig, dass sie sich zwar dadurch riesige Lernschwierigkeiten und andere Kosten aufbürden und sich aber dennoch eine auf allen Ebenen unterlegene Position einhandeln würden. Andererseits kann die Lösung nicht darin bestehen, dass jeder nur seine Sprache lernt, praktiziert und versucht, sie auf internationaler bzw. nationaler Ebene durchzusetzen, ebenso wenig, dass jeder alle Sprachen, z.B. die der Europäischen Gemeinschaft, lernt. Nehmen wir die Beziehung zwischen unterschiedlichen Sprachgruppen auf einem Territorium in den Blick. In welcher Lage sind Sprecher einer Sprache B, wenn in dem Land, in dem sie leben, eine andere Sprache, A, als die in allen wichtigen Belangen, insbesondere in der Öffentlichkeit, ausschlaggebende gilt? Sollte es den Sprechern von A gelingen, im ganzen Land durchzusetzen, dass nur Sprache A, nicht aber Sprache B, gilt, so hat sie sich die “Definitionsmacht” (Esser 1996: 80seqq.) gesichert; den Sprechern von B entstehen, <?page no="134"?> Über Sprachkonflikte und ihre Vermeidung 101 - und das wird von ihnen mit aller Klarheit erkannt ungeheure Einbußen an dem, nach dem alle streben: physisches Wohlbefinden, materielle Güter und soziale Wertschätzung. Sie müssen im Bildungswesen in einen Wettbewerb mit ungleichen Hebeln eintreten. Sie unterliegen in Bewerbungsgesprächen und bei konkurrierenden Anträgen. Sie dürfen sich ihrer Sprache, selbst wenn die Sprecher ihrer Sprache in der Überzahl sind, nicht bedienen, da man sie darauf hinweist, es sei ja jemand da, der nicht B verstehe, und da sei es ja unfair, B zu sprechen 3 . Sprecher von B gelten als primitiv, als ungelenk, als zurückgeblieben. Das erklärt die unerbittliche Härte, mit der ethnisch-sprachliche Konflikte ausgetragen werden. Der Einzelne bezieht nach Tajfel (1982) (und seiner Theorie der Social Comparaison) sein Selbstwertgefühl aus dem Prestige der Gruppe, der er angehört. Gehört er einer Gruppe mit niedrigem Prestige an, wird er - falls er diese Einschätzung nicht für unabänderlich und für gerechtfertigt hält - versuchen, diesen Status zu ändern (Giles/ Bourhis/ Taylor (1977)). Er wird, um auf die Sprache zurückzukommen - mit großen Anstrengungen auf voller Respektierung seiner Sprache bestehen. Esser (1996) hat eine Abstufung von Konflikten vorgenommen: Seine sechsstufige Skala reicht von der ersten Stufe, konfliktlos (Unterschiede mit Interessenkonvergenz) bis zum am stärksten ausgeprägten Konflikt, dem sogenannten “vollständigen” oder “Nullsummenkonflikt”. Letzterer ist dadurch gekennzeichnet, dass alles, was die eine Partei gewinnt, auf Kosten der anderen geht. Sprachlich wäre das der Fall, wenn es in einem zweisprachigen Land (man mag sich Belgien oder die kanadische Provinz Québec, Estland oder den Kosovo vorstellen) einer der großen Sprachgruppen gelänge, ihre Sprache als ausschließliche Prestigesprache durchzusetzen. Dann läge die ganze Überlegenheit auf Seiten der “Gewinner”, die Unterlegenheit auf Seiten der “Verlierer”; der Zwang zum Sprachenlernen läge einseitig auf der Verliererseite, die Gewinnerseite wäre davon entlastet, die Gewinnerseite hätte alle kulturellen und beruflichen Wettbewerbsvorteile, die Verliererseite Wettbewerbsnachteile auf allen Ebenen. Es stehen also bei der Entscheidung über die Landessprache(n) nicht weniger als die ganze kulturelle, rechtliche, wirtschaftliche Bedeutung der rivalisierenden Gruppen, ihr Selbstwertgefühl und ihr Selbstverständnis auf dem Spiel. Und dies auf eine unabsehbare Zukunft. - Das wird von den Aktanten klar erkannt und bestimmt die Härte der Auseinandersetzung, die für Außenstehende und aus der Sicht einsprachiger Kulturen oft unverständlich ist. 3 Das war zu meiner Zeit im französischsprachigen Kanada die Regel, wo oft der Hinweis auf eine anwesende anglophone Person ausreichte, damit das Gespräch auf Englisch weiter geführt wurde. <?page no="135"?> Harald Weydt 102 4. Was ist zu tun? Wenn es einmal so weit gekommen ist, dass die im Keim angelegten und unvermeidbaren Spannungen an Breite und an Intensität so zunehmen, dass sie in Konflikte umschlagen oder umzuschlagen drohen, (und das ist der Fall, wenn die Unterlegenheit nicht mehr als unabänderlich und nicht mehr als gerechtfertigt beurteilt wird (Giles/ Bourhis/ Taylor (1977)), dann muss versucht werden, den Nullsummenkonflikt in einen niedrigerstufigen Konflikt umzuwandeln. Man muss versuchen, die Kosten der Ungleichheit auf beide Seiten zu verteilen. - Ein ganz wichtiger erster Schritt, vielleicht der wichtigste überhaupt, ist, bei der bislang dominierenden Sprechergruppe A die Einsicht für die ungeheure Leistung zu bewirken, die der anderen Seite, B, abverlangt wird, anders ausgedrückt, es gilt, A die Kosten vor Augen zu führen, die B entstehen, wenn sie in der Kommunikation die Sprache A verwendet. Ich habe oft erfahren, dass das Bewusstsein für diese Zumutung völlig fehlt, z.B. bei der Anglophonie in Québec, der Frankophonie in Belgien, der Russophonie in den Republiken der ehemaligen Sowjetunion, der Hispanophonie in Katalonien. Es wird dann vorgebracht: es sei doch einfach, auf A zu kommunizieren, das sprächen ohnehin alle, die Sprecher von A seien leider sprachlich unbegabt und unfähig, B zu lernen, Sprache B sei im Gegensatz zu A so kompliziert, dass sie leider praktisch nicht zu lernen sei, der Gebrauchswert von B sei so begrenzt, dass das Missverhältnis von Aufwand und Erfolg das Lernen verbiete. Ohne eine Bewusstseinsänderung wird es hier keine Lösung geben. Zu den Konfliktdämpfungsargumenten gehören: Die Vorteile (dies sei am belgischen Beispiel ausgeführt, gilt aber mutatis mutandis auch für andere Konstellationen), die der Erwerb der flämischniederländischen Sprache bietet, sind weit höher als von den Wallonen im allgemeinen eingeschätzt wird. Früh und gut von Wallonen gelernt, wäre das Flämische eine hervorragende Basis für den Erwerb weiterer germanischer Sprachen. Wer gut Niederländisch kann, der lernt unvergleichlich viel schneller und leichter als monolinguale Frankophone Englisch, Deutsch (und die germanischen skandinavischen Sprachen sowie Afrikaans). Ohne Gegenseitigkeit kann der Ausgleich kaum zustande kommen. Vorbehalte und Ausreden, warum die andere Sprache nicht gelernt wird, sollten nicht mehr akzeptiert werden. Stattdessen wäre ein System von Vergünsti- <?page no="136"?> Über Sprachkonflikte und ihre Vermeidung 103 gungen für diejenigen nützlich, die bereit und in der Lage sind, die jeweils andere Sprache zu benutzen. Es müsste statt einer Kultur der historischen Wunden eine der Besinnung auf Gemeinsamkeiten und geteilte Werte Belgiens entwickelt werden. So könnte aus der vertrackten Lage Belgiens eine vorbildliche, mehrsprachige Nation mit riesigen internationalen Wettbewerbsvorteilen hervorgehen. Allgemeiner gesprochen: Um den Konflikt abzumildern, müssen Ausgleichsleistungen vereinbart werden. Die Palette ist groß: Zweisprachigkeit als Voraussetzung für begehrte Posten ist ein guter Anreiz (siehe Südtirol), Lehre der anderen Sprache als wichtiges Schulfach, Diplomanerkennung, kulturelle Fördermaßnahmen, Errichtung von Regionen unterschiedlicher Sprachdominanz, Betonung gemeinsamer Interessen (besonders international), vor allem kulturelle und sprachliche Anerkennung, Schaffung und Aufrechterhaltung öffentlicher und privater Wertschätzung. Lernen der Sprache des anderen ist ein gutes Zeichen um zu zeigen, dass beide einen Weg zu gehen haben. Man kann auch darauf verweisen, dass das Erlernen der unterlegenen Sprache häufig für die Lerner Vorteile bringt, an die primär nicht gedacht wird. So wie Wallonen, die Flämisch lernen, wie erwähnt, beim Lernen der wichtigen Sprachen Englisch und Deutsch (und ganz allgemein beim Lernen weiterer Fremdsprachen) durch diese Grundlage große Vorteile haben, schaffen sich die Anglophonen Kanadas durch Lernen des Französischen Zugang zum riesigen spanisch- und portugiesisch-sprachigen Raum, da die Gemeinsamkeiten im Wortschatz, in der Syntax, in der Phonologie der romanischen Sprachen das Lernen relativ leicht machen, und zur Frankophonie in Europa und Übersee. 5. Fazit Diglossie birgt in sich immer den Keim zu Spannungen und Konflikten. Die Konfliktparteien sind nicht unverstehbare Verirrte, rückfällige Barbaren, sie sind nicht blind, sie sind nicht aufgehetzt, sie sind nicht aus ökonomischen Gründen manipuliert. Sie sind vielmehr klarsichtige, rational kalkulierende Individuen, die die Lage zutreffend einschätzen. Aus ihrer Sicht versuchen Sie lediglich, für sich und ihre Nachkommen ungerechtfertigte Nachteile abzuwehren, und einen ihnen geschuldeten Respekt zu erzwingen als Individuen, aber auch für ihre Gruppe. Spannungen zwischen Sprachgruppen können leicht eskalieren. Es empfiehlt sich, Konfliktkonstellationen durch Interessenausgleich rechtzeitig zu neutralisieren und unter der Aggressionsschwelle zu halten. <?page no="137"?> Harald Weydt 104 Bibliographie Esser, Hartmut (1996): “Ethnische Konflikte als Auseinandersetzung um den Wert von kulturellem Kapital”, in: Wilhelm Heitmeyer / Rainer Dollase (Eds.), Die bedrängte Toleranz. Ethnisch-kulturelle Konflikte, religiöse Differenzen und die Gefahren politisierter Gewalt. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 64-99. Esser, Hartmut (1997): “Die Entstehung ethnischer Konflikte”, in: Stefan Hradil (Ed.): Differenz und Integration. Die Zukunft moderner Gesellschaften, Frankfurt am Main, 876-894. Giles, Howard / Bourhis, Richard Y. / Taylor, Donald M. 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Weydt, Harald (1997): “The Principle of Equal Effort and its Role in Language Conflicts - Canada, Khazakhstan and Europe.”, Revue Education et Sociétés Bilingues 3, Dezember 1997, 69-80. Weydt, Harald (1998): “Welche Sprachen in den europäischen Institutionen? (Kiun lingvon en la europaj institucioj? ”, Internationale Zeitschrift für Modellierung und Mathematisierung in den Humanwissenschaften 39, Heft 2, Juni 1998, 69-80. Weydt, Harald (2002): “Pourquoi les conflits linguistiques? ”, in: Harald Weydt (Ed.), Langue - Communauté - Signification. Approches en Linguistique Fonctionnelle, Frankfurt am Main et al.: Lang, 39-47. Weydt, Harald (2003): “The Inferiority of the Non-native Speaker and its Political Consequences”, in: Phyllis M. Ryan / Roland Terborg (Eds.), Language: Issues of Inequality, Universidad Nacional Autónoma de México, 172-188. Weydt, Harald (2004): “Le choix de langues scolaires dans une région bilingue. L’exemple de Kazaquestane”, in: C. Feuillard (Ed.), Créoles - Langages et Politiques linguistiques, Frankfurt am Main et al.: Lang, 315-321. <?page no="138"?> Georges Lüdi Vom Einfluss der Politik der Sprachpflege auf Sprachkontaktphänomene und Sprachwandel. Das Beispiel der Anglizismen in Frankreich und Deutschland 1. Sich in der Dusche einseifen ist out, man/ frau benutzt dazu soft shower cream und anschließend body milk. In einer französischen Reportage konnte man lesen: “22h30, la foule se masse devant la salle et abuse du name dropping pour gruger la file d’attente. Une fois franchie, la porte révèle bien des surprises. Dans les escaliers qui mènent au dance floor, on croise Kanye West. Le rappeur le plus fashion du globe se plie gentiment à une petite séance photo improvisée. Pendant le warm-up, chacun fait ses RP (Relations Publiques).” (20 minutes, 3/ 10/ 2007) Das Englische hat längst über das Vokabular von Wirtschaft, Wissenschaft und Technik hinaus auch in unserem privaten Alltag Platz genommen und wird von vielen ohne große Überlegungen akzeptiert. Auch die Anbieter preisen ihre Produkte inzwischen auf Englisch an, oder nutzen zumindest das Prestige der englischen Sprache für ihre Werbung aus, allerdings ohne sich allzu sehr auf die Fremdsprachenkenntnisse ihrer KundInnen zu verlassen, wie die folgende Werbetafel in einem großen Basler Warenhaus illustriert (Bild 1). Generell ist die europäische Sprachlandschaft (Gorter 2006, Backhaus 2008) durch eine steigende Präsenz der englischen Sprache geprägt. Es wäre wohl übertrieben, den auf einem verbreiteten Kontakt mit der internationalen lingua franca beruhenden Einfluss auf das Deutsche und andere europäische Sprachen als Beginn einer eigentlichen Pidginisierung oder Relexifizierung zu betrachten, wie dies die Kritiker des franglais oder des Denglisch manchmal behaupten, wohl aber als Beweis für eine Form von <?page no="139"?> Georges Lüdi 106 “Osmose”, für eine Verwischung der Grenzen zwischen den Sprachen. 1 In diesem Sinne ist wohl ein schleichender Sprachwandel unbestreitbar und dies unabhängig davon, wie jeder von uns diese Lehrbzw. Fremdwörter beurteilt. Als Regulierungsmechanismus funktioniert neben der erwähnten allgemeinen Akzeptanz auch und vor allem die vermutete Verstehenskompetenz der Adressaten. Beispiele dafür finden sich auch im Arbeitsalltag. Im Rahmen einer großen Studie über die Handhabung der sprachlichen Vielfalt im Alltag großer Firmen haben wir beobachtet, dass die Umsetzung der Firmenphilosophie “our corporate language is English” da ihre Grenzen findet, wo mangelnde Englischkenntnisse der Belegschaft ein Sicherheitsproblem — oder auch nur ein “Wohlfühlproblem” — darstellen können. So in einem Schweizer Pharmakonzern, in welchem die Kommunikation mit den Mitarbeitern nach Wahl auf Deutsch, Französisch oder Englisch geschieht (Mitarbeitermagazin, Mitteilungen der Geschäftsleitung, Bedienungsführung bei den Stempelautomaten usw.), obwohl die Firmenphilosophie Englisch vorziehen würde. Auch Sicherheitshinweise sind mindestens zweisprachig Deutsch / Englisch, oft mehrsprachig, auch einmal ohne Englisch (Bild 2). 2 In Frankreich ist die diesbezügliche Freiheit im Sprachgebrauch wesentlich eingeschränkter. Die gängige Praxis internationaler Unternehmen, Englisch als Arbeitssprache zu bevorzugen, steht im Widerspruch zur staatlichen Sprachpolitik, welche u.a. das “Recht auf Französisch” nicht nur der 1 “I submit that languages are quite osmotic (...) and their boundaries are less rigidly defined than linguists have suggested. Although some institutions try to erect official “language borders” and impose themselves as immigration and/ or customs officers (as in the case of the Académie Française), the average speaker just ignores these artifacts and feels free to let xenolectal elements into their language variety. Even if they subscribe ideologically to a particular language they intend to speak, the evidence of varieties derided as franglais or Spanglish suggests that practice holds “open borders” and is more open to cross-language “migrations.” Such varieties represent, in the extreme, how competition and selection work in multilingual communities. Needless to say that there are ecologies, such as those where creoles developed, which strongly favor one particular language.“ (Mufwene 2007, with reference to Chaudenson), cf. auch Lüdi (2006). 2 Diese Informationen sind Teil des europäischen Forschungsprojekts DYLAN [www.dylan-project.org] über die Handhabung der sprachlichen Vielfalt in den Betrieben, Institutionen und Hochschulen Europas. Für erste Ergebnisse cf. Lüdi (2009) und Lüdi et al. (2009). <?page no="140"?> Vom Einfluss der Politik der Sprachpflege 107 Konsumenten, sondern auch der Arbeitnehmer garantiert. Ein Gesetz vom 4. August 1994, auch loi Toubon genannt, regelt nicht nur den Gebrauch von einzelnen Anglizismen, sondern greift in die Sprachenwahl an der Arbeit ein. So wurde das Arbeitsrecht (Code du travail) dahingehend verändert, dass die Firmen dazu verpflichtet wurden, “tout document comportant des obligations pour le salarié ou des dispositions dont la connaissance est nécessaire à celui-ci pour l'exécution de son travail” auf Französisch zu redigieren. Dazu gehören laut einem Rundschreiben von 1996 (Journal officiel vom 20. März 1996) namentlich “les documents comptables ou techniques nécessaires à l'exécution d'un travail (par exemple : les livrets d'entretien utilisés par un service de maintenance)”. Dies betrifft auch Gebrauchsanweisungen für gefährliche Substanzen oder Maschinen ausländischer Herkunft, die, wenn nicht auf Französisch redigiert, in diese Sprache übersetzt werden müssen. Aufgrund dieser gesetzlichen Vorschriften wurde die GE Medical Systems SCS (GEMS) nach einer Klage von Gewerkschaftsangehörigen zu einer hohen Geldbusse verurteilt, weil sie die “field modification instruction” einer Mammographieanlage und andere Dokumente nur auf Englisch verbreitet hatte, dies obwohl 40% der Belegschaft, aber auch viele Benutzer dieser Anlagen in Frankreich, kein Englisch verstehen. (Quelle: www.lesechos.fr) Eine derartige Verurteilung wäre in einem deutschsprachigen Land nur schwer vorstellbar. Aber welchen Einfluss haben sprachregulierende Maßnahmen im Allgemeinen auf den Sprachgebrauch im Alltag? Die nachfolgenden Überlegungen orientieren sich am Analyseraster des bereits angesprochenen Forschungsprojekts DYLAN (Berthoud 2008), der es erlaubt, aus Diskursen gewonnene Informationen über in einem bestimmten Kontext getroffene Maßnahmen von Staaten und Institutionen mit der Wahrnehmung dieser Maßnahmen durch die Betroffenen und, vor allem, mit den effektiven Formen des Sprachgebrauchs in Verbindung zu setzen. Dabei sind in unserem Zusammenhang vor allem die folgenden Zusammenhänge von Bedeutung: (a) Sprachvorstellungen und Diskurse über Sprache, welche zu staatlichen Regulierungsmaßnahmen geführt haben (z.B. die Arbeiten von Barère und Grégoire aus dem Jahre 1794); (b) Sprachvorstellungen und Diskurse über Sprache, welche einen Einfluss auf den Sprachgebrauch haben können (z.B. die Schrift von Leibniz Ermahnung an die Deutschen. Von deutscher Sprachpflege [1696, erstmals gedruckt 1846] oder das Buch von Etiemble Parlez-vous franglais und der darauf folgende Mediendiskurs); (c) Der Einfluss (impact) von staatlichen Regulierungsmaßnahmen; (d) Der Sprachgebrauch selber und dessen — kritische oder unkritische — Wahrnehmung. <?page no="141"?> Georges Lüdi 108 Gerade weil Deutschland und Frankreich bezüglich des Sprachgebrauchs sehr unterschiedliche Interventionskulturen aufweisen, erscheint eine konfrontative Untersuchung auf einem vergleichbaren Gebiet fruchtbar (cf. schon Plümer 2000 und Kupper 2003; 2007). Dabei soll es sich hier nicht um den Gebrauch der englischen Sprache für die interne oder externe Kommunikation von Firmen, Universitäten, europäischen Institutionen usw. handeln, sondern ausschließlich um das eingangs illustrierte Phänomen der englischen Einschübe (code-switching) in Werbetexten, seien dies ganze Syntagmen oder gar Sätze oder nur Einzelwörter (lexical code-switching oder Fremdwörter) (cf. Lüdi 2005). Damit schließen wir nicht nur syntaktische (être en charge de) oder orthographische Beeinflussungen (z.B. einen deutschen Genitiv vom Typ Goethe’s) aus, sondern auch längst etablierte und integrierte Lehnwörter (le football), die wörtliche Übersetzung von englischen Wendungen (votre honneur für Monsieur/ Madame le juge) oder rein semantische Entlehnungen (z.B. vol domestique für vol intérieur). In einem ersten Schritt sollen in der Folge die Unterschiede zwischen den sprachpflegerischen Maßnahmen in Deutschland und Frankreich in Erinnerung gerufen werden. In einem zweiten Schritt sollen allfällige Divergenzen im Gebrauch von code-switchings / Anglizismen in vergleichbaren Werbetexten qualitativ analysiert werden. In einem dritten Schritt schließlich soll die Hypothese überprüft werden, dass es Frequenzunterschiede gibt und dass sie auf den Einfluss unterschiedlicher, sich in sprachpflegerischen Maßnahmen manifestierenden, Spracheinstellungen auf beiden Seiten der Sprachgrenze zurückgeführt werden können. 2. Spätestens mit den Sprachpolitikern der französischen Revolutionszeit (Barère, Grégoire) - deren Ideologie sich allerdings erst durch die Einführung des obligatorischen Schulsystems durch Jules Ferry (Gesetze von 1881 und 1882) allgemein verbreitet - wird in Frankreich die nationale Identität mit der französischen Sprache verknüpft, und zwar nicht mit irgendwelcher Varietät der französischen Sprache, sondern mit deren bon usage. Es resultiert daraus ein sehr hohes Sprachbewusstsein. Wie sich Berrendonner (1982) einmal ironisch ausdrückte: Selbst jene Franzosen, welche die Standardvarietät nicht beherrschen, sind sich der Mängel in ihrer Sprachkompetenz bewusst. Darin unterscheidet sich die Situation in Frankreich nicht unwesentlich von jener in Deutschland: Die französische Sprache ist für die Franzosen in ungewöhnlich hohem Maß Gegenstand des Interesses der Öffentlichkeit, der Medien, der Schriftsteller und eben auch der Politik - ungewöhnlich im Vergleich mit den anderen europäischen Ländern und wohl den meisten außereuropäischen. So sind Klagen etwa der Presse über den Verfall der Sprachkultur in Deutschland allenfalls einmal ein Thema für das ‘Sommerloch‘ (…), in Frankreich gang und gäbe. (Christmann 1986: 15) <?page no="142"?> Vom Einfluss der Politik der Sprachpflege 109 Grundsätzlich gibt es in allen Sprachgemeinschaften ein Normbewusstsein, d.h. ein Bewusstsein davon, wie man sprechen und schreiben muss, um ein anerkanntes Mitglied der Gemeinschaft zu sein. Dazu braucht es keineswegs elaborierter präskriptiver Normen, einer Schulgrammatik oder normgebender Wörterbücher; es genügen “subjektive Normen”, wie sie durchaus auch in Alternativkulturen (Jugendgruppen, Dialektgemeinschaften usw.) beobachtet werden können. Aufgrund dieser Normen werden abweichende Sprachäußerungen korrigiert. Jan Blommaert hat dafür den Ausdruck language policing geprägt (Blommaert 2009). Entsprechende Metaäußerungen werden in der französischen Sprachwissenschaft in der Regel unter dem Begriff discours normatif zusammengefasst, der m. a. W. sowohl Manifestationen einer präskriptiven Norm (Grammatiken, Lehrbücher) wie auch solche von subjektiven Normen einschließt (z.B. Korrektursequenzen als Einschübe in Alltagsgesprächen [Jefferson 1974]). Die viel größere Häufigkeit des Vorkommens des discours normatif in Frankreich als in angrenzenden Ländern - oft, aber eben nicht immer, auf der Basis einer mehr oder weniger interiorisierten präskriptiven Norm - beruht auf einer langen Tradition, die mindestens auf den Grammatiker Claude de Vaugelas und, für die Lexik, auf die Gründung der französischen Akademie (1635) bzw. auf die Erstauflage deren Wörterbuchs (1694) zurückgeht. Um die zugrundeliegenden Maßnahmen zu kategorisieren, nehmen wir hier eine leicht angepasste Analyse der sprachplanerischen Akte durch Haugen (1983) zum Ausgangspunkt: Form (Sprachplanung) Funktion (Sprachpflege) Gesellschaft (status planning) 1. Selektion 3 (Entscheidungsprozesse) a) Identifizierungs des “Problems” b) Zuweisung von Funktionen an Varietäten 3. Implementierung 4 (Verbreitung) a) Korrekturmaßnahmen b) Evaluation Sprache (corpus planning) 2. Kodifizierung (Standardisierungsprozesse) a) Schriftlichkeit b) Grammatik c) Lexik 4. Ausbau (Funktionale Entwicklung) a) Modernisierung der Terminologie b) Entwicklung von Stilformen c) Internationalisierung 3 Z.B. die Wahl einer stark vom Dialekt der Ile de France geprägten Koine (im Mittelalter) als Ausgangsbasis für die Standardisierung des Französischen (ab dem 16./ 17. Jahrhundert). 4 Z.B. allgemeine Verbreitung des Hochdeutschen, zu einem wesentlichen Teil durch die Bibelübersetzungen von Luther und Zwingli, oder Festlegung einer Varietät als ‘offizielle Sprache’ oder ‘legitime Varietät’ (Bourdieu 1982). <?page no="143"?> Georges Lüdi 110 Gemäß diesem Raster kann die Gründung der Académie Française durch den Kardinal Richelieu durchaus als die erste in einer langen Kette von Maßnahmen angesehen werden, mittels welcher der französische Staat aktiv in die Kodifizierung (Korpusplanung) des Französischen eingegriffen hat und weiter eingreift. Die Sprachgesetzgebung, vom Edikt von Villers-Cotterêts von 1539 über die Beschlüsse der Assemblée constitutive aus dem Jahre 1794 bis hin zur loi Toubon von 1994, erweitert den Einflussbereich des Staates und umschließt in einem wesentlichen Ausmaß auch das status planning. In diesem Sinne gehört namentlich die Regelung des Gebrauchs von Englisch bzw. Französisch zum status planning, der Kampf gegen die Anglizismen verbunden mit dem Angebot von französischen Neologismen für neue Gegenstände und Sachverhalte durch verschiedene Instanzen der Frankophonie (so die regelmäßig im Journal officiel de la République française publizierten “Listes de termes, expressions et définitions adoptés [sc. par la Commission générale de terminologie et de néologie]”) sowie die Publikation von Listen von “verbotenen” Anglizismen durch verschiedene Regierungsinstanzen hingegen zum corpus planning. Erwähnt sei hier besonders das - inzwischen überholte - Gesetz 75-1349 vom 31. Dezember 1975 über den Schutz der französischen Sprache (die sogenannte loi Bas-Lauriol), welches das Französische für die schriftliche und mündliche Werbung bei hohen Bussen für obligatorisch erklärte. 5 Die bereits erwähnte Loi relative à l'emploi de la langue française vom 4. August 1994 (loi Toubon) hat als vordergründiges Ziel den Schutz von Arbeitnehmern und Konsumenten, geht aber inhaltlich genau in dieselbe Richtung. 6 In der Circulaire du 6 mars 1995 relative à l'emploi de la langue française werden die entsprechenden Sanktionen geregelt (für mehr Informationen cf. www.tlfq.ulaval.ca/ axl/ europe/ france-legislationlng.htm). 5 Article 1er - Dans la désignation, l'offre, la présentation, la publicité écrite ou parlée, le mode d'emploi ou d'utilisation, l'étendue et les conditions de garantie d'un bien ou d'un service, ainsi que dans les factures et quittances, l'emploi de la langue française est obligatoire. Le recours à tout terme étranger ou à toute expression étrangère est prohibé lorsqu'il existe une expression ou un terme approuvés dans le conditions prévues par le décret n° 72-19 du 7 janvier 1972 relatif à l'enrichissement de la langue française. 6 Article 2 - 1. Dans la désignation, l'offre, la présentation, le mode d'emploi ou d'utilisation, la description de l'étendue et des conditions de garantie d'un bien, d'un produit ou d'un service, ainsi que dans les factures et quittances, l'emploi de la langue française est obligatoire. 2. Les mêmes dispositions s'appliquent à toute publicité écrite, parlée ou audiovisuelle. (...) Article 3 - 1. Toute inscription ou annonce apposée ou faite sur la voie publique, dans un lieu ouvert au public ou dans un moyen de transport en commun et destinée à l'information du public doit être formulée en langue française. <?page no="144"?> Vom Einfluss der Politik der Sprachpflege 111 Im Kontrast dazu ist die Regelungsdichte in Deutschland sehr viel geringer, obwohl auch hier Sprache und Nation seit Herder, Grimm u.a. eng verknüpft werden. Ein Sprachgesetz gibt es in der Bundesrepublik nicht. Zwar beklagte 1996 eine CDU-Bundestagsabgeordnete, dass die englische Sprache in vielen Lebensbereichen die deutsche Sprache verdränge und forderte deshalb ein Gesetz zum Schutz der deutschen Sprache: “Produkte, die in Deutschland verkauft werden, müssen auch deutsch beschriftet sein.” Das betreffe auch Schilder auf Flughäfen oder Bahnhöfen: “‘Sale’ muss wieder ‘Schlussverkauf’ heißen, ‘on’ und ‘off’ am Radio wieder ‘an’ und ‘aus’.” (www.netzeitung.de/ deutschland/ 397470.html). Diese Forderung weckte freilich Widerstände. Sprache sei “etwas Lebendiges und nichts Statisches”, meinten Vertreter anderer Parteien; der Versuch der CDU-Politikerin, Deutsch per Gesetz schützen zu lassen, sei “eine Schnapsidee” (www. netzeitung.de/ deutschland/ 397543.html). Die Idee wurde denn auch meines Wissens nicht weiterverfolgt. Die Sprachpflege wird im deutschen Sprachbereich in der Tat eher als Aufgabe privater Vereine gesehen, die sich für die Qualität der deutschen Sprache einsetzen, wie die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS), der Verein “Muttersprache” in Wien oder der Verein Deutsche Sprache (VDS). Heute richtet sich die Sprachpflege hauptsächlich gegen die Anglisierung (“Denglisch”). Beispiele staatlicher Sprachpolitik, d.h. einer Sprachlenkung mit Hilfe von Sprachregelungen wie die geplante Rechtschreibreform des Dritten Reiches, das Verbot der Benutzung der deutschen Sprache während des Zweiten Weltkriegs in gewissen Ländern oder auch der Versuch während des Dritten Reichs 7 und der DDR, die Sprachpflege ideologisch gleichzuschalten und für politische Zwecke zu missbrauchen, wirken abschreckend und rufen Widerstand hervor. 3. Die unterschiedliche Ausgangslage im “language policing“ gegenüber Anglizismen — hie eine hohe Regelungsdichte staatlicher Instanzen, da eine “Privatisierung” der Sprachpflege — legt die oben formulierte Hypothese nahe, dass diese einen Einfluss auf die deutsche und die französische Werbesprache haben wird. Dabei konzentrieren wir uns auf die auffälligste Manifestation der Werbesprache: die Slogans. 8 Konkret vermuten wir, dass in Frankreich in Slogans weniger Rückgriffe aufs Englische stattfinden werden als in Deutschland. Dies sei zunächst an einem Beispiel illustriert. Die Firma 3M stellt u.a. Produkte für das Automobil her und wirbt dafür weltweit mit dem Slogan: 3M Automotive: Driven by Innovation. Worldwide. Auf der Webseite http: / / solutions.3m.com kann man die USA und Europa und in der Folge 7 Als Beispiel sei die Schrift von Ewald Geißler: Sprachpflege als Rassenpflicht aus dem Jahre 1937 erwähnt. 8 “A slogan is a memorable motto or phrase used in a political, commercial, religious and other context as a repetitive expression of an idea or purpose.” (http: / / en. wikipedia.org/ wiki/ Slogan). <?page no="145"?> Georges Lüdi 112 7 europäische Länder anklicken. 9 Die deutsche, italienische, türkische Webseiten (und natürlich jene aus dem UK) reproduzieren den Slogan in der Originalsprache (und in der Originalgrafik). In der tschechischen wird der zweite Teil des Slogans (im Originaldesign) übersetzt: 3M Automative: Inovace bez hranic. In den spanischen und französischen Versionen finden wir ein anderes grafisches Design (beide Male dasselbe) und sprachliche Mischformen; während in Frankreich, wie in der Tschechischen Republik, der Name Automotive beibehalten wird, wird er in Spanien auf Spanisch adaptiert (Automoción); dafür wird der Slogan Solutions on the move auf Französisch übersetzt: Solutions pour le changement: Zusammenfassend ist zwar in an allen Sprachen ein bisschen Englisch enthalten, am geringsten ist der Anteil im Französischen und Tschechischen, während Deutsch zu jener Gruppe gehört, die den größten Anteil an Englisch haben. Dass dies, wie oben schon angedeutet, angesichts der Englischkenntnisse der Deutschen nicht ganz unproblematisch ist, haben verschiedene Untersuchungen nachgewiesen Auf dem Höhepunkt der Anglizismuswelle zeigte eine Studie der Beratungsfirma Endmark aus dem Jahre 2003/ 2004, dass weniger als die Hälfte der Deutschen englische Werbesprüche richtig übersetzen können, die “negative Hitparade” wurde vom Slogan One Group, Multi Utilities von RWE angeführt, welches nur von 8% sicher verstanden wurde. Da diese Ergebnisse in der Presse ausführlich kommentiert wurden (u.a. im Spiegel und, in der Schweiz, im Beobachter), folgte eine gleichsam “natürliche” Verringerung des Anteils des Englischen in der Werbesprache. (cf. auch Strobel/ Steiner 2006). Als das RWE erfuhr, dass 92 Prozent der Befragten mit dem englischen Slogan nichts anfangen konnten, ersetzte man ihn durch Alles aus einer Hand — griffig, verständlich, informativ. 9 Czech Republic ( esky); France (Français); Germany (Deutsch); Italy (Italiano); Spain (Español); Turkey (Türkçe); United Kingdom (English). <?page no="146"?> Vom Einfluss der Politik der Sprachpflege 113 Derartige Verständnisschwierigkeiten dürfte es auch in Frankreich geben, wo aber zusätzlich die erwähnten gesetzlichen Vorschriften als Bremse wirken dürften. 4. Um die Hypothese über die Auswirkungen der gesetzlichen Regelung zu überprüfen, wurden im Rahmen eines meiner Seminarien zwei vergleichbare Korpora mit Werbeslogans in Frankreich und Deutschland gesammelt und verglichen (Ismaili 2009). Sie sollten für ähnliche Produktgruppen (gewählt wurden Lebensmittel, Kosmetika und Medientechnologien) von denselben oder ähnlichen internationalen Produzenten werben. Dabei wurde auf bestehende Sammlungen von Slogans zurückgegriffen (ausgewertet wurden die Webseiten www.slogandepub.fr, www.slogans.de und http: / / de.nntp2http.com/ etc/ lists/ 2003/ 02/ 4bf9e001456a368b66bf1fe89e2d034f.ht ml). Das Korpus bestand zum Schluss aus 227 Slogans: Französisch Deutsch Lebensmittel 55 54 Kosmetika 28 24 Medientechnologie 34 31 Total 117 109 Formal lässt sich der englische Einfluss in folgende Kategorien unterteilen: Rein deutsche/ französische Slogans: N’imitez pas, innovez (Hugo Boss) Fremdwort oder lexikalisches Code-switching: Passe le fun autour de toi (Fanta) Slogan auf Englisch und Übersetzung auf Deutsch/ Französisch: Penser différemment (Think different.)(Apple) 10 Ganzer Slogan auf Englisch in einem deutschen/ französischen Umfeld: Be inspired (Siemens) Andere (z.B. französische Slogans im Deutschen): Sur les chemins du goût (Paysan breton) 10 In dieser Rubrik haben wir nur jene doppelsprachigen Slogans aufgenommen, in welche beide Sprachen unmittelbar nebeneinander figurieren, meist in der Form einer wörtlichen Übersetzung des englischen Slogans ins Deutsche bzw. Französische. Eine andere Erscheinungsform dieses Phänomens findet sich da, wo derselbe Slogan in beiden (oder in allen drei) Sprachen existiert, aber in unterschiedlicher Distribution. So alternieren in der Werbung von L’Oréal in Frankreich die Slogans Keep cool 48H und Restez cool 48h, aber in komplementärer Distribution; die beiden Slogans figurieren in unterschiedlichen Rubriken. <?page no="147"?> Georges Lüdi 114 Schon die Verteilung der unterschiedlichen Kategorien macht deutliche Unterschiede sichtbar (absolute Zahlen): Die Differenzen sind besonders frappant in der Kategorie Kosmetika, in welcher alle 28 französischen Slogans einsprachig sind, hingegen 9 von 31 Slogans in Deutschland englische Elemente enthalten; am größten ist der Einfluss des Englischen in Frankreich in der Rubrik Medientechnologien (12 von 34, davon 4 zweisprachig); er wird aber auch hier von der deutschen Werbung ganz klar geschlagen (24 von 31 oder über 77%). Dabei zeigt sich aber auch, dass in dieser Textsorte gerade nicht die in der öffentlichen Diskussion dominierende Thematik der Fremd- oder Lehnwörter das Haupteindringungsgebiet des Englischen in die Sprache der Werbeslogans darstellt, und zwar weder in Deutschland noch in Frankreich, sondern vielmehr die Übernahme ganzer Syntagmen oder Sätze; diese Form des englischen Einflusses prägt die deutschen Slogans allerdings signifikant stärker als die französischen. 5. Es wäre zu einfach, diese Unterschiede einzig und allein auf die französische Sprachgesetzgebung zurückführen zu wollen, obwohl diese Argumentation durchaus Tradition hat (z.B. Plümer 2000: 273 et passim). Auch die Selbstregulierungsmechanismen (Antizipation der normativen Reaktionen sowie der Verstehensfähigkeit der Leser) könnten in Frankreich stärker zensurierend eingreifen als in Deutschland. Tatsache ist allerdings, dass viele Deutschsprachige auf äußere Eingriffe in den Sprachgebrauch eher negativ reagieren. Wie mir ein befreundeter Jurist kürzlich erklärt: “Die Sprache ist doch ein lebendiges Gebilde, welches keiner (staatlicher) Stützmaßnahmen <?page no="148"?> Vom Einfluss der Politik der Sprachpflege 115 bedarf, sondern seine Entwicklung von innen heraus selber reguliert! “ Ähnliche Reaktionen findet man allerdings auch im französischen Sprachbereich. Im Januar 2010 lancierte das französische Secrétariat d’Etat à la Francophonie einen Terminologiewettbewerb (“Francomot”), in dem Studierende aufgefordert wurden, französische Entsprechungen (“Übersetzungen”) für 5 Anglizismen zu finden. Als Gewinner wurden auserkoren: éblabla für chat, bolidage für tuning, infolettre für newsletter, débat für talk und ramdam für buzz. (www.paperblog.fr/ 3053399/ buzz-chat-tuning-quelques-bonnes-idees-pour -remplacer-ces-anglicismes). Interessanterweise waren aber die meisten in blogs publizierten Kommentare negativ. In einer (natürlich nicht repräsentativen) Abstimmung verneinten 83% die Frage, ob man die Anglizismen “französisieren” (franciser) sollte und nur 17% (von total 429 Teilnehmern) sprachen sich dafür aus. Und in einer Fernsehsendung von Europe 1 machte sich die Journalistin Valentine Faure sogar lustig über das, was sie den “esprit très cocardier” der Franzosen nennt 11 . In die gleiche Richtung weist auch die anekdotische Evidenz, dass viele französische Lehrpersonen die vom Erziehungsministerium publizierten Listen der zu ersetzenden Anglizismen gar nie zur Kenntnis genommen haben (nicht repräsentative Befragung einer Reihe von Lehrpersonen in Frankreich). Die gesetzgeberischen Maßnahmen in Frankreich verstärken nicht nur ein verbreitetes Normbewusstsein, sondern führen durchaus auch zu Kontrollen und Sanktionen. Eine kürzlich veröffentlichte Studie (Bilan 2009) stellte sich unter anderem die Fragen, ob die Loi Toubon respektiert werde und ob die Werbesprache zu einer Verarmung des Französischen beitrage. Die Antworten sind auf eine Art beruhigend. Schon im Jahre 2003/ 2004 bemerkte das privatwirtschaftlich organisierte Bureau de vérification de la publicité (B.V.P.), die Verstöße gegen die Loi Toubon hielten sich in engem Rahmen. Die oben erwähnte, von der seit 2008 existierenden Nachfolgeorganisation Autorité de régulation professionnelle de la publicité 12 zusammen mit der Délégation générale à la langue française et aux langues de France (DGLFLF) 2009 publizierte Bilanz, bestätigt diesen Befund unter dem Titel “des manquements stabilisés à un niveau marginal”: von 3526 kontrollierten Annoncen seien bloß 4% beanstandet worden, auf dem gleichen Niveau wie 2005. Doch die Sprache der 11 www.dailymotion.com/ video/ xcsgv5_faut-il-traduire-les-anglicismes-y_news 12 L’Autorité de Régulation Professionnelle de la Publicité (ARPP), organisme de régulation professionnelle regroupant annonceurs, agences et supports (presse, télévision, affichage, radio, cinéma, Internet), mène une action de contrôle des messages publicitaires avant et après diffusion. Consciente des enjeux liés au bon usage de notre langue, l’ARPP a toujours fait preuve de vigilance quant à l’emploi du français en publicité. L’ARPP intervient notamment en cas de manquement à l’article 2 de la loi du 4 août 1994 qui impose l’emploi du français dans la publicité d’un bien, d’un produit ou d’un service ainsi que pour les mentions et messages qui accompagnent une marque. <?page no="149"?> Georges Lüdi 116 Werbetexte zeigt uns nur einen Teil der Wahrheit. Schon die erwähnte Bilanz erwähnt auch das Umfeld, in dem sich die Werbebotschaften bewegen (Musik, Namen von Filmen, von Künstlern, Markennamen usw.), und welches eine “atmosphère multiculturelle” verbreite. Wir möchten dies hier nur mit den Produktenamen illustrieren. In einer französischen Werbung für die französische Marke L’Oréal respektiert der Slogan die Gesetzgebung, aber sowohl der Name des Produkts (men expert) wie auch das Logo verweisen auf einen globalen, englischsprachigen Markt. Und das von Seiten eines französischen Unternehmens in Frankreich! In Deutschland ist die Ausdrucksfunktion des Französischen (Akzent) und des Englischen zu beobachten in der Formel: Neues L’ORÉAL MEN EXPERT 48h Deodorant. Produkte- und Markennamen entziehen sich in einem globalen Markt in einem großen Masse der sprachpflegerischen Tätigkeit; sie prägen, wenn nicht die Sprache, so doch die semiotische Landschaft, sowohl in Frankreich wie auch in Deutschland. Die Germanisierung / Franzisierung / Latinisierung von Eigennamen, wie sie in der Neuzeit bis in die Kirchenbücher hinein üblich waren (Gaspard Jodoc Stockalper / Kaspar Jodok Stockalper vom Thurm / Caspari Stockalper de Turre tam Brygae; 1609-1691) und die wir heute noch in Immigrantengruppen beobachten können - Yüan Ping die in Paris zu Yvonne Ping “mutiert”) ist in der Werbung nicht üblich. Aber eine entsprechende Untersuchung der mehrsprachigen Sprachlandschaft, namentlich in den Städten (cf. Lüdi 2008), würde den Rahmen dieser kleinen Festgabe für Thomas Stehl vollends sprengen. Ich beschränke mich deshalb auf ein einfaches Ad multos annos! Bibliographie Backhaus, Peter (2007): Linguistic landscapes. A comparative study of urban multilingualism in Tokyo, Clevedon, UK: Multilingual Matters. Berrendonner, Alain (1982): L’éternel grammairien, Bern: Lang. Berthoud, Anne-Claude (2008): “Le projet DYLAN ‘Dynamiques des langues et gestion de la diversité’. 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En quoi les travaux menés à propos des pratiques langagières et des formes linguistiques dites “périphériques”, considérées comme “non légitimées”, plus particulièrement “argotiques”, contribuent-ils à une meilleure connaissance des modes de fonctionnement linguistique en général et de l’évolution des langues ? L’exemple suivant, qui est tiré du film Flic story (France [1975] de Jacques Deray), est un dialogue extrait d’une scène absente du film mais prévue par Alphonse Boudard, qui en a écrit l’ensemble des dialogues : Il faut qu’on se refasse une santé On ne va quand même pas aller s’abîmer les bronches à Billancourt On n’a qu’à aller retirer nos économies à la Caisse d’Épargne L’expression aller retirer ses économies à la Caisse d’Épargne ne comporte aucun terme argotique. Dans le dialogue ci-dessus, l’analyse linguistique de l’énoncé on n’a qu’à aller retirer nos économies à la Caisse d’Épargne, comme celle de tout autre énoncé mais aussi de toute pratique langagière, doit être faite en tenant compte des cinq critères suivants : 1) la (les) population(s) concernée(s) ; 2) la (les) situation(s) relevée(s) ; 3) la (les) thématique(s) abordée(s) ; 4) la (les) fonction(s) utilisée(s) ; 5) le (les) procédé(s) mis en oeuvre. L’expression retirer ses économies à la Caisse d’Épargne, dans un tout autre contexte, peut être comprise dans son sens littéral. Dans la cas présent, le sens en est toutefois différent (‘aller dévaliser une banque’), puisque l’énoncé est produit par Émile Buisson (rôle interprété par Jean-louis Trintignant dans le film), qui à sa sortie de prison propose à ses congénères un moyen de se refaire une santé (gagner de l’argent) sans pour autant s’abîmer les bronches à Billancourt (aller travailler chez Renault). La situation <?page no="153"?> Jean-Pierre Goudaillier 120 d’élocution (se retrouver entre gens du milieu dans l’arrière-salle d’un café) et les personnes impliquées (une bande de malfrats, dont le chef sort de prison), tout comme la thématique abordée (l’argent, ce qui n’est pas un pur hasard), sont de toute évidence autant d’éléments argotogènes, déclencheurs d’argot, raison pour laquelle la fonction cryptique du langage peut alors s’exercer. Dans une telle situation, il est important de ne pas être compris par d’autres personnes, plus précisément par les indicateurs de police. Toute une panoplie de procédés linguistiques de masquage va être utilisée dans ce but et c’est le glissement de sens, procédé sémantique parmi d’autres, qui est utilisé dans le cas présent. L’ordre, dans lequel s’enchaînent les énoncés, doit être noté. Compte tenu de la situation, des personnes concernées, de ce dont il est question, l’énoncé on n’a qu’à aller retirer nos économies à la Caisse d’Épargne ne peut être compris que dans son sens argotique. D’autant plus qu’il est lui-même précédé de deux autres énoncés qui contiennent les expressions se refaire une santé et s’abîmer les bronches à Billancourt, qui fonctionnent toutes les deux en tant que marqueurs linguistiques d’argot, ce que le linguiste doit relever lors de son analyse. Un tel exemple montre que le travail du linguiste analyste de terrain ne s’arrête pas à la seule étude des formes linguistiques socialement légitimées d’une langue. Qu’il s’agisse des formes argotiques/ populaires d’une langue ou de celles effectivement légitimées, qui sont retenues tant au niveau “standard” (norme statistique) qu’au niveau “académique” (norme prescriptive) de cette même langue, le linguiste doit et peut utiliser les mêmes outils pour mettre au jour les divers types de structuration utilisés aux différents niveaux (argotique populaire familier standard académique), ceci en tenant compte évidemment des cinq critères nécessaires à l’analyse linguistique rappelés plus haut. Il est un fait que toute langue comporte inévitablement une dimension argotique ; en effet, toute société humaine fonctionne avec des interdits et des tabous, entre autres d’ordre social, politique, religieux, moral, qui sont véhiculés par la ou les forme(s) légitimée(s) d’une langue. Ainsi, il existe toujours dans une société humaine des personnes, voire des groupes de personnes plus ou moins importants qui cherchent à se doter de moyens, dont le but principal est de contourner ces interdits et ces tabous, de les transgresser. La transgression langagière est un de ces moyens. De telles pratiques sociales et langagières de contournement des interdits et des tabous permettent l’émergence de formes argotiques, qui deviennent les preuves des stratégies d’évitement, de contournement des interdits et tabous sociaux, qui sont mises en œuvre. Une contre-légitimité linguistique s’établit de ce fait et celle-ci, conformément à ce qu’indique Pierre Bourdieu, ne peut s’affirmer que “dans les limites des marchés francs, c’est-à-dire dans des espaces propres aux classes dominées, repaires ou refuges des exclus dont les dominants sont de fait exclus, au moins symboliquement” (Pierre Bourdieu, 1983, Vous avez dit <?page no="154"?> De l’intérêt de décrire en linguistique les parlures argotiques 121 “populaire”, Actes de la Recherche en Sciences Sociales, Paris, Minuit, Nº 46, p. 98-105, p. 103). La situation linguistique française, comme de nombreuses autres dans le monde d’ailleurs, n’échappe pas à ce schéma. C’est pour cette raison que des parlers argotiques, plus ou moins spécifiques à tel(s) ou tel(s) groupe(s) ont toujours existé de manière concomitante avec ce que l’on appelle par habitude “langue populaire”. Pour le linguiste descriptiviste, l’analyse de toutes les “parlures argotiques”, qu’elles soient contemporaines ou non, présente un grand intérêt car elles sont véritablement révélatrices de pratiques linguistiques, qui relèvent de l’oral et sont soumises à des faits d’évolution particulièrement rapides (on peut se reporter, entre autres, à Denise François-Geiger et Jean-Pierre Goudaillier, Parlures argotiques, Langue française, Paris, Larousse, N° 90, 1991, 125 pages). Il en découle pour le linguiste la nécessité d’en rendre compte de la manière la plus précise et la plus adéquate possible, ce qu’il fait dans le cadre de ce qu’il est convenu désormais d’appeler l’argotologie, que l’on peut définir comme suit : l’argotologie est l’étude des procédés linguistiques mis en oeuvre pour faciliter l’expression des fonctions crypto-ludique, conniventielle et identitaire, telles qu’elles peuvent s’exercer au sein de groupes sociaux spécifiques ayant leurs propres parlers. Pour revenir à la situation française, si l’on inscrit l’argotologie dans une problématique de linguistique sociale urbaine, il s’agit de distinguer, du point de vue du linguiste descriptiviste, ce qui relève des argots, appelés par commodité traditionnels, de ce qui est dû aux argots contemporains. Les argots traditionnels peuvent être définis sociologiquement (en termes de groupes d’usagers) et l’on peut en établir le rôle de signum social, qu’ils ont effectivement joué. Ils ont recours à des procédés certains peut-être même spécifiques de création lexicale : le signifiant de signes usuels est transformé par des procédés tels la dérivation, la troncation, la métathèse, les codes à clés (verlan et largonji de divers types), la création de mots valises, etc. ; le rapport signifiant/ signifié est dès lors déplacé, ce que l’on constate aisément du fait des nombreuses métaphores et métonymies présentes. Tout ceci aboutit à la création dans la langue française de nombreux polysèmes et para-synonymes, autant de greffons, qui viennent du point de vue de certains puristes “parasiter la belle langue”. C’est là un des traits caractéristiques de l’argotisation : l’accumulation de toute une série de procédés qui ne sont pas tous spécifiques à cette pratique et que l’on peut retrouver, du moins en partie, dans d’autres registres de la langue, ceci pour des thématiques particulières et bien repérées en ce qui concerne les argots traditionnels. L’existence d’une telle accumulation de procédés fournit, du fait de son constat, un critère strictement linguistique au descripteur linguiste. Pour les argots traditionnels, la fonction cryptique exerce un rôle fondamental, mais il ne faut pas pour autant minimiser l’utilisation de tels argots <?page no="155"?> Jean-Pierre Goudaillier 122 pour le simple plaisir de la création lexicale (fonction ludique, ludocryptique ou crypto-ludique). Ainsi, du fait de leur ancrage sociologique, des fonctions exercées et de l’accumulation des procédés utilisés, les argots traditionnels peuvent être pris en compte dans le cadre d’une analyse relevant de l’argotologie générale. Les exemples ci-après tirés de différents types d’argot permettent de comprendre que les formes argotiques, elles aussi, s’inscrivent dans les dimensions synchronique dynamique et diachronique de la langue, ne seraitce que si l’on compare les argots contemporains, plus particulièrement le français contemporain des cités (FCC), aux argots traditionnels. Les exemples de loucherbem sont tirés de l’article de Françoise Robert l’Argenton, Larlepem largomuche du louchébem (Parler l’argot du boucher), Parlures argotiques, Langue française, 90 (mai 1991), p. 113-125 (Voir à ce sujet Marc Plénat, Morphologie du largonji des loucherbems, Langages, 78, 1985, p. 73-122). Tous les autres exemples sont extraits de recherches personnelles relatives aux divers types d’argot en français et de leur différenciation en termes de linguistique synchronique dynamique, y compris ceux d’argot traditionnel, qui proviennent de Circonstances atténuantes (film français de Jean Boyer [1939]) avec, entre autres, Arletty et Michel Simon. argot traditionnel : bouille (visage), colbac (cou), comac (comme ça), guincher (danser), gagneuse (prostituée), mouquère (femme), reniflette (cocaïne), riff (feu), ruban (rue), thune (ou tune) (argent) ; argot des bouchers (loucherbem) : larjobem (barjot, idiot), leufbem (boeuf), leumikesse (commis), liprem (prix), loimess (moi), loulbem (boules), loulépem (poulet), loutokesse (couteau) ; argot de la prostitution : biche = bourdon = bourrin = cocotte (prostituée), cocotte-minute (prostituée pratiquant l’abattage), morue (prostituée), kangourou (client hésitant), merlan (proxénète), radasse (prostituée oeuvrant dans un bar) ; argot commun (issu de différents argots anciens, dont l’argot traditionnel): bagnole (voiture), came (drogue), flic (policier), flingue (arme à feu), fric (argent), fringue (vêtement), mec (homme), pompe (chaussure), tronche (visage) ; argot contemporain 1 (français contemporain des cités) : askeum = asmeuk (comme ça), carte bleue ou findus (jeune fille sans poitrine), coincer de la maille ou coincer de la jeuma [verlan de maille] (gagner de l’argent), être dosé de quelqu’un (être amoureux), bolo(s) (idiot(s)) (< lobos < lobotimi- 1 Cet argot contemporain des cités ou français contemporain des cités (F.C.C.) alimente luimême l’argot commun contemporain, qui comporte des termes tels meuf (femme), keuf (policier), kiffer (aimer), etc. <?page no="156"?> De l’intérêt de décrire en linguistique les parlures argotiques 123 sés), pécho ou péoch (attraper), reum (mère), reup (père), teuffeur (fêtard), schmitt (policier) (< nom de l’un des deux gendarmes impliqués dans la mort de l’étudiant Malik Oussekine en 1986), teuteu (drogué). Les argots contemporains présentent un avantage indéniable pour le linguiste, qui peut travailler autrement qu’en simple lexicographe, car il peut observer in situ les pratiques langagières et linguistiques. L’analyse n’en est pas pour autant moins compliquée. En effet, même si l’on retrouve ce qui a été présenté pour les argots traditionnels, on constate cependant : l’apparition d’un nouvel argot commun (existence d’un brassage de populations plus important qu’auparavant, impact des média, quelle qu’en soit la nature et plus nombreux que par le passé, etc.), dont il s’agit d’étudier les conditions socio-économiques de l’apparition (urbanisation, phénomène des banlieues, mobilité sociale) ; le développement de nouveaux parlers spécifiques, qui sont eux aussi du ressort de l’argotologie ; l’existence de liens entre les argots contemporains et des groupes unis entre eux non pas de manière socioprofessionnelle comme par le passé (argots de métier) mais par des modes de vie similaires (avec recherche d’une particularisation délibérée par la langue), ce qui est effectivement noté pour les locuteurs, plus ou moins jeunes, utilisant le français contemporain des cités. Évidemment tout ceci n’est pas sans répercussion sur les méthodes d’analyse que les linguistes doivent élaborer. Si l’on resitue les pratiques argotiques contemporaines dans le temps, on est amené à constater que, en France au cours du XX° siècle, les argots de métiers ont cédé progressivement la place à des argots sociologiques, avant même que ne se développent à partir de la fin des années 1970 et au début des années 1980 des argots dits “banlieusards”, des formes linguistiques utilisées plus spécifiquement dans les cités et quartiers, que l’on désigne désormais par français contemporain des cités. Fait important : les définitions sociolinguistique et fonctionnelle se rejoignent alors et à la fonction cryptoludique vient s’ajouter une fonction conniventielle, puisque l’argot fait groupe (fonction grégaire des pratiques argotiques). D’où la nécessité, pour ce qui est des pratiques argotiques contemporaines, de travailler sur les fonctions conniventielle (recherche délibérée d’une particularisation) et indexante. Les deux types d’argots, traditionnels et contemporains, se différencient entre eux par l’importance relative des fonctions qu’ils exercent : en effet, pour les argots de métiers, les fonctions sont essentiellement d’ordre cryptique, voire crypto-ludique ; les fonctions identitaires, quant à elles, n’occupent qu’une place secondaire. Une véritable inversion de rapport <?page no="157"?> Jean-Pierre Goudaillier 124 intervient dans le cas des argots sociologiques des cités. Les formes linguistiques dégagées par l’analyse du français argotique contemporain, qu’il s’agisse, entre autres, des mots d’emprunts ou des formes verlanesques (voir plus loin) sont autant de marqueurs, de stéréotypes identitaires ; elles exercent pleinement leurs fonctions d’indexation. Le français contemporain des cités joue dès lors un rôle interstitiel entre la langue française circulante légitimée socialement et un certain nombre de vernaculaires non légitimés, entre autres ceux connus des personnes issues de l’immigration. Se développe dès lors une volonté permanente de transgresser la norme linguistique et de créer, par instillation de traits spécifiques provenant du niveau identitaire dans le système linguistique dominant, une diglossie, véritable manifestation langagière d’une révolte avant tout sociale (voir aussi à ce sujet Jean- Pierre Goudaillier, Comment tu tchatches! - Dictionnaire du français contemporain des cités, Paris, 2001 (1ère édition : 1997), Maisonneuve et Larose, 305 pages, p. 8 et ss.). L’environnement socio-économique immédiat des cités et autres quartiers vécu au quotidien est bien souvent défavorable et parallèlement à la fracture sociale une autre fracture est apparue : la fracture linguistique. La fonction identitaire joue pleinement son rôle et prend la première place parmi les fonctions exercées par les pratiques langagières relevées de nos jours dans les cités françaises. La revendication langagière de jeunes et de moins jeunes qui “se situent en marge des valeurs dites légitimes (...) est avant tout l’expression d’une jeunesse confrontée à un ordre socio-économique de plus en plus inégalitaire, notamment en matière d’accès au travail” 2 . L’inversion de l’importance des différentes fonctions est récapitulée dans le tableau ciaprès, qui montre que les fonctions d’ordre crypto-ludique n’occupent plus désormais la première place. argots de métiers argots sociologiques (traditionnels) (contemporains) 1 fonction crypto-ludique fonction identitaire 2 fonction identitaire fonction crypto-ludique Importances des fonctions linguistiques exercées Argots de métiers / argots sociologiques contemporains Se situant dans une perspective synchronique dynamique, l’analyse linguistique des variétés argotiques contemporaines permet aussi de rendre compte 2 Fabienne Melliani, 2000, La langue du quartier - Appropriation de l’espace et identités urbaines chez des jeunes issus de l’immigration maghrébine en banlieue rouennaise, Paris, L’Harmattan (Collection “Espaces discursifs”), 220 pages, p. 50. Ceci “nécessite cependant des locuteurs qu’ils se situent sur un autre marché, plus restreint, que celui sur lequel évolue la variété légitime” (p. 50). <?page no="158"?> De l’intérêt de décrire en linguistique les parlures argotiques 125 de l’évolution linguistique du français. Ainsi, les travaux de recherche menés à propos des pratiques langagières et des formes linguistiques argotiques dites «périphériques» contribuent à une meilleure connaissance des modes de fonctionnement du français et de son évolution. L’emploi important du verlan dans cette forme de français contemporain montre que les variétés langagières relevées dans les cités françaises ont un mode de fonctionnement “en miroir” par rapport à ce que l’on constate généralement dans la langue française. Ainsi, le verlan de type “monosyllabique” permet de créer des mots qui, du point de vue syllabique, sont autant de miroirs (structure de type VC) des mots à partir desquels ils sont formés par verlanisation (structure de type CV) : ça > aç, moi > oim, chaud > auch, bien > ienb, chien > iench, pied > iep, etc. Cette inversion de l’ordre syllabique n’est pas fortuite ; elle est aussi le reflet de la position de refus de la société française et de ses rapports d’exclusion par les locuteurs, jeunes ou moins jeunes, des cités et quartiers, ceci dans les “limites des marchés francs” définis par Pierre Bourdieu. L’émergence de l’aphérèse, peu fréquente en français, au détriment de l’apocope est un autre exemple de ce fonctionnement “en miroir” des parlers contemporains. C’est une différence de fonctionnement particulièrement notable par rapport à ce que l’on constate en langue “standard”, qui procède, quant à elle, en règle générale par apocope pour abréger les mots, alors que la préférence est donnée à l’aphérèse en argot contemporain. Ainsi, dwich (< sandwich), leur (< contrôleur), rien (< algérien), vail (< travail), blème (< problème), dic (< indicateur de police), teur (< inspecteur de police), zien (< tunisien) sont, parmi d’autres, autant d’exemples d’aphérèses utilisées de nos jours et qui n’existaient pas dans les argots traditionnels. D’autres faits viennent conforter l’hypothèse de ce fonctionnement “en miroir”. Les mots en verlan, surtout ceux qui sont formés par un procédé de verlanisation comprenant une phase dissyllabique, ne présentent dans la majeure partie des cas qu’un seul timbre vocalique, à savoir celui de la voyelle [ œ ]. Voici deux exemples bien connus de ce type de verlan : femme [ fam ] > [ famø ] > [ møfa ] > [ mœf ] meuf ; flic [ flik ] > [ flikø ] > [ køfli ] > [ kœf ] keuf. Une neutralisation de l’ensemble des timbres vocaliques s’opère dans de tels cas au bénéfice de la voyelle de timbre [ œ ], ce qui ne correspond en aucune manière aux règles habituelles du fonctionnement phonologique du français et met en valeur plutôt les schèmes consonantiques, de toute évidence au détriment des voyelles. Toujours dans une perspective synchronique dynamique, l’analyse des emprunts met aussi en valeur l’évolution linguistique des formes argotiques du français, puisque l’on constate de nos jours un apport de plus en plus important en nombre de termes provenant de langues étrangères. Même si <?page no="159"?> Jean-Pierre Goudaillier 126 l’argot traditionnel a emprunté des termes étrangers, il l’a fait dans des proportions moindres. Un facteur, d’ordre social, particulièrement déterminant est intervenu depuis et s’est amplifié : celui de l’immigration. De ce fait, l’argot des cités ou français contemporain des cités (FCC) utilise largement l’emprunt aux parlers de l’immigration, ainsi que le montrent les quelques exemples suivants : mots d’origine arabe, berbère : arhnouch (policier), bzazel (sein), choune (sexe féminin), doura (virée [en voiture] dans la cité), haram (péché), hralouf (porc), mesquin (pauvre type), shitan (diable), zetla (haschisch), zouz (fille, femme) ; mots d’origine africaine : go (fille, jeune femme), gorette (fille). mots d’origine tzigane : bédo (cigarette de haschisch), craillav (manger), marav (battre, frapper, tuer), rodav (regarder) 3 . Ce phénomène d’emprunt aboutit à la constitution d’un stock de mots “métissés”, dont quelques exemples sont mentionnés ci-après. Blédard, bledman, blédos, blédien : celui qui arrive de son bled, l’ignorant, le paysan (le rustre). Il s’agit de la suffixation “standard” en -ien, “argotique” en -os, -ard de bled, qui est un substantif argotique d’origine arabe. L’arabe classique bila d a donné en arabe maghrébin bled avec le sens de terrain, ville, pays, qui est lui-même passé en argot par l’intermédiaire de l’argot militaire d’Afrique du Nord à la fin du XIX° siècle (époque du colonialisme). gorette : fille, femme. Ce terme vient du lexème wolof go: r (homme), auquel a été ajouté le suffixe -ette par un procédé de suffixation identique à celui qui à partir de beur au masculin donne beurette au féminin. hétiste : personne désoeuvrée, qui est sans travail, généralement au chômage. Ce mot est construit à partir d’un terme qui désigne le mur en arabe dialectal maghrébin (argot algérois) et du suffixe -iste. Le hétiste est donc celui qui est adossé au mur, passant son temps à ne rien à faire, parce qu’il n’a pas de travail. À noter que ce mot est désormais remplacé par muriste (mur + -iste). kiffer : ce verbe signifie aimer. Il est à rapprocher d’une part de l’arabe kiff (mélange de cannabis et de tabac) et du fait, par conséquent, d’aimer le kiff. raclette : il s’agit de la forme diminutive en -ette de racli (forme féminine correspond à raclo (dialecte kalderash (tzigane)) : rakl-o, garçon non Tzi- 3 De faux mots tsiganes tels béda (cigarette) (< bédo), bédav (fumer) (< bédo), couillav (tromper quelqu'un) (< couiller), pourav (sentir mauvais) (pourri), tirav (voler [à la tire]) (< tirer) sont aussi utilisés. <?page no="160"?> De l’intérêt de décrire en linguistique les parlures argotiques 127 gane) employé pour désigner une femme non Tzigane. Le sens en FCC est fille, femme. Scarlette, qui signifie aussi en FCC fille, femme est la suffixation en -ette de scarla, verlan de lascar (ce mot arabe vient du persan laskhar et signifie l’homme valeureux, l’homme preux, le soldat) pour désigner un gars de cité (avec connotation de ruse, de force, autant de qualités attendues de la part d’un soldat ou de quelqu’un qui doit faire face aux exigences de la vie). Compte tenu de l’ensemble des faits qui ont été présentés, il convient donc de reconnaître que le travail du linguiste descriptiviste, lorsqu’il porte sur des variétés linguistiques dites périphériques, contribue effectivement à une meilleure connaissance des modes de fonctionnement linguistique d’une langue, tant d’un point de vue synchronique dynamique que diachronique, et de l’évolution des langues. Bibliographie Bordet, Joëlle (1998) : Les «jeunes de la cité», Paris, Presses Universitaires de France, (= Collection «Le sociologue»). Bordet, Joëlle (2007) : Oui à une société avec les jeunes des cités! 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Die sprachliche und kulturelle ‘Einheitlichkeit’ aller Staatsangehörigen ist daher ein wichtiges (sprach)politisches Ziel. Als Folge werden die neben dem Französischen existierenden Sprachen systematisch verdrängt und somit die ethnische und kulturelle Vielfalt auf französischem Staatsgebiet nivelliert. Zugunsten einer einzigen Nationalsprache, die in allen Regionen der Nation und in allen Bereichen des Lebens dominiert, wurden die Minderheitensprachen, Dialekte und die eng mit ihnen verbundenen regionalen Traditionen in den vergangenen Jahrhunderten stark zurückgedrängt. Mit der Ergänzung des Artikels 2 der französischen Verfassung (La langue de la République est le français.) wurde im Jahr 1992 das Französische nochmals explizit zur einzigen Sprache der Republik erklärt; schließlich heißt es hier “la langue” und nicht etwa weicher “la langue principale”. Noch immer sperrt sich Frankreich gegen die Anerkennung der Minderheiten auf dem eigenen Staatsgebiet. Ihre Sprachen sind vom staatlichöffentlichen Leben nahezu ausgeschlossen; sie besitzen lediglich einen offiziellen Status als Lehrfach an den Schulen und in beschränktem Maße in den regionalen Medien. Mit der Verbreitung des Internets - als völlig neues, nicht regional gebundenes und grenzüberschreitendes Medium - stehen nun auch den Sprachgemeinschaften der Minderheiten in Frankreich neue Möglichkeiten und Perspektiven zur Verbreitung und Beschaffung von Informationen zur Verfügung. Der vorliegende Beitrag 1 versteht sich als Kurzbeschreibung einer umfassenderen soziolinguistischen Forschungsarbeit zur Selbstdarstellung romanischer Minderheiten im Internet. Sie soll Aufschluss darüber geben, wie die Sprecher der einzelnen Minderheitensprachen über sich selbst, ihre Sprache und ihre Sprachgemeinschaft im World Wide Web informieren und gleich- 1 Die Idee hierzu basiert auf einer Examensarbeit mit dem Titel “Soziolinguistik der Selbstdarstellung: Die romanischen Minderheiten Frankreichs im Internet” von Lars Steinicke (2008). <?page no="163"?> Lars Steinicke / Claudia Schlaak 130 zeitig aufzeigen, welche Aussagekraft und linguistische Relevanz diese Informationen haben. Zusätzliches Augenmerk wird hierbei auf mögliche ‘offizielle’ Interessenvertretungen der Minoritäten und deren Internetpräsenzen gelegt. Am Beispiel des Okzitanischen, der größten sprachlichen Minderheit Frankreichs, wird dieser Ansatz im Folgenden erläutert. 2. Okzitanisch heute Die okzitanische Sprechergemeinschaft stellt die größte sprachliche Minderheit in Frankreich dar. Ihr heutiges Gebiet umfasst den zentralen Raum des südlichen französischen Staatsgebietes und somit das historische Gebiet der einstigen römischen Provincia narbonensis. Das im Mittelalter durch die Trobadorlyrik 2 weithin als Literatursprache bekannte Okzitanische 3 musste sich zunächst jahrhundertlang neben dem als traditionelle Schriftsprache fungierenden Latein behaupten. Die Region, die im Vergleich zu anderen romanischen Sprachräumen besonders früh zu kultureller Blüte gelangt war, verlor im Laufe der Zeit an Größe und Unabhängigkeit - zu Gunsten der sich immer mehr nach Süden ausbreitenden französischen Krone. Als mit der Ordonnance de Villers-Cotterêts (1539) schließlich der Gebrauch des Französischen in allen offiziellen Texten per königlichen Erlass verfügt wurde 4 , setzt ein Rückgang im schriftlichen Gebrauch des Okzitanischen ein, der nicht mehr aufzuhalten war. Mit der Französischen Revolution und der Verbreitung der französischen Sprache im gesamten Staatsgebiet und schließlich mit Einführung der allgemeinen Schulpflicht (1881) wird das Okzitanische nach dem schriftlichen auch aus dem mündlichen Sprachgebrauch und dem öffentlichen Leben mehr und mehr verdrängt. Die somit ausschließlich im Privatbereich verwendete Sprache wird immer seltener an die nachfolgenden Generationen weitergegeben, sodass etwa ab 1950 kaum noch Primärsprecher zu finden sind. Fortan wird Okzitanisch nur noch parallel zum Französischen oder bewusst sekundär erlernt. Angaben zu Sprecherzahlen des Okzitanischen variieren enorm und wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch auf Zahlen bis in den zweistelligen Millionenbereich geschätzt. 5 Mittlerweile wurden diese stark nach unten korrigiert. Neuere Schätzungen erachten eine Sprecherzahl von ca. 1 bis 1,5 Millionen als realistisch. 6 Genaue statistische Erhebungen fehlen jedoch nach wie vor. 2 Zur Trobadorlyrik cf. u.a. Bec (1972) und Lommatzsch (1917). 3 Okzitanisch war lange Zeit unter der Bezeichnung ‘Provenzalisch’ verbreitet. Erst in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts setzte sich die Bezeichnung ‘Okzitanisch’ in der Sprachwissenschaft durch. 4 Zum Text der Ordonnance cf. bspw. www.academie-francaise.fr/ langue/ index.html. 5 Zu diversen Erhebungen cf. sehr ausführlich Meisenburg (1985: 36-57). 6 Cf. Janich / Greule (2002: 186). <?page no="164"?> Das Okzitanische: Zur Selbstdarstellung französischer Minderheiten im Internet 131 Das Okzitanische stand in seiner historischen Entwicklung zu jeder Zeit in Konkurrenz zu anderen Sprachen und war nie die Staatssprache einer politischen Einheit ‘Okzitanien’ mit einem dominierenden Zentrum, das die Herausbildung und Verbreitung einer Standardvarietät begünstigt hätte. Versuche einer einheitlichen Sprachnormierung 7 der verschiedenen regionalen Varietäten zur dauerhaften Statussicherung des Okzitanischen waren nur mäßig erfolgreich. Der gesamte okzitanische Sprachraum zerfällt vielmehr in einzelne Dialekträume, die sich in die nordokzitanischen Varietäten (Limousinisch, Auvergnatisch und Alpenprovenzalisch) und die südokzitanischen Varietäten (Languedokisch und Provenzalisch) gliedern lassen. 8 Darüber hinaus gilt heute das Gaskognische als weitere Varietät des Okzitanischen, wenngleich es in älteren Publikationen als eigenständige romanische Sprache betrachtet wurde. 9 3. Forschungsstand Erste grundlegende Publikationen zum Okzitanischen legen französische Sprachwissenschaftler wie Pierre Bec und Robert Lafont vor, deren Arbeiten bis heute mehrfach wiederaufgelegt worden sind. Becs La Langue occitane (1963) gibt einen kurzen aber dennoch umfassenden Überblick über die okzitanische Sprache. Mit Lafonts Clefs pour l'Occitanie (1971) erscheint eine weitere französischsprachige Arbeit, die zugleich differenzierte Betrachtungen zum Gebrauch des Okzitanischen und zur okzitanischen Sprechergemeinschaft anstellt. Lafont erkennt hier bereits die Notwendigkeit einer flächendeckenden Sprecherbefragung, da er seine Aussagen in Ermangelung einer großen Enquête lediglich auf diverse “sondages et évaluations raisonnables” 10 stützen kann. Für die deutschsprachige Romanistik liefern etwa zur gleichen Zeit u.a. Brigitte Schlieben-Lange und Georg Kremnitz wichtige Arbeiten zur okzitanischen Sprache. Schlieben-Langes Okzitanisch und Katalanisch (1971) behandelt das Okzitanische vor allem mit Blick auf das sprachliche Selbstverständnis der Sprecher. Sie stellt fest, dass es bereits zum Zeitpunkt der Veröffentlichung ihrer Arbeit keine okzitanische Einsprachigkeit mehr gibt und dass bestimmte Bereiche des öffentlichen Lebens (wie Schule, Politik, etc.) völlig dem Französischen vorbehalten sind. 11 1974 untersucht Georg Kremnitz in Versuche zur Kodifizierung des Okzitanischen seit dem 19. Jahrhundert und ihre Annahme durch die Sprecher vor allem die Problematik der 7 Zur Kodifizierung cf. vor allem Kremnitz (1974 und (1991). 8 Für eine ausgewogene Gesamtdarstellung cf. Bec (1986). 9 Cf. u.a. Baldinger (1958); Rohlfs (1970). 10 Lafont (1977: 57). 11 Cf. Schlieben-Lange (1973: 43seqq). <?page no="165"?> Lars Steinicke / Claudia Schlaak 132 Verschriftung des Okzitanischen vor dem Hintergrund verschiedener Graphiemodelle. Zugleich konstatiert er eine Diskrepanz zwischen einer weit verbreiteten Sprachkenntnis und einem wesentlich geringeren aktiven Sprachgebrauch. 12 Neben weiteren Arbeiten zur allgemeinen Situation der Minderheitensprachen in Frankreich erscheint 1981 sein Romanistisches Arbeitsheft Das Okzitanische. Sprachgeschichte und Soziologie. Darüber hinaus liefert Trudel Meisenburg 1985 mit Die soziale Rolle des Okzitanischen in einer kleinen Gemeinde im Languedoc (Lacaune/ Tarn) eine wichtige Untersuchung zum okzitanisch-französischen Sprachkontakt, in der die Verfasserin ihre empirischen Untersuchungen 13 in einer südfranzösischen Gemeinde vorstellt. 1991 widmet sich schließlich der fünfte Band des von Günter Holtus, Michael Metzeltin und Christian Schmitt herausgegebenen Lexikon der Romanistischen Linguistik mit seinem zweiten Halbband 14 ebenfalls dem Okzitanischen. Dieser beinhaltet Beiträge zur internen und externen Sprachgeschichte und zur Soziolinguistik und wird um weitere Aufsätze zur Onomastik, zu Sprache und Literatur und zur Areallinguistik ergänzt. Mit Peter Cichons Einführung in die okzitanische Sprache erscheint 1999 ein deutschsprachiges Basiswerk zum Erlernen der langue d’oc. Daneben exisitieren zahlreiche Überblickspublikationen, die sich mit der französischen bzw. gesamtromanischen Minderheitenproblematik befassen. Im Handbuch Sprachkulturen in Europa (2002) von Nina Janich und Albrecht Greule werden sämtliche europäische Sprachkulturen in alphabetisch, nach Sprachbezeichnung geordneten Einzelbeiträgen zusammengefasst - so auch das Okzitanische. Die Autoren gehen hier, neben der Betrachtung allgemeiner und sprachgeschichtlicher Faktoren, auch auf sprachpolitische Aspekte und aktuelle Sprachtendenzen ein. Als eine der aktuellsten Publikationen soll abschließend die 2008 erschienene Arbeit Romania virtu@lis: Romanische Varietäten in der internetbasierten Kommunikation von Andreas Michel angeführt werden, die Untersuchungen zur Präsenz romanischer Varietäten im Internet und in der virtuellen Kommunikation anstellt und somit zu den ersten Arbeiten der Internetsituation von Minderheitensprachen zu zählen ist. Der Autor beleuchtet hierin verschiedene im Internet vertretene Textsorten und Kommunikationsformen am Beispiel der Gallo-, Ibero- und Italoromania und zeigt parallele Entwicklung im Aufkommen neuer virtueller Textsorten in den einzelnen romanischen Varietäten auf. 12 Cf. Kremnitz (1974: 329seq). 13 Cf. Meisenburg (1985). 14 Cf. Holtus/ Metzeltin/ Schmitt (1991); der Halbband umfasst auch einen Teil zum Katalanischen. <?page no="166"?> Das Okzitanische: Zur Selbstdarstellung französischer Minderheiten im Internet 133 4. Minderheitensprachen Frankreichs im Internet Die elektronische Informationsverbreitung über institutionelle und private Internetseiten hat in den vergangenen Jahren zu einem sprunghaften Anstieg der online verfügbaren Informationen geführt und eröffnet auch in Bezug auf die Arbeit zur Minderheitenproblematik immer neuere Perspektiven und Möglichkeiten - von einer wesentlich vereinfachten Kontaktaufnahme zu den einzelnen Interessenvertretungen über die Sichtung bereits online erscheinender Literatur bis hin zu Auskünften über Projekte und Publikationen auf Internet-Portalen wissenschaftlicher und nichtwissenschaftlicher Institutionen. Die immense Vielfalt an Informationen bringt gleichzeitig jedoch auch negative Aspekte mit sich: Die fehlende Transparenz des Netzwerkes, das in keinerlei Hinsicht gegliedert oder strukturiert ist und die Schnelllebigkeit der Verfügbarkeit bzw. Nichtverfügbarkeit von Informationen erschweren den Umgang mit dem Medium. Die Zahl der Seiten im World Wide Web ist kaum noch erfassbar und die Beschaffung von Informationen kann mitunter zu einer langen und mühseligen Suche werden. Viele der derzeit bestehenden Überblicksseiten, Publikationslisten oder Linksammlungen zu Minderheitensprachen im Netz erweisen sich als unzureichend aktuell oder unvollständig. Eine systematische Sichtung und Sammlung entsprechender Seiten zur Minderheitenthematik bleibt ein wichtiges Desiderat. Bisher liegen keine umfassenden Studien zur Selbstdarstellung der Minderheiten Frankreichs im Internet vor. Von Seiten des französischen Staates fehlt offenbar - aus bereits erwähnten sprachpolitischen Gründen - eine offizielle Überblicksseite zur Situation der Minderheitensprachen auf französischem Staatsgebiet. Wirft man einen Blick auf die offiziellen Seiten des Ministère de la Culture et de la Communication 15 wird dieser Verdacht bestätigt. Dort findet sich die Délégation générale à la langue française et aux langues de France, auf deren Seiten folgende Überschrift unmittelbar ins Auge fällt: “La langue de la République est le français” (art. 2 de la Constitution). 16 Auch wenn im weiteren Verlauf betont wird, dass der Name der Délégation mit dem Jahr 2001 um den Zusatz “et aux langues de France” erweitert wurde - wie es heißt “pour marquer la reconnaissance par l’État de la diversité linguistique de notre pays” 17 - wird auf diesen offiziellen Seiten vorwiegend das Recht des citoyen auf die französische Sprache und deren Bedeutung für den französischen Staat betont. An ausführlichen Informationen zu den einzelnen langues de France fehlt es hier. 15 Cf. www.culture.gouv.fr (12.08.2010). 16 www.dglf.culture.gouv.fr (12.08.2010). 17 Ibid. <?page no="167"?> Lars Steinicke / Claudia Schlaak 134 Erwähnt werden muss jedoch das Projekt mit dem Titel Voyage en chansons à travers les langues de France 18 . Hierbei handelt es sich um eine moderne, multimediale und flash-animierte Webseite, die die Sprachen Frankreichs inklusive der langues non territoriales und der französisch-basierten Kreolsprachen in Übersee zusammenträgt und die Verschiedenheit der einzelnen Sprachgruppen anhand ihrer typischen folkloristischen Musik darstellt, teils durch Hörbeispiele und Text bzw. durch Interviews und Kurzinformationen über die Sprache. Die wenigen Informationen von offizieller Seite bedeuten jedoch keinesfalls, dass sich im übrigen World Wide Web keine Informationen zu Minderheitensprachen in Frankreich finden lassen; im Gegenteil: Eine einfache Websuche mit Hilfe von Google und unter Verwendung der Stichworte ‘Minderheitensprachen’ ‘Frankreich’ ergab die unüberschaubare Anzahl von ungefähr 130.000 Treffern. Unter den ersten zehn Suchtreffern findet sich ein Link zu den Internetseiten der Europäischen Kommission 19 , welche u.a. die Regional- und Minderheitensprachen der Europäischen Union im Hinblick auf ihre Bedeutung in allgemeiner und beruflicher Bildung in Europa vorstellt. Der Internetauftritt liefert schließlich auch einen wichtigen Verweis auf die sogenannte Euromosaic-Studie 20 der Europäischen Union. Diese Überblicksseite informiert wiederum in ihrer Subkategorie Regional- und Minderheitensprachen über alle National- und Minderheitensprachen der EU. Zum Okzitanischen lassen sich hier u.a. Informationen zur Sprachgeschichte, zu Sprecherzahlen sowie zur Sprachverwendung im Alltag, in der Familie oder in der Schule finden. Neben der Verknüpfung zu Euromosaic finden sich auf der Seite der Europäischen Kommission weitere Links zu zentralen Onlineauftritten europäischer und internationaler Organisationen. 5. Empirische Untersuchung: Das Okzitanische im Internet 5.1. Untersuchungsansatz Da keine umfassenden Studien zur Selbstdarstellung romanischer Minderheiten im Internet vorliegen, soll es das Ziel der in diesem Beitrag vorgestellten Forschungsarbeit sein, zunächst eine umfassende Sammlung an Internetseiten zu den romanischen Minderheitensprachen Frankreichs anzulegen und - in einem zweiten Schritt - die hierbei gewonnenen Inhalte hinsichtlich ihrer (1) sprachgeschichtlichen, (2) linguistischen und (3) soziopolitischen Dimensionen der Selbstdarstellung der Minderheiten im Internet zu 18 Cf. www.languesdefranceenchansons.com (12.08.2010). 19 Cf. http: / / ec.europa.eu/ education/ languages/ archive/ languages/ langmin/ regmin_ de.html (12.08.2010). 20 Cf. http: / / ec.europa.eu/ education/ languages/ archive/ languages/ langmin/ euromosaic/ index_de.html. (12.08.2010). <?page no="168"?> Das Okzitanische: Zur Selbstdarstellung französischer Minderheiten im Internet 135 analysieren. 21 Aufgrund des hier gegebenen Rahmens können die erforderlichen theoretischen und methodologischen Ansätze zur Analyse dieser Dimensionen im Folgenden nicht ausführlich dargelegt werden. Soviel sei jedoch erwähnt: Bei der Beschreibung sprachgeschichtlicher Vergleichskriterien (1) wird die heute gängige Unterscheidung in externe und interne Sprachgeschichte Anwendung finden; im Hinblick auf linguistische Vergleichskriterien (2) sollen sowohl geo-, sozio-, und pragmalinguistische als auch systemlinguistische Aussagen auf den ermittelten Internetseiten erfasst und analysiert werden; und hinsichtlich soziopolitischer Dimensionen (3) werden schließlich Aussagen zur jeweiligen Kultur (im Sinne der eigenen Lebensweise, den dazugehörigen Sitten und Gebräuchen) sowie zur Herkunft der einzelnen Volksgruppen untersucht. Im letzten Punkt wird zugleich überprüft, ob einzelne Aussagen bewusst herausgestellt oder sogar überzeichnet und somit politisiert werden, um die eigene Volksgruppe beispielsweise von anderen oder vom französischen Staat abzugrenzen. Um den hier grob umrissenen Untersuchungsansatz am konkreten Beispiel darzustellen und gleichzeitig erste Ergebnisse vorstellen zu können, soll dieser im Folgenden exemplarisch am Beispiel des Okzitanischen nachvollzogen werden. 5.2. Datensammlung Nach einer ersten Sichtung der Internetangebote zu den in Frankreich vertretenen romanischen Minderheitensprachen lässt sich eine starke Präsenz des Okzitanischen feststellen. Gründe hierfür können sowohl das im Vergleich zu den anderen Minderheitensprachen flächenmäßig größte Verbreitungsgebiet als auch die hohe Zahl der dort ansässigen Sprecher sein. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass diese verstärkte Internetpräsenz nicht ausschließlich dem Engagement einer einzelnen Vertretung des Okzitanischen zu verdanken ist, sondern vielmehr das Werk vieler, teilweise miteinander kooperierender Institutionen (u.a. IEO, AIEO, UOE, EOE, etc.) und Organisationen (Félibrige, Convergéncia Occitana, etc.) ist. Zusätzlich konnte beobachtet werden, dass die Initiative zur Auseinandersetzung mit dem Okzitanischen oft auch von einem Personenkreis außerhalb der autochthonen Sprechergemeinschaft ausgeht. Hier zeigen sich Parallelen zur romanistischen Fachliteratur, welche in den Siebziger- und Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts die Situation des Okzitanischen aus soziolinguistischer Perspektive dokumentiert hat. Auch wenn diese Fremddarstellungen nicht Teil der Selbstdarstellung romanischer Minderheiten- 21 Da das Internet keinesfalls immer den Anspruch wissenschaftlicher Darstellung erhebt, kann nicht davon ausgegangen werden, dass die hier genannten Dimensionen jeweils vollständig abgedeckt werden. <?page no="169"?> Lars Steinicke / Claudia Schlaak 136 sprachen Frankreichs im Internet sind, müssen ihre Informationen als verstärkendes Moment im vernetzten Gesamtbild des Internetangebotes zu den Minderheitensprachen Berücksichtigung finden. Allein zur Untersuchung des Okzitanischen im World Wide Web wurden auf unterschiedlichen Recherchewegen (über Suchmaschinen, Linksammlungen, Publikationslisten, etc.) mehr als 50 Webseiten namentlich erfasst. Nach einer ersten Selektion hinsichtlich ihrer Aussagekraft, Aktualität und Verfügbarkeit konnten schließlich folgende 22 Webseiten analysiert: Nr. Titel der Webseite Hyperlink zur Internetseite 01. Institut d'Etudis Occitans www.ieo-oc.org 02. Institut d'Etudis Occitans - Lemosin http: / / ieo.lemosin.free.fr/ paneus/ 03. Institut d'Etudis Occitans - Lengadòc www.ieo-lengadoc.org/ ieospip/ 04. Institut d'Etudis Occitans - Provença www.c-oc.org/ ieo/ provenca/ 05. Ofici per l'occitan - Oc per l'Occitan www.occitan-oc.org 06. Pages des Calandretas www.c-oc.org/ calandreta/ 07. AIEO - Sektion deutschspr. Länder www.occitania.de 08. AIEO - Association Internationale d'Etudes Occitanes www.aieo.org 09. Dictionnaire de l’occitan médiéval www.dom.badw-muenchen.de 10. Félibrige www.felibrige.org 11. Site de la culture occitane www.c-oc.org 12. Convergéncia Occitana www.ostaldoccitania.net 13. panOccitan www.panoccitan.org 14. L'Espaci Occitan www.espaci-occitan.org 15. Oiquipedià en occitan http: / / oc.wikipedia.org/ wiki/ Occitan/ 16. Radio Occitania http: / / radio-occitania.com 17. Prouvènço d'Aro www.prouvenco-aro.com 18. FORUM Occitania http: / / occitania.forumactif.com 19. Occitanet http: / / occitanet.free.fr 20. Diccioari General Occiton http: / / amourdelire.free.fr/ diccionari/ 21. IDECO www.ideco-dif.com 22. Partit Occitan http: / / partitoccitan.org Tabelle 1: Internetseiten zum Okzitanischen Die vorliegenden Listen - wie diese zum Okzitanischen - können jeweils nur einen Ausschnitt aller zu den Einzelsprachen verfügbaren Seiten im Internet wiedergeben. Daher wird jegliche Darstellung eines status quo aufgrund der Schnelllebigkeit des Internets stets nur eine Momentaufnahme bleiben. <?page no="170"?> Das Okzitanische: Zur Selbstdarstellung französischer Minderheiten im Internet 137 Eine der Grundfragen der hier vorgestellten Forschungsarbeit, nämlich ob die einzelnen Webseiten der romanischen Minderheitensprachen Auskunft zu sprachgeschichtlichen, linguistischen und soziopolitischen Aspekten ihrer jeweiligen Sprache geben, kann anhand einer Trefferverteilung zunächst quantitativ beantwortet werden. Wie bei den Untersuchungen deutlich wurde, überwiegen vor allem Treffer zu sprachpolitischen Aussagen und solche mit Informationen zur externen Sprachgeschichte, gefolgt von Aussagen zur Geo- und Soziolinguistik, während die Pragmalinguistik nur in Ansätzen berührt wird, und schließlich zur Phonetik/ Phonologie und zur Lexik. Auf nur zwei Webseiten war ein Ansatz an ethnopolitischen Aussagen erkennbar. Am Beispiel des Okzitanischen lässt sich hier bereits im Vorfeld eine Grundtendenz in der Verteilungshäufigkeit ablesen, die bei weiteren Untersuchungen auch auf andere Minderheitensprachen zutreffen werden: 1.) Informationen zur externen Sprachgeschichten sind häufiger zu finden als solche zur internen Sprachgeschichte; 2.) im Bereich der Variationslinguistik werden insbesondere geolinguistische und soziolinguistische Aspekte beschrieben; 3.) auf systemlinguistischer Ebene überwiegen in der Regel Beschreibungen zur Phonetik/ Phonologie gefolgt von Darstellungen der Lexik; und 4.) sprachpolitische Aussagen in Bezug auf die romanischen Minderheiten sind häufiger vertreten als ethnopolitische. 5.3. Untersuchungsergebnisse 5.3.1. Sprachgeschichtliche Selbstdarstellung des Okzitanischen Die vermutlich bekannteste Vertretung der okzitanischen Sprache, das Institut d’Etudis Occitan (Nr. 01) 22 , präsentiert sich und seine Arbeit auf einer eigenen Webseite unter www.ieo-oc.org. Neben der Vorstellung des Institutes und seiner Mitglieder sowie seiner Geschichte und seiner Ziele verweist der Webauftritt des IEO auf allgemeine und kurze Aussagen u.a. zur Geschichte, zur Aussprache oder Diskussionen zu den Begriffen Occitan oder patois. 23 Eine Auflistung der einzelnen regionalen Sektionen des IEO und deren Webseiten führt unter anderem zu den hier ausgewählten Sektionen Lemosin, Lengadòc sowie Provença. Vom Gesamtangebot der Sektion Lemosin (Nr. 02) ist jedoch nur eine thematische Rubrik erreichbar. Diese befasst sich mit der zweisprachigen Orts- und Straßenbeschilderung im okzitanischen Sprachraum und liefert das hierzu notwendige Vokabular und die regionalen Bezeichnungen von Ortsnamen sowie die für diesen Kontext notwendigen Regeln zur Schreibung und zur Aussprache. 24 22 Die Zählung erfolgt fortlaufend und entspricht der in Tabelle 1. 23 Cf. www.ieo-oc.org/ Occitan-ou-patois-quelle (12.08.2010). 24 Cf. http: / / ieo.lemosin.free.fr/ paneus/ (12.08.2010). <?page no="171"?> Lars Steinicke / Claudia Schlaak 138 Der Internetauftritt der Seccion regionala de Lengadòc (Nr. 03) gibt hingegen erste ausführlichere Informationen zum okzitanischen Sprachraum und zur okzitanischen Sprache. In der Rubrik Occitània finden sich Texte zu den Themenbereichen Los primièrs tèxtes occitans und L’occitan, lenga administrativa. Die auf dieser Seite hinterlegten Texte tragen wesentliche Etappen der externen okzitanischen Sprachgeschichte zusammen (Latein als Superstratsprache, erste Sprachzeugnisse im okzitanischen Raum, Okzitanisch als administrative und als Literatursprache im Mittelalter, Edikt von Villers- Cotterêts, etc.). Die Mehrzahl der Texte ist in Okzitanisch hinterlegt. Anschließend wechseln die Informationsinhalte größtenteils zu sprachpolitischen Aussagen. Eine weitere Webseite namens Ostal d'Occitània (Nr. 12) wird durch die 1998 gegründete Association Convergéncia occitana betreut, die das für die Öffentlichkeit zugängliche Maison de l’Occitanie in Toulouse unterhält. 25 Abb. 1: Screenshot zu www.ostaldoccitania.net Neben aktuellen Informationen zur Situation der Minderheiten in Frankreich informiert die Seite über einzelne Abschnitte der okzitanische Sprachgeschichte (Mistral, Félibrige, etc.) und gibt Informationen zu Entstehung, Verfall und Renaissance der Sprache. Mit der Benennung der einzelnen Varietäten und der Darstellung der historischen Regionen (inkl. Karten) berührt die Webseite zugleich Aspekte einer geolinguistischen Beschreibung. 25 Cf. www.ostaldoccitania.net (12.08.2010). <?page no="172"?> Das Okzitanische: Zur Selbstdarstellung französischer Minderheiten im Internet 139 Die italienische Webseite L'Espaci Occitan (Nr. 14) des in Norditalien 26 ansässigen Museo multimediale ‘Sòn de Lenga’ ist zweisprachig (okzitanisch und italienisch) verfügbar. Sie bietet Informationen zum okzitanischen Sprachraum, inklusive der valli occitane in Norditalien, die von französischen Webseiten oft nicht berührt werden, und verweist auf wesentliche Bereiche der okzitanischen Geschichte, Geographie, Sprache und Kultur. Die Angaben zur Sprachgeschichte umfassen die Anfänge der okzitanischen Sprache, die Zeit der Albigenser-Kreuzzüge und der Troubadours einschließlich eines Verweises auf Dante Alighieris Einteilung der Sprachen, zum Edikt von Villers-Cotterêts, zu Frédéric Mistral und zur Grammatica Occitana von Louis Alibert bis hin zur Anerkennung der minoranza linguistica d'òc in Italien (1999). Eine Besonderheit der Webseite ist darüber hinaus das Dicionari sonòr, das eine lexikalische Abfrage (sowohl in der Suchrichtung occitanoitaliano als auch italiano-occitano) ermöglicht und die so gefundenen Einträge akustisch (als mp3-Tonbeispiel) wiedergibt. 27 Das Museum selbst verfügt über ein Sprachlabor, eine Bibliothek und Mediathek, bietet Sprachkurse und Sprachreisen an und unterstützt den Verkauf regionaler Produkte in einer eigenen bottega. Nicht ohne Erwähnung bleiben soll an dieser Stelle noch die okzitanische Version der freien Internet-Enzyklopädie Wikipedia (Nr. 15), die sich mit ihren Beiträgen zum Okzitanischen als überaus umfangreich und fundiert erwies. Oiquipedià en occitan liefert Informationen zu diversen Einzelaspekten der okzitanischen Sprache und bearbeitet dabei in übersichtlicher Form wichtige sprachhistorische Aspekte, so z.B. die Ausgliederung des Vulgärlateins, die Expansion der Sprache durch die Trobadorlyrik und den einsetzenden Verfall des Okzitanischen durch den Einfluss des Französischen, bis hin zu aktuellen Tendenzen des Okzitanischen in Frankreich und Italien. 28 5.3.2. Linguistische Selbstdarstellung des Okzitanischen Mehrere Querverweise des zuvor genannten Wikipedia-Beitrages führen außerdem auf interne Zusatzseiten der Online-Enzyklopädie, etwa zur fonologia de l'occitan oder zu Ausführungen zur grafia. Die separate Seite La fonologia de l'occitan beschreibt beispielsweise das Vokal- und Konsonantensystem des Okzitanischen und verweist dabei zusätzlich auf regionale Unterschiede, etwa im Lemosin oder im Auvergnat. 29 Auch wenn aus den Seiten der freien Internet-Enzyklopädie nicht hervorgeht, wer die Urheber der Beiträge sind, scheint dieser die Funktion einer wichtigen Referenzseite 26 In Dronero, etwa 50 km von der französischen Grenze entfernt, südlich von Torino. 27 Cf. www.espaci-occitan.org/ dizionario/ home_dizionario.asp (12.08.2010). 28 Cf. http: / / oc.wikipedia.org/ wiki/ Occitan (12.08.2010). 29 Cf. http: / / oc.wikipedia.org/ wiki/ Fonologia_de_l%27occitan (12.08.2010). <?page no="173"?> Lars Steinicke / Claudia Schlaak 140 zuzukommen, auf die einige der hier untersuchten Seiten rückverweisen. In wie weit die Beiträge allerdings von Mitgliedern der autochthonen Sprechergemeinschaft erstellt und gepflegt werden, ist nicht ersichtlich. Die Webseite von panOccitan (Nr. 13), einer Gesellschaft zur Unterstützung der okzitanischen Sprache und Kommunikation, ist vermutlich einer der modernsten und umfangreichsten Internetauftritte rund um das Okzitanische. Er bietet, neben einem Online-Wörterbuch mit Suchfunktion, ein Bildwörterbuch (l’imagièr), das einzelne Wörter audiovisuell (Ton bei mouse-over) wiedergibt, wie im folgenden Beispiel das Wortfeld ‘Essen’ 30 : Abb. 2: Screenshot zu www.panoccitan.org Darüber hinaus bietet die Seite eine Konjugationstabelle (angegeben mit 11.700 Verbformen 31 ) und einen Online-Sprachkurs mit 9 Lektionen 32 (ebenfalls audiovisuell). Ergänzt wird das Angebot durch eine Kurzgrammatik und eine ausführliche Beschreibung der Phonetik. Neben diesen Sprachinformationen bietet panOccitan kostenlose Software für die Computernutzung in okzitanischer Sprache an. 33 Die recht umfangreichen Darstellungen zu systemlinguistischen Dimensionen der Selbstdarstellung des Okzitanischen, die besonders die Bereiche der 30 Cf. www.panoccitan.org/ imagier/ im/ food/ oc/ (12.08.2010). 31 Cf. www.panoccitan.org/ conjugason.aspx (12.08.2010). 32 Cf. www.panoccitan.org/ cours/ (12.08.2010). 33 Diese Webseite wurde ebenfalls beschrieben in Michel (2008: 164-169). <?page no="174"?> Das Okzitanische: Zur Selbstdarstellung französischer Minderheiten im Internet 141 Phonetik/ Phonologie und der Lexik bedient haben, werden, wie zuvor bereits angedeutet, nur an wenigen Stellen durch soziolinguistische und pragmalinguistische Aspekte ergänzt; letztere werden nahezu überhaupt nicht berührt. Dennoch verweist bspw. die Informationsplattform Òc per l'occitan (Nr. 05) auf die Vorteile des okzitanisch-französischen Bilinguismus und die damit verbundenen Chancen: Lo bilingüisme nos balha la possibilitat de viure çò que sèm, de comprendre aquel pais e se l'istòria menèt aici la lenga francesa, auèi lo moment es vengut per una recèrca de l'egalitat entre cada lenga. 34 5.3.3. Soziopolitische Selbstdarstellung Erwartungsgemäß finden sich ethnopolitische und sprachpolitische Stellungnahmen vor allem auf den Seiten von politischen und ethnokulturellen Vereinigungen. So informiert die Internetseite des Partit Occitan (Nr. 22) vor allem über sprachpolitische Aspekte der Situation des Okzitanischen und fordert in seinem Programm die “reconeissença de la Comunautat occitana per los Estats francés, espanhòl, italian e l’Union Europèa” 35 : Lo Partit Occitan a l’intencion de lutar per la reconeissença de la comunautat occitana e per la defensa daus interests de sos membres, per reabilitar la lenga d’Òc, tant en-dedins coma en defòra de l’estat francés; particularament au nivèu de l’Euròpa. Tau es lo sense de sa volontat d’autonomia. 36 Auch wenn in den Informations- und Diskussionsforen vorwiegend über den eigenen politischen Status und über politische Entwicklungen bezüglich der Minderheitensprachenpolitik Frankreichs diskutiert wird, nimmt der Partit Occitan darüber hinaus auch an aktuellen politischen Debatten teil, die sich nicht nur auf die eigene politische Situation beschränken, wie z.B. mit dem Beitrag “Lo Partit Occitan condemna l’acte de guèrra de l’estat d’Israel” 37 vom 31. Mai 2010 deutlich wird. Neben aktuellen Pressemitteilungen gibt die Seite vor allem die parteipolitischen Ziele des Partit Occitan wieder, verlinkt zu dessen regionalen Vertretungen, ruft zum Beitritt oder zu Spenden auf und betreibt darüber hinaus einen Webshop, über den politische Symbole und Fahnen erworben werden können. 34 www.occitan-oc.org/ index.php? pagina=Lofici&param=Nonpas&lenga=Frances (12.08.2010). 35 http: / / partitoccitan.org/ article214.html? lang=oc (12.08.2010). 36 ‘Le bilinguisme nous donne la possibilité de vivre ce que nous sommes, de comprendre ce pays et si l'histoire mena ici la langue française, aujourd'hui le moment est venu pour une recherche de l'égalité entre chaque langue.’, http: / / partitoccitan.org/ rubrique23.html? lang=oc (12.08.2010). 37 Cf. http: / / partitoccitan.org/ article387.html? lang=fr (12.08.2010). <?page no="175"?> Lars Steinicke / Claudia Schlaak 142 6. Fazit Nach dem bisherigen Erkenntnisstand der hier vorgestellten Forschungsarbeit steht zu keiner der untersuchten romanischen Minderheitensprachen eine einzelne, repräsentative Internetseite zur Verfügung, auf der die Mitglieder der jeweiligen Sprachgemeinschaft über ihre Sprache und ihr Sprachgebiet umfassend und strukturiert - etwa im Rahmen der hier vorgegebenen Dimensionen der Selbstdarstellung - informieren. Obwohl es Webseiten gibt, die diese Absicht (in unterschiedlichem Umfang) bereits umgesetzt haben, muss einschränkend erwähnt werden, dass es sich hierbei vielfach um Seiten handelt, die entweder a) keinen ursprünglich aus der Sprechergemeinschaft hervorgehenden Internetauftritt darstellen, b) nur jeweils eine der untersuchten Dimension abdecken, c) nur einen bestimmten geographischen Teil des Sprachgebietes einer Minderheitensprache behandeln oder d) die Seiten einer Einzelperson oder Gruppe darstellen, die sich um die jeweilige Sprache verdient macht und dennoch nicht als ‘offizielle’ Interessenvertretung gezählt werden können. Erwartungsgemäß fehlt auch und insbesondere von Seiten des französischen Staates jede Überblicksseite zur Vielfalt der französischen Sprachlandschaft. 38 Auch wenn repräsentative Internetauftritte zu den einzelnen Minderheitensprachen fehlen, kann das hier als Beispiel herangezogene Okzitanische insgesamt eine auffällig starke Interpräsenz vorweisen. Wie jedoch gezeigt wurde, sind auf den analysierten Internetseiten nicht sämtliche Dimensionen der Selbstdarstellung in gleichem Umfang vertreten: Die Darstellung und Beschreibung der Geschichte einer Sprache und eines Sprachgebietes geht häufig mit der Beschreibung der Kulturgeschichte einer Minorität einher, auf deren Herausbildung und historischer Entwicklung häufig das vordergründige Augenmerk liegt. Da die Kulturgeschichte denjenigen Teil der geschichtlichen Beschreibung umfasst, der Überschneidungen mit der Darstellung der externen Sprachgeschichte aufweist und der von Webseitenbetreibern im Allgemeinen auch ohne wissenschaftliche Vorkenntnisse am leichtesten nachvollzogen und dargestellt werden kann, finden sich häufig Informationen zur Sprachgeschichte auf den untersuchten Internetseiten. Im Gegensatz hierzu lassen sich nur an wenigen Stellen Informationen zur internen Sprachgeschichte nachweisen, für deren Beschreibung wissenschaftliche Vorkenntnisse - etwa zu Laut- und Strukturwandel, zur gängigen Terminologie und zum wissenschaftlichen Forschungsstand - notwendig sind. 38 Mit Ausnahme von Internetauftritten wie etwa der bereits erwähnte “Voyage en chansons à travers les langues de France”, die zwar auf die Initiative des Ministère de la Culture et de la Communication zurückgehen, jedoch nicht auf den Status der Sprachen als Minderheitensprachen in Frankreich verweisen. <?page no="176"?> Das Okzitanische: Zur Selbstdarstellung französischer Minderheiten im Internet 143 Ähnliches gilt auch für die Darstellung von geolinguistischen Informationen. Auch hier lassen sich Angaben zur arealen Gliederung eines Sprachgebietes und zu dialektalen Varietäten leichter darstellen als interne Sprachprozesse. Des Weiteren überwiegen systemlinguistische Angaben, vor allem zur Phonetik und zur Lexik, da der ‘fremde Klang’ der Sprache oder ihr andersartiger Wortschatz in der Darstellung bewusst betont werden soll. Speziell diese, als ‘anders’ darstellbaren Faktoren, können dem sprachinteressierten Internetnutzer nachvollziehbar vor Augen geführt werden - man denke an Wortfelder zur Lexik oder an die erwähnten Audiobeispiele auf den Webseiten. Bewusste pragmalinguistische Aussagen sind hingegen nur ausgesprochen selten zu erwarten. Mit Blick auf die sprach- und ethnopolitischen Aussagen, die zu den einzelnen Sprachen getroffen werden, lässt sich folgendes festhalten: Immer da, wo verstärkt Autonomiebestrebungen (wie im Falle Korsikas zu sehen sein wird) existieren, lassen sich weitaus mehr Seiten mit ethnopolitischen Inhalten nachweisen. Sprachpolitische Informationen finden sich hingegen vorwiegend auf den Webseiten institutionell angebundener Organisationen oder auf parteipolitischen Seiten. Aufbauend auf den hier vorgestellten Untersuchungsergebnissen soll in einem umfassenderen Forschungsprojekt Art und Umfang der Selbstdarstellung weiterer Minderheitensprachen - wie etwa des Korsischen oder des Katalanischen - auf französischem Staatsgebiet analysiert und kontrastiv gegenübergestellt werden. Bibliographie Baldinger, Kurt (1958): Die Herausbildung der Sprachräume auf der Pyrenäenhalbinsel: Querschnitt durch die neueste Forschung und Versuch einer Synthese, Berlin: Akademie Verlag. Bec, Pierre ( 2 1972): Nouvelle Anthologie de la lyrique occitane du Moyen Age, Avignon: Aubanel. Bec, Pierre ( 5 1986 ; 1 1963): La Langue occitane, Presses Universitaires de France (= Que sais-je? 1059). Cichon, Peter (1999): Einführung in die okzitanische Sprache, Bonn: Romanistischer Verlag. Holtus, Günter / Metzeltin, Michael / Schmitt, Christian (1991): Lexikon der Romanistischen Linguistik, Bd. V,2: Okzitanisch, Katalanisch / L'occitan, Le catalan, Tübingen: Niemeyer. Janich, Nina / Greule, Albrecht (Eds.)(2002): Sprachkulturen in Europa: ein internationales Handbuch, Tübingen: Narr. Kremnitz, Georg (1974): Versuche zur Kodifizierung des Okzitanischen seit dem 19. Jahrhundert und ihre Annahme durch die Sprecher, Tübingen: Narr. Kremnitz, Georg (1981): Das Okzitanische. Sprachgeschichte und Soziologie, Tübingen: Niemeyer (= Romanistische Arbeitshefte 23). <?page no="177"?> Lars Steinicke / Claudia Schlaak 144 Kremnitz, Georg (1991): “Die Kodifikationen des Okzitanischen im Spannungsfeld zwischen Autonomie und Dependenz”, in: Wolfgang Dahmen et al. (Eds.), Zum Stand der Kodifizierung romanischer Kleinsprachen. Romanistisches Kolloquium V, Tübingen: Narr, 171-184. Lafont, Robert (1977; 1 1971): Clefs pour l’Occitanie, Paris: Seghers. Lommatzsch, Erhard (1917): Provenzalisches Liederbuch, Berlin: Weidmannsche Buchhandlung. Meisenburg, Trudel (1985): Die soziale Rolle des Okzitanischen in einer kleinen Gemeinde im Languedoc (Lacaune / Tarn), Tübingen: Niemeyer. Michel, Andreas (2008): Romania virtu@lis: Romanische Varietäten in der internetbasierten Kommunikation. Zwischen Diversifizierung, Destandardisierung, Restandardisierung und kollektiver Identitätsbildung. Eine interkulturelle Momentaufnahme am Beispiel des Gallo-, Ibero- und Italoromanischen, Hamburg: Dr. Kova . Rohlfs, Gerhard ( 2 1970): Le gascon : études de philologie pyrénéenne, Tübingen: Niemeyer. Schlieben-Lange, Brigitte ( 2 1973; 1 1971): Okzitanisch und Katalanisch. Ein Beitrag zur Soziolinguistik zweier romanischer Sprachen, Tübingen: Niemeyer (= Tübinger Beiträge zur Linguistik, 20). Schlieben-Lange, Brigitte (1985): “Wie kann man eine Geschichte der (Minderheiten-) Sprachen schreiben? Überlegungen zu ›Décadence‹ und ›Renaissance‹ des Okzitanischen und des Katalanischen”, in: Hans-Ulrich Gumbrecht / Ursula Link- Heer (Eds.), Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 324 - 340. 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Introduction Si l'on considère l'évolution des langues dans leur continuité et leur changement, l'onomastique est certes un des aspects les moins soumis à la dynamique du changement langagier. En effet, le nom propre renvoie de façon directe et durable à un objet extralinguistique ; c'est un référent dont le signifiant peut parfois varier et, contrairement au nom commun, il n'a pas de sens lexical mais cache, en principe, un sens étymologique. Ainsi, dans «Istanbul est Byzance» le sens est différent, mais la référence est la même, et les deux formes restent synchroniquement opaques. - La variation des toponymes est due, entre autres, à des facteurs politico-militaires et culturels (exemple : Byzance - Constantinople - Istanbul), à leur importance sur le plan international (exemple : Genève, Genf, Ginevra, Geneva), mais aussi aux frontières linguistiques, c'est-à-dire au contact de langues. C'est ce dernier point qui nous intéressera ici, avec une zone située à la frontière linguistique francoallemande, le Grand-Duché de Luxembourg. Situé entre la Belgique, la France et l'Allemagne, le Luxembourg a une superficie de 2.587 km² et une population d'environ 500.000 habitants (2010). Son territoire historique étant situé entre la Meuse et la Moselle, le pays, indépendant depuis 1867, se trouve à un point d'intersection entre les domaines linguistiques roman et germanique, ce dont témoigne son trilinguisme plus que millénaire, et ce que reflète sa toponymie. Le luxembourgeois (Lëtzebuergesch), parlé par tous les autochtones, est historiquement un dialecte du francique mosellan occidental. Déclaré langue nationale en 1984, symbole d'identification des Luxembourgeois, il est langue officielle à côté du français et de l'allemand, enseignés dès le primaire. A cela s'ajoute que le français est la langue de la législation et de la juridiction et que l'allemand, en raison de l'occupation nazie, est exclu de tous les domaines en rapport avec le sentiment d'identité nationale, par exemple des inscriptions sur les monuments funéraires ou commémoratifs, des plaques indicatrices de localités et de rues, des enseignes, des prénoms et des annonces personnelles. Le luxembourgeois comporte quatre variétés intercompréhensibles dont la variété centrale, celle de la capitale, offre la base pour la standardisation. <?page no="179"?> Fernande Krier 146 Pour ce qui est du système phonologique du luxembourgeois 1 , le système consonantique correspond à celui de l'allemand, excepté l'absence de / pf/ et la présence de / ž/ : labiales apicales sifflantes chuintantes dorsales occlusives p t ts k b d g fricatives f s š x, ç v z ž nasales m n R, l, h Le système vocalique comporte dix-neuf voyelles, onze monophtongues et huit diphtongues ; dix monophtongues s'opposent à la fois par la quantité et le timbre ; contrairement au haut-allemand, la voyelle centrale (chva) peut se réaliser en position accentuée, (comme dans / ' / ‘cinq’), elle est la seule à occuper la position inaccentuée dans les lexèmes du stock germanique. Parmi les diphtongues, il y en a deux centralisantes et six décroissantes : i u i: u: i u e: o: ei ou a: i u a ai au Voici, en comparaison, les tableaux du système vocalique allemand : i y u i: y: u: ai eu au e: : o: a : a: On constate que les voyelles palatales arrondies n'existent pas en luxembourgeois, de même que / : / et / eu/ . Le corpus dont on a tiré les toponymes comporte un seul texte, le roman épique Renert, une adaptation du Roman de Renard que le poète luxembourgeois Michel Rodange a publié en 1872 2 . 1 Krier (2008 : 95). 2 Renert a Biller vum Frantz Kinnen mat dem onverfälschten Urtext vum Renert vum Michel Rodange, Letzebuurg 1972, Sankt-Paulus-Dréckerei. <?page no="180"?> Binômes, trinômes, quadrinômes : toponymes plurilingues 147 2. Analyse phonétique du corpus Dans ce qui suit je présenterai des toponymes luxembourgeois avec leur forme vocalique propre au système phonétique du luxembourgeois. Ils seront comparés à la forme allemande correspondante, le cas échéant à la forme française et la forme luxembourgeoise locale ou archaïque. Etant donné que l'actuel Grand-Duché constitue la partie germanophone de l'ancien Duché (voir cartes), ce qui laisse supposer que la forme germanique (allemande ou luxembourgeoise) était en principe la forme primaire des toponymes et que l'allemand (et le français) étaient les langues écrites pendant des siècles, le luxembourgeois étant la langue parlée, on partira de l'allemand pour expliquer la forme luxembourgeoise (ou française). forme luxembourgeoise standard forme luxembourgeoise locale / archaïque forme allemande forme française Ell - Ell Ell Mamer - Mamer Mamer Beiler Beeler (local) Beiler Beiler Réimech [ reim ç] - Remich Remich Gréiwemaacher [ gReiv ma: x ] Maacher (local) Grevenmacher Grevenmacher Ettelbreck [ t lbR k] - Ettelbrück Ettelbruck Esch Sauer Esch am Lach Esch an der Sauer Esch-sur-Sûre Esch (op der) Uelzecht - Esch an der Alzette Esch-sur-Alzette Biebereg Beibreg (archaïque) Betburg Bettborn Mäerzeg [ m ts ç] Mierzeg (archaïque) Mertzig Mertzig Miersch [mi š] - Mersch Mersch Bieles [ bi l s] - Beles Belvaux Iechternach [ i çt nax] Eechternooch (local) Echternach Echternach Woltz Wooltz (local) Wiltz Wiltz Dikrech [ dikR ç] Dikrich (local) Diekirch Diekirch Veianen [ faian n] Veinen ['fain n] (local) Vianden [fi'anden] Vianden Roum [roum] - Rom Rome Breißel ['bReis l] - Brüssel Bruxelles Parais [pa Ræis] [pa Rais] (local Lux.-V.) Paris Paris Éißlek [ eisl k] Islek (local) Ösling Oesling Beeslek [ be: sl k] - Oberbesslingen Hautbellain Wolwen - Wolwelingen Wolwelange Éilereng [ eil R ] - Ehleringen Ehlerange Diddeleng - Düdelingen Dudelange <?page no="181"?> Fernande Krier 148 Blaaschent [ bla: š nt] - Blascheid Blaschette Bäerdref [ b dR f] - Berdorf Berdorf Munneref - (Bad) Mondorf Mondorf-les-Bains Schibbreg - Schüttburg Schuttbourg Lëtzebuerg [ l ts bu ç] Lëtzebrech (archaïque) Luxemburg Luxembourg Commentaires L'adjectif dérivé de Woltz atteste l'apophonie Weltzer (allemand Wiltzer), local : Weeltzer. Les terminaisons en -ingen, parfois abrégées en -ing, sont en -ange en français 3 . Les toponymes en dorf sont en général attestés sous trois formes en luxembourgeois : -duerf; -dref et -ref. L'analyse contrastive fait notamment ressortir une adaptation phonétique qualitative : / e: / : / ei, i / (Remich, Beles), / i: / : / i/ (Paris), / / : / i , e: / (Echternach, [Ober]besslingen), / o: / : / ou/ (Rom), / y/ : / ei, / (Brüssel, Ettelbrück), / y: / : / i/ (Düdelingen), / / : / ei/ (Ösling) ; il y a également allongement vocalique : / a/ : / a: / (Grevenmacher, Blascheid). En luxembourgeois on a vu que le nombre des diphtongues est relativement élevé et que, fait exceptionnel, la voyelle centrale (chva) peut aussi se réaliser en position accentuée. Analysons le toponyme Lëtzebuerg [ l ts bu ç] ! La première syllabe, accentuée, atteste orthographié <ë>, la seconde, inaccentuée, l'atteste également et dans la troisième syllabe, provient de la vocalisation de / R/ en position postvocalique, comme dans [ m ts ç] ‘Mäerzeg’ ou [mi š] ‘Mersch’. C'est un relâchement articulatoire qui se manifeste également à la finale de monème 4 , par exemple dans [ gReiv ma: x ] ‘Grevenmacher’. Les allégements articulatoires par rapport à l'allemand sont nombreux, comme la métathèse dans Dikrech ‘Diekirch’ et dans les toponymes en -dorf donnant -dref, par exemple Bäerdref ‘Berdorf’ ou -ref, d étant élidé : Munneref ‘Mondorf’. Il y a métathèse également de -bourg et élision respectivement de m et de t dans Lëtzebrech ‘Luxemburg’ et Schibbreg ‘Schüttburg’. - Wolwen a été allégé d'une syllabe par rapport à ses homologues allemands et français. A part le fait que, tout comme dans Woltz ‘Wiltz’ et Uelzecht ‘(Esch) Alzette’, dans Veianen ‘Vianden’, l'élément vocalique accentué a changé, on remarque que d a été élidé et on peut admettre que les deux changements phonétiques ont provoqué le déplacement de l'accent. L'allégement s'est produit dans la forme locale Veinen, abrégé d'une syllabe. 3 Cf. Hammacher (1996 : 187). 4 Cf. Krier (2008 : 101-102). <?page no="182"?> Binômes, trinômes, quadrinômes : toponymes plurilingues 149 Quant aux composés Esch am Lach, ‘Esch Sauer’, ‘Esch an der Sauer’, ‘Eschsur-Sûre’, la perspective selon laquelle le signifié du groupe prépositionnel identifiant le toponyme est différente : la forme luxembourgeoise locale ou archaïque précise qu'Esch est située dans une vallée rétrécie (Lach ‘Loch’, ‘trou’), tandis que les autres formes indiquent simplement le nom de la rivière qui longe la localité. Force est de recourir à l'étymologie pour interpréter les toponymes suivants 5 : Les trois formes Bieles ‘Beles’, ‘Belvaux’ sont issues de formes antérieures que voici : Belevas (1272), Belevaus (1327), Belvais (1373), Belvis (1541), Belwis(s) (1552) et Belvois (1561). Pour Éilereng ‘Ehleringen’, ‘Ehlerange’ sont attestées les formes Elrenges, Elringen (1282) et Illeringen (1541). D'autre part, les deux formes du nom de la rivière qui traverse Esch-sur-Alzette sont, d'après les documents anciens (sans indication de date) Alzath et Alzigt 6 . - Ceci étant, B ELSONANCUM mentionné dans un document mérovingien de 585 a donné Bellain. Depuis le XIVe siècle on distingue Hautbellain de Basbellain (‘Oberbesslingen’, ‘Niederbesslingen’) 7 , les correspondances en luxembourgeois étant Beeslek et Kiirchen, siège de la paroisse. 3. Analyse des toponymes luxembourgeois en contexte 8 Les toponymes faisant partie intégrale du texte écrit et oral, on fera abstraction d'une étude lexicologique des items toponymiques avec interprétation étymologique pour les examiner dans le contexte spécifique de l'œuvre épique Renert. Par cette méthode on explorera les toponymes au niveau de l'analyse textuelle, et on amorcera de ce fait l'étude de l'onomastique littéraire du luxembourgeois. 3.1. Monèmes ou synthèmes (p. 160) De Leïf lost d'Deïer ruffen, Der Löwe ließ die Tiere rufen, Di Grous als weï di Kläng; Die großen wie die kleinen; Se koumen all mat Heefen Sie kamen alle in Haufen A keemol eent eläng. Und keinmal eins allein. (…) 5 Commune de Sanem (1999: 22-23). 6 Flurnamen der Gemeinde Esch a. d. Alzette. Gemäß der mundartlichen Aussprache wiedergegeben von J. Arendt, Vierteljahresblätter, 1936, Nr. 5 + 6. Grossherzogliches Institut; sprachwissenschaftliche, volks- und ortsnamenkundliche Sektion, p. 110. 7 Commune de Troisvierges, (sans date) p. 5. 8 La graphie, à l'exception de celle des diphtongues, est celle adoptée par le poète. Les soulignements sont de moi, F.K. <?page no="183"?> Fernande Krier 150 Vu Letzebrech, vun Dikrech, Von Luxemburg, von Diekirch, Vu Wolz an Yechternach, Von Wiltz und Echternach, Vu Reïmech, Greïwemaacher, Von Remich, Grevenmacher, Vu Miersch an Esch am Lach. Von Mersch und Esch an der Sauer. Dans la présente analyse qui se veut synchronique, je considère Dikrech et Greiwemaacher comme étant des unités monomonématiques, alors que, sur le plan diachronique, ce sont des composés : Diekirch < Theochirica, Teotchirica : theot, diot : G ENS , N ATIO , P OPULUS + vieux-haut-allemand kirihha ‘Kirche’ 9 - Grevenmacher < Greven ‘Grafen’ + Macher < latin M ACERIA ‘vieilles murailles’ 10 . La même analyse monomonématique vaut pour les toponymes qui comportent des suffixes onomastiques 11 issus de -dorf, -scheid, -bourg, méconnaissables en luxembourgeois actuel : (p. 190) Ech gung emol em Bärdref, Ich ging einmal um Berdorf, Duerch d'Bescher oune Wee Durch die Wälder ohne Weg Du font ech dan de Wollef Da fand ich dann den Wolf Ann änger hueler Lee. In einem hohlen Felsen. (p. 222) Om Plankebierg bei Blaaschent, Auf dem Plankenberg bei Blascheid, Begeïnen se den Aaf Begegnen sie dem Affen Mat senger Kescht um Bockel: Mit seiner Kiste auf dem Buckel: E goung als Fottograf. Er ging als Photograph. (p. 92) Om ale Schlaß zu Schibreg Auf dem alten Schloss zu Schüttburg Do wutscht en durch e Schaart, Da entwischt er durch eine Scharte, Les seuls toponymes composés repérés dans le corpus servent à désambiguïser le déterminé Esch grâce aux déterminants am Lach et op der Uelzecht, l'article der, d' du dernier déterminant indiquant son statut de rivière ; par ailleurs, la préposition op assure le rythme du vers iambique : (p. 35) Sätzt een no Esch op d'Uelzecht Setzt einen nach Esch an die Alzette An een no Yechternach, Und einen nach Echternach, En drette sätzt no Wolwen Einen dritten setzt nach Wolwelingen An een noch Beeslek nach: Und einen nach Oberbesslingen noch: Dans cette dernière strophe le suffixe -ingen de la forme allemande est élidé dans Wolwen et Beeslek, preuve du processus de réductions syllabiques en luxembourgeois. La diphtongaison, autre caractéristique du luxembourgeois, marque les toponymes suivants : 9 Commune de Diekirch (extrait sans date ni pagination). 10 Administration communale de Grevenmacher (extrait sans date ni pagination). 11 Cf. Fleischer ( 5 1982 : 201-203). <?page no="184"?> Binômes, trinômes, quadrinômes : toponymes plurilingues 151 (p. 175) E goung all Daag ann d'Messen Er ging jeden Tag zur Messe Zu Breïßel an den Doum. In Brüssel in den Dom. Du sot en ees dem Beschef: Da sagte er einst dem Bischof: Ech geïng nach gär no Roum; Ich ginge noch gerne nach Rom; 3.2. Doublets : forme standard versus forme locale a) Veianen vs. Veinen (p. 160) Vu Beïbreg och vu Veianen Von Betburg auch von Vianden An deï vun Ettelbreck Und die von Ettelbrück (p. 12) Du gung ech Mettes feschen Da ging ich mittags fischen Emm Veinen bei der Bach. Um Vianden beim Bach Dans le premier vers du premier exemple, en luxembourgeois standard, la métrique exige la forme standard Veianen, un trisyllabe dactyle, qui correspond à Ettelbreck du second vers. Dans le second exemple, également en luxembourgeois standard, c'est la métrique iambique qui requiert la forme locale Veinen. b) Beiler vs. Beeler c) Iechternach vs. Eechternooch Pour ce qui est de la versification, la strophe du poème de Michel Rodange est conçue en rimes croisées abab. (p. 17) Vu Bieles bas no Beiler, Von Beles bis nach Beiler, Vun Ell bas Eechternooch, Von Ell bis Echternach, Wou gett, eïch froon, dir Heïren, Wo gibt (es), ich frage, Ihr Herren, Esu en Neïstert nooch? So einen Nichtsnutz noch? C'est le patois d'Echternach, dont la forme locale Eechternooch rime avec le 4e vers, tandis que la forme standard Beiler rime pour le vocalisme imparfaitement avec Heïren. (p. 148) Do uewen op der Hed Da oben auf der Heide Bei Beler stin zwou Biirken, Bei Beiler stehen zwei Birken, Ken Hæus ass weït a bred. Kein Haus ist weit und breit. (p. 191) Ech hu mer a mei Schicksal Ich habe mir in mein Schicksal Gemaacht e groußegt Lach: Gemacht ein großes Loch: Ech si jo deserteïert, Ich bin ja desertiert, Elo zu Iechternach. Nun in Echternach. Les deux strophes sont écrites en luxembourgeois standard, toutefois, pour éviter la cacophonie (Bei Beiler), le poète a préféré la forme locale. Dans la <?page no="185"?> Fernande Krier 152 seconde strophe, la forme Iechternach ne correspond pas seulement au standard, mais rime aussi avec Lach. d) Paræis vs. Parais (p. 287) Gescht wolt en nach all Vigel, Gestern wollte er noch alle Vögel, Wie wees zou wälchem Præis, Wer weiß zu welchem Preis, Jo liwre sengem Komper, Ja liefern seinem Gevatter, Dem Goldfuuß, no Paræis. Dem Goldfuchs, nach Paris. (p. 172) Et setzt en ale Puddel Es sitzt ein alter Pudel Beim Feier zu Parais. Beim Feuer in Paris, E reïert ann em Kässel Er rührt in einem Kessel Mat ängem Biesemrais. Mit einem Besenstiel. Dans la première strophe, Paris atteste la prononciation standard Paræs, parce qu'il doit rimer avec Præis ‘Preis’, ‘prix’, ce dernier mot formant une paire minimale avec Prais ‘Preuße’, ‘Prussien’. Il en va de même dans la seconde strophe, où Parais, qui atteste la prononciation locale de Luxembourg-Ville, rime avec rais ‘Holzreis, Zweig’, ‘rameau’, Rais formant une paire minimale avec Ræis ‘Reis’, ‘riz’. 3.3. Versification Pour correspondre à la forme rythmique du vers iambique choisi par le poète, les toponymes en contexte comportent parfois des modifications syllabiques, à savoir des amplifications phonétiques comme l'épenthèse (dans le premier exemple) ou l'ajout d'une syllabe à la finale (dans le second exemple), ou alors des réductions phonétiques comme la syncope (dans les deux derniers exemples) : (p. 149) Am Eßelek bei Beler Im Ösling bei Beiler Do hescht äng Plaaz esou, Da heißt ein Platz so, (p. 189) Mer koumen ändlech iewel Wir kamen endlich doch Zu Elerengen un, In Ehleringen an, (p. 148) Dir keïft den Irz an d'Minnet Ihr kauft das Erz und das “Eisenerz” Vun Didleng bis no Graß, Von Düdelingen bis nach Grasse, (p. 75) Här Braun, dir gitt sechs Wochen Herr Braun, Ihr geht sechs Wochen No Munref ann de Baad, Nach Mondorf ins Bad, <?page no="186"?> Binômes, trinômes, quadrinômes : toponymes plurilingues 153 3.4. Archaïsmes L'œuvre datant de 1872, on peut supposer de rencontrer, malgré la relative stabilité interne des toponymes, quelques-uns présentant des formes archaïques : (p. 75) Ech schecken iech meng Docktren: Ich schicke Euch meine Ärzte: De Flepp vum Kuebebur, Den Philipp vom Rabenbrunnen, De Miller och vu Mierzeg Den Miller auch von Mertzig An d'Mamer Zockerkur. In die Zuckerkur von Mamer. De même: (p. 105) Zu Letzebrech ees hun ech, In Luxemburg einst habe ich, De Rousekranz gefouert, Die Rosenkranz(prozession) geführt, An d’Fra’en hätte gär mech Und die Frauen hätten gerne mich Als Heel’tem u’gerouert. Als Heiligtum angerührt. contrairement à: (p. 174) Zu Letzebuerch gesait een, In Luxemburg sieht man, Um grouße Knuedler Ga’rd Auf dem großen “Knuedlerplatz” Drai Kuedren sech zerbaißen: Drei Kater sich zerbeißen: T geet fir äng Ha’meschward. Es geht um eine Schinkenschwarte. Pour conclure Les toponymes d'une langue donnée reflètent la structure phonétique et prosodique de cette langue. Leurs variantes attestées dans plusieurs autres langues sont, entre autres, des témoignages de l'intensité du contact. Si l'étude étymologique des toponymes pris isolément peut s'avérer digne d'intérêt, ce n'est que leur analyse en contexte qui fait ressortir leurs variantes diatopiques, stylistiques et diachroniques. Bibliographie Annuaire téléphonique, Les pages blanches du Luxembourg (2009), Luxembourg : Editus. Biver, Jhemp (2000) : “Nomenclature générale des Localités, Fermes et Moulins isolés du Grand-Duché de Luxembourg dans ses Frontières politiques de 1839”, in : Association Luxembourgeoise de Généalogie et d'Héraldique, Annuaire - Jahrbuch 2000, Leudelange : Reka, 97-240. Fleischer, Wolfgang ( 5 1982) : Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache, Tübingen : Niemeyer. 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Meyers, Joseph (1952) : Geschichte Luxemburgs, Luxemburg : Paul Bruck. van Langendonck, Willy (2007) : Theory and Typology of Proper Names, Berlin : de Gruyter. <?page no="188"?> Binômes, trinômes, quadrinômes : toponymes plurilingues 155 Appendice Carte 1 : Die beiden Sprachgebiete im Herzogtum Luxemburg , Meyers (1952 : 226). <?page no="189"?> Fernande Krier 156 Carte 2 : Die 3 Teilungen Luxemburgs , Meyers (1952 : 227). <?page no="190"?> Claudia Schlaak Sprachliche und kulturelle Vielfalt auf Mayotte: Das Bekenntnis zur “französischen Identität” 1. Einleitung Die Insel Mayotte, geographisch Teil des Archipels der Komoren, politischadministrativ ein französisches Überseegebiet, stellt eine Besonderheit dar: Ihre staatliche Zugehörigkeit ist umstritten. Während die Föderale Islamische Republik der Komoren Anspruch auf das Territorium erhebt, gehört Mayotte seit 1841 zu Frankreich. Im Gegensatz zu den typischen Strömungen der Zeit sprach sich die Insel im Zuge der Dekolonialisierung des 20. Jahrhunderts niemals für eine Unabhängigkeit von der Grande Nation aus. Die vormalige Kolonie versteht sich, obwohl weit entfernt vom “Mutterland” gelegen und trotz zahlreicher Gemeinsamkeiten mit den anderen Komoreninseln (u.a. Religion, Abstammung der Bewohner), bis heute als integraler Teil Frankreichs, mehr noch, sie sucht heutzutage einen zunehmend stärkeren Anschluss. Das Bekenntnis der Bewohner Mayottes zu Frankreich wird immer stärker. Woher rührt diese “französische Identität” im Indischen Ozean? Und: Welche Rolle spielt dabei die Sprache? Die Stellung des Französischen in Frankreich und im frankophonen Raum ist Gegenstand zahlreicher nicht nur sprachwissenschaftlicher - Untersuchungen. Es gibt viele Werke, die die Sprache im frankophonen Raum betrachten und exemplarisch in verschiedenen Gebieten Europas (u.a. Belgien, Schweiz), Amerikas (u.a. Québec, Louisiana) oder Afrikas (u.a. die Staaten Nord- und Schwarzafrikas) ausführlich analysieren, doch ist der Forschungsstand für viele andere Gebiete eher dürftig. Hierzu zählt auch die Insel Mayotte, bei der aufgrund aktueller politischer Tendenzen zahlreiche Forschungsdesiderate vorhanden sind. Ausführliche linguistische Analysen der Sprachen Mayottes sind so gut wie nicht zu finden: Lediglich einige Monographien und Sammelbände, vor allem zur historischen und politischen Entwicklung, sind als Quellen nur bedingt nutzbar. Zu aktuellen politischen Prozessen lassen sich Informationen beinahe nur im Internet, in Diskussionsforen oder in Zeitungsartikeln finden. Ziel dieses Beitrags ist es, die Gründe für das Streben einer ehemaligen französischen Kolonie nach integraler Zugehörigkeit zu Frankreich, ja sogar nach stärkerer Integration, zu erörtern und in diesem Kontext die Bedeutung Frankreichs sowie die Stellung des Französischen auf Mayotte zu analysieren. Zudem soll vor dem Hintergrund der aktuellen sprachlichen und kultu- <?page no="191"?> Claudia Schlaak 158 rellen Vielfalt Mayottes der Zuspruch der Mahoraner zur “französischen Identität” diskutiert werden. 2. Die frankophone Welt Französisch wird heute von 200 Millionen Menschen als Kommunikationsmittel genutzt 1 , sei es als Verkehrssprache (d.h. in offiziellen Bereichen, wie in vielen Staaten Schwarzafrikas), als Alltagssprache (eine andere Sprache ist Verkehrsprache, wie etwa in Louisiana) oder als Alltags- und Standardsprache (wie in Frankreich). 2 Die Sprachgemeinschaften verteilen sich auf alle fünf Kontinente. Zudem ist das Französische neben dem Status als offizielle bzw. kooffizielle Sprache in zahlreichen Ländern auch Arbeitssprache in bedeutenen internationalen Organisationen, wie etwa bei den Vereinten Nationen. Der französische Staat verfolgt eine rigorose Sprachpolitik zugunsten seiner Nationalsprache. Noch Ende des 20. Jahrhunderts, im Jahr 1992, wurde mit der Ergänzung des Artikels 2 der französischen Verfassung das Französische zur Sprache der Republik erklärt. 3 Die Stärkung der französischen Sprache wurde damit explizit als Staatsziel proklamiert. Die Absichten hinter diesem Schritt sind mutmaßlich zweischneidig: Einerseits soll nach der Propagierung des Französischen als langue de la liberté in der Endphase der französichen Revolution nunmehr auch die gemeinsame Identität der Franzosen gestärkt werden, im Sinne der égalité und fraternité, andererseits will Frankreich mittels der Ausbreitung seiner Nationalsprache auch seine Stellung in der Welt festigen. 4 Die Verteidiger des Französischen sehen die Sprache in einem weltweiten Verteidigungskampf gegen den wachsenden Einfluss der englischen Sprache. Es ist vor diesem Hintergrund nicht überraschend, dass zu den ehemaligen Kolonien der Grande Nation und den bis heute bestehenden französischen Überseegebieten enge Beziehungen gepflegt werden. Die Organisation Internationale de la Francophonie (OIF) verfolgt mittels einer Organisation von Staaten und Regierungen, die Französisch als Nationalsprache, als offizielle Sprache, als Verkehrsprache oder als Umgangssprache verwenden, den Ansatz die Interessen der Mitglieder entlang dieser Gemeinsamkeit zu bündeln. Primär verfolgt die Organisation hierbei politische, wirtschaftliche und kulturelle Ziele. 5 Die Frankophonie (OIF) besteht im Jahr 2010 aus 70 Staaten und Regierungen, wobei der Status des Franzö- 1 Cf. Erfurt (2005: 12). 2 Cf. Pöll (1998: 19-20). 3 Cf. Article 2 (1): “La langue de la République est le français.” 4 Cf. Pöll (1998: 6). 5 Cf. Erfurt (2005: 3). <?page no="192"?> Sprachliche und kulturelle Vielfalt auf Mayotte 159 sischen in den Mitgliedsstaaten nicht identisch ist. 6 Die Komoren, auf denen Französisch Amtssprache ist, traten der OIF 1977 bei. 7 3. Mayotte und Frankreich 3.1. Geographie und historische Entwicklung Mayotte liegt mit 375 km² Gesamtfläche in der Straße von Mosambik im Indischen Ozean, im Norden von Madagaskar. Die Entfernung zu Frankreich beträgt circa 8.000 km, zur ebenfalls zu Frankreich gehörigen Insel La Réunion 1.500 km und zur ostafrikanischen Küste 400 km. Anjouan, Mohéli und Grande Comore, die den Staat Union des Comores bilden, befinden sich nordwestlich von Mayotte. Abb. 1: Karte von Mayotte 8 6 Cf. www.francophonie.org (Zugang am 09.08.2010). 7 Cf. Erfurt (2005: 20). 8 Cf. www.insee.fr/ fr/ regions/ mayotte/ (Zugang am 09.08.2010). <?page no="193"?> Claudia Schlaak 160 Mayotte besteht aus zwei größeren Inseln, die kleinere “Petite Terre” und die erheblich größere “Grande Terre”, die durch eine 4 km breite Meerenge voneinander getrennt sind, sowie mehreren sehr kleinen, unbewohnten Inseln. 9 Die Insel ist zwischen dem 5. und 10. Jahrhundert unserer Zeitrechnung besiedelt worden. Die ersten Bewohner waren Bantus sowie, vermutlich etwas später, Araber bzw. Perser. Während Perser und Afrikaner regelmäßigen Handel an der ostafrikanischen Küste und auch mit den Komoren betrieben, wurde Mayotte 1527 vom portugiesischen Seefahrer Diego Ribeiro auf seinem Weg nach Indien erstmals kartographiert. Die Bevölkerung bestand zu diesem Zeitpunkt vor allem aus Migranten, Händlern und wohl bereits auch Sklaven. 10 Von Portugiesen und Niederländern sowie ab dem 17. Jahrhundert auch von Engländern und Franzosen wurde Mayotte als Versorgungsstation auf ihren Seefahrten nach Indien genutzt. 11 Durch die Errichtung von Sultanaten, im 15. oder 16. Jahrhundert, wurde Mayotte stark sunnitisch-arabisch geprägt. Ab dem 16. Jahrhundert wurden auch die Kontakte zwischen Mayotte und Madagaskar intensiver - ein ganzer madegassischer Volksstamm ließ sich im Süden der Insel nieder. 1841 wurde die Insel vom herrschenden Sultan Andriansouli, auch er hatte madegassische Wurzeln, an Frankreich verkauft und kurze Zeit später zum französischen Protektorat erklärt. 1886 wurden die anderen Komoreninseln - gemeinsam mit Mayotte zum Protektorat der Komoren. 12 Die französische Hauptverwaltung lag in Dzaoudzi, der damaligen Hauptstadt Mayottes. 1847 schaffte Frankreich auf Mayotte die Sklaverei ab. Dies hatte zur Folge, dass vermehrt Arbeitskräfte für die Insel angeworben werden mussten, vornehmlich aus Mosambik. 13 Durch die geographische Lage zwischen Afrika und Asien und die bestehenden Migrationsbewegungen seit Jahrhunderten bestand schon 1852 bei einer Volkszählung die lokale Bevölkerung aus verschiedenen Gruppen, neben den Mahoranern unter anderem aus Zuwanderern von den umliegenden Komoren-Inseln und dem ursprünglich aus Madagaskar stammendem Volk der Betsimisaraka. 14 Cassagnaud beschreibt die Vielfalt der heutigen Bewohnerstruktur wie folgt: “Ce peuple est composé de trois catégories raciales (africaines, asiatique et méditerranéennes) et de trois familles linguistiques (bantoue, sémitique et malayopolynésienne).” 15 9 Cf. Fontaine (1996: 100), cf. Rombi (2003: 305). 10 Cf. Alnet (2009: 12-15). 11 Cf. Munzinger (2007c). 12 Cf. Fonataine (1996: 104), cf. Cassagnaud (2007: 126), cf. Lavoux (2004: 57). 13 Cf. Alnet (2009: 15). 14 Cf. Fasquel (1991: 100). 15 Cassagnaud (2007: 21). <?page no="194"?> Sprachliche und kulturelle Vielfalt auf Mayotte 161 1946 erlangte Mayotte gemeinsam mit den anderen Komoreninseln den Status eines so genannten TOM. 16 Damit wurden die Inselbewohner zu französischen Staatsbürgern und wählten erstmals auch Abgeordnete in die Nationalversammlung. 17 3.2. Die politische Entwicklung seit 1958 Im Zuge der Gründung der V. Französischen Republik und allgemeiner Entkolonialisierungsbestrebungen erhielt Mayotte, wie auch die anderen Komoreninseln, die Möglichkeit, Autonomierechte zu erlangen. 18 Am 28. September 1958 19 , beim ersten diesbezüglichen Referendum, stimmte Mayotte jedoch mit überragender Mehrheit von 80,68% für die Annahme der neuen französischen Verfassung und entsagte damit der Unabhängigkeit. Zu diesem Zeitpunkt hatten alle Komoreninseln für den Verbleib bei Frankreich, weiterhin mit dem Status eines TOM, gestimmt. 20 In den 1960er Jahren gewährte Frankreich den Komoren nach und nach mehr Autonomierechte. In dieser Zeit wurde der Verwaltungssitz des TOM der Komoren von Mayotte auf die Insel Grande Comore verlegt. Das führte bei den Mahoranern zu der Angst sowohl von Frankreich als auch von den anderen Komoreninseln vernachlässigt und alsbald vergessen zu werden. Das Mouvement Populaire Mahorais (MPM) begann, diese Angst aufgreifend, sich für die Abspaltung von den anderen Komoreninseln und für einen Verbleib bei Frankreich einzusetzen. Für die “Anhänglichkeit” Mayottes zu Frankreich gibt es einige Gründe: Mit den umliegenden Nachbarn gab es stets Konflikte. Zudem empfanden die Mahoraner das politische Regime von Ahmed Abdallah, der ab 1973 den Inselstaat der Komoren regierte, als Bedrohung für ihre eigenständige Existenz. Weiterhin muss man beachten, dass Mayotte rund 50 Jahre früher als die übrigen Komoreninseln französisch wurde, so dass die dortige Bevölkerung von der Kolonialmacht stärker beeinflusst war. 21 Die Wurzel des Separatismus zwischen Mayotte und den Komoren war ohne Zweifel die starke französische und madegassische Prägung Mayottes. Entscheidend für die Bewegung war aber nach Einschätzung von Alnet die kleine, jedoch 16 Cf. Colliard (2004: 680). TOM meint Territoire d'outre-mer. 17 Cf. Alnet (2009: 16). 18 Cf. Burr (1990: 795). 19 Mit dem Zusammenbruch der IV. Republik und der Gründung der V. Republik wurde der Status der Kolonien bzw. TOMs neu geregelt. Sie erhielten die Möglichkeit - bei Nichtannahme der Verfassung - in die Unabhängtigkeit entlassen zu werden. Nur Guinea ging zu diesem Zeitpunkt diesen Weg. 20 Cf. Béringer (2004: 44-45). 21 Cf. Caminade (2003: 52). <?page no="195"?> Claudia Schlaak 162 einflussreiche kreolische Bevölkerungsgruppe, die die Unterschiede zu den Einwohnern der anderen Komoreninseln akzentuierte. 22 Für 1975 hatte Frankreich den Komoren die Unabhängigkeit zugesagt, doch verzichtete Mayotte: Diesmal befand sich das Gebiet damit im Gegensatz zu den anderen Komoreninseln, die Ende 1974 mit jeweils mehr als 94% für die Unabhängigkeit votierten. Die Strategie des MPM ging auf, und Mayottes Einwohner stimmten zu 65% dagegen. Auch wenn die Wahlbeteilung auf Mayotte mit etwa 77% deutlich geringer ausfiel als auf den anderen Inseln - hier betrug sie in der Regel mehr als 95% - wird offenbar, dass Mayotte seine “Abhängigkeit” nicht aufgeben wollte. 23 Doch herrschte Uneineinigkeit, ob es sich um eine inselübergreifende Abstimmung gehandelt habe, wobei die Mehrheit aller Bewohner der vier Komoreninseln über den künftigen gemeinsamen Status entschieden hätte, oder nach dem Prinzip “Insel für Insel” gewertet werden sollte. Zu der zweiten Variante bekannten sich die französischen Autoritäten erst nachdem die Mehrheit gegen eine Unabhängigkeit auf Mayotte bekannt wurde - ursprünglich hatten sie die erstere Variante propagiert. 24 Am 8. Februar 1976 stimmten die Mahoraner dann in einer erneuten Abstimmung noch deutlicher gegen eine Eingliederung in den Komoren- Verbund. Dieses Mal sprachen sie sich gar zu 99,4% für einen Verbleib bei Frankreich aus. 25 Nach diesem Votum gab es rechtlich drei denkbare Wege der Anbindung Mayottes an Frankreich: Es wäre erstens möglich gewesen ein eigenes TOM zu gründen, zweitens ein DOM 26 oder drittens eine collectivité sui generis zu schaffen. Nach außen- und innenpolitischen Differenzen wurde letztere Option umgesetzt. Daraus hat sich jedoch bis heute eine immer stärkere Bindung an Frankreich entwickelt. 27 Zusammengefasst heißt dies: Trotz der Gründung des unabhängigen Inselstaates der Komoren 1975 zog es Mayotte vor, weiterhin mit Frankreich verbunden zu bleiben. Dies kam für Außenstehende eher unerwartet, denn “une île qui refusait d’être décolonisé” 28 entsprach nicht dem Trend der Unabhängigkeitsbestrebungen anderer Kolonien in dieser Zeit, so eben auch nicht der anderen Komoreninseln. Die Afrikanische Union, aber auch die Vereinten Nationen, ignorierten die entsprechenden Entwicklungen und erklärten die Abstimmungen für nichtig. 29 In mehreren Resolutionen 30 erklärte die Generalversammlung der 22 Cf. Alnet (2009: 17). 23 Cf. Caminade (2003: 50). 24 Cf. Alnet (2009: 17-18). 25 Cf. Lavoux (2004: 63). 26 DOM steht für Département d’outre-mer. Zum Begriff TOM cf. Fußnote 17. 27 Cf. Sauvageot (2004: 84-92). 28 Fasquel (1991: 7). 29 Cf. Caminade (2003: 52), cf. Kamardine (2007: 12), cf. Béringer (2004: 53). <?page no="196"?> Sprachliche und kulturelle Vielfalt auf Mayotte 163 Vereinten Nationen, dass Mayotte zum Staatsgebiet der Komoren zu zählen, und dass die “unité et l’intégrité territoriale de l’archipel des Comores composé des îles d’Anjouan, de la Grande Comore, de Mayotte et de Mohéli” 31 zu respektieren sei. Es wurde konstatiert, dass Frankreich “viole la règle internationale du respect des frontières en arrachant Mayotte à cet archipel” 32 . Die Vereinten Nationen forderten Frankreich mehrfach auf, in Verhandlungen mit dem Staat der Komoren zu treten, um über die Übertragung der Souveränität zu verhandeln. 33 Sie stützen sich dabei auf den Grundsatz des Erhalts der territorialen Integrität ehemaliger Kolonien, negieren jedoch den Grundsatz der Selbstbestimmung - in diesem Fall der Bevölkerung von Mayotte. Auch wenn in internationalen Gremien das französische Bestreben bzw. die reale Anbindung Mayottes an Frankreich als äußerst heikel betrachtet wird, wurde Mayotte 1986 enger an Frankreich gebunden. Es erhielt den Status einer collectivité territoriale, deren rechtliche Grundlagen in Artikel 72 der französischen Verfassung niedergelegt sind 34 und die einer “politischadministrativen Mischform mit Elementen der DOM- und TOM-Verwaltung” 35 entspricht. 1986 erklärte Premierminister Jacques Chirac: “Vous attendez ce que vous n’avez jamais cessé de revendiquer avec force et obstination depuis 1958: rester français… vous êtes citoyens de la République et vous le demeurerez, aussi longtemps que vous le désirerez, puisque vous en avez décidé ainsi! ” 36 Seit 2001 hat Mayotte den Status einer collectivité départementale und wird seit 2003 gar in der Verfassung der Französischen Republik explizit genannt. 37 Der Artikel 72-3 lautet seitdem wie folgt: “La République reconnaît, au sein du peuple français, les populations d'outre-mer, dans un idéal commun de liberté, d'égalité et de fraternité. La Guadeloupe, la Guyane, la Martinique, La Réunion, Mayotte, (...) sont régis par l'article 73 pour les départements et les régions d'outre-mer, et pour les collectivités territoriales (...).” 38 2007 wurde der Status Mayottes erneut geändert: Seitdem ist die Insel 30 U.a. A/ Res/ 3161 von 1973, A/ Res/ 3291 von 1974, A/ Res/ 31/ 4 von 1976, A/ Res/ 32/ 7 von 1977, A/ Res/ 40/ 62 von 1985, A/ Res/ 41/ 30 von 1986, A/ Res/ 42/ 17 von 1987, A/ Res/ 43/ 14 von 1988, A/ Res/ 44/ 9 von 1989, A/ Res/ 45/ 11 von 1990, A/ Res/ 46/ 9 von 1991, A/ Res/ 47/ 9 von 1992, A/ Res/ 49/ 18 von 1994, cf. Resolutionen unter www.un.org/ (Zugang am 09.08.2010). 31 Caminade (2003: 70). 32 Caminade (2003: 9). 33 Im UN-Sicherheitsrat konnte Frankreich mit seinem Veto-Recht diesbezügliche Resolutionen blockieren. 34 Cf. Luchaire (1992: 6, 138). 35 Cf. Burr (1990: 794). 36 Kamardine (2007: 18). 37 Cf. Erfurt (2005: 104), cf. INSEE (2010: 8). 38 Cf. Article 72-3. <?page no="197"?> Claudia Schlaak 164 eine collectivité d’outre-mer (COM). Auch wenn die Bewohner bisher noch kein französisches Bürgerrecht besitzen, ist ihr Staatschef heute Nicolas Sarkozy, vertreten durch den Präfekten Denis Robin. Regierungschef ist Ahmed Attoumani Douchari. In der französischen Nationalversammlung ist Mayotte mit einem Abgeordneten vertreten. Mayotte wird durch einen Generalrat regiert und besitzt damit eine ähnliche rechtliche Stellung wie die Übersee- Départements, ist aber nicht Teil der Europäischen Union. Im bisher letzten Akt der mahoranisch-französischen Beziehungen stimmten 95,2% in einer Volksbefragung am 29. März 2009 dem processus de départementalisation zu. Im Jahr 2011 soll dieses politische Bekenntnis umgesetzt werden und damit eine neue politisch-administrative Struktur geschaffen werden: Mit der Neuwahl des Generalrates wird die Insel 2011 den Status eines département-région d'outre-mer erhalten und damit auch Teil der Europäischen Union werden. 2011 wird Mayotte somit das 5. DOM und das 101. Departement Frankreichs. 39 3.3. Demographie: Kulturelle und sprachliche Vielfalt auf Mayotte Mayotte ist von großer Armut geprägt, hat aber dank der finanziellen Hilfen aus Frankreich einen höheren Lebensstandard als die anderen Komoreninseln. Mindestens ein Viertel der Bevölkerung ist arbeitslos und viele Bewohner leben an der unteren Armutsgrenze. Doch ist Mayotte für Migranten sehr attraktiv, da die Insel im Vergleich zu den anderen Komoreninseln zahlreiche Vorzüge aufweist: Eine gute medizinische Versorgung, ein gutes staatliches Bildungssystem, ein stärkeres Wirtschaftssystem mit dem Euro als Währung, eine durch die Zugehörigkeit zu Frankreich bedingte politische Stabilität etc. 40 Mayotte steht dank großzügiger Unterstützung aus Paris damit viel besser da als die anderen Komoreninseln. 41 Ein weiterer Aspekt des Selbstverständnisses der Inselbewohner spielt jedoch eine große Rolle. Dies wird beispielhaft in einem Internetforum deutlich: Je ne comprends pas toujours la haine des “Métropolitains” quand on parle de Mayotte. En fait les Mahorais ne demandent pas à devenir Français, ou à rentrer dans la République… Ils sont Français, comme leurs parents, grands-parents et plusieurs générations avant… (…) Alors arrêtez de raconter des inepties sur le coût, la religion ou les soucis à venir de cette départementalisation. C’est juste le 39 Cf. INSEE (2010: 8, 12). 40 Die Union der Komoren ist dagegen von großer politischer Instabilität, u.a. mit wiederholten Putschen und weiteren Sezessionsversuchen, geprägt. Der Staat gehört außerdem zu den zehn ärmsten der Welt. 41 Cf. Fontaine (1996: 112), cf. Cassagnaud (2007: 276). <?page no="198"?> Sprachliche und kulturelle Vielfalt auf Mayotte 165 simple respect des Mahorais, qui sont autant Français que les Basques, les Bretons ou les Aveyronnais.” 42 Die Bewohner von Mayotte sehen sich seit Generationen als Franzosen. In ihren Augen haben sie den gleichen Status wie etwa in Frankreich lebende Minderheiten und können daher auch - wie im eben zitierten Beitrag deutlich wird - nicht verstehen, dass im Zuge der départementalisation Fragen nach den Kosten, nach der Religion etc. diskutiert werden. Sie sehen sich ohne Wenn und Aber der französischen Nation zugehörig. Mitten im Indischen Ozean existiert also eine “ur”-französische Identität. Auf Mayotte lebten 2007 laut INSEE 186.387 Einwohner, wobei geschätzt wird, dass diese Zahl in der Zwischenzeit weiter gestiegen ist. Nach Angaben des World Factbook von 2010 beträgt die Bevölkerungszahl mittlerweile über 230.000 Einwohner. 43 2002 betrug die Einwohnerzahl noch lediglich 160.265. 44 Die Inseln erlebten also in den letzten Jahren einen enormen Bevölkerungszuwachs. Seit etwa 40 Jahren hat sich Mayotte mit großen Migrations- und Flüchtlingsströmen auseinanderzusetzen. In den 35 Jahren von 1976 bis zur Volkszählung 2002 hatte sich die Einwohnerzahl verfünffacht. Dabei ergab sich eine starke ethnische Mischung der Bevölkerung; die Einwanderer sind hauptsächlich afrikanischer, malaiisch-polynesischer bzw. madagassischer, arabischer und persischer Herkunft. 45 Die vorherrschende Religion auf Mayotte ist der sunnitische Islam. Mehr als 95% der Bevölkerung sind Muslime; die “identité mahoraise est liée à l’Islam” 46 . Eine große sprachliche Vielfalt kennzeichnet das Land. Zu dem “sprachlichen Mosaik” 47 tragen unter anderem die Sprachen Shibushi 48 , Arabisch, Shimaoré 49 sowie natürlich Französisch bei. Shibushi und Shimaoré, die beiden traditionellen Sprachen in der mündlichen Kommunikation, konkurieren heute mit dem Französischen. Nach einer Umfrage des INSEE im Jahr 2002 sprachen 80.140 Sprecher, die 15 Jahre oder älter waren, Shimaoré. Es folgten mit 54.784 Sprechern das Französische sowie die anderen komori- 42 Cf. www.bakchich.info/ spip.php? page=forum&id_article=5237&id_forum=82506, Beitrag vom 17. März 2009. (Zugang am 09.08.2010). 43 Cf. Central Intelligence Agency: The World Factbook unter https: / / www.cia.gov (Zugang am 09.08.2010). 44 Cf. INSEE (2010: 6). 45 Cf. Munzinger (2007b). 46 Fontaine (1996: 106), cf. Cassagnaud (2007: 221). 47 Cf. Fontaine (1996: 106). 48 Beim Shibushi handelt es sich um eine Migrantensprache aus Madagaskar, die vor allem im 19. Jahrhundert durch mehrere Einwanderungswellen nach Mayotte gekommen ist. Cf. Rombi (2003: 316). 49 Shimaore kann auf Mayotte als lingua franca bezeichnet werden. Es handelt sich um eine Bantusprache nahe dem Swahili. (auch: Mahorais) Cf. Fontaine (1996: 106), cf. Cassagnaud (2007: 23). <?page no="199"?> Claudia Schlaak 166 schen Dialekte mit 23.876, das Madegassische mit 23.561 und das Arabische mit 3.199 Sprechern. 50 Wie in vielen ehemaligen französischen Kolonien ist die Amtssprache Französisch. Die Verwendung des Französischen ist mit der Zugehörigkeit zu Frankreich als collectivité territoriale auch eine Pflicht. Anfang der 1980er Jahre sprach die Bevölkerung als Verkehrsprache jedoch mehrheitlich noch das Komorische 51 und auch das Madegassische. Zu dieser Zeit war das Französische “lediglich” Verwaltungs- und Unterrichtsprache und die Mehrheit der Bevölkerung verwendete die Sprache nicht. An dem überwiegenden Bekenntnis zur französischen Identität änderte das aber nichts. Mit der stärker werdenden politischen Anbindung wurde der Einfluss des Französischen in den nachfolgenden Jahrzehnten allerdings immer größer. 3.4. Französisch im Alltag Mit einer veränderten Unterrichtspolitik Frankreichs seit 1981 und dem damit einhergehenden verbesserten Unterrichtsangebot auf Mayotte beginnt sich die sprachliche Situation zugunsten des Französischen zu verändern. 52 Vorwiegend durch diese Schulpolitik - der gesamte Unterricht findet auf Französisch statt und auch das gesamte Ausbildungssystem basiert auf der Sprache 53 - konnten im Jahr 2002 etwa 56.500 Französisch lernende Schüler gezählt werden; 1973 waren es lediglich 2.900. Doch noch in den 1990er Jahren war diese Schulpolitik von nicht allzu großem Erfolg geprägt. 54 1991 beherrschten 65 bis 70% der Bevölkerung das Französische nicht oder nur sehr schlecht. Zudem gibt es bis heute, von den Métropolitains abgesehen, keine monolingualen Sprecher des Französischen. 55 Insgesamt wird das Französische heute von gut einem Drittel der Bevölkerung in Wort und Schrift verwendet; zwei Drittel beherrschen es zumindest mäßig bis gut. 56 Bei der Analyse der Sprachkenntnisse im Verhältnis zu den Merkmalen Nationalität und Geburtsort kann bei der Bevölkerung Mayottes (im Alter von 14 Jahren und älter) festgestellt werden, dass die Mehr- 50 Cf. Cassagnaud (2007: 22). 51 Hierbei handelt es sich um eine Bantusprache mit Einflüssen aus dem Persischen und dem Arabischen. Cf. Burr (1990: 794). 52 Cf. Burr (1990: 794). 53 Cf. Alnet (2009: 31-32). 54 Cf. Fontaine (1996: 106). 55 Cf. Rombi (2003: 308). 56 Cf. Munzinger (2007b). <?page no="200"?> Sprachliche und kulturelle Vielfalt auf Mayotte 167 heit die französische Sprache sowie mindestens eine lokale Sprache 57 spricht. Die folgende Übersicht 58 verdeutlich dies: parle le français et au moins une langue locale Parle français, mais aucune langue locale ne parle pas le français Total français né en France 37 588 5 363 12 937 55 888 français né à l'étranger 4 016 884 1 464 6 364 Étranger né en France 1 108 29 494 1 631 Étranger né à l'étranger 18 956 420 24 928 44 304 Total 61 668 6 696 39 823 108 187 Tabelle 1: Analyse der Sprachkenntnisse Aus linguistischer Perspektive handelt es sich auf Mayotte um eine Diglossie-Situation 59 . Das Französische dominiert die lokalen Sprachen. Aufgrund von Faktoren wie Einfluss der Medien, Schulpolitik, berufliche Perspektiven sowie “Verbindung zur Welt” wird das Französische zur “langue du pain”. Bereits seit Längerem wird es im schriftlichen, zunehmend aber auch im mündlichen Gebrauch verwendet. Dagegen bleibt das Shimaoré überhaupt nur noch in der mündlichen Kommunikation bestimmend. 60 Bei einer soziolinguistischen Befragung prophezeite ein Sprecher, dass das Shimaoré im Laufe der Zeit aufgegeben werden wird, sollte dieser Sprache kein Raum gegeben und keine Anerkennung zuteil werden: “D’ici quelques années, si on ne donne pas plus de place au shimaoré, nous aurons perdu l’un des meilleurs éléments que nous pouvons apporter à la richesse nationale.” 61 Die jüngeren Generationen sprechen das Französische heute auch im Alltag. Mit dem Erwerb der Sprache werden unter anderem berufliche Aufstiegschancen und die Möglichkeit der Medienrezeption verbunden. Im Medienangebot auf Mayotte gibt es verschiedene Tages- und Wochenzeitschriften (u.a. Mayotte Hebdo, vor allem französischsprachig) sowie das Radio- und Fernsehnetz des Réseau France Outre-mer. Verschiedene private 57 Unter den lokalen Sprachen zählt hier Shimaoré, Shibushi, weitere komorische Dialekte und das Malgache. 58 www.insee.fr/ fr/ regions/ mayotte/ (Zugang am 09.08.2010). 59 Zum Diglossie-Beriff cf. Ferguson (1959); zur Entwicklung von Diglossie-Situationen cf. Stehl (1994; 2008). 60 Cf. Cassagnaud (2007: 114, 210). 61 Cassagnaud (2007: 114). <?page no="201"?> Claudia Schlaak 168 Radiosender senden auf Französisch und auf Shimaoré. Erst 1989 wurde das erste Fernsehprogramm, das vor Ort produziert wurde, ausgestrahlt. Die meisten Sendungen und Beiträge werden jedoch aus Paris geliefert, so dass die Programme vor allem auf Französisch, nur einige auf Shimaoré, gesendet werden. Bei Radioprogrammen, wie etwa die des öffentlichen Senders Radio Mayotte, laufen dagegen über 70% der Sendungen auf Shimaoré. Interessanterweise besteht auch zwischen den lokalen Sprachen eine Diglossie-Situation. Noch 1870 gab es auf Mayotte mehr Madegassen als Mahoraner, heute jedoch ist ihre Sprache, das Shibushi, weit in der Minderheit. Neben dem Französischen wird es auch vom Shimaoré stark zurückgedrängt, und auch in den Medien ist es im Prinzip nicht präsent. 62 Dass das Französische jedoch noch viel stärker auf dem Vormarsch ist, zeigt folgende Beobachtung: Zwischen den Sprechern des Shimaoré und des Shibushi war traditionell das Shimaoré die Kommunikationssprache; heutzutage steht auch dieses Verhältnis unter dem Prestigedruck des Französischen. 63 Auch wenn der direkte Einfluss des Französischen aus Frankreich - zum Beispiel durch Presse und Fernsehen - sehr stark ist, sind doch spezifische sprachliche Charakteristika auf Mayotte zu finden. Im Bereich Phonetik und Phonologie kam es zu zahlreichen Assimilationen: So wird -on zu -o (Bsp.: charbon charibo); -an zu -a (Bsp.: banc baa); -in zu -é (Bsp: du pain dipe); -uzu -i- (Bsp.: bureau biro). 64 Einflüsse des Französischen lassen sich auch in der Lexik des Shimaoré nachweisen. Auffällig ist etwa, dass eine Agglutination von Artikeln und aus dem Französischen entlehnten Worten erfolgt. So setzt sich latabu aus la table, licoli aus l’école oder dipe aus du pain und dite aus du thé zusammen. 65 4. Mayotte und Frankreich: Aktuelle Sprach- und Migrationsprozesse 4.1. Das Spannungsverhältnis Frankreich - Mayotte - Komoren Seit dem 29. März 2009 steht fest: Die Komoreninsel Mayotte gehört ab 2011 als 101. Département integral zu Frankreich und damit auch zur Europäischen Union. Der Präsident der Komoren, Ahmed Abdallah Mohammed Sambi, stimmt dieser neuen Entwicklung, die Mayotte weiter an Frankreich bindet, nicht zu. Die Abstimmung auf Mayotte erkannte er nicht an; seiner Ansicht nach zähle die Insel weiterhin zu den Komoren. 66 62 Cf. Cassagnaud (2007: 205). 63 Cf. Alnet (2009: 31). 64 Cf. Cassagnaud (2007: 160). 65 Cf. Cassagnaud (2007: 77). 66 Cf. Munzinger (2007a). <?page no="202"?> Sprachliche und kulturelle Vielfalt auf Mayotte 169 Auch wenn sich Frankreich im Vorfeld der Abstimmung offiziell neutral verhalten hatte, wurde doch angenommen, dass Paris ein positiver Ausgang gelegen käme. Schließlich könnte man durch die Einführung des französischen Justiz- und Verwaltungssystems den Einfluss anderer Staaten in der Region - man bedenke, dass die Bevölkerung Mayottes mehrheitlich muslimisch ist - in jedem Fall verhindern. 67 Die Stellung Frankreichs im Indischen Ozean ist dadurch nicht nur gefestigt, sondern eher noch gestärkt worden. Es bleibt festzuhalten, dass Mayotte im Gegensatz zu anderen ehemaligen Kolonien und auch zu bestehenden französischen Überseegebieten einen eigenen Weg geht. In anderen französischen Übersee-Départments, wie auf den Karibik-Inseln Guadeloupe und Martinique, aber auch auf La Réunion, setzt sich die Bevölkerung derzeit für mehr statt für weniger Unabhängigkeitsrechte ein. Hintergrund ist wohl, dass die mahoranische Bevölkerung, die die Armut der Republik der Komoren vor Augen hat, die Hoffnung hegt, durch die “Abhängigkeit” von Frankreich und die damit verbundene Zugehörigkeit zur EU im wirtschaftlichen Bereich mehr Unterstützung und finanzielle Anreize für Infrastruktur und Tourismus zu erhalten sowie im sozialen Bereich Fortschritte zu erzielen, etwa durch die Übernahme des französischen Sozialversichungssystems. 68 Bisher hatten die Mahoraner kein französisches Bürgerrecht; auch dies wird sich ab 2011 ändern. 69 Damit einher geht eine besondere Problematik: Die Abschaffung der Polygamie. Durch die volle Zugehörigkeit zu Frankreich, wo sie verboten ist, muss auch auf Mayotte die Polygamie aufgegeben werden. Bisher leben ein Zehntel der Mahoraner polygam. 70 4.2. Illegale Einwanderung und Bevölkerungsentwicklung Mit dem politischen Bekenntnis vom 29. März 2009 sind finanzielle Hilfen für Mayotte in jedem Fall gesichert. Die Bevölkerung erhofft sich in allen Bereichen, vor allem aber wirtschaftlich, Unterstützung vom Mutterland. Mit dieser politischen Entscheidung hat Mayotte zudem auch Anspruch auf EU-Gelder. Doch wie hierdurch die Probleme der illegalen Einwanderung gelöst werden sollen, bleibt unklar. 2007 wurde dieses Thema bereits in der französischen Nationalversammlung behandelt. In einem entsprechenden Bericht heißt es, dass es auf Mayotte circa 45.000 illegale Einwanderer gäbe. 71 Dies destablisiert das soziale Gefüge Mayottes empfindlich. 67 Cf. Imhof, in: Neue Zürcher Zeitung (NZZ) online, 27.04.2010. 68 Ibid. 69 Noch gilt zum Teil traditionelles islamisches Recht auf Mayotte. 70 Cf. Caminade (2003: 32). 71 Cf. Assemblée Nationale (17. September 2007): MAÎTRISE DE L'IMMIGRA- TION - (n° 57), AMENDEMENT N° 120. <?page no="203"?> Claudia Schlaak 170 Von 2002 bis 2007 hat sich die Bevölkerungszahl im Durchschnitt um 3,1% pro Jahr erhöht. 72 Häufig kommen Schwangere nach Mayotte, um dort ihr Kind zu bekommen. Nach gültigem Recht erhalten die Kinder so die französische Staatsbürgerschaft. 73 Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass Mayottes Bevölkerung im Durchschnitt sehr jung ist. 2007 lag das Durchschnittsalter bei 22 Jahren, 17 Jahre jünger als im metropolitanischen Frankreich. So betrug 2007 die Bevölkerungszahl zwischen 0 und 24 Jahren mehr als 110.000, jene ab 25 Jahren nur gut 70.000. Insbesondere ab einem Alter von 50 Jahren nimmt die Bevölkerungszahl drastisch ab. Zwischen 50 und 59 Jahren wurden nur gut 8.000 Mahoraner, zwischen 60 und 74 Jahren gut 5.000 gezählt. Älter als 75 Jahre wurden nur gut 1.500 Mahoraner. 74 Anhand der folgenden Bevölkerungspyramide wird die Bevölkerungsaufteilung von Mayotte noch einmal deutlich: Abb. 2: Bevölkerungspyramide von Mayotte 75 Die Bewohner zwischen 0 und 20 Jahren stellen die bei Weitem größte Gruppe dar. Zwischen 20 und 25 Jahren erfolgt ein Einbruch. Dies ist durch Emigration, vor allem zu Studiumszwecken, bedingt. Nach einem leichten Anstieg der Zahlen in der Alterskohorte 25 bis 35 Jahre, fallen die Zahlen ab einem Alter von 40 Jahren wieder deutlich ab. Betrachtet man die Schulabschlüsse von Personen im Alter von 15 Jahren und älter, haben nach INSEE 72 Cf. INSEE (2010: 28). 73 Cf. Cassagnaud (2007: 33). 74 Cf. INSEE (2010: 31). 75 Cf. INSEE (2010: 31). <?page no="204"?> Sprachliche und kulturelle Vielfalt auf Mayotte 171 2007 44% “aucun niveau”, 20% die “Primaire”, 19% die “Secondaire”, 10% das “Baccalauréat” und nur 7% einen Studienabschluss erreicht. 76 Mit der finanziellen Unterstützung Frankreichs erhofft sich nicht nur die einheimische Bevölkerung höhere Chancen, der Armut zu entkommen. Man geht davon aus, dass die meisten Migranten von den umliegenden Inseln, also den Komoren, kommen. 77 Ahmed Rama, Chef des Cabinet du service des Collectivités territoriales de Mayotte (Collectivités françaises d’outre-mer), erläutert, dass vor allem in den letzten Jahren die illegale Einwanderung zugenommen habe: “L’immigration clandestine à partir des Comores pose un gros problème à Mayotte - elle a toujours été importante, mais depuis 2006- 2007, le nombre de migrants augmente chaque jour.” 78 In Schätzungen wird davon ausgegangen, dass zwischen 200 bis 500 Einwanderer pro Jahr bei dem Versuch der illegalen Einwanderung - meist über kleine Boote, die kwassa-kwassa - Opfer der Anstrengungen der Überfahrt werden. Auch wenn im Gegensatz zu den vorherigen Jahren ein Rückgang zu verzeichnen ist, bestimmen Einwanderungsströme nach wie vor die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation Mayottes. Der Rückgang lässt sich eher dahingehend erklären, dass die Emigration zunimmt, vor allem aus Studiengründen. 79 Die Bevölkerung von Mayotte, nach Nationalitäten aufgeteilt, gliedert sich in folgende Gruppen: 2002 2 007 Nombre en % Nombre en % Évolution annuelle moyenne (%) Française 105 001 65,5 110 579 59,3 1,1 Comorienne 52 851 33,0 72 039 38,7 6,3 Malgache 2 267 1,4 3 168 1,7 6,8 Autre 182 0,1 601 0,3 27,0 Total 160 301 186 387 Tabelle 2: Zusammensetzung der Bevölkerung 80 Anhand von Tabelle 2 wird deutlich, dass die Bevölkerungszahl aller hier aufgeführten Nationalitätengruppen zwischen 2002 und 2007 zugenommen 76 Cf. www.insee.fr/ fr/ regions/ mayotte/ (Zugang am 09.08.2010). 77 Cf. Caminade (2003: 73-79). 78 Cf. www.afrik.com/ article13414.html (Zugang am 09.08.2010). 79 Cf. INSEE (2010: 28). 80 Cf. INSEE (2010: 35). <?page no="205"?> Claudia Schlaak 172 hat. Auffällig ist jedoch, dass im jährlichen Durchschnitt die Zunahme bei den Menschen französischer Nationalität mit 1,1% weitaus geringer ausfällt als bei jenen mit komorischer, madagassischer und anderer Staatsbürgerschaft (wenn in letzterem Fall auch aufgrund der geringen absolten Zahlen der Prozentwert nur begrenzt aussagekräftig ist). Aufgrund konsequenter Maßnahmen zur Rückdrängung der illegalen Einwanderung werden viele Migranten inzwischen regelmäßig wieder abgeschoben. Da diese meist jedoch mehrere Einwanderungsversuche unternehmen, bleibt die Arbeit der Einwanderungsbehörden bisher ein eher hoffnungsloses Unterfangen. Doch nicht nur die illegale Einwanderung wird die Migration nach Mayotte mit dem rechtlichen Status eines DOMs erhöhen: So leben beispielsweise viele emigrierte Mahoraner heute auf La Réunion, von denen ein Teil wohl nach Mayotte zurückkehren wird. Da sie ein “Réunionnais Creole, or Reunion Creole French” 81 sprechen, werden sie schließlich zur weiter wachsenden sprachlichen Vielfalt auf Mayotte beitragen. 82 Französisch bleibt auf Mayotte Amtssprache und wird - nach derzeitigen Erkenntnissen und Beobachtung der Entwicklungen - zunehmend auch zur Alltagssprache und lingua franca werden - trotz der vielen Einwanderer. Die sprachliche Vielfalt der Insel wird aus den hier genannten Migrationsgründen sicher weiter bestehen, doch wird Französisch - wie in zahlreichen anderen ehemaligen französischen Kolonien oder Mitgliedsstaaten der Frankophonie auch - die Prestigesprache schlechthin bleiben. Auf Mayotte wird deutlich: “La République se fait volontiers contorsionniste pour conserver son capital colonial.” 83 So wird sich auch in den sprachpolitischen Bestrebungen Frankreichs die Förderung der französischen Sprache in allen gesellschaftlichen Bereichen halten. 5. Ausblick Mit den veränderten politischen Gegebenheiten ab 2011 wird es in Mayotte zu neuen Entwicklungen kommen. Ob durch den wirtschaftlichen Aufschwung, durch umfangreichere Sozialleistungen und die Mittel der Regionalhilfefonds der EU der Armut Einhalt geboten und der Lebensstandard gesteigert werden kann, ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht absehbar. Es ist jedoch zu befürchten, dass die starke Immigration jeglichen Fortschritt aufzehren wird. Nicht nur Frankreich sondern auch die EU werden sich mit dieser neuen Außengrenze auf neue Migrationsprobleme einstellen müssen. Bei den mit der départementalisation einhergehenden gesellschaftlichen Ver- 81 Alnet (2009: 30). 82 Cf. Alnet (2009: 30). 83 Caminade (2003: 32). <?page no="206"?> Sprachliche und kulturelle Vielfalt auf Mayotte 173 änderungen, wie etwa der Abschaffung der Polygamie, wird es darüber hinaus zu Akzeptanzproblemen in der Bevölkerung der Insel kommen. Eines steht jedoch in jedem Fall fest: Frankreich hat mit Mayotte als 101. Département seine politische und sprachliche Stellung im Indischen Ozean gesichert und damit den frankophonen Raum gestärkt. Zudem bleibt Frankreich “le seul pays européen à être présent dans les trois océans”. 84 Wenngleich Frankreich mit La Réunion in diesem geographischen Raum bereits präsent ist, scheint Mayotte als weiterer Stützpunkt aus politischen, sozialen, kulturellen und sprachlichen Gründen von großer Bedeutung für die Grande Nation zu sein. Selbst wenn man den Beigeschmack, dass Mayotte sich wohl vor allem aufgrund wirtschaftlicher und sozialer Interessen zu Frankreich bekannt hat, einmal außer Acht lässt, wird deutlich, wie erfolgreich die französische Sprach- und Expansionpolitik ein weiteres Mal ist. Die ehemalige französische Kolonie will ihre Zugehörigkeit zu Frankreich um jeden Preis sichern; ein möglicher Sprachverlust der lokalen Sprachen - wie des Shimaoré - wird dafür in Kauf genommen. Den Zuspruch dafür, dass die Inselbewohner hierbei den richtigen Weg einschlagen, erfahren sie durch massive Einwanderungsströme von Migranten, die sich auf der französischen Insel ein besseres Leben erhoffen. Das Bekenntnis zu Frankreich und zur französischen Sprache ist also bei Einwohnern und Migranten in jeder Hinsicht nachvollziehbar. Das Französische wird daher auf absehbare Zeit eine Vormachtstellung auf Mayotte und somit wohl auch im Komorenstaat einnehmen. Die frankophone Welt hat durch Mayottes Weg der letzten Jahrzehnte eine Stärkung erfahren. Bibliographie Alnet, Aimee Johansen (2009): The Clause Structure of the Shimaore Dialect of Comorian (Bantu), Illinois: University of Illinois at Urbana-Champaign. Assemblée Nationale (17. September 2007): MAÎTRISE DE L'IMMIGRATION - (n° 57), AMENDEMENT N° 120. 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Beiträge zur Potsdamer Ehrenpromotion für Helmut Lüdtke, Tübingen: Narr, 195-215. <?page no="208"?> Sprachliche und kulturelle Vielfalt auf Mayotte 175 Internetquellen: www.afrik.com/ article13414.html (Zugang am 09.08.2010). www.bakchich.info/ spip.php? page=forum&id_article=5237&id_forum=82506 (Zugang am 09.08.2010). https: / / www.cia.gov/ (Zugang am 09.08.2010). www.francophonie.org/ (Zugang am 09.08.2010). www.insee.fr/ fr/ regions/ mayotte/ (Zugang am 09.08.2010). www.nzz.ch/ nachrichten/ international/ mayotte_1.2271279.html, Neue Zürcher Zeitung (NZZ) online vom 27.04.2010, (Zugang am 09.08.2010). www.un.org (Zugang am 09.08.2010). <?page no="210"?> Gerald Bernhard Italienische Vornamen im Ruhrgebiet: eine kleine migrationslinguistische Umfrage Spuren von Migrationsbewegungen sind bisweilen, auch nachdem mehrere Generationen von Migranten in einer neuen Umgebung akkulturiert sind, und somit weniger gesellschaftlich-pragmatisch als identifikatorisch von Belang, in Personennamen gut zu erkennen. Diesen wird oft, intraindividuell-historisch, eine bedeutungstragende Rolle zugewiesen. Dies betrifft sowohl Nachnamen z.B. französischer Réfugiés in Brandenburg oder Hessen 1 als auch nicht in Verbänden ‘emigrierte’ norditalienische Familiennamen wie Brentano oder Farina 2 . Der Natur von Eigennamen, und insbesondere von Personennamen, folgend werden hierbei in aller Regel nicht die ‘ermittelbaren’ (ursprünglichen) lexikalischen Bedeutungen, sondern die im Namengedächtnis gespeicherten Referenten abgerufen, sobald eine Namenform genannt wird. Hierbei können erbliche Familiennamen eine wichtige autowie heteroidentifikatorische Rolle übernehmen, aus der Präsenz ungewohnter Familiennamen können bisweilen Vereine zur Pflege von Ursprüngen und Geschichte der Namenträger entstehen. Im Ruhrgebiet, einer stark von Arbeitsmigration geprägten Industrieregion, kommt dem Identifikator Namen für die Ermittlung der Wurzeln ihrer Träger eine ganz besondere Relevanz zu, v.a. für die zahlreichen sogenannten Ruhrpolen, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts die überragende Mehrheit der Zuwanderer stellten 3 . Die, für auch außerhalb des 1 Zur Geschichte der Akkulturation frz. Glaubensflüchtlinge in Brandenburg cf. Böhm 2010; zur Herkunft und Persistenz hugenottischer Familiennamen Zamora 1992. Das Telefonbuch von Mörfelden-Walldorf bei Frankfurt weist bspw. eine stattliche Anzahl des berühmten Nachnamens Cézanne auf. Die Walldorfer Cezanne (hess. [se’san], seltener [se’zan]) sind Nachfahren einer aus den savoyischen, heute im italienischen Piemont gelegenen Waldensertälern emigrierten Familie (tel. Mitteilung von Frau Saskia Cezanne vom 20.07.2010). 2 Die lombardische, und katholische, Adelsfamilie Brentano konnte in der, vorwiegend protestantischen, Reichsstadt Frankfurt sesshaft werden. Giovanni Maria (dt. Johann Maria) Farina gelangte vom südalpinen Val Vigezzo, das Locarno mit Domodossola verbindet, entlang des Rheins bis nach Köln, wo er das berühmt gewordene “Kölnisch Wasser” entwickelte und im großen Stil vertrieb. 3 Eine große Zahl der Arbeitskräfte, die in der sog. Gründerzeit für den ersten ‘boom’ des Bergbaus und der Schwerindustrie im Ruhrgebiet sorgten, stammte aus den damaligen preußischen Ostprovinzen und waren häufig auch Masuren oder Kaschuben. Das Familiennameninventar in den Ruhrstädten ist bis heute stark westslawisch <?page no="211"?> Gerald Bernhard 178 Ruhrgebiets wohnenden oder lebenden Menschen, auffällige Präsenz von slawischen Nachnamen spielt jedoch in der Alltagspragmatik keine Rolle mehr. Anders verhält es sich, wenigstens teilweise, mit den Familiennamen der bei dem 2. Weltkrieg im Rahmen von Regierungsvereinbarungen getroffenen Migranten jugoslawischer (heute serbischer, bosnischer, kroatischer), spanischer oder portugiesischer Herkunft, oder mit Nachnamen der zahlreichen “Ruhrtürken” und “Ruhritaliener”. Hier assoziiert man mit den z.T. fremd klingenden Namen eben nicht nur Individuen, sondern auch Typen bzw. Stereotypen, die ihre Träger betreffen. Da sich die Kopräsenz von Nachnamen unterschiedlichster Herkunft in der heutigen Migrationsphase, der sogenannten globalisierten, noch in der z.T. dritten Generation mit dem Faktum der Mehrsprachigkeit paart, und da sich die Einstellungen zu Akkulturation bzw. Assimilation der Immigranten seitens der “einheimischen” Bevölkerung zugunsten einer Öffnung und einer erstrebenswerten Vielfalt der Gesamtkultur gewandelt haben, dienen Namen auch einer synchronisch beschreibbaren sprachlichen und kulturellen Identifikation. Ein Zeichen von im Gange befindlichen Prozessen der Akkulturation von Arbeitsmigranten und deren Nachfahren ist indessen nicht zuvorderst an der erblichen Form von Nachnamen ablesbar, sondern an den Praktiken der namenrechtlichen Bestimmungen von frei wählbaren Vornamen 4 . Im Bereich der Vornamengebung bieten letztlich namensrechtliche Bestimmungen, wie sie in den Herkunftsstaaten bzw. -sprachen und im Lebensumfeld der Ankunft-Kultur gelten, einen recht breiten Spielraum. Im Vergleich zu früheren geschichtlichen Abschnitten 5 sind die gesetzlichen Normen für die Vergabe von Vornamen in den modernen bzw. postmodergeprägt, teilweise graphisch adaptiert (Schimanski neben Szymansky). Bisweilen wurden slawische Namen eingedeutscht, weil sich die Namenträger davon einen sozialen Aufstieg erhoffen konnten; ausführlicher hierzu Menge (2000). 4 Wege der Akkulturation von immigrierten Mitbürgern und deren Nachfahren werden durch den typologischen Abstand wie durch den intensiven oder nur lockeren horizontalen Kontakt zwischen ihren Herkunftssprachen und Deutsch mit bedingt. So geht bspw. bei romanischsprachiger Herkunft die Akkulturation schneller vonstatten als z.B. bei Sprechern des Türkischen. Hierin wird auch ein kultureller (bzw. religiöser) Abstand in der Namengebungspraxis spürbar; hierzu näher z.B. Gerhards/ Hans (2009: 1123-1125). 5 Persönliche und nationale Identität werden v.a. in faschistischer Zeit an die metonymischen Zeichen der Eigennamen gebunden, teils seitens der individuellen Namengeber (z.B. Benito, Adolf), teils durch offizielle Maßnahmen, die z.B. in Südtirol die Italianisierung aller Eigennamen - “fino all’ultimo casolare”, wie C. Battisti es ausdrückte, zur Folge hatten. In Frankreich, wo zwischen der Revolution von 1789 und den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts eine Lockerung der Namensgebungsvorschriften zu beobachten ist, besteht jedoch bis heute die Gewohnheit, in Regionen der ‘langues ethiques’nichtfranzösische Familiennamen mit frz. Vornamen zu kombinieren, also z.B. in der Bretagne oder im Elsass, in letzterem oft mit graphisch identischen oder ähnlichen Allonomen wie Paul, Georges oder Pierre, s. auch Diederichsen (1995). <?page no="212"?> Italienische Vornamen im Ruhrgebiet: eine kleine migrationslinguistische Umfrage 179 nen Kulturen Europas und Nordamerikas als liberal zu bezeichnen, lassen sie doch der Kreativität der Namengeber viele Freiheiten, da Vornamen doch “gleichsam gratis für alle Eltern verfügbar” sind (Gerhards/ Hans 2006: 7). Durch die Wahl eines Vornamens aus der Herkunftssprache lässt sich einerseits der kulturell-sprachlichen (Teil-)Verwurzelung der Namenträger Ausdruck verleihen, andererseits wird die Namengebungspraxis in den Ankunftkulturen - welche sich während der letzten Jahrzehnte ohnehin, zumindest gilt dies für die ‘westlichen’ industriellen und postindustriellen Gesellschaften, internationalisiert haben 6 - durch direkte Sprachbzw. Sprecherkontakte gestützt. Beispielsweise erhalten romanische Vornamen wie frz. Pascal, sp. Diego, it. Mario oder Luca hierdurch einen weniger ‘exotischen’ Charakter als in früheren Zeiträumen 7 . Gleichzeitig lässt sich bei der Namengebung von Mitgliedern, und/ oder deren Nachkommen, sozialer Gruppen oder Individuen nicht-deutscher Herkunft eine ebenso praktische wie indentifikatorisch sinnvolle Wahl von Vornamen feststellen, die zwar graphisch und/ oder lautlich eine gewisse Distanz zu ‘deutschen’ Namen aufweisen, aber letztlich den gleichen Typ bzw. dasselbe Etymon (z.B. Luca und Lukas) fortsetzen. Solche Typen bzw. Etyma, bisweilen ‘Nomeme’ mit den einzelsprachlichen Varianten ‘Allonome’ genannt (Haas 1995: 1233-1235), bieten v.a. bei Sprachen, die aus dem christlich-abendländischen Vornamenfundus schöpfen, eine leicht kommunizierbare Palette an Varianten, wobei die mittlerweile auch in deutschen übliche Geschlechtszuweisungen -a = weiblich, -o = männlich, für die Vergabe von bspw. spanischen, kroatischen oder italienischen Vornamen, und um letztere soll es in den folgenden Zeilen gehen, ‘Zugriffsvorteile’ 8 gegenüber bspw. japanischen, chinesischen oder, im Ruhrgebiet näherliegend, türkischen Vornamen bieten. Phonomorphologische Stolpersteine wie männliche Vornamen auf -a oder -e, z.B. Andrea, Gabriele, treffen hierbei freilich auf usuell-traditionelle wie z.T. rechtliche Grenzen (Filodiritto 13.4.10), da hier außerhalb Italiens keine bzw. eine falsche Zuordnung des Namens zum Geschlecht des Namenträgers erfolgt. Nicht unbedingt in Kenntnis der 6 Eine Entwicklung hin zur ‘partiellen, “Einbürgerung” nichtnationaler in Koexistenz mit traditionell-nationalen Vornamen ist im Europa des ‘politischen Vereinigungswillens’ seit den 70er Jahren des 20. Jh. vielerorts zu beobachten ( cf. z.B. Caffarelli 1996; Hafner 2004). 7 Z.B. Carmen oder Guido (dt. [gido], seltener ['gujdo]) in den 50er oder 60er Jahren des 20. Jahrhunderts. Hier liegen teilweise, wie bei Carmen, Adstratwirkungen vor, vergleichbar etwa mit heutigen finn. Mika oder angloamerikan. Kevin, bei welchen die Orientierung an identifikatorisch wichtigen Namenträgern, bspw. den Schauspieler Kevin Kostner, ästhetischen Vorstellungen der Namengeber entgegen kommt; zu Namenmoden cf. Koß (2002: 117-123). 8 Zum (Eigen-)Namen als “Ein-Element-Klasse”, cf. Hansack (1990), Brendler (2005: 104- 187). Eine sehr prototypische Zusammenstellung romanischer Allonome findet sich in Kattenbusch (2008). <?page no="213"?> Gerald Bernhard 180 gültigen Rechtslage, sondern ‘aus dem Gefühl heraus’, wird bei ‘Italo- Deutschen’ im Ruhrgebiet eine häufigere Wahl von ‘kompromissfähigen’ Allonomen 9 als eine von phonomorphologisch komplizierten, d.h. der ‘Erklärung’ bedürfenden, Vornamen erwartbar sein. Umfrage Um der identifikatorischen Rolle von Vornamen bei einer großen Migrantengruppe wie der italienischen im Ruhrgebiet auf die Spur zu kommen, kann es sich einerseits als sinnvoll erweisen, die standesamtlichen Daten a posteriori zu erheben, andererseits ist es auch möglich, sich Namenwünschen seitens potenzieller Eltern über den direkten Weg von Umfragen zu nähern, also sozusagen in den kreativen Schaffensprozess der Vornamengebung unmittelbaren Einblick zu erhalten. Hierzu wurde mit Studierenden der Ruhr-Universität Bochum eine kleine Fragenbogenaktion durchgeführt, durch welche sich einerseits ein Teil der möglichen Vornamenpalette, andererseits aber auch eine Möglichkeit der Ergründung für mögliche Motive der Namenwahl ergeben sollte. Es wurde bei insgesamt 19 Interviewten (zu gut zwei Dritteln Frauen) nach den 10 beliebtesten Vornamen (d.h. dem ersten Vornamen) für Jungen und Mädchen gefragt. Dabei wurden zu in etwa gleichen Teilen Probanden ausgewählt, die einen sogenannten italienischen Migrationshintergrund (9) haben, und solche, die keine migrationsgeprägten biographischen Hintergründe (10) aufweisen. Zum, neugierdehalber eingeführten, Vergleich zwischen ‘akademischen’ und ‘nichtakademischen’ potenziellen Namengebern wurde einer kleinen Gruppe von 5 Personen, wohnhaft im Ruhrgebiet, jedoch ohne Verbindung zum universitären Umfeld, derselbe Fragebogen vorgelegt. 10 Die erhobenen Daten sollten, selbstverständlich nicht repräsentative, Einblicke gewähren in die Namenwelten der nächsten Elterngeneration und deren mögliche Motivation für die Wahl bestimmter Namen. Dabei wurden für die Motivation (s.a. Kunze 2003, 54-57), die Kategorien Ästhetik (“klingt schön”), Tradition und Familie, Vornamen einer berühmten Persönlichkeit und religiöse Motive, zur Auswahl gestellt. Aus der sich ergebenden Rangliste können sodann zu den beliebtesten 10 Vornamen in Deutschland 9 Hierbei ist zunächst wohl nicht davon auszugehen, dass die deutschen und italienischen namensrechtlichen Bestimmungen bekannt sind. In diesen ist zum einen geregelt, dass traditionelle Namen und solche, die das Geschlecht des Kindes ‘eindeutig’ anzeigen, gewählt werden können, zum anderen, dass Vornamen, welche beschämend wirken oder das Kind lächerlich machen können, nicht erlaubt sind; cf. Filodiritto 13.04.2010. Ähnliches gilt in Deutschland, cf. Kunze (2003: 175); des weiteren Seibicke (2001). 10 Für die Durchführung der Umfrage sei an dieser Stelle Ramona Jakobs ganz herzlich gedankt. <?page no="214"?> Italienische Vornamen im Ruhrgebiet: eine kleine migrationslinguistische Umfrage 181 (wie sie jedes Jahr von der Gesellschaft für deutsche Sprache in Wiesbaden publiziert werden) und in Italien (veröffentlicht von ISTAT) Vergleiche gezogen werden. Weibliche Vornamen Als die bei Studierenden beliebtesten Mädchenvornamen erweisen sich Marie, Mia, Valentina, Sofia, Anna, Chiara, Francesca, Johanna, Laura und Letizia (Laetitia, Leticia erscheinen nicht). Bei einer erhobenen Gesamtzahl von 102 weiblichen Vornamen 11 , machen dabei die genannten 10 einen Prozentsatz von 36,3% aus. Alle 10 häufigsten Vornamen wurden insgesamt mehr als dreimal gewählt, wobei sich eine relativ klare Bevorzugung seitens der Studierenden mit italienischen Wurzeln für Valentina, Sofia, Francesca und Letizia zeigt, während Studierende mit nichtitalienischen Vorfahren v.a. Marie, Mia und Johanna wählten; einzig Francesca und Letizia wurden ausschließlich von Studierenden mit italienischen Vorfahren gewählt. Hinsichtlich der Kategorien überwiegt deutlich die ästhetische (“klingt schön”), außer bei Anna, wo eine traditionelle familiäre Benennungsmotivation und eine berühmte Persönlichkeit den Ausschlag für die Wahl geben. Religiöse Motivation zeigt sich letztlich einmal bei Marie. Es fällt auf, dass mit der Ausnahme von Marie (der französischen Variante des französischen Allonoms von Maria), alle weiblichen Vornamen auf -a enden und somit die namensrechtliche Erfordernis der geschlechtsspezifischen Vornamenvergabe erfüllen. Im Übrigen setzt sich diese Tendenz auch bei den folgenden 12 Namen ununterbrochen fort, ja, Namen ohne auslautendes -a finden sich insgesamt lediglich 26 von 136, darunter zahlreiche hypokoristische Kurzformen auf -i (Anni, Leni) oder biblische Namen (z.B. Esther). Wie bereits erwähnt, erweist sich die Ästhetik als wichtigstes Motiv für die Wahl der 10 häufigsten weiblichen Vornamen. Auch bei den übrigen Namenvarianten überwiegt bei weitem die Ästhetik als Benennungsmotiv mit insgesamt 121 Angaben. Das Benennungsmotiv Tradition und Familie tritt insgesamt 30-mal auf, die Orientierung an Vornamen einer berühmten Persönlichkeit achtmal und die religiöse Motivation lediglich einmal, nämlich bei dem bereits erwähnten Vornamen Maria. Bei allen vier Kategorien halten sich Studierende italienischer und Studierende nichtitalienischer Herkunft in etwa die Waage. Im Vergleich mit der “Hitliste” der beliebtesten deutschen Mädchennamen des Jahres 2009 (Gesellschaft für deutsche Sprache/ Wiesbaden) lässt sich beobachten, dass die an der Ruhr-Universität Bochum ermittelten Lieblingsnamen (1. Marie, 2. Sophie/ Sofie, 3. Maria, 4. Anna, 5. Emma, 6. Mia, 7. Sophia/ Sofia, 8. Leonie, 9. Lena, 10. Johanna) allesamt auch im Beliebtheits- 11 Einschließlich der Allonome Maria/ Marie, Lili/ Lilli, Caterine/ Caterina. <?page no="215"?> Gerald Bernhard 182 inventar der Studierenden auftreten, Marie sogar deckungsgleich, auf Platz eins und Anna, Sofia und Johanna sich unter den ersten 10 befinden. Im Vergleich zu den häufigsten weiblichen Vornamen Italiens im Jahre 2008 (Daten für 2009 liegen nicht vor, Angaben von ISTAT) fällt auf, dass unter den häufigsten zehn Namen Italiens Sofia und Francesca auch unter den Top-10 unserer kleinen Umfrage vertreten sind. Giulia, Giorgia, Martina und Alice werden in Bochum jeweils einmal ausgewählt, Aurora und Alice, in Italien sehr beliebt, finden sich in unserem Inventar nicht (s. Anhang 1). Trotz einer gewissen Neigung von Studierenden mit Migrationshintergrund, auch phonische bzw. phonisch-graphische Vornamen zu wählen, die in Italien, wie Marie 12 , nicht üblich sind, werden klar erkennbare dt. bzw. frz. Allonome, z.B. Johanna, Franziska, Sophie, Charlotte, oder hebr. Ester, nicht bevorzugt. Andererseits werden z.B. Francesca, Letizia oder Giovanna, wohl ebenfalls aus Gründen der im Dt. teilweise traditionellen Allonome, von Italianistik-Studenten mit deutschem/ nicht-italienischem Hintergrund nicht genannt. Von insgesamt 15 Vornamen, die dreimal oder häufiger gewählt wurden (cf. Anhang 3), weisen neun eine Graphie auf, die sowohl deutsch wie italienisch realisierbar ist; zwei Vornamen frz. Herkunft (Josephine, Marie) sind im deutschen Sprachraum traditionell geworden und in Italien (neben Giuseppa) ebenfalls nicht unbekannt. Die dt. Schreibung Johanna könnte ebenso zu phonischen Realisationsproblemen ([h]) führen wie z.B. it. Chiara 13 . Männliche Vornamen Wie bei den weiblichen, so ist auch bei den männlichen Vornamen ein klares Überwiegen der ästhetischen Benennungsmotivation zu erkennen, mit großem Abstand gefolgt von traditionellen und familiären Gründen. Dem Trend der “Internationalisierung” folgen sogar religiöse, hier auch alttestamentliche (z.B. Noah, Jonas, Simon, David), Namen, ist dieses Repertoire doch durch die gemeinsame römisch-christliche Tradition bereits seit langem 12 Maria wird nur einmal, und zwar von einem/ einer Studierenden ohne it. Familienhintergrund, genannt. Das Fehlen von Maria kann als Indikator für die offensichtliche Individualisierung und den Verlust der religiösen Motivation gesehen werden; es ist jedoch durchaus möglich, ja wahrscheinlich, dass Maria als zweiter Vorname nach wie vor recht häufig gewählt würde. Einmalig genanntes Andrea, welches in Italien bekanntermaßen ein sehr häufig gewählter männl. Vorname ist, wurde von einem Sujet mit it. Wurzeln genannt. Hieraus ist möglicherweise eine starke Akkulturationsbereitschaft ablesbar wenngleich die Motivation “klingt schön” hier nicht überbewertet werden sollte; in einem Gerichtsurteil vom 21.4.09 aus Catanzaro wurde Andrea als weiblicher Vorname lediglich als Zweitname zugelassen; cf. Filodiritto 13.4.10. 13 Hier wäre im Dt. des Öfteren [ki'ara] statt ['kjara] zu erwarten, ähnlich wie die hiatische Realisation von Paola als [pa'ola]. <?page no="216"?> Italienische Vornamen im Ruhrgebiet: eine kleine migrationslinguistische Umfrage 183 ‘international’. Das -o als graphisch-lautliches Kennzeichen für das Geschlecht ‘männlich’ ist dabei nicht so prominent wie bei ‘weiblichem’ -a. Dies gilt sowohl für Deutschland als auch für Italien, wo zwar -o in traditionellen Namen häufiger auftritt, aber eben auch andere Auslautvokale vorkommen (a, e, i z.B. in Andrea, Gabriele, Manfredi); konsonantisch auslautende Vornamen treten, abgesehen von z.B. Walter, Oscar, erst in der jüngeren oder jüngsten Vergangenheit auf, z.B. Ivan, Cristian. In der sprachhistorisch-traditionellen größeren Variabilität der auslautbedingten Zuordnung von Vornamen zum männlichen Geschlecht liegt möglicherweise auch die Ursache für die ‘Bevorzugung’ italienischer Vornamen, oft Allonome traditioneller ‘Types’/ Nomeme. Dies ist auch daraus ersichtlich, dass der zweithäufigste von den (wie erwähnt zu zwei Dritteln weiblichen) Studierenden gewählte Vorname Alessandro sich auch in den ‘Top-Ten’ Italiens an dieser Stelle findet. Dass it. Andrea und Gabriele in der deutschen ‘Hitliste’ nicht erscheinen (cf. Anhang 1), liegt wohl in den hierzulande geltenden namensrechtlichen Vorgaben bzw. am Usus der deutschsprachigen Namengeber begründet. 14 Luca/ Luka kann dabei auch durchaus als ‘erstes Türchen’ zur Öffnung seitens deutscher Namengeber hin zu einer Änderung dieses Usus gesehen werden. Johannes und Philipp hingegen - ähnlich wie Johanna bei den weiblichen Vornamen - würden demzufolge eher die ‘einheimische’ Tradition festigen; dementsprechend wurden die beiden Allonome ausschließlich von Studierenden mit ‘deutscher’ Sozialisation gewählt. Kurzer Vergleich Werfen wir abschließend noch einen Seitenblick auf die kleine Vergleichsgruppe potenzieller Eltern ohne akademisches Umfeld und ohne italienische Migrationsgeschichte 15 . Die in dieser Gruppe ausgesuchten Vornamen zeigen sowohl bei den weiblichen als auch bei den männlichen Formen keine bzw. nur geringe Verbindungen zu den häufigsten italienischen Vornamen, sieht man einmal von den allonomischen Verbindungen zwischen Andrea und Andreas/ Andre [sic! ] und zwischen Luca und Lukas/ Lucas ab (cf. Anhang 2). Die Affinitäten zu den beliebtesten deutschen Vornamen zeigen sich demgegenüber bei der männlichen wie bei der weiblichen Auswahl mit je vier Nennungen recht deutlich. Hier werden Mia und Lena sogar zweimal genannt, wohingegen der zweimal ausgesuchte Jungenname Marc bzw. 14 Allerdings darf von diesem Usus angenommen werden, dass italienische Vornamen im deutschsprachigen Raum als relativ leicht ‘übersetzbar’ gelten, wenn -o als Geschlechtsindikator berücksichtigt wird, z.B. bei Otto, Adriano oder Martino. 15 Die von dieser Gruppe gewählten Vornamen sind in den Gesamtlisten (Anhang 3 und 4) alphabetisch eingereiht. <?page no="217"?> Gerald Bernhard 184 Mark in den deutschen ‘Top-Ten’ nicht vertreten ist. Vergleichsweise ‘exotische’ Vornamen wie Abdullah, Robin, Wyatt für Jungen oder Emila, Maine, Paige, Yudum für Mädchen stammen ebenfalls aus der kleinen Vergleichsgruppe (s. Anhang 3 und 4). Als primäre Benennungsmotivation ergibt sich auch hier die ästhetische; Tradition und Familie spielen bei den weiblichen Vornamen gar keine und bei den männlichen (3x) eine geringe Rolle, dasselbe gilt für religiöse Motive (einmal: Abdullah); das Vorbild berühmter Persönlichkeiten wirkt sich bei Mädchen dreimal, bei Jungen viermal auf die Namenwahl aus. Schluss Unsere kleine Umfrage mit einem kleinen und einem sehr kleinen Teil einer großen, komplexen Bevölkerungsgruppe wie derjenigen des Ruhrgebiets zeigt, zumindest in Ansätzen, die besondere Situation der Vornamengebung bei Studierenden mit italienischem biografisch-sozialisatorischen Hintergrund, die sozusagen in einer ‘Vermittlerposition’ zwischen deutscher und italienischer Vornamenwahl deutlich wird. Diese ist bei weiblichen Vornamen ausgeglichener als bei männlichen, wo it. Allonomen der Vorzug gegeben wird. Italianistik-Studierende ohne italienischen Hintergrund lassen zwar ebenfalls eine Neigung zu in beiden Sprachen leichter realisierbaren Vornamen erkennen, entscheiden sich jedoch seltener für ‘rein’ it. Vornamen. Individuell gebildete Namenformen, wie sie bei der kleinen Vergleichsgruppe von deutschen Nichtakademikern auftreten, finden sich bei Studierenden weitaus seltener. Bibliographie Böhm, Manuela (2010): Sprachen-Wechsel. Akkulturation und Mehrsprachigkeit der Brandenburger Hugenotten vom 17. bis 19. Jahrhundert, Berlin / New York: De Gruyter , (= Studia Linguistica Germanica 101). Bruni, Francesco (2003): “Italiano all’estero e italiano sommerso: una lingua senza impero”, in: Gabriella Alfieri (Ed.), Storia della lingua e storia. Atti del II convegno ASLI (Catania, 26-28 ottobre 1999), Florenz: Cesati, 179-198. 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Johanna Letizia Alice Häufigste männliche Vornamen Platzierung Deutschland 2009 Studenten Italienisch Italien 2008 1. Maximilian Luca Francesco 2. Alexander Alessandro Alessandro 3. Leon Alessio Andrea 4. Paul Andrea Matteo 5. Luca/ Luka Marco Lorenzo 6. Elias Matteo Gabriele 7. Felix Alexander Mattia 8. Lukas/ Lucas Davide Riccardo 9. Jonas Johannes Davide 10. David Noah Luca ___ : Übereinstimmende Namenform - - - : Allonomische Übereinstimmung <?page no="220"?> Italienische Vornamen im Ruhrgebiet: eine kleine migrationslinguistische Umfrage 187 Anhang 2 Weibliche Vornamen Deutschland 2009 Nicht-Akademiker ohne italienische Abstammung Italien 2008 1. Marie ø ø Giulia 2. Sophie/ Sofie ø ø Sofia 3. Maria ø ø Martina 4. Anna 1 ø Sara 5. Emma ø ø Chiara 6. Mia 2 ø Giorgia 7. Sophia/ Sofia ø ø Aurora 8. Leonie 1 ø Alessia 9. Lena 2 ø Francesca 10. Johann ø ø Alice Männliche Vornamen Deutschland 2009 Nicht-Akademiker ohne italienische Abstammung Italien 2008 1. Maximilian 1 ø Francesco 2. Alexander ø ø Alessandro 3. Leon 1 (2)* Andrea 4. Paul ø ø Matteo 5. Luca/ Luka ø ø Lorenzo 6. Elias ø ø Gabriele 7. Felix ø ø Mattia 8. Lukas/ Lucas 1 ø Riccardo 9. Jonas 1 ø Davide 10. David ø (1) Luca * (Andreas, Andre [sic! ]) <?page no="221"?> Gerald Bernhard 188 Anhang 3 1. Ada 2. Alessandra 3. Alessia 4. Alice 5. Amanda 6. Anastasia 7. Andrea 8. Anna 9. Anni 10. Annika 11. Aurora 12. Ava 13. Azzura 14. Barbara 15. Beatrice 16. Cara/ Kara 17. Carla 18. Caterina 19. Cecilia 20. Celina 21. Céline 22. Charlotte 23. Chiara 24. Christiane 25. Cinzia 26. Claudia 27. Cora 28. Clara 29. Cristina 30. Daniela 31. Diana 32. Elena 33. Elisa 34. Elisabetta 35. Elzbieta 36. Emila 37. Emilia 38. Emily 39. Emma 40. Ester 41. Eva 42. Federica 43. Fiona 44. Francesca 45. Franziska 46. Gianna 47. Ginevra 48. Gioia 49. Giorgia 50. Giovanna 51. Giulia 52. Giuseppa 53. Grefta 54. Helena 55. Ilania 56. Ina-Maria 57. Iolanda 58. Irene 59. Isabelle 60. Jasmin 61. Jennifer 62. Johanna 63. Josephine 64. Katharina 65. Kira 66. Klara 67. Lara 68. Laura 69. Lea 70. Lena 71. Leni 72. Leoni 73. Letizia 74. Lia 75. Lili/ Lilli/ Lillie 76. Linda 77. Lisa 78. Lucia 79. Luisa 80. Luka 81. Luna 82. Maike 83. Maine 84. Maja 85. Mara 86. Maria 87. Marie 88. Marina 89. Marlen 90. Martina 91. Marisal/ ol 92. Maxi 93. Mercedes 94. Mia 95. Michelle 96. Miriam 97. Monica 98. Nancy 99. Nele 100. Nina 101. Noemi 102. Paige 103. Paola 104. Patrizia 105. Paula 106. Pauline 107. Pia 108. Rahel 109. Rebecca 110. Rita 111. Roberta 112. Rosa 113. Rose 114. Sabine 115. Samantha 116. Sandra 117. Sarah 118. Selena 119. Serena 120. Silke 121. Silvia 122. Simona 123. Sofia 124. Sonja 125. Sophie 126. Stefania 127. Stefanie 128. Stella 129. Theresa 130. Valentina 131. Valeria 132. Vanessa 133. Vera 134. Veronica 135. Viviana 136. Yudum : 3 Nennungen __: Name ausschließlich von der Vergleichsgruppe genannt <?page no="222"?> Italienische Vornamen im Ruhrgebiet: eine kleine migrationslinguistische Umfrage 189 Anhang 4 1. Abdullah 2. Alberto 3. Alessandro 4. Alessio 5. Alexander 6. Andre 7. Andrea 8. Andreas 9. Antonio 10. Armando 11. August 12. Ben 13. Benjamin 14. Björn 15. Bruno 16. Carlo 17. Christian 18. Clemens 19. Daniel 20. Daniele 21. Darius 22. David 23. Davide (1x è) 24. Diego 25. Dino 26. Divo 27. Dominik/ Dominique 28. Edward 29. Emanuele/ Emanuel 30. Emil 31. Enrico 32. Fabrizio 33. Federico 34. Felipe 35. Florian 36. Francesco 37. Frank 38. Gabriele 39. Gianluca 40. Gianni 41. Gioele 42. Giovanni 43. Giulio 44. Ian 45. Ilias 46. Ivo 47. Jacob 48. Jakob 49. Janpeter 50. Jens 51. Johannes 52. Jona 53. Jonas 54. Joshua 55. Julian 56. Julius 57. Justus 58. Kai 59. Keno 60. Konstantin 61. Lars 62. Laurenz 63. Leander 64. Leo 65. Leon 66. Levi 67. Liam 68. Linus 69. Louis 70. Lorenzo 71. Luca 72. Lucas 73. Mads 74. Manuel 75. Marc/ Mark 76. Marcel 77. Marco 78. Marcus 79. Marius 80. Marvin 81. Massimo 82. Mathis 83. Matteo 84. Mattia 85. Maurice 86. Maximilian 87. Michael 88. Michele 89. Milo 90. Mirko 91. Moritz 92. Nicola 93. Nicolò 94. Noah 95. Oliver 96. Oscar 97. Paolo 98. Pascal 99. Paul 100. Philipp 101. Pietro 102. Ravi 103. Ricardo 104. Rino 105. Robert 106. Robin 107. Salvo 108. Simeon 109. Simon 110. Simone 111. Sinuhe 112. Stefano 113. Sven 114. Thomas 115. Torben 116. Valerio 117. Valter 118. Victor 119. Vito 120. Wilhelm 121. Wyatt : 3 Nennungen __: Name ausschließlich von der Vergleichsgruppe genannt <?page no="224"?> Elton Prifti Italo-Albanians between Dialetto and Arbërisht * The descriptive approach of Thomas Stehl 1 about linguistic variation constitutes a reliable model for a systematic analysis of the language contact. This approach is anchored theoretically on the triple perception of language as knowledge (Wissen), activity (Tätigkeit) and product (Produkt), 2 as well as on the cognitions about the language change 3 . His descriptive model is respectively based on a three-step, empirically founded functional analysis of contact-induced variation and change. 4 By focusing more on the speakers 5 , Stehl’s model has been successfully applied several times to accurately analyse the variation of a handful of Romance contact situations, like the contact between Italian and dialect in Southern Italy (Apulia) or between French and Occitan in Southern France (Périgord), 6 between French and Italian in Northern Italy (Aosta Valley), 7 between French and patois in Normandy, 8 between Spanish and Galician in Galicia, 9 or some other ongoing research projects. Stehl’s approach is also applicable in investigating migrationrelated language contact issues. Such contact situations are particularly dynamic. On that note I systematically examined, 10 with the help of Stehl’s functional analysis, also diachronically, the remarkable dynamics of the variation in the long lasting and weighty migration-caused contact between (American) English, Dialetto and / or Italiano in the USA. * I wish to express my deep gratitude to the interviewees, as well as to Giovanni Belluscio, Emilia Conforti, Kelly and Edi Prifti for their precious help. 1 See e.g. the inspiring paper Stehl (1990). 2 The triple perception of language according to Heinrich Lausberg (Potenz des Redens - Tätigkeit des Redens - Diskurs; see Lausberg (1969: 27-30), as well as Stehl (1995a) and to Eugenio Coseriu (Wissen - Tätigkeit - Produkt; Coseriu (1988)) goes back until Aristotle. 3 See in particular the essays of Helmut Lüdtke in Lüdtke 1980. 4 See Stehl (1990). The investigation object during the first step of the competence of the variation is the speakers’ knowledge of the contact languages, as well as of the contact itself. The main goal of the second analytical step of the pragmatics of the variation is the analysis of the linguistic behaviour of the speakers. Thirdly, within the scope of the linguistics of the variation above all the interfering processes from one contact language to another are materially systematically analyzed. 5 See Stehl (1995a: 77-78). 6 See Stehl (1994) and (1995b). 7 Jablonka (1997). 8 Von Nolcken (2002). 9 Bröking (2002). 10 See e.g. Prifti (2010b). <?page no="225"?> Elton Prifti 192 While in the Italian-American contact situation the Italo-Romance 11 varieties are dominated by American English, it is of interest to describe the variation in a likewise migration-related contact, but in which, on the contrary the Italo-Romance varieties dominate. Such a contact situation still persists in Southern Italy, in the Italo-Albanian communities. This particularly intensive and still enduring convergent 12 contact between Albanian and Italo- Romance varieties arose there from the installation of Albanian speaking emigrants in the wake of a steady migration from the Southwest Balkans. Below, I will focus on the variation of this contact by mainly examining the Italo-Romance varieties, based on the main principles of Stehl’s approach. 1. Introductory notes about the Italo-Albanian contact situation With the beginning of the Albanian emigration some 600 years ago to Southern Italy, a divergent evolution began between the Albanian varieties spoken by the emigrants there and Albanian in the Balkans. This gradually led to the current clear distinction between Arbërisht 13 (Italo-Albanian) and Shqip (Albanian). 14 But besides the accruement of Arbërisht, the language contact between Albanian and Italo-Romance varieties caused the Albanian influence on the Italo-Romance (dialectal) varieties 15 . This aspect is of interest for Italo-Romance studies. The goal of this paper is to empirically describe the main peculiarities of the variation in the Italo-Albanian contact, by mainly focusing on its Italo-Romance varieties and embedding them in the Romance diatopic context. In other words, I will attempt to give a structured answer to the question: What kind of Italo-Romance dialect do Italo-Albanians really speak? Brief survey of former research. Only a few articles exist containing notes about the Italo-Romance varieties spoken by Italo-Albanians. Firstly, one must mention the studies conducted from a Romance perspective. Among them are papers by Vito Matranga (1995, 2005), which present results of his research on the project Atlante Linguistico della Sicilia, a short study of Giovanni Ruffino (1983) about the language behaviour of Sicilian- Albanians in Contessa Entellina, research by Rosa Nico (1982) about the variety of Dialetto spoken in Cervicati (Calabria), as well as a previous 11 The generic term Italo-Romance comprises both, Italiano and Dialetto. 12 About this concept see Lüdtke (1980: 8-9 and 250-251), Stehl (1990) etc. 13 See also Maddalon / Belluscio (2002: 195). Arbërisht is the standard Albanian denomination of the Italo-Albanian language varieties. Among Italo-Albanians is more diffused the term Arb(ë)resh. 14 Similar situations have been clearly described in the inspiring book Trudgill (2004). See there especially p. 1, particularly the second and the third factor. 15 See also Prifti (2010a), especially pp. 376-379. <?page no="226"?> Italo-Albanians between Dialetto and Arbërisht 193 essay 16 , in which linguistic contact issues in an Italo-Albanian community in the USA are highlighted. It is also insightful to consider publications from the same Romance perspective about analogue issues, such as the investigation of the Italo-Romance varieties spoken by Gallo-Sicilians 17 , etc. There are, on the other hand, several sociolinguistic studies that focus on Italo- Albanian contact issues from an Albanological point of view. 18 These contain some very scattered indications about sporadic Albanian interferences in Italo-Romance varieties spoken by Italo-Albanians. Such elements were irradiated into the confining Italo-Romance varieties and beyond. 19 But systematic material descriptions of an Italo-Romance variety spoken either in albanophone enclaves, or in assimilated Italo-Albanian areas, are still almost totally missing. At this point it is important to stress the significance of such studies. About the empirical corpus. The empirical data that I gathered to analyse the dynamics of the Italo-Albanian contact consists mainly in thirteen in-depth interviews. I conducted and completed them during four field research sessions between April 2004 and May 2010, by using an adapted version of Stehl’s questionnaire Proposta di questionario variazionale per l’Atlante Linguistico della Sicilia (1990). The geographic distribution of the interviewees can be considered generally as representative for the polycentric Italo-Albanian reality. 20 16 See Prifti (2007), particularly pp. 279-285. 17 E.g. in Tropea (1970), the author distinguishes mainly - despite the consistent divergences in the single enclaves - between a hybrid variety of Sicilian, used by Gallo- Sicilians in communicating with neighbouring Sicilians (p. 123: “(…) un siciliano generico, più o meno ibrido e approssimativo, adoperato quasi esclusivamente nei rapporti con i forestieri.”), and a regional variety of Italian, mainly used among younger people. 18 E.g. Maddalon / Belluscio (2002). See the brief bibliographical descriptions in Matranga (1995: 320) and in Prifti (2007: 273-275). The main part of the studies concerns the Arbërisht-varieties of Calabria. 19 Prifti (2010a). 20 The geographic distribution of the Italo-Albanian interviewees is shown in the following table. The symbols of the interviewees, which appear in their cited statements, are given by capital letters (A-N). Three of the interviews are conducted with non-Italo- Albanian Italians (F*, I* and N* - therefore signalized with an asterisk -) usually from neighbouring communities. The goal was to verify the perception of the diatopic diversity of the Italo-Romance varieties spoken in still albanophone, or in only once Italo- Albanian speaking areas. Region Molise Calabria Sicily Locality Montecilfone Portocanone Montenero San Basile S. Benedetto U. Cosenza Piana d. Albanesi S. Cristina Gela S. Stef. di Cam. Interviewee A, B, C D, E F* G H I* J, K L, M N* <?page no="227"?> Elton Prifti 194 The contact from the diachronic perspective. To provide a thorough analysis of the variation in the whole contact extension is fundamental in distinguishing its main constellations. These are determined through the participating contact languages, or more precisely through the participating Italo- Romance varieties (Dialetto and / or Italiano), since Arbërisht is constantly present during the whole contact. The systematic analysis of the variation in the single subsequent contact constellations makes a diachronic description of its dynamics as a whole possible. Two main contact constellations can be distinguished, and therefore two contact phases. During the first and also longest contact phase, which will be highlighted here, Arbërisht was only in contact with Italo-Romance primary 21 dialects. For this reason this phase can be defined as the dialectal phase. Its extension should be considered from the beginnings of the Albanian settlements in Southern Italy until nearly 1950. 22 The successive constellation, which means the second contact phase, appears more complex because of the additional participation of Italian as a contact language. In other words, the contact during this phase is determined through the integration of Arbërisht into the diglossic relation 23 between Dialetto and Italiano. This contact phase, lasting approximately from 1950 until nowadays, can therefore be denominated as the diglossic phase. Its dynamics will be analyzed in a future paper. During the fieldwork I only noticed very sporadic, therefore quantitatively negligible cases, in which the contact consisted only between Italiano and Arbërisht, which is structurally rather similar to the contact in the first phase. Furthermore, to make a more precise analysis of the variation possible, other fundamental distinctions 24 other than the distinction of contact phases must be systematically considered. 25 The contact naturally evolves (or evolved) with specific dynamics in the single numerous Italo-Albanian enclaves. Nonetheless its common denomi- 21 About the three main dialect typologies in the Romania according Coseriu, see Coseriu in Albrecht / Lüdtke / Thun (1988: 27-28). 22 Conscious about the difficulties on specifying any timeframes on periodizations, I must emphasize that the time-limits should be therefore considered more as benchmarks. Primarily important for the analysis is in any case the distinction of the different contact constellations. 23 See also Gambarara (1980: 59). 24 Just to mention some of them: the distinction of speaker’s generations, of levels of the diatopic differentiation (local and regional), the dichotomy endogenous vs. exogenous (used by Stehl; see also Lüdtke (1987: 383)), primary vs. secondary code, etc. 25 The necessity of the division into periods for the description of Arbërisht was already recognized by some authors. See in particular the differentiation in Maddalon / Belluscio (2002: 194-196). Distinctions in periods based on varying criteria, mainly on the assimilation process of Arbërisht have been also made e.g. in Camaj (1977: 17-18), Gambarara (1980: 59-60), Birken-Silverman (1992: 3-14), etc. <?page no="228"?> Italo-Albanians between Dialetto and Arbërisht 195 nator is the convergence between Italo-Romance and Arbërisht, or in other words, the progressive erosion of the last mentioned. It follows an analysis of the main contact dynamics in the dialectal phase, with particular regard to the dialectal contact varieties. 2. Notes on the contact variety during the dialectal phase The contact languages. The contact languages during this phase are Dialetto and Arbërisht. Both can be considered as ‘historical languages’, in the sense of Coseriu 26 . He indeed contrasts the historical language to the dialect, but he further points out that the dialect presents the closest form to the historical language. 27 Stehl further develops this interpretation. 28 Dialetto can potentially be perceived as a historical, contact language. 29 What about Arbërisht? As I mentioned above, Arbërisht presents a gradual endogenous and divergent evolution of Albanian in Southern Italy. Arbërisht diverges therefore from Shqip not only materially. This also cultural distinction widely determines the perception of an Italo-Albanian identity, as I continuously noticed during the fieldwork. For these main reasons Arbërisht possesses the characteristics of a historic language. The contact typology. Albanian and Dialetto got in touch in the single enclaves, usually right by their constitution, as soon as the cultural contact with the neighbouring Italian communities initiated. This is supported by historical and linguistic evidence, e.g. the Romance interferences in early Arbërisht, as even the early Italo-Albanian literary works attest. 30 In order of the differing influence of extra-linguistic factors on the contact in the single enclaves, its dynamics also vary considerably. In other words, the modalities of the assimilation process of Arbërisht diverge consistently. At the beginning of the 19 th century Arbërisht was in several communities entirely assimilated or markedly eroded. Even in those homogeneous and compact Italo- Albanian enclaves, where Arbërisht was definitely the primary code, evidence of the on-going erosion can be confirmed by means of numerous dialectal interferences 31 . 26 Coseriu, in: Albrecht / Lüdtke / Thun (1988: 45-61). 27 “(…) der Dialekt [ist] seinem Status nach diejenige Form der historischen Sprache, die der historischen Sprache selbst am nächsten liegt.”, see Coseriu, in: Albrecht / Lüdtke / Thun (1988: 51). 28 Stehl (1995b: 58). 29 See also the results presented in Prifti (2010b: 4-5) concerning the Italian-American contact situation. 30 See e.g. the Italo-Romance interferences in Ghiella e S. Mëriis Virghiër (1762) of J. Varioboba, mentioned in Birken-Silverman (1992: 16, fn. 27). 31 It is interesting to mention e.g. the Arbërisht-variety of Piana degli Albanesi (Sicily), one of the most solid and better conserved Italo-Albanian varieties, which conserves even <?page no="229"?> Elton Prifti 196 From a sociolinguistic point of view, two main contact typologies can be distinguished, which also tend to coincide chronologically with the evolution of the contact. In the initial phase of the settlements, on one hand, it seems that between the contact languages a clear slope of prestige did not rule. Bilingualism probably prevailed and the contact itself could be defined as horizontal 32 , characterized by the stability. On the other hand, especially during the last decades of the dialectal phase, as well during the following phase, diglossic relations in the (still) Italo-Albanian-speaking communities ruled, with Italo-Romance as high variety. Analogue relations between the contact languages very probably prevailed already much earlier in those hardly known Italo-Albanian enclaves, where Arbërisht was assimilated starting early on. 33 However, despite the typology, the reciprocal interference process - of different intensity and dynamicity - distinguished the contact in the single enclaves. 2.1. About the competence and pragmatics of the variation For a systematic description of the contact evolution during the dialectal phase, it is necessary to clearly distinguish within it three main contact situations, which can theoretically exist also contemporaneously in diverse enclaves. But these can also constitute three consecutive stages of the contact evolution in a single Italo-Albanian enclave. In the first contact situation Arbërisht was actively spoken and presented the primary code. The contact was stable and lasted in this form usually for several successive generations. In the second contact situation the erosion of Arbërisht was advanced and it was only occasionally used. Lastly, in the third contact situation, which can be found actually in several communities, Arbërisht was briefly abandoned. Let us now have a look at the main characteristics of each one of the three contact situations. The following conclusions, especially concerning the last 50-100 years, are partly based on metalinguistic interpretations of interviewees about the competence and the pragmatics of the variation of their Italo- Albanian parents, grandparents (or sometimes even great-grandparents). The information sources concerning the period until circa 1850 consist of several sporadic descriptions and evidences spread in the large and manifold literary production on the Italo-Albanian, as well as further on the Southern Italian reality. 34 some Sicilian archaisms, that have been already assimilated in the Sicilian varieties themselves. See therefore Stassi (1983: 99), Matranga (1995: 322, fn. 37, 328), etc. 32 See Stehl (1987), Lüdtke (1980: 250-251). 33 E.g. the Italo-Albanian communities of Salento (Apulia), in the so called Albania Salentina. See also Camaj (1969), Gambarara (1980: 61), Birken-Silverman (1992: 4), etc. 34 The authors usually generalized their observations made in single Italo-Albanian enclaves for the whole Italo-Albanian reality. <?page no="230"?> Ital Th kno hal a D ney an men me Alb rul bey for ade we Ital 35 36 37 38 39 40 41 lo-A he fi owl lf of Dom y (1 enc nte entio ban le a yon rewo e la e fin lo-A Cam (Mo hab sho unt the [Th Ital “ins See Alb red rou Ma labr còr p. 2 Em the dia [In am Alban irst ledg f th mini 1576 clav ma ons nian also nd 39 , ord ater, nd th Alba mpo olise bitato ore, i til n ir re hese lian segn e pp banes dact undin atran ria a per 2r, ci bsva firs alect. the mong nian con ge i he 16 ican 6) to ve C han s a c n ch am , as d of , in he f ania omar e). R o da inha not lo eligio Gre lang na a i . 1rse, co a v ngs nga and esser ited ame st wo . ese n g them ns be ntac in It 6 th c n pr o Sa Cam nno cler ildr mon the his a c follo ans rino Razz grec abite ong ous eeks guag i loro -1v o oncio ersio is n also Apu r gra from e ch ork w near m sp etwe ct s talo cent reac anto mpo anc ric o ren. ng th e Ita s Do celeb owi in C Fi is o i fou ci” [a ed by ago Byz s spe ge.]. o fan of th osa c on ( ot w o em ulia, ati at m M ræst writ r vill peak een D itua o-Ro tury cher o An oma cora of t . At he aloottri bra ing Cal gure one o und a wa y Gr o, w anti eak nciull he m che l’ (…) well u mpha will tanti Mand teræ tten lage k the Dial atio oma y. It r na nge rino la l the t th Ital Alb ina ted not abr e 1: of th at t alled reek was c ine R amo li la ms. A ’Itali in o und asize l als i cen dalà is a by a es liv eir n letto on. T ance t is ame lo, d o 35 . ling vill e sa lo-A bani chr pu te a ria: Ima he fo that d vill ks], c comm Rite. ong lingu A: “ iana our ersto es th so be tina 2004 actua an It ve a nativ o an The e va fitti ed F dur He ua I lage ame Alba ian ristia ublic bou age f our I time lage cited mon the ua la “(…) che mot ood hat o e gra ra di 4: 14 ally taloa lot ve lan nd A e fir arie ing Fra ring e tes Itali e, w e tim ania orth ana 4 cati ut th from Italo e a “ e of m d fro nly u emse atina ) ho va a ther from othe atefu i cas 40. the -Alb t of ngu Arbë rst k eties to Ser g wh stifi iana who me, ans hod 40 s ion he l m M o-Alb “ Cas may m th used elves a .”. W uolu atorn r-lan m ou er A ul fo ali c seco bania me uage, ërish kno s of men rafin hich ies: a.” 36 tea , sim of dox ixte by ing Maraf bani sale ybe o he ed d to s in With uto f no no ngua ur p Alban or his he in ond an a n, a , but ht own f Ita ntio no R h he “Fa 6 . In ache mila Pia cle een the guist fioti ian c mur one ditio den the h ling far u on è d age, eopl nian s tra n cal old as we and t wit n ind alo-A on f Raz e als avel n the es t ar c ana ric yea e Fra tic b i (16 centr rato d hun on D nomi eir G gua una v da’ n con le], c ns, li ansla abria dest p ell a wom th us dica Alb first zzi i so m lano e en the com deg Luc ars anc beh 601, res o di fo ndred De R inate Greek latin versi nostr nscio cited iving ation a et p pub as th men s the atio bani tly t in th mad o qu nsui Lat mpet gli ca M late cisca havi IV, of th orse c d he osa e (It k w na is ione ri ben us t d fro g in n int pugl blicat he fir n, th ey sp ons ians the he a de a uesti ing tin 37 tenc Alb Mat er (1 an G our 273 he Pr cento earth 2007 taloway b pro (…) n int that om M num to A lia vi tion rst o hat w peak abo s da ind acco a sto i gr sen 7 la ce r bane ran 159 Giro r an r) 41 rovi o fuo hs (f 7: 97 -)Alb but obab ) in tesa the Man mer Alban i son of A one w we c k ou out ate t dica oun op i reci nten angu elat esi nga n 2). olam nd co ince ochi, ami 7. No bani they ly m n(os (…) e Ital dalà ous nian no di Alba writ call ur lan the to t tion nt o in th tra nce uag tion (Sic not Abo mo omp of C in s lies) ote t ians, y st mean st)ra ” [I lian à 200 vill : “(… gen ania ten Alb ngua idi he n gi of hi he A loro Raz ge to ns s cily tices out Ma pete Cam su la ), up that , bec till h nt Ita ling pref of 04: 1 lages …) sa te al an lit in th ania age iom sec iven is jo Alb o gr zzi a o It eem y) 38 s in t a d araf enc mpob a ma pside ‘Gr caus have alian gua n ferre the 138-1 s of ariàn lbane terat he T ans, (…) 197 matic ond n by ouranirecaalso alom to and the decioti ce of basso arina e the eek’ se of e the n. natia ed to sur- 139. f Can anese. ” ture Toskthat .]. 7 c d y - - o o d e - , f o a, e , f e a o - - - , e, t <?page no="231"?> Elton Prifti 198 Similar metalinguistic indications appear more frequently and variously during the successive 250-300 years. It appears clearly that in this contact situation the Arbërisht-varieties usually constituted the primary code, which was normally used in pragmatically non marked situations in everyday communication within the Italo- Albanian community. 42 Nonetheless, it is difficult to establish with certainty the type of the contact, if horizontal or vertical 43 , or in other words, if it is a matter of a diglossic contact situation or not. Let us focus on the contact varieties during this contact stage. The interviewees perceived the Arbërisht spoken by their primary Arbërisht-speaking (grand)parents as non-defective, despite its Italo-Romance interferences. They denominated this kind of Arbërisht as stretto ‘rough’, autentico ‘authentic’, arbrèsh-arbrèsh 44 ‘proper Arbërisht’, vasto ‘broad’, etc. This positive perception is due to the comparison the interviewees made between it and their own Arbërisht, which was even further italianized. [3] K: Gli andichi, parlavano l’arbresh angora meglio di noi. Noi l’abbiamo italianizzato un po’, qualche parola, invece i vecchi no. Parlano proprio un albanese stretto. [People of old generations spoke Arbërisht better than we do. We have italianized it a bit, some words, while the old people no. They speak right a rough Albanian.] The Italo-Romance dialect varieties, on the other hand, present the secondary code, which is defective because of the various Albanian interferences. Among the denominations of this contact variety I also registered Ljëtìsht 45 shtrëmblaq ‘distorted dialect’, dialetto finto ‘false dialect’, pseudodialetto ‘pseudo-dialect’, etc. [4] M: Raccontava che non erano competenti per poter parlare bene in dialetto, ma provavano lo stesso a parlare in dialetto, e gli altri ridevano perché sbagliavano, perché non parlavano come loro, era ovvio no? , un po’ la pronuncia, eccetera. [He said that they weren’t competent to speak well in dialect, but nevertheless they tried to speak in dialect, and the others laughed because they made errors, because they didn’t speak like them, this was obvious, right? , a bit the pronunciation, etcetera.] 42 Such relations ruled in several enclaves also until the end of the dialectal phase. See e.g.: [1] H: Arbrèsh era la lingua sua (della nonna), era la lingua di sfogo, di pianto, di gioia. Di tutto. [Italo-Albanian was her language (of the grandmother), it was the language of abreaction, of complaining, of happiness. Of everything.], or [2] B: Un ng’flas ltisht kur jimi gjith’ na. Duket shëmtur. [I don’t speak Italian / Dialect when we are among us. It seems ugly.] 43 This concept is used initially in Stehl (1987: 411). See also Weinreich (1977: 131). 44 See Prifti (2007: 282). 45 About the etymology of the denomination ljëtísht, which is usually used as a synonym for Italo-Romance, see Çabej (1964: 16), etc. <?page no="232"?> Italo-Albanians between Dialetto and Arbërisht 199 Similar relations also ruled among Molise-Albanians, as Di Lena 46 underlines: [5] A Termoli e a Larino (…) i ragazzi albanesi venivano fermati dai coetanei italiani ed erano costretti a dire una frase in dialetto molisano; riconosciuti per il loro accento inconfondibile, i ragazzi arbëreshë venivano percossi. [In Termoli and Larino (…) Albanian boys got stopped from their Italian mates and were forced by them to pronounce a phrase in the Molise-dialect; recognized for their unmistakable accent, the Italo- Albanian boys were beaten up.] This contact variety was selected generically 47 only for the communication with non-Italo-Albanians, as the following affirmations show: [6] D: (...) mia madre sì... Ah, gli anziani capivano il dialetto molisano, e lo parlavano pure, sì... perché molti non sono andati alla scuola, perché non hanno imparato l’italiano. [(…) my mother sure... Ah, the old people understood the dialect of Molise, and also spoke it, yeah... because a lot of them didn’t go to school, because they didn’t learn Italian.] [7] B: Ottanda-novant’anni fa, quando mio nonno andava pr’esempio a Montenero o i paesini d’intorno, quelli là (…) tutti parlavano dialetto, allora i miei nonni (…) dovevano parlare in dialetto, il molisan’, se no non li capivano (…). [Eighty-ninety years ago, when my grandfather used to go e.g. to Montenero or to the neighbour villages, folks there (…) they all spoke dialect, so my grandparents (…) must have spoken in dialect, the molisano, otherwise they wouldn’t have understood them (…).] [8] K: Era una forma di dialetto che serviva per parlare con tutti gli altri... con tutte le persone che non erano arbrèsh e che venivano in paese, o quando loro (gli italoalbanesi) andavano in altri paesi vicini (…). [It was a kind of dialect that served for communication with all the other people... with all the persons who were not Arbrèsh and that came in our village, or when they (Italo- Albanians) went in other close villages (…)] Concerning the architecture of this convergent contact situation, it has only been possible to distinguish the following varieties, though - as I underlined - without being able to define with certainty if it is a matter of vertical or horizontal contact. There are, first of all, the extremities of the contact: 46 Di Lena (1983: 116). 47 This concept is introduced in Jablonka (1997: 222-225). <?page no="233"?> Elton Prifti 200 Arbërisht stretto (or the contact variety with the symbol A+ 48 in Figure 2) and the Dialetto puro ‘pure dialect’ or Dialetto without (Albanian) interferences 49 (D+). What‘s more, there is the defective variety, Dialetto with numerous Albanian interferences (D- -), which is a part of the intermediary area of the contact. The distinction between the contact varieties D- and D+ appears clearly also in the citations 4 and 5. The second contact situation. In this stage the contact is definitely determined by a diglossic relationship between the contact languages, with Arbërisht as a low variety, and is therefore vertical and convergent. The Italo- Romance dialect varieties spoken by Italo-Albanians, in which Arbërisht has left some material traces (D-), had become for them the primary variety. Concerning Piana degli Albanesi, Matranga identified and briefly described this variety as follows: “A Piana, il mantenimento della prosodia arbërisht quando si parla litisht (italiano / siciliano), viene detto, con termine siciliano, katambota: flet (litisht) me a katambota (arbëreshe) (…).” 50 Until circa 1945 the Sicilian dialect was there, according to Di Sparti: 51 the vernacular of the non-written culture. On the other hand, Arbërisht appears largely assimilated through Dialetto. It constitutes the secondary and particularly defective code (A-), because it is determined through numerous Italo-Romance interferences. It is denominated from the speakers as albanese imbastardito 52 ‘bastardized Albanian’, arbrèsh gjimsë-gjims 53 ‘semi-Arbërisht’, Arbreshíno 54 ‘little Arbërisht’, etc. In summary, besides the acrolect (D+) and the basilect (A+), the architecture of the contact during this stage also contains mesolectal varieties. These are the defective Arbërisht (A-), selected in pragmatic marked situations, and the generically selected Dialetto with a few Albanian interferences (D-), as is also shown below in Figure 2. 55 It can be generalized that the less compact the Arbërisht spoken in the single enclaves, the greater the importance of Dialetto. 48 The model of the denomination of the single contact varieties, as well as the graphic presentation of the architecture is based on Stehl (1994), et al. 49 This contact extremity consisted in the local or provincial primary Italo-Romance dialect varieties, spoken in the neighbouring, non-Italo-Albanian villages. 50 Matranga (1995: 323, fn. 44) [In Piana, the maintaining of the Arbërisht-prosody when somebody speaks Litisht (Italian / Sicilian) gets expressed with the Sicilian term katambota: speaks (Litisht) with a katambota (of Arbëresh) (…).]. 51 Di Sparti (1983: 195). 52 1880, according Luigi G. De Simone, in Faggiano (Salento), the Italo-Albanians spoke an albanese ‘imbastardito’, cited from Gambarara (1980: 61). 53 Prifti (2007: 283). 54 Matranga (2005: 347). 55 The distinction between the contact varieties A+ and A- appears clearly in the statement 3. Concerning the difference between the contact varieties D+ and D- see e.g. the citations 10, 13 and 16. <?page no="234"?> Italo-Albanians between Dialetto and Arbërisht 201 The third contact situation. Lastly, in the third contact situation, Arbërisht appears assimilated. Even cursory investigations on the dialect varieties, spoken in enclaves where Arbërisht has been abandoned only during the last century of the dialectal period, will be able to show Albanian interferences in these varieties. It is therefore possible to establish in this stage, besides the Dialetto without interferences, only the contact variety Dialetto with a few Albanian interferences (D-), which is selected generically. 56 The convergence process in this stage is characterized by a slower progress than in the preceding stage. This gives usually stability to the contact. The contact variety Dialetto with a few Albanian interferences appears stable even over decades according to some interviewees, e.g. in Mongrassano or Cervicati. [9] G: La diversità, diciamo, resta e resterà per un bel po’ di tempo, anche dopo che gli arbrèsh non parleranno più arbresh, come a Mongrassano, per esempio, ma anche in tanti altri casi, Cervicati, eccetera. Questa cosa si può sentire ancora bene in qualche parlante di Mongrassano, che ha perso l’arbrèsh da forse una settantina d’anni o più, però gli abitanti hanno ancora un modo di parlare con l’accento che richiama un po’... l’arbëresh. [The diversity, let’s say, remains and will still remain for a good period of time, also after the Arbëreshë will not speak Arbërisht any more, like in Mongrassano, for example, but also in other cases, Cervicati, etcetera. This can be still heard in Mongrassano, where the Arbërisht disappeared some seventy or more years ago, but the inhabitants still have a way of speaking with an accent, that reminds one a bit of Arbëresh...] In conclusion of this section, since the single described contact situations could also be structurally considered as consecutive stages of the contact in the same enclave, it is possible to hypothesize the following general architecture of the contact during the dialectal phase by connecting and hierarchically combining the results reached for each stage. This therefore implies a contact architecture composed of five grades. It has been possible to identify besides the Dialetto without interferences (D+) a defective (D- and A-) and a less defective variety (Dand A+) for each contact language, as Martin Camaj also correctly emphasized over forty years ago: “(…) per ognuno il suo sistema è “perfetto”, mentre per l’altro (per l’arbëresh l’italiano e per l’italiano l’arbëresh) il sistema non suo è “difettoso”. 57 56 Concerning the difference between the varieties D+ and Dsee e.g. the citation 9. 57 Camaj (1977: 11) [(…) for everyone, the own system is “perfect”, while the other (Italian for Italo-Albanians and Arbërisht for Italians) the non-own system is “defective”.]. <?page no="235"?> Elton Prifti 202 Figure 2: Proposal of the architecture of the contact during the dialectal phase 2.2. Linguistics of the variation Subsequent to the analytical notes about the knowledge of Italo-Albanians of the contact gradation 58 as well as of the main dynamics of the selection of the single contact varieties in the communication, it is necessary to materially analyse in this third step the single contact varieties. I will only 59 focus on the two contact varieties based on Dialetto: the Dialetto with numerous Albanian interferences, or the defective variety, present only during the first contact situation, as well as the less defective variety, Dialetto with a few Albanian interferences, present during the second and third contact stage. Since the direct linguistic material I could gather is limited, the following analysis of the two varieties is constantly also based on the metalinguistic knowledge of the interviewees, as well as on the results reached by other authors. 58 On the concept gradatum and gradation in the contact variation see Stehl (1988). 59 Due to the limited space in this paper, the material description of the two Arbërisht based contact varieties, Abërisht with a few interferences from Dialetto and Arbërisht with numerous interferences from Dialetto will not be addressed. Summarizing the investigation results, I ascertained that these varieties are also materially clearly distinguishable. <?page no="236"?> Italo-Albanians between Dialetto and Arbërisht 203 Dialetto with numerous Albanian interferences. The interferences from Arbërisht of this variety normally occur in all grammatical levels, which is also the reason why it is perceived as defective. This is due to the fact that Arbërisht embodies the primary code of the speakers in the first contact situation. First of all, it is important to underline, that the interferences diverge in the single dialect varieties spoken in the respective enclaves. The following notes will briefly describe the most diffused interferences according to the single grammatical levels. Some of the most noted common interferences on the phonetic level are: the weakening of the strong consonants, 60 e.g. [Tä`luT: E] 61 (mol. cellúcce ‘little bird’) instead of [Tä`l: uTE], the stronger pronunciation of the weak consonants, 62 e.g. [`mil: u] instead of [`milu] (cal. milu ‘apple’), the fricative realisation of the voiced dental occlusive [d] > [ð], e.g. [`ðO: pu] (sic. dopu ‘after’) 63 , [`päði] (sic. pedi ‘foot’), the aphaeresis, e.g. [ni`Ti#adu] instead of cal. [Áni`Ti#aD: u] ‘little lamb’, mulari instead of cal. ammulari ‘(to) sharpen’, etc. Due to the specific interferences of single enclaves, it is sufficient to cite some results of the research of Vito Matranga, concerning Piana degli Albanesi 64 : the fricative realisation of the voiced velar occlusive [g] > [Q] e.g. [pa`†ari] (sic. pagari ‘to pay’); the velarisation of the lateral [l] < [Q] e.g. [Qa`ñ: usu] (sic. lagnusu ‘loafar’) , [m: ] > [mb] and [n: ] > [nd], e.g. [pa`lumbu] (sic. palummu ‘pigeon’) and [`mänduli] (sic. mennuli ‘almonds’). As far as the varieties spoken in Calabria are concerned one may specify the following two features: 60 See also the following confirming opinion: [10] M: Gli albanesi non c’hanno le doppie. Quest’è proprio la cosa più... È diversa la doppia erre, perché se dice ‘u carru’ lo dice con la erre di ‘rrota’. C’hanno la elle, la doppia elle, che non è italiana, che è diversa. Queste sono le cose proprio più forti.” [Albanians do not have double consonants. This is the feature, which mostly… The double ‘r’ is different, because if he says ‘u carru’, he pronounces the ‘rr’ like in (the Albanian) ‘rrota’. They also have the ‘l’, double ‘l’, which is not Italian, it is different. These are the most marked features.] 61 The example was registered in Montecilfone. 62 See e.g. the second part of the statement 10, cited in the previous footnote. 63 See also the statement 12. 64 See Matranga (1995: 328). Other features mentioned there (321-322 and 327-328), appear also in the Italian variety spoken in Piana. <?page no="237"?> Elton Prifti 204 the occlusive or fricative realisation or even the substitution through the nexus [dr] of the voiced retroflex [D], e.g. [`idu], [`iðu] or [`idru] 65 instead of [`iD: u], and the loss, or the weakening of the consonantic aspiration (e.g. in Caraffa, province of Catanzaro). Concerning the morphosyntax, some of the most diffused common interferences from Arbërisht are 66 the adaptation of the gender of the substantives on the gender they have in Arbërisht, e.g. non-differentiation between the gender of trees and their fruits, 67 the inadequate use of some prepositions, calquing, etc. Also on the lexical level the interferences have been quantitatively considerable, as some interviewees affirm. It is of interest to cite the following metalinguistic affirmation from an interview, which summarizes the main interferences I mentioned above quite well: [12] G: Ma che c’era di diverso... La pronuncia era, era particolare (…) come per esempio... anziché dire [d] dicevano [ð], [`ðopu], oppure... ma anche la melodia della frase, ecco, sono cose che mi ricordo (…). E poi soprattutto le frasi erano un po’ ricostruite diciamo, la loro struttura era un po’ dell’arbëresh, praticamente no? [So, what was different... The pronunciation was, was particular (…) like for example... instead of pronouncing [d] they pronounced [ð], [`ðopu], or... but also the melody of the sentence, are things that I remember (…). And then, above all the phrases are a bit - let us say - reconstructed, their structure was a bit the one of arbëresh practically, right? ] It is now the turn of the material analysis of the other dialectal based interlectal contact variety, Dialetto with a few Albanian interferences, which is the primary code of Italo-Albanians, either in the second, or in the third 65 The use of this form had also been confirmed from an interviewee, in the following statement: [11] Quindi, tua nonna sapeva il calabrese... H: Non sapeva il calabrese. Cioè, conosceva un calabrese di un paese arbresh. Capito? Di San Benedetto? H: Mah, San Benedetto non ce l’ha un calabrese proprio, capito? Potrebbe essere… un modo diverso di dire una parola dialettale del paese vicino, che è italiano. Per dire LUI, per esempio, a Cosenza si dice [`iD: u] (...), e gli albanesi che non hanno questa [D] (...) lo pronunciano [`idru] oppure [`id: u]. E mia nonna diceva [`idu]. [So, your grandmother spoke Calabrese. H: No, she didn’t really speak Calabrese. I mean, she spoke a Calabrese of an Italo-Albanian village, You know? (The Calabrian dialect) of San Benedetto? H: Hm, San Benedetto doesn’t have really its own Calabrese, you know? It can be... a kind of a different way of pronouncing the words of the dialect of the neighbour village, which is Italian. To say LUI (he), e.g. in Cosenza they use [`iD: u] (...), and the Albanians, which don’t have that [D] (...) pronounce it as [`idru] or even as [`id: u]. And my grandmother said [`idu].] 66 Concerning Piana degli Albanesi see also Matranga (1995: 323 and 327-328). 67 See also Candreva / Stamile (1979: 28). <?page no="238"?> Italo-Albanians between Dialetto and Arbërisht 205 contact situation. The few Arbërisht interferences are usually phonetic and lexical. On the phonetic level, one must mention above all the prosodic traits, which are also present in the defective dialectal variety. These were identified also by the majority of the interviewees, comprising above all the non-Italo-Albanians. 68 Finally, it is of interest to analyse the lexical interferences. In order to create a more realistic opinion about their quality it is opportune to particularly focus on the local Italo-Romance dialectal varieties spoken in former Arbërisht speaking Italo-Albanian communities. There are several notes on this subject, mainly dispersed in the Albanological works. 69 Some of these remote lexical elements are e.g. the lexeme lâlë ‘uncle’ < arb. ljaljë, in the local variety of Santacroce di Magliano (Province of Campobasso), where Arbërisht was spoken until circa 1650 70 ; telja ‘sheep’ < arb. delje, registered 1960 from Martin Camaj 71 in the local variety of Gizzeria (Province of Catanzaro) or u brumbulu ‘beetle’ < arb. / alb. brumbull, present in the dialectal variety of Cervicati 72 . But to systematically analyse the Albanian interferences in the dialectal varieties of the former Arbërisht-speaking localities, detailed dialectological investigations of these varieties are necessary. A good example of the availability of such largely missing studies is the thesis of Rosa Nico about the dialectal variety of Cervicati. This study contains - despite its deficiencies - valuable empirical material. Some morphological traces of Arbërisht can probably be found there, e.g.: in the rather rarely used form of the personal pronoun tuni 73 ‘you’, in which the nexus -ni seems to be derived from the analogue, limitedly diffused Albanian supporting suffix of the singular personal pronouns -në or -na, 74 like arb. / alb. tinë, etc., or in the formation of some compound tenses 75 . The lexical interferences appear more various. Some of them are: bukurasse ‘nice’ (< arb. / alb. bukur), besti 76 ‘faith’ (< arb. / alb. besë), kokara 77 ‘a lonely person’ (< arb. qoqar ‘headman, gentleman’), scuarpu 78 ‘branchlet’ (arb. / alb. 68 See the statements 13, 14 and 16. 69 For a review of some of these elements see Prifti (2010a: 376-377). 70 According Gambarara (1980: 60), this lexeme is initially indicated 1912 in Marchianò, Michele (1912): Canti popolari albanesi della Capitanata e del Molise, in: Apulia III, 40-47. 71 Camaj (1974: 7). 72 Information communicated orally (October 29 th , 2009) from Giovanni Belluscio, to whom I am deeply grateful. 73 Nico (1982: 33). 74 Concerning this suffix see particularly the indications in Xhuvani / Çabej (1962: 69-70). 75 See e.g. Nico (1982: 40, 41) etc. 76 See Nico (1982: 294), also concerning the previous example. 77 Nico (1982: 313). 78 Nico (1982: 339). <?page no="239"?> Elton Prifti 206 shkarpë), or even set phrases like istinove? 79 ‘What’s new? ’ (< arb. Ç’është nova? , where nova presents a remote borrowing), etc. To better highlight the intensity of the impact of Arbërisht on the Romance dialectal varieties one should refer to those Albanian elements irradiated in the dialectal varieties of non-Italo-Albanian neighbouring localities, but also further. The most well-known cited example is the set of derivations from the verb arb. gjegjënj ‘(I) hear’. 80 It is also worthwhile to emphasize that some Arbërisht interferences, especially on the phonetic level, can be found in all Italo-Romance contact varieties, regardless of whether these are Italianor Dialect-based. 81 Those common interferences serve as markers to cognitively establish the origin of the speakers of these varieties. On that note, the prosodic elements are particularly relevant, which were indicated as distinctive elements from almost all the interviewees, as I emphasized several times above: [13] I: Quando parlano dialetto, ma parlassero pur’ italiano, è lo stesso; si sente che è albanese. 82 [When they speak Dialect, but even if they speak Italian, it’s the same; you can hear, that the person speaking is Albanian.] [14] Che cos’è diverso? F: È soprattutto la pronuncia, sicuramente, non è la stessa pronuncia, la stessa melodia, lo senti subito… [What is different? F: It is above all the pronunciation, surely, it is not the same pronunciation, the same melody, you can hear it right away…] [15] C: Io riesco a capire se uno isht arbrèsh di Calabria o della Sicilia, o calabrese o siciliano. Io riesco a capirli se quelli son’ arbresh o no, kur parlano ltisht. E ne ho già pizzicati una decina. Flàsin arbrèsh in italiano, kur flàsin... [I’m able to recognize if one is Arbëresh from Calabria or from Sicily, or Calabrian or Sicilian. I’m able to recognize; whether they are Albanian or no, when they speak Italo- Romance. And I have already gotten some ten of them. They speak Arbëresh in Italian, when they speak…] 79 Nico (1982: 296). 80 For a detailed survey of the etymons derivations and their diffusion, as well as for other examples see Prifti (2010a: 377, fn. 15 and 378-379). 81 Concerning Piana degli Albanesi, Vito Matranga proposes similar conclusions. See Matranga (1995: 321-322 and 327-328). 82 I registered a similar statement during my field research about the Italian-American contact. See Prifti (2010b: 10): U palemmitanu je. Se parla ‘talian E , se parla ‘ngles E , la ntunat E ce l’ha u stess E . [People from Palermo also. Whether they speak Italian or English, the (Sicilian) accent can be heard anyway.]. <?page no="240"?> Italo-Albanians between Dialetto and Arbërisht 207 [16] A: Qualche altro albanese che viene dalla Sicilia o dalla Calabria, io me ne accorgo subito che sono arbresh, perché come parlano, la flessione delle parole che c’hanno, pr’esembio, ‘Dove vai? ’ (imitando i tratti prosodici). [Some other Albanian that comes from Sicily or from Calabria, I’m able to recognize it immediately that they are Arbëreshë, because of how they speak, the diffraction of the words that they have, for example ‘Where are You going? ’ (imitating the prosody).] [17] J: Si capisce benissimo, appena apri la bocca a parlare, due parole e si capisce benissimo. [It is easy to understand, as quickly as I open my mouth, as I say two words and one can perfectly hear it out.] The third analytical step materially confirmed 83 the classification of the variation, based on the speakers’ knowledge of the gradation in the single contact stages. 3. Diatopic features of the Dialetto spoken by Italo-Albanians The analysis of the diatopic classification of hybrid varieties further completes the investigation of the variation of migration-caused language contacts. It can also contain interesting theoretical insights. Concerning the present contact situation, the theoretical description of the diatopic characteristics of the dialect-based contact varieties, as well as their embedding in the Italo-Romance diatopic context presents an interesting and still new dialectological task. This seems to be difficult at first glance, since several interviewees - whether Italo-Albanians or not -, or even linguists, 84 note a missing stability and homogeneity of such varieties: [18] L: Parlavano (…) una specie di dialetto un po’ misto, perché non potevi dire, che era un dialetto di uno dei paesi vicini. Era un dialetto misto, era una forma di dialetto. (…) Usavano parlare in questa... questo specie di dialetto, che era, un po’ un misto tra questi dialetti, diciamo... [They spoke (…) a sort of a mixed dialect, because you couldn’t say that it was the dialect of one of the neighbouring villages. It was a mixed dialect, a form of dialect. (…) They used to speak in this… that sort of dialect, which was, somehow, let’s say, a mixture between these dialects...] 83 Consider also the footnote 59. 84 Concerning Piana degli Albanesi Matranga (1995: 322) underlines: “Ma di questo siciliano (se mai c’è stata omogeneità di sistema) nulla sappiamo.” [But about this Sicilian (if it has ever been a homogeneous system), we do not know anything.]. See also Nico (1982: 10). <?page no="241"?> Elton Prifti 208 But it may be possible to reach a structured diatopic classification if we operate systematically by distinguishing between the regional and the local levels of the diatopic differentiation, as well as by taking into account some specificities of the three contact stages. The variety Dialetto with numerous Albanian interferences, spoken in the first contact situation by primarily Arbërisht-speaking Italo-Albanians, is firstly classifiable on the regional diatopic level. Some interviewees also confirmed, like the following statements show: [19] Allora che dialetto era? G: Era un dialetto che non si capiva bene che dialetto era. Comunque era un dialetto calabrese, ma non potevi dire è proprio il dialetto di Morano, o è di Castrovillari o è di Saracena. [Then, what kind of dialect was that? G: It was a dialect, which was not clear what dialect it was. However, it was a Calabrian dialect, but you couldn’t say that it was right the dialect of Morano, or of Castrovillari, or of Saracena. [20] E quale dialetto parlavano? H: Imitavano il dialetto dei paesi limitrofi, anche perché San Benedetto e tutto circondato da comunità italiane, Vaccarizzo, poi c’è Montalto, Lattarico. Comunque è calabrese. In più una specie di cosentino, ma senza la [D] di [`iD: u] e [kuD: u`rIeD: u], capito? [What kind of dialect did they speak? H: They imitated the dialect of the neighbouring villages, also because San Benedetto is encircled by Italian communities, Vacarizzo, then there is Montalto, Lattarico. However it is Calabrian. What’s more, a sort of Cosentino, but without the [D] of [`iD: u] and [kuD: u`rIeD: u], you know? Concerning the classification on the local level, in some cases the interviewees were also able only to identify a local diatopic orientation of single dialect varieties spoken by primarily Arbërisht-speaking Italo-Albanians. In these cases it was however a matter of non-Italo-Albanians or of primary dialect-speaking Italo-Albanians. [21] H: Guarda, il calabrese che parlava un’amica di mia nonna, la zia di mio padre, di Falconara, assomiglia di più al dialetto di Paola, che è vicino a Falconara. Lo dico perché l’influenza di Paola io la riconosco. Hanno l’intonazione, una cadenza, che è molto pronunciata. [Look, the Calabrian that a friend of my grandmother spoke, from Falconara, resembles more to the dialect of Paola, which is close to Falconara. I say this because I recognize the influence of Paola. They have the intonation, a cadence, which is very clear. The orientation toward a neighbouring local variety becomes clearer if concerning the dialect variety of the second and third contact stage, i.e. Dialetto with a few Albanian interferences. Its diatopic peculiarities are defined more <?page no="242"?> Italo-Albanians between Dialetto and Arbërisht 209 clearly. Among the local traits derived from the neighbouring romance varieties, caused from a dynamic dialect mixing and new-dialect formation process, 85 this variety predominantly contains elements of the local variety of the most important rural or urban centre of the vicinity, especially if it is a matter of small Italo-Abanian rural communities. 86 Nonetheless, it must be stressed that in spite of the predominating features, the dialectal varieties of these neighbouring centres diverge from the dialectal varieties spoken in the once Italo-Albanian speaking enclaves. Lastly, a brief survey of some diatopic traits of the Dialetto with a few Albanian interferences spoken in the (linguistically) assimilated Italo-Albanian enclaves elevated a general tendency. This contact variety seems to possess inherently in the single enclaves its own 87 stable dialectal features. Some noteworthy cases are the local Calabrian varieties spoken in the enclaves of Cervicati 88 , Mongrassano (both in the Prov. of Cosenza), Zangarona (Prov. of Catanzaro), etc. These varieties should be therefore considered as distinctive local Italo-Romance dialectal varieties, which are dynamically related to the neighbouring local varieties. Though diverging from them, to corroborate precisely this phenomenon, accurate dialectological investigations are necessary in enclaves where Arbërisht was spoken, as well in the respective neighbouring Italo-Romance localities. A systematic comparative analysis within the single contexts may then shed light on the material divergences. In conclusion, it is important to summarize briefly what goes on linguistically in an Italo-Albanian community, where Arbërisht has been recently abandoned. The mixing process there is determined through levelling, which brings progressive stability. Besides the regional features of the newforming dialect, deriving from the contact with the neighbouring local romance varieties, it partly contains traits of Arbërisht, in which its identity is also materially based. In these alloglottic elements is mainly founded the material diversity of the new dialect variety. It is therefore possible to speak of an alloglottic-based diatopic differentiation. 85 Trudgill (2004). 86 E.g. San Marco Argentano for Cervicati (Nico 1982: 3). This tendency also seems to be present in still Arbërisht-speaking enclaves, like Castrovillari for San Basile (Prov. of Cosenza) ([22] G: Il dialetto era tendenzialmente sicuramente più come quello di Castrovillari... [The dialect was tendentially surely more like the one of Castrovillari.]), Termoli for Campomarino and Portocannone (Prov. of Campobasso), ([23] E: Mbeh si, il dialetto era più quello di Termoli. Anche oggi kemi più açendin di Termoli. [The fact is, yes, the dialect was more the one of Termoli. Also today we use to speak with the accent of Termoli.]) or Palermo for Santa Cristina Gela ([24] N: Mah jié S• anu stu sicilianu, © i chi DD u (cca). Un bo’ pare r E Palemmo... ma un bo’ pa ©© a cumm E ‘n gambagna. [What can I say? It is strange the Sicilian, of this one (here). It seems a bit like he is from Palermo, but also he speaks like in the rural area.]), etc. 87 See e.g. above the statement 9, or also Nico (1982: 10). 88 Nico (1982). <?page no="243"?> Elton Prifti 210 In my fieldwork I could also detect other similar diatopic relations. Just to mention two of them. 1. Within the framework of the Albanian urban dialect of Korçë, a city in Southeast Albania, two particular local varieties can be distinguished. These are mainly dislocated in two neighbourhoods, where respectively Aromanianand Romani-speakers are settled. Since 1990 this distinction has been progressively weakening. 2. The second example derives from the Italian-American contact situation. I found elements of similar diversity in an area of South Philadelphia, where Italian-Americans mostly live(d). 89 4. Conclusion The long lasting and polycentric migration-caused Italo-Albanian language contact is highly dynamic. It was possible to systematically examine its complex variation with the help of Stehl’s functional descriptive model. After a necessary methodical distinction of two contact phases (a dialectal - Arbërisht vs. Dialetto - and a diglossic - Italiano vs. Dialetto vs. Arbërisht - phase), I only focused on the variety during the first one. From this starting point, by further distinguishing three main contact stages as well as by systematically analysing the variation in each one of them, it was possible to clearly establish a five-grade architecture of the contact. Among the contact varieties, a defective and a non-defective variety resulted respectively for each contact language. Concerning the diatopic differentiation of the Dialetto-based contact varieties, the defective one could not be classified diatopically beyond the regional level. The other one, Dialetto with a few Albanian interferences, especially when it concerns enclaves where Arbërisht has been abandoned, can also be embedded in a local diatopic context. The diatopic differentiation of such new-forming local dialect varieties within a Romance context can be considered as an alloglottic-based differentiation, because of their material alloglottic features. The convergence process in the Italo-Albanian contact is characterized by a sharply marked dynamism, related to either the peculiarities of the contact in the single enclaves or in its entirety. An intense language change and new dialect formation are consequences of this process. Heraclitus thought , which rightly also summarizes change in language, is particularly applicable to migration related contact situations, such as the complex Italo-Albanian case. 89 See some brief notes in Prifti (2010b: 19). <?page no="244"?> Italo-Albanians between Dialetto and Arbërisht 211 Bibliography Albrecht, Jörn / Lüdtke, Jens / Thun, Harald (1988)(Eds.): Energeia und Ergon. Sprachliche Variation - Sprachgeschichte - Sprachtypologie. Studia in honorem Eugenio Coseriu, Bd. I, Tübingen: Narr. Arens, Arnold (1987)(Ed.): Text-Etymologie. Untersuchungen zu Textkörper und Textinhalt. Festschrift für Heinrich Lausberg zum 75. Geburtstag, Stuttgart: Steiner. Birken-Silverman, Gabriele (1992): “Phasen des Rückgangs einer Sprache am Beispiel des Albanischen in Italien”, Zeitschrift für Balkanologie 28, 1-22. Bröking, Adrian (2002): Sprachdynamik in Galicien. Untersuchungen zur sprachlichen Variation in Spaniens Nordwesten, Tübingen: Narr. 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Sprecher europäischer Sprachen wie Italienisch, Französisch, Englisch, Deutsch, Griechisch oder Ungarisch halten es für selbstverständlich, dass es koordinierende Konjunktionen zwischen gleichgeordneten Satzteilen (it. e, o; frz. et, ou; engl. and, or; deutsch und, oder; gr. , ; ung. és, vagy) und logische Verbindungswörter zwischen Sätzen gibt (z.B. it. ma, però, comunque; frz. mais, et alors, toutefois; engl. but, therefore, thus; deutsch aber, sondern, denn, dennoch; gr. a , , ; ung. de, hanem, mégis). 1 Wenn wir uns aber mit außereuropäischen Sprachen beschäftigen, und damit notwendigerweise mit ganz anderen Kulturen, die nicht den europäischen Traditionen entsprechen, stellen wir bald fest, dass dort alles ganz anders ist. Das Anderssein entspringt weitgehend auch anderen Denkweisen, bis hin zu einer Logik, die von der unsrigen deutlich verschieden ist, jedenfalls im Hinblick auf die Regeln der Gedankenverknüpfung. In solchen Kulturen können andere Diskurstraditionen mit anderen Gewohnheiten herrschen in Bezug auf Deixis, Anapher und die Notwendigkeit von logischen Verbindungen, wie sie in adversativen, kausalen, konzessiven usw. Konjunktionen zum Ausdruck kommen. Deshalb sind für uns z.B. Texte südamerikanischer indianischer Sprecher zunächst als Texte so unverständlich, auch wenn wir die Grundregeln der Grammatik und den Wortschatz zu kennen glauben. Auf der pragmatischen Ebene z.B. der Gesprächsführung oder der Textverfassung kennen wir ähnliche Probleme auch im Hinblick auf die unterschiedlichen europäischen Normen. Das Schreiben eines Antrags durch den Institutsdirektor an den Dekan folgt - und folgte früher noch deutlicher als heute - an einer deutschen Universität anderen Textnormen als an einer spanischen. 1 Von der durchaus durchlässigen Grenze zwischen koordinierenden und subordinierenden Konjunktionen wollen wir hier nicht sprechen (z.B. it. poiché ‘denn; da’ oder deutsch weil, das traditionell eine subordinierende Konjunktion mit Verb-Endstellung im Nebensatz ist, heute aber vielfach wie denn gebraucht wird, d.h. mit der üblichen Wortstellung des Hauptsatzes). <?page no="249"?> Wolf Dietrich 216 1.2. Die zu außereuropäischen Sprachen gemachten Beobachtungen gehen aber tiefer. Sie führen uns zu dem in der Geschichte der Sprachwissenschaft immer wieder diskutierten Problem des Verhältnisses von Sprache und Denken. Die Frage, in welcher Weise und in welchem Ausmaß unser Weltbild durch unsere Sprachen geprägt ist, ist in der bekannten Sapir-Whorf- Hypothese so beantwortet, dass es zumindest partiell durch unsere jeweilige Sprache bestimmt ist. Der vage Begriff “Weltbild” muss natürlich jeweils im Einzelfall, im Hinblick auf eine ganz bestimmte Sprache präzisiert werden. In letzter Zeit ist die Diskussion gerade in der amerikanischen Linguistik mit ihren Grammatiktheorien wieder aufgeflammt. Chomskyaner und Anti- Chomskyaner knüpfen nach ihrem Wissenschaftsverständnis gern die Wissenschaftlichkeit ihrer Hypothesen daran, inwieweit eine Theorie “Voraussagen” über vermeintlich universelle Gesetzmäßigkeiten menschlicher Sprachen ermöglicht. Die Erforschung von immer mehr bislang unbekannten Sprachen stellt dann so manche Theorie auf eine harte Probe. Einen Höhepunkt stellen die Auseinandersetzungen um die Grammatik des Pirah- dar, einer kleinen, isolierten Sprache im südwestlichen Amazonien. Diese Sprache hat - entgegen manchen theoretisch begründeten Erwartungen - nicht nur keine Nebensätze, keine Zahlwörter und keine einfachen Farbbezeichnungen, sondern auch keine Konjunktionen, jedenfalls in unserem bekannten Verständnis. Sie funktioniert in vieler Hinsicht “anders”. 2 Der Autor der ersten wissenschaftlichen Pirah--Grammatik, Daniel Everett (1983) spricht seither vom Einfluss der jeweiligen Kultur auf bestimmte Bereiche der Sprachstruktur, d.h. von den “cultural constraints” (Everett 2009), die in den Grammatiken aller Sprachen unserer Welt zu beobachten sind, ohne dass wir uns dessen immer bewusst werden. 1.3. Alle europäischen Sprachen sind mehr oder weniger durch die abendländische Kulturtradition des durch die griechischen Philosophen begründeten logischen Denkens gekennzeichnet. Es besteht in einer bestimmten Art und Weise des Begründens, Hypothetisierens und Deduzierens. Außereuropäische Sprachen sind hiervon nicht wie die unsrigen beeinflusst, wenn die sie tragenden Kulturen nicht Anschluss an “westliches” Denken gefunden haben. In solchen Sprachen wird nicht oder anders begründet, erörtert und geschlussfolgert. Die Gedanken werden in einer Weise nacheinander geäußert, die für unsere Erwartungen ungewöhnlich ist, die Zusammenhänge nicht erkennen lässt und daher den Text oft unverständ- 2 Zur Diskussion in der Zeitschrift Language siehe Nevins/ Pesetsky/ Rodrigues (2009) und die Antwort des besten Kenners des Pirah-, Daniel L. Everett (2009). Eingebettet in eine spannende und gleichzeitig sehr einfühlsame Beschreibung des Lebens bei den Pirah- finden sich die wissenschaftlichen Erörterungen über die “Cultural constraints” sprachlicher Strukturen in ausführlicherer Form in dem jetzt deutsch erschienenen Buch von Daniel Everett, Das glücklichste Volk. Sieben Jahre bei den Pirah--Indianern am Amazonas, München: DVA, 2010, besonders p. 263-381. <?page no="250"?> Zur Herausbildung koordinierender Konjunktionen in den Tupí-Guaraní-Sprachen 217 lich macht (Von wem und was ist eigentlich die Rede? In welchem Zusammenhang erfolgt diese Äußerung auf die vorhergehende? Was soll eigentlich ausgesagt werden? Was ist der Sinn dieses Textes? ). Wie Everett deutlich macht (Everett 2010: 348-358), hängt das Sprechen und damit auch das Verstehen einer Äußerung in einer bestimmten Sprache wesentlich vom gemeinsamen Vorwissen von Sprecher und Hörer ab, von dem, was Coseriu “elokutionelles Wissen” und “idiomatisches Wissen” nennt (Coseriu 2000: 88-89). Das, was bei uns durch Konjunktionen geleistet wird, wird in außereuropäischen Sprachen häufig nicht eigens ausgedrückt, sondern der Text wird allein durch das elokutionelle Vorwissen verstanden. Wenn uns dieses fehlt - und wir wissen häufig nicht einmal, was uns da fehlt -, bleibt der Text eher unverständlich. Es gibt zwar eine Menge modalisierende Partikel oder Suffixe, dazu auch Evidentialitätsmarker, aber gerade deren richtige Interpretation ist für den analysierenden Linguisten oft ein schwer lösbares Problem. 2. Konjunktionen in Tupí-Guaraní-Sprachen 2.1. Die Familie der Tupí-Guaraní-Sprachen besteht aus etwa fünfzig verwandten Sprachen, die in einem großen Gebiet von Französisch-Guayana über den brasilianischen Amazonasraum und Zentralbrasilien bis nach Ostbolivien, Paraguay, das nördliche und nordöstliche Argentinien und nach Südbrasilien hin gesprochen werden. Die z.T. sehr kleinen Sprechergruppen (häufig zwischen 200 und 2.000 Sprechern, selten mehr als 10.000 Sprecher) leben entweder in eigenen abgegrenzten Territorien in kleinen Dörfern, z.T. mit anderen Indianern zusammen, oder auch am Rande kleiner Städte. Auf einer Landkarte muss man sich ihre Siedlungen als weit zerstreute Punkte vorstellen. Die größte Gruppe bilden die Guaraní des bolivianischen und argentinischen Chaco, traditionell Chiriguano, mit etwa 65.000 Sprechern. Darüber hinaus wird eine bestimmte Form von Guaraní von etwa 5 Millionen Sprechern in Paraguay und Nordostargentinien und auch von vielen Emigranten in Buenos Aires und S-o Paulo gesprochen. Guaraní ist neben Spanisch offizielle Sprache in Paraguay und in der argentinischen Provinz Corrientes. Es ist stark durch den spanischen Kontakt beeinflusst, es wird von den Sprechern niemals rein, sondern immer im Code-Switching mit Spanisch gesprochen (spanisch “Yopará” oder guaraní “Jopara”, cf. Dietrich 2010). Es ist kein indianisches Guaraní mehr, sondern als mestizisches Guaraní zu bezeichnen (auch “guaraní criollo”). Neben dem paraguayischen Guaraní und dem Chaco-Guaraní (Chiriguano) werden wir hier vor allem das nahe verwandte Kaiwá (oder Caiová, 25.000 Sprecher in Brasilien, Mato Grosso do Sul, und Paraguay) und das Mbyá (15.000 Sprecher in Paraguay, Misiones (Argentinien) und Südbrasilien) betrachten. <?page no="251"?> Wolf Dietrich 218 2.2. In den Tupí-Guaraní-Sprachen Südamerikas, die bisher nur wenig dem spanischen Einfluss unterlagen, finden wir z.T. ähnliche Verhältnisse vor. Es gab und gibt offensichtlich keine Veranlassung, die Koordination von Satzgliedern durch einfache Wörter, die unserem ‘und‘ und ‘oder’, ‘weder’ oder ‘noch’ in weder - noch entsprechen würden, auszudrücken. Es gibt in diesen weitgehend agglutinierenden Sprachen zwar Suffixe wie -ve, die ‘und auch’, ‘und dazu’, ‘mehr’, ‘zusätzlich’ bedeuten, sie werden aber nicht einfach wie koordinierendes und gebraucht, sondern heben das zusätzliche Element als ein besonderes hervor. Dies ist der traditionelle Zustand. Die übliche Verfahrensweise ist die Juxtaposition, d.h. die asyndetische Aneinanderreihung gleichartiger Elemente, vielfach mit Wiederholung des Verbs. Statt Hans und Peter kamen gestern würde man sagen Hans kam gestern. Peter kam auch (cf. auch Seki 2000: 237-238, Rose 2003: 546, González 2005: 243, Borges 2006: 231). Heute haben fast alle Tupí-Guaraní-Sprachen Kontakt mit der jeweiligen nicht-indianischen Mehrheitsbevölkerung gehabt, die Kinder und jungen Erwachsenen sind durch einsprachigen spanischen oder portugiesischen oder zweisprachigen Schulunterricht geprägt. Daher ist fast überall ein Wort für ‘und’ geschaffen worden, das im Allgemeinen aus dem Stamm a’e ‘anderer/ andere’ und eventuell dem Suffix -re(he) ‘auf, zu, an’ gebildet ist. Ein Syntagma wie mbyá koxi ha’e ka’i bedeutet also wörtlich ‘Wildschwein anderer Affe’, ‘ein Wildschwein und als anderes Element dazu ein Affe’ oder einfacher ‘ein Wildschwein und ein Affe’. Im Vergleich mit den europäischen Sprachen ist am auffälligsten das Fehlen einer disjunktiven Konjunktion ‘oder’. In unseren Diskurstraditionen sind wir an ständige Entscheidungsfragen gewöhnt, vom Typ “Möchtest du Fisch oder Fleisch? ”, “Ist diesmal Pedro oder Juan gekommen? ”. In den eingeborenen Gesellschaften Südamerikas sind solche Fragen offensichtlich nicht üblich. Wieder ist die Juxtaposition das übliche Verfahren, wenn überhaupt über Alternativen gesprochen wird. Everett beobachtet bei den Pirah- das gleiche Verhalten, wie ich es auch bei den Chaco-Guaraní (Chiriguano) festgestellt hatte (Dietrich 1986: 174): Anstelle von “Entweder Hans oder Peter wird kommen” sagen sie vielleicht: “Hans wird kommen. Peter wird kommen. Hmmm. Ich weiß es nicht. (Everett 2010: 349). Dies scheint zwar vor allem eine Eigenschaft der Sprachen und Kulturen der Tieflandindianer des Regenwaldes und der Savannen zu sein, aber auch in den Sprachen der Hochkulturen der Inkas und Azteken ist der Gebrauch von disjunktiven Konjunktionen selten gegenüber der asyndetischen Juxta- <?page no="252"?> Zur Herausbildung koordinierender Konjunktionen in den Tupí-Guaraní-Sprachen 219 position. 3 Gleiches gilt für das Mapuche, die bedeutende Eingeborenen- Sprache Chiles. 4 Im heutigen Paraguay-Guaraní wird als disjunktive Koordination tér- gebraucht. Diese Form, die auch mit Endbetonung (ter-) auftaucht, steht in Zusammenhang mit den Formen coter-, coher- und auch cotér-, die Ruiz de Montoya, der “Vater” der Jesuitenmission der Guaraní im 17. Jahrhundert, Schöpfer der berühmten Indianer-Reduktionen und Verfasser der ersten Grammatik und des bis heute reichsten Guaraní-Wörterbuchs anführt (Montoya 1876/ 1640: 100). Sie ist zusammengesetzt aus her- ‘quizá, por ventura’ (Montoya 1876/ 1640: 154) und dem Demonstrativum co ‘dieser, diese, dieses’. Die Grundbedeutung ist also ungefähr ‘und vielleicht’. Vermutlich handelt es sich hier um eine bewusste jesuitische Bildung nach dem Vorbild von coipo, conipo ‘oder’ in der “Língua brasílica”, der Umgangssprache an der brasilianischen Küste im 17. und 18. Jahrhundert, die sich aus dem Tupinambá der ursprünglich dort ansässigen Indios entwickelt hatte. Diese hatten die Jesuiten im 16. Jahrhundert für die Zwecke ihrer Mission verwandt. Auch conipo ist aus demonstrativem co und der Fragepartikel nipo zusammengesetzt (cf. Drumond 1952: 60). Bis heute ist jedoch tér- im paraguayischen Guaraní nicht populär, sondern gehört einem durch die Schule vermittelten höheren Sprachstil an. 5 2.3. Das bisher Gesagte darf nicht zu dem Missverständnis führen, dass die amerikanischen Sprachen in irgendeiner Weise mangelhaft wären und ihnen etwas “fehlte”. In ihren Kulturen werden die Gedankenverknüpfungen nur anders hergestellt, d.h. vor allem in anderen semantischen Bereichen gemacht. Reich ausgearbeitet sind gegenüber den additiven und dis- 3 Die Beschreibungen des Quechua geben zwar utaq, otaq für ‘oder’ an, führen aber deutlich mehr Beispiele für die Juxtaposition und für Entlehungen aus dem Spanischen an, wie i < y, u < o, piru < pero, ni < ni (cf. Cerrón-Palomino 1987: 308-310). Für das klassische Aztekische oder Nahuatl Mexikos beschreibt Launey (1995: 127) Gebrauch und Bedeutung von nozo ‘oder’, es ergibt sich aber, dass die Form selten ist, da Alternativen in den Texten selten erwähnt werden. Seki (2000: 237-238) führt für das Kamayurá Beispiele für asyndetische Juxtaposition an, deren portugiesische Übersetzung lautet “ele matou jacaré, matou anta” (‘er tötete einen Kaiman und einen Tapir’); “Em Campinas n-o ha paca, no Xingu tem muita” (‘In Campinas gibt es keine Pacas [ein Nagetier], am Xingú gibt es viele’). 4 Für das Mapuche erwähnt Smeets (2007: 359) neben einheimischem kam ‘oder’ vor allem Konstruktionen mit Juxtaposition sowie mit dem spanischen Lehnwort o ‘oder’. 5 Auch in indoeuropäischen Sprachen waren die Ausdrücke für ‘oder’ nicht von vornherein fertig vorhanden, sondern haben sich - entsprechend den sich wandelnden Ausdrucksbedürfnissen - irgendwann bei der Ausbildung der Schriftsprachen herausgebildet. So geht griech. ½ auf eine Fragepartikel (‘wirklich? ’) zurück, lat. aut auf Formen, die ‘nun weiter’, ‘wiederum’ bedeuteten, während vel ‘oder aber’ von velle ‘wollen’ abgeleitet ist. Die semantische Grundlage von dt. oder ist wohl ‘beide’, ‘diese beiden’, während engl. or sich aus einer Kurzform von other ‘anderer’ entwickelt haben dürfte. <?page no="253"?> Wolf Dietrich 220 junktiven Koordinationen die additiv-temporalen Verknüpfungen vom Typ ‘und dann’. Hinzu kommen in viel höherem Maße als in europäischen Sprachen die Evidentialitätsmarker (Partikeln und Suffixe) 6 , die den Grad der Evidenz der Aussage und unter Umständen den Bezug zum möglichen Vorwissen des Gesprächspartners ausdrücken. Aus der additiv-temporalen Anknüpfung ergeben sich je nach Kontext ganz leicht “modale” Redebedeutungen, aus denen sich dann z.B. kausale Konjunktionen entwickeln können. 7 Diese sollen in den weiteren Abschnitten dargestellt werden (3.), bevor die spanischen Entlehnungen im Paraguay-Guaraní beschrieben werden (4.). 3. Konjunktionen im Chaco-Guaraní 3.1. In narrativen und argumentativen Texten des Chaco-Guaraní (traditionell Chiriguano) 8 finden wir folgende Verfahrensweisen zur logischen Verknüpfung von Gedanken. Zum einen erscheinen modifizierende Suffixe, die die Aussage bewerten, wie z.B. -katu ‘Fokus’, -éte, ´-ete ‘Intensität’, -téi, -te i ‘Frustration’ (negatives Ergebnis trotz großer Anstrengung, ‘umsonst’), -ko ‘Identität’, -'ño ‘Restriktion’, -ndipo ‘Relativierung’ (cf. Dietrich 1986: 146- 152). Zum anderen kommen satzinitiale Formen vor, die als koordinierende Konjunktionen gewertet werden können. Sie sollen hier kurz beschrieben werden. Alle bestehen aus Kombinationen des bereits oben (2.2.) erwähnten Elements háe, ursprünglich demonstrativ, heute Personalpronomen der 3. Person (‘er, sie’), und einem temporal-aspektuellen Suffix. 6 Hier nehmen, wie schon Weydt (1969: 104-111) und Coseriu (1988: 189) festgestellt haben, das Deutsche und das Altgriechische mit ihren zahlreichen “Abtönungspartikeln” eine Sonderstellung ein, wenngleich Abtönungspartikel und Evidentialitätsmarker nur zum Teil zusammenfallen. 7 Dies ist besonders deutlich bei den subordinierenden Konjunktionen. Man denke nur an it. poiché, eigentlich ‘nachdem’, perché, eigentlich ‘wodurch’, so auch span. porque, frz. parce que, aber auch ung. mivel ‘da, weil’, wörtlich ‘wodurch’, miután ‘da, weil’, wörtlich ‘nachdem’, rum. fiindc ‘da, weil’, wörtlich ‘(so) seiend dass’; cf. frühneuhochdeutsch sintemal(en) ‘seit dem Male, dass’, ‘weil’ und auch weil < derweilen. Die Gleichzeitigkeit der Bedingungen kann als Begründung verstanden werden. 8 Die Bezeichnungen der Stämme und Sprachen sind gerade in letzter Zeit aus Gründen der politischen Korrektheit häufig geändert worden. Zum einen gab es und gibt es wie in Europa auch konkurrierende Namen (Eigenbezeichnung, z.B. Deutsche, gegenüber Fremdbezeichnungen, z.B. frz. Allemands, engl. Germans, poln. Niemcy). Viele traditionelle Fremdbezeichnungen werden heute von den jeweiligen Nationen selbst als diskriminierend empfunden und abgelehnt, so auch Chiriguano (zur früheren Deutung des Namens siehe Dietrich (1986: 21), zur heute bevorzugten Dietrich (2007: 10). Die heute bevorzugte Eigenbezeichnung “Guaraní” ist allerdings wegen ihres unspezifischen Charakters wissenschaftlich nicht brauchbar. Daher der Vorschlag “Chaco- Guaraní”. <?page no="254"?> Zur Herausbildung koordinierender Konjunktionen in den Tupí-Guaraní-Sprachen 221 3.2. Eine häufige temporal-additive Konjunktion ist h-ema ‘(und) dann’, zusammengesetzt aus háe und -ma ‘resultative Evidentialität’. Das Suffix -ma drückt das Erreichen des Erwarteten aus und entspricht daher sowohl unserem ‘schon’, span. ya, als auch einem perfektiven Aspekt (‘erreichter Zustand nach abgeschlossener Handlung)’. 9 (1) H-ema hokua h-eko-pégua hare o-mbóu T pa -ma túicha-va. Konj dem 3p-Grund-zugehörig Konj 3p-schicken Gott Regen groß-Nom ‘und dann, aus diesem Grund, schickte Gott einen großen Regen’. (2) Ó-ky. H-ema hokua mõkoi m chia-reta o-ñõno mbaeréru 3p-regnen. Konj Dem zwei Jungen-Pl 3p-aufstellen Tonkrug ‘Es regnete. Und dann stellten diese zwei Jungen einen Tonkrug auf’. (3) H-ema ó-ho o-v-e óo-pe, ere i, mbáety kía pýpe. Konj 3p-gehen 3p-ankommen Haus-loc, nun, NEG jemand drinnen ‘Und dann kam sie bei dem Haus an, nun, es war niemand darin’. (Zur Koordination mit ere i ‘nun (denn)’ siehe unten 3.7.). 3.3. Die temporal-additive Konjunktion hávoi ‘und gleich darauf’, ‘und sofort (danach)’ ist zusammengesetzt aus háe, Personalpronomen der 3. Person, oder aus ha ‘und’, das etymologisch dieselbe Grundlage hat, und -voi, das den unmittelbaren Anschluss ausdrückt und mit ‘sogleich’, ‘sofort’, ‘und augenblicklich’ übersetzt werden kann. Das Suffix -vói kommt auch nach Verben vor, siehe Beispiel (4): (4) Hávoi o-júka-vói Konj 3p-töten-unm. A ‘Und sogleich tötete er ihn ohne Zögern’. (5) Hávoi o-póko ó-gua i-kopáre-gui i-tapéke hó-u Konj 3p-beginnen 3p-kaufen 3p-Kamerad-SEP 3p-Vorräte 3p-essen ‘Sogleich begann er von seinem Kameraden die Vorräte zu kaufen und aß sie’. 3.4. Hájave ist eine Konjunktion, die sich aus dem bekannten ha(e) und dem gewöhnlich mit einem Prädikat verbundenen Suffix -jave zusammensetzt, das die Gleichzeitigkeit einer Handlung oder waltender Umstände ausdrückt. Hájave entspricht also lat. rebus sic stantibus und kann mit ‘da dies so ist/ war’, ‘demgemäß’, ‘unter diesen Umständen’ oder einfach ‘daher’ übersetzt werden. Es ist die Konjunktion, die bei gegebenem Kontext als kausale Konjunktion fungieren kann. Dies zeigt sich deutlich in Beispiel (6): 9 Alle folgenden Beispiele, sofern nicht anders angegeben, entstammen der Textsammlung in Dietrich (1986: 207-276). <?page no="255"?> Wolf Dietrich 222 (6) Añe te-ko. Ndé nde r-eko-pégua-ko á-ju-je hare che sy-réta a-écha, wahr-Id.PR2p2pCont-Grund-zugehörig-Id1p-kommen-wiederKonj1pMutter-Pl1psehen ‘Es ist wahr. Wegen dir bin ich zurückgekommen und habe meine Eltern gesehen hare hae-réta che r-écha. Hájave nde-puére che-júka. Konj PR3p-Pl PR1p Cont-sehen. Konj 2p-können PR1p-töten und sie haben mich gesehen. Deswegen kannst du mich [jetzt] töten’. 3.5. Semantisch ähnliche Konjunktionen sind háeramo und h-mo, letztere nur im Ava-Dialekt des Chaco-Guaraní. Háe-ramo ist zusammengesetzt aus háe ‘er, sie, es’ und dem unbetonten Suffix -ramo, welches die gleichzeitig herrschenden Umstände angibt und im Allgemeinen subordinierend wirkt. Im Gegensatz zu -jave betont -ramo weniger die Gleichzeitigkeit, sondern gibt - je nach Kontext - z.B. Bedingungen an, kann also mit ‘wenn’ übersetzt werden (ohne dass zwischen realen und irrealen Bedingungssätzen unterschieden würde). H-mo ist verkürzt aus háeramo. (7) Háeramo-ko o-me e chúpe hoku--ra ó-iko-v-e-ra (Riester 1998, III: 1306) Konj-Id 3p-geben ihm Dem-DEST 3p-da.sein-Nom-DEST ‘Daraufhin gab er ihm das ihm Zustehende [scil. die Amtswürde]’ (8) H-mo hóko-wi r-ó Cháko-pe, hóko-wi ró-ju Konj Dem-SEP 1pPlexc-gehen Chaco-loc, Dem-SEP 1pPlexc-kommen ‘Und so/ und dann wanderten wir von dort in den Chaco, von dort kamen wir’ (9) A-karú-ta-rani, h-mo kurije a-singaró-ta kurije 1p-essen-FUT-zuerst, Konj danach 1p-Zigaretten.rauchen-FUT danach ‘Zuerst einmal werde ich essen und dann werde ich danach eine rauchen’. 3.6. Sehr häufig werden Gedankenverknüpfungen auch durch das traditionelle morphologische Verfahren der Suffigierung ausgedrückt. Als Beispiel möge hier das Suffix -vi genügen, das an verbale und nominale Prädikate angehängt wird. Es drückt aus, dass dieses Prädikat als eine zusätzliche Äußerung aufgefasst werden soll: (10) “Hóko-pe jande-puére-vi já-ha. Dem-loc 1pPlinc-können-Konj 1pPlinc-gehen ‘Wir können auch dorthin gehen. O-me e-ta-vi jandé-ve o-pá-ete mbáe hóko-pe”, hé-i 3p-geben-FUT PR1pPlinc-DAT 3p-ganz.sein-Ela Ding Dem-loc, 3p-sagen Und sie werden uns dort auch alle möglichen Dinge schenken”, sagte er’. <?page no="256"?> Zur Herausbildung koordinierender Konjunktionen in den Tupí-Guaraní-Sprachen 223 3.7. Eine weitere textgliedernde Konjunktion ist er i, en i ‘nun, nun aber’. Sie zeigt an, dass das bisher Gesagte zusammenfassend betrachtet werden soll. Ein Beispiel findet sich in (3). Aus der resümierenden Betrachtung ergibt sich aber leicht eine adversative Bedeutung, wie in Beispiel (11) und (12) zu sehen: (11) Ndée-ko mburuvícha tájy ýma-ma re-k-ñy-va; PR2p-Id Häuptling Tochter lange-REv 2p-verloren.gehen-NOM ‘Du bist doch die Tochter des Häuptlings, die so lange verschollen war; er e i, añ-ve che ro-kuáa. Konj, jetzt PR1p 2pobj-erkennen ‘nun, jetzt habe ich dich wiedererkannt’. (12) Er e i, pea ru paje-réta Kuaryrenda-pe ø-ño-gwynõi-va-réta-ko Konj, Dem ander Schamane-Pl Kuaryrenda-loc 3p-Rec-haben-NOM-Pl-Id ‘Nun sind aber die anderen Schamanen in Kuaryrenda die, die sie [scil. die Amtswürde] von sich aus haben’ (Riester 1998, III: 1306). 3.8. Ein Vergleich mit den anderen Tupí-Guaraní-Sprachen, zu denen ausführliche Beschreibungen vorliegen, zeigt, dass dort die Verhältnisse ähnlich liegen, dass aber vor allem modifizierende Suffixe gebraucht werden. Diese können dem Bereich der Evidentialität zugerechnet werden, wobei ihre Funktionen aber in bestimmten Kontexten auch dem entsprechen, was in europäischen Sprachen die koordinierenden Konjunktionen leisten. Im Tapiete, das mit dem Chaco-Guaraní eng verwandt ist, finden wir ein Suffix -ka (cf. González 2005: 243-244), im Kamayurá Zentralbrasiliens ein iteratives Suffix -ran, das in bestimmten Kontexten auch der additiven Konjunktion ‘und’ entsprechen kann (cf. Seki 2000: 239-240): (13) a-karu-potat a-ke-pota-ran 1p-essen-wollen 1p-schlafen-wollen-Konj ‘Ich will essen und (dann) schlafen’. 4. Spanische Entlehnungen im paraguayischen Guaraní 4.1. Wie oben (2.1.) bereits gesagt, ist Guaraní-Sprechen in Paraguay und in den angrenzenden Gebieten Argentiniens und Brasiliens heute nicht ohne das Spanische denkbar. Selbst auf dem Lande, wo das Spanische z.T. nur wenig bekannt ist, werden in das Guaraní spanische Elemente eingefügt, Bezeichnungen für moderne Institutionen, für technische Geräte, für die westliche Art der Zeitrechnung und der Ökonomie. Offensichtlich haben alle <?page no="257"?> Wolf Dietrich 224 Sprecher verschiedene Kompetenzen in beiden Sprachen 10 und können daher nicht immer sicher sein, was der Gesprächspartner versteht und was nicht. Daher verfolgen sie die Strategie, Teile ihrer Äußerungen in den jeweils anderen Sprachen zu wiederholen. Dadurch entsteht der Eindruck eines beständigen Code-Switchings. In diesem Umfeld ist es für die Sprecher äußerst schwierig, die spezifischen satzsyntaktischen und textsyntaktischen Strukturen der beiden so verschiedenen Sprachen adäquat von der einen in die andere zu transponieren. Es entsteht daher ein konvergenter Druck in beiden Richtungen. So ist es nicht verwunderlich, dass Konjunktionen und andere Ausdrücke aus dem Spanischen entlehnt werden, wenn es für sie im Guaraní keine direkten Entsprechungen gibt. Zwischen dem paraguayischen Guaraní und den übrigen Tupí-Guaraní-Sprachen besteht aber letztlich nur ein gradueller Unterschied, was den spanischen Einfluss angeht. Auch in vielen anderen Sprachen dieser Familie ist, wie anschließend an die Beispiele zum Paraguay- Guaraní zu zeigen sein wird (siehe unten 4.3.), ein direkter oder indirekter Einfluss westlichen Denkens, d.h. des Spanischen bzw. Portugiesischen festzustellen. 4.2. Die im Anschluss aufgeführten Beispiele zu spanischen Entlehnungen im Guaraní stammen alle aus den Kommentaren, die Informanten zum Status des Guaraní in Paraguay im Rahmen der Erhebungen zum Atlas Lingüístico Guaraní-Románico - Sociología (ALGR-S) (cf. Thun et al. 2002) abgegeben haben und die im Kommentarband des Atlas abgedruckt sind. Hier erfolgt keine ausführliche morphologische Analyse, sondern es wird nur die spanische Übersetzung aus dem ALGR-S, Bd. I: Comentarios, beigefügt. Die Beispiele zeigen nicht nur die Verwendung koordinierender, sondern auch subordinierender Konjunktionen wie span. porque, sowie von Ausdrücken wie en vez de, por ejemplo, de lo contrario, für die es im Guaraní keine einfachen Entsprechungen gibt. Schwarz hervorgehoben sind nur die Wörter, die man im weitesten Sinn als Funktionswörter betrachten kann, nicht andere lexikalische Hispanismen. (14) Ipor- avei la kastelláno, jahátaramo otro paíspe. Péro ipor-veva’er- la pete idiómante jaipuru, po no ñañokonfundipa (Thun et al. 2002: 22, 1) ‘Está bien también el castellano, si vamos a otros países. Pero sería mejor usar un solo idioma para no confundirnos totalmente‘ (15) ha mba’émbo, ipor- la ñane idióma, pero lástima la ndoservíri, como idioma no es tan primordial (Thun et al. 2002: 23, 4) ‘Y no sé qué decir, el guaraní es un lindo idioma, lástima que no sirva, como idioma no es tan primordial’ 10 In Brasilien (besonders im Süden von Mato Grosso do Sul) kommt das Portugiesische hinzu, das im Allgemeinen in seiner regionalen Form problemlos beherrscht wird. <?page no="258"?> Zur Herausbildung koordinierender Konjunktionen in den Tupí-Guaraní-Sprachen 225 (16) ipor-itevéma la oñembo’ére la kastelláno, porque upéichamante jaháta adelante, porque jajeatrasaiterei la nañañe’ iko la kastelláno (Thun et al. 2002: 25, 6) ‘es muy bien que se enseñe el castellano porque solamente así saldremos adelante, porque nos atrasamos demasiado si no hablamos castellano’ (17) o por- la oñembo’e guaraníme, pero que sea más castellano, porque jaha la fakultáre ha ndaikatúi jejespresa upéa káusa (Thun et al. 2002: 25, 7) ‘está bien que se enseñe en guaraní, pero que sea más castellano, porque después vamos a la facultad y no podemos expresarnos a causa de eso’ (18) la eskuélape che ndachegustái oñembo’e la guarani, en vez de oñembo’e inglés umía, por ejemplo (Thun et al. 2002: 25, 8) ‘o me gusta que se enseñe guaraní en las escuelas, en vez de enseñarse el inglés y otras lenguas, por ejemplo’ (19) ipor-iterei la jareko la dos idiómas, pero la progréso jareko hagu- hi’- oñembo’e otro idióma en vez del guaraní, porque jarekoma voi la guarani, toñembo’e otro idióma la eskuélape ha koléhiope (Thun et al. 2002: 26, 10) ‘está muy bien que tengamos los dos idiomas, pero para tener progreso es de desear otra lengua en vez del guaraní, porque ya tenemos el guaraní, que se enseñen otros idiomas en las escuelas y colegios’ (20) o la nandivera, o la ndoikéiva la eskuélape, o sino ojapo primero ha segundo grado (Thun et al. 2002: 25, 6) ‘hay los desnudos brillantes (los que no aprenden nada), hay los que ni siquiera entran en la escuela, o, de lo contrario, cursan el primer y segundo grado ...’ (21) ifaltave ojejopyve la guaraníme, porque ko’-ga legalmente la kastelláno ojejopyve que la guarani. O sea, la mit-’ikuéra kastellanopememe oñe’ (Thun et al. 2002: 34, 30) ‘hace falta que se exija más el guaraní porque hasta ahora legalmente se exige más el castellano que el guaraní’ (22) o sino oñekonfundipa la mit-me (Thun et al. 2002: 38, 43) ‘o, si no, las criaturas se confunden completamente’ (23) en caso ndaipóri (Thun et al. 2002: 30, 20) ‘en caso de que no haya nada’ (24) ndaikatúinte la pete nte oñembo’e porque siempre o la ohóva otro paísre ha oikotev la kastellánore u otro idioma, pero solamente guarani ndaikatúi mba’eve ojejapo (Thun et al. 2002: 30, 21) <?page no="259"?> Wolf Dietrich 226 ‘no puede ser que sólo una sea enseñada, porque siempre hay quienes van a otros países y necesitan el castellano u otras lenguas, pero con sólo el guaraní no pueden hacer nada’. Die Beispiele machen deutlich, wie sehr Guaraní und Spanisch ineinandergreifen, aber im Zusammenhang mit den Konjunktionen doch auch, in welch hohem Maße spanisches argumentatives Denken in diesem Punkt im Guaraní vorherrscht. Bemerkenswert ist auch die unterordnende Konjunktion po no, die span. por no + Inf. in finaler Bedeutung zu entsprechen scheint. Es dürfte sich hier um einen lokalen Archaismus handeln, da der Gebrauch von finalem por nur aus dem Altspanischen bekannt ist. 11 Im Guaraní hat dieser Gebrauch bis heute überlebt. 4.3. Die Übernahme von Konjunktionen und anderen textgliedernden Kommentarwörtern aus dem Spanischen oder Portugiesischen im Chaco- Guaraní und im Kaiwá ist zum Teil indirekt, in dem Sinn, dass vermehrt Calques nach europäischem Vorbild gebildet werden, so z.B. écha im Chaco- Guaraní. Écha entspricht dem Wort für ‘sehen’ und ist als kausale Konjunktion eindeutig span. visto que ‘angesichts der Tatsache, dass; da ja’ nachgebildet. 12 (25) kua jande-ypy-réta ndáje t-ta o-ipóta o-m-e kua koja-réta-iývy-re, écha hae-va-réta o-ikó-a-rupi õ-i arakáe-jave t-ta kua ivera-jú-va háe-ko óro hé-i o-éro-karai-réta-va ‘esos nuestros antepasados deseaban mucho las tierras de esos collas visto que/ porque, donde vivían ellos, había, hace tiempo, eso amarillo que los blancos llaman oro’ (26) t-ta ipya-k-ñy hokua k ña paravéte o-jembi-éka ó-iko-va, écha o-écha õ-ime oi-potágue mbáe ja-ú-va hókua k ña h- ta-pe ‘mucho se asombró la pobre mujer, que estaba buscando algo para comer, visto que/ porque vio que en aquella casa había mucha comida’ (27) hókua k ña oi-kua mandío háre aváti, écha hae-réta ha ñoma ó-iko yvýra káa-rupigua i-á-guere ‘esa mujer conoció/ probó por primera vez mandioca y maíz, visto que/ porque ellos vivían sólo de los frutos de los árboles que había por el monte’. 11 Cf. Herrero (2005: 381), wo z.B. (Fn. 42) ein Beispiel aus der Primera Crónica General aufgeführt ist: “Mas agora tornamos a fablar de hercules por contar los fechos que fizo en espanna”. 12 Beispiele ohne eingehende morphologische Analyse aus Riester (1998, Bd. I: 95-104), mit der dort angegebenen spanischen Übersetzung. Zum Zwecke der Einheitlichkeit wurde die Graphie angepasst. <?page no="260"?> Zur Herausbildung koordinierender Konjunktionen in den Tupí-Guaraní-Sprachen 227 Die folgenden Beispiele aus dem Kaiwá zeigen direkte Übernahmen aus dem Spanischen. Obwohl die Kaiwá (in Brasilien Caiová genannt) in Brasilien wohnen, bis zu 200 km von der paraguayischen Grenze entfernt, wird nicht aus dem Portugiesischen entlehnt. 13 Wie u.a. Beispiel (28) zeigt, bedeutet eine Entlehnung nicht immer, dass man sie semantisch so verwendet wie in der Ursprungssprache. Hier wird sino in der Bedeutung ‘pero’, ‘aber’ gebraucht. (28) Umía pete partiza-pegua, síno héra-nte inh-ambue (Galhego 2002: 639) ‘ellos pertenecen a un (mismo) grupo, pero su nombre es diferente’ (29) ha etonse o-ave upe tatu’i o-s jevy e’ -va upe o-ike hagué-pe, upéa tatu’i ave, pero ngo ndo-ha’e-i tatu h ’i, ij-ape ja otro laja-ma (Galhego 2002: 639) ‘y entonces hay también ese tatucito que no sale por donde entró, ése también es un tatucito, pero no es el tatucito negro, su corteza ya es otra laya [especie]’ (30) gwéno, ai-pota ere-mombe’u ché-ve ma’er--pa ere-ju jevy amo Bodoquena-gui, erevy’a-pa upe koty tér--pa mba’e? (Galhego 2002: 333) ‘Bueno, quisiera que me contés por qué has vuelto de Bodoquena, ¿te gustó por ahí o no? ’. (31) ha entonse oi-apo araity-gui jevy, pero tanimbu-ndivé-ma, upéa-kue-katu ndahyku-vé-i ichupe (Galhego 2002: 337) ‘y entonces la hizo de nuevo de la cera, pero ya [mezclada] con ceniza; esto, bueno, ya no lo fastidió/ pero esto ya no lo fastidió’ (32) sapy’ánte alguno oi-agarra kuati, kure ... (Galhego 2002: 659) ‘De vez en cuando alguien caza un coatí, un puerco ... ’ (33) upéa-gui nd-oro-vende-i ‘por eso no lo vendemos’ (Galhego 2002: 649). 13 Nicht nur im Paraguay-Guaraní der zweisprachigen Sprecher, die selbst oder deren Vorfahren nach Brasilien ausgewandert sind, bleibt das Spanische die Sprache, die mit dem Guaraní-Sprechen in Verbindung gebracht wird. Wie man hier sieht, gilt dies auch für das Kaiwá. Es gilt aber nach den Aufnahmen für den Atlas Lingüístico Guaraní- Románico (cf. Thun et al. 2009) auch für die in Brasilien im Bundesstaat Paraná lebenden Mbyá. - Wir geben daher statt der portugiesischen eine eigene spanische Übersetzung, in der die Entlehnungen durch Fettdruck hervorgehoben werden. In dieser Weise hervorgehoben werden hier auch andere, lexikalische Hispanismen. Die morphologische Gliederung des Textes wird - ohne weitere Analyse - beibehalten. <?page no="261"?> Wolf Dietrich 228 Beispiel (30) weist die Verwendung von tér- auch im Kaiwá auf, möglicherweise eine Entlehnung aus dem Paraguay-Guaraní. In Beispiel (31) ist neben der entlehnten Konjunktion pero auch eine traditionelle Verfahrensweise zu beobachten, nämlich die mit -katu, welches als Lexem ‘gut, stark’ bedeutet, als grammatisches Zeichen aber eine “abtönende” Funktion hat und etwa wie ‘durchaus’ verstanden werden kann. Die spanische Übersetzung bueno gibt dies in dem Sinne wieder, dass es auch wie eine erklärend-adversative Konjunktion wirkt. Dies soll durch die Alternativübersetzung “pero esto ya no lo fastidió” zum Ausdruck kommen. Beispiel (32) dient lediglich der Illustration der Beobachtung, in wie hohem Maße auch die tribale Sprache mit Hispanismen durchsetzt ist. Dies gilt auch für Beispiel (33). Allerdings zeigt sich dort mit upéa-gui, wörtlich ‘von/ aus diesem’, auch eine indianische Wendung für ‘deshalb’, sicher eine Lehnübersetzung für span. por eso. 5. Schluss Spanischer Einfluss, der zu konvergentem Sprachwandel führt, zeigt sich über die zahlreichen lexikalischen Entlehnungen hinaus vor allem in dem, was man konstitutionelle Syntax nennen könnte. Das heißt, er zeigt sich nicht in der grundlegenden Morphologie und z.B. auch nicht in den dem Guaraní eigenen zahlreichen Diathesen, die ja auch syntaktische Auswirkungen haben. Er wirkt in Bereichen wie der Stellung der Satzglieder, wo die traditionelle Wortstellung OSV zugunsten der Stellung SVO mehr und mehr aufgegeben worden ist (cf. Dietrich 2009). Er zeigt sich aber auch im Wandel des Denkens in Bezug auf die Satzverknüpfung durch koordinierende Konjunktionen, wie er hier beschrieben wurde. Allerdings ist er noch nicht abgeschlossen, sondern stellt eine Ausdrucksmöglichkeit neben den durchaus noch vorhandenen traditionellen Mitteln der asyndetischen Reihung (Juxtaposition) dar, die in Verbindung mit modifizierenden Partikeln zum Ausdruck der Evidenz genutzt wird. Abkürzungen Cont = Kontiguität (zwischen einem markierten Nomen und seinem Attribut) DAT = Dativ Dem = Demonstrativum DEST = destinativer Aspekt Ela = Elativ exc = exclusiv (schließt bei der 1.P.Pl den Hörer aus) FUT = Futur Id = Identität inc = inclusiv (schließt bei der 1.P.Pl den Hörer ein) Konj = Konjunktion (ohne Spezifizierung) <?page no="262"?> Zur Herausbildung koordinierender Konjunktionen in den Tupí-Guaraní-Sprachen 229 loc = Lokalsuffix NEG = Negation (ohne Spezifizierung) Nom = Nominalisierung (ohne Spezifizierung) obj = direktes Objekt p = Person Pl = Plural PR = Pronomen Rec = reziproke Diathese REv = resultative Evidentialität SEP = Separativ (Lokalsuffix) unm.A = unmittelbarer Anschluss, globaler Handlungsverlauf Bibliographie Borges, Mônica Veloso (2006): Aspectos fonológicos e morfossintáticos da língua Avá- Canoeiro, tese de doutorado, Campinas: UNICAMP. http: / / libdigi.unicamp.br/ document/ ? code=vtls000386045 Cerrón-Palomino, Rodolfo (1987): Língüística Quechua, Cuzco: Centro de Estudios Rurales Andinos “Bartolomé de Las Casas”. 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Die deutschen Modalwörter und ihre französischen Entsprechungen, Bad Homburg: Gehlen. <?page no="264"?> Sybille Große Sprachkontakt in Paraguay: ndaje als modaler bzw. evidentieller Marker des Guaraní in Spanischvarietäten Paraguays 1. Einführung: Spezifika des Sprachkontakts in Paraguay Paraguay als mehrsprachiges Land hat eine Spezifik, die sich deutlich von seinen Nachbarländern Argentinien oder Brasilien abhebt, denn die Mehrheit der Bevölkerung Paraguays verwendet - wie in zahlreichen Arbeiten beschrieben (z.B. Choi 1998: 14; Gómez 2007: 214) - als Umgangsbzw. Nähesprache oft das guaraní paraguayo und nicht das Spanische bzw. Portugiesische. 1 Guaraní ist seit 1992 neben dem Spanischen in der Verfassung Paraguays als offizielle Sprache verankert (Choi 1998: 27) 2 und wird - wenngleich mit Schwierigkeiten, wie man auch der aktuellen Diskussion in den paraguayischen Medien entnehmen kann - in der Schule gelehrt und zur Alphabetisierung genutzt (Dietrich 1995: 204; Zajícová 2009: 50, 199-252). Die Guaraní-Sprecher in Paraguay beschränken sich keinesfalls auf Sprecher indigener Ethnien; die Sprache ist gleichfalls unter den Mestizen (die laut Dietrich (1993: 18) immerhin 95% der Bevölkerung ausmachen) und unter den zahlreichen Migranten aus anderen Ländern verbreitet. 3 Es handelt sich also nicht mehr - wie es Wolf Dietrich (1996: 400) einmal formulierte - um eine “gefährdete Indianersprache”. 1 Der Sprachgebrauch in Paraguay beschränkt sich jedoch nicht allein auf die beiden genannten Sprachen, Guaraní und Spanisch, sondern wird durch verschiedene Migrantensprachen (Italienisch, Deutsch, Japanisch, Ukrainisch, Portugiesisch, Polnisch, Platt, Koreanisch usw. = 3, 2% der Sprecher) sowie indigene Sprachen ergänzt, die fünf Sprachfamilien angehören und deren Sprecherzahl heute bei 1,7% der Bevölkerung (87.099 Sprecher) liegt (Palacios Alcaine 2008: 280-281; cf. Zarratea 2002: 68). 2 “Artículo 140 - DE LOS IDIOMAS El Paraguay es un país pluricultural y bilingüe. Son idiomas oficiales el castellano y el guaraní. La ley establecerá las modalidades de utilización de uno y otro. Las lenguas indígenas, así como las de otras minorías, forman parte del patrimonio cultural de la Nación”, http: / / pdba.georgetown.edu/ Constitutions/ paraguay/ para1992.html, (letzter Zugriff 28. August 2010). 3 Ausnahmen sind hier vor allem die japanischen und deutschen Migranten der ersten Generation (Dietrich 1996: 402). <?page no="265"?> Sybille Große 232 Für die 4,1 bzw. 4,6 Millionen Bewohner Paraguays, die auf den Volkszählungen von 1992 bzw. 2002 ermittelt wurden, lässt sich folgender Sprachgebrauch erkennen. 4 Tabelle (I): Sprachverwendung in Paraguay Grundlage Zensus Guaraní Guaraní / Spanisch Spanisch Choi (1998: 14) 1992 89% domina la lengua guaraní 48,9 % Gynan (2003: 31) 1992 40% monolingüe en guaraní 50 % 6% monolingüe en castellano Gómez (2007: 222) 1992 50% habla exclusivamente el guaraní 45 % 5% sólo el español Zajícová (2009: 64) 5 2002 lengua hablada habitualmente en el hogar 27,8 % 58,2 % 11% Zajícová (2009: 66) 2002 población según idiomas que hablan 85,9% 11,1% Das sprachliche Ideal ist in Paraguay nicht der Spanischsprecher, sondern der zweisprachige Sprecher, der sich sowohl auf Guaraní als auch auf Spanisch ausdrücken kann (Palacios Alcaine 2008: 283). Allen terminologischen Unklarheiten, die die Verwendung von ‘Bilinguismus’ und ‘Diglossie’ generell mit sich bringt, zum Trotz, spricht sich die Mehrheit der Linguisten für die Charakterisierung der Sprachkontaktsituation Paraguays als eine diglossische aus, 6 bei der Spanisch und Guaraní in unterschiedlichen Situationen jeweils präferent genutzt werden. Dabei wird 4 Zur Entwicklung des “Mythos” des paraguayischen Bilinguismus siehe Zajícová (2009: 53-68). Für die aktuelle Situation konstatiert auch Zajícová (2009: 131) auf Grundlage ihrer eigenen Umfragen, dass der Prozentsatz bilingualer Sprecher sehr hoch ist. 5 Die Abweichungen in den einzelnen Darstellungen sind den unterschiedlichen Interpretationen durch die einzelnen Autoren geschuldet. Auf die Schwierigkeiten der Frageformulierung und die Verlässlichkeit der Daten in den demographischen Befragungen macht vor allem Zajícová (2009: 62-67) aufmerksam. 6 Dietrich charakterisiert diese zu Recht als eine komplizierte Diglossie (“complicada diglossia”) (Dietrich: 1995: 206; 1996: 402). <?page no="266"?> Sprachkontakt in Paraguay 233 Guaraní vorzugsweise, aber eben nicht nur, als Nähe- und Umgangssprache verwandt (zu Hause, in traditionellen und religiösen Kontexten), während das Spanische eher in distanzsprachlichen und primär medial schriftlichen Kommunikationssituationen (akademischer Bereich, Verwaltung, Massenmedien etc.) gebraucht wird (cf. Palacios Alcaine 2008: 282-283). 7 Cette division du travail se répète à l’intérieur du pays et a conduit à une impressionnante scission diglossique de la vie des Paraguayens. Le guarani sert de véhicule à la communication dans les relations de proximité et pour les sujets quotidiens. C’est par le guarani que s’exprime la solidarité, souvent dans le mode humoristique. Le castillan est secondaire pour la majorité de la population mais de haut prestige. Il occupe les domaines cultivés par les ‘karai’ (seigneurs), les membres des classes sociales supérieures, les spécialistes des techniques et du savoir modernes. Cette constellation est stable depuis l’époque de la conquête. L’éducation bilingue préscrite par la Constitution de 1992 et entamée actuellement dans les écoles du Paraguay essaie d’ouvrir les domaines de haut prestige au guarani. (Thun 2005 : 340) Die Kenntnis des Spanischen ist in Paraguay im Unterschied zu den anderen hispanophonen bzw. lusophonen Ländern Amerikas erst zweitrangig, nimmt aber mit dem Bildungsgrad und mit der Annäherung an städtische Räume deutlich zu. 8 Der Studie von Fasoli-Wörmann (2002) zufolge verschieben sich die Proportionen im Gebrauch beider Sprachen, was ihrer Meinung nach auf einen Sprachwechsel hindeuten könne (Fasoli-Wörmann 2002: 211). So dränge das Spanische in immer mehr Domänen des Guaraní ein; die vormals klaren Abgrenzungen der einzelnen Gebrauchsdomänen der beiden Sprachen begännen zu verwischen (Fasoli-Wörmann 2002: 243). Sprachliche Folgen des Kontakts zwischen den verschiedenen Varietäten des Guaraní und des Spanischen in Paraguay sind zahlreiche phonetische und syntaktische Interferenzen, lexikalische Entlehnungen in beide Richtungen, aber beispielsweise auch die mangelnde Kenntnis vieler spanischer Lexeme bei den zweisprachigen Paraguayern (Palacios Alcaine 2008: 285- 297; Granda 1988: 171-178, 189-203; Dietrich 1995: 207). 9 7 Wie differenziert die Sprachenwahl aber auch im Bereich der Nähesprache ausfallen kann, verdeutlichen die detaillierten Untersuchungen von Zajícová (2009: 132-138). 8 Die Verwendung des Guaraní ist im Vergleich zu den anderen Ländern, in denen indigene Sprachen verwandt werden, aber nicht hinderlich für den sozialen Aufstieg (Gómez 2007: 40). 9 “En cuanto a los datos concretos presentados en este estudio, el número de elementos morfológicos de origen guaraní empleados en español paraguayo (en sus diversos estratos sociolingüísticos) alcanza la cifra de 136 que, sumados a los 30 reseñados en mi trabajo anterior, dan lugar a un total de 166, cifra realmente sorprendente referida a préstamos en este nivel gramatical y que, según creo, muy pocas veces (si alguna) ha sido superada o igualada en otros casos de contacto de lenguas” (Granda 1988 : 199) <?page no="267"?> Sybille Große 234 2. Modale bzw. evidentielle Markierungsverfahren Die Markierung bzw. Kodierung der Art der Quelle, aus welcher ein Sprecher in der Kommunikation Kenntnis über eine Information erlangt - welche zumeist als ‚Evidentialität’ bezeichnet wird - kann in den Sprachen bzw. Kulturen verschieden ausgeprägt sein. 10 Möglicherweise sprachtypologisch bedingt finden wir in den einzelnen Sprachen differenzierte Mittel zur Kodierung der Wissensquellen und Kenntnisnahme, die grammatischer aber eben auch rein lexikalischer Art sein können. Every language has some way of making reference to the source of information; but not every language has grammatical evidentiality. (Aikhenwald 2003: 1) Dabei kann die Herkunft der Wissensquelle in unterschiedlichem Maße mit der eigenen Wahrnehmung der Sprecher (ich habe gesehen, gehört, gerochen…), mit der sprachlichen Vermittlung (Informationsübernahme - Quotation), mit Schlussfolgerungen (Informationsschaffung - Inferenzen) oder auch mit Träumen, Mythen u. ä. verbunden sein (Volkmann 2005: 95-114 und Gomez- Imbert 2007: 66). Gomez-Imbert veranschaulicht die Vielfalt in der Kategorisierung der Wissensquellen auf der Grundlage des Französischen wie folgt: Imaginons que la conjugaison du français, outre marquer des distinctions aspectuelles et temporelles, inclue dans sa morphologie flexionnelle un paradigme dont les valeurs équivaudraient à des périphrases telles que “apparemment”, “il semble que”, “on dit que”, “je constate que”, et que ce paradigme nous contraigne à expliciter le mode de connaissance qui fonde notre propos. (Gomez-Imbert 2007: 65) In zahlreichen amerindianischen Sprachen werden im Unterschied zum Französischen oder dem Spanischen spezialisierte grammatische Ausdrucksmittel, evidentials, zur Markierung der Herkunft des Sprecherwissens eingesetzt. 11 Oftmals stellt in diesen Sprachen die Evidentialität sogar eine “obligatorische, am Verb ausgedrückte morphologische Kategorie dar” (Volkmann 2005: 75). Aufgrund der entwickelten grammatischen Systeme evidentieller Markierung in den amerindianischen Sprachen wurden diese Sprachen in den vergangenen beiden Jahrzehnten in das Zentrum des wissenschaftlichen Interesses evidentieller Beschreibung gerückt. 12 10 Der Umfang des Beitrags ermöglicht es mir nicht, auf die immer wieder auftauchende Problematisierung des Terminus Evidentialität einzugehen. Für die terminologische Historiographie verweise ich u.a. auf Volkmann (2005: 75-85) und für die Abgrenzung von ‘Evidentialität’ und ‘médiatif’ auf Dendale / Tasmowski (2001: 341) und Guentchéva / Landaburu (2007b: 1). 11 In einem Viertel der Sprachen der Welt muss in jeder Äußerung die Art der Quelle, auf der sie beruht, markiert werden (Aikhenvald 2004: 1). 12 Aktueller Ausdruck dessen ist der Band von Guentchéva / Landaburu (2007a). <?page no="268"?> Sprachkontakt in Paraguay 235 Für den Vergleich der verschiedenen Verfahren, die in den einzelnen Sprachen zur Kodierung der Evidentialität herangezogen werden, und auch für die hier von mir vorgenommene Analyse der Folgen sprachkontaktlicher Beeinflussung zwischen dem Spanischen und dem Guaraní ist es nicht unproblematisch, dass keine Einigkeit über die Konzeptualisierung von ‘Evidentialität’ besteht (cf. auch Volkmann 2005: 85). Differenzen liegen, neben anderen, auch in der Abgrenzung von ‘Modalität’, speziell der ‘epistemischen Modalität’, und der ‘Evidentialität’, deren Nähe auf der kognitiven Ebene durchaus plausibel ist, da zwischen der Quelle und der subjektiven Bewertung der Zuverlässigkeit dieser Quelle Überlappungen liegen (cf. Haßler 2002: 152; Volkmann 2005: 82, 83,95). 13 Beide können gemeinsam kodiert werden, Aussagen zur Zuverlässigkeit der Quelle müssen aber nicht notwendigerweise an die Angabe der Quelle gekoppelt sein (cf. auch Haßler 2009: 176). Die Bewertung des Verhältnisses von epistemischer Modalität und Evidentialität wird auch in der Beschreibung des hier untersuchten Markers aus dem Guaraní ndaje von Relevanz sein (siehe Abschnitt 4). Leiss (2009) konnte in ihrer einzelsprachlichen Studie zur Differenzierung deutscher Modalverben und Modalitätsadverbien zeigen, wie unterschiedlich beide Wortarten im Deutschen epistemische und auch evidentielle Markierungsfunktionen, gemeinsam oder eben getrennt, übernehmen. Dabei grenzt sie die Funktionsweise der Modalverben klar von den Modaladverbien ab: Sie [Adverbien] geben entweder die Quelle der Information oder die Bewertungsinstanz in Bezug auf die Information an. Epistemische Modalitätsadverbien sind zum Beispiel: vielleicht, wahrscheinlich und möglicherweise, als evidentiale Modalitätsadverbien können offensichtlich, angeblich, scheinbar eingeordnet werden. In einem Fall wird die Sprechereinschätzung, im anderen Fall die Quelle der Evidenz für den Sprecher zum Ausdruck gebracht. In keinem Fall wird beides kodiert (Leiss 2009: 12). Evidentialen (= grammatischen Evidentialen) schreibt Leiss jedoch - ähnlich wie das Floyd (1997: 70-71) und auch Haßler (2009: 177) erörtert haben - die Kodierung einer doppelten Sprecherdeixis [+ Quelle, + Sprechereinschätzung] zu (Leiss 2009: 13). In diesen Fällen könnten nach Leiss die Epistemizität (Bewertung der Proposition) und Evidentialität (Quelle des Sprecherwissens) als äquivalent gesehen werden (Leiss 2009: 18). Damit spricht sie sich allerdings zugleich gegen eine Gleichstellung grammatisch und lexikalisch kodierter Evidentialität aus, die oftmals mit “funktionalen Fehleinordnungen” einhergehe (Leiss 2009: 14). 13 Volkmann (2005) entscheidet sich daher für eine terminologische Neuerung indem sie von “epistemischer Relativierung” spricht, da der Sprecher als epistemisches Zentrum mittels verschiedener sprachlicher Mittel seine Verantwortung gegenüber dem Wahrheitsgehalt der Propositionen relativieren kann. <?page no="269"?> Sybille Große 236 Für Haßler ist die Evidentialität gleichfalls keineswegs nur die Referenz auf die Quelle einer Information, sondern ein deiktisches Phänomen, bei dem der Sprecher in einem komplexen Verhältnis zur Information und ihren verschiedenen Quellen steht (Haßler 2009: 179): Mientras la modalidad epistémica aporta monológicamente la actitud epistémica del hablante o del autor, la evidencialidad requiere del oyente o del lector la elaboración de la referencia a la fuente de información hecha por el hablante y la realización de todos los ajustes necesarios en función de su identidad, su individualidad y su posición epistémica frente a las fuentes, que puede ser diferente respecto del hablante (Haßler 2009: 178). Lexikalische und grammatische Kodierungsverfahren von Evidentialität und epistemischer Modalität stehen sich im Sprachkontakt zwischen Spanisch und Guaraní gegenüber. So verfügt das Spanische - wie bereits erwähnt - nicht über spezielle grammatikalisierte Formen zum Ausdruck der Evidentialität 14 und greift daher zumeist auf verschiedene lexikalische bzw. syntaktische Strukturen (z.B. Perzeptionsverben, Präpositionalphrasen wie parece que, aparentemente, según dicen, por lo visto) zurück. Ein Beispiel soll zur Illustration der Komplexität derartiger Markierungen genügen. Das Verb parecer kann im Spanischen Evidentialität markieren und dabei in Abhängigkeit von seiner syntaktischen Konstruktion eine Markierung als Information vom Hörensagen zulassen, oder auch nicht, wie Bermúdez (2002) und Cornillie (2007) herausarbeiteten: parece que Puede deducirse de la evidencia directa hearsay inference Dicen. parece + Inf. Puede dedurcirse de la evidencia directa. is not based on hearsay no secondhand evidence is involved without the speaker’s own processing has an inferential reading, while it does not refer to hearsay (Cornillie 2007: 26) Dicen. (Bermúdez 2002 : 26) Die Infinitivkonstruktion mit parecer ermöglicht dementsprechend keine Annahme vom Hörensagen, d.h. der Zugang zur Information ist mit parece que subjektiv, bei parece + Infinitiv ist er auch für andere möglich und damit nach Bermúdez intersubjektiv (Bermúdez 2002: 26). 14 Zur Diskussion der Existenz grammatischer Mittel zum Ausdruck der Evidentialität im Spanischen siehe beispielsweise Bermúdez Wachtmeister (2004). <?page no="270"?> Sprachkontakt in Paraguay 237 In der Familie der Tupí-Guaraní-Sprachen, zu denen die in Paraguay gesprochenen Guaraní-Varietäten gehören, können die unterschiedlichen Arten der Vermittlung des Sprecherwissens nach Cabral wie folgt markiert werden: Les langues tupi-guarani distinguent quatre sous-catégories médiatives, à savoir : la sous-catégorie constituée des marques indiquant que la source de l’information s’associe à l’expérience d’autrui et les sous-catégories que nous avons reconnues comme ouï-dire, mythique et onirique. L’ouï-dire signale que la source de l’information est une troisième personne non spécifiée et que le contenu de l’information est incertain ; le mythique indique que la source de l’information est un mythe et que la fiabilité de son contenu est indiscutable. L’onirique indique que la source de l’information est un rêve. (Cabral 2007: 287-288) Dabei ist das Hören-Sagen eine Informationsübernahme von einer dritten Person, mit der der Sprecher oft auch Zweifel an deren Glaubwürdigkeit kennzeichnet, weil die Quelle nicht eindeutig identifizierbar ist. 15 Dass in den verschiedenen Sprachen evidentielle Markierungsmöglichkeiten unterschiedlich genutzt werden und bei einigen Sprachen obligatorisch gesetzt werden müssen und in anderen nicht, hat zahlreiche Autoren wissenschaftlicher Beschreibungen von Evidentialen nach der kulturellen Relevanz für diese Entwicklung und für ihren Gebrauch fragen lassen. So erklärt beispielsweise Gomez-Imbert (2007) die Relevanz der Inferenz in den Tucano-Sprachen durch die Lebensumstände im Amazonas: L’inférentiel traduit une lecture fine et rapide du milieu amazonien, extrêmement importante dans la survie quotidienne : quête de gibier, de pêche ; perception d’un danger. L’eau de la rivière est trouble, j’infère qu’un anaconda s’y déplace. Des empreintes fraîches m’indiquent qu’un jaguar rôde par ici. (Gomez-Imbert 2007: 73) Auch wenn solche Art der Überlegungen auf der Hand liegen mag, sollten wir wie immer zurückhaltend sein, die jeweiligen Lebensverhältnisse unmittelbar auf die sprachlichen Entwicklungen zu projizieren. Adelaar (1997), der sich insbesondere mit dem Quechua beschäftigte, spricht von einer pragmatischen Pflicht zur evidentiellen Markierung in dieser Sprache und offenbar auch in Sprachkontaktsituationen, die so hoch sei, dass jeder Sprecher, der in seinen Äußerungen nicht die Quelle seines 15 Nicht unbegründet wird bei der Betrachtung oft auf Guentchéva und ihr Konzept vom ‘médiatif’ zurückgegriffen, bei dem die eigene Perzeption zur Informationsschaffung in den Hintergrund gestellt wird: « Rappelons que, selon cette distinction, le terme de médiatif désigne une catégorie grammaticale qui, fondée sur des oppositions formelles au sein du système grammatical d’une langue, permet à l’énonciateur de présenter “des situations [...] dont il n’assume pas la possibilité pour en avoir eu connaissance par voie indirecte, d’où la possibilité pour lui de manifester divers degrés de distance par rapport au contenu de son propre message » (Guentchéva 1996: 11) (Guentchéva / Landaburu 2007b: 1). <?page no="271"?> Sybille Große 238 Sprecherwissens angeben würde, seine Glaubwürdigkeit verlöre und sofort als nicht Quechua-Sprecher erkannt wird (Adelaar 1997: 6): Según este punto de vista, cada hablante y miembro de la sociedad indígena debería especificar en forma veraz la fuente de la información proporcionada, so pena de ser considerado como fantaseador o elemento antisocial. (Adelaar 1997: 3) Wie stark der Gebrauch einzelner evidentieller bzw. modaler Marker jedoch auch diskurstraditionell geprägt sein kann, deutet sich in den Beschreibungen Floyds (1997: 185) und Adelaars zur Verwendung des evidentiellen Markers si/ shi im Quechua an, welcher zuerst besonders häufig in Märchen oder traditionellen Erzählungen auftrat, während er heute beispielsweise auch in all jenen narrativen Kommunikationssituationen verwandt wird, in denen die Sprecher keinerlei Verantwortung für den Wahrheitsgehalt der Proposition übernehmen möchten und allein der Weitergabe der Informationen dienen (Adelaar 1997: 7). 16 El narrador toma distancia de aquella realidad, declarándola de fuente ajena en su totalidad. El uso generalizado de -si en las narraciones contemporáneas subraya el carácter fijado de las mismas. El narrador se comporta como un instrumento de transmisión de una tradición, en la que ya no encajan modalidades de tipo individual y subjetivo (Adelaar 1997: 7). Die hohe Präsenz evidentieller Markierung im Quechua kann nach Adelaar (1997: 3-4) zu Schwierigkeiten bei der Translation ins Spanische führen, welche sich nicht zuletzt durch den hohen pragmatischen Stellenwert dieser Markierungen erklärt (Adelaar [1997: 4] spricht sogar von Unübersetzbarkeit). Dass diese Präsenz nicht nur für die Translation besondere Relevanz hat, sondern sich auch im Sprachkontakt manifestieren kann, steht im Zentrum der hier präsentierten Analyse von Texten des paraguayischen Spanisch. 3. Modale bzw. evidentielle Markierungen im Guaraní Das paraguayische Guaraní gehört zu den agglutinierenden und polysynthetischen Sprachen, in welchen präbzw. postverbale Affixe unterschiedliche Markierungsfunktionen übernehmen. 17 Das Guaraní hat neben temporalen und aspektuellen Markern auch ein komplexes System an modalen Markierungen entwickelt, die den Inhalt einer Äußerung abschwächen, 16 Gemäß Floyd (1997: 185) widerspricht es geradezu dem Genre des Märchens von einer identifizierbaren Quelle des Sprecherwissens zu sprechen. 17 Angaben zur grammatischen Personen und die Numerusmarkierung erfolgt zumeist präverbal, die Tempus-, Aspekt- und Modusmarkierung dagegen postverbal (cf. z.B. Zarratea 2002: 64). <?page no="272"?> Sprachkontakt in Paraguay 239 hervorheben bzw. die Haltung des Sprechers zur Äußerung anzeigen können (Palacios Alcaine 2008: 287). Dabei ist es durchaus üblich, mehrere dieser Marker miteinander zu kombinieren. 18 In den Grammatiken des Guaraní werden jene Art Marker, die Modalität und Evidentialität kodieren, sehr häufig allein als modalisierende und nicht als evidentielle Formen beschrieben. Dies hat vor allem zwei Gründe: Zum einen stehen sie in einer Grammatiktradition, in der die Evidentialen oft kaum bzw. nicht berücksichtigt wurden, zum anderen liegt dies der bereits erwähnten Nähe der Kategorien ‘Modalität’ und ‘Evidentialität’ begründet. Die Schwierigkeiten der genauen Erfassung der funktionellen Verwendung evidentieller Marker durch frühere Arbeiten ist häufig beschrieben worden, so auch bei Floyd für evidentielle Markierung in Quechua- Varietäten: Las descripciones gramaticales anteriores muestran que lo que ahora se reconoce como marcación de la fuente de información a menudo no se reconoció como tal. (Floyd 1997: 22) Cabral (2007: 271) kann aus ihrer vergleichenden Untersuchung von 21 Sprachen aus der Tupí-Guaraní-Familie schließen, dass diese Sprachen vorrangig zwei Arten der Evidentialität kodieren: (a) Äußerungen, die auf eine Situation verweisen, deren unmittelbarer Zeuge sie waren und (b) Äußerungen, deren Inhalt dem Sprecher von Dritten, vom Hörensagen, übermittelt wurde. In der Tabelle (II) findet sich eine kleine Auswahl funktioneller Beschreibungen von drei Markern in grammatischen Arbeiten zum paraguayischen Guaraní: 19 Tabelle (II) Modale bzw. evidentielle Markierungen im Guaraní Marker Funktionsschilderung in Arbeiten zum Guaraní Zusammenfassung 1. ndaje je 20 «ouï-dire» (Cabral 2007 : 281) «modo narrativo inverosímil o dubitativo - como narración de cuya veracidad no se está muy seguro» (Krivoshein 1983: 102) Hörensagen, Informationsübermittlung die Information hat der Sprecher nicht seiner persönlichen Wahrnehmung entnommen 18 Zarratea (2002: 101-107) erläutert in seiner Guaraní-Grammatik allein 37 solcher Markierungen. 19 Eine explizite Einzelstudie zu ndaje liegt meines Wissens bisher nicht vor. Die Arbeiten von Palacios Alcaine (2008) und Granda (1988) reflektieren in dieser Zusammenstellung den Gebrauch von Guaraní-Strukturen im paraguayischen Spanisch und nicht im Guaraní. 20 Die Formen ndaje und je werden von Krivoshein / Acosta Alcarez (2001: 101) als Suffix bzw. Adverb erfasst. <?page no="273"?> Sybille Große 240 «ndaje-adverbio de modo narrativo inverosímil» (Krivoshein / Acosta Alcarez 2001: 29; 101) «narrativo inverosímil» (Zarratea 2002: 102) «suposición, incierto» (Liuzzi 2007: 32) «la oración a la que pertenece es una reproducción de lo dicho por alguien en estilo indirecto, de cuya verdad el hablante no se responsabiliza; él se limita a transmitir lo dicho» (Ayala 1993: 215). «Durch die Anwendung von NDAJE, dem jeweiligen Personalpronomen nachgestellt, drückt der Sprecher starke Zweifel hinsichtlich der vom Verb gelieferten Mitteilung aus» (Gauto Bejarano 1990: 123). «Marcadores que indican que la infomación transmitida no ha sido experimentada personalmente: ndaje» (Palacios Alcaine 2008: 287). «Entre las expresiones adverbiales de duda pueden ser incluídos: 110) ndaje ‘según se dice’ 111) he’ije ‘según dicen que dijo» (Granda 1988: 195) Zweifel am Wahrheitsgehalt der Äußerung Verantwortung für das Gesagte wird nicht übernommen 2. niko ko «narratif vraisemblable» (Cabral 2007 : 273) «narrativo verosímil» (Zarratea 2002 : 102) «Marcadores que refuerzan la afirmación y aseguran la certeza de la información que el hablante transmite; indican verosimilitud narrativa: ko, niko» (Palacios Alcaine 2008: 287). Verstärkung und Bestätigung der Information, die der Sprecher in seiner Erzählung übermittelt <?page no="274"?> Sprachkontakt in Paraguay 241 «Suele considerarse que esta partícula intensifica la significación de la palabra precedente pero es más probable que, en la actualidad, limite su valor a enfatizar la totalidad de la frase en que se incluye» ( Granda 1988: 174). 3. ra’e «action passée, indéterminée (attesté par un tiers) en guaraní paraguayen» (Cabral 2007 : 278) El modo expresado por ra’e indica el conocimiento que adquiere el hablante o su sorpresa al enterarse en un momento dado de la realización de una acción, y puede usarse con verbos en tiempo presente, pasado y futuro (Krivoshein/ Acosta Alcaraz 2001: 101). «morfema temporal de pasado que indica un pasado indefinido objetivamente en un tiempo no lejano al momento de la enunciación con un valor modal delgatorio: expresa el distanciamiento del hablante con respecto a la información que transmite, implicando duda o incertidumbre sobre esa información« (Palacios Alcaine 2008: 291) «Su valor primario en guaraní es, al igual que raka’e y nipora’e, el de indicar aspecto perfectivo pero, al mismo tiempo, estas partículas (que se emplean en postposición respecto a la forma verbal) son portadoras de un matiz significativo con el que se expresa el conocimiento de la verdadera realidad del hecho denotado por el verbo, ya sea porque tal circunstancia no hubiera llegado anteriormente a ser captada en su auténtica significación por el sujeto o bien porque la haya ignorado totalmente« (Granda 1988: 196) Markierung der Vergangenheit mit modalem Wert Der Sprecher distanziert sich und übernimmt keine Verantwortung für die Validität der Proposition. <?page no="275"?> Sybille Große 242 In der Funktionsbeschreibung von ndaje bzw. der Form je 21 im Guaraní bzw. im paraguayischen Spanisch (Palacios Alcaine; Granda) stellen die Autoren - wie der Tabelle (II) zu entnehmen ist - heraus, dass die Information durch Wissensvermittlung gewonnen wird, wobei der Mittler unbestimmt ist (Hörensagen) und dass sie sich für die Richtigkeit bzw. Falschheit der Information nicht verantworten; oder die Autoren fokussieren allein den Zweifel am Wahrheitsgehalt der weitergegebenen Information oder damit möglicherweise auch an der Quelle. 22 Die Mehrdeutigkeit in der Erfassung der Markierungsfunktion von ndaje durch die einzelnen Autoren wird gleichfalls in den Übersetzungen von illustrierenden Guaraní-Beispielen ins Spanische, Französische oder Deutsche deutlich, die die Autoren in den Arbeiten zur Verdeutlichung heranziehen: o-mba’apo jé Il travaille, dit-on Cabral (2007: 281) oguaata ndaje dicen que camina Zarratea (2002: 102) omba´apo´je ovy`ándaje dicen que trabaja dicen que está feliz Krivoshein (1983: 102) Omba ‘apóje Se dice que trabaja Krivoshein / Acosta Alcaraz (2001: 101) Che ndaje ajapi kuri ne rymba jagua. Man unterstellt mir (fälschlicherweise) deinen Hund mit Steinen beworfen zu haben. Gauto Bejarano (1990: 123) Se me atribuye falsamente haberle tirado piedras a tu perro. Dass die Übersetzung von ndaje ins Spanische mit dicen que bzw. se dice que aber nicht unbedingt immer äquivalent ist, erörtert Ayala: La partícula “ndaje” equivale, en cuanto a su significación, al verbo impersonal “dicen” castellano […] En dice(n), la (n) indica que “ndaje” puede equivaler a “dice” o al impersonal “dicen”. En su significación y uso “ndaje” no es del todo equivalente al impersonal castellano “dicen”. “Dicen” es del todo impersonal y anónimo, mientras que “ndaje” se puede usar aún en el caso de que quien lo dijo 21 Die Entwicklung von je beschreibt Floyd (1997: 62) wie folgt: “Es probable que el reportativo del guaraní -je venga del verbo jeko ‘apoyarse en’ (Maura Velázquez, comunicación personal). El desarrollo de este verbo hasta llegar a ser un marcador de fuente de información puede comprenderse en términos de una extensión desde un campo concreto hasta un campo abstracto. Como una persona puede apoyarse en algún objeto para recibir apoyo físico, también puede “apoyarse” en lo que otro ha dicho para corroborar una afirmación”. 22 “Es sollte darüber hinaus zwischen validativer Einschätzung der Quelle und validativer Einschätzung des Sachverhalts unterschieden werden” (Volkmann 2005: 98). <?page no="276"?> Sprachkontakt in Paraguay 243 sea una persona determinada y conocida; lo que tiene de propio la partícula “ndaje” es que el hablante se limita a transmitir lo dicho, eludiendo toda responsabilidad con respecto a la verdad de lo dicho: Ej.: Susána he’i ndohayhuiha Santiágo-pe; iñatè y-ndaje: Susana dice que no lo quiere a Santiago; según ella es perezoso (Ayala 1993: 215). Anders als in der für den hispanophonen Raum relevanten Kontaktsprache Quechua, in der ein dreistufiges evidentielles Markierungssystem vorliegt, das teilweise eine Abgrenzung zwischen der Markierung epistemischer Modalität und Evidentialität durch den Sprecher ermöglicht, scheint ndaje für einige Autoren beide Markierungsfunktionen, evidentiell bzw. epistemisch, in sich zu vereinen. Eine Kennzeichnung der Informationsweitergabe bzw. -vermittlung wird in den vorhandenen Arbeiten zum Quechua oft als reportada oder reportativo (Floyd 1997: 45) gefasst. Für Floyd beinhaltet Reportativ eine Information vom Hörensagen, wobei der Sprecher Wissen weitergibt, das er nicht seinem eigenen Zeugnis oder der eigenen Erfahrung einer bestimmten Situation entnimmt und auch nicht auf einem logischen Prozess beruht, sondern aus der sprachlichen Weitergabe durch ein anderes Individuum stammt (Floyd 1997: 77, 174). Bei der Konzeptualisierung von Informationsvermittlung als ‘Hören- Sagen’ stellt sich die Frage, ob dieses von Floyd oder Ayala angegebene andere Individuum tatsächlich existent ist oder aber dessen Existenz durch den Sprecher nicht nur simuliert wird bzw. möglicherweise diskurstraditionell gesetzt wird - wie das beispielsweise beim Märchen der Fall ist. Floyd selbst differenziert für das von ihm analysierte Wanka-Quechua in prototypische und weniger prototypische (z.B. Märchen, Mythen, Legenden, Rätsel) Verwendungsweisen des Markers -shi zur Kodierung von vermittelten Informationen, d.h. den Informationen aus zweiter bzw. dritter Hand. 23 Auch für Weber ist es grundsätzlich wichtig herauszustellen, dass der Sprecher den Sachverhalt nicht persönlich erlebt hat (Weber 1989: 421 “learned by indirect experience”) und zugleich auch, dass der Sprecher damit den Wahrheitsgehalt der Proposition nicht bestätigt. 23 In verschiedenen grammatischen Arbeiten zum Quechua bzw. einzelnen seiner Varietäten werden drei Verbalsuffixe beschrieben, die evidentielle Funktion kodieren (Floyd 1997: 54 ; Weber 1986: 421-422; Merma Molina 2007: 238) : m(i) - Quelle des Wissens durch eigene bzw. direkte Wahrnehmung bekannt sh(i) - oft als “evidencia reportativo/ reportada” beschrieben, d. h. Informationsübernahme von anderen, aus zweiter bzw. dritter Hand; chá/ chra - Vermutung, d.h. die Information wird weder übernommen noch durch die eigene Wahrnehmung geschöpft, sondern beruht allein auf einer Annahme. <?page no="277"?> Sybille Große 244 Evidentialität Validation Verantwortung -mi direkt bestätigt Sprecher -shi indirekt unbestätigt andere außer dem Sprecher (nach Weber 1989: 422) Floyd schließt die Angabe zur Validität einer Äußerung durch den Sprecher für den Quechua-Marker -shi sogar explizit aus (s.a. Adelaar 1997: 7): 24 Pero por medio de -shi el hablante evita esas dos alternativas y se interpreta así mismo como un simple canal a través del cual pasa la información. No evalúa el contenido proposicional en términos de su propia perspectiva validacional; solamente la pasa al siguiente oyente y el efecto es que su propia responsabilidad validacional es irrelevante. (Floyd 1997: 179) Inwiefern Marker wie ndaje, die im paraguayischen Guaraní sehr zahlreich sind und die das Spanische nicht kennt, auch jene Kontaktvarietäten des Spanischen in Paraguay beeinflussen können, welche von den zweisprachigen Sprechern gesprochen und geschrieben werden, und welche Funktion sie dort ausfüllen, werde ich nachfolgend skizzieren. 4. Analyse Zur Analyse nutzte ich im Zeitraum von November 2008 bis September 2010 internetzugängliche spanischsprachige Tageszeitungen Paraguays. Während in der bedeutendsten Tageszeitung jenes Landes, Última Hora, in der offensichtlich die Bemühungen um den Gebrauch der Standardvarietät des paraguayischen Spanisch weit deutlicher ausgeprägt sind, die sprachliche Beeinflussung des Spanischen durch das Guaraní im morphosyntaktischen Bereich gering ausfällt, sieht dies in der Tageszeitung Diario Popular, die man in ihrem Aufbau und Informationswert in gewissen Rahmen mit der deutschen Bild-Zeitung vergleichen kann, anders aus. Palacios Alcaine (2008: 288) charakterisiert die in der Zeitung verwandte Sprache als umgangssprachlich. 25 24 In diesem Sinn äußert sich auch Leiss (2009: 18), die beim ‘Hörensagen’ die “Modalität der Sinneswahrnehmung” wenig beachtet und demgegenüber die Konzeption als Quelle der Information fokussiert. 25 Auch in der Última hora, die eine sehr umfangreiche Tageszeitung ist und durchaus 50 bis 60 Seiten umfassen kann, finden wir Texte, die sich in die Rubriken ‘Leute‘, ‘Vermischtes’, ‘Polizeireport’ und ‘Regionales’ einordnen lassen. Diese enthalten lexikalische Entlehnungen aus dem Guaraní; die Übernahme morphologischer und syntaktischer Guaraní-Strukturen ist jedoch weit weniger verbreitet. Dies grenzt sie von dem Sprachgebrauch im Diario Popular ab, der verschiedene Charakteristika aufweist, die <?page no="278"?> Sprachkontakt in Paraguay 245 In zahlreichen Texten, in denen dort über Angriffe oder Übergriffe, Brände, sexuellen Missbrauch oder vergangene Liebschaften berichtet wird, spielt die Markierung, woher die einzelnen Journalisten oder “Reporter” ihre Informationen bezogen haben, für die Glaubwürdigkeit und Akzeptanz der Information bei den potentiellen Lesern dieser Zeitung eine große Rolle. In der Mehrzahl der Fälle wird in den von mir analysierten Texten auf Marker aus dem Guaraní zurückgegriffen. Besonders häufig fand sich ndaje. Beispieltext 1 Acusan de “víbora” a pa’i, 10 Nov 2008 02: 00 DIARIOPOPULAR La Iglesia San Pablo Apóstol de la capital amaneció ayer “forrado” de cables contra el cura párroco Derlis Fleitas. Montón de feligreses de la parroquia vienen exigiendo desde hace meses el raje del religioso, a quien cuestionan su comportamiento que no va de acuerdo a los principios cristianos, he’i hikuái. En los pasacalles, califican al pa’i como “víbora”, “hipócrita”, “apóstata”, hamba’e. Avei escribieron los vecinos enojados que Fleitas le tiene “crucificado a Cristo” y que es un “sepulcro blanqueado” por sus “acciones perversas”. La instalación de los carteles fue en respuesta a la actitud que tomó contra los jóvenes parroquianos que participaron recientemente de un retiro espiritual. En dicha actividad, Fleitas ndaje trató de ka’úchos y tatálos a los péndex. Esta actitud no cayó nada bien en la comunidad. Por eso exigen el traslado del polémico secre de Kiritó, lo antes posible ha’i. Quelle: www.popular.com.py/ ? q=node/ 3039 In diesem Text “Sie klagen den Priester als Schlange an” wird berichtet, wie die Mitglieder der Gemeinde San Pablo Apóstol in Asunción über Nacht zahlreiche Transparente aufstellten, um für die Absetzung des Priesters, Derlis Fleitas, zu demonstrieren, dessen Verhalten nicht im Einklang mit den christlichen Prinzipien stehe. Sie bezeichnen den Priester als “Viper, Hypokrit, Abtrünnigen” und “Heuchler”. Die Protestschilder erklären sich letztlich als Reaktion auf das Verhalten des Priesters einigen Jugendlichen gegenüber, die kürzlich an einer Art ‚spirituellen Rückzugs’ teilgenommen hatten. Dabei soll er versucht haben, die jungen Männer betrunken zu machen und anzufassen. In der Passage, in der es um die Darstellung des Verhaltens des Priesters den jungen Männern gegenüber geht, gebraucht der Autor des Textes die Markierung ndaje. Er stellt den Marker allerdings nicht wie im Guaraní üblich dem Verb nach, sondern benutzt ihn in Anteposition. Nähevarietäten prägen: Dazu zählen eine sehr umgangssprachliche bis vulgäre Lexik und zahlreiche Apokopen (beispielsweise presi für den presidente oder polis für Polizisten). Wesentlich präsenter sind aber dort auch die Einflüsse aus dem Guaraní. <?page no="279"?> Sybille Große 246 Aus meiner Sicht zeigt der Journalist 26 mit einer solchen Markierung im Text an, dass es sich nicht um seine eigene Information handelt, er selbst keine eindeutig bestätigten Angaben zur Quelle machen kann und daher offensichtlich die Verantwortung für den Wahrheitsgehalt des Dargestellten abgibt und diese nur publik macht (cf. auch Palacios Alcaine 2008: 288). Mit der gleichfalls aus dem Guaraní übernommenen Form he’i hikuái indes, die sich aus dem Verb he’i (‘e=Stamm) 27 sagen und der Markierung für den unvollendeten Aspekt in der 3. Person Plural hikuái 28 (=sie sagten etc.) zusammensetzt, verdeutlicht der Journalist nochmals, dass es die Gemeindemitglieder (feligreses) waren, die sich zum Verhalten des Priesters geäußert haben. Es ist eine erneute Rückversicherung durch den Journalisten, allerdings kann die Quelle der Information in diesem Beispiel durch den unmittelbaren Bezug auf den Referenten genau bestimmt werden. Auch diese Struktur fand sich häufig in jenen journalistischen Texten. Es handelt sich jedoch nicht um einen Marker, der aus dem Guaraní übernommen wird, sondern um eine ursprünglich im Guaraní offenbar so nicht verwandte Form, die aber nun - ähnlich den evidentiellen Markern - zur Kodierung der Evidentialität (Quotation) genutzt wird. In manchen Textbeispielen wird innerhalb eines Satzes auch mehrfach die Quelle der Information markiert. Dies möchte ich anhand des nachstehenden zweiten Beispielkomplexes zeigen. In diesen Beispielen geht es um Benigna Leguizamón, eine junge Paraguayerin, die ein Kind mit dem derzeitigen paraguayischen Präsidenten und früheren Priester, Fernando Lugo, haben soll: Beispieltext 2 “Recibí 100 propuestas de matrimonio” 09 Jun 2009 03: 00 DIARIOPOPULAR [...] Después de presentarse radicalmente tuneada en Tv, Benigna Leguizamón, la segunda pichucha de Fernando Lugo, ndaje recibió propuestas de 100 candidatos, y todos para casamiento. ¡Mirá cómo tunearon a la segunda pichucha de Lugo! 08 Jun 2009 03: 00 DIARIOPOPULAR [... ] Y le bajó que está segura “ciento por ciento” de que el presidente es el papá de su hijo porque no tuvo relaciones ndaje con otro hombre durante esos dos años que fueron pareja, según he’i. Y según ella, después de que nació su 26 Die Texte werden in der Regel ohne konkrete Autorenangabe abgedruckt. 27 “ ‘e=sagen [...], ha’e he’i= el, ella dice=er, sie, es sagt [...], ha’ekuéra he’i=ellos dicen=sie sagen” (Gauto Bejarano 1990: 55). 28 “hikuái, s.a.v. de aspecto imperfectivo para 3ª persona del plural” (Krivoshein 1983: 157); “hikuái-: marca de plural continuativo, imperfectivo, focalizador” (Liuzzi 2007: 61). <?page no="280"?> Sprachkontakt in Paraguay 247 hijo se enfrió la relación entre los dos porque todos ndaje decían que ella “no es atractiva”. Quellen: www.diariopopular.com.py/ ? q=node/ 44976 www.popular.com.py/ ? q=node/ 44902 Im linken Beispiel wird zum Ausdruck gebracht, dass Benigna Leguizamón nachdem sie ihr Schicksal im Fernsehen publik machte, 100 Heiratsanträge erhalten hat. Die Quelle für diese Information bleibt unbestimmt, die Information wurde vom Hörensagen übernommen. Die sprachliche Markierung erfolgt mit ndaje. Im rechten Beispiel wird auf die mögliche Vaterschaft Fernando Lugos referiert. Bei diesem für die paraguayische Gesellschaft heiklen Thema sichert sich der Journalist mit mehrfachen Markierungen der Quelle ab, die aber eine unterschiedliche Funktion haben. Quelle des Wissens ist grundsätzlich Benigna Leguizamón. Während der Journalist aber mit der Kombination aus einer spanischen und einer Guaraní-Form evidentieller Markierung según + he’i =gemäß + sagte sie verdeutlicht, dass die Quelle und auch die Tatsache, dass sie es gesagt hat, sicher ist, wird ndaje, das diesmal weder in Antenoch in Postposition zu einem Verb steht, sondern eher in Fokusposition zu einer wichtigen Aussage, offensichtlich verwandt, um die Glaubhaftigkeit der Aussage von Leguizamón, dass sie keine anderen Partner in der Zeit hatte, anzuzweifeln oder um sich davon zu distanzieren. Eine Markierung des Hörensagens mit ndaje ist aus meiner Sicht hier wenig wahrscheinlich. Eine der möglichen Übersetzungen ins Deutsche könnte wie folgt aussehen: Y le bajó que está segura “ciento por ciento” de que el presidente es el papá de su hijo porque no tuvo relaciones ndaje con otro hombre durante esos dos años que fueron pareja, según he’i. Und sie erzählte ihm mit niedergeschlagenem Blick, dass sie hundertprozentig sicher sei, dass der Präsident der Vater ihres Kindes sei, weil sie angeblich keinerlei andere Beziehungen mit einem anderen Mann hatte, in den zwei Jahren, die sie zusammen waren, so sagte sie gemäß. Auch im folgenden Satz des rechten Textes haben wir erneut eine Mehrfachmarkierung der Quelle und desgleichen ein Zusammenspiel evidentieller Markierungen des Spanischen und des Guaraní. Ausgangspunkt ist die Markierung mit der Präpositionalphrase según ella, mit der die Quelle für die vermittelte Information eindeutig bestimmt wird. In die Information wird eine Redewiedergabe todos decían eingebaut, die nun zusätzlich mit ndaje kombiniert wird. Ein Verwies auf die Quelle scheint hier nicht unmittelbar relevant, meines Erachtens auch nicht die Ablehnung der Verantwortung für die Information; plausibler sind hier eher der Zweifel am Wahrheitsgehalt <?page no="281"?> Sybille Große 248 der Aussage oder erneut auch die Distanznahme. Dennoch ist nicht auszuschließen, dass es sich hier um eine Form von Kovariation handelt, in der vom Journalisten eine Doppelmarkierung (ndaje+decían) der Quelle für die Information, dass sie nicht attraktiv sei, vornimmt. Es bieten sich daher mehrere Übersetzungsmöglichkeiten an: (3) Y según ella, después de que nació su hijo se enfrió la relación entre los dos porque todos ndaje decían que ella “no es atractiva”. a. Und ihr gemäß kühlte sich die Beziehung zwischen beiden nach der Geburt ihres Sohnes ab, weil alle angeblich sagten, dass sie “nicht attraktiv sei”. b. Und ihr gemäß kühlte sich die Beziehung zwischen beiden nach der Geburt ihres Sohnes ab, weil alle sagten (fokussiert), dass sie “nicht attraktiv sei”. Die in diesen Texten gefundenen Beispiele sind keinesfalls Einzelfälle, auch die Mehrfachkodierung der Quelle der Informationen konnte ich in Texten des Diario Popular immer wieder belegen. In einigen Fällen handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um Kovariation, die Palacios Alcaine auch für andere Strukturen im paraguayischen Spanisch konstatierte: En la variedad coloquial paraguaya ra’e se traduce por había sido, forma que en esta variante acentúa el carácter sorpresivo del hablante al transmitir una información que desconocía. La coaparición de ambas formas, guaraní y castellana, refuerza la focalización de sorpresa (Palacios Alcaine 2008: 291). In anderen Fällen zeigen sich möglicherweise auch Anzeichen für einen Umbau in der evidentiellen Markierung, vor allem in der Quotation an. So finden sich im Diario Popular häufig Beispiele, in denen in der Redewiedergabe nicht auf eine spanische Form von sagen (decir) zurückgegriffen wird, sondern dazu das äquivalente Guaraníverb genutzt wird (he’i). He’i verfügt oft, aber nicht immer, über einen konkreten Referenten. Ist dieser Referent jedoch nicht identifizierbar, könnte dies ein Anzeichen für die Entwicklung eines neuen evidentiellen Markers sein. Bei dem parallelen Gebrauch von he’i und ndaje übernimmt ersteres die Quellenmarkierung und -validation, während ndaje eher oder zusätzlich (? ) die Nicht-Validation der Information bzw. die Abgabe des Verantwortung für diese anzeigt: (4) Léka he’i que se peleó ndaje cuerpo a cuerpo con peajeros (22 Mayo 2010, www.diariopopular.com.py/ ? q=node/ 68700/ image_gallery) Die folgenden Übersetzungen schließen sich im Deutschen aufgrund der Subjektgleichheit eigentlich aus und erfassen nur ungenügend die Funktion von ndaje in dieser Art der Konstruktion: Léka sagte, dass er Körper an Körper mit den jugendlichen Mauttätern gekämpft haben soll./ Léka sagte, dass er angeblich Körper an Körper mit den jugendlichen Mauttätern gekämpft hat. <?page no="282"?> Sprachkontakt in Paraguay 249 Für die evidentielle Markierung finden sich im selben Text darüber hinaus auch Beispiele für den Gebrauch von Adverbien wie supuestamente oder aparentemente: (5) El muchachón tenía aparentemente un “ojo reventado” y aseguró a los caquis que malandros lo atacaron queriendo robarle, pero que él se defendió de los mismos a puñetazo limpio ndaje. (22 Mayo 2010, www.diariopopular.com.py/ ? q=node/ 68700/ image_gallery) (6) Pero esta versión de lo que le ocurrió no convenció para nada a los caquis, como avei a los funcionarios del hospital de la calle General Santos, quienes contaron que le golpearon supuestamente cuando fue pillado por algún titular en off side (posición adelantada) con alguna dama ndaje. (22 Mayo 2010, www.diariopopular.com.py/ ? q=node/ 68700/ image_gallery) Auch in diesen Beispielen wird zudem erneut ndaje verwandt, welches in finaler Position des Satzes steht. Diese finale Position innerhalb eines Satzes, oder einer größeren syntaktischen sowie semantischen Einheit, nimmt ndaje auch in zahlreichen anderen Beispielen des Diario Popular ein, währenddessen eine (andere) evidentielle Struktur in diesen Beispielen den Satz oft einleitet. (7) Según el hermano del fallecido, uno de los garroteados, podrá reconocer a los que le atacaron ndaje. (18 Mayo 2009, www.diariopopular.com.py/ ? q=node/ 43372) (8) He’i hikuái los alarmados vecinos que nadie hace la denuncia correspondiente ndaje por miedo a represalias del dueño de la pollería (e’a), [...]. 18 Mayo 2009, www.diariopopular.com.py/ ? q=node/ 43372) Gerade in dieser Position und in der Kombination mit anderen evidentiellen Markierungen mehren sich für mich die Anzeichen, dass ndaje die Funktion der Distanznahme zum Wiedergegebenen markiert und die Markierung des Zweifels an der Quelle und dem Wahrheitsgehalt der Information in den Hintergrund tritt. Wie stark jedoch beide Sprachen dem intensiven Kontakt geschuldet in der untersuchten Spanischvarietät “ineinander greifen”, möchte ich mit einem letzten Beispielkomplex aus einem Text, in dem es um das (politische) Schicksal des paraguayischen Staatspräsidenten geht, verdeutlichen. In diesem Zusammenhang ist die Kennzeichnung, welche Äußerungen von wem und mit welchem Wortlaut getätigt wurden, von besonderer Brisanz. Einer der Abschnitte des Textes ist mit DIJO, HE'I betitelt: Die alleinige Markierung mit dijo=sagte er ist nicht expressiv genug und wird daher mit he’i verstärkt. In den Sätzen, die dieser Zwischenüberschrift folgen, werden die Redewiedergabe einleitende Verben wie asegurar oder añadir gebraucht, zudem ndaje zur Kennzeichnung der Zitatübernahme und schließlich noch <?page no="283"?> Sybille Große 250 das Syntagma oyó decir textualmente, mit dem die korrekte Wiedergabe der Äußerung markiert wird. (9) Este aseguró que en un momento de la acalorada reunión de la que participaron unas veinte personas consideradas “verdaderos colorados”, fueron tratados ndaje “trapo de piso, cobardes y traidores”. Añadió que la oyó decir textualmente: “Es muy fácil que los liberales le hagan matar a Lugo, ellos se queden en el poder y ustedes en la calle”. (24 Abr 2008, www.diariopopular.com. py/ ? q=node/ 19986) Welche Schlussfolgerungen lassen sich nun aus der Betrachtung derartiger Beispiele ziehen? 5. Schlussfolgerungen Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass der Einfluss des Guaraní im Diario Popular generell und in den evidentiellen bzw. modalen Markierungen manifest des paraguayischen Spanischen ist, was die Aussage von Wolf Dietrich für diese Spanischvarietät bestätigt: Das paraguayische Spanisch kennt allerdings in der populären Umgangssprache starke Substrateinflüsse des Guaraní, etwa durch die Verwendung des Interrogativsuffixes -pa (z.B. in ¿no viene-pa ? ¿no viene ? oder durch die Übernahme von syntaktischen Strukturen des Guaraní (etwa in der Form -rehe=span. por, also span. Me acuerdo por ti statt de ti nach guar. Che mandu’a nde-rehe) (Dietrich 1993: 20-21). Ndaje wird im Vergleich zu allen anderen Guaraní-Markern im Diario Popular besonders häufig verwandt und weist insgesamt eine hohe Dynamik auf. 29 Seine ursprüngliche Postposition beim Verb hat diese Form fast aufgegeben und steht nun zumeist an der Stelle der Äußerung, die durch den Schreiber als nicht aus direkter Wahrnehmung stammend fokussiert werden soll. Der evidentielle und distanznehmende Gebrauch von ndaje wird begleitet von Schwankungen bzw. Veränderungen evidentieller Markierung im umgangssprachlichen paraguayischen Spanischen. Das im Spanischen für die Quotation oft verwandte dice/ decir steht in den Texten in Kovariation mit he’i oder wird durch diese Form ganz ersetzt. Evidentielle Markierungen sind zudem in zahlreichen Fällen Mehrfachkodierungen, die einmalige Kennzeichnung der Quelle der Information wird möglicherweise in vielen Fällen als nicht ausreichend bzw. nicht expressiv genug empfunden. Der manifeste Gebrauch von ndaje könnte diskurstraditionell begründet sein. Ndaje ist nach einer ersten Analyse besonders in jenen Texten der Zei- 29 Palacios Alcaine (2008: 290) erwähnt akue als besonders häufig verwandten modalen Marker, demgegenüber er sich in den von mir untersuchten Ausgaben nur in einzelnen Beispielen fand. <?page no="284"?> Sprachkontakt in Paraguay 251 tung frequent, in denen die Darstellung bzw. der Ablauf eines Ereignisses nicht offiziell bestätigt ist, der Schreiber diese Verantwortung gleichfalls nicht übernehmen mag und es primär um die Weitergabe einer mehr oder weniger “brisanten” Information geht. Floyd konnte in seiner bereits erwähnten Studie zum Quechua zeigen, dass der evidentielle Marker -shi in eben dieser letzt genannten Funktion der Informationsweitergabe vor allem in traditionellen Erzählungen (“cuentos folklóricos”) gebraucht wird, und eben auch dann, wenn diese gar nicht auf tatsächlichen Überlieferungen beruhen, sondern von Muttersprachlern des Quechua in Seminaren zum kreativen Schreiben erst aktuell entwickelt wurden; d.h. auch er zeigt eine deutliche Gebrauchsbegrenzung derartiger Marker auf das mündliche wie schriftliche Erzählen (cf. auch Adelaar 1997: 3). Es kommt zu einer Kennzeichnung des Gebrauchs morphologischer Evidentiale wie -shi oder ndaje in diskurstraditioneller und auch pragmatischer Sicht, weshalb Floyd auch von “gramaticalización a nivel del discurso” spricht (Floyd 1997: 188). Die Frage von Grammatikalisierungsprozessen, die durch Sprachkontakt befördert werden, wird in traditioneller Sichtweise abgelehnt. Grammatikalisierung Sprachkontakt (nach Kuteva 2008: 194) Kuteva geht in ihrer Studie von 2008 allerdings davon aus, dass es zwei Arten von Grammatikalisierung gibt, darunter eine Form, in der der grammatische Wandel durch Sprachkontakt und den Einfluss der einen über die andere Sprache ausgelöst wird. Here I accept the position put forward in Heine and Kuteva (2005) that grammaticalization and contact-induced language change are in no way mutually exclusive; rather, and perhaps more often than not, they jointly conspire in triggering grammatical change. Accordingly, there are two kinds of grammaticalization, language-internal grammaticalization and contact-induced grammaticalization. Following Heine and Kuteva (2003, 2005), contact-induced grammaticalization is defined as a grammaticalization process which is due to the influence of one language on another. (Kuteva 2008: 194) Durch Sprachkontakt ausgelöster Wandel impliziert nach Kuteva stets die sprachinterne Grammatikalisierung (aber eben nicht umgekehrt). Wir finden kontakt-indizierte Grammatikalisierung allerdings nur in Konstellationen, in denen zwei Sprachen in intensivem Kontakt stehen (Kuteva 2008: 194), so wie dies auch in Paraguay eindeutig der Fall ist. Kuteva selbst führt für eine <?page no="285"?> Sybille Große 252 solche Entwicklung u. a. Beispiele aus dem Molisenslavischen an, welches über 500 Jahre in ständigem Kontakt mit dem Italienischen stand. 30 In einer ersten Phase der durch Sprachkontakt ausgelösten Grammatikalisierung gibt es jedoch einen Zuwachs, eine Doppelmarkierung, und keine Vereinfachung bzw. keinen Schwund (Kuteva 2008: 201). Die erörterten Veränderungen, die wir derzeit in der evidentiellen Markierung in umgangssprachlichen Varietäten des paraguayischen Spanisch vorfinden, welches häufig von bilingualen Sprechern des Guaraní und Spanisch verwandt wird, könnten Anzeichen eines sprachkontaktbedingten Umbaus des grammatischen Systems evidentieller Markierung sein. Ohne weitere detaillierte Analysen lässt sich eine solche Hypothese jedoch nur unter Vorbehalt vertreten. 6. Forschungsperspektiven Um dies erklären zu können, sind verschiedene Arten von Analysen unerlässlich: allen voran eine diachrone Analyse auf der Basis umfangreicher Corpora zur Verwendung evidentieller Formen wie ndaje und he’i in Guaraní-Texten, in spanischen Übersetzungen aus dem Guaraní sowie in spanischen Texten, aber auch textsortenvergleichende Studien, mit denen sich der möglicherweise eingeschränkte oder auch besonders auffällige Gebrauch von ndaje in bestimmten Diskurstraditionen verifizieren ließe. In jedem Fall muss dem “einfachen” Nachweis der Übernahme von Formen des Guaraní im Spanischen, die Ausdruck sprachkontaktlicher Beeinflussung in Paraguay sind, eine größere Datenmenge umfassende Untersuchung folgen. Nur so werden sich die an diese Übernahme gebundenen Sprachkontakt- und Sprachwandelprozesse verstehen lassen. Doch solche Studien sind - allen zahlreichen Arbeiten zur spezifischen Sprachsituation und zum Sprachgebrauch in Paraguay zum trotz - noch heute ein Desiderat. Bibliographie Adelaar, Willem (1997): “Los marcadores de validación y evidencialidad en quechua: ¿automatismo o elemento expresivo? ”, Amerindia 22, 3-14. Aikhenwald, Alexandra Y. (2003): “Evidentiality in typological perspective”, in: Alexandra Y. Aikhenwald / R. M. W. Dixon (Eds.), Studies in Evidentiality, Amsterdam / Philadelphia: John Benjamins, 1-31. 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Evidentialité s'occupe de la source d'information pour l'énoncé de l'orateur tandis que la modalité épistémique concerne le niveau d'engagement de la part de l'orateur pour son énoncé. Cette étude fait partie d'un projet en cours qui a l'intention de fournir une meilleure compréhension d'Evidentialité et de sa relation avec d’autres sections de la grammaire. Pendant que la plupart des savants conviennent qu'il y a un lien entre l’Evidentialité et la modalité épistémique, ce lien est d'habitude supposé sans plus de discussion. C'est le but de ce papier, d’enquêter d'un œil critique sur la mesure de connexion entre les deux notions. Effectivement, le but de ce papier n'est pas de refuser qu'un tel lien existe. Il suffit de regarder pas plus loin que dans la famille de langue germanique, dans laquelle l’évidentialité peut être exprimé au moyen des verbes modaux épistémiques. Par exemple, le verbe modal hollandais moeten 'doit' où celui allemand muss ‘doit’ peut avoir une interprétation épistémique aussi bien qu'une interprétation évidente (voir, par exemple, all. das muss er wohl gesehen haben ‘il est evident qu’il l’a vu’). Cet exemple montre en fait que les langues grammaticalisent la catégorie d’évidentialité de différents manières. Cependant, ce sentier de développement n'a pas l'air d'être répandu à travers les langues du monde, sans parler universellement. Nous ne devrions non plus nous attendre à ce que ce soit le cas. Dans la décade passée les études sur la grammaticalisation ont montré que n'importe quelle construction donnée peut avoir une variété d'origines (voir, par exemple, Traugott / Bybee et al. 1994). L'échantillon de langue pour cette étude se compose principalement des langues de l'Amérique du Nord et l'Amérique du Sud, l'Europe et l'Asie. Cela ne signifie pas que l'évidentialité est restreint juste à ces régions. Bien que les descriptions les plus étendues de systèmes évidents aient des langues de ces régions (avec une concentration de plus sur les langues des Amériques, voir par exemple les papiers de Chafe et Nichols 1986), dans l'actualité Evidentialité se produit dans beaucoup de familles de langue sur chaque continent. Précisément parce qu'il n'y a aucune compréhension claire <?page no="291"?> Peter Kosta 258 des limites d'évidentialité, sa présence reste inaperçue. La famille de particule cantonaise wo 1 a des interprétations évidentes et miratives dans le cadre de son sens. Jusqu'à récemment, ces interprétations ont été vues comme particulières, mais comme Matthews (1998) a démontré, celles-ci sont tout à fait en harmonie avec ce que nous savons de l'évidentialité dans d'autres langues (sans rapport). Les observations semblables s’appliquent á d'autres phénomènes, tels que le conditionnel en Français, qui peut entre autre exprimer la catégorie de l’évidentialité (dans ce cas-là, quotative). Le conditionnel en Français est semblable aux subjonctifs germaniques qui peuvent avoir aussi un sens quotative. Le lien possible entre les formes françaises et allemandes n'a pas été encore enquêté. Il est désirable que l'évidentialité reçoive une interprétation cohérente et uniforme. Une des régions où le travail substantiel est nécessaire est la démarcation entre l’évidentialité et la modalité épistémique. Comme sera montré dans la section suivante, les limites entre ces notions dans la littérature sont vagues ou non-existantes. Il sera soutenu dans ce journal qu'il a du sens de distinguer ces notions, tant pour les raisons sémantiques que syntaxiques, aussi bien pour les raisons diachroniques. Sémantiquement, il y a une distinction entre le marquage de la source des renseignements (évidents) et le niveau d'engagement des endroits d'orateur dans son énoncé (épistémique). Syntaxiquement, évidentiaux qui sont complètement grammaticalisés se comportent différemment en ce qui concerne la négation. À la différence des éléments modaux épistémiques, un tel évidentialité ne peut pas se produire dans les limites d'une négation (cf. Kosta 2003). Aussi, les morphèmes évidentiaux peuvent avoir des origines très différentes d'épistémiques modaux. 1.2. Division et fixation du but de la contribution : La distinction fondamentale dont j'argumenterai dans ce journal est la chose suivante : la modalité épistémique et l’évidentialité ont à faire les deux avec l'évidence, ils diffèrent cependant par ce qu'ils font avec cette évidence. La modalité épistémique évalue l'évidence et sur la base de cette évaluation assigne une mesure de confiance à l'énoncé de l'orateur. Cet énoncé peut être haut, diminué, ou bas. Un modal épistémique sera utilisé pour refléter ce niveau de confiance. Un évident affirme qu'il y a l'évidence pour l'énoncé de l'orateur, mais refuse d'interpréter l'évidence de toute façon. 1 Dans la linguistique chinoise, une famille de particule fait allusion à tous les mots apparentés d'une particule donnée. Dans cet exemple, la particule basée wo peut apparaître avec un certain nombre de tons, tous avec un légèrement différent sens. Néanmoins, evidentiality et mirativity font partie de chaque particule dans la famille wo. <?page no="292"?> Modalité Epistémique et Evidentialité et sa disposition à la base déictique 259 Le papier est organisé comme suit. La section 2.1. étudie la définition de la littérature sur l’évidentialité et la section. Selon cette définition, l’évidentialité est, d'une façon générale, l'indication de l'existence et/ ou de la nature de la preuve, ou du type de témoignage à l'appui d'une assertion donnée. Un marqueur évidentiel est l'élément grammatical particulier (affixe, clitique ou particule) qui indique l'évidentialité. La section 2.2. examine les revendications sur le lien entre l’évidentialité et la modalité épistémique. La section 2.3. problématise la revendication qu'évidentiaux représentent une conviction diminuée en vérité de la déclaration. L’analyse syntaxique des adverbes épistémiques et évidentiaux dans la phrase et le sujet de la section 2.4. Je vais essayer d’expliquer pourquoi l’évidentialité et la modalité épistémique coïncident souvent dans un seul et même lexème (adverbe). Les motifs de fournir ce fait se reposent sur trois suppositions qui sont prouvées par les faits de corpus et donnés dans ce corpus. Dans la section 3, nous allons traiter l’évidentialité comme une catégorie qui est liée étroitement à deux moments : d’une part à la référence concernant la source de l’information et d’autre part à l’attitude épistémique du locuteur. On montre qu'évidentiaux ont typiquement une différente origine d'épistémique modaux. 2. L'Evidentialité comme une catégorie typologique et son élargissement pour les états des choses pragmatiques Il est juste de dire que la majorité écrasante de savants qui se sont penchés sur la relation entre evidentiality et modalité épistémique ont affirmé qu'il y a une connexion très proche entre les deux. Cependant, cette relation est d'habitude supposée sans beaucoup de commentaire et, très peu de discussions sont consacrées aux différences entre ces deux catégories. Un bon exemple pour commencer est un livre influent sur l'humeur et la modalité (voir Palmer 1986). Dans ce livre, Palmer ne laisse aucun doute quant à sa position l’évidentialité fait partie du système modal épistémique. Selon lui, les deux s'occupent du niveau d'engagement de la part de l'orateur à l'énoncé du discours. Cela signifie que Palmer considère que l'évidentialité est une catégorie irréelle. Il y a au moins quatre voies dont un orateur peut indiquer qu'il ne présente pas ce qu'il dit comme un fait, mais plutôt : (i) qu'il en spécule (ii) qu'il le présente comme une déduction (iii) que l'on lui ait dit de cela (iv) que ce soit une affaire seulement de l'apparence, basée sur l'évidence (qui peut-être faillible) des sentiments. <?page no="293"?> Peter Kosta 260 Tous les quatre types sont inquiétés avec l'indication par l'orateur de son (le manque de) l'engagement à la vérité de la proposition étant exprimée. (Palmer 1986: 51) Basé sur les propres définitions de Palmer tapez (i) des affaires avec de la modalité épistémique pure, pendant qu' (ii) - (iv) a à faire avec l’évidentialité, à savoir l'inférence, la rumeur et l'évidence sensorielle. Palmer rend cette revendication encore plus explicite : « ce serait un exercice vain pour essayer de décider si un système particulier (ou même un terme dans un système dans certains cas) est évident plutôt qu'un jugement » (1986: 70). Si c'était vraiment un exercice vain nous ne serions pas capables d'expliquer les nombreuses différences entre les deux régions : leurs origines, développements et comportements syntaxiques. Nous rejetons donc la position de Palmer seulement si nous distinguons brusquement les deux catégories. Une position semblable à Palmer est prise par Frajzyngier (1985, 1987 : 211). Voir aussi Palmer (1986). Il voit aussi une correspondance directe entre l’évidentialité et la modalité épistémique (1985: 250) : “(...) il me semble assez évident que les différentes manières d'acquérir la connaissance correspondent à de différents niveaux de certitude de la vérité de la proposition (...)”. Dans cette vue, il y a un lien entre l'interprétation d'évidence directe et indirecte autant que la valeur de vérité de la phrase qui est inquiétée. C'est schématisé dans table (I) : Table (I): L’Hiérarchie de l’évidentialité Visual < auditory < no visual < inference < quotative Direct evidence < indirect evidence More believable ---------------------------less believable La plupart des Typologues contemporains, par contre, supposent qu’il y a un inventaire universel de catégories grammaticales et lexicales dans toutes les langues du monde, chaque langue rencontre un choix différent. À peu près dans un quart de toutes les langues du monde, la manière de la source sur laquelle elle est fondée, doit être nommée dans chaque remarque (Aikhenvald 2004 : 1). 2.1. Définition : l’évidentialité En linguistique, l’évidentialité est, d'une façon générale, l'indication de l'existence et/ ou de la nature de la preuve, ou du type de témoignage à l'appui d'une assertion donnée. Un marqueur évidentiel est l'élément grammatical particulier (affixe, clitique ou particule) qui indique l'évidentialité. Toutes les langues possèdent des moyens de spécifier la source ou la fiabilité d'une information. Les langues européennes (par exemple germaniques ou ro- <?page no="294"?> Modalité Epistémique et Evidentialité et sa disposition à la base déictique 261 manes) indiquent souvent l'évidentialité au travers de verbes modaux (français devoir, néerlandais zouden, danois skulle, allemand sollen) ou par d'autres items lexicaux (adverbes : anglais reportedly) ou encore des propositions complètes (français : il me semble). Le fait de marquer l'évidentialité a des implications pragmatiques. Par exemple, une personne qui exprime une assertion fausse en la présentant comme une croyance peut être considérée comme s'étant trompée ; si elle présente cette assertion comme un fait observé personnellement, elle sera probablement taxée de mensonge. Certaines langues possèdent une catégorie grammaticale distincte pour l'évidentialité, laquelle doit alors systématiquement être exprimée. Dans les langues indo-européennes, les éléments indiquant la source de l'information sont optionnels, et leurs fonctions primaires ne sont généralement pas d'indiquer l'évidentialité : ils ne forment donc pas une catégorie grammaticale. Aikhenvald (2004) estime qu'environ un quart des langues du monde possèdent des moyens grammaticaux d'exprimer l'évidentialité. Elles signalent également qu'à sa connaissance, aucune recherche n'a été menée jusqu'ici sur l'évidentialité dans les langues des signes. Dans de nombreuses langues possédant des marqueurs grammaticaux d'évidentialité, ces marqueurs sont indépendants du temps, de l'aspect ou de la modalité épistémique (laquelle traduit le jugement propre du locuteur sur la fiabilité de l'information). L'évidentialité grammaticale peut s'exprimer sous différentes formes (selon la langue considérée), telles que des affixes, des clitiques ou des particules. Par exemple, le pomo oriental possède 4 suffixes d'évidentialité qui s'adjoignent au verbe : -ink’e (sensoriel non visuel), -ine (inférentiel), -·le (ouïdire), -ya (connaissance directe), cf. table (II) : Table (II) : Évidentiaux en pomo oriental (selon McLendon 2003) Type évidentiel Exemple verbal Glose sensoriel non visuel p a·bék -ink’e “brûlé” [le locuteur a ressenti lui-même la brûlure] Inférentiel p a·bék-ine “manifestement brûlé” [le locuteur en a vu une preuve circonstancielle] <?page no="295"?> Peter Kosta 262 ouï-dire (rapporté) p a·bék -·le “brûlé, dit-on” [le locuteur rapporte ce qu'il a entendu dire] connaissance directe p a·bék-a “brûlé” [le locuteur en a été directement témoin] 2.2. La distinction de modalité épistémique et Evidentialité Pour les Typologues la distinction de modalité épistémique et Evidentialité est relativement simple, parce que les deux catégories sont souvent exprimés aux éléments morphologiques différents qui peuvent s'associer aussi en commun à un verbe. Dans aucun travail sur l'Evidentialité ne manque l'exemple du système à 5 termes dans la langue de Tuyuca, dans laquelle l’Evidentialité est exprimée par : (1a) la directe l'expérience personnelle et visuelle du porte-parole, (1b) la perception sur l'ouïe, (1c) le fait de déduire des indices, (1d) l’Expert sur la communication d'une autre personne et (1e) une conclusion logique signifie (cf. Barnes 1984) : (1) a. díiga apé-wi Fußball spielen-3ª PERS. PRÄT. VISUELL ‘Er spielte Fußball [ich habe es gesehen]’ b. díiga apé-ti Fußball spielen-3ª PERS. PRÄT. NICHT VISUELL ‘Er spielte Fußball [ich habe es gehört aber nicht gesehen]’ c. díiga apé-yi Fußball spielen-3ª PERS. PRÄT. INFERENZ ‘Ich habe Indizien dafür, dass er Fußball spielte, habe es aber nicht gesehen’ d. díiga apé-yigi Fußball spielen-3ª PERS. PRÄT. MITTEILUNG ‘Man sagte mir, dass er Fußball spielte’ e. díiga apé-h yi Fußball spielen-3ª PERS. PRÄT. SCHLUSSFOLGERUNG ‘Es ist logisch anzunehmen, dass er Fußball spielte’ La simple déclaration que quelqu'un a joué au foot, n'est pas possible ici sans indication de l'origine de cette connaissance. Mais même s'il y a une distinction entre des langues concernant les moyens (lexicaux ou grammaticaux), concernant le degré de la grammaticalisation et de la productivité des évi- <?page no="296"?> Modalité Epistémique et Evidentialité et sa disposition à la base déictique 263 dentiaux, les autres nuances existent aussi quant au fait d'être le caractère immédiat de la source (par exemple, du premier ou d'occasion first/ second hand). Comme Evidentiaux les Typologues comprennent les ressources linguistiques avec lesquels on signe ‘la source de la connaissance’ primaire, secondaire où tertiaire accepté sans qu'une enveloppe directe sur la sécurité et la responsabilité du porte-parole ou sur le statut de vérité de sa déclaration soit impliquée. Avec cette restriction la catégorie de l'évidentialité devient non seulement pour les langues européennes inapplicable, ou même problématique (Haßler 2009). Les suffixes Evidentiaux caractérisent aussi la prudence, avec laquelle un porte-parole traite l'information. Pour cela les maximes suivantes peuvent être mises qui ont un caractère pragmatique: 1. (Seulement) la propre expérience est sûre. 2. Les risques inutiles sont à éviter, par exemple, la prise en charge de la responsabilité pour l'information sur le contenu de ce que l’on est absolument sûr. 3. On ne peut pas être crédule. 4. La responsabilité est à prendre en charge seulement pour quelque chose qui est sûr. Une pièce justificative pour ce que les marquages évidentielles eux la fonction pragmatique de l'incertitude du porte-parole est l’usage des suffixes -shi, -chi dans le dialecte de Huallaga de Quechua qui permettent au porteparole de prendre en charge la responsabilité du contenu ; avec le suffixe mi le porte-parole prend en charge la responsabilité, avec shi, il le renvoie à quelqu'un d’autre, avec chi il indique qu'il s'agit des contenus pour lesquels aucune responsabilité n'est possible. Après Weber (1989: 421), le porteparole apporte (2a) sa certitude à l'expression, avec (2b) il renvoie sur communication étrangère et avec (2c) sur une possibilité. (2a) Wañu-nqa-paq-mi. [J'affirme] il mourra. (2b) Wañu-nqa-paq-shi. [A Moi était dit] qu'il mourra. (2c) Wañu-nqa-paq-chi. [Peut-être], il mourra. La culture de Quechua accorde une grande importance à l'évitement de la crédulité qui se retrouve absolument dans l'application de ce marquage évidentiel. Un mélange d'Evidentiaux compris morphologiquement comme des morphèmes ou éléments grammaticaux avec les états des choses pragmatiques semble être évident dès que l'on regarde l'application de ces éléments au-delà des questions typologiques. 2.3. Les langues Romanes et les langues Slaves : les dates Si nous regardons les rapports dans les langues romanes et slaves, la délimitation de modalité épistémique et l'évidentialité nous pose des problèmes graves. Même si nous partions des éléments linguistiques avec la fonction première du ‘marquage de l'origine de la connaissance du porte-parole’, <?page no="297"?> Peter Kosta 264 celui-ci est contingent avec l'indication de la modalité épistémique. Ainsi elle ne qualifie pas ovviamente dans l'exemple (3) de la langue de presse italienne comme une contemplation directe par l'auteur, mais comme une conclusion personnelle de sa part. Aux entendus auxquels avec eppure de la même façon encore un contre-argument possible est considéré. (3) Ciampi, ovviamente, non fa riferimenti diretti alle polemiche scatenate dalle dichiarazioni del premier, eppure nelle sue parole si legge un appello all'indipendenza dell'informazione rispetto all'esecutivo. (Le 19 avril 2002 dans La Repubblica) “Ciampi, obviously, does not do references to the polemics provoked by the declarations of the premier, moreover/ but, in his words an appeal is still read to the independence of the information compared to the executive.” Sans ovviamente, la phrase serait plus déterminée sans aucun doute qu'avec l'adverbe. L'incertitude encore plus grande est exprimée dans la phrase (4), sur l'avenir la conclusion est formulée. (4) Un argomento di cui, ovviamente, si parlerà dans studio. “An argument of which, obviously, it will be said in the study” Une source du dictionnaire importante pour la catégorie de l’évidentialité représente d’une coté les adverbes épistémiques comme Russe jakoby, o evidno, mol, pochože, kažetsja, vrode by… Tchèque jako by, prý, tak ka, o ividn , údajn , de l’autre certaines phrases idiomatiques ou bien déjà grammaticalisé et puis aussi des constructions indéterminées personnelles avec les PP locatives. Les éléments obligatoires des systèmes d'évidentialité grammaticale peuvent être traduits par exemple en français, selon le cas, par : j'ai entendu dire que, je vois / j'ai vu que, je pense que, à ce que j'ai entendu, à ce que je comprends, on dit que, il paraît que, il me semble que, on dirait que, il apparaît que, il s'avère que, apparemment, manifestement, d'après certaines sources, etc. En Russe : , , / " , , # $ %, , $, , $, # & $ %, * "$, , * " , , $&" * " , , * = > , , #[" " , , * = " , , " & , " & , \ & &"* [ $ & * $, . . Pour l'adverbe de phrase initialement (étymologiquement) évidentielle (comme Russe " & ), le même semble être valable que Gerda Haßler (2009) avait constaté pour les plus grandes langues romanes aux équivalents correspondants espagnols, italiens et français dans son examen (Haßler en 2009) : L'importance lexicale d'ovviamente doit avoir apprise des changements, avec cela comme ‘la modalisation’ d'un futur, ici même seulement de l'événement hypothétiquement regardé devient applicable. Dans son importance, l'adverbe est seulement partiellement sur ovvio (‘che risulta di un’evidenza immediata e senza possibilità di equivoci sul piano dell’interpretazione o del de giudizo’ (le Devoto/ Oli <?page no="298"?> Modalité Epistémique et Evidentialité et sa disposition à la base déictique 265 1990 : 1313), c.a.d. ad occulos, là-dessus les signes ‘la visibilité directe par l’évidence ad occulos’ et ‘l'exclusion des erreurs’ ont reculé. Ovviamente est un adverbe de phrase qui est utilisé dans les deux exemples comme une parenthèse. Cela se trouve devant la forme de verbe conjuguée et est séparé par des pauses du reste de la phrase. Au fond l'adverbe ci-utilisé contient une prédication supplémentaire et pu être transformé dans une proposition principale qui contient la phrase dans quoi cela se trouve, comme l'argument : (3') È ovvio che Ciampi non fa riferimenti diretti tous polemiche scatenate dalle dichiarazioni del premier. (4') È ovvio che è un argomento di cui si parlerà dans studio. Pour l'adverbe russe " & de phrase initialement évidentielle dans des exemples (5) - (10) le même semble être valable. La question reste naturellement si cet adverbe n'est pas devenu lexicalisé ou bien grammaticalisé depuis longtemps dans la langue « ancien russe » comme l'adverbe épistémique. Mais même si c'était le cas (qui pourrait faire seulement un travail linguistique de corps diachrone profond), on se pose la question pourquoi un adverbe évidentiel devient un adverbe épistémique? La frontière entre la modalité épistémique et l'évidentialité n'est pas toujours facile à établir. La raison en est qu’on peut rencontrer dans une phrase ou dans un lexème des propriétés épistémiques et évidentielles en même temps. Évidentialité a été et est souvent traité comme un type de paramètre épistémique. De plus en plus nous arrivons à la conclusion que la modalité épistémique et l'évidentialité sont deux phénomènes fondamentalement différents : La différence entre les deux est cela que la première a à faire avec l'attitude du locuteur à la vérité de la proposition, cependant, que la deuxième fait la preuve avec des marqueurs liés à la source de l'information (de Haan (1999) ; Chrakovskij (2005), Wiemer (2006 : 9, 10-14) et Mendoza (2008)). Yakovleva (1988) ne distingue pas expressément entre les marqueurs des preuves et des opérateurs épistémiques, mais note que « modal'nye slova » dans les types d'informations qui permettent à un orateur pour juger de la proposition en vertu de p de discussion, en deux groupes peut être divisé. Elle établit une distinction entre «charakternaja informacija» et «necharakternaja informacija ». La première est la perception de l’enceinte directement accessible ou est basée sur les informations à une tierce personne. Dans ce dernier cas, toutefois, sont directement accessibles à partir de la perception de l'information à la question des mesures proposition p autre déduction. Prenez par exemple une situation dans laquelle la proposition «quelqu'un est dans le grenier» est en place pour le débat. Lorsque vous entendez les étapes de cette personne, alors il s’agit de “informacija charakternaja” parce que vous pouvez aller par les étapes directement observables à la proposition pertinente p. Par contre, si vous pouvez le voir, cependant, que la <?page no="299"?> Peter Kosta 266 porte est ouverte à la mezzanine, et ils se trouvent entre cette observation et la proposition “quelqu'un est dans le grenier” des autres propositions ou conclusions (par exemple “la porte du grenier est normalement fermé”, “quelqu'un a juste déjà présenté” “cette personne doit être encore dans le grenier”), il s’agit donc de “informacija necharakternaja”. Le groupe des mots modaux basé sur “informacija charakternaja” sont, par exemple, javno, opredelenno, kažetsja, kak budto, vrode. Les mots modaux nesomnenno, bessporno, verojatno, naverno, vozmožno, byt’ možet sont, cependant, mentionés par Yakovleva sur “necharakternaja informacija” (cf. Mendoza 2008 : 325). Yakovleva a découvert que « modal'nye slova » qui fonctionnent avec la «characternaja informacija » (kažetsja), ne peuvent pas être combinés avec les pronoms indétérminés non-spéciqiques (*kto-nibud’-pronoms). Modals mots, par contre, qui se produisent avec «necharakternaja informacija» (navernoe) peuvent, toutefois, également avoir les pronoms indéterminés non spécifiques et spécifiques de la série kto-nibud’ et kto-to dans leurs scope. Ainsi kto-nibud’ dans (5) et combiné avec l’adverbe épistémique navernoe, cependant que le marqueur modal kažetsja utilisé dans (6) et (7) n’est pas acceptable en combinaison de kto-nibud’, cf.: (5) ] "[& ", * -& > ^ "#. “Peut-être quelqu'un marche sur le grenier.” (6) $ \^`, * " , * * _- / * * * _-& > ^ {| } ^€  ‚ } } . “Ce fut apparemment une certaine / *personne joueur d’échecs tout connu.” (De Yakovleva 1988, 282) (7) { " , " - / * " - \# † "#. “Il semble que quelqu'un / *personne va au grenier.” (Exemples après Mendoza 2008 : 326, traduction = P.K.) La caractérisation des mots modaux par Jakovleva, basée sur les critères « characternaja/ ne charakternaja informacija », suggère que ce sont des marqueurs évidentiaux. Par conséquent, cela signifie que les marqueurs évidentiaux ne peuvent pas être combinés avec la série des nibud’-pronoms non-spécifiques, mais les opérateurs modaux épistémiques, d'autre part, peuvent être combinés avec la série non-spécifique de cette classe. Pour tester cette hypothèse, j'ai passé en revue certains marqueurs des preuves et des opérateurs épistémiques sur leur compatibilité avec les deux séries de indétermination - spécifique (kto-to, to-to etc.) et non-spécifique (kto-nibud’, to-nibud’ etc.). Les exemples proviennent du corpus national russe (NKRJa), certains d'entre eux, j'ai varié en ce qui concerne les marqueurs et indefinitum et je les ai faire tester par des locuteurs natifs pour l'évaluation. La caractérisation et la cartographie sémantique des marqueurs <?page no="300"?> Modalité Epistémique et Evidentialité et sa disposition à la base déictique 267 est l'un des deux groupes en fonction de la littérature citée (Yakovleva (1988), Bulygina/ ŠMELEV (1993), Razlogova (1998), Wiemer (2005), Mendoza (2008)) et la “MAS”. 2.3.1. Marqueurs de l’évidence Nous avons examiné les marqueurs éléments suivants: o " & , * > , [ " / # | " et * " . En décrivant les propriétés sémantiques et combinatoires des éléments évidentiaux de preuve, deux facteurs jouent une certaine rôle. Tout d'abord, il s'agit d'une question de savoir si les renseignements qui ont donné lieu à un verdict sur p est, par un tiers, c'est du ouï-dire, ou si l'orateur a d'autres sources, telles que leur propre perception sensorielle. Certains marqueurs peuvent être utilisés dans les deux fonctions, d'autres sont à une situation “ouï-dire”. Après Wiemer (2005 : 108), j'appelle des marqueurs qui indiquent la “ouïdire” en tant que marqueurs quotatives et des marqueurs qui indiquent d'autres sources, comme inférence ou comme des marqueurs évidentiaux implicites. Wiemer (2005 : 2006) asserte que le deuxième facteur est le niveau de confiance ci-dessus de l'enceinte à la vérité de la proposition représentée. Un degré élevé de la certitude du porte-parleur est o " & et opredelenno ; * > , [ " / # | " et * " ont un degré non-élevée. En regardant à travers les exemples on constate que tous les marqueurs de la preuve se comportent de manière uniforme. Les propriétés décrites cidessus sont la compatibilité avec les pronoms indéterminés non-spécifiques de la série -nibud’ et les pronoms indéterminés et spécifiques de la série -to. Des autres facteurs sont totalement hors de propos. Tous les marqueurs de la preuve peut-avoir dans leurs scopus les pronoms -to, mais les -nibud’ pronoms n'est en aucun. Les exemples (8) - (11) montrent jakoby, pochože et budto kak avec gde-to, kto-to et to-to: (8) ‡ \ `† |} Š \` ‚ } { ` { `‹‚ ’#  ` } ‚ Š  { ^ " “ ”• `  ”•}  . – - |^ , {-{ |^  € }} €}" € \ { ` \  } " “ “  }" ‚  ‚”  }`  }` #˜™ € †. }* > €` ^ } # € { } ‹` \ "- ‡ ’ ‚ ‡ |Š ‚. (–` ‚ š `#  |. › }`# €..,  } #‚ ‚ / / Ÿ Š#‚  ^ - " ^, 2001.03.07; NKRJa). (9) ¡ }  " - } | `† Š " { } | ^ ‚#`† " |, { ` | { `†^€ { ` ›#{ `†}" Š # “  ,  | ‚  \^` Š } | ^‚ { `‹‚ : | { ` " }"  \^` }  - ’  {\ ` |  € { ` ™ ‚ }#{ `†}" € #\` " . ~ | ", # Š  { | -  { ` ` }† } "` ‚ € - #‚ . <?page no="301"?> Peter Kosta 268 (¢  ‡ | " |. £`†  \ { | ‚ "  . ¤ } | `† ‚#`† - ` " | " ^`}‹ - `†‚ ‚ \ £ } - ¥ }" ‚ / / “£{| } ‹”, 2003.02.14; NKRJa) (10) ¦ ` ^ ‚“^,    ˜ | |  ‚ ‚ , † \^} }  |‹ }‹ Š ` |^‚ \ `‹‚ , #˜™ ‚ Š#} € { ` †˜ }" ^‚ “|  ‚. ‡ } ‚ { ‚^ * * > - }  ‚ } (§ `  ›  - | . ¨ }" € €  -  ‚ ` / / “Homes & Gardens” 2004; NKRJa). Comme on le voit, dans certaines langues (comme en Roumain et Russe), la modalité épistémique et l’évidentialité se produisent ensemble avec la catégorie de détermination non spécifique et le conditionnel ensemble comme un Evidentialis indirect (cf. Comorovski 2010). Les évidentiaux indirects sont analysés dans Izvorski (1997) comme des opérateurs épistémique modaux avec une présupposition de preuves indirectes. Nous supposons que dans l'exemple (11), le pronom indéfini komu-to et l’évidential pochože se composent avec les marqueurs de la probabilité mois élevée et les résultats spécifiques de durée indéterminée, cf. : (11) [Ÿ € § ` |  |, ‚#’, 1975] ¡ `  \# # }` | " | / # | " / /  ©}  |‚# * $ - { Š " | }} €}" € " ‚  ^. (Ÿ € § ` |  |. › |^€ ’: "" €. -` ‚ €}" Š ^. - }} ‹ - ›` | " ‹ (15.02.2006)). Après l'analyse de mes documents, il est clair que le marqueur o " & est jamais en liaison avec la référence non spécifique, parce que il s’agit toujours des faits certains. Ces faits sont introduits presque toujours comme des vérités incontestables, cf. (12): o " & (12)  " & , " “ “ ‹ { # `†" Š   ‚ ’ \®‹}‹ † “ # | |,  ‹™ }‹  “|  ‚ ^" ”, `†" }`# , " Š “  } " ’ €  | € ’ € #‚ † }‹. (¢ } ¯ " |}" ‹. › ^ | ™ . ±  } †: ‚ ’ # Š }# } | ‚ \™ } | ‚ 2004). Cela est vrais même lorsque les faits sont présentés comme des conditions sialors, cf. (13) ou lorsque les propositions sont introduites par une négation (14): (13)  " & , " ‚^ ‚ } \ † " ’ Š `†{ | `‹ }| € ›¡¥´,  \ ‚ \ } † ‚# } #  |^ | } #Š ‚ `†{ - | `‹‚ . (14) › |   " & , ,  ‚ , } “ ` Š }" ` ’ ` Š | }" `  ‹ ‹ “ ` Š ‹” | | } ’ - <?page no="302"?> Modalité Epistémique et Evidentialité et sa disposition à la base déictique 269  • Š ‹ ‹ - &" "\ & ". (” ‹ µ {` | . ›| \ } | } }| }" } † Š }# } | : \` ‚^   ‹ (1 } †)(2004)). Souvent les faits sont présentés ou introduits par l’adverbe " & , et ils sont renforcées par des verbes de parole (Sprechaktverben) du “raisonnement” et/ ou par les adverbes de la sémantique de forte probabilité (ici c " " ^ " “cela prouve que” et & “clairement”), cf. (15) : (15) ¶#|} |#‹ | { }#˜ " "# “ ˜, MG WU } ‚^‚ "  `†^‚ \ { ‚ -  50% } ’ ` } ‚ } † }| #}`#Š, , " & , " " ^ " &  ^ ^ ‚ } \ “ , €} | | |  | Š | ‚  . (´  ’^ | ^ ‚ Š  | - - "  - | “  Š {| ‹ ‚ | € -  } | € - } #" # ^ / / “– }^ } } " ”, ¸ 8, 2004). C'est probablement la raison pour laquelle Mendoza (2008) classifie ces adverbes dans la classe des adverbes épistémiques. Elle classifie, par contre, les suivants adverbes de la classe évidentielle : javno, opredelenno, kažetsja, kak budto, pochože, vrode (by, kak), jakoby, de, deskat’, mol. Dans la classe des marqueurs de l’évidentialité (adverbes, particules, etc.) la source des informations reste le plus souvent divulguée ou pas exprimée. Dans les dialogues, cette information est habituellement reconstruite à partir de la situation de communication déictique anaphorique, dans les textes de leur contexte. * > (16) š €  | ’ } |# ` `#" |} |# Š | ‹  | {‚ ’ } ‚   ‹ | }  | "“ ^, | }  } "#\ }" €, | }|‹{ } ‚, * > } `†{ | ^€ | {| } |  ‚‚- #“  ‚  Š ^ }#\ ‚   ^, ` ^ , ‚  #˜ | - }} . [– #}^ Š ^ (‚ `^ ` ’ ^  8-‚ }® { –} }} €}" Š \™ } | • ‚ ` Š |, ‚ " \ ` Š | { ` Š |) – #}^ Š ^ (‚ `^ ` ’ ^  8-‚ }® { –} }} €}" Š \™ } | • ‚ ` Š |, ‚ " \ ` Š | - { ` Š |)(2005)) (17) š | , | } †  \^` # ‚‹# ^ ‚  } { ` € Š ‚‚^, }` Š , * > \ | }†,  # ` { £``  €} | µ ‚ |#˜ ´ ` #. (¢  ¶ ‹". ”  ` } « }» / / «Computerworld», ¸ 25, 2004)) (18) µ} , " * > " } | “   © ’ ’ . [¦ }† LiveJournal (2004)) (19) ¦ } #˜ “ } ^ ^|  } ‹™#˜ ’Š# #˜ | } † " "   ‚# }#™ } |#, " * > }#‚ ` |^ } † Š { } “ ’ ^. (” ‹ ´ |^ | . µ | ‚ {‹ ? (2003) <?page no="303"?> Peter Kosta 270 (20) › Š ‹‹‹ |` } † { * > “ \™ } | ^ ” } # ^, { ‹ ‚ “ #, { ‹, }} ,  ‚ , | ’ € € } #‚  \™ } | , } † } #‚  - ` | ¹ | ‹™ | |` } † ` # `‹ ‚^ |` }   ‚ • . (› Š € ´ " . ¢ |^ } `^ - { Š #{" (2003) (21) ‡ " { ` Š ‚ Š Š ’ } |  | "-- “#{ * > }" { ` § Š ˜ £|  |#: "½ | }  ‚ ˜ #| ’ ˜". (– ‚ µ € . § Š € £|  | | ¾ / / «¦| { », ¸ 6, 2003) (22) [¢  , ’  / 52 / ‚ }} ’ } " ] ‡# | ‚ ’ |^} | ˜ }‹ • /  Š | / * > \#"| `†  Š | / } `˜ ‚ / " €} | / # } } |  / }‚ | | }† # . (¥ } } ‚ }} ’ } " € / / £{ ‚ ` | › " -š \# Š}" Š # | } , 2006) (23) [§ `  µ ‚ , ’ ] ¢ Š  ^ / ‹ † ’ /  ^ Š | ‹ / {   " € ` ’ -‚ Š `†}" | €}" / " Š `  –` ‚ / * > | | ‚ ‚ } / Š ™ } } ` " ¶ #} / ` • | €}" | " " \ ` /  }‚ Š` `† | Š †}‹ | • ‚  |`  / ‚ #` #" € }" { ` / «¦ }† # } » / « # } » - •  ˜ "}" ‚ ‹{^" «\ ` » \ { " . 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[‡ " ” `" | . ´|  “ †, "/ - (2007)] [ ‚  ‚ ‹  }‹ ] (28) [š |^€, › Š € ” " | “" €, ‚#’, 49, 1958] ¦ / |^ }" - { †/  ‚  } `  |  #\ €} | ? [-  “ ^€, <?page no="304"?> Modalité Epistémique et Evidentialité et sa disposition à la base déictique 271 – " – ’\ “" €, ‚#’, 48, 1959] ~ | ". [´ }‹ ^€, › Š € Ÿ “^\  |, ‚#’, 56, 1951] ‡ • ’ #’ } ! [‡ " ” `" | . ´|  “ †, "/ - (2007)] [ ‚  ‚ ‹  }‹ ] (29) ´ ‚  € {Š | / / £{ ‚ ` | " #} «-  | € †», Š |`  Š Š # € Ÿ.›.Ÿ}  |}" Š , 2007 [ ‚  ‚ ‹  }‹ ] € " #[ $"[ (1) [¥ \#" , ’ ] › ‚  } / " • } ‚ /  ‹  { | ` / • š#"  / } `˜ ’  / " " ‚ /  ‚  -  | ‹…  - | \™ ‚ ‚ ™   * * _- ... [´ ‚  € {Š | / / £{ ‚ ` | " #} «-  | € †», Š |`  Š Š # € Ÿ.›.Ÿ}  |}" Š , 2007] [ ‚  ‚ ‹  }‹ ] (30) ” " ` Š / / £{ ‚ ` | ¡`†‹ |}" Š # | } , 2007 [ ‚  ‚ ‹  }‹ ] € " #[ $"[ (1) ”^ Š # {# | "*} ` ‚ } | † \# ‚. [” " ` Š / / £{ ‚ ` | ¡`†‹ |}" Š # | } , 2007] [ ‚  ‚ ‹  }‹ ] (31) [Ÿ € § ` |  |, ‚#’, 1975] ~ | " / ` # \ / ” " | / ” " | / |`‹ }‹ ^ †  | ‚ # ^. [Ÿ € § ` |  |. › |^€ ’: "" €. -` ‚ €}" Š ^. - }} ‹ - ›` | " ‹ (15.02.2006) / / «š |^€ "  `»/ ‹‚ € •- , 2006] [ ‚  ‚ ‹  }‹ ] * " (32) [” }‹‹] ¶© ! ¥ ` ‚ / * " / †   | `}‹. [Å ˜ `†] ´ `  / - Š }  ‚. (33) [” }‹‹] ” ’ / • Š`˜" /  / * " / ‚^ `{` ! [-` Š µ#| |. ” }‹‹, ‚/ - (2002-2008)] [ ‚  ‚ ‹  }‹ ] (34) [Å ˜ `†] ‡ { ˜. ¡ ‚ ‹ / * " /   }‹ / . [” }‹‹] ¶ Š # \‹   }‹? [-` Š µ#| |. ” }‹‹, ‚/ - (2002-2008)] [ ‚  ‚ ‹  }‹ ] (35) [£|  ¨ `} €, ‚#’, 1958] ´ |‹ } |^€, * " , Š . [” ‹ ¢ }}" ‹-Ÿ| `†, ’ ] ½ { ^ `  #` “ . [‡.‡.¢ }}" € . ¥ } £|  ¨ `} Š } } ‚† € ¢ }}" / / - «›| \ », 2007] [ ‚  ‚ ‹  }‹ ] 2.4. L’analyse syntaxique des adverbes épistémiques et évidentiaux dans la phrase Dans cette section, je vais essayer d’expliquer pourquoi l’évidentialité et la modalité épistémique coïncident souvent dans un seul et même lexème (adverbe). Les motifs de fournir ce fait se reposent sur les hypothèses suivantes: (1) les adverbes évidentiaux sont situés très haut dans la structure de la phrase, cette à dire à l'extérieur du scope de la négation de phrase et à l'extérieur du scope du temps/ tense. <?page no="305"?> Peter Kosta 272 (2) La conclusion de cette structure de la phrase consiste en ce que si la négation de phrase et tendu est outscoped, les évidentiaux sont Dlinked et attachés par moyens déictiques ou anaphoriques par des relations syntaxiques de “BINDING as D-linking” (Chomsky 1981) ; la prédiction sera que l'évidentialité peut être restreinte seulement aux relations temporelles du passé et du futur, mais elle est exclue pour la 1. pers. sg. Présent, parce que l'orateur ne peut pas faire partie des renseignements annoncés. C'est prouvé par le fait que performatives ne peuvent pas apparaître dans les phrases évidentielle. (3) Au contraire, j'essaierai de montrer que les adverbes épistémiques sont attachés par Tense, cela signifie qu'ils peuvent être exprimés dans n'importe quelles relations temporelles sans tenir compte du point de discours et de l'événement. Ernst 2002 [Speech-Act] [Proposition TP [Event VP? [Event-Internal V]]]] VP Jackendoff (1972) -speaker-oriented ------------subject-oriented manner Quirk et al. (1972) conjunct -----------------disjunct ---------------------process adjunct McConnell- Ginet (1982) -------------Ad-S----------------------------Ad-VP--------------Ad-V Frey/ Pittner (1998) frame proposition event process Various works framing negative time -----------aspectual --------- 2.4.1. Trois approches plus nouvelles de la syntaxe adverbiale La direction orientée à la syntaxe adverbiale est représentée par les travaux de Kayne (1994), Cinque (1999), Alexiadou (1994, 1997), Laenzlinger (1996, 2000) Xu (1997) et Kosta (2003a,b). (1) L'approche Syntaxique de ces travaux va comme déjà présentée d'une séquence construite des têtes fonctionnelles (souvent vides), rangées strictement après des principes d'UG, dont chaque classe spécifique des adverbes est licensée (cf. ex. 36). Si plusieurs ou au moins deux adverbes arrivent en communs dans une phrase, ils deviennent deux têtes fonctionnelles séparées. Une telle approche doit partir nécessairement d'un principe d'ordre très stricte des ‘Adjunctpositions’ et de ses domaines fonctionnels (verbaux ou des têtes aspectuelles) dans une phrase; les variations d'ordre des mots alternatives sont expliquées par conséquent par (a) les têtes supplémentaires, ou (b) par les règles qui <?page no="306"?> Modalité Epistémique et Evidentialité et sa disposition à la base déictique 273 sont expliquées comme mouvement des adverbes de ses positions de base, ou (c) par le mouvement de tête sur ces adverbes (comme dans la mise au jour de verbe 2.1.1, ‘verb raising’). La sémantique joue dans ces travaux seulement un rôle subordonné, en conséquence l'ordre de base des têtes fonctionnelles dans UG est motivé. (2) Les approches syntaxiques-sémantiques sont représentées entre autre choses dans les travaux de Frey et Pittner (1998), Frey (2000) et Tenny (2000). Dans ces travaux le but est de classer d’après un système dans différents groupes les sous-groupes des adverbes les plus importants. Ils sont fixés par les principes syntaxiques, dans ceux-ci cependant la présence multiple par des adverbes dans une phrase par les règles d'interprétation sémantiques est déterminée. Ainsi Tenny applique (2000) les règles compositionnelles, á partir d'un nombre minimal de têtes fonctionnelles, comme par exemple d'une tête fonctionnelle pour des valeurs de vérité, pour des opérateurs de point de vue ou du Tense. Frey et Pittner (1998) ou Frey (2000) ne parlent pas des têtes fonctionnelles, mais de ‘zones’ ou ‘frames‘ que l'on peut comparer également avec les classes adverbiales correspondantes et les positions de phrase chez les autres chercheurs. (3) Les approches strictement sémantiques sont de Rochette (1990), Ernest (1998), (2000), (2002), Maienborn (1998), Shaer (1998) et Haider (2000). Dans ces travaux, les zones ou les cadres syntaxiques et ses qualités sémantiques sont découvertes par la combinaison des qualités lexico-sémantiques et les règles compositionnelles. Les principes syntaxiques sont formulés comme des restrictions pour le positionnement adverbial (par exemple, la position est formulée par des adverbes entre le verbe, objet direct dans les langues SVO ou la position verbale de poste dans les langues SOV comme la règle de restriction). Représentatif pour le premier groupe du travail est à côté de Cinque (1999) le travail excellent de Kayne (1994). Sa théorie adverbiale basée d’une part sur l'adoption qu'il n'y a plus la différence structurale traditionnelle entre Spécificateur et Adjoint, qui est faite, avant tout, depuis l'installation du X modèle de bar dans la théorie de Gouvernement et Liaison. Le Spécifi- FP 3 VP FP 3 FP 2 FP 2 FP 1 FP 1 Spec AdvP 3 F 3 F 2 F 1 Spec AdvP 2 Spec AdvP 1 <?page no="307"?> Peter Kosta 274 cateur lui-même est regardé comme Adjoint et en même temps l'Adjonction multiple des raisons de Linéarisation clairs des éléments terminales est exclue dans une expression linguistique complexe (Kayne 1994). 2.4.2. Les adverbes évidentiaux et les adverbes épistémiques Par la suite je donne une classification des adverbes de phrases et des adverbes de manière (manner adverbs), comme je les ai décrits dans mon travail (Kosta 2003a) en détail : (5) Satzwertige Adverbien (SA): 1. diskursorientierte Adverbien, sog. konjunkte Adverbien: (tsch. p i emž, ale, totiž, russ. vposledstvii, pri em, potomu to...) 2. formale Adverbien: (tsch. p esn tak, absolutn ) 3. Satzmodus-Adverbien (‘Mood-Adverbs’): (a) Sprechakt-Adverbien: (tsch. up ímn e eno, sbkr. iskreno, russ. otkrovenno govorja, estno govorja) (b) Evaluative Adverbien: (tsch. našt stí, bohužel, russ. k s ast‘ju, k sožaleniju ... ) (c) Evidentielle Adverbien: (tsch. prý, o ividn , sbkr. o igledno, russ. jakoby, o evidno…) 4. Domänen-Adverbien: (russ. politi eski, tsch. politicky.... ) 5. Modale Adverbien: (a) faktive (tsch. ovšem ‘natürlich’, pochopiteln ‘verständlicherweise’) (b) verifikative (tsch. opravdu ‘wirklich, wahrhaftig’ samoz ejm ‘selbstverständlich’, skute n ‘tatsächlich’) (c) epistemische (tsch. pravd podobn ‘wahrscheinlich’, jist ‘sicherlich’) (d) (ir)reale (tsch. snad, možná ‘möglicherweise, vielleicht’) (e) deontische (tsch. nutn ‘notwendigerweise’) (f) volitionale (tsch. dobrovoln ‘freiwillig’, cílev domn ‘zielbewusst’, zám rn , naschvál ‘absichtlich’) (g) abilitative (tsch. chyt e, moud e ‘clever, klugerweise’, správn ‘korrekterweise’) 6. Zeitadverbien: [T(Anterior) kdysi ‘einst’ tehdy ‘damals’ [T Praes nyní ‘nun’ ted ‘jetzt’ [T(Posterior) potom ‘danach’] <?page no="308"?> Modalité Epistémique et Evidentialité et sa disposition à la base déictique 275 7. Aspektuelle Adverbien I: (a) habituelle: (tsch. oby ejn , sbkr. obi no ‘gewöhnlich’) (b) repetitive: (tsch. op t, zase, sbkr. opet ‘wieder’) (c) frequentative: (tsch. asto, sbkr. esto ‘oft’) (d) celerative: (tsch. rychle, sbkr. brzo ‘schnell’) (e) perfektive: (tsch. už nikdy, sbkr. (nije) više ‘(no) longer’ > uvijek ‘always’) (f) kontinuative: (tsch.ješt , sbkr.još ‘noch’) (g) retrospektive: (tsch. zrovna, sbkr. upravo ‘gerade’) VP-Adverbien: 8. Aspektuelle Adverbien II: (a) prospektive: (tsch. skoro, sbkr. gotovo ‘fast’) (b) quantifizierende: (tsch. hodn , dost, sbkr. dosta, dovoljno ‘viel, genug’) (c) kompletive: (tsch. zcela, docela, sbkr. potpuno ‘völlig’) 9. ‘Manner Adverbs’ (u.a. Umstandsadverbien) (tsch. dob e, vlídn , la n , nahlas... ‘gut, freundlich, gierig, laut...’ shkr. dobro ‘well’...) Nous devons nous interdire une classification détaillée des types séparés ici pour des raisons de place. Donc, ce serait arrivé brièvement aux types les plus importants de S.A. des classes 3-5. Jusqu'à présent, la classe 3-5 de S.A. a été le mieux décrite dans la littérature. Habituellement, on regarde ces adverbes sémantiques comme des propositions sur des propositions, c.-à-d. comme les prédicats de point de vue, qui se rapportent à toutes les propositions (cf. Bierwisch (1979), Kosta (1998), Szucsich (2002 : 69)). Avec cela il s'agit des opérateurs qui ont la proposition temporale ancrée dans son scope. S.A. sont les expressions fondamentalement concernant le porte-parole. Si les S.A. deviennent une “expression complexe de la proposition”, cela suppose que l'expression complexe concernée exprime déjà un événement complètement spécifique.” (Szucsich, 2002 : 69). Il s'agit de parler de manière "minimaliste" au moins de VP ou vP, c.-à-d. dans Scope de la position de base de S.A., le matériel lexical total de la numération mise en forme, la teneur propositionnelle doit être disponible. Cela signifie que tous les éléments de la phrase (inclusivement dans son Scope trouvant lower adverbs des classes 4-9, des arguments etc.) ccommandent qu'à S.A. Le fait se ressent aussi dans les langues slave, un ordre relatif strict de S.A. est à observer par rapport aux autres adverbiaux (avant tout, ‘lower adverbs’ des classes 7 jusqu'à 9). Pour sbkr. S.A. a fait remarquer cette circonstance déjà par Cinque (1999). Nous donnons ici cer- <?page no="309"?> Peter Kosta 276 taines pièces justificatives de corpus national russes et tchèques qui documentent cet ordre relativement strict : (6) Adverbes de Mode de phrase Adverbes d'acte de conversation > les adverbes évaluatives > les adverbes évidentiaux > les adverbes de domaines > les adverbes modaux Les adverbes d'acte de conversation (que je nommerais les adverbes d'acte) spécifient le cadre de remarque, c.-à-d. un acte de conversation est mis dans l'enveloppe à la stratégie de conversation du porte-parole, les conditions sociales intersubjectives et les cadres d'une conversation aux conventions introductives ou structurantes. Habituellement, le porte-parole s'engage avec cela, certes, à une stratégie de conversation certaine ou attitude de conversation (le point de vue intérieur); donc, il ne peut pas être sanctionné lors de l'inobservance, c.-à-d. sa stratégie de conversation ressemble plus à une phrase d'ouverture conventionnelle pour qu'elle puisse être opposé juridiquement à des participants de conversation (russ. otkrovenno govorja, estno govorja), cf. : (37) (...) to no kto-to raskalennym utjugom prošelsja po travam. Moloko my, kone no, poterjali. Da i, otkrovenno govorja, vynuždeny byli dumat' ne stol'ko o nem, skol'ko o sostojanii životnych. (Tübinger Russische Korpora, Quelle: S tugim košel'kom pod užoj kryšej. “Izvestija”, 87-11-26 (948)). (38) (...) a my kak rasklanivalis' pri vstre ach, tak i prodolžali rasklanivat'sja. Da bo1'šego, otkrovenno govorja, ja i ne chotel. (39) (...) pis'mami Julii Michajlovny i dolžen tam obegat' trech- etyrech znaete kakich lic, ert by ich dral, otkrovenno govorja. ertova dolžnost'! - Da ego, skažite, ona tak strusila? zašeptal i molodoj elovek. (Dostoevskij, Besy) (40) lepili iz testa figurku Viclipucli, v allee pokazalsja pervyj elovek. Vposledstvii, kogda, otkrovenno govorja, bylo uže pozdno, raznye u reždenija predstavili svoi svodki s opisaniem etogo eloveka. (M. Bulgakov: Master i Margarita) La position la plus fréquente des pièces justificatives découvertes est initiale de phrase ((38) est le mouvement d'objet de Quantor adverbial du bol’ šego ‘plus’, vers la phrase otkrovenno govorja qui se trouve ici devant le sujet de phrase) ou la position d’une parenthèse (c.-à-d. en dehors du cadre de phrase). Cependant, la poursuite dans (39) est caractérisée clairement comme une cataphorèse et indique une parenthèse discursive supplémentaire. La position canonique des adverbes d'acte de conversation est reconnaissable par la position après le complementizer kogda (dans la tête de C 0 ) dans (39), c.-à-d. il doit s'agir d'une position de structure dans le domaine ou dans la proximité de la périphérie gauche ou en dehors du cadre de phrase <?page no="310"?> Modalité Epistémique et Evidentialité et sa disposition à la base déictique 277 dans l'esprit de Rizzi (1997). Semblablement l'adverbe d'acte de conversation estno govorja, ‘à parler franchement’, se comporte syntaxiquement pareil: (41) (...) instrumenta, kakogo-to osobogo vspleska aktivnosti my, estno govorja, ne ždali, -rasskazyvaet instruktor partkoma K. Loginovskaja . -Po emu? Menee goda nazad tam (I vot zima katit v glaza. “Izvestija”, 87-09-28). (42) (...) oženo liš' 700 metrov. Est', razumeetsja i primery istinno chozjajskogo otnošenija k delu. No, estno govorja, na obš em fone nedostatkov i upuš enij ne do pochval 'nych slov. (Miloserdie. “Ogonek”, 1988: 38, str. 29-32 (600)). (43) stoj ivee trebovat' svoego prava na u astie v delach miloserdija. I naš golos byl uslyšan. No, estno govorja, do vstre i Michaila Sergeevica Gorba eva s patriarchom Pimenom vse somnevalis' pojmut li nas (Tolstaja, T., Ogon' i pyl', v kn. “Na zolotom kryl'ce sideli ...”, Moskva, 1987, str. 96-104). Les adverbes évaluatifs pressent les attentes du côté d'émetteur, les évaluations, les souhaits, les espoirs et les craintes de quelqu’un ou de quelque chose (cf. Szucsich 2002: 72). Le contenue évaluatif du point de vue en face de la proposition présuppose en même temps qu'il s'agit de la valeur de vérité ‘vrai’ (w) ou des degrés spécifié par des adverbes épistémiques, des faits. “Evaluative des adverbiaux de phrase induisent une proposition factitive” (Szucsich 2002 : 72 avec la citation d’Ewald Lang 1979: 201). L'évaluation est possible seulement si une valeur de vérité est induite ou est modifiée plus tard par les adverbes épistémiques. Le scope relatif en résulte et E se trouve pour le mode de point de vue et p pour la proposition : (44) ES-Akt (EEval (EEpist (p))) (Szucsich 2002: 72) (45) (...) krutil ru ku i s pomoš 'ju metoda N'jutona vy isljal integraly. K sožaleniju (ili k s ast'ju), bol'še nikogda v žizni mne s etoj mašinkoj stalkivat'sja ne prichodilos'. (Ogonek: 2000, volume 17) En effet, les adverbes évaluatifs, se trouvent, s’ils arrivent en même temps avec les adverbes épistémiques dans la phrase, devant ces derniers, c.-à-d. les adverbes épistémiques se trouvent dans le scope des adverbes évaluatifs et évaluatifs et épistémiques dans le scope des SA adverbes d'acte. (46) takoj spektakl' - ut' lu še, ut‘ chuže -momo uvidet' na ljuboj stoli noj scene. Vse dejstvitel'no milo, slavno, mestami trogatel'no, poroj izjaš no, bezzlobno, bezzabotno, vse, kak u ljudej. (Zona mol anija. “Socialisti eskaja industrija”, 88-11-21) La position syntaxique canonique au-dessous de Spécifier d'AgrsP ou TP des adverbiaux épistémiques reflète la relation d'argument de prédicat très clairement, c’est pourquoi Ernest (1998, 2000, 2002) les a indiqué comme “predicationals adjuncts”. La position syntaxique canonique se trouve le plus près du contenu propositionnel et elle représente avec cela hiérarchiquement les adverbes de phrase les plus profonds, (temporal ancrait, cf. Shaer en 1998, <?page no="311"?> Peter Kosta 278 Szucsich 2002: 71). Les adverbes épistémiques des prédicats marquent une gradation du côté d'émetteur/ du porte-parleur quant au classement d'une valeur de vérité à la proposition. Nous donnons, “probablement”, ici seulement chaque fois un exemple pour verojatno “probablement” et vozmožno. Dans l'exemple (47) est en face l’adverbe épistémique verojatno qui modifie toute la proposition, V-Adv encastré plus profondément, qui modifie seulement le participe kritikovavšij: (47) (...) A predsedatel' Prezidiuma Verchovnogo Soveta Azerbajdžana deputat Tatliev, verojatno, spravedlivo kritikovavšij estoncev, postupil, odnako, prjamotaki po Koz'me Prutkovu. (Quelle: Kogda politikoj zanimajutsja vser'ez. Razmyšlenija politi eskogo obozrevatelja. “Moskovskie novosti”, 88-1211). Sur la possibilité de la modification des phrases propositionnelles comprimées (consisté des participes, deepri astie) par les adverbes épistémiques, j'ai déjà indiqué dans mon article aux XII. Congrès International de Slaviste à Cracovie (Kosta 1998) je voudrais ajouter ces deux exemples : (48) (...) i chotelos' by vnimatel'nee osmotret'sja krugom, no on poka eš e ne rešalsja. Mar'ja Timofeevna, verojatno najdja figuru ego opjat' (...) (Dostoevskij, Besy) (49) penija. Vidno bylo, eto emu chotelos' poskoree eto-to raz'jasnit', da i o en' nado bylo; no, verojatno uvstvuja sam (...) (Dostoevskij, Besy) Ce court aperçu fait apparaître une succession relativement claire, c.-à-d. les adverbes épistémiques se trouvent tous dans la parenthèse de phrase gauche. 3. Modalité, Evidentialité et Deixis L'Evidentialité est liée étroitement à deux moments : d'une part à la référence concernant la source de l'information et, d'autre part, à l'attitude épistémique du locuteur. Dans ce sens, il apparaît justifié de considérer l'Evidentialité comme un phénomène déictique en tenant compte des éléments du contexte extralinguistique, c’est-à-dire de la source de l'information et du locuteur qui y a accès. Des travaux antérieurs (par exemple, Jakobson (1957), Schlichter (1986), Frawley (1992), Volkmann (2005)) ont déjà fait apparaître le caractère déictique de l'Evidentialité. Par deixis, on entend un mécanisme spécifique de ‘Référentialité’ qui renvoie au contexte et produit une relation avec l' ‘ego hic nunc’. Si l’on prend en considération les catégories que Frawley (1992) propose pour une classification déictique du domaine épistémique (le centre déictique : ego ou alter, la Directionalité : en partant de X, pour arriver à X), les quatre sous-catégories qui en résultent, sont : 1) (Inférence) en partant du ‘ego’ ; 2) en avançant vers ‘ego’ (Echelle de perception visuelle, auditif, <?page no="312"?> Modalité Epistémique et Evidentialité et sa disposition à la base déictique 279 l'autre sens) ; 3) en partant du ‘alter’ (la citation, la communication, le bruit…) ; 4) en avançant vers l'‘alter’ (l'un jusqu'à tous les interlocuteurs possibles) (cf. Wachtmeister Bermúdez en 2006 : 25-26). En reconnaissant le caractère déictique de l'Evidentialité d’une langue cela nous donne une base pour faire la distinction entre l’Evidentialité et la Modalité épistémique. La deixis implique une “perspectivisation (all. Perspektivierung) du point de vue du locuteur”, dont les co-locuteurs, en partant de leurs propres positions discursives, doivent réinterpréter. La notion de perspectivisation implicite nous permet, avec le concept de deixis, de distinguer la modalité épistémique et l'Evidentialité. Source de l'information La force de l'information Ego en partant des Degrés d'Inférence Nécessaire > possible Arrivé des Degrés de la perception visuellement > auditif > les autres perceptions de sens Age En partant des Degrés de l'information extérieure Citation > le rapport > le bruit > les autres Arrivé des Degrés des participants L’autre > les de reste Si on regarde les pièces justificatives qui nous sont données, on constate que seulement quelques-uns des adverbes evidentiels et les constructions indiquent exactement la source réelle de l'information. Les adverbes évidentiaux les plus productives comme o evidno, možno, jakoby ainsi que les phrases et parenthèses dans lesquels la connaissance de l‘auditeur ou du porte-parole est marquée, sont vagues ou ambigues. Cette constation correspond exactement à l'observation de Gerda Haßler (2004). Bibliographie Aikhenvald, Alexandra Y. (2003): “Evidentiality in typological perspective”, in: A. Y. Aikhenvald / R. M. W. Dixon (Eds.), 33-62. Aikhenvald, Alexandra Y. (2004): Evidentiality, Oxford: Oxford University Press. Aikhenvald, Alexandra Y. / Dixon, R. M. W. (1998): “Evidentials and areal typology: A case-study from Amazonia”, Langage Sciences 20, 241-257. Aikhenvald, Alexandra Y. / Dixon, R. M. W. (Eds.)(2003): Studies in Evidentiality. Typological studies in langage (Bd. 54), Amsterdam: John Benjamins. Barnes, J. (1984): “Evidentials in the Tuyuca verb”, International Journal of American Linguistics 50, 255-271. <?page no="313"?> Peter Kosta 280 Blakemore, D. 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Einleitung Aus deutscher Perspektive hat Peter von Polenz in seiner Sprachgeschichte schon vor mehr als zehn Jahren deutlich darauf hingewiesen, dass die “Anglizismenproblematik” sowohl eine historische als auch eine europäische Dimension hat: Wenn im Folgenden […] von e n g l i s c h e m ‘S p r a c h e i n f l u ß’, von Entlehnungen aus dem Englischen oder von Anglizismen/ Angloamerikanismen die Rede ist, so ist dieser sprachgeschichtlich wichtige Prozeß weniger als ‘Verenglischung’ des Deutschen zu verstehen, vielmehr primär als modernster Teil der Internationalisierung europäischer Sprachen, zumal Englisch in seiner Wirkung als “the world’s lingua franca” nicht mehr als “national language” einzustufen ist, sondern als “inter-” oder “multinational language par excellence” (Fishman u.a. 1996, 8, 21). Die meisten modernen Anglizismen oder Angloamerikanismen sind Internationalismen (von Polenz 1999: 400). Damit wird deutlich ausgesprochen, dass der englisch-deutsche Sprach- und Kulturkontakt sowohl in seiner historischen Entwicklung als auch im Vergleich zu anderen europäischen Sprachen zu betrachten ist. Um sowohl die historische als auch die europäische Perspektive vergleichend in den Blick zu nehmen, möchte ich im Folgenden über die Ergebnisse eines Projektes zur lexikographischen Dokumentation des Einflusses des Englischen auf die Sprachen Europas berichten, das unter der Federführung meines Kollegen Manfred Görlach durchgeführt wurde und das seinen Abschluss in drei Publikationen gefunden hat, an denen ich neben Manfred Görlach für die deutsche Sprache mitgewirkt habe. Die Dokumentation umfasst das Wörterbuch A Dictionary of European Anglicisms (Görlach 2001) [im Folgenden kurz DEA], das die folgenden sechzehn Sprachen behandelt: 1) vier germanische Sprachen (Isländisch, Norwegisch, Niederländisch und Deutsch), 2) vier romanische Sprachen (Französisch, Spanisch, Italienisch and Rumänisch), <?page no="321"?> Ulrich Busse 288 3) vier slawische Sprachen (Russisch, Polnisch, Kroatisch und Bulgarisch) sowie 4) vier weitere Sprachen (Finnisch, Ungarisch, Albanisch und Griechisch), den Begleitband English in Europe [EiE] (Görlach 2002a), in dem auf der Basis der Wörterbuchdaten ein systematischer Überblick über die o.g. sechzehn Sprachen gegeben wird, sowie die Bibliographie An Annotated Bibliography of European Anglicisms (Görlach 2002b), die die relevante Forschungsliteratur zu den untersuchten Sprachen verzeichnet. Während der von Manfred Görlach (2003) nach Abschluss des Projektes verfasste Band English Words Abroad in vielerlei Hinsicht die Vorgehensweise und die wesentlichen Ergebnisse des Wörterbuches zusammenfasst (s. dazu auch Busse 2009), sind die Ergebnisse des Begleitbandes EiE meines Wissens bislang noch nicht systematisch ausgewertet worden. Ausgewählte Kapitel von EiE dienen daher für die Beschreibung und Periodisierung des englischen Einflusses auf die europäischen Sprachen als Hauptinformationsquelle. Die nachfolgenden Überblicksskizzen zu den Einzelsprachen fußen im Wesentlichen auf den entsprechenden Abschnitten “Chronologie intensiver Einflüsse”, “Quellen der Einflüsse” und “Chronologie puristischer Phasen”. Da alle Beiträge des Bandes nach dem Muster des englischdeutschen Sprachkontaktes (s. Busse/ Görlach 2002) verfasst wurden, führt dieses Vorgehen in den Fällen, in denen die kulturhistorischen Rahmenbedingungen in einzelnen Ländern gleich oder ähnlich waren, zu einer gewissen Redundanz, zeigt aber andererseits deutlich Parallelen und Unterschiede auf, wobei im Folgenden als Ausgangspunkt der Geschichte des englischdeutschen Sprachkontaktes bewusst breiterer Raum eingeräumt wird. 2. Perioden des englischen Einflusses auf die Sprachen Europas 2.1. Historischer Überblick über den englisch-deutschen Sprachkontakt Der kulturelle und sprachliche Austausch zwischen Großbritannien und Deutschland reicht weit in die Vergangenheit zurück. Er beginnt auf der englischen Seite mit der Landnahme der angelsächsischen Stämme im 5. Jahrhundert n. Chr. 1 und auf der deutschen Seite mit der anglo-irischen Mission durch Bonifatius im 8. Jahrhundert. 2 Was die Zahl der Entlehnungen anbelangt, so war allerdings das Verhältnis von Geben und Nehmen zwischen den beiden Sprachen Englisch und Deutsch schon immer recht 1 Der Angelsächsischen Chronik zufolge sollen die Stämme der Angeln, Sachsen und Jüten im Jahre 449 in England gelandet sein. 2 Der heilige Bonifatius (672/ 673-754) wurde von Papst Gregor II. 719 mit der Germanenmission beauftragt; er starb als Märtyrer in der Friesenmission. <?page no="322"?> Anglizismen europäisch und historisch 289 unausgewogen. Obgleich die englische Sprache im Laufe ihrer Geschichte sehr viele Wörter aus anderen Sprachen entlehnt hat, bleibt die Zahl der Germanismen stets relativ gering (cf. dazu Stanforth 1968, 1996 und Pfeffer/ Cannon 2010). 3 Umgekehrt steigt der Anteil der Anglizismen im Deutschen zunächst langsam, aber in neuerer und neuester Zeit deutlich an. Obgleich es kaum möglich ist, den lexikalischen Einfluss des Englischen auf das Deutsche in wenigen Sätzen angemessen zu beschreiben, so lassen sich dennoch die wesentlichen Entlehnungsphasen bzw. -schübe wie folgt zusammenfassen: Während des Mittelalters ist der Einfluss des Englischen auf das Deutsche gering. In der Kirchensprache findet sich durch die anglo-irische Mission z.B. die Lehnübersetzung heilago geist (heiliger Geist), die auf altenglisch se halga gast zurückgeht. Aus dem Spätmittelalter sind Fachausdrücke der Seefahrt, wie z.B. Boot, Lotse und Dock, belegt. 4 Bis zum 18. Jahrhundert bleibt der Einfluss des Englischen auf das Deutsche marginal, insbesondere wenn man ihn in Relation zu den anderen europäischen Sprachen, hier vornehmlich Französisch und Latein, setzt (cf. dazu von Polenz 1994: 77-79 sowie 101-106). Ab der Mitte des 17. Jahrhunderts, insbesondere nach der Hinrichtung Karls I. (1649), steht England jedoch plötzlich im Mittelpunkt des Interesses. Ausdrücke aus der Politik wie Unterhaus, Oberhaus, Hochverrat und Bill belegen dies. Letzteres wurde 1801 von Campe als Gesetzentwurf verdeutscht. 5 Im 18. Jahrhundert werden die Kontakte zwischen Deutschland und England auf geistig-kulturellem Gebiet enger. Dies ist vor allem auf (literarische) Übersetzungen zurückzuführen. 6 Durch Reiseberichte, wie z.B. von Fürst Pückler, werden England und englischer Lebensstil auf dem Kontinent populär. Seit 1714 sind die beiden Länder überdies durch die Thronfolge des Hauses Hannover auch politisch enger miteinander verflochten. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass Englisch als Bildungssprache seit zirka 1800 fast überall in Deutschland gelehrt wird (cf. Glück 2002: 323-345). Insgesamt führt dies zu einem ersten, wenn auch zahlenmäßig noch geringen Höhe- 3 Für die jüngste Gegenwart kommt Haarmann zu folgendem Befund: “Im Vergleich zur massiven Einwirkung des Englischen auf das Deutsche nimmt sich der Modetrend des modernen Englischen, deutsche Kulturwörter zu adaptieren, verschwindend unproportioniert aus” (2002: 156). 4 Stanforth (1968: 539) führt diese Beispiele an. Bei Boot und Dock ist der englische Einfluss nicht klar erwiesen. Kluge (1989) bemerkt, dass beide aus dem Niederdeutschen übernommen wurden. 5 Zu Erfolg und Mißerfolg der Fremdwortverdeutschung von Johann Heinrich Campe cf. Daniels (1979, bes. S. 156-178). 6 “(Addison, Pope, Swift, Defoe, Shaftesbury, Smith, Moralische Wochenschriften), auch in der Empfindsamkeit (Milton, Richardson, Ossian, Sterne, Goldsmith, Fielding usw.) und in der deutschen Shakespeare-Renaissance im späteren 18. Jh., besonders durch Wielands Übersetzungen“ (von Polenz 1994: 103). <?page no="323"?> Ulrich Busse 290 punkt in den englisch-deutschen Lehnbeziehungen. Charakteristisch für die Übersetzungsliteratur sind Lehnprägungen anstelle von direkten Übernahmen. Zahlreiche bekannte Beispiele gehen auf die Shakespeare-Rezeption zurück: Heißsporn; Es ist etwas faul im Staate Dänemark; Sein oder Nichtsein; Gut gebrüllt, Löwe; Der Widerspenstigen Zähmung etc. Im Gegensatz dazu steht der Sprach- und Kulturkontakt des 19. Jahrhunderts im Zeichen der Industriellen Revolution. Viele Wortentlehnungen sind zugleich Sachentlehnungen und dokumentieren Englands führende Rolle auf wirtschaftlichem Gebiet, insbesondere in den Bereichen Eisenbahnwesen, Schiffbau, Stahlproduktion und Textilindustrie. Typische Beispiele dafür sind: Dampfmaschine, Lokomotive, Klipper, Bessemerstahl und Corduroi (gekürzt zu Kord). Daneben ist England im 19. Jahrhundert auch ein Vorbild “im Pressewesen (Leitartikel, Essay, Reporter, Interview) und seit der zweiten Jahrhunderthälfte auch in der Politik bei der Ablösung der ständischen Gesellschaftsordnung durch die repräsentative Demokratie in heftigen Kämpfen (Demonstration, radikal, lynchen, Stimmvieh, Mob, Streik, Imperialismus)” (von Polenz 1999: 401). Zugleich werden Anglizismen im späten 19. Jahrhundert auch im gesellschaftlichen Leben modern. Besonders deutlich wird dies im Wortschatz von ‘Mode’-Sportarten wie Fußball, Golf, Pferdesport und Tennis (cf. Dunger (1909) sowie speziell zur Fußballsprache, die zum großen Teil ihren Ursprung in England hatte (Burkhardt 2006)). Insgesamt sind die älteren Entlehnungen im Vergleich zu den heutigen Verhältnissen jedoch nicht sehr zahlreich und in Schreibung und Aussprache häufig so weit in das Deutsche integriert, wie z.B. fesch, Keks, Rum und Schal, dass sie dem durchschnittlichen Sprachverwender kaum noch fremd erscheinen (cf. auch Busse/ Görlach 2002: 13seq.). Im 20. Jahrhundert lassen sich vier verschiedene Perioden der sprachlichen Beeinflussung durch das Englische unterscheiden: 1) Bis zum Ersten Weltkrieg steigt die Zahl der Anglizismen weiter an. 2) Im frühen 20. Jahrhundert wird der Einfluss des amerikanischen Englisch zum ersten Mal spürbar und zeigt sich z.B. in Entlehnungen wie Charleston oder Jazz. Nach dem Ersten Weltkrieg kommt es zunächst zu einem zahlenmäßigen Rückgang der Entlehnungen; ihre Zahl steigt jedoch in den Zwischenkriegsjahren wieder an. 3) Nach 1945 und insbesondere seit Beginn der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts ist zumindest für Westdeutschland ein ungehemmter und stetig steigender Zustrom von Anglizismen zu verzeichnen. <?page no="324"?> Anglizismen europäisch und historisch 291 4) Seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts hat sich diese Beeinflussung noch einmal intensiviert. 7 Von dieser Entwicklung sind allerdings längst nicht alle Bereiche der deutschen Sprache gleichermaßen betroffen, denn der englische Einfluss zeigt sich vornehmlich in einigen Fachsprachen, insbesondere in der Informationstechnologie, der Werbesprache und in Teilen der Fachsprache der Wirtschaft sowie in der Jugendsprache. Bezüglich der Herkunft der Anglizismen kommen verschiedene Forscher übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass der Einfluss des britischen Englisch seit dem Ersten Weltkrieg beständig zugunsten des amerikanischen Englisch zurückgeht. Für die Zeit nach 1945 dürfte demnach der deutsche Kontakt mit dem Englischen in erster Linie unter dem Gesichtspunkt des Kontaktes mit dem amerikanischen Englisch zu betrachten sein, zumal auch innerhalb der englischen Sprache das amerikanische Englisch als die dominierende Kraft zu sehen ist, die durch die Medien auf andere Varietäten einwirkt. Für den großen Einfluss des amerikanischen Englisch auf die deutsche Sprache der Gegenwart sprechen zahlreiche sprachexterne Faktoren, die in der politisch-militärischen, wirtschaftlichen und kulturellen Westintegration der Bundesrepublik im Rahmen der transatlantischen Allianz begründet sind. Diese Erklärung ist zwar zutreffend, aber weder hinreichend noch notwendig, denn die Arbeiten von Lehnert (1990) und anderen haben gezeigt, dass in der DDR wegen der anders gearteten gesellschaftspolitischen Verhältnisse der Zustrom angloamerikanischen Wortgutes zwar nicht so groß wie in Westdeutschland war und dass Anglizismen mit einer gewissen Zeitverzögerung rezipiert wurden, aber dass auch stets mehr Angloamerikanisches im Umlauf war, als politisch gewollt und offiziell zugegeben wurde. Diese Situation spiegelt sich auch in den folgenden Kapiteln über die osteuropäischen Länder wider. Nach diesem groben Überblick über die bedeutendsten Phasen des lexikalischen Einflusses der englischen auf die deutsche Sprache sollen nun die entsprechenden Passagen zur Geschichte des Sprachkontaktes zu den weiteren Sprachen, die in EiE beschrieben werden, herangezogen und kurz skizziert werden, um zu untersuchen, ob sich diese Periodisierung für die englischen Entlehnungen im Deutschen auch in den übrigen dokumentierten Sprachen wieder findet oder ob politische Gegebenheiten, räumliche Nähe oder Distanz oder sprachinterne Faktoren, wie z.B. typologische Nähe oder Ferne, einen nennenswerten Einfluss auf die Lehnbeziehungen ausgeübt 7 Häufig wird die weltweite Dominanz des Englischen eng mit dem Prozess der Globalisierung in Verbindung gebracht. So ist beispielsweise Haarmann der Ansicht, dass diese Verbindung zwar nur recht oberflächlich ist, aber dennoch so viel Wahres beinhaltet, “dass es akzeptabel ist, das Englische als sprachlichen Motor der Globalisierung zu identifizieren” (2002: 153). <?page no="325"?> Ulrich Busse 292 haben. Die Reihenfolge der Länderportraits folgt der Sequenz in EiE, indem zuerst die germanischen Sprachen, danach die romanischen Sprachen gefolgt von den slawischen und “sonstigen” Sprachen beschrieben werden. 2.2. Historischer Überblick über den englisch-niederländischen Sprachkontakt Für das Niederländische kommen Berteloot und van der Sijs (2002: 37-39) zu folgendem Ergebnis: Ähnlich wie im Deutschen reichen die ältesten Kontakte bis zur Christianisierung im frühen Mittelalter durch angelsächsische Mönche wie Willibrord und Bonifatius zurück. Während des Mittelalters beschränken sich die wenigen englischen Lehnwörter auf die Bereiche Seefahrt und Handel. Aufgrund der Vorherrschaft der Spanier, Österreicher und Franzosen nimmt der Einfluss des Englischen im 16. und 17. Jahrhundert ab und bis zum 20. Jahrhundert werden die meisten englischen Lehnwörter über das Französische importiert. Im 17. Jahrhundert konkurrieren die Niederländer und die Engländer als Kolonialmächte, was politisch zu kriegerischen Auseinandersetzungen und sprachlich zum Zustrom von Wörtern auch aus den Kolonien führt. Enge dynastische Verbindungen der Königshäuser (Wilhelm von Oranien, 1688) können Französisch als höfische Sprache nicht verdrängen. Ebenfalls im 17. Jahrhundert erscheinen erste zweisprachige Wörterbücher. Im 18. Jahrhundert stehen englische Kultur, Mode und Literatur im Zentrum der Lehnbeziehungen. Zahlenmäßig bleibt der Einfluss des Englischen jedoch gering, vermutlich auch aufgrund der Tatsache, dass bereits gut etablierte französische Wörter als Äquivalente zur Verfügung stehen. Für das 19. Jahrhundert sind die wirtschaftlichen Domänen Schiffbau, Eisenbahnwesen und Industrie sowie im politischen Leben der Parlamentarismus bedeutende Spenderbereiche von Lehnwörtern. Ferner werden zum Ende des 19. Jahrhunderts englische Vornamen modern und gesellschaftliche Begriffe wie Beauty, Dandy, Snob und Would-be werden entlehnt. Zum Wechsel vom 19. ins 20. Jahrhundert wird der zahlenmäßige Einfluss englischer Lehnwörter, die zwar nun mehrheitlich direkt entlehnt werden, immer noch als gering eingeschätzt. Im 20. Jahrhundert steigt die Zahl der Entlehnungen rasch an. Dies trifft vor allem auf die Bereiche Sport, Handel, Wirtschaft und Werbung zu. Nach 1945 steht der Kontakt eindeutig unter dem Vorzeichen des American way of life mit der Dominanz amerikanischer Kultur, politischer und ökonomischer Ideen und Technologie. Der Aufstieg des Englischen zur Weltsprache verdrängt zum einen das Französische als prestigeträchtige internationale Sprache und führt zum <?page no="326"?> Anglizismen europäisch und historisch 293 anderen dazu, dass Englisch eine obligatorische Fremdsprache in der Schulausbildung wird. 2.3. Historischer Überblick über den englisch-norwegischen Sprachkontakt Der englisch-norwegische Sprachkontakt lässt sich mit Graedler (2002: 57- 59) wie folgt beschreiben. Auch hier führt die Christianisierung durch angelsächsische Missionare im 10. und 11. Jahrhundert zu Entlehnungen wie Prest ‘Priester’ und Kirke ‘Kirche’. Der Aufstieg der Hanse macht das Deutsche und das Dänische als Vermittlersprachen zu bedeutenderen Kontaktsprachen als das Englische. Vom 19. Jahrhundert an lassen sich drei Entwicklungen beobachten. Die von England ausgehende Industrielle Revolution reintensiviert die anglo-norwegischen Sprachkontakte. Neben der Entlehnung von technischen und terminologischen Begriffen sind auch Lehnwörter aus dem sozialen Leben der Oberschicht (Mode, Sport und Kartenspiele) zu verzeichnen. Bis zum Zweiten Weltkrieg bleiben die Bereiche Sport (vor allem Fußball) und Spiel dominant. Das Gros der Entlehnungen folgt nach 1945. Der Einfluss der englischen Sprache in allen Bereichen des öffentlichen Lebens und auch in Subkulturen ist groß, was dazu führt, dass das Englische in Textsorten wie Wissenschaftssprache, Popmusik und Werbung das Norwegische verdrängt, sodass man vom Verlust ganzer Domänen sprechen kann. 2.4. Historischer Überblick über den englisch-isländischen Sprachkontakt Nach der Besiedlung Islands im späten neunten Jahrhundert bleiben die anglo-isländischen Kontakte gering. Es finden sich zwar einige religiöse Wörter altenglischen Ursprungs; häufig ist es jedoch schwierig, die genaue Herkunft eines Wortes aus den westgermanischen Sprachen zu ermitteln. Im 15. Jahrhundert ergeben sich durch Seeleute, die zum Fischfang und Handel nach Island kommen, auch sprachliche Beeinflussungen in diesen Bereichen. Ähnlich wie in Norwegen nimmt die Hanse vom 16. bis zum 18. Jahrhundert eine führende Rolle ein, was in sprachlicher Hinsicht dazu führt, dass Deutsch und Dänisch größeren Einfluss auf das Isländische ausüben als das Englische. Im 19. Jahrhundert übernimmt das Dänische auch eine wichtige Mittlerfunktion für die englischen Entlehnungen. Zum Ende des Jahrhunderts werden auch viele Bücher aus dem Englischen übersetzt, aber aufgrund des vorherrschenden Sprachpurismus werden die Begriffe übersetzt, und es finden sich deshalb in den Bereichen von Wissenschaft und Technik <?page no="327"?> Ulrich Busse 294 im Isländischen weniger direkte Entlehnungen als in den Nachbarsprachen 8 (cf. dazu auch die Darstellung des Finnischen). Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kommt es durch Emigration von Isländern nach Kanada und in die USA sowie durch Wirtschaftskontakte zu Großbritannien zu direkten Kontakten mit der englischen Sprache. Während des Zweiten Weltkrieges sind ab 1940 britische Truppen auf der Insel stationiert und die US-Armee ist seit 1941 auf der Insel präsent und unterhält auch nach dem Krieg NATO-Basen. Diese Präsenz führt auch zu zahlreichen persönlichen Kontakten. Als wichtigste Quellen für die sprachliche Beeinflussung in der jüngeren Geschichte werden englische und amerikanische Filme und andere Formen der Unterhaltung angeführt (s. Kvaran/ Svavarsdóttir 2002: 82-84). 2.5. Historischer Überblick über den englisch-französischen Sprachkontakt Humbley (2002: 108-109) führt an, dass die englische und die französische Geschichte seit der normannischen Eroberung von 1066 eng miteinander verbunden sind, sich der Sprachaustausch aber bis zum 18. Jahrhundert im Wesentlichen als Einbahnstraße in Richtung England darstellt. Mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert beginnt eine Periode intensiverer Sprach- und Kulturkontakte, in denen britische Institutionen wichtige Vorbilder darstellen und es in den Bereichen Mode, Kleidung und Sport, hier insbesondere Pferderennen, zu einer ersten Anglomanie kommt. Britische Wissenschaft und Medizin beeinflussen das Französische ebenfalls. Im 19. Jahrhundert steht wiederum die Industrielle Revolution (mit den Bereichen Stahl- und Textilproduktion sowie Eisenbahnwesen), im Mittelpunkt der Entlehnungen. Im späten 19. Jahrhundert kommt es zu einer zweiten Welle der Anglomanie mit ‘Trend’-sportarten wie Fußball und Tennis. Das frühe 20. Jahrhundert, und insbesondere die Jahre zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg, dokumentieren den zunehmenden sprachlichen und kulturellen Einfluss der USA. Nach 1945 intensiviert sich der Einfluss des Englischen, und die ‘Atlantische Allianz’ ist ein ebenso wichtiger psychologischer wie sprachlicher Faktor. Die wirtschaftliche Dominanz der USA in den Bereichen von Handel, Marketing, Informationstechnologie und im Bereich der Popkultur führt zu einer deutlichen Zunahme von Entlehnungen, obgleich die Sprachgesetzgebung für den öffentlichen Raum den Gebrauch französischer Termini vorschreibt. 9 8 Zur isländischen Sprachpolitik s. Wahl (2010). 9 Zur französischen Sprachgesetzgebung s. Braselmann (2009). <?page no="328"?> Anglizismen europäisch und historisch 295 2.6. Historischer Überblick über den englisch-spanischen Sprachkontakt Für das Spanische spielt nach Rodríguez González (2002: 128-130) das Englische ebenfalls bis zum 18. Jahrhundert kaum eine Rolle, denn vom Mittelalter an sind die bedeutendsten Gebersprachen in chronologischer Reihenfolge das Arabische, das Lateinische und durch die Herrschaft der Bourbonen das Französische, dessen Einfluss noch bis in die jüngste Zeit reicht. Bis zum 18. Jahrhundert werden die wenigen englischen Lehnwörter über die Vermittlung des Französischen eingeführt. Im Mittelpunkt des 18. und frühen 19. Jahrhunderts steht die kulturelle Sphäre, die zu literarischen Übersetzungen, zur Etablierung von Englisch als Lernsprache an einigen Schulen sowie zu zweisprachigen Wörterbüchern führt. Im späten 19. Jahrhundert intensivieren sich die englischen Einflüsse, insbesondere in den Bereichen Wirtschaft (Industrielle Revolution) und im sozialen Leben. Typische Domänen des frühen 20. Jahrhunderts sind Musik und Tanz, Kleidung, Hunderassen und Sport. Bis zum Bürgerkrieg (1936-39) bleibt die spanische Gesellschaft gegenüber englischen Einflüssen relativ offen; sie schottet sich dann aber in der ersten Phase der Franco-Diktatur bis in die 50er Jahre ab. Nach 1950 ist der Einfluss des Englischen deutlich gestiegen. Seit den 60er Jahren spielt der Tourismus eine bedeutende Rolle, und britische Urlauber bevölkern die Costa Blanca, Ibiza und die Costa del Sol. In den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts ist die amerikanische Pop- und Gegenkultur für zahlreiche Jugendliche ein wichtiger Faktor, der zu Entlehnungen in den Bereichen Musik und Drogen führt. Seit dieser Zeit stellen technische Innovationen in der Computerbranche eine weitere wichtige Quelle für Entlehnungen dar. Diese Entwicklung hat sich seit den 1990er Jahren durch das Internet weiter beschleunigt. 2.7. Historischer Überblick über den englisch-italienischen Sprachkontakt Auch für das Italienische zeigt sich (s. Pulcini 2002: 151-152), dass die englisch-italienischen Sprachkontakte vor dem 18. Jahrhundert marginal sind und dass Sprache und Lebensstil erst ab dieser Zeit einen bedeutsamen Niederschlag finden. Als kulturelle Reflexe finden sich englische Wörterbücher und Grammatiken sowie Übersetzungen literarischer Werke, denen jedoch oft bereits vorhandene französische Übersetzungen als Vorlage dienen. Wenn auch mit geringerer Intensität als in Frankreich, so spiegelt der Begriff Anglomania die Faszination der englischen Kultur wider. Mit der Erweiterung des kulturellen Austausches im 19. Jahrhundert nimmt auch die Zahl der Entlehnungen beträchtlich zu. Während das Französische noch häufig als Mittlersprache dient, werden die Wörter zunehmend ohne Anpassungen <?page no="329"?> Ulrich Busse 296 entlehnt. Als besonders produktive Domänen erweisen sich die Bereiche Politik, Mode und Sport sowie Verkehr und Kommunikation. Während bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts das Französische die bekannteste und einflussreichste Fremdsprache in Italien bleibt, wird es nach 1945 durch das Englische verdrängt. In dieser Hinsicht teilt Italien die massive Durchdringung der Kultur in Schlüsseldomänen wie Wissenschaft, Technologie und Massenmedien mit den anderen westeuropäischen Ländern. 2.8. Historischer Überblick über den englisch-rumänischen Sprachkontakt Für das Rumänische stellen Constantinescu, Popovici und Ðtef nescu (2002: 168-69) fest, dass sich vereinzelte Entlehnungen aus dem Englischen aufgrund von kulturellen und wirtschaftlichen Kontakten schon vom 16. Jahrhundert an nachweisen lassen. Im Vergleich zu Westeuropa vollzieht sich der Kontakt nicht zuletzt aufgrund der großen geographischen Distanz aber langsamer und vor allem später, sodass sich intensivere Kontakte erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausbilden. Viele Wörter werden dabei über das Französische, aber auch über das Deutsche, Russische und das Italienische vermittelt. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert finden sich fremde Wörter englischer oder amerikanischer Herkunft, wie z.B. Baseball, Cent, Derby, Race, Dollar, Earl, Gallon, Lady, Sir, Sport, Tennis, Tory und Whig, in Wörterbüchern. Für das 20. Jahrhundert stellen die Autoren fest, dass sich zahlreiche Industriezweige, wie z.B. Bergbau, Stahlproduktion, Schiffbau, Textil- und Ölindustrie, nach westeuropäischen und insbesondere britischen Vorbildern entwickeln, was zur Übernahme der entsprechenden Begriffe führt. Für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg machen die Autoren leider keine Angabe. 2.9. Historischer Überblick über den englisch-russischen Sprachkontakt In ihrem Überblick über das Russische schreibt Maximova (2002: 195-196), dass Entlehnungen in die Zeit von Zar Peter dem Großen (1672-1725) zurück gehen. Zahlreiche Anglizismen aus dem Bereich der Seefahrt werden neben ihren niederländischen Äquivalenten übernommen. Im 18. Jahrhundert werden ca. 300 Wörter entlehnt, die nicht nur in die Bereiche Schiffbau und Nautik fallen, sondern auch das Gesellschaftsleben umfassen. Die Anglizismen des 19. Jahrhunderts lassen sich einerseits als ‘Ableger’ der Industriellen Revolution betrachten (Wissenschaft, Technologie, Landwirtschaft und Bildungswesen) sowie andererseits dem Gesellschaftsleben der Aristokratie zurechnen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und im Vorfeld des Ersten Weltkriegs intensivieren sich die Kontakte und führen in der Mittel- und Oberschicht zu einer Anglomanie. Englische und ameri- <?page no="330"?> Anglizismen europäisch und historisch 297 kanische Autoren wie Kipling, Longfellow, Whitman und Byron werden übersetzt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts finden sich zahlreiche Anglizismen aus den Bereichen Sport, Musik und Tanz, Getränke und Hunderassen. Deren Verwendung bleibt aber häufig auf das geschriebene Medium und ausgewählte Register wie Journalismus, Wissenschaft und Wirtschaft beschränkt. In den späten 60er Jahren des 20. Jahrhunderts finden sich im Zuge einer Liberalisierung der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen Ost und West vermehrt Übernahmen aus den entsprechenden Bereichen. Teilweise sind die Entlehnungen, wie z.B. Striptease, Superman und Smog, jedoch mit negativen Konnotationen belegt. Von den 60er bis zu den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts bildet die Jugendsprache ein wichtiges Reservoir für Anglizismen, und die beiden letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts spiegeln in den Entlehnungen den schrittweisen Übergang zur Marktwirtschaft, sodass sich die Mehrzahl der Neologismen englischer Provenienz in den Bereichen Wirtschaft, Technologie und Werbung findet. 2.10. Historischer Überblick über den englisch-polnischen Sprachkontakt Die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen England und Polen reichen bis ins frühe 18. Jahrhundert zurück; sie werden jedoch durch den Verlust der polnischen Selbständigkeit im Zuge der polnischen Teilungen (1773-1918) unterbrochen. England spielt jedoch in mehrfacher Hinsicht eine bedeutsame Rolle. So wird z.B. während des sog. November-Aufstandes von 1831 eine polnische Exilregierung in London eingerichtet - wie auch später im Zweiten Weltkrieg. Wesentliche kulturelle Einflüsse bestehen auf wirtschaftlichem Gebiet und im Bereich der Literatur durch die Shakespeare-Rezeption und die Übersetzung von Autoren wie Pope, Gray, Johnson, Scott und Byron. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wird Englisch bei der aristokratischen Oberschicht zunehmend beliebter und tritt in Konkurrenz zum vorherrschenden Französisch. Die Beziehungen zwischen Polen und den USA reichen bis in die dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts zurück, als die Emigration von Polen in die USA beginnt. Die Beziehungen zu England und den USA intensivieren sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts und erreichen einen Höhepunkt nach dem Zweiten Weltkrieg. Sowohl die USA als auch Großbritannien stellen nach der Verhängung des Kriegsrechtes 1981 bis in die Gegenwart wichtige Länder für Auswanderung bzw. Arbeitsmigration dar (s. MaÑczak-Wohlfeld 2002: 213-214). <?page no="331"?> Ulrich Busse 298 2.11. Historischer Überblick über den englisch-kroatischen Sprachkontakt FilipoviË (2002: 229) schreibt, dass der Einfluss des Englischen auf das Kroatische eng mit der sogenannten Entdeckung Englands im 19. Jahrhundert verbunden sei und dass es seitdem - ähnlich wie bei den anderen europäischen Sprachen auch - zu einem ständigen Sprach- und Kulturkontakt gekommen sei. Obgleich die kroatische Kulturgeschichte enger mit der von Österreich, Deutschland, Italien und Frankreich als mit der von England verflochten ist, zeigen sich jedoch auch hier im 19. Jahrhundert bedeutsame literarische Einflüsse. Deutsch, Französisch und - wenn auch weniger intensiv - Italienisch dienen oft als Mittlersprachen für Entlehnungen, die trotz enger Bezüge zu den USA durch Auswanderung seit dem 19. Jahrhundert bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts überwiegend aus dem britischen Englisch stammen. 2.12. Historischer Überblick über den englisch-bulgarischen Sprachkontakt Für lange Zeit sind für das Bulgarische die Kontakte mit dem Türkischen und dem Griechischen bedeutsam, die sich zum einen aus der politischen Situation des Osmanischen Reiches und zum anderen aus der Orthodoxen Religion ergeben. Mit dem Ende der türkischen Vorherrschaft und der Schaffung eines Nationalstaates beginnen sich im 18. und vermehrt im 19. Jahrhundert westliche sprachliche und kulturelle Einflüsse zu manifestieren. In struktureller Hinsicht wird die Aufnahme von Lehnwörtern durch einen Wandel des modernen Bulgarisch zu einer analytischen Sprache mit dem Verlust an nominalen Kasusendungen begünstigt, wodurch die morphologische Integration von Entlehnungen, die hauptsächlich aus dem Bereich der Substantive stammen, erleichtert wird (s. Alexieva 2002: 241). 2.13. Historischer Überblick über den englisch-finnischen Sprachkontakt Nach Battarbee (2002: 261) sind die Einflüsse des Englischen auf das Finnische vor der Industrialisierung im 19. Jahrhundert minimal; selbst nautische Termini werden über die Vermittlung des Schwedischen entlehnt. Die geopolitische Lage hat einen deutlichen Einfluss auf die Sprachentwicklung. Einerseits sehen sich die schwedischsprachigen Eliten des Landes im Gegensatz zu den Schweden, und andererseits widersetzen sie sich während der Zarenherrschaft einer Russifizierung, sodass im Unterschied zu anderen europäischen Ländern der Beginn der Industrialisierung und das Erwachen eines romantischen Nationalismus zusammenfallen. In sprachlicher Hinsicht <?page no="332"?> Anglizismen europäisch und historisch 299 führt dies zu einer selbstbewussten sprachlichen Autonomie und zur Schaffung einer nationalsprachlichen Terminologie. Dessen ungeachtet schlägt sich im 20. Jahrhundert zwischen den beiden Weltkriegen der Einfluss des amerikanischen Englisch, besonders im Bereich des Unterhaltungswesens (Musik, Tanz, Kino) nieder. Eine weitere wesentliche Einflusssphäre sind fremd- und vor allem englischsprachige Filme und Fernsehprogramme, die zwar mit Untertiteln versehen, aber nicht synchronisiert werden, und deutlich mehr Raum einnehmen als Programme in Schwedisch, der zweiten offiziellen Landessprache. Während der 80er und 90er Jahre des 20. Jahrhunderts wandelt sich Finnland sehr schnell in eine postmoderne, urbane und der Hochtechnologie zugewandte Gesellschaft, was aber in sprachlicher Hinsicht das Streben nach indigener Lexis nicht obsolet gemacht hat. 2.14. Historischer Überblick über den englisch-ungarischen Sprachkontakt Ähnlich wie in zahlreichen anderen Ländern bleiben die sprachlichen Einflüsse des Englischen auf das Ungarische vor dem 18. Jahrhundert gering. Farkas und Kniezsa (2002: 277-279) führen dies einerseits auf die große geographische Entfernung der beiden Länder als auch andererseits auf die Tatsache zurück, dass Ungarn ein Teil des katholischen Habsburger Reiches und England das am weitesten westlich gelegene protestantische Land war. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist dann aber ein spürbarer Einfluss des Englischen auf zahlreiche Bereiche des öffentlichen Lebens zu verzeichnen, der sich im 19. Jahrhundert weiter verstärkt, und der dann nicht mehr nur die Oberschicht erreicht, sondern bis zum Ende des Ersten Weltkrieges viele kulturelle Bereiche umfasst. Im 20. Jahrhundert beschleunigt sich der Aufnahmeprozess von Entlehnungen zusehends und das Deutsche verliert seinen Einfluss als Vermittlersprache. Trotz der politischen Verhältnisse von 1945 bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts und entsprechender politischer Bemühungen, westliche Einflüsse fernzuhalten, zeigt sich der sprachliche Einfluss Englands und der USA in vielen Bereichen. Der Wandel der sozialen und politischen Verhältnisse während der 80er Jahre und insbesondere nach 1989 führen zu einer neuen Dimension und zu einer ‚Anglomanie’, indem viele Entlehnungen aufgenommen werden, die sich schnell an das Ungarische anpassen. 2.15. Historischer Überblick über den englisch-albanischen Sprachkontakt Die Sprach- und Kulturgeschichte Albaniens zeigt, dass es in der Vergangenheit häufig dem Einfluss mächtigerer Nachbarn ausgesetzt war, die bis zum Ende der Türkenherrschaft 1912 nach mehr als 500 Jahren zu zahlrei- <?page no="333"?> Ulrich Busse 300 chen Übernahmen (zu unterschiedlichen Zeitpunkten) aus dem Griechischen, Lateinischen, Italienischen, den slawischen Sprachen und dem Türkischen geführt haben. Die jüngere Geschichte nach 1945, in der Albanien zunächst mit Jugoslawien (bis 1948), danach mit Moskau (bis 1961) und danach mit China (bis 1991) verbündet war, führte dazu, das fremde Einflüsse kaum möglich waren und dass das Land sehr isoliert war, sodass Albanien einen Sonderfall im Kanon der untersuchten Länder darstellt (s. Ködderitzsch/ Görlach 2002: 292-293). 2.16. Historischer Überblick über den englisch-griechischen Sprachkontakt Die Kontakte zum Englischen reichen ins 19. Jahrhundert zurück, als britische Reisende, insbesondere Diplomaten, Archäologen und Gelehrte beginnen, das Land zu bereisen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts intensivieren sich durch die Folgen der Industriellen Revolution die Sprach- und Kulturkontakte, indem neue Techniken oder Produkte zusammen mit ihren Bezeichnungen übernommen werden. Zum Beginn des 20. Jahrhunderts kommt es zu einer vermehrten Übernahme von Entlehnungen aus dem sozialen und kulturellen Leben, insbesondere Sport und Mode. Zugleich bildet die Auswanderung in die USA durch Briefe und Besuche in der Heimat eine Quelle für Wörter aus dem amerikanischen Englisch. 10 Nach dem Zweiten Weltkrieg macht sich der Aufstieg der USA zur führenden Wirtschaftsnation bemerkbar, und seit dem Ende der Militärdiktatur (1974) hat sich das Land weiter geöffnet, sodass insbesondere das amerikanische Englisch einen großen Einfluss durch den Export von Technologie mit den entsprechenden Bezeichnungen ausübt. Eine besondere Rolle kommt dabei der Werbung in Presse und Rundfunk zu. In den 80er Jahren bringen die zahlreichen neuen Privatsender den American way of life in viele Haushalte. Ferner wird die Unterhaltungsindustrie (Musik und Kino) vornehmlich von Amerika bestimmt. Die Terminologie moderner Computer- und Kommunikationstechnik stellt einen weiteren wichtigen Bereich von Entlehnungen dar (s. Stathi 2002: 301-302). 3. Empirische Auswertung der Wörterbuchdaten In einem nächsten Schritt sollen diese anhand der entsprechenden Kapitel von EiE gewonnenen Beobachtungen durch die Daten des Wörterbuches 10 Die englische Kronkolonie Zypern (1878-1959) stellt einen Sonderfall dar. <?page no="334"?> Anglizismen europäisch und historisch 301 empirisch unterlegt werden. 11 Die Frage, die sich hier gleich am Anfang stellt, lautet: Wie verteilen sich die Anglizismen zahlenmäßig auf die einzelnen Sprachen? Dazu ist jedoch einschränkend anzumerken, dass eine genaue statistische Auswertung des Wörterbuches aufgrund der Genese des Projektes nicht möglich war, denn die Daten wurden nicht zu einer relationalen Datenbank zusammengefügt. Nach Ende des Projektes hat der Verlag Oxford University Press jedoch von den im Wörterbuch verzeichneten Daten für den Herausgeber und die Bearbeiter eine CD-ROM erstellt, die wenigstens in begrenztem Umfang eine quantitative Auswertung der Daten zulässt. Um die Verteilung der Entlehnungen auf die Einzelsprachen zu ermitteln, wurden die Siglen für die einzelnen Sprachen im CD-ROM-Korpus automatisch ausgezählt. Das Ergebnis dieser Auszählung ist in Tabelle 1 zusammengefasst. Tabelle 1: Prozentuale Verteilung der Anglizismen auf die Einzelsprachen Sprache Anglizismen in Prozent Sprache Anglizismen in Prozent Norwegisch 75,7 Kroatisch 43,6 Deutsch 71,7 Ungarisch 43,4 Niederländisch 68,3 Bulgarisch 40,6 Französisch 65,8 Spanisch 40,5 Italienisch 63,1 Isländisch 39,5 Polnisch 46,9 Griechisch 39,0 Russisch 45,7 Finnisch 29,3 Rumänisch 43,7 Albanisch 15,5 (Tabelle gekürzt und vereinfacht aus Görlach 2003: 164) Die Prozentangaben verstehen sich wie folgt: Nimmt man die 3.839 Stichwörter als 100% Marke an, so zeigt sich, dass keine Sprache alle diese Wörter entlehnt hat. Das Norwegische nimmt mit 75,7% (= 2.906 von 3.839 Stichwörtern) den ersten Rang ein. Die Reihenfolge der Sprachen zeigt, dass die drei germanischen Sprachen Norwegisch mit 75,7%, Deutsch mit 71,7% und Niederländisch mit 68,3% die höchsten Werte aufweisen, dicht gefolgt von den beiden romanischen Sprachen Französisch mit 65,8% und Italienisch mit 63,1%. In einer Mittelgruppe (40-47%) befindet sich eine ganze Reihe von Sprachen, die mit Ausnahme des Spanischen alle in (Süd-)Osteuropa beheimatet sind, dicht gefolgt von Isländisch mit 39,5% und Kroatisch mit 39,0%. 11 Die nachfolgenden Daten basieren mit Ausnahme der von Hand vorgenommenen Auszählung der Wortarten auf Görlach (2003: 163-166) “Postscript: DEA analysis with the CD-Rom version”. <?page no="335"?> Ulrich Busse 302 Am unteren Ende rangieren das Finnische mit 29,3% und mit deutlichem Abstand das Albanische mit 15,5%. 3.2. Verteilung der Entlehnungen: zeitlich und nach Wortarten Leider lassen sich für die Einzelsprachen die Daten zur zeitlichen Verteilung der Anglizismen nicht von der CD-ROM gewinnen, sodass im Folgenden lediglich Angaben über das generelle Anwachsen der Anglizismen in den sechzehn Sprachen gemacht werden können. Während die Daten von Tabelle 1 auf der automatischen Auszählung aller 3.839 Lemmata beruhen, ist bei der nachfolgenden Zählung zu berücksichtigen, dass die große Mehrzahl der Lemmata mehr als nur eine Bedeutung aufweist, was eine Gesamtzahl von 29.646 Einträgen ergibt. Allerdings verfügen nicht alle diese Einträge über eine Zeitangabe der Entlehnung, sodass lediglich 23.862 (80,5%) zur weiteren Bearbeitung verbleiben. Für das 19. Jahrhundert sind die Angaben weniger präzise als für das 20. Jahrhundert. Insgesamt ergibt sich folgendes Bild: Tabelle 2: Zahlenmäßige Entwicklung der Anglizismen im 19. Jahrhundert Periode Einträge/ Dekade 1800-29 130 1830-69 220 1870-99 380 Tabelle 2 zeigt, dass die Zahl der Anglizismen im 19. Jahrhundert nur langsam ansteigt. Dies ändert sich jedoch im 20. Jahrhundert. Tabelle 3: Zahlenmäßige Entwicklung der Anglizismen im 20. Jahrhundert Dekade Einträge Dekade Einträge 1900-09 1020 1950-59 1840 1910-19 1020 1960-69 2950 1920-29 1220 1970-79 3800 1930-39 1570 1980-89 3920 1940-49 1570 1990-95 2540 Arrangiert man die obigen Daten in Form eines Diagramms mit den Jahreszahlen in Dekaden von 1800 bis 1995 auf der x-Achse und den Prozentangaben auf der y-Achse und nimmt man die Zahl von 23.862 datierten Belegen als 100% Marke an, dann ergibt sich eine Kurve, die den exponentiellen <?page no="336"?> Anglizismen europäisch und historisch 303 Anstieg in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, insbesondere seit den 1960er Jahren, deutlich vor Augen führt. 12 Diagramm 1 Diagramm 1: Prozentualer Anstieg der Anglizismen in den 16 Sprachen von 1800 bis 1995, aus: Görlach (2003: 166). In zahlreichen Untersuchungen zum Einfluss des Englischen auf das Deutsche wird stets betont, und es lässt sich auch empirisch belegen, dass das Gros aller Entlehnungen auf die Kategorie der Substantive entfällt. Dieser zu erwartende Befund trifft auch für das DEA zu. 12 Um die gröberen Daten des 19. Jahrhunderts mit den feineren, per Dekade ausgezählten Daten des 20. Jahrhunderts vergleichbar zu machen, wurde nach Görlach (2003: 165) wie folgt verfahren: Die Zahlen zum 19. Jahrhundert (165 Einträge für das frühe 19. Jh., 479 Einträge für das mittlere 19. Jh., 1.012 Einträge für das späte 19. Jh. sowie 804 nicht näher spezifizierte Einträge für das 19. Jh.) wurden durch 3,33 für die drei Perioden dividiert und die Zahlenangabe für das 19. Jh. (gesamt) wurde durch 10 geteilt und die Werte addiert, um so zu Zahlen für jede Dekade zu gelangen. Für das 20. Jahrhundert wurde zu den Zahlen pro Dekade ein Drittel der Zahlen für Anfang, Mitte und Ende des 20. Jahrhunderts sowie ein Zehntel für das gesamte 20. Jahrhundert hinzugefügt. <?page no="337"?> Ulrich Busse 304 Tabelle 4: Verteilung der Anglizismen nach Wortarten Wortart Anzahl Prozent Substantive 3.166 76,0 Verben 304 7,3 Adjektive 197 4,8 Adverbien 22 0,5 Pronomen 2 - Präpositionen 2 - Konjunktionen 1 - Interjektionen 30 0,7 Phrasen 55 1,3 Akronyme 4 0,1 1. Bestandteil von Komposita 242 5,8 2. Bestandteil von Komposita 85 2,0 Abkürzungen 52 1,3 Partizipien 1 - Ausrufe 2 - 4.165 99,8 Die Substantive liegen mit 76% weit an der Spitze. 13 Betrachtet man dieses Ergebnis im Lichte von Modellen, die in der Kreolistik verwendet werden, um die Intensität sprachlichen Kontaktes zu beschreiben, der von Entlehnung über Durchdringung bis hin zu Sprachwechsel reichen kann, so markiert die Entlehnung von Wörtern mit lexikalischer Bedeutung die geringste Stufe sprachlichen Kontaktes “casual contact”; d.h. lockerer Kontakt nach Thomason und Kaufman (1988: 74seqq.). Dessen ungeachtet ist jedoch für die neueste Zeit festzustellen, dass weniger die Entlehnung einzelner Wörter Druck auf die anderen Sprachen ausübt als die Präsenz von Englisch als Lingua franca in einigen Diskursdomänen, was z.B. in der Wissenschaftssprache dazu geführt hat, dass Französisch und Deutsch auf internationaler Ebene als Publikationssprachen kaum noch eine Rolle spielen (s. dazu Ammon 2008). Ingesamt ist Görlach (2003: 167) in der Beurteilung dieser statistischen Ergebnisse sehr vorsichtig und zurückhaltend. Aufgrund der zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten hält er sie sogar in mancherlei Hinsicht für enttäuschend. Zugleich warnt er mit Recht immer wieder, dass man 13 Die Gesamtzahl von 4.165 ist größer als die Anzahl der 3.839 Lemmata, weil einigen Stichwörtern zwei Kategorien zugeschrieben wurden. So ergeben sich insbesondere Doppelzuweisen zwischen Substantiv und 1. Bestandteil (seltener 2. Bestandteil) von Komposita, wie z.B. exemplarisch unter Buchstabe -Cbei challenge, change, chesterfield, chief, city, college-, compound-, country and western und cross-country. <?page no="338"?> Anglizismen europäisch und historisch 305 bei der Beurteilung der vorhandenen Daten nicht dem Trugschluss unterliegen dürfe, die Zahlen und sonstigen Angaben mit der jeweiligen sprachlichen Situation in einem Land gleichzusetzen, denn die Zahlen lassen auch Schlüsse über die Art und Weise der Datenerhebung und -interpretation durch die einzelnen Bearbeiter zu (s. auch Busse 2009). 4. Zusammenfassung Trotz der o.g. Einschränkungen belegen sowohl die qualitative als auch die quantitative Analyse, dass die Anglisierung der europäischen Sprachen weitgehend ähnlich verlaufen ist und sich lediglich im Grad der Beeinflussung, aber nicht prinzipiell von einander unterscheidet. Wenn man die sechzehn Portraits der sprachlichen Kontakte der einzelnen Sprachen mit dem Englischen aus der Vogelperspektive betrachtet, so ergibt sich trotz der unterschiedlichen Gegebenheiten in den einzelnen Ländern eine große Übereinstimmung hinsichtlich des zeitlichen Ablaufes und der soziokulturellen Faktoren des Kontaktes. Für die germanischen Sprachen reichen die ersten Sprach- und Kulturkontakte mit England bis ins frühe Mittelalter zur Zeit der Christianisierung zurück. Im Hochmittelalter und in der Frühen Neuzeit ist die Hanse ein wichtiger Faktor bei der Verbreitung von Lehnwörtern, und hier zeigt sich, ähnlich wie auch in späteren Perioden, dass jeweils dritten Sprachen oft eine wichtige Mittlerposition zukommt. Als auf europäischer Ebene bedeutsame Sprach- und Kulturnation betritt England erst im Laufe des 18. Jahrhunderts die internationale Bühne, was einerseits mit dem Ausbau der Sprache und andererseits mit der territorialen Expansion Englands zu tun hat, die um 1600 beginnt. 1582 stellte der englische Pädagoge Richard Mulcaster (1530- 1611) noch fest: Our tung is of no compas for ground & autoritie. But it maie be replyed again, that our English tung doth nede no such proining, it is of small reatch, it stretcheth no further then this Iland of ours, naie not there ouer all. […] But our state is no Empire to hope to enlarge it by commanding ouer cuntries (Mulcaster 1582). Diese Selbsteinschätzung wird auch von Fremden geteilt. So konstatierte beispielsweise der Schweizer Theologe und Lexikograph Josua Maaler (1529-1599) bei einem Besuch Englands im Jahre 1551, dass “die Landessprache ußert irem Land und Marchen niemem gebrucht wirt”; d.h. außerhalb des Landes und seiner Grenzen nirgendwo sonst verwendet wird (Glück 2004: 144). In allen untersuchten Ländern Europas manifestieren sich Entlehnungen aus dem Englischen zum ersten Mal in größerem Maße im 18. Jahrhundert, als Literatur, Kultur und Ideengeschichte wichtige Quellen für Entlehnungen darstellen. Im Gegensatz dazu dominieren im 19. Jahrhundert die Berei- <?page no="339"?> Ulrich Busse 306 che Wirtschaft und Technik als Folge der wirtschaftlichen Vormachtstellung Großbritanniens im Zuge der Industriellen Revolution. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wird das anglo-amerikanische Gesellschaftsleben entdeckt und in zahlreichen Ländern kommt es zu einer Anglomanie. Zugleich verschiebt sich seit dieser Zeit der Einfluss zugunsten der Vereinigten Staaten. Dies gilt um so mehr für die Zeit nach 1945. Die Szenarien in den meisten Ländern Osteuropas zeigen, dass der Kontakt häufig etwas später begann, sich zahlenmäßig nicht so deutlich wie in den Ländern Westeuropas niedergeschlagen hat und sich während der kommunistischen Zeit nicht unterdrücken ließ. Neben der großen geographischen Entfernung hat in der Vergangenheit möglicherweise auch eine Rolle gespielt, dass anderen Sprachen häufig eine bedeutende Mittlerrolle zukam. Bei den Sprachen, die nicht das lateinische Alphabet benutzen (Russisch, Bulgarisch und Griechisch) ist zusätzlich in Betracht zu ziehen, dass Entlehnungen entweder transliteriert oder heute auch zunehmend in lateinischer Schreibweise erscheinen können. Neuere Einzeluntersuchungen belegen, dass inzwischen die osteuropäischen Sprachen in vielen Bereichen zahlenmäßig aufgeschlossen haben und sich die quantitativen Unterschiede zusehends verwischen. Diese gemeinsame Entwicklung in der Übernahme englischen Wortgutes belegt eindeutig die eingangs zitierte Feststellung von Peter von Polenz, dass die Anglisierung bzw. Internationalisierung nicht nur im Deutschen, sondern auch in den anderen europäischen Sprachen deutliche Spuren hinterlassen hat, wobei die Bereiche des Lexikons, in denen sich viele Entlehnungen aus dem Anglo-Amerikanischen finden, nahezu immer deckungsgleich sind. Diese dominante Stellung des Englischen wirkt sich auf das Deutsche und die anderen Sprachen aus, indem der steigende Einfluss insbesondere auf den Wortschatz inzwischen den Charakter eines massiven Sprachkontaktes angenommen hat und in zahlreichen Fach- und Sondersprachen zu einer funktionalen Konkurrenz zwischen muttersprachlichen und aus dem Englischen übernommenen Bezeichnungen führt ( cf. Haarmann 2002: 156). 14 Ein ‘massiver Sprachkontakt’ zeichnet sich Haarmann zufolge “durch eine intensive Interaktion zweier sprachlicher Systeme aus, wobei die Durchdringung durchaus wechselseitig sein kann,” häufig aber - wie auch im Fall der englisch-europäischen Kontakte - einseitig ausgerichtet ist (ebd.). Auf der anderen Seite führt sprachlicher Kontakt aber nicht nur zu einer Ver- 14 Als Kehrseite derselben Medaille führt die oben beschriebene Stellung des Englischen als Weltsprache bzw. Lingua franca aber nicht nur zu mehr oder weniger massiven Veränderungen anderer Sprachen, sondern hat auch Konsequenzen für das Englische selbst (cf. dazu Busse 2007). <?page no="340"?> Anglizismen europäisch und historisch 307 mehrung des Wortschatzes und zu funktionaler Konkurrenz einzelner lexikalischer Einheiten, sondern inzwischen auch zum Verlust nationalsprachlicher Domänen an das Englische, so wie es beispielsweise Graedler (2002: 59) in ihrer Skizze für das Norwegische explizit thematisiert: Englisch übernimmt die Rolle als führende Sprache auf Kosten des Norwegischen; der Einfluss reicht so weit, dass man vom Verlust ganzer Domänen sprechen kann. Sprachinterne oder gar typologische Gründe können für den unterschiedlichen Grad der Beeinflussung der einzelnen Sprachen durch das Englische weitgehend ausgeklammert werden. Bei den Entlehnungen aus dem Englischen handelt es sich fast ausschließlich um Substantive. So schreiben Kvaran und Svavarsdóttir (2002: 94), dass Dreiviertel aller im DEA für das Isländische belegten Entlehnungen Substantive seien, von denen ein beträchtlicher Teil (ca. 15%) überhaupt nicht flektiert ist. Dieser Umstand, der eigentlich die morphologische Integration erleichtern müsste, führt aber nicht wie in den drei anderen germanischen Sprachen Norwegisch, Deutsch und Niederländisch zu einem besonders hohen Anteil an Anglizismen - ganz im Gegenteil. Umgekehrt hat die von Alexieva (2002: 241) hervorgehobene Tatsache, dass der Wandel des modernen Bulgarisch zu einer analytischen Sprache eigentlich den morphologischen Integrationsprozess von Lehnwörtern - und hier vorwiegend von Nomina - befördern müsste, nicht dazu geführt, dass Bulgarisch in statistischer Hinsicht deutlich von den übrigen slawischen Sprachen abweicht. Geographische Randständigkeit sowie kulturelle Abschottung wie im Falle von Albanien und eine längerfristige Sprach- und Kulturpolitik, die die Ersetzung fremder Wörter zum Ziel hat (s. Island und Finnland), könnten mögliche Gründe für die geringe Zahl von Entlehnungen in diesen Sprachen sein. Wenn die vergleichsweise hohe Zahl von Anglizismen im Französischen eine belastbare Größe darstellt, ist die jüngere französische Sprachpolitik in dieser Hinsicht offenbar als weniger erfolgreich zu betrachten. 15 Ferner ist der englisch-europäische Sprach- und Kulturkontakt stets vornehmlich vor dem Hintergrund der Entwicklung des Englischen von einer randständigen Sprache zu einer Weltsprache und Lingua franca zu sehen und ist demzufolge eng mit dem wachsenden Prestige verbunden, das dem Englischen entgegengebracht wird. 15 Der Band von Braselmann und Ohnheiser (2008) liefert aufschlussreiche Beiträge zur Sprachpolitik und Sprachgesetzgebung in Frankreich, Spanien, Russland, Polen, der Ukraine, in Weißrusslands, Kroatien (im Vergleich zu Serbien und Bosnien) sowie in Slowenien. <?page no="341"?> Ulrich Busse 308 Bibliographie Alexieva, Nevena (2002): “Bulgarian”, in: Manfred Görlach (Ed.)(2002a), 241-260. 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Der Siegeszug des Englischen als Wissenschaftssprache ist unbestreitbar. Vor allem in Frankreich und Deutschland, den Ländern, deren Nationalsprachen einst - neben dem Englischen - zu den wichtigsten Sprachen der wissenschaftlichen Kommunikation gehört haben, fand deshalb eine verstärkte Auseinandersetzung mit dem Thema statt. In diesem Beitrag wird zunächst die sprachliche Situation innerhalb der deutschen Wissenschaftsgemeinde betrachtet, um sie dann mit derjenigen in einigen romanischen Ländern zu vergleichen. Zudem wird der Problematik nachgegangen, inwieweit ein Monolinguismus innerhalb der Wissenschaften realisierbar ist und ob dieser Zustand überhaupt wünschenswert wäre. Ein Beitrag soll auch darin geleistet werden, den Sinn einer anglophonen Kommunikation in traditionell plurilingualen Wissenschaften wie der Romanistik zu hinterfragen. * * * Es sind in Deutschland vor allem die Medien, die der deutschen Sprache immer neue Untergangsszenarien prophezeien. Doch auch ohne diese Form der prognostischen Linguistik unterstützen zu wollen, ist die zunehmende Neigung der Wissenschaft zur englischen Sprache unübersehbar. Die Tendenz geht dahin, dass das Englische immer prestigeträchtiger wird, während parallel dazu der Status des Deutschen als Wissenschaftssprache abnimmt. In jüngster Zeit sind in Deutschland eine Reihe von Veröffentlichungen erschienen, die den Trend zum angloamerikanischen Monolinguismus kritisch beleuchten. Auch Tagungen und Kongresse haben sich der Thematik angenommen. Bei der Mehrzahl dieser Publikationen - respektive Veranstaltungen - geht es darum, das Deutsche als Wissenschaftssprache wieder zu etablieren. Meistens wird der Wert betrauert, den das Deutsche fast 100 Jahre lang vor allem in den Naturwissenschaften hatte, in denen nur noch 1% aller veröffentlichten Beiträge in deutscher Sprache verfasst sind. Wie Ammon spezifiziert, ist Englisch schon lange nicht mehr nur internatio- <?page no="345"?> Isolde Pfaff 312 nale, sondern in fast allen Ländern auch nationale Wissenschaftssprache geworden. 1 Auch deutsche Forschungseinrichtungen wollen Deutsch als Wissenschaftssprache erhalten. Seit Jahren mehren sich diesbezüglich die Pro- und Kontra-Debatten. Beim Kongress “Die Macht der Sprache” 2 , einer Veranstaltung des Goethe-Instituts und dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), widmete sich der Romanist Jürgen Trabant der Kardinalfrage, warum in den Wissenschaften überhaupt der Wunsch nach einer allgemein gültigen Wissenschaftssprache besteht. 3 Nach Trabant kann Sprache an sich auch Erkenntnis verhindern, denn “kein Begriff ist identisch mit dem Ding, das er beschreiben soll” 4 . Diesen Missstand galt es in der Wissenschaft schon immer zu überwinden, und bereits “Platon hat davon geträumt, dass die richtige und gute und wahre Erkenntnis am Besten ohne Sprache vonstattengeht. Am Ende seines Dialogs Kratylos ist das sozusagen seine Vision, gar keine Sprache zu haben. Das ist natürlich der Grund dafür, dass wir diesen harten Trend zur Einsprachigkeit haben.“ 5 Trabant kritisiert die Etablierung des Englischen als Universalsprache der Wissenschaft und fügt sich ihr gleichzeitig. So argumentiert er: Ich möchte auch in Hongkong, Berkeley, Harvard und Singapur gelesen werden. Und wenn ich auf Deutsch schreibe, werde ich dort nicht gelesen. Die Anglos können auch keine Sprachen mehr. Sie lesen nichts mehr in anderen Sprachen. Nehmen Sie ein amerikanisches Buch zur Hand, Sie finden nichts in anderen Sprachen zitiert. Die Einsprachigkeit der angelsächsischen Welt ist eindeutig. Und deswegen sind wir gezwungen, wenn wir dort wahrgenommen werden wollen, auf Englisch zu schreiben. 6 Ein Widerspruch, der viele Wissenschaftler beschäftigt. Es geht nicht mehr nur um das freiwillige Erlernen und Umsetzen einer Fremdsprache, sondern um den Zwang, entweder die englische Sprache sowohl rezeptiv als auch produktiv anzuwenden, oder aber wissenschaftlich bedeutungslos zu bleiben, zumindest auf internationaler Ebene. Das Kolloquium “Wissenschaftssprachen in Geschichte und Gegenwart” 7 hat untersucht, in welchen Bereichen das Deutsche als Wissenschaftssprache noch relevant ist. Dabei wird die Andersartigkeit der natur- und geisteswis- 1 Cf. Ammon (2006: 15). 2 “Die Macht der Sprache”, Berlin, Akademie der Künste, 14.-16.06.2007. 3 Trabant 2007 (Vortrag im Rahmen der Tagung “Die Macht der Sprache” in der Sektion “Sprachenpolitik”, 15.06.2007: “Europas sprachliches Erbe noch immer eine Perspektive für morgen? ”; Teilübertragung im Deutschlandfunk, 17.09.2009). 4 Eco (1993). 5 Trabant 2007 (Vortrag im Rahmen der Tagung “Die Macht der Sprache” in der Sektion “Sprachenpolitik”, 15.06.2007). 6 Ibid. 7 “Wissenschaftssprachen in Geschichte und Gegenwart”, Otto-Friedrich-Universität Bamberg, 15./ 16. Oktober 2009. <?page no="346"?> Englisch als Wissenschaftssprache auch in der Romanistik? 313 senschaftlichen Forschungskulturen auch bei der Sprachwahl deutlich. “Außerhalb der Geisteswissenschaften spielt Deutsch in den Wissenschaften keine Rolle mehr”, fasst Helmut Glück, Germanist und Organisator der Veranstaltung, die Ergebnisse zusammen. 8 Dabei wurde noch Anfang des 20. Jahrhunderts gerade in den Naturwissenschaften Deutsch gleichrangig mit Englisch verwendet. Mittlerweile geben nur noch die Chemiker als letzte naturwissenschaftliche Disziplin eine deutsche Fachzeitschrift heraus. Insgesamt ist der Anteil wissenschaftlicher Publikationen auf Englisch stetig gestiegen und liegt heute weltweit bei über 90 Prozent. In den Naturwissenschaften erreicht Deutsch kaum noch ein Prozent Weltanteil. 9 Auch die Rolle des Englischen in den Geisteswissenschaften wurde im Rahmen des Kolloquiums näher untersucht. Es wurde festgestellt, dass der Trend zum Englischen zwar eher gering ausgeprägt ist, dennoch ist auch hier eine Tendenz zur anglophonen Forschung und Lehre zu beobachten. In der Romanistik nimmt laut Glück die Neigung zum Englischen ebenfalls zu, “denn Romanisten beherrschen immer weniger die anderen romanischen Sprachen, die zur gegenseitigen Verständigung nötig sind” 10 . In solchen nicht-anglophonen Fachbereichen besteht laut Ammon die Gefahr der “Provinzialisierung” und der permanenten Sprachnachteile nicht-anglophoner Wissenschaftler, die nicht mehr durch die Kenntnis (mehrerer) anderer Fremdsprachen kompensiert werden kann. 11 * * * Das Zurückdrängen der eigenen Sprache bereitet in erster Linie den deutschsprachigen Wissenschaftlern selbst Probleme, wenn etwa medizinische Zeitschriften nicht-anglophone Aufsätze ablehnen. Es komme sogar manchmal zum Streit, ob deutsche Titel als Referenzen zitiert werden dürfen, meint Glück, und “wenn die Forschung meines Nachbarn nicht mehr zur Kenntnis genommen wird, ist dies jedoch vielmehr ein Zeichen von provinzialer Engstirnigkeit als von Globalisierung” 12 . Diese Haltung führt zum Verlust deutscher Terminologien in weiten Bereichen der Naturwissenschaften und Medizin, wodurch die Vermittlung von Wissenschaft in der Landessprache natürlich erschwert wird: Es hat sich ein eigenes Wissenschaftsidiom gebildet, ‘Broken English’ genannt. So kann es durchaus vorkommen, (...) dass ein deutscher Biochemiker in Deutschland seine Forschungsergebnisse vor deutschen Hörern in Englisch vorträgt, weil 8 http: / / derstandard.at/ 1254311453280/ Deutsch-hat-als-Wissenschaftsspracheausgedient 9 Cf. Ammon (2010: 401). 10 http: / / pressetext.de/ news/ 091014047/ deutsch-in-wissenschaft-kurz-vor-aussterben 11 Cf. Ammon (2006: 15). 12 http: / / pressetext.de/ news/ 091014047/ deutsch-in-wissenschaft-kurz-vor-aussterben <?page no="347"?> Isolde Pfaff 314 im Deutschen die nötigen Begriffe nicht zur Verfügung stehen. Das Deutsche hat diese Begriffe gar nicht mehr gebildet.“ 13 Die Befürchtung, dass dieses Pidginbzw. Broken-Englisch traditionelle Wissenschaftssprachen verdrängt, hat den DAAD handeln lassen. In einer gemeinsamen Erklärung hat er sich, zusammen mit Humboldt-Stiftung, Goethe-Institut und Hochschulrektorenkonferenz, für die “Mehrsprachigkeit in den Wissenschaften” und für eine vermehrte Übersetzung englischsprachiger Publikationen ausgesprochen. 14 Dabei soll der internationale Rang des Englischen als Wissenschaftssprache gar nicht in Frage gestellt werden, vielmehr geht es darum, dass primär bei inländischen Veranstaltungen Deutsch gesprochen wird. 15 Auch Ralph Mocikat, Vorsitzender des Arbeitskreises “Deutsch als Wissenschaftssprache”, bezweifelt den Sinn und Nutzen englischsprachiger Vorträge auf Konferenzen im Inland, wenn ausschließlich deutsche Teilnehmer partizipieren. Er ist sicher, “dass das tiefere Verständnis deutlich eingeschränkt ist, wenn Studierende den Stoff in ihrer Disziplin nur in der Lingua franca aufnehmen.“ 16 Als Professor für Deutsch als Fremdsprache erforscht Christian Fandrych die tatsächlichen Sprachkenntnisse von Dozenten und Studenten in englischsprachigen Studiengängen an deutschen Universitäten: Viele Lehrende haben nicht genügend Unterstützung in der Lehre, wenn sie auf einmal ihre Vorlesungen auf Englisch halten sollen. Viele Studierende haben nicht genügend Unterstützung, auch deutsche Studierende, in der Wissenschaftssprache Englisch gut zu funktionieren. Die haben häufig vernünftige allgemeinsprachliche Kenntnisse in Englisch, das reicht aber nicht, um sich wissenschaftlich akzeptabel auszudrücken oder zu schreiben. Man kann grammatisch korrekte Sätze schreiben, die aber den Leseerwartungen von englischen Muttersprachlern und anderen Muttersprachlern zuwiderlaufen. Es gibt ja auch Untersuchungen dazu, dass Texte, die grammatikalisch und lexikalisch in Ordnung sind, trotzdem so geschrieben sind, dass sie nicht ernst genommen werden, weil der Textaufbau anders ist, weil die Art der Fragestellung nicht dem entspricht, wie man es in einer anderen Kultur macht. 17 Das führt dazu, dass innerhalb der Universitäten bei englischsprachigen Seminaren eine Verflachung der Beiträge sowie sinkende Diskussionsbereitschaft bei den Teilnehmern beobachtet werden kann. Häufig entwickelt sich keine “echte” Diskussion, da viele in ihrem Beitrag so sehr um sprachliche Korrektheit bemüht sind, dass der eigentlich intendierte Meinungsaustausch 13 http: / / akademische-blaetter.de/ studium/ hochschule/ englisch-als-globalewissenschaftssprache 14 http: / / www.daad.de/ presse/ DAADProgrammSOGStand310809.pdf 15 Ibid. 16 Zickgraf / Mocikat / Kekulé (2010: 1). 17 http: / / www.dradio.de/ dlf/ sendungen/ studiozeit-ks/ 1034170 <?page no="348"?> Englisch als Wissenschaftssprache auch in der Romanistik? 315 dabei in den Hintergrund tritt. Man kommuniziert nicht mehr das, was man möchte, sondern das, was man kann. Erfahrungen im Uni-Betrieb zeigen, dass selbst einige Anglistik-Professoren eine muttersprachliche Kompetenz im Englischen nie erreichen. Diese Diskrepanz zwischen der Zielsprache und der tatsächlich realisierten Varietät wird im Wissenschaftsbetrieb selbstverständlich tabuisiert. Dabei sollte für Nicht-Muttersprachler in der mündlichen Realisierung einer Fremdsprache generell der Aspekt stärkere Beachtung finden, dass “normale” Sprachdefizite auftreten können und absolute Perfektion ein Mythos bleiben muss: Ils (les non natifs) n'arrivent pas, sauf exception, au degré de maîtrise qui garantit l'égalité face aux anglophones de naissance: égalité face à la compréhension, égalité face à la prise de parole dans un débat public, égalité dans la négociation et le conflit. Pour éliminer ce désavantage, un investissement total de l'ordre de 12.000 heures d'apprentissage et de pratique serait nécéssaire. [...] Pour la majorité, les possibilités réelles d'apprentissage ne suffisent pas à acquérir une pleine aisance dans la langue, ni surtout un accent natif ou presque. Les non-anglophones sont alors inévitablement soumis à l'insécurité et au ridicule qu'ils s'en rendent compte ou non. 18 * * * Weltweit müssen sich Wissenschaftler aller Fachrichtungen dem Diktat des anglophonen Monolinguismus beugen, wenn sie international anerkannt werden wollen. Eine Umfrage unter Naturwissenschaftlern aus Asien zeigt, wie sehr sich diese durch ihre Unsicherheit im Englischen unter Druck gesetzt fühlen. Die befragten Forscher aus Südkorea, die in Großbritannien arbeiten, beklagen den hohen Zeitverlust, den sie durch die Vorbereitung englischer Präsentationen und Diskussionen haben, sowie den Umstand, dass sie trotz des hohen Aufwands nur zu 50% verstanden werden. 19 Sie geben an, benachteiligt zu sein, wenn sie ihre postdoctoral studies in Korea oder Japan machen, denn nur das englischsprachige Ausland bringt bei der Suche nach einem gut dotierten Arbeitsplatz Vorteile. 20 So weisen die nichtanglophonen Länder einen großen Standortnachteil auf, weil sich nur eine Minderheit von Wissenschaftlern dafür entscheidet, dort zu forschen. Ein wichtiger Wegbereiter für den anglophonen Monolinguismus ist der sogenannte impact factor, der maßgeblich darüber entscheidet, wie angesehen eine Fachzeitschrift ist. Da englischsprachige Zeitschriften eine viel höhere Auflage und dadurch mehr Leser haben, wird aus ihnen auch häufiger zitiert. 21 Es ist für einen Wissenschaftler also viel effizienter, dort zu publi- 18 Grin (2004: 103). 19 La Madeleine (2007: 450). 20 La Madeleine (2007: 454). 21 Lt. Science Citation Index werden 90% aller Beiträge in englischer Sprache verfasst; cf. Carli / Calaresu (2006b: 31). <?page no="349"?> Isolde Pfaff 316 zieren. Hinzu kommt, dass Werke in den Nationalsprachen ohne Rezension in einer englischsprachigen Zeitschrift kaum beachtet werden, weshalb sich die Chance auf eine Übersetzung gar nicht erst bietet. Publikationen in anderen Sprachen als der englischen werden - bewusst oder unbewusst - abgewertet: “Publish in English, or perish! ” 22 . Als Beispiel führt Ammon an, dass bei qualitativen Untersuchungen wissenschaftlicher Publikationen die auf Englisch verfassten besser abschnitten, als dieselben Texte, die in anderer Sprache verfasst waren. 23 Die meisten Studien zur Anglifizierung der Wissenschaften beziehen sich auf die Schriftsprache, die eine hohe Qualität aufweisen muss. Unzählige in Druck gegangene Publikationen erzeugen das Bild einer weit verbreiteten Englischkompetenz, aber im Hintergrund arbeiten häufig Übersetzer oder Sprachkorrektoren, die die fremdsprachliche Textarbeit geleistet haben. Vermutlich geriete das Bild einer ausgewogenen Anglophonie stark ins Wanken, wenn alle Übersetzungsleistungen korrekt ausgewiesen werden würden. * * * Wenn eine Sprache in allen Diskursen gebraucht wird, ist sie natürlich prestigereich. Sie hat ein hohes Ansehen, auch international und in der Sprachgemeinschaft selbst. Und wenn ich sozusagen die hohen Diskurse abschneide, wird diese Sprache mehr oder minder eine Privatsprache oder eine Regionalsprache, eine Provinzsprache. Es gibt diesen Prozess. Wenn man immer mehr von diesen Diskursen in der anderen Sprache realisiert, wird es dann irgendwann auch mal keinen Grund mehr geben, in der Nationalsprache zu dichten oder Zeitungen zu publizieren. 24 Innerhalb des Wissenschaftsdiskurses ist eine Diglossiesituation entstanden, bei der jede nichtanglophone Nationalsprache die low variety repräsentiert, und das Englische die high variety. Diese Diglossie wird innerhalb der wissenschaftlichen Kommunikation an der Tendenz deutlich, dass die primäre wissenschaftliche Kommunikation (zwischen Spezialisten) auf Englisch und die sekundäre wissenschaftliche Kommunikation (Populärwissenschaft) in der jeweiligen Nationalsprache bestritten wird. 25 Bei der damit einhergehenden “Erosion” funktionaler Sprachbereiche wird nicht mehr auf das ganze Begriffsinventar zurückgegriffen, wodurch dieser Bereich in der jeweiligen Sprache nicht weiter ausgebaut und mit der Zeit obsolet wird; mit der Konsequenz, dass eine Fachsprache, wie jede andere Sprache auch, sterben kann. Fast alle bekannten Fälle von Sprachtod sind mit einem vorherigen Sprachwandel in Zusammenhang zu bringen. Meistens nehmen die bedrohten Sprachen, durch intensiven Kontakt mit einer dominanten Spra- 22 Cf. Truchot (2001: 320). 23 Cf. Ammon (2006: 22). 24 Trabant, in: www.dradio.de/ dlf/ sendungen/ studiozeit-ks/ 1034170. 25 Carli / Calaresu (2006b: 26). <?page no="350"?> Englisch als Wissenschaftssprache auch in der Romanistik? 317 che, einen instabil-rezessiven Verlauf an. 26 Sprachkontakttheorien begreifen deshalb den Sprachtod als das extremste Ergebnis, das durch Sprachkontakt induziert werden kann. 27 Zu Beginn eines Sprachwandels stehen außersprachliche Faktoren wie wirtschaftliche, politische, soziologische und kulturelle Aspekte, die Einfluss auf den Sprachgebrauch einer Gemeinschaft haben. Sobald eine Sprache in Folge solcher Einflussfaktoren negativ konnotiert wird, verlieren die Sprecher ihre Loyalität und wechseln zu einer anderen Sprache. 28 Im untersuchten Kontext führt der gesellschaftliche Zwang zum Englischen dazu, dass die eigene Sprache als minderwertig angesehen wird, weil deren Verwendung im wissenschaftlichen Betrieb sanktioniert wird. Da der Gebrauch der deutschen ebenso wie der anderer, nicht-anglophoner Nationalsprachen zunehmend restringiert wird, sind sie innerhalb der Wissenschaftsgemeinde immer weniger präsent. Zuletzt wird dadurch das Sprachmaterial einer minoritären Wissenschaftssprache dysfunktional und reicht für die Kommunikation nicht mehr aus. Eine Situation, die in den Naturwissenschaften schon Realität geworden ist. 29 Auch weil die Naturwissenschaften als die tendenziell prestigeträchtigeren Forschungskulturen angesehen werden, scheint es nur eine Frage der Zeit, bis auch die Geisteswissenschaften den language shift vollziehen werden. * * * Die Anglifizierung der Wissenschaften kann als Systemzwang begriffen werden, der ökonomischer und kommerzieller Natur ist. Insofern ist das Problem kein rein linguistisches, sondern auch ein sozialbzw. sprachpolitisches. Dabei kommt der Sprachpolitik der EU, die sich in einer Disparität zwischen Theorie und Praxis befindet, eine entscheidende Rolle zu. Durch Zeichnung der “Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen” 30 verpflichtet sich die EU, minoritäre Sprachen nicht nur zu bewahren, sondern auch ihren Gebrauch in den Bereichen Bildungswesen, Verwaltung, Kultur und Medien durchzusetzen. Mit diesen sprachideologischen Prinzipien will die EU offensichtlich den Plurilinguismus fördern. Im Wider- 26 Cf. Thomason (2001: 223). 27 Cf. Thomason / Kaufman (1991); Thomason (2001); Myers-Scotton (2002). 28 Sasse bezeichnet diese Dreiteilung in seinem Beitrag als External Setting, Speech Behavior und Structural Consequences, in Sasse (1992a: 10). 29 Als eine der wenigen untersucht Guardiano in ihrem Beitrag neben der außersprachlichen Perspektive auch die sprachbezogene, um Veränderungen im System einer nichtanglophonen Wissenschaftssprache durch Kontakt mit der dominanten englischen Wissenschaftssprache festzustellen; Kontaktphänomene wie Vereinfachung findet sie dabei nur auf Ebene der dominierten Sprache, nicht aber in der hoch standardisierten englischen Wissenschaftssprache (Guardiano 2006: 169seq.). 30 Die “Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen” wurde 1992 vom Europarat gezeichnet. <?page no="351"?> Isolde Pfaff 318 spruch dazu steht der Trend zum anglophonen Monolinguismus, der in jedem einzelnen EU-Land Realität ist. 31 Die grundsätzliche Diskrepanz zwischen den im Europäischen Recht festgelegten politischen Sprachprogrammen und ihrer Verwirklichung wird selbst in den hauseigenen EU- Institutionen offensichtlich. Trotz der angeblichen Gleichwertigkeit aller offiziellen EU-Sprachen gibt es eine hierarchische Differenzierung nach ihrem Gebrauch als Arbeitssprachen. 32 Auch die staatliche Schulpolitik in den EU-Ländern wirkt sich in der “Sprachenfrage” aus. Erste Lernerfolge in der “Weltsprache” Englisch können meist schon die kleinsten Europäer im Kindergarten vorweisen. 33 Die Schulen, die an diesem vorselektierten Sprachenerwerb nahtlos anknüpfen, lassen Englisch in fast allen Ländern zur obligatorischen ersten Fremdsprache werden. Das hat weltweit die Konsequenz zur Folge, dass die meisten Schulabgänger englisch besser als jede andere Fremdsprache beherrschen. 34 Laut dem von der EU-Komission erstellten Eurobarometer 35 aus dem Jahr 2005 besaßen in der Schweiz, Dänemark und den Niederlanden 80% der Bevölkerung gute Englischkenntnisse, in Deutschland waren es 45%, in Italien nur 29%. Im europäischen Rahmen belegt die italienische gemeinsam mit der spanischen und der portugiesischen Bevölkerung den drittletzten Platz, was die allgemeine Zweitsprachkompetenz betrifft, und liegt damit ziemlich weit unter dem Durchschnitt. 36 Die Fördermaßnahmen, die Italien ergreift, um sein schlechtes Image bezüglich seiner Zweitsprachkompetenz im Englischen zu verbessern, stehen exemplarisch für die Neigung der EU-Länder zum angloamerikanischen Monolinguismus im Bereich der Bildungspolitik. 37 Alarmiert durch das schlechte Abschneiden, hat Italien reagiert: Neben der Einführung des Englischen als Pflichtfach in Grund- und Sekundarschule wurde ab 2005 allen Sekundarstufen die Möglichkeit geboten, einen Immersionsunterricht auf Englisch anzubieten, damit die Schüler die Gelegenheit erhalten, ein 31 Bereiche wie Wirtschaft, Politik, Kultur etc., in denen das Englische auch eine immer bedeutendere Rolle spielt, werden in diesem Beitrag nicht berücksichtigt. Da es hier um das Englische als Wissenschaftssprache gehen soll, wird diesbezüglich nur die Rolle der Schulpolitik untersucht. 32 Ausführlicher zur Sprachpolitik der EU-Institutionen cf. u.a. Ammon (2003, 2006, 2007); Bär (2004); Carli (2007); Castiglione (2007); Felloni (2006). 33 Besonders mutige Eltern können ihre Kinder selbstverständlich auch in anderen bilingualen Kitas unterbringen, die es mittlerweile in jeder größeren Stadt gibt und die eine Vielzahl von anderen Sprachen unterrichten. Sprachen, die in den Augen der öffentlichen Meinung allerdings nicht über das Prädikat “besonders wertvoll” verfügen. 34 Cf. Ammon (2006: 19). 35 Eurobarometer (2006): “Europeans and the Languages”. 36 Cf. Carli (2007: 108seqq). 37 Frankreichs Sprachenpolitik muss davon abgegrenzt werden, wie auch im Verlauf dieses Beitrags deutlich werden wird. <?page no="352"?> Englisch als Wissenschaftssprache auch in der Romanistik? 319 Sprachniveau zu erreichen, das dem Kompetenzniveau des Italienischen vergleichbar ist. 38 Seitdem kann auch die für die zweite Fremdsprache vorgesehene Zeit auf Wunsch der Eltern zum Erlernen des Englischen genutzt werden. 39 Diese Schulreform macht zwei Dinge deutlich. Zum einen ist eine muttersprachliche Kompetenz der italienischen Schüler im Englischen erwünscht. Zum anderen werden alle anderen Fremdsprachen, die vorher nicht “abwählbar” waren, nun zu Sprachen zweiter Klasse degradiert. Es ist unwahrscheinlich, dass viele italienische Eltern darauf insistieren, ihr Kind zusätzlich Deutsch oder Französisch lernen zu lassen, wenn die Möglichkeit besteht, dafür das Sprachniveau im Englischen zu optimieren. Auf universitärer Ebene wird sich in Italien in der Landessprache verständigt, außer in Fachrichtungen wie Anglistik oder Germanistik, wo auch einige Seminare in den jeweiligen Sprachen angeboten werden. Nur in Graduiertenlehrgängen häuft sich das Englische als Unterrichtssprache, vor allem wenn Gaststudenten teilnehmen. Untersucht man die Sprachen, in denen italienische Abschluss- und Doktorarbeiten verfasst werden, wird die Verdrängung nichtanglophoner Sprachen aus dem Wissenschaftsbetrieb am deutlichsten. Eine Evaluation, die im Jahre 2004/ 05 an der Universität Modena durchgeführt wurde, kommt zu folgenden Ergebnissen: Die naturwissenschaftlichen Disziplinen haben 147 “Produkte” vorgelegt, die bis auf eine Ausnahme alle auf Englisch verfasst waren. Die geisteswissenschaftlichen Disziplinen haben 38 “Produkte” vorgelegt, 50% davon in englischer Sprache, 37% in Italienisch, 11% in Deutsch und 2% in Spanisch verfasst. 40 In Italien kann die Diskussion um die Erhaltung des Italienischen als Wissenschaftssprache nicht so geführt werden wie in Deutschland oder Frankreich, denn eine nationale Wissenschaftssprache hat sich dort in diesem Maße (außer in einigen künstlerisch-musischen “Nischenfächern”) nie entwickelt. 41 Während Italien die Etablierung des Englischen als Wissenschaftssprache vorantreiben möchte und der Verdrängung anderer Wissenschaftssprachen “unaufgeregt” begegnet, spricht sich Frankreich mit seiner Sprachpolitik vehement gegen die Anglifizierung der Wissenschaften aus. Dabei wehrt sich Frankreich vor allem gegen die “Besetzung der wichtigsten Diskurswelten durch das Englische und damit auch gegen das Herausbrechen ganzer Sprach-Register - nicht nur einzelner Wörter - aus der Gesamtarchitektur des Französischen”. 42 So rigoros, wie im Ausland rezipiert, ist jedoch die französische Sprachgesetzgebung nicht. Es kann dort bspw. auf Kongressen 38 Cf. Carli (2007: 108). 39 Cf. Carli (2007: 108seqq). 40 Cf. Carli (2007: 112). 41 Cf. Carli (2006: 104). 42 Cf. Trabant (2001: 12). <?page no="353"?> Isolde Pfaff 320 französisch gesprochen werden, aber es wird niemand dazu gezwungen. Es gibt sozusagen ein droit au français. 43 Außerdem müssen mit öffentlichen Geldern geförderte fremdsprachige Publikationen ein französisches Resümee enthalten. Und das Französische ist vorgeschriebene Unterrichtssprache. Es ist also - zumindest auf den ersten Blick - in Bezug auf die Haltung zum Englischen kein großer Unterschied zu anderen europäischen Ländern feststellbar. Dass es den aber trotzdem gibt, vor allem in Abgrenzung zum Nachbarland Deutschland, davon sind einige Wissenschaftler überzeugt: Wer glaubt, französische Literaturwissenschaftler würden künftig ihre Arbeiten auf Englisch schreiben, der unterschätzt deren Selbstbewußtsein und die Eigenständigkeit ihrer wissenschaftlichen Position. Auch spanisch sprechende Geisteswissenschaftler entziehen sich dem Sog des Englischen energischer als deutsche Geisteswissenschaftler. 44 Auch Jürgen Trabant differenziert zwischen Deutschland und den anderen EU-Ländern in ihrer Haltung zum Englischen. Er ist sich sicher, “daß keine Sprachgemeinschaft in Europa sich in einem solchen ‘Modernisierungsfieber’ befindet wie die deutsche. Die Deutschen zeigen als echte Parvenus so gern, wie schön sie Englisch können. Sie sind so stolz auf jedes echte englische th und r mitten in der deutschen Rede.” 45 * * * For anyone seriously interested in Romance philology, at whatever level, an ability to read German is every bit important as it ever was: a case, perhaps, of Vorsprung durch Germanistik. 46 Die deutsche Romanistik ist eine traditionell plurilinguale Wissenschaft. Als zunächst historische Sprachwissenschaft entstanden, beinhaltet sie die Beschäftigung mit mindestens zwei romanischen Philologien, während sich die Romanistik in den romanischen Ländern eher auf das Studium der Einzelphilologien (Rumänistik, Italianistik, Französistik, Hispanistik, Lusitanistik) stützt. Im Gegensatz zu vielen anderen Disziplinen spielt in der deutschen Romanistik die Dominanz des Englischen (noch) keine Rolle. Hier sind vielmehr Deutschkenntnisse gefragt, besonders was den Bereich der Sprachwissenschaft betrifft, denn grundlegende Werke für das Entstehen und die Weiterentwicklung dieses Fachs sind von Deutschen wie Friedrich Diez (“Grammatik der romanischen Sprachen”), Hugo Schuchardt (“Der Vokalismus des Vulgärlateins”), Gerhard Rohlfs (u.a. “Romanische Sprachgeographie”, “Historische Grammatik der italienischen Sprache und ihrer Mundarten”) oder Heinrich Lausberg (“Romanische Sprachwissenschaft”) 43 Cf. Trabant (2001: 12). 44 Stackelberg (2009: 9). 45 Trabant (2001: 14). 46 Trotter (1990: 667). <?page no="354"?> Englisch als Wissenschaftssprache auch in der Romanistik? 321 geschrieben worden. Vor allem für die Italianistik haben deutsche Sprachwissenschaftler Pionierarbeit geleistet. Der Sprachatlas von Karl Jaberg und Jakob Jud, die historische Grammatik von Gerhard Rohlfs und Wilhelm Meyer-Lübkes etymologisches Wörterbuch gehören zu den unentbehrlichen Werken der italienischen Sprachwissenschaft. Auch das für jeden Romanisten unverzichtbare “Lexikon der romanistischen Linguistik” (LRL) ist im Kontext der hiesigen Forschung entstanden und zu mehr als einem Drittel in deutscher Sprache verfasst. Viele romanistische Zeitschriften (ASRSL, Iberoromania, RF, ZFSL) erscheinen in deutschsprachigen Ländern und enthalten zum größten Teil in deutscher Sprache abgefasste Artikel. Demnach ist der Einfluss des Deutschen vor allem innerhalb der romanischen Sprachwissenschaft nach wie vor präsent, zumindest in der Thoerie. So müssen italienische Romanistikstudenten in die Bibliographien ihrer Arbeiten zwar deutsche Basiswerke der romanischen Sprachwissenschaft mit aufnehmen, auch wenn diese nicht in italienischer oder englischer Übersetzung vorliegen doch das bedeutet nicht, dass sie sie wirklich gelesen werden. Fabio Marri, Romanistikprofessor an der Università di Bologna, weiß um die Schwierigkeiten, die italienische Studenten mit der deutschen Sprache haben. 47 Die wenigsten haben entsprechende Lesekompetenzen, von aktiven Deutschkenntnissen ganz zu schweigen. In den anderen Ländern der Romania herrscht eine ähnliche Situation vor und die als diffizil geltende deutsche Sprache genießt wenig Popularität. 48 Konkret heißt das: Arbeiten und Forschungsergebnisse, die Romanisten zu sprachlichen Phänomen einer bestimmten romanischen Sprache auf Deutsch verfassen, finden im eigentlichen Zielland keine Beachtung, da sie dort nicht gelesen werden können. Es stellt sich die Frage, inwiefern Romanisten auf die beschriebenen Verhältnisse reagieren können und sollten. Das Ineinandergreifen der verschiedenen romanischen Sprachen mit der Nationalsprache kann auf allen Forschungsebenen gut funktionieren, wenn bestimmte Gegebenheiten berücksichtigt werden. So scheint es sinnvoll, im deutschsprachigen Raum auf Deutsch zu publizieren. Auf Kongressen und Tagungen von Romanisten können die Beiträge in deutscher oder einer romanischen Sprache gehalten werden, je nachdem aus welchen Herkunftsländern sich die Teilnehmerliste mehrheitlich zusammensetzt. Ist ein Werk für die Veröffentlichung im romanischen Ausland bestimmt, erscheint eine Publikation in der Sprache des Erscheinungslandes sinnvoll. 49 Eine Präferenz des Englischen erscheint bei 47 Marri (2002: 33seqq). 48 Eine Ausnahme stellt hier Rumänien dar, dort ist das Studium des Deutschen nach wie vor beliebt; cf. Constantinescu (2002: 41seqq). 49 Für Romanisten aus Ländern mit kleineren romanischen Sprachen, wie z.B. Rumänien, wäre eine Publikation in der Muttersprache von Nachteil, demnach wird ein rumänischer Forscher eher auf Französisch, Italienisch - oder eben auf Englisch publizieren. <?page no="355"?> Isolde Pfaff 322 all dem paradox und produziert eine doppelte Fremdsprachigkeit, da es weder die Muttersprache des Autors/ Sprechers noch in den meisten Fällen die des Rezipienten ist. 50 Hingegen versteht es sich von selbst, dass eine international ausgerichtete Forschung im Bereich der Sprachwissenschaft nach wie vor in englischer Sprache stattfinden muss, der lingua franca der Linguistik. * * * Romanisten sprechen in der Regel mindestens vier bis fünf Sprachen. Werden aber wissenschaftliche Diskussionen auf Englisch geführt, bleiben sie häufig stumm. Natürlich können auch Romanisten englisch, vielleicht nicht immer das wissenschaftliche, in jedem Fall aber das informelle Englisch, welches normalerweise herangezogen wird, wenn es um die internationale Kommunikation geht. Dabei heißt internationale Verständigung nicht, wissenschaftliches Englisch lupenrein beherrschen zu müssen, wie die großen Publikationsorgane es verlangen. Der subtil ausgeübte Druck zur sprachlichen Perfektion führt bei vielen Wissenschaftlern mit nichtanglophonem Hintergrund zu einer “Sprachlosigkeit” im Englischen. In der romanischen Sprachwissenschaft ist vor allem die Lesekompetenz im wissenschaftlichen Englischen unerlässlich, um den Anschluss an die internationale Linguistik-Forschung zu behalten. Davon abgesehen ist es aber für jeden Romanisten sinnvoller, die vorhandene Zeit und Energie dem Studium jener Sprachen zu widmen, deren Erforschung sie sich im Rahmen ihrer Disziplin zur Aufgabe gemacht haben. Aufgrund dieser Einsicht hat beinahe jeder Romanist höhere Sprachkompetenzen im Französischen, Italienischen oder Spanischen als im Englischen. Angemerkt sei noch, dass sich die globale Diskussion unter Wissenschaftlern unterschiedlicher Nation momentan in keiner Sprache besser als in der Englischen führen lässt. Das Englische bietet vor allem für Wissenschaftler aus Schwellenländern eine Chance, am globalen Diskurs teilzunehmen. Trotzdem ist das monotone Beharren auf Floskeln wie “Englisch ist nun einmal die Sprache der internationalen Spitzenforschung” ebenso fragwürdig wie die übertriebene Angst um das Aussterben unserer Nationalsprache. Das differenzierte Bild in der europäischen romanistischen Sprachforschung kann hier als Beispiel fungieren. Jeder zukünftig absehbare Sprachtod kann mit entsprechender Bildungspolitik und bewusstem Willen gegen einen Monolinguismus verhindert werden. Der zeitgemäße Ruf nach kultureller Vielfalt lässt sich letztlich ohne diese Sicherstellung von Sprachenvielfalt nicht realisieren. Als angemessene Alternative zur Englisch-“Pflicht” bietet sich weiterhin die Vielsprachigkeit an. Wenn Forscher mehrere Sprachen zumindest rezep- 50 Cf. Marri (2002: 39). <?page no="356"?> Englisch als Wissenschaftssprache auch in der Romanistik? 323 tiv beherrschen, könnte die Tendenz zur Einsprachigkeit im wissenschaftlichen Bereich teilweise durchbrochen werden. Dazu aber müssen sich auch die Wissenschaftler ihrer Verantwortung in Hinblick auf die Sprachenfrage bewusst sein und im Klaren darüber, dass sich in einer anderen Sprache nicht zuletzt eine Vielfalt von Denktraditionen und Mentalitäten widerspiegelt, die den Austausch in der Wissenschaft so spannend machen. Bibliographie Ammon, Ulrich (Ed.)(2001): The Dominance of English as a language of Science. Effects on other languages and language Communities, Berlin / New York: De Gruyter. 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(1990: 13) divide lexemes into wordand word group lexemes, the first being further subdivided into simple word lexemes (kick) and complex word lexemes (kicker, kickball), the second are also called “phraseologisms” (kick the bucket). Less lexicalized constructions of the latter kind (take advantage) can be called “collocations” or, according to Nunberg (1994: 491), “idiomatically combining expressions”. A specific type of such collocations are paraphrasal verbs, or, as Brinton (2008) calls them, “composite predicates”. Their internal structure consists of a verbal head, in our case have or take, and a noun phrase in object function: have/ take + NP have/ take a drink = to drink have/ take a swim = to swim have/ take a nap = to nap have/ take a bath = to bath/ bathe have/ take a walk = to walk etc. Although they have an internal verb-object-structure, they are analyzed as holistic intransitive complexes, i.e., they have undergone a process of lexicalization, as a result of which they have turned into idiomatically combining expressions. As to their use in Modern English, Quirk et al. (1985: 751-752) state that there are “some common collocations of verb and eventive object where the noun heads are derived from verbs”, and “it will be noticed that several noun phrases collocate with both ‘have’ and ‘take’. In such cases, ‘have’ is the typical British verb and ‘take’ is the typical American verb”. In the following I will have a closer look at the lexicalization process of such paraphrasal verb constructions. <?page no="359"?> Ilse Wischer 326 2. Lexicalization There is no general agreement among linguists as to what exactly is lexicalization. In grammaticalization theory it is often discussed as the opposite or reverse process of grammaticalization. So Hopper and Traugott (1993: 49) describe it as “the process whereby a non-lexical form such as up becomes a fully referential item”. In the second edition of the book (2003: 58), they do not call this process “lexicalization” anymore, but refer to it just as “conversion”. Brinton and Traugott (2005: 32-61) discuss many different definitions and viewpoints of lexicalization, including ordinary processes of word formation, institutionalization, lexicalization as fusion, and lexicalization as increase in autonomy. These different approaches result from the fact that different types of linguistic items can become lexical units (particles, grammatical word forms, ad-hoc formations, syntactic units). What all these processes have in common is that linguistic material is turned into a lexical unit (cf. Wischer 2000). With regard to paraphrasal verb constructions, that means that a free syntactic unit acquires the status of a symbol (cf. Keller 1995: 167-168), based on a more or less conventionalized relationship between form and meaning. I consider lexicalization a gradual process, characterized by a number of features that can contribute to the degree of lexicalization. Bauer (1983: 50) calls these features “types of lexicalization”: 1. Phonological changes (stress shift, reduction) 2. Non-productive morphological elements 3. Lack of semantic compositionality 4. Fixed (non-productive) syntactic patterns. Type (1) leads to “phonological lexicalization”, type (2) is characteristic of “morphological lexicalization”, type (3) is a feature of “semantic lexicalization, and type (4) of “syntactic lexicalization”, respectively. These “types” or features determine the degree of lexicalization. Often, more than one feature is included, which can lead to a complete demotivation of the lexicalized item. Lexicalization of a free syntactic group is basically characterized by its fixed syntactic pattern and by its lack of semantic compositionality, in other words, by a process of idiomatization. In the following sections, this shall be described in further detail with respect to the haveand take-constructions. 3. Have + Noun Phrase There is considerable disagreement about the temporal setting of the origin of paraphrasal have-constructions. Live (1973: 41) states that they are “deeply <?page no="360"?> Lexicalization of paraphrasal verb constructions with have and take 327 rooted in the historical development of the language”, Burnley (1992: 450) comes to the conclusion that they are “especially common from the second half of the fourteenth century”, and Görlach (1991: 97) argues that “the replacement of a verb by a verb + noun group (to swim to have a swim) appears to have first become moderately frequent in Early Modern English”. All three authors seem to be right (cf. also Brinton 2008: 37-42). Havecollocations are not uncommon in the earliest Old English texts. Although in most cases they denote a state (hæfþ anweald -- ‘he has the power’; hæfþ wisdom -- ‘he is wise’), there are a number of occurrences with a dynamic reading (he rice hæfde -- ‘he ruled the country’; se papa hæfde sinoð -- ‘the Pope held a meeting’). In the Middle English period, and especially from the 14th century onwards, we can observe an enormous increase in the use of havecollocations, some of them having directly developed out of Old English constructions (hadden þe victory < hæfdon sige; have knowlechinge < gewitnesse hæbbe), others may be considered French calques (haue ned of -- ‘avoir besoin de’; haue shame -- ‘avoir honte’; hadde drede -- ‘il avait peur’; haddest pite of -- ‘tu avais pitié de’) or are formed with French nouns, which might have been easier to integrate into the English language structure than corresponding verbs (hadde enuye; haue doute; haue desire). However, most of these Middle English collocations still imply the original <POSSESSIVE> meaning of have and do not fit into the scheme: [to V > to have a V N ]. Apart from a few exceptions (to rest > haue rest; to care for > haue moche care for), such paraphrasals are indeed very recent creations. Most of them are not much older than one or two centuries. The genesis of paraphrasal have-constructions is closely connected to a semantic change of the verb have itself. In the Modern English constructions have a look, have a bite, have a drink, have a guess, etc., the meaning of have is very general, abstract, referring just to a concept like [DO] or [CARRY OUT], most of the phrasal meaning being encoded in the eventive object. According to Aristotle’s classification, have is one of the three most generalized predications (apart from be and do), representing the verbal class “habitus”. Being a verb with such a general meaning, it combines with a great variety of semantic partners. This combinability allows further semantic changes of the verb itself, due to contextual implications. That is, it can lead to semantic specifications, generalizations, metonymical or metaphorical extensions. The semantic change of have can be described as in figure (1). First, generalization and specialization of semantic features shifted the meaning from a dynamic sense, [TO HOLD (in hand)], requiring an agentive and an affected participant, to a stative denotation [POSSESS] combining with a patient and an affected participant. The latter might have had the features <+PROPERTY, +MATERIAL>, <-PROPERTY, +MATERIAL> or <- MATERIAL>. A further specialization led to the meaning [KEEP IN POS- SESSION], which represents a temporary state. Based on a metonymical <?page no="361"?> Ilse Wischer 328 extension, such an item could acquire another dynamic meaning, again combining with an agentive participant. Depending on the semantic features of the affected participant, various basic meanings could evolve, as exemplified in (3a) through (3d). Figure 1: The semantic change of ‘have’ Another metonymical process, based on the dynamic meaning of have and focussing on the incipient stage, resulted in the new general meaning [COME INTO POSSESSION] with the original patient participant being reanalysed as recipient. In most of these senses we can find conventionalized constructions and even idiomatic expressions based on metaphorical extensions. Examples (1) to (3) are a selection of the earliest occurrences listed in the Oxford English Dictionary (OED). They correspond to the meanings in figure 1. (1) [TO HOLD (in hand)] - DYNAMIC/ AGENTIVE ↓ Generalization/ Specialization ↓ (2) [POSSESS] - STATIVE: (2a) - < +PROPERTY, +MATERIAL> (2b) - < -PROPERTY, +MATERIAL> (2c) - < -MATERIAL> ↓ Specialization ↓ (3) [KEEP IN POSSESSION] - STATIVE, TEMPORARY ↓ Metonymy ↓ DYNAMIC, AGENTIVE (3a) - < -PROPERTY, +MATERIAL> have in use (3b) - < -MATERIAL> have in mind (3c) - < -MATERIAL, +ACTION> show sentiment (3d) - < +EVENTIVE> hold some proceeding ↓ Metonymy ↓ (4) [COME INTO POSSESSION] - DYNAMIC, RECIPIENT <?page no="362"?> Lexicalization of paraphrasal verb constructions with have and take 329 (1) Hine se mode a mæ Hy elaces hæfde be honda. He-ACC the-NOM brave kinsman Hygelac-GEN had in hands ‘The brave kinsman of Hygelac had him in his hands.’ (814 Beowulf (Z.)) (2a) Soþlice he hæfde mycele æhta. Truely he had big possessions ‘He had indeed huge possessions.’ (c1000 Ags. Gosp. Matt. xix. 22) (2b) Sprengeþ ou mid hali water þet e schulen euer Sprinkle-IMP,PL you with holy water that you shall always habben mid ou. have with you ‘Sprinkle yourself with holy water that you shall always have with you.’ (a1225 Ancr. R. 16) (2c) Ic hæbbe eweald micel to yrwanne godlecran stol. I have power great to equip divine throne ‘I have much power to equip the divine throne.’ (a1000 Cædmon’s Gen. 280) (3a) I.. has hade it in myn vsage, O mete and drink to do vtrage. I.. has had it in my usage, on food and drink to do outrage ‘I used to eat and drink to excess.’ (a1300 Cursor M. 28456) (3b) Ne we ne beoþ iboren for to habbene nane prudu. Not we not are born for to have no proud ‘We are not born to have no proud.’ (c1175 Lamb. Hom. 7) (1240: abbe (ich eni) licung; 1300: haf (na) drednes; had ... envie; 1400: had lufe; had a mind ‘had the intention’) (3c) Lauerd ha merci on all nu. Lord have mercy on all now ‘Oh Lord, have mercy on everybody now.’ (a1300 Cursor M. 22474) (1450: haue hede; 1483: havynge respecte; 1539: haue pacience; 1580: haue dillygence; 1611: haue care; 1805: have the goodness; 1895: have regard) (3d) How he hadde mony batailles With wormes. (13.. K. Alis. 4766) How he had many battles with dragons ‘How he faught many battles against dragons. (1400: had werre; 1456: haif courss; 1523: haue spech; 1551: had this talke; 1563: haue any ado; 1714: the queen has had a circle every evening; 1738: had some words; 1845: have a marriage) <?page no="363"?> Ilse Wischer 330 A further extension to the designation of other events later, especially in the 19th century can be seen in the light of the speaker’s tendency towards greater informativeness, accompanied by the principle of economy. That means, instead of saying: We looked at the nice pictures. or We walked enchantingly. the speaker, having constructions like (3d) in mind, can now form in analogy: We had a look at the nice pictures. or We had an enchanting walk. Based on the nominalization of the event, the speaker can now refer to a definite single event (cf. Potter 1968: 187). In this respect the creation of such collocations may be seen as part of the restructuring of the English aspect/ aktionsart system. The loss of former prefixed aktionsart markers is compensated for by phrasal and paraphrasal verb constructions. Furthermore, adjectival modifiers or intensifiers can be attached more easily instead of using adverbials: have a nice sleep / to sleep nicely (? ) take great care / to care much (? ) have a nice drink / to drink a nice drink/ in a nice athmosphere (? ) Another advantage of the collocation is that more emphasis can be put on the predicate to make it heavier. The whole construction’s intransitive character is formally expressed by an inherent transitive structure replacing a simple verb by a verb + object construction (Please, try! -- Please have a try! ; I will swim a bit. -- I will have a swim.; After dinner we walked. -- After dinner we had a walk.). In (3d), have must already possess the dynamic meaning <CARRY OUT>, so that an analogical extension to other events like have a swim, have a last try is possible. The latter examples cannot have developed independently by semantic changes as described in figure 1, since they lack all kinds of an implied POSSESSIVE or STATIVE meaning of have. The difference between the have-paraphrases based on the third sense [KEEP IN POSSESSION] and those based on the fourth sense [COME INTO POSSESSION] is that the former contain AGENTIVE subjects and the latter RECIPIENT subjects (have care vs. have a fright) (cf. also Quirk et al. 1985: 751). The earliest examples listed in the OED with a RECIPIENT sense are the following under (4): (4) þa Seaxan hæfdun si e. The Saxons had victory ‘The Saxons had a victory’ (a1000 O.E. Chron. an. 885) <?page no="364"?> Lexicalization of paraphrasal verb constructions with have and take 331 (4a) 1382: þi wyf schall haue a sonne (4b) 1583: [She] had two children at a birthe (4c) 1592: You shall have a kiss (4d) 1887: Have another egg, Jess? (4a) is still semantically ambiguous. It can be a prediction of a future POSSESSIVE state. But at the same time a metonymical reinterpretation is possible. In (4b) the context only allows the [COME INTO POSSESSION]interpretation. But this is rather a contextual implicature here, and not the meaning of a lexeme have children. In (4c) only the [COME INTO POSSES- SION]-interpretation is possible, too, since the subject must be interpreted as the RECIPIENT. The meaning of have must have been extended by that time. A further extension of the meaning of have is seen in (4d), namely to <EAT> (side by side with <DRINK>). Here the contextual meaning of the syntactic partners <FOOD-EAT, DRINK> becomes part of the verb meaning: *<POSSESS> / <RECEIVE> / <EAT>. And so other collocations can be formed and can become idiomatized: have breakfast, have lunch, have coffee, ... The degree of lexicalization of such have-paraphrases is difficult to determine, especially when earlier stages of the language are concerned. Phonological features are not relevant for word-group lexemes and for historical periods not applicable anyway. Morphological features are neither applicable to word-group lexemes. They are rather important for complex-word lexemes. Syntactic features are only partly reliable here. Word-group lexemes are usually fixed in their structures, i.e., the constituents cannot be reordered, separated or replaced by synonyms. The use of the article is usually fixed: (5) have a look at have *the look at have *look at And they cannot be passivized: *a look was had at Furthermore the internal noun phrase object cannot be replaced by a pronoun: *We had it at the pictures. Semantic lexicalization varies. As Cowie et al. (1983: xii) state, “idioms are not divided as a small water-tight category from non-idioms but are related to them along a scale or continuum”. Most have-collocations are semantically transparent and therefore referred to as “idiomatically combining expressions”. However, there are examples which contain additional semantic components which are not inherent in the sum of the individual parts of the construction. Such items must be considered idiomatic and show a higher <?page no="365"?> Ilse Wischer 332 degree of semantic lexicalization. This is the case e.g. with the examples in (6), (6) have (an) eye till, on, upon, to (1375) (‘pay attention to’) to have a mind to (1400) (‘be inclined to do...’) to have course (1427-1512) (now obsolete) (‘to be current’) to have a finger / a hand in (1600 / 1597) (‘to have to do with’) to have a heart (1917) (‘to be merciful’) even if these constructions do not occur in fixed syntactic patterns, as in (6a-d): (6a) The Kyng..Till thame, and nouthir ellis-quhar Had ey. (1375 Barbour Bruce vi. 523) (6b) Segryne had euer on him his eye. (c1430 Syr Gener. (Roxb.) 3934) (6c) An especial eye may be had over all Counties, where Papists are most residing. (1641 Jrnl. Ho. Comm. II. 183) (6d) What I said about the Cretan laws ... had an eye to war only. (1875 Jowett Plato (ed. 2) V. 58) The question is to what extent the Modern English have-paraphrases are lexicalized, such as have a look, have a bite, have a drink, have a guess, etc. There are no phonological or morphological indicators. The syntactic criteria are again not very reliable. As examples (7a) - (7e) show, a have-collocation is not fully syntactically fixed (7a-c), however, it does not allow free syntactic variability (7d-e). (7a) I had a short after-dinner nap. (7b) You should have your nap. - ? I have had it already. (7c) ? It was a nap that I had. (7d) I had *nap(s) every afternoon. I had ? the / ? my / ? this nap in the sitting-room. (7e) *A nap was had... As to a semantic lexicalization, we must say that the Modern English haveparaphrases are totally transparent, if we assume that have has adopted a very abstract meaning here, i.e., it is used in the sense <CARRY OUT> or <RECEIVE>. Thus most of the Modern English have-paraphrases are rather new developments, especially in British English, and they may be characterized as semi-lexicalized. They are still in the process of a predominantly syntactic lexicalization. The generalized meanings of have in such Modern English paraphrases that have developed from the senses <KEEP IN POSSESSION> and <COME <?page no="366"?> Lexicalization of paraphrasal verb constructions with have and take 333 INTO POSSESSION> overlap with the meaning of take. So we find many parallel constructions with take, the latter predominating in American English. 4. Take + Noun Phrase Take has a shorter history in English. As is well known, it was borrowed from Old Norse and spread from North to South in the course of Middle English. Its semantic development is described in figure 2. Figure 2: The semantic change of take The original meaning of take, <TO TOUCH>, still prevalent in Gothic had already shifted to <SEIZE, GRIP> in Old Norse, and as such it was borrowed into English, although a few examples with the original meaning can still be found in Early Middle English, as in example (8). But compared to have, take has always been dynamic. Through metonymical processes it soon acquired the additional meaning <RECEIVE or ACCEPT what is handed to one>, which was similar to the <COME INTO POSSESSION>-sense of have. Both meanings also occur metaphorically, i.e. in combination with object nouns denoting non-material concepts. Examples are given under (9b) and (10b). (8) Soþlice þæt ilce ele is swa mihti & swa strange þæt swa hwæt swa hit on tæcþ, þærrihtes hit eall forbærnþ. ‘This same oil is so powerful and so strong indeed, that whatever it touches, it immediately burns everything down.’ (a1150 MS. 303 Corp. Chr. Coll. Cambr. 178 (Napier)) (9a) Se kyng nam heora scypa & wæpna,..& þa menn ealle he toc, & dyde of (8) [TO TOUCH] - DYNAMIC / AGENTIVE ↓ Metonymy ↓ (9) [SEIZE, GRIP] - DYNAMIC / AGENTIVE: (9a) - <+MATERIAL> (9b) - <-MATERIAL> ↓ Metonymy ↓ (10) [RECEIVE, ACCEPT] - DYNAMIC / RECIPIENT: (10a) - <+MATERIAL> (10b) - <-MATERIAL> <?page no="367"?> Ilse Wischer 334 heom þæt he wolde. ‘The king seized their ships and weapons,.. and captured all men and did with them whatever he liked.’ (c1100 O.E. Chron. an. 1072 (MS. D)) (9b) In the meane tyme the Prelates take theyr pleasures. (1549 Latimer Serm. Ploughers (Arb.) 38) (10a) Straunge knyghtes that were come vnto hym to take wages. (c1489 Caxton Sonnes of Aymon ix. 216) (10b) þatt he toc dæþ o rode. (c1200 Ormin Pref. 90) By specification, take also acquired the meaning <to RECEIVE into one’s body by one’s own act; to eat or drink; to swallow (food, drink, medicine, opium, etc.); to inhale (snuff, tobacco-smoke, etc.)>: (11) Wine ne ale hurteth no maner creature But sharpeth the wit if it be take in kinde. (1509 Barclay Shyp of Folys (1570) 34) (12) Let us have wine and women, mirth and laughter, Sermons and soda-water the day after. (1819 Byron Juan ii. clxxviii) Thus both items, have and take, are partly synonymous in English, and since Late Modern English have has predominated in such constructions in British English. The similarity in meaning can be described as in figure 3. Take is also, like have, one of the elemental words in the language, although compared to have, it contains the additional feature <CHANGE OF POSSES- SOR>, which makes it a bit more specific than have. This is also the reason why it does not allow constructions like: *to take a baby, which is possible with the more general have: to have a baby. Take + noun phrase constructions have been used from the very beginning in English, together with the earliest occurrences of take. Therefore we should assume that such collocations had existed already in Old Norse. They were not very frequent at the beginning, but they increased in their use enormously in the 15th/ 16th centuries. In most of these constructions take is to be interpreted in its dynamic, agentive sense <SEIZE, GRIP>. Matsumoto (2000: 189) states that take has a tendency to become fixed in “creation and/ or activation collocations” (take feld, lande, see, ship, boat, journey, travel, ...). Often, ways of transportation or military operations are thus expressed, but also feelings or mental operations, usually including an active involvement of the subject (take a view of, take delight ‘to desire’, take patience, ...). Here take-paraphrasals enter into competition with have-constructions (cf. figure 3). <?page no="368"?> Lexicalization of paraphrasal verb constructions with have and take 335 Figure 3: The similarity in meaning of have and take HAVE TAKE [POSSESS-STATIC] body part collocations: to have a good eye on... to have a finger in the pie [KEEP IN POSSESSION - DYNAMIC, AGENTIVE] [SEIZE, GRIP - DYNAMIC, AGENTIVE] <DURATIVE> <INCHOATIVE> have care take care have a journey take a journey have a walk take a walk ↓ ↓ Non-material senses: Non-material senses: have love take love have sleep take sleep [COME INTO POSSESSION - DYNAMIC, RECIPIENT] [RECEIVE, ACCEPT - DYNAMIC, RECIPIENT] have supper take supper have a child *take a child ↓ ↓ Non-material senses: Non-material senses: have cold take cold have knowledge take knowledge <?page no="369"?> Ilse Wischer 336 Especially the metaphorical sense of the dynamic, agentive meaning <SEIZE, GRIP> is finally so much generalized that take (like similarly have) can combine with all kinds of eventive nouns, so that take comes to mean just <UN- DERTAKE, CARRY OUT, DO, PERFORM some action>. So the whole construction often forms merely a periphrastic equivalent of the cognate verb: (13) to take a leap = to leap (once) to take a look = to look (once) to take one’s departure = to depart. Like have-paraphrasals, take + noun phrase constructions have the same advantage over the simple verb forms to be more informative in terms of the specification of the event, often with respect to expressing a definite single event: (14) The kyng took a laghtre, and wente his way. (c1412 Hoccleve De Reg. Princ. 3400) Where have and take are used in the same constructions, the take-construction usually involves a more active part of the subject, often expressing an inchoative meaning, whereas have-constructions convey a more passive part of the subject. Later take loses this inchoative implication and must be replaced by other verbs: (15) take love → fall in love take cold → catch a cold take sleep → fall asleep 5. Summary Have and take are both verbs that belong to the most general verbal conceptualizations in languages. As such they can collocate with numerous nominal concepts and thus in frequently occurring collocations can develop specific meanings. Such word groups tend to idiomatize and finally enter the vocabulary as lexical units. Both have and take overlap in their lexical meanings, which is the reason why they occur in similar collocations. Although a number of have + noun phrase constructions occur as early as in Old English, only in Middle English we can observe an increasing use of such paraphrasals. Especially frequent are metaphorical uses of have + body-noun expressions and specific uses of have + nouns denoting feelings, sentimental behaviour and finally also other events. Most of the typical Modern English paraphrases have their origin only in Late Modern English, and here especially in British English. Take enters the language in Late Old English and becomes a competitor to have in forming similar collocations. It seems to have become even more <?page no="370"?> Lexicalization of paraphrasal verb constructions with have and take 337 productive than have in Late Middle English and Early Modern English (except for the body-noun expressions). Matsumoto (2000: 186-187), who only studied verbs of mental activity, could reveal a drastic decrease of havecollocations from the 15th to the 16th century, with a simultaneous increase in the use of take-constructions: (18) 15th c. Corpus: have (157 types) take (78 types) 16th c. Corpus: have (115 types) take (86 types) This productivity of take-paraphrasals is still obvious in North American English (cf. also Dixon 1991: 338; Trudgill, Nevalainen and Wischer, 2002). Reasons for the predominance of take over have may have been the following: 1. Take is more dynamic / agentive than have and thus makes the whole collocation more transparent. 2. Have is in the process of splitting into lexical verb and auxiliary. An additional use in paraphrasals would have increased its functional load. 3. Many of the paraphrasals are parallel to, and influenced by French phrases with prendre ‘take’ (cf. Sykes 1899). The earliest occurrences of some of the most important paraphrases with have/ take are given in the OED as follows in table 1: TAKE HAVE a rest 1375 1250 a nap c1400 care 1582 1579 a walk 1581 1794 a look 1693 1885 a bath 1837 1946 a wash - 1872 Table 1: The earliest occurrences of have/ take-collocations according to the OED With this presentation I hope to have shown that on one hand haveparaphrasals are deeply rooted in the English language. But as soon as take steps into competition with have, the new take-collocations become more productive for the reasons that I have mentioned. And they are still dominant in American English, which, with respect to the use of such collocations, represents an earlier state of development, compared to British <?page no="371"?> Ilse Wischer 338 English. In British English, we can observe for whatever reason a growing use of have-collocations since Late Modern English times. Have/ take-paraphrasals have become at least partly lexicalized in the course of their history. A few of them have undergone a semantic lexicalization (have the face to...). But most of them have only been syntactically lexicalized. They are fully transparent with have and take having been semantically generalized to mean <CARRY OUT> and the specific verb meaning being conveyed by the internal eventive object (have a try, take a try). What has happened is a conventionalization of the syntactic phrase so that it is analyzed as one verbal concept and as such it must be treated as a lexical unit. 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Morphologisch dienen dem Ausdruck einfacher Zukunftsprognosen im Deutschen die Formen des FuturI, die analytisch aus dem Hilfsverb werd- + Infinitiv gebildet werden, und auch die des Praesens, beide im Indikativ. Eine Zukunftsprognose kann aber auch von einem Zeitpunkt der Vergangenheit aus gemacht werden, in den der Autor sich und den Leser versetzt. Die Zukunftsprognose ist dann in einem Zeitpunkt der Vergangenheit verankert, sie ist zeitversetzt. Besonders in Biographien ist dies ein beliebtes Vorgehen, um nicht nur zu schildern, was dem Helden passierte, sondern auch, was ihm bevorstand und in der Zukunft passieren würde (! ). Für die zeitversetzte Zukunftsprognose nimmt die Tempustheorie wie für andere Relationen zur Vergangenheit daher einen Referenzpunkt R oder Orientierungspunkt O an (Thieroff 1992, Latzel 1977: Betrachtzeit), von dem aus die Ereignisse in der Zukunft gesehen werden. Hier gilt also nicht ‘E nach S’, sondern ‘E nach O’ & ‘O vor S’. Für den Ausdruck einer in einem Zeitpunkt der Vergangenheit verankerten Zukunftsprognose besteht im System der deutschen Tempora nun eine merkwürdige Lücke im verbalen Paradigma des Futurhilfsverbs, für die es bisher m. W. keine synchrone Erklärung gibt. Wohlgemerkt bezieht sich diese Lücke nur auf die Ausdrucksseite, also die Morphologie der verbalen Tempusformen. Inhaltlich-semantisch haben die deutschen Sprecher Lösungen gefunden, zeitversetzte Zukunftsprognosen auszudrücken, die ich aber nur als Ersatzlösungen bezeichnen möchte, da sie eben nicht die vom morphologischen System der Verbformen her zu erwartende Lösung darstellen. Die vorliegende Arbeit versucht, eine Antwort auf die Frage zu geben, warum im Deutschen die zu erwartende Form für das Futur du passé, den Ausdruck der ‘Zukunft in der Vergangenheit’, fehlt, indem sie die entsprechenden Formen in einigen romanischen Sprachen zum Vergleich heranzieht. Der Vergleich mit den umfangreicheren Systemen der Vergangen- <?page no="375"?> Heide Wegener 342 heitstempora der romanischen Sprachen und deren Funktionen soll eine Erklärung für das Fehlen der adäquaten Form, die Lücke im Paradigma des deutschen Futurhilfsverbs liefern. Typischer Kontext für den Ausdruck der Zukunft in der Vergangenheit sind Biographien. Einer solchen entstammt auch mein Ausgangsbeispiel. In einer im Jahre 2000 erschienenen Biographie über den amerikanischen Architekten F. L. Wright findet sich ein Satz, der eine Zukunftsprognose vom Jahr 1924 aus macht: (1) “In 1924, Wright met Olgivanna L.H. She would become his wife for the next 35 years.” (J. Rattenbury, A living architecture: Frank Lloyd Wright and Taliesin Architects, Pomegranate, San Francisco 2000, S. 19). 1 Dieser Satz kann in den romanischen Sprachen wiedergegeben werden als: Spanisch: En 1924 Wright conoció a Olgivanna, ésta sería su mujer / iba a ser su mujer… Französisch: En 1924, W. rencontra Olgivanna, elle serait / allait être sa femme… Italienisch: … que andava a divenire sua moglie per i 35 anni seguenti / oder auch: O. che stava per diventare sua moglie (e lo sarebbe rimasta…). Die Sprecher der romanischen Sprachen verwenden also für das historische Futur entweder eine Form des Conditionnel, die parallel zum synhetischen Futur gebaut ist, oder eine analytische Form, die aus dem Imparfait Indikativ eines Futurhilfsverbs und dem Infinitiv besteht. Deutsche Sprecher müssen für das historische Futur dagegen auf ein Modalverb ausweichen, denn das Deutsche kennt kein synthetisches Futur und folglich auch kein synthetisches Konditional, und es kann das zur Verfügung stehende Futurhilfsverb werden hier nicht verwenden, da dieses als Hilfsverb keine Vergangenheitstempora zulässt, sondern defektiv ist: Deutsch: 1924 traf Wright Olgivanna. Sie *wurde/ sollte … seine Frau werden. Ein anderer Bereich, in dem sich die Lücke im Paradigma bemerkbar macht, ist der der Redewiedergabe. Bezieht sich der Inhalt einer Rede auf die Zukunft, so liegt eine direkte Zukunftsprognose vom SZP aus vor, erfolgte die Rede zu einem Zeitpunkt der Vergangenheit, so liegt eine zeitversetzte Zukunftsprognose vom OZP aus vor, für deren Wiedergabe sich dasselbe formale Problem stellt: 1 Von zwei native speakern wurde ich darauf hingewiesen, dass dieser Satz archaisch wirke, besser sei She was to become his wife, oder: She would be his wife. Ich lasse den Satz aber wie im Original hier stehen. <?page no="376"?> Eine Lücke im Paradigma des deutschen Futurhilfsverbs werden 343 (2) Redewiedergabe von Zukunftsaussagen von vergangenem Zeitpunkt aus: Spanisch: Dijo que se casaría con él / Dijo que se iba a casar con él Französisch: Elle a dit qu'elle l'épouserait / qu'elle allait l'épouser Deutsch: Sie hat gesagt, sie *wurde / würde ihn heiraten. Die romanischen Sprachen verwenden wieder entweder das synthetische Conditionnel oder das Futurhilfsverb in einer Form des Imparfait / Imperfecto des Indikativs. Die deutschen Sprecher können hier zwar das Futurhilfsverb werden verwenden, aber nur in einer Form des Konjunktivs. Die Systematik der romanischen Beispiele und die Lücke im Deutschen wird deutlich, wenn wir direkte und zeitversetzte Zukunftsprognose gegenüberstellen: (3) Elle dit qu’elle viendra/ va venir. - Elle a dit qu’elle viendrait/ allait venir. On voit qu'il va pleuvoir. - On voyait qu'il allait pleuvoir. Sie sagt, sie wird es wieder tun. - Sie sagte, sie *wurde / würde es wieder tun. Das Problem taucht auch in der Zukunftsprognose des aktualen Sprechers oder Erzählers auf, die eigentliche Domäne des historischen Futurs. Man vergleiche die direkte und die zeitversetzte Zukunftsprognose des aktualen Sprechers, für die ich ein Beispiel wähle, in dem das Futur I nicht durch das Praesens ersetzt werden kann: (4) Man spürt, dass es regnen wird. - Man spürte, dass es regnen *wurde/ würde. Um historisches Futur, zeitversetzte Zukunftsprognosen, geht es schließlich auch in einem Bereich, der in litararischen Texten beliebt ist, weil er die Figur, deren Zukunftsprognose hier als “erlebtes Denken” (Zifonun et al. 1997: 1775) wiedergegeben wird, dem Leser besonders nahe rückt. Hier wird die Zukunftsprognose nicht wie in der Biographie in einem bestimmten vergangenen Zeitpunkt verankert, sondern im (fiktiven und ebenfalls) vergangenen Denken des Helden, wobei deiktische, eigentlich im SZP verankerte Zeitadverbiale (morgen, jetzt…) erhalten bleiben können. (5) Man erwartete Entscheidungen. Morgen früh war alles schon zu spät. (Latzel 1977: 133) Das “Erlebte Denken” wird nicht als reportiert gekennzeichnet, indem es unter Matrixverben des Denkens etc. eingebettet wird, wird aber auch nicht direkt wiedergegeben (das wäre: Morgen früh ist alles zu spät), sondern wird durch die Tempuswahl als zeitversetzte Zukunftsprognose gekennzeichnet. Bemerkenswert ist, dass hier neben der formal konjunktivischen würde- Konstruktion indikativische Formen auftreten, cf. Th. Mann: (5a) Tonio Kröger…stahl sich fort…und stellte sich vor ein Fenster. Hatte auch sie ihn verlacht? Ja, das hatte sie getan. … Man würde vielleicht einmal aufhören zu lachen! <?page no="377"?> Heide Wegener 344 … Es kam der Tag, wo er berühmt war, wo alles gedruckt wurde, was er schrieb, und dann würde man sehen, ob es nicht Eindruck machen würde… 2. Zur Grammatikalisierung des Futurhilfsverbs Vielleicht gibt uns die Entstehung des deutschen Futurhilfsverbs eine Erklärung für das Fehlen der Form des Praeteritum Indikativ. Deshalb soll hier ein Blick in die Entstehungsgeschichte erfolgen, was bedeutet, die Grammatikalisierung dieses Hilfsverbs kurz zu beleuchten. werden ist ursprünglich ein Bewegungsverb mit der Bedeutung ‘(sich) drehen, wenden’ (Duden 1963: 761), cf. lat. vertere, nhd. ‘sich entwickeln’. Laut Diewald / Habermann (2005: 235) hatte es als Vollverb die lexikalische Bedeutung ‘entstehen, zustande kommen’, die heute noch in archaischen oder festen Wendungen existiert: (6) Jedes Leben wird und vergeht. 2 Es werde Licht (= ‘entstehen’), Das kann ja noch werden (= ‘sich entwickeln’). Die im Vollverb angelegte ingressive oder ‘Change’-Komponente ist auch in der Kopula vorhanden (Das wird eine Brücke), die also den Eintritt in einen neuen Zustand bezeichnet, und so mächtig, dass sie lokalisierende Präpositionalphrasen wie bei den anderen Kopulae und damit eine Interpretation als ‘befindet sich’ ausschließt: (7) die Geisel ist / bleibt / wird frei / befreit, sie ist / bleibt / *wird in Gefangenschaft Diese Komponente begünstigt seine Entwicklung zu zwei Hilfsverben, zum Passivwie auch zum Futurhilfsverb (cf. Wegener 2008). Letzteres entsteht ebenfalls aus der Kopula, die im Ahd. und Mhd. neben der Konstruktion mit Partizip Perfekt Passiv eine mit Partizip Praesens Aktiv bildete. Diese ist ursprünglich ebenfalls ingressiv, denotiert also den Eintritt einer neuen Handlung, wird aber schon Mhd. als Futurtempus gebraucht: (8) nu uuirdist thú suigenti ( = nun wirst du schweigend ,‘beginnst du zu schweigen’ Tatian 2,9), Sant Paulus sprichet ‘wir werden got bekennende als wir bekannt sin’. Als got sich selben bekennet, also werden wir in bekennende…’ (Meister Eckhart, Mitte 14. Jh., nach Diewald/ Habermann 2005: 242) In Analogie zu anderen Phasenverben (beginnen, aufhören...), die häufig mit Infinitiv ohne zu konstruiert wurden, wurde dann das Partizip Praesens 2 Zitiert nach Fabricius-Hansen (2000: 84). <?page no="378"?> Eine Lücke im Paradigma des deutschen Futurhilfsverbs werden 345 durch den Infinitiv ersetzt, 3 die Kopula somit zum Hilfsverb, das sich im 16. Jahrhundert als Futurhilfsverb fest etabliert (Paul 1920: 126f, 147f). (9) Wan unser herre sprach ‘selic sint, diu reiniu herze habent, wan sie unser werdent sehen’ (ebd.) Der her ist nahe allen den leidenden und wirt yhn helffen (Luther 1520, nach DH 2005: 245) Solange die Konstruktion mit Partizip Praesens und zunächst auch die mit Infinitiv noch das ingressive Moment enthielten, konnte der Eintritt einer neuen Handlung auch für einen Punkt in der Vergangenheit dargestellt werden: sie wurde redend = ‘begann zu reden’, wobei werden dann in einem Vergangenheitstempus auftrat. Im Praeteritum Indikativ findet es sich noch bei Luther, und sogar im Perfekt bei Storm: (10) Moses aber ward zittern (‘begann zu zittern’, Luther, cf. Paul 1920: 127). Wie fremd er aussehen worden ist (‘wie fremd er plötzlich aussah’, ‘er anfing auszusehen’, Storm, cf. Paul 1920: 127) Wie das Passivhilfsverb, so verliert auch das Futurhilfsverb die ingressive Komponente und wird zum reinen Futurmarker, kompatibel mit Verben jeglicher Aktionsart, telischen und atelischen. Es bezeichnet also nicht mehr den Eintritt einer Handlung, sondern zukünftiges Geschehen, siedelt die Handlung in der Zukunft an und hat dann rein temporale Bedeutung: (11) Ich werde das Haus kaufen und ich werde es als Atelier nutzen. (12) In ca. 15 Minuten werden wir in Berlin landen. Das erklärt jedoch nicht, warum mit dem Verlust der ingressiven, der ‘Change’-Komponente auch die Möglichkeit eines historischen Futurs, einer in der Vergangenheit verankerten Zukunftsprognose, verschwindet. Auf jeden Fall kennt das nhd. Paradigma des Futurhilfsverbs keine Praeteritumformen. Aufgrund dieser Lücke im Paradigma fehlt für zeitversetzte Zukunftsprognosen die zu erwartende Form: (13) Ich wusste, ich *wurde/ würde das Haus verkaufen. Ich wusste nicht, dass ich das Haus wenig später verlieren *wurde/ würde/ sollte. (14) Goethe kam nach Rom und *wurde / sollte / würde dort Anna treffen. 3 Diese Entwicklung kann auch durch formale Reduktion der Form des Partizips erfolgt sein, was hier unerheblich ist, zur Diskussion cf. Paul (1920: 127), Diewald / Habermann (2005: 237). <?page no="379"?> Heide Wegener 346 3. Die Ersatzkonstruktionen Für das nicht (mehr) zur Verfügung stehende Praeteritum Indikativ des Futurhilfsverbs verwendet der deutsche Sprecher unterschiedliche Ersatzkonstruktionen: 1. das Praeteritum des Modalverbs sollen, (cf. (1) sie sollte seine Frau werden), wird dann gebraucht, wenn die zeitversetzte Zukunftsprognose vom Sprechzeitpunkt aus als erfüllt angesehen wird. Die Form, die modusambig ist, da sollen als schwaches Verb nur eine Form für Indikativ und Konjunktiv Praeteritum kennt, ist deshalb als Indikativ anzusehen. Das Modalverb sollte drückt hier, als Ersatz für *wurde, weder deontischmodal eine durch den Willen eines anderen auferlegte Verpflichtung aus noch epistemisch-modal eine Vermutung, sondern leistet eine zeitversetzte Zukunftsprognose. Die Konstruktion lässt sich kompositionell erklären: Wie das Futurhilfsverb werden neben der temporalen eine modale Komponente enthält, so enthält umgekehrt das Modalverb sollen wie alle Modalverben eine temporale Komponente, und zwar einen Zukunftsbezug, weisen sie doch auf Ereignisse hin, die noch nicht realisiert sind, die bevorstehen. Die Form des Praeteritums signalisiert dabei, dass das erwartete Ereignis zu einem vergangenen Zeitpunkt bevorstand, vom aktualen Zeitpunkt aus gesehen aber vergangen ist. Sollen ist hier kein Modalverb, sondern ein Futurhilfsverb, das im Mhd. ebenfalls “auf ein zukünftiges Geschehen hinweisen” konnte (Paul 1920: 147), diese Funktion aber nur in Relikten bewahrt hat: (15) ich sol dich wol behüeten, (Nibelungenlied, Paul 1920: 127) swaz der küneginne liebes geschiht, des sol ich ir wol gunnen (NL 1204,3, cf. Diewald/ Habermann 2005: 234) cf. nhd. wo soll das hinführen? wie soll das weitergehen? 2. Die neutrale, nicht an nachträgliches Wissen gebundene und am häufigsten gebrauchte Ersatzkonstruktion besteht in einer Form des Konjunktiv Praeteritum von werden + Infinitiv: (16) er weiß was geschehen wird - er wusste, was geschehen würde Damit verwendet das Deutsche für das Futur Praeteritum eine Form, die identisch ist mit der Form, die als Modus Konditional im Hauptsatz von irrealen Bedingungssätzen auftritt. Obwohl formal ein Konjunktiv, ist umstritten, ob es sich dabei wie bei den Imparfait-Formen der romanischen Sprachen - nicht um eine Form des Indikativs handelt, cf. ihre doppelte Klassifizierung als Indikativ und Konjunktiv bei Thieroff (1992: 17) und Welke (2005: 469). In vielen Sprachen sind Formen des Futur Praeteritum identisch mit denen des Konditional, so im Englischen, Niederländischen, Schwedischen, <?page no="380"?> Eine Lücke im Paradigma des deutschen Futurhilfsverbs werden 347 Französischen, Italienischen, Spanischen, Portugiesischen, Rumänischen, Bulgarischen, Makedonischen, Neugriechischen, Albanischen, Altirischen, Türkischen, Koreanischen (Comrie 1985: 75, Thieroff 1992: 141) - die Frage ist, ob daraus auf eine Affinität zwischen Futur Praeteritum und dem Modus Konditional geschlossen werden kann. 4. Die Verwendungskontexte Eine solche Affinität liegt tatsächlich vor, und sie erklärt sich aus den Verwendungskontexten, in denen die würde-Konstruktion hauptsächlich auftritt. Der Kernbereich umfasst (nach Fabricius-Hansen 2000) zwei Bereiche: 4.1. Irrealitätskontexte In irrealen Bedingungssätzen alterniert die würde-Konstruktion als analytische Konstruktion mit dem ‘synthetischen’ Konjunktiv Praeteritum und erfüllt hier eine typisch konjunktivische Funktion: sie verlegt das Geschehen in eine irreale Welt, drückt Kontrafaktizität aus: (17) Wenn ich Geld hätte, flöge ich zu dir/ würde ich zu dir fliegen. Fabricius-Hansen (2000: 91) erklärt die würde-Konstruktion kompositionell, “als irrealer Konjunktiv des mit der Fügung werd-+Inf ausgedrückten ‘Non- Realis’”, die “markiert, dass wir aus der Sicht der Sprecherin die Faktenwelt verlassen; und der präteritale Konjunktiv verschiebt die Welt-Origo weiter ins Irreale”. Tatsächlich enthalten schon die Praesens Indikativ-Formen von werd- + Infinitiv eine modale Komponente, denn als Futurhilfsverb erfüllt werden nicht nur eine temporale Funktion, indem es das Geschehen in eine Zeit nach dem Sprechzeitpunkt ansiedelt. Die Formen können je nach Kontext auch modale Bedeutung aufweisen: (18) a. wenn ich ankomme, wirst du schon schlafen / schon eingeschlafen sein b. da sie nicht antwortet, wird sie schlafen / wird sie eingeschlafen sein, Im b-Satz wird das Geschehen nicht in die Zukunft verlegt, sondern findet gegenwärtig statt. Die Konstruktion ist daher nicht temporal, nur modal interpretierbar, als Ausdruck einer epistemischen Einstellung des Sprechers, einer Vermutung. Der a-Satz kann temporal, aber auch modal gedeutet werden, wobei die modale Komponente darauf beruht, dass Aussagen über zukünftige Ereignisse nicht auf beobachteten Fakten beruhen können, dass dem Sprecher für Behauptungen über zukünftiges Geschehen im Gegensatz zu solchen über gegenwärtiges oder vergangenes Geschehen “die nötige Evidenz fehlt, um es dem Bereich der Fakten zuschlagen zu können” (Fabricius-Hansen 2000: 87). Dieser modale Faktor, der unabhängig von der Akti- <?page no="381"?> Heide Wegener 348 onsart der Verben existiert, wird vor allem dann wirksam, wenn das Geschehen durch den Kontext nicht als zukünftig interpretiert werden kann, ansonsten ist temporale Interpretation wie bei der Ankündigung des Piloten in (12) dominant. 4.2. Indirektheitskontexte Hier handelt es sich um Zukunftsprognosen eines reportierten Sprechers, wobei eine andere Sprecherperspektive als die des aktualen Sprechers vorliegt, in abhängigen, d.h. durch einen Matrixsatz mit einem Verb des Sagens und Denkens eingeleiteten wie auch in unabhängigen Sätzen, d.h. in indirekter oder erlebter Rede. Hier hat die würde-Konstruktion Zukunftsbezug, entspricht wird+Infinitiv der direkten Rede: 4 (19) Sie sagt, sie wird es wieder tun - Sie sagte, sie *wurde / würde es wieder tun. Nach Thieroff (1992), Zifonun et al. (1997) liegt mit der würde-Konstruktion für das historische Futur ein indikativisches Futur Praeteritum vor, für Fabricius-Hansen (2000: 92) hat die Konstruktion als Markierung einer verschobenen Personenperspektive jedoch “eine typisch konjunktivische Funktion”, denn eine Verschiebung der Personenperspektive mit Bezug auf Geschehen, das “zwischen der aktualen Sprechzeit und einer in die Vergangenheit verlagerten neuen Origo” liege, verlange eine deutliche Markierung. Gegen diese Erklärung ist jedoch einzuwenden, dass im Indirektheitskontext der Konjunktiv Praesens vollkommen ausreicht, als Mittel der Distanzierung von Aussagen, für die der Sprecher keine Gewähr übernimmt. Allerdings sind dessen Formen in mehreren Positionen des Paradigmas morphologisch ungenügend distinkt vom Indikativ Praesens. Nur deshalb tritt der Konjunktiv Praeteritum dann als Ersatz auf, sowohl in der synthetischen wie in der analytischen Form: (19') Sie sagen, sie werden es tun.- Sie sagten, sie *werden/ würden es wieder tun. Sie sagen, sie tun es wieder.- Sie sagten, sie ? tuen/ täten es wieder. Für die Verwendung der würde-Konstruktion zum Ausdruck der ‘Zukunft in der Vergangenheit’ ist außerdem zu bedenken, dass der Konjunktiv Praesens im heutigen Deutsch so eindeutig auf Redewiedergabe festgelegt ist, dass er für Erlebte Rede und Zukunftsprognosen des Erzählers nicht in Frage kommt, etwa im Th.-Mann-Beispiel (5a). Hier würde ein Satz entstehen, der nur im Kontext der Redewiedergabe möglich ist, nur eingebettet (explizit oder implizit) unter einem Matrixsatz “sagte er” erscheinen kann: 4 Nur bei starken Verben mit morphologisch eindeutigen Formen auch mit Konjunktiv Praeteritum-Formen des Hauptverbs: sie sagte, sie käme später. <?page no="382"?> Eine Lücke im Paradigma des deutschen Futurhilfsverbs werden 349 (5a') Man werde vielleicht einmal aufhören zu lachen… und dann werde man sehen, ob es nicht Eindruck machen werde… 4.3. Zeitversetzte Zukunftsprognosen in Biographien Beim historischen Futur, der zeitversetzten Zukunftsprognose in präteritalen Erzähltexten wie im Ausgangsbeispiel (1), liegt nun aber keine Verschiebung der Personenperspektive und auch keine Verlagerung der Welt-Origo ins Irreale vor. Es handelt sich ja um Zukunftsprognosen des aktualen Sprechers, des Erzählers, um die Erzählerperspektive also, nicht um eine Figurenperspektive wie bei der Erlebten Rede, allerdings zeitversetzt. Es liegt also kein Indirektheitskontext vor. Fabricius-Hansen (2000: 95) betrachtet die würde-Konstruktion hier als eine “sekundäre Verwendung”, im Duden (2009: 539) als “uneigentliche Verwendung”, da hier der “typisch konjunktivische Bereich verlassen” sei. Sie sieht hier “epistemische Sprecherperspektive und Zeitperspektive” auseinanderklaffen, was die “sekundäre Verwendung” der würde-Konstruktion erkläre (und es erlaube, die Konstruktion hier doch als indikativisches Futur Praeteritum einzustufen). Die würde-Konstruktion hätte sich demnach vom Kernbereich, der Markierung von Irrealität, auf die von Indirektheit ausgedehnt und weiter in einen Bereich, wo sie eigentlich nicht berechtigt ist. Sie hätte sich also vom typisch konjunktivischen Kontext des irrealen Bedingungssatzes in einen Bereich ausgedehnt, der weder zum Bereich der Irrealität noch dem der Indirektheit gehört, sondern lediglich zum Bereich des nicht durch faktische Evidenz gesicherten Zukünftigen, zukünftig allerdings von einem Punkt der Vergangenheit aus gesehen. Während für Zukunftsprognosen vom Sprechzeitpunkt aus ganz klar indikativische Formen gebraucht werden, ist synchron gesehen nicht klar, warum deutsche Sprecher für das historische Futur nicht die ja vorhandene Form des Indikativ Praeteritums wurde (+ Infinitiv) gebrauchen. Die detaillierteste Analyse der würde-Konstruktion findet sich in Welke (2005: 450seqq), der zwei Wege ihrer Entwicklung annimmt und wie Thieroff (1992) für den Ausdruck der ‘Zukunft in der Vergangenheit’ ein indikativisches Tempus annimmt. Er klassifiziert die würde-Konstruktion mehrfach, nämlich u.a. als Konjunktiv des Futur Praeteritum, so verwendet in Indirekter Rede mit Zukunftsbezug, Konjunktiv Praeteritum zum Futur, so verwendet in irrealen Bedingungssätzen, Futur Praeteritum, so verwendet in deixis-verschobener Erlebter Rede (aus der Figurenperspektive) und nicht-deixisverschobenem histori- <?page no="383"?> Heide Wegener 350 schem Futur zum Ausdruck der ‘Zukunft in der Vergangenheit’ aus der Erzählerperspektive (2005: 469). würde ist zwar Konjunktiv zu der verloren gegangenen Form *wurde + Infinitiv, hat sich aber nach Welke (2005: 452) “unter Reduktion der Konjunktiv- Bedeutung” zu der “eher indikativischen Bedeutung ‘Zukunft in der Vergangenheit’” entwickelt. Welke zufolge hat sich der Konjunktiv Praeteritum anstelle des Indikativs durchgesetzt, weil im Mhd. und Fnhd. 1. nach Verben des Meinens, Glaubens etc, nicht-faktiven Verben, ein Konjunktiv verlangt war, und weil 2. zu dieser Zeit die Consecutio temporum stärker beachtet wurde, sodass nach einem Matrixverb in einem Vergangenheitstempus im abhängigen Satz ein Praeteritum stehen musste. Erst im Fnhd. bildete sich der Konjunktiv Praesens für die Redewiedergabe heraus. Die würde-Konstruktion für die zeitversetzte Zukunftsprognose hätte sich demnach vom abhängigen Satz in den nicht abhängigen ausgedehnt. Nach Welke (2005: 450seqq) hat sich die konditionale Verwendung und Bedeutung für Irrealitätskontexte unabhängig entwickelt, für die Verwendung als historisches Futur ist nur der Indirektheitskontext ausschlaggebend. Demnach hätte sich die konjunktivische Form bewahrt, weil sie im 15. Jahrhundert so gefordert war. Ereignisse, die im Historischen Futur als zukünftig vorausgesehen werden, stehen in temporaler Hinsicht in einer widersprüchlichen Position: sie sind von dem vergangenen Zeitpunkt aus, zu dem sie gedacht, gesagt, … wurden, zukünftig, vom aktualen Zeitpunkt aus aber vergangen. Nach Paul (1920: 148) und Welke (2005: 450) ist dieser Widerspruch dafür verantwortlich, dass die indikativischen Praeteritum-Formen von werden, nachdem dieses zum temporalen Futurhilfsverb ohne ingressive Komponente geworden war, nicht mehr gebraucht wurden. Thieroffs und Welkes Auffassung wird bestätigt durch Positionen der französischen Grammatiker hinsichtlich der identischen Formen von Conditionnel und Futur du passé. Diese indikativischen Formen können i.w. dieselben temporalen und modalen Bedeutungen ausdrücken wie die würde- Konstruktion, s.u. Die französischen Grammatiker (Chevalier et al. 1964, Grevisse 1969) unterscheiden nun strikt zwischen valeur modale und valeur temporelle. Grevisse (1969: 679seq) verwendet den Terminus “conditionnel” sogar nur für den modalen Bereich, (Irrealitätskontexte), als Futur du passé habe dieselbe Form “rien du mode conditionnel et n'implique nullement l'idée de doute, d'éventualité, de condition: c'est la transposition dans le passé (...)” einer Zukunftsprognose. <?page no="384"?> Eine Lücke im Paradigma des deutschen Futurhilfsverbs werden 351 4.4. Erlebte Rede Die Bewahrung des Konjunktivs im Deutschen ist umso bemerkenswerter, als in einem wichtigen Anwendungsbereich der Konstruktion, der Erlebten Rede, Indikativformen auftreten. Hier wird die zeitversetzte Zukunftsprognose von einer (fiktiven oder historischen) Figur selbst und nicht vom Erzähler ausgesprochen. Hier spricht eine Figur, liegt also Figurenperspektive vor, im narrativen Text der Erzähler selbst. In Bezug auf die Verankerung der Zukunftsprognose in der Vergangenheit unterscheiden sich diese beiden Verwendungen nicht, und auch nicht im Wahrheitsanspruch, den sie für die Zukunftsprognose erheben. Man vergleiche die Verbformen, die P. Süskind verwendet: (20) Ich lenkte die Gedanken… auf die Vorstellung meiner eigenen Beerdigung. Oh, es würde eine prächtige Beerdigung werden! Die Kirchenglocken würden klingen, die Orgel würde brausen, der Friedhof könnte die Menge der Trauernden kaum fassen. Ich läge auf Blumen gebettet…und um mich wäre nichts als ein großes Schluchzen. Es schluchzten meine Eltern…, es schluchzten die Kinder aus meiner Klasse, es schluchzten … von weither waren Verwandte und Freunde gekommen, und alle schlugen sich, während sie schluchzten, vor die Brust und brachen in Wehklagen aus und riefen…Und am Rande meines Grabes stand Carolina und warf mir einen Strauß Blumen nach und rief… (Geschichte von Herrn Sommer, p. 97seq) Neben der würde-Konstruktion findet sich hier Konjunktiv Praeteritum (könnte, läge, wäre), modusambige Formen (schluchzten, riefen), aber auch eindeutiger Indikativ (waren gekommen, schlugen, brachen, stand, warf, rief). Die Konjunktivformen bedeuten keine Verlegung des Geschehens ins Irreale, sondern sind die synthetische Entsprechung zur analytischen würde- Konstruktion und mit dieser gleichwertig, beide dienen dem Ausdruck von ‘Zukunft in der Vergangenheit’. Der vorherrschende Indikativ Praeteritum, cf. auch Beispiel (5a) von Th. Mann, beruht nun aber nicht darauf, dass das Ereignis weniger als zukünftig (von einem Punkt der Vergangenheit aus) denn als vergangen (vom gegenwärtigen Zeitpunkt aus) gesehen wird, was ja in der Erlebten Rede gar nicht möglich ist. Vielmehr wird in erlebter Rede das indikativische Praeteritum anstelle eines Futur Praeteritum genau wie das Praesens anstelle eines Futur I in direkter Rede gebraucht. Unklar ist aus synchroner Sicht aber nach wie vor, warum Vollverben im Indikativ Praeteritum, nicht aber das Futurhilfsverb in dieser Form auftreten kann. 5. Vergleich romanische Sprachen und Deutsch In Ergänzung zur historischen Erklärung in Welke 2005 möchte ich versuchen, das Fehlen der indikativischen Form *wurde + Infinitiv durch einen <?page no="385"?> Heide Wegener 352 synchronen Vergleich mit den für das historische Futur in einigen romanischen Sprachen verwendeten Formen zu erklären. Auch im Französischen und Spanischen (und vielen anderen Sprachen, s.o.) wird das Futur Praeteritum durch dieselbe Form wiedergegeben, die a) den Folgesatz in irrealen Bedingungsgefügen markiert, b) Zukunftsprognosen von reportierten Sprechern indirekt wiedergibt. Die Verwendungsbereiche der würde-Konstruktion entsprechen also denen des französischen Conditionnel. (21) Si j'avais de l'argent, je viendrais. Elle a dit, qu'elle l'épouserait. En 1924, il rencontra O. Elle serait sa femme… Hier ein Überblick über die verwendeten synthetischen und analytischen Formen, für Geschehen, das als zukünftig gesehen wird. vom SZP aus von einem vergangenen Zeitpunkt aus E nach S E nach O & O vor S (Thieroff 1992: 156) (22) mit synthet. Futurformen Frz elle sera sa femme elle serait sa femme (Kopula) elle l'épousera elle l'épouserait (Vollverb) Span sera su mujer sería su mujer se casara con él se casaría con él Engl -------- -------- Deu -------- -------- (23) mit analytischen Futurformen Frz elle va être sa femme elle allait être sa femme elle va l'épouser elle allait l'épouser Engl she will become his wife she would become his wife Span va a ser su mujer iba a ser su mujer se va a casar con él se iba a casar con él Deu sie wird seine Frau sein sie *wurde seine Frau sein sie wird ihn heiraten sie *wurde ihn heiraten Nicht nur die synthetischen, auch die analytischen Formen des Futur du passé oder Conditionnel sind im Französischen (und Spanischen etc.) zusammengesetzt aus Morphemen des Imparfait und des Futur I. (Entsprechendes gilt für das Conditionnel passé bzw das Futur antérieur du passé). Im Falle der synthetischen Formen aus dem Morphem des Imparfait, das sich besonders klar bei den Pluralformen isolieren lässt, nämlich -i-, und der Infinitivendung -er, im Falle der analytischen Formen aus den Formen des <?page no="386"?> Eine Lücke im Paradigma des deutschen Futurhilfsverbs werden 353 Futurhilfsverbs (im Französischen, auf das ich mich hier beschränke, aller) und dem Infinitiv. Die Formen des Futur Praeteritum, des Futur du passé sind also eine Kombination aus Morphemen des Imparfait und des Futur I: (24) Présent Imparfait Futur I FP Frz il aime aim-ait aim-er-a aim-er-ait nous aim-ons aim-i-ons aim-er-ons aim-er-i-ons il va allait va aimer allait aimer Deu er wird wurde wird gehen *wurde gehen Die Morphologie der Formen in den romanischen Sprachen, aber auch im Bulgarischen und im Türkischen, deutet darauf hin, dass ihre primäre Bedeutung ‘Zukunft in der Vergangenheit’ ist (Thieroff 1992: 142). Für das Deutsche lassen sich naturgemäß keine synthetischen Formen finden, wohl aber analytische. Jedoch enthalten diese eben nicht die Morpheme des Indikativs, sondern die des Konjunktivs Praeteritum des Hilfsverbs werden. Die Frage ist, ob es eine synchrone Erklärung dafür gibt, dass das Deutsche die zeitversetzte Zukunftsprognose im Konjunktiv markiert. Eine mögliche Erklärung hierfür liegt darin, dass das deutsche Praeteritum einen anderen Stellenwert hat als das Imperfekt der romanischen Sprachen. Dies wird durch einen Überblick über die Vergangenheitstempora des Französischen und Spanischen einerseits, des Deutschen andererseits sofort klar: Imparfait und Praeteritum im Paradigma der Vergangenheitstempora: (24) F Imparfait Passé simple Passé composé elle l'épousait elle l'épousa elle l'a épousé S Imperfecto Preterito Perfecto se casaba se casó se ha casado D Praeteritum ----------- Perfekt sie heiratete ihn ----------sie hat ihn geheiratet Die romanischen Sprachen verfügen über ein 3-gliedriges System der Vergangenheitstempora, dem steht ein nur 2-gliedriges System im Deutschen gegenüber. Der Einfachheit halber wollen wir annehmen, dass das deutsche Perfekt dem passé composé oder perfecto der romanischen Sprachen nicht nur formal - als analytische Tempusform, zusammengesetzt aus Hilfsverb und Partizip Perfekt - entspricht, sondern auch funktional. Dann stehen dem deutschen Praeteritum in den romanischen Sprachen zwei Tempora <?page no="387"?> Heide Wegener 354 gegenüber, das französische Imparfait und das Passé simple. Diese unterscheiden sich nicht in temporaler Hinsicht, sie verweisen auf vergangene Ereignisse derselben Zeitstufe, aber in aspektueller und in modaler Hinsicht. Das französische Imparfait (< imperfectum) (und ebenso das spanische Imperfecto) hat stärker als das deutsche Praeteritum eine aspektuelle Komponente, es ist ein Tempus für unabgeschlossene Vorgänge und Handlungen, d.h. es zeigt, im Gegensatz zum Passé simple oder Passé composé, Geschehen im Verlauf an, seine Dauer, aber weder Anfangsnoch Endpunkt. Die wesentlich stärker ausgeprägte aspektuelle Komponente der französischen Vergangenheitstempora erlaubt dem Sprecher, zwischen unabgeschlossenen und abgeschlossenen Handlungen durch die Verbform zu unterscheiden und durch Kombination beider Tempora zwischen Ereignissen, die (noch) andauern und solchen, die kurzfristig auftreten und abgeschlossen werden, ein Bild von Hintergrund und Vordergrund zu schaffen. Dafür möge hier eine der Queneauschen Stilübungen mit ihrer deutschen Übersetzung stehen. Im französischen Original findet sich ein Wechsel zwischen Imparfait- und Passé simple-Formen, in der deutschen Fassung ausschließlich die Formen des epischen Praeteritums: (26) “Nous étions Imp quelques-uns à nous déplacer de conserve. Un jeune homme, qui n'avait Imp pas l'air très intelligent, parla Ps quelques instants avec un monsieur qui se trouvait Imp à co té de lui, puis il alla Ps s'asseoir. Deux heures plus tard, je le rencontrai Ps de nouveau; il était Imp en compagnie d'un camarade et parlait Imp chiffons.” (R. Queneau, Exercices de style, Litotes, Gallimard 1947/ 1995: 10) (26') “Wir waren Pt einige, die gemeinsam eine Fahrt machten Pt . Ein junger Mann, der nicht gerade intelligent aussah Pt , sprach Pt einige Augenblicke mit einem Herrn, der neben ihm stand Pt , dann ging Pt er und setzte Pt sich. Zwei Stunden später begegnete Pt ich ihm von neuem; er war Pt in Gesellschaft eines Kameraden und sprach Pt von Klamottten.” (R. Queneau, Stilübungen, übers. L. Harig/ E. Helmlé, Suhrkamp 1990: 10) Wenn, wie oben angenommen, das deutsche Perfekt dem französischen passé composé entspricht, so übt das deutsche Praeteritum die Funktionen von Imparfait und passé simple zugleich aus und stellt deshalb kein Imperfekt dar. Die Darstellung in (25) muss daher durch die folgende korrigiert werden: (27) F Imparfait Passé simple Passé composé elle l'épousait elle l'épousa elle l'a épousé D Praeteritum Perfekt sie heiratete ihn sie hat ihn geheiratet <?page no="388"?> Eine Lücke im Paradigma des deutschen Futurhilfsverbs werden 355 Im Deutschen dient das Praeteritum zwar auch für unabgeschlossene, aber je nach Aktionsart des Verbs eben auch für abgeschlossene Handlungen/ Ereignisse: (28) Als ich nach Hause kam, schneite es. Goethe starb 1832. Sie hörten die 5. Symphonie von Beethoven, … Ich kam, sah und siegte. Das romanische Imparfait als Tempus für unabgeschlossene Vorgänge und Handlungen enthält oder entwickelt darüber hinaus eine modale Komponente. Es kann auch für die Darstellung von Ereignissen gebraucht werden, die nicht real stattgefunden haben, sondern nur vorgestellt wurden, nur im Bereich des Möglichen angesiedelt sind, nicht des Faktischen. Dazu gehören: das Imparfait de tentative, “Proximativ”: (29) Un pas de plus et je tombais D: Noch ein Schritt, und ich *fiel, wäre gefallen Dieser Satz sagt aus, dass zu einem vergangenen Zeitpunkt die Gefahr zu fallen bestand, ein Fallen bevorstand, und in der Regel gibt der Kontext dann an, dass das Ereignis nicht eintrat, also nur vorgestellt war. Dafür muss deutsch ein Konjunktiv gebraucht werden, denn das Praeteritum eines perfektiven Verbs wie fallen bedeutet, dass der Vorgang zum Abschluss gelangte. Ähnliches gilt für das Imparfait hypothétique. In den genannten Sprachen steht im Bedingungssatz neben dem Conditionnel im Hauptsatz im mit Äquivalenten von wenn eingeleiteten Nebensatz kein Konjunktiv (außer im Italienischen), sondern der Indikativ Imparfait. Da der Inhalt ganz klar nur vorgestellt, nicht-faktisch, also irreal ist, hat die Form hier modale Bedeutung. (30) Si j'avais de l'argent,… D: wenn ich Geld *hatte/ hätte,… Darüber hinaus kann auch der Hauptsatz statt des erwarteten Conditionnel ein Imparfait enthalten (Imparfait de conséquence infaillible, s. Grevisse 1966: 671): (31) Si vous n'étiez pas venu, je vous faisais appeler D: ich hätte Sie rufen lassen / *ließ Besonders Modalverben können in Hauptsätzen außerhalb von Bedingungsgefügen auf ein irreales, nicht eingetretenes Ereignis verweisen. “L'imparfait peut exprimer un fait qui devait/ pouvait avoir lieu à un moment du passé mais qui ne s'est pas accompli” (Grevisse 1969: 671). (32) Je devais le prévoir (= j'aurais du , D: ich hätte es vorhersehen müssen, *musste) Il fallait me le dire (= aurait fallu, D: man hätte es mir sagen müssen, / *musste) <?page no="389"?> Heide Wegener 356 Im Gegensatz dazu ist das deutsche Praeteritum kein ‘Imperfekt’. Zwar kann auch das sog. prospektive Praeteritum auf nur vorgestellte Ereignisse hinweisen, aber diese Verwendung ist schriftsprachlich, in der Umgangssprache ausgeschlossen, literarisch markiert für die Wiedergabe erlebter Rede: (33) Ich sah mir meine Medaillen an. In 10 Jahren schwamm ich keine Rekorde mehr. (Latzel 1977: 133) Die Formen des Praeteritums anstelle der würde-Konstruktion entsprechen zwar vollständig den gerade in der Umgangssprache häufig gebrauchten Formen des Praesens anstelle von FuturI, kommen aber in der Umgangssprache nicht vor, vereinzelt jedoch im Zeitungstext: (34) Zehntausende DDR-Bürger drängten sich vor der Deutschen-Bank-Filiale… gleich wurde die DM ausgegeben. (= würde ausgegeben werden, Berliner Zeitung 1.7.2010, S. 6 (20 Jahre Währungsunion, Einführung der DM) Dem deutschen Indikativ Praeteritum fehlt nicht nur die aspektuelle, sondern auch die modale Komponente, der Konjunktiv der würde- Konstruktion markiert die Nicht-Abgeschlossenheit, die Noch-Nicht- Realisierung des Geschehens in der zeitversetzten Zukunftsprognose deutlicher. Wir können die zeitversetzte Zukunftsprognose als eine Variante der Erlebten Rede betrachten. Im Gegensatz zu dieser liegt keine verschobene Sprecher-, sondern nur eine verschobene Zeitperspektive vor, sie entspricht der Wiedergabe (eigenen) früheren Wissens: (35) Goethe kam nach Rom und - ich wusste - er würde dort Anna treffen. Dann erklärt sich der formale Konjunktiv dieses indikativischen Tempus als ein Mittel der Verstärkung. Bibliographie Chevalier, Jean-Claude et al. (1964): Grammaire Larousse du Fran ais contemporain, Paris: Larousse. Comrie, Bernard (1985): Tense, Cambridge: Cambridge University Press. Diewald, Gabriele / Habermann, Mechthild (2005): “Die Entwicklung von werden + Infinitiv als Futurgrammem”, in: Torsten Leuschner / Tanja Mortelmans / Sarah de Grodt (Eds.), Grammatikalisierung im Deutschen, Berlin: de Gruyter, 229-250. Duden (1963): Das Herkunftswörterbuch, Mannheim: Bibliograph. Institut. Duden (2009): Die Grammatik, 8. Auflage, Mannheim: Bibliograph. Institut. Fabricius-Hansen, Cathrine (2000): “Die Geheimnisse der deutschen würde-Konstruktion”, in: Rolf Thieroff et al. (Eds.), Deutsche Grammatik in Theorie und Praxis, Tübingen: Niemeyer, 83-96. Grevisse, Maurice (1969): Le bon usage, Gembloux: Duculot. <?page no="390"?> Eine Lücke im Paradigma des deutschen Futurhilfsverbs werden 357 Kotin, Michail (2000): “Zur Diachronie von ‘werden’: Vollverb-Kopula-Auxiliar”, in: Ewald Lang (Ed.), Copular and AUX-Constructions, 31-67. (= ZAS Papers in Linguistics 16). Latzel, Sigbert (1977): Die deutschen Tempora Perfekt und Praeteritum, München: Hueber. Paul, Hermann (1920): Deutsche Grammatik, Bd. IV: Syntax, Tübingen: Niemeyer. Reichenbach, Hans (1947/ 1966): Elements of Symbolic Logic, New York: Free Press. Thieroff, Rolf (1992): Das finite Verb im Deutschen. Tempus - Modus - Distanz, Tübingen: Stauffenburg. Wegener, Heide (2008): “Übergänge. Zur Grammatikalisierung der Hilfsverben”, in: Thomas Stehl (Ed.), Kenntnis und Wandel der Sprachen, Tübingen: Narr. Welke, Klaus (2005): Tempus im Deutschen, Berlin: de Gruyter. Zifonun, Gisela / Hoffmann, Ludger / Strecker, Bruno (1997): Grammatik der deutschen Sprache, Bd. 3, Berlin: de Gruyter. <?page no="392"?> Harald Thun Die diachrone Erforschung der français régionaux auf der Grundlage des Corpus Historique du Substandard Français 0. Gemeinsame Interessen Zu den vielen Interessen, die Thomas Stehl und ich teilen, gehört auch das an der Geschichte der Alphabetisierung und das an der Dokumentation der Sprache großer Bevölkerungsgruppen. Vielleicht interessiert ihn deshalb auch die folgende Beschreibung eines laufenden Forschungsprojekts. 1. Die Lücke in der Historiographie der französischen Sprache Niemand wird bestreiten, dass selbst im Kreise der vielbeschriebenen europäischen Sprachen die Geschichte der französischen Gemeinsprache gut dasteht. Aber bis in die neuesten Sprachgeschichten hinein klafft auch in der Historiographie des Französischen eine große Lücke. Über lange Zeiträume wird nämlich nicht die Sprache des französischen Volkes, verstanden als demographische Mehrheit, beschrieben, sondern die einer Minderheit. Dies meint: die Sprache der schriftfähigen und schreibgewohnten Elite. Auf die Sprache der Mehrheit wird bestenfalls aus der Sprache der Minderheit, aus ihren Sprachbeurteilungen oder aus ihrer Wiedergabe der Sprache der Mehrheit geschlossen, also aus zweiter Hand. Dies gilt von den Anfängen der schriftlichen Überlieferung bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts und damit auch für die Periode von der Französischen Revolution bis zum Ersten Weltkrieg, mit der sich unser Forschungsprojekt befasst und auf deren sprachgeschichtliche Erfassung wir uns im Folgenden beschränken. Ziel unseres Projekts ist es, die über tausendjährige Phase der ungenügenden Kenntnis der Mehrheitssprache um ca. 120 Jahre zu verringern. Es besteht in der Forschung Einigkeit darüber, dass im 19. Jahrhundert die Bevölkerung Frankreichs mehrheitlich französisiert wurde und Schule und Militär (“l’école et la caserne”) dabei eine wichtige Rolle spielten. Massenalphabetisierung und Französisierung sind also die zwei Seiten derselben Medaille. Die Ergebnisse dieses Vorgangs sind in groben Zügen bekannt und noch in unserer Gegenwart aus der Sprachlage ablesbar: Zwar gehen die Dialekte und die sog. langues ethniques oder régionales (wie Baskisch, Bretonisch, Elsässisch) zurück, aber die Gemeinsprache (langue commune) hat <?page no="393"?> Harald Thun 360 sich nicht überall einheitlich durchgesetzt, sondern sich ihrerseits im größten Teil Frankreichs in verschiedene français régionaux (= FR) ausdifferenziert. 1 Über den Ablauf dieses Prozesses ist hingegen wenig bekannt, wenn wir als Maßstab die Objektsprache der Mehrheit der Sprecher anlegen und nicht die metasprachlichen Reflexe aus der Bevölkerungsminderheit. Hier nun will unser Forschungsprojekt des Corpus Historique du Substandard Français (CHSF) Abhilfe schaffen. Dies soll durch die Dokumentation der Übernahme und Umformung des Französischen zu den verschiedenen FR durch die Bevölkerungsmehrheit geschehen. Unter letzterer verstehen wir die soziale, ökonomische und kulturelle Unterschicht. Damit will das CHSF Grundlagenforschung für künftige Untersuchungen leisten, die die Wissenslücke über den langen und wichtigen Zeitraum verringern können, in dem der Makroprozess der sprachlichen Einigung Frankreichs durch Alphabetisierung und Französisierung ablief und sich fast vollendete, wenn auch nicht in der Form und dem Maße, die die radikalsten Sprachideologen der Französischen Revolution für nötig hielten, und wenn auch wohl stärker in der Schriftlichkeit als in der Mündlichkeit. Beschreibungssprache des CHSF ist aus naheliegenden Gründen das Französische. 2. Demographische und soziologische Identifikation der Bevölkerungsmehrheit und deren räumliche Lokalisierung Soziologische und demographische Geschichten der französischen Bevölkerung stimmen trotz aller Schwierigkeiten und Divergenzen in der Bestimmung der einzelnen sozialen Gruppen darin überein, dass bis weit hinaus über das Ende unseres Untersuchungszeitraums (1918) die Unterschicht die Bevölkerungsmehrheit stellt. Dupâquier (1995: 503-517) beschreibt für 1911 die französische Gesellschaft als “encore fortement rurale” (räumliche Lokalisierung) und die Familiengröße der Träger der Modernisierung, die “employés, commis, fonctionnaires et professions libérales” - bei denen wir mehr als Primarschulausbildung und Interesse an guter Schulausbildung ihrer Kinder voraussetzen müssen - als “très au-dessous des paysans, des ouvriers et des catégories plus anciennes d’artisans et de boutiquiers” (demographische und soziologische Identifikation; p. 513). Für dasselbe Jahr resümiert Haupt (1989: 231): “Besitz- und Bildungsbürgertum blieben eine Minderheit in der französischen Gesellschaft”. Und: “François Bédarida rechnet für die dreißiger Jahre [des 20. Jahrhunderts] dem Groß- und Mittelbürgertum zwei von 41 Millionen Franzosen zu, während er dem Kleinbürgertum zwölf Millionen, der Industriearbeiterschaft 13 und der Landwirt- 1 Müller (1975: 125) vergleicht diesen Prozess mit der Ausdifferenzierung des Lateinischen in die romanischen Sprachen. Die Entwicklung ist im Prinzip ähnlich, im Ausmaß jedoch ganz verschieden. <?page no="394"?> Die diachrone Erforschung der français régionaux 361 schaft 14 Millionen zuteilt.” Wir dürfen also für unseren gesamten Untersuchungszeitraum voraussetzen, dass (kleinere) Bauern, Arbeiter (zunächst eher Landarbeiter, dann auch Industriearbeiter), Handwerker in traditionellen Gewerben und Inhaber kleiner Läden (petits commerçants) die Bevölkerungsmehrheit stellten. Keine Sprachgeschichte, die repräsentativ sein will, kann die Sprache dieser Mehrheit außer acht lassen. Wir müssen sie, wegen der noch geringen Konzentration der Bevölkerung in städtischen Ballungsgebieten, im ganzen Land suchen. 3. Gründe für die Ausblendung der Geschichte der Sprache der Bevölkerungsmehrheit im 19. Jahrhundert 3.1. Perspektivenverengung und Priorität der Dokumentation der Dialekte Was sind die Gründe für die eingeengte Wahrnehmung seitens der Historiographie des Französischen? Es gibt solche der Perspektive. Hier kann man einerseits, in der Tradition der von Ferdinand Brunot geschriebenen Histoire de la langue française, das übergroße Interesse an der normierten Vorbildsprache nennen. Dieses “édifice brillant et fragile que deux siècles de raffinement avaient créé non seulement resta debout, mais ne courut risque à aucun moment d’être même ébranlé”, schreibt Brunot über die Zeit der Französischen Revolution, also über den Anfang der Periode, die wir erfassen wollen (1939: Préface). Damit wertet er den Einfluss des “langage populaire” auf den “bon usage” als gering und kennzeichnet gleichzeitig sein Interesse an der Volkssprache als sekundär. Andererseits hat die Sprachgeographie gegen Ende des 19. Jahrhunderts die wechselseitige Beeinflussung von Gemeinsprache und Dialekten durchaus erkannt. 2 Als vordringlich galt aber die Dokumentation der Dialekte. Ein Motiv war bekanntlich die Sorge über deren baldiges Verschwinden. Dies bedeutet, dass die Dialekte schon um 1880 nicht mehr als die Sprache der Mehrheit der ländlichen Bevölkerung angesehen wurden. Auch A. Dauzat (1906; 1927; 1933), auf den der Terminus français régional zurückgeht, sah es als wichtiger an, die Ergebnisse von Gilliérons Atlas Linguistique de la France durch eine neue Serie von dialektalen Regionalatlanten (Nouveaux Atlas Linguistiques et Ethnographiques de la France par Régions) zu verfeinern, als das FR sprachgeographisch zu erheben. Selbst wenn dies geschehen wäre, würde erst der Ausgangspunkt zu retrospektiven diachronen Untersuchungen geschaffen worden sein, nicht die sprachhistorische Dokumentation selbst. 2 Zusammenstellung der Hinweise bei Chaurand (1999: 348) und Pöll (2005: 115seqq). <?page no="395"?> Harald Thun 362 3.2. Vermuteter Quellenmangel Als Hauptgrund aber, und dieser gilt auch für soziologisch inspirierte Sprachgeschichten, wie der von R. A. Lodge, 3 wird der Quellenmangel genannt: “La quasi-totalité des Français, dépourvus de capital culturel et n’ayant ni l’habitude, ni les moyens, ni le goût d’écrire, n’ont pas laissé de trace”. 4 Manche Texte sind zudem nur dem Anschein nach Unterschichtentexte. F. Brunot, der für die Darstellung des Französischen während der Revolution von 1789 in großem Umfang die Cahiers de doléance 5 benutzt, warnt davor, sie als unmittelbaren Ausdruck der Volkssprache zu betrachten: “Même quand le vrai peuple entra dans les Sociétés, les secrétaires continuèrent à se recruter dans les mêmes groupes sociaux” (1939: 250). Die Texte wurden überarbeitet, teils sogar übersetzt: “des rédacteurs avaient mis en français les actes délibérés. Un très grand nombre étaient des gens de la loi, habitués à ces transpositions. C’est leur texte que nous avons. Si fautif qu’il soit, il est beaucoup plus proche du français normal que ne l’eût été le texte paysan tout cru” (1939: 257). Solche “textes paysans tout crus” sieht er nicht. 6 Auch in der Fortsetzung der Brunot’schen Sprachgeschichte, der Histoire de la langue française 1880-1914, Paris 1999, die bis an das Ende unserer Untersuchungsphase reicht, heißt es im Kapitel über die “français régionaux”, in dem die Sprache der Bevölkerungsmehrheit behandelt wird und das auch ein umfangreicher Forschungsüberblick ist: “Nous nous heurtons perpétuellement pour cette époque à l’insuffisance de la documentation” 7 Ebenso A. Brun (1935: 158), der besonders für das 19. Jahrhundert großen Mangel an Quellen über das Verhältnis von français und dialecte im Sprechen und Schreiben beklagt: “Il faut avouer qu’ici notre connaissance est incertaine; ce que nous essayons de fixer ne s’inscrit pas dans les documents d’archives; on doit se contenter d’approximations et de conjectures: c’est l’excuse de notre brièveté.” Wir glauben, dass unser CHSF den Grundstein für ausführlichere Darstellungen legen kann. Erst nach dem Ersten Weltkrieg ändern sich die Voraussetzungen. Untersuchungen wie die von H. Frei (1929) und von A. Prein (1921) erschließen mit den Soldatenbriefen schriftliche Quellen der Unterschichten, die nach und nach auch in weiteren Kreisen der Sprachwissenschaft auf Interesse 3 “As soon as we come near the vernacular it slips away, leaving only the faintest traces of its passage” Lodge (2004: 22). Lodge verwendet als unmittelbare Quellen nur das Journal d’Héroard und die Mémoires von Menétra. Cf. die kritischen Anmerkungen von Ernst (2006: 725-733) und besonders die von Grillo (2006: 302). 4 Branca-Rosoff / Schneider (1994: 9). 5 Schriften der Gemeinden über zu behebende Missstände. 6 Obwohl er in der Bibliographie mit J. J. W. Féaz den Schreiber eines bäuerlichen Tagebuches anführt. 7 Chaurand (1999: 367). <?page no="396"?> Die diachrone Erforschung der français régionaux 363 stoßen. Mit der Erfindung von Tongeräten schließlich wird die dauerhafte Aufzeichnung von gesprochener Sprache von Sprechern aus jeder beliebigen sozialen Schicht möglich und die Sprachwissenschaft ist nicht mehr allein auf schriftliche Quellen angewiesen. 8 Aber nach wie vor kann sie mit den Toten, die zu ihren Lebzeiten nicht aufgenommen wurden, nicht sprechen, sondern nur ihre schriftlichen Hinterlassenschaften lesen. Die Vorarbeiten zu unserem Forschungsprojekt haben bereits gezeigt, dass es diese schriftlichen Hinterlassenschaften auch schon aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg gibt und noch dazu in überraschend großer Menge. Es sind in ihrer Mehrzahl ebenfalls Soldatenbriefe. Schon jetzt steht fest, dass J. Tulard sich täuscht, wenn er schreibt: “Les lettres des soldats de la Révolution sont rares” 9 . 4. Vermutliche Gründe für die Annahme des Quellenmangels Es stellt sich die Frage, warum nach diesen Quellen nicht gesucht wurde. Hier kann man nur mutmaßen. Immerhin haben wir aus dem Archiv eines französischen département auf unsere Frage nach Soldatenbriefen aus der Zeit der Revolution und des Premier Empire als Antwort erhalten: “Nous n’en avons pas et il ne peut y avoir des lettres de soldats du rang parce qu’ils ne savaient pas écrire”. Diese Meinung wird durch die Forschung zur Geschichte der Alphabetisierung in Frankreich gestützt. Einen niedrigen Stand der Alphabetisierung der französischen Bevölkerung zu Beginn unserer Phase diagnostiziert die folgende vielzitierte und vielgeglaubte Stelle 10 im Rapport du 16 prairial, l’an deuxième de la République (16 V 1794) des abbé Henri Grégoire, “Sur la nécessité et les moyens d’anéantir les patois et d’universaliser l’usage de la langue française”: On peut assurer sans exagération qu’au moins six millions de Français, surtout dans les campagnes, ignorent la langue nationale; qu’un nombre égal est à peu près incapable de soutenir une conversation suivie; qu’en dernier résultat, le nombre de ceux qui la parlent n’excède pas trois millions, et probablement le nombre de ceux qui l’écrivent correctement est encore moindre. 11 Annähernde Vollalphabetisierung der französischen Bevölkerung wird in der Tat erst gegen Ende unserer Untersuchungsphase erreicht. Wir meinen aber, dass schon vor 1789 ein größerer Teil der französischen Bevölkerung, als Grégoire und die französische Alphabetisierungsforschung annehmen, schreiben und erst recht lesen konnte. 8 Cf. Thun (1993). 9 Bouscayrol (1989: 7, Préface). 10 Cf. etwa Walter (1988: 107); Pöll (2005: 130seq). 11 Zit. nach de Certeau et al. (1975: 292seq). <?page no="397"?> Harald Thun 364 Die Statistik “Alphabétisation: proportion d’illettrés 1830-1914” in Prost (1968: 96), weist erst ab 1910 auf ein Absinken der “illettrés”-Rate unter 5% bei Rekruten sowie Männern und Frauen zum Zeitpunkt ihrer Eheschließung hin. Der kartographische Vergleich des “Pourcentage des recrutés qui savaient lire en France”, der für 1827-29 noch ein starkes regionales Gefälle der Alphabetisierung ausweist, zeigt für 1913 den fast vollständigen territorialen Ausgleich. Nur das département Haute-Seine und Korsika haben noch nicht den Wert 100% erreicht, liegen jedoch schon bei 90% und mehr. Was den Gesamtprozess der Alphabetisierung angeht, so wird er im Referenzwerk von Furet/ Ozouf (1977) mit dem Merksatz “la stratification sociale domine l’histoire de l’alphabétisation” überschrieben und in folgende Jahrhundert- und Schichtengleichungen zerlegt: “lire, écrire et calculer” konnten im 17. Jahrhundert “les élites”, im 18. Jahrhundert der “tiers état”, und erst im Laufe des 19. Jahrhunderts “tous”, d.h. auch die “couches populaires” (1977, Bd.1: 351). Hiernach gibt es also wenig Grund, schon bei den Unterschichtsangehörigen, die an den Kriegen unmittelbar nach der Französischen Revolution teilgenommen haben und die bereits um 1770 hätten alphabetisiert gewesen sein müssen, nach Lese- und Schreibkundigen zu suchen. Ein weiteres Motiv, weder am Anfang noch bis weit über die Mitte unserer Untersuchungsphase hinaus nach Schriftzeugnissen aus der Unterschicht zu forschen, können wir in der relativen Verspätung der Alphabetisierung in Frankreich vermuten, die schon von den Zeitgenossen festgestellt wurde. Eine im Musée National de l’Éducation in Rouen vorhandene und im Internet 12 einsehbare Wandkarte von Joseph Manier, L’Instruction populaire en Europe, zeigt für ca. 1867, also unmitttelbar vor dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/ 71, Frankreich nur im Mittelfeld, nach den skandinavischen Ländern, Preußen und England, wenn auch vor Österreich und Italien und in weitem Abstand zu Spanien, Portugal, Russland. Für die berühmte Enquête von L. Maggiolo, 1879, 13 der anhand der Unterschriften unter die Eheverträge die Alphabetisierung von 1686 bis 1876 untersucht, ist gerade dieser Rückstand Frankreichs gegenüber dem deutschen Gegner Motiv seiner Studie. Nichts anderes als diesen Bildungsabstand macht das bekannte Schlagwort für die Niederlage im Krieg 1870/ 71 verantwortlich: “C’est l’instituteur prussien qui a gagné la guerre”. Ein Nebeneffekt des CHSF könnte sein, dass die Alphabetisierungsforschung überprüft, ob nicht der Beginn der französischen Massenalphabetisierung vorverlegt werden muss, und zwar sowohl, was die Schreibfähigkeit angeht, wofür das CHSF direkte Belege liefert, als auch, was die Lesefähigkeit angeht, die sich bekanntlich vor und unabhängig von der Schreibfähig- 12 www.inrp.fr/ musee 13 www.pedagogie.ac-toulouse.fr <?page no="398"?> Die diachrone Erforschung der français régionaux 365 keit entwickeln kann. Textverstehende Schreibfähigkeit ohne Lesefähigkeit kann es hingegen nicht geben. Indirekt könnte das CHSF auch dazu beitragen, das Rätsel zu lösen, vor dem die Erforschung der Massenlektüre in Frankreich nach wie vor steht. Wie lassen sich die nachgewiesenermaßen jährlich immens hohen Auflagen der Exemplare der Bibliothèque bleue (vom Anfang des 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts) und die vermutet späte und lange schwache Alphabetisierung vereinbaren? 14 Nach meiner Ansicht nur durch die Annahme einer früheren und breiteren Alphabetisierung, wobei die autodidaktische Selbstalphabetisierung eine große Rolle gespielt haben dürfte. Schließlich muss auch erwähnt werden, dass mit dem CHSF die Alphabetisierungsforschung Material an die Hand bekommt, das qualitativ bewertet werden kann. Bisher entscheiden Daten wie die Selbstbeurteilung der Rekruten, die Statistiken über die Existenz von Schulen und über den Schulbesuch und, als einziger Output, die erwähnte Unterschrift unter den Heiratsvertrag die Entscheidung über alphabetisiert oder nicht. Erst in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts hat die französische Armee das Urlaubsgesuch als Test eingeführt und damit die Möglichkeit geschaffen, nach Alphabetisierung als funktionaler Alphabetisierung zu fragen. Das CHSF liefert schon für die Zeit davor eine Art PISA-Test, dem sich ein bedeutender Teil der Bevölkerung unterworfen hat, ohne es zu ahnen. 5. Unterschichtentexte aus der Geschichtswissenschaft, zahlreich aber kaum brauchbar Im Zuge der Erweiterung der “offiziellen Quellen” durch die “oral history” und die “Texte der kleinen Leute” hat die französische Geschichtswissenschaft und z.T. auch die ausländische Geschichtsforschung zu Frankreich (z.B. Forrest (2002)) eine beträchtliche Anzahl von Unterschichtentexten, d.h. meist Soldatenbriefe und Kriegstagebücher, veröffentlicht, verarbeitet und dabei in Auszügen zitiert oder auf sie hingewiesen. Von dieser Arbeit hat, wie es scheint, die neuere Historiographie der französischen Sprache offenbar wenig mitbekommen. 15 Eine der wichtigsten Vorarbeiten zu unserem Projekt bestand in der bibliographischen Erfassung und in der materiellen Beschaffung dieser geschichtswissenschaftlichen Literatur. Die beigefügte Karte 1 zeigt, dass für 63 départements, also für fast zwei Drittel der französischen départements, die Existenz von Soldatenbriefen nachgewiesen werden kann. Dies ist unser Wissensstand zum jetzigen Zeitpunkt. Es werden sich vermutlich auch noch die meisten der übrigen 33 départements abdecken lassen. Der Plan, mit dem 14 Cf. dazu u. a. Bollème (1980: 12). 15 Eine Ausnahme ist Moreux (1991). <?page no="399"?> Harald Thun 366 CHSF ein flächendeckendes Corpus zusammenzustellen, stützt sich also auf ein sicheres empirisches Fundament. Aber auch aus Sicht der Geschichtswissenschaft ist die Erschließung der Quellen und insbesondere der Briefdokumente insgesamt noch unzureichend. Mit Blick auf fehlende Untersuchungen zu den Armeen der Revolution von 1789 meint Bouscayrol (1989: 10): “Cela tient, sans doute, à la masse des documents à consulter, à la dispersion d’archives mal classées ou fragmentaires, tant au Service Historique de l’Armée que dans les sections spécialisées des préfectures et des communes d’une certaine importance.” Nach sprachwissenschaftlichen Kriterien sind die Texte, die wir hier vereinfachend “Historikertexte” nennen wollen, von sehr unterschiedlicher Qualität. Alle sind sie natürlich zumindest Hinweise auf die Existenz von Originaltexten 16 . Ihre größte Stärke liegt darin, dass die veröffentlichten Texte sehr häufig durch die Identifikation von Schreiber und Empfänger, oft auch durch Beschreibung ihres Lebensweges und ihres Umfelds ergänzt werden. All dies sind Informationen, die als Sozialdaten der Schreiber auch für die Sprachwissenschaft äußerst wichtig sind. Ihre größte Schwäche besteht darin, dass sie durchweg das Produkt von tiefen Eingriffen in die Originaltexte sind, was man sofort durch Vergleich mit den teils mitpublizierten Faksimile sieht. Nach wie vor gilt deshalb, was F. Brunot 1939 in seiner Quellenkritik sagt: Après le maître écrivain [der oben erwähnte secrétaire oder homme de loi], le maître éditeur“ (p. 251). Pour simplifier et unifier, et dans l’intention louable de ne pas arrêter le lecteur par des difficultés de la forme, il a été prescrit de ramener l’orthographe à l’uniformité et à la correction (p. 253). Il est extrêmement regrettable que les textes mis à la disposition des observateurs ne se présentent pas sous leur forme véritable. Toutefois on n’y a ajouté aucune particularité linguistique, on en a seulement retranché (p. 257). Auch der Trost, dass nicht hinzugefügt wurde, sondern nur weggenommen, 17 gilt nicht immer. Denn es wird sehr wohl hinzugefügt und auch ausgetauscht. So z.B. der Teilungsartikel und die Verneinungspartikel in der “Historiker-Transliteration” eines Soldatenbriefes aus Belgien. 18 Die Eingriffe gehen verschieden tief. Wir haben aber noch keinen überprüfbaren “Historiker-Text” gefunden, in dem es keine Abweichung vom Original gab und sei es eine vermeintlich so unbedeutende wie die Zeichen- 16 Wenn auch diese wegen der verbreiteten Unsitte des ungenauen Zitierens erschwert wird, wie es bei Jean Robiquet (1938) La Vie quotidienne au temps de la Révolution Française, Paris, der Fall ist. Cf. dort das Kapitel “La boîte aux lettres des soldats” (p. 173-190). 17 Womit die Historikertexte wenigstens für syntaktische Analysen brauchbar blieben. 18 Im Originalbrief steht: “et Si jai les boneur de men retourner je nen / serai point fachè davoir veuex paies”. E. Fairon / H. Heuse (1936: 28) transliterieren: “Si j’ai le bonheur de m’en retourner, je ne serai pas fâché d’avoir vu du pays.”. <?page no="400"?> Die diachrone Erforschung der français régionaux 367 oder Akzentsetzung. 19 Solche “Historiker-Texte” sind in ihrer veröffentlichten Form nach strengen sprachwissenschaftlichen Kriterien nicht brauchbar. Dasselbe gilt für die Soldatenbriefe, die teils in lokalen oder regionalen Druckwerken, immer häufiger auch im Internet von Amateurhistorikern veröffentlicht wurden. Unabhängig vom Aspekt der mehr oder minder tiefen Eingriffe der Herausgeber in die Originalform gibt es darüber hinaus auch noch keine “Historiker-Ausgabe”, die Briefe flächendeckend aus ganz Frankreich bietet. So konzentriert sich z.B. Bouscayrol (1987/ 89, Cent lettres de soldats de l’an II,) trotz des allgemeinen Titels auf die Orte Riom und Poinsat im département Puy-de-Dôme, Auvergne. Die “Historiker-Texte” müssen durch diplomatische Transliteration gleichsam restituiert werden. Diese Arbeit packt das CHSF zum Nutzen der Sprachwissenschaft an. Weil dabei viele von der Geschichtswissenschaft bislang unbeachtete Texte hinzukommen, wird das CHSF auch ihrer Nachbardisziplin nützlich sein. 6. Vergleichsweise geringer Bestand an Auswandererbriefen aus der französischen Unterschicht Was für Italien gilt, trifft im Prinzip auch auf Frankreich und andere Länder zu. Neben dem Militärdienst ist die Trennung durch Auswanderung ein Grund zum Schreiben: La piú comune causa di lontananza dalle persone amate nelle classi popolari è il servizio militare. Viene dopo l’emigrazione per ricerca di lavoro interna ed esterna (…) Dei nostri contadini tutti quelli che hanno fatto il soldato dichiarano che delle lettere ne hanno scritte (o fatto scrivere) e ricevute molte quando erano militari. Prima e dopo il servizio assai poche o nessuna, a meno che si tratti di emigranti o parenti di emigranti. 20 Die externe Emigration aus Frankreich erreicht jedoch bei weitem nicht das Ausmaß der italienischen, deutschen, irischen, skandinavischen oder polnischen. 21 Daher ist es nicht erstaunlich, dass umfangreiche Briefausgaben wie die von Kula et al. (1986), Franzina (²1994) oder Helbich (1985) für Polen, Italien und Deutschland existieren, für Frankreich aber nicht. Hieraus erklärt sich auch, dass unseres Wissens noch kein französisches Äquivalent für eine 19 Was auch in der ansonsten sehr guten Ausgabe der “Lettres de soldats béarnais de la Révolution et du Premier Empire” von Staes (1979-1994) vorkommt. 20 Lussana (1913: 88seq); hier zitiert nach Franzina (²1994: 41). 21 So betont Héran (2007), dass Frankreich im Unterschied zu seinen Nachbarn bereits im 19. Jahrhundert Einwanderungsland sei. Gegenden mit stärkerer Auswanderung waren das Baskenland, das Béarn, die Bretagne und die départements Aveyron und Haute Savoie. <?page no="401"?> Harald Thun 368 Sprachgeschichte von unten auf der Grundlage von Auswandererbriefen 22 geschrieben worden ist. Briefausgaben wie die in der Textwiedergabe vorbildliche von A. Bruneton-Governatori / J. Staes (1996) betreffen ein kleinräumiges Herkunftsgebiet (Béarn). Unsere bibliographische Suche nach solchen Veröffentlichungen ist noch nicht abgeschlossen. Auswandererbriefe sind jedenfalls neben den Soldatenbriefen eine wichtige Quelle. Dies um so mehr, als wir schon jetzt absehen können, dass zwischen dem Ende des Premier Empire und dem Beginn des Ersten Weltkriegs die französischen Soldatenbriefe weniger zahlreich sind. Da die Originale von Auswandererbriefen sich jedoch in der Regel in Privathand befinden, sind sie schwerer erreichbar als die Soldatenbriefe (s.u. zum Grund der Aufbewahrung letzterer in öffentlichen Archiven). Die interne Migration in Frankreich erreichte in der zweiten Hälfte unseres Untersuchungszeitraums besonders durch den Zuzug nach Paris bedeutende Ausmaße. Ob es zugängliche Unterschichtenbriefe (etwa von weiblichen Hausangestellten) aus dieser Zeit gibt, muss ebenfalls noch erkundet werden. 7. Ethnologische Beiträge zu Texten aus der Unterschicht Trotz der “prolifération actuelle des recherches sur l’épistolarité” (Bruneton- Governatori / Moreux (1997: 97)), deren Ergebnisse natürlich für die Interpretation der Unterschichtentexte wichtig sind, hat, soweit ich sehe, dieser kulturanthropologische Ansatz keine Textcorpora für unseren Untersuchungszeitraum angeregt. So besteht auch das von der Mission du Patrimoine ethnologique / Collection Ethnologie de la France geförderte Cahier 11, der von D. Fabre herausgegebene umfangreiche Band Par Écrit. Ethnologie des écritures quotidiennes (Paris 1997) neben wenigen objektsprachlichen Beispielproben, nur aus Metatexten. 8. Zum Stand der Erforschung der Geschichte der français régionaux in Frankreich 8.0. Allgemeine Beurteilung Der Forschungsstand zu den FR wird insgesamt als unbefriedigend beschrieben. Dem Tableau, das Goebl (1978) zeichnet und in der Neuauflage von 2008 wiederholt (“Die derzeit vorliegenden Daten sind recht ergiebig für frankophone Außengruppen wie Belgien, Schweiz oder Kanada; weniger 22 Cf. Elspaß (2005). Allgemein hat die Germanistik im Vergleich zur Französistik einen Vorsprung in der Erforschung von Unterschichtentexten (Kriegsbriefe, Tagebücher, Auswandererbriefe, Lebenserinnerungen). <?page no="402"?> Die diachrone Erforschung der français régionaux 369 weiß man schon über Südfrankreich und wenig bis gar nichts über Nordfrankreich”; p. 290) steht das quantitativ positive, qualitativ reservierte Urteil von P. Rézeau entgegen: “Depuis quelques années, on assiste à une éclosion de publications sur les régionalismes, dont la qualité est d’ailleurs moins certaine que l’abondance et la diversité” 23 . Der Schwerpunkt dieser meist kleinräumigen Arbeiten liegt eindeutig in der Erforschung der FR in der Synchronie der Gegenwart, sie liegen deshalb außerhalb unseres Untersuchungsbereichs. Für die diachrone Forschung bleiben wir der negativen Gesamtbeurteilung. 8.1. Lexikographische Synthese und diachrone Aspekte Die umfangreichste Gesamtdarstellung ist Rézeau (2001): Dictionnaire des régionalismes de France. Géographie et histoire d’un patrimoine linguistique, Bruxelles (= DRF). Der Schwerpunkt dieses lexikographischen Monuments liegt in der Dokumentation des regionalfranzösischen Wortbestands am Ende des 20. Jahrhunderts Dementsprechend entstammen die allermeisten Beispiele aus der Regionalliteratur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Anders als die Sprachgeschichte hat natürlich ein Wörterbuch nicht die Aufgabe, die Übernahme des Gemeinfranzösischen und seine Veränderung zum Regionalfranzösischen als Prozess zu dokumentieren. Dennoch fällt auf, dass die authentischen Texte aus der Unterschicht hier nur eine sehr kleine Rolle spielen. Im historischen Teil der einzelnen Artikel wird der Erstbeleg für jede Wortbedeutung angegeben sowie die Wort- oder Wortbedeutungsherkunft “et son mode de pénétration dans la langue française” (1999: 18). Hier wäre Platz für Information aus Texten, die Angehörige der Unterschicht selbst geschrieben haben. Wir finden jedoch in der umfangreichen Bibliographie nur ein Werk dieser Art: R. BOUSCAROL, 24 Cent lettres des soldats de l’an II, (Paris 1987). Auch unter den Beispielen für die “sources cachés”, die Rézeau (1999: 12), erwähnt, befinden sich nur Hinweise auf regionale Wörterbücher des 18. Jahrhunderts Das CHSF wird den Bestand an “sources cachés” vermehren, wahrscheinlich einige Erstdatierungen des DRF korrigieren können und Gebrauchskontexte liefern. 8.2. Sprachgeographische Synthese und diachrone Aspekte Einen Atlas linguistique des français régionaux gibt es nach wie vor nicht. Für das DRF wurde die Vitalität einzelner Wörter in lose koordinierten sprachgeographischen enquêtes (1994-97) getestet. Für eine zufriedenstellende Kartierung der FR wird eine neue, homogene Datenerhebung für nötig erachtet 23 Rézeau (1999: 12). 24 Sic statt Bouscayrol. <?page no="403"?> Harald Thun 370 (P. Rézeau 1999: 13). Sie sollte, wie schon G. Taverdet (1990: 707), gefordert hat, die alte Bevorzugung des älteren, ortsfesten bäuerlichen Informanten aufgeben und Altersgruppen und “des milieux socio-professionnels” 25 unterscheiden. In entdialektalisierten Regionen wie dem Pariser Großraum kann ein Sprachatlas, wie der Atlas linguistique et ethnographique de l’Ile-de- France et de l’Orléanais (ALIFO), gegen die Intention seiner Verfasser, das FR wiedergeben, wie G. Taverdet (1990: 706) mutmaßt. Dies insbesondere wegen der schon von A. Dauzat (1927: 35-37) bemerkten Bewahrung von Archaismen des älteren Gemeinfranzösischen im FR. Den räumlich ausgedehntesten Überblick hat F. Carton 1983, Les Accents des Français, Paris, gegeben. Im Mittelpunkt stehen segmentale und suprasegmentale lautliche Phänomene, dazu einige wenige lexikalische und morphologische Erscheinungen. G. Taverdet wirft diesem nützlichen Werk, für das es auch Tonmaterial gibt, vor, nicht scharf genug zwischen “patois” und “français” zu unterscheiden. Dies könnte seinen Grund in der noch zu erwähnenden Verdoppelung der mittleren Schicht in FR und français dialectal oder dialecte francisé haben. Ein seltenes Beispiel für die Kartierung eines Lexems des FR liefert der Atlas der Schweiz mit der Karte 28 (poche u.ä.), wiedergegeben in Goebl (1978: 294seq.). Einen gesamtfranzösischen Atlas der FR zu erstellen, ist laut G. Taverdet schwierig, weil diese Varietäten gering ausdifferenziert seien und auch die Sprecher ein geringes Differenzbewusstsein hätten. Er fordert für ein solches Projekt, wie nach ihm P. Rézeau, eine neue Methodologie der Dialektologie, die stark soziolinguistisch arbeiten müsste. In diesem Programm erkennen wir unsere Methode der Pluridimensionalen Dialektologie wieder, die wir in drei lateinamerikanischen Projekten ausprobiert haben. 26 Das CHSF-Material würde sich gerade in den Bereichen, die in der stark lexemlastigen FR-Forschung vernachlässigt werden, zur Kartierung eignen: in der Morphologie und in der Syntax (z.B. Verlust von être als Hilfsverb, accord-Phänomene, Genusschwankungen, Relativkonstruktionen, pronominale Wiederholung des nominalen Subjekts, Formen des Teilungsartikels, Präpositionalkonstruktionen). Auch einige phonische Fakten werden sich wohl kartieren lassen. So z.B. die Bewahrung des palatalen Laterals [ ], den wohl der Digraph <li> (batalion) oder das aus dem Okzitanischen entlehnte <lh> (batalhon) bei wenig geübten Sprechern wiedergeben will. Insgesamt wird durch das CHSF die Diskussionsbasis für die andauernde Diskussion breiter, in welchem Maße das phonetische Prinzip die Schreibweise der Ungebildeten steuerte 27 und wie sich dieses Prinzip im Laufe des 19. Jahr- 25 Rézeau (1999: 13). 26 Cf. Thun 2010. 27 B. Müller (1975: 66) hebt den Einfluss des phonetischen Prinzips auf die Schreibung Ungeübter zu stark hervor, Branca-Rosoff / Schneider (1994: 10, 22) setzen es zu gering an. Nach meinem Eindruck oszillieren die Briefe ungeübter Schreiber, besonders in un- <?page no="404"?> Die diachrone Erforschung der français régionaux 371 hunderts abschwächte. Dies wird möglich sein, weil das CHSF durch seine Drei-Phasen-Einteilung (s.u.) diachrone “panel”-Analysen ermöglicht. 8.3. Sprachgeschichte Von einer systematischen diachronen Untersuchung der Entwicklung der FR kann keine Rede sein. Teils wird eine solche Analyse sogar für überflüssig gehalten. Wenn im folgenden Résümee die Grundkonzeptionen und die wichtigsten Resultate vorgestellt werden, so geschieht dies unter dem Gesichtspunkt ihrer möglichen Ergänzung oder Modifikation durch das Material des CHSF. 8.3.1. Verschiebungen im französischen Varietätenraum durch die Entstehung der français régionaux Zwei miteinander verbundene Prozesse haben zu Verschiebungen im französischen Varietätenraum geführt. Zum einen hat sich das mit Termini wie français commun, général, officiel oder national benannte Gemeinfranzösische über ganz Frankreich ausgebreitet. Zum anderen sind dabei aus der Gemeinsprache, durch den Einfluss von Dialekten oder langues ethniques, neue Varietäten entstanden. Diese werden als « français provinciaux » “français parlé dans les régions“, kürzer als « français régional », korrekter im Plural als « français régionaux » bezeichnet. Einigkeit besteht darüber, dass dies die wichtigste Verschiebung im Varietätenraum Frankreichs in der Neuzeit ist, wenn man sie an der territorialen Ausbreitung und an der Erfassung weiter Bevölkerungskreise bis hin zur demographischen Mehrheit misst. Zwischen Gemeinsprache und Dialekten/ ethnischen Sprachen hat sich mit den FR eine mittlere Schicht geschoben, deren Gebrauchshäufigkeit die der Gemeinsprache und die der Dialekte oder ethnischen Sprachen übertrifft. Einigkeit herrscht auch darüber, dass die FR im Vergleich zu den Dialekten, Regionalsprachen oder gar anderen historischen Sprachen, wie dem Spanischen im Vergleich zum Französischen, relativ schwach ausgeprägt sei. Verständigungsprobleme treten deshalb kaum auf. Auch das Sprachbewusstsein der Sprecher habe keine scharfen Konturen. Der Sprecher eines FR habe meistens nicht die Absicht, etwas anderes als das français commun zu verwenden. Gesprächspartner aus anderen Regionen Frankreichs stellen ihm das Zeugnis aus, er habe einen “Akzent”, d.h. für die sog. “folk linguistics” sind die lautlichen Fakten prominent. Diese Einschätzung ist vermutlich am ehesten dort richtig, wo die regionalsprachliche oder die dialektale Basis schwach geworden sind. Sie gilt eher für die Gegenwart als für die Vergangenheit. serer ersten Phase, zwischen dem phonetischen Prinzip und dem oft hyperkorrekten Versuch, die Regeln der bruchstückhaft erlernten Normorthographie anzuwenden. <?page no="405"?> Harald Thun 372 8.3.2. Beginn der Herausbildung der français régionaux H. Goebl (1978: 290) meint mit L. Remacle, dass schon die “Skripta”, das “regional reich markierte Schriftfranzösische des Mittelalters, […] als français régional bezeichnet” werden könnten. Aber als Produkte einer schreibgewohnten Minderheit kommen die Skripta weder in der diatopischen noch in der diastratischen Verbreitung den FR der Neuzeit gleich. A. Dauzat (1927: 37-46) wertet Molières Darstellung des Französischen der Unterschichten (Hauspersonal, Bauern) als Hinweis auf das français régional des 17. Jahrhunderts und verweist damit auf eine Zunahme der (mündlichen) Verbreitung in der Bevölkerungsmehrheit. 28 Wann aber kann der Gebrauch der FR als Massenphänomen, d.h. wann können die FR als Varietäten der Unterschicht angesetzt werden? Hier schwanken die Ansichten stark. B. Müller (1975: 111) entwirft in Wort und Graphik ein grobes Entwicklungsschema, das die Herausbildung der FR als “regionaler Zwischenebene (…) in der Neuzeit, besonders in den letzten Jahrhunderten”, nach dem 17. Jahrhundert annimmt. B. Pöll (2005: 115) setzt die Phase erstaunlich spät an: “la période qui s’étend environ du troisième tiers du XIXe jusqu’au milieu du XX e siècle”. Sicher scheint zu sein, dass der Doppelprozess nicht in ganz Frankreich zeitgleich abgelaufen ist. Unser CHSF wird durch seine flächendeckenden Quellen aus der Revolutions- und Premier Empirezeit vermutlich zur Vorverlegung des Prozesses und zur genaueren Kenntnis seines Verlaufs beitragen, zugleich auch zur Klärung der Frage, ob das Gemeinfranzösische auf schriftlichem Wege (durch Lektüre oder formellen Schulunterricht) oder auch durch mündlichen, informellen Kontakt (etwa durch Kontakt innerhalb und außerhalb der Kasernen) in die Unterschichten gekommen ist. 8.3.3. Sprachwissenschaftliche Interpretation der Herausbildung der FR Hier ist die Diskussion in vollem Gange. In älteren Arbeiten wird von Substrateinfluss der Dialekte und langues ethniques auf das Gemeinfranzösische gesprochen. B. Müller, der diesen Terminus verwendet, bemerkt selbstkritisch, dass ja nicht überall das Gemeinfranzösische affiziert wurde (1975: 117). Der Ausdruck passt auch deswegen nicht, weil er in der historischen Sprachwissenschaft für Sprachen verwendet wird, die Spuren in einer später hinzugekommenen Sprache hinterlassen, dann aber selbst verschwinden. Dies ist im französischen Varietätenraum nicht überall der Fall (cf. Gaskognisch und das im Südwesten gesprochene français régional). Sicher ist es sinnvoll, mit E. Coseriu (1990) die français régionaux als “tertiäre Dialekte” einzustufen, weil sie nicht direkt aus dem Lateinischen stammen (wie die primären Dialekte) und auch nicht weitere Ausdifferenzierungen primärer 28 Die Quelle ist, wohlgemerkt, ein Fall von literarisierter Mündlichkeit. <?page no="406"?> Die diachrone Erforschung der français régionaux 373 Dialekte sind und damit als sekundäre Dialekte anzusehen wären, sondern sich aus einer Gemeinsprache gebildet haben. Damit ist noch nichts über das Wie der Ausdifferenzierung gesagt. In den Antworten auf diese Frage ist die terminologische und konzeptionelle Vielfalt groß (Pidginisierung, Kreolisierung, koiné-Bildung). Hier versucht neuerdings B. Pöll (2005) Ordnung zu schaffen. Alle Interpretationen bleiben meines Erachtens spekulativ, wenn nicht der Prozess der Ausbildung der FR genauer bekannt wird. Hierzu soll das CHSF beitragen. Wichtige Fragen sind dabei, ob es überall ein FR gibt und ob es pro Region jeweils nur ein FR gibt. 8.3.4. Flächendeckende Verbreitung der FR? Laut B. Müller (1975: 116) gibt es kein FR in der “Region Paris” (cf. auch Schema und Karte p. 111). Dies hindert ihn aber nicht, mit Rückgriff auf den Atlas Linguistique et ethnographique de l’Ile-de-France et de l’Orléanais (ALIFO) eine ganze Reihe von lexikalischen, morphologischen und phonetischen “regionalen Zügen, wenn auch dezimiert,” vorzustellen. (1975: 118). Der Widerspruch entsteht aus der Schwierigkeit, die Anzahl der Merkmale festzulegen, ab der von einem FR gesprochen werden kann. Es ist nicht unmöglich, dass die regionalen Merkmale im Pariser Großraum früher weniger “dezimiert” waren. Das CHSF könnte illustrieren, wie ein FR zunächst auf- und dann wieder abgebaut wird. 8.3.5. Umfang der “mittleren Ebene” Gibt es pro Region nur ein FR? Für Gegenden mit relativ vitalen Dialekten wie der Picardie sind zwei mittlere, gemischte Varietäten angenommen worden. F. Carton (1981: 15-28; 1990: 610) konstruiert ein vierstufiges Schema, das im Bereich zwischen 1. français commun und 4. ancien patois de village 2. ein français régional und 3. ein français dialectal vorsieht. Das français régional wird als “mélange à dominante de français commun, qui pour un picard est le français tout court (un mot, un tour, un vocalisme apparaissent dans un énoncé tout à fait français par ailleurs)”. Das français dialectal hingegen sei “local” und ein “mélange à dominante dialectale propre à un “petit pays”: les éléments dialectaux sont nombreux et/ ou frappants (c’est ce qu’on appelle au sud parler picard, au nord parler chtimi)”. Ähnlich ist der Befund von B. Moreux, mit seinem Artikel “Le français écrit en Béarn au XVIIIe siècle”, Verfasser einer der seltenen Studien zu einer nicht-gegenwärtigen Synchronie des FR. Anders als Carton, den man für einen Vertreter der “Gradatum”-Theorie halten kann, nimmt Moreux aber für die Gascogne ein ”continuum” (1991: 100) zwischen “français officiel” und “gascon” an. 29 29 Ausführlich zu diesen Konzepten Pöll (2005: bes. 145-160). <?page no="407"?> Harald Thun 374 Die Annahme nicht nur einer mittleren Varietät, sondern zweier, ist nicht neu. Wir finden sie auch bei Praktikern der Sprachvermittlung und dann mit Purismus versetzt. Terminologisch weniger deutlich, aber in der Sache vergleichbar spricht der Grundschullehrer J. Tucato 1928 bei seiner Beschreibung der Sprachlage im Bearn von der “empreinte du béarnais sur la prononciation du français”, aber auch vom lexikalischen und syntaktischen Einfluss (1928: 3-5). Hieraus entstehe sowohl eine “déformation laide et sans la noblesse du français” wie eine solche des “dialecte local” (1928: 2), für erstere fehlt ihm noch der Terminus, für letztere will er wie sein Kollege Félix Pécaut den negativen Ausdruck patois reservieren. Das Bearnesische schließlich solle als “dialecte” bezeichnet werden. Tucato setzt im 20. Jahrhundert die Tradition der Beschäftigung mit dem français régional aus didaktischen und puristischen Gründen fort. Das vom Bearnesischen beeinflusste Gemeinfranzösisch sowie die “déformation laide” des Bearnesischen, das patois, sollen verschwinden und nur das français commun und das reine Bearnesische bleiben. Auch F. Carton stellt auf der Ebene des français dialectal fest, dass Regionalisten es durch Rückgriff auf ältere Formen und literarische Vorbilder reinigen wollen (1990: 611). Ob das CHSF die Koexistenz von FR und affiziertem Basisdialekt zeigen kann, ist nicht sicher. Bislang haben wir noch keinen Soldatenbrief gefunden, der nicht intentional auf Gemeinfranzösisch verfasst worden wäre. W. Doegen (1921: 75) berichtet von Kriegsgefangenenbriefen aus dem Ersten Weltkrieg, in denen “Dialektwörter aus den mannigfachen südfranzösischen Mundarten, auch z.B. das Baskische […] als Geheimsprache benutzt” wurden. Diese Briefe sind noch nicht aufgefunden worden. Es gibt aber, gerade aus dem französischen Südwesten, sehr stark mit dialektalen Elementen durchsetzte Briefe. Durch den diatopischen und den diachronen Vergleich, den das CHSF ermöglichen soll, könnte ein Katalog struktureller Merkmale erarbeitet werden, der zur Unterscheidung von Texten aus dem FR und Texten aus den français dialectaux führt. 8.3.6. Ansätze zur Erforschung älterer Sprachstände der FR Die puristische Kritik ist wissenschaftsgeschichtlich die älteste Form der Beschäftigung mit den FR. Ihr Instrument ist in der Regel eine Art Liste der Verstöße. Ihr Programm, nämlich die Sprachreinigung, steht oft schon im Titel: So bei M. Desgrouais (1766) Les Gasconismes corrigés; ouvrage utile à toutes les personnes qui veulent parler et écrire correctement, Toulouse, oder bei E. Molard (1810) Le Mauvais langage corrigé ou recueil, par ordre alphabétique, d’expressions et de phrases vicieuses usitées en France, notamment à Lyon, Lyon. 30 Zu dieser Kategorie kann man die sog. “cacologies” rechnen, ebenfalls Lis- 30 Zit. nach Taverdet (1990: 707). <?page no="408"?> Die diachrone Erforschung der français régionaux 375 ten zu vermeidender Wörter und Ausdrücke, die noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Schulen verwendet wurden. S. Branca-Rosoff und N. Schneider (1994: 9seq.) schätzen ihren Aussagewert über das FR zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Region wohl zu Recht als gering ein, da es sich meist um Kompilationen handelt. Wo steht die historische Erforschung der FR heute? Kleinräumige oder auf einen städtischen oder ländlichen Ort bezogene Monographien zur gegenwärtigen Synchronie sind in größerer Zahl veröffentlicht worden. Es ist aber keine starke Tradition entstanden in der Fortsetzung der klassischen Werke von A. Brun ( 1 1923; Nachdruck 1973), Recherches historiques sur l’introduction du français dans les provinces du Midi, Paris, ders. (1935) “La pénétration du français dans les provinces du Midi du XVe au XIXe siècle”, FM 3, 1949-161, und J. Séguy ( 3 1978 ; 1 1951, Le Français parlé à Toulouse, Toulouse. Aber selbst diese Werke dokumentieren eigentlich nicht den Prozess der Übernahme des Französischen durch die Bevölkerungsmehrheit. A. Bruns Darstellung hört mit der Französischen Revolution auf und beschränkt sich dabei auf die Vorstellung der Bildungsprogramme. J. Séguy beschreibt das “français parlé à Toulouse de 1920 à 1947 par les classes populaires et moyennes dans l’usage familial et courant” mit sich selbst als Informanten (p. 10), legt also einen synchronen Schnitt. Seine “explication historique des faits” (ibid.) ist wortbezogene Etymologie, nicht soziolinguistische Sprachgeschichte. Dass auch er eine solche Untersuchungsrichtung für nötig hält, lässt seine Kritik an den berühmten Gasconismes corrigés von Desgrouais vermuten: “il est toutefois regrettable que cet auteur ait laissé délibérément de côté le langage du menu peuple (…) qui lui paraissait indigne de sa curiosité: c’est justement dans ce sens que nous avons étendu nos investigations” (p.11). Es fehlt also nach wie vor an einer Geschichte der FR. Dazu die Grundlage zu liefern, ist Aufgabe des CHSF. Schwerpunkte in der neueren Forschung sind die Fragen, ob sich gegenwärtig die FR eher im ländlichen oder im städtischen Bereich, im bäuerlichen oder im Arbeitermilieu finden lassen (R. Rouffiange 1983) und in welchen Bevölkerungsgruppen Merkmale der FR noch aktiv verfügbar sind. 31 8.3.7. Diachronie als Prognose Die letztgenannten Aspekte lassen schon vermuten, dass die Entwicklung des français commun zu den FR nicht im Mittelpunkt des Interesses steht, sondern die Erfassung letzterer in der modernen Synchronie. Wenn die diachrone Perspektive eingenommen wird, wird eher in die Zukunft geblickt als in die Vergangenheit. B. Müller prognostiziert für das 21. Jahrhundert ein weiteres Vordringen des français commun zum Nachteil der FR, d.h. eine 31 Cf. etwa zur Opposition langer und kurzer Vokale in Dijon Taverdet (1990: 715). <?page no="409"?> Harald Thun 376 Ausdehnung der Sprachlage des Pariser Großraums, in dem es schon jetzt gar kein FR gebe, dazu das mögliche Verschwinden sämtlicher Dialekte und langues ethniques (1975: 117). G. Taverdet blickt ähnlich pessimistisch in die Zukunft. Für ihn leiden die FR bereits unter Auszehrung. Das wichtigste Kontingent der FR, ihr besonderer Wortschatz, würde schrumpfen, weil einerseits die regionalen Wörter in den allgemeinen Wortschatz aufgenommen würden (z.B. im kulinarischen Bereich) und andererseits Lebensbereiche wie z.B. traditionelle Handwerke verschwänden und mit ihnen ihr regionalspezifischer Wortschatz. Was die Vergangenheit angeht, G. Taverdet hält die historische Untersuchung der FR sogar für überflüssig: Si les études des patois peuvent être dirigées dans toutes les directions et aborder tous les aspects de la langue, les études de français régional sont, par nature, plus limitées ; elles excluent naturellement la phonétique historique et la morphologie; elles se cantonnent surtout dans les espaces de liberté du français régional, c’est-àdire principalement dans la phonologie et le vocabulaire. 32 Warum sollen die historische Phonetik und die Morphologie, dazu die Syntax, von der nicht die Rede ist, ausgeschlossen werden? Vermutlich, weil diese Bereiche angeblich wenig Originelles bieten. Tatsache ist, dass G. Taverdet die historische Untersuchung nicht ins Auge fasst, nicht einmal als Desideratum. Nur im Vorübergehen meint er, “l’étude des écrivains régionalistes n’est pas nécessairement sans intérêt pour connaître la façon dont le français a peu à peu pénétré les régions périphériques” (1990: 712). Wie wir gesehen haben, stellen diese Autoren die Hauptquelle des DRF. Dies ist kein direkter Zugang zur Sprache der Bevölkerungsmehrheit, sondern zur literarisierten Mündlichkeit, bzw. Schriftlichkeit. 8.3.8. Annäherung an die Sprache der Bevölkerungsmehrheit: literarisierte Mündlichkeit und Schriftlichkeit Als leicht zugänglich und als Ersatz für vermeintlich fehlende Quellen der Sprache der Mehrheit bietet sich die Wiedergabe der Volkssprache in literarischen Werken an. Diese Reflexe der Mehrheitssprache müssen wegen der Neigung literarischer Autoren zur Selektion und Übergeneralisierung der ausgewählten Fakten mit Vorsicht angefasst werden 33 . Auf der Darstellung der Pariser Volkssprache in den Komödien Vadés, also auf literarisierter Mündlichkeit, fußt über weite Strecken die erwähnte Sprachgeschichte von R. A. Lodge (2004). Deren Ergebnisse wären bestimmt überzeugender, wenn die literarischen Texte mit authentischen Schriftzeugnissen aus der Unterschicht verglichen worden wären. Interessanterweise hat sich in Frankreich 32 Taverdet (1990: 708). 33 Cf. dazu Blank (1991) und Thun (2005). <?page no="410"?> Die diachrone Erforschung der français régionaux 377 neben der Literarisierung der Mündlichkeit der Unterschichten auch eine Tradition der literarischen Nachahmung ihrer Schriftlichkeit herausgebildet. Schon Bonnier (1891) weist auf Balzac (lettre d’Ida Gruget in Ferragus, Scènes de la vie parisienne), auf Henri Monnier (Scènes populaires) und Emile Durandeau (Histories naturelles civils et militaires) hin, die den Briefstil einfacher Leute parodieren. Dieser wird übrigens auch in der zeitgenössischen Rhetorik scharf kritisiert. 34 Ohne auf die Tatsache einzugehen, dass diese Texte nur Reflexe der Schreibweise Ungebildeter sind, interpretiert sie J. Siede (1885) als authentische Quellen. Hier wird das CHSF den kritischen Vergleich ermöglichen. 9. Verwandte Projekte: Textausgaben, die nach sprachwissenschaftlichen Kriterien ediert wurden Die bisherigen Ausgaben von Texten aus der französischen Unterschicht, die sprachwissenschaftlichen Anforderungen entsprechen, können nach ihrer Textsorte und nach ihrer räumlichen und zeitlichen Reichweite eingeteilt werden. a) großräumig und langer Zeitraum, dispers G. Ernst und B. Wolf (2005: Textes français privés des XVIIe et XVIIIe siècles, Tübingen; veröffentlicht auf CD, Kommentarteil noch nicht erschienen) transliterieren zwölf Tagebücher und Chroniken, die den Zeitraum von 1607 bis 1803 und die nördliche Hälfte Frankreichs abdecken. Soziologisch gehören die Verfasser teils der Unterschicht an. Aber die langen und z.T. über Jahrzehnte geschriebenen Texte setzen geübte oder zumindest sich immer mehr übende Schreiber voraus. Wenn unsere Vermutung sich bestätigt, dass es erst ab 1789 Privatbriefe aus der Unterschicht in großer Zahl gibt (s.u. zum Schreib- und Aufbewahrungsmotiv), dann kann das CHSF unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Textsorte und Fertigkeit der Schreiber als Fortsetzung der “textes privés” gelten. 35 Das zweite Großprojekt, das durch den Einschluss der Textsorte “Privatbrief” dem CHSF noch näher steht, ist die von der kanadischen Linguistin F. Martineau geleitete Sammlung Microvariation et épistolarité. Laut persönlichem Schreiben von Frau Martineau (cf. auch Martineau 2005) sollen darin “contes, chansons, lettres, journal personnel, journal de voyage, etc.” vertreten sein. Die soziale Herkunft der Verfasser umfasst weitere Schichten als das CHSF: “artisans, cultivateurs, notaires, marchands, officiers, etc.” Auch der Zeitrahmen ist weitergespannt: “du 17 au milieu du 20e [siècles]”. 34 So von L. Domairon (1822). 35 Zu einzelnen Brieffundstücken siehe P. Caspard (1979, 1980). <?page no="411"?> Harald Thun 378 Räumlich umfasst das Projekt jedoch nur einen Teil Frankreichs: “Paris et ses environs, Ouest, Normandie, Picardie, un peu la région de Grenoble”. Dies sind, bis auf Grenoble, Herkunftsgebiete der französischen Besiedler Kanadas. Entsprechend ist die “Nouvelle France” das andere Sammelgebiet des Corpus. Es ist eine Veröffentlichung im Internet geplant. Zurzeit widmet sich F. Martineau hauptsächlich ihrem anderen Großprojekt, Modéliser le français: les voies du français, das literarische Texte umfasst. Fünf vorbildlich edierte Briefe aus dem ersten Projekt sind unter der Adresse www.uottawa. ca./ academic/ arts/ lettres/ nf/ images einsehbar. b) kleinräumig und kurzer Zeitraum Sowohl hinsichtlich der sprachwissenschaftlichen Interpretation wie bezüglich der Prinzipien der Textedition sind S. Branca-Rosoff / N. Schneider (1994: L’Ecriture des citoyens. Une analyse linguistique de l’écriture des peu-lettrés pendant la période révolutionnaire, Paris) ein Modell für das CHSF und spätere Untersuchungen. Der umfangreiche Textanhang (pp. 149-281) enthält neben den Protokollen von Verhandlungen der revolutionären “Comités de Surveillance” des département Bouches du Rhône auch 38 Briefe von Gefangenen oder Angeklagten an die Obrigkeit. Die soziale Schicht stimmt z.T. mit der Zielgruppe des CHSF überein, nicht jedoch die Textsorte, da es sich hier nicht um Privatbriefe handelt, sondern um Texte aus dem “discours ‚public’”. “Nous n’avons en effet pratiquement pas rencontré de lettres intimes rédigées par des scripteurs maladroits et la correspondance de soldatspaysans qui a survécu par exemple au Béarn manque ici, peut-être en raison de la faible alphabétisation des Provençaux” (p. 7). Solche “lettres intimes” gibt es jedoch auch in diesem département. Am Beispiel der Bouches du Rhône haben wir den Nutzen des Übergangs von den archives départementales zu den archives communales getestet. Ein Mitglied unserer Arbeitsgruppe ist sogleich in Arles fündig geworden und hat dort 11 Privatbriefe von “soldats du rang” aufgespürt. c) kleinräumig und langer Zeitraum Ebenfalls auf eine Kleinregion, dabei aber über einen längeren Zeitraum, nämlich auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, erstreckt sich die erwähnte Ausgabe von A. Bruneton-Governatori / J. Staes, 1996, “Cher père et tendre mère.” Lettres de Béarnais émigrés en Amérique du Sud (XIXe siècle), Biarritz. Der Vergleich einiger mitreproduzierter Faksimile mit den diplomatischen Transliterationen bestätigt das Autorenprogramm der getreuen Wiedergabe. <?page no="412"?> Die diachrone Erforschung der français régionaux 379 d) räumlich dispers und kurzer Zeitraum Exakt die erste Phase des CHSF und zum Teil auch die soziale Schicht, die unser Projekt berücksichtigt, decken die Briefe ab, die Chr. Schlindwein (2003), … je ne me lasse point de te lire: zur Sprachgeschichte des Alltags in französischen Briefen in Deutschland (1792-1813), Frankfurt am Main et al., kommentiert und in - sehr sorgfältiger - Transliteration ediert (99 Briefe, einige mit Faksimile, in beigefügter CD). Die in Deutschland (Mainz) und in den Services Historiques de l’Armée de Terre/ Vincennes aufgefundenen Briefe stammen von französischen Besatzungssoldaten aus verschiedenen Orten vermutlich des nördlichen Frankreich. Über die wenigsten Schreiber liegen allerdings Sozialdaten vor, so dass die genaue Lokalisierung schwierig ist. Weniger als die Hälfte der Briefe stammen von “soldats du rang” und nur ein Teil davon sind Privatbriefe. e) punktuell und kurzer Zeitraum Hier ist an erster Stelle Ch. Bonnier (1891) “Lettres de soldat. Etude sur le mélange entre le patois et le français”, in: ZrPh XV, 375-428, zu nennen, der in Frankreich kaum bekannte Pionier 36 der sprachwissenschaftlichen Erforschung der Schriftlichkeit der Unterschichten. Nach einer programmatischen Einleitung, in der er zum Studium von zeitgenössischen Unterschichtentexten aufruft, interpretiert und transliteriert Bonnier 15 von 1859-1860 geschriebene Briefe eines anonymisierten Soldaten aus dem département Nord (“né dans un village situé entre Lille et Valenciennes”, p. 415) an seine Eltern. Die Wiedergabe scheint diplomatisch zu sein, Faksimile fehlen allerdings. Da die Briefe aus dem Privatbesitz einer nichtgenannten Bauernfamilie stammen, dürften die Originale unerreichbar sein. Sie gehören chronologisch in die zweite Phase des CHSF und passen genau in die soziale Schreibergruppe unseres Projekts. In der Chronologie der Forschungsgeschichte an zweiter Stelle steht das von N. Dow transliterierte und knapp kommentierte und 1978 von C. Souchon veröffentlichte Material, das ebenfalls aus Nordfrankreich stammt: 26 Briefe, die Charles Lefel , Revolutionssoldat und Sohn eines Winzers aus Chivres bei Soissons, von 1793 bis 1795 an seine Eltern geschrieben hat sowie ein Antwortbrief seines Vaters. Diese Briefe, für die Photokopien der Originale existieren (die wir aber noch nicht einsehen konnten), entsprechen vermutlich exakt dem angegebenen Prinzip “Orthographe des lettres respectée” (p. 96, n.2) und sind unmittelbar für das CHSF brauchbar. 36 Weder H. Frei noch S. Branca-Rosoff / N. Schneider noch G. Antoine / R. Martin zitieren ihn, erstaunlicherweise auch nicht J. Chaurand (1992), der mit dem Corpus von N. Dow, das aus Chivres bei Soissons stammt, ebenfalls Material aus Nordfrankreich untersucht. <?page no="413"?> Harald Thun 380 10. Charakteristika des CHSF 10.1. Festlegung der zu untersuchenden Gruppe 10.1.0. Allgemeine Überlegungen Es dürfen weder zu großzügige Auswahlkriterien angewandt werden, weil dadurch das Ziel, die Sprache der Bevölkerungsmehrheit zu dokumentieren, in Gefahr geriete, noch dürfen die Kriterien zu streng ausfallen, weil dann die Quellengrundlage zu schmal werden könnte. 10.1.1. Regelkombination Wie von S. Branca-Rosoff / N. Schneider und Chr. Schlindwein sollen Briefe ungeübter Schreiber gesammelt werden, jedoch in erster Linie Privatbriefe (“lettres intimes”) und nicht solche des “discours public” (Briefe an die Obrigkeit) und auch nicht Briefe von Schreibern einer beliebigen sozialen Schicht, sondern solche von Schreibern aus der Unterschicht, da es dem CHSF um die Dokumentation der Sprache der Bevölkerungsmehrheit geht. Privatbriefe betrachten wir als die spontansten unter den erhaltenen und erreichbaren schriftlichen Äußerungen 37 . Wichtige Hinweise auf die Ungeübtheit des Schreibers geben neben der Abweichung seines Briefes von den präskriptiven Schreibnormen seiner Zeit seine geringe Schulbildung und ein Beruf, zu dessen Ausübung das Schreiben nicht gehört. Was die Normabweichung angeht, so muss Folgendes festgehalten werden. Als Abweichung von der Orthographienorm der Gemeinsprache ist sie für das CHSF ein leicht anwendbares, weil gut sichtbares Auswahlkriterium. Und meistens geht diese formal-mediale Abweichung auch mit Problemen der konzeptionellen Organisation der Briefbotschaft einher. Vom Schreiberstandpunkt aus gesehen war diese Norm bis weit in das 19. Jahrhundert hinein aber kaum erreichbar, da selbst den Schullehrern die Orthographieregeln noch lange unbekannt blieben. Durch das Kriterium des schreibfernen Berufs werden Briefschreiber wie z.B. Marcel Papillon aussortiert, der zwar aus der Unterschicht stammt, der im Gegensatz zu seinen Geschwistern Joseph, Lucien und Marthe als Anwaltsgehilfe aber mit Schreibarbeiten vertraut war. 38 10.1.2. Hierarchie der Kriterienkombinationen Hier nun die Hierarchie der Auswahlkriterien, die für das CHSF gelten soll. 37 Und folgen damit der Typologie, die L. Madelin in der Préface zu Fairon / Heuse (1936: V) aufstellt. 38 Papillon, Marthe, Joseph, Lucien, Marcel (2003): “Si je reviens comme je l’espère”. Lettres du front et de l’arrière 1914-1918, recueillies et préfacées par Madeleine et Antoine Bosshard; postface, notes historiques et bibliographie de Rémy Cazals et Nicolas Offenstadt, Paris. <?page no="414"?> Die diachrone Erforschung der français régionaux 381 1. Stelle: Unserer Verknüpfung von diastratischen, diaphasischen und kulturtechnikbezogenen Kriterien (“Regelkombination”) entspricht in den meisten Fällen der aus der Unterschicht stammende einfache Soldat (“soldat du rang”), der auch in seinem Beruf ungeübter Schreiber geblieben ist und der sich brieflich an Verwandte, Nachbarn, Freunde seines Heimatortes richtet. Mit dem letzten Kriterium wird Ortsansässigkeit behauptet. D.h. wir vermuten, dass der Schreiber aus demselben Ort stammt wie der Briefadressat. Dies ist bei Briefen an die Ehefrau mit großer Sicherheit so und, wegen der noch geringen residentiellen Mobilität in unserem Untersuchungszeitraum, auch in den anderen Fällen wahrscheinlich. Eine gewisse Unschärfe in der örtlichen Herkunft wird durch das CHSF einkalkuliert, da es sich mit der diatopischen Bezugsgröße das département zufriedengibt. Die Herkunft der Briefe über den gesamten Untersuchungszeitraum aus genau demselben Ortspunkt zu fordern, wäre selbst bei der unerwartet günstigen Quellenlage illusorisch. Zu den Unterschichtenangehörigen rechnen wir auch die aus dieser Schicht stammenden und in ihr sozialisierten Aufsteiger, etwa napoleonische Offiziere. 2. Stelle: Wenn Briefe gemäß der Regelkombination nicht zu finden sind, werden an zweiter Stelle weniger stark von der präskriptiven Norm abweichende Briefe von Unterschichtenschreibern aufgenommen. Diese Erweiterung ist nötig, weil die Alphabetisierung in Frankreich nicht gleichmäßig verlief, weil immer die Möglichkeit der autodidaktischen Einübung besteht und weil im Lauf der Untersuchungsphase der funktionale Alphabetismus zugenommen hat. Dennoch bleibt der starkabweichende Brief das aussagekräftigste Dokument des Substandards. Bei ausreichender Quellendichte sollen pro département stark und weniger stark von der Norm abweichende Briefe nebeneinandergestellt werden. 3. Stelle: An dritter Stelle sollen ausgewählte Passagen aus Tagebüchern, Kriegserinnerungen und Chroniken aus der Unterschicht stehen. 39 39 Wie z.B. die Geschichte der Revolutionen von 1789 und 1830 des bearnesischen Schneiders Pierre Bergez; cf. Lajeune (1981). <?page no="415"?> Harald Thun 382 4. Stelle: Als vierte Wahl sollen Briefe der Textsorte “discours public” aus der Unterschicht gelten, wobei auch hier die stark abweichenden bevorzugt werden und die normnäheren, falls vorhanden, in Kontrast zu ersteren gesetzt werden sollen. 5. Stelle - Verweis im Anmerkungsapparat: Auf Privatbriefe und Briefe an offizielle Stellen von Angehörigen der Nicht- Unterschicht soll nur im Anmerkungsapparat des CHSF hingewiesen werden. Die Reproduktion solcher Texte wäre ein wichtiger Schritt zu einer explizit diastratisch differenzierenden Dokumentation 40 (und ein Komplement zu unseren pluridimensionalen Sprachatlanten). Wir sehen aber die Hauptaufgabe des CHSF in der diachronen Dokumentation der Sprache der Unterschicht und damit, wie ausgeführt, die Herausbildung der FR über vier Generationen hinweg. Die diastratische Kontrastierung soll durch Hinweise auf Quellenmaterial vorbereitet, ihre Ausführung aber anderen Projekten überlassen werden. 41 Ein diastratisch differenzierendes CHSF können wir in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht bewältigen. 10.1.3. Nicht-autographische Briefe Ein Problem, das richtig eingeschätzt werden muss, werfen die Fälle auf, in denen der Briefversender nicht gleichzeitig der Briefschreiber (scripteur) ist, sondern der Auftraggeber (destinateur), an dessen Stelle ein Anderer tritt. Dies ist selten ein berufsmäßiger Schreiber (scribe), sondern meistens ein Kamerad. Damit wird das Problem etwas entschärft. Aus vielen Hinweisen wissen wir, dass sich die Soldaten der Revolution und des Premier Empire innerhalb der Kompanien landsmannschaftlich und sogar nach Herkunft aus derselben “petite patrie” zusammengetan haben. Daher ist mit guter Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass Schreiber und Auftraggeber aus derselben Gegend (demselben département) stammen. Die Sozialdaten des Auftraggebers, sofern erhältlich, und die sprachlichinterne Analyse können hier weitere Gewissheit schaffen. Auf jeden Fall müssen nicht autographische Briefe als solche gekennzeichnet werden. Je mehr wir uns dem Ersten Weltkrieg nähern, desto seltener dürfte der Fall des Schreibenlassens werden. 40 Textsammlungen wie die von Branca-Rosoff / Schneider (1994) und Schlindwein (2003) differenzieren nicht explizit, lassen aber eine solche Unterscheidung zu. 41 Solche sind z.B. im Béarn oder anderen Gegenden mit relativ gut erhaltener Dialektalität sinnvoll. <?page no="416"?> Die diachrone Erforschung der français régionaux 383 10.2. Diatopischer und diachronischer Bereich Das CHSF soll diatopisch ganz Frankreich auf der Grundlage des département-Netzes abdecken. Es ist sinnvoll, auch die frankophonen Teile des heutigen Belgien und Luxemburgs hinzuzunehmen. Dies entspricht dem Untersuchungsgebiet des Atlas Linguistique de la France, der Ausdehnung des nanapoleonischen Empire und der besonders starken Quellendichte. 42 Ob auch aus späterer Zeit entsprechende Dokumente vorhanden sind, wissen wir noch nicht. Einen besonderen Fall stellen die deutsch- und flämischsprachigen Briefe dar. Es gibt sie für die Napoleonzeit aus den damaligen belgischen und luxemburgischen départements in nicht geringer Zahl. Sie gehören aber in eine Geschichte des Deutschen oder des Flämischen. Wir schließen sie deshalb aus und nehmen nur solche anderssprachigen Briefe auf, die von Schreibern aus Gegenden stammen, in denen sich ein FR herausgebildet hat. Das sind die Gebiete der dauerhaft französischen départements, wie etwa das Elsass und das département Nord. Der diachrone Vergleich soll durch eine Einteilung der Dokumentenfolge in drei Phasen ermöglicht werden. 1. Phase: Révolution et Empire (1789-1815) 2. Phase: ca. 1816-1913 3. Phase: Erster Weltkrieg Die erste und die dritte Phase zeichnen sich sowohl sprachextern als auch durch die gute Dokumentenlage als scharf abgegrenzt aus. Es lässt sich schon jetzt absehen, dass in der zweiten Phase die Quellendichte abnimmt. Selbst aus dem deutsch-französischen Krieg von 1870/ 71 haben wir bislang relativ wenig Briefmaterial gefunden. Eine Zweiteilung dieser zweiten Phase, etwa so, wie sie die große Histoire de la langue française von F. Brunot und Nachfolgern vornimmt, wäre sinnvoll, ließe sich aber nur bei guter Quellendichte durchführen. Wie schon ausgeführt, lässt sich vielleicht der eine oder der anderer Auswandererbrief in dieser Phase finden. 10.3. Bemerkungen zum Substandard Es geht uns hier nicht darum, die komplizierte wissenschaftsgeschichtliche Diskussion um den Begriff wieder aufzurollen, 43 sondern nur um einen anwendbaren Arbeitsbegriff, der den Bereich, in dem wir unsere Briefe suchen wollen, hinreichend scharf abgrenzt, gleichzeitig aber auch die Besonderheiten der externen Sprachgeschichte Frankreichs und der angrenzenden fran- 42 In Lüttich lagern über 1400 Soldatenbriefe aus der napoleonischen Zeit. 43 Cf. Holtus/ Radtke (Eds.)(1986-90). <?page no="417"?> Harald Thun 384 kophonen Gebiete respektiert. Dafür sei noch einmal an das Ziel unseres CHSF erinnert: anhand von Privatbriefen aus der Unterschicht die Herausbildung und Entwicklung der français régionaux (FR) zur Sprache der Bevölkerungsmehrheit zu dokumentieren. Der Substandard umfasst: a) die FR b) die sprachgeschichtlich dem Standard nahestehenden nordfranzösischen Dialekte (dialectes d’oïl) c) die sprachgeschichtlich entfernteren südfranzösischen und frankoprovenzalischen Dialekte (dialectes d’oc et francoprovençaux) d) die dem französischen Standard nur politisch und sprachsoziologisch untergeordneten Regionalsprachen (langues régionaux oder ethniques) e) das, was “anti-standard” heißen könnte, 44 weil es sich bewusst vom Standard abgrenzt wie der Argot oder militärische Geheimsprachen. 45 f) andere in Frankreich gesprochene nicht-französische historische Sprachen wie das Italienische auf Korsika oder das Deutsche (nicht das Elsässische) im Elsass. Die Fälle c), d), f) könnten wegen ihrer sprachtypologischen Entfernung vom Nord- und Standardfranzösischen auch “non-standard” heißen. Wie schon bemerkt wurde, kann man an fast allen bisher gefundenen Briefen das Merkmal ablesen, intentional auf das Standardfranzösische abzuzielen, aber im FR zu landen. 46 Ausnahmen sind bislang nur einige auf Deutsch verfasste Briefe aus Straßburg und ein auf Italienisch geschriebener Brief aus der Haute-Savoie. Bei der Suche nach Privatbriefen aus der Unterschicht müssen die Kategorien b) bis f) mitberücksichtigt werden. Bis auf den Fall f) wird wohl wenig oder nichts zu finden sein. Möglich ist aber, dass (wie schon in 6.3.5. ausgeführt) in Gegenden mit vitalen Varietäten das FR der Unterschichtenbriefe so nahe an den Dialekten oder ethnischen Sprachen steht, dass neben dem FR eine zweite Zwischenschicht, ein französisierter Dialekt oder eine französisierte ethnische Sprache, angenommen werden muss. Ein zu eng gefasster Suchbegriff würde den Blick an dieser unteren Zwischenschicht vorbeilenken. 44 Im Anschluss an J. Albrechts Idee des “sekundären Substandards” ( 2005: 134seq). 45 Cf. oben den Hinweis von W. Doegen (1921). 46 Inwieweit die Militärzensur hier den Schreibern das Französische aufzwingt, muss für alle drei Phasen untersucht werden. Hinweisedarauf, dass die Zensur Berichte über militärische Bewegungen verbietet, gibt es in den Briefen genug, nicht aber solche auf eine Sprachenvorschrift. <?page no="418"?> Die diachrone Erforschung der français régionaux 385 10.4. Bemerkungen zur unterschiedlichen Quellendichte 10.4.0. Schreib- und Aufbewahrungsmotiv Die Sprachwissenschaft ist eigentlich eine harmlose Wissenschaft. Sie nährt sich aber auch, wie ihre Nachbarwissenschaften, aus der Not großer Menschenmengen. Die größere Quellendichte an Soldatenbriefen in der ersten und dritten Phase hat ihren Grund in der für die Sprachwissenschaft günstigen Verknüpfung von Schreibmotiv und Aufbewahrungsmotiv. 10.4.1. Erste Phase Mit der “levée en masse” vom 24 II 1793 werden 300.000 Rekruten aus der gewohnten Situation der face-to-face-Kommunikation herausgerissen und zur schriftlichen Fernkommunikation gezwungen, insofern sie das “capital social” (P. Bourdieu) ihrer sozialen Beziehungen erhalten wollen. Dies wird meistens der Fall gewesen sein, denn anders als der von den “sergents recruteurs“ überlistete Söldner der Heere des Ancien Régime ist der “conscrit” der Revolutionszeit keine Marginalisierter, der jahrzehntelang dienen muss, sondern ein Normalbürger, der auf Rückkehr hofft. Mit der Einführung der Wehrpflicht am 5 IX 1798, die bis zum 28 V 1998 dauern sollte, wird die räumliche Trennung zum periodisch wiederkehrenden Dauerzustand. Diese neue Lebenssituation verlangt dem Einzelnen ab, drei Schritte zu tun, an die er zumindest in der ersten Phase nicht gewohnt war: 1. Varietätenwechsel (vom Dialekt oder der Regionalsprache zur Gemeinsprache; dazu die Wiedergabe fremdsprachlicher Elemente, z.B. aus dem Deutschen) 2. medialer Wechsel (von der phonischen, mimischen und gestuellen zur graphischen Zeichenproduktion) 3. konzeptioneller Wechsel (von der lockereren, stets sofort korrigierbaren, in die gemeinsam wahrgenommene Situation eingebettete Organisation der mündlichen Botschaft zur jeweils festgelegten schriftlichen Mitteilung, deren situative Einbettung versprachlicht werden muss). 47 Der Militärdienst ist zunächst auf fünf Jahre festgesetzt und betrifft die 20- 25jährigen Männer. Unter diesen wurde die erforderliche Soldatenzahl ausgelost. Günstig ist für unsere Bevorzugung der Unterschicht die Möglichkeit, einen Ersatzmann zu stellen. Dieser “remplaçant” musste bezahlt werden, was sich nur Reiche leisten konnten, so dass eine zusätzliche Auswahl der ärmeren Unterschichtenangehörigen stattfand. Die große Zahl der Soldatenbriefe aus der ersten Phase beweist nach unserer Ansicht, dass die 47 Cf. dazu den bekannten und nützlichen Katalog der unterschiedlichen Elemente der mündlichen und schriftlichen Kommunikation bei Koch / Oesterreicher (1990: 8seqq). <?page no="419"?> Harald Thun 386 Alphabetisierung der Unterschichten weiter vorangeschritten sein musste, als es Zeitgenossen wie der abbé Grégoire und die neuere Alphabetisierungsforschung annehmen. Wie sind diese Privatbriefe in öffentliche Archive gelangt? Abgesehen von möglichen Schenkungen, die nach dem Bestand der Archive aber meist den Nachlass bekannter Persönlichkeiten betreffen (Diplomaten, Generäle, Dichter), gab es für die erste Periode zwei Hauptgründe, die zur Aufbewahrung führten. Der Brief eines unter den Fahnen stehenden älteren Bruders galt als “certificat”-Ersatz, der den Bürgermeistern vorgelegt wurde und jüngere Brüder vor dem Militärdienst bewahren konnte oder den Eltern eine Pensionsberechtigung verschaffte. Der andere Fall hat mit Fürtoterklärungen (“déclaration de décès”) zu tun, die häufig bei Erbschaftsangelegenheiten gebraucht wurden und für die der Brief als letztes Lebenszeichen galt. In beiden Fällen wurden die Privatbriefe zu amtlichen Schriftstücken. Und in beiden Fällen wurden sie für gewöhnlich umfangreicheren Konvoluten einverleibt. Hierdurch wird der Soldatenbrief der ersten Phase zwar sicher aufbewahrt, zugleich aber schwer auffindbar, und zwar auch für das Archivpersonal. Deshalb ist in vielen Fällen die persönliche Suche in den Archiven der einzige Weg zum Erfolg. 10.4.2. Zweite Phase In der zweiten Phase, in der zu keinem Zeitpunkt mehr Soldaten als während des Premier Empire mobilisiert wurden, entfallen die beiden genannten Aufbewahrungsgründe oder kommen zumindest nicht mehr häufig vor. Die meisten Unterschichtenbriefe aus dieser Zeit sind, wie wir bei unseren Archivaufenthalten festgestellt haben, als Schenkungen in die Archive gelangt. Oder sie sind Ergebnis der Suche, die interessierte Wissenschaftler (wie Bonnier oder Bruneton-Governatori / Moreux, s.o.) in Privathäusern unternommen haben. Auch unsere Arbeitsgruppe ist sporadisch bei französischen Bekannten fündig geworden. Eine solche Suche flächendeckend zu organisieren, etwa durch öffentliche Appelle, dürfte wegen des schon großen Zeitabstands zu keinem großen Erfolg führen, ganz zu schweigen von den starken Gründen, die man als Nichtfranzose zwecks Überzeugung der einheimischen Privatbriefbesitzer auffahren müsste. 10.4.3. Dritte Phase Was die dritte Phase angeht, so kann die Quellenlage als sehr gut bezeichnet werden. Fast hat man mit der Überfülle an Dokumenten zu kämpfen, da Briefe von der Front und an die Front in Millionenzahl gingen und viele Archive wegen des der Gegenwart noch nahen Ereignisses und wegen des großen öffentlichen Interesses daran rechtzeitig Privatbriefe aus dem Ersten Weltkrieg gesammelt haben. Auch hier sind die Briefe der Soldaten zahlrei- <?page no="420"?> Die diachrone Erforschung der français régionaux 387 cher als die von Angehörigen geschriebenen, so dass es wohl beim Missverhältnis zwischen Briefen aus Männerhand und Frauenhand bleiben wird. Die klassischen sprachwissenschaftlichen Untersuchungen bieten keine vollständigen Textproben (so H. Frei) oder nur eine Auswahl aus dem gesammelten Material (so A. Prein). Es gibt aber bereits eine beträchtliche Anzahl von Veröffentlichungen. 48 Soweit wir bislang sehen, werden die meisten wohl “Historikerausgaben” sein (s.o.), die am Original überprüft werden müssen. Einige jedoch sind gut brauchbar wie die Korrespondenz der Familie Papillon (s.o.) 49 Was fehlt, ist eine Sammlung nach den Kriterien des CHSF, also eine Zusammenstellung, die die Gesamtfläche Frankreichs abdeckt und die sich auf die Unterschicht beschränkt. 10.4.4. Stichprobe zur Relevanz des Drei-Phasen-Vergleichs Für das Béarn habe ich stichprobenartig Briefe aus den drei Phasen verglichen 50 und die Ergebnisse in Vorträgen in Kiel und Heidelberg vorgestellt. Es zeigt sich, dass in der dritten Phase die Orthographie sich der Norm annähert, dass dialektal unterlegten Merkmale bis auf einige Lexeme fast ganz abgebaut sind und dass ebenso die Formelhaftigkeit der Briefe aus der ersten und zweiten Phase verschwindet. Stattdessen werden sprechsprachliche Merkmale (des français familier) häufiger. Diese und andere Entwicklungen (wie z.B. die der Anredeformen) werden sich gut verfolgen lassen, wenn das CHSF in seinen drei sukzessiven synchronen Schnitten vorliegt. 11. Publikationsziel 11.1. Grundsätzliche Überlegungen Geplant ist, sowohl die Vorteile der Veröffentlichung des Materials in Buchform als auch die Gestalt einer digitalen Datei, die ins Internet gestellt wird, und Datenträger wie CDs oder DVDs zu nutzen. Die Buchform garantiert dauerhafte und stabile Aufbewahrung der Dokumentation. Privatbriefe aus der Unterschicht mit schwieriger Graphie sind keine gewöhnlichen Lesetexte, deren Inhalt schnell erfasst wird. Sie sind auf sorgfältigstes Studium der kleinsten Details angelegt und als Quellenwerke für die Aufstellung in Bibliotheken gedacht. Es ist m.E. eine Illusion zu glauben, dass die Benutzer sich mit der Arbeit am Bildschirm zufriedengeben werden. Jeder, der mit kritischen Ausgaben intensiv arbeitet, wird sie in Papierform vor sich legen wollen. Bei digitalen Dateien und auch bei Datenträgern wie CDs oder 48 Deren bibliographische Erfassung wir begonnen, aber noch nicht abgeschlossen haben. 49 Überprüft von meiner Studentin S. Nissen, Verfasserin einer Staatsexamensarbeit über diese Briefsammlung. 50 Auf der Grundlage von J. Staes, A. Bruneton-Governatori und Briefen aus Péronne. <?page no="421"?> Harald Thun 388 DVDs bleibt dem Intensivbenutzer nur die Möglichkeit, sich einen - nicht immer legalen - Ausdruck zu machen. Es entsteht für gewöhnlich das schlechteste aller Papierprodukte, eine Loseblattsammlung. Die Herstellung eines soliden Arbeitsinstruments, das den Gewohnheiten des Benutzers entgegenkommt, wird also auf den Leser abgeschoben. Daher verzichten wir nicht auf die Publikation in gedruckter Form. 11.2. Buchpublikation Für jede der drei Phasen ist ein Band vorgesehen. So ist die Synopse der Phasen möglich, die unsere diachrone Perspektive verlangt und die bei digitalen Dateien nur mit mehreren Bildschirmen hergestellt werden kann. Pro Phase und département sollen fünf Briefe von verschiedenen Verfassern aufgenommen werden und zwar gemäß der erläuterten Hierarchie der Kriterienkombinationen. Jeder Brief wird kritisch ediert, d.h. diplomatisch transliteriert, knapp kommentiert nach sprachwissenschaftlichen und historischen Gesichtspunkten, mit den Herkunftsangaben, evtl. anderen Veröffentlichungsorten und mit den Sozialdaten von “scripteur” und “destinaire” (Empfänger), soweit ermittelbar, ergänzt. Auf eine ins heutige Normfranzösische übertragene Vollversion der Briefe verzichten wir. Dies einerseits aus Platzgründen, andererseits, weil man sich trotz aller Divergenzen recht schnell in die Schreibgewohnheiten der Ungeübten einliest. Schwierige Passagen werden jedoch erläutert. Bei den meisten Briefen staunt man über die kalligraphische Form, die im klaren Kontrast zu den orthographischen Abweichungen steht und die offenbar einer der größten Erfolge der französischen Schule ist. Jedem Band wird eine CD beigefügt, die zwecks Vergleichs mit der Transliteration das Faksimile aller transliterierten Texte bietet. 11.3. Digitale Datei im Internet Diese Datei soll Folgendes enthalten: den Bestand der Buchpublikation, Suchfunktionen, die den Buchbestand nach sprachlichen Formen erschließen, Hinweise auf andere Unterschichtenquellen, die bei der Archivrecherche ermittelt wurden (z.B. Kriegstagebücher, Lebenserinnerungen, Chroniken ) evtl. Indices der Orts- und Personennamen sowie thematischer Komplexe von geschichtswissenschaftlichem und kulturgeschichtlichem Interesse (z.B. Preise für Lebensmittel, Krankheiten, Ortsbeschreibungen) <?page no="422"?> Die diachrone Erforschung der français régionaux 389 soweit es die Archive erlauben: Faksimile der Texte, die in unserer Hierarchie tief angeordnet sind und die deshalb nicht in die Buchpublikation aufgenommen wurden, wie Briefe an die Obrigkeit (Möglichkeit des diastratischen und diaphasischen Vergleichs). Es wird nicht möglich sein, diese Briefe auch zu transliterieren. 12. Briefbestand Zum gegenwärtigen Zeitpunkt (Anfang 2010) umfasst das Kieler Archiv des CHSF über 1200 Briefe aus den Phasen 1 und 2. Mit der systematischen Sammlung der Briefe aus dem Ersten Weltkrieg wurde noch nicht begonnen. Bibliographie Albrecht, J. (2005): “Die Gemeinsprache als jüngstes Stadium der Nationalsprache“, in: A. Lenz / K. Mattheier (Eds.), Varietäten - Theorie und Empirie, Frankfurt am Main, 127-140. Antoine, G. / Martin, R. (Eds.)(1999): Histoire de la langue française 1880-1914, Paris. M. 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