Figurenmodelle des Alters in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur
1006
2010
978-3-8233-7603-3
978-3-8233-6603-4
Gunter Narr Verlag
Miriam Seidler
Die Dissertation ist eine Positionsbestimmung, die den genuinen Beitrag der Literaturwissenschaften in der bislang durch Sozial- und Medizinwissenschaften dominierten Altersforschung herausstellt. Neu an dieser Konzeption einer literarischen Gerontologie ist, dass ein narratologisches Modell zur Analyse von Figuren in literarischen Texten zur Anwendung kommt. Die Schrift arbeitet mit Altersrepräsentationen und Alterskonzepten zwei zentrale Begrifflichkeiten heraus. Unter Altersrepräsentationen werden konkrete Ausgestaltungen literarischer Figuren in Prosatexten verstanden. In Abgrenzung dazu gelten Alterskonzepte als die von literarischen Figuren vertretenen Vorstellungen von der Lebensphase Alter. Anhand dieser begrifflichen Präzisierung wird eine Diskursgeschichte des Alters in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur entwickelt. Dabei werden aktuelle Diskurse wie die Darstellung von Alzheimer oder Parkinson untersucht und mit dem Pflegeheimroman eine neue Romanform beschrieben. Obgleich sich seit der Antike kein nennenswerter Wandel der Alterskonzepte feststellen lässt, so macht die Arbeit deutlich, dass sich seitens der Altersrepräsentationen in der aktuellen Literatur ein signifikanter Wandel von traditionellen Motiven vollzieht.
<?page no="0"?> Figurenmodelle des Alters in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur M i r i a m S e i d l e r <?page no="1"?> Figurenmodelle des Alters in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur <?page no="3"?> Figurenmodelle des Alters in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur M i r i a m S e i d l e r <?page no="4"?> Bibliografische Informa on der Deutschen Na onalbibliothek Die Deutsche Na onalbibliothek verzeichnet diese Publika on in der Deutschen Na onalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über h p: / / dnb.d-nb.de abru ar. Umschlagbild: Telomermolekül (Protein Data Bank: 2HY9, Visualisierung: Dr. Gert Bange, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg) Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine- Universität Düsseldorf (D61) unter dem Titel „Keiner kann über das Altwerden und über das Altsein die Wahrheit sagen.“ (Mar n Walser) Figurenmodelle des Alters in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur als Disserta on angenommen. © 2010 · Narr Francke A empto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zus mmung des Verlages unzulässig und stra ar. Das gilt insbesondere für Vervielfäl gungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: h p: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISBN 978-3-8233-6603-4 <?page no="5"?> „Keiner kann über das Altwerden und über das Altsein die Wahrheit sagen.“ (Mar n Walser) <?page no="7"?> 5 Inhaltsverzeichnis Teil I: Theoretische Überlegungen 1 Einleitung ................................................................................................ 9 2 Zwischen Person und Figur - Überlegungen zur Analyse alter Figuren .................................................................................................... 27 2.1 Die Figur in der Literaturtheorie ......................................................... 27 2.2 Kriterienkatalog zur Erstellung von Figurenmodellen .................... 44 2.3 Altersrepräsentation .............................................................................. 46 2.4 Alterskonzept ......................................................................................... 58 3 Zwischen Realität und Fiktion - Gesellschaftliche Altersrollen und literarische Altersmodelle........................................................... 63 Teil II: Altersrepräsentationen und Alterskonzepte in der Gegenwartsliteratur 1 Spiel mit traditionellen Konzepten der alten Frau: Judith Hermann Ende von Etwas ....................................................... 81 2 Öde lange Restzeit? Alterskonzepte in Monika Marons Romanen............................... 103 2.1 Midlife progress novel? Zur Übertragbarkeit des anglo-amerikanischen Konzeptes ......... 113 2.2 Das Ende der ›unwürdigen Greisin‹? Zur Entwicklung weiblicher Figurenmodelle ................................. 123 2.3 Alterskonzepte in Endmoränen und Ach Glück................................. 142 3 Zur Neubewertung eines traditionellen Figurenmodells - verliebte Alte in den Romanen Martin Walsers ........................... 151 3.1 Das Figurenmodell der verliebten Alten .......................................... 151 3.2 Weibliches Altern im Der Lebenslauf der Liebe .................................. 162 3.3 Innovative Gestaltung eines alten Modells? .................................... 187 3.4 Alterskonzepte und Liebeskonzepte im Lebenslauf der Liebe ......... 193 3.5 Altersunglücksglück: Altersliebe im Augenblick der Liebe .............. 196 3.6 Augenblick und Lebenslauf - Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Figurenmodell der Altersliebe .................... 219 4 Neue Perspektive auf die Großelterngeneration? Großeltern im zeitgenössischen Familienroman ......................... 223 4.1 Altersrepräsentationen im Familienroman ...................................... 223 <?page no="8"?> 6 4.2 Das Ende der Großelternkonvention? Tanja Dückers Himmelskörper ............................................................. 227 4.3 Eine andere weibliche Genealogie: Kathrin Schmidt Die Gunnar-Lennefsen-Expedition .......................... 264 4.4 Zusammenfassung............................................................................... 284 5 Zwischen Liebe und Entsorgung - das Altern der Eltern in der fiktionalen Darstellung .................. 287 5.1 Das Altern der Mutter: Margit Schreiner Heißt lieben..................... 288 5.2 Die Mutter-Tochter-Beziehung und die Alzheimerkrankheit: Helga Königsdorf Die Entsorgung der Großmutter ........................... 300 5.3 „Ein Verharren und gleichzeitig ein Loslassen“? Das Alterskonzept in Heißt lieben....................................................... 305 6 Zwischen Faszination und Ekel: Der Pflegeheimroman ............ 315 6.1 Einführende Überlegungen und Begriffsbestimmung................... 315 6.2 Zivildienst im Witwenheim: Marc Wortmann Der Witwentröster ................................................... 350 7 Alter und Krankheit ........................................................................... 381 7.1 Männliches Altersunglück: Martin Walser Lebenslauf der Liebe ..................................................... 385 7.2 Alzheimer als Gesellschaftsdiagnose: Gerhard Köpf Ein alter Herr................................................................ 402 7.3 Figurenmodelle im Kontext von Alter und Krankheit................... 428 Teil III: Zusammenfassung und Ausblick 1 Alterskonzepte und alte Figuren in der Gegenwartsliteratur ... 433 1.1 Alte Figuren - ein Überblick über Altersrepräsentationen und Figurenmodelle .................................................................................... 433 1.2 Zentrale Alterskonzepte...................................................................... 440 2 Probleme und Chancen einer literaturwissenschaftlichen Gerontologie ........................................................................................ 443 Siglenverzeichnis .............................................................................................. 451 Literaturverzeichnis .......................................................................................... 453 <?page no="9"?> Teil I Theoretische Überlegungen <?page no="11"?> 9 1 Einleitung Das 20. Jahrhundert hat etliche Klischees der vorhergegangenen Jahrhunderte übernommen. Im Laufe der Zeit ist die Vorstellung vom Altern auf sozialem, psychologischem, biologischem Gebiet bereichert worden, aber trotzdem halten sich weiterhin alte Schablonen. Es spielt keine Rolle, daß sie sich widersprechen: sie sind derart abgenutzt, daß man sie bei der allgemeinen Gleichgültigkeit wiederholt. Das Alter ist ein Herbst, reich an reifen Früchten; es ist auch ein unfruchtbarer Winter, dessen Kälte, Schnee, Reif man beschwört. Es hat die Milde schöner Abende. Doch man schreibt ihm auch die düstere Traurigkeit der Abenddämmerung zu. 1 Simone de Beauvoir entwickelt in der verdienstvollen Materialsammlung La Vieillesse aus dem Jahr 1970 ein Bild der Darstellung des Alters in der Literatur, das von Klischees und Stereotypen 2 geprägt ist. Rund vierzig Jahre nach der Erstveröffentlichung der Untersuchung von Simone de Beauvoir irritiert diese Darstellung den zeitgenössischen Leser und wirft die Frage auf, ob sich seither in der Literatur analog zur Lebenswirklichkeit nicht doch ein Wandel vollzogen hat. Unbestreitbar ist: Alter und Altern in Deutschland haben sich verändert. Der Strukturwandel des Alters hat in den letzten zwanzig Jahren zu einer grundlegenden Umgestaltung des öffentlichen Bildes in der Bundesrepublik und in vielen anderen europäischen Staaten geführt. Nicht nur hat sich rein numerisch die Anzahl der 1 Simone de Beauvoir: Das Alter. Essay. Deutsch von Anjuta Aigner-Dünnwald und Ruth Henry. Reinbek bei Hamburg 1977, S. 179. [Original: La Vieillesse. Essai, Paris 1970.] Eine klare Begriffstrennung findet sich bei Simone de Beauvoir allerdings nicht. Ein Blick ins französische Original zeigt, dass sie die Begriffe Stereotyp („De l’ancienne Égypte à la Renaissance, on voit que le thème de la vieillesse a presque toujours été traité de manière stéréotypée; mêmes comparaisons, mêmes adjectifs.“ La Vieillesse. Essai. Paris 1970, S. 175) und Klischee („Le XXe siècle a hérité des clichés des siècles précédents.“ Ebd., S. 224) synonym verwendet. 2 Unter (Alters-)Klischee verstehe ich eine ungeprüfte und landläufige Annahme über das Alter (vgl. Stefan Pohlmann: Das Alter im Spiegel der Gesellschaft. Hrsg. von Günther Böhme. Idstein 2004, S. 100). Bei (Alters-)Stereotypen handelt es sich hingegen um stark vereinfachte, weit verbreitete und historisch variable Vorstellungen von sozialen Gruppen, die auf der polarisierenden Zuschreibung von vermeintlich typischen Eigenschaften beruhen und sich in literarischen Texten niederschlagen. Als Norm erscheinen im Altersstereotyp die Eigenschaften, die mit der Jugend assoziiert werden. Charakteristisch für Stereotype ist weiterhin, dass sie nicht nur individuelle Meinungen über soziale Gruppen abbilden, sondern von den Mitgliedern der eigenen Gruppe geteilt werden, d.h. Stereotype sind intersubjektiver Natur und umfassen konsensuell geteilte Bilder. (Vgl. Sigrun-Heide Filipp, Anne-Kathrin Mayer: Bilder des Alters. Altersstereotype und die Beziehungen zwischen den Generationen. Stuttgart u.a. 1999, S. 55f.) <?page no="12"?> 10 alten Menschen vergrößert, sondern diese befinden sich aufgrund des Wandels der Arbeitswelt und der Verbesserung der medizinischen Versorgung in einem physiologisch wesentlich besseren Zustand als zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Mit den Verbesserungen für den einzelnen alten Menschen gehen aber auch Veränderungen im gesellschaftlichen und kulturellen Umgang mit dem Alter einher. Kann es sein, dass diese vielfältigen Veränderungen in der Literatur keinen Niederschlag gefunden haben? Dass literarische Thematisierungen des Alter(n)s immer noch den traditionellen Darstellungsmustern folgen, wie sie nicht nur von Simone de Beauvoir beschrieben werden, sondern wie sie sich in ähnlicher Weise bereits in einer Poetologie von Philipp Harsdörffer 3 im 17. Jahrhundert finden? Ist es nicht vielmehr so, dass Gegenwartsautoren aufgrund alltäglicher Erfahrungen mit älteren Menschen oder dem eigenen Älterwerden ein Interesse an alten Figuren und altersspezifischen Themen entwickeln und diese ins Zentrum von epischen, dramatischen 4 und autobiographischen 5 Texten stellen? Dass aber gerade aufgrund der sich verändernden Wahrnehmung des Alters und alter Menschen in der Literatur ein Wandel sowohl der mit dem Alter verbundenen Themen als auch in der Darstellung alter Figuren zu beobachten ist? Diese Fragen stellen den Ausgangspunkt der vorliegenden Überlegungen dar und sollen im Lauf der Arbeit geklärt werden. Alter als Forschungsgegenstand in der Literaturwissenschaft In den Geisteswissenschaften wurde das Alter mit dem cultural turn in den 1980er Jahren als Forschungsgegenstand entdeckt. 6 Gibt es mit Marlene 3 Vgl. Georg Philipp Harsdörffer: Poetischer Trichter. Die Teutsche Dicht- und Reimkunstohne Behuf der Lateinischen Sprache/ in VI. Stunden einzugiessen. Durch ein Mitglied der hochlöblichen Fruchtbringenden Gesellschaft. Zum zweiten Mal aufgelegt und an vielen Orten vermehret. Nürnberg 1648-1653. ND Darmstadt 1969. Teil 3. Nürnberg 1653, S. 122-124. 4 Beispiele sind Katarakt (1993) von Reinald Goetz, Magma (2006) von Werner Fritsch oder das Drama von Tankred Dorst Ich bin nur vorübergehend hier (2007). 5 Hier gibt es unterschiedliche Schwerpunkte. Ingrid Bachér (Sieh da, das Alter. Tagebuch einer Annäherung. Köln 2003) und Silvia Bovenschen (Älter werden. Notizen. Frankfurt a.M. 2006) stellen ihre eigenen Erfahrungen in den Mittelpunkt, während viele Autoren sich über die Erkrankung der Eltern mit dem eigenen Altern auseinandersetzen. Vgl. Philip Roth: Mein Leben als Sohn. Eine wahre Geschichte. München, Wien 1992 [Original: Patrimony. New York 1991]; Jonathan Franzen: Das Gehirn meines Vaters. In: ders.: Anleitung zum Alleinsein. Reinbek 2007 [Original: How to Be Alone. 2002]; Tilman Jens: Demenz. Abschied von meinem Vater. München 2009. 6 Vgl. den kurzen Forschungsüberblick von Ursula Klingenböck: ›[F]riedlich und heiter ist dann das Alter[? ]‹ (Hölderlin, Abendphantasie). Literarische Konstruktionen des Alter(n)s. In: Alter(n) hat Zukunft. Alterskonzepte. Hrsg. von Ursula Klingenböck, Meta Niederkorn-Bruck und Martin Scheutz. Innsbruck 2009, S. 141-183, hier S. 141- 143. <?page no="13"?> 11 Kuchs Dissertation L'enfer des femmes 7 in der Romanistik und mit den Arbeiten von Woodward, Gullette und Maierhofer 8 in der Amerikanistik bereits einige umfangreichere Forschungsarbeiten, so besteht in der Germanistik ein Forschungsdefizit in der Untersuchung literarischer Repräsentationen des Alters in allen Epochen. Eine sehr anregende Analyse hat Thomas Küpper für das 19. Jahrhundert vorgelegt. Die von ihm erprobte Verbindung von Altersrepräsentationen und poetologischen Konzepten ist bislang einzigartig in der Forschungslandschaft zur deutschsprachigen Literatur. 9 Darüber hinaus liegen neben umfangreicheren Arbeiten von Hannelore Schlaffer 10 und Hans-Georg Pott 11 lediglich verstreute Aufsätze vor, die meist als Überblicksdarstellungen angelegt sind. 12 Die vorliegende Arbeit möchte einen Beitrag zur Beseitigung dieses Defizits leisten und die Vielfalt von Altersdarstellungen in der Gegenwartsliteratur nachzeichnen. Für die Amerikanistik hat Claudia Deniers im Rahmen ihrer Dissertation zur Darstellung des Alters im Werk T. S. Eliots 1993 ein Programm zur weiteren Untersuchung alter Figuren entworfen, das aber in den letzten Jahren von keiner philologischen Disziplin eingelöst wurde: Wünschenswert wäre daher die Komplementierung der Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung [zu T.S. Eliot, M.S.] durch eine vergleichende Betrachtung der Alterskonzeptionen anderer moderner Autor/ inn/ en. Auf der Basis der relativ umfangreichen Forschung zur Gestaltung der Altersthematik bei W.B. Yeats böte sich zunächst eine Analyse intertextueller Verweise und Bezüge zwischen den mit dem Alter befaßten Texten von Eliot und Yeats an. In einer umfassenderen Studie wäre nach gattungsspezifischen Charakteristika der Darstellung des Alters in der modernen Literatur und nach einer eventuellen chronologischen Entwicklung in der Behandlung dieser Thematik zu fragen. Schließlich versteht sich die vorliegende Arbeit als Baustein für eine noch ausstehende, alle Epochen umfassende Literaturgeschichte des Alters. In einer 7 Marlene Kuch: L’enfer des femmes. Zum Bild der alternden Frau in der französischen Literatur. Frankfurt a.M. 1998. 8 Katherine Woodward: Aging and its Discontents. Freud and other fictions. Bloomington/ Indianapolis 1991; Margaret Morganroth Gullette: Declining to decline. Cultural combat and the politics of the midlife. Charlottesville, London 1997; Roberta Maierhofer: Salty Old Women. Eine anokritische Untersuchung zu Frauen, Altern und Identität in der amerikanischen Literatur. Essen 2003. 9 Vgl. Thomas Küpper: Das inszenierte Alter. Seniorität als literarisches Programm von 1750 bis 1850. Würzburg 2004. 10 Hannelore Schlaffer: Das Alter. Ein Traum von Jugend. Frankfurt a.M. 2003. 11 Hans-Georg Pott: Eigensinn des Alters. Literarische Erkundungen. München 2008. 12 Vgl. die Untersuchungen von Helmut Bachmeier: Späte Jahre. Das Alter in der Literatur. In: Entwürfe: Zeitschrift für Literatur 14 (2008), S. 63-72; Dietrich von Engelhardt: Altern und Alter in der Literatur und in den Künsten. In: La Vecchiaia nel tempo. Hrsg. von Antonio Guerci und Stefania Consigliere. Genova 2002, S. 163-183; Helmuth Kiesel: Das Alter in der Literatur. In: Was ist Alter(n)? Hrsg. von Ursula M. Staudinger und Heinz Häfner. Berlin, Heidelberg 2008, S. 173-187. <?page no="14"?> 12 solchen sollte die durchgängig unterschiedliche Darstellung und Beurteilung alter Männer und Frauen besondere Beachtung erfahren. 13 Die vorliegende Dissertation greift die Anregungen der genannten Publikationen auf und ergänzt diese um einen Überblick über Figurenmodelle alter Figuren in der Gegenwartsliteratur. Hierbei rückt die Arbeit die konkrete Ausgestaltung literarischer Figuren in Prosatexten in den Fokus und stellt diesen die von den literarischen Figuren vertretenen Vorstellungen der Lebensphase Alter gegenüber. Dieser Ansatz unterscheidet sich von der vorliegenden Forschung, die entweder gattungs- und motivgeschichtliche Fragestellungen (Schlaffer und Pott) verfolgt oder die Altersdarstellungen auf ihnen zugrunde liegende kulturelle Deutungsmuster hin befragt, 14 durch die konsequente narratologische Analyse der alten Figuren. Als exemplarische Epoche wurde die Gegenwartsliteratur 15 mit einem Schwerpunkt auf der Literatur der Jahrtausendwende gewählt. Für eine narratologisch ausgerichtete Motivgeschichte ist die Beschränkung auf eine literarische Epoche ungewöhnlich, sie ist aber aufgrund der fehlenden Forschungsarbeiten notwendig. Es soll an diesem Beispiel ein Beschreibungsinventar entwickelt werden, das auf weitere Epochen und Autoren angewandt werden kann. Damit liefert die Arbeit einen weiteren „Baustein für eine noch ausstehende, alle Epochen umfassende Literaturgeschichte des Alters“. Aufgrund dieses Selbstverständnisses der Untersuchung kann die Konzentration auf die deutschsprachige Gegenwartsliteratur nicht bedeuten, dass keine Texte in anderen Sprachen oder aus anderen Epochen zur Sprache kommen. Wo die Entwicklungen der zeitgenössischen Literatur nur mit einem Rückblick auf frühere Texte erklärbar sind oder wo die Entwicklungen in anderen Nationalliteraturen zum Verständnis der Entwicklung in den deutschsprachigen Ländern beitragen, da werden auch andere Texte herangezogen. 13 Claudia Deniers: Die Darstellung des Alters im Werk T. S. Eliots. Ein literaturwissenschaftlicher Beitrag zur Gerontologie. Frankfurt a.M. u.a. 1993, S. 169. 14 Vgl. hierzu die Untersuchungen von Miriam Haller: ›Ageing trouble.‹ Literarische Stereotype des Alter(n)s und Strategien ihrer performativen Neueinschreibung. In: Altern ist anders. Hrsg. vom InitiativForum Generationenvertrag. Münster 2004, S. 170-188 und ›Unwürdige Greisinnen‹. ›Ageing trouble‹ im literarischen Text. In: Alter und Geschlecht. Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s. Hrsg. von Heike Hartung. Bielefeld 2005, S. 45-63. 15 Unter Gegenwartsliteratur verstehe ich alle literarischen Veröffentlichungen seit 1989. Vgl. hierzu: Michael Opitz, Carola Opitz-Wiemers: Tendenzen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1989. In: Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 6. verb. und erw. Aufl. Stuttgart, Weimar 2001, S. 660-702. <?page no="15"?> 13 Diskursgeschichte des Alters Ein kurzer Überblick über einige Forschungspositionen, die sich mit der Definition des Forschungsgegenstandes Alter näher beschäftigen, soll helfen, die Fragestellung der Arbeit zu präzisieren. Literarische Altersdarstellungen entstehen nicht losgelöst von der gesellschaftlichen Alterswirklichkeit, sondern sie schreiben sich immer in gesellschaftliche und literarische Diskurse ein. Ein wichtiger Bezugstext für die literaturwissenschaftliche Altersforschung ist daher die diskursanalytische Studie Das Alter würdigen. Altersbilder und Bedeutungswandel des Alters des Soziologen Gerd Göckenjan. Dieser analysiert nicht die historische Alterswirklichkeit, sondern Altersthematisierungen. 16 Seinen Forschungen liegen die Fragen zugrunde: „Was bedeutet die Rede über das Alter“ 17 und darauf aufbauend: Welche „allgemeine[n] gesellschaftliche[n] Probleme, bei denen es ganz oft überhaupt nicht um Alte, jedenfalls nicht um das höhere Alter oder gar um Hochaltrigkeit geht“, 18 werden thematisiert, wenn vordergründig von Alter gesprochen wird. Um anhand der historischen Texte und Bilder zugrunde liegende gesellschaftliche Altersvorstellungen abstrahieren zu können, war es im Rahmen der diskursgeschichtlichen Studie notwendig, sowohl die historische Alterswirklichkeit als auch die genuin literarischen Aspekte der untersuchten Quellen 19 zu vernachlässigen. Gerd Göckenjan betont wiederholt, dass der Altersdiskurs ein polarisierender Diskurs ist, in dem Alterskonzepte mit Gut-Schlecht-, Richtig- Falsch-Stereotypisierungen arbeiten. 20 Ziel seiner Untersuchung ist es also nicht, positive oder negative Sichtweisen auf das Alter herauszustellen, sondern ihn interessiert, warum eine bestimmte Bewertung des Alters erfolgt und welche Absicht dieser zugrunde liegt. Im Rahmen dieses Theorieentwurfs entwickelt Gerd Göckenjan folgende Definition: Alterskonzepte umfassen Vorstellungen, Wertungen, Bilder des Alters. Altersbilder sind Kommunikationskonzepte. Altersbilder werden von uns nicht neu entdeckt, wenn sie auch, so kann behauptet werden, nicht in dem Umfang thematisiert und analysiert worden sind, wie das für andere Deutungsmuster oder unbestimmte Wertbegriffe gilt. Man denke etwa an die Analyse von Konzepten wie Gesundheit und Krankheit, Liebe oder Glück, die Vorstellung, daß Alter ganz ähnlich wie Gesundheit, nicht als Wirklichkeit existiert, sondern als Idee, als Deutungsmuster und als soziale Praktiken, nicht als biologische Entität, 16 Gerd Göckenjan: Das Alter würdigen. Frankfurt a.M. 2000, S. 24. 17 Ebd., S. 9. 18 Gerd Göckenjan: Diskursgeschichte des Alters: Von der Macht der Alten zur ›alternden Gesellschaft‹. In: Alterskulturen und Potentiale des Alter(n)s. Hrsg. von Heiner Fangerau u.a. Berlin 2007, S. 125-140, hier S. 128. 19 So untersucht Göckenjan z.B. für das 18. und 19. Jahrhundert neben Romanen, biographischen Schriften und Ratgeberliteratur auch populäre Zeitschriften wie Der Greis und Die Gartenlaube. 20 Göckenjan, Das Alter würdigen, S. 15. <?page no="16"?> 14 erscheint oft befremdend und ist gelegentlich Anlaß zur Entrüstung. Nach der Vorstellung etlicher Diskursteilnehmer handeln sie unter dem Titel Alter viel mehr über Wirklichkeit und nicht über Ideen, Deutungsmuster, Verfahren. Alter sei Realität und eben nicht eine soziale Konstruktion, die erst in diesem Diskurs hergestellt oder bestärkt wird. 21 Gerd Göckenjan verwirft die Vorstellung, dass im Reden über das Alter soziale Realität dargestellt werde, sondern versteht Alter als soziales Konstrukt und damit als Teil eines Diskurses, der das Phänomen ›Alter‹ erst hervorbringt. Um diesen Diskurs über das Alter differenziert beschreiben zu können, unterscheidet der Soziologe zwischen Altersbildern und Alterskonzepten. Da in den Alterskonzepten Vorstellungen und Wertungen zum Ausdruck kommen, lassen sich anhand dieser Rückschlüsse auf die soziale Konstruktion der Lebensphase Alter ziehen. Ihnen werden bei Göckenjan alle diejenigen Funktionen zugeordnet, die in vielen anderen Theoriekonzepten dem Altersbild zugeschrieben werden. Gerd Göckenjan ist allerdings der erste, der auf die problematische Verwendung des Begriffes ›Altersbild‹ hinweist, indem er bemerkt, dass in der deutschsprachigen Gerontologie der Konstruktcharakter des Alters bislang nicht berücksichtigt wurde. 22 Dieser Problematik begegnet Göckenjan dadurch, dass er das Altersbild auf die Funktion reduziert, Kommunikation über Alter zu ermöglichen, indem es die Komplexität des kaum fassbaren Begriffs ›Alter‹ soweit verdichtet und typisiert, 23 dass eine Kommunikation über das Konzept möglich wird. In dieser begrifflichen Unterscheidung deutet sich schon an, dass die Untersuchung von Göckenjan einen beachtlichen Beitrag zur Altersforschung liefert, indem sie eine genaue Definition und Reflexion des Forschungsgegenstandes vornimmt, die im Folgenden konsequent durchgehalten wird. 24 Zudem weist Göckenjan den Altersbildern aber noch eine weitere Funktion zu: Für die Diskursanalyse gibt es kein Alter in irgendeinem materiellen Sinne. Alter ist ein generalisierender Terminus für komplexe Attributionen, die sich in Altersbildern oder Alterserwartungscodes verdichten und kommuniziert werden. Altersbilder sind Deutungen, Konzepte, die vor allem als Positiv- oder Negativ-Vorbilder die sozialen Beziehungen orientieren und beeinflussen wollen. 25 Altersbilder sind der zentrale Forschungsgegenstand dieser Diskursanalyse. Ihnen wird eine wichtige Funktion im Rahmen der Gemeinschaft 21 Ebd. 22 Ebd., S. 17. 23 Ebd., S. 16. 24 Die Wirkung von Göckenjans Werk, das sich in kürzester Zeit zum Standardwerk der Altersforschung entwickelt hat, zeigt sich auch daran, dass viele Arbeiten diesen Forschungsansatz übernehmen. 25 Göckenjan, Das Alter würdigen, S. 24. <?page no="17"?> 15 zugeschrieben, denn sie werden zur Regulierung von Beziehungen zwischen einzelnen Gruppenmitgliedern eingesetzt. Sie ordnen also einerseits die Machtkonstellationen zwischen den Generationen, können aber andererseits auch der bewussten Manipulation von Einstellungen dienen, wenn sie z.B. von Seiten der Medien oder der Regierung eingesetzt werden. Auf der Grundlage unterschiedlichster Altersthematisierungen bestimmt Göckenjan vier Diskurstypen und damit vier unterschiedliche Ausrichtungen der Altersbilder, die in der Geschichte des Altersdiskurses verbreitet sind und auch heute noch Gültigkeit haben: Seit der griechischen Antike gibt es die vier Diskurstypen oder Diskursstrategien, die die Qualitäten des Alters pointieren und inszenieren; zunächst die ›Altersschelte‹, die in der Regel mit Aristoteles Rhetorik verknüpft ist: Das Alter und die Alten - so wird ausgeführt - seien bösartig, misstrauisch, ängstlich, geldhörig, feige und geschwätzig, dies als die wichtigsten Merkmale, wie sie seither immer wieder als Negativbild des Alters paraphrasiert werden. Daneben steht die Strategie des ›Alterslobs‹ für die Plato, insbesondere in dem Text Nomoi, in Anspruch genommen wird [...]. Daneben steht die Diskursstrategie der ›Altersklage‹, die Alter als Verlust und Verfallsprozess darstellt [...]. Die vierte Diskursstrategie ist der ›Alterstrost‹. Als Alterstrost gilt der klassische Text von Cicero: Cato der Ältere. Über das Greisenalter. 26 Gerd Göckenjan ist an einer Kategorisierung der Lebensphase Alter gelegen. Der Prozess des Alterns wird in diesem Konzept völlig ausgeklammert. Der alte Mensch erscheint als Repräsentant der Lebensphase und tritt nur als solcher in den Fokus des Interesses. Der Greisenkörper verweist nicht auf den einzelnen alten Menschen, sondern wird zum Symbolsystem, zum moralischen Konzept innerhalb des Diskurses. 27 Trotz der aus literaturwissenschaftlicher Sicht etwas unklaren Verwendung analytischer Begriffe ist die Diskursanalyse, wie Gerd Göckenjan sie vertritt, mit ihren Fragestellungen für die Literaturwissenschaft bislang richtungsweisend. Die vorgestellten Diskursstrategien weisen eine Nähe zu literarischen Erzählmustern auf. So hat sich die Literaturwissenschaftlerin Miriam Haller mit Göckenjans Diskurstypen auseinandergesetzt und diese für die Interpretation von Texten übernommen: Das Motiv des Alter(n)s schwankt in der Literatur auf einer Skala zwischen Verklärung und Verfall. Der Differenzskala des Motivs ›Alter(n)‹ korrespondieren drei literarische Topoi oder Stereotype mit ihren spezifischen Schreibweisen, die sich bereits in der Antike finden: Alterslob, Altersklage und Altersspott. Obwohl sie sogar als ›literarische Gattungen‹ 28 eingestuft worden sind, erscheint mir der 26 Göckenjan, Diskursgeschichte des Alters, S. 128. 27 Göckenjan, Das Alter würdigen, S. 20. 28 Hier bezieht sich Miriam Haller auf: Uwe Opolka, Gesichter des Alterns. Ein historischer Text- und Bilderbogen. In: Funkkolleg ›Altern‹. Einführungsbrief. Hrsg. vom Deutschen Institut für Fernstudienforschung an der Universität Tübingen. Tübingen <?page no="18"?> 16 Begriff des Stereotyps hilfreicher als der Gattungsbegriff, betont er doch die ideologische Wirkung eines Konstrukts, gerade wenn es nicht als solches erkannt wird, sondern als ›Wahrheit‹ oder als etwas ›Naturgegebenes‹ angesehen wird. 29 Exemplarisch zeigt sich hier die Problematik der bislang praktizierten literaturwissenschaftlichen Gerontologie. In enger Zusammenarbeit mit den anderen Disziplinen werden Begriffe übernommen, die in der eigenen Fachdisziplin bereits anders besetzt sind. Allerdings ist dieses Vorgehen in der Literaturwissenschaft nicht untypisch, wie Miriam Haller in Bezug auf Hannelore Schlaffer 30 feststellt: Während Hannelore Schlaffer [...] versucht, eine Entwicklungslinie der literarischen Altersdarstellungen vom antiken Alterslob über die moderne Altersklage und die zeitgenössische Leugnung des Alters auszumachen, belegen die hier vorgestellten repräsentativ ausgewählten Beispiele die durchgängige Stereotypenbildung in Bezug auf die Textpraxis über das Alter(n), auch wenn sich literaturgeschichtlich unterschiedliche Gewichtungen nachweisen lassen. 31 Indes haben beide Untersuchungen einen unterschiedlichen Ansatz. Hannelore Schlaffer rekurriert nicht auf die Begrifflichkeit Göckenjans, wie es hier von Haller unterstellt wird. Schlaffer wählt einen anderen, eigenen Ansatz. Sie erstellt nicht nur eine Übersicht über Figurenmodelle des Alters, sondern sie betreibt zugleich eine Gesellschaftsanalyse, indem sie literarische und kulturelle Entwicklungen gegenüberstellt. 32 So beschreibt sie figurale Ausgestaltungen des Alters, indem sie mit dem ›Staatsmann‹, dem ›Großvater‹, dem ›großen Alten‹, dem ›Lebensmüden‹ und mit ›Senioren und Seniorinnen‹ zentrale Altersmodelle herausarbeitet. Diesen alten Figuren werden mit der in der Alltagswirklichkeit zu beobachtenden Paarkonstellation ›alter Mann und Mädchen‹ und der von Schlaffer als kulturelle Opposition hierzu verstandenen ›unwürdigen Greisin‹ zwei Figurationen gegenübergestellt, die vor allem auf kultureller und weniger auf literarischer Ebene untersucht werden. So wird am Beispiel von Künstlerpersönlichkeiten aufgezeigt, wie der alte Mann durch eine junge Frau als Muse an seiner Seite aufgewertet wird, und wie sich dieses Modell - junge 1996, S. 60-102. Allerdings wird bei der Lektüre von Opolka nicht klar, worauf sich Haller genau bezieht, da Opolka keine explizite Beziehung zwischen literarischen Gattungen und Göckenjans Diskursstrategien herstellt. 29 Haller, ›Ageing trouble.‹, S. 176. 30 Schlaffer, Das Alter. 31 Haller, ›Ageing trouble.‹, S. 181. 32 Vgl. auch Joern Rauser: ›Über die Herbstwelten in der Literatur‹: Alter und Altern als Themenkomplex bei Hans Henny Jahnn und Arno Schmidt. Frankfurt a.M., u.a. 2001. In seinem einleitenden Kapitel gibt Rauser einen Überblick über die Geschichte der Altersdarstellung in der Literatur. Allerdings zeigt er lediglich die Vielfalt der Altersdarstellungen in der Literaturgeschichte auf. Eine Kategorisierung nimmt er nicht vor. <?page no="19"?> 17 Frau als Belohnung für berufliche Erfolge - gesellschaftlich auch auf andere Berufsgruppen ausweitet. Im Gegensatz zu der von Schlaffer vertretenen Position konzentriert sich die Kulturwissenschaftlerin Miriam Haller auf die Analyse literarischer Texte. In Anlehnung an Göckenjans Diskursgeschichte steht die Untersuchung der Lebensphase und der alten Menschen als deren typische Vertreter im Vordergrund. Sie richtet ihr Augenmerk in erster Linie darauf, wie sich im performativen Akt der alte Mensch als alter Mensch zu erkennen gibt und auf gesellschaftliche Altersnormen reagiert. Beide Beschreibungskategorien sind zwar eng miteinander verwandt, indes ist das Erkenntnisinteresse ein anderes. In dem 2005 in dem Sammelband Alter und Geschlecht veröffentlichten Aufsatz ›Unwürdige Greisinnen‹. ›Ageing trouble‹ im literarischen Text nimmt Miriam Haller die explizite Lektüre von Diskursstrategien als Stereotype zurück. Im Rückgriff auf Simone de Beauvoirs Feststellung, dass Altersdarstellungen immer mit den gleichen Begrifflichkeiten und Bildern arbeiten, 33 rekurriert sie auch hier auf die Begriffe Alterslob, Altersspott und Altersklage, denen sie an dieser Stelle die Funktion der Normierung von altersgemäßem Verhalten zuschreibt. 34 Im Folgenden widmet sie sich der Frage, „ob sich in der neueren Literatur Indizien für mögliche Neueinschreibungen eines differenzierteren und vielfältigeren kulturellen Alter(n)skonstrukts finden lassen.“ 35 Implizit enthält Miriam Hallers Fragestellung den Hinweis darauf, dass die zeitgenössische Literatur nicht mehr auf die traditionellen Topoi zurückgreifen könnte und eine neue Topologie entwickelt. 36 In der folgenden These widerlegt sie diese Fragestellung bereits, indem sie darauf verweist, dass lediglich eine Verschiebung des Interesses hin zum Altersspott stattgefunden habe: Gerade der zunächst wenig vielversprechend erscheinende Topos des Altersspotts erscheint in der Literatur des 20. Jahrhunderts als entwicklungsfähiges Medium, um Alternativen zum herrschenden Altersbild zu entwickeln. Die Topoi des Alterslobs und der Altersklage hingegen bleiben in literarischen Texten weitgehend stereotyp. 37 Die von Simone de Beauvoir gestellte Frage nach den Veränderungen in den literarischen Texten der Gegenwart scheint mir im Rekurs auf die von Göckenjan entwickelten Redegattungen oder Diskursstrategien nicht lösbar 33 Die Übersetzerinnen verwenden die Formulierung: „Vom alten Ägypten bis zur Renaissance wurde das Thema des Alters [...] fast immer stereotyp behandelt“, womit allerdings in erster Linie auf die geringe Variation in der Darstellung alter Figuren verwiesen wird. Beauvoir, Das Alter, S. 138. 34 Haller, ›Unwürdige Greisinnen‹, S. 46. 35 Ebd., S. 47. 36 Vgl. Miriam Haller: Die ›Neuen Alten‹. Performative Resignifikation der Alterstopik im zeitgenössischen Reifungsroman. In: Alterstopoi. Das Wissen von den Lebensaltern in Literatur, Kunst und Theologie. Hrsg. von Dorothee Elm u.a. Berlin 2009, S. 229-247. 37 Haller, ›Unwürdige Greisinnen‹, S. 47. <?page no="20"?> 18 zu sein. Es stellt sich vielmehr die Frage, ob nicht in einer Fortentwicklung und Präzisierung der von Schlaffer entwickelten Figurenmodelle ein Desiderat der literaturwissenschaftlichen Altersforschung behoben werden kann. Es gibt bislang keine Arbeit, die ein Beschreibungsinventar entwickelt hat, das heuristisch nutzbar gemacht werden kann für die differenzierte Betrachtung alter Figuren im literarischen Text. Sowohl die semantische Vielfalt in der Beschreibung als auch die narratologischen Strategien zur Darstellung alter Figuren müssen in einem solchen Konzept berücksichtigt werden. Wie die von Hannelore Schlaffer vorgestellten Figurenmodelle zeigen, wird das Alter nicht in jedem literarischen Text neu erfunden. Autoren greifen auf ein Inventar zur Beschreibung der alten Figuren zurück. Das bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass keine Variation oder Innovation in der fiktionalen Altersdarstellung zu beobachten wäre. Bereits bei Gerd Göckenjan findet sich ein Hinweis auf wiederkehrende Beschreibungsmuster. Dieser greift den aus der antiken Rhetorik stammenden Begriff ›Topoi‹ auf. Unter Topoi versteht er Instrumente im dauernden Prozess der Formulierung und Reformulierung von Alterserwartungscodes und Altersbildern. 38 Da der Altersdiskurs nach Gerd Göckenjan trotz der aktuellen Diskussion um den demographischen Wandel nicht charakteristisch für die Gegenwart ist, sind auch Topoi als überzeitliche Muster aufzufassen. In seinem Begriffsverständnis widersetzen sich die Topoi der Historisierung, da sie in Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Strukturbedingungen generiert werden und damit in der jeweiligen historischen Situation verankert sind. 39 Dieser scheinbare Widerspruch zwischen überzeitlichen Kategorien und historisch gebundenen Topoi ist dadurch aufzulösen, dass nicht zwischen wiederkehrenden Diskursstrategien und deren Ausgestaltung in einer bestimmten historischen Epoche differenziert wird. Als im Diskurs immer wieder aufgenommene Strategie setzt Göckenjan im Folgenden Topoi und Diskursstrategien gleich. Dabei steht für ihn also in erster Linie der Inhalt einer Aussage über das Alter im Vordergrund. Die jeweiligen Argumentationsmuster und das Darstellungsinventar spielen kaum eine Rolle. Denkt man an Simone de Beauvoirs Kritik an Altersdarstellungen in der Literatur, die sie durch eine ständige Wiederholung „alte[r] Schablonen“ charakterisiert sieht, 40 so zeigt sich, dass es ein bestimmtes Bildinventar gibt, das in Anlehnung an die antike Definition von Topoi immer wieder aufgegriffen wird. Trotz der enormen Heteronomie sowohl der Lebensphase Alter als auch der alten Menschen scheinen sich lediglich einige wenige Alterstopoi und ein minimalistisches Zeichenrepertoire zur Beschreibung alter Figuren herausgebildet zu haben. Die besondere Bedeutung der Topoi für die 38 Göckenjan, Das Alter würdigen, S. 32. 39 Ebd. 40 Beauvoir, Das Alter, S. 179. <?page no="21"?> 19 Altersforschung haben die Herausgeber des Sammelbandes Alterstopoi hervorgehoben. Sie betonen das besondere Verhältnis von Tradition und Innovation: Topik ist insofern nicht nur eine Technik der Wissensordnung, die mit der memoria zusammenspielt, sondern auch ein Medium der Innovation, insofern sie Polyvalenzen nicht ausschließt und so ein wahrscheinliches Wissen offen hält für diskursive Interpretationen. 41 Alten Figuren werden ebenso wie realen Personen bestimmte Attribute ihres Alters beigegeben, damit sie als alt zu erkennen sind, diese werden aber immer variiert und durch neue Elemente ergänzt. Unter Alterstopoi verstehe ich demzufolge das Zeichenrepertoire, das sich zur Beschreibung alter Figuren herausgebildet hat. Eine der zentralen Aufgaben dieser Arbeit ist es, herauszuarbeiten, ob sich dieses Inventar erweitert hat oder ob mit Simone de Beauvoir festgestellt werden muss, dass auch in zeitgenössischer Literatur überwiegend traditionelle Muster Anwendung finden. Im Gegensatz zu dem mit dem Thema ›Alter‹ verbundenen Erzählstrategien und Zeichenrepertoire bezieht sich Hannelore Schlaffer in ihrer Untersuchung auf wiederkehrende Muster zur Darstellung alter Figuren. Solche durch gleiche oder ähnliche Merkmalskomplexe charakterisierten Figuren werde ich im Folgenden als Figurenmodelle 42 bezeichnen. In diesen Figurenmodellen repräsentiert die Figur in der Regel eine bestimmte Vorstellung von der Lebensphase Alter. Um beide Bereiche voneinander zu trennen, verwende ich hier den Begriff Alterskonzepte. Die einzelne alte Figur in literarischen Texten und ihre spezifische ästhetische Gestaltung bezeichne ich als Altersrepräsentation. 43 Methodisches Vorgehen Aus methodischer Perspektive stellt sich nun die Frage, wie ›Alter‹ im literarischen Text untersucht werden kann. Folgende Prämissen müssen sowohl für die Definition einer eigenen Begrifflichkeit als auch für die Analyse literarischer Texte berücksichtigt werden: 41 Dorothee Elm u.a.: Einleitung. In: Alterstopoi. Das Wissen von den Lebensaltern in Literatur, Kunst und Theologie. Hrsg. von Dorothee Elm u.a. Berlin 2009, S. 1-18, hier S. 4. 42 Der Begriff des Figurenmodells ist dem vielfach in der Literaturwissenschaft verwandten Begriff der Typologie verwandt. Da der Begriff der Typologie allerdings eine Nähe zu dem in der Figurenkonzeption verordneten Typus aufweist, werde ich im Folgenden den aus kognitionswissenschaftlichen Theorien abgeleiteten Begriff des Figurenmodells verwenden, da ich nicht von vornherein ausschließen möchte, dass Figurenkonzeptionen wie Personifikation oder Individuum auch aus einem wiederkehrenden Merkmalskomplex entwickelt werden können. 43 Eine differenziertere Begriffsbestimmung enthält Teil I Kapitel 2. <?page no="22"?> 20 - Die Unterscheidung zwischen Alter als der von einer Figur zurückgelegten Lebenszeit, Altern als zeitlichem Prozess und der Lebensphase Alter muss eindeutig sein. - Ebenso wenig wie es ein allgemeingültiges, gesamtgesellschaftliches Altersbild gibt, können literarische Texte auf eine bestimmte Art der Darstellung des Alters festgelegt werden. Da Literatur zwischen den Polen der Generalisierung und der Individualisierung anzusiedeln ist, ist zu vermuten, dass die Altersdarstellungen vielfältige, teilweise unvereinbare Aspekte aufgreifen. Wertungen aller drei Facetten des Alters - Lebensphase, Alternsprozess und konkrete alte Figur - können zudem auf unterschiedlichen Textebenen, d.h. von den Figuren selbst, vom Erzähler oder vom Text als Ganzem vorgenommen werden. Hier muss zwischen den einzelnen Perspektiven unterschieden werden. - Literatur ist ein Kommunikationssystem unter anderen. Daher ist zu berücksichtigen, dass Wechselwirkungen mit anderen gesellschaftlichen Teilsysteme bzw. Diskursen, wie z.B. Medizin und Gesellschaft, bestehen. - Als Kommunikationssystem spielt einerseits die innerliterarische Kommunikation der Figuren über Alter auf der Ebene des Textes eine Rolle, andererseits muss aber auch die Kommunikation zwischen Autor, Leser und Text berücksichtigt werden. Hier bietet sich eine Verbindung zwischen pragmatisch und kognitiv ausgerichteten Methoden der Literaturwissenschaft und kulturellen Fragestellungen an. Alle genannten Aspekte sind im literarischen Text an alte Figuren gebunden, daher wird von der Figurenanalyse ausgehend ein Modell zur Untersuchung von ›Alter‹ in der Literatur entwickelt. In der Analyse literarischer Figuren hat in den letzten Jahren ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Dieser ist darauf zurückzuführen, dass die Gleichrangigkeit der Figur mit der Handlung in der Erzähltextanalyse erstmals anerkannt wurde. Die lange Bedeutungslosigkeit der Figur an sich ist letztendlich auf Überlegungen Aristoteles’ zurückzuführen, der in seiner Poetik der Handlung den Vorrang vor der Figur gegeben hat, die von ihm nur als Handlungsträger bzw. in Form des Erzählers als Übermittler der Handlung von Bedeutung war. 44 Die Überlegung, dass die Identifi- 44 Dies kommt z.B. dadurch zum Ausdruck, dass fast alle gängigen Einführungen in die Germanistik Fragen der Figurencharakterisierung und Figurenkonzeption nicht behandeln, wohingegen diese in der Anglistik meist berücksichtigt werden. Vgl. beispielsweise für die Germanistik: Michael Scheffel; Matias Martinez: Einführung in die Erzähltheorie. München 1999; Jürgen H. Petersen; Martina Wagner-Egelhaaf unter Mitarb. von Dieter Gutzen: Einführung in die Literaturwissenschaft. 7. vollst. überarb. Aufl. Berlin 2006 oder die ältere, mehrfach unverändert aufgelegte Einführung von Eberhart Lämmert: Bauformen des Erzählens. Stuttgart 1955. Vgl. für die Anglistik: <?page no="23"?> 21 kation des Lesers mit den Figuren bzw. mit einer Figur zum Fortsetzen der Lektüre in mindestens ebenso hohem Maße beiträgt wie die Spannung auf den Ausgang der Handlung, hat aus rezeptionsästhetischer Sicht zur theoretischen Auseinandersetzung mit der literarischen Figur geführt. Die Untersuchung der alten Figur folgt einem narratologischen Ansatz, der um Überlegungen aus aktuellen kognitiven und rezeptionsästhetische Konzepten erweitert wird, da diese am ehesten einen Zugriff auf die Figur zwischen textuellem Konstrukt und Lebensechtheit ermöglichen. Strukturalistische Ansätze kommen nicht in Frage, da sie im Gegensatz dazu die Figur zu sehr auf ihre Textlichkeit reduzieren, wohingegen poststrukturalistische Positionen, wie etwa die von Hélène Cixous in ihrem Aufsatz The Character of ›Charakter‹ von 1973/ 74 vertretene, dem Konzept der Figur per se eine Absage erteilen. 45 Die Analyse der literarischen Figur wurde in den letzten Jahren neben der Weiterentwicklung klassischer narratologischer Fragestellungen 46 durch fundierte theoretische Konzepte von Ralf Schneider 47 und Fotis Jannidis 48 auf eine neue Basis gestellt. 49 Ein Manko dieser Arbeiten ist, dass bei der Entwicklung ausgefeilter theoretischer Konzepte meist die Umsetzbarkeit in der Textanalyse aus dem Blick gerät. Diesem Defizit will die vorliegende Arbeit durch die Kombination von theoretischen Überlegungen am Beispiel der alten Figur und durch deren Anwendung in ausführlichen Textanalysen begegnen. Mit der literaturwissenschaftlichen Analyse wird die gerontologische 50 Forschung, die bislang überwiegend in Biologie, Medizin, Psychologie und Vera Nünning: Grundkurs anglistisch-amerikanistische Literaturwissenschaft. Stuttgart 2001; Erzähltextanalyse und Gender Studies. Hrsg. von Vera Nünning und Ansgar Nünning. Stuttgart 2004; Chrisoph Bode: Der Roman. Eine Einführung. Tübingen, Basel 2005; Monika Fludernik: Einführung in die Erzähltheorie. Darmstadt 2006. 45 Vgl. zum Überblick über poststrukturalistische Ansätze aus feministischer Perspektive: Marion Gymnich: Konzepte literarischer Figuren und Figurencharakterisierung. In: Erzähltextanalyse und Gender Studies. Hrsg. von Vera Nünning und Ansgar Nünning. Stuttgart 2004, S. 122-142, hier S. 132ff. 46 Vgl. hierzu beispielsweise den Sammelband Erzähltextanalyse und Gender Studies. Hrsg. von Vera Nünning und Ansgar Nünning. Stuttgart 2004, oder den ebenfalls von Ansgar Nünning herausgegebenen Band Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Trier 2002 47 Ralf Schneider: Grundriß zur kognitiven Theorie der Figurenrezeption am Beispiel des viktorianischen Romans. Tübingen 2000. 48 Fotis Jannidis: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie. Berlin, New York 2004. 49 Neben den bereits genannten Arbeiten von Schneider und Jannidis sei hier noch auf Thomas Koch verwiesen. Thomas Koch: Literarische Menschendarstellung. Studien zu Theorie und Praxis (Retz, La Bruyère, Balzac, Flaubert, Proust, Lainé). Tübingen 1991. 50 Vgl. zur Begriffsbestimmung Paul B. Baltes; Margret M. Baltes: Gerontologie: Begriffe, Herausforderung und Brennpunkte. In: Alter und Altern: Ein interdisziplinärer <?page no="24"?> 22 Soziologie angesiedelt ist, um eine kaum berücksichtigte Perspektive ergänzt. Im Rahmen dieser Untersuchung wird die besondere Stärke literarischer Texte und damit auch der Literaturwissenschaft Berücksichtung finden. Der Vorteil der literarischen Darstellung besteht darin, dass sie nicht nur generalisierend über die Lebensphase Alter spricht, wie das in vielen anderen Forschungsbereichen der Fall ist, sondern am Einzelfall der alten Figur Fragestellungen entwickelt, die von überindividueller und gesamtgesellschaftlicher Bedeutung sind. 51 Damit wagt die vorliegende Studie den Spagat zwischen kulturwissenschaftlichen und genuin philologischen Fragestellungen. Diese Verbindung bringt aus literaturwissenschaftlicher Sicht einen enormen Vorteil mit sich: Die kulturelle Bedingtheit des Alters wird einbezogen, ohne der Versuchung nachzugeben, Literatur nur als kulturwissenschaftliche Quelle zu interpretieren. Diese Herangehensweise birgt die Gefahr, dass das spezifisch Literarische der Texte unberücksichtigt bleibt und damit der Aussagegehalt verfälscht wiedergegeben wird. 52 Es wird mit diesem Vorgehen einerseits versucht, der aktuellen Tendenz entgegenzuarbeiten, die dahin zu gehen droht, dass einer kultur- und medienwissenschaftlich ausgerichteten Literaturwissenschaft die Literatur abhanden kommt. 53 Andererseits scheint mir gerade in der Differenz von Form und Inhalt in fiktionalen Texten ein Ansatzpunkt zu bestehen, um den historischen Wandel im Altersdiskurs sichtbar machen zu können. Hierzu wird eine weitere Anregung aus dem Eingangszitat von Simone de Beauvoir aufgegriffen. Mit dem Hinweis darauf, dass das Beschreibungsrepertoire für alte Figuren sich kaum verändert hat, deutet sie eine Verbindung von thematischen Fragestellungen - die in ihrer Untersuchung im Vordergrund stehen - und der Verwendung von Studientext zur Gerontologie. Hrsg. von Paul B. Baltes, Jürgen Mittelstraß und Ursula M. Staudinger. Berlin, New York 1994, S. 1-34, hier S. 8f. 51 Irmhild Saake: Die Konstruktion des Alters. Eine gesellschaftstheoretische Einführung in die Alternsforschung. Wiesbaden 2006, S. 11. 52 So ist es z.B. ein Manko der Studie von Borscheid, dass er literarische Quellen als Beispiele für die Altersrealität der Frühen Neuzeit heranzieht. Die spezifische literarische Qualität - z.B. eine ironische Schreibweise oder die Darstellung aus einer eingeschränkten Figurenperspektive - wird nicht berücksichtigt. Peter Borscheid: Geschichte des Alters. 16.-18. Jahrhundert. München 1989. 53 Für die kritische Stellungnahme angesichts einer drohenden Verwischung literarischer Traditionen durch ein Aufgehen im aktuellen Trend der Kulturwissenschaften sei hier stellvertretend Oliver Jahraus zitiert: „Kulturwissenschaft [meint] hingegen eine Beschäftigung mit einem Phänomenbereich, der, wenn er überhaupt noch Literatur betrifft, nun vor allem das vorrangig oder ausschließlich fokussiert und thematisiert, was Literatur im Besonderen mit der Kultur im Allgemeinen gemein hat, was also nicht mehr spezifisch literarisch oder literaturbezogen ist.“ Oliver Jahraus: Text, Kontext, Kultur. Zu einer zentralen Tendenz in den Entwicklungen in der Literaturtheorie von 1980-2000. In: Journal of literary theory 1 (2007), S. 19-44, hier S. 37. <?page no="25"?> 23 literarischen Darstellungsmitteln an. Im Folgenden soll die These belegt werden, dass in der Kombination einer narratologischen Analyse des Figurenrepertoires und einer inhaltlichen Untersuchung der textinhärenten Vorstellungen der Lebensphase Alter der historische Wandel der Altersthematisierung herausgearbeitet werden kann. Die Beobachtung Beauvoirs deutet bereits an, dass eine reine Analyse der Figurenkonzeption - aufgrund der typischen, historisch konstanten Altersmerkmale - kein befriedigendes Ergebnis liefert. 54 Diese Vermutung bestätigt sich, wenn man das in der Ambivalenz von Figurenkonzeption und Figurencharakterisierung angelegte Potenzial betrachtet, 55 das in der vorliegenden Arbeit am Beispiel der Gegenwartsliteratur genutzt werden soll, um historischen Wandel sichtbar zu machen. Aufbau der Arbeit Aufgrund der vorgestellten Überlegungen zum Verhältnis von Alter und Literatur ergibt sich für die vorliegende Arbeit folgender Aufbau: I. Anhand narratologischer Überlegungen zur Figurendarstellung in Prosatexten und zur Erstellung von Figurenmodellen alter Figuren in literarischen Texten wird zu Beginn der Untersuchung das methodische Instrumentarium für die Textanalyse entwickelt. II. Hieran schließen sich einige kurze Überlegungen zum Verhältnis von gesellschaftlichen Altersrollen und literarischen Altersmodellen an. Damit wird die von Hannelore Schlaffer nicht berücksichtigte Differenz aufgegriffen und beschrieben. Altersrollen und Altersmodelle dienen als Folie für die Entwicklung der Besonderheiten literarischer Figuren in der Gegenwartsliteratur. III. Im Zentrum der Untersuchung steht die Analyse von Romanen und Erzählungen aus den Jahren 1998-2007, in denen alte Figuren auf vielfältige Art und Weise und in unterschiedlichen thematischen Kontexten entworfen werden. Auf die zugrunde liegenden Kriterien der Textauswahl werde ich im Folgenden näher eingehen. 54 Auch an Beauvoirs Essay ließe sich zeigen, dass die Interpretation von alten Figuren in der Literatur sehr stark durch intertextuelle Bezüge und gesellschaftspolitische Annahmen geprägt ist. 55 Die Ambivalenz verorte ich also nicht wie Monika Gomille auf der thematischen Ebene als typisches Charakteristikum der Diskursgeschichte des Alters, sondern auf der Ebene der Figurenkomposition. Hier wird sich im Laufe der Arbeit zeigen, ob es sich um ein spezifisches Phänomen der Altersdarstellung oder der literarischen Darstellung allgemein handelt. Vgl. Monika Gomille: Das Gedächtnis alter Frauen: Intergenerationelles Erzählen in afrikanisch-karibischer und -amerikanischer Literatur. In: Alterskulturen und Potentiale des Alter(n)s. Hrsg. von Heiner Fangerau u.a. Berlin 2007, S. 165-174. <?page no="26"?> 24 IV. Mit der Zusammenfassung der Ergebnisse soll ein Überblick über die herausgearbeiteten Figurenmodelle die Arbeit abrunden. V. Zur Verortung der Arbeit im Forschungsfeld der Altersforschung soll mit einem kurzen Ausblick zu Chancen und Gefahren einer Gerontologisierung der Literaturwissenschaft Möglichkeiten einer transbzw. interdisziplinären Forschung aufgezeigt werden. Kriterien der Textauswahl Alte Figuren stießen in den letzten Jahren in wachsendem Maße auf die Aufmerksamkeit von Autorinnen und Autoren. So konnte aus einer unerwartet großen Menge an Romanen und Erzählungen eine Auswahl getroffen werden. Bei der Textauswahl wurde darauf geachtet, dass ein breites Spektrum an Diskursen und verschiedenen Erzählformen berücksichtig ist. Daneben wurden folgende Kriterien herangezogen: - Grundbedingung für die Entscheidung für einen Roman oder eine Erzählung war die Behandlung des Themas ›Alter‹. Unterschiedliche Lebensphasen sollten ebenso berücksichtigt werden wie generationenspezifische Wahrnehmungen und Vorstellungen von Alter. Daher steht z.B. in den Romanen von Monika Maron die Lebensmitte und ihre speziellen Alter(n)serfahrungen im Fokus, auch wenn die Protagonistin selbst noch nicht zu den alten Figuren gezählt werden kann. - Es gibt Themenbereiche und Motivkomplexe, in denen meist das Alter eine wichtige Funktion übernimmt, so beispielsweise im Pflegeheimroman oder wenn das Alter (und Sterben) der Eltern thematisiert wird. Zudem fällt unter diesen Gliederungspunkt auch der große Themenkomplex ›Alter und Krankheit‹. - Mit dem demographischen Wandel sind drittens bestimmte gesellschaftliche Diskurse verbunden, die diesen prägen. Hierzu gehören unter anderem die Wahrnehmung der Alzheimerschen Krankheit als Charakteristikum der gegenwärtigen Gesellschaft. Darüber hinaus spielen Fragen der Selbstbestimmung alter Menschen eine Rolle, wie sie auch historisch immer wieder am Beispiel des Figurenmodells der oder des ›verliebten Alten‹ verhandelt wurden. - Neben alterstypischen Aspekten sollen aber auch literarische Entwicklungen nicht vernachlässigt werden. So werden zentrale Tendenzen der Gegenwartsliteratur berücksichtigt. Diesem Anspruch wird unter anderem dadurch Rechnung getragen, dass nicht nur Romane bekannter und etablierter Autoren ausgewählt wurden, sondern beispielsweise je ein Text der Autorinnen Judith Hermann, Tanja Dückers und Kathrin Schmidt interpretiert wird. Diese Autorinnen werden dem Kreis jüngerer Erzählerinnen zugeordnet, die der Kategorie des ›Fräuleinwunders‹ zugeordnet werden. Mit dieser Bezeichnung ist in <?page no="27"?> 25 erster Linie eine Lust am Erzählen, eine neue Spielart des poetischen Realismus bei jungen Autorinnen umrissen. Er fasst aber ebenso neue Vermarktungskonzepte für überwiegend jüngere Autorinnen. 56 Ebenfalls wurde der vielfältig bearbeitete Themenkomplex ›Erinnerung und Gedächtnis‹ berücksichtig. Dieser ist ebenso von gesellschaftspolitischem Interesse wie die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten. - Die Altersdarstellung in literarischen Texten hat eine lange Tradition - auch wenn alte Figuren in der Regel als Nebenfiguren und nicht als Handlungsträger eingesetzt wurden. Dieser Tendenz wird dadurch Rechnung getragen, dass mit dem Motiv der/ des ›verliebten Alten‹ ein solches Modell ausführlich am Beispiel zweier aktueller Romane von Martin Walser analysiert wird. Weitere Figurenmodelle wie das des alten Wissenschaftlers oder des gemeinsam gealterten Ehepaares werden ebenfalls in den Blick genommen. - In den Sozialwissenschaften und wesentlich stärker in den naturwissenschaftlichen Disziplinen dominiert der Blick auf das männliche Altern. Dies liegt einerseits daran, dass z.B. Medikamente sehr häufig an Männern getestet wurden bzw. der männliche Lebenslauf als Standard gesetzt wurde. In der folgenden Untersuchung sollen durch das Geschlecht bedingte Alterswahrnehmungen berücksichtigt werden, ohne dabei eine Konzentration auf ein Geschlecht vorzunehmen. - Aufgrund der Vielfalt der Aspekte mussten alle Prosatexte ausgeklammert werden, die einen Blick in die Vergangenheit, z.B. im historischen Roman, oder in die Zukunft werfen. In diesem Kontext sind vor allem Zukunftsvisionen einer überalterten Gesellschaft ein interessantes Forschungsfeld. Ein aktuelles Beispiel für diese Textsorte ist Björn Kerns mit dem Grimme-Preis ausgezeichneter Roman Die Erlöser AG. 57 Dieser spielt im Berlin des Jahres, „in dem erstmals mehr Neunzigjährige die Bundesrepublik bevölkerten als Zwanzigjährige, in dem erstmals mehr 56 Der Begriff ›Fräuleinwunder‹ geht auf einen Spiegel-Artikel von Volker Hage zurück. (Volker Hage, Ganz schön abgedreht. In: Der Spiegel vom 22.03.1999). Inzwischen wird er auch im literaturwissenschaftlichen Diskurs aufgegriffen. Vgl. hierfür stellvertretend: Fräuleinwunder literarisch. Literatur von Frauen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Hrsg. von Christiane Caemmerer. Frankfurt a.M. 2005. Die Fragwürdigkeit des Begriffs kann hier nicht thematisiert werden. Vgl. dazu: Heidelinde Müller: Das ›literarische Fräuleinwunder‹. Inspektion eines Phänomens der deutschen Gegenwartsliteratur in Einzelfallstudien. Frankfurt a.M. 2004. Dass keine Texte aus dem Bereich der sogenannten Popliteratur im Textkorpus zu finden sind, ist darauf zurückzuführen, dass in diesem Genre keine alten Figuren im Zentrum der Texte stehen. 57 Vgl. hierzu meinen Beitrag Fiktive Fakten? Demographische Konzepte in Literatur und Film, der in einer Sonderausgabe der Zeitschrift Seminar erscheinen wird. <?page no="28"?> 26 Greise gefüttert würden als Babys gesäugt, in dem erstmals mehr als eine halbe Million Hundertjährige der Pflege bedürften“. 58 58 Björn Kern: Die Erlöser AG. Roman. München 2007, S. 21. <?page no="29"?> 27 2 Zwischen Person und Figur - Überlegungen zur Analyse alter Figuren „Personen eines Dichtwerks wie lebende Menschen behandeln ist die Naivität eines Affen, der in den Spiegel greift.“ 1 2.1 Die Figur in der Literaturtheorie Schlägt man im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft den Begriff ›Figur‹ nach, so stößt man auf eine von Elke Platz-Waury verfasste Definition, die auf den ersten Blick einleuchtend erscheint: „Fiktive Gestalt in einem dramatischen, narrativen oder auch lyrischen Text“. 2 Damit verweist die Anglistin darauf, dass es sich bei einer literarischen Figur nicht um eine reale Person handelt. Allerdings ist der Begriff der Gestalt in diesem Zusammenhang nicht eindeutig. Er impliziert zwar, dass die Figur etwas von einem Autor Gestaltetes ist, andererseits ist aber im Begriff der Gestalt auch die Bedeutungskomponente der empirischen Person enthalten. Die Problematik einer ungenauen Beschreibung des Untersuchungsgegenstandes zeigt Thomas Kochs Arbeit zur literarischen Menschendarstellung. Er definiert seinen Forschungsgegenstand folgendermaßen: In dieser Arbeit soll nun vom Konzept der literarischen Menschendarstellung ausgehend ein theorien- und forschungsgeschichtlicher Rahmen abgesteckt werden, der es ermöglicht, eine Vielzahl von Beschreibungskategorien und modellen aus allen Epochen der abendländischen Literaturtheorie und -wissenschaft zueinander in Beziehung zu setzen und damit für die weitere literaturwissenschaftliche Forschung fruchtbar zu machen. ›Menschendarstellung‹ bedeutet hierbei erstens Darstellung des Gattungswesens Mensch - bzw. seines jeweiligen historischen Erscheinungsbildes - in der fiktionalen Verkleidung literarischer Figuren, d.h. inventio literarischer 1 Karl Corino gibt einleitend zu seinem Aufsatz Ödipus oder Orest? Robert Musil und die Psychoanalyse einen von Robert Musil verfassten Entwurf zu einer Rezension von Theodor Reiks Buch Arthur Schnitzler als Psycholog aus dem Jahr 1913 wieder. In der Auseinandersetzung mit der Frage nach der ›Seele‹ literarischer Gestalten ist das abgedruckte Zitat zu verorten. Karl Corino, Ödipus oder Orest? Robert Musil und die Psychoanalyse. In: Vom ›Törleß‹ zum ›Mann ohne Eigenschaften‹. Musil-Studien 4. Hrsg. von Uwe Baur und Dietmar Goltschnigg. München, Salzburg 1973, S. 123-235, hier S. 125. 2 Elke Platz-Waury: Figur. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 1: A-G. Hrsg. von Klaus Weimar. Berlin, New York 1997, S. 587-589, hier S. 587. <?page no="30"?> 28 Figuren. Zweitens bedeutet es Darstellung der erbzw. gefundenen Figuren, d.h. erzähltechnisch-stilistische Präsentation fiktiver oder realer Personen in beschreibenden oder erzählenden Texten. 3 Die Gleichsetzung der Darstellungstechniken für „erbzw. gefundenen Figuren“ im zweiten Absatz lässt vermuten, dass der Autor eine Differenzierung zwischen realen Personen und fiktiven Figuren für unnötig hält und infolgedessen biographische Realität und literarische Fiktion zumindest auf der Ebene der Figurencharakterisierung gleichsetzt. Die Unterscheidung zwischen historischen Menschen und fiktionalen Entitäten wird im Folgenden dadurch angezeigt, dass reale Menschen als Personen, fiktionale Gestalten hingegen als Figuren bezeichnet werden. Eine differenziertere Sichtweise auf die literarische Figur bietet Ansgar Nünning in seiner Dissertation Grundzüge eines kommunikationstheoretischen Modells der erzählerischen Vermittlung: Die im inneren Kommunikationssystem interagierenden Aktanten werden als ›Figuren‹ bezeichnet, weil Begriffe wie ›Personen‹ oder ›Charaktere‹ suggerieren, es handele sich nicht um fiktionale sondern um empirische Individuen. Diese fiktiven Figuren sind intentionale Konstrukte des realen Autors, die im Text als ein Informationsparadigma erscheinen, das sich durch Kontrast- und Korrespondenzrelationen von den anderen Figuren abhebt. 4 Mit dieser Definition wird die Figur sowohl als Handlungsträger im literarischen Kommunikationssystem verortet als auch eindeutig als vom Autor geschaffenes Kunstprodukt bezeichnet, das im Gegensatz zur realen Person aus vom Autor gelieferten Informationen besteht. Damit steht vordergründig die Figur als Kunstprodukt im Fokus, auch wenn Nünning im Folgenden die Figurenperspektive daraufhin untersucht, wie das Verhältnis zwischen der Figur als Handlungsträger und als psychische Entität in literarischen Texten gestaltet ist. 5 Das diesem Kapitel vorangestellte Zitat aus einer Rezension von Robert Musil spitzt die angedeutete Fragestellung zu. Es verweist auf eine Grundbedingung der Narratologie, dass literarische Figuren artifiziell sind und daher nicht wie lebensweltliche Personen behandelt werden dürfen, dass demgegenüber aber der Leser eine literarische Figur analog zu einer Person entschlüsselt. In einer Arbeit, die es sich zur Aufgabe macht, den Spuren des gegenwärtigen demographischen Wandels in der deutschsprachigen Literatur nachzugehen, muss zu diesem Paradox Stellung bezogen werden, da die alte Figur zentraler Forschungsgegenstand der literarischen Altersforschung ist. Im Folgenden soll durch 3 Thomas Koch: Literarische Menschendarstellung. Studien zu ihrer Theorie und Praxis (Retz, La Bruyère, Balzac, Flaubert, Proust, Lainé). Tübingen 1991, S. 9. 4 Ansgar Nünning: Grundzüge eines kommunikationstheoretischen Modells der erzählerischen Vermittlung. Die Funktion der Erzählinstanz in den Romanen George Eliots. Trier 1989, S. 69. 5 Ebd. <?page no="31"?> 29 einen selektiven Überblick über den gegenwärtigen Stand der Figurentheorie eine Positionierung der vorliegenden Studie vorgenommen werden. Grundlegend ist dabei die Fragestellung, wie die diversen Theorieansätze für eine Übersicht über Figurenmodelle alter Figuren in fiktionalen Texten fruchtbar gemacht werden können. Darüber dass die Figur ein, wenn nicht gar das zentrale Element eines Erzähltextes darstellt, ist sich die Forschung einig. 6 Dennoch wurde die Erforschung der Figur bislang von Germanisten in ihrer Funktion für die Erzähltextanalyse kaum berücksichtigt. So verwundert es nicht, dass die Figur lange Zeit nur in ihrem Verhältnis zur Handlung, die in Anlehnung an Aristoteles’ Poetik als das zentrale Moment der Poetik behandelt wurde, 7 im Fokus der Betrachtung stand, 8 wohingegen die Bedeutung der Figur an sich kaum untersucht wurde. Eine der wichtigsten Arbeiten zur Analyse der Figur stammt von Manfred Pfister, der für die Dramenanalyse ein dem Strukturalismus verpflichtetes, differenziertes Modell vorgelegt hat. Er begründet die Trennung von Inhaltsebene und Darstellungsebene wie folgt: Wir verstehen unter Figurenkonzeption das anthropologische Modell, das der dramatischen Figur zugrunde liegt, und die Konventionen seiner Fiktionalisierung und unter Figurencharakterisierung die formalen Techniken der Informationsvergabe, mit denen die dramatische Figur präsentiert wird. Für die Techniken der Figurencharakterisierung läßt sich, ausgehend vom Kommunikationsmodell dramatischer Texte, ein überhistorisches Repertoire erstellen; die historische Spezifik eines einzelnen Textes oder einer einzelnen historischen Textgruppe läßt sich dann als je spezifische Selektion aus diesem Repertoire fassen. Im Gegensatz dazu ist die Figurenkonzeption eine rein historische Kategorie, ein historisch und typologisch variabler Satz von Konventionen, und lassen sich die Vielfalt historisch realisierter Menschenbilder und ihre drama- 6 Vgl. dazu die Sammlung von Zitaten aus der Forschungsliteratur bei Göran Nieragden: Figurendarstellung im Roman: Eine narratologische Systematik am Beispiel von David Lodges ›Changing Places‹ und Ian McEwans ›The Child in Time‹. Trier 1995, S. 15. 7 Aristoteles schreibt über die Tragödie „Der wichtigste Teil ist die Zusammenfügung der Geschehnisse. Denn die Tragödie ist nicht Nachahmung von Menschen, sondern von Handlungen und von Lebenswirklichkeit [...]. Folglich handeln die Personen nicht, um die Charaktere nachzuahmen, sondern um der Handlungen willen beziehen sie Charaktere ein. Daher sind die Geschehnisse und der Mythos das Ziel der Tragödie; das Ziel aber ist das Wichtigste von allem. [...] Die Tragödie ist Nachahmung von Handlung und hauptsächlich durch diese auch Nachahmung von Handelnden.“ Aristoteles: Poetik. Griechisch/ deutsch. Übersetzt und hrsg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982, S. 21ff. 8 Am bekanntesten ist hier wohl Forsters auf die Handlung ausgerichtete Unterscheidung von runden und flachen Figuren, aber auch strukturalistische Ansätze wie z.B. der von Vladimir Propp orientieren sich in erster Linie an der Handlung. <?page no="32"?> 30 tischen Konkretisierungen nicht auf ein überhistorisches Repertoire von Möglichkeiten zurückbeziehen. 9 Manfred Pfister wendet hier die grundsätzliche Unterscheidung zwischen dem konkreten Erzählverfahren auf der Darstellungsebene (discours) und der Bedeutung der Figur für die erzählte Geschichte (histoire) auf die Beschreibung der Figur im dramatischen Text an. 10 Analog zu diesem Begriffspaar entwirft Pfister mit der Unterscheidung zwischen Figurencharakterisierung als der Art und Weise, in der „formale Techniken der Informationsvergabe“ verwandt werden, und der Figurenkonzeption als der Vorstellung, die sich ein Leser von der Figur bei der Lektüre eines Textes macht, ein Modell, um die beiden zentralen Ebenen eines literarischen Textes voneinander zu unterscheiden und für die Analyse nutzbar zu machen. Der Begriff des anthropologischen Modells, den Pfister in diesem Zusammenhang verwendet, ist ungenau. Er impliziert zwar, dass der Leser bzw. Zuschauer eine Figur als menschenähnliches Wesen wahrnimmt, dennoch scheint mir das Ergebnis des Lektüreprozesses wichtiger zu sein: Der Leser eines Dramas 11 entwickelt aufgrund der Art und Weise der Informationsvergabe eine Vorstellung von einer Figur in Analogie zur Wahrnehmung von Personen im Alltag. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist hingegen seine Differenzierung zwischen dem überhistorischen Repertoire an textuellen Zeichen - wobei er hier den Sprachwandel nicht berücksichtigt 12 - und der historisch verhafteten Figurenkonzeption. Ist die Figurenkonzeption historisch verhaftet, so impliziert dies, dass sich aus ihr zeitgenössische Vorstellungen über Personen bzw. bestimmte Personengruppen ablesen lassen. Für die Untersuchung von 9 Manfred Pfister: Das Drama. 11. Aufl. München 2001, S. 240f. 10 Es gibt jede Menge Versuche, zwischen den Ebenen der Darstellung und der erzählten Welt und ihren zentralen Elementen zu unterscheiden. Eingeführt wurde die Unterscheidung erstmals von den Vertretern des russischen Formalismus, die den Unterschied mit der Dichotomie von sujet und fabel zu fassen versuchten, ohne jedoch zu einer gemeinsamen Definition der Begriffe zu gelangen. Ich folge hier der Begrifflichkeit des französischen Strukturalisten Tzvetan Todorov, der unter histoire die erzählte Geschichte und unter discours die Art und Weise der Präsentation der Geschichte fasst. Eine sehr gute Übersicht über die Terminologie und ihre Differenzen geben Martinez und Scheffel (Martinez; Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 20-26). Die Begriffsgeschichte wird von Wolf Schmid nachgezeichnet (Wolf Schmid: Elemente der Narratologie. Berlin, New York 2005, S. 223ff.). 11 Hier muss die Differenz zwischen Aufführung und Akt des Lesens bedacht werden. In der Aufführung ist die Illusion, eine reale Person vor sich zu haben, wesentlich größer, als dies im Akt der Lektüre der Fall ist. 12 In diesem Kontext spielt für die Altersdarstellung beispielsweise auch die Begriffsentwicklung in der Medizin eine zentrale Rolle. Krankheiten wie Parkinson oder Alzheimer waren im 18. Jahrhundert noch nicht bekannt. Dies bedeutet allerdings nicht, dass es keine Menschen gab, die daran erkrankt waren. <?page no="33"?> 31 alten Figuren in der Prosa ist dieses Konzept insofern brauchbar, als in Analogie zu Pfisters Begriff der Figurenkonzeption auf der Ebene der histoire von Alterskonzeptionen gesprochen werden kann, die historische Vorstellungen des Alters vermitteln. Die von Pfister entwickelte Unterscheidung hat sich nicht nur zum Standardvokabular der Dramenanalyse entwickelt, sondern ist auch vielfach gewinnbringend für die Analyse von Prosa verwandt worden und hat auch bereits in Einführungen in die Erzähltextanalyse Aufnahme gefunden. 13 Angeregt von Gérard Genettes Untersuchungen zur Erzählerstimme und Zeitgestaltung im Roman 14 und damit durchaus in einer Tradition mit Pfisters deskriptiv-strukturalistischer Beschreibung stehend, macht es sich Fotis Jannidis in seiner Habilitationsschrift Figur und Person zur Aufgabe, einen Beitrag zur Bewältigung der Informationsfülle zur Figur in literarischen Texten zu leisten. Den strukturalistischen Ansatz erweitert er durch eine Weiterentwicklung der bei Pfister angelegten kommunikationstheoretischen Überlegungen für Erzähltexte und durch die von der Rezeptionsästhetik inspirierte Einführung eines Modell- Lesers. 15 Ebenfalls in einer Traditionslinie mit dem bei Pfister kritisierten ›anthropologischen Modell‹ steht der von Jannidis herausgearbeitete Begriff des Basistypus’, der die Minimalstruktur einer literarischen Figur bezeichnet. 16 In diesem sieht Jannidis unter Rückgriff auf das Modell der folk psychology einen Erklärungsansatz dafür, warum Figuren als Personen wahrgenommen werden. Mit diesem Begriff [der folk psychology, M.S.] wird das Phänomen bezeichnet, daß Menschen im Alltag anderen Menschen psychische Zustände zuschreiben, daß sie menschliches Verhalten mit Bezug auf psychische Zustände erklären und auch Vorhersagen machen, bei denen sie sich auf Annahmen über psychische Zustände verlassen. Es gibt nicht nur eine Alltagstheorie der Psyche; Kognitionswissenschaftler verweisen seit längerem darauf, daß es eine ›Alltags- 13 Vgl. beispielsweise Nieragden, Figurendarstellung im Roman, S. 22; Bode, Der Roman, S. 125. 14 Fotis Jannidis: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie. Berlin, New York 2004, S. 17. Vgl. auch Gérard Genette: Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop. Mit einem Nachwort hrsg. von Jochen Vogt. 2. Aufl. München 1998. 15 Hier greift er Überlegungen Umberto Ecos und Wolfgang Isers auf: „Der Modell- Leser wäre also ein anthropomorphes Konstrukt, das gekennzeichnet ist durch die Kenntnis aller einschlägigen Codes und auch über alle notwendigen Kompetenzen verfügt, um die vom Text erforderten Operationen erfolgreich durchzuführen.“ Jannidis, Figur und Person, S. 31. 16 Dafür spricht auch, dass Jannidis sein Konzept des Basistypus im Sammelband Anthropologie in der Literatur vorgestellt hat: Fotis Jannidis: Zu anthropologischen Aspekten der Figur. In: Anthropologie der Literatur. Poetogene Strukturen und ästhetischsoziale Handlungsfelder. Hrsg. von Rüdiger Zymner und Manfred Engel. Paderborn 2004, S. 155-172. <?page no="34"?> 32 physik‹ gibt, eine Theorie für bewegte mittelgroße physische Objekte, und die Grundregeln werden, wie Entwicklungs-psychologen [sic! ] inzwischen herausgefunden haben, vor dem fünften Lebensjahr gelernt. 17 Dieses Modell zieht Jannidis zum Verständnis des Lektüreprozesses heran. Da er einen literaturtheoretischen Ansatz verfolgt, ist das Denkmodell nicht für eine konkrete Analyse einsetzbar, sondern weist theoretisch nach, dass einer Figur im fiktionalen Text ein überhistorisches Modell zugrunde liegen muss, damit die Übertragbarkeit von Alltagserfahrungen mit realen Menschen auf literarische Figuren möglich ist. Im Anschluss an diese Überlegungen wendet sich Jannidis der Darstellungsseite der Figur zu, indem er im letzten Kapitel seiner Arbeit versucht, eine Systematik der Informationsverarbeitung in literarischen Texten zu erstellen. Diese ist sehr kleinteilig. So unterscheidet er zwischen Informationsvergabe und Charakterisierung einer Figur. Diese grenzt er dadurch voneinander ab, dass er unter Informationsvergabe zu einer Figur alle Informationen fasst, die über einen Eigennamen oder ein Personalpronomen direkt einer Figur als Charakteristika zugeordnet werden, wohingegen die Charakterisierung eine umfassendere Kategorie ist. Hierzu zählen auch Informationen wie z.B. Räume, die einer Figur zugeordnet sind, oder typische sprachliche oder habituelle Handlungen. Zwar ist Jannidis’ komplexes Modell zur Figur sehr überzeugend und kann ohne Weiteres zur Klärung der Frage herangezogen werden, warum eine Figur als Figur erkannt wird. Als heuristisches Werkzeug oder gar zur Analyse eines literarischen Textes scheint mir sein Ansatz jedoch weitgehend unbrauchbar. Die von ihm in Analogie zur Zeitgestaltung skizzierte Begrifflichkeit zur näheren Bestimmung einer Figur ist nicht plausibel. Dies liegt unter anderem daran, dass er versucht, Genettes Modell eins zu eins zu übertragen, und dabei nicht berücksichtigt, dass die unterschiedlichen Formen der Informationsvergabe in Bezug auf Zeit und Figuren nicht übertragbar sind. 18 Zwar ist es durchaus richtig, dass ein Ereignis, das sehr ausführlich berichtet wird und damit eine große Dauer in der Erzählung einnimmt, besondere Wichtigkeit signalisiert, aber diese Kategorie auf die Beschreibung einer Figur anzuwenden, scheint mir weniger sinnvoll, da selten eine Figur allein im Fokus der Erzählung steht und die ›Dauer‹ noch keine Aussage über die Anzahl der Informationen zulässt, die der Leser zu einer Figur erhält. So kann eine kurze Passage in auktorial-expliziter Charakterisierung mehr über eine Figur aussagen, als eine seitenlang geschilderte Handlung an impliziten Informationen über eine involvierte Figur enthält. Zudem ist diese Kategorie in Bezug auf eine Figur nur schwer zu fassen. Subsumiert man darunter nur die Passagen der expliziten Beschreibung einer Figur, dann vernachlässigt man viele 17 Jannidis, Figur und Person, S. 185f. 18 Ebd., S. 219. <?page no="35"?> 33 Informationen. Wird eine Person über ihre Handlungen charakterisiert, so entscheiden die Art des geschilderten Ereignisses und dessen Bedeutung für den Handlungsaufbau in der Regel über die Dauer und nicht die Charakterisierung der Figur. Damit zeigt sich ein zentrales Problem vieler theoretischer Überlegungen zur Figur: Die Bedeutung der Handlung für die Figurenkonzeption ist nur sehr schwer theoretisch zu beschreiben, da es unendlich viele Möglichkeiten der Verbindung gibt. 19 Andererseits geht Jannidis mit seiner Definition der Figur als mentales Modell nur graduell über eine bereits von Ralf Schneider 20 im Rahmen einer an kognitiven Konzepten orientierten Definition hinaus: Figuren sind mentale Modelle, bei deren Konstitution Wissen über literarische und lebensweltliche Persönlichkeitstheorien eine große Rolle spielt. Zugleich aber sind sie kommunizierte mentale Modelle. Das heißt, ihre jeweiligen Funktionen im Text, etwa beim Handlungsaufbau oder bei der Bildung thematischer und ästhetischer Strukturen, bestimmen sie. Informationen sind in diesen Kontexten unterschiedlich relevant in dem oben diskutierten Sinne, daß sie maximalen Kontexteffekt mit minimalem Aufwand verbinden. [Hervorhebung im Original, M.S.] 21 Der Rückgriff auf kognitive Modelle zur Erklärung literarischer Figuren hat den großen Vorteil, dass der vage und auf vielfältige Weise gebrauchte Begriff des Stereotyps umgangen werden kann. Dieser wird nicht nur im Rahmen von imagologischen Ansätzen 22 immer wieder zur Abgrenzung von sozialen Gruppen gebraucht, sondern auch narratologische Untersuchungen versuchen, mit ihm das Funktionieren von literarischen Figuren zu erklären. 23 19 Eine Ausnahme ist nur möglich, wenn man sich wie Vladimir Propp in seiner Analyse zu den russischen Zaubermärchen auf einen sehr kleinen, klar definierten Textkorpus festlegt. Wie die Versuche, Propps Untersuchungsergebnisse auf andere Gattungen auszuweiten, gezeigt haben, ist aber keine für alle fiktionalen Texte gültige Beschreibung von Figuren aufgrund ihrer Handlungsfunktion möglich. Vgl. zu Propps Morphologie des Märchens und seiner Weiterentwicklung: Jannidis, Figur und Person, S. 98ff. 20 Ralf Schneider: Grundriß zur kognitiven Theorie der Figurenrezeption am Beispiel des viktorianischen Romans. Tübingen 2000. 21 Jannidis, Figur und Person, S. 204. 22 Zur Diskussion des Begriffs ›Stereotyp‹ im Bereich der Komparatistik vgl. Manfred S. Fischer: Literarische Imagologie am Scheideweg. Die Erforschung des ›Bildes vom anderen Land‹ in der Literatur-Komparatistik. In: Erstarrtes Denken: Studien zu Klischee, Stereotyp und Vorurteil in englischsprachiger Literatur. Hrsg. von Günther Blaicher. Tübingen 1987, S. 55-71. 23 Vgl. beispielsweise Birte Streiter: „Trotz grundlegender Veränderungen in der Figurendarstellung wird in literarischen Werken mit Stereotypen gearbeitet.“ Birte Streiter: Begegnung mit der Fiktion. Vorstellungssequenzen literarischer Figuren. Marburg 2006, S. 38. Diese Arbeit wird im Folgenden nicht näher besprochen, da sie zwar einige interessante Interpretationen von literarischen Texten enthält, aber das formulierte <?page no="36"?> 34 Bevor ich Ralf Schneiders theoretischen Ansatz näher vorstelle, möchte ich auf einen Text eingehen, der als Vorläufer von Schneiders Konzept angesehen werden kann, aber nicht auf so fundierter kognitionswissenschaftlicher Grundlage fußt. Der narratologische und rezeptionsästhetische Grundlagentext zur Analyse literarischer Figuren ist Herbert Grabes’ Aufsatz Wie aus Sätzen Personen werden ... Über die Erforschung literarischer Figuren aus dem Jahr 1978. In Abgrenzung zu strukturalistischen Ansätzen und hier vor allem zu dem von Algirdas Julien Greimas entworfenen Aktantenmodell und dem von Tzvetan Todorov vertretenen Modell der Figur als Handlungsfunktion 24 steht am Anfang seiner Ausführungen die Überlegung, dass die Bildung der Vorstellungen von literarischen Figuren sich während des Rezeptionsprozesses in Analogie zur Wahrnehmung von wirklichen Personen vollzieht. 25 Dabei vertritt er aber kein rein realistischmimetisches Figurenkonzept, sondern geht davon aus, dass für die Bildung der Vorstellungen von Figuren nicht nur der Text maßgebend ist, [...] sondern die Gesamtheit aller im Bewußtsein des Rezipienten vorgegebenen Informationen und Vorstellungen über ›Personen‹, also personenspezifisches Detailwissen und eine ›implizite Persönlichkeitstheorie‹, d.h. jenes System von Überzeugungen, das den einzelnen bei der Wahrnehmung und Beurteilung anderer Menschen leitet. In der Sprache der Textwissenschaft könnte man diese Voraussetzungen auch als ›personenspezifische Präsuppositionen‹ bezeichnen. 26 Anders formuliert ist es also das Weltwissen und die diesem zugrunde liegenden Vorstellungen von Personen, auf deren Basis eine literarische Figur in der Vorstellung des Lesers erst entstehen kann. Aber eine Aktivierung der Figur sieht Grabes nicht nur im Rezeptionsprozess gegeben, sondern auch im Produktionsprozess wirksam, da der Autor aufgrund seiner eigenen Persönlichkeitsvorstellungen die Figuren in seinen Texten entwirft. In der Erfassung und Darstellung der den Texten zugrunde liegenden Persönlichkeitstheorien sowohl der Entstehungszeit als auch in der Rezeption eines Textes, sieht Grabes eine zentrale geistes- und sozialgeschichtliche Aufgabe der Literaturwissenschaft. 27 Ziel, einen Überblick über die Möglichkeiten der Figurendarstellungen in der erzählenden deutschsprachigen Literatur zu geben (S. 11), nicht einlöst. Zwar finden sich in der Dissertation einige Überlegungen zur Wahrnehmung einer Figur als Typ, aber leider zitiert sie recht willkürlich aus Lexika, literarischen und philosophischen Schriften unterschiedlicher Epochen, ohne ihren Standpunkt darzustellen und die Quellen auszuwerten. 24 Herbert Grabes: Wie aus Sätzen Personen werden ... Über die Erforschung literarischer Figuren. In: Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft 10 (1978), S. 405-428, hier S. 406f. 25 Ebd., S. 407. 26 Ebd., S. 412. 27 Ebd., S. 413. <?page no="37"?> 35 Mit diesem geistesgeschichtlichen Ansatz vereint Grabes zwei Forschungsgebiete: Die Interpretation, die fragt, welche Grundlagen einen Autor zur Entwicklung bestimmter Figurenmodelle veranlasst haben, und einen eher wissenschaftsgeschichtlichen Ansatz, der an wissenschaftliche Texte oder andere Arten einer mehr oder weniger professionellen Auseinandersetzung mit literarischen Texten, z.B. in Rezensionen oder Theateraufführungen, die Frage stellt, welche Weltsicht die jeweilige Arbeit dem Text zugrunde legt. Trotz dieser weitgefächerten und scheinbar schwer zu vereinbarenden Überlegungen enthält der Aufsatz Grabes’ einen wichtigen Ansatz, der viele Arbeiten zur Figur geprägt hat: Die Überlegung, dass eine Figur im Lektüreprozess durch den Leser jeweils neu entworfen wird und dass dazu ein bestimmtes Wissen 28 zur Verfügung stehen muss. Die Überlegungen zur Entstehung einer Figur im Lektüreprozess führt er im Folgenden weiter aus. Die Lektüre eines Textes ist zwar immer ein sukzessiver Prozess, während dessen eine Figur mit immer neuen Informationen angereichert wird, unter Rückgriff auf Ergebnisse der Leseforschung stellt er jedoch fest, dass es einen Moment gibt, der die Wahrnehmung einer Figur entscheidend prägt: Dies ist der sogenannte primacy effect. Dieser besagt, dass bereits bei der ersten Vergabe von Informationen zu einer Figur vom Leser oder Zuhörer „eine Vorstellung der ganzen Figur [gebildet wird], von deren Richtigkeit er in der Regel subjektiv sehr stark überzeugt ist“. 29 Die Ergänzung dieser ersten Informationen durch Personenvorstellungen, die eher nicht mit dem ersten Leseeindruck vereinbar sind, erhöht die Spannung während der Lektüre. Obwohl Herbert Grabes die Bedeutung des primacy effect für den Lektüreprozess ausführlich diskutiert, kommt er in seinem Beitrag zu dem Ergebnis, dass man von einer Figur im engeren Sinne erst dann sprechen kann, wenn der Leser den gesamten Text und damit auch alle Merkmale einer Figur kennt. 30 Die Überlegungen zur Frage, ob eine Figur schon bei der ersten Informationsvergabe als Figur bezeichnet werden kann oder ob sie diesen Status erst nach abgeschlossener Lektüre erhält, finde ich insofern interessant, als sie zeigt, dass zwischen zwei zentralen Elementen 28 Hier führt er im Verlauf seiner Ausführungen unterschiedliche Beispiele an. So geht er einerseits davon aus, dass die persönliche Erfahrungsgeschichte des Lesers eine große Rolle spielt, spricht aber auch von sozialen Stereotypen, die er auch in der Literatur als wirkungsmächtiges Muster ansieht. Grabes, Wie aus Sätzen Personen werden, S. 416. 29 Ebd., S. 415. 30 „[I]ch möchte vorschlagen, als ›Figur‹ nur jene Personenvorstellung zu bezeichnen, die nach mindestens einer Lektüre eines g a n z e n Textes gebildet wird. Man kann dann voraussetzen, daß zumindest der Möglichkeit nach alle im Text vorhandenen ›relevanten‹ Informationen berücksichtigt sind.“ Grabes, Wie aus Sätzen Personen werden, S. 422. <?page no="38"?> 36 unterschieden werden muss: Einerseits trägt der aktuelle Lektüreprozess zur Bildung einer Vorstellung von einer Figur bei. Andererseits ist die Figur als Ganzes erst präsent, wenn alle Merkmale bekannt sind. Da allerdings bei der Lektüre eines Textes nicht alle Textelemente als wichtig bewertet werden, kann man davon ausgehen, dass auch die Vorstellung von der Figur, die nach der Lektüre eines Textes besteht, ein subjektiver Eindruck ist, der nicht alle Textmerkmale in sich vereint. Dies kann wohl lediglich einem idealen Leser zugestanden werden. Die Überlegungen von Grabes haben junge Wissenschaftler, die sich in Qualifikationsarbeiten mit dem Phänomen der Figur in literarischen Texten auseinandersetzten, beeinflusst. Ralf Schneider entwickelt eines der ausdifferenziertesten Konzepte zur Informationsverarbeitung in Bezug auf Figureninformationen im Text. Ausgangspunkt seiner Ausführungen ist eine Verbindung von kognitionswissenschaftlichen Forschungsergebnissen mit denen der empirischen Literaturforschung und der Rezeptionsforschung. Sein Ansatzpunkt ist dabei das Modell des Fremdverstehens nach Marilynn B. Brewer, die davon ausgeht, dass Menschen auf zwei völlig unterschiedliche Arten wahrgenommen werden: Einerseits kann die Verarbeitung von Informationen über eine andere Person vorrangig top-down verlaufen. In diesem Fall wird nach der Konfrontation mit der Person schnell eine Kategorie aus den Wissensstrukturen des sozialen Lebens aktiviert, in die diese Person ›eingepaßt‹ wird. Andererseits ist es aber möglich, daß keine passende Kategorie zur Verfügung steht, bzw. ein Rückgriff darauf nicht angestrebt wird, so daß die Informationen über die Person erst nach und nach zusammengefügt werden können. Dies ist eine typische bottomup-Informationsverarbeitung. 31 Auf der Grundlage dieser Überlegungen zur Informationsverarbeitung in Abhängigkeit von textuell gesteuerten (bottom-up) und kontextuell gesteuerten (top-down) kognitiven Prozessen entwickelt Schneider das Konzept der literarischen Figur als eines mentalen Modells: Das mentale Teilmodell von der Figur stellt somit die Einheit dar, der jegliche Informationen über eine Figur zugeordnet werden können, ohne daß die Wortwahl des Textes dabei gespeichert werden müßte. 32 Aus den Überlegungen zu unterschiedlichen Arten der Informationsverarbeitung und den Wissensbereichen, die zur Modellbildung herangezogen werden, leitet er vier Strategien der Figurenrezeption ab: die Kategorisierung, die Individualisierung, die Entkategorisierung und die Personalisierung. 33 31 Schneider, Grundriß zur kognitiven Theorie der Figurenrezeption, S. 39. 32 Ebd., S. 69. 33 Ebd., S. 166f. <?page no="39"?> 37 Kategorisierung Zustande kommt die Kategorisierung in relativ kurzer Zeit durch eine topdown-Informationsverarbeitung, also durch die Aktivierung bereits bestehender Wissensbestände. Diese werden in erster Linie aus außertextuellem sozialem und literarischem Wissen abgerufen, bei fortgeschrittener Lektüre eines Textes können auch textspezifische Wissensbestände hinzukommen. 34 Während des Lektüreverlaufs wird die Zuordnung der Figur zu dieser Kategorie immer wieder überprüft. Zentrales Kennzeichen der Einreihung einer Figur in dieses mentale Modell ist nicht nur, dass die Figur durch ein relativ geringes Ensemble an Merkmalen gekennzeichnet ist, sondern dass sie sich darüber hinaus durch Homogenität und Stimmigkeit auszeichnet. 35 Individualisierung Bei der Individualisierung wird eine Erweiterung einer zuvor kategorisierten Figur um neue Merkmale und Erwartungen vorgenommen. Dadurch wird das Modell dieser Figur erweitert, jedoch wird die generelle Kategoriezuordnung der Figur durch die neuen Merkmale nicht in Frage gestellt. 36 Der Unterschied zur Kategorisierung ist also lediglich gradueller, nicht grundsätzlicher Natur. Entkategorisierung Eine Veränderung des Modells vollzieht sich hingegen bei der Entkategorisierung. Hier wird eine Figur im Verlauf des Lektüreprozesses mit Informationen ausgestattet, die nicht mit der ursprünglichen aufgrund von Kategorisierung oder Individualisierung hergestellten Vorstellung in Einklang zu bringen sind. 37 Personalisierung Bei der Personalisierung handelt es sich um eine Wahrnehmungsstrategie, bei der eine Vielzahl von Informationen über die Zielperson im bottom-up-Modus als einzelne Merkmale gespeichert werden. Dazu ist sowohl hohe Aufmerksamkeit als auch große Toleranz gegenüber widersprüchlichen Informationen über die betreffende Person sowie eine emotionale Involvierung des Beobachters vonnöten. 38 34 Ebd., S. 144ff. 35 Ebd., S. 164. 36 Ebd., S. 143. 37 Ebd., S. 160. 38 Ebd., S. 155. <?page no="40"?> 38 Im Gegensatz zu Kategorisierung und Individualisierung verweist die Personalisierung im Grunde darauf, dass standardisiertes Wissen auf eine Figur nicht angewandt werden kann. Dies kann entweder dadurch begründet sein, dass explizit keine sozialen oder literarischen Kategorien benannt sind oder eine Figur im Text von verschiedenen anderen Figuren so differenten Kategorien zugeteilt wird, dass eine eindeutige Einordnung nicht möglich ist. Daher werden zum Verständnis einer derartigen Figur andere Wissensvorräte genutzt, z.B. persönliche Erfahrungen. Selbst wenn Merkmale, die eine eindeutige Kategorisierung zulassen, später nachgeholt werden, so überwiegt hier der ›primacy effect‹, sodass keine Zuordnung zu einem anderen mentalen Modell im Verlauf der Lektüre vorgenommen wird. 39 Die kognitive Neukonzeptualisierung von Figuren, wie sie Schneider vornimmt, ermöglicht die Trennung der Figurenanalyse in die eingangs angesprochenen zwei Ebenen, da nicht nur die reine Information, sondern auch die Art der Informationsvergabe berücksichtigt wird: Zwar werden Figuren als menschenähnliche Wesen in der erzählten Welt verortet, darüber hinaus wird aber auch betont, dass es sich bei Figuren um Kunstprodukte handelt, die aufgrund dieses Status andere Merkmale aufweisen können, als dies bei Personen der Fall ist. 40 Ist diese Zweiteilung bei Schneider nur implizit nachzuvollziehen, so bringt Jens Eder diese in einem Plädoyer für eine kognitive Ausrichtung der Narratologie 41 auf den Punkt: I have already described how cognitive parameters allow us to determine not just textual structures but also, and directly, the functions they perform in the processes of comprehension and emotional experience that take place in the recipient. With that, the elements of the pragmatic complex of production, text, and reception are no longer artificially separated. The text now presents itself as a system of elements by means of which reception is directed. The consequences? Traditional dramaturgical concepts could be drawn into narratology. As well as just describing structures, narratology could simultaneously formulate hypotheses about the functional explanations for them. 39 Ebd., S. 157. 40 „Aus der Beschreibung der literarischen Figur als mentales Teilmodell des Lesers ergibt sich nun die Möglichkeit, Strategien der Informationsvergabe im Erzähltext einerseits und die Wissensstrukturen von Rezipienten andererseits daraufhin zu untersuchen, wie sie die anfängliche Evozierung von Modellen, den weiteren Verlauf der Modellbildung und die Relationen zwischen Modellen von verschiedenen Figuren beeinflussen können.“ Schneider, Grundriß zur kognitiven Theorie der Figurenrezeption, S. 71. 41 Jens Eder legt hier einen sehr weiten Textbegriff zugrunde, unter den er beispielsweise auch Filme und Alltagserzählungen subsumiert. Vgl. Jens Eder: Narratology and Cognitive Reception Theories. In: What Is Narratology? Questions and Answers Regarding the Status of a Theory. Ed. by Tom Kindt and Hans-Harald Müller. Berlin, New York 2003, S. 277-301, hier S. 279. <?page no="41"?> 39 Narrative structures could be described not only as static entities but also as processes such as changes in characters and the creation of red herrings in the plot, to name but a few. 42 Auch für Eder stehen also zwei Elemente im Zentrum der kognitiven Narratologie: der Rezeptionsprozess, der die Wahrnehmung einer Figur oder einer Handlung entscheidend prägt, und das literarische Kommunikationssystem, das er aufgrund der stärker pragmatischen Ausrichtung 43 seines Ansatzes in die Nähe der in der Dramentheorie seit Aristoteles diskutierten Wirkungsabsicht dramatischer Texte rückt. Im Rahmen der pragmatischen Interpretation eines Textes weist er den Strukturelementen literarischer Texte und damit der Ebene des discours eine wichtige Rolle zu: Cognitive theories of reception and communication model the connections between textual information, mental representations, practical communication, and narratological concepts. They embed the theory of narrative texts in a pragmatic theory of narration. This is accompanied by a view of narratives that is orientated around the impressions they make; it investigates the structures in narrative texts not as self-contained isolated units but as strategic elements in a pragmatic context; structure has a function, cognitive theories give narratology access to new kinds of narrative elements and structures (e.g. structures of character and emotional influence) and potential new ways of defining and explaining narrative phenomena. 44 Mit der Betonung, dass die Struktur in literarischen Texten eine Funktion hat, benennt Eder hier eine der zentralen Prämissen der Literaturwissenschaft. Die Tatsache, dass er sie im Rahmen grundlegender Überlegungen zur kognitiven Narratologie nennt, zeigt, dass es in literaturwissenschaftlichen Arbeiten durchaus nicht selbstverständlich ist, dass Form und Inhalt zueinander in Beziehung gesetzt werden. Gerade kognitive Ansätze gehen in erster Linie der Frage nach, wie Informationen zu Figuren im Text verarbeitet werden, ohne dass die Art und Weise der Vermittlung immer betont wird. In den meisten vorgestellten Theorien mangelt es an einer klaren Unterscheidung zwischen der Darstellungsebene (discours) und der erzählten Welt (histoire). Hieran zeigt sich eine Ausrichtung an Fragestellungen, deren Interesse in erster Linie theoretischer und taxonomischer Natur sind. Daher kann die Darstellungs- 42 Ebd., S. 292. 43 Die pragmatische Narratologie, die in den letzten Jahren in Anlehnung an die Sprechakttheorie vor allem im englischsprachigen Raum Anhänger gefunden hat, kann als Teilbereich der kognitiven Narratologie verstanden werden, da im Rahmen der Kommunikationsanalyse natürlich immer auch die Position des Adressaten, d.h. des Lesers mitbedacht werden muss. Zu neueren pragmatischen Ansätzen vgl. Sven Strasen: Wie Erzählungen bedeuten: Pragmatische Narratologie. In: Neuere Ansätze in der Erzähltheorie. Hrsg. von Ansgar und Vera Nünning. Trier 2002, S. 185-218. 44 Eder, Narratology and Cognitive Reception Theories, S. 295f. <?page no="42"?> 40 ebene nicht unberücksichtigt bleiben, tritt aber im Ergebnis hinter der Inhaltsebene zurück. Davon muss sich die stärker inhaltlich und gesellschaftskritische gerontologische Forschung, wie sie die vorliegende Arbeit verfolgt, insofern absetzen, als das Ziel einer ›gerontologisierten‹ Narratologie darin besteht, über die Untersuchung der Poetik von Erzähltexten Einsicht in für die Altersforschung relevante Problemstellungen zu gewinnen. Damit wird der Spagat gewagt zwischen einer narratologischen Untersuchung und einer kulturwissenschaftlichen Fragestellung, die den literarischen Text insofern als Quelle ansieht, als sich in ihm gesellschaftliche Prozesse nachvollziehen lassen, da sie als „historisch wandelbare Phänomene kollektiver Wirklichkeitserzeugung, Sinnstiftung und zwischenmenschlicher Verständigung“ 45 betrachtet werden können. Um den literarischen Text als Quelle in diesem kulturwissenschaftlichen Sinn nutzen zu können, darf nie die Besonderheit spezifisch literarischer Darstellungsmittel unberücksichtigt bleiben, da z.B. eine Vernachlässigung von Erzählstrategien wie Ironie und Pathos zu einer ungenauen oder gar falschen Aussage führen und damit zu einer Verfälschung der Ergebnisse beitragen würde. Der Vorteil pragmatischer und kognitionswissenschaftlicher Ansätze in der Narratologie besteht in erster Linie darin, dass die Frage nach der Autorintention durch die nach der Wirkung eines Textes auf den Leser abgelöst wird. Indes birgt dieser Ansatz meiner Einschätzung nach viele Probleme in sich: Die Wirkung eines Textes auf einen Leser kann idealerweise nur durch eine empirische Untersuchung festgestellt werden. Die Modelle, die im Rahmen der kognitiven und pragmatischen Ansätze entwickelt wurden - der ›implizite Leser‹, 46 der ›Modell-Leser‹, 47 der ›abstrakte Leser‹, 48 der ›informierte‹ oder ›uninformierte Leser‹, 49 aber auch 45 Astrid Erll; Simone Roggendorf: Kulturgeschichtliche Narratologie: Die Historisierung und Kontextualisierung kultureller Narrative. In: Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Hrsg. von Ansgar und Vera Nünning. Trier 2002, S. 73-113, hier S. 79. 46 Wolfgang Iser: Der implizite Leser. München 1972. 47 „Textbasiertes, anthropomorphes Konstrukt, das gekennzeichnet ist durch die Kenntnis aller einschlägigen Codes und auch über alle notwendigen Kompetenzen verfügt, um die vom Text erforderten Operationen erfolgreich durchzuführen.“ Dem Modell-Leser teilt Jannidis dann weitere Funktionen zu, die eine Aufteilung in auktoriale und narrative Leser bedingt. Jannidis, Figur und Person, S. 254 und S. 28ff. 48 „Der abstrakte Leser ist die werkinhärente Hypostase der Vorstellung des konkreten Autors von seinem Leser.“ Schmid, Elemente der Narratologie, S. 65. 49 Schneider, Grundriß zur kognitiven Theorie der Figurenrezeption, S.23. Er greift hier auf Überlegungen von Reinhold Wolff und Norbert Groeben zurück: „Darunter ist ein Leser zu verstehen, der die ›literaturästhetischen Bewertungen, literaturtheoretischen Einstellungen, literaturhistorisch bedingten Erwartungen etc. des Lesers der thematisierten historischen Epoche entweder selbst besitzt oder zumindest simulieren kann.‹“ <?page no="43"?> 41 Überlegungen zur Relevanz sprachlicher Aussagen 50 -, sind Konstrukte, die den Lektüreprozess und die während diesem ablaufenden Informationsverarbeitungsprozesse beschreiben. Dabei kann im Rahmen der Interpretation aber in der Regel nur auf das Wissen des interpretierenden Literaturwissenschaftlers - der damit implizit zum Idealleser wird - zurückgegriffen werden. Ein weiteres Manko der kognitiven Ansätze lässt sich an Schneiders methodischem Ansatz sehr gut zeigen. Er entwickelt im theoretischen Teil seiner Arbeit ein komplexes Modell der Erfassung literarischer Figuren während der Lektüre. Bei der Umsetzung dieses Modells im Rahmen der Interpretation steht der Nachvollzug des Lektüreprozesses im Vordergrund. Es gelingt Schneider nicht, durch die sukzessive Nachzeichnung der Figurenentwicklung und der daraus abgeleiteten Interpretation ein komplexes Bild der untersuchten Figuren und deren Bedeutung zu entwerfen. Vielmehr entsteht durch die Nachzeichnung der Entwicklung der Figur im Text keinerlei Spannung und ein geringer Erkenntnisgewinn. Es bedarf also einer Kombination aus unterschiedlichen Elementen: In Abkehr von Forsters statischem Modell von flat und round characters sollte die Entwicklung der Figur in einer Interpretation unbedingt mitbedacht werden. Gerade für alternde Figuren, die sich in einem Prozess der Auseinandersetzung mit ihren sich verändernden Lebensumständen befinden, scheint mir dieser Aspekt zentral zu sein. 51 Diese Überlegungen sollten aber an einen Ansatz gekoppelt sein, der analog zur Dramenästhetik das Wirkungspotenzial eines Textes ins Zentrum stellt, ohne dies an einen bestimmten Lesertyp zu koppeln. Der Begriff Potenzial ist hier bewusst gewählt, da er nicht wie der Begriff Wirkungsabsicht suggeriert, dass die Autorintention mit diesem Begriff erfasst ist. Zudem handelt es sich hierbei um einen offenen Begriff, der anzeigt, dass der Interpret zwar eine bestimmte Menge an Informationen des Textes in seine Interpretation einbinden kann, aber dadurch nicht alle Facetten des Textes erkannt und erschöpfend interpretiert werden können. Hier zeigt sich also durchaus eine Annäherung an die klassische Hermeneutik. Schneider zitiert hier: Reinhold Wolff; Norbert Groeben: Die Empirisierung hermeneutischer Verfahren in der Literaturwissenschaft: Möglichkeiten und Grenzen. In: Literaturwissenschaft und empirische Methoden: Eine Einführung in aktuelle Projekte. Hrsg. von Helmut Kreuzer und Reinhold Viehoff. Göttingen 1981, S. 27-51, hier S. 48. 50 Vgl. Strasen, Wie Erzählungen bedeuten. 51 Darauf deuten auch Ansätze hin, die den Aspekt der Performanz in den Vordergrund stellen. Vgl. die Arbeiten von Miriam Haller: ›Ageing trouble.‹ Literarische Stereotype des Alter(n)s und Strategien ihrer performativen Neueinschreibung. In: Altern ist anders. Hrsg. vom InitiativForumGenerationenvertrag. Münster 2004, S. 170- 188; dies.: ›Unwürdige Greisinnen‹. ›Ageing trouble‹ im literarischen Text. In: Alter und Geschlecht. Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s. Hrsg. von Heike Hartung. Bielefeld 2005, S. 45-63. <?page no="44"?> 42 Die grundsätzlichen Überlegungen zur Figur aus Sicht der kognitiven Narratologie zeigen weitere Defizite: Alle Figuren in literarischen Texten werden gleich behandelt. Hier scheint mir aufgrund ihrer besonderen Stellung eine Unterscheidung zwischen der Erzählinstanz und den übrigen Figuren geboten und bei diesen eine zwischen Haupt- und Nebenfiguren. 52 Da für die Erstellung einer Übersicht über Figurenmodelle von Altersfiguren in erster Linie auf zentrale Figuren zurückgegriffen wird und Nebenfiguren in der Regel sehr einfach zu kategorisieren sind, werde ich den Fokus meiner Überlegungen auf Erstgenannte legen. Ein weiteres Manko stellt die fehlende Rückbindung der Überlegungen zur Figur als mentales Modell an andere Figuren sowie ein Bezug der Figur zur Handlung dar. 53 Die Relevanz dieser Elemente müsste im Rahmen einer Analyse von Altersdarstellungen geklärt und gegebenenfalls in ein Modell zur Textanalyse und zur Erstellung von Figurenmodellen integriert werden. Äußerst brauchbar für die Erstellung einer Alterstypologie scheinen mir allerdings die Überlegungen zur Erklärung der Entschlüsselung textueller Zeichen zu sein, auf die alle an der Kognitionswissenschaft ausgerichteten Arbeiten verweisen. Besonders das Konzept der Persönlichkeitstheorie scheint brauchbar, da es neben Aussagen über die traditionelle Trias class, race und gender auch Aussagen über die Wahrnehmung von altersspezifischen Vorstellungen zulässt. 54 Mit Schneider kann man Persönlichkeitstheorien definieren als 52 Nebenfiguren werden insofern wichtig, als sie über Kontrast- und Korrespondenzrelationen zur narratologischen Bestimmung der Hauptfigur herangezogen werden können. 53 Zu einer ausführlichen Kritik an Schneiders Konzept vgl. Jannidis, Figur und Person, S. 182ff. Als Hauptkritikpunkt an Schneiders Konzeption führt Jannidis an, dass Schneiders Modell nur auf einen zeitgenössischen Leser anwendbar wäre, für den intendierte und wahrscheinlich reale Rezeption nahezu deckungsgleich sind, wohingegen die Differenz zwischen der zeitgenössischen Rezeption eines älteren Textes und seiner intendierten Rezeption nicht erfasst werden könne. Hier scheint mir allerdings Schneiders Unterscheidung zwischen einem informierten und einem uninformierten Leser sehr hilfreich zu sein, da beim uninformierten Leser vorausgesetzt wird, dass er nicht über das Kontextwissen der Entstehungszeit eines Textes und seiner Produktionsbedingungen verfügt. Im Gegensatz zu Jannidis’ literaturtheoretischem Ansatz gelingt es Schneider, sein methodisches Konzept anzuwenden und dieses so auch in der Praxis zu erproben. Allerdings zeigen diese Interpretationen das Problem des schematischen Vorgehens. Dieses zeichnet den Handlungsverlauf der Romane und den Aufbau der Figur im Lektüreprozess nach, ohne dabei aber das Interesse des Lesers wecken zu können. 54 Marion Gymnich bewertet Schneiders Ansatz folgendermaßen: „Im Vergleich zu herkömmlichen Untersuchungen von Frauen- und Männerbildern hat die Vorgehensweise der kognitiven Narratologie den Vorzug, dass sie nicht nur inhaltliche Aspekte berücksichtigt, sondern die Untersuchung literarischer Frauen- und Männerbilder auf eine erzähltheoretische Grundlage zu stellen vermag, indem sie die Mechanismen <?page no="45"?> 43 [...] in einer Gesellschaft verbreitete Wissensstrukturen und Strategien zur Erklärung des Menschen, die aus verschiedenen Spezialdiskursen stammen können und zumeist Wertungsdispositionen transportieren [...]. 55 Der Autor führt dieses Konzept insofern weiter aus, als er der Frage nachgeht, auf welche Wissensbereiche ein Leser zum Verständnis einer Figur zurückgreift. Er nennt: während der Sozialisation erworbenes soziales Wissen, - Wissen über literarische Konventionen, - Wissen, das im Text selbst über eine Figur vergeben wird, 56 und - Wissen, das indirekt über andere Aspekte der fiktionalen Welt vergeben wird und an eine Figur gebunden ist. 57 Dieses Wissen steht dem Leser in der Regel zur Verfügung. 58 Ist die Herkunft des literarischen Wissens auf den literarischen Diskurs 59 als Spezialdiskurs zurückzuführen, so ist die Bestimmung des kulturellen Wissens, dessen Sonderform das soziale Wissen als Wissen über eine Person darstellt, weitaus schwieriger zu erfassen, da es aus unterschiedlichen Spezialdiskursen stammt, deren Wissen wieder in sogenannten Interdiskursen miteinander in Verbindung gesetzt werden kann. 60 Das Wissen über Menschen besteht in der Regel aus interdiskursiven Wissensstrukturen. Diese können als Persönlichkeitstheorien bezeichnet werden. Da literarische Figuren in Analogie zu realen Menschen wahrgenommen werden, werden auch bei der Lektüre von Texten diese Diskurse aufgerufen, d.h. es wird auf die im Alltag verwandten Persönlichkeitstheorien zurückgegriffen. Daher kann man im Umkehrschluss davon ausgehen, dass sich „die interdiskursiven (gesellschaftlichen) Persönlichkeitstheorien in elaborierten interdiskursiven (fiktionalen) Darstellungen von Menschen niederschlagen können.“ 61 Aus literarischen Texten lassen sich also unter Berückuntersucht, die der Evozierung literarischer Frauen- und Männerbilder - wie auch deren potentieller Unterminierung - im Rezeptionsprozess zugrunde liegen.“ Gymnich, Konzepte literarischer Figuren und Figurencharakterisierung, S. 131f. 55 Ralf Schneider, Grundriß zur kognitiven Theorie der Figurenrezeption. Tübingen 2000, S. 408. 56 Dies sind alle die Informationen, die bei Pfister unter der Figurencharakterisierung gefasst wurden. Hierzu zählt Schneider neben den Formen der impliziten und expliziten Charakterisierung auch verbale und non-verbale Handlungen, sowie körpersprachliche Informationen und Bewusstseinsdarstellungen. 57 Hierunter fallen in erster Linie Raumsemantisierungen und semantische Isotopien. Vgl. Schneider, Grundriß zur kognitiven Theorie der Figurenrezeption, S. 95f. 58 Ebd., S. 80f. 59 Hier wird der Diskursbegriff Foucaults zugrunde gelegt. 60 Schneider, Grundriß zur kognitiven Theorie der Figurenrezeption, S. 82f. 61 Ebd., S. 84. <?page no="46"?> 44 sichtigung spezifisch literarischer Gestaltungsmittel gesellschaftliche Vorstellungen über alte Menschen abstrahieren. Allerdings ist laut Schneider für literarische Texte eine weitere Differenzierung notwendig. Auf der einen Seite finden sich in literarischen Texten rekurrente Darstellungen, in denen sich überindividuelle Vorstellungen von Figuren finden. Diese bezeichnet Schneider als Figurenkonzeptionen, in meiner Begriffsverwendung handelt es sich hierbei um Figurenmodelle. 62 Andererseits enthalten fiktionale Bearbeitungen von Figuren eine individuelle Ausgestaltung dieser Figurenmodelle, die z.B. einen bestimmten Aspekt einer Persönlichkeitstheorie hervorheben oder die übliche Darstellung einer solchen Theorie unterläuft. Dennoch wird der Leser diese Realisierung eines Figurenmodells in einem konkreten Text mit der ihr zugrunde liegenden Figurenkonzeption - ich würde hier eher die Verwendung des Begriffs der Repräsentation vorschlagen - identifizieren. 63 Mit der Einführung dieser Begrifflichkeit differenziert Schneider den von Pfister eingeführten Begriff der Figurenkonzeption in ein „anthropologisches Modell“ und dessen „spezifische Realisierung“ in einem literarischen Text. 64 Damit greift auch Schneider auf den von Pfister gebrauchten Begriff zurück. Er wendet ihn aber nicht auf alle Informationen auf der Ebene der histoire an, sondern lediglich auf diejenigen, die in Analogie zur Wahrnehmung von Personen auf die literarische Figur angewandt werden. 2.2 Kriterienkatalog zur Erstellung von Figurenmodellen Es stellt sich nun die Frage, wie Schneiders Modell der Persönlichkeitstheorie und der Wissensvergabe im Text für die Erstellung von Figurenmodellen genutzt werden kann. Greift der Leser bei der Entschlüsselung einer Figur auf verschiedene Wissensbereiche zurück, so müssen diese in der Figur auch als Information, d.h. als Zeichen im Text vorhanden sein. Mit Fotis Jannidis kann man davon ausgehen, dass diese Zeichen in Form einer „abduktiven Inferenz“ - der Begriff ist an den von Charles Pierce entwickelten Begriff der ›Abduktion‹ angelehnt 65 - aufgelöst werden: 62 Der Begriff des Figurenmodells scheint mir an dieser Stelle geeigneter, da er auf die Beziehungen zwischen literarischen Texten und die Übernahme von bestimmten wiederkehrenden Mustern verweist, die im Folgenden am Beispiel der alten Figuren herausgearbeitet werden sollen. Vgl. zum Begriff des Figurenmodells auch S. 19. 63 Schneider, Grundriß zur kognitiven Theorie der Figurenrezeption, S. 84. 64 Vgl. ebd., S. 84, Fußnote 83. 65 Pierce geht davon aus, dass für die Verwendung von Zeichen charakteristisch ist, dass ihnen die allgemeine Regel, nach denen sie entschlüsselt werden können, nicht mitgegeben ist, sondern diese muss aufgrund von Weltwissen ermittelt werden. Gegeben ist nur ein bestimmtes Faktum, und welche Regel nun herangezogen werden muss, um den unsicheren Schluss zu ziehen, ist ebenfalls ganz dem Ratevermögen des Rezipienten überlassen. Zeichenverwendung ist also durch diese <?page no="47"?> 45 ›Abduktive Inferenz‹ ist also ein Schlußverfahren zur Identifikation und Bedeutungszuweisung von Zeichen. In einem ersten Schritt wird ein Phänomen als Zeichen identifiziert. Im zweiten Schritt wird eine Regel herangezogen, die zu dem Phänomen paßt. 66 Zur Erklärung des Phänomens müssen recht unterschiedliche Wissensbereiche verfügbar sein: außerliterarisches Wissen: Hier sind die von Schneider angesprochenen Spezial- und Interdiskurse von besonderer Bedeutung, die vor allem für die literarische Altersforschung auch einen Anschluss an andere Disziplinen ermöglichen. Zudem kann hier auch jede Form der Regelmäßigkeitsannahme zugeordnet werden, die einen Rückschluss von Alltagserfahrungen auf eine literarische Figur ermöglicht, so z.B. die Annahme ›größere Mengen Alkohol zu trinken, macht betrunken‹ 67 , literarische Konventionen: Hierunter gehört das von Schneider angesprochene Gattungswissen ebenso wie die Gestaltung von Motiven, typischen Handlungsabläufen und Figuren - man könnte also auch mit Gerard Genette von Formen der Transtextualität sprechen 68 -, textuelle Elemente der Figurencharakterisierung und schon vorher vorgenommene Kategorisierungen, doppelte Unsicherheit geprägt: Es muss erraten werden, welche Regel anzuwenden ist, und der daraus zu ziehende Schluss ist keineswegs sicher. Vgl. Fotis Jannidis: Analytische Hermeneutik. In: http: / / www.simonewinko.de/ jannidis_text.htm. Absatz 3 [gesehen am 13.02.2008]. 66 Ebd. 67 Das Beispiel stammt von Jannidis, der unter Rückgriff auf kognitive Theorien den Begriff des Schemas verwendet. Da ich keinen dezidiert kognitiven Ansatz verfolge, übernehme ich diese Begrifflichkeit nicht, zumal sie nicht die Möglichkeit bietet, zwischen Alltagswissen und Wissen über Formen der Figurencharakterisierung zu differenzieren. Vgl. Jannidis, Figur und Person, S. 215. 68 Mit dem Begriff der Transtextualität bezeichnet Genette all das, „was einen Text in eine manifeste oder geheime Beziehung zu anderen Texten bringt.“ Damit entwickelt er eine neue Begrifflichkeit für den Begriff der ›Intertextualität‹. Ich werde im Folgenden die Begrifflichkeit Genettes verwenden und nicht die durchaus auch Vorteile für die konkrete Beschreibung von Texten aufweisende Begrifflichkeit von Pfister und Broich, da gerade die weite Definition den Vorteil bietet, verschiedene Formen der Beziehungen zwischen Texten zu beschreiben. Zur Forschungsgeschichte und den verschiedenen Formen, ›Intertextualität‹ zu definieren, vergleiche den umfassenden Forschungsüberblick von Henriette Herwig: Literaturwissenschaftliche Intertextualitätsforschung im Spannungsfeld konkurrierender Intertextualitätsbegriffe. In: Zeitschrift für Semiotik. Band 24 (2002), Heft 2-3, S. 163-176. Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig. Frankfurt a.M. 1993. (Original: La littérature au second degré. Paris 1982), Zitat auf Seite 9; Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hrsg. von Ulrich Broich und Manfred Pfister. Tübingen 1985. <?page no="48"?> 46 kontextuelle Elemente: Dazu gehört neben den Objekten und Räumen, die einer Figur zugeordnet werden, auch der Figurenkontext, d.h. die Kontrast- und Korrespondenzbeziehungen zu anderen Figuren. Anhand dieser Aufstellung lässt sich exemplifizieren, dass bereits bei der Wissensvergabe Darstellungselemente der discours-Ebene mit Elementen der Ebene der histoire verknüpft werden können. Zwar möchte ich die Trennung zwischen beiden Ebenen nicht aufheben, da sie als heuristisches Element sehr wertvoll ist, dennoch bin ich der Überzeugung, dass im Rahmen der Figureninterpretation nicht strikt zwischen beiden Ebenen getrennt werden darf, da sie sich nicht nur bedingen, sondern darüber hinaus auch vom Leser während der Lektüre eines Textes nicht getrennt wahrgenommen werden. Daher gehe ich für die Erstellung von Figurenmodellen alter Figuren davon aus, dass für diese konstituierend die Zugehörigkeit zum Altersdiskurs ist, der durch eine der genannten Kodierungen erkennbar ist. Dieses zentrale Merkmal wird durch einen Merkmalskomplex ergänzt, der unter Rückgriff auf die von Schneider aufgeführten Wissensbereiche aus einem oder mehreren der folgenden Elemente besteht: diskursive Elemente / Persönlichkeitstheorien, 69 - Handlungselemente, 70 - Elemente literarischer Konventionen und - Darstellungselemente. 2.3 Altersrepräsentation Der Begriff der ›Repräsentation‹ stammt aus dem Lateinischen (repraesentare) und bezeichnet eine Vergegenwärtigung oder das Wieder-präsentmachen. In der Forschung wird er auf sehr unterschiedliche Arten gebraucht, von denen zwei Ausrichtungen für die Literaturwissenschaft 69 Vgl. Jannidis, Figur und Person, S. 214f.: Jannidis geht auch davon aus, dass zur Bildung von Figurenmodellen „Wissen über einen bestimmten Typus von Personen und Figuren [...] aus der Lebenswelt, aus den zahlreichen nicht-fiktionalen Diskursen, z.B. Theologie, Anthropologie, Psychologie, Psychiatrie“ herangezogen wird. Daneben nennt er auch fiktionale Welten, typisierte Handlungsstrukturen und den Habitus einer Figur als Quelle für Figurenmodelle. Diese kann man meinen folgenden Unterpunkten zuordnen. 70 In Bezug auf das Alter lassen sich hier bereits zwei differente Möglichkeiten vermuten. Einerseits das Alter als Lebensphase, die Teil eines Lebenszyklus ist, also Alter als Ergebnis von Erfahrungen. Andererseits kann das Alter aber auch als Einzelmoment, als existenzielle Erfahrung ohne Rückbindung an frühere Erfahrungen geschildert werden. <?page no="49"?> 47 von Bedeutung sind. In Anlehnung an den Mimesis-Begriff kann die Repräsentation aufgrund des Ähnlichkeitsverhältnisses von Bild und Abbild als „Vergegenwärtigung der Welt in einem bestimmten Medium“ 71 verstanden werden. Geht man eher von einer symbolischen Ähnlichkeit von Vorbild und Abbild aus, dann ist die Aufgabe der Kunst, „eine ähnliche Wirkung zu erzeugen wie die Welt.“ 72 Damit ist die Repräsentation als solche nicht mehr erkennbar, da die Kunst die Natur nicht nachahmt, wie sie ist (= Mimesis), sondern wie sie sein könnte. 73 Damit kann für die zweite Definition auch die Nähe zu kognitiven Modellen festgestellt werden - die ja auch den Begriff der mentalen Repräsentation verwenden -, da hier ebenfalls von einem Ähnlichkeitsverhältnis ausgegangen wird. Damit ist der Begriff ›Repräsentation‹ für die vorliegende Arbeit wesentlich attraktiver als der in der disziplinübergreifenden Forschung häufig verwandte, aber unterschiedlich definierte Begriff des ›Altersbildes‹, betont dieser doch nicht nur den Bezug zur realen Welt, sondern verweist darüber hinaus auf den Kunstcharakter der dargestellten Figur. 74 Unter Altersrepräsentation verstehe ich die Vorstellung einer alten Figur, die aufgrund der im Text vergebenen Informationen beim Leser entsteht. Werden zur Bildung eines mentalen Modells von einer Figur unterschiedliche Strategien herangezogen, so ist zu vermuten, dass sich auch Figurenmodelle aus diesen Wissensvorräten bedienen und besonders dominante oder ungewöhnliche Informationen dazu dienen, eine Figur in eine bestimmte Kategorie einzuordnen oder eine zuvor getroffene Kategorisierung zu revidieren. Lediglich Figuren, bei denen die Rezeptionsstrategie der Personalisierung angewandt wird, scheinen nicht in ein Figurenmodell integrierbar zu sein, da sie sich gerade durch ihre Individualität und damit ihre Einmaligkeit auszeichnen. Allerdings wäre es auch hier denkbar, dass sich im Laufe der Zeit eine Kategorie herausbildet. So konnte wahrscheinlich ein Leser um 1900 der Protagonistin in Hedwig Dohms Novelle Werde, die Du bist 75 kein ihm bekanntes literarisches oder soziales Schema zugrunde legen. Bei der dargestellten alten Frau handelt es sich zwar um eine Witwe, dennoch erfüllt die Figur keine der dieser sozialen Gruppe zugeschriebenen Attribute. Sie weigert sich, ihr 71 Bettina von Jagow; Florian Steger, Einleitung. In: Repräsentationen. Medizin und Ethik in Literatur und Kunst der Moderne. Hrsg. von Bettina von Jagow und Florian Steger. Heidelberg 2004, S. 7-19, hier S. 10. 72 Ebd., S. 11. 73 Ebd. 74 „[…] characters might be considered realistic if they correspond to certain representational conventions and a viewer’s ideas of reality. Typical characters might be those that can be immediately slotted into a mental schema. Similar criteria could be proposed for other artefact qualities.” Eder, Narratology and Cognitive Reception Theories, S. 294. 75 Hedwig Dohm: Werde, die Du bist. Novelle. Neunkirch 1988 [EA Breslau 1894]. <?page no="50"?> 48 ererbtes Vermögen ihren Kindern zur Verfügung zu stellen, ihre Wohnung aufzugeben und zu ihnen zu ziehen. Stattdessen erfüllt sie sich einen Lebenstraum und reist nach Italien, wo sie sich in einen jungen Arzt verliebt. Dieser erwidert ihre Liebe nicht, sondern macht sich gemeinsam mit einem anderen Hotelgast über die merkwürdige alte Dame lustig und bezeichnet sie als „Großmutter Psyche“. 76 Als sie das hört, erleidet sie einen Zusammenbruch und verbringt den Rest ihrer Tage in einer Nervenheilanstalt. Scheint der Text auf der Oberfläche eine Bestrafung der Figur für die Nicht-Erfüllung gesellschaftlicher Erwartungen zu suggerieren, so sind es in erster Linie die Tagebucheinträge, die die Wünsche und Bedürfnisse der alten Dame und ihren Konflikt mit den gesellschaftlichen Normen thematisieren. Aufgrund dieser Textstrategie wird die alte Frau nicht als Schuldige wahrgenommen, sondern der Leser solidarisiert sich mit ihr. Knapp fünfzig Jahre später beschreibt Bertolt Brecht in einer Kalendergeschichte eine ähnliche Situation und gibt dem Figurenmodell mit dem von ihm gewählten Titel seinen Namen: Die unwürdige Greisin. 77 Auch hier ist es eine verwitwete, alte Frau, die nicht den an sie gestellten Erwartungen entspricht. Sie gibt weder das Erbe ihres Mannes an die Kinder ab, noch nimmt sie den Sohn mit seiner beengt lebenden Familie in ihre große Wohnung auf. Stattdessen geht sie ihren eigenen Weg, besucht das Kino und Pferderennen, geht ab und zu im nahe gelegenen Wirtshaus Mittagessen und verkehrt mit einem sozialdemokratischen Flickschuster. Auch bei Bertolt Brecht wird den heftigen Klagen des Sohnes eine Erzählerstimme entgegengestellt, die Verständnis für die Lage der alten Dame hat: Es ist die Enkelin oder der Enkel, 78 die/ der zu dem Schluss kommt: „Sie hatte die langen Jahre der Knechtschaft und die kurzen Jahre der Freiheit ausgekostet und das Brot des Lebens aufgezehrt bis auf den letzten Brosamen.“ 79 Aufgrund der literarischen Tradition, die diese beiden Texte begründen, ist fortan das literarische Modell unwürdige Greisin einer der Wissensbestände, der zum Verständnis einer Figur herangezogen werden kann. Dass hierbei nicht das historische Entstehungsdatum eines Textes entscheidend für die Anwendung des herangezogenen Modells ist, zeigt sich z.B. daran, dass Hannelore Schlaffer das Modell der unwürdigen Greisin auf die Schriften der Bettine Brentano anzuwenden versucht. 80 76 Ebd., S. 12 und 90. 77 Bertolt Brecht: Die unwürdige Greisin. In: ders.: Kalendergeschichten. Mit einem Nachwort von Jan Knopf. Frankfurt a.M. 2001 [EA 1949], S. 111-117. 78 Das Geschlecht des Erzählers bleibt unbestimmt. 79 Brecht, Die unwürdige Greisin, S. 117. 80 Hierbei zeigt sich allerdings eine Verkehrung, die von einer Literaturwissenschaftlerin eigentlich nicht erwartet wird. Hannelore Schlaffer wendet das <?page no="51"?> 49 Im Rahmen der Interpretation der ausgewählten Romane und Erzählungen wird es daher nicht nur darum gehen, traditionelle Muster in den Texten wiederzufinden, sondern auch Personalisierungen zu beschreiben, die aufgrund ihres Beitrags zur gesellschaftlichen Wirklichkeitserzeugung und Sinnstiftung in einer alternden Gesellschaft zu neuen Figurenmodellen werden könnten. Dabei werde ich das anhand der Theorien von Jannidis und Schneider herausgearbeitete Wissenssystem zugrunde legen. Wie der kurze Überblick über das Modell der ›unwürdigen Greisin‹ noch einmal vor Augen geführt hat, können Figurenmodelle aus einer Kombination aus Darstellungselementen - hier eine Erzählerfigur, die das im Text entworfene Modell gutheißt, - und Handlungsbausteinen bestehen. Daher muss auch bei der Textanalyse auf die Verknüpfung beider Ebenen geachtet werden. Im Folgenden werde ich Möglichkeiten der Anwendung von narratologischen Begrifflichkeiten auf den speziellen Fall der Darstellung alter Figuren erproben, bevor ich mit einigen theoretischen Überlegungen zum Alterskonzept und der damit zusammenhängenden Entwicklung von Figurenmodellen alter Figuren sowie einem kurzen Überblick über gesellschaftliche Altersrollen und literarischen Figurenmodelle den theoretischen Teil der Arbeit abschließe. Einführung alter Figuren - die Bedeutung des primacy und recency effects 81 Da mit dem Konzept einer alten Figur beim Leser ein bestimmter Wissensfundus aufgerufen wird, stellt es in einem literarischen Text ein entscheidendes Kriterium dar, wann eine Figur als alte Figur gekennzeichnet wird. Die Regel wird hierbei sein, dass bereits bei der ersten Nennung Hinweise auf das Alter zu finden sind. So führt Doris Konradi in dem Roman Frauen und Söhne die Figur Reni folgendermaßen ein: Reni saß allein in der Gaststube vor ihrem Kaffee und strich mit dem Daumen über die Risse in den Fingerkuppen. Mit Lehm zugesetzt waren sie von den Winterkarotten drüben, ein halber Topf voll. Früher hatte sie keine Pausen gemacht, den ganzen Topf ohne Atemholen gefüllt oder mehr, wenn es Hochzeiten gab und Dorffeste [...]. Reni hatte ihrer Schwiegertochter alles beigebracht: Die Wirtschaft, die Pension, den Haushalt. Und das Dekorieren, Konzept der unwürdigen Greisin nämlich nicht in erster Linie auf das literarische Werk der Bettine Brentano an, sondern nutzt es zur Deutung ihrer Biographie. Vgl. Hannelore Schlaffer: Das Alter. Ein Traum von Jugend. Frankfurt a.M. 2003, S. 104. 81 Grabes berichtet von einer empirischen Untersuchung zur Wahrnehmung von literarischen Figuren: „Wurden die Versuchspersonen allerdings vor oder während der Informationsaufnahme vor vorschnellen Urteilen gewarnt, so reduzierte sich der ›primacy effect‹, ja er ließ sich sogar in einen ›recency effect‹, also eine Dominanz der späteren Informationen über die Person, verwandeln“. Vgl. Grabes, Wie aus Sätzen Personen werden, S. 415. <?page no="52"?> 50 immer nach der Jahreszeit. Doch jetzt ging ihr die Arbeit nicht mehr leicht von der Hand, Madeleine musste allein zurechtkommen. 82 Obwohl das Alter der Figur hier nicht genannt ist, wird durch die „Risse in den Fingerkuppen“, den Hinweis auf „früher“ und die Übergabe der Verantwortung für die Gastwirtschaft an die Schwiegertochter die Figur Reni als alte Figur eingeführt. Neben der eindeutigen Identifizierung als alte Figur wird sie im Folgenden auch als Großmutter vorgestellt, sodass durch die Zuweisung einer sozialen Altersrolle eine einfache Kategorisierung möglich ist, die im Rahmen der Erzählung als feste Zuordnung gelten kann, da sie kaum mehr widerrufbar scheint. Lediglich eine Anreicherung der Figur mit weiteren Informationen könnte zu einer Individualisierung führen. Es gibt aber auch Texte, die mit dem Alter der Figuren spielen. So beginnt Helen Meiers Erzählung Liebe Stimme auf folgende Weise: Ich habe keine Ahnung von Fliegerei, wie ein Flugzeug einen Nebeltag durchstoßen kann, ohne daß es zerschellt, weiß ich nicht. Wie ein Flugzeug fliegen kann, wenn der Pilot nichts sieht, warum nicht fortwährend Flugzeuge vom Himmel stürzen, weiß ich nicht. In einer Stunde wird meine Liebe, [sic! ] in ein Flugzeug steigen, wie, weiß ich nicht, mit Hilfe einer Strickleiter oder auf einer Rolltreppe, weiß ich nicht, [...]. 83 Die aus der internen Fokalisierung beschriebene Figur wird hier in medias res eingeführt. Aus dem Gedankenstrom lässt sich nur entnehmen, dass es sich um eine extrem unsichere Figur handelt, die sich mit technischen Fragen nicht auskennt und daher äußerst besorgt ist, weil eine Figur, die als „meine Liebe“ bezeichnet wird, mit einem Flugzeug zu verreisen plant. Lediglich dass es sich um keine kindliche Figur handelt, kann man aufgrund des Wissensschatzes der Figur schließen. Die Auflösung wird erst am Ende durch die nachgetragene Erzählung der Abschiedsszene geliefert. Der Lift führte uns zum Erdgeschoß der Alterssiedlung. Wir standen eng nebeneinander, [sic! ] Hallo, sagte sie plötzlich, mit verändert rauchigtiefer Stimme, lächelte auf mich herab, kennen wir uns nicht von irgendwo? Mit einem Schlag wurde sie Verführerin und Verführer, rücksichtslos, obszön, hinreißend schön, berstend vor Kraft. Sie ergriff den Koffer, mach’s gut, Papa, tauchte in das Licht der Drehtüre. 84 Mit diesen Informationen verändert sich die Interpretation der gesamten Erzählung. Mit „meine Liebe“ ist nicht die Geliebte oder enge Vertraute des fokalisierten Ichs angesprochen, sondern seine Tochter, zu der der Mann ein recht seltsames Verhältnis zu haben scheint. Zudem wird die 82 Doris Konradi: Frauen und Söhne. Roman. Köln 2007, S. 26. 83 Helen Meier: Liebe Stimme. In: dies.: Liebe Stimme. Geschichten. Zürich 2000, S. 5-14, hier S. 5. 84 Ebd., S. 14. <?page no="53"?> 51 Wohnung des Mannes in einer Alterssiedlung verortet. Als ihr Bewohner - und als Vater einer erwachsenen Tochter - wird die Figur demnach eindeutig als alte Figur gekennzeichnet. Die Erzählung spielt hier mit dem Überraschungsmoment am Ende. In Bezug auf die Figur könnte man folglich von einer verdeckten verzögerten Identifizierung sprechen, da der Leser nicht ahnt, dass es sich um eine alte Figur handelt. Hier verändert sich die Vorstellung von der Figur tatsächlich mit der letzten Informationsvergabe noch einmal grundsätzlich, sodass eine Relektüre des Textes eine andere Vorstellung von der Figur zur Folge haben wird als die Erstlektüre. Figurenkonstellation Seit Manfred Pfisters grundlegenden Überlegungen zur Figurengestaltung im Drama gehört die Untersuchung der Figurenkonstellation auch in epischen Texten zur literaturwissenschaftlichen Grundlagenarbeit. Die beiden Charakterisierungstechniken der Kontrast- und Korrespondenzrelation lassen sich für alte Figuren auf der Ebene des Alters leicht bestimmen. In Bezug auf das Alter können Kontrastrelationen zu jungen Figuren der Kinder- oder Enkelgeneration hergestellt werden, zu anderen älteren Figuren können aufgrund der gemeinsamen Zugehörigkeit zu einer Altersgruppe Korrespondenzrelationen bestehen. Aber so einfach ist die Zuordnung in der Regel nicht. So können beispielsweise auch Großeltern und Enkel durch die Opposition zu der mittleren Generation in Form einer Korrespondenzrelation charakterisiert werden, wohingegen alte Figuren gerade aufgrund ihrer unterschiedlichen Einstellung dem Alter(n) gegenüber als kontrastierende Figuren gestaltet sein können. Zudem ist das Alter einer Figur nur ein Merkmal unter vielen. So muss auch darauf geachtet werden, ob nicht zwei Figuren als Kontrastfiguren angelegt sind, die aufgrund ihres Alters als korrespondierend erscheinen. Diese Alterskorrespondenz kann beispielsweise durch von den Figuren vertretene Normen und Werte oder aufgrund anderer inhaltlicher Aspekte unterlaufen werden. Perspektivierung des Erzählens Die Perspektivierung des Erzählten unterscheidet epische und dramatische Texte voneinander, da mit der Einführung eines Erzählers die Differenz zwischen den unterschiedlichen Ebenen des Erzählens nicht nur offensichtlich, sondern teilweise auch schwer unterscheidbar ist. Damit spielt die Perspektivierung des Erzählten in der Erzähltheorie eine zentrale Rolle, da hier der Standpunkt einer Figur der Erzählung bzw. des heterodiegetischen Erzählers zum Ausdruck kommt. Handelt es sich bei der fokalisierten Figur um eine alte Figur, so wird der Leser andere Kontextualisierungen vornehmen als bei jungen Figuren. Man kann also neben der in <?page no="54"?> 52 der feministischen Theoriebildung betonten Opposition männlich vs. weiblich auch von einer Dichotomie von jungen und alten Figuren ausgehen. Diese hat - obwohl die Grenze bei der relativen Größe Alter nicht so eindeutig zu ziehen ist, wie bei der Geschlechterdifferenz - Auswirkungen auf das Verhältnis der Figuren zu Körper und Sprache, bedingt Gefühle wie Macht und Ohnmacht. Dies betrifft beispielsweise den Aspekt der Zeitwahrnehmung. Aufgrund ihrer größeren Lebenserfahrung ebenso wie durch die kürzere Lebenserwartung nehmen alte Figuren das Vergehen der Zeit auf andere Art und Weise wahr, als dies bei jüngeren der Fall ist. Bei einer älteren Figur wird der Leser ein anderes Weltwissen voraussetzen als bei einer jüngeren, d.h. Äußerungen und Handlungen werden in der Regel anders gedeutet. Die Verortung im Lebenslauf hat damit auch Auswirkungen auf die Erwartungshaltung des Lesers und damit auch auf die Perspektive, die von der Figur erwartet wird: Das Werte- und Normensystem wird in der Regel konservativer angesetzt. Hiermit spielt vor allem der Kinder- und Jugendroman, in dem Großeltern aufgrund ihrer konservativen Einstellung mit den jugendlichen Helden konfliktreiche Auseinandersetzungen ausagieren, 85 andererseits gibt es aber auch viele Romane, in denen die Lesererwartung gerade nicht erfüllt wird und die Großeltern mit innovativen Ideen und unkonventionellem Verhalten überraschen. 86 Die Perspektive der älteren Generation unterscheidet sich aber auch dadurch von derjenigen der jugendlichen Figuren, dass die alten Figuren eine doppelte Position einnehmen können. Da sie selbst einmal jung waren, sind sie in der Regel in der Lage, sich in die jungen Menschen hineinzuversetzen (als ich jung war ...). Daneben werden sie als alte Figuren zunehmend an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Damit nehmen sie eine Außenseiterposition ein, von der aus sie einen anderen Blick auf die gesellschaftliche Entwicklung haben als die Generation, die im Zentrum der Entwicklung steht und die Geschicke der Gesellschaft lenkt. Damit eignen sich alte Figuren sehr gut für gesellschaftskritische Positionen und haben aufgrund ihres Alters auch eine gewisse Narrenfreiheit. 85 Ein Beispiel hierfür sind die erfolgreichen Mädchenromane Wilde Hühner von Cornelia Funke. Hier wird die Handlung dadurch ausgelöst, dass die Großmutter die von der Enkelin geliebten Hühner schlachten möchte, woraufhin diese die Hühner gemeinsam mit ihren Freundinnen entführt. Die Großmutter in Funkes Romanreihe vertritt die konservative Gegenposition zur pragmatischen Mutter, die eine sehr offene Beziehung zu ihrer Tochter unterhält. Vgl. Cornelia Funke: Die Wilden Hühner. Hamburg 1993. 86 Mit dem Jugendroman Hände weg von Mississippi entwirft Cornelia Funke ein großmütterliches Gegenmodell. Hier ist die auf dem Land lebende Großmutter durch unkonventionelles Verhalten gekennzeichnet, das sich vom strengen Verhalten der Mutter abgrenzt. Vgl. Cornelia Funke: Hände weg von Mississippi. Hamburg 1997. <?page no="55"?> 53 Gleichzeitig ist in der Wahrnehmung der Figur selbst ein doppelter Blick 87 bereits angelegt: Einerseits nimmt sie sich selbst nicht als alt wahr, wohingegen ihr - vor allem im Prozess des Älterwerdens - von außen wiederholt signalisiert wird, dass sie alt ist. Marilyn Pearsall fasst diese Konfrontation mit dem Älterwerden in einem Sammelband zur weiblichen Alterserfahrung mit der Umschreibung „The other within us“ zusammen: However, according to her [Simone de Beauvoir, M.S.] analysis, the aging woman is required to take this for-other reality upon herself. That is, old age is an unrealisable that she is made to realize. According to this analysis, the aging women is not as old as she feels; she does not feel the change in herself; rather, she is as old as others see her: In aging, the for-itself accommodates itself to the for-others. 88 Aufgrund ihrer feministischen Ausrichtung hat Marilyn Pearsall mit dieser Beschreibung nur die alte Frau im Blick. Die Differenz, die mit zunehmendem Alter zwischen Fremd- und Selbstwahrnehmung erfahren wird, ist nicht geschlechtsspezifisch bzw. die Wahrnehmung der Geschlechter unterscheidet sich graduell, nicht grundsätzlich. Im Rahmen der Textanalyse soll untersucht werden, wie diese unfreiwillige Selbstentfremdung durch den Blick von außen dargestellt wird. Von Seiten der Gender-Forschung wurde festgestellt, dass in Texten, in denen mittels alternierendem Erzählen, d.h. einem mehrfachen Wechsel zwischen homo- und heterodiegetischer Erzählweise bei personaler Identität der fokalisierenden Figur, das Spannungsfeld von Subjekt- und Objektstatus der Frau thematisiert wird [...]. Auch dies ist eine im modernen Frauenroman beliebte narrative Technik, um Phasen der unfreiwilligen Selbstentfremdung oder bewußt distanzierenden Selbstobjektivierung einer weiblichen Figur zu vermitteln. 89 Im Rahmen der Textanalyse soll überprüft werden, ob auch für alte Figuren derartige narrative Techniken angewandt werden, oder ob sich in den zu untersuchenden Texten neue bzw. andere Formen der Darstellung finden. 87 Vgl. hier die feministische Theoriebildung zum doppelten oder ›schielenden Blick‹. Einen Überblick gibt: Andrea Gutenberg: Schielender Blick, double-voiced discourse und Dialogizität: Zum Doppelungskonzept in der feministischen Literaturwissenschaft. In: Gender - Culture - Poetics. Zur Geschlechterforschung in der Literatur- und Kulturwissenschaft. Festschrift für Natascha Würzbach. Hrsg. von Andrea Gutenberg, Ralf Schneider. Trier 1999, S. 249-276. 88 Marilyn Pearsall: Introduction. In: The other within us: feminist explorations of women and aging. Ed. by Marilyn Parsall. Colorado, Oxford 1997, S. 1-16, hier S. 3. 89 Gutenberg, Schielender Blick, double-voiced discourse und Dialogizität, S. 268. <?page no="56"?> 54 Gestaltung des Endes Ein bedeutsames Element in Geschichten, in denen das Alter im Fokus steht, ist die Gestaltung des Endes. Mit der Darstellung alter Figuren ist automatisch der Telos auf das Ende des Lebens gerichtet. Daher ist es in diesen Romanen schwerer, ein Happy End zu gestalten, als beispielsweise in Liebes- oder Bildungsromanen. Eine Hochzeit kann zwar einen Neuanfang symbolisieren, aber dieser hat immer den faden Beigeschmack einer Verdrängung des Alters und der mangelnden Bereitschaft, sich mit dem Problem des Alter(n)s auseinanderzusetzen. Für die Gestaltung des Romanendes, bieten sich vier Modelle an: Der Tod der alten Figur. Hier ist für die Interpretation des Textes entscheidend, wie dieser bewertet wird: als Erlösung, wenn die alte Figur krank und einsam war, oder als zu frühes oder ungerechtfertigtes Aus-der- Welt-Scheiden. Die Dämmerung kam. Vorsichtig hob er den Kopf, nahm den Schein wahr, der jetzt draußen überall seinen Abglanz hinterließ, am Mauersockel des Gebäudes von gegenüber, an einem Stapel Gemüsekisten mit ein paar übriggebliebenen Strünken zwischen Papierfetzen, an Fahrrädern, Flaschen, abgesägten Holzstücken und Teilen eines Autoblechs, in dem sich etwas für ihn spiegelte, vielleicht der Himmel. Und dann kam das Licht. Es kam viel schneller, als er gedacht hatte, es füllte den Raum, kroch als blendende Helligkeit in alle Dinge und trug ihn fort. Seine Hände glitten ein Stück über seinen Körper, den Stoff, in den er eingehüllt war. Er spürte seine Hände auf der Kühle des Lakens und ballte sie zu Fäusten. Und er mühte sich. Seine Atemzüge glichen jetzt Klimmzügen. Zu eng, zu hart war dieser Körper, um noch viel in sich hineinzulassen, seine Zeit: fast abgelaufen. Er spürte das. Und er spürte, daß er traurig wurde, inmitten all der Anstrengungen, die er doch nicht aufgab. 90 Dieser Ausschnitt aus dem Ende von Inka Pareis 2005 erschienenem Roman Was Dunkelheit war, in dem ein alter Mann am Ende seines Lebens ein Rätsel um ein Geschenk zu ergründen versucht, zeigt die Problematik der Gestaltung des Todes einer alten Figur. Wird diese aus der internen Fokalisierung der Figur selbst beschrieben, so übernimmt der Autor die Aufgabe, etwas zu beschreiben, was er bislang selbst nicht erlebt hat. Hier besteht die Gefahr, einer Idealisierung einerseits, einer kitschigen und klischeehaften Darstellung andererseits. Aus der Distanz einer beobachtenden Figur oder der externen Fokalisierung ist das Lebensende wesentlich einfacher zu beschreiben, allerdings ist dann die emotionale Identifikation mit der alten Figur in der Regel nicht gegeben, sondern der Fokus ist auf die Perspektive der Überlebenden gerichtet. 90 Inka Parei: Was Dunkelheit war. Roman. Frankfurt a.M. 2005, S. 168f. <?page no="57"?> 55 Die Perspektive der Überlebenden ist dann besonders interessant, wenn es sich dabei um die Reaktion von Familienangehörigen handelt. Vor allem die Kinder des Sterbenden als diejenigen, die sich jetzt selbst mit dem eigenen Prozess des Älterwerdens auseinandersetzen müssen, sind in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung. Bei ihnen ist in der Konfrontation mit dem Tod der Eltern in der fiktionalen Gestaltung ebenso wie in autobiographischen Texten selten das von Elias Canetti in seiner Untersuchung Masse und Macht beschriebene Gefühl der Genugtuung zu beobachten. 91 Diese anthropologische Konstante wird unter Umständen eher unbewusst in Form eines Selbsterhaltungstriebes erfahren, aber nicht als ambivalente Erfahrung thematisiert. Vielmehr changiert das Verhalten der Kinder zwischen den Polen der Resignation angesichts des Verlustes und der Akzeptanz der im Alter(n) sichtbar werdenden Sterblichkeit. Wenn Resignation als zentrale Alterserfahrung am Ende eines Romans steht, hat die Figur die Jugend als unerreichbares Ideal verinnerlicht. In der Folge sieht sich die älter werdende Figur erstmals mit ihrer eigenen Endlichkeit konfrontiert und muss sich mit ihrem eigenen Älterwerden bzw. Altsein auseinandersetzen. Diesen Prozess beschreibt Wilhelm Genazino in seinem Roman Die Liebesblödigkeit. Die Beobachtung eines kleinen Kindes unter dem Regencape des Kinderwagens bringt die Einsicht, worin sein Problem tatsächlich besteht: Als ich das Kind unter dem Plastiküberzug verschwinden sehe, dichte ich ihm ein übles Erlebnis an: Es leidet unter der Enge und der schlechten Luft unter dem Cape, es hat keinen Sichtkontakt mehr zur Mutter, es fühlt sich verlassen, vielleicht besteht sogar Erstickungsgefahr! In Wahrheit winkt das Kind von meinen Augen fröhlich unter dem Cape hervor und improvisiert hinter seiner Verhüllung ein kleines Kasperletheater. Ich bin perplex, verdutzt, erleichtert: Das Kind enthüllt meine cholerischen Phantasien. Ich schaue dem Theater des Kindes ein paar Sekunden lang zu. In meiner Verblüffung gelingt es mir zum ersten Mal, die Todesangst vom bloßen Todesangsttheater zu trennen. Es ist, als trete ich aus einer sommerlichen Verwirrung hervor. Mein moralischer Hitzschlag läßt endlich nach. Schon wenige Sekunden später verstehe ich nicht mehr, wie ich mich wochenlang damit abquälen konnte, ob ich mich für Sandra oder Judith ›entscheiden‹ soll. [...] Es beglückt mich, daß ich zu dieser Überlegung fähig bin. Sie läßt mich zitternd, aber zufrieden als Überlebenden der Liebe zurück. Es ergreift mich eine gehobene Trauer, die durch ihre Leichtigkeit in ihr Gegenteil übergeht. So verwandelt sich die Todesangst in eine sich unbemerkt nähernde Sterblichkeit. [...] Durch das sanfte Hineingleiten in die Sterblichkeit ist die Frage, ob ich eine oder zwei Frauen liebe, belanglos geworden. Es wird mir ein wenig feierlich zumute, indem ich immer mehr von meinem rasch älter werdenden Konflikt zurücktrete. 92 91 Elias Canetti: Masse und Macht. München, Wien 1960, S. 292. 92 Wilhelm Genazino: Die Liebesblödigkeit. Roman. München, Wien 2005, S. 201f. <?page no="58"?> 56 Diese Art der Darstellung findet sich am häufigsten bei den jungen Alten, so z.B. Männern, die soeben in Rente gegangen sind und sich mit der neuen Lebensphase nicht anfreunden können. In der Amerikanistik werden solche Erzählungen als midlife progress novel bezeichnet. 93 In Wilhelm Genazinos Roman Die Liebesblödigkeit wird ein Mann Mitte fünfzig beschrieben, der aufgrund der ersten körperlichen Alterserscheinungen einen Panikanfall erleidet und glaubt, sein Leben neu ordnen zu müssen. In der Kombination aus interner Fokalisierung und der Erkenntnis des Lesers, dass die Figur eine Entwicklung durchlebt, der sie selbst ablehnend gegenübersteht, entstehen Komik und Ironie. Demgegenüber kann Resignation aber auch darin begründet sein, dass die Veränderungen und Gebrechlichkeiten, die das Alter mit sich bringt, als irreversibel akzeptiert werden müssen. Das Alter wird als Zeit der Betrübnis und der Vergeblichkeit der Existenz erkannt. 94 Die Annahme des eigenen Alters wird daher als schmerzhafter Prozess erlebt, in dem ebenso wie in der Thematisierung der Flucht in die Jugendlichkeit die eigene Endlichkeit erfahrbar wird. Eine andere Form der Gestaltung des Romanendes ist der Ausblick auf das baldige Lebensende der alten Figur, das aber nur angedeutet, nicht erzählt wird. Ihre Flucht ins Freie stimmte Frau Dahl milde wie der Wintertag. Vom Sonnenuntergang ihres Alters beleuchtet, waren Kirchturm und Brücke, das alte Stadttor, die graubraunen Mauern der Brauerei, die Baumspitzen des Waldes hinter den letzten Dächern der Stadt in ein eindringliches Licht getaucht, in dem ihre eigene Wichtigkeit verblaßte. Der Abstand von sich selbst war die Belohnung der hohen Jahre. Man sah die Dinge nicht mehr von der Warte ihrer Dienlichkeit. Entscheidend war nicht mehr, was sie zum eigenen Los beitrugen. Ihr Wert lag nur noch in ihnen selbst. Frau Dahl dachte liebevoll an ihre Lieben und schloß sie alle - Ludwig, Benno, Ulrike, Vera, Nat, Doro, Silke, Irma, Frau Placka, Felizitas und die nette Frau Krabbe aus dem Konsum - erneut in ihr geräumiges Herz. [...] Auf das breite Steingeländer gestützt, lehnte sie sich weit vor. Tief unten im schwarzen Wasserspiegel sah sie eine alte Frau, die einen verrutschten Hut trug. Als Frau Dahl ihr zuwinkte, winkte sie zurück. 95 Dieses Romanende stammt aus dem ersten deutschsprachigen Roman, in dem die Krankheit Alzheimer thematisiert wird. In der Gestaltung des Endes wird auf Lacans ›Spiegelstadium‹ angespielt. Ist es bei Lacan der Moment, in dem das Kleinkind sich erstmals im Spiegel erkennt, so wird 93 Margaret Morganroth Gullette: Safe at Last in the Middle Years: The Invention of the Midlife Progress Novel: Saul Bellow, Margaret Drabble, Anne Tyler, John Updike. Berkeley 1988. 94 Heidemarie Bennent-Vahle: Philosophie des Alters. In: Alter in Gesellschaft. Ageing - Diversity - Inclusion. Hrsg. von Ursula Pasero, Gertrud M. Backes und Klaus R. Schroeter. Wiesbaden 2007, S. 11-14, hier S. 13. 95 Leonore Suhl: Frau Dahls Flucht ins Ungewisse. Roman. Düsseldorf 1996, S. 165-167. <?page no="59"?> 57 bei Leonore Suhl der Moment ans Ende des Romans gestellt, in dem die alte Frau sich selbst nicht mehr im Spiegelbild erkennt. Der Prozess des Selbstverlusts, der sich im Roman bereits angedeutet hat, wird hier noch einmal aus der internen Fokalisierung beschrieben. Aufgrund der Lektüreerfahrung ahnt der Leser, wie der Prozess der Selbstentfremdung weitergeht, ohne dass ihm die Schrecken der Krankheit Alzheimer von der Autorin weiter vorgeführt werden. Diese Art der Gestaltung ist vor allem in Romanen zu finden, in denen eine Alterskrankheit im Fokus steht. Es kann aber auch die Erfahrung des Alterns als Beginn einer neuen Lebensphase, mit der man sich arrangiert, im Fokus stehen. Je nachdem, ob das Alter als Verfallsprozess oder als Entwicklungsprozess gesehen wird, kann hier eine Bewertung der Lebensphase vorgenommen werden. Dieser Romanausgang spielt z.B. dann eine Rolle, wenn am Ende die Kindergeneration als die nächste vom Tod bedrohte Generation dargestellt wird, die sich aufgrund des Todes der Eltern mit der eigenen Endlichkeit konfrontiert sieht. EXITUS Wie ein Erdbeben sei der Tod der Mutter gewesen, hatte ein Freund gesagt, das kommt und nicht mehr aufhört. Ich erzählte es dem Bruder. Bis zur Tür hatten wir unsere Mutter begleitet. Sie war durch die Tür gegangen. Dabei hatten wir die Tür gar nicht aufgehen sehen. Wir waren an der Tür zurückgeblieben. Darüber sprachen wir. Über das Leben. Wie es kam, wie es ging, wie es nicht wiederkam. Wie wir dastehn und fortgehn. [Hervorhebung im Original, M.S.] 96 Der positiver Ausblick auf das eigene Alter aufgrund einer Veränderung der Lebenssituation, einer neuen Liebe, einer neuen Aufgabe, einer neuen Wohnung etc. steht häufiger als Erfahrung am Ende von Romanen über das Altern. In dieser Version werden zwar die negativen Seiten des Alters nicht verheimlicht, aber diese können in ein positives Konzept der Altersvorstellungen der Figur(en) integriert werden. Unsere Briefe werden mir fehlen, Briefe, denen unsere gemeinsame Geschichte in die Haut geritzt ist, Briefe, die wir später vielleicht wieder lesen - dieses beharrliche Reflektieren, diese Liebesarbeit, werden wir sie auch nicht verlieren? Der Sichelmond sinkt tiefer, die Morgenröte ist gleich da. Der Augenblick ist für uns gekommen, zu wachsen, zu wagen. Die letzte Liebe zu leben ist doch die größte Vermessenheit, der ganze Himmel dreht sich über meinem Kopf, und mir ist, als hätte ich soeben erst begonnen zu leben, nun also, bis gleich - Deine Charlotte 97 Das Ende von Barbara Bronnens Briefroman Am Ende ein Anfang, in dem zwei alte Protagonisten ihre Liebe entdecken und sich langsam auf ein 96 Jürg Amann: Mutter töten. Innsbruck 2003, S. 107. 97 Barbara Bronnen: Am Ende ein Anfang. Roman. Hamburg, Zürich 2006, S. 169. <?page no="60"?> 58 gemeinsames Altern vorbereiten, zeigt, wie eine positive Darstellung des Alterns aussehen kann. Da hier aus der Perspektive der Protagonistin geschrieben wird, ist gerade die Verbindung aus hoffnungsvollem Blick in die Zukunft und dem Bewusstsein, dass das Altern auch Probleme mit sich bringt, in der Textstelle präsent. Es überwiegt aber die Zuversicht, dass auch im Alter ein Neuanfang möglich ist. Somit ist mit dieser Gestaltung eines Happy Ends eine positive Bewertung der Lebensphase Alter verbunden. 2.4 Alterskonzept Im Gegensatz zur Altersrepräsentation, die sich auf die Konkretisierung von Altersvorstellungen in einer Figur auf der Ebene des discours bezieht, wird mit den Alterskonzepten ein umfassenderer Blick auf das Alter als Lebensphase geworfen. Unter Alterskonzepten verstehe ich die aus der Altersrepräsentation abstrahierbare Vorstellungen der Lebensphase Alter, die in literarischen Texten vorzufinden sind. Setzen sich die Altersrepräsentationen aus einem Set von Merkmalen zusammen, die - wie in dem kritischen Statement von Simone de Beauvoir in der Einleitung angeklungen ist - überhistorisch sind und erst durch ihre spezifische Kombination und durch literarische Erzählstrategien ihre besondere Ausrichtung erhalten, so sind die Alterskonzepte auf der Ebene der histoire zu verorten. Alterskonzepte lassen sich daher nicht auf ein überhistorisches Repertoire zurückführen. Alterskonzepte sind zwischen zwei Polen anzusiedeln. 98 Auf der einen Seite steht die Defizittheorie, die Alter in Anlehnung an einen biologischen Altersbegriff 99 als Verfallsprozess begreift. Der körperliche und geistige Abbauprozess im Alter wird als Indikator dafür gesehen, dass der alte Mensch nicht mehr am gesellschaftlichen Leben teilnehmen kann. Das andere Extrem wurde in den sogenannten Aktivitätstheorien 100 formuliert. Diese gehen davon aus, dass alte Menschen Störungen, die mit dem Alter verbunden sind, bewältigen 98 Vgl. Heike Hartung: Zwischen Verfalls- und Erfolgsgeschichte. Zwiespältige Wahrnehmungen des Alter(n)s. In: Alter und Geschlecht. Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s. Hrsg. von Heike Hartung. Bielefeld 2005, S. 7-18. 99 Aus biologischer Sicht ist Alter ein Begriff zur Umschreibung zeitabhängiger, irreversibler und vorhersagbarer Veränderungen in Organismen, die in einem fortschreitenden Funktionsverlust aller Gewebe bestehen und letztendlich den Tod zur Folge haben. Vgl. David B. Danner und Heinz C. Schröder: Biologie des Alterns (Ontogenese und Evolution). In: Alter und Altern: Ein interdisziplinärer Studientext zur Gerontologie. Hrsg. von Paul B. Baltes, Jürgen Mittelstraß und Ursula M. Staudinger. Berlin, New York 1992, S. 95-123, hier S. 96. 100 Einen Überblick zu den im Folgenden genannten theoretischen Modellen gibt Ursula Lehr: Psychologie des Alterns. 9. Aufl. Neu bearb. und hrsg. von Ursula Lehr und Hans Thomae. Wiebelsheim 2000, S. 56-68. <?page no="61"?> 59 können und damit Lebenszufriedenheit auch im Alter erreichbar ist. Da die Forscher voraussetzen, dass ein glückliches und zufriedenes Leben nur dann möglich ist, wenn der Mensch aktiv ist und gebraucht wird, vertritt die in den 1960er Jahren entwickelte Aktivitätstheorie die Prämisse, dass nur der aktive alte Mensch zufrieden ist. Dieser Position widerspricht die zeitgleich entstandene Disengagmenttheorie. Deren Autoren Cumming und Henry nehmen an, dass Zufriedenheit im Alter dadurch erreicht wird, dass sich der alte Mensch aus dem gesellschaftlichen Leben weitgehend zurückzieht, da dieses nicht mehr seinem Bedürfnis nach Ruhe entspricht. Beide Ansätze wurden zwar bereits in den 1960er Jahren entwickelt und sind in der Forschung inzwischen weitgehend überholt, dennoch sind sie als Alterskonzepte kulturell präsent. Jüngere psychologische und soziologische Theorien vertreten dagegen die Sicht des Alters als einer Lebensphase mit eigenen, wertvollen Erlebnissen und Erfahrungen 101 und stellen die Kontinuität im Lebenslauf stärker heraus. Daraus wird gegenwärtig ein Alterskonzept abgeleitet, das vom älter werdenden Menschen Engagement und Lebensfreude fordert, Alter wird mit Gerd Göckenjan zur sozialen Leistung. 102 Sind die Entwürfe der Lebensphase Alter in der Realität so vielfältig, wie es alte Menschen gibt, so gehe ich im Gegensatz dazu davon aus, dass es in der Literatur einige Ausprägungen gibt, die bevorzugt behandelt werden. Gerade der Gegensatz zwischen den beiden Positionen kann aber auch ein Oszillieren zwischen den beiden Polen mit sich bringen, das eine Lösung der Widersprüche unmöglich macht. 103 Dies ist aber nicht nur charakteristisch für die literarische Auseinandersetzung mit der alternden Gesellschaft, sondern auch für den gesellschaftlichen Entwicklungs- und Sinnstiftungsprozess. Hier zeigt sich die Nähe der gerontologischen Altersforschung zur eingangs angesprochenen Kulturgeschichte, aber auch zu anderen gerontologischen Forschungen, da die Literaturwissenschaft einen Beitrag zur von Eric Schmitt aufgeworfenen Frage leisten kann, „worauf sich pessimistische und optimistische Einschätzungen zurück- 101 Hierzu gehören neben traditionellen Vorstellungen von Altersweisheit auch psychologische Versuche, Altersweisheit für die Gegenwart neu zu definieren. Vgl. Lehr, Psychologie des Alterns, S. 67f. 102 Vgl. Gerd Göckenjan: Das Alter würdigen. Frankfurt a.M. 2000, S. 422-427. 103 Vgl. Gerd Göckenjan: „Aus der Geschichte der Altersdiskurse macht es daher auch keinen Sinn ein positives oder negatives Altersbild identifizieren zu wollen. Beides findet sich immer, oft in den gleichen Texten, es handelt sich um die Standardcodierungen [...]. Das zu erreichende Lektüreziel ist vielmehr, zu identifizieren: Welche historisch besonderen Motive mit diesem Alterserwartungscode thematisiert werden. Aber auch: welche Diskursziele werden mit Alter verknüpft? “ Gerd Göckenjan, Diskursgeschichte des Alters: Von der Macht der Alten zur ›alternden Gesellschaft‹. In: Alterskulturen und Potentiale des Alter(n)s. Hrsg. von Heiner Fangerau, u.a. Berlin 2007, S. 125-140, hier S. 127. <?page no="62"?> 60 führen lassen und in welchen Kontexten sich Kategorisierungsprozesse am Lebensalter orientieren.“ 104 Alterskonzepte sind nicht an einen bestimmten literarischen Text gebunden, sondern an die in diesem Text vorkommenden Figuren. So können beispielweise zwei Figuren völlig konträre Alterskonzepte vertreten, oder der Erzähler legt ein Konzept zugrunde, das dem seiner Figur diametral entgegengesetzt ist. Ähnlich wie bei der Unterscheidung zwischen Figurenperspektive und Erzählerperspektive ist es daher auch hier notwendig, alle Informationen zu einer Figur zu bündeln. Wie Ansgar Nünning für die Figurenperspektive herausgearbeitet hat, so sind auch für das Alterskonzept eines Textes drei Ebenen von Bedeutung: die Einstellung einer Figur zum Alter, die sich aufgrund ihres Wissensstandes über das eigene Alter und das anderer Figuren ergibt; die psychologische Disposition der Figur. Kranke oder depressive Figuren werden eher dazu neigen, das Alter negativ zu beschreiben, als Figuren, die selbstbewusst sind; die Werte und Normen, die von einer Figur vertreten werden. 105 Der Begriff des Alterskonzeptes umfasst also einen Merkmalssatz, der die Einstellungen einer Figur oder eines Textes zur Lebensphase Alter konstituiert und damit ihre Sicht auf das eigene Altern und ihr Selbstverständnis als alterndes Wesen prägt. Dabei darf nicht vergessen werden, dass Alterskonzepte in literarischen Texten nicht nur dazu dienen, alltägliche alte Figuren abzubilden, sondern literarische Gestaltungen des Alters können darüber hinaus ganz andere Funktionen übernehmen. 106 Sie können einerseits gesellschaftskritisch sein und somit über die alten Figuren gesellschaftliche Zustände problematisieren. Altersdarstellungen können aber auch - wie das beispielsweise Thomas Küpper 107 gezeigt hat - auf das Literatursystem selbst bezogen sein, sodass mit den alten Figuren poetologische Fragestellungen verhan- 104 Eric Schmitt: Altersbild - Begriff, Befunde und politische Implikationen. In: Enzyklopädie der Gerontologie. Hrsg. von Andreas Kruse und Mike Martin. Bern, u.a. 2004, S. 135-147, hier S. 144. 105 Vgl. hierzu Ansgar Nünnings in Anlehnung an das von Pfister entwickelte Konzept der Figurenperspektive in epischen Texten. Nünning, Grundzüge eines kommunikationstheoretischen Modells, S. 69. 106 Da im Vordergrund der vorliegenden Arbeit die Frage steht, inwieweit literarische Altersrepräsentationen und Alterskonzepte einen Hinweis auf die Auswirkungen des demographischen Wandels geben, wurden für die Analyse in erster Linie realistische Texte ausgewählt. Das heißt nicht, dass in anderen Darstellungsmodi wie z.B. dem phantastischen Roman oder der Science Fiction keine alten Figuren vorkommen. Dort haben sie aber in der Regel andere Funktionen. 107 Thomas Küpper: Das inszenierte Alter. Seniorität als literarisches Programm von 1750 bis 1850. Würzburg 2004. <?page no="63"?> 61 delt werden. Inwieweit zeitgenössische Erzählungen über eine reine Gegenwartsdiagnose und die Positionierung im Diskurs um den demographischen Wandel hinausgehen, soll im Rahmen der Textanalysen geklärt werden. <?page no="65"?> 63 3 Zwischen Realität und Fiktion - Gesellschaftliche Altersrollen und literarische Altersmodelle Gesellschaftliche Altersrollen beeinflussen die Figurengestaltung in literarischen Texten. Aber auch literarische Figurenmodelle können Auswirkungen auf die Wahrnehmung des Alters in der Alltagswirklichkeit haben. Gemeinsam ist ihnen, dass sie Vorstellungen und Phantasien transportieren, die einerseits die Wahrnehmung des empirischen Alters sowohl in der Selbst- und Fremdwahrnehmung steuern, andererseits auch die Gestaltung fiktionaler Altersdarstellungen beeinflussen. Ich möchte im Folgenden mit einem kurzen Abriss über zeitgenössische Altersrollen und literarische Altersmodelle dieses Wechselspiel beleuchten. Beide dienen als Grundlage der Textanalysen, in denen das gesellschaftliche und literarische Potenzial literarischer Altersrepräsentationen und Alterskonzepte herausgearbeitet werden soll. Gesellschaftliche Altersrollen Alter kann man mit dem Sozialpädagogen Jürgen Hohmeier auch als Ergebnis der Reaktion des Einzelnen auf soziale Rollen und individuelle Lebensmöglichkeiten verstehen. Das chronologische Alter und äußere Erscheinungen allein machen einen Menschen noch nicht alt, sondern die Vorstellungen und Meinungen, die in einer Gesellschaft an diese Dispositionen geknüpft sind. 1 Diese Ende der 1970er Jahre vertretene Ansicht trifft auch heute noch auf die Wahrnehmung von Alter zu. Eine wichtige Richtlinie stellen dabei die Altersrollen dar, die einem älter werdenden Menschen von einer Gesellschaft angeboten werden. Unter Altersrollen verstehe ich im Folgenden die Erwartungen der Gesellschaft in Bezug auf das Verhalten älterer Menschen. 2 In der Regel sind gesellschaftliche Rollen über die Funktion bestimmbar, die einem Menschen innerhalb der Gemeinschaft zugeschrieben werden. Da nach dem Ende des Berufslebens keine klaren Erwartungen an den Lebenslauf des Einzelnen mehr gestellt werden, wurde in der Soziologie für diese Lebensphase der Begriff der 1 Jürgen Hohmeier: Alter als Stigma. In: Alter als Stigma oder Wie man alt gemacht wird. Hrsg. von Jürgen Hohmeier und Hans-Joachim Pohl. Frankfurt a.M. 1978, S. 10-30, hier S. 11. 2 Ralf Dahrendorf: Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle. Dreizehnte Aufl. Opladen 1974, S. 33. <?page no="66"?> 64 „rollenlosen Rolle“ 3 eingeführt. Diese Beschreibung trifft auf die alterstypische Rolle des Rentners 4 bzw. des Pensionärs zu, die sich durch ihre Unproduktivität auszeichnet, denn hier bezeichnet die Altersrolle eine bestimmte Phase im Lebenslauf, die des Endes des Erwerbslebens und der Inanspruchnahme von Rentenzahlungen. Neben der finanziellen Versorgung und der damit assoziierten Sorglosigkeit sind keine weiteren inhaltlichen Konzepte zur sinnvollen Gestaltung dieser Lebensphase mit diesen Altersrollen verknüpft. Der Übergang vom Erwerbsleben in den sogenannten Ruhestand hat immer wieder Aufmerksamkeit gefunden und wird gerade angesichts des demographischen Wandels kontrovers diskutiert. Auf der einen Seite wird die Rente als Lohn für erbrachte Leistungen angesehen. Dieser Sichtweise wird entgegengehalten, dass der Eintritt in den Ruhestand psychologisch aber auch dazu führt, dass die gesetzliche Regelung so interpretiert wird, dass die Produktivität des Einzelnen mit zunehmendem Lebensalter abnimmt. Die in den letzten Jahren häufig durchgeführte Frühverrentung legt nahe, dass die Ausgliederung von älteren Arbeitnehmern aus dem Arbeitsmarkt dringend notwendig erscheint, da sie nicht mehr die Leistung erbringen, wie diese bei jüngeren Mitarbeitern vermutet wird. Hier steht also als zentrales Kriterium zur Abgrenzung der Lebensphase die Produktivität des Einzelnen im Vordergrund. Der Staat institutionalisiert auf diese Weise das Alter gegenwärtig durch die Rente. 5 Damit wird der alte Mensch aber auch ausgegrenzt, da ihm mit dem Eintritt in die Rente gewissermaßen soziale Nutzlosigkeit attestiert wird. Im literarischen Diskurs wird die Rentenproblematik immer wieder thematisiert. Ein sehr nachdrückliches Beispiel, welche Auswirkungen die Verrentung hat und wie diese erlebt wird, findet sich in Barbara Bronnens Roman Am Ende ein Anfang. Die Eindringlichkeit und Nachdenklichkeit des Textes ist darin begründet, dass es sich um einen Briefroman handelt und die Gefühle der Figuren von diesen selbst beschrieben werden, ohne dass ein Erzähler generalisierend oder beschwichtigend eingreift. Dem männlichen Briefpartner wird noch vor dem Erreichen des Rentenalters nahegelegt, seine Stelle als Lektor und Programmleiter „aus Altersgründen“ aufzugeben und einem Jüngeren Platz zu machen. Damit fehlt ihm die 3 Ludwig Amrhein: Die zwei Gesichter des Altersstrukturwandels und die gesellschaftliche Konstruktion der Lebensführung im Alter. In: Lebensformen und Lebensführung im Alter. Hrsg. von Gertrud Backes, Wolfgang Clemens und Harald Künemund. Wiesbaden 2004, S. 59-86, hier S. 59. 4 An dieser Stelle sei noch einmal darauf hingewiesen, dass ich, soweit es sich um geschlechtsunspezifische Rollen handelt, zur Vereinfachung der Darstellung die männliche Form verwende. 5 Martin Kohli: Die Institutionalisierung des Lebenslaufs. Historische Befunde und theoretische Argumente. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 37 (1985), H.1, S. 1-29. <?page no="67"?> 65 Zeit, sich auf die Verrentung vorzubereiten. Der Ausstieg aus dem Berufsleben wird als äußerst schmerzhaft erfahren und führt zur Lebenskrise: Ich hatte keinen Platz mehr in der Welt und fühlte mich wie amputiert. Jemand, der nirgendwo mehr dazugehört. Doch das war für niemanden von Interesse. Es ging um die Ablösung durch einen wirtschaftlich Elastischeren, der die angeblichen Marktgesetze (welche? ) bedingungslos anerkennt. [...] Das Demütigende war das Argument. Als hätte ich bereits den Bodensatz des Geistes und Körpers erreicht. Die Scham, als ich mich von meinen Kollegen verabschieden musste. Am liebsten wäre ich fortgelaufen. Tage der Verzweiflung. Wie deprimierend viel einem Bücher bedeuteten, wenn man sie macht! Ich war es nicht gewohnt, den ganzen Tag zu Hause zu sein. Dazu war mir die lesende Unschuld verlorengegangen. Ich wurde rasch ungeduldig - es dauerte ein Jahr, bis ich wieder die ersten zaghaften Gehversuche machte. [...] Mich überkam tiefe Gleichgültigkeit. Ich nahm am Leben nicht mehr teil und zog mich zurück. [...]. Für jemanden wie mich, der sich immer wohl fühlte in seiner Haut und seine Arbeit liebte, bleibt das Alter etwas Abstraktes. Jetzt merkte ich plötzlich, daß ich nicht mehr jung aussah. Meine gerade Haltung, meine straffe Magerkeit, die leichte Art, den Fuß zu setzen, hatten sich verändert. Die Falten zu beiden Seiten des Mundes sind tief geworden, Du hast es gesehen, Charlotte, mein Haar hat sich gelichtet, mein Gang wurde schlaff. Ich habe die Sicherheit meiner Bewegungen verloren. Es gibt so etwas wie die Rache des Körpers. 6 Das Textbeispiel zeigt eindrücklich die enge Verknüpfung von Körperwahrnehmung und sozialer Rolle: Kann ein Mensch seine Rolle nicht mehr erfüllen, so nimmt er auch seinen Körper als verändert wahr. Auch wenn in literarischen Darstellungen Alltagserlebnisse gerne überzeichnet abgebildet werden, so kann man hier doch davon ausgehen, dass auch in der Realität die Verrentung als extreme Veränderung der Lebensverhältnisse erlebt wird, die sich auch auf die eigene Körperwahrnehmung ebenso wie auf die psychische Disposition auswirken kann. Im Zuge der Diskussion um die demographische Revolution spielen zunehmend Fragen der sozialen Teilhabe nach dem Ende der Erwerbstätigkeit eine wichtige Rolle. Zu diesem Bereich gehört das komplexe Verhältnis zwischen Erwerbstätigkeit, Tätigkeit, Aktivität und Untätigkeit. In diesem Zusammenhang ist die Diskussionen um das Ehrenamt, wie sie neben der Politik auch von unterschiedlichen Disziplinen geführt wird, einzuordnen. 7 Diese spielt im literarischen Diskurs eine untergeordnete Rolle. In Romanen wird immer wieder die Aktivität im Rahmen der eigenen Altersgruppe beschrieben. 6 Barbara Bronnen: Am Ende ein Anfang. Roman. Hamburg, Zürich 2006, S. 11-13. 7 Exemplarisch sei hier nur auf den Aufsatz von Meyer-Wolters verwiesen, in dem der Autor fordert, die Bedeutungslosigkeit des alten Menschen in Frage zu stellen und über Aufgaben für ältere und alte Menschen nachzudenken. Hartmut Meyer-Wolters: Altern als Aufgabe - oder wider die Narrenfreiheit der Alten. In: Altern ist anders. Hrsg. vom InitiativForumGenerationenvertrag. Münster 2004, S. 85-104. <?page no="68"?> 66 Kathrin Schmidt entwirft beispielsweise in ihrem Roman Die Gunnar- Lennefsen-Expedition mit dem Rentner Rund eine Figur, die über ihr Rentnerdasein charakterisiert wird. Diesen Rentner lernt die achtzigjährige Protagonistin Therese beim „Nachmittagskaffee im volkssolidarischen Klub“ kennen, 8 den beide besuchen und für den Therese auch Ausflüge organisiert. Der Roman Die schöne Gegenwart von Leonie Ossowski 9 zeigt ein anderes Beispiel, wie ältere Menschen wieder eine Aufgabe finden können: Die Protagonistin organisiert ehrenamtlich in einem Pflegeheim Freizeitaktivitäten für ältere Menschen. Dies hat zwar zur Folge, dass sie sich in der Konfrontation mit der Verlusterfahrung des Alters mit ihrem eigenen Altern aktiv auseinandersetzen muss, dennoch stellt der literarische Text diese Erfahrung als Bereicherung dar. 10 Im Zusammenhang mit der von Göckenjan beschriebenen Entwicklung, Alter als soziale Leistung zu verstehen, kann auch der Seniorstudent als neue Rolle angesehen werden, da sie die Wissbegier älterer Menschen und die Erfüllung von Lebensträumen symbolisiert. Wesentlich stärker als bei der ehrenamtlichen Tätigkeit stehen hier Fragen der Selbstverwirklichung im Fokus. Werden diese Seniorstudenten in der Literatur erwähnt, dann werden sie meist mit negativen Merkmalen belegt. 11 Neben der Sorge um die eigene Generation wird älteren Menschen gerne eine Funktion im Rahmen der Betreuung und Erziehung ihrer Enkel gewährt. Damit ist die Rolle der Großeltern angesprochen. Im sozialpolitischen Diskurs steht hier allerdings weniger die genealogische Zugehörigkeit zu einer Familie im Vordergrund als vielmehr die Betreuung der Kinder, sodass die mittlere Generation ihrem Beruf nachgehen kann, ohne hohe Ausgaben für die Kinderbetreuung bewältigen zu müssen. Damit zeigt sich hier eine für den Diskurs um die Großelternrolle typische Idealisierung, wie sie für diesen seit dem 19. Jahrhundert prägend ist. Man räumt den Großmüttern eine Funktion ein, für die sie aber nicht ent- 8 Kathrin Schmidt: Die Gunnar-Lennefsen-Expedition. Roman. München 2000, S. 219. 9 Leonie Ossowski: Die schöne Gegenwart. Roman. München 2001. 10 Leonie Ossowski beschreibt in ihrem Roman den Alltag im Pflegeheim durchaus nicht beschönigend. Ihre Protagonistin muss sich in dieser für sie fremden Welt erst zurechtfinden und ihren Ekel überwinden: „Nach und nach gewöhnte ich mich nicht nur an sie [d.i. Frau Griese, die erste Bewohnerin des Seniorenheims, die die Protagonistin kennen lernt, M.S.], sondern auch an die übrigen Bewohner des Seniorenheims. Wenn ich zu Besuch kam, rannte ich nicht mehr den Gang entlang, um nur ja nicht auf einen Zuruf oder eine Bitte reagieren zu müssen. Ich grüßte, blieb stehen, wenn ich angesprochen wurde, und setzte mich immer öfter in den Aufenthaltsraum, wo ich hin und wieder mit Frau Griese und Frau Doll Mensch ärgere dich nicht spielte [...]. Nur - so selbstverständlich wie das alles klingt, war es damals nicht für mich. Nie werde ich das Bedürfnis vergessen, mir minutenlang die Hände zu waschen, wenn ich aus dem Seniorenheim nach Hause kam, als sei Alter ansteckend.“ Ossowski, Die schöne Gegenwart, S. 99. 11 Vgl. z.B. Gerhard Köpf: Ein alter Herr. Novelle. Tübingen 2006, S. 28-32. <?page no="69"?> 67 sprechend belohnt werden oder gesellschaftliche Anerkennung finden. Vielmehr werden sie zu kostenlosen Arbeitskräften degradiert. Zwar nehmen viele ältere Menschen diese Rolle mangels Alternativen gerne an. Eine dauerhafte Befriedigung erhalten sie dadurch aber nicht. Problematisch wird die Situation, wenn die Kindergeneration sich dagegen entscheidet, Kinder zu bekommen. Thematisiert wird dieser Fall in Monika Marons Romanen Endmoränen und Ach Glück, der als Suche nach einer neuen Identität angesichts des Älterwerdens gelesen werden kann. Die Protagonistin Johanna Märten befindet sich in einer Midlife-Crisis. Ihre Ehe ist in einem alltäglich Trott gefangen, ihr Beruf hat nach der Wende seinen Sinn verloren, als Frau fühlt sie sich dem „erotischen Abfallhaufen“ 12 zugehörig und die Tochter plant, eine Schwangerschaft abzubrechen, da ihre Karriereplanung im Moment keinen Raum für ein Kind lässt. 13 Damit verweigert die Tochter der Mutter die einzige positive konnotierte Altersrolle, die diese kennt, und trägt damit zwar nicht zur Besserung ihrer Situation bei, macht aber klar, dass sie als Frau neben der Mutterrolle alternative Rollenmodelle für ihr eigenes Leben kennt und wählt. Eine Rolle, die in der Regel auch mit dem Alter in Verbindung gebracht wird, weil viele Ältere davon betroffen sind, ist die des Witwers oder der Witwe. Hier handelt es sich um Menschen, die durch den Tod ihren Ehepartner verloren haben. Gerade deshalb ist mit dieser Rolle eines der impliziten Altersthemen, nämlich die Auseinandersetzung mit dem Tod, eng verbunden. In der literarischen Darstellung finden wir Witwer oder Witwe entweder wie in Margit Schreiners Romanen in Konfrontation mit ihren Kindern dargestellt oder wie bei Martin Walsers Witwe Susi Gern auf der Suche nach dem eigenen Lebenskonzept nach dem Tod des Ehepartners. 14 Neben der Großeltern- und der Rentnerrolle gibt es in den verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen weitaus differenziertere Rollenmodelle, als dies gesamtgesellschaftlich der Fall ist. In der Literatur ist diese Betrachtungsweise vor allem dann interessant, wenn in einer Erzählung viele alte Menschen vorkommen, da dann eine Individua- 12 Monika Maron: Ach Glück. Roman. Frankfurt a.M. 2007, S. 38. 13 Die Überlegungen zur Zukunft ihrer Tochter, die in Amerika weiterstudieren möchte, beendet die Protagonistin folgendermaßen: „Die Idee, daß sie einmal für immer abreisen würde, war mir nie gekommen. Im Gegenteil, ich habe schon von einer Zukunft mit Enkelkindern geträumt. Enkelkinder sind wohl die einzige natürliche Leidenschaft, die das Alter uns zugesteht.“ Monika Maron: Endmoränen. Roman. Frankfurt a.M. 2004 [EA 2002], S. 173. 14 Interessant in diesem Kontext ist auch Barbara Bronnens Roman Liebe bis in den Tod. Zürich, Hamburg 2008. In diesem erzählt die Autorin die Geschichte eines Witwers, der seine unter schwerem Rheuma leidende Frau erschossen hat, aber selbst dann nicht den Mut fand, sich das Leben zu nehmen. <?page no="70"?> 68 lisierung erforderlich ist. Diese erfolgt auf der Informationsebene durch Zuordnung verschiedener Funktionen, d.h. Rollen. Die Bedeutung, die soziologische Altersrollen und Klassifizierungsversuche für die Literaturwissenschaft haben, möchte ich kurz an einem Beispiel aufzeigen. Vor dem Hintergrund der Herausbildung der modernen Gesellschaft zeigt der Literaturwissenschaftler Gottfried Willems auf, dass die Unterscheidung zwischen jungen Alten und alten Alten auch in der Literatur wiederzufinden ist. Seit Platons Diskussion der Vorzüge des Alters in seinem Werk Der Staat ist die Beschreibung des Alters durch die Abgrenzung von Jugendwerten vorgenommen worden. In der Gegenwart gelten die spezifischen Alterswerte wie Altersweisheit, geistige Unabhängigkeit, Harmonie und Vollendung dagegen nichts mehr. 15 Das Selbstwertgefühl der älter werdenden Menschen kann nur erhalten bleiben, wenn sie sich der Dynamik der modernen Gesellschaft nicht verschließen und so lange wie möglich jung bleiben. „Der moderne Alte ist kein alter Alter, sondern ein junger Alter: readyness is all, ripenes ist [sic! ] nothing.“ 16 Für die literarische Darstellung ergibt sich daraus, laut Willems, dass seit dem Beginn der Literarischen Moderne um 1900 eine positive Darstellung des Alters kaum mehr möglich ist. Der junge Alte wird zwischen den Polen von „wahnhaft gesteigerte[m] Aktionismus“ 17 und resignativem „In-den- Rinnstein-Kriechen“ 18 gezeichnet. Entgegengestellt werden diesen den eigenen Lebenslauf verleugnenden alten Figuren Versuche alter Protagonisten, sich auch im Alter treu zu bleiben. Für diese Haltung ist nach Willems Hemingways Roman Der alte Mann und das Meer ein herausragendes Beispiel. An diesem zeigt sich aber auch, dass das Alter - auch wenn die Verteidigung der eigenen Identität gelingt - immer Verluste mit sich bringt. Zwar spricht Willems explizit von Altersbildern und bezieht sich auch auf Georg Philipp Harsdörffers Sammlung von Standardthemen und stereotypen Bildern in dessen Poetologie Poetischer Trichter, seinen Untersuchungsgegenstand definiert er indes nicht explizit. Implizit erweisen sich zwei Themenbereiche als für seinen Aufsatz zentral: die Charakteristik des alten Menschen und das Geheimnis der Zeit, das sich anhand der Repräsentationen des Alters in der Literatur verfolgen lässt. 19 15 Gottfried Willems: Von der Modernisierung des Alters - Bilder des Alters in älterer und neuerer Literatur. In: Alt werden - alt sein: Lebensperspektiven aus verschiedenen Wissenschaften. Hrsg. von Martha Friedenthal-Haase. Frankfurt a.M., u.a. 2001, S. 47- 63, hier S. 54. 16 Ebd., S. 50. 17 Beispielhaft hierfür ist die Verblendung des alten Faust im Goethes Drama Faust II. Vgl. ebd., S. 60. 18 Das Zitat bezieht sich auf Gottfried Benns Erzählung Die Stimme hinter dem Vorhang. Vgl. ebd. 19 Willems, Von der Modernisierung des Alters, S. 63. <?page no="71"?> 69 Literarische Altersmodelle 20 Hat sich bereits durch die Wahl der Beispiele eine enge Verknüpfung von gesellschaftlichen Altersrollen und literarischen Figurenmodellen gezeigt, so gibt es auch in der Literatur selbst wiederkehrende Figurenmodelle, deren Funktion aber weniger in der Abbildung gesellschaftlicher Wirklichkeit besteht, sondern die zur Deutung gesellschaftlicher oder literarischer Entwicklungen herangezogen werden können. Der Rollenbegriff selbst ist nicht nur, wie gerade ausgeführt, ein soziologischer Schlüsselbegriff. Er stammt ursprünglich aus dem Bereich der Aufführungspraxis an Theatern. Dort bezeichnet er einen handlichen Papierstreifen, auf dem der Text der jeweiligen Figur aufgezeichnet war und der während der Proben unauffällig abgerollt werden konnte. 21 Daher ist die Rollenmetapher auch für die Beschreibung literarische Figuren interessant und zeigt die enge Verknüpfung von gesellschaftlicher Wirklichkeit und literarischer Imagination. Unter literarischen Altersrollen verstehe ich im Folgenden literarische Figuren aller Gattungen, die eine bestimmte auf ihr Alter bezogene Lesererwartung erfüllen. Aufgrund der Zuordnung von bestimmten Alterstopoi oder Referenzbegriffen zu einer Figur wird die Lesererwartung geweckt und deren Erfüllung angedeutet. Im Wechselspiel aus Überraschung und Erfüllung von wiederkehrenden Mustern liegt der Reiz dieser Altersrollen. Im Zusammenhang mit der fiktionalen Darstellung ist der Aspekt der Illusionsbrechung eng mit dem Rollenbegriff verbunden, da er darauf verweist, dass die „Differenzierung zwischen Wahrheit und Illusion, Eigenem und Fremdem, Individuum und Gesellschaft, Selbst- und Fremdbestimmtheit“ 22 nur eine Illusion ist. Der Rollenbegriff ist also literaturgeschichtlich in der Theaterpraxis zu verorten. Im Gegensatz zur Erzähl- 20 An dieser Stelle sei noch einmal darauf hingewiesen, dass ich im Folgenden den Begriff ›Modell‹ anstatt des häufig gebrauchten Begriffs ›Typus‹ verwende, weil der Begriff des Typischen einerseits in unterschiedlichen Kontexten verwandt wird und damit terminologisch nicht auf die Beschreibung von Figuren begrenzt ist. So definiert beispielsweise Lämmert in der Einleitung Gattungsbegriff und Typusbegriff in der Epik zu seinem Standardwerk Bauformen des Erzählens: „Gattungen sind für uns historische Leitbegriffe, Typen sind ahistorische Konstanten.“ Damit hat er eine typische Darstellungsform vor Augen, die im Einzelwerk ihre Ausformung findet. Diese Definition lässt sich auf verschiedene literarische Texte und Definitionen anwenden, ist aber nicht auf die literarische Figur ausgerichtet. (Vgl. Eberhart Lämmert: Bauformen des Erzählens. 4. unver. Aufl. Stuttgart 1970, S. 16) Darüber hinaus assoziiert man im Bereich der Figurenbeschreibung mit dem Begriff ›Typus‹ in erster Linie eine dramatische Figur, die durch „einen ganzen, kleineren oder größeren, Satz von Eigenschaften“ gekennzeichnet ist. Vgl. Manfred Pfister: Das Drama. 11. Aufl. München 2001, S. 245. 21 Doris Kolesch: Rollen, Rituale, Inszenierungen. In: Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 2: Paradigmen und Disziplinen. Hrsg. von Friedrich Jaeger und Jürgen Straub. Stuttgart, Weimar 2004, S. 277-292, hier S. 282. 22 Ebd., S. 283. <?page no="72"?> 70 textanalyse wurde im Rahmen der Dramenanalyse sehr ausführlich darauf hingewiesen, worin der Unterschied zwischen Figuren und realen Personen besteht, da gerade dieses Wechselverhältnis bei einer Aufführung von Dramen im Vordergrund steht. Ebenso wurde von Markus Pfister herausgearbeitet, inwieweit Figuren über individuelle Merkmale verfügen, die sie als Individuum auszeichnen, oder als reine Typen auf die Bühne gebracht werden, die im Verlauf der Handlung keine Veränderung durchleben. Diese Unterscheidung wird - wie meine Ausführungen zu Altersrepräsentationen angedeutet haben - auch im Rahmen der Textanalysen eine wichtige Rolle spielen. Vorerst möchte ich aber, um einen kurzen Überblick über die Geschichte der literarischen Darstellung alter Figuren zu geben, einige zentrale Altersrepräsentationen vorstellen. Hierbei handelt es sich nach der Terminologie der Figurenkonzeption von Pfister um Typen und Charaktere. Dies ist insofern zweckmäßig, als alte Figuren lange Zeit als Randfiguren vorkamen, die bestimmten Rollenmodellen gehorchten und nur schemenhaft gezeichnet waren. Inwieweit in der Gegenwartsliteratur individualisierte Altersdarstellungen eingesetzt werden, werde ich im Rahmen der Textanalysen eruieren. Allerdings ist hier bereits mit Gerd Göckenjan zu vermuten, dass sich (auch) literarische Altersrollen in einen gesellschaftlichen Prozess einschreiben, der dadurch gekennzeichnet ist, dass ein unentwegter Strom von Altersthematisierungen auf den Gestaltungsbedarf des ›rollenlosen‹ Alters verweist. Dabei geht es vor allem darum, ein Panorama von Ausdeutungen, Rollenvorbildern und Anregungen zu zeigen, die das breite Umgangsspektrum paraphrasieren, das in der Gesellschaft für Personen ab dem Verrentungsalter als angemessen oder wünschenswert gelten soll. 23 Eine Übersicht über die Ausgestaltung literarischer Altersrollen liegt bislang noch nicht vor. 24 Hannelore Schlaffer hat in ihrem Buch Das Alter. Ein Traum von Jugend 25 mit den Modellen Staatsmann, Großvater, Lebensmüder, Seniorinnen und Senioren einen ersten Versuch unternommen, Unterschiede in der Darstellung verschiedener Alterstypen herauszuarbeiten. Leider verwendet sie dabei aber keine scharfe Trennung zwischen literarischen Erzähltraditionen und lebensweltlichen Altersrollen. Zu Letzteren zählen meiner Meinung nach eindeutig die von Schlaffer beschriebenen Seniorinnen und Senioren. Um dieser Gefahr zu entgehen, 23 Göckenjan, Das Alter würdigen, S. 418. 24 In Dissertationen zum Alterswerk unterschiedlicher Autoren findet sich in der Regel eine Übersicht zu den literarischen Altersdarstellungen, die für den jeweiligen Autor von Bedeutung waren. Dabei wird aber immer eine selektive Auswahl getroffen. Vgl. Claudia Deniers: Die Darstellung des Alters im Werk T.S. Eliots. Ein literaturwissenschaftlicher Beitrag zur Gerontologie. Frankfurt a.M. u.a. 1993; Joern Rauser: ›Über die Herbstwelten in der Literatur‹: Alter und Altern als Themenkomplex bei Hans Henny Jahnn und Arno Schmidt. Frankfurt a.M., u.a. 2001. 25 Schlaffer, Das Alter. <?page no="73"?> 71 habe ich mich für eine Trennung von alltagsweltlichen und literarischen Altersrollen entschieden. Beide sind für die Einordnung einer Figur beim Lesen eines Textes wichtig, repräsentieren aber unterschiedliche Formen des Weltwissens. Im Folgenden setze ich den Fokus wie auch bei den alltagsweltlichen Altersrollen auf die Erkennungszeichen im Text, die dem Leser aufgrund seines Weltwissens nahelegen, eine Figur als alte Figur zu entschlüsseln. Für die Bedeutung alter Figuren im literarischen Diskurs lassen sich unterschiedliche Positionen finden: Im Großen und Ganzen sind die Alten in der Literatur entweder gute Ratgeber und Seher - ein Nestor, ein Teiresias, besorgte Ammen - oder Hexen und Miesmacher, von denen sich die Jugend tunlichst hüten sollte. Literatur, sofern sie davon handelt, wie der Mensch seine Zukunft gestalten soll, kann mit den alten Leuten nichts anfangen, denn sie haben keine eigene Zukunft mehr. Sie haben nur die Zukunft der nächsten Generation und sind daher Nebengestalten im Schicksal anderer. 26 Diese Einschätzung der Germanistin Ruth Klüger attestiert den alten Figuren weitgehende Belanglosigkeit. Eine Gegenposition hierzu nimmt der Schriftsteller Siegfried Lenz in seinem Essay Die Darstellung des Alters in der Literatur ein: Daß sich die Literatur des alten Menschen annahm, ihn darzustellen versuchte an seinem Ende und vor dem Nichts, erscheint mir unvermeidlich; denn dies galt ja der Literatur von Anfang an: vor Augen zu führen, was es heißt, befristet in der Welt zu sein und am Schicksal des einzelnen den Zustand des Allgemeinen deutlich zu machen. 27 Die Wahrheit liegt - wie immer bei extremen Positionen - womöglich in der Mitte. Auffallend ist allerdings, wenn man die Literaturgeschichte betrachtet, dass es sehr wenige alte Hauptfiguren in literarischen Texten aller Gattungen gibt. Da es sich zudem bei vielen traditionellen Altersthemen wie z.B. dem verliebten Alten, der Vettel oder dem geizigen Alten um Komödiensujets und klassische Formen des Altersspotts handelt, sind alte Figuren meist sehr schemenhaft gezeichnet und durch wenige charakteristische Eigenschaften gekennzeichnet. 28 Im Folgenden werde ich einen kurzen Überblick über diese Altersmodelle geben, um davon ausgehend im Rahmen der Textinterpretationen aktuelle Tendenzen abgrenzen zu können. 26 Ruth Klüger: »Ein alter Mann ist stets ein König Lear« - Alte Menschen in der Dichtung. Mit einem Vorwort von Hubert Christian Ehalt. Wien 2004, S. 18. 27 Siegfried Lenz: Die Darstellung des Alters in der Literatur. In: ders.: Werkausgabe in Einzelbänden. Bd. 20: Essays 2: 1970-1997. Hamburg 1999, S. 447-466, hier S. 450. 28 So vertritt Hannelore Schlaffer die Ansicht, dass alte Leute in der Literatur „immer nur Handlanger der Jugend“ sind. Hannelore Schlaffer: Der jugendliche Greis. Das Reden über Alter und Altern. In: Sinn und Form 53 (2001) S. 707-715, hier S. 709. <?page no="74"?> 72 Alte Figuren, die positiv besetzt sind, sind in der Regel männlich. Die positivste ist sicher der weise Alte. Als weiser Ratgeber und Seher wird er exemplarisch verkörpert in der Figur des Sehers Teiresias, der, obwohl er die Wahrheit sagt, keine Anerkennung bei den jüngeren Figuren findet. Theoretisch reflektiert wurden die Vorteile eines weisen Alters von Cicero in seiner Schrift Cato Maior de senectute. 29 Cicero geht in dieser Verteidigungsschrift von einer positiven Bewertung des Alters aus. Die Klagen über das Alter sind nicht auf die grundsätzlich negative Beschaffenheit desselben zurückzuführen, sondern auf den Charakter des Klagenden, so konstatiert Ciceros Greis. 30 Im Gegensatz zur Unbesonnenheit der Jugend lobt Cicero die Klugheit des Alters, die die körperlichen Kräfte der Jugend durch Weisheit ausgleicht. 31 Da das Alter zudem den Vorteil hat, nicht mehr durch sexuelle Lust im Handeln beeinträchtigt zu sein, ist eine Konzentration des alternden Menschen auf die intellektuelle Bildung möglich. Damit sind für Cicero in erster Linie die kognitiven Fähigkeiten Kennzeichen der Altersweisheit. 32 Diese zeichnet sich aber durch einen weiteren, von Cicero nicht thematisierten Aspekt aus, den der emotionalen Reife. Das Fehlen dieser Eigenschaft wird in der Gegenposition zu Ciceros Altersentwurf exemplarisch dargestellt. Im bereits im Alten Testament verwandten Bild des Lustgreises wird die emotionale Unreife der Figur durch die unreflektierte Durchsetzung sexueller Wünsche offenbar. Exemplifiziert wird hiermit die den alten Männern nicht mehr zugestandene sexuelle Lust, die sich auf ein für sie nicht mehr erreichbares Liebesobjekt richtet, die junge Frau. Aufgrund der Disproportion zwischen jugendlicher Schönheit und seniler Lüsternheit handelt es sich hier um eine komische Darstellung des Alters, die einem eindeutig moralischen Impetus folgt. 33 Im Buch Daniel wird dies an zwei alten Richtern gezeigt, die die schöne Susanna im Bad beobachten und sie zur Erfüllung ihrer sexuellen Wünsche zwingen möchten. Doch die junge Frau bleibt standhaft. Daraufhin bezichtigen die beiden die junge Frau des Ehebruchs und verurteilen sie. Die Todesstrafe kann durch den Propheten Daniel abgewendet werden, der nach einer göttlichen Eingebung nachweist, dass die beiden Richter die Unwahrheit sagen. 34 29 M. Tullius Cicero: Cato Maior de senectute. Cato der Ältere über das Alter. Lat.-dt. Ed. von Max Faltner. 2. verb. Aufl. München 1980. 30 Ebd., S. 15. 31 Ebd., S. 31. 32 Vgl. Aleida Assmann: Was ist Weisheit? Wegmarken in einem weiten Feld. In: dies.: Weisheit. Archäologie der literarischen Kommunikation III. München 1991, S. 15-44. 33 Elisabeth Frenzel: Alte, der verliebte. In: dies.: Motive der Weltliteratur: ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. Stuttgart 2008, S. 1-11. 34 Die Bibel. Buch Daniel 13,1-64, nach der Übersetzung Martin Luthers. Hrsg. von der Evangelischen Kirche in Deutschland. Stuttgart 1985. <?page no="75"?> 73 Die Figur des Lustgreises ist eng verwandt mit der des verliebten Alten. 35 Hierbei handelt es sich um ein typisches Komödiensujet. Ein alter Mann ist in eine wesentlich jüngere Frau verliebt. Die Ausführung des Figurenmodells geschieht auf unterschiedlichste Weise. In vielen Fällen kann sich der ältere Mann gegen einen jungen Gegenspieler durchsetzen, aber dies ist noch keine Garantie für eine gelungene Ehe. Wie in Fontanes Effi Briest kann die so gestiftete Ehe auch daran scheitern, dass die Frau sich in einen sexuell attraktiveren Mann verliebt, der ihr das bieten kann, was ihrem alten Ehemann fehlt. 36 Es gibt aber auch die Möglichkeit, dass eine jüngere Frau sich bewusst für einen älteren Mann entscheidet. Am Beispiel der Thematisierung der Versorgungsehe um 1900 zeigt Sigrid Schmid-Bortenschlager auf, wie das Modell zur Umsetzung eines umfassenderen Konzepts herangezogen wird. Um 1900 dient das traditionelle literarische Modell dazu, das Aufeinandertreffen von neuer und alter Zeit zu symbolisieren, wobei die neue Zeit nicht zwangsläufig vom jungen Mann symbolisiert wird, oder das Ehekonzept zwischen materieller, gesellschaftlicher Einrichtung und emotionaler Liebesheirat zu veranschaulichen. 37 Neben der sozial-historischen Komponente kann das Motiv aber auch moralisch ausgerichtet sein. Dies ist in der Regel in der Komödie der Fall. Hier wird gezeigt, dass der alte Mann kein Anrecht auf die von ihm begehrte junge Frau hat, da diese sich zu einem jüngeren Mann hingezogen fühlt, den sie nach den üblichen komödientypischen Verwirrungen auch heiraten wird. Ist beim Figurenmodell des verliebten Alten der Spott meist stark zurückgenommen, so trifft er die weibliche Figur umso härter. Einer alten Frau, die einen jungen Mann meist durch das Anbieten größerer Geldsummen zur Heirat überreden möchte, wird keinerlei Verständnis entgegengebracht. Die alte Vettel, wie sie auch oft bezeichnet wird, ist aber nicht nur eine typische Komödienfigur, sie verkörpert mit ihren Falten, Runzeln, Warzen und zu großer Weichheit, durch die Betonung von zu großen Körperöffnungen und austretenden Körperflüssigkeiten den absoluten Gegensatz zum attraktiven Körper und ästhetisch Schönen. 38 35 Da ich dieses Motiv auch im Rahmen der Textanalysen zu den Romanen Martin Walsers näher beleuchte, werde ich hier lediglich einen kursorischen Überblick geben. 36 Das Beispiel Effi Briest ist insofern schlecht gewählt, als Crampas auch wesentlich älter ist als Effi. Aufgrund der wiederholten Betonung der Altersdifferenz in der Ehe stellt es doch ein Beispiel für die genannte Konstellation dar. 37 Sigrid Schmid-Bortenschlager: Varianten und Variationen des Topos ›Alter Mann - Junge Frau‹. In: Schwierige Verhältnisse. Liebe und Sexualität in der Frauenliteratur um 1900. Hrsg. von Theresia Klugsberger, Christa Gürtler und Sigrid Schmid-Bortenschlager. Stuttgart 1992, S. 5-18. 38 Interessanterweise ist die verliebte Alte nicht nur in der Komödie anzutreffen, sondern taucht auch in der medizinischen Fachliteratur der Frühen Neuzeit auf. <?page no="76"?> 74 Die positiven Regeln des ›ästhetischen‹ Körpers [...] sind ebenso viele Ekelvermeidungsregeln. Die kanonischen Plastiken Apollos und Aphrodites figurieren und funktionieren als förmliche Ekelvermeidungskörper. Sie produzieren eine Sichtbarkeit, indem sie etwas unsichtbar machen. Für das, was sie unsichtbar machen, ja geradezu obsessiv in den Orkus ästhetischer Unmöglichkeit verstoßen, gebrauchen die ›Klassiker‹ wieder und wieder eine schon in der Antike traditionsmächtige Chiffre: diejenige der ekelhaften alten Frau. Sie ist der Inbegriff alles Tabuierten: abstoßender Haut- und Formdefekte, ekelhafter Ausscheidungen und sogar sexueller Praktiken - ein obszöner, verwesender Leichnam schon zu Lebzeiten. Mit der einen Ausnahme Winckelmanns hat das Ekelhafte bei allen behandelten Autoren weibliches Geschlecht und hohes Alter. [Hervorhebungen M.S.] 39 Als Projektionsfläche für alles Ekelerregende wird die hässliche Alte auch zur Personifikation des Bösen. 40 In den Hexenverbrennungen haben sich die Auswirkungen dieser Vorstellung auf erschreckende Art und Weise gezeigt. 41 Hier muss sicherlich mitbedacht werden, dass die typischen körperlichen Alterszeichen der hässlichen Alten vor allem Zeichen der Armut sind. Die Folgen harter Arbeit und eines entbehrungsreichen Lebens werden in der Literatur umgewertet als Zeichen des Unheimlichen und Bedrohlichen. 42 Das positive Gegenmodell zur bösen Alten ist die gute Alte im Bild der Großmutter. Mit der Großmutter 43 als der schönen Alten Daniel Schäfer weist darauf hin, dass die Hysterie bei älteren Frauen entweder mit dem Ausbleiben der Monatsblutung erklärt wurde, sie konnte aber bei unverheirateten Frauen auch darauf zurückgeführt werden, dass diese eine Neigung zu fleischlichen Begierden verspürten. „Als deren Ursache wurde bis 1700 noch nicht die Plethora [d.i. eine Blutfülle, M.S.], sondern eine Zurückhaltung des weiblichen ›Samens‹ bei Keuschheit angesehen.“ Als Schutz vor hysterischen Leiden wurde daher für alte Frauen auch der Beischlaf empfohlen. Daniel Schäfer: Alte Frau = alter Mann? Die Wahrnehmung von Matronen in der medizinischen Fachprosa des 18. Jahrhunderts. In: Alter und Geschlecht. Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s. Hrsg. von Heike Hartung. Bielefeld 2005, S. 135-154, hier S. 143ff. 39 Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Frankfurt a.M. 1999, S. 16. 40 Gerd Göckenjan: Das Alter würdigen. Frankfurt a.M. 2000, S. 194. 41 Die Figur der Hexe selbst wird hier nicht als Altersfigur aufgeführt, da es sich bei dieser nicht um eine durch das Alter gekennzeichnete Figur handelt, auch wenn diese in der Regel vom Leser als alte Figur gedacht wird. 42 Besonders beliebt war dieses Motiv in der Romantik. So changiert beispielsweise in E.T.A. Hoffmanns Märchen Der goldene Topf die Figur der alten Rauerin zwischen einer armen alten Frau, die ihren Lebensunterhalt durch Putzen und Nähren verdient, und einer Hexe, die die Entwicklung des Protagonisten behindert, indem sie ihn für ein bürgerliches Leben gewinnen möchte. Alte Frauen, die aufgrund ihres Aussehens verdächtigt werden, geheime Kräfte zu haben, finden sich aber auch in anderen Epochen, so beispielsweise im Werk Fontanes die Figur der alten Runtschen in der Erzählung Mathilde Möhring oder das Hoppenmarieken in Vor dem Sturm. 43 Auf die literarische Darstellung der Großelternfiguren werde ich im Rahmen der Analyse des Familienromans Himmelskörper von Tanja Dückers näher eingehen. <?page no="77"?> 75 entwickelte sich im 19. Jahrhundert eine positive weibliche Altersfigur. 44 Diese gesellschaftliche Altersrolle findet sich auch an dieser Stelle, da über den literarischen und künstlerischen Diskurs die Rolle der Großmutter definiert und propagiert wurde, um dann Aufnahme in die alltägliche Lebenswelt zu finden. Sozialhistorisch gesehen ist dieser Einfluss der Kultur auf die Lebenswelt weniger positiv zu bewerten, als dies auf den ersten Blick erscheint, denn mit der Verpflichtung der realen Frau der in Kunst und Literatur entwickelten Großmutterkonvention zu entsprechen, entstand der Zwang, im Alter auf die ihr zukommende innerfamiliäre Autorität zu verzichten. Den Übergang von der einflussreichen Großmutter zur liebevollen Bewahrerin der Kinder zeigen die erfolgreichen Heidi-Erzählungen der Johanna Spyri. 45 Hier wird die großbürgerliche Großmama gezeigt, die sich, wenn sie zu Besuch ist, als liebevolle Erzieherin der Enkel zeigt und viel Verständnis für deren Sorgen und Nöte aufbringt. Freilich wird sie - trotz der Behinderung der mutterlosen Enkelin - nur als Besucherin im Haushalt des Sohnes geduldet. Sie lebt selbstständig und unabhängig in einer anderen Stadt und beobachtet die Entwicklung der Enkelin aus der Ferne. Eine ähnliche Entwicklung zeigt sich übrigens bei der Großvaterfigur. Diese galt lange Zeit als Lehrer der Enkel, 46 wurde aber im Laufe des 19. Jahrhunderts zum Spielkameraden des Enkels degradiert. Die Vorstellung des kindischen Alten, der seine kindliche Unschuld wiedergewonnen hat, entstand ebenfalls zu dieser Zeit. 47 Verstöße gegen die Großmutterkonvention wurden vor allem im Kleinbürgertum äußerst ungern gesehen, wie das bereits vorgestellte Figurenmodell der unwürdigen Greisin eindrücklich demonstriert. Ein weiteres Figurenmodell, das aus dem Bereich der Märchen bekannt ist, findet in anderen Gattungen ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend Anklang: die Alte als Erzählerin. 48 Im Unterschied zum Greis, der oft als Lehrer dargestellt wird, haben die alten Frauen aber eher unterhaltende Funktion. Anhand der Novellen von Theodor Storm lässt sich zeigen, dass ihre Erzählungen von früheren Zeiten und familiären Erinnerungen in diesem Kontext aufgrund der beschleunigten Zeit in der 44 Göckenjan, Das Alter würdigen, S. 199ff. Vgl. zur Entwicklung der Großelternfigur auch: Erhard Chvoijka: Geschichte der Großelternrollen vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Wien, u.a. 2003. 45 Vgl. Johanna Spyri: Heidis Lehr- und Wanderjahre. Zürich 1978 [EA 1880]. 46 Vgl. zu den Großeltern als Erzieher: Hans Thiersch: Großelternschaft. In: Die alternde Gesellschaft. Problemfelder gesellschaftlichen Umgangs mit dem Altern und Alter. Hrsg. von Karl Lenz, Martin Rudolph und Ursel Sickendiek. Weinheim, München 1999, S. 137- 148. 47 Hannelore Schlaffer: Das Alter. Ein Traum von Jugend. Frankfurt a.M. 2003, S. 48. 48 Vgl. Thomas Küpper: Die Erzählerin. Alterskonzeptionen in Theodor Storms ersten Novellen. In: Alter und Geschlecht. Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s. Hrsg. von Heike Hartung. Bielefeld 2005, S. 179-190. <?page no="78"?> 76 Phase der Industrialisierung immer mehr an Bedeutung verlieren. Insofern zeigt sich, wie auch im Modell der Großmutter um 1900, ein Statusverlust der alten Frau innerhalb der Familie. Vor allem im Märchen findet sich immer wieder eine andere alterstypische Figur: die weise Alte. 49 Weisheit wurde Frauen in der Regel vor allem in Zusammenhang mit körperlichen Vorgängen, mit der Geburtshilfe, der Gynäkologie im weitesten Sinne und mit allgemeiner Heilkunde zugestanden. Dazu gehören traditionell auch die verbotenen Tätigkeiten der Herstellung von Mitteln zur Empfängnisverhütung und Abtreibung, 50 wodurch die alte, weise Frau zur ambivalenten Figur wird, da sie Kenntnisse über Vorgänge hat, die lange Zeit nicht erklärbar waren. Aufgrund der Angst vor dem geheimen Wissen der alten Frauen ist das Modell der weisen Alten kulturgeschichtlich eng mit dem der bösen Alten verknüpft. Eines, wenn nicht sogar das bekannteste Drama um einen alten Helden ist Shakespeares King Lear. In ihm wird die Frage nach der Weitergabe des Erbes an die Kinder durch den alten König thematisiert. Hier zeigt sich weniger der weise Alte, sondern der alte Mann, der sich aufgrund seiner Macht verschätzt und nach deren Weitergabe von seinen Kindern nicht mehr ernst genommen wird. Da er die Tochter, die ihn wirklich liebt, verstoßen hat, endet er einsam und wahnsinnig. Ruth Klüger hat diesen Typus als King-Lear-Typus bezeichnet: „Das König-Lear-Modell, wenn ich’s so nennen darf, fasst das Problem des Abdankens, das Weitergeben der Zügel und des Managements, in dem Problem der Erbschaft zusammen.“ 51 Damit ist eines der wichtigsten Elemente der Altersdarstellung in der Literaturgeschichte angesprochen: die Abgabe von Macht und die Weitergabe des Erbes an die Kindergeneration. In diesem Muster verbinden sich zwei Elemente der Altersdarstellung. Einerseits der Altersspott, der dem Alten verdeutlichen soll, dass er nicht mehr in der Lage ist, die von ihm eingeforderte Macht auch auszuüben. Andererseits die Altersklage, die betont, dass der alte Mensch zunehmend seiner Fähigkeiten beraubt, seine gesellschaftliche Stellung nicht mehr beibehalten kann. Der King-Lear-Typus als der Alte, der seine Macht zu früh bzw. in die falschen Hände abgegeben hat, steht damit im Gegensatz zu einer typischen Komödienfigur: dem geizigen Alten. Dieses Figurenmodell ist bereits seit der Antike fester Bestandteil des Figurenensembles der Komödie und durch Molières Darstellung in der Komödie Der Geizige auch sehr bekannt. Bei dieser Figur ist es das Festhalten an weltlichen Gütern angesichts des eigenen Todes, 49 Vgl. hierzu Elisabth Hellmich: Forever young? Die Unsichtbarkeit alter Frauen in der Gegenwartsgesellschaft. Berlin, Wien 2007, S. 45. 50 Vgl. Marlene Kuch: L’enfer des femmes. Zum Bild der alternden Frau in der französischen Literatur. Frankfurt a.M. 1998, S 89. 51 Klüger, »Ein alter Mann ist stets ein König Lear«, S. 30. <?page no="79"?> 77 die zur Lächerlichkeit beiträgt und der Beschreibung des Greises als uneigennütziger Autorität, die ihr gesamtes Gut zum Wohle der Kinder und Enkel einsetzt, widerspricht. 52 Die sozialkritische Komponente, die auch in dieser Figur angelegt ist, ist dabei nicht zu übersehen. Soll der Alte, wie King Lear, sein Erbe schon zu Lebzeiten abtreten, mit der Gefahr, dann von seinen Kindern nicht mehr geachtet zu werden? Soll er an den weltlichen Gütern festhalten, um seine Machtposition innerhalb von Familie und Gesellschaft nicht zu verlieren? Dass diese Frage nur im Kontext des jeweiligen Textes beantwortet werden kann, zeigt Silvio Huonders Erzählung Alter Mann, rückwärts gehend. Der Protagonist der Erzählung,Arnold Hürni,ist sechsundsechzig Jahre alt, Besitzer eines Lebensmittelgeschäfts und an Alzheimer erkrankt. Da er allmählich das Gefühl für die Zeit vergisst, berechnet er den Kunden die Preise, die sie vor zwanzig Jahren für ein Produkt bezahlt hätten. Damit gefährdet er das Geschäft, reagiert aber auf das Ansinnen seiner Familie, es in die Hände seiner Kinder zu geben, abwehrend: Sie wollen, dass er Platz macht im Laden. Für die nächste Generation, sagt seine Frau. Die Familie will, dass Hürni sich ausruht. Er ist aber nicht müde. Sechsundsechzig ist kein Alter, sagt er, wer ist auf die Tanne geklettert? Du bist müde, sagt seine Frau. Irgendwann ist es Zeit, sagt die Tochter. Irgendwann ist aber nicht jetzt, sagt Hürni. Vom Geschäft versteht ihr nichts. Ihr wisst nicht, was es heißt, vierzig Jahre lang jeden Tag pünktlich den Laden aufzumachen. Nur am Sonntag nicht, natürlich, und am Mittwochnachmittag nicht. Den brauche ich für die Bienen. 53 Hier zeigt sich die Angst vor der sozialen Nutzlosigkeit und dem Umsturz seiner Alltagsroutine in der Abwehr des Ansinnens seiner Familie. Hürni trägt sowohl Züge des geizigen Alten, der nicht bereit ist, sein Lebenswerk aus den Händen zu geben und es damit gefährdet, als auch des kindischen Alten, dessen Fehlverhalten bereits der fünfjährige Enkel erkennt. 54 In der Gegenwartsliteratur wird zwar noch auf traditionelle Altersrollen zurückgegriffen, aber sie werden in neuer Art und Weise kombiniert und eingesetzt. Daher möchte ich im Folgenden untersuchen, ob man von neuen Altersrepräsentationen und Figurenmodellen sprechen kann, die sich in der Gegenwart herausbilden, oder ob in einem Spiel mit den traditionellen Topoi den Lesern unterschiedliche Interpretationsangebote gemacht werden, sodass die alten Figuren im Text zwischen den Polen Verfall und Verklärung des Alters changieren. 52 Göckenjan, Das Alter würdigen, S. 107. 53 Silvio Huonder: Alter Mann rückwärts gehend. In: Es schneit in meinem Kopf. Erzählungen über Alzheimer und Demenz. Hrsg. von Klara Obermüller. München 2006, S. 82-96, hier S. 92. 54 Ebd., S. 96. <?page no="80"?> 78 Die im Folgenden zu verifizierende These lautet: Die traditionellen Alterstopoi werden auch in der Gegenwartsliteratur aufgegriffen. Durch die Variation traditioneller und Kombination mit neuen Darstellungsmitteln und Erzählverfahren auf der Ebene des discours wird die bereits historisch zu beobachtende Vielfalt der Altersmodelle erweitert. Damit ließe sich die These Beauvoirs bestätigen, dass das Inventar der Altersdarstellung über die Jahrhunderte hinweg gleich bleibt, diese Beobachtung ist aber nicht negativ zu bewerten. Gerade die Verbindung von traditionellem und innovativem Beschreibungsinventar scheint mir charakteristisch für die Darstellung alter Figuren in der Literatur zu sein, die sowohl die Tradition als auch den gesellschaftlichen Fortschritt verkörpern. Die Einschreibung in den gegenwärtigen Diskurs um den demographischen Wandel - so meine Vermutung - wird sich hingegen in den stärker historisch verankerten Alterskonzepten niederschlagen. <?page no="81"?> Teil II Altersrepräsentationen und Alterskonzepte in der Gegenwartsliteratur <?page no="83"?> 81 1 Spiel mit traditionellen Konzepten der alten Frau: Judith Hermann Ende von Etwas Mit Judith Hermann eröffnet - glaubt man Feuilleton und Literaturkritik - eine der zentralen Vertreterinnen der ›Generation Golf‹, 1 ein ›literarisches Fräuleinwunder‹ 2 den Reigen der Textanalysen. In welcher Beziehung steht die Erzählung einer Autorin, die den „Sound einer neuen Generation“ 3 verkörpert, zum Alter? Inwiefern steht dieser Text exemplarisch für die Auseinandersetzung mit der Altersthematik der jüngsten Autorengeneration? Die Antwort ist weniger stilistischer als vielmehr gruppendynamischer Natur. Auch für die zwischen 1965 und 1975 geborenen Mitglieder der ›Generation Golf‹ gilt, dass sie Teil einer Erfahrungsgemeinschaft sind, in der sie ihren Platz unter anderen Altersgruppen suchen und definieren müssen. Als Gemeinsamkeit der Autoren dieser Generation wird gerne angeführt, dass die ›Wohlstandskinder‹ sich für nichts interessieren - wobei mit ›nichts‹ vor allem ein fehlendes politisches und gesellschaftliches Problembewusstsein gemeint ist -, und ihre Texte sich vorgeblich dadurch auszeichnen, dass ihnen der „Eigenausdruck“ fehlt. 4 Andererseits wird gerade den jungen Autorinnen und Autoren eine neue Lust am Fabulieren attestiert. 5 Man kann in dieser von der Literaturkritik erarbeiteten Struktur eine Bewegung sehen, die sich auf der Suche nach Vorbildern und durch ihre Umgestaltung einen eigenen Platz in der Abfolge der Generationen und der familiären Genealogie erschreibt. 6 Daher kommen auch die Texte der jungen Generation nicht ohne ›alte‹ 1 Die Bezeichnung wird in Anlehnung an Florian Illies Gegenwartsanalyse in dem Band Generation Golf für die zwischen 1965 und 1975 Geborenen gebraucht. Illis Bestseller erfüllte die Funktion, einer Generation zur Selbstverständigung und Selbstfindung zu verhelfen. Florian Illies: Generation Golf. Eine Inspektion. Frankfurt a.M. 2001. 2 Der Begriff ›Fräuleinwunder‹ wurde in Bezug auf die deutschsprachige Gegenwartsliteratur erstmals von Volker Hage in einem Spiegelartikel verwandt, in dem er unter anderem den Regenroman von Karen Duve besprach. Volker Hage: Ganz schön abgedreht. In: Der Spiegel vom 22.03.1999, S. 244-246, hier S. 245. 3 Mit diesem Zitat von Hellmuth Karasek wirbt der Suhrkamp-Verlag auf dem Cover der Taschenbuchausgabe. 4 Günter Blamberger: Poetik der Unentschiedenheit: Zum Beispiel Judith Hermanns Prosa. In: GegenwartsLiteratur. Ein germanistisches Jahrbuch 5 (2006) S. 186-206, S. 192. 5 Volker Hage: Die Enkel kommen. In: Der Spiegel vom 11.10.1999, S. 245. 6 Auf diese Problematik weisen auch die von Illies gewählten Kapitelüberschriften aus Werbeslogans des Volkswagenkonzerns für den Golf hin: „Woher komme ich? Wohin gehe ich? Und warum weiß mein Golf die Antwort? “ oder „Ich wollte alles anders machen als mein alter Herr. Und nun fahren wir das gleiche Auto.“ Illies, Generation Golf, S. 5. <?page no="84"?> 82 Figuren im doppelten Sinne aus: Hierbei beziehen sich die jungen Autoren zwar auch auf tradierte Figurenmodelle alter Figuren, sie entwerfen aber oft neue Figuren, die sich durch ihr hohes Lebensalter auszeichnen. Zudem bietet gerade die „neue Erzählnaivität“, die „scheinbar abbildende Beschreibung von Alltagswirklichkeit“, 7 die sich in Texten von jungen Autorinnen und Autoren findet, einen Ansatzpunkt für die Untersuchung von narratologischen und kulturwissenschaftlichen Fragestellungen. In zwei Erzählungen aus ihrem Erzähldebüt Sommerhaus, später wählt Judith Hermann Figuren mit hohem Lebensalter als Protagonisten. In Hunter-Tompson-Musik 8 wird das Schicksal eines alten Mannes gezeigt. Er verbringt seinen Lebensabend weitgehend mittellos in einem New Yorker Hotel, das armen, alten Menschen eine Zuflucht bietet. Das Auftauchen einer jungen Frau bringt diesen trostlosen, aber dennoch tröstlichen Alltag für kurze Zeit durcheinander. In der Erzählung Ende von Etwas 9 wird das literarische Porträt 10 einer alten Frau entworfen. Sie hat im Krieg zwei Kinder geboren, diese allein erzogen und verbringt ihren Lebensabend einsam. Entwickelt wird die Charakterstudie der alten Figur von der Enkelin Sophie. Sie schildert die Geschichte ihrer Großmutter einem nicht benannten Zuhörer. Sophies Darstellung folgt dem klassischen Aufbau eines literarischen Porträts. Sie erzählt im ersten Teil vom tristen Alltag der an ihre Wohnung gebundenen Greisin. Dann hebt sie mit zwei zentralen Episoden aus dem Leben der Großmutter - der Flucht während des Krieges und einem Unfall, bei dem der Sohn ein Auge verliert - zwei charakteristische Ereignisse, immer wieder erzählte Geschichten, aus dem Leben der Großmutter hervor, um dann mit dem achtzehnten Geburtstag der Enkelin und Cousine der Ich-Erzählerin das letzte wichtige Erlebnis der Großmutter vor ihrem Freitod zu erzählen. Mit der Gattung des literarischen Porträts soll nicht nur ein kurzer Prosatext am Beginn der Textinterpretationen stehen, der explizit eine alte Figur in den Fokus des Interesses rückt, ebenso soll am Beispiel von Ende von Etwas exemplarisch 7 Die Literaturwissenschaftlerin Irmgard Scheitler bemerkt zudem, dass bislang zu wenige beachtet wird, dass „das Realistische leicht ins Surreale, ins Märchenhafte umschlägt“. Diese Nähe zwischen Realismus und Märchenhaftem wird auch im Rahmen der Interpretation von Ende von Etwas eine Rolle spielen. Irmgard Scheitler: Deutschsprachige Gegenwartsprosa seit 1970. Tübingen, Basel 2001, S. 78. 8 Judith Hermann: Hunter-Tompson-Musik. In: dies.: Sommerhaus, später. Frankfurt a.M. 1997, S. 115-137. 9 Judith Hermann: Ende von Etwas. In: dies.: Sommerhaus, später. Frankfurt a.M. 1997, S. 85-96, hier S. 85. Seitenangaben mit dem Kürzel „EvE“ beziehen sich auf diese Ausgabe. 10 Vgl. zur Definition Thomas Koch: Literarische Menschendarstellung. Studien zu ihrer Theorie und Praxis. Tübingen 1991, Zitat auf S. 51; Dirk Niefanger: Porträt. In: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Begründet von Günther und Irmgard Schweikle. Hrsg. von Dieter Burdorf, Christoph Fasbender und Burkhard Moenninghoff. 3. völlig neu bearbeitete Aufl. Stuttgart, Weimar 2007, S. 600. <?page no="85"?> 83 gezeigt werden, wie in der Gegenwart literarische Vorbilder aufgegriffen und aktualisiert werden. Neben der herauszustellenden Ambivalenz des Alterskonzeptes sind mit Hermanns Greisin auch zentrale poetologische Fragestellungen angesprochen. Die Frage, wie man eine Geschichte erzählen kann und dabei Gedanken und Gefühle einer Figur darstellbar werden, steht dabei ebenso im Fokus der Erzählung Ende von Etwas wie die nach der Bewertung der Großmutterfigur. Judith Hermanns Erzählung entpuppt sich damit als selbstreflexiver Text über das Erinnern und das Schreiben. Dass sie dazu eine alte, lebenserfahrene Frau in den Mittelpunkt stellt, scheint mir kein Zufall zu sein. Die skizzierten Aspekte werden in der Interpretation der Erzählung näher beleuchtet. Ausgehend von der Altersrepräsentation wird die Gestaltung der Erzählordnung und der in dieser implizit angelegten Korrespondenzbeziehung zwischen Großmutter und Enkelin besonders in den Blick genommen. Mit dem Generationen- und Geschlechterdiskurs und dem literarischen Diskurs werden anschließend die für das Figurenverständnis zentralen Diskurse untersucht, bevor darauf aufbauend das Alterskonzept der Kurzgeschichte vorgestellt wird. „Meine Großmutter“ - die Charakterisierung der alten Figur Die Greisin, über deren chronologisches Alter im Text keine Aussage gemacht wird, lebt allein in ihrer Wohnung und scheint außer zu ihren Kindern und Enkeln keine Beziehung zu anderen Menschen zu haben. Eingeführt wird die alte Frau durch zwei auf den ersten Blick nebensächliche Beobachtungen, die die Figur eindeutig charakterisieren: Das letzte Lebensjahr hat die Großmutter nur noch in ihrem Bett gelegen (EvE 85). Diese Tatsache weist auf den Stillstand der Zeit hin, auf eine Monotonie des Alltags, die nicht mehr durch unvorhergesehene Ereignisse unterbrochen und bereichert wird. Andererseits wird in diesem Zusammenhang direkt auf die Leerstelle im Leben der Großmutter verwiesen: Das Bett zu ihrer Rechten ist bereits lange leer. Der Großvater „war fort“ (EvE 85). Er ist nicht gestorben, sondern hat seine Familie verlassen, als die Kinder noch klein waren (EvE 91). Der Verlust wird der Frau tagtäglich durch das leere Bett an ihrer Seite vor Augen geführt. Das Verhältnis der Greisin zum Rest der Familie scheint auf den ersten Blick sehr gut zu sein. Ihre Pflege ist ein Familienprojekt, bei dem es zumindest in der Familie der erzählenden Sophie keine geschlechtsspezifische Rollenverteilung gibt. Neben der Tochter kommt auch dem Schwiegersohn eine wichtige Funktion zu, da er für die Zubereitung des Frühstücks verantwortlich ist: Mein Vater kam um neun, machte Tee und ein weiches Ei, schnitt Brot und stellte all das auf den Nachttisch, den Tee aufs Stövchen, sie mochte das Kerzenlicht; und dann zeterte sie und keifte und verdächtigte ihn und klagte an, die Jahre und die Jahre, er antwortete nicht und ging. Wohnte nur zwei Häuser <?page no="86"?> 84 weiter, also ganz nah, konnte im Sommer meiner Großmutter von Balkon zu Balkon zuwinken, sie winkte nie zurück. (EvE 85f.) Freundliche Gesten erwidert sie nicht, stattdessen kommt in ihrem Verhalten in erster Linie ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck. Diese schlägt schnell in Aggressivität um, die aber nicht nur den Schwiegersohn trifft. Auch ihre für das Abendessen zuständige Tochter ist ähnlichen Schwierigkeiten ausgesetzt: »Pack aus, was du da eingepackt hast! « schrie sie, wenn meine Mutter in der Küche das Essen warm machte, und dann zählte sie auf, was mein Vater jeden Morgen aus der Wohnung hinausschaffen würde - Pelze und Silber und Schmuck und die Orden der Großväter, Geld und Sparbücher und Töpfe und Kannen. Sie zerrte an der Jacke meiner Mutter herum und sagte: »Klaujacke« und keuchte und rief nach der Polizei, und meine Mutter stand vor ihr, guckte nur, sagte nichts. (EvE 89) Im Verhalten der Großmutter kommt die Hilflosigkeit angesichts des Kontrollverlusts zum Ausdruck. Sie ist nicht mehr Herrin in ihrer eigenen Wohnung und hat weitgehend die Kontrolle über ihren eigenen Körper verloren. Die Charakterisierung der Greisin geht aber über die Zeichnung einer bemitleidenswerten Alten hinaus. Die in der polysyndetischen Reihung „und dann zeterte sie und keifte und verdächtigte ihn und klagte an“ (EvE 85) zum Ausdruck kommende negative Grundhaltung verweist auf das Modell der bösen Alten. Damit wird schon sehr früh eine Kategorisierung zum einen über die soziale Rolle der Großmutter, zum anderen über das literarische Motiv der bösen Alten vorgenommen. Vor allem die Anspielungen auf Letzteres durchziehen und dominieren die gesamte Erzählung. Die wichtigsten Merkmale des tradierten Bildes der bösen Alten, der Buckel und der gekrümmte Finger, mit dem sie beispielsweise im Märchen unschuldige Kinder anlockt, finden sich in diesem Text in aktualisierter Form: Die Finger der Alten sind von Gicht gekrümmt (EvE 87). Durch die Beschreibung ihres Körpers mit den Adjektiven „dick und schwer“ (EvE 87) wird die Assoziation eines hässlichen Körpers verstärkt. Dass die alte Frau auf eine Gehhilfe angewiesen ist, könnte auf Osteoporose hindeuten, in der gekrümmten Haltung 11 ist das traditionelle Bild des ›Hexenbuckels‹ wiederzufinden. Aber nicht nur die körperlichen Altersmerkmale verweisen auf das Bild der bösen Alten, sondern auch die von der Enkelin hervorgehobenen Eigenschaften. Ihre Wutausbrüche und unbegründeten Beschuldigungen evozieren das Bild einer kindischen und bösen Frau (EvE 88), aber auch ihr irritierendes Verhalten trägt zu dieser Kategorisierung bei. So kommentiert sie zum Beispiel das wöchentliche Haarewaschen mit dem von einem Kichern begleiteten Satz „Es juckt so, 11 „Sie konnte nicht mehr laufen, nur noch kriechen und sich vorwärtsschleppen mit diesem Gehgestell [...].“ (EvE 87) <?page no="87"?> 85 das ist schön.“ (EvE 88) Auch ihr rätselhaftes Auftreten beim Geburtstag ihrer Enkelin scheint die Interpretation der Alten als moderne Hexe zu bestätigen. Anstatt der Enkelin ein großzügiges Geschenk zu machen, wie es einer gütigen Großmama würdig wäre, überreicht sie ihr einen alten Topfdeckel. Damit scheint die alte Frau in Judith Hermanns Erzählung die „Metamorphose zu[m] unnütze[n] Un-Wesen“ 12 abgeschlossen zu haben. Die Vorstellung von Belanglosigkeit und Lebensferne liegt auch einem Motiv zugrunde, das immer wieder im Zusammenhang mit alten Figuren auftaucht, dem Vergleich mit einem Reptil: 13 „Meine Großmutter zog Strickjacke an, Strümpfe und Pantoffeln und schob sich wie eine Schildkröte mit dem Gehgestell ins Wohnzimmer, sank dort aufs Sofa, schaltete den Fernseher an.“ (EvE 86) Ein weiteres zentrales Moment der Darstellung der alten Frau als böse Alte ist die Nähe zum Feuer, die in der Erzählung immer wieder aufgegriffen wird. Sie raucht nicht nur jeden Tag eine Schachtel Zigaretten und sieht jeden Morgen in ihr Teelicht, sondern ihre Wohnung wird auch mit einem Ofen geheizt, und im Feuer findet sie letztendlich den Tod. Trotz dieser Häufung von Elementen, die dem Figurenmodell der bösen Alten zugerechnet werden können, ist der Text - so meine These - nicht als Fortschreibung der negativen Konnotation weiblichen Alter(n)s zu lesen. Zwar scheint dies in der anfänglichen Kategorisierung als böse Alte angelegt, diese wird aber durch ein für die Gattung Porträt charakteristisches Schema unterlaufen. Auf die Kategorisierung folgt hier durch Anreicherung mit Details eine Individualisierung, die am Ende durch eine Entkategorisierung in Frage gestellt wird. Ein zentraler Hinweis auf eine positive Bewertung weiblichen Alters besteht bereits darin, dass die alte Frau als Hauptfigur einer Erzählung gezeigt wird. Sie wird aber auch mit positiven Merkmalen versehen. So zeigt sich z.B. eine Form von Altersweisheit im Wissen um Vorgänge des Alterns und Sterbens. Sie weist ihre Familie darauf hin, dass sich im Nacken kräuselnde Haare ein Zeichen für den nahen Tod sind (EvE 91). Zwar fehlen ihr - in der Erzählung der Enkelin - die traditionellen Großmuttereigenschaften wie Güte und Großzügigkeit, 14 doch gerade in der Verweigerung traditioneller Muster ist die Stärke der alten Frau begründet. Sie ist nicht bereit, nach einem weitgehend selbstbestimmten Leben ohne einen Mann an ihrer Seite die marginalisierte Rolle einer alten Frau einzunehmen. Dies zeigt sich bei der 12 Gerd Göckenjan, Angela Taeger: Matrone, Alte Junfger, Tante. Das Bild der alten Frau in der bürgerlichen Welt des 19. Jahrhunderts. In: Archiv für Sozialgeschichte 30 (1990), S. 43-79, hier S. 67. 13 Vgl. zum Motiv des Reptils meine Überlegungen unter zum Schildkrötendasein - Alter als Rückzug aus dem Leben auf Seite 373ff. 14 Gerd Göckenjan: Die ›Erfindung‹ der Großmutter im 19. Jahrhundert. In: Alterskonzepte in Literatur, bildender Kunst, Film und Medizin. Hrsg. von Henriette Herwig. Freiburg i.Brsg. 2009, S. 103-121. <?page no="88"?> 86 Geburtstagsfeier der Enkelin, der einzigen Sequenz, in der die persönlichen Gefühle und Beobachtungen der Erzählerin Sophie als beobachtendes Ich zur Sprache kommen. Eingeleitet wird die Geburtstagsepisode durch den Anruf des Sohnes. Obwohl er sich im Alltag nicht um seine alte Mutter kümmert, wird die Großmutter als Ehrengast zum achtzehnten Geburtstag der Enkelin, seiner Tochter, eingeladen. Bereits vor der Einladung wird die Sehnsucht der Großmutter nach der Aufmerksamkeit ihres Sohnes thematisiert: Es gab ein Telefon im Wohnzimmer und eines im Schlafzimmer, und manchmal rief der Sohn an und erkundigte sich aus der lichten Ferne seiner Vorstadtvilla nach der Gesundheit und der Schwester. Meine Großmutter lag in ihrem Urin und hatte Schmerzen und holte tief Luft, hielt sich mit leuchtenden Augen den Hörer ans Ohr und sagte ins Zimmer hinein: »Gut, alles ist gut.« (EvE 90) Die Diskrepanz zwischen dem Wohlstand des Sohnes und dem Elend der alten, kranken Mutter könnte kaum größer sein. Dennoch scheint er - zum Unverständnis der Erzählerin - etwas zu verkörpern, was es der Großmutter unmöglich macht, ihre reale Situation zu schildern. Die Aggressivität, mit der sie der Tochter und dem Schwiegersohn begegnet, zeigt sie dem Sohn gegenüber nicht. Damit wird auf der Ebene der realistischen Beschreibung ein Phänomen thematisiert, das pflegende Familienangehörige oftmals belastet: Probleme mit dem alternden bzw. kranken Körper werden auf die Pflegeperson projiziert. Im Rahmen der literarischen Darstellung spielt aber weniger der reale Gehalt eine Rolle als vielmehr die symbolische Bedeutung dieser Sequenz, die im Rahmen der Überlegungen zum Geschlechterdiskurs weiter ausgeführt werden wird. Der Sohn verkörpert als Mann eine Lebenshaltung, die alles Hässliche und Unästhetische - hier symbolisiert durch den alternden weiblichen Körper - aus seinem Umfeld entfernt. Dieser Lebensweise wird die persönliche Beziehung zur Mutter geopfert. 15 Dennoch wird ein enormer Aufwand betrieben, damit die Großmutter am Geburtstag der Enkelin teilnehmen kann. Schon beim Transport der alten Dame zeigt sich die Ambivalenz der Situation. Die erzählende Enkelin hat den Eindruck, die Großmutter „saß im Rollstuhl wie eine Königin“ (EvE 93), dabei nutzt sie die moderne Sänfte aber nicht, weil sie es sich leisten kann, nicht selbst zu gehen, sondern weil sie dazu nicht mehr in der Lage ist. Diese steife und distanzierte Haltung hat aber darüber hinaus eine weitere Funktion. Sie ermöglicht es der Großmutter, ›Haltung zu bewahren‹. Dies ist im Folgenden auch nötig, denn sie wird 15 Angedeutet wird dies in der Beschreibung „lichten Ferne seiner Vorstadtvilla“. Diese versinnbildlicht nicht nur einen erstrebenswerten Lebensraum, sondern ebenso den Reichtum als Voraussetzung dieser Lebensweise. Vgl. hierzu auch Winfried Menninghaus’ Untersuchung Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Frankfurt a.M. 1999. <?page no="89"?> 87 als Ehrengast von ihrem großzügigen Sohn vorgeführt, wie ein wertvoller Gegenstand oder ein seltenes Tier. Dem widersetzt sie sich dadurch, dass sie die Nahrungsaufnahme verweigert und die Erwartung auf ein großzügiges Geschenk unterläuft: Gab der Enkelin das Geschenk, die saß neben ihr mit pflichtschuldig andächtigem Gesicht, am Tisch wurde es still, der Sohn lachte, die Großmutter macht der Enkelin ein Geschenk. Die Enkelin zerriß vorsichtig das Papier, tastete, zögerte dann, zog das Papier ganz herunter, hielt einen gelben Topfdeckel in der Hand, an den Rändern schon ein bißchen angeschlagen. »Was ist das? « sagte sie, ein Rätsel, ein Symbol, sie war achtzehn Jahre alt und lächelte meine Großmutter an. »Der Deckel von dem Topf, den ihr mir gestohlen habt«, sagte meine Großmutter, »so wie ihr mir alles gestohlen habt.« Und dann hob sie ganz langsam die Hand und legte sie auf ihr linkes Auge und wandte sich zu ihrem Sohn und sah ihn an, mit ihrem rechten Auge [...]. (EvE 94) Niemand hat mit der Verweigerung der alten Frau gerechnet, die sich den Erwartungen des Lesers und der Familie widersetzt (EvE 93). Darüber hinaus hält sie ihrem Sohn mit dem Hinweis auf den Verlust seines Auges einen Spiegel vor. Sie versagt nicht nur die Gabe, sie wirft dem Sohn und seiner Familie damit auch vor, das Prinzip der Reziprozität, auf dem das Zusammenleben in einer Gemeinschaft stillschweigend gründet, nicht zu beachten. Durch die fehlende Gegengabe wird die widerspruchslos hingenommene Aufopferung der Frau für ihre Familie zum symbolischen Diebesgut. Im Gegensatz zu dem Gegeifer der Alten im Alltag, das als Aggression angesichts ihrer gesundheitlich aussichtslosen Lage interpretiert wurde, zeigt ihr Geschenk ein Bewusstsein für soziale Prozesse und drückt somit - wenn auch in einer ungewöhnlichen Form - Erfahrungswissen und Altersweisheit aus. Der Überraschungseffekt dieser Textstelle für den Leser ist ein Hinweis darauf, dass der Figur der alten Frau kein bekanntes Figurenmodell zugrunde liegt, sondern dass es sich um eine offene Figur handelt, die sich dadurch auszeichnet, dass sie veränderbar ist. Kann die Verwunderung an dieser Stelle zu einer Individualisierung der Figur führen, so hat der Suizid der Großmutter am Ende der Kurzgeschichte eine Entkategorisierung zur Folge, die den Leser ratlos zurücklässt, weil eine Zuordnung zu alltäglichen Erklärungsansätzen nicht mehr möglich ist. “Ich vergesse so schnell.“ 16 - Narratologische Beobachtungen zur Erzählperspektive Das von Judith Hermann entworfene literarische Porträt ist auch im Hinblick auf die Zeitgestaltung klassisch aufgebaut. In einer iterativen Erzählung wird der Alltag der Greisin vorgestellt, um dann am Ende mit zwei 16 EvE 89. <?page no="90"?> 88 zentralen Anekdoten und dem letzten großen Ereignis, dem achtzehnten Geburtstag der Enkelin, auf den der Tod der Großmutter folgt, abzuschließen. Dennoch ist die Erzählung Ende von Etwas raffinierter gestaltet, als es diese Synopse vermuten lässt, denn es liegt eine doppelte Perspektive vor. Eine junge Frau namens Sophie erzählt in einem Café die Geschichte ihrer Großmutter. Diese intradiegetische Erzählung wird von einem homodiegetischen Erzähler in wörtlicher Rede wiedergegeben, sodass das Gefühl von Authentizität beim Leser geweckt wird. Das Geschlecht des Erzählers erster Ordnung ist nicht bestimmbar. Aufgrund der stilistischen Ähnlichkeit von Erzähler- und Figurenrede ist aber eine Nähe zwischen beiden Figuren zu vermuten. Damit liegt durch die Einführung von zwei miteinander verknüpften Erzählsträngen bereits auf der Ebene der Präsentation eine Distanzierung vor. Diese Distanz zum Erzählten wird vor allem durch Sophies Erzählweise verstärkt. Man kann also von einer doppelten Distanzierung sprechen, die keine Rückschlüsse auf die ›wirklichen‹ Gefühle und Gedanken der Großmutter zulässt. Pausen in Sophies intradiegetischer Schilderung werden mit kurzen Beschreibungen der Szenerie gefüllt. Die Raumdarstellung dient der Charakterisierung der erzählenden Figur, die Stimmung im Café korrespondiert mit der in der Erzählung Sophies. Durch ein großes Fenster blicken die beiden in die herbstliche Stadt, es regnet und der Wind treibt Blätter durch die Straße. Die beiden Figuren sind aber nicht nur visuell exponiert, sodass Sophie sich sehr zurückhaltend verhält und ihr emotionales Verhältnis zur erzählten Geschichte und zur Großmutter nur aus kleinen Gesten zu erraten ist, sondern in dem leeren Café scheint auch die unbeteiligt wirkende Kellnerin Sophies Erzählung als potenziell weitere Zuhörerin zu verfolgen (EvE 89). Auf diese ungewöhnliche und schutzlose Position reagiert Sophie mit der Unterdrückung von Emotionen und einer sprachlichen Distanzierung vom Erzählten. Die scheinbare Gleichgültigkeit wird allerdings durch den sprachlichen Ausdruck revidiert. Sophie reiht sehr kurze Hauptsätze aneinander. Oftmals wählt die Autorin für die Präsentation der direkten Rede sogar einen elliptischen Satzbau, wodurch der Eindruck entsteht, dass Sophie keine vollständige Geschichte erzählt, sondern unter enormem emotionalem Aufwand einen Bericht über ein persönliches Erlebnis liefert, das indes nicht als solches markiert werden kann. Einen weiteren Hinweis auf die nur vorgebliche emotionale Distanz der intradiegetischen Erzählerin liefert ihre Körpersprache. Bereits in der ersten Erzählpause beißt sie sich auf die Lippen und lächelt abwesend zum Fenster hinaus (EvE 85). Ihre Verunsicherung wird angedeutet, indem sie sich räuspert, ihre gedankliche Abwesenheit wird durch einen kühlen und distanzierten Gesichtsausdruck angezeigt (EvE 86). Weisen diese Beschreibungen darauf hin, dass Sophie durch die Geschichte ihrer Großmutter sehr bewegt ist, so verändert sich diese Haltung im Laufe der Kurzge- <?page no="91"?> 89 schichte. Zwar konstatiert der Erzähler, „Sophie sieht erstaunt aus. Nicht traurig, noch nicht.“ (EvE 92), doch ihre Körpersprache verweist darauf, dass die Trauer schwindet, je näher sie dem Ende ihres Berichts kommt. Ihre Erregung nimmt zu, sie bekommt rote Wangen und friert nicht mehr. Auch die Müdigkeit um ihre Augen verliert sich (EvE 94). Sie lächelt verlegen, als sie ihre Erzählung beendet (EvE 96). Bereits in dieser Haltung Sophies kommt ihre Sympathie für ihre Großmutter und die positive Bewertung ihres Todes zum Ausdruck. Eine große Nähe zwischen Großmutter und Enkelin ist weiter dadurch angedeutet, dass die Enkelin Sophie nicht nur den Tagesablauf der Großmutter sehr genau kennt, sondern auch über die Figurencharakterisierung implizit Parallelen zwischen Enkelin und Großmutter hergestellt werden. Sophie ist nicht als schöne, junge Kontrastfigur zur Großmutter gezeichnet, sondern die beiden sind als Korrespondenzfiguren angelegt. Dies wird im Text durch verschiedene Gemeinsamkeiten kenntlich gemacht. Die Enkelin trägt wie die Großmutter Wollstrümpfe (EvE 90) und friert so lange, bis sie mit ihrer Erzählung beim letzten Tag im Leben ihrer Großmutter angekommen ist und damit ihrem Feuertod narrativ bereits sehr nahe kommt. Einen direkten Vergleich zwischen sich und der Großmutter stellt sie her, als sie sich eine Zigarette anzündet: [Sophie] zündet sich eine Zigarette an, inhaliert tief, schaut dem Rauch hinterher. Sie sieht müde aus. Sie sagt: »Meine Großmutter hat die langen Zigaretten geraucht, lange, leichte Damenzigaretten, nie inhaliert und immer dem Rauch hinterhergeschaut. So wie ich. Oder ich wie sie. [...]« (EvE 90) Diese Textstelle beschreibt eine normale Reaktion nach dem Verlust eines geliebten Menschen. Eine für den Toten typische Verhaltensweise erinnert daran, wie er in einer ähnlichen Situation immer gehandelt hat. Dies ist ebenso ein Indiz für die Vertrautheit Sophies mit ihrer Großmutter, wie für die zentrale Bedeutung, die der Tod der Großmutter für die Enkelin hat. Zudem vergleicht Sophie ihr eigenes Verhalten direkt mit dem der Großmutter. Daraus geht hervor, dass sie sich - während sie ihre Geschichte erzählt - mit ihr identifiziert und ihre Rolle einnimmt. Ein Indiz hierfür ist die Körperwahrnehmung Sophies, die mit der der Großmutter enggeführt wird. Wird von der Großmutter in der intradiegetischen Erzählung mitgeteilt, dass sie immer fror (EvE 89), so wird extradiegetisch geschildert, dass die Erzählerin Sophie zu frieren scheint. 17 Gegen Ende der Erzählung spiegelt sich die Aktivität der Großmutter in Sophies Gesicht, und die Geschichte endet auch nicht in dem vorab vom extradiegetischen Erzähler angekündigten und erwarteten Zusammenbruch Sophies, sondern in der verwunderten Feststellung: Sie „weint nicht, lächelt verlegen“ (EvE 96). 17 „Sophie wendet den Blick ab, schaut im Café umher, legt die Hände um die Kaffeetasse, sieht ohnehin verfroren aus.“ (EvE 86) <?page no="92"?> 90 Damit steht am Ende nicht allein die schmerzliche Erfahrung des Verlustes eines geliebten Menschen, sondern eine schüchterne, positive Haltung der alten Frau gegenüber. Diese impliziten Hinweise deuten darauf hin, dass Sophie in ihrer Großmutter nicht nur die Mutter ihrer Mutter sieht und sie aufgrund der genealogischen Beziehungen mit diesem Namen bezeichnet. Daraus lässt sich implizit ebenso folgern, dass der Tod der Großmutter für Sophie einen herben Verlust bedeutet, was wiederum hervorhebt, dass die alte Frau eine liebevolle Großmutter gewesen ist. Die Korrespondenzbeziehung zwischen Großmutter und Enkelin wirft ein neues Licht auf Sophies distanziertes Erzählen. Ihre reservierte Betrachtung des großmütterlichen Lebens und die Distanz, die sie über die Sprache aufzubauen versucht, ihre Selbstvergessenheit und die latente Trauer lassen Sophie als melancholische Figur erscheinen: Den vielleicht prägnantesten der psychischen (und soziokulturellen) Mechanismen, die generell zur Abwehr von Trauer eingesetzt werden, stellt das Mischgefühl der Melancholie bzw. die Depression dar. Die bittersüße Gedankenschwere und lauwarm abgefederte Zurückgezogenheit der Melancholie über Verlorenes erlauben es dem zeit- und ortlos sinnierenden Selbst, seine Lebenstraumatik zu vergessen (bzw. zu verklären/ verdecken), ohne vorher Verletztheit, Wut und Schuldgefühl wie auch Trauer fühlen und durcharbeiten zu können; 18 Diese Überlegungen, die Harald Weilnbock zur Interpretation der Erzählung Hunter-Tompson-Musik heranzieht, lassen sich durchaus auf die Figur Sophie übertragen. Sophie ist demnach nicht ein schüchternes, zurückhaltendes Mädchen, das auf ebendiese Weise die Geschichte ihrer Großmutter erzählt. Sondern Sophie ist in Folge der Erlebnisse um den unerwarteten Tod ihrer Großmutter und die in diesem zum Ausdruck kommende Ablehnung der Familie traumatisiert. Die Erzählung hat therapeutische Funktion. Auffallend ist, dass Sophie nicht in der Lage ist, Trauerarbeit zu leisten, da sie die Distanz nie aufgibt. Den Grund für die Traumatisierung kann man ebenso in einer engen Bindung zwischen Großmutter und Enkelin suchen wie in dem Bezug zur familiären Genealogie, der in Judith Hermanns Geschichten immer wieder eine zentrale Größe für die Herausbildung der Identität ist. Die Autorin stellt damit eine Beziehung her zwischen der Identitätsbildung und der Tradierung von familiären Geschichten und Besonderheiten. 19 18 Harald Weilnböck: »Dann bricht sie in Tränen aus.« Übertragungen von Trauer- / Abwehr im Text und im ›Gruppenanalytischen Literaturseminar‹ über Judith Hermanns Hunter-Tompson-Musik. In: Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse. Themenband: Trauer 22 (2002), S. 241-261, hier S. 248f. 19 Vgl. hierzu die Erzählung Rote Korallen: „Die Vergangenheit war so dicht mit mir verwoben, daß sie mir manchmal wie mein eigenes Leben erschien. Die Geschichte meiner Urgroßmutter war meine Geschichte. Aber wo war meine Geschichte ohne <?page no="93"?> 91 Die Traumatisierung durch den Verlust verstärkt zudem die Korrespondenzbeziehung zwischen Großmutter und Enkelin, denn auch das Leben der Großmutter ist durch einen Verlust, eine Zurückweisung durch ihren Ehemann gezeichnet. Zeigt die Entwicklung der Großmutter von der aggressiven Alten über eine negative Grundhaltung bis hin zur Lebensmüdigkeit eine innere Entwicklung, die auf eine Überwindung der Traumatisierung hinweist, so steht Sophie mit ihrem Erzählen am Beginn eines solchen Verarbeitungsprozesses. Die Erzählanordnung sowie das enge Verhältnis Sophies zu ihrer Großmutter, das lediglich zwischen den Zeilen aufscheint, beeinflussen die Wahrnehmung der alten Frau durch den Leser. Die Figur changiert zwischen der auf der Ebene der histoire evozierten bösen Alten und der im discours aufscheinenden geliebten Großmutter. Diese Ambivalenz der Großmutterfigur findet sich nicht nur in den Erzählungen Judith Hermanns, sondern ist ein charakteristisches Merkmal der Gegenwartsliteratur. 20 Welche Bedeutung die enge Beziehung zwischen Großmutter und beiden Enkeltöchtern im Kontext des Generationen- und Geschlechterdiskurses hat, werde ich im Folgenden näher beleuchten, um ein differenzierteres Bild der Großmutter-Enkelin-Beziehung nachzuzeichnen. Die Großmutter aus der Perspektive des Generationen- und Geschlechterdiskurses Im Geschenk an die Enkelin und den Erfahrungen während der Familienfeier werden die beiden für die Gestaltung der alten Frau zentralen Diskurse der Erzählung verknüpft: der Generationen- und der Geschlechterdiskurs. Das Geschenk verweist auf die doppelte Perspektive, die das Alter ermöglicht. Es kann einerseits als Gabe einer verwirrten alten Frau gelten, die nicht mehr in der Lage ist, mit den jüngeren Generationen zu kommunizieren und deren Erwartungen zu erfüllen. In dieser Lesart ist der Topf negativ besetztes Symbol für den Abbruch der Generationenbeziehung. Andererseits kann das Geschenk aber auch als Sinnbild für weibliches Erfahrungswissen angesehen werden, das an die Enkelinnen weitermeine Urgroßmutter? Ich wußte es nicht.“ Judith Hermann: Rote Korallen. In: dies.: Sommerhaus, später. Frankfurt a.M. 1997, S. 11-29, hier S. 22. Der Zusammenhang zwischen Erzählung und Identität spielt auch in meinen Überlegungen zu Margit Schreiners Roman Heißt lieben (Teil II Kapitel 5) und hier vor allem in dem Unterkapitel „Erst wenn die Eltern tot sind, beginnen die Kinder zu sterben“ - Verarbeitung des Todes der Mutter eine besondere Rolle. Die Verknüpfung von Familiengeschichte und Identitätsbildung findet sich in der Analyse von Tanja Dückers’ Roman Himmelskörper in Teil II Kapitel 4.2. 20 Petra M. Bagley: Granny Knows Best: The Voice of the Granddaughter in ›Grossmutterliteratur‹. In: Pushing at Boundaries. Ed. by Heike Bartel and Elizabeth Boa. Amsterdam, New York 2006, S. 151-165. <?page no="94"?> 92 gegeben wird. Diesen Zusammenhang betont die Farbsymbolik dieser Szene. Die Farbe Gelb steht traditionell für das Sonnenlicht, die Erkenntnis und das Gedeihen des Lebendigen, aber auch für unterdrückte Minderheiten, 21 so war z.B. der von den Nationalsozialisten eingeführte „Judenstern“ gelb. In der Erzählung Ende von Etwas ist nicht nur der Topfdeckel gelb, sondern gelb blühte auch das Rapsfeld, in dem der Sohn als kleines Kind zurückgeblieben ist, als sich der Flüchtlingszug mit Mutter und Schwester plötzlich in Bewegung setzte (EvE 91), und die Farbe gelb assoziiert man auch mit dem Urin, in dem die Großmutter oftmals liegt, weil sie es nicht mehr allein zur Toilette schafft. Die Farbe des Deckels verweist damit nicht auf den Neid der Alten gegenüber den Jüngeren, sondern der Topfdeckel an sich symbolisiert durch das textinterne Verweissystem und die Anspielung auf einen typisch weiblichen Lebensbereich die Unterdrückung der Frau. Hieran zeigt sich, dass die Großmutter zumindest unbewusst eine Verbindung herstellt zwischen ihrer momentanen Situation und ihrem Geschlecht. Damit kann die ›Gabe‹ des Deckels als ein Signal an beide Enkelinnen gelesen werden, sich nicht auf die Zwänge einzulassen, die mit weiblichen Rollenzuschreibungen verbunden sind. Die Korrespondenzrelation zwischen Großmutter und erzählender Enkelin wird durch die Kontrastrelation zwischen der Großmutter und ihrem Sohn, die sich in der vom Sohn aufrechterhaltenen Distanz und der darin begründeten Lebensweise angedeutet hat, noch einmal besonders akzentuiert. Die durch den Ehemann erfahrene Ablehnung wiederholt sich in der männlichen Linie der Kindergeneration. Auf diese Art und Weise wird der Leser bereits auf die Ereignisse bei der Geburtstagsfeier der Enkelin vorbereitet. Das Überreichen des Topfdeckels wird weniger als Missachtung der Enkelin gesehen, sondern als Abrechnung mit dem Sohn, der hier auch stellvertretend für seinen Vater bestraft wird. Darauf deutet die andere zentrale Farbe im Rahmen der Geschenkübergabe hin: die Farbe Blau. Blau ist nicht nur die Farbe des Himmels und der Ferne, sondern symbolisiert auch Treue, da nur die Ferne die Möglichkeit zur Untreue bietet. 22 Blickt die ein blaues Kleid tragende Großmutter den neben ihr sitzenden Sohn mit dem rechten, blauen Auge an, so ist dies der Hinweis darauf, dass er - ebenso wie sein Vater - der Mutter die Treue nicht gehalten hat. Gleichzeitig trifft sie ihn damit an seiner empfindlichsten Stelle, indem sie ihn auf seine Unvollkommenheit, auf sein fehlendes Auge 21 http: / / www.seilnacht.com/ Lexikon/ Gelb.htm [gesehen am 27.03.2008]. Weitere Informationen zur Farbe Gelb sowie zur weiter unten angeführten Farbe Blau finden sich auch in dem kulturgeschichtlich ausgerichteten Beitrag von Karin Thönnissen: Von Schnecken und Läusen. Über das Färben von Textilien. In: rot. grün. blau. Experiment in Farbe & Licht. Hrsg. von Konrad Scheurmann, Illmenau 2008, S. 52-61. 22 http: / / www.seilnacht.com/ Lexikon/ FBlau.htm [gesehen am 27.03.2008]. <?page no="95"?> 93 hinweist. Auf die Beziehung der beiden trifft zu, was Volker Wehdeking für die Beziehungen in Judith Hermanns Erzählungen feststellt: „Dagegen lässt Judith Hermann bei ihren Paar- und Dreiecksbeziehungen alles in der Schwebe der Bindungslosigkeit und des gelegentlichen Liebesverrats.“ 23 Die Sinnlosigkeit des Geschenks verweist auf die Aufkündigung der Beziehung zur Mutter durch den Sohn. Die gerade volljährig gewordene Enkelin wird damit vor die Wahl zwischen zwei Lebensweisen gestellt. Einer männlichen Lebensweise, die der Großvater, der die Familie verlassen hat, ebenso verkörpert wie der eigene Vater. In dieser spielt die eigenen Herkunft, die Familie keine Rolle, Angehörige wie die Großmutter werden nur zu Dekorationszwecken und als Schenkende zu repräsentativen Festen eingeladen. Hiermit wird die Herausbildung einer stabilen Identität der Enkel ebenso erschwert wie die Fragwürdigkeit des klassischen Ehemodells betont. Dieses dient in diesem Zusammenhang in erster Linie dazu, die Emanzipation der Frau zu verhindern, ohne ihr eine Absicherung zu bieten. Entgegengesetzt ist die Lebenshaltung der Großmutter, die sich trotz einer ausweglosen Situation dafür entscheidet, ihre Unabhängigkeit zu behaupten. Das Erfahrungswissen der alten Frau wird somit in diesem Text nicht über die traditionelle Erzählerrolle der Großmutter vermittelt - dieser entzieht sie sich (EvE 92) - sondern über ›sprechende‹ Gegenstände. Aufgrund des Alters der Großmutter und des damit verbundenen Erfahrungswissens erhält das Geschenk somit besonderes Gewicht. Die Freiheit der Großmutter kommt im Selbstmord als letztem Ausweg aus ihrer von Gebrechlichkeit geprägten Situation zum Ausdruck. So wie die Enkelin das letzte Lebensjahr der Großmutter schildert, ist sie an ihre Wohnung gebunden und auf die ständige Hilfe anderer angewiesen. Am Tag nach dem Geburtstag der Enkelin zieht sie auch für sich selbst die Konsequenz aus ihrem Geschenk. Ebenso wie die Übergabe des Geschenks ist auch diese Tat geplant, denn bereits vor dem Geburtstag der Enkelin verändert sich das Verhalten der Großmutter grundlegend (EvE 93). Sie zündet mit einem Teelicht ihr Bett an und verbrennt. Das Sterben wird aber nicht als ein negatives Ereignis dargestellt, sondern als Moment der Freiheit. Der herbeigeeilte Schwiegersohn hat das Gefühl, die brennende alte Frau würde tanzen und somit ihren eigenen Tod feiern. Zumindest das Ende dieses kaum fassbaren Lebens wird damit zu einem besonderen Ereignis. Der Feuertod der Großmutter ist nicht wie in der bekannten Kindererzählung Struwwelpeter eine Bestrafung für ein ungehorsames kleines Mädchen, sondern ein selbstbestimmter Akt einer vom Alter gezeichneten Frau. Damit setzt sie ihrem Leben ein Ende, bevor ihr das 23 Volker Wehdeking: Generationenwechsel: Intermedialität in der deutschen Gegenwartsliteratur. Berlin 2007, S. 180. <?page no="96"?> 94 Alter auch diese letzte Form der Selbstbestimmung nehmen kann. 24 Der Feuertanz, der als letztes Bild der alten Frau die Kurzgeschichte beendet, ist gezeichnet von einem Bild schmerzhafter Freude, in der das Leben und der Tod als sein Endpunkt angenommen werden. Ebenso wie die Darstellung der alten Frau ist aber auch dieser Schluss ambivalent. So greift doch der Feuertanz am Ende das Bild der bösen Alten wieder auf. Einerseits erinnert er an die Verurteilung von Hexen, wie sie im Rahmen der Inquisition durch das Verbrennen auf dem Scheiterhaufen vorgenommen wurde, auf der anderen Seite evoziert er Bilder der Bestrafung von gefährlichen Stiefmüttern, wie sie im Märchen erzählt werden. So muss beispielsweise am Ende des Märchens Sneewittchen und die sieben Zwerge die böse Hexe in glühenden Eisenschuhen so lange tanzen, bis sie tot umfällt. 25 So kann auch der Suizid als Selbstbestrafung oder Resignation gesehen werden angesichts eines Lebens, in dem es vordergründig nicht gelungen scheint, Werte und Normen der eigenen Generation an alle Kinder weiterzugeben. In diesem Sinne könnte die Darstellung des Alters auch in der mittelalterlichen Tradition gesehen werden, in der Beeinträchtigungen, die der Mensch im Alter erfährt, darauf zurückgeführt wurden, dass er ein unvollkommenes Leben geführt hat. 26 Diese Ambivalenz kommt auch im Titel der Erzählung zum Ausdruck. „Ende von Etwas“ kann sich sowohl auf das Leben der Greisin beziehen, dessen Bedeutungslosigkeit damit unterstrichen wird. Es kann aber auch auf den Schwebezustand zwischen Leben und Tod zurückgeführt werden, in dem die Großmutter sich in ihrem letzten Lebensjahr befand. Dann wird dieser Moment des Übergangs stärker betont, ohne eine Abwertung des Lebens der alten Frau selbst zu beinhalten. Ungeachtet der verschiedenen Sichtweisen kann festgehalten werden, dass aus der Perspektive der Autorin Judith Hermann die alten Menschen nicht als ›Vampire‹ dargestellt werden, die auf Kosten der nachfolgenden 24 Das Motiv der Freiheit findet sich wiederholt in Altersdarstellungen. In dem Sammelband von Judith Hermann spielt es auch in der Erzählung Hunter-Tompson- Musik eine zentrale Rolle. Ein weiteres Beispiel findet sich in Thomas Langs mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichneten Roman Am Seil. Zwei männliche Bewohner einer Seniorenresidenz mit angegliedertem Pflegeheim machen einen gemeinsamen Ausflug. Der eine zeigt dem anderen, wo sie sich eine Pistole besorgen könnten: „Bert begriff damals nichts. Heute hat er verstanden, was Vornegger meinte. Es ging darum, nicht alle Entscheidungen aus der Hand zu geben, vor allem nicht die eine, endgültige. Sich eine letzte Tür offen zu halten. - Oder es wenigstens zu versuchen. Er hat keine Ahnung, ob Vornegger sich tatsächlich eine Waffe gekauft hat. Gebrauchen könnte er sie nicht mehr.“ Thomas Lang: Am Seil. Roman. München 2006, S. 40. 25 Kinder- und Hausmärchen. Gesammelt durch die Brüder Grimm. Vergrößerter Nachdruck der zweibändigen Erstausgabe von 1812 und 1815. Hrsg. von Heinz Rölleke. Bd 1. Göttingen 1986, S. 238-250, hier S. 249f. 26 Gerd Göckenjan, Das Alter würdigen. Frankfurt a.M. 2000, S. 202ff. <?page no="97"?> 95 Generationen leben, wie dies im öffentlichen Diskurs ab und an durchscheint. In den Erzählungen des Bandes Sommerhaus, später sind die alten Menschen diejenigen, die das, was ihnen wichtig ist, an die jüngste Generation weitergeben - auch wenn sie angesichts der eigenen schwierigen Lage manchmal schroff und abweisend wirken. 27 Aufgrund ihrer Lebenserfahrung sind sie in der Lage, das gängige Geschlechtermodell zu hinterfragen und den Wert sozialer Bindungen im Angesicht einer Tendenz zur Entsolidarisierung und Zersplitterung der Lebenswelt zu betonen. 28 Großmütterliteratur - zur Verortung im literarischen Diskurs Bislang habe ich Judith Hermanns Greisin textimmanent analysiert. Da literarische Texte in der Regel nicht für sich allein bestehen, sondern über vielfältige Beziehungen mit anderen Texten verknüpft sind, möchte ich im Folgenden das Figurenmodell der Greisin im literarischen Diskurs verorten und hier auch die Frage stellen, welche Rolle den Großmüttern in unterschiedlichen Texten zukommt. Diese literaturgeschichtliche Verortung im Rahmen der „Großmütterliteratur“ 29 ist für die Frage nach Figurenmodellen in der Gegenwartsliteratur insofern von Bedeutung, als hierdurch die Veränderung oder Neuakzentuierung von Figurenmodellen anschaulich gemacht werden kann. Dazu ziehe ich neben Bertolt Brechts Novelle Die unwürdige Greisin eine Erzählung von E.T.A. Hoffmann heran. Ein Hypotext 30 für Judith Hermanns Erzählung Ende von Etwas - so meine These - ist Bertolt Brechts Kalendergeschichte Die unwürdige 27 So z.B. die Großmutter, die in ihrer Hilflosigkeit mit ihrem Geld um sich wirft, das sie nicht mehr nutzen kann (EvE 93), oder Hunter in der Erzählung Hunter-Tompson- Musik, der es nicht mehr gewöhnt ist, mit jungen Menschen umzugehen, und daher auch das Unverständnis für das Verhalten älterer Menschen schroff zurückweist. 28 Vgl. zum letzten Aspekt Heidemarie Bennent-Vahle: Philosophie des Alters. In: Alter in Gesellschaft. Hrsg. von Ursula Pasero, Gertrud M. Backes und Klaus R. Schroeter. Wiesbaden 2007, S. 11-14, hier S. 37. 29 Der Begriff der „Großmütterliteratur“ ist von Petra M. Bagley in Anlehnung an die Väter- und Mütterliteratur der 1970er und 1980er Jahre entwickelt worden. Sie stellt die These auf, dass in dieser Textsorte der gegenwärtige Wandel in der Beziehung zwischen Großmüttern und ihren Enkelinnen festgehalten ist. Problematisch an Bagleys Herangehensweise erscheint mir, dass sie die Texte im Kontext der Biographie der jungen Autorinnen verortet. Damit wird sie den fiktionalen Texten nicht gerecht. Vgl. Bagley, Granny Knows Best. 30 Vgl. zur Definition Gérard Genette: Palimpseste, (Frankfurt a.M. 1993, S. 9) hier verweist der Autor darauf, dass unter dem Hypotext ein Text zu verstehen ist, der für einen Hyptertext als Vorlage diente, ohne dass der Nachfolgetext lediglich die Form eines Kommentars hat. <?page no="98"?> 96 Greisin 31 aus dem Jahr 1949. Auf den ersten Blick haben die beiden Erzählungen nicht viel miteinander gemein. Bei Brecht berichtet ein Enkel oder eine Enkelin, was er oder sie über die letzten beiden Lebensjahre der Großmutter in Erfahrung gebracht hat. 32 Inwieweit sich beide gekannt haben, wird nicht erwähnt. Die Tatsache, dass der Vater des Erzählers sich in einer entfernten Stadt niedergelassen hat (DuG 111), lässt eine eher distanzierte Beziehung vermuten. Als Quelle für das literarische Porträt werden Berichte des Vaters und die Briefe des am Ort wohnenden Onkels genannt (DuG 112). Zentral für Brechts Kalendergeschichte ist die Tatsache, dass die Großmutter am Ende ihres Lebens die Erwartungen ihrer Kinder nicht erfüllt und das väterliche Erbe nicht an diese weitergibt, sondern ihren Lebensabend befreit von familiären Pflichten verbringt (DuG 114): Sie besucht Pferderennen, geht ins Kino, kümmert sich um ein geistig behindertes Mädchen und verkehrt bei einem sozialdemokratischen Flickschuster. Der Erzähler sieht die Entwicklung der Großmutter positiv und gibt - der Gattungskonvention der Kalendergeschichte geschuldet - ein eindeutiges Statement ab: „Sie hat die langen Jahre der Knechtschaft und die kurzen Jahre der Freiheit ausgekostet und das Brot des Lebens aufgezehrt bis auf den letzten Brosamen.“ (DuG 117) Gemeinsam ist beiden Erzählungen der Entwurf eines Porträts der Großmutter aus zweiter Hand. Die Erzählung bei Brecht ist vermittelt, da der Erzähler lediglich berichten kann, was er aus anderen Quellen über die Großmutter erfahren hat. Mit dem distanzierten, aber verständnisvollen Bericht aus zweiter Hand in Brechts Text korrespondiert die Zurücknahme des bereits Erzählten bei Judith Hermann. 33 Damit gilt für beide Erzählungen: Es ist nicht wichtig, wie die Großmutter tatsächlich war, sondern welches Bild sich die Enkelgeneration von ihr macht. Wird hier also dem Erzählen als Mittel der Identitätsfindung der jüngeren Generation eine wichtige Funktion zugesprochen, so offenbaren sich gleichzeitig beide Erzählerfiguren aus unterschiedlichen Gründen als unzuverlässig. Haben beide Erzählungen mit dem Bericht über das letzte bzw. die letzten Lebensjahre der Großmutter einen gemeinsamen Anlass und die gleiche Perspektive, 34 so unterscheiden sich die Berichte der Enkel- 31 Bertolt Brecht: Die unwürdige Greisin. In: ders.: Kalendergeschichten. Mit einem Nachwort von Jan Knopf. Frankfurt a.M. 2001 [EA 1949], S. 111-117. Seitenangaben mit dem Kürzel „DuG“ beziehen sich auf diese Ausgabe. 32 Da das Geschlecht des Erzählers nicht bestimmbar ist, verwende ich im Folgenden zur besseren Lesbarkeit der Interpretation die männliche Form. 33 „Sie ist aus alter Gewohnheit früh aufgewacht, gegen sechs Uhr am Morgen, über den Dächern ein schmaler Streifen Himmel, Antennen und Schornsteine, auf den Regenrinnen die Tauben. Ich weiß nicht, ob sie das gesehen hat.“ [Hervorhebung M.S.] (EvE 85). 34 Steht bei Bertolt Brecht als zentraler Einschnitt der Tod des Großvaters am Beginn der Erzählung „Meine Großmutter war zweiundsiebzig Jahre alt, als mein Großvater <?page no="99"?> 97 generation nicht nur darin, dass in Ende von Etwas keine eindeutige Bewertung der Lage der Großmutter vorgenommen wird. Steht bei Judith Hermann die weibliche Genealogie und der Geschlechterdiskurs im Mittelpunkt, so wird dieser Aspekt bei Brecht nicht beleuchtet, da es sich bei ihm um die Großmutter väterlicherseits handelt und auch das Erzählergeschlecht nicht bestimmt wird. Eröffnet bei Brecht der Tod des Großvaters als einschneidendes Erlebnis im Leben der Großmutter den Bericht, so spielt dieser bei Hermann insofern keine Rolle, als der Großvater die Großmutter verlassen hat, als die Kinder noch klein waren. Die Leerstelle - symbolisiert durch das leere Bett -, die er hinterlassen hat, wird aber zu Beginn der Erzählung benannt (EvE 85). Da die Ehe damit nicht mehr als Lebensentwurf angesehen werden kann, ist es auch nicht der Tod des Großvaters, der das Leben der Hermann’schen Großmutter im Alter verändert, sondern das Eintreten der Pflegebedürftigkeit. Im Gegensatz zu Brechts Greisin ist ihr Alter also nicht durch die Emanzipation von ihrer Familie gekennzeichnet, sondern dadurch, dass sie auf die Pflege durch Kinder und Enkel angewiesen ist. Interpretiert man mit Heidemarie Bennent-Vahle Brechts unwürdige Greisin dahingehend, dass die positive Altersdarstellung darauf beruht, dass eine lebenslange Entfremdung im Alter durchbrochen wird, 35 so lässt sich auch hier eine Beziehung zu Hermanns Erzählung herstellen. Das Ende der Entfremdung zeigt die Übergabe des Topfdeckels an die Enkelin und der Vorwurf an die Familie, ihr alles gestohlen zu haben (EvE 94). Damit löst sich die Großmutter aus der Abhängigkeit von einem traditionellen Familienmodell und erweist sich auch als ›unwürdig‹. Sie lehnt nicht nur das traditionelle Rollenmodell für die Frau ab, sondern sie ist auch nicht länger bereit, sich von ihrem Sohn als „Mütterchen“ vorführen zu lassen. Sie begehrt auf gegen ihre Gebrechlichkeit und ihr nutzloses, an die Wohnung gefesseltes Dasein. Sie entscheidet sich für einen Abgang, der doppelt Aufsehen erregt: einerseits durch das Geschenk an die Enkelin, das gegen alle Konventionen verstößt, andererseits durch den Suizid durch Verbrennen. Damit wird die Großmutter implizit positiv bewertet, ohne dass dies allerdings so eindeutig wie bei Brecht artikuliert wird. Die Ambivalenz, die in Brechts Kalendergeschichte gattungstypisch aufgelöst wird, findet sich auch in Ende von Etwas. Judith Hermann delegiert am Ende der Erzählung aber die Entscheidung, wie das Verhalten der Großmutter zu bewerten ist, an den Leser. Das Changieren der Figur zwischen den beiden Figurenmodellen der bösen Alten und der schönen Alten bleibt unaufgelöst. Hermanns Erzählungen sind insofern kaum zu fassen, als es keine konkrete Bewertung als Orientierungshilfe für den starb“ (DuG 111), so steht am Ende des Jahrhunderts die Pflegebedürftigkeit der Großmutter im Fokus: „Sie hat im letzten Jahr nur noch im Bett gelegen“ (EvE 85). 35 Bennent-Vahle, Philosophie des Alters, S. 23. <?page no="100"?> 98 Leser mehr gibt. Dieses Phänomen ist typisch für ihre Erzählweise, 36 charakterisiert aber auch die changierende Darstellung des Alters in der Gegenwart. Neben der rein lebensweltlichen Bedeutung des Alters als radikales Zurückgeworfensein auf einen versagenden Körper ist dem Text aber eine weitere poetologische Auseinandersetzung mit der Lebensphase eingeschrieben. Im Versuch, den Alltag ihrer Großmutter zu beschreiben, hält die Erzählerin immer wieder inne. Sie reflektiert, dass sie nur Vermutungen darüber anstellen kann, was die Großmutter tatsächlich sah, dachte, empfand. Ihre Schilderung ist im Grunde immer schon eine Reflexion des Lebens der Großmutter. Wird dem erinnernden Schauen und Betrachten alter Menschen der Schlüssel zu tieferer Weisheit und Güte zugesprochen, 37 so zitiert Sophie zwar Momente, in denen die Großmutter stundenlang ins Nichts starrt, kann diesem Blick aber keine besondere Bedeutung zuschreiben, da sie keinen Zugriff auf die Gedanken der Großmutter hat. Anstelle der Großmutter wird Sophie somit zur Betrachterin der Rätselhaftigkeit des Alters. Dabei staunt sie aber weniger über das Alter selbst, dieses wird als existenzielle Erfahrung hingenommen, sondern darüber, wie wenig sie von der Großmutter weiß und wie sehr das, was sie wahrnimmt, von der eigenen Perspektive bestimmt wird: »Weißt du«, sagt Sophie, »das ist auch nicht leicht. Sich die Erinnerung zurückzuholen, Stück für Stück. Ich vergesse so schnell. Gesichter vor allem, ich vergesse immer Gesichter, ich vergesse sie eigentlich sofort, auch an das Gesicht meiner Großmutter kann ich mich nicht mehr erinnern. [...]« (EvE 89) Mit dieser Aussage stellt Sophie heraus, dass es in ihrer Erzählung nicht darum gehen kann, ein Bild der Großmutter zu evozieren, so wie diese war. Das Porträt, das Sophie entwirft, ist das in ihrer Erinnerung gespeicherte Wissen, das durch ihre eigene Wahrnehmung bereits verfälscht sein könnte. Der Bericht sagt also wesentlich mehr über Sophie als über die Großmutter aus. Dies wird am Beispiel der Erinnerung des Gesichts exemplifiziert. Wird das Gesicht als Erkennungszeichen des Individuums nicht mehr erinnert, so wird ungewiss, ob die geschilderte Figur mit der realen Person der Großmutter in der erzählten Welt identisch ist. Mit der Frage nach dem Wahrheitsgehalt des Erzählten stellt Sophie auch diejenige nach der Bedeutung des Erzählens an sich. Hierbei spielt auch das Leserinteresse eine nicht zu unterschätzende Rolle. So stellt Sophie fest: „[Die Großmutter] konnte ganze zwei Geschichten erzählen, oder vielleicht 36 Antonie Magen kommt zu dem Schluss, dass Hermanns Erzählungen gewissermaßen körperlos sind, da sie die Konzentration auf etwas richten, was letztendlich nicht zu fassen ist. Vgl. Antonie Magen: Nichts als Gespenster: zur Beschaffenheit von Judith Hermanns Erzählungen. In: Verbalträume. Hrsg. von Andrea Bartl. Augsburg 2005, S. 29-48, hier S. 39. 37 Bennent-Vahle, Philosophie des Alters, S. 14. <?page no="101"?> 99 wollten wir auch nur zwei hören [...].“ (EvE 91) Zwar gibt Sophie die beiden Anekdoten aus dem Leben ihrer Großmutter im Anschluss wieder, sie kann sich aber nicht (mehr) sicher sein, ob das die zwei Ereignisse sind, die die alte Frau erzählen würde, um sich selbst zu charakterisieren. In beiden als zentral für das Erzählen herausgearbeiteten Aspekten - dem Wahrheitsgehalt der Erinnerung und der Erfüllung der Leserwünsche - spielt ein zentrales Paradigma des Erzählens in der Moderne eine entscheidende Rolle: die Perspektive. Die Frage, wie die Perspektive die Wahrnehmung beeinflusst, steht auch im Zentrum von E.T.A. Hoffmanns Novelle Der Sandmann. Über die Thematisierung der Perspektive, die Verwendung des Augenmotivs, und speziell des Motivs der Glasaugen, sowie über das Element Feuer sind beide Texte miteinander verbunden, sodass hier ebenfalls von einer transtextuellen Beziehung ausgegangen werden kann. Im Gegensatz zu Judith Hermanns Greisin ist der Protagonist Nathanael bei E.T.A. Hoffmann ein junger Mann. Dieser hatte in seiner Kindheit ein traumatisches Erlebnis. Als er als heimlicher Beobachter alchemistischer Versuche von seinem Vater und einem befreundeten Forscher entdeckt wird, drohte ihm der Bekannte, ihn zu blenden. Dieses Erlebnis und der Tod des Vaters bei einem weiteren Experiment hat die Traumatisierung des Jungen zur Folge. Diese bleibt unbemerkt, bis er sich als junger Student in eine Frau verliebt, die sich als Automat entpuppt. Die Zerstörung der Puppe bei einem Streit zwischen ihren Schöpfern führt dazu, dass die beiden Glasaugen auf dem Boden liegen. Der vermeintlich Vater der Puppe, Professor Spalanzani, wirft diese auf den fassungslosen Nathanael, woraufhin dieser mit dem Ruf „Hui - hui - hui! - Feuerkreis - Feuerkreis! dreh dich Feuerkreis - lustig - lustig! - Holzpüppchen hui schön Holzpüppchen dreh dich -“ [Hervorhebungen im Original, M.S.] 38 auf den Professor stürzt und diesen zu erwürgen versucht. Die Evozierung der traumatischen Kindheitserlebnisse in Kombination mit der enttäuschten Liebe führen zum Ausbruch des Wahnsinns bei dem jungen Mann, der ihm am Ende der Novelle das Leben kostet. In Judith Hermanns Erzählung betrifft das traumatische Erlebnis auf den ersten Blick nicht die Großmutter, sondern den Sohn. Dieser verliert bei einem Kinderspiel ein Auge: ›Wetten, daß ich dir ein Auge ausschießen kann‹, sagte im Wohnzimmer die Tochter, meine Mutter, zum Sohn, ›Wetten, daß nicht‹, sagte der Sohn, und die Tochter, die Schwester, zielte, schoß und traf. [...] Der Sohn bekam Glasaugen, fünf kleine, braune Glasaugen zum Austauschen, wenn die Geschwister sich stritten, warf meine Mutter die Glasaugen durchs Zimmer und sagte: ›Such sie, Krüppel‹, meine Gromutter kicherte. Warum. (EvE 91f.) 38 E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann. Hrsg. von Rudolf Drux. Stuttgart 1991, S. 36. <?page no="102"?> 100 Das Kichern der alten Frau beim Wiedererzählen dieses einschneidenden Erlebnisses verweist hier auf eine mildere Form des Wahnsinns als bei E.T.A. Hoffmann. Dieser ist in der Überforderung der Frau mit der Verantwortung für zwei Kinder zu suchen. Erst die Erkenntnis, dass auch der zweite Mann, ihr Sohn, sie verlassen hat, führt bei der Großmutter neben den bereits ausgeführten Aspekten zum ›Feuertanz‹. Die transtextuelle Beziehung verleitet dazu, den Selbstmord der Großmutter als Tat einer Wahnsinnigen zu interpretieren. Dennoch darf die sowohl bei E.T.A. Hoffmann als auch bei Judith Hermann aufgeworfene Frage nach der Perspektive einer Handlung - z.B. exemplarisch angedeutet im Blick aus einem Auge nach der Übergabe des Geburtstagsgeschenks - nicht außer Acht gelassen werden. Wie bei E.T.A. Hoffmann kann auch bei Judith Hermann keine eindeutige Entscheidung zugunsten einer Interpretationsweise getroffen werden. Im Gegensatz zu E.T.A. Hoffmanns junger Figur ist die Verbindung einer alten Figur mit dem Problem der Perspektive des Erzählten eher ungewöhnlich. Scheitert der junge Mann bei Hoffmann gerade aufgrund seines „übersteigerten Subjektivismus“, 39 so lässt die alte Figur angesichts ihrer größeren Lebenserfahrung eine objektivere Perspektive erwarten. Wie die Überlegungen zur Gabe der Großmutter an die Enkelin gezeigt haben, kann man diese im Falle von Hermanns Erzählung durchaus zugrunde legen. Die Besonderheit der Erzählung Hermanns liegt nicht darin, dass die alte Frau selbst eine doppelte Sichtweise verkörpert, sondern dass diese doppelte Perspektive, das Changieren zwischen Wahrheit und Imagination, durch den Versuch der jungen Erzählerin, das Leben der Großmutter nachzuvollziehen, in den Text Einzug hält. „Leere der Restzeit“ 40 - das Alterskonzept Besonders an dieser Kurzgeschichte ist, dass Judith Hermann das Alter als biologische und soziale Verfallsgeschichte in das Zentrum einer Erzählung rückt und die alte Frau nicht nur als Randfigur auftreten lässt, deren Alter lediglich dazu dient, die Jugendlichkeit und Modernität einer Hauptfigur zu betonen. Damit bricht sie mit einem gesellschaftlichen Schweigegebot. Alter wird radikal negativ dargestellt, es erscheint als Zeit der Betrübnis und Vergeblichkeit der Existenz. Der Sinn des menschlichen Lebens wird radikal in Frage gestellt. Die Angst vor der negativen Seite des Alters ist in der westlichen Kultur zwar fest verankert, wird aber nur selten thematisiert. 41 Aufgrund der Darstellung der gebrechlichen Großmutter und der aus ihrer Pflegebedürftigkeit erwachsenden Probleme wie Aggressivität, 39 Rudolf Drux: Nachwort. In: E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann. Hrsg. von Rudolf Drux. Stuttgart 1991, S. 59-74, hier S. 73. 40 Wehdeking, Generationenwechsel, S. 185. 41 Vgl. Kathleen Woodward: Aging and its discontents. Freud and other fictions. Bloomington/ Indianapolis 1991. <?page no="103"?> 101 Alkoholismus und Unberechenbarkeit werden das Alter und seine Auswirkung auf die Psyche der Figur unverhohlen präsentiert. Diese negative Seite wird in der literarischen Tradition verortet, aber nicht durch Idealisierung oder die Übernahme der Großmutterkonvention 42 wegerzählt. In ihrer Großmutterfigur vereint die junge Autorin zentrale Gesichtspunkte der traditionellen Darstellung der alten Frau zu einem neuen Alterskonzept: Die traditionelle Opposition von jung und schön versus alt und hässlich wird aufgelöst. Das Figurenmodell der bösen Alten als Verkörperung von Ängsten wird aufgegriffen und in seiner Entstehung offengelegt. Diese negativen Aspekte werden als normaler Bestandteil des Alters aufgezeigt. Aus der Empfindung einer unbestimmten Bedrohung und einem unbegründeten Verfolgungswahn sowie dem Gefühl des Ausgeliefertseins entstehen Aggressionen. Diese sind bei alten, einsamen Menschen weit verbreitet. Zudem wird das Bild der alten Frau umgewertet durch Facetten von Altersweisheit und Lebenserfahrung. Die Irritation der Geschichte entsteht nicht nur angesichts des wunderlichen Verhaltens der Greisin beim Familienfest. Überraschend ist vielmehr die Konsequenz, die die alte Frau am Tag nach der Abrechnung mit der Familie zieht, indem sie ihr Bett mit dem Teelicht anzündet und verbrennt. Überleben ist für die alte Frau kein Wert an sich. Die „Leere der Restzeit“ 43 wird von ihr nicht passiv hingenommen, sondern als Alterskonzept abgelehnt. Ihr Freitod ist ein selbstgewählter Ausweg aus den Zwängen des alternden Körpers. Sie wählt bewusst ein Ende mit Schrecken, um nicht widerstandslos ein Schrecken ohne Ende hinzunehmen. 44 Das Alter als eine Zeit existenzieller Einsamkeit und Sinnlosigkeit wird von der Pflegebedürftigen nicht als lebenswert angesehen. Aus der Perspektive des Endes stellt sich auch die Frage nach dem Wert des Lebens und dem Sinn der zunehmend längeren Lebenserwartung. Der Titel Ende von Etwas ist nicht eindeutig zuzuordnen. „Etwas“ ist aufgrund der Unbestimmtheit nur schwer fassbar. Es kann ebenso für das Leben an sich stehen wie für das Leben der Großmutter zwischen sozialem und körperlichem Tod. Aus der Perspektive der Pflegebedürftigkeit wird das gesamte Leben negativ bewertet, da es seinen Sinn verliert. Damit wirft der Text einen Blick auf die negative Seite des demographischen Wandels: die Verlängerung des Verfalls. Judith Hermann „schafft in ihrer Erzählung erst im Bewusstmachen der Realität des Nichts die Voraussetzung für die Überwindung der Sinnlosigkeit des mensch- 42 Zum Bild der Großmutter in der Literatur vgl. Göckenjan, Das Alter würdigen, S. 179-221 und das Kapitel zum Familienroman in dieser Arbeit. 43 Wehdeking, Generationenwechsel, S. 185. 44 Hierauf verweist der von der Enkelin geschilderte trostlose Alltag, dessen Höhepunkt darin besteht, dass die Alte jede Nacht die von der Tochter versteckte Schnapsflasche sucht und leert (EvE 87). Hier zeigt sich eine Parallele zur Figur der „Assel“ in Wortmanns Witwentröster. Diese zieht sich durch ihren Alkoholkonsum auch völlig aus dem Leben zurück. Vgl. S. 371ff. <?page no="104"?> 102 lichen Daseins.“ 45 Das Geschenk der Großmutter an die Enkelin kann in ähnlicher Weise als symbolisches Vermächtnis der Großmutter an beide Enkelinnen gesehen werden. Angesichts des Nichts, auf das sich das menschliche Leben unausweichlich zubewegt, kommt den zwischenmenschlichen Beziehungen eine zentrale Bedeutung zu. Damit wird die Greisin durch die vorgestellte Merkmalskombination von einer bemitleidenswerten alten Frau zu einer realistischen Alten, die das Ende ihres Lebens mit einem Tanz feiert und somit das negative, an ihren Körper gebundene Alterskonzept unterläuft. Am Ende des Entwicklungsprozesses, der ausgehend von der Resignation in Anbetracht der Ausweglosigkeit ihrer Situation über das Aufbegehren bis hin zum aktiven Handeln reicht, beweist sie innere Freiheit. Diese ermöglicht es ihr, das Ende ihres Lebens im Rahmen ihrer Möglichkeiten selbst zu wählen. Dadurch erscheint die alte Dame als wesentlich beeindruckender als ihre profillose junge Enkelin. 46 Judith Hermann hat nicht nur mit ihren hippen Darstellungen der Szenekultur Berlins einen „Nerv der Zeit getroffen“ 47 , sondern auch mit ihren nachdenklicheren Erzählungen, in denen alte Menschen im Mittelpunkt stehen. Auch wenn sie von sich selbst behauptet, völlig unpolitisch zu sein, und nicht öffentlich zu gesellschaftliche Fragestellungen Position beziehen möchte, 48 so zeigen ihre Texte doch ein zwischenmenschliches Engagement und ein Gespür für die Probleme, die das Alter für jeden Menschen mit sich bringt. Für die Gestaltung alter Menschen in der Literatur ergibt sich aufgrund der vorliegenden Analyse die Vermutung, dass weniger eindeutige Alterskonzepte zu finden sind als Verbindungen aus differenten Entwürfen. Damit spiegelt sich der gesellschaftliche Entwicklungsprozess in der Literatur wider, ohne dass diese bereits einen Hinweis auf den Ausgang der Entwicklung geben kann. 45 Wehdeking, Generationenwechsel, S. 184. 46 Auch mit diesem Kontrast arbeitet Judith Hermann in anderen Erzählungen, wie z.B. Rote Korallen oder Hunter-Tompson-Musik. 47 Antonie Magen, Nichts als Gespenster, S. 31. 48 Vgl. beispielsweise: Judith Hermann: Meine Generation - was ist das eigentlich? Die Schriftstellerin Judith Hermann gibt erstmals Auskunft über ihr langes Schweigen und ihr neues Buch. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 19.01.2003. <?page no="105"?> 103 2 Öde lange Restzeit? Alterskonzepte in Monika Marons Romanen Sommerhaus, älter 1 - so betitelt der Literaturkritiker Friedmar Apel seine Rezension zu Monika Marons 2002 erschienenem Roman Endmoränen. 2 Mit diesem intertextuellen Verweis auf Judith Hermanns erfolgreiches Debüt Sommerhaus, später aus dem Jahr 1998 sind zwei unterschiedliche Assoziationsfelder eröffnet. Zum einen spielt der Literaturkritiker damit auf den Ort der Handlung, ein Sommerhaus, an. Das Sommerhaus als literarisches Motiv bezeichnet einen Ort außerhalb der Gesellschaft und ist damit geradezu prädestiniert für deren kritische Reflexion. Darüber hinaus ist mit Judith Hermanns Erzählband auch ein Synonym für das Lebensgefühl einer Generation genannt. 3 Allerdings sind es bei Monika Maron nicht die Zwanzigbis Dreißigjährigen, die einen Platz in der Bundesrepublik der Nachwendezeit suchen, sondern die Autorin und ihre Figur Johanna Märtin vertreten die sogenannte ›Generation 50 plus‹ in zweifacher Perspektive: Einerseits steht die Konfrontation mit dem Altern als einschneidende Erfahrung dieser Generation im Fokus des Romans, andererseits ist die Lebensgeschichte der Protagonistin eng mit der Deutschen Demokratischen Republik und deren Ende 1989/ 1990 verknüpft. Damit stellt sich auch die Frage, wie in und nach der Lebensmitte mit Veränderungen umgegangen werden kann. Die Parallelen zur Biographie der Autorin sind offensichtlich. 4 Dennoch oder gerade aus diesem Grund soll 1 Friedmar Apel: Sommerhaus, älter. Was nach dem Rückzug liegen bleibt: Monika Maron blickt Gletschern nach. In: ›Doch das Paradies ist verriegelt...‹. Zum Werk von Monika Maron. Hrsg. von Elke Gilson. Frankfurt a.M. 2006, S. 232-237 [Erstveröffentlichung in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 08.10.2002]. 2 Monika Maron: Endmoränen. Roman. Frankfurt a.M. 2004. Seitenangaben mit dem Kürzel „E“ beziehen sich auf diese Ausgabe. 3 Vgl. hierzu beispielsweise Günter Blamberger: Poetik der Unentschiedenheit: Zum Beispiel Judith Hermanns Prosa. In: GegenwartsLiteratur. Ein germanistisches Jahrbuch 5 (2006), S. 186-206. 4 Monika Maron ist 1941 in Berlin geboren. Nach dem Kriegsende siedelte die vom Kommunismus überzeugte Mutter Hella mit ihr in den Ostteil Berlins über. Dort lernte die Mutter auch ihren späteren Ehemann Karl Maron, den späteren Innenminister der DDR, kennen. Monika Maron arbeitete nach dem Abitur ein Jahr als Fräserin in einem Industriebetrieb und studierte dann Kunstgeschichte und Theaterwissenschaften. Nach dem Studium war sie als Regieassistentin beim Fernsehen beschäftigt, später schrieb sie als Reporterin u.a. für die Wochenpost. Nach dem Tod von Karl Maron im Jahr 1975 entschied sie sich, als freie Schriftstellerin zu leben, und begann die Arbeit an ihrem ersten Roman Flugasche (1981), in dem sie sich mit der Umweltverschmutzung durch die Industrie am Beispiel von Bitterfeld auseinandersetzte. Der Roman konnte wie auch ihre anderen Texte nur in Westdeutschland <?page no="106"?> 104 keine biographische Interpretation zum Verhältnis der Autorin Monika Maron zu ihrem eigenen Alter und der Wende vorgelegt werden. 5 Vielmehr wird die Protagonistin des Textes, eine Mittfünfzigerin, ebenso als exemplarische Stellvertreterin ihrer Generation gesehen, wie sie die Auseinandersetzung mit der Lebensphase Alter - von Johanna selbst als „öde lange Restzeit“ (E 55) bezeichnet - aus weiblicher Perspektive beispielhaft verkörpert und damit eine Leerstelle auf dem Literaturmarkt füllt. 6 Bereits der Beginn des Romans Endmoränen verweist auf die Verortung dieser Generation: Vor drei Jahren habe ich zum ersten Mal bemerkt, daß ich erleichtert war, als der Herbst kam. Vielleicht war es im Jahr davor auch schon so gewesen und im Jahr davor auch, und es war mir nur nicht bewußt geworden, daß sich etwas verändert hatte, daß offenbar ich mich verändert hatte, schleichend und undeutlich, sonst hätte ich den Wandel nicht erst bemerkt, nachdem er ganz und gar vollzogen war und ich nicht mehr sagen konnte, wann er begonnen hatte. Nur daß die Zeit, in der ich den Abschied vom Sommer als eindeutigen Verlust, als Zumutung, sogar als Schmerz empfunden habe, länger als drei Jahre zurückliegen muß, weiß ich genau. (E 5) Monika Maron knüpft hier an die traditionelle Jahreszeitenmetaphorik an. Das Leben wird analog zu den vier Jahreszeiten in vier Phasen eingeteilt. Das mit der Jahreszeit Winter vergleichbare Alter wird im Herbst vorbereitet. Zugespitzt formuliert signalisiert die Einführung der Erzählerstimme mit diesem literarischen Allgemeinplatz, dass sich die Figur im Lebenslauf bereits jenseits des Zenits, gewissermaßen auf einem absteigenden Ast befindet. Als „lebensherbstliche[n] Katerstimmung“ 7 beschreibt Wolfgang Schneider die Stimmung des von Resignation und erscheinen. 1988 siedelte Maron in die BRD über, wohnte zunächst in Hamburg und lebt heute wieder in Berlin. Vgl. zur Biographie die Übersicht zu Leben und Werk sowie die autobiographischen Beiträge Marons in: ›Doch das Paradies ist verriegelt...‹. Zum Werk von Monika Maron. Hrsg. von Elke Gilson. Frankfurt a.M. 2006. 5 Marons Romane werden in der Forschungsliteratur gerne als ›autothematische‹ Romane bezeichnet. Dies öffnet der biographischen Analyse, die den Romanen nicht gerecht wird, Tür und Tor. Vgl. hierzu: Volker Wehdeking: Monika Marons rückläufige Erwartungen von Animal triste zu Endmoränen: das Unbedingte in der Liebe und die Bedingtheiten des Älterwerdens. In: Deutschsprachige Erzählprosa seit 1990 im europäischen Kontext. Interpretationen, Intertextualität, Rezeption. Hrsg. von Volker Wehdeking und Anne-Marie Corbin. Trier 2003, S. 131-147, hier S. 131. 6 Dass es sich bei Marons Roman um eine beispielhafte Darstellung der Erfahrung des Alters handelt, zeigt sich z.B. in der Beschreibung des Romans in Petra Gersters Überlegungen zur „Frau von 50 Jahren“ in der heutigen Gesellschaft. Petra Gerster: Reifeprüfung. Die Frau von 50 Jahren. Berlin 2007, S. 236. 7 Wolfgang Schneider: Hund und Helfer. Frauchen in Katerstimmung: Mit ihrem neuen Roman Ach Glück knüpft Monika Maron an Endmoränen an und lässt ihre Heldin Johanna den Kampf gegen das Alter und den Alltag fortsetzen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.08.2007. <?page no="107"?> 105 Melancholie dominierten Romans, der aus der internen Fokalisierung von Johanna erzählt ist. Johanna und ihr Mann Achim leben in Ostberlin. Sie haben beide Germanistik studiert. Anschließend hat er sich völlig auf die Forschung zu Heinrich von Kleist konzentriert, wohingegen Johanna ihren Lebensunterhalt mit dem Schreiben von Gebrauchstexten und Biographien verdient. In der Erzählgegenwart ist Johanna Anfang Fünfzig, ihre siebenundzwanzig Jahre alte Tochter Laura ist bereits vor einigen Jahren aus der Familienwohnung ausgezogen. Das Ehepaar befindet sich also in der „Nachfamilienphase, in der die Eltern wieder aufeinander verwiesen sind und die Alterungsprozesse bereits unübersehbar werden“. 8 Dies führt bei Johanna zu einer Krisenerfahrung, die nicht von ihrem Mann geteilt wird und weitere Ursachen hat. Nach der Wende, die von Johanna als Wunder 9 erlebt wurde, hat ihre bisherige Tätigkeit für sie den Sinn verloren. Als Autorin von Biographien sah sie ihre Aufgabe darin, Geheimbotschaften in Texten zu verstecken und auf diese Weise ihren Widerstand gegenüber dem politischen System zum Ausdruck zu bringen. Damit ist sie in einer Lebenssituation, die - aufgrund der politischen Veränderungen - in extremer Weise das Dilemma vieler älter werdender Menschen beschreibt: „Unsere ideellen Lebensentwürfe enden lange, bevor wir sterben.“ 10 Diese These - so schreibt Monika Maron in ihrer Frankfurter Poetikvorlesung - steht im Zentrum ihres Romans Endmoränen. Nicht nur die Frage, welche Lebensentwürfe Menschen haben, sondern auch, was unter dem Konzept des Lebensentwurfs selbst zu verstehen ist, werde zum Problem. Nachdrücklich formuliert die Autorin dies anlässlich einer Rede auf dem Historikertag im September 2002: Aber was ist überhaupt ein Lebensentwurf? Was kann er sein? Jugendliche Lebensentwürfe reichen meistens nur für das erste Drittel, höchstens für die Hälfte unserer Lebenszeit und enthalten selten mehr als den gewünschten Beruf und eine der Person angemessene diffuse Vorstellung von Glück. Wahrscheinlich haben wir eher eine Idee von uns selbst, als von dem Weg, den wir gehen müssen; und wahrscheinlich ist dieses Bild größer, schöner und siegreicher, als wir je werden können. 11 Aber: Was geschieht, wenn ein Lebenskonzept fehlt oder an sein Ende gelangt ist? Ist das Leben im Alter dann gerade dadurch geprägt, dass es 8 Hinderk M. Emrich: Alter(n) ohne Vorbild. In: Altern braucht Zukunft: Anthropologie, Perspektiven, Orientierungen. Hrsg. von Birgit Hoppe und Christoph Wulf. Hamburg 1996, S. 94-111, hier S. 98. 9 Der Begriff ›Wende‹ taucht im Roman nicht auf. Stattdessen wird durchgehend der Begriff ›Wunder‹ verwandt. Vgl. E 40, 41, und öfter. 10 Monika Maron: Wie ich ein Buch nicht schreiben kann und es trotzdem versuche. Frankfurt a.M. 2005, S. 14. 11 Monika Maron: Lebensentwürfe, Zeitenbrüche. In: ›Doch das Paradies ist verriegelt...‹. Zum Werk von Monika Maron. Hrsg. von Elke Gilson. Frankfurt a.M. 2006, S. 31-40, hier S. 32f. <?page no="108"?> 106 sich bei der Lebensphase Alter um eine konzeptlose Lebensphase handelt? Wie wirkt sich die fehlende Zukunftsperspektive auf den Menschen aus? Die zahlreichen Veröffentlichungen im Bereich Sachbuch und Ratgeberliteratur 12 zeigen, dass Marons Text Ausdruck eines zeittypischen Phänomens ist. Die Menschen werden zwar immer älter, was aber Sinn und Zweck dieser erweiterten Lebensphase Alter sein könnte, ist nicht gesellschaftlich definiert. Kommt die Institutionalisierung des Lebenslaufs mit der Rente an ein Ende, dann entlässt sie den Rentner in eine ungewisse Zukunft. Das Fehlen eines Konzeptes für die Lebensphase Alter und damit einer Zukunftsperspektive kann den älter werdenden Menschen in eine Sinnkrise stürzen. Eine solche Krise und ihre Überwindung schildert Monika Maron in den Romanen Endmoränen und Ach Glück. Da es hierbei weniger um die Ausgestaltung unterschiedlicher alter Figuren - also von Altersrepräsentationen - geht, sondern um die Entwicklung verschiedener Lebensentwürfe und Alter(n)smodelle, lege ich den Schwerpunkt der Analyse auf die Untersuchung der in den beiden Romanen vertretenen Alterskonzepte. Zuvor soll die Problematik des fehlenden Alterskonzeptes und der dadurch entstehenden Konflikte im mittleren Lebensalter anhand der Figur Johanna und ihrer Beziehungen zu den anderen Figuren nachgezeichnet werden. Zur späteren Einordnung der kontrastiven Alterskonzepte werden vorab die zentralen Diskurse der Romane und ihre Verankerung im literarischen und gesellschaftlichen Kontext der Jahrtausendwende dargelegt. Nach der Lebensmitte - die Wahrnehmung der Protagonistin Johanna Der Beginn des Romans Endmoränen liest sich wie eine literarische Ausgestaltung der in den 1970er Jahren entworfenen Überlegungen zum ›Alter als Stigma‹. 13 Mit diesem Ansatz versuchte Jürgen Hohmeier zu erklären, warum alte Menschen einer Randgruppe der Gesellschaft angehören und wie sie selbst zu ihrer Ausgrenzung beitragen. Sein Modell geht davon aus, dass mit dem ›Alter‹ ein geschlossenes System von Bedeutungen und Wertungen verbunden wird, das aufgrund seiner Nähe zu biologischen Prozessen als selbstverständlich hingenommen wurde. Über die Strategien der Generalisierung - wenn sich bei einer Person bestimmte körperliche Merkmale zeigen, ist sie alt - und der Pathologisierung von älteren 12 Beispiele hierfür sind: Frank Schirrmacher: Das Methusalem-Komplott. München 2004; Herrad Schenk: Der Altersangst-Komplex. Auf dem Weg zu einem neuen Selbstbewußtsein. München 2005; Elisabeth Niejahr: Alt sind nur die anderen. So werden wir leben, lieben und arbeiten. Frankfurt a.M. 1994; Petra Gerster: Reifeprüfung. Die Frau von 50 Jahren. Berlin 1997; Ulrike Herrmann, Martina Witneben: Älter werden, Neues wagen. Zwölf Porträts. Hamburg 2008. 13 Jürgen Hohmeier: Alter als Stigma. In: Alter als Stigma oder Wie man alt gemacht wird. Hrsg. von Jürgen Hohmeier und Hans-Joachim Pohl. Frankfurt a.M. 1978, S. 10-30. <?page no="109"?> 107 Menschen zugeschriebenen Verhaltensweisen, wird die Ausgrenzung alter Menschen vorangetrieben. 14 Ein wichtiger Beitrag zur gesellschaftlichen Durchsetzung der Stigmatisierung alter Menschen wird aber von der Gruppe der Alten selbst geleistet. Indem vielfältige körperliche und geistige Erscheinungen und Veränderungen bereits mit dem Erklärungsansatz - das ist so, wenn man älter wird - begründet werden, werden die scheinbar allgemein anerkannten Annahmen über Alter und Altern unhinterfragt in das eigene Selbstkonzept übernommen. 15 Auf diese Art und Weise vollzieht sich die Ausgrenzung einer gesellschaftlichen Gruppe durch deren eigenen maßgeblichen Beitrag. Der Einbruch des Alters in ihr Leben wird von Marons Protagonistin Johanna in erster Linie an körperlichen Veränderungen festgemacht. Körperbeobachtungen wie die folgende durchziehen den Beginn des Romans: Vielleicht lag ja auch das [Gefühl der Sinnlosigkeit des eigenen Tuns, M.S.] am Alter, an diesem demütigen und wehrlosen Zustand des Altwerdens, der, worauf kaum einer gefaßt ist, über uns kommt, während wir uns fast noch im Lager der Jugend wähnen; dann aber, eine Grippe, ein paar anstrengende Wochen, ein Schmerz, und eines Tages, unvorbereitet, erkennen wir im Spiegel unser neues, das fast alte Gesicht und warten von da an auf die unbarmherzige tägliche Verwandlung in das ganz alte. (E 37f.) Bereits hier zeigt sich die lähmende Wirkung körperlicher Veränderungen, und so ist es nur folgerichtig, dass Johanna ihren Körper als defizitär wahrnimmt. Vergleiche des älter werdenden Körpers mit dem einer behinderten Freundin, die ihr Leben lang an der Unförmigkeit ihres Körpers aufgrund einer Wirbelsäulenverkrümmung litt, lassen aus Johannas Perspektive demzufolge nur den Schluss zu, dass „alt und verkrüppelt ähnliche Zustände seien“ (E 35). Damit zeigt sich in der Wertung aus der internen Fokalisierung der Protagonistin, dass Altern zwar als natürlicher Vorgang angesehen wird, das Alter selbst aber als krankhafter Zustand gefürchtet, also pathologisiert wird. Dass die ambivalente Wertung auf kulturelle und gesellschaftliche Wahrnehmungsmuster zurückzuführen ist, zeigt sich daran, dass nicht die Wechseljahre - in denen sie sich als Mittfünfzigerin befinden dürfte - als biologisch-medizinischer Erklärungsansatz herangezogen werden, sondern das drohende Ende der Anziehungskraft und Schönheit, die die Gesellschaft mit Weiblichkeit gleichsetzt. 16 Dieses 14 Ebd., S. 13. 15 Ebd., S. 14. 16 Roberta Maierhofer weist darauf hin, dass es sich hierbei um ein häufig bei Frauen zu beobachtendes Phänomen handelt. Roberta Maierhofer: Salty Old Women. Eine anokritische Untersuchung zu Frauen, Altern und Identität in der amerikanischen Literatur. Essen 2003, S. 255. Vgl. hierzu auch meine Interpretation zu Martin Walsers Roman Der Lebenslauf der Liebe in Teil II Kapitel 3. <?page no="110"?> 108 vermeintliche Ende der körperlichen Anziehungskraft 17 führt bei Johanna zu einer Ablehnung des eigenen Körpers: Vielleicht war es auch meine Erleichterung am Morgen, wenn ich, ohne nach dem Grund zu fragen, alle nackte Haut wieder verhüllen durfte, so daß kein zufälliger Blick, weder mein eigener noch der eines anderen, die in grellem Sonnenlicht schon sichtbare Gravur der Greisenhaftigkeit auf meiner Haut entdecken konnte. (E 26) In dieser Textstelle wird augenscheinlich, dass die Erzählerin Johanna das negative Alterskonzept der unattraktiven alten Frau zu verinnerlichen beginnt. Lediglich das „vielleicht“ am Beginn der beiden zitierten Reflexionen über das Altern verweist darauf, dass es eine vage Hoffnung auf einen Ausweg aus dem scheinbar geschlossenen System des skizzierten Alterskonzepts geben könnte. Andererseits verstellt die depressive Grundhaltung der Protagonistin den Blick auf eine mögliche Veränderung. Die von Johanna empfundene scheinbare Ausweglosigkeit spiegelt sich auch in der Symbolik des Ortes wider. Bereits der Titel Endmoränen verweist darauf, dass der Ort in Monika Marons Roman eine zentrale Bedeutung hat. Eine Endmoräne ist eine wallartige Aufschüttung von Gesteinsmaterial am Rande eines Gletschers. Zieht sich der Gletscher zurück, bleiben diese Hügel aus Geröll zurück. Als Überbleibsel bzw. „erotischer Abfallhaufen“ (AG 38) fühlt sich auch Johanna, sodass sich ihr Gefühlszustand in der Endmoränenlandschaft spiegelt. Die Einsamkeit in dem kleinen Dorf ermöglicht ihr, sich ganz und gar aus dem alltäglichen Leben zurückzuziehen. Das Ferienhaus, das eine Form der Befreiung vom DDR-Alltag bedeutete, ist nun zur Zuflucht für die älter werdende Frau geworden. Lediglich in ihrem Schlafzimmer fühlt sie sich wohl und geborgen. Im Verlauf des Romans reflektiert Johanna daher ihre berufliche ebenso wie ihre privaten Möglichkeiten und sucht einen Ausweg. Textinhärent werden solche Auswege anhand der Rollenmuster und Alterskonzepte, die die Menschen in ihrem Umfeld leben und vertreten, aufgezeigt. Diese werde ich am Ende des Kapitels vorstellen. In der Auseinandersetzung Johannas mit den Facetten ihres Alltags gelingt es ihr zunehmend besser, ihre eigene Situation zu kommentieren und zu reflektieren. Es ist ihr beispielsweise bewusst, dass der von ihr aufgrund seiner Selbstsicherheit bewunderte Christian P. für sie nicht als realer Partner in Frage kommen würde, sondern dass sie in den Briefen an ihn die Illusion einer jugendlichen Verliebtheit aufrechterhalten möchte. In der Konfrontation mit ihrer Tochter Laura stellt sich heraus, dass sie ihrem Leben einen neuen Sinn geben muss und nicht auf das Großmutterdasein 17 „Ich kannte längst das Gefühl, wenn die Blicke der Männer mich neutralisierten [...].“ (E 27) <?page no="111"?> 109 als Ausweg aus ihrer Lage spekulieren kann. 18 Indem sie im Erzählen der eigenen Geschichte eine Form der Selbstvergewisserung praktiziert, zeigt der Roman eine schrittweise Zurücknahme der negativen Einstellung zum Alter(n) und der Ablehnung sowohl des individuellen Lebenslaufes als auch des eigenen Körpers. Am Ende präsentiert sich im Bild des Neuanfangs (E 253) eine verhaltene Hoffnung nicht nur auf eine weitere Entwicklung der Figur Johanna, sondern auch auf einen Wandel der Wahrnehmung alternder Menschen als Randgruppe durch die Veränderung der Selbstwahrnehmung dieser Gruppe selbst. Wie ein Wandel des Selbstbildes erreicht werden kann, zeigt ein Treffen mit dem russischen Galeristen Igor. Begegnet ihm Johanna in der Regel nur gemeinsam mit seiner vermutlichen Geliebten, der Künstlerin Karoline Winter, so steht der attraktive und selbstbewusste Russe eines Tages plötzlich allein vor ihrer Tür. Nach einem gemeinsam verbrachten Nachmittag und Abend hat Johanna keine andere Wahl, als ihm das Gästebett anzubieten. Die Spannung zwischen beiden entlädt sich - wie könnte es anders sein - in einer gemeinsamen Liebesnacht: Den Rausch der Fremdheit erkannte ich als erstes wieder, die abenteuerliche Nähe fremder Haut, die erschreckende Nacktheit; die rasende Verständigung der Zellen, Synapsen und Neurotransmitter, bis Hirn und Sinne das Objekt identifiziert hatten. Ein Mann und eine Frau, sonst nichts, die ewige, unbegreifliche Bestimmung und nur noch die verzweifelte Lust, die eigene Haut zu sprengen. Alles erkannte ich wieder, den herben Geruch, die Hitze, das Fordern und Drängen; ich kannte Igor, seit ich den ersten Mann umarmt hatte, und ich war dieselbe wie damals. (E 246) Die den gesamten Roman dominierende Selbstbeobachtung und Selbstreflexion Johannas bestimmt auch diese Szene. Sie ist nicht ungewöhnlich in Marons Werk. Die „Flucht ins Vegetative und Kreatürliche“ 19 findet sich bereits in Marons erstem Roman Flugasche. Dass die zwischenmenschliche Seite des Geschlechtsverkehrs im Frühwerk betont wurde, ist auf die Ablehnung von Ideologien und gesellschaftlichen Machtverhältnissen und dem damit verbundenen Rückzug ins Private zurückzuführen. 20 Dass die 18 „Es mußte mehr falsch sein in meinem Leben, als ich bis dahin ohnehin schon geglaubt hatte, wenn die Mitteilung meiner erwachsenen Tochter, sie wolle nach Amerika ziehen, mich ins Bodenlose fallen ließ.“ (E 173) 19 Alison Lewis: ›Die Sehnsucht nach einer Tat‹: Engagement und weibliche Identitätsstiftung in den Romanen Monika Marons. In: Monika Maron in perspective. Hrsg. von Elke Gilson. Amsterdam, u.a. 2002, S. 75-91, hier S. 80. 20 „Für eine Nacht war sie Kreatur gewesen in einem Leben, das nichts zu tun hatte mit der Illustrierten Woche, mit Machtverhältnissen und Ideologien, mit der Willkür der Zeit, in die man geboren wurde. Das alles war nicht das Leben, es waren Spiegelbilder des Lebens, nicht das Leben selbst. Leben war atmen, lieben, essen, Kinder zeugen und gebären, für den Lebensunterhalt sorgen, sonst nichts.“ Monika Maron: Flugasche. Roman. Frankfurt a.M. 2003 [EA 1981], S. 155. <?page no="112"?> 110 biologische Seite der Liebesnacht in Endmoränen besonders hervorgehoben wird, scheint mir in Anbetracht der anfangs geschilderten Dominanz von Elementen der Altersstigmatisierung eine gegenläufige Bewegung zu beschreiben. Der vollzogene Rückzug ins Private wird durch das sexuelle Erlebnis aufgegeben, Johanna kehrt in die Stadt zurück. Zudem wird dem auf biologischer Determination basierenden negativen Alterskonzept mit dieser Szene vehement widersprochen. Indem der gealterte Körper nicht nur die Erfahrungen der Jugend erinnert, sondern diese wiederholt, bestätigt er sich selbst als funktionstüchtig. Die Frage, inwieweit sich der alternde Körper verändert, wird von Johanna bereits in einem Brief an den alten Freund Christian P. gestellt. Ihm berichtet sie von der Schlachtung eines Hechtes. Obwohl der Fisch bereits tot war, konnte Johanna beobachten, wie sein Herz weiterschlug. Dieses Erlebnis regt sie zur Reflexion über das Altern der Menschen an: Glaubst du, unsere Herzen schlügen auch einfach so fort, wenn man sie uns aus den Leibern risse? Wenn man es recht besieht, ist es ja so. Während unser Fleisch langsam an den porösen Knochen verfällt, tut unser idiotisches Herz, als merke es nichts, und pocht rhythmusgestört auf seinen alten Gewohnheiten herum, so vernunftlos wie dieses lebenshungrige Hechtherz. (E 209) Auch in dieser Textstelle werden - in Analogie zum sexuellen Erlebnis - Körpermetaphorik und biologische Vorgänge verbunden. Auf der einen Seite wird das Altern des Körpers betont und die Gefahr, dass das Herz als Organ eines Tages versagen könnte. Auf der anderen Seite steht das Herz metaphorisch für die Sehnsucht nach Liebe, die auch ein älter werdender Mensch empfindet. Allerdings - so deuten die Überlegungen der Protagonistin an - wird ihm diese „alte Gewohnheit“ nicht mehr zugestanden. Aufgrund der Ausweglosigkeit der Situation wirkt der Wunsch nach Leben und Liebe absurd. Die Beschreibung des Beischlafs geht aber über diese negative Sichtweise weit hinaus. Da der Genuss nicht allein im sexuellen Akt an sich besteht, sondern durch das Wiedererleben früherer sexueller Begegnungen gesteigert wird, wird die Sexualität als wichtige Erfahrung legitimiert und darüber hinaus in ihrer Andersartigkeit im Vergleich mit der jugendlichen Sexualität hervorgehoben. Indem Johanna eine Körpererinnerung diagnostiziert, steigert sich der Genuss des Erlebnisses. Auf diese Weise wird Igor ebenso wie Christian P. austauschbar. Beide haben für Johanna lediglich die Funktion, ihr ihre körperliche Attraktivität zu bestätigen. Damit tragen sie zur Stabilisierung von Johannas Geschlechtsidentität bei: „Selten deutlich“, so schreibt Volker Wehdeking, „wird hier die ganz in die eigene Innerlichkeit und monadenhafte Selbsterfahrung zurückgenommene Bedeutung der Liebesnacht.“ 21 Dabei übersieht Wehdeking aller- 21 Wehdeking, Monika Marons rückläufige Erwartungen, S. 145. <?page no="113"?> 111 dings die integrierende Funktion dieser Szene, die die Rückkehr in die Stadt und damit den Neuanfang Johannas erst ermöglicht. Damit ist die zentrale Frage des Romans aber nicht beantwortet: Wie kann ein Lebenskonzept für die zweite Lebenshälfte gefunden werden? Wie kann eine weitergehende Veränderung nach der Abkehr vom pejorativen Alterskonzept in Johannas Leben konkret aussehen? Wie kann sie sich aus vorgeschriebenen Rollen befreien und ihre Biographie neubzw. umschreiben? Diese Frage stellt sich angesichts des Alters von Marons Protagonistin auf eine neue Weise. 22 Sie stellt aber nicht nur den Leser am Ende von Marons Buch vor ein Rätsel, sondern trieb auch die Autorin selbst um, sodass sie beschloss, die Geschichte von Johanna Märtin in einem zweiten Buch weiterzuverfolgen. 23 Dabei sah sie sich einem grundlegenden erzähltechnischen Problem gegenüber. War der Roman Endmoränen durch die Konzentration auf die Sichtweise von Johanna bestimmt, so hätte ein Fortschreiben in dieser Weise keinen wesentlichen Erkenntnisgewinn ermöglicht. Am Ende ihrer langen Suche nach einer Fortsetzungsmöglichkeit stand folgende Entdeckung: Vorgestern nacht erklärte ich C., daß Johanna am Ende in Tegel sitzt und wartet, daß ich allerdings immer noch nicht weiß, ob ich in der ersten oder dritten Person erzählen will. C. sagte, das sei aber wichtig. Ich sagte, natürlich sei das wichtig, trotzdem wisse ich es nicht. Außerdem fände ich diesen ganzen Schluß ziemlich unsinnig. [...] Johanna wartet nicht, Johanna fliegt ab, nach Mexiko zu Natalia Timofejewna, mit dem Hund; und Achim, ihr Mann, hat sie zum Flugzeug gebracht. Und Achim erzählt. Achim ist das Ich und erzählt über Johanna in der dritten Person. Ich fand den Einfall genial und erwartete, daß C. genau das sagen würde: das ist genial. Statt dessen sah er mich eher verwundert an, zog, um Zeit zu gewinnen, wieder an der Pfeife und fragte: Kannst du das denn? 24 Der angedeutete Perspektivwechsel ist nicht nur als Korrektiv zu Johannas Selbstwahrnehmung interessant, sondern auch zur Überprüfung ihrer Alterswahrnehmung. 25 Wirkt sie tatsächlich so alt, wie sie sich fühlt? Die in 22 Die Frage nach der weiblichen Geschlechtsidentität und den Möglichkeiten ihrer Neu-Einschreibung oder ›Re-Materialisierung‹ findet sich in allen Romanen Marons. Aufgrund der Frage, wie sich Weiblichkeit jenseits der Wechseljahre definieren lässt, erhält diese Thematik in Endmoränen und Ach Glück eine neue Ausrichtung. Vgl. zu den früheren Romanen: Lewis, ›Die Sehnsucht nach einer Tat‹. 23 Maron, Wie ich ein Buch nicht schreiben kann, S. 9. 24 Ebd., S. 91f. 25 Vgl. zum Einfluss des Perspektivwechsels auf die Alterswahrnehmung Miriam Haller: Die ›Neuen Alten‹. Performative Resignifikation der Alterstopik im zeitgenössischen Reifungsroman. In: Alterstopoi. Das Wissen von den Lebensaltern in Literatur, Kunst und Theologie. Hrsg. von Dorothee Elm u.a. Berlin 2009, S. 229-247. <?page no="114"?> 112 der Frankfurter Poetikvorlesung behandelte Frage, wie es möglich sein kann, den Roman Endmoränen fortzusetzen, ohne noch einmal die gleiche Geschichte zu erzählen, ist auch für die Überlegungen zur Selbstwahrnehmung Johannas interessant. In Endmoränen übernahmen die Briefe des alten Bekannten Christian P. die Funktion eines Korrektivs. Bot er Johanna einen Einblick in männliche Wahrnehmungen in der Lebensmitte, so trägt sein freundschaftlicher Ton, der von Johanna als liebevolle Annäherung interpretiert wird, dazu bei, dass Johanna ihre Situation in einem neuen Licht sieht. Zwar führt seine vorsichtige Kritik dazu, dass sie aufgrund ihrer emotionalen Empfindlichkeit den Kontakt wieder abbricht, dennoch tragen seine freundschaftlichen Ermahnung und seine offene Benennung ihres Aufenthalts im Ferienhaus als selbstgewählte „Verbannung“ (E 222) dazu bei, dass Johanna nach Berlin zurückkehrt. Dass er mit der Bemerkung, sie werde mit jedem Brief fünf Jahre älter, auch ihr Selbstverständnis in Frage stellt, nimmt er entweder bewusst in Kauf oder sieht in der schonungslosen Beschreibung seiner Wahrnehmung den einzig möglichen Ausweg aus Johannas Selbstmitleid. War Christian P. in doppeltem Sinne als Korrespondenzfigur angelegt, die zunehmend individuelle Züge erhielt, so dient Johannas Ehemann Achim aufgrund seines anderen Lebens- und Alterskonzeptes als Kontrastfigur zu Johanna. Spricht Johanna in Endmoränen in Bezug auf sich selbst von Alterskonservativismus (E 141), so vertritt Achim nicht nur klassische Altersvorstellungen, sondern er verkörpert zugleich ein traditionelles, auf die männliche Standardbiographie ausgerichtetes Alterskonzept. Seine Angst vor Spott aufgrund altersunwürdiger Verhaltensweisen und verinnerlichte Alterserwartungscodes werden als Motor der Triebunterdrückung entlarvt. 26 Spricht er selbst von seinem „biederen deutschen Verstand“, so mangelt es auch seiner Vorstellung vom Alter an Phantasie und Kreativität. Wie am Beispiel seiner Kollegen besonders deutlich wird, ist Achim die Karikatur eines Geisteswissenschaftlers - weltabgewandt, lebensuntauglich, ignorant. Johanna begegnet er weitgehend mit Unverständnis. Ihre Unzufriedenheit und Misslaunigkeit führt er auf ihr „schwieriges Alter“ zurück (AG 35) und enthebt sich somit selbst jeder 26 Vgl. hier die Überlegungen zu „Liebe und Sexualität“ oder Achims Überlegungen, was einem Mann in seinem Alter noch zustehe: „Auf den frisch ausgerollten Rasenflächen rund um den Brunnen lagerten Paare, Grüppchen und Einzelne; [...] Für einen Augenblick überkam ihn die Lust, selbst da zu sitzen, wenigstens zum Schein einer dieser unbekümmerten Müßiggänger zu sein. Aber welchen Anblick böte er zwischen all dieser frühlingsbesoffenen Jugend? Wie ein kreislaufschwacher Greis würde er sich ausnehmen oder schlimmer: wie einer, der sein Bild nicht kannte, oder gar wie ein Voyeur, der sich an der Ungeniertheit der Liebespaare ergötzte.“ (AG 88) <?page no="115"?> 113 Verantwortung, indem er die Wechseljahre als Erklärung für unerwartete Verhaltensweisen heranzieht. Mit dem Perspektivwechsel stellt sich zudem die Frage, ob dieser mit Schneiders Modell der Personenwahrnehmung vereinbar ist. Handelt es sich bei der Figur Johanna in den Endmoränen um eine hochgradig individualisierte Figur, deren Entscheidungen alle plausibel sind und keine irritierenden Merkmale aufweisen, so wird diese Individualisierung durch die Sicht Achims und seine Erklärungsversuche teilweise zurückgenommen. 27 Durch seine laienpsychologischen Erklärungsversuche und Rückführungen von Veränderungen auf traditionelle Weiblichkeitsvorstellungen erhalten die Ehe und die beiden Ehepartner exemplarische Funktion. Es steht nicht mehr nur die Frage nach Johannas persönlichem Lebensentwurf im Fokus des Interesses, sondern dieses wird ausgeweitet auf Fragen, die mit einem Abgesang auf einen idealtypischen Lebenslauf in Verbindung stehen: Welche Entscheidungen verändern einen Lebenslauf? Welche Chancen bestehen in einer Ehe in der Nachkinderphase? Ist ein Auf- oder Ausbruch im mittleren oder hohen Alter noch möglich? Ex negativo wird bestimmt, wie das gemeinsame Alter(n) eines Paares aussehen könnte. 2.1 Midlife progress novel? Zur Übertragbarkeit des angloamerikanischen Konzeptes Der Aufbruch der Figur Johanna bleibt im ersten Roman noch sehr verhalten. Das Auflesen eines Hundes an einer Autobahnraststätte kann schließlich noch nicht als Zeichen dafür gewertet werden, dass es Johanna auch gelingt, ihr Leben tatsächlich zu verändern. Im Roman Ach Glück zeigt sich, dass Johanna das von Igor verkündete Prinzip der neuen Anfänge verinnerlicht hat und sich gegen all das zur Wehr setzt, was ihren Alltag zunehmend sinnlos erscheinen lässt. Der Roman beginnt mit dem Abflug Johannas nach Mexiko, wo sie sich mit der bereits in Endmoränen eingeführten russischen Aristokratin Natalia Timofejewna 28 treffen möchte, 27 Die Problematik wird auch in Rezensionen aufgegriffen. So schreibt beispielsweise Ulrike Schuff: „Natürlich ist es geschickt, andere Erzählperspektiven zu wählen und nicht Johanna, wie in Endmoränen, als Ich-Erzählerin auftreten zu lassen. Nur leider bleibt diese Figur dadurch etwas blass, vermittelt sich ihre Motivation nicht wirklich“. Ulrike Schuff: Geborgte Utopien gegen die Ratlosigkeit. Mit Ach Glück setzt Monika Maron die Geschichte der Johanna Märtin aus Endmoränen fort. In: literaturkritik.de. Nr. 10. erschienen am 10.10.2007 [http: / / www.literaturkritik.de/ public/ rezension. php? rez_id=11247, gesehen am 17.04.2008]. 28 In der Schreibweise des Vornamens variiert Maron. Schreibt sie ihn in Endmoränen Natalja (E 188, u.ö.), so wählt sie in Ach Glück die Variante Natalia (AG 56, u.ö.). Um <?page no="116"?> 114 um die Künstlerin Leonora Carrington zu suchen. Das Überraschungsmoment ist Monika Maron gelungen. Die Leser von Endmoränen erkennen zwar in Johannas zweifelnden Überlegungen - „Wenn das so einfach ginge, dachte Johanna, sich ein Herz fassen; irgendein kräftiges, abenteuerlustiges Herz, das einem Vorübergehenden in der Brust schlug“ (AG 7) - die Selbstzweifel der Figur wieder, dennoch ist der Aufbruch nach Mexiko sehr überraschend. Zwar kann Johanna ihre Zweifel immer noch nicht ganz überwinden und gibt nur widerstrebend zu, dass es reine Neugier ist, die sie dem Lockruf von Natalia folgen lässt (AG 152), dennoch wird der Aufbruch im Gespräch mit dem ehemaligen Professor für Genforschung und Hobbylandwirt Hannes Strahl (AG 20f.) in Anlehnung an den Titel des Romans als Glückssuche beschrieben. Hannes wird bereits über die Namensgebung als Korrespondenzfigur zu Johanna eingeführt. Ihre Freundin Elli hatte vermittelt, dass Johannas Hund Bredow während ihres Mexikoaufenthalts bei Hannes unterkommt. Da er von Johannas Freundin Elli als „ein Beispiel für ein gelungenes Leben“ (AG 153) eingeführt wird, wird die Frage nach einem gelungenen Leben im Gespräch mit Hannes aufgeworfen. „[F[ollow your bliss“ (AG 154) so erläutert Hannes Johanna, ist sein Lebensmotto. Genauer kann ich es nicht erklären. Aber es war mein Bliss, was mich hierher, ins Oderbruch, geführt hat. Hätte ich erst lange überlegt und alle Möglichkeiten des Scheiterns erwogen, wäre ich wahrscheinlich mutlos geworden. Aber jetzt weiß ich, genau dieses Leben habe ich gewollt. Auch mein Entschluss, damals für dreiunddreißig Jahre in New York zu bleiben, entsprang nicht der Ratio, sondern einem starken Wunsch, eben meinem Bliss. Mich hat das Gefühl, dass es in mir diese sichere, dem üblichen Kalkül nicht unterworfene Instanz gibt, immer beruhigt. Etwas hat mich geleitet, und ich habe mich dem nicht widersetzt. (AG 154) Diese Beschreibung trifft auch auf Johannas Entscheidung zu. Zwar ist sie nicht bereit, ihre eigene Bedeutung anzuerkennen und versteht sich selbst als „den Schicksalsträgern dienende Füllmasse“ (AG 155), dennoch wird dieses mangelnde Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten durch ihren Aufbruch und die Fremdwahrnehmung der anderen Figuren wiederlegt. So äußert nicht nur Elli ihre Bewunderung über Johannas Mut (AG 17), sondern auch ihre Tochter Laura sieht in der Reise nach Mexiko den lange fälligen Ausbruch aus einer unbefriedigenden Situation. 29 Der Aufbruch wird zum zentralen Handlungsmotiv. Dabei spielt der Grund für diesen letztendlich ebenso wenig eine Rolle wie Johannas Gefühl, dass diesem keine freie Wahl zugrunde liegt. nicht den Eindruck zu erwecken, dass es sich um unterschiedliche Figuren handelt, verwende ich im Folgenden die Variante Natalia. 29 „Ich bin froh, dass sie das macht, sagte Laura, einfach wegfliegen und sehen, was man findet. An ihrer Stelle wäre ich längst weg gewesen.“ (AG 174) <?page no="117"?> 115 Die Selbstzweifel Johannas sind darauf zurückzuführen, dass eine Entwicklung immer ein schmerzhafter Prozess ist. Die quälenden Erfahrungen, die mit diesem Aufbruch zum eigenen Selbst verbunden sind, werden im Roman auf unterschiedliche Weise angezeigt. Einerseits ist dies in Johannas zunehmend aggressivem Verhalten ihrem Ehemann gegenüber zu spüren, 30 andererseits zeigen Johannas Ängste und ihre Reflexionen während des langen Fluges ihre Unsicherheit. Neben der Flugangst ist es auch die Angst, dass ihr Aufbruch nicht mehr sein könnte als eine „kindische Flucht“, die „nichts daran ändern konnte[.], dass sie alt wurde, dass ihrer beider Leben ein für alle Mal seine Richtung genommen hatte und ihre Wünsche nicht mehr die gleichen waren.“ (AG 186) Einen neuen Lebensentwurf hat Johanna mit der Reise nach Mexiko noch nicht gefunden. Die vereinfachende Lektüre des Entwicklungsprozesses der Protagonistin als Bildungsprozess, wie sie Miriam Haller anhand des Modells der Übergangsriten von Arnold von Gennep vornimmt, wird dem Prozess der Herausbildung einer Altersidentität nicht gerecht. Wird die Möglichkeit einer Re-Integration zwar am Ende des Romans Endmoränen angedeutet, so zeigt sich im Roman Ach Glück, dass der Entwicklungsprozess der Figur noch lange nicht abgeschlossen ist. 31 Wie für Natalia bedeutet auch für Johanna der Flug nach Mexiko eine „Reise ins Ungewisse“ (AG 66). Indes werden das Land und vor allem Mexico City im Roman mit verschiedenen Assoziationen verknüpft, die als Prolepsen gelesen werden können. Neben der Lebensfreude der Lateinamerikaner und der Farbenpracht des Landes sind dies aber auch für die Biographie der alten Frau entscheidende Fragen wie z.B. die Ermordung Trotzkijs als entscheidender Wendepunkt in der Geschichte des Kommunismus (AG 128) und die von Natalia gestellte Frage, warum sie selbst so lange mit ihrem Ehemann zusammenlebte. 32 Lebensthemen, die auch der im Sozialismus sozialisierten Johanna nicht fremd sind. Die Hoffnung, die sich für Johanna mit dem Aufbruch verbindet, wird im letzten Satz des Romans angedeutet, der auf ein Gedicht von Meret Oppenheim anspielt: „Oh große Ränder an meiner Zukunft Hut.“ (AG 218) Darin drückt die Autorin mit spielerischer Leichtigkeit die Hoffnung auf eine großartige Zukunft aus. 30 „Sie wolle nur etwas wissen, sagte sie, und dann, weil er, ohne aufzusehen nur ja, bitte gesagt hatte, mit plötzlicher Wut: dreh dich wenigstens um. Er drehte seinen Stuhl mit einer kleinen Schwingung um hundertachtzig Grad. Mit einem vom Wein geröteten Gesicht und in einer ihm unerklärlichen Erregung fragte sie, ob er wirklich glaube, sie brauche einen anderen Grund als ihn und seinen Rücken und ihr ganzes trostloses Leben, um sich weit weg zu wünschen, nach Mexiko oder sonstwohin; [...].“ (AG 116f.) 31 Haller, Die ›Neuen Alten‹? , S. 238f. 32 „Fragen Sie mich nicht, meine Liebe, warum ich bis zum Ende bei Walter geblieben bin. Ich könnte einige Gründe nennen, auch Dankbarkeit, gewiss, aber auch solche, die weniger schmeichelhaft für mich wären.“ (AG 129f.) <?page no="118"?> 116 Darüber hinaus stellt sich aber aufgrund des syntaktisch unvollständigen Nonsens-Satzes auch die Frage, was für eine Art von Zukunft hier angesprochen sein könnte. Wird sie - wie das Requisit Hut andeutet - im Alltäglichen verharren oder über dies hinausgehen? Wird sie - wie die Farbe Rot signalisiert - noch eine neue Form der Liebe mit sich bringen? Die Reise nach Mexiko wird aber nicht nur als Suche nach dem eigenen Selbst, sondern auch als Auseinandersetzung mit der Frage des eigenen Alterns angesehen. Das Motiv der „Reise ins Ungewisse“ kann auch auf den Alternsprozess übertragen werden. Die Einladung bzw. Aufforderung, sie zu unterstützen, formuliert Natalia Timofejewna folgendermaßen: Wahrscheinlich fragen Sie sich, was eine wildfremde uralte Frau veranlasst, Ihnen ein Glück aufzuschwatzen, nach dem Sie sich vielleicht gar nicht sehnen. Etwas in ihren Zeilen erinnert mich an eigene Gemütsverfassungen früherer Jahre. Dieses heillose Erschrecken, wenn man zum ersten Mal den Vorhang lüftet und einen Blick auf die Kulisse für den letzten Akt des eigenen Lebens wirft. [...] Gemessen an mir, liebe Freundin, sind Sie jung, aber der Schrecken, das spüre ich, hat Sie schon gepackt. Überdies fürchte ich, meine Reise, die wahrscheinlich meine letzte gewesen sein wird, könnte mir, wenn ich erst wieder zu Hause bin, wie ein schöner Traum entfliehen. Sie aber wären meine Zeugin, und wir könnten uns für eine Weile noch gemeinsam erinnern. (AG 163f.) Das Gespür der alten Frau trügt nicht. Das in Endmoränen dargestellte resignative Einsiedlertum war ja tatsächlich auch auf Johannas Konfrontation mit dem eigenen Altern, auf den Blick hinter den Vorhang, zurückzuführen. Obwohl die alte Dame Johanna noch nicht persönlich gesprochen hat, nimmt sie sie in ihre Obhut und lässt damit nicht zu, dass Johanna sich weiterhin im Kreis ihrer eigenen Gedanken dreht. Das Freundschaftsangebot macht Johanna beim Mexikoabenteuer zu einer gleichberechtigten Weggefährtin. Die Suche nach dem eigenen Selbst, die für die Figur der Natalia mit der Reise nach Mexiko als dem Ort, an dem sie in ihrer Jugend glücklich war, verbunden ist, überträgt sich damit auf Johanna. „Natalia und Leonora verabreichen Johanna im Geist das Gegengift zur Alters-Resignation“, 33 so beschreibt Wolfgang Schneider die Wirkung des Lockrufs Natalias nach Mexiko. Den Wunsch, aus den „eingefahrenen Lebensspuren“ noch einmal aufzubrechen, bewertet er dabei allerdings sehr skeptisch. Warum, so stellt sich die Frage, spricht aus vielen Rezensionen zu Marons Roman Ach Glück eine Sympathie für den verlassenen Ehemann 34 und ein Misstrauen gegenüber der in ihrem 33 Schneider, Hund und Helfer. 34 Vgl. z.B. Ijoma Mangold: Der Hund in meinem Leben. Der nächste Desillusionsroman: Monika Marons Ach Glück. In: Süddeutsche Zeitung vom 17.08.2007; Günter Franzen: Auftrumpfende Trostlosigkeit. Mit dem Roman Ach Glück beschwört Monika Maron das Ende des Paarlebens - und vergisst dabei die Liebe. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 02.09.2007. <?page no="119"?> 117 Wohlstand 35 unzufriedenen Johanna? Warum wurde der Roman einer desillusionierten Mittfünfzigerin als „Elegie einer Selbstfindung“ 36 gelobt und dem anschließenden Eheroman wird mit Skepsis begegnet? Zwar erweckt die Figur des verlassenen, weltfremden Wissenschaftlers durchaus Mitgefühl, doch scheint mir die kompromisslose Bewertung seines Verhaltens durch seine Tochter (AG 174f.) ebenso zutreffend wie die kritische Zeichnung der Figur im Verlauf des Textes. Die Figur Achim besteht aus einem recht großen Merkmalssatz. Doch obwohl sie individualisiert ist, ist sie sehr einfach zu entschlüsseln. Als an der Universität beschäftigter Wissenschaftler hat sich Achim der Kleistforschung verschrieben. Er zeichnet sich durch eine pragmatische Lebenshaltung aus und nimmt sich selbst nicht als einmalig, sondern als kleines Teilchen in einem großen Kreislauf wahr. 37 Achim erkennt nicht nur die Wünsche und Gefühle seiner Frau nicht, sondern erklärt ihre Unzufriedenheit und Misslaunigkeit mit ihrem „schwierigen Alter“ (AG 35). Damit legt er symbolisch die Hände in den Schoß und lässt den Dingen ihren Lauf. Anhand der erinnerten Gespräche mit Johanna wird aufgezeigt, dass er jedem Konflikt aus dem Weg geht und ihre ernsthaften Fragen nicht beantwortet. Am Ende des Romans erinnert er sich an den Tag, an dem er die Nachricht vom Tod seiner Mutter erhielt. 38 Das Gefühl, seiner Mutter nicht gerecht geworden zu sein und ihre Liebe nicht erwidert zu haben, steht auch am Ende seiner Suche nach einer Antwort auf den Grund für Johannas Reise nach Mexiko: Und nun war es zu spät für alles, unwiderruflich. Den ganzen Tag war er gegen die Endgültigkeit angelaufen, an diesem Dienstag vor fast dreißig Jahren. Wie heute. Nur dass Johanna noch lebte. (AG 206) 35 „Man lebt in einem der reichsten Länder der Welt, in einem der besten Wohnviertel der Hauptstadt, man frühstückt am Morgen im Einstein, diniert am Abend mit den Professoren der Humboldt-Universität, besitzt ein Landhaus im Grünen, weiß das einzige Kind gut versorgt und fliegt, sofern die Unterbringung des Hundes gesichert ist, zwischendurch für ein paar Tage nach Mexiko City. Dass diese Frau ein akutes Glücksproblem hat, glaubt ihr allenfalls noch ihr Friseur.“ Iris Radisch: Mein Leben im intellektuellen Vorruhestand. Berlin 2007: Monika Maron erzählt in Ach Glück von der schwierigen Suche nach Sinn - und von einer Ehe, die im Grunde längst vorbei ist. In: Die Zeit vom 02.08.2007. 36 Ralph Gambihler: Von der räudigen Lust, mit Desillusionierungen zu leben. In Monika Marons neuem Roman ticken Uhren - historische und biologische. In: ›Doch das Paradies ist verriegelt...‹. Hrsg. von Elke Gilson. Frankfurt a.M. 2006, S. 238-243. [Erstveröffentlichung in: Leipziger Volkszeitung vom 05.09.2002]. 37 Vgl. das Gespräch zwischen Johanna und Achim über Sehnsucht. Hier vertritt er folgende Position: „Er sagte, dass dem, der die Wiederkehr des Ewiggleichen durchschaue, nur die Ironie bliebe, um mit seiner Nichtigkeit fertigzuwerden.“ (AG 72) 38 Damit wird das Mutter-Motiv aus Endmoränen wieder aufgegriffen. Vgl. dazu die Überlegungen auf S. 132ff. <?page no="120"?> 118 Im Gegensatz zu Achims zielloser Suche nach einer Antwort - die durchaus Johannas Zustand in den Endmoränen vergleichbar ist - wird Johanna durch ihr aktives Handeln positiv bewertet, da sie den Weg aus der Alter(n)sdepression findet. Das Motiv des Aufbruchs, sozusagen „From the Hearth to the open Road“ 39 - wie Barbara Frey Waxman ihre Untersuchung zu Altersdarstellungen in der zeitgenössischen Literatur benennt - ist das zentrale Handlungsmoment im Roman Ach Glück und bildet damit einen Gegensatz zum Stillstand in Endmoränen. Grund für die Skepsis der Literaturkritiker und Literaturkritikerinnen diesem Aufbruch gegenüber könnte sein, dass er anders als die vielfach positiv bewertete Rückkehr in den Alltag am Ende von Endmoränen herkömmliche Alterskonzepte ebenso unterläuft wie traditionelle Weiblichkeitsmuster. Der subjektive Weltschmerz, wie er für die 1970er und 1980er Jahre charakteristisch war und z.B. in Christa Wolfs Roman Nachdenken über Christa T. 40 aus dem Jahr 1971 zum Ausdruck kommt, ist in Marons Roman immer noch erkennbar. Jedoch ist er in der Literatur der Jahrtausendwende ziellos, da der Wunsch nach persönlichem Glück und Selbstverwirklichung in Abgrenzung von der Gesellschaft entwickelt wurde. 41 Für die junge Generation - verkörpert durch Johannas Tochter Laura - ist dies relativ unproblematisch. Die in der Nachkriegszeit sozialisierten Frauen müssen diese neue Freiheit erst entdecken und für sich nutzen lernen. Dies erscheint umso schwerer, als die Gesellschaft als restriktives System immer mehr an Bedeutung verliert. Vor allem für Frauen sind die neuen Möglichkeiten der Lebensgestaltung ungewohnt und in ihrer Auswirkung noch nicht absehbar. Dennoch entwickeln sie zunehmend Mut, Neues auszuprobieren. So ist es nicht der Mann, der seine Frau wegen einer Jüngeren verlässt, um mit dieser noch einmal eine neue Familie zu gründen, sondern die Frauen verlassen ihre Männer, um aus einem unbefriedigenden, ritualisierten Alltag auszubrechen. Wirkte die kurze sexuelle Affäre mit Igor in Endmoränen als Allheilmittel, so stellt die Rückkehr zu Achim die Ehe als Idealform der Paarbeziehung nicht in Frage. Dagegen deutet die Autorin in Ach Glück an, dass Johanna nicht zwangsläufig zu Achim zurückfindet, da sie sich entfremdet haben und ihre Lebensentwürfe - so zumindest die Sichtweise der Protagonistin - nicht mehr in Einklang zu bringen sind (AG 186). Der geschilderte Kampf um Selbstverwirklichung der älter werdenden Frau scheint mir in seiner positiven Konnotation ein neues Motiv in der Literatur zu sein. Blieb der Frau beispielsweise in Handkes autobiographischem Roman Wunschloses Unglück aus dem Jahr 1972 als „neutrales 39 Barbara Frey Waxman: From the Hearth to the Open Road. New York, Westport, London 1990. 40 Christa Wolf: Nachdenken über Christa T. Darmstadt 1971 [EA Halle 1968]. 41 Vgl. zur Literatur der „Neuen Subjektivität“: Irmgard Scheitler: Deutschsprachige Gegenwartsprosa seit 1970. Tübingen, Basel 2001, S. 127ff. <?page no="121"?> 119 Wesen“ 42 nach der Lebensmitte nur Resignation oder Suizid, so sieht die Situation zu Beginn des neuen Jahrtausends wesentlich optimistischer aus. 43 Es ist nicht die ›unwürdige Greisin‹, die nach dem Tod ihres Mannes ihre eigenen Wünsche verfolgt, sondern die Nachelternphase wird dazu genutzt, die Weichen für den weiteren Lebenslauf neu zu stellen. Da es sich aufgrund des demographischen Wandels und des zunehmend gesünderen Alter(n)s dabei um eine Phase von dreißig Jahren und mehr handeln kann, erscheint die Suche nach einem neuen Lebens- und Alterskonzept in dieser Lebensphase konsequent. Mit dieser thematischen Ausrichtung schreibt sich Monika Maron mit ihren Romanen in die Geschichte der sogenannten midlife novel ein. Diese wurde von Margaret Morganroth Gullette Ende der 80er Jahre anhand amerikanischer Beispiele beschrieben. Die Literaturwissenschaftlerin grenzt zwei verschiedene Ausformungen des Genres, in dessen Fokus das (späte) mittlere Lebensalter steht, voneinander ab: midlife decline narratives und midlife progress novels. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist die Beobachtung, dass die soziokulturelle Entwicklung in der literarischen Darstellung des mittleren Lebensalters eine „decline story“ 44 bedingt. Der Protagonist dieser Erzählung zeichnet sich durch folgende Eigenschaften aus: [M]idlife decline narratives, whatever else they do, put their surrogate adult in a victim’s position - always too childlike-helpless against the dragons of the world, whether outer or inner: sometimes too vulnerable to live, sometimes unable to enjoy living, often brought to desire to end life, and, in every case, too helpless to be able to make the life in her or his charge a progress over obstacles. Keeping this alternative in mind will prevent us from objecting a priori to the relatively benign endings of progress narratives. 45 Im Gegensatz der Modelle von decline und progress scheinen die Extreme der Altersdarstellungen - Verherrlichung und Verfall der Lebensphase Alter - auf und werden zur Gattungsbestimmung herangezogen. Von Bedeutung für die Untersuchung von Altersdarstellungen in der Gegenwart ist, dass die Kontinuität des Lebenslaufes betont wird. Bereits im mittleren Lebensalter wird die Lebensphase Alter vorbereitet. Dabei betont Gullette, dass das Menschenbild, das den beiden Richtungen der midlife novel zugrunde liegt, differiert. Wird bereits das mittlere Lebensalter als Zeit des Rückschritts empfunden, so liegt dieser Betrachtung ein Konzept 42 Peter Handke: Wunschloses Unglück. Erzählung. Frankfurt a.M. 2001 [EA 1972], S. 35. 43 Handkes Erzählung wird hier exemplarisch gewählt, da er den Schreibanlass - den Selbstmord seiner Mutter - als Ausgangspunkt nimmt, um ihre Lebensgeschichte mit dem „Formelvorrat für die Biographie eines Frauenlebens“ (S. 40) nachzuerzählen. Damit konzentriert er sich auf das Exemplarische an ihrer Lebensgeschichte. 44 Margaret Morganroth Gullette, Safe at Last in the Middle Years. Berkeley 1988, S. XV. 45 Ebd., S. XX. <?page no="122"?> 120 zugrunde, das in der anglistischen Forschungsliteratur gerne mit dem Konzept des Bildungsromans erklärt wird. 46 Mit der im klassischen Bildungsroman beschriebenen Heranbildung einer jungen Figur zu einem vollwertigen, in die Gesellschaft integrierten Mitglied ist ihre Entwicklung abgeschlossen. Demzufolge ist auch im Erwachsenenalter keine nennenswerte geistige und/ oder körperliche Entwicklung mehr zu erwarten. 47 Die Vorboten des Rückschritts zeigen sich in den körperlichen Veränderungen der mittleren Lebensphase. Der Gegenentwurf zu diesem Konzept - der von allen neueren Entwicklungstheorien vertreten wird - beschränkt die menschliche Entwicklung nicht auf Kindheit und Jugend, sondern sieht den gesamten Lebenslauf als Entwicklungsprozess. Folgt man Gullettes Argumentation, so sind diese Vorstellungen des Alterns als Stagnation oder gar Rückschritt in der Entwicklung fest im kulturellen Gedächtnis verankert. Am Beispiel des traditionellen Motivs des Zahnausfalls 48 weist sie nach, dass es zwar nicht einfach ist, ein traditionelles Bild umzuwerten, dass aber gerade die Literatur das Potenztial hat, die positive Sichtweise des mittleren Lebensalters nicht nur zu vertreten, sondern auch zu etablieren. Eine Ausdifferenzierung des Modells der midlife progress novel findet sich in der Untersuchung von Erzählungen des mittleren Lebensalters von Linda Westervelt. 49 Die Autorin geht von einem siebenstufigen Prozess aus, der seinen Ausgangspunkt in der Erfahrung, alt zu sein, hat, die mit einer tieferen Erschütterung einhergeht und zu einer verstärkten Phase der Selbstbeobachtung und des Lebensrückblicks führt. Die Begegnung mit einer jungen Figur, für die die ältere meist zum Mentor wird, und einer zweiten erschütternden Erfahrung des Selbst führen zur Herausbildung einer Altersidentität und der Annahme des eigenen Schicksals. 50 Romane, die diesem Modell folgen, bezeichnet Westervelt als age novels oder altersromane und grenzt es im Folgenden von dem bereits von Morganroth Gullette kritisierten Begriff des Bildungsromans ab: 46 Vgl. hierzu Barbara Frey Waxman, die in Analogie zum Bildungsroman für das mittlere Lebensalter den Begriff Reifungsroman vorschlägt. Vgl. Frey Waxman, From the Hearth to the Open Road. 47 Gullette, Safe at Last in the Middle Years , S. XXI-XV. 48 „To prize something that is usually treated (in myth, folklore, and modern literature) as a bad sign of aging - that is what a lover or a good friend does. In fiction, this is one of the human services of the Bildungsromane of the middle years. Its assured and savvy advocacy of a neglected or maligned stag of life belongs at the beginning of any characterization of the genre. But that function scarcely suggests the cultural audacity of the genre. It dares to prize the middle years more than earlier stages of life.” [Hervorhebung im Original, M.S.] Ebd., S. 4f. 49 Linda A. Westervelt: Beyond Innocence or the altersroman in modern fiction. Columbia 1997. 50 Ebd., S. 18f. <?page no="123"?> 121 However, just as the term bildungsroman means that the character experiences some psychological change but does not stipulate the extent of his or her selfknowledge, so too the term altersroman as it is used her means that the character is engaged in the review that comes with the recognition of mortality in later middle age but does not stipulate the extent of the reconciliation. 51 Das zentrale Element des altersromans, wie ihn Westervelt versteht, ist damit die Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben, die ausgelöst wird durch die Erfahrung der Endlichkeit. Das Motiv des Memento Mori erhält damit eine besondere Funktion im Kontext dieser Gattungsdefinition. Irreführend ist diese Bestimmung insofern, als weder die von Morganroth Gullette betonte Situierung dieses Prozesses im späten mittleren Erwachsenenalter auftaucht, noch die Tatsache thematisiert wird, dass die Protagonisten nicht alt sind. Wie ich gezeigt habe, macht Marons Protagonistin Johanna einen Entwicklungsprozess durch, der alle von Morganroth Gullette beschriebenen Voraussetzungen erfüllt. Wie von der amerikanischen Wissenschaftlerin beschrieben, greift Maron traditionelle Topoi - wie z.B. das Alter als Winter des Lebens - auf und stellt deren anerkannte Wertung in Frage. Die von Morganroth Gullette betonte Überlegenheit der Lebensphase Alter über die Lebensphase Jugend findet sich bei Maron allerdings nicht. Die Protagonistin vergleicht sich zwar wiederholt mit ihrer Tochter und überlegt, was sie an ihrer Stelle machen würde, dennoch ist keine Bewertung der unterschiedlichen Lebensabschnitte zu beobachten. Vielmehr werden diese als qualitativ anders geartet vorgestellt und daher nicht in eine Hierarchie gebracht. Am Beispiel der Romane Marons wird zudem ersichtlich, dass der Vergleich mit der Lebensphase Jugend aufgrund der völlig anderen Voraussetzungen und Erfahrungen prekär ist. Der Versuch der Übertragung des Modells des Bildungsromans auf die midlife novel ist zwar plausibel zur Erklärung des psychologischen Entwicklungsbegriffs, indes übersieht die literarische Begriffsbildung, dass zugleich mit der Gattung in der Epoche der Weimarer Klassik auch schon die Gegenform des Anti- Bildungsromans mit Karl Philipp Moritz’ autobiographischem Roman Anton Reiser (1785-90) entstanden ist. Der von Morganroth Gullette gewählte Begriff der midlife progress novel ist als Beschreibung für die Romane des mittleren Lebensalters insofern adäquat, als er im Gegensatz zu Barbara Frey Waxmans in Anlehnung an feministische Überlegungen Beauvoirs entwickelten Begriff des Reifungsromans 52 nicht von einer grund- 51 Ebd., S. 21. 52 „In the past three decades, increasing numbers of female fiction writers in the United States, Britain, and Canada have taken up de Beauvoir’s dual challenges concerning women and the elderly. They have created a whole new genre of fiction that rejects negative cultural stereotypes of the old woman and aging, seeking to change the society that created these stereotypes. This new genre has been created by women writing about aging women for receptive readers in a rapidly aging society, just as its <?page no="124"?> 122 sätzlich positiven Entwicklung und einer impliziten Zuschreibung von Altersweisheit ausgeht, da im Wort progress auch die Bedeutung eines normalen Ablaufs enthalten ist. Für den Fall einer positiven Entwicklung im Sinne eines Lernprozesses im mittleren Lebensalter wählt Morganroth Gullette in Anlehnung an die germanistische Begriffsbildung die verfängliche Form des midlife Bildungsroman. 53 Hier stellt sich die Frage, wie die teleologische Ausrichtung des Bildungsromans im Alter umgesetzt werden soll. Die Integration des Heranwachsenden als vollwertiges Mitglied in die Gesellschaft könnte im Alter lediglich mit einer Ausgliederung aus der Gesellschaft - trotz der Entwicklung? - korrespondieren. Damit wäre die Entwicklungsgeschichte allerdings sinnlos. Morganroth Gullette greift diese Fragestellung am Ende ihrer Untersuchung noch einmal auf: The nature of midlife desire at the Bildungsroman figures it has to present a problem to our culture. On the whole, midlife desire in progress fiction is not generic and ›universal,‹ [sic] like the desire youth Bildungsromane are traditionally based on, to leave home, to be married or to become in one of very few other ways a culturally sanctioned adult. No, midlife desire risks idiosyncrasy. […] However symbolic these outcomes (of mental freedom, surprised contentment with the real, the importance of the social fabric, discovery of identity; or all of the above), they don’t look normal. These outcomes don’t affront conventional notions of desire, but they exist at a slant from it - a healthy independent slant. 54 Die Gemeinsamkeiten zwischen der jugendlichen Entwicklungsphase und dem Alter wird hier mit dem Begriff „desire“ umschrieben. Sehnsucht ist also das vereinende Element. Es zeigt sich in Bezug auf Marons Romane, dass dieses Motiv mit vielen Figuren in Verbindung gebracht werden kann. In Endmoränen ist es die Tochter Laura, die sich für einen Schwangerschaftsabbruch entscheidet, um ihren Lebensplan zu erfüllen. Wird Johanna in Endmoränen von einer nicht fassbaren Sehnsucht umgetrieben, so wird diese mit dem überraschenden Aufbruch der Figur in Ach Glück auch auf der Handlungsebene fassbar. Achims Sehnsucht wird durch seine Faszination durch das Bild Das Balkonzimmer von Adolf Menzel symbolisiert. Die Auseinandersetzung mit dem Bild und seiner Wirkung auf ihn führt textimmanent zur Infragestellung seiner ironischen Lebenshaltung (AG 71-73). Es ist der Glaube an die „Verheißung von Glück“ (AG 73), der predecessor, the Bildungsroman, was widely read by a more youthful society. Like the Bildungsroman, this new genre displays unique characteristics of form, tone, narrative perspective, characterization, theme, plot, an imagery. I call this genre, in a feminist literary critic’s act of naming, the Reifungsroman, or novel of ripening - , opposing its central tenet to the usual notion of deterioration in old age.” Frey Waxman, From the Hearth to the Open Road, S. 2. 53 Gullette, Safe at Last in the Middle Years , S. 146. 54 Ebd., S. 164. <?page no="125"?> 123 die Protagonisten antreibt und junge und alte Figuren in Bezug auf ihren Entwicklungsprozess vergleichbar macht. Aufgrund der zentralen Bedeutung des Sehnsuchtsmotivs werden die Unterschiede in der Entwicklung der Lebensaltersgruppen im Erwachsenenalter nivelliert. Daher ist es schwierig, die beiden Romane von Monika Maron eindeutig in das von Morganroth Gullette umrissene Schema von progress und decline oder in ein anders geartetes polarisierendes Modell der Altersdeutungen 55 zu integrieren, da sich beide Erfahrungen des Alter(n)s die Waage halten, ja eine emotionale oder intellektuelle Entwicklung im Rahmen des Alter(n)sprozesses nicht von der negativen Erfahrung des körperlichen Abbaus zu trennen ist. Die Lebensphase Alter und ihr Erleben durch den Einzelnen - so zeigen Marons Romane - hängen von vielen Faktoren ab: Neben den biographischen Voraussetzungen und der psychischen Disposition der Figur spielen auch geschlechtsspezifische Erfahrungen und Liebeskonzepte eine zentrale Rolle. Hier scheint mir die Gegenwartsliteratur der Jahrtausendwende weiter zu sein, als die von Morganroth Gullette untersuchten Romane. War es Ende der 1980er Jahre ein zentrales Anliegen, die mittlere Lebensphase als positiv und lebenswert darzustellen und aufzuwerten, so ist die gegenwärtige Sichtweise differenzierter, da sie aufzeigt, dass auch eine positive Bewertung des mittleren Lebensalters Bewältigungsstrategien für erste Alter(n)serscheinungen entwickeln muss. 56 Glaubwürdige Romane des mittleren Lebensalters müssen also verschiedene Facetten des Alter(n)s umfassen. Aufgrund der diskutierten Probleme der unterschiedlichen Definitionsversuche scheint der inhaltlich offene Begriff der „Erzählung des mittleren Lebensalters“ oder midlife novel am geeignetsten, um die unterschiedlichen Romanformen zu benennen. 2.2 Das Ende der ›unwürdigen Greisin‹? Zur Entwicklung weiblicher Figurenmodelle Ein literarisches Vorbild für die Figur der Johanna und die in den beiden Romanen verhandelte Eheproblematik gibt es meines Wissens in der deutschsprachigen Literatur nicht. Die Probleme des mittleren Lebensalters stehen in der deutschsprachigen Literatur selten im Fokus des Interesses. Thomas Manns Novellen Der Tod in Venedig und Die Betrogene zeigen das Altern als zerstörerischen Prozess und sind daher als Paradebeispiele der midlife decline novel nicht als Hypertexte für Marons Roman lesbar. Auch die inzwischen in den Kanon aufgenommene Behandlung des Themas durch Martin Walser mit seiner Novelle Ein fliehendes Pferd aus dem Jahr 55 Vgl. Göckenjan, Das Alter würdigen; S. 31f. 56 Die Psychologie bezeichnet diese Bewältigungsstrategien als Coping-Verfahren. <?page no="126"?> 124 1978 betont eher die negative Seite des Alterns am Beispiel zweier rivalisierender Protagonisten. Hier kann man von einer literarischen Ausgestaltung der klassischen männlichen Midlife-Crisis sprechen. Der Familienpsychologe Günter Franzen vergleicht Johanna mit Flauberts Emma Bovary, „eine Figur, die, infiziert durch den maßlosen Konsum romantischer Mantel-und-Degen-Literatur, in sich ein extremes Liebesideal errichtet, das an der Konfrontation mit der gemeinen Welt und den gemeinen Männern zerbricht.“ 57 Zwischen beiden Figuren sehe ich keine Ähnlichkeit. Johanna zerbricht zum einen nicht, sondern sucht einen Ausweg aus ihrer Situation. Zum anderen ist die Versuchsanordnung bei Maron eine völlig andere als bei dem französischen Autor Flaubert. Ist es bei Letzterem die Enttäuschung durch die Ehe und ihren Ehemann selbst, die zur Desillusionierung der Protagonistin führt, so ist es bei Maron die Suche nach einem Lebensentwurf für die zweite Lebenshälfte, die die Figur Johanna umtreibt. Die Auseinandersetzung mit ihrem Ehemann ist daher nur ein Konfliktfeld unter anderen. In diesem Rahmen wird auch die Frage verhandelt, welche Funktion der Ehe in dieser Lebensphase zukommt und wie sich Ehepartner im Laufe der Zeit verändern können. 58 Diese Thematik behandelt in einer anderen Versuchsanordnung Barbara Bronnens Roman Am Ende ein Anfang. 59 Bronnen beschreibt am Beispiel von zwei alten Menschen, die im jungen Erwachsenenalter heftig ineinander verliebt waren, sich dann aber getrennt und aus den Augen verloren haben, wie ein Neubeginn im Alter gewagt werden kann. Der Briefroman thematisiert sowohl die negativen als auch die positiven Aspekte des Alter(n)s und der Wahl eines neuen Lebenspartners, bewertet aber den reflektierten Neuanfang - symbolisiert durch den Einzug in eine gemeinsame Wohnung - im hohen Lebensalter positiv. 60 Monika Maron beschränkt sich nicht - wie Barbara Bronnen - auf die Gestaltung zweier alter Figuren. Die Suche nach einem Lebensentwurf für das Alter wird vielmehr durch die Verkörperung verschiedener möglicher Modelle anhand unterschiedlicher Frauenfiguren thematisiert. Alle diese Altersrepräsentationen beleuchten eine Facette von Johanna bzw. ein von ihr erwogenes Alterskonzept. Die alte Bäuerin Friedel Wolgast ist die zentrale Altersrepräsentation in Endmoränen. Ihre Position zu Johanna ist nicht eindeutig zu bestimmen. Sie 57 Franzen, Auftrumpfende Trostlosigkeit. 58 Vgl. ebd. 59 Barbara Bronnen: Am Ende ein Anfang. Roman. Zürich 2006. 60 Nach Fertigstellung der Dissertation erschien Arno Geigers Roman Alles über Sally, der mit der Ehe im mittleren Lebensalter eine ähnliche Thematik behandelt. Hier wird die Bedrohung der ehelichen Gemeinschaft symbolisch durch einen Einbruch in die familiäre Wohnung angezeigt. Nach einer Affäre mit dem Mann ihrer besten Freundin entscheidet sich Sally letztendlich dafür, bei ihrem Mann zu bleiben. Vgl. Arno Geiger: Alles über Sally. Roman. München 2010. <?page no="127"?> 125 enthält einerseits Eigenschaften, die mit denen Johannas korrespondieren, andererseits lassen Momente ihrer Charakterisierung einen starken Kontrast in der Konzeption der Figur erkennen. Die Bekanntschaft mit Friedel Wolgast machte Johanna schon kurz nach dem Kauf des Sommerhauses in Basekow. Die alte Frau hatte erfahren, dass die neuen Hausbesitzer irgendetwas mit Büchern zu tun haben und bat Johanna um Hilfe bei der Beschaffung eines Bandes von Grimms Märchen, die sie ihren Enkelkindern vorlesen wolle, so wie bereits ihre Großmutter ihr aus den Kinder- und Hausmärchen vorgelesen hatte (E 61). Damit wird Friedel Wolgast als der Tradition verhaftet gezeigt, aber zugleich in der Rolle der Großmutter eingeführt. Nach dem Tod ihres Mannes lebt sie allein im Dorf. Da ihre Kinder und Enkel alle in der Stadt leben, hat sie keine Ansprechpartner und vereinsamt zunehmend: Das Gefühl, einsam zu sein, ist eine innere Wahrnehmung. Wenn niemand da ist, oder niemand mehr da ist, den man lieben könnte, den man hassen müßte, ist man einsam. Liebesgefühle finden keine Erwiderung; die Sexualität bleibt leer. Haß hat kein Ziel mehr, zerbricht an der Aussichtslosigkeit, an der Ohnmacht zu siegen. 61 Diesem existenziellen Gefühl begegnet die alte Frau dadurch, dass sich ihre gesamte Energie auf die Auseinandersetzung mit dem benachbarten Akademiker richtet, der sich nach der Wende ein Wochenendhaus im Dorf zugelegt hat und für Friedel die Störung in der Ordnung der Dorfwelt verkörpert, denn er hält sich nicht an die dörflichen Regeln und ist auch nicht am Kontakt mit anderen Dorfbewohnern interessiert. Nachdem er in unmittelbarer Nähe von Friedels Heuschober ein Feuer gemacht hat, das bei der alten Frau Ängste um die eigene Sicherheit weckt, hat sie dem Mann den Kampf angesagt: Is nischt so alleine, sagte Friedel mit einem kurzen wehen Blick, und dieser verfluchte Kerl, hast ja wohl jehört, macht mir dat Leben zur Hölle. Neulich erst wieder, dieser Dreckskerl, der. (E 61f.) In der Schilderung zeigt sich der Hass auf den fremden Nachbarn als zentraler Lebensinhalt der einsamen alten Bäuerin. Damit wird eine bedeutende Großmuttereigenschaft, die Bewahrung der Ordnung, ins Absurde gewandt. 62 Zwar wird die Situation der verwirrten alten Frau aus Sicht Johannas harmonisierend dargestellt, dennoch stellt sich die Frage, ob 61 Paul Parin: Drohende Einsamkeit. In: Altern braucht Zukunft. Hrsg. von Birgit Hoppe und Christoph Wulf. Hamburg 1996, S. 201-208, hier S. 201. 62 „Veränderungen gehen von den Großmüttern nicht aus, sie bleiben Bewahrerinnen und Hüterinnen einer gewissen Ordnung, so fragwürdig diese auch erscheinen mag. Dadurch wirken sie stabilisierend, beruhigend und weise. Ihr Wissen ist Lebensweisheit: entstanden und zusammengefügt durch Überlieferung, Gottesfürchtigkeit, Humanität, Naturverbundenheit und praktischen [sic! ] Fähigkeiten.“ Herrmann, Großmutter - große Mutter. Frankfurt a.M. 1992, S. 20. <?page no="128"?> 126 ihr Verhalten nicht krankhaft ist und eventuell sogar auf ein Isolationsparanoid 63 hinweist. Ist es gerade die fehlende Aufgabe, die Friedel Wolgasts Einsamkeit und damit ihr Herausfallen aus der dörflichen Ordnung bedingt, so hat eine andere alte Figur damit keine Probleme. Natalia Timofejewna ist die älteste Figur und verfügt damit über die größte Lebenserfahrung. Aufgrund ihres ereignisreichen Lebens kennt sie verschiedene Lebensmodelle, hat für sich selbst aber ein sehr konservatives gewählt. Nach einer aufregenden Jugend im Umkreis der Surrealisten in Paris und Mexiko hat sie viele Jahre ein Leben an der Seite eines SED-Funktionärs geführt. Nach dessen Tod besinnt sie sich auf ihre Herkunft aus dem russischen Adel, beginnt noch einmal zu malen und führt wieder ihren Mädchennamen. Als Figur taucht sie bereits in Marons Roman Endmoränen auf. Dort wird sie von ihrem Landsmann, dem Galeristen Igor, eingeführt. Er geht dabei auf die wichtigsten Stationen ihres Lebenslaufs ein und kommt dann zu folgender Bewertung: Natalja Timofejewna, sagte Igor, sei noch heute, mit fast neunzig Jahren, anzusehen, daß sie eine auffallende Erscheinung gewesen sein müsse, vor allem ihr Profil ließe noch immer eine gewisse Kühnheit erkennen. [...] Die Fürstin war natürlich bis zur Zeitenwende in der Kommunistischen Partei, schon wegen ihres Mannes und der Rente. Und nun sitzen ihre alten Genossen, unter dem Vorwand, sie zu betreuen, in ihrer Wohnung herum und warten auf den Augenblick zwischen Todesangst und geistiger Umnachtung, in dem es ihnen gelingen könnte, das Vermögen der Fürstin für die Parteikasse zu retten. (E 189- 191) Natalia Timofejewna wird also als hilfsbedürftige Frau eingeführt. Zwar ist noch immer zu erkennen, dass sie in ihrer Jugend eine auffallende Persönlichkeit - und hier ist vermutlich in erster Linie eine wunderschöne junge Frau gemeint - war, aber in der Gegenwart scheint sie eher bedauernswert zu sein. So verbindet auch Johanna mit Natalia das Bild einer schrullige[n] alte[n] Frau in einem erdfarbenen Sessel, eine Decke über den mageren Beinen, umgeben von allerlei Zierat, russischen Lackmalereien und afrikanischen Holzplastiken, die an ihrem Tee nippte, zu besonderen Gelegenheiten an einem Likör, wehrlos den Aasgeiern ausgeliefert, die sie hofierten. (AG 58) Zeigt diese Schilderung Johannas konservative Vorstellungen vom Leben einer alten Frau, so wird der Leser ebenso wie Johanna im Lauf der Lektüre von den Eigenschaften und Handlungen der Greisin überrascht. Das von Johanna imaginierte Alterskonzept trifft nicht zu, denn die alte Dame ist gerade spontan und ohne jemanden davon zu informieren, nach Mexiko 63 Emrich, Alter(n) ohne Vorbild, S. 110. <?page no="129"?> 127 aufgebrochen, um ihre Jugendfreundin, die Malerin und Schriftstellerin Leonora Carrington, zu suchen. Ausgelöst wurden ihre Reisepläne durch eine Rundfunksendung über die Autorin. Als Johanna Igor für einige Wochen in der Galerie vertritt, kommt sie selbst in Kontakt mit der alten Frau. Die Charakterisierung Natalias erfolgt anschließend in erster Linie implizit über ihre Briefe und E-Mails. Faszination übt sie auf Johanna nicht nur aufgrund der sepiabraunen Tinte und der schwungvollen Handschrift aus, sondern auch aufgrund ihres mutigen Aufbruchs und der interessanten Erlebnisse, die sie aus Mexiko schildert. „Diese Natalia Timofejewna,“ so schreibt der Kritiker Ijoma Mangold, „eine Klischeefigur ohne jedes Leben, fasziniert zum Erstaunen des Lesers Johanna derart, dass sie sich in den Flieger setzt und nach Mexiko aufbricht.“ 64 Da die alte Dame, wie Christian P. in Endmoränen, nur als Briefpartnerin auftaucht, ist die Figur naturgemäß eher schattenrissartig gezeichnet. Dennoch kann man nicht von einer „Klischeefigur“ sprechen, denn die unkonventionelle Greisin, die sogar einen Raubüberfall fasziniert beschreibt, entspricht keiner herkömmlichen Altersdarstellung. Zwar glaubt man auf den ersten Blick, die Figur gehöre in die Reihe der ›unwürdigen Greisinnen‹, doch sie trägt vielmehr Züge des phantastischen Personals von Leonora Carringtons Buch Das Hörrohr, 65 das sie Johanna als Vorbereitung auf die Reise ans Herz legt (AG 107). Die Beschreibung der Protagonistin Marian Leatherby aus Carringtons Roman, so ist zu vermuten, dient Natalia als Vorbild. Bei diesem Roman handelt es sich wohl um einen der ersten Pflegeheimromane. 66 Das unkonventionelle Leben in dem geschilderten Heim entspricht dem Natalias. Indem die Greisin das surreale Vorbild in die erzählte Gegenwart übersetzt, wird sie selbst zum Vorbild für Johanna - sowohl in Bezug auf den realen Aufbruch nach Mexiko als auch in Hinblick auf die Entwicklung einer Altersidentität. Die Angst vor dem Alter wird auf diese Weise überwunden. An der Figur der Natalia zeigt sich am offensichtlichsten, dass das Figurenmodell der ›unwürdigen Greisin‹ in der Gegenwart überholt ist. Sie hat keine Kinder, die ihre (finanzielle oder ideelle) Unterstützung in Anspruch nehmen könnten. Dass es auch für Frauen mit Kindern keine familiären Verpflichtungen mehr geben wird, zeigt sich am Beispiel von Johannas Tochter Laura. Diese befürwortet Johannas Selbstverwirklichungswünsche und benötigt ihre Hilfe nicht, da sie ihr Leben selbstständig und unabhängig organisiert. Die Toleranz der jungen Generation ermöglicht also die Unabhängigkeit der älteren Generation. Sie kann aber 64 Mangold, Der Hund in meinem Leben. 65 Leonora Carrington: Das Hörrohr. Roman. Aus dem Englischen von Tilman Spengler. Frankfurt a.M. 1986 [Original: The Hearing Trumpet. Paris 1974]. 66 Zur Definition dieser Gattung vergleiche Teil II Kapitel 6.1. Dort findet sich auch eine kurze Inhaltsangabe des Romans. <?page no="130"?> 128 auch als Zwang empfunden werden, die Verantwortung für die Neudefinition des eigenen Lebens- und Alterskonzeptes selbst übernehmen zu müssen. Im Gegensatz zu Friedel Wolgast hat Natalia keine Probleme, mit der Einsamkeit im Alter umzugehen, sondern sucht sich z.B. durch den Besuch von Malkursen neue Beschäftigungsfelder (AG 133). Damit widerspricht sie aber keinen gesellschaftlichen oder familiären Normen. Deren Bedeutung nimmt in der Gegenwart der Jahrtausendwende zunehmend ab. Am Beispiel der Figur Friedel Wolgast ebenso wie an Johannas Freundinnen, die bereits im mittleren Lebensalter weder feste Paarbeziehungen noch Kinder haben, zeichnet der Text diese gesellschaftlichen Veränderungen nach. Wenn es aber kein kollektives Modell für ein würdiges Altern mehr gibt, so kann auch keine Auflehnung dagegen stattfinden. Die alte Frau ist damit in eine Freiheit entlassen, die es ihrer eigenen Kreativität überlässt, wie sie mit dieser Situation umgeht. Diese Leerstelle hinterlässt auch Spuren in der Gegenwartsliteratur. Ist ein Figurenmodell wie das der ›unwürdigen Greisin‹ nicht mehr zeitgemäß, so müssen andere Modelle entworfen werden, um alternde und alte Figuren zu beschreiben. Monika Marons Roman Endmoränen ist somit einer der ersten Texte der Gegenwartsliteratur, der dieses Dilemma bzw. diese neue Freiheit thematisiert. Die Ursache für die Neugestaltung weiblicher Altersrepräsentationen in der Gegenwartsliteratur sehe ich aber nicht - wie Marlene Kuch dies für die französische Literatur annimmt 67 - in der Tatsache begründet, dass zunehmend mehr Frauen literarisch tätig sind und somit den männlichen Texten weibliche Selbstentwürfe entgegenhalten können. Die veränderte Sicht auf das weibliche Alter - inwieweit dies auch männliche Figuren betrifft, wird die Analyse männlicher Figuren zeigen - ist vielmehr auf einen kulturellen Wandel zurückzuführen. Diese soziokulturellen Veränderungen zeichnet Maron in ihren Romanen nach. Am Beispiel des bereits erwähnten Verhältnisses von Kontinuität und Diskontinuität in der Biographie der Protagonistin sowie der Vorstellungen von Ehe und Sexualität und der Problematik des Klimakteriums möchte ich im Folgenden anhand der zentralen altersspezifischen Themenfelder herausarbeiten, welche Merkmale für neue weibliche Altersrepräsentationen herangezogen werden. 67 Kuch verweist zudem darauf, dass auch die Leserinnen nach neuen Heldinnen verlangen, sodass auch von diesen ein verstärktes Interesse an älteren, positiv gezeichneten Protagonistinnen gezeigt werde. Da Frauen bereits in den letzten Jahrhunderten den großen Anteil der Leser ausgemacht haben, würde ich in der geänderten Leserinnenerwartung kein Argument für die Zunahme alternder Protagonistinnen sehen. Marlene Kuch: Die Zukunft gehört den Rebellinnen. Die neuen alten Frauen bei No lle Châtelet, Claude Pujade-Renaud und Teresa Pàmies. In: Alter und Geschlecht. Hrsg. von Heike Hartung. Bielefeld 2005, S. 211-233, hier S. 212. <?page no="131"?> 129 Gravur der Greisenhaftigkeit - der biographische Diskurs Wie bereits in der Frage nach den Lebenskonzepten für die Zeit nach der Lebensmitte angeklungen ist, kommt der Frage nach der Bedeutung der biographischen Prägung in Monika Marons Oeuvre eine maßgebliche Funktion zu. Im Gegensatz zu früheren Romanen thematisiert Endmoränen aber keinen einschneidenden Wendepunkt im Leben der Protagonistin, sondern das schleichende Fortschreiten der Zeit. Wendepunkte - wie z.B. der Tod der Freundin Irene - werden erst nachträglich als solche definiert bzw. in ihrer Wichtigkeit erkannt. Die nachträgliche Bedeutungszuschreibung erklärt die Protagonistin als typisch für ihren Umgang mit der eigenen Lebensgeschichte und als wichtiges Mittel, um sich selbst der eigenen Biographie noch einmal zu vergewissern: [I]ch führte ein Doppelleben, ein wirkliches und ein erzähltes, wobei sich das eine vom anderen kaum unterschied, nur verstand ich, was ich erlebt hatte, erst, indem ich es erzählte oder mir vorstellte, was geschehen wäre, hätte ich die jeweils andere Entscheidung getroffen oder wäre ich nicht Achim, sondern einem anderen Mann begegnet oder in einer anderen Stadt geboren oder auf dem Land; und ob ich dann die gleiche Person geworden wäre oder eine andere, in die Achim sich gar nicht hätte verlieben können. (E 91) Aber neben den sprachlichen Zeichen, die zum Verständnis der eigenen Lebensgeschichte aufgerufen werden, gibt es auch andere Zeichensysteme, die Aufschluss über das Vergehen der Zeit geben. Ein solches Zeichensystem wird bereits zu Beginn des Romans implizit genannt: Vielleicht war es auch meine Erleichterung am Morgen, wenn ich, ohne nach dem Grund zu fragen, alle nackte Haut wieder verhüllen durfte, so daß kein zufälliger Blick, weder mein eigener noch der eines anderen, die in grellem Sonnenlicht schon sichtbare Gravur der Greisenhaftigkeit auf meiner Haut entdecken konnte. (E 26) Monika Marons Figur Johanna befindet sich in einer Sinnkrise. Mit der Metapher der „Gravur der Greisenhaftigkeit“ wird diese sowohl thematisiert als auch in ihrer Mehrdeutigkeit offengelegt. In der metaphorischen Verbindung von Schrift und Körper wird einerseits die mit dem Alter zunehmend offensichtlicher werdende „Unterworfenheit des Körpers unter die Zeit“ 68 zum Ausdruck gebracht. Zugleich wird der Körper auch als „Archiv der Vergangenheit“ 69 gesehen, in das sich die Geschichte seiner Besitzerin einschreibt. In den Bemühungen, den eigenen 68 Hanna Eglinger: Der Körper als Palimpsest. Freiburg 2007, S. 31. 69 Diese Umschreibung wählt Alison Lewis in ihrer Interpretation des Romans Animal triste. Auch dieser Roman beginnt mit einer intensiven Auseinandersetzung mit dem gealterten Körper der Protagonistin. Allerdings wird die körperliche Liebe dort als Grund für den Rückzug aus der Welt angenommen. Vgl. Lewis, ›Die Sehnsucht nach einer Tat‹, S. 87. <?page no="132"?> 130 Körper zu bedecken, 70 zeigt sich also der Wunsch, sich nicht mit der eigenen Geschichte auseinandersetzen zu müssen. Dass Johanna in der Lage ist, in Körpern zu lesen, zeigen ihre (Selbst- )Beobachtungen. Darüber hinaus thematisiert sie dies auch in einem Brief, den sie an ihren Ehemann Achim schreibt, aber nicht abschickt. Ihre Beziehung zu Achim ist zunehmend von seinem nach der Wende geweckten wissenschaftlichen Ehrgeiz beeinträchtigt: Am Schreibtisch sitzend, sieht Johanna von ihm nur noch seinen Rücken: „Wie ich früher in Deinem Gesicht gelesen habe [...] so kann ich inzwischen die Schatten, Biegungen und Verkrampfungen Deines Rückens deuten.“ (E 58) Wird dem Gesicht traditionell die Fähigkeit zugeschrieben, die Emotionen seines Besitzers zu spiegeln, so wird dem Rücken normalerweise nicht nur keine Aufmerksamkeit zuteil, sondern er steht auch metonymisch für die Abkehr vom anderen. Was Johanna in Achims Rücken entdeckt, ist daher nicht nur der krampfhafte Ehrgeiz des Kleist-Forschers, sondern auch sein Desinteresse am Körper seiner Frau, von dem er sich abwendet. Als Biographin ist Johanna auf das Lesen und Entschlüsseln von Lebensspuren trainiert. Aber die Biographie eines Menschen stellt für sie keinen Wert an sich dar. Wie sich das eigene Leben ungewollt in ihren Körper eingeschrieben hat, so nutzt sie die Lebensgeschichten der von ihr porträtierten Frauen, um diesen ihren Widerstand gegen das politische System einzuschreiben. Hier offenbart sich also nicht nur das grundsätzliche Dilemma des biographischen Schreibens, dass nämlich Biographien immer aus der Sicht der eigenen Gegenwart und um diese zu erklären, verfasst werden, sondern auch die Bredouille, in der sich Johanna befindet: Die Ausrichtung ihres Daseins auf den Kampf gegen das politische System, in dem sie ›sozialisiert‹ wurde, versperrt ihr den Blick auf andere Möglichkeiten. Insofern hat ihr Ehemann nicht unrecht, wenn er behauptet, sie „sei geistig deformiert infolge erzwungener defensiver Denkgewohnheiten“ (E 56). Sie ist tatsächlich nicht in der Lage, nach der als „Wunder“ (E 40, 41, u.ö.) erlebten politischen Wende ein neues Lebenskonzept zu entwickeln. Vielmehr wird die Wende - wie die Literaturwissenschaftlerin Martina Ölke an der lautlichen Verschiebung in den Termini Wunde[r] und Wende aufzeigt - als Wunde erfahren. 71 Somit reflektiert der Roman als einer der ersten sogenannten Nachwenderomane die Situation der Menschen in Ostdeutschland. Einerseits schienen sich ihnen mit der Wende jede Menge neuer Möglichkeiten aufzutun, 70 Ein weiteres Beispiel wäre die Aussage von Johanna, dass sie nicht mehr duscht, sondern unter einer Decke aus Schaum badet, um ihren Körper nicht sehen zu müssen (E 27). 71 Martina Ölke: Reisen in eine versunkene Provinz. Die DDR in der literarischen Retrospektive. In: Wende des Erinnerns? Hrsg. von Barbara Beßlich. u.a. Berlin 2006, S. 209-224, hier S. 222. <?page no="133"?> 131 andererseits war gerade die mittlere Generation aufgrund ihrer Sozialisation in der ehemaligen DDR von den neuen Möglichkeiten überfordert, ihre Lebensgewohnheiten schon so festgefahren, dass es ihnen kaum mehr möglich war, ein neues Lebenskonzept zu entwerfen oder Lebensträume zu verwirklichen. Mit der politischen Veränderung und dem Leben in einer Demokratie stellt sich die Frage nach der eigenen Biographie auf eine neue Weise. So wird im Roman Ach Glück immer wieder die Frage nach der Willensfreiheit gestellt: Folgen die Menschen nicht einfach vorbestimmten Wegen oder beruht das eigene Leben auf einer freien Wahl? Damit in Zusammenhang gebracht wird auch die Frage, ob sich im männlichen Lebenslauf mehr Entscheidungsmöglichkeiten bieten als im weiblichen. Johanna lehnt für sich selbst das Modell der Willensfreiheit ab. Sie interpretiert ihr eigenes Leben in Anlehnung an die Biographie der surrealistischen Künstlerin Leonora Carrington als Abfolge von Ereignissen, die sie nicht zu verantworten hat, weil ihr jegliche Entscheidungsmöglichkeit fehlt. Sie [Johanna, M.S.] war genau so wahllos ordentlich, wie Leonora außerordentlich war, und wahrscheinlich hat es nicht einmal eine Kreuzung gegeben, an der sie den falschen Weg gewählt hat. Auch wenn sie sich gewünscht hatte, bedenkenloser und wilder zu sein, war der Wunsch immer abstrakt geblieben, und ihre Phantasie hatte ratlos Ausschau gehalten nach einem passenden Feld, auf dem sie sich so ungewohnt hätte bewähren können. Aber jetzt, dachte Johanna, jetzt fliege ich nach Mexiko. Ich fliege nach Mexiko, weil Leonora Natalia dahin gezogen hat; und Natalia mich. (AG 112f.) Die Reise nach Mexiko wird von Johanna als Suche nach dem „Wilde[n] und Bedenkenlose[n]“ (AG 110) interpretiert, eine Charaktereigenschaft, die sie an sich selbst vermisst. Indem sie sich auf den Weg nach Mexiko macht, macht sie sich auf zur Erkundung ihrer eigenen, im Alltag abhanden gekommenen Sehnsüchte und Wünsche. Ob diese auch erfüllt werden und ob sie in Mexiko tatsächlich ihr Glück findet, wie Achim ironisch in Frage stellt (AG 198), spielt keine Rolle, da bereits der Aufbruch ein Moment des Glücks beinhaltet und Johanna aufgrund ihrer Lebenserfahrung die kindliche Glücksvorstellung nicht mehr teilen kann: Ach Glück, hatte sie nur gesagt, eigentlich nicht gesagt, eher geseufzt, versetzt mit einem kleinen harten Lachen, ach Glück, als sei ihr dieses Wort schon vor langer Zeit entfallen und als erinnere sie sich gerade in diesem Augenblick an seinen Klang, ach Glück, und als sei er schuld, dass ihr ein so kostbares Wort bedeutungslos geworden war. (AG 198f.) Ebenso wie Natalia scheint auch Johanna erst nach der Lebensmitte in der Lage zu sein, sich von einer als Vorherbestimmung erfahrenen weiblichen Standardbiographie zu lösen. Der Generation ihrer Tochter ist diese Lösung schon früher möglich. Laura entscheidet sich gegen den Willen ihres Partners dazu, eine Schwangerschaft abzubrechen und stattdessen <?page no="134"?> 132 ihre Karriere als Physikerin weiterzuverfolgen. Für Laura hat das Leben ihrer Mutter, die „Biographie eines Frauenlebens“ 72 des 20. Jahrhunderts, keine Vorbildfunktion mehr. Je mehr sich die Vorstellung einer Standardbiographie auflöst, umso stärker variieren die Lebensentwürfe der unterschiedlichen Lebensphasen. Dies hat auch Einfluss auf die Wahrnehmung und Vorbereitung auf die Lebensphase Alter. Ist diese grundsätzlich die Lebensphase, die am wenigsten normiert ist, so wird sie durch die Freiheit frührer Lebensphasen in ihrer Gestaltung noch offener. Dies kann eine Chance sein, kann aber den alternden Menschen auch überfordern. Dies zeigt sich z.B. an den Konzepten von Ehe und Familie, die Monika Maron in ihren Romanen entwickelt. Erotischer Abfallhaufen? Liebe und Sexualität in Anbetracht des Alter(n)s Johannas Briefpartner Christian P. hat einen sehr nüchternen Blick auf das mittlere Lebensalter. „Die einzige Entscheidung, die uns noch freisteht, ist die Ehescheidung als letzte mögliche Veränderung. Ich vermute, daß nur darum, weil nichts anderes mehr geht, so viele Menschen über fünfzig einander verlassen.“ (E 221) Wenn aber die Ehe nur noch als Grund für eine Veränderungsmöglichkeit angesehen wird, welche Bedeutung hat dann die Liebe im Erwachsenenalter? „Es geht um Liebe.“ (AG 38/ 39/ 41) Dieser von Johanna in einem Gespräch zusammenhanglos geäußerte Satz, wirkt auf den ersten Blick kryptisch. Der rational denkende Achim hat keine Ahnung, was er darauf entgegnen soll - noch schlimmer: Er kann sich gar nicht mehr daran erinnern, wie er darauf reagiert hat. Leitmotivisch durchzieht der Satz den Roman Ach Glück und versinnbildlich damit, was Johanna fehlt: Zuwendung, Aufmerksamkeit, das Gefühl, begehrt zu werden. Wird sie von Karoline Winter in den Endmoränen darum beneidet, in einem Familienverband zu leben, so deutet bereits dieser Satz an, dass Johanna Karolines Sehnsucht nach Zärtlichkeit und Zuwendung durchaus teilt und damit die Ehe als Lebens- und Liebesgemeinschaft in Frage stellt. 73 Monika Maron thematisiert in den beiden Romanen um Johanna Märtin aber auch, dass es kein alleingültiges Konzept dessen gibt, was Liebe ist. So wie das eigene Lebenskonzept immer wieder neu entworfen oder zumindest revidiert werden muss, so verändert sich auch das Liebes- 72 Handke, Wunschloses Unglück, S. 40. 73 Auf ihren künstlerischen Erfolg angesprochen, entgegnet Karoline: „Mein Erfolg reicht für die Tage, sagte sie, an manchen macht er mich sogar glücklich, aber für die Nächte, wenn du wach liegst und einen Sinn hast für kosmische Entfernungen und wenn du schrumpfst zu weniger als einem Punkt, zu einem schwerelosen, unsichtbaren Nichts im Durchflug und dir nichts mehr wünschst, als daß jemand dich berührt oder sich berühren läßt, damit du weißt, daß du wirklich da bist, dafür reicht er nicht.“ (E 184f.) <?page no="135"?> 133 konzept im Lebenslauf. Dies wird im Gespräch zwischen Achim und seiner Tochter Laura angesprochen: Liebe verändert sich im Lauf der Zeit, sagte er. Und ist dann immer noch Liebe oder was? Er hätte wissen müssen, dass dieser Satz in den Ohren seiner Tochter keinen Bestand haben würde, wagte trotzdem den nächsten: Ja, auch. Oder nenn es achtungsvolle Zuneigung. Sie hielt ihr Glas in beiden Händen, ließ den Wein darin kreisen, sah ihn immer noch nicht an. Du meinst Liebe in einem anderen Aggregatzustand. Wasser in anderem Aggregatzustand ist Eis oder Dampf. Was meinst du, Eis oder Dampf? Und dann fragst du, was sie in Mexiko will. Vielleicht wollte sie ja nur in die Sonne. (AG 175f.) Gegenüber seiner Tochter Laura muss sich Achim der Frage stellen, was aus seiner Ehe geworden ist. Seine Erklärung, dass auch die Liebe sich ändert, wird von Laura insofern nicht akzeptiert, als sie nicht bereit ist, anzuerkennen, dass die Ehe ihrer Eltern aufgrund ihrer Dauer nicht mehr von Liebe geprägt und getragen sein soll, sondern lediglich auf „achtungsvoller Zuneigung“ beruhe. 74 Den Fatalismus ihres Vaters kann Laura nicht nachvollziehen. Wie die von Achim angeführte „achtungsvolle Zuneigung“ aussieht, veranschaulicht ein Wortwechsel zwischen Achim und Johanna. Beim Frühstück kommen die beiden auf das Thema Sehnsucht zu sprechen. Auf Johannas Frage, ob er keine Sehnsucht verspüre, reagiert Achim ausweichend: Doch, nach dir, immer nur nach dir, hatte er geantwortet, seine Tasse in das Spülbecken gestellt, Johanna auf die Stirn geküsst und sich, wie jeden Morgen, an seinen Schreibtisch begeben. (AG 73) Jenseits der bereits herausgearbeiteten Bedeutung des Sehnsuchtsmotivs exemplifiziert diese Szene nicht nur, dass die Alltagsrituale - wie hier die väterliche Geste des Stirnkusses - keine Bedeutung mehr haben, zudem zeigt sich in der Diskrepanz zwischen Handlung und Aussage auch beispielhaft das verletzende Potenzial von Achims Verhalten. Die von der Tochter Laura gebrauchte Eismetapher trifft das Verhältnis zwischen den beiden Ehepartnern sehr genau. Die von Achim verwandte Phrase der „achtungsvollen Zuneigung“ verweist aber auch auf ein weiteres zentrales Problem: Sexualität als körperliches, soziales, individuelles und vor allem 74 Entrüstet wirft Laura ihrem Vater vor: „Ich habe schon ewig nicht mehr gesehen, dass ihr euch umarmt oder küsst. Ihr seht überhaupt nicht mehr aus wie Leute, die sich lieben. Ihr habt auch kaum noch Besuch wie früher, in der alten Wohnung, als ihr bis in die Nacht geredet und getrunken habt. Jetzt sitzt jeder allein in seinem Zimmer, oder du in Berlin und sie in Basekow.“ (AG 175) <?page no="136"?> 134 auch beziehungsgerichtetes Phänomen 75 wird von ihm in seiner Bedeutung für die zweite Lebenshälfte und eine funktionierende Beziehung völlig ausgeblendet. Dass Sex als Indikator für eine funktionierende Beziehung angesehen werden kann, gilt nicht nur für junge Paare. Je länger ein Paar zusammen lebt, umso mehr uneingestandene Wünsche und Verletzungen können die Beziehung ebenso wie die gemeinsame Sexualität beeinträchtigen. Im Fall von Johanna und Achim handelt es sich nicht nur um alltägliche Verletzungen, mit denen Johanna konfrontiert wurde, sondern eine Affäre Achims mit einer wesentlich jüngeren Frau. Diese war gewissermaßen der Katalysator, um die Ehe schneller an den von Laura beschriebenen Gefrierpunkt zu bringen. Dieser Zusammenhang lässt sich in Achims Beschreibungen nachvollziehen. Johannas sexueller Enthusiasmus war versiegt. Auch die gelegentlichen Liebesakte zwischen ihnen gestalteten sich eher freundschaftlich vertraut als leidenschaftlich, und wann Johanna zum letzten Mal ein sexuelles Begehren hat erkennen lassen, wusste er gar nicht mehr. Manchmal ergab sie sich seinem Drängen, mehr nicht. Seit sechs oder sieben Jahren war das so, seit der Geschichte mit Maren, obwohl Johanna behauptete, an Maren so gut wie niemals mehr zu denken. Sie wisse nur nicht, wie sie, nachdem er sie den ganzen Tag behandelt hätte wie irgendein Möbelstück, sich in der Nacht aus einem Möbelstück wieder in eine Frau verwandeln sollte, sagte sie. (AG 98) Allein dieser kurze Passus verdeutlicht, woran die Beziehung zwischen Johanna und Achim zugrunde zu gehen droht: Lieblosigkeit bestimmt den Alltag, körperliche Nähe ist ein Ausnahmezustand. Damit geht die Beziehung der beiden weit über die für die abendländische Tradition typische Behandlung der Alterssexualität als nicht mehr erstrebenswerter sinnlicher Genuss, dem die intellektuelle Weiterbildung vorgezogen werden sollte, hinaus. 76 Dass Johanna kaum mehr an Maren denkt, bestätigen die Passagen aus ihrer Innenperspektive. Somit ist die Affäre nur der Auslöser für ein grundlegendes Problem, das die Bedeutung der Sexualität im mittleren und hohen Alter als wichtigen Teil von Lebensqualität betont. Andererseits zeigt gerade die Sexualität, die eine Form der völligen Hingabe an den anderen sein sollte, Johannas innere Widerstände. Achim erinnert sich an die Zeit nach seiner Trennung von Maren: Nach einiger Zeit zog Johanna zwar wieder vom Sofa in ihrem Arbeitszimmer in das gemeinsame Schlafzimmer, aber, so schien es ihm jedenfalls, hatte sie ihn seitdem niemals mehr umarmt, auch nur berührt, bevor er sie umarmt hatte. Und selbst wenn sie miteinander schliefen, wirkte sie verhalten, in jedem 75 Vgl. Monika Kirsten-Krüger: Alter, Liebe, Sexualität - Psychotherapeutische Interventionsmöglichkeiten. In: Jenseits des Zenits. Hrsg. von Pasqualina Perrig-Chiello und François Höpflinger. Bern, Stuttgart, Wien 2000, S. 119-144. 76 Vgl. Leopold Rosenmayr: Altern im Lebenslauf. Göttingen, Zürich 1996, S. 113ff. <?page no="137"?> 135 Augenblick ganz bei sich, als müsse sie darauf achten, nichts von sich zu verlieren. (AG 148) Die Zurückhaltung Johannas bezieht Achim nicht auf sich oder die ihr zugefügten Verletzungen, sondern erklärt sie sich auf seine rationale Art damit, dass Frauen im Klimakterium die Lust an der Sexualität verlören (E 149). Johannas Einwand, dass „Frauen nicht [...] ohne Liebe vögeln wollten“ (E 149) versteht er nicht. Dass seine Nähe für sie schmerzhaft sein könnte, nimmt er nicht wahr. Ein Motiv für seine Rücksichtslosigkeit könnte Gewohnheit sein, ein anderes, dass er davon ausgeht, dass Johanna eigentlich froh sein müsste, dass er weiterhin mit ihr zusammenlebt und ihr somit das Schicksal der verlassenen Ehefrau erspart. Grund hierfür könnte sein, dass er sich nicht vorstellen kann, dass „ein anderer Mann [...] in ihr die Verkörperung seiner Sehnsüchte erkennen“ könne oder dass „sie in einem Mann, der sie nicht vor zwanzig oder dreißig Jahren gekannt hatte, ein Gefühl der Rührung hätte wecken können.“ (AG 47f.) Die Vorstellung der Entsexualisierung des Alters ist ebenso tief in Achims Denken verwurzelt wie ein Überlegenheitsgefühl des alternden Mannes gegenüber seiner aufgrund ihres Alters als unattraktiv empfundenen Frau (AG 48). Die uneingeschränkte Anerkennung, die Johanna in der Beziehung zu Achim nicht findet, erlebt sie mit ihrem Hund. Dies thematisiert sie einerseits selbst, andererseits weist auch Igor Achim darauf hin: „Wenn Johanna über Liebe spricht, dann redet sie über den Hund, oder umgekehrt: wenn sie über den Hund spricht, dann redet sie von Liebe“ (AG 124). Standen im Roman Endmoränen die Versuche, die Ehe zu retten, und die Desillusionierung nebeneinander, so wird mit Johannas Abflug nach Mexiko die Auflösung der ehelichen Gemeinschaft implizit vorweggenommen. Beide Entwicklungen, Rettungsversuch und Trennungsmotiv, werden anhand von Achims Mutter thematisiert. In der Biographie von Wilhelmine Enke entdeckt Johanna ein interessantes Phänomen. Nach dem Tod des gemeinsamen Sohnes gelingt es der ehemaligen Geliebten und Vertrauten König Friedrich Wilhelms, diesen durch scheinbare Geistergespräche mit ihrem Sohn in politischen Entscheidungen zu beeinflussen. Zu diesem Mittel greift sie, um den schädlichen Einfluss der Rosenkreuzer, die ebenfalls mit einem Medium arbeiten, dessen Botschaften sie dem König übermitteln, einzudämmen. Angeregt durch dieses Wissen berichtet Johanna in einem Telefonat mit Achim davon, dass sie von seiner Mutter geträumt habe: Sie hatte ein weißes Kleid an, schneeweiß und aus Atlas. Sie stand mitten im Zimmer, in blendend helles Licht getaucht, und sah mich nicht an. Sie sagte: Die Liebe ist keine Blüte, sondern eine Wurzel tief in der Erde, sage das meinem Sohn, das muß er wissen. Sie wollte weitersprechen, aber ich bin zu früh aufgewacht. Achim lachte und sagte, er freue sich, daß ich mit meiner Arbeit nun doch vorankäme und daß ich, falls seine Mutter mir noch einmal erschiene, <?page no="138"?> 136 geduldiger zuhören sollte. Bis dahin wolle er über die vergrabene Wurzel nachdenken. [Hervorhebung im Original, M.S.] (E 207) Zeigt Achims Lachen, dass er Johannas Aussage nicht ernst nimmt und damit auch ihr tieferes Anliegen nicht anerkennt, so zeigt sich ferner im Folgeroman, dass er das Versprechen, über die Wurzel nachzudenken, nicht erfüllt hat. Dabei ist das von Johanna gewählte Sinnbild gerade auch im Zusammenhang mit dem Aufenthalt in der herbstlichen Endmoränenlandschaft von besonderer Aussagekraft: Wird die Wurzel im Winter richtig gepflegt, dann kann man sich im folgenden Jahr wieder an ihren Blüten erfreuen. In gleicher Weise hat auch das Eheleben Zeiten der Ruhe und des Rückzugs auf sich selbst und Höhen, in denen beide Partner die Ehe als glückliche Zeit empfinden. Voraussetzung ist allerdings die richtige Pflege der ehelichen Beziehung. Daher ist es nicht unwichtig, dass Johanna die Bäuerin Friedel Wolgast danach fragt, wie diese ihre Dahlienwurzeln über den Winter bringt (E 66). Der einfachen Bäuerin scheint das Geheimnis, wie man eine Ehe lebt, noch vertraut zu sein. Den Stadtbewohnern hingegen ist dieses Wissen abhanden gekommen. Nachdem Achim nicht auf Johannas Angebot reagiert, hält der Roman ein unerwartetes Handlungselement bereit: Johanna verlässt Achim. Dass es sich bei Johannas Reise nach Mexiko um eine Trennung handeln könnte, wird von Achim am Ende des Romans befürchtet, wenn er seine Gefühlslage mit der am Todestag seiner Mutter vergleicht. Anstatt die mehrfach angedeutete und auch in der Fachliteratur 77 verbreitete These, dass Männer im mittleren Lebensalter ihre Frauen verlassen, um noch einmal eine neue Familie zu gründen (AG 38), zu belegen, sind es in Marons Romanen die Frauen, die einen neuen Anfang wagen. 78 Sie sind nicht mehr allein auf die Familie fixiert, sondern versuchen sich gerade im mittleren Lebensalter neu zu orientieren und sich selbst zu verwirklichen. Handelt es sich dabei um eine neue geschlechtsspezifische Wende? Dieser Frage werde ich im Folgenden nachgehen. Frauen im Klimakterium - Altern und Geschlecht Die Thematisierung von Weiblichkeitsdiskursen zieht sich durch Marons gesamtes Oeuvre. Durch die Auseinandersetzung mit geschlechtsspezifischem Alter(n) erhält diese Fragestellung in Marons jüngsten Romanen eine neue Dimension. Singulär ist diese Fragestellung weder im 77 Die auf den männlichen Lebenslauf bezogene These ist ein zentraler Argumentationspunkt in Hannelore Schlaffers Essaysammlung Das Alter. Ein Traum von Jugend, findet sich aber auch in anthropologischen und psychologischen Arbeiten. Hannelore Schlaffer, Das Alter. Ein Traum von Jugend. Frankfurt a.M. 2003. Vgl. bspw. Emrich, Alter(n) ohne Vorbild, S. 98. 78 Ein weiteres Beispiel ist Christian P.s Frau, die sich in einen fünfzehn Jahre jüngeren Finnen verliebt und ihren Ehemann verlassen hat. <?page no="139"?> 137 literarischen noch im gesellschaftlichen Diskurs. Seit Susan Sontags Essay The Double Standard of Aging 79 aus dem Jahr 1972 wurden die Unterschiede vor allem von feministischen Literaturwissenschaftlerinnen wie Margarete Morganroth Gullette, 80 Barbara Frey Waxman, 81 Kathleen Woodward 82 oder Roberta Maierhofer 83 theoretisch reflektiert und in Analysen erprobt. Die Kategorien ›gender‹ und ›age‹ sind aber wie kaum ein anderer Forschungsgegenstand von Vorurteilen und Klischees geprägt. Dies zeigt sich z.B. an der Reflexion und symbolischen Aufladung der Menopause als charakteristisches Merkmal der weiblichen Biographie. Mit der Menopause - so der Grundgedanke feministischer Analysen - sind Frauen insofern in besonderer Weise herausgefordert, als die körperlichen Veränderungen sie mit der Frage konfrontieren, was Frausein für sie bedeutet. 84 Die Wechseljahre sind nur eine von mehreren unwiderruflichen Veränderungen, die das andere Körperbewusstsein der Frau bedingen. Die Schriftstellerin Ursula K. Le Guin regten diese Überlegungen zu einer Gliederung des weiblichen Lebenslaufes in vier Phasen an. In Analogie zur Schwangerschaft als Alleinstellungsmerkmal der Frau beschreibt sie die ›vier Schwangerschaften‹ im Leben einer Frau: 1. Mit dem Einsetzen der Menstruation beginnt die Zeit der Gebärfähigkeit und damit das Frausein im biologischen Sinne. Ihren Abschluss findet diese Phase der sogenannten ›ersten Schwangerschaft‹ gewissermaßen mit dem Ende der Jungfräulichkeit. 2. Die erste Phase sieht Ursula Le Guin als Zeit der Vorbereitung auf die Gebärfähigkeit an. Allerdings, so gibt sie zu bedenken, ist die Bedeutung der Jungfräulichkeit heute nicht mehr gegeben. Die reale Schwangerschaft und Geburt eines Kindes stellt daher die zweite wichtige Erfahrung im Leben einer Frau dar. 3. Mit dem Beginn der Wechseljahre hat die Frau die Möglichkeit, ihre ›dritte Schwangerschaft‹ zu erleben: The woman who is willing to make that change must become pregnant with herself, at last. She must bear herself, her third self, her old age, with travail and alone. Not many will help her with that birth. Certainly no male obstetrician will time her contractions, inject her with sedatives, stand ready with forceps, and neatly stitch up the torn membranes. It’s hard even to find an old-fashioned midwife, these days. 79 Susan Sontag: The Double Standard of Aging. In: The other within us: feminist explorations of women and aging. Ed. by Marilyn Pearsall. Colorado, Oxford 1997, S. 19-24. 80 Vgl. Morganroth Gullette, Safe at Last in the Middle Years. 81 Vgl. Frey Waxman, From the Hearth to the Open Road. 82 Vgl. z.B. den Sammelband Figuring Age. Women, bodies, generations. Ed. by. Kathleen Woodward. Bloomington, Ind. 1999. 83 Vgl. Maierhofer, Salty Old Women. 84 Maierhofer, Salty Old Women, S. 157. <?page no="140"?> 138 That pregnancy is long, that labor is hard. Only one is harder, and that’s the final one, the one that men also must suffer and perform. 85 Anders als die anderen ›Schwangerschaften‹ ist diese heute aufgrund von veränderten Lebensbedingungen von einer ausdrücklichen Willensentscheidung der älter werdenden Frau abhängig. Damit spricht Le Guin den alternden Frauen aber auch eine gewisse geistige Reife und Entwicklung zu, die sie mit dieser dritten Schwangerschaft gegeben sieht, denn die Frau, die sich bewusst dazu entscheidet alt zu werden, muss gegen gesellschaftliche Vorurteile ankämpfen: Virginity is now a mere preamble or waiting room to be got out of as soon as possible; it is without significance. Old age is similarly a waiting room, where you go after life’s over and wait for cancer or a stroke. The years before and after the menstrual years are vestigial: the only meaningful condition left to women is that of fruitfulness. 86 4. Der Tod als die ›vierte Schwangerschaft‹ ist eine Veränderung, die beide Geschlechter trifft, wobei eine Frau, die Kinder bzw. sich selbst geboren hat, dadurch auch dieser letzten Schwangerschaft anders begegnet, sie einfacher durchlebt. 87 Der von Le Guin verwandte Begriff der ›dritten Schwangerschaft‹ findet sich auch in anderen Texten, da mit ihm einerseits Altern als konkreter körperlicher Vorgang beschrieben werden kann und er andererseits den Beginn einer neuen Lebensphase und den Aufbruch in einen neuen Lebensabschnitt symbolisiert. 88 Le Guins radikale Position, die die Frau aufgrund ihrer spezifischen Körpererfahrung nicht als defizitär, sondern dem Mann an (Körper-)Erfahrung überlegen zeigt, wird aufgrund ihrer Reduktion auf körperliche Vorgänge in dieser Art und Weise von anderen Autorinnen jedoch selten geteilt. Zum einen, weil darauf verwiesen wird, dass die Geburt nur als harmonischer Vorgang erinnert werden kann, wenn die rein körperlichen Vorgänge verdrängt werden. 89 Andererseits wird die Idealisierung der ›old time‹ und die harsche Kritik der Gegenwart in Le Guins Ansatz nicht gutgeheißen. 90 Gerade der Aspekt der 85 Ursula K. Le Guin, The Space Crone. In: The other within us: feminist explorations of women and aging. Ed. by Marilyn Pearsall. Colorado, Oxford 1997, S. 249-252, hier S. 250. 86 Ebd. 87 Ebd., S. 251. 88 Vgl. beispielsweise Roberta Maierhofer, die mit dem Begriff der ›dritten Schwangerschaft‹ das Bewusst-Werden der Frau, die Schaffung einer Identität jenseits der Menopause beschreibt. Maierhofer, Salty Old Women, S. 162f. 89 Ebd., S. 161. 90 Macht man sich die Situation junger bürgerlicher Frauen im 19. Jahrhundert bewusst, ist diese Kritik durchaus verständlich. So war die Sakralisierung der Jungfräulichkeit nur dadurch möglich, dass die jungen Mädchen keinerlei Sexualaufklärung erfuhren. <?page no="141"?> 139 Verdrängung körperlicher Vorgänge scheint mir von Interesse für die Altersforschung. Zwar wird von Marons Protagonistin wahrgenommen, dass ihr Körper sich verändert. Das Gefühl, an einem biographischen Wendepunkt angekommen zu sein, wird von der Protagonistin selbst aber nicht mit der Menopause in Verbindung gebracht. Im Gegensatz dazu zeigt die Reaktion ihres Ehemanns Achim, dass es sich bei der Menopause immer noch um ein kulturelles Deutungsmuster handelt, das die älter werdende Frau entmündigt oder doch zumindest als partiell unzurechnungsfähig darstellt. Dass die Metaphorik von Schwangerschaft und Geburt auch in das Allgemeingut übergegangen ist bzw. dort vielleicht schon vor der feministischen Theoriebildung bestand, zeigen die Reflexionen von Achim über die Veränderungen seiner Frau nach der ›Adoption‹ des Hundes: Damals, als Laura geboren wurde, war Johanna auch für ein Jahr in ihrer Mutterschaft versunken. Ein Jahr lang hatten sie über nichts anderes gesprochen als Lauras Trink- und Eßgewohnheiten, Lauras Lallen, Lächeln, über ihre Zähne, die zu früh oder zu spät kamen, nichts auf der Welt konnte wichtiger sein als Lauras Verdauung. Damals hat er befürchtet, die Frau, die er geheiratet hatte, würde nicht wieder auftauchen aus den Wonnen ihrer natürlichen Bestimmung und er würde für immer ein Fremder bleiben für dieses symbiotische Wesen aus Mutter und Kind. [...] Jedenfalls glaubte er, dass Johanna aus ihrem Hundewahn erwachen würde wie damals aus ihrem Mutterschaftsrausch, und wartete ab. Aber während Johannas Verhalten nach Lauras Geburt von Hormonen beherrscht wurde, entschied sie über ihren Umgang mit dem Hund selbst, und somit konnte er nicht hoffen, dass die Sache sich allein durch gesetzmäßige Abläufe in Johannas Körper erledigen würde. (AG 30f.) Die Gemeinsamkeit zwischen der Geburt der Tochter und den Erfahrungen, die Johanna mit dem Hund macht, würde die Figur Johanna selbst vermutlich auf eine andere als eine rein körperliche Erfahrung zurückführen: auf die Erfahrung, bedingungslos angenommen zu werden. Zudem erfährt Johanna mit ihrem Hund eine körperliche Nähe, die sie ihren eigenen Körper wieder wahrnehmen lässt. Achim - wie auch viele Rezensenten 91 - sehen darin nur die reine Provokation. Wie die Der von Le Guin so positiv dargestellte Prozess der Frauwerdung war für viele junge Frauen daher ein traumatisches Erlebnis. Zur Kritik an Le Guin vgl. z.B. Kathleen Woodward, Introduction. In: Figuring Age. Women, bodies, generations. Ed. by Kathleen Woodward. Bloomington 1999, S. IX- XVIII, hier S. XIV. 91 Ein Beispiel ist hier die Rezension von Ijoma Mangold: „Es gibt Momente brillanter Härte, mit der Maron ihre Protagonistin behandelt. Einmal fragt Achim Johanna, was denn eigentlich „an diesem schlitzohrigen Russen“ so unwiderstehlich sei? „Dass er mich behandelt, als sei ich eine Frau, sagte sie. Und was dann, fragte er. Dann tu ich so, als sei ich eine, sagte Johanna und küsste den Hund, der ergeben vor ihr saß, mitten auf seine schwarze Schnauze, neigte den Kopf leicht zur Seite, bedachte Achim mit einem langen, erwartungslosen Blick, zuckte dann resigniert mit der <?page no="142"?> 140 Kontrastfigur Friedel Wolgast und ihre Beziehung zu ihrem Hund zeigt, steht dahinter aber das Gefühl der Einsamkeit, für das Johanna in Endmoränen noch keinen Ausdruck gefunden hatte. 92 Allerdings stellt sich die Frage, ob die von Johanna erlebte Krise im Angesicht des eigenen Älterwerdens - immerhin befindet sie sich in der mittleren Lebensphase und ist noch lange nicht als alt zu bezeichnen - tatsächlich eine typisch weibliche Erfahrung ist. Von Johanna werden Beschwerden, die auf das Klimakterium zurückzuführen wären, an keiner Stelle erwähnt. Stattdessen haben bereits die Briefe von Christian P. gezeigt, dass Veränderungen gerade im mittleren Lebensalter nicht mehr so einfach verarbeitet werden können, wie das in der Jugend der Fall ist. Die Verwunderung der Figur Johanna beim Lesen des ersten Briefes ist darauf zurückzuführen, dass sie erkennt, dass die Zweifel, mit denen sie sich konfrontiert sieht, nicht auf individuelle Fehlleistungen zurückzuführen sind, sondern dass es sich um einen normalen Prozess des mittleren Lebensalters handelt. 93 Solche geistigen und/ oder körperlichen Veränderungen, so kann man mit der Soziologin Irmhild Saake festhalten, werden dadurch erklärt, dass man sie als Zeichen für Alter entschlüsselt. 94 Zahlreiche Romane thematisieren die Wahrnehmung des Alter(n)s in der Lebensmitte, wie der Verweis auf den altersroman oder die midlife novel zeigte. 95 Margaret Morganroth Gullette verwies im Kontext der Analyse der midlife progress novel 96 darüber hinaus darauf, dass es sich beim Altern um eine Entwicklung handelt, die zwar geschlechtsspezifische Ausformungen hat, diese aber nicht allein durch das biologische oder soziokulturelle Geschlecht bedingt sind. 97 Veränderungen im mittleren Lebensrechten Schulter und sagte: Ja. Und wie sieht das aus, wenn du so tust, als wärst du eine Frau, fragte Achim. Frag doch Igor, wenn du es vergessen hast.“ Es werden dann allerdings die demonstrativen Zärtlichkeiten mit dem Hund als Abstrafungsakte ihres Mannes motivisch so überstrapaziert, dass man hofft, der Hund würde ein weiteres Mal an der Autobahnraststätte ausgesetzt.“ Mangold, Der Hund in meinem Leben. 92 Vgl. hierzu auch das Verhältnis von Martin Walsers Protagonistin Susi zu ihren Katzen im Roman Der Lebenslauf der Liebe. Diese nehmen eine ähnliche Funktion wie Johannas Hund ein. 93 „Alle Möglichkeiten, die ich bedacht hatte, setzten einen überlegenen Christian P. voraus, nicht einen, dessen Trübsinn dem meinen glich, als nivellierten die Gesetze des Alterns alle Unterschiede des Geschlechts, der Herkunft und des Charakters.“ (E 97) 94 Irmhild Saake: Theorien über das Altern. Opladen 1998, S. 11. 95 Vgl. aus der deutschsprachigen Literatur z.B. Wilhelm Genazinos Roman Die Liebesblödigkeit (2005) oder Robert Menasses Don Juan de la Mancha (2007). 96 Vgl. Gullette, Safe at Last in the Middle Years. 97 Vgl. hierzu auch die Argumentation von Morganroth Gullette. Diese geht davon aus, dass sich für Männer und Frauen die Problematik des Älterwerdens - sie spricht von der Erfahrung des midlife - stellt, dass es aber jeweils andere Erfahrungen - Meno- <?page no="143"?> 141 alter sind geschlechtsunabhängig, wodurch sich meine These, dass das Klimakterium lediglich als kulturelles Deutungsmuster für ebensolche Veränderungen herangezogen wird, an dieser Stelle noch einmal bestätigt. 98 Unterschiede zwischen den Geschlechtern in Marons Erzählung scheinen in erster Linie dadurch gegeben, dass Achim eine wesentlich pessimistischere Haltung vertritt und sich mit seinem Alter abgefunden hat. Nach dem Erleben einer amour fou gibt er sich ganz seiner Arbeit hin und findet sich damit ab, an Johannas Seite alt zu werden. Diese resignative Haltung Achims hat Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl Johannas. Sie sieht in ihrem alternden Körper den Grund für die Missachtung durch ihren Mann und erklärt sich diesen Vorgang mir ihrem zunehmenden Alter und der damit einhergehenden Unattraktivität. Diese Konfrontation mit dem eigenen Älterwerden erlebt sie in der Erzählgegenwart. Dadurch stellt sie ihr gesamtes bisheriges Leben in Frage. Da vor allem in Endmoränen die körperlichen Veränderungen eine enorme Rolle spielen, zeigt sich im Roman die Komplexität der Alterswahrnehmung. Diese beschreibt auch Marilyn Pearsall in Anlehnung an Simone de Beauvoir: „the aging women is not as old as she feels; she does not feel the change in herself; rather, she is as old as others see her: In aging, the for-itself accommodates itself to the for-others.“ 99 Vielmehr zeigt sich am Beispiel der Protagonistin Johanna, dass der Zuschreibung, alt zu werden, in der Regel Signale von anderen vorausgehen, bevor die älter werdende Figur selbst die Zuschreibung vornimmt. Die Auslöser können sehr unterschiedlich sein. Die Zurückweisung durch den Lebenspartner kann hier ebenso eine Rolle spielen wie ein in der Gesellschaft vorherrschender Jugendkult, der soweit verinnerlicht wurde, dass der Verlust der Jugend als traumatisch erlebt wird. Hervorgerufen werden kann die so ausgelöste Identitätskrise 100 ebenso durch existentielle Ängste wie durch falsche Vorstellungen von der Lebensphase Alter. Warum diese mit Angst besetzt ist, soll ein Blick auf die in den Romanen Endmoränen und Ach Glück entworfenen Alterskonzepte verdeutlichen. pause oder Prostata - sind, die diese auslösen. Margaret Morganroth Gullette: Declining to decline. Charlottesville, London 1997, S. 161. 98 Damit wird nicht behauptet, dass es keine typischen Beschwerden des Klimakteriums gäbe. Allerdings kann man diese nicht pauschal für alle Frauen annehmen, und man darf nicht davon ausgehen, dass Männer grundsätzlich in den mittleren Lebensjahren nicht unter körperlichen Veränderungen zu leiden haben. 99 Marilyn Pearsall: Introduction. In: The other within us. Ed. by Marilyn Parsall. Colorado, Oxford 1997, S. 1-16, hier S. 3. 100 Die Verbindung von Alter und Identitätskrise behandelt auch Simone de Beauvoir. Sie vergleicht den Übergang vom mittleren ins höhere Erwachsenenalter mit der Pubertät. War diese eindeutig durch das positive Bild vom Erwachsenendasein geprägt, so fehlt eine positive Orientierung im Übergang zur Lebensphase Alter. Vgl. Simone de Beauvoir: Das Alter. Essay. Deutsch von Anjuta Aigner-Dünnwald und Ruth Henry. Reinbek bei Hamburg 1977, S. 247f. <?page no="144"?> 142 2.3 Alterskonzepte in Endmoränen und Ach Glück Die Figur Johanna, so wurde im Vergleich mit der Beschreibung des Alters als Stigma deutlich, verkörpert zu Beginn ein Alterskonzept, das negativ geprägt ist. Alter wird nicht nur als körperlicher Verfallsprozess gesehen, sondern dieser hat gewissermaßen den Ausschluss der alten Menschen aus der Gesellschaft zur Folge. Diesem Alterskonzept werden im Verlauf der beiden Romane weitere Alterskonzepte gegenübergestellt. Friedel Wolgast - Scheitern traditioneller Alterskonzepte? Wie bereits gezeigt wurde, ist Friedel Wolgast nicht eindeutig als Kontrast- oder Korrespondenzfigur zu Johanna gestaltet. Sie repräsentiert im Roman Endmoränen das Figurenmodell der überflüssig gewordenen und daher vereinsamten Großmutter. Die alte Frau hat als Bäuerin und Verkäuferin ihr gesamtes Leben in dem Dorf Basekow verbracht. Sie vertritt ein einfaches Weltbild, das auf die orientierungslose Johanna sehr anziehend wirkt (vgl. E 65). Das mit der Figur Friedel Wolgast verbundene Alterskonzept ist sehr einfach: Alt ist derjenige, der seinen Hof nicht mehr bewirtschaften kann. Das Alter ist damit als defizitärer Zustand gekennzeichnet und das Alterskonzept am Lebenslauf des Mannes orientiert. Die symbiotische Einheit der Ehepaare auf dem Land bezieht die Frau in dieses Konzept mit ein. Wie am Beispiel von Friedel Wolgast gezeigt wird, schreibt sich das Verhältnis der Ehepartner insbesondere in die Körper der Frauen ein: Bis zum Tod ihres Mannes hatte Friedel Wolgasts Körper Jahr für Jahr eine Schicht zugelegt, wie Jahresringe um einen Baum, und sich mit der Zeit zu einem in dieser Gegend üblichen derben, konturlosen Frauenkörper ausgewachsen, mit schweren Brüsten und der gleich darunter ansetzenden Wölbung des Bauches, von ähnlicher Masse an der Hinterseite im Gleichgewicht gehalten. Schon während der Krankheit ihres Mannes war Schicht um Schicht von Friedel Wolgasts Matronenleib abgeschmolzen, der nun dabei war, seine letzte Gestalt in ihrem irdischen Leben anzunehmen. (E 60) Zeigt die Leibesfülle der Frau den Wohlstand eines Bauern an, so deutet der Verlust des Ehemannes zugleich auf den Verlust des Ernährers und damit des Lebensrhythmus hin. Alter als Lebensphase wird hier also durch Veränderungen wie Krankheit und Tod angezeigt und nicht durch die ängstliche Körperbeobachtung entdeckt und inszeniert. Im Gegensatz zu Johannas Lebenskrise verliert Friedel Wolgast den Halt erst durch den Tod des Mannes. Dieser neue Lebensstatus wird durch die soziale Rolle der Witwe angezeigt. Die Ordnung der Dinge - wie es sie auf dem Land noch zu geben scheint - sieht für sie noch ein paar Jahre vor, in denen sie im Kreis ihrer Familie weiterhin am Dorfleben teilnimmt. Dieses traditionelle Alterskonzept ist aber in der Erzählgegenwart nicht mehr lebbar, denn <?page no="145"?> 143 auch in den bäuerlichen Familien zeigt sich bereits der Wandel der Zeit. Friedels Kinder leben alle in der Stadt, und nur in den Ferien kommen die Enkel vorbei, um ein paar Tage bei der Großmutter auf dem Land zu verbringen. Als ›Teilzeit-Großmutter‹ kommen Friedel auch die seit dem 19. Jahrhundert betonten positiven Aspekte der Großmutterrolle nicht mehr zugute. Statt dessen vereinsamt die alte Frau zunehmend. 101 Einziger Gesprächspartner Friedels ist ihr Hund. Ursprünglich als Hofhund angeschafft, leidet er erkennbar am Tod seines Herrchens (E 63), ist aber - wie auch Friedel - kaum mehr in der Lage, sich zu verändern. 102 Eine kurze Szene veranschaulicht die Verlorenheit des alten ›Paares‹: Auf dem Heimweg sahen wir Friedel Wolgast, die an einer roten Leine ihren Hund über die Dorfstraße führte. Auch wer es nicht wußte, konnte in den beiden ein ungeübtes Paar erkennen. Friedel hatte die Hand um die Leine zur Faust geballt und hielt den Arm steif gewinkelt vor dem Bauch, während der große Hund schüchtern dicht neben ihr lief, als suche er bei Friedel Beistand in seiner ungewohnten Lage. Trotzdem wirkten sie beide rührend stolz; Friedel auf ihre neue Begleitung, der Hund, weil er, vielleicht zum ersten Mal, für ein paar Minuten das Leben seiner Herrin teilen durfte. (E 193f.) Die verkrampfte Haltung deutet eindeutig darauf hin, dass die harmonisierende Beschreibung Johannas wohl kaum die Realität trifft. 103 Ebenso wie der Hund durch seine Erziehung ist auch Friedel Wolgast durch ihre Sozialisation in der dörflichen Umgebung mit ihren festen Normen und Werten geprägt. Diese kann sie aufgrund ihres beschränkten Blickfelds nicht aufgeben. Die Parallelisierung von Herrin und Hund sowie die drastische Tiermetaphorik in der Beschreibung der alten Frau verweisen darauf, dass Friedels Lage als normales, wenn auch trauriges Ereignis im Lauf der Dinge interpretiert werden kann (E 108). Zur zeternden alten Frau ist sie aufgrund der Störung der familiären und dörflichen Ordnung geworden. Diese hat zur Folge, dass sie keinen Ansprechpartner hat und ihre Angst im Angesicht existenzieller Einsamkeit sich im Streit mit dem neuen Nachbarn entlädt. Zwar identifiziert sich die Erzählerin Johanna zeitweise mit der aufgebrachten alten Frau, ist aber selbst - aufgrund ihrer eigenen Probleme und Entschlusslosigkeit - nicht in der Lage, ihr beizustehen. Das einfache, am 101 Vgl. hierzu den Aufsatz Die ›Erfindung‹ der Großmutter im 19. Jahrhundert von Gerd Göckenjan in: Alterskonzepte in Literatur, bildender Kunst, Film und Medizin. Hrsg. von Henriette Herwig. Freiburg i.Brsg. 2009, S. 103-121. 102 „Nimm ihn doch mit ins Haus, dann habt ihr beide Gesellschaft, sagte ich. / Hab ich ja versucht, jeht gar nich, sagte Friedel. Da liegt er mit eingezogenem Schwanz an der Haustür und hat Angst. Dat weiß er, daß er nich ins Haus darf. Nu lernt ers nich mehr anders.“ (E 63) 103 Der Roman endet damit, dass Johanna an einem Autobahnparkplatz einen herrenlosen Hund aufliest. Damit knüpft sie in gewisser Weise an das Schicksal von Friedel an. <?page no="146"?> 144 Defizitmodell des Alters orientierte Alterskonzept, das die alte Bäuerin verkörpert, ist für die Akademikerin, die lediglich ihre Ferien auf dem Dorf verbringt, keine Alternative. Diese wird von ihr auch nur kurz durchgespielt: Laura war siebenundzwanzig, und seit ein oder zwei Jahren hatte ich manchmal daran gedacht, wie es wäre, wenn sie ein Kind hätte; vielleicht hatte ich mir aber auch nur vorgestellt, wie es wäre, wenn ich ein Enkelkind hätte, mit dem ich nach Basekow fahren könnte wie früher mit Laura [...]. (E 172f.) Johanna erkennt recht schnell, dass Enkelkinder nicht die „einzige natürliche Leidenschaft [sind], die das Alter [...] zugesteht“ (E 175) und dass der Wunsch nach einem Enkelkind lediglich eine Flucht wäre vor den Problemen, denen sie sich gegenübersieht. Zudem ist Johannas Situation zwar durch ein momentanes Gefühl der Sinnlosigkeit gekennzeichnet; wie die vielen Begegnungen und Besuche während ihres Aufenthaltes in Basekow zeigen, ist sie aber nicht von der Einsamkeit bedroht, wie Friedel Wolgast sie erlebt. Und in einem weiteren Punkt ist Johanna der alten Frau überlegen: Sie ist in der Lage, ihre Lebenskrise zu reflektieren und zu analysieren. Christian P. - Alter als „Ende der Sklavenzeit“ Christian P. befindet sich in einer ähnlichen Lebenssituation wie Johanna. Er ist vom Alltag enttäuscht, da er persönliche und berufliche Niederlagen erleiden musste. Die Darstellung seiner Situation erweckt daher bei Johanna das Gefühl, ihm ergehe es wie ihr. Dennoch zeigen seine drei Briefe einen völlig anderen Umgang mit seiner persönlichen Lage. Auch wenn er angesichts des Scheiterns seiner Ehe und der fehlenden beruflichen Anerkennung nicht glücklich ist, so verfällt er nicht in eine depressive Grundstimmung. Vielmehr entwickelt er im Laufe seiner Briefe eine wesentlich positivere und reflektiertere Sicht auf das Alter(n). Paradigmatisch für die Einstellung der Figur Christian P. zum eigenen Alter(n) ist folgender Passus: Vielleicht hätte ich vor zehn oder fünfzehn Jahren tatsächlich einen Umzug nach Berlin erwogen. Jetzt ist es zu spät oder zu früh. Riskante Aufbrüche stehen uns erst wieder zu, wenn wir Rentner sind. Bis dahin ist Sklavenzeit. Wahrscheinlich, liebe Johanna, ist es nur das, was uns so verdrießlich stimmt: wir können nichts mehr entscheiden. Alle wichtigen Kontrakte unseres Lebens haben wir vor langer Zeit geschlossen, auch die falschen, in deren Schlingen wir gefangen bleiben bis zum Ende, wenigstens aber bis zur Rente. Der Beruf, die Anzahl der Kinder, der Wohnort, alles ist endgültig. Die einzige Entscheidung, die uns noch freisteht, ist die Ehescheidung als letzte mögliche Veränderung. Ich vermute, daß nur darum, weil nichts anderes mehr geht, so viele Menschen über fünfzig einander verlassen. (E 220f.) <?page no="147"?> 145 Aus dem Brief Christian P.’s spricht eine gewisse Gelassenheit der eigenen Situation gegenüber. Zwar stellt er auch bei sich selbst ab und zu die „dekadente Melancholie eines alternden Mannes fest, dem die Gegenwart schon als eine Zukunft erscheint, die ihn hinter sich gelassen hat“ (E 94), aber dieser Stimmung gibt er sich nicht hin. Vielmehr nimmt er sie mit Erschrecken wahr, denn sein Ziel ist nicht, ein „bösartiger Greis“ (E 95) zu werden, sondern er möchte sich gerne als gütigen und weisen Großvater sehen. Christian P. ist sich seiner Situation als älter werdender Mensch also sehr wohl bewusst und erwartet die Verrentung als Zeit neuer Freiheit. Dieser positive Blick nach vorne kennzeichnet das Alterskonzept dieser Figur. Er verkörpert den gutsituierten modernen Rentner oder den ›neuen Alten‹, der sich nach seiner Verrentung all das erfüllt, wofür er während der Berufsphase keine Zeit hatte. Zwar hadert er auch ab und zu mit seiner Vergänglichkeit, 104 aber er hat dadurch den Blick für die Chancen, die ihm die Zukunft bietet, für seine Umgebung und deren Schönheit nicht verloren. Man könnte in seinem Fall in Anlehnung an seine Selbstbeschreibung von einer Altersmelancholie sprechen. Diese schwermütige Betrachtung des Alters ist sich seiner positiven und negativen Seiten sehr wohl bewusst, verneint aber den Standpunkt der Altersklage, den Johanna vertritt. Zudem ist die Haltung Christian P.’s von der Einsicht gekennzeichnet, dass das Alter eine Glaubenssache ist, d.h. dass die eigene Einstellung und Sichtweise des Alters dessen Erleben beeinträchtigen. Damit rückt seine Interpretation des Alters in die Nähe des sogenannten ›gefühlten Alters‹, d.h. einer Altersdefinition, die die Selbstwahrnehmung des älter werdenden Menschen in ihr Zentrum rückt. Damit werden die Werte und Normen des Einzelnen für die Bewertung des Alters entscheidend. Dies zeigt sich am Beispiel Christian P.’s sehr deutlich. Er vertritt als Lektor im Bereich der traditionellen Geisteswissenschaften ein humanistisches Menschenbild. Dies spiegelt sich auch in seiner Einstellung zum Alter wider. Er vertritt die Ansicht, dass die Aufklärung des älter werdenden Menschen diesem zu einem bestmöglichen Alter(n) verhilft. 105 Igor - ein emanzipatorisches Alterskonzept? Igor gehört noch nicht zu den Figuren, die sich mit dem eigenen Älterwerden auseinandersetzen müssen. Zudem wird die Figur des „arroganten Russen“ 106 so selbstbewusst gezeichnet, dass die Vorstellung, er könnte Probleme mit dem eigenen Altern haben, gar nicht aufkommt. Eingeführt 104 „Und der Eindruck, daß die Dinge, nur die Dinge, nicht altern, verdirbt mir mitunter die Laune.“ (E 219) 105 Interessanterweise wird in Barbara Bronnens Roman Am Ende ein Anfang ebenfalls von einem ausrangierten Lektor ein ganz ähnlicher Standpunkt vertreten. Vgl. Bronnen, Am Ende ein Anfang. 106 Diese Bezeichnung wird wiederholt für Igor verwandt. Vgl. E 74, 78, 234. <?page no="148"?> 146 wird der Galerist als vermutlicher Liebhaber der Künstlerin Karoline Winter. Er zeichnet sich durch seine hervorragenden, etwas antiquiert wirkenden Manieren - er begrüßt beispielsweise die Frauen mit einem Handkuss - und seine Diskussionsfreudigkeit aus. Die Achtung, mit der Igor Frauen behandelt, kommt auch in dem von ihm vertretenen Alterskonzept zum Ausdruck. In Sachen Alter ist Igor gewissermaßen als Missionar tätig. Seine Einstellung dem Alter von Frauen gegenüber legt er Johanna ausführlich dar. Bald, so ist er überzeugt, werden „die Vorstellungen von Schönheit nicht mehr allein durch sexuelles Begehren geprägt werden, sondern auch von allen anderen Begehrlichkeiten“ (E 236). Dann, so prophezeit er Johanna, „wird die Zeit der reifen, intelligenten, gutverdienenden Frauen anbrechen“ (E 236). Die ausgemalte „Revolution der Geschlechterbeziehungen“ (E 238) ist bedingt durch die Wahrnehmung der Frau als intellektuelles Wesen, das der Körperlichkeit einen völlig neuen Stellenwert zuordnet. Diese kulturelle Neubewertung, die Frauen in Analogie zum Mann aufgrund ihrer Machtposition auch mit zunehmendem Alter sexuell attraktiv macht, ist sehr glaubhaft. Die Haltung Igors verweist darauf, dass die Vermutung, eine nicht mehr gebärfähige Frau erinnere ihren Partner so sehr an seine eigene Sterblichkeit, dass er sich aus diesem Grund einer Jüngeren zuwendet, nicht tragfähig ist. 107 In fiktionalen Texten gibt es hierfür schon Vorbilder. So beschreibt beispielsweise Martin Suter in seinem Kriminalroman Small World eine sehr erfolgreiche Chefin eines Familienunternehmens, die einen wesentlich jüngeren Liebhaber hat. 108 Igors Konzept erscheint aber für Johanna nicht lebbar: Sie hat weder eine einflussreiche noch eine gut bezahlte Stellung, von der diese Attraktivität ausgehen könnte. Zudem handelt es sich bei Igors Vorstellungen um eine Utopie, deren Erfüllung wohl eher für Johannas Tochter Laura denn für sie selbst praktikabel erscheint. Dennoch ist Igor nicht gewillt, Johannas Pessimismus zu teilen: „Igor sagte, man müsse vor allem im eigenen Leben dafür sorgen, dass es zu jeder Zeit genügend Anfänge gibt, glückliche Anfänge.“ (E 240) Die Verantwortung, so versucht er Johanna zu signalisieren, liegt ganz alleine bei ihr selbst. Das nötige Selbstvertrauen für einen neuen Anfang kommt aber - neben den Briefen an Christian P. und der Reflexion über ihr Alter und ihre Arbeit - aus der sexuellen Begegnung mit Igor. Ausschlaggebend für Igors Verhältnis zum Alter ebenso wie für seine Bindungsunfähigkeit sind seine eigenen familiären Erfahrungen. Achim erzählt er von seiner Mutter: 107 Vgl. Schlaffer, Das Alter, S. 14. 108 Martin Suter: Small World. Zürich 1999. Vgl. dazu meine Überlegungen in: Zwischen Demenz und Freiheit. Überlegungen zum Verhältnis von Alter und Geschlecht in der Gegenwartsliteratur. In: Graue Theorie. Hrsg. von Heike Hartung. München 2007, S. 195-212, vor allem S. 206-211. <?page no="149"?> 147 Meine Mutter starb, als ich neunzehn war. [...] Meine Mutter war eine sehr schöne Frau, nicht nur für mich, ihren Sohn, für jeden war sie schön. Meine Eltern hatten sich während des Studiums kennengelernt. Beide studierten Germanistik. Mein Vater machte eine Parteikarriere und wurde Diplomat, meine Mutter wurde Übersetzerin. [...] Wahrscheinlich ahnen Sie schon, worauf es hinausläuft. Aber es war in diesem Fall nicht die Sekretärin, sondern standesgemäß, wie es sich für den Diplomaten einer Feudalmacht gehört, die Tochter des Försters [...]. Als es anfing, war meine Mutter fünfundvierzig, ich war fünfzehn und liebte noch keine andere Frau als sie. Zuerst veränderten sich die Augen, sie verloren ihre Farbe. Vielleicht schien es nur so im Kontrast zu den von Schlaflosigkeit oder vom Weinen ständig geröteten Lidern, aber mir kam es vor, als würde die Iris sich langsam auflösen und eines Tages nur noch als Schatten auf dem rötlich geäderten Augapfel zu erkennen sein. Dann veränderte sich der Mund. Die Lippen verloren die Spannung und hingen im Gesicht, als seien sie jeden Augenblick bereit, sich zum Weinen zu verziehen. Innerhalb von einem Jahr veränderte sich alles, der Gang, die Haut, die Stimme. Sie hielt sich für alt und beugte sich. Ich habe zugesehen, wie sie allmählich erlosch. Nach drei Jahren bekam sie Krebs und starb. Sie wollten wissen, was ich über Johanna weiß. Ich weiß, wie Frauen aussehen, wenn sie den Kampf um Liebe für verloren halten. (AG 121f.) Die Parallelen zwischen Igors Mutter und Johanna sind unübersehbar. Schmerzhaft musste Igor erfahren, dass Sexualität für eine Ehe und für die Frau mehr bedeutet, als landläufig angenommen wird. Der Soziologe Leopold Rosenmayr, der als einer der ersten Forscher das Alter als Phase der Freiheit interpretiert hat, formuliert dies so: „Wie wichtig vielen Frauen der Coitus nicht nur zur Bestätigung ihrer Weiblichkeit, sondern ihrer Person ist, können sich Männer vermutlich gar nicht so leicht vorstellen.“ [Hervorhebung im Original, M.S.] 109 Bedenkt man dies, dann kann die sexuelle Beziehung zu einer jüngeren Frau - selbst wenn sie wie im Falle Achims nur kurz dauert - als Anhaltspunkt dafür gesehen werden, dass die eigene Frau als sexuell unattraktiv empfunden wird. Diese erlebt eine Affäre ihres Mannes aber nicht nur als emotionale Ablehnung, sondern erfährt sie als Ablehnung und Infragestellung ihrer gesamten Person. Das negative Alterskonzept, das Igor am Beispiel seiner Mutter entwickelt, hatte jahrhundertelang Gültigkeit. Dieser Erfahrung hält Igor das beschriebene positive Alterskonzept entgegen. Damit bestärkt er Frauen wie Johanna, den Kampf um Selbstverwirklichung nicht aufzugeben und sich nicht in eine nachteilige Abhängigkeit von ihrem Mann zu begeben. Natalia Timofejewna - ein surreales Alterskonzept? Die souveräne Emanzipation von allen gesellschaftlichen Regeln und Normen, als einzige Verpflichtung lediglich das eigene Gewissen - diese Lebenshaltung vertreten nicht nur die Figuren in Leonora Carringtons 109 Vgl. Rosenmayr, Altern im Lebenslauf, S. 106. <?page no="150"?> 148 Romanen und Gemälden, sondern diese hat sich auch Natalia Timofejewna zu eigen gemacht. In ihren Briefen und E-Mails finden sich Reflexionen über ihr Leben und das Alter, die auf eine auf Erfahrung basierende Lebensweisheit schließen lassen. Obwohl sie Johanna nicht persönlich kennt, wird sie deren Ratgeberin und Ermahnerin. Johannas Reaktionen verraten, dass die alte Dame mit ihren Vermutungen oft ins Schwarze trifft. Demgegenüber erscheint Natalia - vielleicht auch, weil sie ihre jugendlichen Erfahrungen und vor allem Leonora Carringtons Unbedarftheit zur Norm erhoben hat - realitätsfremd. So reiht sie sich gedanklich in den Reigen der skurrilen Figuren aus Carringtons Roman Das Hörrohr ein 110 und berichtet begeistert von einem Raubüberfall, der sie das Leben hätte kosten können (vgl. AG 208). Grund für die Euphorie ist einerseits die alleinige Tatsache, dass sie etwas Aufregendes erlebt, andererseits aber auch die Freude darüber, dass sich eine Prophezeiung ihrer Patentante erfüllt hat. Damit erscheint das Leben vorbestimmt zu sein - aber in dem ihr möglichen Rahmen hat Natalia nach einer langen, unbefriedigenden Ehe das Beste daraus gemacht. Obwohl sie unter den Malaisen des Alters leidet, sieht sie die Lebensphase Alter positiv. Ihre Lebensfreude wird zum bestimmenden Merkmal der Figur. Sie ist dem Bewusstsein geschuldet, dass jeder Augenblick unwiderruflich vergangen ist. Ihr Altersmotto lautet: „[I]n meinem Alter hat man nichts zu verlieren oder zu gewinnen als den Augenblick.“ (AG 130) Daher setzt sie die Regeln und Konventionen des Erwachsenenalters außer Kraft. Alter wird nicht als vita contemplativa gelebt, um im erinnernden Schauen und Betrachten den Schlüssel zu einer tieferen Weisheit und Güte des Alters zu entdecken, 111 sondern es sind Lebensfreude und Neugier, die eine positive Erfahrung des Alters ermöglichen. Somit wird das Alter durch eine neue Haltung von seiner beglückendsten Seite als Entwicklung und Erfahrung einer neuen Form der Selbstverwirklichung erlebt. Damit verkörpert Natalia nicht nur das von den Medien gerne beschworene Bild der aktiven Seniorin, sondern sie trägt auch Züge einer exzentrischen Alten. Diese wird von Maron allerdings so liebenswert gezeichnet, dass die positive Wirkung des Alterskonzeptes 110 „Wie auch immer, mir bereitet es Vergnügen, ja, geradezu Genugtuung, die Schwerkraft der Verhältnisse vorübergehen außer Kraft zu setzen und für Leonoras Göttin Hecate Zam Pollum, deren Armee ohne mich aus sechs alten Weibern, Bienen, Wölfen, einem Postboten, einem Chinesen, einem Dichter, einer atomgetriebenen Arche und einer Werwölfin besteht, den Heiligen Gral zurückzuerobern. Was unser Leben wirklich bedeutet, weiß schließlich niemand.“ [Hervorhebung M.S.] (AG 181) 111 Heidemarie Bennent-Vahle: Philosophie des Alters. In: Alter in Gesellschaft. Hrsg. von Ursula Pasero, Gertrud M. Backes und Klaus R. Schroeter. Wiesbaden 2007, S. 11-41, hier S. 14. <?page no="151"?> 149 überwiegt. Die Unabhängigkeit, die dieses Leben voraussetzt, ist aber neben der Gesundheit auch von pekuniären Voraussetzungen abhängig. Zusammenfassung Nahm Judith Hermann mit ihrer Kurzgeschichte Ende von Etwas das Alter im Sinne der letzten Lebensphase des Menschen, die von Pflegebedürftigkeit und Unselbstständigkeit aufgrund von körperlichen Gebrechen geprägt ist, in den Blick, so nähert sich Monika Maron mit ihren beiden Romanen der Lebensphase Alter aus der Perspektive des mittleren Erwachsenenalters. Diese Sichtweise zeigt, dass das Älterwerden vor allem für die Protagonistin mit großen Ängsten verbunden ist. Das Bewusstwerden des eigenen Altersprozesses geht mit einer Identitätskrise einher. Die Ängste vor dem Alter(n) beruhen auf von den Figuren verinnerlichten traditionellen Wahrnehmungsmustern des Alters als Verfallsprozess, sind aber auch dadurch bedingt, dass Alterskonzepte als Orientierung fehlen. Das Alter - so schildert es zumindest Maron - wird in der Nachelternphase bzw. im letzten Berufsjahrzehnt vorbereitet. Schon dieser Lebensabschnitt kennt Alternserfahrungen als einscheidende Erlebnisse. Bereits hier spielt also die persönliche Vorstellung des Alters für die Selbstwahrnehmung eine wichtige Rolle. So wird der langsame Übergang ins Alter durch Kontinuität der Altersvorstellungen bestimmt. Im Gegensatz zur Orientierung an literarischen Altersmodellen bei Judith Hermann ist Marons Herangehensweise an die Altersthematik innovativer. Anhand unterschiedlicher Figuren entwirft sie ein breites Spektrum an Alterskonzepten. Am Beispiel der Figur Johanna wird thematisiert, dass keines dieser Konzepte das Versprechen auf ein glückliches Alter bietet, sondern dass es am einzelnen liegt, wie er das jeweilige Konzept ausgestaltet. Die Figur Natalia zeigt auf, dass Alter ebenso wenig eine Konsequenz früherer Entscheidungen sein muss, 112 wie es eine endgültige Entscheidung für ein Alterskonzept gibt. Auch im hohen Alter besteht Wahlfreiheit. Hier kann ein Verhaftetsein in traditionellen Denk- und Verhaltensmustern sogar eher hinderlich sein, wie an der Figur der Friedel Wolgast gezeigt wird. Monika Maron dokumentiert in ihren beiden Romanen den kulturellen Wandel in der Alterswahrnehmung. Dabei geht es ihr weniger darum, „eine Art literarische Anleitung zum Glücklichsein für die Generation 112 Marlene Kuch zeigt auf, dass diese Zwangsläufigkeit vor allem in Romanen des 19. Jahrhunderts nachgezeichnet wurde. Kuch bezieht sich vor allem auf französische Romane des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die Unmöglichkeit für Frauen, „von dem vorgezeichneten Weg abzuweichen und frühere Irrtümer zu korrigieren“, lässt sich auch in der deutschsprachigen Literatur nachvollziehen. Hier wären z.B. die Romane Fontanes oder Arthur Schnitzlers Therese Beispiele. Kuch, Die Zukunft gehört den Rebellinnen, S. 214. <?page no="152"?> 150 50+“ 113 zu geben, sondern sie zeigt die notwendige Abkehr von literarischen und soziokulturellen Lebensentwürfen auf: „Ach Glück, der lakonische Titel drückt es gut aus, ist viel zu bissig und schonungslos, um als Ratgeber für ein erfülltes (Senioren-)Leben zu taugen.“ 114 Vielmehr zeichnet sie die Probleme einer Lebenssituation nach, in der der Einzelne insofern auf sich selbst verwiesen ist, als er sich nicht mehr auf eine traditionelle Strukturierung des Lebenslaufs verlassen kann. Die lange Alternsphase muss von jedem selbst strukturiert und mit Bedeutung erfüllt werden. Dass dieser Prozess sich erst am Anfang befindet und der Wandel der (weiblichen) Alter(n)skonzepte auch auf Abwehr stößt, zeigt die Ablehnung, die vor allem der Roman Ach Glück erfahren hat: Als gewöhnlicher, in die Jahre gekommener Schinkenbrotesser und Veteran des bundesrepublikanischen Geschlechterkampfs ist mir die Beförderung dieses von auftrumpfender Trostlosigkeit diktierten, idiosynkratisch aufgepumpten Werkes in den nationalen Literaturolymp mehr als nur unverständlich. Es ist ein Graus. 115 Entgegen solcher Kritiken haben Marons Romane sowohl als sozialgeschichtliches Dokument für den Wandel von Alterskonzepten als auch aufgrund ihrer ästhetischen Qualität in Anbetracht der Umschreibung traditioneller Alterstopoi eine Aufnahme in den „nationalen Literaturolymp“ mehr als verdient. 113 Marion Lühe: Frau und Hund. Abnutzungserscheinungen: Monika Maron beschreibt bissig tatsächliches Unglück und mögliches Glück in der Generation 50+. In: taz vom 04.08.2007. 114 Ebd. 115 Franzen, Auftrumpfende Trostlosigkeit. <?page no="153"?> 151 3 Zur Neubewertung eines traditionellen Figurenmodells - verliebte Alte in den Romanen Martin Walsers 3.1 Das Figurenmodell der verliebten Alten Das Figurenmodell der ungleichen Altersliebe, so suggeriert Frenzels Überblick über die Motivgeschichte, ist ein männlich dominiertes Motiv. 1 Es sind die alten Männer, die sich im hohen Alter noch einmal in junge Frauen verlieben und die dann oft als lächerlicher Hahnrei enden. 2 Liebende alte Frauen werden in Frenzels Zusammenstellung nicht erwähnt. Ein Blick in die Literaturgeschichte zeigt, dass es doch einige Ausformungen liebender alter Frauen gegeben hat. Allerdings ist das typische Kennzeichen dieser weiblichen Alterslieben, dass die Liebe unerfüllt bleibt. Am Beginn der Motivgeschichte steht die reine Imagination der Liebe einer alten Frau in der antiken Literatur. Diese wird in der Regel der Gattung der Aischrologie zugeordnet. Unter dem Begriff Aischrologie werden „Akte verbaler Aggression, gerichtet gegen einzelne oder gegen Gruppen, mit einer Tendenz zur Obszönität“ 3 verstanden. Die Wurzeln dieser Textsorte liegen in den Ursprüngen der griechischen Kultur. Die Schmähreden waren anfänglich als Teil des Ritus nur im Kontext von kultischen Veranstaltungen erlaubt und durch die Thematik der Geschlechterdifferenz bestimmt. 4 Damit hatten die Beschimpfungen eine kommunikative Funktion, in der verbalen Attacke konnte zum einen die eigene Position eindeutig bestimmt werden, 5 zum anderen diente diese 1 Elisabeth Frenzel: Alte, Der verliebte. In: dies., Motive der Weltliteratur: Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. 6. Aufl. Stuttgart 2008, S. 1-11. 2 Vgl. ebd. 3 Wolfgang Rösler: Über Aischrologie im archaischen und klassischen Griechenland. In: Karnevaleske Phänomene in antiken und nachantiken Kulturen und Literaturen. Hrsg. von Siegmar Döpp. Trier 1993, S. 75-97, hier S. 76. 4 Ein erhaltenes Beispiel für die Verbindung der Aischrologie mit kultischen Handlungen sind Aristophanes‘ Thesmophoriazusen von 411 v.Chr. Die Komödie spielt am Fest der Thesmophorien, an dem sich drei Tage lang alle verheirateten Frauen an einer Kultstätte versammeln. Zu dieser Frauen-Polis hatten Männer keinen Zutritt. Aristophanes entwirft ein fiktives Gericht der Frauen über Euripides, der aufgrund seiner frauenfeindlichen Reden angezeigt wird. Neben den Schmähreden des Euripides finden sich im Text also auch Beschimpfungen der Männer von Seiten der Frauen. Letztendlich einigen sich die Parteien darauf, nur noch gut übereinander zu sprechen, womit eine positive Auflösung des Konflikts gefunden ist. Wolfgang Rösler, Über Aischrologie im archaischen und klassischen Griechenland, S. 75-79. 5 Ebd., S. 86. <?page no="154"?> 152 erlaubte Rebellion gegen die gesellschaftliche Ordnung als Ventil für Unzufriedenheiten. 6 Im Lauf der Zeit löste sich die Aischrologie von den kultischen Festen und wurde ein rhetorisches Testfeld. Hier konnte ein Autor seine Qualität beweisen, indem er „einen von Natur aus der poetischen Formung widerstrebenden Stoff doch zu einem Kunstwerk“ 7 gestaltet. Erst in diesem Moment hält die so genannte vetula-Skoptik, die Darstellung hässlicher, alter Frauen, 8 Einzug in die Aischrologie. Die Geschlechterdifferenz wird hier durch die Altersdifferenz ergänzt, denn erst die alte Frau erfüllt den Tatbestand der Widernatürlichkeit in der durch das Alter hervortretenden Abweichung von Schönheitsnormen. Um diese Veränderung des weiblichen Körpers zu betonen, wird ein verschmähter jugendlicher Liebhaber dargestellt, der von der angebeteten (jungen) Frau abgewiesen wurde. Dieser imaginiert wie diese als alte Frau Sehnsucht nach einem jungen Mann verspürt. Die Perspektive, aus der die alte Frau beschrieben wird, ist also eine männliche, die darauf bedacht ist, ihre eigene Dominanz zu betonen. Als Beispiel zitiere ich Ode 25 aus dem ersten Odenbuch (23 v.Chr.) des römischen Lyrikers Horaz (65-8 v.Chr.): Seltener treffen deine geschlossenen Fensterläden mit häufigen Würfen die Jünglinge in ihrem Ungestüm, nicht rauben sie dir deine Ruhe, fest befreundet haftet die Tür an der Schwelle, die früher so oft leicht bewegte die Angeln. Du hörst es weniger und weniger schon: »Ich, der ich Dein, vergeh in langen Nächten - Lydia, schläfst du? « Anders nun: Als Alte wirst du der Freier Übermut beweinen, verlassen verachtet im Winkel, da aus Thrakien tobt stärker beim Neumond der Sturmwind, während dir brennend Liebe und Gier, wie sie pflegen rasen zu lassen die Mütter der Rosse, wüten werden um deine schwärende Leber, 9 voll von Jammer, 6 Ebd., S. 91. 7 Hans Peter Syndikus: Die Lyrik des Horaz. Eine Interpretation der Oden. Bd. 1: Erstes und zweites Buch. 3. völlig neu bearb. Ausgabe. Darmstadt 2001, S. 239. 8 Vgl. zum Alter in der Antike Therese Fuhrer: Alter und Sexualität. Die Stimme der alternden Frau in der horazischen Lyrik. In: Alterstopoi. Das Wissen von den Lebensaltern in Literatur, Kunst und Theologie. Hrsg. von Dorothee Elm u.a. Berlin 2009, S. 49- 70. 9 Die Leber galt in der Antike als Sitz der Leidenschaften. Vgl. die Anmerkungen in: Quintus Horatius Flaccus: Oden und Epoden. Hrsg. und übers. von Gerhard Fink. Düsseldorf, Zürich 2002, S. 380. <?page no="155"?> 153 daß frohe Jugend am Efeu, dem grünenden, freuet sich mehr und an der dunklen Myrte, trockene Blätter aber dem Wintersgefährten preisgibt, dem Euros. 10 Diese Ode des Horaz ist von einem melancholischen Grundton bestimmt, der dem Verlust der Jugend der Hetäre nachtrauert. Durch den Vergleich mit dem Tierreich wird die moralische Verwerflichkeit des sexuellen Begehrens der alten Frau aufgezeigt. 11 Dennoch deutet die Umkehr der jugendlichen Lebenssituation (Strophe 1-2) in ihr Gegenteil (Strophe 3-4) auch eine natürliche Entwicklung an, die nicht zwangsläufig mit der Lächerlichkeit der alten Figur verbunden ist, denn die letzten Verse lassen einen Umschwung erahnen: Die Weisheit des Alters könnte auch dem Übermut der Jugend überlegen sein, denn sie ist in der Lage, den natürlichen Ablauf der Dinge anzunehmen. 12 In Epode 12 aus Horaz’ Frühwerk findet sich eine wesentlich radikalere Darstellung einer alten Frau, die diese als liebestolle Alte zeigt, die sich einen jungen Liebhaber gekauft hat: Was willst du denn, Weib, die du am besten zu schwarzen Elefanten paßt? Geschenke für mich? Briefe schickst du mir? Ich bin weder ein starker Mann noch ist meine Nase verstopft. Ich kann ja schärfer schnüffeln, ob ein Polyp oder ein beizender Bock haust im Gestrüppe der Achseln, als ein scharfer Hund, wo die Sau steckt. Welch ein Schweiß! Wie allenthalben den verrunzelten Gliedern übler Geruch entströmt, wenn sie am schlaffen Schwanz sich müht, die ungezähmte Gier zu stillen, und nicht mehr will ihr die feucht gewordene Schminke haften, nicht die Farbe, mit Krokodilsmist angemacht. In ihrer Geilheit bricht sie entzwei Matratzen und das Bettgestell. Oder aber sie schilt meinen Ekel mit heftigen Worten: »Bei der Inachia bist du doch weniger schlaff als bei mir! Inachia kannst du dreimal pro Nacht, bei mir bist du für eine einzige Nummer zu schlapp! Zur Hölle jene, die dich Schlappschwanz mir gezeigt, als einen Stier ich suchte, diese Lesbia! [...] O ich Unglückliche! Du fliehst mich, so wie fürchtet die reißenden Wölfe ein Lamm, wie die Rehe den Löwen.« 13 10 Quintus Horatius Flaccus: Oden und Epoden. Lat.-dt. Übers. und hrsg. von Bernhard Kytzler. 5. Aufl. Stuttgart 1990, S. 49ff. Mit Euros ist ein winterlicher Südostwind gemeint. Vgl. die Anmerkungen in: Quintus Horatius Flaccus, Oden und Epoden. 2002, S. 292. 11 Syndikus weist darauf hin, dass es durchaus denkbar ist, dass dieses Hohnlied nicht nur eine rhetorische Stilübung ist, sondern durchaus auch aus einer realen Lebenssituation hervorgegangen sein kann. Vgl. Syndikus, Die Lyrik des Horaz, S. 239. 12 Vgl. hierzu Fuhrer, Alter und Sexualität; Die Autorin nimmt einen Sprecherwechsel von Strophe 4 zu Strophe 5 an, so dass die Frau hier selbst zu Wort kommt. 13 Quintus Horatius Flaccus, Oden und Epoden. 1990, S. 261ff. <?page no="156"?> 154 Horaz gestaltet hier eine Situation, die für Schmähreden nicht untypisch ist: Die sexuell erregte alte Frau ist so hässlich, dass der jüngere Mann bei ihrem Anblick keine Lust empfinden kann. In der Umkehrung der traditionellen Liebesmetaphorik, in der der Wolf für den Mann und die Frau für das Lamm steht, zeigt sich eine verkehrte Welt. Die Frau wird als Opfer von Gelüsten gezeigt, die ihr aufgrund ihres Alters nicht mehr zustehen. Die Brutalität ihres grob-sinnlichen Begehrens wirkt auf den Leser abschreckend. 14 Das Alter wird damit als eine Lebensphase gezeigt, in der die Abkehr von der Sexualität vollzogen werden muss. Das Gedicht hat neben der rhetorischen Absicht auch sozialdisziplinierende Funktion. Indem die Lächerlichkeit der liebestollen Alten dargestellt wird, kommt in der sittlichen Entrüstung einerseits eine Warnung für die alten Frauen zum Ausdruck, sich ihrem Alter entsprechend zu verhalten, andererseits verurteilt sie diejenigen, die für Geld selbst eine vetula in Kauf nehmen. 15 Bereits Martial (40 n. Chr. -104 n. Chr.) hat das Figurenmodell der ekelerregenden alten Frau mit dem der Heirat verknüpft. Allerdings ist bei ihm das Moment der moralischen Empörung zurückgenommen: Obwohl du dreihundert Konsuln erlebt hast, Vetustilla, nur noch drei Haare besitzt und vier Zähne, die Brust einer Grille, die Schenkel und den Teint einer Ameise hast, obwohl deine Stirn mehr Runzeln zeigt, als dein Gewand Falten hat, und deine Brüste Spinnenweben gleichen, obwohl, verglichen mit deinem Rachen, das Nilkrokodil ein enges Maul hat, die Frösche von Ravenna schöner quaken und die Mücken an der Adria lieblicher surren, du so gut siehst wie Nachteulen früh am Morgen und genauso stinkst wie die Ziegenböcke [...] wagst du es, der schon zweihundert starben, dich heiratslustig aufzuführen, und suchst, verrückt wie du bist, einen Mann für deine Asche. Was wäre, wenn Sattias Grabstein geil sein wollte? Wer wird dich ›Gattin‹, wer ›Ehefrau‹ nennen, wo dich kürzlich Philomelus noch ›Großmutter‹ nannte? Doch wenn du verlangst, daß man deinen Leichnam stimuliert, soll man dir aus dem Triclinium des Orkus das Bett richten, das allein zu deiner Hochzeit paßt, und der Leichenverbrenner soll der Braut dann die Hochzeitslichter vorantragen: Allein die Fackel vermag in so eine Möse einzudringen. 16 14 Victor Grassmann: Die erotischen Epoden des Horaz. Literarischer Hintergrund und sprachliche Tradition. München 1966, S. 86f. 15 Ebd., S. 88. 16 Marcus Valerius Martialis: Epigramme: lateinisch-deutsch. Hrsg. und übers. von Paul Barié und Winfried Schindler. Düsseldorf, Zürich 1999, S. 244-247. <?page no="157"?> 155 Rüdiger Schnell, der seinen Blick im Rahmen einer Untersuchung zu Ekel und Emotionsforschung in erster Linie auf Ekelsignale im literarischen Text richtet, interpretiert dieses Epigramm dahingehend, dass die Ekelsignale durch den Einsatz komischer Elemente entschärft werden: „Es muß offen bleiben, ob Martial mit seinem ›Vetustilla‹-Gedicht eher seine Fähigkeit, das Nicht-Ästhetische zu ästhetisieren, unter Beweis stellen wollte oder bei seinem Publikum eher einen gewissen emotionalen Ekeleffekt provozieren wollte.“ 17 Mit dieser Interpretation der hässlichen Alten als Darstellung des Nicht-Ästhetischen folgt er der antiken Tradition ebenso wie Winfried Menninghaus, der in der vetula das in der Ästhetik Ausgegrenzte symbolisiert sieht. 18 Aber, so stellt sich hier die Frage, warum wird der evozierte eklige, alte Körper mit dem Wunsch zu heiraten in Verbindung gebracht? Warum wird ihr Unersättlichkeit in sexueller Hinsicht attestiert? Hier scheint mir neben der stilistischen Fingerübung auch der Generationendiskurs eine Rolle zu spielen. Alte Frauen können keine Kinder mehr gebären, womit ebenso der Zweck der Ehe in Frage gestellt ist, wie andererseits darauf verwiesen wird, dass die liebestolle Alte den jungen, gebärfähigen Frauen die Männer streitig macht. Auf diese Weise wird nicht nur die Lächerlichkeit der Alten durch den Heiratswunsch verstärkt, sondern den alten Frauen wird auch eindeutig signalisiert, dass sexuelle Wünsche im Alter nicht mehr gezeigt werden dürfen. Die Wucht der „Hyperbeln der Häßlichkeit“ 19 wird dabei als schlagendes Argument angesehen. Daher kann eine ausführliche moralische Bewertung unterbleiben. Der Hinweis auf die Anmaßung eines Gebarens, das der alten Frau nicht mehr zusteht, findet sich auch im Minnesang. 20 Hier wird einerseits die Motivik der Antike wieder aufgegriffen, indem die Rache für die unerhörte Liebe an den Sohn delegiert wird, der als junger Mann kein Interesse Vgl. hierzu auch: Rüdiger Schnell: Ekel und Emotionsforschung. Mediävistische Überlegungen zur ›Aisthetik‹ des Hässlichen. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 79 (2005) H. 3, S. 359-432, hier S. 412f. 17 Ebd., S. 413. 18 „Die kanonischen Plastiken Apollos und Aphrodites figurieren und funktionieren als förmliche Ekelvermeidungskörper. Für das, was sie unsichtbar machen, ja geradezu obsessiv in den Orkus ästhetischer Unmöglichkeit verstoßen, gebrauchen die ›Klassiker‹ wieder und wieder eine schon in der Antike traditionsmächtige Chiffre; diejenige der ekelhaften alten Frau. Sie ist der Inbegriff alles Tabuierten: abstoßender Haut- und Formdefekte, ekelhafter Ausscheidungen und sogar sexueller Praktiken - ein obszöner, verwesender Leichnam schon zu Lebzeiten. Mit der einen Ausnahme Winckelmanns hat das Ekelhafte bei allen behandelten Autoren weibliches Geschlecht und hohes Alter.“ Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Frankfurt a.M. 1999, S. 16. 19 Grassmann, Die erotischen Epoden des Horaz, S. 89. 20 Zum Minnesang vgl. Sandra Linden: Die liebeslustige Alte. Ein Topos und seine Narrativierung im Minnesang. In: Alterstopoi. Das Wissen von den Lebensaltern in Literatur, Kunst und Theologie. Hrsg. von Dorothee Elm u.a. Berlin 2009, S. 137-164. <?page no="158"?> 156 mehr an der alternden Frau zeigt, die sein Vater einst verehrte. 21 Alltagsnäher erscheinen im Gegensatz dazu die Lieder Walthers von der Vogelweide. Hier wird die Personifikation der Minne als alte Frau gezeigt, die sich unschicklich verhält, weil sie auch im Alter noch mit jungen Männern tanzt. 22 Hier wird also der Alterungsprozess selbst versinnbildlicht. Durch die produktive Aufnahme des Topos in der Personifikation zeigt sich auf der einen Seite ein Wandel des Minnekonzepts, darüber hinaus wird mit der Darstellung der tanzlustigen Alten auch eine poetologische Diskussion angesprochen: die des richtigen Singens. Diese poetologische Komponente wird in den Sommerliedern Neidharts durch die Narrativierung des Topos verstärkt, indem das Figurenmodell der tanzlustigen Alten im Streitgespräch zwischen Mutter und Tochter aufgegriffen wird. 23 Möchte die Mutter, bei der sich auch Frühlingsgefühle bemerkbar machen, die Tochter zum Tanz begleiten, so weist die Tochter das Ansinnen der Mutter zurück, da dieses als unschicklich empfunden wird. Indem einerseits durch die Naturmetaphorik die Minne selbst als naturalistisches Konzept neu entworfen wird, dient das Alter als störendes Element andererseits dazu, aufgrund der Variation traditioneller Bildlichkeit eine Diskussion der Gattung selbst in Gang zu setzen. Damit zeigt sich auch in der mittelalterlichen Literatur eine enge Verbindung der Kritik an falschem Benehmen älterer Frauen mit poetologischen Fragestellungen. Hier geht es allerdings weniger darum, dass der Autor seine rhetorischen Fähigkeiten unter Beweis stellt, sondern die Diskussion von Gattungsfragen steht im Vordergrund. Daher kann die ›tanzlustige Alte‹ auch als schöne Figur dargestellt werden. Weniger positive Züge trägt die verliebte Alte hingegen im Barock. Hier wird sie als lüsterne Alte gezeigt und ist eine typische Komödienfigur. Mit ihr wird in der Regel das von Martial eingeführte Heiratsmotiv aufgegriffen und konkret ausgestaltet. Die hässliche Alte vertritt gleichsam eine Sonderform der alten Kupplerin, weil sie einen jungen Mann zur Heirat mit ihr selbst überreden möchte. Stellvertretend sei hier Andreas Gryphius Scherzspiel Die geliebte Dornrose aus dem Jahr 1661 angeführt, das mehrfach für die Volksbühne und im 20. Jahrhundert auch für den Rundfunk 21 „Mîme kinde will ich erben dise nôt / und diu klagenden leit, diu ich hân von ir. / waenet sie danne ledic sîn, ob ich bin tôt, / ich lâze einen trôst noch hinder mir, / Daz noch schoene werde mîn sun, / daz er wunder an ir begê, / alsô daz er mich reche / und ir herze gar zerbreche, / sô sî’n sô rehte schoenen sê.“ Heinrich von Morungen: Lieder. Text, Übersetzung, Kommentar von Helmut Tervooren. Stuttgart 1975, S. 32. 22 Vgl. Walther von der Vogelweide: L. 57,23. In: ders.: Leich, Lieder, Sangsprüche. 14. völlig neubearb. Aufl. der Ausgabe Karl Lachmanns. Hrsg. von Christoph Corneau. Berlin, New York 1996. 23 Die Lieder Neidharts. Hrsg. von Edmund Wießner, fortgef. von Hanns Fischer. 5., verb. Aufl. Hrsg. von Paul Sappler. Tübingen 1999. <?page no="159"?> 157 bearbeitet wurde, 24 weshalb ich es hier als Beispiel heranziehe. Die als alte Kupplerin eingeführte Frau Salome wird von dem unbeholfenen Greger Kornblume um Hilfe gebeten. Er ist in das Mädchen Dornrose verliebt und befürchtet, dass sie seine Liebe nicht erwidert und ihn nicht heiraten möchte. Als Gegenleistung für ihre Vermittlungsbemühungen, die sie aber aufgrund ihrer angeblichen Wahrsagekünste als aussichtslos bezeichnet, nimmt die alte Salome ihm folgendes Versprechen ab: SALOME: De kannst bei mir ze enem gedignen Manne werden und och Ältester unde mit der Zeet wul gar Scholze. KORNBLUME: Mutter Salme, sai ock vu Durnrusen. SALOME: Je nu, ich wil wul mit er reden, de wirst ober sahn, ’s wird nischte draus warden. Wen se dich aber nicht hon wil: wilste de mich den nahmen? KORNBLUME: ’s iß denne noch ümme a Bedenken ze tun. SALOME: Nu zugesait. KORNBLUME: Ich sai, ’s iß denne noch üm e Bedenken ze tun. SALOME: Nu zugesait. KORNBLUME: Je, wen mich Durnruse ja gor nicht hon welde: se wers noch ümme Bedenken ze tun. 25 In der barocken Komödie verbindet sich der ständische Ekel des den Figuren überlegenen Publikums 26 mit dem Ekel vor der alten Frau, die den wesentlich jüngeren Mann zur Heirat und damit zu sexuellen Handlungen verführen möchte. Damit wird die sozial begründete Verachtung moralisch legitimiert, die alte Frau wird zur Verlachfigur, weil ihr Begehren ihr nicht mehr zusteht. Im Lachen wird der Ekel bewältigt. 27 Daran hat sich bis ins 20. Jahrhundert wenig geändert. Allerdings arbeitet die Literatur mit subtileren Charakterisierungen, da heute eine ständische Charakterisierung lediglich über das Merkmal, wie sie die Rhetorik des Ekels vornimmt, nicht mehr denkbar ist. Andererseits sind Personifikationen als Mittel der Figurenkonzeption in der Gegenwartsliteratur äußerst selten, sodass Alter nicht nur durch das Merkmal der körperlichen Hässlichkeit symbolisiert wird. Dabei spielt Gryphius’ Drama durchaus auf zeitgenössische Erfahrungen an. Frau Salome bietet dem jungen Mann ja nicht in erster Linie ihren Körper an, sondern verspricht ihm auch einen sozialen Aufstieg. Dies war bei ungleichen Heiraten im 17. Jahrhundert oftmals gegeben. Brachte doch z.B. die Heirat mit der Witwe eines Handwerksmeisters für den Gesellen die Übernahme einer ganzen Werkstatt inklusive des Titels mit sich. Und ein junger Mann, der die Witwe eines Bauern heiratete, konnte 24 Andreas Gryphius: Die geliebte Dornrose. Scherzspiel [EA1661]. In: ders.: Werke in einem Band. Ausgewählt und eingeleitet von Marian Szyrocki. Berlin, Weimar 1985, S. 217-304. Zur Rezeptionsgeschichte vgl. die Anmerkungen im gleichen Band, S. 318. 25 Ebd., S. 280. 26 Schnell, Ekel und Emotionsforschung, S. 383. 27 Ebd., S. 384. <?page no="160"?> 158 gleichzeitig einen ganzen Hof übernehmen. In Gryphius‘ Komödie zeigt sich, dass diese Heiratspolitik zunehmend kritisiert wurde, indem man davon ausging, dass die Heirat gleichalter Partner - wie sie ja letztendlich auch der Komödienschluss mit sich bringt - zu bevorzugen sei. Dementsprechend haben die komödiantischen Illustrationen, die die heiratslustige Alte als lächerliche Figur darstellen, sozialdisziplinierende Funktion. Sie stellen die Heiratspolitik insofern in Frage, als zumindest eine alte Frau, die keine Kinder mehr gebären kann, nicht als Werbende auftreten darf. Es gibt aber in der Folge auch literarische Bearbeitungen des Themas, die nicht die erotische Beziehung zwischen einer älteren Frau und einem jüngeren Mann in den Mittelpunkt stellen, sondern in denen mütterliche Gefühle zur Heirat führen. Der junge Mann ist dann gewissermaßen der Sohn der Greisin, kann aber nur durch die Heirat zu diesem werden. 28 Eine Ausgestaltung dieses Figurenmodells findet sich in E.T.A. Hoffmanns später Novelle Datura fastuosa aus dem Jahr 1821. Nach dem Tod ihres Mannes macht eine Professorengattin dem Schüler ihres Mannes ein weitreichendes Angebot. Sie ist bereit, den weltabgewandten Studenten zu heiraten, damit er weiterhin in ihrem Haus leben und das Erbe ihres Mannes fortführen kann. Die Ehe soll dabei nicht vollzogen werden, sondern wird von ihr als Sonderform der Adoption verstanden. 29 Der Student Eugenius ist sofort bereit, das Angebot anzunehmen und die vermögende alte Frau zu heiraten, um nicht aus seinem Lebensumfeld vertrieben zu werden und seine wissenschaftlichen Studien weiter betreiben zu können. Allerdings quält ihn in der Nacht ein Traum, der auf seine Zukunft und die Verwerflichkeit der Verbindung hindeutet. Er träumt von einer jungen, engelsschönen Braut, die ihn mit folgenden Worten zurückstößt: »Tor, was willst du beginnen, du gehörst nicht mehr dir selbst an, du hast deine Jugend verkauft, kein Frühling der Liebe und Lust blüht dir mehr auf, denn in den Armen des eisigen Winters bist du erstarrt zum Greise.« - Mit einem Schrei des Entsetzens erwachte er aus dem Traum, aber noch war es ihm, als sähe er die Braut, und hinter ihm stehe die Professorin und bemühe sich mit eiskalten Fingern ihm die Augen zuzudrücken, damit er die geschmückte schöne Braut nicht schauen möge. - »Hinweg,« rief er, »hinweg, noch ist meine Jugend nicht verkauft, noch bin ich nicht erstarrt in den Armen des eisigen Winters! « - Mit der glühendsten Sehnsucht flammte ein tiefer Abscheu auf gegen die Verbindung mit der alten sechzigjährigen Professorsfrau. 30 28 Vgl. Albert Ludwig: Das Motiv vom kritischen Alter. Eine Studie zum Mann von fünfzig Jahren und ähnlichen Stoffen. In: Euphorion 21 (1914), S. 63-72, hier S. 69. 29 E.T.A. Hoffmann: Datura fastuosa. In: ders.: Poetische Werke in sechs Bänden. Bd. 6. Berlin 1963, S. 551-615, hier S. 558. 30 Ebd., S. 561f. <?page no="161"?> 159 Die im Traum durch das Bild des Winters angedeutete Kälte des Alters nimmt auch von dem jungen Mann Besitz. Da er sich ganz in die Rolle des Professors findet, nicht nur dessen Gewohnheiten, 31 sondern auch dessen Kleidung übernimmt, 32 verhält er sich zunehmend wie ein alter Mann und wird krank, ohne die Ursache für seine Krankheit selbst erkennen zu können. 33 Dem „Fluch des Lächerlichen“ 34 ist damit in Hoffmanns Novelle nicht die alte Frau ausgesetzt, deren Beweggründe als edel und überlegt geschildert werden, sondern der naive junge Mann. Die Frau wird entschuldigt mit den Frauen allgemein zugesprochenen Eigenschaften: Es ist eine alte richtige Bemerkung, daß die Weiber alles vermögen, nur nicht sich außer sich selbst heraus zu versetzen in die Seele des andern. Was sie selbst lebhaft empfinden, gilt ihnen für die Norm alles Empfindens überhaupt, und die eigene innere Gestaltung ist ihnen der Prototypus, nach dem sie das, was in des andern Brust verschlossen, beurteilen und richten. So wie ich die alte Professorin kenne in all ihrem Tun und Wesen, muß ich denken, daß sie nie heftiger Leidenschaft fähig war, daß sie jenes Phlegma von jeher besaß, welches die Mädchen und Frauen lange hübsch erhält, denn in der Tat noch jetzt sieht die Alte für ihre Jahre glatt und glau genug aus. 35 In dieser Aussage von Eugenius’ Freund Server findet sich ein weiteres Charakteristikum der alten Professorengattin. Gerade die Leidenschaftslosigkeit ihres Lebens wird als Ursache dafür angeführt, dass sie auch mit sechzig Jahren noch eine beeindruckende Persönlichkeit ist. Hier zeigt sich also im 19. Jahrhundert eine andere Vorstellung von Schönheit, als diese für das 20. Jahrhundert zu beobachten ist. 36 Neben der Leidenschaftslosigkeit kann aber auch die Mütterlichkeit der alten Frau Grund für die von ihr ausgehende Schönheit sein. 37 Im Verlauf der Novelle wird ersichtlich, dass die Professorengattin nicht nur mitfühlend und fürsorglich, sondern auch 31 Ebd., S. 576. 32 Ebd., S. 562. 33 „Wohl mag aber zehrender Krankheitsstoff sich im Innern gebären, wenn der Geist, seinen eignen Organismus verkennend, im unseligen Mißverständnis den Bedingungen des Lebens widerstrebt. Krankheit zu nennen war nämlich die hypochondrische Selbstgenügsamkeit, zu der Eugens ganzes Treiben erstarrte, und die, immer mehr ihm seine unbefangene Heiterkeit raubend, ihn für alles, was außer seinem engen Kreise lag, kalt, schroff, scheu erscheinen ließ. [...] Die Spuren des geistigen Verkränkelns zeigten sich auch bald auf Eugens todbleichem Antlitz. Alles Jugendfeuer in den Augen war erloschen, er sprach die matte Sprache des Engbrüstigen, und sah man ihn in dem Ehrenkleide des verstorbenen Professors, so mußte man glauben, der Alte wolle den Jüngling hinaustreiben aus seinem Rock und selbst wieder hineinwachsen.“ Hoffmann, Datura fastuosa, S. 577. 34 Ebd., S. 571. 35 Ebd., S. 565. 36 Vgl. hierzu meine Überlegungen im Unterkapitel „Körperdiskurs“ ab S. 177. 37 Eine solche Zuschreibung findet sich auch bei der Figur der Großmutter, die auch als schöne Alte gezeigt wird. Vgl. Gerd Göckenjan: Das Alter würdigen. Frankfurt a.M. 2000, S. 201. <?page no="162"?> 160 intelligent ist. Doch auch die kluge, weise Frau 38 kann nicht verhindern, dass die von einem Betrüger entfachte Leidenschaft für eine vermeintliche italienische Gräfin den Studenten mit seinem Schicksal hadern lässt und beinahe zum Mord an seiner Pflegemutter und Ehefrau führt. Voller Reue kehrt Eugenius zu seiner Frau zurück, die bald darauf stirbt. Da erkennt Eugenius die Liebe des bislang im Haus erzogenen Mädchens, und dieser „Engel des Lichts“ wird „den Frieden [s]einer Seele wiedergeben.“ 39 Trotz der Weisheit und Güte der alten Frau wird damit am Ende die Ehe des jungen Paares über die Beziehung zu der alten Frau gestellt. Es ist nicht die Lüsternheit der Alten, die zur verhängnisvollen Ehe führt, sondern die Naivität und Unwissenheit des jungen Mannes, der trotz der Warnung seines Freundes und seines Gefühls nicht auf sein wissenschaftliches Fortkommen verzichten möchte, das die Ehe mit der vermögenden Sechzigjährigen ihm sichert. Die Ehe zwischen einer alten Frau und einem jungen Mann ist im Gegensatz zum umgekehrten Geschlechterverhältnis eher selten zu finden. Wesentlich häufiger finden sich ältere Frauen als Geliebte unerfahrener junger Männer. Von diesen lasterhaften und lächerlichen Liebhaberinnen wenden sich die Männer allerdings bald ab, um eine jüngere Frau zu heiraten und mit ihr eine Familie zu gründen. 40 Verlieben sich ältere Frauen in jüngere Männer, so bleibt ihre Liebe oft unerwidert. Ein einflussreiches Beispiel ist die Erzählung Das gefährliche Alter von Karin Micha lis aus dem Jahr 1910. 41 Micha lis beschreibt eine Frau Mitte vierzig, die sich, obwohl sie eine verhältnismäßig glückliche Ehe führt, von ihrem Mann scheiden lässt, um in der Abgeschiedenheit einer für sie erbauten Villa allein sein zu können. Ihre Liebe zu dem jungen Architekten ihres Hauses kann sie sich erst eingestehen, als es bereits zu spät ist und er eine Andere heiratet. Ihr Ehemann tröstet sich indes mit einer jüngeren Frau über die gescheiterte Ehe hinweg, sodass eine Rückkehr in die Ehe nicht mehr möglich ist. Der Roman löste bei seinem Erscheinen einen Skandal aus, nicht so sehr, weil er die Unmöglichkeit der Herausbildung einer weiblichen Identität thematisierte, sondern weil das Klimakterium der Protagonistin (und ihrer Freundinnen) offen thematisiert wird. Anders als die bereits erwähnte Novelle Werde, die du bist von Hedwig Dohm wird diese Erzählung nicht nur zum Bestseller, sondern auch zu einem Prototyp, der in der Folge von vielen Autorinnen und Autoren aufgegriffen wird: 38 Hoffmann, Datura fastuosa, S. 582. 39 Ebd., S. 615. 40 Marlene Kuch: Die Zukunft gehört den Rebellinnen. Die neuen alten Frauen bei No lle Châtelet, Claude Pujade-Renaud und Teresa Pàmies. In: Alter und Geschlecht. Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s. Hrsg. von Heike Hartung. Bielefeld 2005, S. 211-233, hier S. 213f. 41 Karin Micha lis: Das gefährliche Alter. Tagebuch-Aufzeichnungen und Briefe. Berlin 1910. <?page no="163"?> 161 Frauen in diesem gefährlichen Alter verlieben sich generell und sexuell erfolglos in jüngere Männer. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbindet der Topos der weiblichen Altersliebe also Klimakterium und erotisches Bedürfnis miteinander. Soweit sie sich nicht unter dem expliziten Begriff Trivialkomik versuchen, sind die Darstellungen nicht humoristisch. 42 Explizit von diesen Texten setzt sich Thomas Manns Novelle Die Betrogene 43 ab, die Anja Schonlau in ihrer Analyse zur Altersliebe im Alterswerk als „Avantgarde in Sachen ›Altersliebe‹“ 44 bezeichnet. Zu diesem Ergebnis kommt sie aufgrund der Beobachtung, dass Thomas Mann offen lässt, ob der Tod seiner liebenden Alten als Strafe der Natur für ihre Altersliebe als soziales oder widernatürliches Fehlverhalten angesehen werden muss oder ob er durch Rosalies „oberflächliche[n] und glücklich-selbstbezogene[n] Interpretation der Natur“ verschuldet ist. 45 Gleich wie diese Frage beantwortet wird, neu an Manns Novelle ist die Tatsache, dass die Liebe Rosalies von dem jungen Ken Keaton erwidert wird. Im Spielfilm findet sich eine Umwertung des Figurenmodells der verliebten Alten schon früher als in der Literatur. Susi Gern zitiert im Lebenslauf der Liebe den Film Harold und Maude 46 aus dem Jahr 1971. In diesem zeigt der Regisseur Hal Ashby mit englischem Humor die Liebe zwischen einer neunundsiebzigjährigen und einem achtzehnjährigen lebensmüden, emotional vernachlässigten Wohlstandskind. Der Film spielt mit Elementen des Horrorfilms ebenso wie mit denen des Roadmovies und der Komödie. Dargestellt wird die Entwicklung des jungen Mannes, der ein Faible für Beerdigungen hat und auf unterschiedlichste Arten versucht, sich das Leben zu nehmen. Die Begegnung mit der wesentlich älteren Frau lässt ihn erfahren, was Lebensfreude ist. Andererseits scheint er sich aber gerade aufgrund seiner Vorliebe für alles Zerfallende, in Auflösung Begriffene zu ihr hingezogen zu fühlen. Da die alte Dame sich vorgenommen hat, an ihrem achtzigsten Geburtstag aus dem Leben zu scheiden, ist die Begegnung zwischen beiden kurz und intensiv. Übertragbar in den Alltag scheint das Beziehungsmodell nicht zu sein. 42 Anja Schonlau: Altersliebe im Alterswerk. Thomas Manns Novelle Die Betrogene aus der Perspektive des Michelangelo-Essays. In: Thomas-Mann-Jahrbuch 20 (2007), S. 27-42, hier S. 38. 43 Thomas Mann: Die Betrogene. Novelle [1953]. In: ders.: Die Erzählungen. Frankfurt a.M. 2005, S. 906-979. 44 Schonlau, Altersliebe im Alterswerk, S. 42. 45 Ebd., S. 41. 46 Susi entwirft folgenden Annoncentext: „Haben Sie den Film ›Harold and Maude‹ gesehen? Ich suche meinen Harold. Nein, ganz so groß soll der Altersunterschied nicht sein. Ich bin, wie Maude, eine außergewöhnliche und gut aussehende Frau. Schon gleich 50 Jahre alt, wünsche ich mir einen gut aussehenden 10-20 Jahre jüngeren Mann.“ (LdL 90) Hal Ashby: Harold and Maude. Paramount Pictures. USA 1971. <?page no="164"?> 162 Eine weitaus realistischere und sozialkritische Darstellung der Beziehung einer alten Frau zu einem jüngeren Mann schuf Rainer Werner Fassbinder mit dem Film Angst essen Seele auf. 47 Hier verlieben sich eine ältere deutsche Arbeiterfrau und ein Gastarbeiter ineinander und beschließen zu heiraten. Die Ehe stößt nicht nur bei der Familie der Frau auf Ablehnung, sondern auch die Bekannten und Nachbarn haben dafür wenig Verständnis. Haben die beiden Außenseiter zueinander gefunden, so sehen sie sich nun einer feindlichen Umwelt gegenüber, die sie als Paar ablehnt. Martin Walser greift in seinem Roman Der Lebenslauf der Liebe einige der beschriebenen Tendenzen des Figurenmodells der verliebten Alten auf. Im Folgenden soll untersucht werden, worin die zentralen Aspekte weiblichen Alterns in Martin Walsers Roman bestehen. Davon ausgehend werden die Besonderheit der Aktualisierung des Figurenmodells durch Martin Walser untersucht und es wird der Frage nachgegangen, ob und inwiefern diese einen Beitrag zu einer Erneuerung des Repertoires alter Figuren in der Literatur leisten kann. Mit der Analyse des Romans Der Augenblick der Liebe wird dem weiblichen Figurenmodell ein männliches Modell des gleichen Autors gegenübergestellt. Hier wird exemplarisch untersucht, inwieweit es geschlechtsspezifische Ausformungen des Figurenmodells in der Gegenwartsliteratur gibt. 3.2 Weibliches Altern im Der Lebenslauf der Liebe Die Auseinandersetzung mit dem Prozess des Alterns beschäftigt Martin Walser seit dem Erscheinen seiner Novelle Ein fliehendes Pferd im Jahr 1978 in vielen Erzählungen und Romanen. Von den bisherigen Protagonisten Walsers unterscheidet sich die zentrale Figur Susi Gern des im Jahr 2001 erschienenen Romans Der Lebenslauf der Liebe. 48 Sie ist nicht nur eine Frau, sie flieht auch nicht vor ihrem Alter und den Veränderungen, die der Prozess des Alterns mit sich bringt. Von der Literaturkritik wurde der Roman Der Lebenslauf der Liebe sehr kontrovers diskutiert. Literaturwissenschaftliche Analysen liegen bislang kaum vor. Vergleicht man Martin Walsers Roman mit den Ausgestaltungen des Figurenmodells der verliebten Alten, dann kann der Text als Aktualisierung der Mann‘schen Novelle angesehen werden. Hierauf gibt es einige Hinweise. Ebenso wie Thomas Manns Protagonistin zeichnet sich Susi durch ihre Unbedeutendheit aus. Ebenso wie Manns Heldin lebt sie in Düsseldorf und hatte einen notorisch untreuen Mann. Beide Figuren 47 Rainer Werner Fassbinder: Angst essen Seele auf. Tango-Film. BRD 1973/ 74. 48 Martin Walser: Der Lebenslauf der Liebe. Roman. Frankfurt a.M. 2001. Seitenangaben mit dem Kürzel „LdL“ beziehen sich auf diese Ausgabe. <?page no="165"?> 163 zeichnen sich zudem durch eine enge Beziehung zur behinderten Tochter aus, wobei die Behinderung bei Thomas Mann lediglich in einem Klumpfuß besteht, der es der jungen Frau zwar beinahe unmöglich macht, einen Mann zu finden, sie aber nicht daran hindert, Kunst zu studieren. Vergleichbare intellektuelle Leistungen sind von Susis Tochter Conny nicht zu erwarten, dennoch kommt auch ihr - wie bereits beschrieben - eine wichtige Funktion im Roman zu. In diesen textuellen Beziehungen erschöpft sich das Figurenmodell der verliebten Alten in Walsers Darstellung aber bei Weitem nicht. Ich werde im Folgenden aufzeigen, wie Martin Walser nicht nur mit dem traditionellen Modell der verliebten Alten spielt, sondern dieses durch die Übertragung in einen neuen Kontext aufbricht und die Unzulänglichkeit der traditionellen Bewertung für die Beschreibung der gegenwärtigen Vielfalt von Altersmodellen aufzeigt. Susis Altersdefinition Für das Anwaltsehepaar Gern ist der Eintritt ins Alter nicht durch das soziale Kriterium des Austritts aus dem Berufsleben gekennzeichnet. Edmund macht sich mit achtundfünfzig Jahren selbstständig und Susi hat den Einschnitt, den das Verlassen des Elternhauses durch die Kinder für viele Frauen darstellt, nicht erlebt, da sie ihre behinderte Tochter betreut. Aufgrund des fehlenden rite de passage sucht Susi selbst nach einer Definition der Lebensphase Alter. Aufgrund ihrer Erfahrungen und Wünsche definiert sie für sich sehr emotional das Alter als Ende der Sexualität. Die Lebensphase Alter wäre dann die Zeit einer Kameradschaftsehe, in der die Ehepartner zu einer Einheit verschmelzen. Erklärbar wird Susis Wunsch nach einem sexualitätsfreien Lebensabschnitt durch die Lebenssituation des Ehepaars Gern. Da die Gerns eine sehr ungewöhnliche Ehe führen und wegen grundverschiedener sexueller Wünsche kein körperlicher Kontakt mehr besteht, hofft Susi, mit dem Ende der Sexualität eine neue Beziehung zu ihrem Mann aufbauen zu können. Für das Alter als Symbiose hat Susi in dem Ehepaar Oschatz ein Vorbild. 49 Herr Oschatz ist 49 Folgt man Hannelore Schlaffers in ihrem Essay Alter. Ein Traum von Jugend geäußerten Überlegungen zu Senioren und Seniorinnen, dann ist Susis Wunschbild kein Einzelfall: „Alte Paare haben, weil sie eine neue Erscheinung sind, zwar noch keinen Redner und keinen Dichter gefunden, der sie priese; dennoch zeigt sich das Glück der gereiften Ehe massenhaft in den Straßen der Städte. Der Auftritt gehört dabei den Frauen. Bildungschancen, Quotenregelung und eigenes Talent haben sie ins öffentliche Leben hineingeführt, ihre Emanzipation bewegt sich voran als schleichender, aber unaufhaltsamer Prozeß. Über sie muß man sich keine Gedanken mehr machen. Zu sorgen aber hätte man sich diesmal eher um die Emanzipation der Männer über sechzig, der Rentner, Pensionäre, Kleinst-Akionäre [sic], Spätstudenten, Weltreisenden. Trotz solch schmückender Titulaturen und Auszeichnungen, die sie als Geldgeber, Geisteshelden und Abenteurer ausweisen, hängen sie am Gängelband. Ein aus dem Berufsleben ausgeschiedener Mann entkommt seiner Frau nicht mehr. <?page no="166"?> 164 „bald siebzig und ein Juwel. Mit bald siebzig“, so denkt Susi, „keine Kunst. Bei Edmund, gleich achtundfünfzig, noch nicht vorstellbar.“ (LdL 45) Ein glückliches Zusammenleben der Ehepartner ist erst dann möglich, wenn Edmund sich nicht ständig nach einer Frau umsehen muss, mit der er seine sexuellen Wünsche teilen kann. Dass dieses Konzept nur eine Illusion Susis ist und in der Realität nicht problemlos gelebt werden kann, zeigt sich anhand der Geschichte von Ottilie Oschatz. Leidet diese im zweiten Teil an einem schweren Diabetes, so ist sie im dritten Teil zu Theos Pflegefall geworden. Nur noch er darf sich ihrem Bett nähern und berichtet Susi den einzigen Satz, den seine Frau in regelmäßigen Abständen von sich gibt: „Das Leben ist beschissen.“ (LdL 459) Die Struktur des Romans Neben dem von Susi in verschiedenen leitmotivischen Sätzen immer wieder anzitierten symbiotischen Alterskonzept entwickelt Martin Walser in seinem Roman weitere Alterskonzepte. Diese sind weniger explizit ausgeführt, sondern implizit über die Liebeskonzepte der Figuren zu entschlüsseln. So wie in jedem der drei Romanteile ein neues Liebeskonzept entfaltet wird, so liegt auch jedem Teil ein eigenes Alterskonzept zugrunde. Dieses Muster - so meine These - ist grundlegend für den gesamten Roman sowie für das Verständnis des Figurenmodells der Altersliebe, da dieses in Abgrenzung zu historisch früheren Konzepten gestaltet ist. Nach einem kurzen Überblick über die Inhalte des Romans werde ich die zentralen Aspekte der Altersrepräsentation am Beispiel Susis vorstellen und im Unterkapitel Alterskonzepte und Liebeskonzepte meine These ausführlich belegen. Der Roman Der Lebenslauf der Liebe erzählt in drei Ausschnitten das Leben der Anwaltsgattin Susi Gern. Der erste Teil mit dem Titel Sonntagskind spielt im Jahr 1987 und entwirft ein Bild von Susis Alltag. Mit ihrem Mann und der behinderten Tochter lebt die Sechsundfünfzigjährige in einer Art Wohngemeinschaft. Bereits kurz nach der Geburt ihrer beiden Kinder Andreas und Conny musste Susi erkennen, dass sie nicht in der Lage ist, Edmunds sexuelle Neigungen und seine Wünsche nach Gruppensex zu teilen. Daher hat sie das Eheleben zum Schein aufrechterhalten und sich mit verschiedenen Geliebten über die unbefriedigende Ehe hinweggetröstet. [...] Männer über sechzig sind im Haus, im Familienleben und im Kreis der Freundinnen ihrer Frauen gefangen.“ Hannelore Schlaffer: Das Alter. Ein Traum von Jugend. Frankfurt a.M. 2003, S. 72. <?page no="167"?> 165 Susi leidet zunehmend unter dieser Situation und vor allem unter der Rücksichtslosigkeit ihres Mannes, der Beziehungen zu drei Geliebten unterhält. In ihr keimt die Hoffnung, dass der Eintritt in die Lebensphase Alter durch das Nachlassen der sexuellen Wünsche eine Veränderung in der Beziehung zu ihrem Mann mit sich bringt. Andererseits versucht sie ihrer Einsamkeit dadurch zu begegnen, dass sie über eine Zeitungsannonce einen neuen Lebenspartner außerhalb ihrer Ehe zu finden versucht. Dieser neue Mann soll ihre Sehnsucht nach körperlicher Liebe erfüllen und ihr helfen, ihre familiäre Situation zumindest zeitweise zu vergessen. Allerdings scheitert sie an ihrem Wunsch, einen mindestens zehn Jahre jüngeren Liebhaber zu finden. Der Glücksrad betitelte zweite Teil spielt acht Jahre später. Edmund ist an Parkinson und damit einhergehender schwerer Inkontinenz erkrankt. 50 Susis Alltag ist nun von den Problemen geprägt, die Edmunds Krankheit mit sich bringt. Ihre Hoffnung, dass er mit ihr den „schäbigen Rest“ (LdL 255, 296) seines Lebens teilen würde, wird aber immer noch nicht erfüllt. Seine Beziehungen zu seinen drei Geliebten ist er nicht bereit aufzugeben. Zudem erfüllen sich auch die negativen Vorzeichen aus dem ersten Teil. Edmunds Börsenspekulationen und Investitionen in große Bauprojekte in Ostdeutschland treiben die Familie in den Ruin. Edmund, der am Tag des Auszuges aus der 390m² großen Wohnung stirbt, bekommt davon nicht mehr viel mit. Susi findet aufgrund von Edmunds Krankheit zu einer neuen Form der Selbstständigkeit, sie muss sich als „Katastrophenbuchhalterin“ (LdL 218) zum ersten Mal in ihrem Leben mit den Finanzen ihrer Familie auseinandersetzen und um ihren eigenen Unterhalt kämpfen. Das letzte Kapitel des Buches ist mit dem auf ein Lied von Frank Sinatra anspielenden Titel Strangers in the night versehen. Hier finden sich Susi und Conny in einer völlig neuen Lebenssituation: Sie leben in einer Zweizimmerwohnung und sind auf die Unterstützung durch das Sozialamt angewiesen. Zwar gibt es noch einige frühere Bekannte ihres Mannes, die ihnen finanziell helfen, aber dennoch ist das Geld immer knapp. Der Sohn Andreas ist mit einer Selbstständigkeit als Immobilienberater grandios gescheitert, betreibt kurzfristig mit seiner neuen Geliebten ein Bordell, um sich dann nach Südamerika abzusetzen. Von ihm kann Susi keine Unterstützung erwarten. Trotz allem schafft sie es, erstmals freundschaftliche Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen (LdL 99, 136, 379). Zur neuen Lebenssituation trägt aber auch Susis Liebe zu dem achtunddreißig Jahre jüngeren Marokkaner Khalil - dem Fremden aus der Überschrift - bei, der bereits nach wenigen Wochen darauf besteht, die inzwischen siebenundsechzigjährige Susi zu heiraten (LdL 411). 50 Vgl. dazu in Teil II das Kapitel Alter und Krankheit. <?page no="168"?> 166 Bereits dieser kurze Überblick über die Romanhandlung und das jeweilige kalendarische Alter der Protagonistin zeigt, dass Martin Walser im Roman drei unterschiedliche Bereiche des Alter(n)s behandelt: Teil 1: Klassische Themen der midlife progress novel, die bereits im Rahmen der Interpretation von Monika Marons Romanen vorgestellt wurden, stehen im Fokus des Romanbeginns. Hier wird nicht nur ein Überblick über Susis gesamtes Liebesleben - also ihren bisherigen „Lebenslauf der Liebe“ - gegeben, ebenso wird der Grundstein gelegt, um aufzuzeigen, dass die Erlebnisse im Alter in Kontinuität mit der früheren Lebensweise stehen. Teil 2: In diesem Teil wird das für Walsers Werk zentrale Motiv der Krankheit mit dem Alter verbunden. Gleichzeitig werden Fragen nach dem Zusammenleben mit einem erkrankten alten Menschen sowie den Herausforderungen, denen sich die pflegenden Angehörigen stellen müssen, aufgeworfen. Teil 3: Anfangs scheint es, als ob dieser letzte Teil von Susis Alterserfahrungen und hier vor allem von der neu erlebten Armut gezeichnet wäre. Mit der Liebe zu dem neunundzwanzig Jahre alten Khalil wird das in den vorigen Kapiteln bereits durchgespielte Liebesmotiv auf eine neue Ebene gehoben: Als verliebte Alte widerspricht Susi auf eine andere Art und Weise gesellschaftlichen Normen, als dies in den anderen beiden Romanteilen der Fall war. Da die Probleme der Lebensmitte im Fokus der Analyse der Romane Monika Marons standen, liegt im Folgenden der Schwerpunkt der Analyse neben der Gestaltung der Protagonistin und der Herausbildung einer Altersidentität auf der Untersuchung des Themenbereichs ›Altersliebe‹. Der insbesondere für den zweiten Teil zentrale Themenkomplex Alter und Krankheit sowie die Gestaltung des an Parkinson erkrankten Edmund werde ich im Kapitel IV.7.1 gesondert untersuchen. „Bist du das noch? “ 51 - Der Übergang in die Lebensphase Alter Es gehört zu den Leistungen von Ein Flugzeug über dem Haus, dem Buchdebüt Walsers, nicht nur Modelle des produktiven Sichabsetzens von Kafka zu schaffen, sondern mit Elementen des Selbstgesprächs eine eigene - wenngleich anderen Schreibversuchen von Zeitgenossen ähnliche - Erzählform auszuprobieren. 52 Die Beobachtung des Literaturwissenschaftlers Wilfried Barner, dass das Selbstgespräch eine zentrale Funktion in der Poetik Martin Walsers 51 LdL 288. 52 Wilfried Barner: Selbstgespräche? Über frühe Erzählprosa Martin Walsers. In: Text und Kritik. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. Heft 41/ 42: Martin Walser. 3. Aufl.: Neufassung. München 2000, S. 79-90, hier S. 89. <?page no="169"?> 167 einnimmt, hat an ihrer Aktualität seit den frühen Erzählungen nichts verloren. Vielmehr hat Walser das „einsame Selbstgespräch“ 53 weiterentwickelt und in der Er-Form etabliert. Dieses zeichnet sich einerseits durch die zentralen Charakteristika des Selbstgesprächs wie Spielfreiheit, Selbstkorrektur und die Nachzeichnung unsicherer Deutungsversuche des eigenen Lebens aus, andererseits wird aber „alles, was wahrgenommen wird, nur aus der Perspektive des ›Helden‹ erzählt.“ 54 Damit bleibt eine gewisse kritische Distanz zum Erzählten gewahrt. Das Selbstgespräch ist für Martin Walser - wie er dies im Jahr 2000 in einem Artikel in der Zeit bestätigt - immer noch ein wichtiges Mittel der Figurengestaltung. Ebenso wie es in der Realität sehr viel über eine Person aussagen kann, ist das Selbstgespräch in Walsers Poetologie auch zentral für die Charakterisierung einer Figur: Wir suchen nach der Sprache, in der wir am meisten enthalten sind. Dann könnten wir eine Karatbestimmung vorschlagen: Der Karatgehalt einer Rede, einer Sprache bestimmt sich danach, wie sehr oder wie wenig der Redner oder Schreiber in seiner Sprache enthalten ist. Danach wäre sicher jeder im Selbstgespräch am meisten enthalten. 55 Diese Überlegungen erhellen auch Walsers Figur Susi Gern, denn das grundlegende Gestaltungsmittel dieser Figur ist das Selbstgespräch: „Walser gelingen hinreißende Selbstgespräche und blendende Dialoge, wie rhetorische Salven geschossen“, 56 so beschreibt der Literaturkritiker Ingo Arend die Wirkung der Erzählweise. Hier wendet Walser also das Erzählprinzip an, das seit den frühen Erzählungen seine Prosa dominiert: Er erzählt ausnahmslos aus der Perspektive der Protagonistin Susi in der dritten Person. Lediglich in kurzen Einschüben scheint eine Erzählerfigur auf, die immer objektiv bleibt und keinerlei kommentierende Funktion übernimmt. 57 Im Vergleich zu Marons Roman Endmoränen, in dem die Protagonistin Johanna Märtin ihre Probleme mit dem Älterwerden in der 53 Ebd., S. 84. 54 Ebd., S. 83 55 Martin Walser: Über das Selbstgespräch. Ein flagranter Versuch. In: Die Zeit vom 13.01.2000. 56 Ingo Arend: Sturzbach des Glücks. Entleerung der bürgerlichen Seele: Martin Walsers neuer Roman Der Lebenslauf der Liebe. In: Der Freitag vom 27.07.2001. 57 Stuart Taberner sieht in verba dicendi und anderen objektiven Beschreibungen des Erzählers bereits Einfühlungsvermögen und Mitgefühl des Erzählers. Dieser Interpretation kann ich mich nicht anschließen. Vielmehr handelt es sich hierbei um Strategien der Leserlenkung, die Martin Walser bewusst einsetzt, um eine distanzierte Identifikation des Lesers mit der Figur zu erzielen, bzw. in der Beschreibung Schneiders, das Bewusstsein für die Form der Identitätskonstruktion wachzuhalten. Stuart Taberner: The Triumph of Subjectivity. Martin Walser’s Novels of the 1990s and his Der Lebenslauf der Liebe. In: Seelenarbeit an Deutschland. Martin Walser in Perspective. Hrsg. von Stuart Parkes und Fritz Wefelmeyer. Amsterdam, New York 2004, S. 429-445, hier S. 437. <?page no="170"?> 168 Ich-Perspektive schildert, erhöht sich durch die 3. Person die Distanz - des Autors und des Lesers - zur Figur. Andererseits ist das Selbstgespräch nach Walsers Definition die Form des Sprechens, in der die Figur am meisten sie selbst ist, da sie sich unbeobachtet fühlt. Die Ambivalenz der Figur ist also bereits in der Erzählweise angelegt. Damit liegt aufgrund der Erzählhaltung die Extremform der Individualisierung nach Schneider vor. Susi ist eine in höchstem Maße individualisierte Figur, da sie durch einen sehr großen Merkmalssatz gekennzeichnet ist. Irritierende Merkmale, die zu einer Entkategorisierung führen könnten, finden sich nicht im Text. Stattdessen macht Martin Walser durch die Erzählhaltung Formen der Selbstinszenierung und des Selbstbetrugs transparent. Die Figur ist damit wesentlich leichter zu dechiffrieren, als dies bei Marons Protagonistin der Fall ist. Durch den Einblick in die Psyche der Figur wäre zwar auch eine Kombination von unvereinbaren Merkmalen möglich, wie dies oftmals beim Bewusstseinsstrom zu beobachten ist. Diese Strategie wendet Walser in diesem Roman nicht an, da die Leserlenkung des Romans auf eine Identifikation mit der Hauptfigur abzielt. Diese Wirkungsabsicht scheint mir gerade auch im Zusammenhang mit dem Figurenmodell der verliebten Alten nicht unwichtig zu sein. Ist es z.B. in Thomas Manns Erzählung Die Betrogene die Erzählhaltung, die keine eindeutige Wertung zulässt, so wird am Ende von Walsers Roman die positive Bewertung der über lange Jahre in einer schwer zu erduldenden Situation ausharrende Susi nicht in Frage gestellt. Da Walsers Susi - wie übrigens auch Thomas Manns Rosalie von Tümmler - recht naiv ist, ist sie für den Leser leicht zu erfassen, ihre Entscheidungen und Entwicklungen sind plausibel. Damit wird sie als Figur glaubwürdig und weckt das Interesse des Lesers. 58 Bereits die Einführung der Figur verdeutlicht deren Potenzial: Sechsmal hielt sie den Zeigefinger Domino hin, sechsmal hielt sie ihn Jeannie hin und zählte mit und wechselte ab, weil sie wußte, Jeannie hätte es für ungerecht gehalten, wenn Domino sechsmal nacheinander den aus der Quarkschüssel auftauchenden Zeigefinger hätte ablecken dürfen, bis sie zum ersten Mal drangekommen wäre. Susi Gern genoß es, gerecht sein zu können. So hätte Mr. Warhol sie malen müssen. Frühstückend. Domino und Jeannie links und rechts vor ihr auf dem großen, runden, weißen Tisch. Edmunds Kommentar: Wenn mir das einer gesagt hätte, Katzen auf deinem Frühstückstisch. Sie, von Anfang an: Meine Katzen dürfen alles. [...] Daß ihre Katzen Kunstwerke waren, wußte nur sie. Wenn Edmund mit ihr frühstückte - also gar nicht mehr so oft, und sie hatte sich nicht nur daran gewöhnt, sie hatte es sogar genießen gelernt, ohne ihn zu frühstücken -, aber wenn er sich dann wieder einmal zur gleichen Zeit an den von ihm ausgesuchten Tisch setzte, dann ließ er sie das vorher wissen; und sie wußte, daß es besser sei, die Katzen den Quarkfinger lecken zu lassen, bevor Edmund ihr gegenüber Platz nahm. (LdL 9) 58 Vgl. z.B. Christiane Florin: Süchtig nach Susis Seifenoper. Martin Walser und sein Lebenslauf der Liebe. In: Rheinischer Merkur vom 27.07.2001. <?page no="171"?> 169 Diese Schilderung wirkt auf den ersten Blick lächerlich. Eine Frau, die morgens ihre beiden Katzen ›von Hand‹ füttert. Allerdings vermittelt diese Szene bereits eines der wichtigen Merkmale der Figur: ihren Wunsch nach der perfekten Inszenierung, ihre Sehnsucht nach Normalität und ihr großes Bedürfnis nach körperlicher Zuwendung. Da sie keine gleichberechtigte Zweierbeziehung lebt, in der sie die erwünschte Zuneigung bekommt, sucht sie eine Ersatzbefriedigung bei ihren Katzen. 59 Dass sich Susi ihres Hangs zur Selbstinszenierung durchaus bewusst ist, zeigen Passagen, in denen sie sich vorstellt, dass sie jemandem ihre Geschichte erzählt oder vorspielt, wie sie gerne wäre. Hier ist vor allem Edmund ihr imaginierter Hauptansprechpartner, manchmal auch eine ihrer Putzfrauen. 60 Es gibt aber auch reflexive Textstellen, in denen sie sich ausmalt, wie ihr Leben verlaufen könnte: Sie marschierte im Kleinen Apartment auf und ab. Sie geriet wieder ins Inszenieren. Sie mußte sich immer wieder das Leben so inszenieren, wie es sein sollte. Du triffst ihn, er sagt: Hör mal, meine Frau sitzt im Rollstuhl, sie weiß, daß ich gelegentlich weggehe, wenn du’s nicht bist, ist’s eine andere. Weher kann ein Text nicht tun. Er: Daß er nur aus Anstand bei dieser Frau, die mit sechsundzwanzig verunglückt ist, bleibt. Arme, arme Frau, würde Susi sagen. Dann fänden sie zusammen. [...] Susi merkte, daß sie Fernsehen inszenierte. Es schüttelte sie. Aber sie gestand sich ein: Ich will den, der mich wollen muß. (LdL 142f.) Dass es Susi vor ihrer eigenen Erfindung graust, macht die Figur nicht nur sympathisch, sondern zeigt auch die Ambivalenz zwischen ihren Wünschen und Sehnsüchten und ihrem Gefühl für Gerechtigkeit. Der Wunsch, es allen recht zu machen, führt dazu, dass sie Edmund nicht verlassen kann. Erzähltheoretisch zeigt diese Passage, dass das Selbstgespräch 59 „Susi saß und dachte an die Zeit, als sie sich noch nicht daran gewöhnt hatte, daß Edmund beim Frühstück hinter der Frankfurter verschwand. Sie hatte Edmunds Mutter angerufen. Sprich doch du mit ihm, hatte sie gesagt. Eine Zeit lang hatte er sie dann im Büro gelesen. Aber er hatte sich, während er die Zeitung las, immer wieder mit ihr unterhalten. Als nichts mehr gekommen war von ihm, war sie selbständig geworden. Sie frühstückte mit ihren Katzen.“ (LdL 344) 60 „Und heute, an ihrem Geburtstag, wer schaut ihr zu? Keiner! Jetzt merkt sie, wie sehr sie ihre Frauen als Zuschauer braucht. Daß keine von denen da ist, macht den Sonntag gleich so leer. [...] Wenn wenigstens Hildchen Tönnissen da wäre. Sie war Susi die liebste Zuschauerin. Am leichtesten spielte es sich vor Hildchen Tönnissen. Am schwersten vor Frau Oschatz. Eben deshalb wird sie Frau Oschatz erst entlassen, wenn sie sie dazu gebracht hat, ihrer Herrin ohne Einschränkung zu applaudieren. Sie wollte Frau Oschatz weder erpressen noch täuschen. Sie wollte sich so aufführen, daß eine Frau Oschatz ihr applaudieren konnte. Sie spürte in Frau Oschatz eine gewaltige Urteilskompetenz. Instanz Oschatz, dachte Susi wohlig schaudernd. Vor Frau Oschatz zu bestehen, hieß überhaupt zu bestehen. Jetzt übertreibste aber, sagte Susi laut ins Zimmer. Ja, sagte sie, weil es mir Spaß macht. Frau Oschatz ist nämlich ...“ (LdL 76) <?page no="172"?> 170 auch eine Form des unzuverlässigen Erzählens auf zweiter Ebene ist. Räumt Susi hier ein, dass sie sich die Geschichte nur ausmalt, so ist es durchaus möglich, dass andere Erfindungen nicht als solche gekennzeichnet sind, denn der Erzähler erster Ebene greift nicht ein, um Fehler aufzudecken oder Geschehnisse transparent zu machen. Aufgrund der konsequenten internen Fokalisierung stellt sich daher die Frage, wie zuverlässig die Informationen zu den einzelnen Figuren sind. 61 Dies betrifft weniger die Figur Susi selbst als vielmehr die anderen Figuren, zu deren Verständnis lediglich Susis Aussagen und Ansichten zur Verfügung stehen. Die variantenreiche Schilderung Edmunds könnte z.B. auch darauf zurückzuführen sein, dass Susi ihn nicht versteht. Wohingegen die Zeichnung ihrer Putzfrauen weniger in deren Einfachheit begründet ist, als in der Tatsache, dass diese die Vorstellungen, die Susi von ihnen hat, im Alltag erfüllen. Somit ist im Folgenden das Verhältnis von direkter Beschreibung der Figuren durch Susi und deren indirekte Charakterisierung durch ihre Sprache und Handlungen von besonderer Bedeutung, da in der Differenz der Einfluss Susis auf die jeweilige Figur aufscheint. Zum anderen ist bei der Untersuchung der Alterskonzepte zu beachten, dass den Figuren zugeschriebene Alterskonzepte auch als Kontrast zu Susis eigenen Vorstellungen entworfen sein könnten. Zunächst aber soll die Entwicklung der Figur Susi im Lauf des Romans analysiert werden. Susis Selbstinszenierungen, ihre Erfindungen und ihre ständige narrative Selbstvergewisserung weisen auf die zentrale Problematik der Figur hin: Susi konnte aufgrund verschiedener Faktoren keine stabile Identität ausbilden. Bevor also der für die midlife progress novel ebenso wie für den Altersroman typische Prozess der Herausbildung einer Altersidentität einsetzen kann, müssen die Traumata der Kindheit und des frühen Erwachsenenalters, die ebenso an die Figur des Vaters wie an Edmund geknüpft sind, überwunden werden. Wie bereits der Titel Lebenslauf der Liebe signalisiert, nimmt Martin Walser nicht nur die Lebensphase Alter in den Blick, sondern stellt auch die Frage, wie Susi wurde, wie sie ist. Dadurch erhält die Figur eine psychologische Tiefe und Kontur. Susi stammt aus einer Essener Familie. Der Vater - eigentlich Kirchenmaler (LdL 99) - hat, um seine Familie ernähren zu können, eine Stelle an der Folkwang-Schule angenommen (LdL 115). Bereits die Namensfindung für die Tochter zeichnet die innerfamiliären Konflikte nach: Sobald sie sich Suse nannte, sah sie ihren Vater vor sich, der ein frommer Mann gewesen war, der, hieß es, dagegen gewesen war, daß die Mutter sie Susanne taufen ließe, weil ihn Susanne immer an die im Bade von Lüstlingen Beobachtete erinnere. Der Vater hatte während ihrer ganzen Kindheit dafür 61 Zum Problem der Zuverlässigkeit der Bindung von Informationen an eine Figur vgl. Fotis Jannidis: Zur Erzähltheorie der Figur. Alte Probleme und neue Lösungen. In: Der Deutschunterricht 57 (2005) H. 2, S. 19-29, hier S. 21. <?page no="173"?> 171 gesorgt, daß nicht eine einzige Illustrierte in die Wohnung gekommen war. Aber Susi hatte aus elterlichen Dialogen entnehmen können, daß der Vater, um in Illustrierten zu blättern, öfter ins Café ging. In seiner Gegenwart durfte sie nur Suse genannt werden. Susi fand er unanständig. Feigesuse, du. (LdL 27) Bereits die Namensgebung der Tochter zeigt, welche Bürde dieser mitgegeben wurde. Auf ihrem Rücken wird ein Machtkampf zwischen den Eltern ausgeführt. Über die Festlegung des Rufnamens der Tochter versucht der Vater, Macht auf die Mutter und auf Susi selbst auszuüben, weil er sich bei der Namensgebung übergangen fühlt. Die Illustrierten- Episode verdeutlicht zudem, dass er wie ein Haustyrann versucht, seine Familie abzuschirmen. Die Lust, die die beiden Alten in der Bibelepisode beim Betrachten der schönen badenden Susanna empfanden, kann in der Gegenwart durch das Medium der Illustrierten jederzeit geweckt werden. Hier ist zu vermuten, dass die Illustrierten für Susis Vater eine ähnliche Funktion erfüllen wie die zahlreichen Pornos für Edmund. Andererseits ist er derjenige, der über das Wissen aus den Illustrierten verfügt und damit seine Machtposition festigt. Damit ist der Vater für Susis beschränktes Weltbild mitverantwortlich: Einerseits hat sie durch die Erziehung ein sehr konservatives Verständnis von Sexualität vermittelt bekommen, das mit dem Edmunds in keiner Weise vereinbar ist. Andererseits verfügt sie, obwohl sie in einem Intellektuellenhaushalt aufgewachsen ist - der Vater war Künstler und Lehrer - nur über eine sehr eingeschränkte Allgemeinbildung, die vermuten lässt, dass der Vater nicht nur das Lesen von Illustrierten reglementiert, sondern darüber hinaus Susi zu einem weltfremden Wesen erzogen hat. Wie sehr Susi unter der familiären Situation gelitten hat, wird an ihrer Dankbarkeit Edmund gegenüber sichtbar: Fernsehen, Fressen und Kotzen: das war mein Leben. Dachte sie, als sie Dominos Dreck aufputzte, bis nichts mehr zu sehen und nichts mehr zu riechen war. Edmund schaute zu. Wenn er jetzt bloß nicht irgend etwas sagt. Bloß jetzt keine Nummer aus seinem Vertröstungsprogramm. Der Satz ihres Vaters: Bitte, tu nichts, daß ich mich von dir abwende. Unter dieser Drohung hatte sie gelebt, bis Edmund sie herausgeholt hatte. Richtig gefleht hatte ihr Vater. Tu nichts, daß ich mich von dir abwende. Als Edmund sie dann auch noch von Essen nach Düsseldorf gebracht hatte, hat sie gewußt, sich geschworen, ihm beteuert, daß sie ihm dafür immer und ewig dankbar sein und bleiben werde. Und jetzt? (LdL 290) Diese Szene ist grotesk. Der emotionale Druck, den der Vater auf Susi ausübt, lässt auf eine Traumatisierung der Tochter schließen, da diese von ihm nicht wie eine Tochter, sondern wie ein Liebesobjekt behandelt wurde. Zwar hat Edmund sie aus dieser Situation erlöst, doch lediglich die ersten Ehejahre bis zur Geburt der beiden Kinder brachten für Susi eine gewisse Normalität mit sich. Nachdem sie nicht in der Lage war, Edmunds sexuelle Wünsche und Phantasien zu teilen, wiederholte sich mit ihm die familiäre Konstellation. An die Stelle der väterlichen Macht tritt nun die Unter- <?page no="174"?> 172 drückung ihrer Wünsche und Sehnsüchte durch Edmund. Allerdings geht er auf eine subtilere Art und Weise vor. Im Unterschied zu anderen literarischen Ausgestaltungen von Eheproblemen und Unterdrückungen von Frauen in der Ehe 62 wird Susi von ihrem Mann nicht zu sexuellen Handlungen gezwungen. Ganz im Gegenteil: Da sie nicht bereit ist, seine Wünsche zu erfüllen, hat er dafür einen ganzen Stab anderer Frauen. In diesem Hang zum freien Ausleben seiner Begierden, zu Partnertausch und Gruppensex gibt sich der Düsseldorfer Staranwalt als für Walsers Prosa typischer Kleinbürger zu erkennen. Zudem stellt er seine Amoralität unter Beweis, 63 unter der seine Frau zu leiden hat. Susis Aufgabe: den Schein der Normalität aufrechtzuerhalten und Edmunds Inszenierungen zu bewundern. Denn Edmund möchte keine Trennung von Susi, sondern ihre Ehe erhält eine neue Qualität dadurch, dass die Ehepartner keinen gemeinsamen Sex mehr haben. Mit der Neudefinition ihrer Beziehung macht er Susi mit der „Fundamentalbedingung ihrer Ehe [...] nichts hinterm Rücken des anderen“ (LdL 16) zu seiner Vertrauten. Im Gegenzug ist er aber nicht bereit, Zugeständnisse zu machen. Der leitmotivisch wiederholte Satz „soll ich mir den Schwanz abschneiden“ (LdL 96, 139, 142, 247, 291, u.ö.) veranschaulicht dies treffend. Die seelische Grausamkeit, die Edmund damit an Susi verübt, ist aber nicht auf die Sexualität beschränkt. Es entsteht zunehmend der Eindruck, dass er Susi in erster Linie als moderne Haushaltssklavin und Publikum für seine Tanzeinlagen und Erzählungen benötigt. Ihre Einsamkeit bemerkt er nicht oder nimmt sie stillschweigend in Kauf. Daher beachtet er auch für Susi wichtige Ereignisse wie z.B. ihren Geburtstag nicht. Diesen Tag verbringt er zu Beginn des Romans mit einer seiner drei Geliebten in Rom. 64 Susi bleibt mit der behinderten Tochter Conny in der gemeinsamen Wohnung zurück. Die Ehe wird somit als Zwangsverband gezeigt, der auch Ende des 20. Jahrhunderts die Unterdrückung der Frau ermöglicht. Der Köder, der die Frau in diese Falle treibt, ist das Ideal der individuellen Liebe, das auch Susi vertritt. Conny ist gleichsam das Alter Ego Susis. Leidet Susi unter einer seelischen Deformation aufgrund von Liebesentzug, so ist die Tochter aufgrund eines Fehlers des Chefarztes bei ihrer Geburt geistig behindert. Die langsame, um dreißig Jahre verzögerte emotionale Entwicklung Susis wird damit durch die Entwicklungslosigkeit Connys kontrastiert. 65 62 Vgl. hier als extremes Beispiel Lust von Elfriede Jelinek. 63 Volkmar Sigusch: Vom Trieb und von der Liebe. Frankfurt a.M., New York 1984, S. 17f. 64 „Daß er begriffe, was es für sie sei, wenn er morgen mit Frau Pudlich nach Rom fliegen würde. Am Sonntag hat sie Geburtstag. Gut, es ist nur der sechsundfünfzigste. Und bei Edmund am Dienstag der achtundfünfzigste. Wichtig werden beide Tage nur dadurch, daß man nicht bei einander ist.“ (LdL 53) 65 Dies bestätigt sich vor allem im dritten Teil. Hier gibt es z.B. eine Szene, in der Susi völlig verwirrt ist, nachdem Mutter und Tochter den Behindertenausweis für Conny abgeholt haben. Dies bemerkt Conny und reagiert folgendermaßen: „Moment, sagte <?page no="175"?> 173 Zeigt sich die Sinnlosigkeit von Susis Dasein in ihrem Konsumrausch und der Beaufsichtigung ihrer Putzfrauen als einzige Aufgabe, so beschäftigt sich Conny - wenn sie nicht gerade fernsieht - mit sinnlosen Aufgaben: Einmal baut sie Säulen aus Fünfzigpfennigstücken (LdL 19f), dann schreibt sie ganze Telefonbücher ab (LdL 369f.) oder füllt karierte Seiten mit Zahlen, ohne mit diesen zu rechnen (LdL 369). Kontakt zur Außenwelt aufzunehmen, gelingt Conny leichter als Susi. Sie hat Briefpartner rund um die Welt und telefoniert mit diesen gerne auch stundenlang (LdL 20). Sie besucht regelmäßig Restaurants und Kneipen, in denen sie mit dem Servicepersonal befreundet ist (LdL 78), allerdings kommt es hier meist zu Konflikten, da Conny eine andere Realitätswahrnehmung als ihre Umwelt hat. So glaubt sie, ihren ungerecht behandelten Freundinnen beistehen zu müssen. Schwierigkeiten, die sich aus Connys Wirklichkeitssicht ergeben, verhindern auch eine Berufsausübung. Zu Beginn des ersten Teils ist Conny achtundzwanzig Jahre alt (LdL 18). Die Eltern versuchen sie durch großzügige Spenden mit Praktika in einem Tiergeschäft bzw. beim Tierarzt zu beschäftigen. Doch trotz der guten Bezahlung durch Edmund kann Conny nirgends lange bleiben. Sie stört die Arbeitsabläufe dadurch, dass sie alles dreimal erzählt (LdL 82), Unnötiges - wie z.B. Futterdosen nach dem Verfallsdatum zu sortieren (LdL 89) - als zentrale Aufgabe auffasst oder ärztlich notwendige Handgriffe als Tierquälerei versteht (LdL 196). An diesen Beispielen zeigt sich, dass Conny Handlungen anders bewertet als ihre Umwelt und damit eine ganz eigene Wahrnehmung der Wirklichkeit hat, die nur ihre Mutter Susi übersetzen kann. Dabei teilt sie mit Susi das tiefe Bedürfnis nach Gerechtigkeit und Respekt für ihre Person. So kommt sie auch mit Edmund, den sie als „fiese Andriewer“ (LdL 226) oder „Olly“ (LdL 261) bezeichnet, nicht gut aus. Dieser versucht wiederholt, Conny gegenüber seine Macht zu demonstrieren, und respektiert seine Tochter nicht. Er war lange Zeit nicht bereit, die Behinderung seiner Tochter anzuerkennen, und macht Susi für ihre schlechten Leistungen in der Schule und ihr nicht altersgerechtes Verhalten verantwortlich. Conny ist aufgrund ihrer Behinderung sehr direkt. Dadurch wird sie einerseits als moderne Narrenfigur dargestellt, die kein Blatt vor den Mund nimmt und intuitiv Probleme erkennt und benennt. Ihre Natürlichkeit soll hier vermutlich auch durch die Verwendung des Düsseldorfer Dialekts gekennzeichnet werden. Andererseits spricht sie aber auch ihre eigenen Probleme - die ihre Mutter Susi nur in Gedanken hin- und herwälzt - sehr Conny, sagst du: Wir haben kein Geld mehr, also müssen wir nichts mehr bezahlen. Oder: Wir müssen nichts mehr bezahlen, weil wir kein Geld mehr haben? / Und Susi: Du bringst mich noch ganz durcheinander. / Und Conny: Jetzt reicht’s aber, Muttertier. Morgen ab in die Vohwinkelallee, höchste Zeit, daß du ’n Behindertenausweis kriegst.“ (LdL 382) <?page no="176"?> 174 direkt aus. Wie der Figur Edmund ist auch Conny ein leitmotivischer Satz zugeordnet. Dieser lautet: „Ich brauche doch einen Mann, Muttertier. Ich bin neunundzwanzig. Ich leide! “ (LdL 65, 208, 221, u.ö.) Sexualität spielt also auch in Connys Leben eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Allerdings ist sie in ihrem Leben das Abwesende, Unerreichbare, das ihr zwar in den Medien immer wieder vorgeführt wird, das ihr selbst aber vorenthalten bleibt. Zwar gibt es auch in Connys Leben den einen oder anderen Mann, der sich für sie interessiert, aber Susi verhindert jede Annäherung. Sie geht davon aus, dass das Interesse der Männer an Connys Vermögen größer ist als das an ihrer Person. Besonders problematisch wird die Sehnsucht Connys nach einem Mann im dritten Teil. Susis späterer Ehemann Khalil wird als potenzieller Liebhaber Connys eingeführt: Conny hielt die Aktion ihrer Mutter für Eifersucht. Aber heute sei sowieso angesagt der ultimative Muter-Tochter-Showdown. Heute müsse das Muttertier ihr Zuckerbätzchen Cornelia endlich aus ihren Samtpfötchen lassen, heute beginne eine neue Zeitrechnung. [...] Khalil heißt die neue Zeit. Die marokkanische Freundin [...] wird heute, [...] Khalil, den Marokkaner, dem sie alles über Cornelia erzählt hat, mit Cornelia zusammenführen, der sie alles über Khalil erzählt hat. Beide sind Suchende. [...] Der will dich heiraten, hat die Freundin gesagt. (LdL 383f.) Unabhängig davon, dass eine Heirat der entmündigten Conny nicht denkbar ist, kommt es zu einem Kampf zwischen Mutter und Tochter um den jungen Marokkaner. Da Conny kein länger dauerndes Interesse entwickeln kann, hat Susi leichtes Spiel. Allerdings muss sie ihrer Tochter immer wieder vermitteln, dass sie sich so intensiv um Khalil bemüht, um ihn für sie beide zu gewinnen. 66 In diesen Passagen entsteht der Eindruck, Conny und Susi wären zwei Facetten einer Figur. Conny vertritt eher eine kindliche, entsexualisierte Position der Freundschaft, wohingegen Susi eine erwachsene, nüchterne Sichtweise vertritt, in der Sexualität eine wichtige Rolle spielt. Aufgrund ihres Alters fühlt sich Susi zunehmend in einer Position, die der Connys vergleichbar ist. Sie sehnt sich nach Liebe, nach einem Mann, hat aber das Gefühl, zu alt für eine neue Beziehung zu sein. Das von Walser grandios inszenierte Scheitern ihres Versuchs, über eine Annonce einen Geliebten zu finden, weist im ersten Teil unverhohlen darauf hin, dass es für alternde Frauen schwerer wird, einen Sexualpartner zu finden. Edmund, der zwei Jahre älter ist als Susi, kennt dieses Problem nicht. 66 „Wir, Mäusken. Du und ich. Du als Freundin. Und ich als auch so was. Wir haben uns schnell an den gewöhnt. Wir müssen ihm eine Chance geben, sonst heiratet er eine andere, dann müssen wir uns mit der anfreunden. Ich glaube, das will ich nicht, sagte Susi. Glaubste, ich will das, sagte Conny. Und wenn er sich nicht mehr meldet, dann ...“ (LdL 397) <?page no="177"?> 175 Es ist aber weniger die Sexualität der Tochter, die Susi beschäftigt, als vielmehr ihr Körper. Da Conny keinen Mann „bekommt“, ist die Oralbefriedigung - sprich das hemmungslose Essen - eine Art Ersatz. Zwar isst Susi auch gerne und viel, aber bei ihr als Bulimikerin äußern sich die seelischen Probleme nicht in stetiger Gewichtszunahme. Ihre Tochter führt ihr so vor Augen, wie sie selbst aussehen könnte, wenn sie ihren Frust durch übermäßigen Nahrungs- und Alkoholkonsum kompensieren würde, ohne sich selbst durch ihr abendliches Kotzen zu disziplinieren. Einen zentralen Unterschied zwischen Mutter und Tochter gibt es. Zeichnet der Roman im zweiten und dritten Teil einen Entwicklungsprozess Susis, den man auch als Heilungsprozess lesen könnte, nach, so ist das besondere Merkmal der Figur Conny gerade, dass sie keinen oder nur einen marginalen Lernprozess durchläuft. 67 Sie passt sich ihren Umweltbedingungen an. Die Entwicklungslosigkeit zeigt sich dabei nicht nur im ausbleibenden geistigen und sozialen Fortschritt, sondern Susi stellt auch fest, dass sich Conny, abgesehen von ihrem stetig steigenden Gewicht, körperlich kaum verändert, d.h. keine typischen Altersmerkmale aufweist. 68 Bei der Beschreibung von Susis Entwicklungsprozess stellt die Figur Conny also nicht nur eine Herausforderung dar - schließlich verliebt sich Susi in den Mann, den Conny mit nach Hause bringt - sondern dient auch als Kontrastfolie, anhand derer Susis Veränderungen umso deutlicher aufscheinen. Walsers Protagonistin Susi Gern scheint auf den ersten Blick zu Beginn des Romans alle Stereotype zu verkörpern, gegen die Feministinnen seit den 1970er Jahren des 20. Jahrhunderts angekämpft haben. Sie definiert sich in erster Linie über ihre körperliche Erscheinung, ist voll und ganz auf ihren Ehemann fixiert, zu dem sie allerdings keine sexuelle Beziehung unterhält, und ihr Lebensradius ist auf ihre Familie beschränkt. Ausgehend von dieser Konstellation entwickelt Martin Walser eine positiv gezeichnete Figur und lässt diese im Lauf des Romans einen Emanzipationsprozess durchleben. Diese Entwicklung wird im Text an den Alterungsprozess der Figur rückgebunden, denn mit der abnehmenden körperlichen Attraktivität kommt Susis Weltbild ins Wanken. So trifft Susi die erste wirkliche Entscheidung ihres Lebens mit vierundfünfzig Jahren: „Seit Pfingsten vor 67 „Susi drückte Conny noch einmal an sich. Und dachte: Was für ein tolles Kind. Und dachte: Nur, daß sie sich seit dreißig Jahren nicht mehr verändert hat, dieses Immergleiche, das ist lähmend. Aber dafür ist sie auch gleichbleibend lieb. Erst als die Entmündigung durch war, hat Edmund zugegeben, daß Conny ein behindertes Kind ist.“ (LdL 343) 68 „Wahrscheinlich gehörte das zu ihrer Entwicklungslosigkeit, daß sie, obwohl sie vierzig war, aussah wie ... na ja, wie dreißig vielleicht. Wenn da nicht durch Mund und Augen etwas verraten worden wäre, was man mit dreißig nicht hat. Noch nicht Verdrossenheit, aber ein bißchen angebittert sah sie schon aus, ihre süße Conny.“ (LdL 390) <?page no="178"?> 176 zwei Jahren, [sic] könnte Edmund, wenn es ihn interessieren würde, mitkriegen, daß sie nicht mehr annonciert, keine Männer mehr sucht, nicht mehr kotzt.“ (LdL 47) Dass Susi keine Männer mehr sucht, ist neben dem von ihr ängstlich beobachteten Verlust ihrer Attraktivität auch mit dem von ihr vertretenen Alterskonzept zu erklären. Das Alter imaginiert sie als entsexualisierte Lebensphase. Würden sexuelle Lüste im Alter tatsächlich völlig versiegen, dann wären Susis Eheprobleme gelöst, denn mit dem Verzicht auf Sex bzw. dem nachlassenden Interesse am anderen Geschlecht erhofft sie sich eine emotionale Annäherung an ihren Mann. Voraussetzung hierfür wäre, dass er seine Frauenbeziehungen mit dem Eintritt in die Lebensphase Alter aufgäbe. Dass hier das gesellschaftliche Alterskonzept - sowohl der weiblichen Unattraktivität als auch der Entsexualisierung - als Wunschvorstellung unhinterfragt übernommen wird, wird nicht nur dadurch aufgezeigt, dass Susi sich wiederholt selbst befriedigt (LdL 34, 236, 494). Die Fragwürdigkeit offenbart sich auch in Susis selbstbezogenen Überlegungen, in denen sie sich ein Leben ohne Sex nur sehr schwer vorstellen kann (LdL 169). 69 Am Ende des ersten Teils erleidet Susi nach mehreren erfolglosen Treffen mit ›Annoncenmännern‹ einen Zusammenbruch. Schwindelanfälle machen sie handlungsunfähig. Der Internist, der sie daraufhin untersucht, stellt folgende Diagnose: Der Internist sagte, ihr fehle körperlich wenig bis nichts. Er werde sie an einen Kollegen überweisen, der für das Nervlich-Seelische zuständig sei. Sie dachte an Ksenija und protestierte. Der Internist sagte, sie könne sich natürlich auch selber helfen. Verlassen Sie Ihren Mann, geben Sie das Kind in ein Heim, dann wird sich einiges bessern. Schließlich sei sie eine Frau, die ihr Leben gelebt habe. Das möge sie, bitte, nicht vergessen. (LdL 193) Die auf psychosomatische Krankheitsursachen abzielende Argumentationsstruktur des Arztes ist aus mehrfacher Sicht fatal. Liest man Susis Beschwerden metaphorisch, so hat der Arzt natürlich Recht. Ihre Lebenssituation stellt eine große psychische Belastung dar, sodass ihre körperliche Erkrankung auf diese zurückgeführt werden kann. Da er aber mit Susis Alter argumentiert, weist er im Grunde darauf hin, dass es ihr nun zustehe, sich auf das Altenteil zurückzuziehen und sich einen schönen Lebensabend ohne ihre anstrengende Familie zu gönnen. Damit vertritt der Mediziner unausgesprochen eine biologisch-realistische Lesart, die davon ausgeht, dass die alternde Frau aufgrund von körperlichen und kognitiven Abbauprozessen nicht mehr belastbar und leistungsfähig ist. 70 Hieraus zieht er 69 Vgl. zu Susis Alterskonzept auch S. 193ff. 70 Eine vergleichbare Argumentation, die sich allerdings eindeutig auf das hier nicht angesprochene Klimakterium bezieht, findet sich in Marons Roman Ach Glück. Dort erklärt sich der Ehemann Achim die nachlassende Leistungsfähigkeit seiner Frau mit traditionellen Vorstellungen von der Menopause. <?page no="179"?> 177 den Schluss, dass sie sich aus dem familiären Leben auch völlig zurückziehen kann. Damit verfehlt er sein Ziel, da Susis Suche nach einem neuen Liebhaber unter anderem darauf zurückzuführen war, dass sie dem Gefühl, alt zu sein, entkommen wollte. Der Arzt nimmt die Probleme Susis aufgrund seines traditionellen, an Leistung orientierten Alterskonzeptes nicht wahr. Er vertritt keine individuelle, an der Lebenssituation seiner Patientin interessierte Sicht des Alters, sondern ein gesellschaftlich legitimiertes Altersverständnis. Stellen die Wechseljahre - nicht im medizinischen Sinn als körperlich-hormonelle Veränderung, sondern als individuelle Reaktion auf das Altern des eigenen Körpers - eine Lebensphase dar, in der sich die Frau auf neue Art ihres Körpers bewusst wird, so stellt das Altern gerade für Frauen eine besondere Herausforderung dar, da mit ihm die Lösung von gesellschaftlichen Weiblichkeitskonzepten einhergeht. Da Altern für Susi in erster Linie ein körperliches Phänomen ist, soll im Folgenden anhand der Figur Susi Gern untersucht werden, inwiefern sie exemplarisch die Veränderungen im weiblichen Körperdiskurs des 20. Jahrhunderts verkörpert. Körperdiskurs: Ein Frauenleben im 20. Jahrhundert Peter Handke reflektiert in seiner Erzählung Wunschloses Unglück, wie es möglich ist, aus den nichtssagenden Lebensdaten seiner Mutter diejenigen herauszufiltern, „die nach einer Veröffentlichung“ 71 schreien. Er versucht, aus dem „allgemeinen Formelvorrat für die Biographie eines Frauenlebens“ 72 die Daten herauszustellen, die das Leben seiner Mutter exemplarisch veranschaulichen. Diese Mühe hat sich Martin Walser mit seiner Protagonistin Susi nicht gemacht. 73 Vielmehr erweckte der Roman bei dem Literaturkritiker Ulrich Greiner den Eindruck einer „sprachlichen Überdeterminiertheit“, die „an gewisse Erscheinungen des architektonischen Rokoko [erinnert], die Funktion derart in Form auflösen, dass Ziel und Zweck des Ganzen hinter dem schieren Ornament verschwinden.“ 74 Christoph Barmann kanzelt Walsers Beschreibungsüberfluss nicht einfach ab, sondern konstatiert: „Von vielen der Walserschen Einzelheiten möchte man eigentlich verschont bleiben, aber der Autor hält unverdrossen mit seiner Kamera drauf - um einer Sensation, um einer Einsicht, um der 71 Peter Handke: Wunschloses Unglück. Erzählung. Frankfurt a.M. 2001 [EA 1972], S. 40. 72 Ebd. 73 Der Vergleich bietet sich an dieser Stelle an, da es für Walsers Susi auch ein reales Vorbild gab. Vgl. Ulrich Stock: Ich war Walsers Susi. Aufgeschreckt vom Tod eines Kritikers verlässt eine Romanfigur ihren Text und findet eigene Worte. In: Die Zeit vom 13.06.2002. 74 Urich Greiner: Martin Walsers Achterbahn. Weshalb Der Lebenslauf der Liebe ein schwacher Roman mit einer starken Hauptfigur ist. In: Die Zeit vom 19.07.2001. <?page no="180"?> 178 Wahrheit willen? “ 75 Im Titel seiner Rezension stellt Barmann sogar einen Bezug zu einem sehr späten Text der Wiener Moderne her. Walsers Roman, so schreibt er, „hätte man zu Schnitzlers Zeiten ein ›Frauenleben‹ genannt.“ Dieser Vergleich, der auf Schnitzlers letzten Roman Therese. Chronik eines Frauenlebens (1928) anspielt, weist auf die Tendenz des Walser‘schen Romans hin: In der enormen Detailfülle entwirft er nicht nur das Leben der Susi Gern, sondern gibt zugleich einen außergewöhnlichen Überblick über ein Frauenleben des 20. Jahrhunderts, in dessen Zentrum die Auseinandersetzung mit dem weiblichen Körper und dem Körperdiskurs der 1970er Jahre steht. So lässt sich Susis Leben - ebenso wie das von Handkes Mutter - exemplarisch lesen, auch wenn Martin Walser für sein Sujet eine konträre Herangehensweise wählt. Susi ist 1931 geboren (LdL 449). Zwar hat sie nicht aktiv an der Frauenbewegung teilgenommen, dennoch hat sie die einschneidenden Erlebnisse und kulturellen Veränderungen des 20. Jahrhunderts am eigenen Leib erfahren. Diese haben sich in ihren Körper und dessen Wahrnehmung eingeschrieben. Zwar spielt der Krieg als frühe Kindheitserinnerung in Susis Selbstgesprächen keine Rolle, 76 da sie im Ruhrgebiet aufgewachsen ist, dürften Bombenangriffe und Kriegsarmut aber eine der ersten zentralen Erfahrungen ihres Lebens gewesen sein. Untersuchungen zu den Erfahrungen der Kriegskindergeneration haben in den letzten Jahren gezeigt, dass gerade die Traumatisierung dieser Generation nicht erkannt und behandelt wurde. 77 Susis Harmoniesucht und ihre Ordnungsliebe könnten in diesen Erfahrungen begründet sein. Nach einer Ausbildung zur Arzthelferin heiratete Susi zu Beginn der Wirtschaftswunderjahre Edmund, der zunehmend erfolgreicher als Anwalt tätig war. Damit verfügte Susi über immer mehr Geld. Für Hausfrauen brachte diese Zeit eine erhebliche Erleichterung ihres Arbeitsalltags; 78 Kühlschrank, Spül- und Waschmaschine entlasteten - neben den von Susi bezahlten Putzfrauen - von anstrengender (körperlicher) Arbeit. Die 75 Christoph Barmann: Wo Susi ihren Ort hat. Was Der Lebenslauf der Liebe zu erzählen hat, hätte man zu Schnitzlers Zeiten ein ›Frauenleben‹ genannt. Was Martin Walsers neuer Roman über Leben und Lieben einer Düsseldorfer Millionärsgattin und über den Abstieg aus den höchsten Höhen des Luxus mitzuteilen hat, das ist allerdings keine Dutzendgeschichte, sondern vielmehr eine unerhörte Begebenheit. In: Die Presse vom 04.08.2001. 76 So erinnert sie sich z.B. erst nach Edmunds Tod daran, dass dieser im Rahmen der Kinderlandverschickung Bettnässer betreut hat (LdL 375). 77 Vgl. hierzu beispielsweise die Untersuchungen von Sabine Bode und Hilke Lorenz. Sabine Bode: Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen. Stuttgart 2004; Hilke Lorenz: Kriegskinder. Das Schicksal einer Generation. München 2003. 78 Vgl. hierzu Ute Frevert, Umbruch der Geschlechterverhältnisse. Die 60er Jahre als geschlechterpolitischer Experimentierraum. In: Dynamische Zeiten: Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften. Hrsg. von Axel Schild, u.a. Hamburg 2000, S. 642- 660, hier S. 646. <?page no="181"?> 179 Bedeutung der Haushaltsgeräte ist Susi bewusst, wenn sie betont, dass nur sie selbst die Spülmaschine ein- und ausräumt und nur die jüngste ihrer Putzfrauen die Waschmaschine bedienen darf. Solche scheinbaren Nebensächlichkeiten verdeutlichen die Veränderungen, die sich im Leben der Frau Mitte des 20. Jahrhunderts vollzogen haben. Frauen verfügten damit über mehr freie Zeit, die oft zum Zuverdienst genutzt wurde, die Susi Gern allerdings der Pflege ihres Körpers, z.B. beim Friseur, im Nagelstudio oder im Solarium, widmet. Allerdings hatten diese Veränderungen noch nicht das weibliche Selbstbewusstsein gestärkt, wie dies mit dem Einsetzen der neuen Frauenbewegung zu vermuten war. Das zeigt sich im Roman exemplarisch an der Behinderung Connys. Als Ursache für Connys geistige Defizite wird ein Fehler des Chefarztes während der Geburt genannt. Da er aufgrund des plötzlichen Todes seiner Tochter zum Alkoholiker wurde, wollte er die Entbindung schnell hinter sich bringen, um dann nach Hause fahren zu können. Daher wurden Susi zu viele wehenverstärkende Mittel gespritzt, die sich schädlich auf den empfindlichen Säuglingskörper auswirkten. An dieser Episode zeigt sich, dass die Geburt von der Seite der Mediziner nicht als wichtiges Erlebnis angesehen wurde und ihr auch nicht die Aufmerksamkeit zuteil wurde, die eine Gebärende heute erhält. Vielmehr wurde der weibliche Körper als Geburtsmaschine behandelt. Durch die Verstärkung der Impulse sollte dieser schneller funktionieren, als dies seiner Natur entsprach. Ein neues weibliches Selbst- und Körperbewusstsein der Frauen entwickelte sich kurz nach Connys Geburt. 1961 wurde in Westdeutschland die Antibabypille eingeführt. Vor allem verheiratete Frauen kamen in den ersten Jahren in den Genuss dieser Verhütungsmethode. Der Freiheitsgewinn ermöglichte Frauen einen unbeschwerteren Umgang mit ihrer Sexualität 79 und kann auch als Voraussetzung für Edmunds freizügiges Sexualleben gesehen werden. Die Sexualitätsdebatte und das durch die Bücher und Filme Oswalt Kolles in den 1960er Jahren propagierte neue Männerbild, das von den Ehemännern mehr Zärtlichkeit und Rücksicht auf die Bedürfnisse ihrer Frauen forderte, 80 hatten keine Auswirkungen auf Edmunds Verhältnis zu Susi. Stattdessen verfolgte er eine sehr egoistische Haltung. Wenn Susi die von ihm begrüßte sexuelle Liberalisierung nicht nutzen konnte, dann würde er seine Gelüste außerhalb des ehelichen Schlafzimmers befriedigen. Aber nicht nur mit der Einnahme von künstlichen Hormonen hat Susi ihren Körper vollkommen unter Kontrolle, auch ihr Aussehen und vor allem ihr Gewicht werden ständig von ihr kontrolliert, um den gesellschaftlich geprägten Vorstellungen von Weiblichkeit zu ent- 79 Ebd., S. 654. 80 Ebd., S. 652f. <?page no="182"?> 180 sprechen. 81 Neben dem alljährlichen Aufenthalt auf einer Schönheitsfarm (LdL 71) ist in ihrem ritualisierten Alltag ein allabendlicher Gang zur Toilette obligatorisch. Hier entledigt sie sich ihres Mageninhaltes, um ihr Gewicht halten zu können. Auf die Idee brachte sie - wie könnte es anders sein - ihr Ehemann Edmund. Nach der Trennung von einem ihrer Liebhaber beginnt Susi manisch zu essen. Edmund, der dieses Schauspiel Abend für Abend beobachtet und dessen Auswirkungen auf Susis Aussehen besorgt feststellt, gibt ihr folgenden Tipp: Falls es dich interessiert, sagte Edmund, die alten Römer hatten auch ihre Traurigkeiten, also auch ihre Eßlust. Aber was sie nicht drin haben wollten, haben sie nachher wieder herausbefördert. Mit einem Federkiel. Susi hörte direkt, wie es Klick machte in ihr. Also hat sie eine ihrer langen Nagelfeilen geholt, die aus Pappe, die mit Watte umwickelt und sich damit gekitzelt, bis alles wieder da war. Die alten Römer, dachte sie, diese alten Römer. (LdL 47f.) An Susis Benehmen offenbart sich nicht nur, dass sie keine Konfliktvermeidungsstrategien erlernt hat und mit ihrem eigenen Frust nicht umgehen kann. Edmunds Empfehlung zeigt zudem die Gefahr, die von gesellschaftlichen Schönheitsnormen ausgeht: Susi glaubt, nur wenn sie diesem Schönheitsideal entspricht, findet sie einen neuen Liebhaber. Daher verinnerlicht sie dieses Frauenbild. Die Selbstdisziplin, die nötig ist, um den idealen Körper zu haben, bestätigt vordergründig, dass die kulturellen Zuschreibungen an die jugendlich schlanken Körper zutreffen. Die Besitzerin eines solchen Körpers repräsentiert zugleich Eigenschaften wie Effizienz, Aufnahmefähigkeit, Leistungsbereitschaft und Engagement. 82 Da das Schönheitsideal in erster Linie von Männern ausgeht, spricht Susan Bordo von einer für das 20. Jahrhundert charakteristischen Vermännlichung des weiblichen Körpers. 83 Dass ein Selbstbild, das nur über den Körper definiert wird, krank macht, veranschaulicht die Figur Susi. Dass es sich bei ihrem abendlichen Erbrechen um ein krankhaftes Verhalten handelt, kommt Susi erst in den Sinn, als sie versucht, das abendliche „Kleine Kotzen“ (LdL 50, 165, u.ö.) aufzugeben. 84 Die Gefahr, die von dem übertriebenen Schönheits- und Schlankheitskult ausgeht, verdeutlichen beispielsweise Susis Halluzinationen während des Aufenthaltes auf der 81 Vgl. Barbara Duden: Frauen-›Körper‹: Erfahrung und Diskurs (1970-2004). In: Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie. Hrsg. von Ruth Becker und Beate Kortendiek. Wiesbaden 2004, S. 504-518, vor allem S. 507f. 82 Vgl. Susan Bordo: Unbearable weight: feminism, Western culture, and the body. With a new preface by the author. New foreword by Leslie Heywood. Berkeley, Los Angeles 2003, S. 68; Roberta Maierhofer: Salty Old Women. Eine anokritische Untersuchung zu Frauen, Altern und Identität in der amerikanischen Literatur. Essen 2003, S. 259. 83 Bordo, Unbearable weight, S. 204-212. 84 „Es wurde eine Ausscheidung wie eine andere auch. Und blieb das zwanzig Jahre lang. Als sie’s dann vor zwei Jahren hatte loswerden wollen, merkte sie erst, daß das Kleine Kotzen eine große Sucht geworden war.“ (LdL 50f.) <?page no="183"?> 181 Schönheitsfarm kurz vor ihrem fünfzigsten Geburtstag. Nachdem sie innerhalb von sechs Tagen acht Pfund abgenommen hat, lächelt ihr eines Abends Marilyn Monroe von einem Photo entgegen. 85 Zwar gruselt es Susi beim Anblick der grinsenden Marilyn, aber auf die Idee, dass dieses Lächeln auf ihren gedankenlosen Umgang mit ihrem Körper zurückzuführen ist, kommt Susi nicht. Ausschlaggebend für Susis Plan, ihr abendliches Erbrechen einzustellen, ist nicht das Bewusstsein für die Gefahr, die davon ausgeht, sondern der Beschluss, keine Annonce mehr aufzugeben, d.h. keinen neuen Geliebten mehr zu suchen. Den Grund für diese Entscheidung nennt der Text nicht explizit, Susis Alter von damals vierundfünfzig Jahren lässt aber darauf schließen, dass sie wegen des verinnerlichten Schönheitsideals davon ausgeht, aufgrund ihrer nachlassenden Attraktivität keinen Liebhaber mehr zu finden. Lediglich versteckte Hinweise wie Haarausfall im Intimbereich (LdL 236), Susis verstärktes Nachdenken über das Alter(n) oder der Wunsch, die Antibabypille weiter zu nehmen, 86 lassen auf Veränderungen des weiblichen Körpers im Klimakterium schließen. Aufgrund der ansonsten schonungslosen Darstellung Walsers verwundert diese Leerstelle im Text. Geht man davon aus, dass Susi in diesem Fall gedankliche Selbstzensur übt, wäre dies ein Hinweis auf die Tabuisierung dieser weiblichen Erfahrung, die ebenso in Marons Roman Endmoränen nicht angesprochen wird. Andererseits könnte das weitgehende Ausklammern von Wechseljahrsbeschwerden auch darauf hinweisen, dass Susi mit den hormonellen Veränderungen wesentlich besser zurechtkommt als mit den gesellschaftlichen Zuschreibungen, unter denen sie als älter werdende Frau zu leiden hat. Die Auseinandersetzung mit Susis Körper nimmt im ersten und dritten Teil des Romans viel Raum ein. Hier ist der Körper gewissermaßen ihr Kapital, mit dem sie männliche Aufmerksamkeit erregen muss. Im zweiten Teil verhindert ihre Sorge um Edmund und dessen ›auslaufenden‹ Körper die intensive Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Körperlichkeit, allerdings wird die Pflege des kranken Mannes zu einer körperlichen Herausforderung. Auch hierbei handelt es sich angesichts der zunehmenden Zahl alter und hochbetagter Menschen und der neuen medizinischen Errungen- 85 „Und am sechsten Tag, am Tag vor der Heimreise, grinste Marilyn sie an. Moment mal, dachte Susi, was grinst die denn so? Macht die sich jetzt lustig über dich? Will sie sagen: Was iss’n das für ’n Kult, den du treibst mit mir? Wer bist’n du überhaupt? Susi dachte: Augen zu, sofort, und spürte ein Gruseln. Daß Marilyns Mund gelächelt hatte, daß sich die Lippen richtig von den Zähnen geschält hatten, das war sicher.“ (LdL 71f.) 86 „Schlucken Sie die mal weiter, hatte ihr Internist gesagt, als sie gejammert hatte, wie schmerzlich das für sie sei, die Anti-Babypille [sic] nicht mehr nehmen zu dürfen, bloß weil sie jetzt keine Kinder mehr kriegen konnte. Und sie hatte weitergeschluckt und gespürt, wie gut ihr das tat, dieses Schlucken. Schlucken lag ihr. Wie nichts sonst.“ (LdL 513) <?page no="184"?> 182 schaften, die es möglich machen, das Leben zu verlängern, um eine zentrale Erfahrung des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Edmund ist immer weniger in der Lage, seinen Körper zu kontrollieren. Den schweren Männerkörper im Bett zu drehen oder gar vom Boden hochzustemmen, ist für die kleinere Susi mit einem enormen Kraftaufwand verbunden. Die Verantwortung für die Pflege Edmunds hinterlässt psychische und physische Spuren: Daß er kein bißchen mitmachen konnte bei dem erwünschten Umdrehen, erbitterte sie jedes Mal wieder, obwohl sie einsah, daß er das nicht mehr konnte. Nur die Hand hinhalten konnte er, und sie riß ihm fast den Arm aus. Je heftiger sie zog, desto schärfer spürte sie den Stich in ihrem Unterleib. Jetzt haben wir den Salat, dachte sie. Und gab vorerst einmal auf. Und schimpfte. (LdL 306) Die Folgen der körperlichen Überforderung sind vielfältig. Susi reagiert zunehmend aggressiv auf Edmund, ohne allerdings handgreiflich zu werden oder Edmund in einer anderen Art und Weise seelisch oder körperlich zu verletzen. Ausdruck findet ihre Überforderung in dem Gedanken daran, Edmund töten zu können. 87 Allerdings handelt es sich hierbei meiner Meinung nach eher um eine Überlegenheitsphantasie denn um eine tatsächliche Handlungsoption der Figur. Auch sind die Auswirkungen der Pflege nicht durchweg negativ: Wenn sie Edmund zu Bett brachte und ihm morgens aufhalf, sagte sie sich, daß sie überleben werde. Sie spürte das jeden Tag deutlicher: Sie hatte sich entschieden zu überleben. In ihr hatte sich etwas für das Überleben entschieden. Wahrscheinlich das Leben. (LdL 320) Folge dieses Überlebenswillens ist nicht nur, dass sie den Umzug ihrer Familie perfekt organisiert und sich selbstständig um alles kümmert, sondern auch, dass es ihr psychisch wieder besser geht. Die „zwei Scheiben“, die die Diskrepanz zwischen Susis Wünschen und der Realität symbolisierten und damit auf Susis Leiden verweisen, spielen nach Edmunds Tod keine Rolle mehr (LdL 376). Vielmehr hat Susi neue Energie und Lebensfreude entwickelt: Auch jetzt spürte sie, daß sie sich am liebsten gedehnt und gestreckt hätte vor Lebensfreude. Einfach weil sie nicht todkrank war. Einfach weil sie lebte. Einfach weil zu leben etwas Unübertreffliches ist, egal wie. (LdL 379) Lernt Susi im zweiten Teil ihren gesunden Körper zu schätzen, so steht im dritten Teil wieder das Altern des Körpers im Fokus. Die mit dem Schlank- 87 Aggression und Gewalttätigkeit in der Pflege älterer Menschen durch Angehörige ist keine Seltenheit, wird aber gesellschaftlich weitgehend tabuisiert. Vgl. beispielsweise Stephan Lebert: Wenn aus Liebe Wut wird. Viele Menschen sind mit der Pflege ihrer Angehörigen überfordert. Schlägt der Frust in Aggression um, wird die Familie für die Alten zur Gefahr, in: Die Zeit vom 22. Mai 2008, S. 33-34. <?page no="185"?> 183 heitskult nicht zu vereinbarenden Veränderungen des weiblichen Körpers beschäftigen Susi immer häufiger: Bist du das noch? Du bist eine fremde Frau, die mir leid tut. Nicht nur alt geworden, sondern auch verhärmt. Und zu dick. Dreh dich weg, von so etwas dreht man sich am besten weg. Aber sie konnte sich nicht wegdrehen. Besser als alte Männer sah sie immer noch aus. [...] Diese Erpresservisage alter Männer geht Susi auf die Nerven. Alte Frauen sehen, auch in der Großstadt, noch aus wie Bäuerinnen, die durch ein langes Leben zu Damen geworden sind. Oder zu Komikerinnen. Sie sehen aus, als würden sie gleich lachen. Du, dachte Susi, tendierst zur Komikerin. Du bist momentan verhärmt, aber nicht dauerverhärmt. Du wirst wieder lachen. Demnächst. Ja? [...] Ihr wurde, wenn sie jetzt auf der Straße eine schöne junge Frau sah, manchmal fast schwindlig, sie konnte es nicht fassen, daß jemand so schön sein konnte. Jemand, und nicht sie. Wenn sie einen Mann in ihrem Alter sah, der noch erträglich wirkte, dachte sie: Jetzt siehst du den zum ersten Mal, und jetzt ist der schon so alt, vor dreißig Jahren hättest du dem begegnen müssen. Daß es so viele Menschen gibt, denen man nie begegnet! Soviel Schönes, das du nie siehst ... Susi merkte, daß sie sich jetzt vom Spiegel lösen und sich ganz ruhig hinsetzen mußte, sonst ... (LdL 388f.) Ausgehend vom Spiegelmotiv, das für die Erfahrung und Veranschaulichung des körperlichen Altersprozesses von großer Bedeutung ist, setzt sich Walsers Protagonistin Susi in diesem Textausschnitt mit ihrem Körper auseinander. Die für das Älterwerden zentrale Erfahrung des eigenen Körpers als eines fremden Körpers wird hier zum Ausgang genommen für allgemeine Überlegungen zum Altern von Männern und Frauen. Scheint Susi im ersten Moment die Distanz zu ihrem Körper, mit dem sie sich nicht identifizieren kann, zu suchen, so wird im Verlauf der Sequenz deutlich, dass sie in Abgrenzung zu männlichen alten Körpern ihren eigenen Körper aufwertet. Walser führt hier also eine sogenannte Coping-Strategie vor: Wenn es Menschen gibt, die viel schlechter aussehen als ich selbst, dann bin ich immer noch schön. So könnte man Susis Selbstbeschwichtigung zusammenfassen, die den Neid auf schönere, jüngere Frauen deshalb nicht ausschließt. Aber Susi hat nicht nur Zeit, ihren Körper zu beobachten, mit der Liebe zu Khalil nimmt sie ihren Körper auf eine ganz andere Art wahr: „Ein liebendes Wesen“ so schreibt Horst-Jürgen Gerigk, „hat ein ausgezeichnetes Verhältnis zum eigenen Körper. Konkret gesprochen: Die Frauen in unseren beiden Texten wollen schön sein“. 88 Im Gegensatz zu den von Gerigk untersuchten Texten von Philip Roth und Thomas Mann wird die Schönheit des weiblichen Körpers nicht durch eine Krebserkrankung ausgelöscht, Martin Walser betreibt vielmehr eine Auseinandersetzung mit 88 Horst-Jürgen Gerigk: Liebe, Krankheit und Tod in Thomas Manns Erzählung Die Betrogene und Philip Roths Kurzroman The Dying Animal. In: Repräsentationen. Medizin und Ethik in Literatur und Kunst der Moderne. Hrsg. von Bettina von Jagow und Florian Steger. Heidelberg 2004, S. 41-50, hier S. 41. <?page no="186"?> 184 den Schönheitsnormen, denen der weibliche Körper unterliegt. Dabei erhält der Körperdiskurs durch Susis Verliebtheit eine neue Qualität. Alter(n) wird nicht pathologisiert, sondern die Akzeptanz des älter werdenden Körpers wird in ihrer Ambivalenz vorgeführt. Die Liebe zu Khalil ist in erster Linie eine Prüfung für Susi. Sie erlebt ihren Körper im Vergleich mit dem des jungen Mannes noch bewusster als alten Körper. Susi empfindet den ersten Liebesakt mit Khalil wegen ihrer zwölf Jahre dauernden Männerabstinenz als erneute Entjungferung (LdL 405f.). Im Rückgriff auf die feministische Theoriebildung 89 kann man diese Jungfräulichkeit auch als Ergebnis einer körperlichen Verwandlung auslegen, die Susi mit der Menopause durchlebt hat. Wie ein junges Mädchen muss sie im Folgenden wieder lernen, ihren verwandelten Körper anzunehmen und ihn neu kennen lernen. Der erste Liebesakt zwischen Susi und Khalil ist aus der Beobachterperspektive komisch, für Susi selbst wird er als schmerzhaftes Erlebnis geschildert: nicht nur, weil sie sich wie ein junges Mädchen nicht traut, die ihr starke Schmerzen bereitende Sprungfeder in ihrem Rücken anzusprechen, sondern auch, weil ihre Scheide für ein lustvolles Erleben des Liebesaktes zu trocken ist. 90 Zwar lässt sich dieses Problem beheben, dennoch macht sich Susi immer wieder Gedanken, wie ihr Körper auf Khalil wirkt. So schreibt sie z.B. die sexuelle Genügsamkeit und Einfallslosigkeit des jungen Mannes ihrem Aussehen zu: Oder denkt er: Die und die Stellung geht nicht, dafür ist sie zu alt, dafür fehlen ihr Kraft und Gelenkigkeit. Vielleicht sieht sie von hinten so erbärmlich aus, daß er diese Stellung wegen Ernüchterungsgefahr nichts als meiden muß. (LdL 470) Aufgrund des beschriebenen Schönheitsideals geht sie davon aus, dass Khalil sie verlassen wird, sobald sie nicht mehr attraktiv genug ist, und beobachtet ängstlich ihre vermeintlich jüngeren und schöneren Konkurrentinnen. Den körperlichen Abbauprozessen versucht Susi deshalb, so gut es geht, entgegenzuwirken. Dabei greift sie zuerst auf die von der Kosmetikindustrie in den 1990er Jahren neu entwickelten Produkte für die Frau in der zweiten Lebenshälfte wie „Creme für die ältere Haut“ (LdL 432) oder Augenfältchencreme (LdL 432) zurück. 91 In diesem Zusammenhang zeigt 89 Vgl. hierzu auch die Überlegungen zu Marons Romanen in Teil II Kapitel 2. 90 „Zum Glück war Khalil kein Hammer. Aber weh genug tat ’s auch so. Innen genauso wie außen. Daß er sich überhaupt in sie hineinbrachte! Dagegen war ihre Entjungferung damals eine tolle Rutschpartie gewesen.“ (LdL 404) 91 „Beiersdorf wagte sich schon Mitte der neunziger Jahre mit einer speziellen Gesichtspflege-Serie an die Frau ab 55. Für Nivea Vital warb keine 20-Jährige, sondern das damals 52-jährige Model Susanne Schöneborn. Einem langen Streit im Hause des Kosmetikherstellers, ob man eine Pflegeserie für Ältere überhaupt anbieten und offensiv bewerben solle, folgte eine Erfolgsgeschichte. Mit einem Anteil von 40 <?page no="187"?> 185 Martin Walser auch auf, in welche vermeintliche Notlage Konsumentinnen kommen können, wenn sie sich die von der Werbeindustrie angepriesenen Produkte nicht leisten können. 92 Die Verwendung der Augenfältchencreme erscheint Susi lebenswichtig (LdL 433). Da sie sich diese von der Sozialhilfe nicht leisten kann, klaut sie kurzerhand eine Tube und wird damit zur Diebin. (LdL 433-435.) Allerdings muss sie die Erfahrung machen, dass ihr Körper nicht mehr auf die Verschönerungsversuche reagiert, sondern diese teilweise sogar den gegenteiligen Effekt haben können: Eine der schlimmeren Erfahrungen dieses Jahres: Da Susi sich weißhäutig nicht ertrug und es auch dem überall sanft bräunlichen Khalil schuldig zu sein glaubte, braun zu sein, war sie jede Woche in ein Bräunungstudio [sic! ] gegangen und war von Mal zu Mal mehr erschrocken, als sie feststellen mußte, daß ihre Haut nicht mehr braun wurde. Nur noch rot, aber überhaupt nicht mehr braun. Darüber konnte sie mit Khalil nicht sprechen. (LdL 443) Da Bräunungsstudio und Kosmetika den Alterungsprozess von Susis Körper nicht aufhalten, sondern lediglich verzögern können, denkt sie über weitere Möglichkeiten nach, diesen zu stoppen. Ein im 20. Jahrhundert immer häufiger erprobtes und gesellschaftlich akzeptiertes Mittel ist die Schönheitsoperation. 93 Um die Differenz zwischen ihrem und Khalils Körper zu verringern, denkt Susi über einen solchen Eingriff nach. Der Besuch beim Schönheitschirurgen vermittelt ihr den Eindruck, dass der Eingriff nicht nur problemlos durchführbar sei, sondern der Arzt signalisiert ihr auch, dass er die Zeit zurückdrehen könne. 94 Das Angebot der körperlichen Verjüngung ist verlockend, aber nicht umsonst zu haben. Prozent führt Nivea Vital heute den 80 Millionen Euro schweren ›Gesamtmarkt Reife Haut‹ an.“ Elisabeth Niejahr; Marcus Rohwetter: Lasst sie jung aussehen. Sie haben Geld, Zeit und Lust: Die Wirtschaft entdeckt Menschen jenseits der 50 als Zielgruppe. Willkommen in der Konsumwelt von morgen. In: Die Zeit vom 16.01.2003, S. 15. 92 Den Prozess des Konsums beschreibt Margaret Morganroth Gullette sehr ausführlich. Ein Produkt, das zuerst interessant erscheint, wird erst begehrenswert, dann erscheint es notwendig zu sein und plötzlich glaubt der Konsument, ohne es nicht mehr auszukommen. Auf diese Weise werden vor allem Produkte für ältere Menschen zunehmend als unverzichtbar angesehen. Margaret Morganroth Gullette: Declining to decline. Cultural combat and the politics of the midlife. Charlottesville, London 1997, S. 144. 93 Vgl. hierzu z.B. die Focus-Reihe zu Schönheitsoperationen. http: / / www.focus.de/ gesundheit/ gesundleben/ antiaging/ medizin/ schoenheitsoperationen/ qualitaet_aid _13498.html [gesehen am 25.08.2008]. 94 „Susi, sagte er, ich werde Sie so schön machen, wie Sie waren. Bei ihr lohne es sich, gut zu sein. Als Chirurg. Ihr Gesicht, zum Beispiel, versetze er mit seinem V-Schnitt fünfzehn bis zwanzig Jahre zurück. [...] Und schlug vor, mit dem Gesicht zu beginnen. Im Januar. Dann im März den Busen. Im Juni den Bauch. Im September den Po. Macht DM sechzigtausend. Susi lachte. Sie wolle zuerst nur das Gesicht renovieren. Daß es Khalil leichter hätte, mit ihr gesehen zu werden. Daß sie einfach nicht diesen Anblick bot. Dann weitersehen. Vielleicht noch den Busen. Aber mehr vorerst sicher nicht. Was das Gesicht allein koste. Fünfzehn. Gut, sagte Susi.“ (LdL 476) <?page no="188"?> 186 Da Susi von Sozialhilfe, Connys Behindertenrente und dem unter der Hand weiterverkauften Mondrian aus Edmunds Kunstsammlung lebt, sind diese Beträge für sie nicht bezahlbar. Aber es ist auch ein anderer Prozess, den sie im Lauf des dritten Teils durchlebt und der sie letztendlich davon abhält, die operative Verjüngung durchführen zu lassen: Sie muss lernen, ihren alternden Körper anzunehmen. Dass ihr dies nur schwer möglich ist, zeigen ihre Ängste davor, dass Khalil sie verlassen wird, wenn sie nicht mehr attraktiv ist und seine sexuellen Wünsche nicht erfüllen kann. Hier zeigt sich, wie traumatisch die Ehe mit Edmund für Susi tatsächlich war und welch verheerende Folgen die scheinbare sexuelle Liberalisierung mit sich bringt. Am Beispiel Susis zeigt sich, dass für Frauen die Antibabypille keine Befreiung bedeutet, sondern vielmehr der Druck steigt, ständig sexuell verfügbar zu sein. Aufgrund des psychischen Drucks, den Edmund mit seinen sexuellen Wünschen aufgebaut hat, ist Susi nicht nur völlig verunsichert, sondern es fällt ihr auch sehr schwer, sich auf eine gleichberechtigte Beziehung einzulassen. Nach dem Verlust der finanziellen Unabhängigkeit scheint ihr Körper das einzige Kapital zu sein, über das sie noch verfügen kann, und daher fürchtet sie jede Veränderung. Susi muss also nicht nur lernen, ihren alternden Körper anzunehmen, sondern auch ihre Qualitäten jenseits der reinen Körperlichkeit entdecken. Dabei handelt es sich um einen quälenden Entwicklungsprozess, in dessen Verlauf auch die Ablehnung des eigenen Körpers eine wichtige Rolle spielt: Sie wollte jetzt nichts mehr wissen von sich. Sie wollte sich nicht mehr begegnen. Sie wußte, daß sie sich endlich ablehnen müßte. Das schaffte sie nicht. Sie möchte von sich keine Ahnung mehr haben. Nicht mehr ins Solarium. Ihr Bauch, ihr Po, ihre ganze Verwelktheit sieht leicht angerötet noch schlimmer aus als weiß. Und Herrn Dr. de Sanctis abgesagt. Was soll das denn, Gesicht zehn Jahre jünger, Busen fünfzehn Jahre jünger, der Rest Methusalem. (LdL 514) Auffallend an Susis Körperwahrnehmung ist, dass sie sich selten selbst erlebt, sondern - zumindest seit dem Beginn der Beziehung zu Khalil - fragt, wie andere sie sehen. Das zentrale Requisit, der Spiegel, ermöglicht diese Außenperspektive, die die unbefangene Selbstwahrnehmung des eigenen Körpers letztendlich verhindert. Im Unterschied zu der von Marons Protagonistin festgestellten „Gravur der Greisenhaftigkeit“ sieht Susi in ihrem alternden Körper kein Symbol ihrer Vergänglichkeit, sondern lediglich ihrer sexuellen Unattraktivität. Der von ihr imaginierte Tod ist somit ein sozialer Tod als Frau, der Verlust ihrer weiblichen Identität. Diese die gesamte Persönlichkeit in Frage stellende Radikalität der Alterserfahrung ist bei einem Protagonisten nicht denkbar. Die Beziehung zu Khalil hat folglich, wenn man ihre Auswirkung auf Susis Selbstwahrnehmung betrachtet, zwei Seiten: Einerseits erlebt sie noch einmal eine nicht mehr erhoffte Liebesbeziehung, andererseits ist diese durch die <?page no="189"?> 187 Angst, Khalil wegen ihres alten Körpers und dessen Unansehnlichkeit wieder zu verlieren, von ständigen Verlustängsten überschattet. Wie und ob die Beziehung zu Khalil Susis Identität verändert, möchte ich in Rückbindung an das Figurenmodell der verliebten Alten untersuchen. 3.3 Innovative Gestaltung eines alten Modells? Mäusken, sagte Susi, schau mal, wenn du Abdul zehn Frauen hinstellst, du bist unter diesen zehn Frauen, ich auch. Er soll eine wählen. Das bist du nicht. Das bin ich nicht. Falls alle zehn gleich viel Geld haben. Mutter, sagte Conny, mich legst du nicht rein. Abdul käme direkt auf mich zu, die will ich, würde er rufen, die will ich zur Frau, von der will ich so viele Kinder, wie sie will. (LdL 63) Diese Aussage Susis steht am Beginn des Romans. Sie versucht damit, ihre geistig behinderte Tochter Conny davon zu überzeugen, dass sie für den Tunesier, der ihr Liebesbriefe schreibt, nur interessant ist, weil ihre Familie reich ist. Damit zeigt sich bereits hier Susis pragmatischer Blick auf die Realität ebenso wie die Verinnerlichung des westlichen Schönheitsideals, in dem behinderte und alte Menschen als Außenseiter angesehen werden. So geht Susi nach Edmunds Tod selbstverständlich davon aus, dass sie ihren Lebensabend gemeinsam mit ihrer Tochter verbringen wird. Dann bringt Conny den neunundzwanzigjährigen Marokkaner Khalil mit nach Hause. Dieser, so vermutet Susi, ist auf der Suche nach einer Deutschen, die ihn heiratet. Der Grund hierfür wird nie wirklich genannt. Susi fühlt sich von dem jungen Mann angezogen. „Sie war in Gefahr. Wie bei einer rasant zunehmenden Infektion.“ (LdL 399) Und kann der Verlockung einer neuen Liebe trotz des Altersunterschiedes nicht widerstehen: Zwölf Jahre gewartet, zwölf Jahre lang nicht mehr geglaubt, daß noch irgend etwas Bewegendes geschehen könnte. Und dann kommt der und sagte, beim ersten Händedruck habe er in ihren Augen gesehen, daß er ohne Angst auf sie zugehen könne. (LdL 408) So findet sich Susi plötzlich in der Rolle der verliebten Alten, ohne dass sie diese aktiv einzunehmen gewünscht hätte. Im Gegensatz zur antiken und barocken Ausgestaltung des Themas hat Susi nicht bewusst nach einem Liebhaber gesucht. Martin Walser schildert den Annäherungsprozess zwischen den beiden Figuren auf sehr sensible Weise. Aus der Innenperspektive Susis wird das Für und Wider ebenso abgewogen wie Susis Überwältigtsein geschildert. Im Unterschied zur historischen Gestaltung des Figurenmodells hat die Figur Susi die Liebesbeziehung zu Khalil nicht aktiv herbeigeführt, sondern sie wird von dieser (und ihren eigenen Gefühlen) überrascht. Dadurch wird ihr Verhalten glaubwürdig. Als Leser fragt man sich immer wieder, wie diese Beziehung eigentlich zustande kommt. Über Khalils Motive wird sehr wenig ausgesagt, da Susi <?page no="190"?> 188 sich nicht traut, die Warum-Frage zu stellen. Ausgeschlossen wird allerdings, dass Khalil Susi nur heiratet, um eine dauerhafte Aufenthaltsbzw. Arbeitserlaubnis zu erhalten, denn dafür hätte er sich auch eine jüngere und vor allem attraktivere Frau suchen können. Zudem deuten auch sein Verhalten, seine Zärtlichkeit, seine stürmischen Küsse darauf hin, dass er sich körperlich zu Susi hingezogen fühlt. Am Ende zeigt sich, dass er sogar Susi gegenüber in seinem Kulturkreis normale Verhaltensweisen - wie z.B. die Frau zu Hause sitzen zu lassen, ohne sie darüber zu informieren, wenn man eine Verabredung nicht einhalten kann - aufgibt und damit ihren Wünschen entgegenkommt. 95 Susi ist sich durchaus bewusst, dass der Altersunterschied von achtunddreißig Jahren für eine Beziehung eine große Belastung bedeutet. Auf Khalils schnellen Heiratsantrag reagiert sie daher sehr zurückhaltend. Sie fragt ihre Freunde und Bekannten nach ihrer Meinung. Dadurch liefert der Roman ein breites Meinungsspektrum. Die von Susi befragten Frauen reagieren alle sehr positiv. Vor allem die Männer äußern sich zurückhaltend und warnen Susi vor einer Ehe mit einem Afrikaner. Ihren Sohn Andreas fragt Susi nicht nach seiner Meinung, da sie dessen Unverständnis wohl voraussetzt. Findet die Beziehung in ihrem und in Khalils Freundeskreis überwiegend Zustimmung, so sind es die Familien und die durch Institutionen repräsentierte Öffentlichkeit, die mit dem ungewöhnlichen Familienmodell nicht einverstanden sind. Khalils Familie akzeptiert die Heirat mit einer deutschen Frau nicht, ohne über Susis Alter informiert zu sein. Daher kann man davon ausgehen, dass das Wissen über Susis Alter zum Bruch mit der Familie führen könnte (LdL 435). Nicht zu unterschätzen ist auch der Widerstand, der vom Sozialamt kommt. Dieses schickt Susi wegen des Verdachts einer Scheinehe eine Vorladung, und sie muss sich gegen den Vorwurf verteidigen. Die Bewertung des Figurenmodells der verliebten Alten verschiebt sich in dieser Sichtweise. Der Wunsch nach Liebe wird zwar immer noch aus der Perspektive der Generation betrachtet - Susi heiratet schließlich einen Mann, der beinahe ihr Enkel sein könnte - aber der Schwerpunkt des Diskurses verschiebt sich vom Generationenzum Institutionenkonflikt. Die Fragwürdigkeit dieses Diskurses thematisiert Walser anhand von Susis Verteidigungsrede auf dem Sozialamt. Hier läuft Susi zur Hochform auf. Sie schildert nicht nur 95 Diese Tendenz der beiden Partner, sich aufeinander einzulassen, sieht Hermann Herbert nicht. Stattdessen vertritt er die These, dass das wortlose Einverständnis zwischen den langjährigen Ehepartnern Susi und Edmund, in dem der eine immer wusste, was der andere denkt, für die Tiefe und Innigkeit dieser Beziehung spricht. Dass dieses Wissen aber keine Konsequenzen hat - so beispielsweise, wenn Edmund Susi wiederholt an ihrem Geburtstag allein lässt, um sich mit einer anderen Frau in Italien oder an einem anderen Ort zu vergnügen - das entgeht Hermann Herbert. Hermann Hebert: Verlieben - Lieben - Entlieben heute. Eine soziologische Untersuchung anhand von ausgewählter belletristischer Literatur. Münster 2007, S. 139. <?page no="191"?> 189 ihren inneren Konflikt, sondern stellt den Beamtinnen auch die Frage, weshalb ein attraktiver junger Mann sie heiraten sollte, wenn nicht aus Liebe - zumal die Heirat massive finanzielle Einbußen mit sich bringe: Zwei, nennen wir sie ruhig einmal Liebende, behalten uns aber vor, daß die beiden das erst noch beweisen müssen, zwei Liebende, die nichts haben, heiraten, obwohl sie das monatlich zweitausendeinundzwanzig Mark kostet. Aber was sind diese Zahlen gegen die wirklichen Zahlen, die Schicksalszahlen. 1931 heiratet 1969. Und 1931 ist die Frau, 1969 ist der Mann! Das ist das, was passiert ist. Glücklicherweise, tragischerweise. [...] Gut, es bleibt die Crux, das Problem, der Wahnsinn schlechthin: die Zahlen. 1931 und 1969. Dem Prüfer mit Normalverstand sagen die Zahlen vielleicht: Scheinehe. Und zwar weil die Frau die Alte ist, und er ist blutjung. Mache oder Wahnsinn! ? Wahnsinn. Dazu steht sie. (LdL 449f.) Susi skizziert hier in bester Fernsehmanier eine Liebesgeschichte. Der Kern ihrer Erzählung ist aber weniger romantisch als vielmehr sozialkritisch, denn sie prangert die Ungleichbehandlung der alten Frau an. Heiratet ein Mann eine dreißig Jahre jüngere Frau, so nimmt daran niemand Anstoß, ist die Frau die Ältere, dann werden keine emotionalen, sondern wirtschaftliche Gründe als Hintergrund der Ehe vermutet. Diese Verortung des Figurenmodells im Kontext des Genderdiskurses wird von der Figur Susi selbst hergestellt und heftig verurteilt, da sie zu Recht das Gefühl hat, dass ihr als älterer Frau Gefühle und eine Sehnsucht nach Liebe nicht mehr zugestanden werden. Zwei Paare mit der Konstellation älterer Mann - jüngere Frau werden im Roman vorgeführt. Beide tragen nicht zur positiven Bewertung dieses Beziehungsmodells bei. Edmunds Geliebte Ruth Proll, die über dreißig Jahre jünger ist als er, ist die Einzige seiner Geliebten, von der Susi nach dem Tod Edmunds Unterstützung erfährt. Dass Ruth Proll seine Bücher bei sich unterstellt, verweist auf die intellektuelle Verbundenheit des Paares. Eine Familie hat Ruth Proll aber mit einem anderen Mann gegründet. In der anderen Paarkonstellation wird der Käufer des „Dachpalastes“, Herr Hellpapp, gezeigt. Seine japanische Geliebte ist siebzehn Jahre jünger als er (LdL 378). Da sie als Stewardess viel unterwegs ist, wird Herr Hellpapp ständig von der Angst geplagt, sie könnte ihn mit einem jüngeren Mann betrügen. Dass es sich dabei um ein Trauma aus seiner ersten Ehe handelt, die daran zerbrochen ist, dass seine Frau ihn mit seinem besten Freund betrogen hat (LdL 377), macht diesen Fall dem Susis durchaus vergleichbar, zumal Herr Hellpapp einen behinderten Sohn hat. Herr Hellpapp führt ein ruheloses Leben. Er reist seiner Geliebten Yumiko ständig hinterher, um ihr einen Betrug nachweisen zu können. Dies hat zur Folge, dass der braungebrannte, attraktive Mann zunehmend an Ausstrahlung verliert, sodass Susi ihn als „Bekümmertblassen“ (LdL 495) bezeichnet. <?page no="192"?> 190 Der große Altersunterschied bietet aus literarischer Perspektive einige Möglichkeiten. Martin Walser nutzt ihn, um anhand der extremen Situation einen Prozess nachzuzeichnen, den jede Frau - und wie das Beispiel des Herrn Hellpapp zeigt, auch jeder Mann - im Alter erlebt und den Roberta Maierhofer folgendermaßen beschreibt: Dem vorgegebenen biologischen Alterungsprozess folgt daher eine schwere, krisenbestimmte Neuorientierung hinsichtlich einer veränderten Beziehung zu sich selbst und zur Rolle innerhalb der gesellschaftlichen Realität. 96 Der Prozess, den Roberta Maierhofer hier anspricht, ist die Herausbildung einer Altersidentität. Für eine Frau wie Susi Gern, die sich zum einen in erster Linie über ihren Körper definiert und zum anderen an der Seite eines jüngeren Mannes lebt, ist diese Entwicklung verständlicherweise mit vielen Schwierigkeiten verbunden. Am offensichtlichsten wird die Identitätsproblematik anhand der Rollenkonfusion, die Susi erlebt. Einerseits fühlt sie sich an der Seite Khalils jünger, als sie tatsächlich ist, andererseits glaubt sie, die ihrem Alter gemäßen Rollen nicht ausfüllen zu dürfen, da dies Khalil abstoßen könnte. So darf ihre Enkelin Xandra sie nicht mehr Oma nennen, sondern wird dazu angehalten, sie mit ihrem Vornamen anzusprechen (LdL 423). Dabei war gerade die Beziehung zu Xandra für Susi immer sehr wichtig und positiv besetzt. Zu Beginn des dritten Teils liegt Edmunds Tod noch nicht lange zurück. Aufgrund der vielfältigen Veränderungen in ihrem Leben hat Susi keine intensive Trauerphase durchlebt. Erst als sie mit Khalil zusammentrifft, wird ihr bewusst, was es bedeutet, Witwe zu sein (LdL 413). Die emotionale Lösung von ihrem langjährigen Ehemann gelingt ihr sogar erst am Ende des Romans, also zwei Jahre nach seinem Tod. Trotz Susis Ungläubigkeit angesichts der Liebe Khalils gibt der Text Hinweise darauf, warum Susi für den Neunundzwanzigjährigen attraktiv sein könnte. Die Skizze zu Susis Körperbild hat gezeigt, dass ihr Körper vergleichsweise wenigen Belastungen ausgesetzt war. Hinzu kommt, dass Susi viele Jahre nur damit beschäftigt war, ihren Körper zu pflegen. Zwar werden im Roman nur die negativen Veränderungen ihres Körpers betont, aber die Notwendigkeit, eine Creme gegen Augenfalten zu besitzen, selbst wenn sie dafür kein Geld hat, zeigt, wie viel Wert Susi auf ihr Aussehen legt. Würde man der von Susi verfolgten Logik des Körpers als Kapital der Frau folgen, so müsste dieser eigentlich von ihr nun als Argument für ihre Attraktivität - auch wenn sie glaubt, fünf Kilo zu viel zu wiegen - herangezogen werden. Der Text selbst legt nahe, dass auch ältere Frauen attraktiv sein können. 97 Susi wird aufgrund der psychischen Entwicklung, 96 Maierhofer, Salty Old Women, S. 257. 97 Susi erfüllt zwar nicht die von Igor in Marons Roman Endmoränen geäußerte These, dass beruflich erfolgreiche Frauen auch im Alter sexuell begehrt werden, dennoch <?page no="193"?> 191 die sie nach Edmunds Tod durchlebt, zur interessanten Frau. Hier deutet sich eine Verwandlung von einem depressiven Menschen in eine Frau mit einer positiven Ausstrahlung an, die nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Umwelt auf neue Art und Weise wahrnimmt. Dies zeigt sich daran, dass Susi nach Edmunds Tod als in sich ruhende und ihre Probleme durchschauende Persönlichkeit geschildert wird. Das Gefühl des Ich-Verlusts, das sie während der letzten Jahre oftmals in die Nähe eines psychischen Zusammenbruchs getrieben hat, ist völlig verschwunden (LdL 376). 98 Auch die Bewältigungsstrategien, die Susi in ihrem Zusammenleben mit Edmund entwickelt hat, werden nun von ihr erkannt. So bezeichnet sie beispielsweise selbst ihre Musik als „Verharmlosungsmusik“ und begreift, dass ebenso das Fernsehen für sie die Funktion einer Ablenkung von alltäglichen Sorgen und Nöten hat. Ferner ist Susis Alkoholkonsum enorm eingeschränkt, was z.B. die Reaktion ihrer Tochter zeigt, die Susi darauf hinweist, dass sie es gut fände, „wenn die Mutter wieder mehr trinken würde, dann sei sie viel weniger ärjerlich.“ (LdL 387) Ursache dieser Veränderung scheint mir nicht nur Edmunds Tod (und der Selbstmord ihrer psychisch kranken Schwiegertochter) zu sein, sondern auch Susis veränderte Lebenseinstellung. Bereits als ihr bewusst wurde, dass sie wegen Edmunds Krankheit und der verheerenden finanziellen Situation der Familie mehr Verantwortung übernehmen muss, stellte sie für sich fest, je schlimmer die Lage werde, desto gesünder müsse sie sein (LdL 280). Das bedeutete unter anderem, nicht mehr mit Hilfe von Schlaftabletten vor der Realität zu fliehen (LdL 300, 312). Kurz vor Edmunds Tod hat sie sich ausdrücklich dafür entschieden, „zu überleben“ (LdL 368). Diese aktiven Entscheidungsprozesse tragen dazu bei, dass Susi als attraktive Figur gezeichnet wird. Allerdings wird der Prozess der Herausbildung einer eigenen, von Edmund unabhängigen Identität, die die ihrem Alter entsprechenden Veränderungen integriert, von Khalil gestört. Susi wird immer unsicherer, da sie nicht erahnen kann, was der junge Mann von ihr erwartet. Diese Verunsicherung verstärkt sich durch den fremden Kulturkreis und den Susi fremden Glauben Khalils, da dessen Rollenerwartungen Susi nicht kommuniziert werden. In einem komplexen Prozess aus 1. der emotionalen Lösung von Edmund, 2. der Annahme ihres alternden Körpers und 3. der Beziehungsarbeit mit Khalil kann Susi am Ende zu einem Bewusstsein finden, das die eigenen Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellt, und lernt, dass sie anderen Vertrauen schenken muss, um von ihnen akzeptiert und anerkannt zu werden. Hierzu ist es nötig, scheint ihr Entwicklungsprozess eine positive Ausstrahlung zur Folge zu haben. Vgl. Teil II Kapitel 2.1 98 Beispiele hierfür wären zum Beispiel die zwei Scheiben, deren Auseinanderdriften Susis innere Zerrissenheit anzeigten, oder auch Susis Wahrnehmungsstörungen, wenn sie z.B. das Gefühl hatte, von Marilyn Monroe angelächelt zu werden. <?page no="194"?> 192 dass Susi sich selbst annimmt. Darauf wird sie von ›Edmund‹ in einem seiner letzten, imaginierten Statements hingewiesen, 99 bevor dieser am Ende des Romans „wie für immer“ verstummt (LdL 525). Damit ist Susi offen für eine gleichberechtigte Beziehung zu Khalil, die nicht - wie am Beispiel Hellpapp gezeigt - an den Traumata aus der ersten Ehe zerbricht. Die Entwicklung der Figur im dritten Teil des Romans führt zu einer sehr positiven Bewertung der Altersrepräsentation. Obwohl Susi sexuellen Kontakt mit dem wesentlich jüngeren Mann hat, ist sie nicht mit Ekelmotiven belegt, wie dies traditionell für das Figurenmodell der verliebten Alten bis ins 20. Jahrhundert zu beobachten war. Ebenso wenig unterliegt Martin Walser - wie etwa E.T.A. Hoffmann - der Gefahr der Idealisierung der alten Frau oder deutet mit einer Erkrankung der verliebten Alten eine Strafe der Natur an, wie dies bei Thomas Mann der Fall war. Das Figurenmodell der verliebten Alten ist damit gewissermaßen im Alltag angekommen. Im Vergleich zur umgekehrten Geschlechterverteilung ist das Paar Susi und Khalil in der Lage, Beziehungsarbeit zu leisten, sodass von einer länger dauernden Beziehung und nicht von einer Affäre ausgegangen wird. Damit wird anhand der Liebe zwischen Susi und Khalil gezeigt, dass eine Beziehung im Alter genauso von der Beziehungsarbeit der Partner abhängig ist wie in jüngeren Jahren. Allerdings ist gerade ein älterer Partner durch frühere Erfahrungen vorbelastet, sodass dadurch sogar eine neue Lebensabschnittsgemeinschaft gefährdet sein kann. Susis Gefühl, aufgrund einer zwölfjährigen Beziehungspause gewissermaßen wieder jungfräulich in die Beziehung mit Khalil zu gehen, trügt. Sie ist wesentlich erfahrener als er, stellt damit aber an eine Ehe auch andere Ansprüche. Dennoch wird gerade am Beispiel Susi Gerns gezeigt, dass alte Frauen über ein enormes Entwicklungspotenzial verfügen, das einer Beziehung wie der von Martin Walser geschilderten sehr zugute kommt. Damit entspricht Susi dem Figurenmodell der weisen alten Frauen nicht, die jüngere Männer heiraten, um für diese die selbstlose Rolle einer Mutter zu übernehmen. Die Figur Susi ist zwar mit einigen Merkmalen ausgestattet, die diesem Figurenmodell entsprechen würden und nötig sind, um einen jungen Mann zu lenken, dennoch artikuliert sie immer wieder eigene Wünsche und Sehnsüchte. Susi erlebt auf diese Weise als alternde Frau alle Facetten der Ehe. 99 „Sie ließ die Hände sinken. Sie würde doch nicht springen. Sie mußte sich nichts vormachen. Sei per Du mit Dir. Hatte Edmund ihr aus seinem eng benachbarten Jenseits zugerufen. Danke, lieber Edmund.“ (LdL 516) <?page no="195"?> 193 3.4 Alterskonzepte und Liebeskonzepte im Lebenslauf der Liebe Wie in Marons Romanen, so sind auch bei Martin Walser die Konzeptionen von Liebe und Alter eng miteinander verknüpft. Ausgehend von den unterschiedlichen Konzeptionen von Liebe werde ich die Alterskonzepte im Folgenden vorstellen: Im ersten Teil steht die Figur Susi, ihr Alltag und ihr Gefühlsleben im Zentrum. Sie fühlt sich nicht nur als Sonntagskind, dem die Welt zu Füßen liegt, sondern leitet aus ihrer Geburt an einem Sonntag auch ihren Anspruch auf Liebe ab. Ihre Auffassung von Liebe kann man als ›hohe Liebe‹ bezeichnen. Ihr liegt die Idee der Einmaligkeit und Reinheit der Liebe zugrunde: Ihre Sehnsucht: einem Mann so zustimmen zu können, daß nur noch dieser Mann übrig blieb. Am liebsten ginge sie auf in einem anderen. Am liebsten macht sie sich zu eigen, was der denkt, wie der denkt. Am liebsten wäre sie überhaupt nicht sie selber. Alles so erleben wie der. Vor sich erlöst zu werden. Für eine Zeit. Nachher die traurige Rückkehr in die eigene Person. Die sich nichts mehr glaubt. Oder alles glaubt. Kommt auf dasselbe heraus. Mach Schluß jetzt. (LdL 77) Das völlige Aufgehen im Anderen erinnert an die platonischen Kugelwesen. Allerdings ist in Susis Beschreibung die Desillusionierung bereits angelegt. Ihr ist durchaus bewusst, dass der beschriebene Zustand nicht von Dauer sein kann, sondern immer nur eine kurzfristige Erlösung „von sich selber“ bietet. Susis Desillusionierung ist sicher auch auf die Konfrontation mit dem Liebeskonzept ihres Ehemanns Edmund zurückzuführen. Wird dies im ersten Teil nur angedeutet, so wird es im zweiten Teil von Susis romantischer Vorstellung radikal abgegrenzt. Edmund geht es nicht um die Verschmelzung mit einem einzigen Partner, sondern um das experimentelle Ausleben seiner Triebe und die Selbstbestätigung durch eine möglichst große Anzahl unterschiedlichster sexueller Erlebnisse. Bei ihm steht also der reine Sexualtrieb im Vordergrund, weshalb man auch von einer niederen Liebeskonzeption sprechen kann. Dass beide Konzepte nicht tragfähig sind, zeigt sich im Lauf des Romans. Im dritten Teil wird ihnen daher mit der ›gemeinen Liebe‹ ein alltagstaugliches Konzept entgegengestellt. Liebe wird hier als Alltagsmodell gezeigt. Sie muss ständig neu ausgehandelt werden, und beide Liebespartner müssen sich zwangsläufig im Lauf der Beziehung weiterentwickeln, sonst ist die Beziehung von vornherein zum Scheitern verurteilt. Diese Erfahrung machen auch Susi und Khalil. Sie, indem sie sich von ihrer naiven Lebenshaltung löst und Vertrauen zu ihrem Partner entwickelt. Er, indem er lernt, auf die Bedürf- <?page no="196"?> 194 nisse seiner Frau zu reagieren und die in seiner Kultur üblichen Verhaltensmuster zumindest teilweise abzulegen. Diesen drei Liebeskonzepten entsprechen drei Alterskonzepte. Susi vertritt anfangs das Konzept des entsexualisierten Alters, wohingegen Edmunds verzweifeltes Festhalten an allem Bisherigen und vor allem an seiner Sexualität seine Altersangst offenbart. Das dahinter verborgene Konzept, das Alter als das Gespenst eines entwürdigenden Abbauprozesses evoziert, würde ich als Altersangst bezeichnen. Hiermit entwirft Martin Walser ein Konzept des Alters, wie es sich vor allem in der gegenwärtigen amerikanischen Literatur häufig findet. Einer der zentralen Vertreter ist Philip Roth, der seine männlichen Alten in verzweifelter Art und Weise an der Sexualität festhalten lässt. Im dritten Teil hadert Susi zwar mit ihrem Alter, sie denkt über eine Schönheitsoperation nach, um die Zeichen des Alters zu verdrängen, aber sie sieht selbst ein, dass dies nicht der richtige Weg ist, um sich mit dem eigenen Alter auseinanderzusetzen. Man könnte dieses Alterskonzept als pragmatisches Alterskonzept bezeichnen, da es die verschiedenen Komponenten des Altersdiskurses aufnimmt und in moderater Art und Weise miteinander verbindet. Mit dieser pragmatischen Sichtweise des Alters unterläuft der Autor nicht nur die gesellschaftlichen Konventionen, sondern auch das literarische Modell der verliebten Alten. Ein Altersunterschied von achtunddreißig Jahren zwischen einer Frau und einem Mann ist äußerst ungewöhnlich, wenn sie die Ältere ist. Im ersten Teil hingegen fällt Edmunds Beziehung zu einer einunddreißig Jahre jüngeren Frau gar nicht auf. Damit räumt Walser aber nicht nur mit diesem einen Vorurteil auf. Er gibt auch eine realistische Darstellung der Alterssexualität. Alte Menschen werden nicht länger als geschlechtslose Wesen gezeigt, sondern es wird ihnen auch ein Geschlechtsleben zugestanden, ohne der alten Frau die moralisch determinierte Rolle der lüsternen Alten zuzuschreiben. Vielmehr wird am Beispiel der Figur Susi nachgezeichnet, dass sexuelle Sehnsüchte als Bestandteil des Lebens auch in der Lebensphase Alter ihren Platz haben und erfüllt werden können. Dieses pragmatische Alterskonzept wird mit verschiedenen Hinweisen unterlegt, wie ein glückliches Alter(n) möglich ist. Damit nimmt Martin Walser die Tendenzen der Literatur als Ratgeber in Altersfragen auf und entwickelt implizit einen Kriterienkatalog für ein erfolgreiches Alter(n): - Die positive Lebenseinstellung Susis, die sich zu jung fühlt, um alt zu sein, trägt zu ihrer Zufriedenheit bei. Nachdem Aktivität von ihr verlangt wird, da sie keinen Mann mehr hat, der sich um alles kümmert, ist auch ihr Überlebenswille und ihr Wille zum Glück gestiegen. Erstmals sagt sie zu sich: „Bloß nicht dreieinhalb Wochen lang Heulsuse! Probier doch Lachsuse! Fühlt sich angenehmer an! “ (LdL 465) <?page no="197"?> 195 - Sie findet sozialen Rückhalt, und zwar nicht nur in der neuen Ehe, sondern auch in sozialen Kontakten zu ihren Nachbarn und in freundschaftlichen Verbindungen zu ihren ehemaligen Putzfrauen. - Susi verbringt ihren Alltag nicht mehr nur damit, eine Wohnung aufzuräumen und den Kühlschrank zu füllen, sondern sie wird zunehmend produktiv. Sie engagiert sich sowohl in der Verwaltung der Finanzen, sie sorgt für ihre Tochter und für ihren Mann Khalil und erhält dafür von ihm auch Anerkennung. - Wichtig scheint mir aber auch der Aspekt des mentalen Trainings zu sein. Susi widerspricht nicht nur dem Klischee, dass Frauen nicht mit Technik umgehen können, denn mithilfe ihres Computers, dem „gottgleichen Leonardo“, organisiert sie ihren Alltag, ihre Lebensgeschichte, die Abwesenheiten Khalils, die nach unterschiedlichen Kategorien geordnet werden, und auch ihr Testament ist bereits in Vorbereitung. 100 Die abschätzige Haltung ihres ersten Mannes, der eine gewisse Vorstellung von Susi hatte, die sie erfüllen musste, trug zu ihrem geringen Selbstwertgefühl bei. Nach seinem Tod gelingt ihr, was Edmund ihr nie zugetraut hat, z.B. ein Auto zu fahren, das keine Automatikschaltung hat (LdL 157). Mit der ausgeführten Kombination aus Liebes- und Alterskonzepten kann Martin Walsers Roman als Gegenentwurf zum bürgerlichen Roman des 19. Jahrhunderts gelesen werden. Dieser hat das Ideal der individuellen Liebe, die ein Leben lang an einen einzigen Menschen gebunden ist, propagiert und verbreitet. 101 In einem Dreischritt von der reinen Liebeskonzeption Susis über die von Edmund verkörperte sexuelle Begierde hin zur gemeinen Liebe zwischen Susi und Khalil, die im Alltag zwischen beiden Partnern immer wieder neu ausgehandelt werden muss, werden auch verschiedene Alterskonzepte verhandelt. Hierbei fällt die enge Verknüpfung von Alterskonzepten mit anderen Formen des Lebens- oder Liebeskonzepts auf, die bereits in Marons Romanen angedeutet wird. Liebe, so scheint es, trägt in allen Lebensphasen zur Verjüngung bei. Sie übernimmt gewissermaßen die Funktion des mittelalterlichen Jungbrunnens. Daher dient sie vor allem dann, wenn gesunde alte Figuren dargestellt werden, als wichtiges Handlungsmoment. Allerdings zeigt sich in Martin Walsers Roman, dass sich das Liebeskonzept im Laufe des Lebens ändert. Es ist nicht mehr nur der Koitus, der 100 Trotz der quasi-realistischen Auswertung des Romans für das zugrundeliegende Alterskonzept zeigt sich am Beispiel des Computers der Kunstcharakter des Romans. Susi besitzt ihn bereits im ersten Teil und erwähnt ihn auch im dritten Teil des Buches wiederholt. Sie hat damit gewissermaßen einen Laptop der ersten Stunde, der nicht nur erstaunlich lange funktionstüchtig ist, sondern auch problemlos von Susi bedient werden kann. 101 Sigusch, Vom Trieb und von der Liebe, S. 14. <?page no="198"?> 196 als Gradmesser sexueller Leistungsfähigkeit und damit auch von Jugendlichkeit im Zentrum des sexuellen Erlebens steht. Stattdessen zeigt Walser auf, dass andere Formen der Sexualität wie zärtliche Berührungen und gemeinsam verbrachte Stunden einen wichtigen Stellenwert einnehmen. 3.5 Altersunglücksglück: Altersliebe im Augenblick der Liebe In seinem 2004 erschienenen Roman Der Augenblick der Liebe greift Martin Walser mit der Figur des Gottlieb Zürn auf einen Protagonisten zurück, der bereits im Zentrum seiner Romane Das Schwanenhaus (1980) und Die Jagd (1988) stand. Der ehemalige Immobilienmakler und vierfache Vater hat sich inzwischen weitgehend aus dem Geschäftsleben zurückgezogen. Das Ehepaar Zürn hat einen Rollentausch vorgenommen. Während Anna sehr erfolgreich als Maklerin tätig ist, kümmert sich Gottlieb um die Verwaltung und den Haushalt. Nebenbei findet er die Zeit, seinen philosophischen Interessen nachzugehen, indem er in unregelmäßigen Abständen Essays zum Werk unterschiedlichster Philosophen veröffentlicht. Der Roman Der Augenblick der Liebe beginnt mit dem Besuch der amerikanischen Doktorandin Beate Gutbrod. Diese hat den unter Pseudonym veröffentlichenden Gottlieb Zürn als Autor zweier Essays zum Philosophen La Mettrie ausgemacht. Da sie von ihrem Doktorvater als Dissertationsthema die Rezeption des Werks des französischen Philosophen in Deutschland zugewiesen bekommen hat, erhofft sie sich von dem Gespräch mit Gottlieb Anregungen für ihre Arbeit. Das Gespräch, in dem La Mettrie übrigens kaum eine Rolle spielt, ebenso wie seine Nachwirkungen werden im ersten Kapitel Kommen aber gehen aus der Perspektive Gottliebs beschrieben. Die Möglichkeit einer emotionalen Annäherung zwischen dem alten, verheirateten Privatgelehrten und Hausmann und der jungen Amerikanerin werden in den von Gottlieb sensibel wahrgenommenen erotischen Reizen angedeutet. Fühlt er sich einerseits von der jungen Doktorandin angezogen, so zeigt sich bereits in diesem ersten Kapitel seine tiefe Verbundenheit mit seiner langjährigen Ehefrau Anna. Die in der Überschrift Kommen aber gehen angedeutete Zerrissenheit kann daher als „dialektisches Grundmotiv“ des Romans angesehen werden. 102 102 Jörg Magenau bezieht den Begriff des „dialektischen Grundmotivs“ hier nicht allein auf den Roman Der Augenblick der Liebe, sondern auf Walsers gesamtes Leben und Schreiben. Dieser autobiographischen Lesart des literarischen Motivs kann ich nicht folgen, sehe aber durchaus auch das Hin- und Hergerissensein zwischen zwei Möglichkeiten als charakteristisch für viele Walser‘sche Protagonisten an. So wird dies ja beispielsweise im Roman Der Lebenslauf der Liebe durch die schizophrenen Anfälle Susis und das Gefühl, ihr Bewusstsein bestehe aus zwei Scheiben, die sie zur Deckung bringen müsse, angedeutet. Vgl. Jörg Magenau, Verbergen und Entblößen <?page no="199"?> 197 Im zweiten Teil mit dem Titel Zusammenfinden wird aus der internen Fokalisierung Beates die briefliche und telefonische Annäherung zwischen Beate und Gottlieb beschrieben. Dieser Teil spielt mit den Elementen des zeitgenössischen Single-Romans. 103 Eine junge Frau um die dreißig ist auf der verzweifelten Suche nach einem Mann, der sie heiratet. Das Aussehen und die regelmäßigen Besuche beim Psychiater sowie das Liebesleben ihrer Bekannten nehmen in der persönlichen Wahrnehmung wesentlich mehr Raum ein als Karriereplanung und berufliche Aktivitäten, die nur als lästige Pflicht empfunden werden. Zwar wehrt sie sich politisch korrekt gegen Übergriffe eines Kollegen, ebenso wie sie sich über die Frauenfeindlichen Sprüche ihres Doktorvaters empört, dennoch ist das fehlende Interesse für ihre wissenschaftliche Arbeit und der Versuch, traditionellen Weiblichkeitskonzepten zu entsprechen, deutlich zu spüren. So nimmt sie die erotische Komponente der Beziehung mit Gottlieb völlig in Anspruch. Sie arbeitet nicht mehr an ihrer Dissertation, sondern beginnt kunstvolle lila Wollpullis zu stricken. Der von Gottlieb erarbeitete La-Mettrie-Vortrag wird von ihr zwar jubelnd aufgenommen, aber inhaltlich nicht diskutiert, da sie ihn nur auf der emotional-persönlichen Ebene rezipiert. Im dritten Kapitel Auseinanderkommen wird Gottliebs dreiwöchiger Amerika-Aufenthalt wiederum aus seiner Perspektive erzählt. Auf Einladung von Beates Doktorvater kommt er nach Berkeley, um einen Vortrag über La Mettrie zu halten - er kommt aber auch, um die telefonisch und brieflich sich entwickelnde Affäre mit Beate auf eine neue, körperliche Basis zu stellen. Das Scheitern der Beziehung deutet sich bereits früh an und wird durch den Misserfolg von Gottliebs Vortrag, dem während des Referats die Stimme versagt, vorangetrieben. Kaum in Beates Wohnung in Chapel Hill angekommen, bricht Gottlieb die Reise vorzeitig ab und flieht in die Arme seiner langjährigen Ehefrau und ins vertraute Heim. Im vierten Teil Kehre wird die Ehe zwischen Gottlieb und Anna durch ein harmonisches, sexuell geglücktes Wiedersehen bestätigt. Hier wendet sich der Roman also wieder dem Thema des Eheromans zu. In diesem Kapitel zeigt sich, dass nicht Beate im Mittelpunkt steht, sondern Zürns Ehefrau Anna wird zum eigentlichen, unausgesprochenen Zentrum des Romans. 104 Die Enge des Gewöhnlichen und vor allem sein Alter setzen (oder: Liebe, Lüge, Literatur). Über den Zusammenhang von Leben und Schreiben bei Martin Walser. In: Martin Walser. Lebens- und Romanwelten. Hrsg. von Jan Badewien und Hansgeorg Schmidt-Bergmann. Karlsruhe 2008, S. 9-36, hier S. 25. 103 Für Anregungen zur Darstellung von Singles in der Gegenwartsliteratur danke ich Britta Claus, die zu diesem Thema eine Promotionsarbeit erstellt. 104 Vgl. hierzu die Rezension von Richard Kämmerlings: „Was sich so nie vom schalen Beigeschmack einer politisch-medialen Instrumentalisierung freimachen kann, würde ein berührender Alters-Eheroman sein. In seinem Zentrum stünde nicht Zürn und nicht Beate und schon gar nicht der verruchte Übersetzer, sondern Anna, die Ehefrau, die als geduldige Penelope während der Odyssee ihres Gatten im haus- <?page no="200"?> 198 Gottlieb dennoch zu, sodass er mit dem Gedanken spielt, doch wieder Kontakt zu Beate aufzunehmen. Diese hat ihre Ankündigung bei seiner Abreise, „Die Diss geschmissen, auf die Diss geschissen“ (AdL 206), allerdings inzwischen wahr gemacht und den Rivalen Rick Hardy geheiratet. 105 Damit ist Gottliebs Zaudern sinnlos, seine Rückkehr zu Anna endgültig bestätigt. Die Umkehr in den sicheren Hafen der Ehe wird von dem Ehepaar allerdings als Neubeginn zelebriert, indem Gottlieb seiner Frau das „Sie“ anbietet. Die Ausgangsbasis für die Darstellung des Motivs des senex amans ist also eine ganz andere, als dies bei der verwitweten Susi der Fall war. Ich möchte im Folgenden ausgehend von Gottliebs Alterskonzept darstellen, wie Walser das traditionelle Figurenmodell aufgreift und mit ihm eine neue Komponente - nämlich die Frage nach den Voraussetzungen für das Gelingen einer Beziehung - durchspielt. „Man kann nur jung oder alt sein.“ 106 - Die Figur Gottlieb Zürn Trotz der vergleichsweise langen Zeitspanne, die zwischen den Veröffentlichungen der drei Zürn-Romane liegt, ist eine Einheit der Figur und ihres Lebensumfeldes über die Namensgebung hinaus erkennbar, die bis in die Motivwahl hinein geht. Auch das Thema des Alterns findet sich bereits in den beiden in den 1980er Jahren veröffentlichten Romanen. Dies verdeutlicht folgender Ausschnitt aus dem Roman Das Schwanenhaus: Wenn er bloß schon unter dem Umhang des Friseurs säße. Unter dem Umhang des Friseurs war er nicht gleich fünfzig, sondern elf oder zwölf oder vierzehn. Er fand, daß das durch das Geburtsjahr bestimmte Alter mit dem wirklichen Alter einer Person fast nie übereinstimmte. Er wußte noch sehr genau, daß er sich, als er zwanzig war, überhaupt nicht als Zwanzigjähriger gefühlt hatte. Damals hatte er geglaubt, er sei viel älter. Und jetzt, da er gleich fünfzig war, fühlte er sich oft wie vierzehn oder fünfzehn. Durch Selbstbeobachtung und Beobachtung anderer war er zu der unbeweisbaren Ansicht gekommen, irgendwann erreiche jeder sein wesentliches Alter, das er dann bis zu seinem Tode beibehalte. Etwa eigenen Yachthafen ausharrt. Die schönsten Passagen ergeben eine Hymne auf eine wunderbare, lebenskluge Frau [...].“ Richard Kämmerlings: Anna, laß mich rein, laß mich raus. Mut gibt es an Tankstellen; Martin Walsers neuer Roman schickt einen Liebenden auf Reisen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24.07.2004. 105 Zwar wird Gottliebs Schwanken als eine Flucht vor dem eigenen Altern durchaus plausibel dargestellt, dennoch erfasst Andrea Köhler die Situation in ihrer Rezension sehr treffend: „Der Roman kostet den Triumph der Gattenliebe, den Sieg des Bodensees über kalifornischen Sex und Air Condition nicht aus, doch nimmt man Walsers Helden das Schwanken zwischen Tobsucht und Biedersinn mitunter etwas übel.“ Andrea Köhler: Die Verteidigung der Sinne. Martin Walsers Roman Der Augenblick der Liebe. In: Neue Züricher Zeitung vom 24./ 25.07.2004. 106 AdL 200. <?page no="201"?> 199 seit er dem Jahrgang nach vierzig war, kam er sich immer häufiger vor wie einer, der noch nicht fünfzehn ist. 107 Mit dieser Szene gibt sich nicht nur Walsers Roman Schwanenhaus als typische midlife progress novel zu erkennen, gleichzeitig wird mit dem Motiv des Friseurbesuchs ein bei Martin Walser zur Charakterisierung Gottlieb Zürns wiederholt verwandtes Mittel eingesetzt. Auch im Roman Der Augenblick der Liebe ist es eine Friseurszene, die Aufschluss über das Verhältnis des Protagonisten zu seinem Alter gibt. Nach dem Haarewaschen verlässt Gottlieb abrupt und ohne das Schneiden der Haare abzuwarten, den Friseursalon: Und gestand sich jetzt doch ein, daß der cholerische Anfall nicht vom Friseur provoziert worden war und nicht dem Friseur gegolten hatte. Sein Spiegelbild war es. Er hielt sein Spiegelbild nicht mehr aus. Eine halbe Stunde dieser Fratze ausgesetzt zu sein -, das war unzumutbar. Was die Jahre in seinem Gesicht angerichtet hatten, das mußte er nicht auch noch anschauen. Dreißig Minuten, achtzehnhundert Sekunden lang, präsentiert von einem kristallscharfen, alles entblößenden Friseurspiegel. Er mußte einen Friseur finden, der ihm die Haare vor einem verhängten Spiegel schnitt. Basta. (AdL 218) Wird Gottliebs Aussehen im gesamten Roman nicht beschrieben, so zeigt diese Friseurszene doch, dass er für sein Äußeres empfänglich ist, es wahrnimmt und sich selbst - zumindest als gealterten Mann - ablehnt. In der Verknüpfung der für die Altersrepräsentation gerne genutzten Spiegelszene mit dem sich regelmäßig wiederholenden Friseurbesuch zeigt sich eine Verschränkung von Selbstwahrnehmung und dem Bewusstsein der vergehenden Zeit. Von der Selbstsicherheit, mit der der Fünfzigjährige sein gefühltes Alter als tatsächliches Alter verteidigte, ist zwanzig Jahre später nichts mehr zu spüren. Vielmehr zeigt sich Gottliebs Angst vor den körperlichen Veränderungen, die mit dem eigenen Älterwerden verbunden sind. Damit beschreiben die beiden Romane einen Wandel in der Wahrnehmung des männlichen Körpers. Konnte der Protagonist zu Beginn der 1980er Jahre seine Theorie des gefühlten Alters ohne Bezug zu seiner körperlichen Fitness oder gar seinen sexuellen Kontakten vorbringen, so hat sich seither die gesellschaftliche Bewertung von männlichem Alter grundlegend geändert. 108 Dieser Beginn des vierten Kapitels überrascht den Leser, denn Gottliebs kalendarisches Alter ebenso wie sein Aussehen wurden bislang nur in der Abgrenzung zu Beate als ›alt‹ thematisiert. Eingeführt wurde die Figur Gottlieb zu Beginn als altersunabhängig oder doch zumindest auf gleicher Augenhöhe mit jüngeren Menschen. Der Roman beginnt unvermittelt mit der Wiedergabe eines Dialogs zwischen Gottlieb und Beate in szenischer 107 Martin Walser: Das Schwanenhaus. Roman. Frankfurt a.M. 1980, S. 22. 108 Vgl. hierzu auch das Kapitel zum Wandel in der Wahrnehmung des männlichen Alters in: Gullette, Declining to decline, S. 139-177. <?page no="202"?> 200 Rede. Bereits hier ist in der Formel der „klirrenden Möglichkeiten“ (AdL 9) eine erotische Anziehung in Form einer Prolepse angedeutet, wichtiger scheint mir aber die im Sprachspiel zwischen Gottlieb und Beate zum Ausdruck kommende Übereinstimmung. Die Kommunikation ist zwischen beiden problemlos möglich. Allerdings scheint der Romanbeginn nicht durch die Altersdifferenz zwischen Gottlieb und Beate bestimmt, sondern die Situation am Terrassentisch - Gottlieb zwischen Anna und Beate - weist auf Gottliebs späteres Hin- und Hergerissensein zwischen beiden Frauen hin. Implizite Hinweise auf Gottliebs Alter werden im weiteren Verlauf diskret untergebracht. Er ist sich des Altersunterschiedes zur jungen Besucherin durchaus bewusst (vgl. AdL 19), für den Leser wird dieser aber vor allem durch Gottliebs Erinnerungen an seine Ehe und die durch die La-Mettrie-Forschung gestiftete fünfzehn Jahre zurückliegende Beziehung zur Theologiestudentin Gabriele fassbar. So bringt auch erst die Reaktion Annas, der die emotionale Unruhe, die die junge Frau bei ihrem Mann ausgelöst hat, nicht verborgen bleibt, die weitere Handlung in Gang. „Jetzt nimm’s nicht so schwer [...] vierzig Jahre, das kann man doch auf sich beruhen lassen.“ (AdL 29) - so versucht sie ihren Mann zu trösten und trägt damit nicht unerheblich dazu bei, dass Gottlieb die Nähe der jungen Frau sucht. Er muss sich nun beweisen, dass er auch bei einer so jungen Frau noch Chancen hat. Da vor allem der von Anna vermutete Altersunterschied von vierzig Jahren bei ihm eine Panik des „Alleshintersichhabens“ (AdL 34) auslöst, ist zu vermuten, dass die Motive Gottliebs weniger auf einer bedingungslosen Liebe zu der jungen Frau beruhen. Vielmehr bietet ihm das verführerische Verhalten der jungen Frau die Möglichkeit, zumindest zeitweise an ihrer Seite sein Alter zu verdrängen. Wird das Alter Gottliebs im ersten Teil nicht weiter thematisiert, so spielt es überraschenderweise auch in dem aus Beates interner Fokalisierung erzählten zweiten Teil keine Rolle. Die im ersten Kapitel vorgenommene Kategorisierung Gottliebs wird durch den Perspektivenwechsel nur unwesentlich ergänzt. Lediglich seine Zurückhaltung und seine Unentschiedenheit, die von Beate auf sein Alter zurückgeführt werden, werden betont. Dies erstaunt insofern, als der große Altersunterschied zwischen den beiden Figuren eine Kontrastrelation vermuten lässt. Andererseits wirft diese Art der Darstellung ein neues Licht auf die junge Frau. Wurde diese im ersten Abschnitt als junge, aufstrebende Wissenschaftlerin gezeichnet, so zeigt sich im zweiten Kapitel, dass ihr wissenschaftliches Interesse letztlich sehr gering ist. Mit dieser Entkategorisierung entsteht ein völlig neues Bild der Figur. Bereits an der zu Beginn thematisierten Unzufriedenheit mit ihrem Vornamen, den sie aufgrund seiner Gewöhnlichkeit nicht akzeptieren kann, zeigt sich Beates Identitätsproblem (vgl. AdL 50). Mit der Identitätsproblematik geht sowohl eine selektive Wahrnehmung der Wirklichkeit als auch deren Verklärung einher. Diese wird beispiels- <?page no="203"?> 201 weise an ihrer Reaktion auf Gottliebs wiederholte Hinweise auf sein Alter bzw. den Altersunterschied deutlich: Die Jahre, die er zwischen ihr und ihm aufbaut wie ein unpassierbares Gebirge, putzt sie weg wie nichts. Dazu paßt, daß er dann auch in jedem zweiten Brief vorschlägt, nur in chinesischen Restaurants zu essen, weil es in denen so schummrig ist. Sie wird ihn in die Helle führen. Tag und Nacht. Unter eine Operationslampe wird sie ihn legen zum Küssen und so weiter. Sie ist nämlich S & M. Das sagt man hier für pervers. (AdL 102f.) Die Ignoranz ebenso wie der Narzissmus Beates werden als problematisch herausgestellt. Sie braucht Gottlieb nur als Projektionsfläche für ihre eigenen Wünsche und Sehnsüchte und ist nicht in der Lage, auf seine unter anderem auf seiner Lebenserfahrung beruhenden Bedenken einzugehen. Ist im ersten Kapitel die Stimme des Erzählers zu vernehmen, so wechselt Martin Walser in diesem zweiten Kapitel zum Selbstgespräch. Diese Erzählstrategie hat in dem Fall zur Folge, dass den von Beate vertretenen Werten und Normen keine Beurteilung entgegengestellt wird. Allerdings sind Beates Selbstfindungsprobleme und ihr völliges Aufgehen in der imaginierten Beziehung zu Gottlieb so offensichtlich, dass für das Aufeinandertreffen der beiden Figuren bereits an dieser Stelle das Schlimmste befürchtet wird. Der Perspektivenwechsel im zweiten Teil trägt also nicht zur Ausgestaltung der Altersrepräsentation bei, sondern dient in erster Linie der Charakterisierung Beates und bereitet den Leser schon an dieser Stelle auf das Scheitern der Affäre vor. Das Aufeinandertreffen von Beate und Gottlieb in Amerika wird von Anfang an als problematisch geschildert. Gottlieb hat wenig Verständnis für ihr Verhalten und ihre Sprache. Dagegen setzt Beate ihn mit ihren sexuellen Wünschen unter Druck. Die sexuelle Kommunikation kann daher nicht zur Vertiefung der Beziehung beitragen. Beate wird für Gottlieb folglich nicht zu einer Partnerin, vielmehr erinnert sie ihn zunehmend an seine vier Töchter. Einmal wird beschrieben, wie sie „daumenlutschend“ neben ihm liegt (AdL 189). Hier wird ihr Bedürfnis nach Schutz besonders deutlich. In Gottlieb werden in diesem Moment - wie kann es bei einem Vater von vier Töchtern anders sein - Vatergefühle wach. Damit rückt die Beziehung zu Beate aber auch in die Nähe zum Inzest. 109 Regelmäßig erzählt er Beate die Geschichten seiner Töchter. Der Satz: „Beate war, zum Glück, eingeschlafen, er konnte aufhören.“ (AdL 155, ähnlich: 190) zeigt die Rollenverteilung eindeutig an. Damit ist implizit der Generationendiskurs aufgerufen. Eine Beziehung, die aufgrund der Alters- 109 Vgl. hierzu auch Hannelore Schlaffer, die zum Verhältnis Der alte Mann und das Mädchen Italo Svevo zitiert, der seinen Protagonisten feststellen lässt, dass eigentlich jede Beziehung mit großem Altersunterschied unter Inzestverdacht steht. Vgl. Schlaffer, Das Alter, S. 94. <?page no="204"?> 202 differenz bei einem Partner elterliche Gefühle hervorruft, kann nicht von Dauer sein. Die Unvereinbarkeit der beiden Lebensentwürfe zeigt sich ein weiteres Mal, als Gottlieb in Beates Apartment in Chapel Hill ankommt. In dieser Studentenwohnung kann sich der ehemalige Immobilienmakler nicht wohlfühlen. Die Enge steht hier auch exemplarisch für Beates intellektuelle Begrenztheit, ihren Narzissmus und ihre Naivität, die nur auf eines abzielt: die Ehe. Als Gottlieb dies bewusst wird, ergreift er endgültig die Flucht und verlegt seinen Flug um eine Woche nach vorn auf den kommenden Vormittag. Nach seiner Rückkehr aus Amerika hat sich Gottliebs Alltagswahrnehmung verändert. Nicht nur die in der Friseurszene entwickelte Veränderung der Selbstwahrnehmung, sondern auch seine Sensibilität für alte Menschen in seiner Umgebung deuten darauf hin. Beim Gang durch die Stadt fällt ihm eine von einem jungen Mädchen begleitete Gruppe älterer Menschen, vermutlich Bewohner eines Pflegeheims, auf. Lauter finster zerstörte, vom bösesten Leid gezeichnete Gesichter und wie zur Drohung verschobene Körper. Weil es ein wenig aufwärts ging, mußte das Mädchen den Trupp halten lassen, zurückgehen und eine winzige Greisin nachholen, die inzwischen nicht mehr als einszwanzig groß war, aber eine Tasche umgehängt hatte, die fast genau so groß war. (AdL 241f.) Die Unansehnlichkeit der alten Menschen erinnert an Gottliebs Flucht vor seinem Spiegelbild. Das Schrumpfen der alten Menschen verweist auf deren zunehmende Bedeutungslosigkeit im öffentlichen Diskurs. Anhand dieser Gruppe alter Menschen wird ein Gegensatz aufgebaut zu alten Menschen, die Gottlieb kurz nach seiner Ankunft in Amerika im Hotel beobachtet hat. Die alten Herrschaften gehören unterschiedlichen Gruppierungen eines altägyptischen Ordens an (vgl. Adl 140) und tragen rote und schwarze Kostüme. Gottlieb fällt in erster Linie ihr Gang - „[…] jeder stakste anders als der andere. Keine zwei litten unter der selben Beeinträchtigung“ (AdL 140) - und ihr hemmungsloses Auftreten - „[e]inige Fez-Träger hingen in Sesseln, streckten die Beine von sich und schliefen mit klaffenden Mündern“ (AdL 141) - auf. Nicht nur die laut durch die Lobby gerufene Liebeserklärung einer Zweiundneunzigjährigen, 110 sondern vor allem Gottliebs Gang - er „stakst“ zur Bar (AdL 142) - reihen ihn in die Gruppe der rüstigen Rentner ein. Auch er gehört zu den privilegierten Rentnern und ist im Hotel abgestiegen, um sich einem Altherrenvergnügen hinzugeben. 111 110 „I am ninety-two and I love you.” (AdL 141) 111 Die Beschreibung von unternehmungslustigen Rentnergruppen ist ein Motiv, das immer wieder als Kontrastfolie in literarischen Texten auftaucht. So ist z.B. auch Wilhelm Genazinos Protagonist in dem Roman Die Liebesblödigkeit, der sich selbst aufgrund einer plötzlich aufkeimenden Angst intensiv mit seinem Alter auseinandersetzt, mit einer solchen Gruppe konfrontiert. Genazino hebt hierbei besonders das <?page no="205"?> 203 Die Gedanken an und über das Alter lassen Gottlieb im letzten Kapitel des Romans nicht mehr los. Er imaginiert schließlich eine Aufklärungsszene: Er sollte sich lieber befehlen, sofort aufzustehen, in die Stadt zu rennen, und mitten in der Stadt sollte er zum Erstaunen der Leute anfangen zu reden. Laut. Überlaut. Je lauter er redete, desto glaubhafter würde er sein. Schreien mußte er, dann war er glaubhaft. Glaubwürdig. [...] Leute, würde er rufen, glaubt keinem, der aus Erfahrung über das Altwerden und über das Altsein spricht. Er lügt. Keiner kann über das Altwerden und über das Altsein die Wahrheit sagen. Jeder würde sich genieren, etwas so Ekelhaftes, Erbärmliches in den Mund zu nehmen. Glaubt keinem! Auch ihm nicht! Und würde an seine Kopfwarze am Haaransatz greifen, und die würde bluten, und er würde den Leuten seine blutigen Finger hinhalten. Dann würde er sich umdrehen und unaufhaltbar gehen. (AdL 242f.) Die Wahrheit über das Alter und das Alterskonzept, das in ihr ausgedrückt wird, ist schonungslos. In sie hat sich auch das Gefühl der Unvereinbarkeit von Alter und Jugend eingeschrieben, das Gottlieb im Zusammensein mit Beate immer häufiger verspürte. Vor allem kommt hier seine eigene Angst vor dem Alter als Phase des zunehmenden körperlichen und geistigen Verfalls zum Ausdruck. Symbol hierfür ist die Warze an seinem Hinterkopf. Das Blut, das aus der Warze austritt, verbürgt - wie die Stigmata Jesu - die Wahrheit seiner Aussage. Damit kündigt Gottlieb den von vielen alten Rentnern geübten Kult der ewigen Jugendlichkeit, der in seiner Amerikareise zum Ausdruck kam, auf. Er bekennt sich zu seinem Alter und zu den damit verbundenen niederschmetternden Erfahrungen. Allerdings ist er sich bewusst, dass seine Rede insofern prophetisch ist, als sie von jungen Menschen nicht verstanden werden kann. Die Unsagbarkeit dessen, was Altsein tatsächlich bedeutet, lässt seine Rede eher als Ausdruck von Wahnsinn erscheinen. Hierin ist auch der Schrecken des Alters zu suchen, dass es viel mehr als andere Lebensphasen den alten Menschen auf sich zurückwirft, da seine Erfahrungen - vermutlich auch, weil sie ihn selbst schockieren - nicht kommunizierbar sind. Damit entwirft Gottlieb gegen Ende des Romans ein Alterskonzept, das extrem pessimistisch ist und den Verfall ins Zentrum stellt. Dies kann auch als Reaktion auf die Konfrontation mit der Jugendlichkeit Beates gelesen werden. Dennoch entwirft der Text jenseits der Figurenperspektive ein Alterskonzept, das dem Alter Vorrang vor der Jugend einräumt. Wie sich im Folgenden zeigen wird, sind beide Protagonisten - Beate und Gottlieb - Getriebene. Gottlieb flieht vor seinem Alter, Beate leidet unter einem extrem geringen Selbstwertgefühl. Dabei ist Gottlieb aufgrund seiner Erfahrung in der Lage, seine Unbehagen des Protagonisten hervor, das im Kontrast steht mit der von ihm festgestellten „zufriedenen Tumbheit“ der alten Menschen. Vgl. Wilhelm Genazino: Die Liebesblödigkeit. Roman. München 2005, S. 77. <?page no="206"?> 204 Situation zu reflektieren und Entscheidungen zu treffen. Wohingegen Beate völlig kopflos entscheidet und handelt, wie sich z.B. in der von ihr eingegangenen Ehe mit einem Kollegen zeigt, der sie zuvor körperlich bedroht hat. Damit wird das Alter als der Jugend nicht vergleichbare Lebensphase dargestellt, die - im Gegensatz zum zeitgenössischen Jugendkult - durchaus positive Aspekte und Vorteile gegenüber der Jugend hat. „Allein jeder, aber zusammen für immer.“ 112 - Augenblicke einer Ehe Martin Walsers Ausgestaltung des Motivs des verliebten Alten ist insofern ungewöhnlich, als sein verliebter Alter verheiratet ist und eine Trennung von seiner Frau nie ernsthaft in Erwägung gezogen wird. Daher möchte ich, bevor ich mich dem Motiv des senex amans zuwende, einen kurzen Blick auf die Ehe der Zürns werfen. Mit dem Ehepaar Zürn entfaltet Martin Walser ein Paarmodell, das der Roman Der Lebenslauf der Liebe aufgrund von Edmunds frühzeitigem Tod nicht enthält. Im Augenblick der Liebe wird ein Paar gezeigt, das gemeinsam gealtert ist, mehr oder weniger erfolgreich vier Töchter großgezogen und verschiedene Krisen gemeistert hat. Das Eheleben ist gewöhnungsbedürftig, entspricht es doch nicht dem Bild der symbiotischen Gemeinsamkeit oder dem Bild der Seniorinnen und Senioren, wie es Hannelore Schlaffer entwirft. 113 Wie im Lebenslauf der Liebe geben auch im Augenblick der Liebe die Schilderung der Frühstücksgewohnheiten des Paares und die Kommunikationsformen, die sich im Lauf der Zeit herausgebildet haben, einen tiefen Einblick in die Beziehung der Ehepartner. Aus Gottliebs Perspektive stellt sich diese folgendermaßen dar: Warum sollte er dieser Besucherin die Innenansichten seiner Ehe präsentieren. [...] Was verstünde denn eine Besucherin, wenn er jetzt Annas deutliches Informationsdefizit mit den Sprech- und Sprachgepflogenheiten dieser Ehe erklärte! Daß sie, wenn nicht gerade Kinder da sind, nach einander frühstücken, ist der Ausdruck einer Übereinstimmung, die eine Besucherin nicht begreifen kann. Überhaupt vollzieht sich das Gespräch zwischen ihm und Anna auf einer für eine Besucherin vor Höhe unhörbaren Frequenz. Die höchsten Töne sind die feinsten. Nur daß Sie’s wissen. Je weniger sie mit einander sprechen, desto besser verstehen sie einander. (AdL 11f.) Gottlieb befindet sich hier in einer defensiven Haltung. Er glaubt, gegenüber der jungen Frau seine Ehe verteidigen zu müssen. Dabei klingt, was er vorbringt, alles andere als desillusionierend: Bei den Zürns handelt es sich 112 AdL 249. 113 Hannelore Schlaffer entwirft ein Bild des alten Paares, in dem sich die Machtverteilung umgekehrt hat, sodass der alte Mann am Gängelband seiner Frau hängt bzw. zum „Ladendiener seiner Frau“ geworden ist. Schlaffer, Das Alter, S. 72f. Vgl. hierzu auch die Darstellung der Großeltern in Tanja Dückers Roman Himmelskörper (Teil II Kapitel 4.2), die scheinbar das gängige Modell eines alten Paares verkörpern. <?page no="207"?> 205 um ein Ehepaar, das einander aufgrund der langjährigen Nähe sehr vertraut ist und sich ohne Worte versteht. Die Gewohnheit, getrennt zu frühstücken, zeigt, dass im Rahmen der Ehe eine Möglichkeit gefunden wurde, jedem den nötigen Freiraum zuzugestehen. Gemeinsame Interessen wie die regelmäßigen Segeltouren auf dem Bodensee (AdL 43, 252f.) - die als literarisches Motiv durch die Nähe zum Wasser und den fehlenden Grund übrigens auf eine leidenschaftliche Beziehung zwischen den beiden Ehepartnern verweisen 114 - und die häusliche Arbeitsteilung, die mit der Anerkennung der Leistungen des Partners verbunden ist, zeigen ein harmonisches Miteinander. Die Probleme der Nachelternphase, wie sie in Monika Marons Romanen thematisiert werden, sind gelöst. Die Interpretation von Peter Mohr, der die Figur Gottlieb als „kümmerliche Existenz“ interpretiert, die „förmlich nach Veränderung [schreit]“ 115 , ist daher nicht nachzuvollziehen und scheint eher das Relikt einer patriarchalen Denkweise zu sein. Wäre die Frau für Büroarbeit und Haushalt zuständig, würde der Rezensent wahrscheinlich von einer glücklichen Ehe sprechen. Gottlieb zeigt keine Anzeichen von Unzufriedenheit: „Näher kann man einander nicht sein als in dieser wunderbaren Wüste gemeinsam erworbenen Schweigens“ (AdL 13), so resümiert er sein Verhältnis zu Anna. Dennoch enthüllen Gottliebs Worte seine Unzufriedenheit. Die Verteidigungsrede des alten Ehemanns kann zwei Ursachen haben: - Gottfried fühlt sich im Alltagstrott seiner Ehe nicht wohl. - Gottfried glaubt, dass die junge Frau ihn wegen des großen Altersunterschieds nicht verstehen kann. Damit sind zwei zentrale Themenkomplexe des Romans, das Funktionieren einer Ehe und die Selbstwahrnehmung des älter werdenden Mannes, angesprochen. Dass eine langjährige Ehe nicht nur als positiv empfunden werden kann, zeigen z.B. die Reaktionen, die der Besuch der jungen La-Mettrie- Forscherin bei den Eheleuten auslöst: Gottfried imaginiert in einem Tagtraum einen Unfall auf dem Segelschiff Niobe. Nachdem er in einem ersten Panikanfall Anna auf dem Schiff zurückgelassen hat, kehrt er um und rettet die Bewusstlose. Grade dieser Rettungsversuch - schwimmend seine bewusstlose Frau an Land zu bringen - zeigt, dass Anna von Gottlieb auch als Last empfunden wird. Im Verlauf des Romans wird deutlich, dass 114 Horst S. u. Ingrid Daemmrich: Ehebruch. In: dies.: Themen und Motive in der Literatur. Ein Handbuch. Tübingen, Basel 1987, S. 104-109, hier S. 108. 115 Peter Mohr: Aufbruch des Seelenselbstmörders. Martin Walsers neuer Roman Der Augenblick der Liebe ist ein typisches Alterswerk, ein raffiniertes Spiel mit verpassten Lebenschancen, ein letztes Intermezzo, ehe die Lebenskurve steil nach unten zeigt. In: General-Anzeiger vom 22.07.2004. <?page no="208"?> 206 Gottlieb zeitweise unter Annas Perfektionismus und vor allem unter ihrem beruflichen Erfolg leidet. Diese Angaben sind kaum überprüfbar, da Anna selbst kaum zu Wort kommt und immer aus der Perspektive Gottliebs beschrieben wird. Auffallend ist allerdings, dass Anna mit ihrem eigenen Alter und dem ihres Mannes sehr gelassen umgeht. Diese Gelassenheit wird durch ihr Wissen als Heilpraktikerin begründet, das sie als naturverbundene Frau erscheinen lässt, die natürliche Veränderungen leicht akzeptieren kann. Diese Merkmalskombination rückt Anna in die Nähe des Figurenmodells der weisen Alten. Die Gefahr, die von der jungen Doktorandin für die Ehe der Zürns ausgeht, wird im Roman durch eine eher groteske Szene symbolisiert. Der aufgewühlte Gottlieb ist früh zu Bett gegangen, kann aber nicht schlafen. Als sich Anna neben ihn legt, liegt in ihrer Hälfte des Bettes ein Fleischermesser. Gottlieb ist sich sicher, dass Anna das Messer in einer für sie typischen „ausdruckssichere[n] Geistesabwesenheit“ (AdL 35) selbst in ihr Bett gelegt hat. Annas Verhalten ruft ein Gefühl der Zärtlichkeit und der Zusammengehörigkeit in Gottlieb auf: Genauer konnte man, was heute passiert war, nicht ausdrücken. Auch die Sinnlosigkeit, Folgenlosigkeit und Unwirklichkeit des heute Passierten konnte man nicht genauer ausdrücken als durch ein möglichst großes Messer, das zwar in ihrem Bett liegt, aber überhaupt keinen Schaden anrichten kann. (AdL 36) Mit dieser Interpretation liegt Gottlieb nicht ganz richtig, wie die folgenden Ereignisse erkennen lassen. Die emotionalen Auswirkungen von Gottliebs Amerikareise und dem vollzogenen Ehebruch auf das Verhältnis der Ehepartner werden kaum thematisiert. Die Wahl eines außerehelichen Sexualpartners wird selbst in Anbetracht des Alters der Protagonisten, das bei Gottlieb wohl zwischen fünfundsechzig und siebzig Jahren anzusetzen ist, nicht als ungewöhnlich dargestellt. Gottlieb denkt die ersten Tage in Amerika kaum an seine Frau. Lediglich ab und zu hat er das Bedürfnis, seine Reise vor sich selbst mit dem Gedanken zu legitimieren, dass er eine Immobilie erwerben wird, die Anna dann gewinnbringend verkaufen kann. In diesem Zusammenhang erwacht auch sein schlechtes Gewissen, denn er ist sich bewusst, dass er Geld verbraucht, das Anna verdient hat (AdL 143). Freilich kann er seine Gewissensbisse sehr gut unterdrücken und nimmt erst nach seinem missglückten Auftritt bei der Tagung und aufgrund seiner Halsbeschwerden telefonisch Kontakt zu Anna auf. Sie gibt nicht nur genaue medizinische Anweisungen, sondern wird auch sehr persönlich: „Sie wäre ihm dankbar, wenn er, weil er doch so schlau ist, wenn er ihr erklären könnte, warum sie ihn noch liebt. Das ist ein Leiden, gegen das sie immer noch kein Mittel gefunden hat.“ (AdL 176) Das Telefonat beschließt sie mit einer Erinnerung und ruft somit das ganze gemeinsame Eheleben auf - gewissermaßen ein Abwehrzauber gegen die junge Konkurrentin. <?page no="209"?> 207 Stellt der gescheiterte Tagungsauftritt den Wendepunkt in Gottliebs Forscherkarriere und das Ende des Wendelin Krall dar, so ist dieses Telefonat der Wendepunkt in Gottliebs Beziehung zu Beate: „Er wollte zu Anna. Die im Kimono, da auf dem Bett, diese junge Frau produzierte in ihm den Wunsch, bei Anna zu sein.“ (AdL 187) Gottliebs emotionale Entscheidung, nach Hause zurückzukehren, und die darin aufscheinende Distanz zu Beate wird nicht explizit erklärt. Als Gründe werde ich im Folgenden die Selbstinszenierung der im Grunde sehr unsicheren jungen Frau und ihre für Gottlieb befremdlichen Sprech- und Kommunikationsgewohnheiten herausarbeiten. Gottlieb definiert sich selbst als Sprachmenschen (AdL 148) und glaubt, dass er in der jungen Doktorandin jemanden finden könnte, der seine Liebe zur Sprache teilt. Diese Erwartung wird enttäuscht. Die sich in den Briefen entwickelnde Verknüpfung von Liebesspiel und Sprachspiel interessiert Beate im persönlichen Kontakt wenig. Sie ist völlig auf ihren Körper fixiert. Sex wird von ihr wie eine Sportart betrieben. 116 Daher versteht sie auch Gottliebs sprachliche Anspielungen nicht. Bereits die erste sexuelle Begegnung endet beinahe im Fiasko, weil Beate seine Referenz auf einen ihrer Briefe nicht herstellen kann, sondern seine metaphorische Redewendung als konkrete Anspielung auf ihre Körperfülle missversteht und damit auf sich bezieht. 117 Erfasst Beate den Gehalt von Gottliebs Aussage nicht, so stößt die von ihr gewählte Bildlichkeit bei ihm zunehmend auf Unverständnis. Einerseits lehnt Gottliebe Beates mit Elementen der Jugendsprache wie dem von Gottlieb ungeliebten Wort ›Fan‹ (vgl. AdL 194f.) durchsetzte Alltagssprache ab. Andererseits kritisiert er zunehmend ihre für Sexuelles gebrauchten Metaphern. Hier zeigt sich seine sprachlich andere, weil frühere Sozialisation, die aufgrund der unterschiedlichen Sprachverwendung seine anfängliche Euphorie schnell abflauen lässt. 118 So bezeichnet sie z.B. seinen Samen als „ihre Kommunion“ (AdL 150). Da er mit dieser quasireligiösen Überhöhung eines körperlichen Vorgangs nicht einverstanden ist, reagiert er mit dem von ihm unter ökonomischen Gesichtspunkten gewählten, desillusionierenden Begriff der „Ausschüt- 116 „Sie wechselte jäh in die Aktivsprache: This is no time for talk, it’s time for performance. Let’s have it in English. Und als wären sie im Studio und sie die Regisseurin, rief sie: Action! Ihm gelang es trotzdem, den bloßen Aktionismus zu steuern.“ (AdL 149) 117 Ähnlich auch: „Und sagte, was alles er noch nicht habe, also, was alles er noch wolle und wünsche. Nämlich sie, sie, sie. Also gleich dreimal, sagte sie. Er erschrak ein bißchen, weil er es so konkret nicht gemeint hatte. Er tat aber so, als gebe es keine Grenzen, und tatsächlich gab es die im Augenblick noch nicht.“ (AdL 150) 118 „Scheiden schlämmen. In das schwarzrote Dunkel ihrer Scheidenschlucht den taghellen milchigen Samen träufeln, bis von allen Rändern und Wänden nur noch die lichten Samenschwaden flossen, die Schlucht überschwemmten und schlämmten.“ (AdL 142) <?page no="210"?> 208 tung“ (AdL 153). Bereits hier deutet sich also die Differenz der beiden Charaktere und ihrer Wahrnehmung an. Aber es ist nicht nur der unterschiedliche Sprachgebrauch, in dem eine Form der Generationendifferenz zum Ausdruck kommt, sondern auch Beates Verhaltensweise. Im ihr gewidmeten zweiten Teil wird sie als panische Singlefrau dargestellt, die nicht den Ehrgeiz entwickelt, sich in der immer noch männlich dominierten akademischen Welt zu behaupten, sondern sich in eine Liebesbeziehung flüchtet, um eine konservative Frauenrolle erwartungsgemäß zu erfüllen. 119 Für ihre beifallheischenden, theatralischen Inszenierungen von Geschichten 120 und ihre Selbstdarstellung als sexuell attraktive Geliebte hat Gottlieb aufgrund ihrer Unnatürlichkeit wenig Verständnis. Ihre Unsicherheit steht dabei im Kontrast zu Annas Selbstversunkenheit und Selbstsicherheit. Bezeichnender für die Unvereinbarkeit der beiden Lebenswelten scheint mir aber zu sein, dass Beate keine Grenzen kennt und zulässt. So ist der alternde Gottlieb Zürn mit dem Versuch seiner jungen Geliebten, Nähe herzustellen, indem sie ihm gesteht, dass sie beim Geschlechtsverkehr immer kalte Hände und Füße bekomme (AdL 188), völlig überfordert. Die für seine Generation geltende Grenze des Sagbaren ist überschritten. Ebenso ist die fehlende körperliche Distanz, wenn sie z.B., während sie zur Toilette geht, die Tür nicht hinter sich schließt (AdL 205), für Gottlieb nur schwer zu ertragen, ja sie stößt ihn sogar ab. Verkörpert seine Ehefrau Anna etwas Geheimnisvolles, Unnahbares, so steht Beate für das absolut Berechenbare und Gewöhnliche. Dabei handelt es sich einerseits um einen Generationenkonflikt, andererseits aber auch um ein mangelndes Gespür für Diskretion. Der Augenblick der Liebe ist der Moment, in dem sich zwei Menschen ineinander verlieben. In den Alltag kann dieser Augenblick nur gerettet werden, wenn die beiden Verliebten einander mit viel Respekt begegnen und die Freiräume des anderen akzeptieren. Damit ist Martin Walsers Roman Der Augenblick der Liebe weniger ein Roman über den verliebten Alten als vielmehr ein Text über Geschlechterbeziehungen. Mit Anna erlebt Gottlieb auch nach jahrelangem Zusammenleben ›Augenblicke der Liebe‹ (vgl. AdL 43), während ihn die junge Beate bereits nach wenigen Tagen langweilt und abstößt. Der Unterschied zwischen den beiden Beziehungen zeigt sich auch in der sexuellen Erfahrung. Nicht nur Beates sportliches Sexverständnis stößt Gottlieb ab, sondern auch die von ihr bevorzugten sexuellen Praktiken. Die 119 So überfällt sie Gottlieb bei der Ankunft in ihrem Studentenapartment mit der Frage, wann er sie heirate, und besiegelt damit das Ende der Beziehung. (AdL 191, 193) 120 „Er wußte nicht, wer Wum ist. Der Hund, den Loriot erfunden hat. Das haue sie doch glatt um, die ganze Welt kennt den melancholisch-witzig-dümmlichen Loriot-Hund. Vor lauter Verwunderung ließ sie sich auf das Bett fallen, schlüpfte dann aus den Schuhen, drehte sich und imitierte, auf dem Bett kniend, den Kopf in Schieflage, diesen Hund. Er hatte das Gefühl, er müsse Beifall klatschen. Und tat’s.” (AdL 147) <?page no="211"?> 209 orale Stimulanz regt ihn zu einem langen Diskurs über die unterschiedlichen Gewohnheiten und Formen weiblicher Unterwerfung in der neuen und der alten Welt an, führt ihn aber nicht zu der von Beate beabsichtigten Ekstase. Ganz anders verläuft nach der Heimkehr der Beischlaf mit seiner Ehefrau. Hatte der Briefwechsel zwischen Beate und Gottlieb bereits zu einem regeren Sexualverkehr der Ehepartner geführt (AdL 196), so wird neben einem an ein junges Paar erinnernden Liebesakt auf einem Stapel Buchenstämme, die Heimkehr auch im Ehebett ausgiebig gefeiert: „Bis drei Uhr nachts hatten sie einander hineingeredet, hineingerissen in eine Festlichkeit, hatten, was sie einander taten, Feiern genannt.“ (AdL 223) Diese Nähe spiegelt nicht nur die Vertrautheit des gemeinsam gealterten Paares, wie in Marons Roman wird auch hier die Sexualität älterer Menschen als der der Jugend überlegen gezeigt. Eheliche Treue spielt hierbei kaum eine Rolle, sondern außereheliche Erfahrungen können auch stimulierend wirken: Ihre Paradegeschichte, der Herr der fünf Ausschüttungen, zwei davon schon in der Annäherung. Das sagte sie so neu, als habe sie es noch nie gesagt. Das war die Paradeseite aus der vergilbenden Ehechronik. Unvorstellbar, daß sie solche Kontakte nie gehabt hatte. Er hatte sie zurückzuholen aus den Fängen wild auftrumpfender Erinnerungsschweinereien. Das war ihm immer eine ihn ganz und gar aufpeitschende Beschäftigung. Annas unbestreitbare Gegenwart und Anwesenheit. So wurde es doch noch ein Fest. (AdL 222) Das sexuelle Erlebnis mit der älteren Frau wird wesentlich intensiver erlebt als die Begegnung mit der jungen Beate. Der sprachliche Austausch zwischen den Ehepartnern ist unverkrampft und begleitet das Liebesspiel, gemeinsame Erinnerungen führen zum Einheitserlebnis. Der Koitus wird als körperliche und metaphysische Erfahrung erlebt: So entgleist hat sie noch nie ausgesehen. Sagt sich Gottlieb. Dem Tod näher als dem Leben. Die Zunge zwischen den halboffenen Lippen wie ein erlegtes Wild. Speichel trieft. Sie ist hinüber. Und hat ihn mitgenommen. Sie schafften es, einander zu verfallen. Und so lagen sie dann. Länger. Wahrscheinlich war er vor ihr eingeschlafen. (AdL 224) Allerdings zeichnet sich dieses Aufgehen im Anderen und der eigenen Lust auch durch einen Aspekt aus: die Nähe zum Tod. Der Orgasmus trägt damit das Moment des Todes bereits in sich. Die Angst vor dem Tod ist gleichsam Gottliebs Antrieb, er flieht vor seinem eigenen Alter und damit vor seiner Sterblichkeit. Daher kann die Beziehung mit Anna immer nur aus momenthaften Glückserlebnissen bestehen. Seine Ängste kann er nicht - oder noch nicht - mit ihr teilen: Jetzt auch noch das Ältersein, das er nicht Altsein nennen läßt. Anna hat sich eine abschließende Tonart angewöhnt, sie nimmt vorweg, was noch gar nicht da ist, eigentlich sieht sie aus, wie sie immer ausgesehen hat. Offenbar ist sie innerlich älter als äußerlich. Er weigert sich, Alter zu gestehen. Für sich fühlt er <?page no="212"?> 210 sich älter als alt, aber er kann sein Altsein mit niemandem teilen. Auch nicht mit Anna. Soll sie ihr Altsein haben und er seins. (AdL 223f.) Interessanterweise wird aus der Sicht des Protagonisten (und des männlichen Autors) der Seitensprung nicht als Problem für die langjährige Ehe gesehen. Die für Marons Romane gültige These, dass die Affäre des Ehemanns mit einer jüngeren Frau nicht nur als sexuelle Niederlage, sondern auch als Abwertung der gesamten Persönlichkeit der Protagonistin verstanden wird, lässt sich an den Reaktionen Annas nicht beobachten. Obwohl sie seinen Amerikaaufenthalt als verletzend empfindet, trägt sie ihm sein Verhalten nicht nach, scheint aber auch das Gespräch mit ihm hierüber nicht zu suchen. Grund hierfür kann einerseits die lange Vertrautheit der Ehepartner sein, die Anna nicht nur die Gewissheit gibt, dass ihr Mann wieder zu ihr zurückkehrt, sondern Anna auch die wahren Gründe für den Seitensprung erkennen lässt. Andererseits kann die Selbstsicherheit auch in Annas Selbstbewusstsein liegen, das nicht nur auf ihren beruflichen Erfolgen gründet, sondern auch auf eigenen außerehelichen sexuellen Erlebnissen beruhen könnte. Diese werden ihr zumindest von Gottlieb unterstellt (AdL 222). Das gemeinsam gealterte Ehepaar wird damit als eng verbundene Lebens- und Liebesgemeinschaft dargestellt, in der die Fehler und Probleme des anderen anerkannt und akzeptiert werden. Aufgrund des langjährigen Miteinanders ist die Verbindung der Ehepartner so stark, dass auch eine Verführung bzw. ein Seitensprung eines Partners die Beziehung zwar verändert, aber nicht dauerhaft gefährdet. „Turpe senilis amor.“? 121 Traditionelle Elemente des männlichen Figurenmodells Im Vergleich zum Figurenmodell der verliebten Alten findet sich das männliche Pendant des senex amans in der Literatur sehr häufig und in unterschiedlichen Ausgestaltungen. Im Zentrum steht immer die Liebe eines alten Mannes zu einer meist wesentlich jüngeren Frau. Die den alten Mann traditionell auszeichnenden Eigenschaften der Weisheit und der Würde werden dadurch in Frage gestellt, dass er in eine Haltung jugendlicher Verliebtheit zurückfällt und der Frau nachstellt, ihr partiell sogar verfallen ist. 122 Literaturgeschichtlich sind zwei Ausformungen des Figurenmodells besonders beliebt: - Der alte Mann wirbt um die jüngere Frau. Diese weist ihn zurück, sodass er zum Gespött der Leute wird. Hier steht also das Moment der 121 Das lateinische Zitat findet sich im Roman auf Seite 196. Es bezieht sich auf Ovids Amores und bedeutet im Deutschen: „Schändlich ist die Liebe eines alten Mannes“. 122 Frenzel, Alte, Der verliebte, S. 1. <?page no="213"?> 211 Verführung im Fokus, das durch die Schönheit der Frau und das Ausgeliefertsein des Mannes an seine Gefühle bestimmt ist. Die Disproportion der Figuren bedingt in der Regel eine komische Handlung. Tragikomisch wird das Geschehen, wenn weniger die moralische Komponente als die Hilflosigkeit des alten Mannes im Zentrum der Darstellung steht. - Die Frau lässt sich - meist aufgrund ökonomischer Überlegungen - auf eine Ehe ein. 123 Hier gibt es, wie z.B. in Johann Wolfgang von Goethes Prokurator-Novelle, selten den Fall einer trotz der Altersdifferenz glücklichen Ehe, häufiger ist dieses Motiv sozialkritisch gestaltet. Dann taucht in der Regel ein junger Liebhaber auf, die beiden jungen Figuren hintergehen den Alten, der damit zum Hahnrei gemacht wird. 124 Hier steht der Generationenkonflikt im Zentrum des literarischen Diskurses. Implizit geben diese Texte zu erkennen, dass die Wahl eines annähernd gleichaltrigen Partners zu bevorzugen ist, wohingegen der alte Mann für sein moralisch verwerfliches Verhalten bestraft wird. Das kalendarische Alter des senex amans spielte motivgeschichtlich lange Zeit nur eine untergeordnete Rolle. Alter steht vielmehr symbolisch für das Rückständige, Traditionelle, während die jungen Figuren Fortschritt und Innovation verkörpern. Kennzeichen des Alterns dienen zur Darstellung eines hässlichen Alten und verweisen als solche auf die moralische Verwerflichkeit von Handlungen. Den Fokus auf die körperlichen Veränderungen des senex amans richtet erst Johann Wolfgang von Goethe mit seiner Novelle Der Mann von funfzig Jahren. 125 Hier ist es die Liebe der jungen Nichte, die den Major überhaupt erst auf die Idee bringt, noch einmal heiraten zu können. Bislang war er so sehr mit seinen Geschäften und der Lebensplanung seines Sohnes beschäftigt, dass er über eine solche Möglichkeit nicht nachgedacht hat. Erliegt er erst einmal der Versuchung, die die junge Nichte darstellt, ist er sich doch über die körperlichen Unter- 123 Vgl. zu solchen Konstellationen mit positivem Ausgang: Sigrid Schmid-Bortenschlager: Varianten und Variationen des Topos ›Alter Mann - Junge Frau‹. In: Schwierige Verhältnisse. Liebe und Sexualität in der Frauenliteratur um 1900. Hrsg. von Theresia Klugsberger, Christa Gürtler und Sigrid Schmid-Bortenschlager. Stuttgart 1992, S. 5-18. 124 Das literarische Motiv des Hahnreis beschreibt einen älteren Mann, der von seiner wesentlich jüngeren Frau mit einem gleichaltrigen Mann betrogen wird. Meist verzichtet der gehörnte Ehemann daraufhin auf seine Frau, sodass das junge Paar glücklich wird. Elisabeth Frenzel: Hahnrei. In: dies.: Motive der Weltliteratur: Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. Stuttgart 2008, S. 304-320. 125 Johann Wolfgang von Goethe: Der Mann von funfzig Jahren. In: ders.: Wilhelm Meisters Wanderjahre. Hrsg. von Gerhard Neumann und Hans-Georg Dewitz. Frankfurt a.M. 1989, S. 433-494. <?page no="214"?> 212 schiede und die damit einhergehende Lächerlichkeit im Klaren. Daher begibt er sich in die Hände eines Schönheitsberaters, der zu seiner körperlichen Verjüngung beitragen soll. Schnell wird dem Major die Unverhältnismäßigkeit seines Tuns bewusst. Der Verlust eines Schneidezahnes bestärkt ihn darin, dass eine so ungleiche Heirat nicht von dauerhaftem Glück gesegnet sein kann, und er vermählt - wie ursprünglich geplant - die junge Frau mit seinem Sohn. Er selbst verwirft aber seine Heiratspläne nicht völlig, sondern geht eine Beziehung mit einer attraktiven und ebenfalls wesentlich jüngeren Witwe ein. Auch in der Gegenwartsliteratur wird das Motiv des senex amans sehr häufig in Beziehung zur Altersangst des Protagonisten gesetzt. Körperbeobachtungen spielen auch bei Protagonisten eine wichtige Rolle, der Vergleich mit der Jugend wird in diesem Kontext überwiegend über die sexuelle Attraktivität und Leistungsfähigkeit hergestellt. „Sex wird zur Droge, zum Stimulans, das sie [die alten Männer, M.S.] am Leben hält“, 126 so fasst Petra Gerster diese vor allem in der amerikanischen Literatur häufig beschriebene Tendenz der Fixierung auf Geschlechtliches zusammen. Im Unterschied zu unwürdigen Greisenlieben, wie sie z.B. John Updike und Philip Roth entworfen haben, geht Martin Walser anders vor. Das Motiv des senex amans ist im vorliegenden Roman, wie bereits dargestellt, eng mit Gottliebs Angst vor dem eigenen Älterwerden und der Endlichkeit des menschlichen Lebens verbunden. 127 Er flieht nicht aus seinem Alltag oder vor seiner Frau: Grund für seine Flucht nach Amerika in die Arme einer jungen Promotionsstudentin ist seine Angst vor dem Alter. Das adäquate Mittel, das Alter zu besiegen, scheint die Liebe einer jungen Frau zu sein. Dabei setzt Walser das Motiv der Verführung gekonnt ein. Die junge Besucherin erzählt beim ersten Zusammentreffen nicht direkt von ihrem Forschungsvorhaben, sondern beschreibt eine Baustelle auf dem Campus ihrer Universität in Chapel Hill. Aus dem Gebäude ragt eine „rötliche Kunststoffröhre“ mit einem „eigenartigen, aber doch ziemlich eindeutig gewölbten Abschluß, dem zuliebe man eigentlich wünscht, das Haus vis à vis mit der entsprechenden weiblichen Ausrüstung zu bestücken.“ (AdL 16) Diese Aussage, ebenso wie das zu weit aufgeknöpfte Kleid und das betonte Aushauchen aller f- und ch-Laute 126 Petra Gerster: Reifeprüfung. Die Frau von 50 Jahren. Berlin 2007, S. 235. 127 „Ach, Beate, sagte er dann, wohin flieht man, wenn das Ende sich aufdrängt? Dahin, wo es am krassesten klar wird, daß man am Ende ist, zu Beate, nach Amerika. Das sind seine Empfindungsdaten.“ (AdL 201) Im Vergleich mit den Romanen des amerikanischen Autors Philip Roth ist Walsers Ausgestaltung des Themas geradezu harmlos. Bei Roth werden vor allem Sexszenen in aller Ausführlichkeit geschildert, wohingegen die bei Walser dominierende Reflexion des Helden sehr zurückgenommen ist. Vgl. z.B. Philip Roth: Sabbaths Theater. Roman. Deutsch von Werner Schmitz. München, Wien 1996 [Original: Sabbath’s Theater. Boston 1995]. <?page no="215"?> 213 (AdL 17), deutet bereits darauf hin, dass sie das Anliegen, eine Dissertation zu schreiben, nicht mit der nötigen Ernsthaftigkeit betreibt. Unterstrichen wird das Motiv der Verführung zudem durch die von Beate getragenen Schlangenlederschuhe, durch die sie zur „Schlange persönlich“ (AdL 25), also zum Sinnbild der Verführung, wird. Gottlieb kann sich dieser Verführung nicht entziehen, zumal er über La Mettrie - freilich fünfzehn Jahre zuvor - schon einmal eine zwanzig Jahre jüngere Geliebte gefunden hat (vgl. AdL 20f.). Allerdings zeigt diese Beziehung, aus der ein zweiter La-Mettrie-Aufsatz hervorgegangen ist, dass Gottlieb keine rein körperliche Beziehung sucht, 128 sondern die sexuelle Begegnung an einen intellektuellen Austausch geknüpft ist. Indes kommt es zu keiner Diskussion von Gottfrieds La-Mettrie-Vortrag. Dieser wird von Beate völlig unkritisch gelesen und lediglich als Vorwand genutzt, um in Deutschland anrufen zu können und den verehrten Mann um eine frühere Ankunft zu bitten. Selbst bei der Übersetzung ins Englische muss Beate ihren Kollegen heranziehen und gibt diesem - da er den Vortrag Gottliebs bereits vorab kennt - die Möglichkeit, eine vernichtende Kritik vorzubereiten. Damit trägt Beate nicht unwesentlich zu Gottliebs Misserfolg auf der Tagung bei. Interessant ist, dass Walser den Motivkomplex des verliebten Alten mit einem alten Strang des Figurenmodells verknüpft: der Verführung des alten Philosophen. Zeichnet sich der Philosoph durch seine Weisheit aus, so wird im Mittelalter mit Vorliebe an dieser Figur die Verführungskunst schöner, junger Frauen gezeigt. Tritt der weise Alte einerseits als Warner junger Männer auf, so kann er sich andererseits selbst der Verführung nicht erwehren. 129 Andererseits erfuhr die Beziehung des weisen Alten zu einer jüngeren Frau gerade durch ihre geistige Legitimation im 20. Jahrhundert eine moralische Aufwertung. Öffentliche Personen wie Pablo Picasso oder Gottfried Benn, die nicht zwangsläufig das Kriterium der Altersweisheit erfüllten, dienten hier als Vorbilder. 130 Vor allem die Figur der jungen Geliebten hat, wenn man die Geschichte des Figurenmodells betrachtet, einen enormen Wandel erlebt. War sie 128 „Diesmal leidet der Held [...] an einem neuen Symptom, das ist sein mit Sixty something aufflackernder Geschlechtsbestätigungsdrang. Warum ausgerechnet Zürn als verunglückender Romeo? “ Isolde Schaad: Martin Walser und das sterbende Tier. Vom Reden der Wörter und vom Schweigen ihres Autors. In: dies.: Vom Einen. Literatur und Geschlecht. Elf Porträts aus der Gefahrenzone. Zürich 2004, S. 126-146, hier S. 132f. 129 Vgl. Wolfgang Stammler: Der Philosoph als Liebhaber. In: ders., Wort und Bild. Studien zu den Wechselbeziehungen zwischen Schrifttum und Bildkunst im Mittelalter. Berlin 1962, S. 12-44. 130 Erstaunlicherweise werden in populärwissenschaftlichen Schriften vor allem alte Männer als Beispiele sowohl für die Kreativität bis ins hohe Alter, aber auch für ein erfülltes Liebesleben - natürlich an der Seite immer jüngerer Frauen - herangezogen. Vgl. z.B. Schlaffer, Das Alter, S. 75-78; Frank Schirrmacher: Das Methusalem-Komplott. München 2004, S. 202f. <?page no="216"?> 214 lange Zeit in erster Linie Muse und Verehrerin, so entwickelte sich die junge Geliebte über die Schülerin - wie z.B. in Bettine von Arnims Selbststilisierung in dem autobiographischen Werk Goethe‘s Briefwechsel mit einem Kinde aus dem Jahr 1835 - zur emanzipierten Wissenschaftlerin oder Künstlerin, die in ihrem Werk über den geliebten Mann hinauswächst. 131 Ein Beispiel hierfür wäre Vicki Baums Roman Stud. chem. Helene Willfüer. Darin heiratet die ehemalige Doktorandin am Ende ihren Doktorvater. Das von ihr entwickelte Verjüngungsmittel „Vitalin“ verhilft dabei dem gealterten und depressiven Professor wieder zu neuem Lebensmut. 132 Einer breiten Öffentlichkeit bekannt ist das Figurenmodell des verführten Intellektuellen im 20. Jahrhundert z.B. durch Heinrich Manns Roman Professor Unrat 133 und dessen Verfilmung unter dem Titel Der blaue Engel mit Marlene Dietrich und Emil Jannings in den Hauptrollen. Hier verfällt ein alter, von seinen Schülern gehasster Gymnasiallehrer einer jungen, attraktiven Revuesängerin und wird zum Gespött der Stadt. Neben diesen unübersehbar dem Figurenmodell des senex amans entspringenden Figurenmodellen reiht Martin Walser seinen Roman aber auch in die Gattungstradition der campus novel ein. 134 Neben der Ansiedlung des Erzählstrangs um den Philosophen La Mettrie und die Bekanntschaft zwischen Beate und Gottlieb im Milieu der Universität trägt vor allem der Beate gewidmete zweite Teil die für diese Textgattung konstitutiven Elemente bei. Zu nennen wären hier beispielsweise der Entwurf einer akademischen Charaktergalerie, die Schilderung von Intrigen unter den Wissenschaftlern, deren Profilierungssucht ebenso wie aus dem Universitätsalltag erwachsende psychische Probleme. 135 Mit der Konfrontation von Gottfrieds universitätsfernem Privatgelehrtendasein und dem Tagungsgeschehen wird die charakteristische Beziehung zwischen der „relativ abgeschlossenen Institution Universität und der Gesellschaft“ 136 im Roman thematisiert. Gottliebs Misserfolg ist auch auf seine Unkenntnis der universitären Gepflogenheiten zurückzuführen. Zudem ist auch die amouröse Beziehung eines älteren Wissenschaftlers als (freilich ungewöhnlicher) Vertreter der Dozentenschaft zur verführerischen, jungen 131 Schlaffer, Das Alter, S. 90. 132 Vicki Baum: Stud. chem. Helene Willfüer. Roman. München 1960 [EA 1928]. 133 Heinrich Mann: Professor Unrat oder das Ende eines Tyrannen. Roman. Hamburg 1951 [EA 1905]. 134 Richard Kämmerlings kommt in seiner Wertung zu dem Erzählstrang um La Mettrie und den Tagungsbesuch Gottliebs in der FAZ zu dem Ergebnis, dass „die kolportagehaften Niederungen der campus novel zu den Schwachpunkten“ des Romans zählen. Kämmerlings, Anna, laß mich rein, laß mich raus. 135 Vgl. zur Definition der Gattung: Wolfgang Weiß: Der anglo-amerikanische Universitätsroman. Eine historische Skizze. Darmstadt 1988, S. 19-23. 136 Ebd., S. 22. <?page no="217"?> 215 Schülerin - und als diese wird Beate in gewissem Sinne ja auch eingeführt - ein wiederkehrendes Motiv dieser Romanform. 137 Im Unterschied zu vielen Prätexten wird Gottlieb als alternder, verliebter Wissenschaftler bei Martin Walser nicht zur lächerlichen Figur. Dass der alte Mann sich durch die Verehrung der jungen Frau mehr als geschmeichelt fühlt, ist verständlich. Zwar wirkt seine Unentschlossenheit bisweilen komisch, doch ist sie im Grunde als Ausdruck seiner Angst sowohl vor dem eigenen Alter als auch vor der gesellschaftlichen Reaktion auf diese ungleiche Beziehung dechiffrierbar. Dass sich Gottlieb durchaus der moralischen Angreifbarkeit der Affäre mit Beate bewusst ist, zeigt sich bereits kurz nach Beates Besuch am Bodensee. Die Denkunmöglichkeit, die mit einer Liebesbeziehung zu einer vierzig Jahre jüngeren Frau verbunden ist, wird von Gottlieb selbst thematisiert und reflektiert: Was er wollte, war so wenig möglich, so wenig erlaubt, daß er nicht den geringsten Versuch machen durfte, seinen Willen durchzusetzen. Bitte, was wollte er denn? Schon das zu formulieren war unmöglich. (AdL 31) Mit diesen Überlegungen ist der moralische Diskurs eröffnet, der Alter und Liebe tabuisiert und dadurch die Liebe eines alten Mannes zu einer jungen Frau untragbar macht. Da die Beziehung von Beate und Gottlieb auf den privaten Raum eines abgedunkelten Hotelzimmers bzw. von Beates Apartment beschränkt bleibt, sind sie als Paar weder einer moralischen Verurteilung noch dem Spott von Beates Kollegen ausgesetzt. Der Rückzug ins Hotelzimmer als modernem locus amoenus ist aber nicht von Erfolg gekrönt, sondern symbolisiert die Unfreiheit des Paares. Dass Gottlieb zumindest die erste körperliche Begegnung ins Halbdunkel verlegt, ist eindeutig seinem Alter geschuldet. Der Altersunterschied zwischen beiden Partnern bleibt unausgesprochen immer ein Thema. Dies zeigen einerseits Gottliebs Ängste, wenn er betont, dass es noch keine Einschränkungen seiner sexuellen Leistungsfähigkeit gibt (vgl. AdL 150), gleichzeitig aber von Beates unbändigem Verlangen überfordert ist. Andererseits versucht Beate, ihre Unsicherheit durch forsche Sprüche zu überspielen: „In der letzten halben Stunde seien die Jahreszahlen überhaupt nicht mehr spürbar gewesen. Und als er nicht wußte, wie er darauf reagieren sollte, sagte sie: Das war jetzt frech, gell.“ (AdL 153) Damit erreicht sie aber genau das Gegenteil der eigentlichen Absicht. Sie stellt nicht ihre Jugendlichkeit heraus, sondern Gottliebs Alter. Spielt für sie der Altersunterschied angeblich keine Rolle, so wird bereits im zweiten Teil deutlich, dass dieser lediglich eine Attraktion auf der Suche nach dem ungewöhnlichsten Partner darstellt. Andererseits scheint Beate aufgrund ihrer Angst, sexuell unattraktiv zu sein und daher nicht geheiratet zu werden, auch nicht wählerisch zu sein. Eine Vorstellung dessen, was Gottliebs Ehe für ihre 137 Vgl. ebd., S. 116. <?page no="218"?> 216 Beziehung bedeutet, hat sie ebenso wenig wie ein Alterskonzept. Vielmehr wird an dieser Figur die menschliche Verarmung gezeigt, die im 20. Jahrhundert häufig mit dem Motiv des Ehebruchs verbunden ist. 138 Je länger Gottlieb mit der jungen Frau zusammen ist, umso mehr wird sein Alter zum Problem und werden die Implikationen des Altersunterschiedes offensichtlich. Daher findet Gottlieb gerade in diesem „Das-war-jetzt-frechgell“ auch die Begründung für das Ende der Affäre (AdL 197). Damit bestätigen sich Befürchtungen, die sich in der von Gottlieb gewählten Reiselektüre bereits vor dem Zusammentreffen mit Beate ankündigten. Auf die Amerikareise hat er sich einen Text von Jean Jacques Rousseau mitgenommen: Lettres à Sara. Hierbei handelt es sich um den (fiktiven) Briefwechsel eines fünfzigjährigen Mannes mit einer dreißig Jahre jüngeren Frau. Auch hier wird der moralische Diskurs aufgerufen, wenn der Autor im Vorwort darauf hinweist, dass „[a]uch ein alter Knacker [...] bis zu vier Liebesbriefe schreiben [könne] und immer noch aller Ehren wert sei, aber sechs Liebesbriefe könne er, ohne sein Gesicht zu verlieren, nicht schreiben“ (AdL 144). Legt man diese Sicht der Dinge zugrunde, dann hat Gottlieb bereits vor seiner Ankunft in Amerika sein Gesicht verloren. Wesentlich stärker beeindruckt hat ihn allerdings ein anderer Satz des alten Briefeschreibers: „Die schlimmste Folter für mich ist, mich zu sehen, wie Du mich siehst.“ (AdL 144) Dieser Satz impliziert, dass ein alter Körper neben dem einer jungen Frau zwangsläufig als hässlich erscheint. Gottlieb stellt sich die Frage, warum er für eine wesentlich jüngere Frau attraktiv sein könnte - wie übrigens auch Susi Gern das im Hinblick auf einen jüngeren Mann tut. Diese Frage wird im gesamten Roman nicht beantwortet. Die Zärtlichkeit, die sich im Lebenslauf der Liebe in Khalils Umgang mit Susi zeigt, fehlt im Augenblick der Liebe - zumindest von Seiten Beates - völlig. Demnach könnte auch für Gottlieb die Antwort, die Rousseaus alter Mann gefunden hat, an Plausibilität gewinnen: „Die unglaubwürdigen Zärtlichkeiten der Zwanzigjährigen seien für ihn nichts als eine weitere Demütigung. Ich lebe in der furchtbaren Gewißheit, nicht geliebt werden zu können.“ [Hervorhebungen im Original, M.S.] (AdL 145) Auch hier findet sich also ein Grund für das Scheitern der Beziehung, den Gottlieb in seiner Begründung für den verfrühten Abflug nennt: „Es gibt kein Verständnis für einander. Der Alte versteht den Jungen so wenig wie der ihn. Es gibt keine Stelle, wo Jugend an Alter rührt oder in Alter übergeht. Es gibt nur den Sturz.“ (AdL 200) Gottlieb gibt sich in seiner Reflexion über das Alter und die Schändlichkeit der Liebe eines alten Mannes - „turpe senilis amor“ (AdL 196) - die Schuld für das Scheitern der Beziehung. Dennoch entkommt er letztendlich noch relativ glimpflich aus der Rolle des verliebten Alten. Gleichwohl verfolgt ihn auch nach seiner Rückkehr der moralische Diskurs und die 138 Daemmrich, Ehebruch, S. 108. <?page no="219"?> 217 Frage nach der angemessenen Form der Alterssexualität. In einer Unterhaltung zwischen Anna und einer langjährigen Bekannten wird über die Altersgeilheit von Gottliebs früheren Kollegen diskutiert. Gottlieb, der sich durchaus betroffen fühlt und im Gespräch eine subtile Form der Rache seiner Frau vermutet, reagiert sehr missmutig auf diese Diskussion: Geil das war doch in jedem Alter die Stimmung, die nicht heraus durfte. Das war doch immer nur unter besonders gesegneten Umständen erlaubt gewesen. Er hätte die Damen wirklich fragen müssen, warum ein Älterer, wenn er denn das war, was sie geil nannten, nicht einfach geil, sondern altersgeil war. Die haben da eine Ahnung parat. Du solltest nicht mehr, darfst nicht mehr. Die haben eine Moral, die sie ästhetisch-sittlich drapieren. Es schickt sich nicht nur nicht, es ist ekelhaft, alt und geil zu sein, das haben die Damen [...] verkündet. Gründe haben sie nicht genannt. Das ist einfach so. Inter omnes constat. Basta. Und weil das so ist, weiß Gottlieb, daß er, was bei ihm altersgeil genannt werden konnte oder mußte, zu verbergen hatte, so wie er als Fünfzehnjähriger seine Jugendgeilheit zu verbergen hatte. Es gab Damen und Herren im Ächtungsdienst für jedes Alter. [Hervorhebung im Original, M.S.] (AdL 231) Gottliebs Überlegungen sind ebenso als Verteidigung seiner Beziehung zu Beate zu lesen, wie sie einen Verweis auf seinen La-Mettrie-Vortrag darstellen. Hat er darin dargelegt, dass die Entstehung von Schuldgefühlen ein Ergebnis von Erziehung ist, in dem sich letztendlich die Entfremdung des Menschen von seinem Körper zeigt (vgl. AdL 120f.), so hat er mit seiner Kritik an der heuchlerischen Diskussion der beiden Frauen - immerhin hat er eine sehr ausgiebige Liebesnacht mit seiner Ehefrau erlebt - durchaus Recht. Gerade die sexuellen Wünsche älterer Männer werden im öffentlichen Diskurs als unangemessen, ja krankhaft dargestellt. Damit wird zu einer Stigmatisierung der Alterssexualität beigetragen, die das Selbstwertgefühl vor allem alter Männer enorm herabsetzen kann. Dabei, so gesteht sich Gottlieb ein, ist auch das Alter von sexuellen Lüsten nicht frei (vgl. AdL 238). Gottliebs Reaktion auf dieses Gespräch und die in diesem zum Ausdruck kommende geistige Enge ist - wie könnte es anders sein - wieder ein Fluchtversuch. Er plant, sich den an ihn gestellten Erwartungen zu entziehen und Beate anzurufen: „In Amerika muß er taub gewesen sein. Er hatte den letzten Zug versäumt. Wo sollte er jetzt die Nacht verbringen. Je weniger Leben dir zusteht, desto heftiger reißt du es an dich. Das ist das Gesetz. Des Lebens.“ (AdL 238) Die Lebensgier des alten Mannes steht damit seiner Lebenserfahrung entgegen. Eine Wiederholung ist allerdings nicht mehr möglich. Beate hat inzwischen den gehassten Kollegen Dr. Rick W. Hardy geheiratet. So bleibt nur ein anderer Neuanfang: Der Roman endet mit einem Dialog zwischen Anna und Gottlieb, der die Wortwahl des anfänglichen Dialogs zwischen Beate und Gottlieb aufgreift. Mit dieser für Walser typischen Kreis- <?page no="220"?> 218 bewegung 139 wird signalisiert, dass auch in der Ehe ein neuer Anfang möglich ist: ein hoffnungsvoller Ausblick auf das weitere gemeinsame Altern des Ehepaars Zürn und das mit dem Paar verbundene Alterskonzept. Walsers Roman durchweht ein durchgängig melancholischer Grundtenor. Es ist ein typisches Alterswerk, ein raffiniertes Spiel mit verpassten Lebenschancen, ein letztes vitalisierendes Intermezzo, ein finales Versprühen der Endorphine, noch einmal ein kurzes Aufbegehren, ehe die Lebenskurve steil nach unten zeigt. Gottlieb Zürns Ausbruch liest sich so dramatisch und doch so vergeblich, als schicke man einen rheumakranken Artisten noch einmal auf das Hochseil. 140 Diese Bewertung von Peter Mohr sieht in Walsers Roman eindeutig eine Form der Altersklage: Der Verfall ist nicht mehr aufzuhalten, neue Chancen gibt es keine. Dieser Lesart des Romans kann ich nicht zustimmen. Gerade das Ende, das den gemeinsamen Neubeginn des Ehepaars anzeigt, ist voller Hoffnung. Aufgrund der Schilderung der Ehe mit Anna im ersten Teil, ihrem angedeuteten Verständnis für die Probleme ihres Mannes und der Harmonie, die im Kapitel Kehre angedeutet wird, verspricht die Wiederholung des Duetts mit Anna ein Gelingen dieses Neuanfangs. Damit steht am Ende des Romans keine utopische Ehe mit einer viel zu jungen Frau, sondern das Eingeständnis, dass das Alter - auch wenn es ängstigende Dimensionen hat - auch eine Lebensphase ist, in der sich der Einzelne ebenso wie das alte Paar nicht mit dem Status quo abfinden muss, sondern immer noch Möglichkeiten hat, sich zu verändern. Das Alterskonzept, das hieraus abstrahiert werden kann, vereinigt die Ambivalenzen, die die Erfahrung des Alters mit sich bringt. Ist der Figur Gottlieb einerseits das Merkmal der Verunsicherung durch körperliche Veränderungen zugeordnet, so zeichnet der Protagonist sich doch auch durch Lebenserfahrung und Verantwortungsbewusstsein aus. Das Alter ist somit als Lebensphase gekennzeichnet, die, ebenso wie die Jugend, Entwicklungspotenziale in sich birgt. 139 Vgl. das Ende von Walsers Novelle Ein fliehendes Pferd. Hier erzählt der Protagonist Halm am Ende seiner Frau mit den Worten des Novellenbeginns, wie er die letzten Tage erlebt hat. Damit ändert sich im letzten Satz noch einmal das Verständnis der Novelle und ihres Personals, da nun deutlich wird, dass das Erlebte aus Halms Perspektive erzählt ist. Zudem erzählt die Geschichte eine selbstreflexive Komponente, da Halm durch die Erzählung mehr Distanz zu seinem Ich aufbauen kann. Martin Walser: Ein fliehendes Pferd. Novelle. Frankfurt a.M. 1980 [EA 1978]. 140 Mohr, Aufbruch des Seelenselbstmörders. <?page no="221"?> 219 3.6 Augenblick und Lebenslauf - Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Figurenmodell der Altersliebe Augenblick der Liebe und Lebenslauf der Liebe - die von Martin Walser gewählten Romantitel suggerieren, dass die Romane nicht nur ein gemeinsames Thema behandeln: die Liebe. Für beide Romane wählt der Autor darüber hinaus alte Protagonisten. Dabei greift Martin Walser die Traditionen für das weibliche bzw. das männliche Figurenmodells der/ des verliebten Alten in seiner Darstellung auf. Geht es in Zusammenhang mit der älteren Frau nicht um ein Abenteuer, sondern um die Suche nach einem neuen Lebensmodell, so zeigt der Autor am Beispiel der Figur des Gottlieb Zürn die Verführung, die von einer jungen Frau ausgeht und die den alternden Mann zumindest eine Zeit lang sein Alter vergessen lässt. Übersteht die Beziehung des alten Mannes zur jungen Geliebten den ersten Liebesrausch nicht, so ist die Beziehung der älteren Frau zu einem jüngeren Mann auf Dauer angelegt. Sieht man vom Erfolg oder Misserfolg der von Martin Walser geschilderten Paare mit großer Altersdifferenz ab, so sind einige Handlungsmuster und Darstellungselemente für beide Romane konstitutiv. - Sexualität ist in beiden Romanen ein zentrales Thema. Erstmals kann dabei in der Gegenwartsliteratur auch die Sexualität alter Menschen offen thematisiert und beschrieben werden, ohne dass durch das Aufrufen von Ekelmotiven sofort deren moralische Verwerflichkeit betont wird. Das sexuelle Erlebnis älterer Menschen wird dabei nicht abgewertet, sondern - wie sich das bereits in den Romanen Monika Marons angedeutet hat - aufgrund der Erfahrung der älteren Figur als der jugendlichen Erfahrung überlegen dargestellt. Ein wichtiges Element der Sexualität ist die körperliche Kommunikation. Wird bei altersgleichen Partnern meist selbstverständlich von einem Gelingen dieser Kommunikationsform ausgegangen und deren Thematisierung somit nicht für notwendig erachtet, so wird die Bedeutung dieser Form des Austauschs zwischen Liebenden im Kontext der Altersliebe eingehend analysiert. - In der Neukonzeption des Figurenmodells des bzw. der verliebten Alten wird ein kultureller Veränderungsprozess sichtbar. Die alten Menschen sind weder als Verlachfiguren in den Bereich der Komödie verwiesen, noch erscheint ihr Verhalten als peinlich. Vielmehr betont Martin Walser in beiden Romanen die Ambivalenz, mit der ältere Menschen auf das Werben jüngerer Geliebter reagieren. An den Figuren wird aufgezeigt, dass die mit der Liebe verbundene Anerkennung in jedem Alter gerne akzeptiert wird. Mit einer kurzfristigen Affäre - so suggeriert es zumindest der Roman Der Augenblick der Liebe <?page no="222"?> 220 - ist nicht zwangsläufig das Ende einer langjährigen Ehe besiegelt. Hierdurch kann es auch zur Aufwertung einer früheren Beziehung kommen. Am Motiv des Ehebruchs zeigt sich damit auch ein gesellschaftlicher Wandel ebenso wie eine Emanzipation vom romantischen Liebesideal. Die Ehe als Institution wird abgewertet. Damit geht allerdings eine Befreiung dieser Lebensform von moralischen Ansprüchen einher. - Der Generationenkonflikt wird bei Martin Walser nicht wie in früheren Epochen auf der ökonomischen Ebene ausgehandelt. Diese spielt in beiden Texten eine untergeordnete Rolle. Vielmehr ist es neben der nonverbalen Kommunikation die unterschiedliche Sozialisation, die sprachliche Verständigungsschwierigkeiten zur Folge hat. Hier hängt es von der Entwicklungsfähigkeit der Figuren ab, ob sie in der Lage sind, sich auf die neue Lebenssituation einzulassen oder nicht. Das Alter der Figur spielt für die Entwicklung keine Rolle. - Die Körperbeobachtung des älteren Partners wird in beiden Beziehungen hervorgehoben. Der alternde Körper wird im Vergleich mit dem jungen des Partners als defizitär wahrgenommen. Dies bietet Martin Walser die Möglichkeit, gesellschaftliche Schönheitsnormen zu hinterfragen und den Prozess der Herausbildung einer Altersidentität in einer extremen Situation zu beschreiben. - Die Bedeutung des gefühlten Alters wird in beiden Romanen betont. Durch den jüngeren Gefährten bzw. die jüngere Gefährtin an ihrer Seite fühlen sich sowohl Susi als auch Gottlieb verjüngt. Wenn der jüngere Partner wie im Falle Beates dem anderen nicht das Gefühl vermitteln kann, dass er attraktiv ist, dann ist die Beziehung von vornherein zum Scheitern verurteilt, da das Selbstwertgefühl eines Partners gemindert ist. - In beiden Romanen zeigt Martin Walser anhand einer ungewöhnlichen Alterskonstellation die Voraussetzungen für das Gelingen einer Beziehung auf. Viele Aspekte finden sich daher auch bei altersgleichen Paaren, sie bekommen durch den Altersunterschied der Partner im Figurenmodell des/ der verliebten Alten eine ganz neue Bedeutung. Martin Walsers Romane wurden von den Rezensenten gerne mit Begriffen wie „Alterswerk“ 141 oder „Altherrenprosa“ 142 belegt und mit dem Hinweis auf die Senilität des Autors gewissermaßen als gesellschaftlich irrelevant abgetan. Wie meine Interpretationen gezeigt haben, wählt Martin Walser nicht in erster Linie alte Protagonisten, um damit seine persönlichen Altersängste aufzuarbeiten. Sollte ihm das hiermit gelungen sein, wäre das zwar ein menschlicher Erfolg, dieser ist aber für die Interpretation der 141 Barmann, Wo Susi ihren Ort hat; Mohr, Aufbruch des Seelenselbstmörders. 142 Florin, Süchtig nach Susis Seifenoper. <?page no="223"?> 221 Romane unerheblich. Vielmehr zeigt sich an den beiden Romanen, dass individuelle Probleme gesellschaftliche Wurzeln haben. Martin Walser ist es in seinen Romanen am Beispiel alter Menschen gelungen, die Frage nach dem Gelingen zwischenmenschlicher Beziehung zu hinterfragen. Martin Walser entwirft Altersrepräsentationen, die die Ängste des Altersprozesses nicht verschweigen, aber dennoch das Entwicklungspotenzial dieser Lebensphase in den Vordergrund stellen. Wie in Monika Marons Romanen, so findet sich auch in Walsers Texten kein eindeutiges, unhinterfragtes Alterskonzept, sondern die Romane zum Figurenmodell der/ des verliebten Alten zeichnen die Suchbewegung ihrer alten Protagonisten nach. In der Konfrontation mit jüngeren Geliebten spielen allerdings weniger Vorbilder für ein gelungenes Altern eine Rolle, als vielmehr in der Abgrenzung von der Lebensphase Jugend ein eigenes Alterskonzept entwickelt werden muss. Dieser Fokus auf die Bedürfnisse und Wünsche der jeweils alten Partner in der altersdifferenten Liebesbeziehung ist insofern neu, als diese so angelegt sind, dass der Leser sich mit den alten Figuren identifiziert und ihre Ängste und Sorgen teilt, ohne dass diese moralisch bewertet werden. <?page no="225"?> 223 4 Neue Perspektive auf die Großelterngeneration? Großeltern im zeitgenössischen Familienroman 4.1 Altersrepräsentationen im Familienroman Der Familienroman erlebt in der Gegenwart eine Renaissance. Dies ist umso erstaunlicher, als es Großfamilien oder Familiendynastien, ähnlich der im Familienroman des ausgehenden 19. Jahrhunderts geschilderten, heute kaum mehr gibt. Die Familie als älteste soziale Institution ist zunehmend vom Verfall bedroht. Als Liebes- und Gefühlsgemeinschaft, wie sie in der Literatur des 18. Jahrhundert entworfen und propagiert wurde, 1 hat sie sich überholt und in ihre Bestandteile aufgelöst. Die hohe Zahl von Singlehaushalten, Patchwork- und Mutter-Kind-Familien spricht für sich. Welche Funktion kann in dieser Situation der literarischen Familiendarstellung noch zukommen? In seinem Buch Verkommene Söhne, missratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur kommt Peter von Matt zu folgender Einschätzung: Die Pflicht, vom Ganzen zu reden, und die Unausweichlichkeit, dies nur über das Private tun zu können, begründen zusammen die Symbolhaftigkeit jeder Familie in der Literatur, den allgemein gesellschaftlichen Repräsentationscharakter sowohl der Mitglieder wie des akuten Konflikts. 2 Versteht man die Familienbeschreibung in der Literatur mit von Matt als symbolische Einheit, dann kann man dem Familienroman in der Gegenwart folgende Funktionen zuweisen: - Aus soziologisch-historischer Perspektive wird die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts gerne als Bruchgeschichte gesehen. 3 Nach dem Ende der großen Erzählungen und Epochendarstellungen kommt dem Familienroman heute die Funktion zu, Einheit zu stiften und den Verlust von Einheit und sinnvoller Abfolge wiederherzustellen. 4 1 Helmut Scheuer: Literatur und Lebenswelt. In: Der Deutschunterricht 46 (1994), S. 3-6, hier S. 5. 2 Peter von Matt: Verkommene Söhne, missratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur. München 1995, S. 59. 3 Sigrid Löffler: Geschrumpft und gestückelt, aber heilig. Familienromane I: Sie haben sich überlebt, aber von ihrem Ende können sie noch lange zehren. Anmerkungen zur immergrünen Gattung der Generationen-Saga. In: Literaturen 5 (2005) H. 6, S. 18-26, hier S. 25. 4 Eine ähnliche Funktion weist Sigrid Weigel dem Konzept der Generation zu. Ihre Überlegungen sind auf den Familienroman zu übertragen. <?page no="226"?> 224 - Darüber hinaus macht er historischen Wandel nachvollziehbar und thematisiert die Auswirkungen der historischen Entwicklungen sowohl auf den Einzelnen und sein Lebensumfeld als auch auf die Gesellschaft als Ganzes. Die Familie als Mikrokosmos dient als Experimentierfeld, um Entwicklungen zu thematisieren und Veränderungen vorzubereiten. - In einer politischen Lesart kann die Familiengeschichte als Interpretation von gesellschaftlichen und politischen (Fehl-)Entwicklungen gelesen werden, Lösungsansätze anbieten und politische Prozesse anschaulich machen. 5 - Aus zeitdiagnostischer Perspektive kann der Familienroman den demographischen Wandel und seine Auswirkungen ebenso beleuchten wie aktuelle Fragen der Migration und der Integration verschiedener ethnischer Gruppen thematisieren. 6 - Eine familienpolitische oder gender-orientierte Lesart kann darüber hinaus die Entwicklung familiärer Rollenmuster sowie der Familie insgesamt in den Blick nehmen. Was charakterisiert nun aber den Familienroman, der so vielfältige gesellschaftliche Phänomene beleuchtet? Einige Literaturwissenschaftler folgen in ihrer Begriffsdefinition der Begriffsbildung Sigmund Freuds. Dieser von der Psychoanalyse her kommende Ansatz versteht unter dem Familienroman den „Schlüsseltext einer identitätskonstituierenden Selbstbeschreibung“ 7 , eine wiederkehrende Erzählung der eigenen Vergangenheit, in der das Individuum sich selbst entwirft. Im Fokus steht damit nicht der familiäre, sondern der individuelle Selbstvergewisserungsprozess. Diese Definition ist so offen, dass einerseits sehr viele Romane darunter zu fassen sind, aber andererseits die Familie als Movens der Handlung wegfällt. Daher eignet sich Freuds Definition für die vorliegende Untersuchung nicht. Stattdessen fasse ich unter dem Begriff des Familienromans alle fiktionalen Romane, die als zentrales Thema die Geschichte einer Familie im Generationenzusammenhang behandeln. Ein Zusammenhang der Generationen ist erst dann gegeben, wenn im Rahmen der Familiengeschichte mindestens drei aufeinanderfolgende Generationen berücksichtigt Vgl. Sigrid Weigel: Generation, Genealogie, Geschlecht. Zur Geschichte des Generationskonzepts und seiner wissenschaftlichen Konzeptualisierung seit Ende des 18. Jahrhunderts. In: Kulturwissenschaften: Forschung -Praxis - Positionen. Hrsg. von Lutz Musner und Gotthart Wunberg. Wien 2002, S. 161-190, hier S. 162. 5 Diesen Ansatz verfolgt auch Peter von Matt in: Verkommene Söhne, missratene Töchter. 6 Diese Thematik ist in amerikanischen Familienromanen wesentlich präsenter als in deutschsprachigen. Es ist allerdings zu vermuten, dass ethnische Fragen auch in Deutschland aufgegriffen werden. Vgl. Löffler, Geschrumpft und gestückelt, S. 20. 7 Manuel Gogos: Philip Roth & Söhne. Zum jüdischen Familienroman. Hamburg 2005, S. 21. Vgl. hierzu auch von Matt, Verkommene Söhne, S. 73f. <?page no="227"?> 225 werden. Dies kann sowohl polyperspektivisch geschehen, dadurch, dass abwechselnd aus der Innenperspektive von mehreren Familienmitgliedern erzählt wird, oder monoperspektivisch, indem ein allwissender Erzähler oder ein Familienmitglied die Familiengeschichte erzählt oder rekonstruiert. Unter Generation verstehe ich im Kontext des Familienromans keine Erfahrungsgemeinschaft im Sinne Karl Mannheims, 8 sondern ich lege eine biologisch-genetische Begriffsbestimmung zugrunde, die die Generation als ein Glied in der familiären Geschlechterfolge versteht, die aber wiederum auf vielfältige Weise kulturell überformt ist. 9 Diese Definition findet in Bernhard Jahns Beschreibung des Familienromans als Generationenroman eine Entsprechung: Die neuen Familienromane sind Generationenromane, die, über die Problematisierung familiärer Zwei-Generationenkonflikte hinausgehend, zeitausgreifend mindestens drei Generationen erzählerisch aus deren je eigener Perspektive vorstellen. 10 Mit dieser Begriffsbestimmung Jahns verschiebt sich der Fokus der Betrachtung. Es steht nun nicht mehr die Familie und ihre Geschichte im Zentrum des Interesses, sondern, ebenso wie bei der Freudschen Definition, wird der Fokus wieder auf die einzelne Generation gerichtet, deren je eigene Perspektive im Kontext der Familiengeschichte berücksichtigt werden muss. Bei einer strengen Anwendung dieser Definition handelt es sich zwar bei Kathrin Schmidts Roman Die Gunnar-Lennefsen-Expedition 11 um einen Familienroman, nicht aber bei Tanja Dückers Roman Himmelskörper 12 , da der gesamte Roman aus der Enkelperspektive erzählt ist. Legt man -wie in der hier zugrunde liegenden Definition - eine weitere, thematische Begriffsbestimmung zugrunde, die den Fokus auf die erzählte Familiengeschichte richtet, dann gehört Dückers’ Roman unzweifelhaft zum Textkorpus der Romanform Familienroman. Im Familienroman der Gegenwart ist eine Tendenz zu einer neuen Präsentationsform der Familiengeschichte zu beobachten, die eine Unterteilung der Romane erlaubt. Ursula März verwendet in einer Besprechung von aktuellen Romanen die Unterscheidung zwischen erzählendem und 8 Vgl. Karl Mannheim: Zum Problem der Generation. In: ders.: Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk eingeleitet und hrsg. von K. H. Wolff. 2. Aufl. Neuwied am Rhein, Berlin 1970, S. 509-565. 9 Vgl. zum Begriff der Generation: Weigel, Generation, Genealogie, Geschlecht. 10 Bernhard Jahn: Familienkonstruktionen 2005. Zum Problem des Zusammenhangs der Generationen im aktuellen Familienroman. In: Zeitschrift für Germanistik. N.F. XVI (2006) H. 3, S. 581-596, hier S. 581. 11 Kathrin Schmidt: Die Gunnar-Lennefsen-Expedition. Roman. Köln 1998. Seitenangaben mit dem Kürzel „GLE“ beziehen sich auf diese Ausgabe. 12 Tanja Dückers: Himmelskörper. Roman. Berlin 2003. Seitenangaben mit dem Kürzel „Hk“ beziehen sich auf diese Ausgabe. <?page no="228"?> 226 nachforschendem Familienroman. 13 Poetologisch spielt diese Differenz eine zentrale Rolle: Der Nacherzähler breitet seine Geschichte als Produkt seiner Kenntnis aus. Der Erforscher erzählt von seinem Kenntniserwerb, von dem, was er alles nicht weiß und was ihm womöglich entgangen ist. 14 Gerade der letztere Ansatz ist es, der in der Gegenwartsliteratur Verwendung findet. Es werden keine abgeschlossenen Familiengeschichten erzählt - wie dies z.B. bei Thomas Manns Buddenbrooks der Fall ist -, sondern die Ich-Erzähler machen sich auf die Suche nach der Geschichte ihrer eigenen Familie und ergründen damit zugleich ihre eigene Identität. Diese Suchbewegung impliziert, dass die chronologische Abfolge der Ereignisse ebenso wenig eingehalten werden muss, wie es der epischen Vollständigkeit der Ereignisse bedarf. 15 Welche Funktion haben in den so verstandenen Familienromanen nun die alten Figuren? Traditionell findet sich im Familienroman eine Machthaberfigur, ein alter Patriarch. 16 Dieser verbürgt einerseits den Wohlstand der Familie, wacht aber auch über ihr Ansehen und fordert den Respekt der Kinder und Enkel ein. Eine solche Herrscherfigur ist für den Roman der Gegenwart ebenso wenig konstitutiv wie die Darstellung der Großmutter als schöne Alte. 17 Daher stellt sich im Folgenden die Frage, auf welche Weise die alten Figuren im Familienroman der Gegenwart präsentiert werden und welche Funktion sie im familiären Kreis einnehmen. Diesen Fragen werde ich am Beispiel von Tanja Dückers’ Roman Himmelskörper und Kathrin Schmidts Roman Die Gunnar-Lennefsen-Expedition nachgehen. Bei der Auswahl der Autorinnen habe ich darauf geachtet, dass mit Tanja Dückers eine westdeutsche und mit Kathrin Schmidt eine ostdeutsche Position vertreten ist. Da gerade im Kontext des Familienromans die zeitgeschichtliche Dimension mitberücksichtigt werden muss, erscheint mir dieses Kriterium von großer Bedeutung. 13 Ursula März: Erforschen oder Nacherzählen. Stefan Wackwitz und Simon Werle zeigen, wie verschieden Familienromane heute sein können. In: Die Zeit vom 30.04.2003. 14 Ebd. 15 Diese Vollständigkeit bemängelt Ursula März in Stefan Wackwitz’ Roman, während für Hahn gerade hierin die „Kunstform“ Familienroman bedingt ist. Vgl. Hans- Joachim Hahn: Beobachtungen zur Ästhetik des Familienromans heute. In: Familie und Identität in der deutschen Literatur. Hrsg. von Thomas Martinec und Claudia Nitschke. Frankfurt a.M. u.a. 2009, S. 275-292, hier S. 275. 16 Löffler: Geschrumpft und gestückelt, S. 22. 17 Dieses Figurenmodell und seine Genese im 19. Jahrhundert beschreibt Gerd Göckenjan in: Das Alter würdigen. Frankfurt a.M. 2000, S. 199-221. <?page no="229"?> 227 4.2 Das Ende der Großelternkonvention? Tanja Dückers Himmelskörper Unter den jüngst verfassten und veröffentlichten Familieromanen stieß Himmelskörper bei seinem Erscheinen auf besondere Aufmerksamkeit, da die Autorin mit dem Untergang des Flüchtlingsschiffes ›Wilhelm Gustloff‹ kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges ein zeitgenössisch aktuelles Thema, das Leiden der deutschen Zivilbevölkerung, aufgreift. 1997 löste der Autor und Literaturwissenschaftler W.G. Sebald mit seiner Züricher Poetikvorlesung Luftkrieg und Literatur 18 eine Debatte um die Literarisierung des Bombenkrieges aus, innerhalb derer die Frage aufgeworfen wurde, ob es legitim sei, dass sich die Deutschen selbst als Opfer des Krieges darstellen. Dieser Opferdebatte hielt Sebald entgegen, dass die deutsche Literatur angesichts der schrecklichen Erlebnisse der Bevölkerung geschwiegen habe und keine adäquate Form gefunden wurde, dieses Erlebnis literarisch zu verarbeiten. Einen zentralen Beitrag zur Debatte um die deutschen Kriegsopfer lieferte 2001 der Literaturnobelpreisträger Günter Grass mit seiner Novelle Im Krebsgang. 19 Seine Darstellung von Flucht und Vertreibung aus der Opferperspektive stellt auch in seinem Oeuvre ein Novum dar, da sie von „uneingeschränktem Mitleid“ dominiert ist. 20 An dieser Novelle musste sich Tanja Dückers’ kritische Familiengeschichte messen lassen, da auch in ihrem Roman dem Untergang der ›Wilhelm Gustloff‹ eine bedeutende Funktion innerhalb der familiären Identitätsstiftung zukommt. Von Seiten der Literaturwissenschaft wie der Literaturkritik wird der jungen Schriftstellergeneration aufgrund ihrer historischen Distanz ein neuer Umgang mit den familiären Verstrickungen während der NS-Herrschaft attestiert, 21 die mit einer „neuen Perspektive auf die Eltern- und Großelterngeneration und deren Täter- und Opferschaft“ 22 einhergeht. Bei der Analyse von Tanja Dückers’ Roman ist die Frage leitend, ob die histo- 18 W.G. Sebald: Luftkrieg und Literatur. Mit einem Essay zu Alfred Andersch. Frankfurt a.M. 2001. 19 Günter Grass: Im Krebsgang. Eine Novelle. Göttingen 2002. 20 Herman Beyersdorf: Von der Blechtrommel bis zum Krebsgang. Günter Grass als Schriftsteller der Vertreibung. In: Weimarer Beiträge 48 (2002), Heft 4, S. 568-593, hier S. 584. 21 Von einem unbelasteten Umgang mit der Vergangenheit kann man auch bei Autoren der jungen Generation nicht sprechen. Allerdings ist sie in der Regel frei von biographischen Interpretationen. Dies zeigt sich z.B. in der Diskussion um Grass’ Werk nach seiner Eröffnung in einem Interview mit der FAZ am 12. August 2006, im letzten Kriegsjahr in der Waffen-SS gedient zu haben. 22 Ulrike Vedder: Luftkrieg und Vertreibung. Zu ihrer Übertragung und Literarisierung in der Gegenwartsliteratur. In: Chiffre 2000 - Neue Paradigmen der Gegenwartsliteratur. Hrsg. von Corina Caduff und Ulrike Vedder. München 2005, S. 59-79, hier S. 70. <?page no="230"?> 228 rische Distanz zum Nationalsozialismus und die Sozialisation im Wirtschaftswunderdeutschland tatsächlich einen neuen Blick auf die Großelterngeneration mit sich bringt, der sich in der literarischen Ausgestaltung eines neuen Großelternkonzeptes niederschlägt. Da ich Romane als Experimentierfeld für gesellschaftliche Entwicklungen verstehe, scheint mir die Form des Familienromans besonders geeignet, einen Wandel von familienbezogenen Rollenmustern darzustellen. Hierbei soll die Differenz zwischen realer Rolle der Großeltern und der diskursgeschichtlichen Aufladung in der fiktionalen Darstellung mitbedacht werden. Die Großelternrolle, wie wir sie heute kennen, ist erst mit der Entdeckung der Kindheit in der Aufklärung entwickelt worden. Der explizite Bezug auf die erste Lebensphase bedeutet aber keine Aufwertung der familiären Altersrolle, sondern die Entwicklung der bürgerlichen Familie brachte zugleich eine Entmachtung der Alten mit sich. 23 Diese werden nun nicht mehr von ihren Kindern als Autorität angesehen, sondern können diese lediglich gegenüber den unselbstständigen Enkelkindern ausüben. Diese Abwertung der Alten zeichnet der Soziologe Gerd Göckenjan in seinen Forschungen zum Großmutterkonzept nach. Er sieht die soziale Definition der Rolle überlagert von stark emotionalisierten Vorstellungen davon, wie diese idealerweise ausgefüllt werden soll. 24 Das im 19. Jahrhundert entwickelte Konzept der Großmutter hatte bereits während seiner Etablierung wenig mit dem realen Alltag der Großmütter gemein, dennoch ist es bis heute in den Köpfen der Menschen präsent. Eine ähnliche Verklärung lässt sich in der Literatur für die Figur des Großvaters feststellen. 25 Ob sich zeitgenössische Entwicklungen in Tanja Dückers’ Roman niederschlagen und einen Wandel des Großelternkonzeptes bedingen, werde ich im Folgenden untersuchen. Zuvor gebe ich aber mit einer Analyse des Aufbaus einen kurzen Überblick über zentrale Problemstellungen dieses Familienromans der Gegenwart. Familiengedächtnis und Literatur - zum Aufbau des Romans Der Aufbau von Dückers’ Roman lässt unschwer erkennen, dass die Autorin unter dem Begriff der Familie nicht die zeitgenössisch heftig diskutierte Kernfamilie - diese beinhaltet die Konstellation Vater, Mutter, Kind(er) - versteht, sondern einen mehrere Generationen umfassenden 23 François Höpflinger: Enkelkinder und Großeltern - die Sicht beider Generationen. Historische Entwicklung der Bilder zu Großelternschaft. In: Der neue Generationenvertrag. Hrsg. von Helmut Bachmaier. Göttingen 2005, S. 77-96, hier S. 78. 24 Vgl. Gerd Göckenjan: Die ›Erfindung‹ der Großmutter im 19. Jahrhundert. In: Alterskonzepte in Literatur, bildender Kunst, Film und Medizin. Hrsg. von Henriette Herwig. Freiburg i.Br. 2009, S. 103-121. 25 Vgl. hierzu beispielsweise Hannelore Schlaffers Überlegungen zum Großvater in: Das Alter. Ein Traum von Jugend. Frankfurt a.M. 2003, S. 47-55. <?page no="231"?> 229 Familienverband in den Blick nimmt. Im Roman spielen insgesamt vier Generationen eine Rolle: - Jo und Mäxchen gehören als älteste Figuren der Großelterngeneration an. - Deren Tochter Renate und ihr Mann Peter befinden sich im mittleren Erwachsenenalter und sind damit Mitglieder der mittleren Generation. - Freia und Paul sind deren Kinder und Repräsentanten der dritten Generation. Sie haben als in der Nachkriegszeit Geborene keine eigene Erinnerung an Krieg und Vertreibung. - Aino verkörpert als Tochter von Freia die Zukunft. Sie tritt noch nicht selbst als handelnde Figur auf, spielt aber emotional für ihre Mutter eine zentrale Rolle im Familiengefüge. Die besondere Bedeutung der weiblichen Familienmitglieder wird dadurch betont, dass Paul homosexuell ist und daher keine eigenen Kinder zeugen wird. Im Zentrum des Romans Himmelskörper von Tanja Dückers steht die Entwicklungsgeschichte der Ich-Erzählerin Eva Maria Sandmann, genannt Freia, und somit die Erfahrungswelt der dritten Generation. Der Roman besteht aus vierundzwanzig Kapiteln, die kürzere oder längere Episoden aus dem Leben Freias und der Familiengeschichte erzählen. Zwar sind diese anachronisch angeordnet, doch geben sie aufgrund vielfältiger Verknüpfungen insgesamt ein stimmiges Bild. Der Roman besteht aus drei Handlungssträngen. Der erste zeichnet die Entwicklung Freias von der glücklichen Kindheit über das Zerbrechen der Einheit mit dem Zwillingsbruder während der Pubertät und ihre Eingliederung in die Gesellschaft als Frau und Wissenschaftlerin nach. Er folgt damit dem traditionellen Muster des Entwicklungsromans. Der zweite Handlungsstrang kreist um die Familiengeschichte, in deren Zentrum der Krieg als Leerstelle und wichtigstes Ereignis steht. Freia und Paul spüren bereits in ihrer Kindheit und Jugend, dass ihnen während der familiären Erzählabende etwas verschwiegen wird. Der Bericht der traumatischen Kriegserfahrungen des Großvaters, der im Russlandfeldzug ein Bein verloren hat, stellt nur den Anfang dar. Erst kurz vor dem Tod der Großmutter kann Freia dieser das Geheimnis entlocken: Die Frauen der in Königsberg lebenden Familie wurden bei ihrer Flucht in den Westen nur infolge der Denunziation der Nachbarn durch die damals fünfjährige Renate auf ein sicheres Flüchtlingsschiff aufgenommen und sind damit dem Tod beim Untergang der ›Wilhelm Gustloff‹ kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs entkommen. Renate hat ihre Schuldgefühle angesichts des Todes des gleichaltrigen Nachbarkindes nie verwunden. Ihre Traumatisierung wird zudem dadurch verstärkt, dass sie bei ihren Eltern, die in ihr eine Heldin sehen und ihre Schuldgefühle nicht teilen, auf kein Ver- <?page no="232"?> 230 ständnis stößt. Die Wohnungsauflösung nach dem Tod der Großeltern fördert zudem zutage, dass diese nicht nur Kriegsopfer sind, sondern dass beide Großeltern überzeugte Anhänger der Nationalsozialisten waren und deren Rassenideologie geteilt haben. Der dritte Handlungsstrang kreist um die Verarbeitung der familiären Vergangenheit durch Freia und Paul im Erwachsenenalter. Das Interesse für die Familiengeschichte wird vordergründig durch Freias Schwangerschaft geweckt. Sie stellt sich die Frage, „in was für einen Zusammenhang, in was für ein Nest“ sie ihr Kind setzt. (Hk 26). So werden auch Veränderungen ihres Körpers während der Schwangerschaft enggeführt mit der Erkundung und Annahme der Vergangenheit ihrer Eltern und Großeltern. Ebenso wie die Schwangerschaft ist auch die Zeit für die Recherche im Familienarchiv angesichts des hohen Alters und der Demenzerkrankung der Großmutter begrenzt. Im Verlauf des Romans zeigt sich jedoch, dass nicht nur die Neugier der Enkelin die Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte bedingt, sondern eine innere Notwendigkeit die Enkel zwingt, sich der eigenen Herkunft auszusetzen: An all das, was passiert ist, denke ich täglich - eine Endlosschleife in meinem Kopf. Alles, was ich male, steht unter diesem Bann oder Fluch. [...] Wir sind glücklich, aber trotzdem spüre ich den Sog der Vergangenheit einfach immer [...]. Freia, immerfort, jeden Tag, wie - du wirst den Begriff besser kennen als ich - so eine Art ›kosmische Hintergrundstrahlung‹. Etwas, das immer da ist. (Hk 316f.) Diese Aussage des sensiblen Paul findet sich am Ende des Romans. Die Geheimnisse der Eltern- und Großelterngeneration sind aufgedeckt. Renate hat sich nach dem Tod ihrer Eltern selbst das Leben genommen. Die Enkel sind dem familiären Hintergrundrauschen ausgesetzt und müssen einen Weg finden, dieses in ihren Alltag zu integrieren. Damit kehrt das Buch in einer Kreisbewegung zum Anfang zurück, denn der Roman - so erfährt der Leser am Ende - ist das Ergebnis der Vergangenheitsbearbeitung von Freia und Paul, gewissermaßen das fixierte Familiengedächtnis, 26 so wie es die dritte Generation bewahrt. Damit bezieht Dückers mit ihrem Roman Himmelskörper Position in der Diskussion um die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg. Der Prozess der Fixierung von Erinnerung im Gedächtnis der nachfolgenden Generationen wird im Roman nachgezeichnet. Kunst und Literatur - so eine zentrale These des Romans - sind wichtige Medien der Tradierung und Aufbewahrung von historischem 26 „Im Familiengedächtnis sind die Kriegserinnerungen in Form von Geschichten repräsentiert, die sich nach jenen Vorstellungen der nachfolgenden Generationen umformen lassen, die diese von den erzählenden Zeitzeugen haben - und so werden sie erinnert und weitererzählt.“ Harald Welzer, Sabine Moller, Karoline Tschuggnall: »Opa war kein Nazi«. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. 5. Aufl. Frankfurt a.M. 2005, S. 52. <?page no="233"?> 231 Wissen. 27 Freia und Paul hatten bereits nach dem Tod der Großmutter und der Wohnungsauflösung einen ersten gemeinsamen Versuch der Aufarbeitung von großelterlichen Erinnerungen unternommen: Früher hatte ich ihm einfach nur erzählt, was mir gerade durch den Kopf ging - meistens hatte es etwas mit den Wolken zu tun, die vor dem Fenster an mir vorbeizogen, und er malte dazu. Doch nun hielt ich einen Gegenstand nach dem anderen hoch, der nach dem Tod unserer Großmutter bei der Wohnungsauflösung übrig war. [...] Paul und ich hatten viel herausgefunden über unsere Mutter und ihre Eltern in den letzten Wochen vor und während der Wohnungsauflösung, staunend hatten wir Kisten und Kästen geöffnet, Briefe gelesen, Postkarten und Fotos betrachtet, und doch schien alles erst ein Anfang zu sein. [...] Zu Hause hatte ich in Geschichtsbüchern oder Lexika nachgeschlagen, um dem einen oder anderen Fundstück auf den Grund zu gehen, und nun erzählte ich Paul etwas darüber. Hatte er seine Zeichnung oder sein Gemälde beendet, warf ich die entsprechenden Gegenstände weg, oft mit einem Gefühl von Befreiung. Solange Paul aber noch nicht fertig war, beschäftigten diese Fundstücke mich so, daß ich mich nicht von ihnen trennen konnte. Daß Renate Einwände gegen unsere ›Transformationsarbeit‹ und das anschließende Entsorgen hätte, stand fest, scherte uns aber wenig. In den weitläufigen Kellern unseres Elternhauses konnte man seit langem keinen Fuß mehr setzten, die Schränke waren vollgestopft, und nun war Renate entschlossen, unsere Wohnflächen in die gleichen lichtlosen Museen zu verwandeln. (Hk 55f.) Das Vorgehen bei der Niederschrift der Familiengeschichte geschieht sehr wahrscheinlich analog. Das Ergebnis dieses Prozesses ist nicht, die Erinnerungen an die Großeltern und die Mutter so festzuhalten, wie sie sich tatsächlich ereignet haben - dies zeigt sich daran, dass der erste Versuch der Bearbeitung mit Hilfe der bildenden Kunst gerade daran scheitert, dass Freia ihre Gefühle und Imaginationen in Pauls Bildern nicht wiederfindet. Das Buchprojekt stellt eine Einigung dar, wie die Vergangenheit im Familiengedächtnis in Zukunft aufbewahrt werden soll. Sie ist damit den familiären Erzählabenden vergleichbar. Die Enkel schreiben somit die Geschichten, die sie jahrelang in einer beschönigten Version gehört haben, aus ihrer Perspektive nieder. In diesen Text geht der Wissenszuwachs nach dem Tod der Großeltern ebenso mit ein wie das Bewusstsein, nicht mehr alle Leerstellen füllen zu können. Damit wird das Buch auch zu einer Gedenkschrift. Es bewahrt die Erinnerung an die Großeltern und an die Mutter Renate, die dem Druck der Erinnerung nicht mehr standhalten konnte. Sie hat sich kurz nach dem Tod ihrer Eltern das Leben genommen. 27 Vgl. Bierte Giesler: Krieg und Nationalsozialismus als Familientabu in Tanja Dückers’ Generationenroman Himmelskörper. In: Imaginäre Welten im Widerstreit. Krieg und Geschichte in der deutschsprachigen Literatur seit 1900. Hrsg. von Lars Koch und Marianne Vogel. Würzburg 2007, S. 286-303, hier S. 301. <?page no="234"?> 232 Die Problematisierung von Erinnerung gelingt Dückers durch die minutiöse Schilderung des Aufbrechens der „kumulativen Heroisierung“ 28 der Großeltern durch die Enkel. Die Wahrnehmung der Großeltern als bewunderte Vorbilder wird langsam aufgebrochen und macht einer realistischen Perspektive Platz. Dieser Prozess wird einerseits durch das Verhalten der Großeltern ausgelöst. Die Wahrnehmungsänderung deutet sich bereits während der familiären Erzählabende an. Die Befremdung der Erzählerin in Anbetracht der emotionslosen Berichterstattung lässt erste Zweifel an der Aufrichtigkeit der Schilderung aufkommen (Hk 100f.). Andererseits ist auch die Tatsache, dass Freia sich - ähnlich wie ihre Mutter Renate - nicht mit dem von den Großeltern vermittelten ›emotionalen Wissen‹ zufriedengibt, sondern dieses durch Faktenwissen aus „Geschichtsbüchern oder Lexika“ (Hk 55) überprüft und ergänzt, ein Zeichen für den Wunsch, das Verhalten der Großeltern angemessen zu bewerten. Damit vermitteln die Enkel zwischen dem monoperspektivischen Opferwissen der Großmutter und dem Faktenwissen Renates. Hierdurch kommen sie zu einer neuen Sichtweise auf Krieg und Vertreibung. 29 Im Abgleich mit den historischen Fakten wird die gesamte Tragweite der Mittäterschaft der Großeltern für die Enkel erst erfahrbar. Die daraus entstehende Gefahr der Auflösung der familiären Gemeinschaft wird durch das gemeinsame Buchprojekt der Enkel gebannt. 30 Tanja Dückers’ Bemühungen um eine realistische Schilderung innerfamiliärer Prozesse scheitern an dieser Stelle aufgrund einer unkritischen und phantasielosen Übernahme der von Harald Welzer et al. ausgewerteten Interviews und Familiengespräche. Damit geht sie nicht über eine fiktionale Darstellung sozialwissenschaftlicher Ergebnisse hinaus, die spezifisch literarischen Mittel, die ein solches Thema bietet, werden von ihr nicht genutzt. 28 Mit dem Begriff der kumulativen Heroisierung beschreiben Welzer et al. die Tatsache, dass die Enkel über die Schuld der Großeltern hinwegsehen und in deren Verhalten immer nur das herausfiltern, was die Großeltern zu Helden macht: „Die Tendenz zur Heroisierung der Großelterngeneration zeigt in aller Deutlichkeit die gar nicht zu überschätzende Wirkung, die von Loyalitätsbindungen an geliebte Menschen auf das Geschichtsbewusstsein und auf die jeweiligen Vergangenheitskonstruktionen ausgeht.“ Welzer et al., »Opa war kein Nazi«, S. 64. 29 Vedder, Luftkrieg und Vertreibung, S. 75. 30 Ich stimme hier nicht mit Meike Herrmann überein, die in einem Aufsatz zur Spurensuche der dritten Generation, in dem sie neben Himmelskörper Romane von Marcel Beyer, Lena Kugler und Jonathan Safran Foer untersucht, zu dem Ergebnis kommt, dass „die Romanfiguren der dritten Generation ein Gegenmodell zu den Ergebnissen von Welzers Studie dar[stellen]“. Meike Herrmann: Spurensuche in der dritten Generation. Erinnerung an Nationalsozialismus und Holocaust in der jüngsten Literatur. In: Repräsentationen des Holocaust im Gedächtnis der Generationen. Zur Gegenwartsbedeutung des Holocaust in Israel und Deutschland. Hrsg. von Margrit Frölich, Yariv Lapid und Christian Schneider. Frankfurt a.M. 2004, S. 139-157, hier S. 156. <?page no="235"?> 233 Mit der Beschreibung der familiären Erinnerungsarbeit ist nicht nur die zentrale Funktion der Enkelgeneration in Bezug auf den Umgang mit Holocaust und Nationalsozialismus betont, sondern in Dückers’ Darstellung kommt auch die Bedeutung der Großeltern für ein intaktes Familienleben und den Zusammenhalt der Familie zum Ausdruck. Hier stellt sich nun die Frage, welche Rolle die Großeltern tatsächlich einnehmen und wodurch deren Funktion im Text gekennzeichnet ist. 31 „Plötzlich war ich Teil einer langen Kette“ 32 - die Bedeutung der Genealogie Die Genealogie ist die Geschichte der symbolischen, ikonographischen und rhetorischen Praktiken, der Aufschreibesysteme und Kulturtechniken, in denen das Wissen von Geschlechtern und Gattungen oder von der Abfolge des Lebens in der Zeit überliefert ist. 33 Folgt man dieser Definition von Genealogie, so wird die Genealogie als Form der Erzählung von der Abstammung bzw. der Abfolge der Generationen in Tanja Dückers’ Roman auf mehrfache Weise thematisiert: in den Bildern Pauls, im gemeinsamen Erinnerungsbuch der Enkel, aber auch in den Kaminabenden mit den Großeltern, in denen diese ihre Lebensgeschichte erzählen. Die Frage nach der Funktion der Großeltern wird im Rahmen der familiären Erzählabende gestellt. Wichtig für das Verhältnis der Zwillinge Paul und Freia zu ihren Großeltern Jo und Mäxchen sind diese die familiäre Identität konstituierenden Erzählabende insofern, als die Großeltern hier eine traditionelle Altersrolle einnehmen. Sie sind die Bewahrer der Familiengeschichte und Familientraditionen und geben diese an die Enkel weiter. Da diese Aufgabe klassischerweise der Großmutter zukommt, 34 ist es auch nicht erstaunlich, dass die Regie der Erzählabende in ihrer Hand liegt. Die Mutter Renate versucht zwar immer wieder vermittelnd einzugreifen, indem sie mithilfe von angelesenem Faktenwissen die sehr persönlichen Erzählungen der Großeltern relativiert, 35 von ihren Eltern wird ihr allerdings keine Autorität zugestanden. 31 Es scheint mir kein Zufall zu sein, dass Tanja Dückers in der zitierten Passage mit den Begriffen „Fundstücke“ und „Transformationsarbeit“ auf die Terminologie Sigmund Freuds Bezug nimmt. 32 Hk 26. 33 Sigrid Weigel: Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften. München 2006, S. 26. 34 Vgl. Christine Herrmann: Großmutter - große Mutter. Stereotype über die ältere Frau in der Kinder- und Jugendliteratur. Frankfurt a.M. 1992, S. 59. 35 „Meine Mutter hatte versucht, den Makel, ein unmündiges Kind zu Kriegszeiten gewesen zu sein, später mit viel Lektüre auszugleichen [...] und tatsächlich fiel Jo zu solchen schlicht nicht von der Hand zu weisenden Fakten wenig Abwertendes ein“ (Hk 130). <?page no="236"?> 234 Da sie bei Kriegsende noch ein kleines Kind war, wird ihrem nachgeholten Wissen weniger Wert zugemessen als dem authentischen Erfahrungswissen der Alten. Die Autorität der alten Erzähler ist aber in der Gegenwart nicht mehr ungebrochen. Im Kampf um die richtige Erinnerung und die Ausgestaltung des kommunikativen Gedächtnisses innerhalb der Erinnerungsgemeinschaft Familie zeigt sich ein Machtverlust der Großeltern, über den auch das belehrende Verhalten der Großmutter nicht hinwegtäuschen kann. Die Grabenkämpfe um die Leerstelle, um die herum die Geschichten angeordnet sind, werden den Kindern bewusst, ohne dass sie jedoch auflösen können, was unausgesprochen im Zentrum der Erinnerungen steht. Damit wird auch die moralische Autorität der Alten, die die im Verlauf des 19. Jahrhunderts entwickelten Altersrollenbilder kennzeichnet, hinterfragt. Erzähltechnisch markiert wird die Leerstelle durch die starre, sich auf Fakten konzentrierende Erzählweise der Großeltern, mit der die Erwachsenen bemüht sind, alle Emotionen zu unterdrücken, und die Hinweise der Ich-Erzählerin darauf, dass es im Rahmen dieser Erzählungen kaum Variationen gibt. 36 So schaltet sich z.B. Freias Mutter „mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks“ in die Erzählung ein, oder an einer anderen Stelle „fiel Mäxchen ihr [Renate, M.S.] gerne ins Wort“ (Hk 130). Im Gegensatz zum eingeheirateten Vater, der sich wenig für die Familiengeschichte seiner Frau interessiert, stellen die Kinder Fragen, ohne jedoch das Geheimnis, um das die Erzählungen kreisen, lüften zu können. Die Erzählabende sind aber nicht nur im Hinblick auf die Tradierung von Erinnerungen durch die Großeltern aufschlussreich, sondern die körperliche Andersheit der Großeltern wird von der Ich-Erzählerin mit den Kriegserzählungen erklärt. So werden Zeichen des körperlichen Alterns im Zusammenhang mit der Erzählung der Flucht aus Gotenhafen wie folgt interpretiert: Die Geschichte war beängstigend. Immer, wenn wir sie hörten, starrte ich meine Großmutter an, sah auf ihr faltiges Gesicht, ihre runzligen Hände, als hätte sich das Alter in ihren Körper eingefressen wie die Granatsplitter in den Kupferteller. Als wäre Jo wie sie vom Meeresboden zurück ins Leben befördert worden. Postwendend. Name, Anschrift, alles korrekt. Wie das Wasser seine Spuren auf den verrosteten Buchstaben der Schreibmaschine hinterlassen hatte, hatte die Angst Falten, Rinnen und Furchen in das Gesicht meiner Großmutter gegraben. (Hk 142f.) Hier wird das Altern nicht als normaler, alle Menschen betreffender Vorgang geschildert, sondern die Enkel erklären sich die Phänomene des 36 „Die Stimme meiner Großmutter zitterte nicht oder nicht mehr bei diesen Erinnerungen; zu oft hatte sie diese zurechtgelegten Sätze wiederholt. Wie eine Lehrerin klang sie, wenn sie so sprach, oder eine Reiseführerin, nicht wie meine Großmutter.“ (Hk 100f.) <?page no="237"?> 235 Alterns als Folge der Erlebnisse, die das Leben der Großeltern nachhaltig geprägt haben und von dem der Eltern unterscheiden: Die während der Kriegsjahre und der Flucht durchlittene Angst hat den Alterungsprozess ausgelöst. Der Vergleich mit den in Seekisten untergegangenen Alltagsgegenständen, die die Großeltern nach Kriegsende trotz des Untergangs des Frachtschiffes wieder zurückerhalten haben, verweist darauf, dass die Großeltern - körperlich und psychisch - versehrt sind. 37 Ihre Körper werden damit zu ›Erinnerungsmedien‹, in die sich die Kriegserfahrung unmittelbar eingeschrieben hat. Die Interpretation des Krieges als Auslöser für den Prozess des Alterns und zentrales Merkmal der Großelterngeneration ist auch darauf zurückzuführen, dass der Großvater durch sein im Krieg verlorenes Bein die Differenz zwischen den Generationen ebenso unübersehbar repräsentiert wie die zerstörende Macht des Krieges. Damit ist sein Körper wesentlich offensichtlicher als der der Großmutter, der letztendlich nur ›normale‹ Alterskennzeichen trägt, vom Leben gezeichnet. Da den Kindern dieser Zusammenhang noch nicht klar ist, gehen sie davon aus, dass der Krieg als zentrales Ereignis sich auch in den Körper der Großmutter eingeschrieben haben muss. Die lebensgeschichtlichen Einschreibungen haben unter und zwischen den Generationen unterschiedliche Bedeutungskonnotationen: - Innerhalb der Großelterngeneration ist vor allem das fehlende Bein des Großvaters negativ besetzt, es symbolisiert das Versagen der männlichen Generationsangehörigen im Krieg, die nicht in der Lage waren, Frauen und Kinder zu beschützen. Diese Abwertung des Mannes zeigt sich z.B. in der Namensgebung. Maximilian wird in der Nachkriegszeit zu Mäxchen. Der Diminutiv verweist auf seine soziale Bedeutungslosigkeit. Stattdessen zeigt das Verhalten der Großmutter Stolz auf die von ihr während und nach dem Krieg vollbrachten Leistungen. - Gegenüber der jüngeren Generation ist das Erfahrungswissen der Großeltern mit dem Anspruch auf Deutungshoheit verbunden. Hier wird die traditionelle Autorität der ältesten Generation mit ihren persönlichen Erlebnissen begründet. 37 Vgl. hierzu die Beschreibung der geretteten Gegenstände: „Die Kisten waren auf einem Frachtschiff gelagert, das von einem Torpedo getroffen wurde und unterging. Aber das gesunkene Schiff behinderte die Fahrrinne, wurde geborgen, und da kamen die Kisten wieder zu uns! Als Adresse hatte ich damals Tante Lore in Kiel angegeben. Natürlich war dann alles voller Stockflecken, Rostflecken, die Schreibmaschine zu nichts mehr zu gebrauchen, und unsere Kupfertellersammlung von den Splittern explodierter Geschosse ›verziert‹. Und im Kessel waren kinderfaustgroße Löcher. Wenigstens ein bißchen Bettwäsche war noch zu etwas nutze.“ (Hk 133) <?page no="238"?> 236 - Das Erzählen im Familienrahmen hat nicht nur den Zweck, einen innerfamiliären Austausch zu bewirken, sondern die Großeltern übernehmen damit gegenüber der dritten Generation auch eine Lehrerrolle - allerdings überprüft die zweite Generation streng, was erzählt wird. Da das Erzählte auf eigenen Erfahrungen beruht, fordern die Großeltern dafür auch Bewunderung ein. Die Erfahrungsgemeinschaft der ›Alten‹ zeichnet sich aber auch durch weitere Aspekte aus. Zum einen gehört hierzu die Vorstellung, dass gleiche Erfahrungen während der Sozialisation zu vergleichbaren Wahrnehmungs- und Deutungsmustern führen, die in Form von altersspezifischen Handlungen analysierbar sind. 38 Hierzu gehören z.B. Stereotype über das Verhalten alter Menschen. In Bezug auf die Kriegsgeneration, der die Großeltern angehören, findet sich ein solches Stereotyp beispielsweise in der Ermahnung „Mit Essen spielt man nicht! So was war mal kostbar! “ (Hk 53) oder der Aussage „Na, ihr wisst ja gar nicht, was ihr damals gemacht hättet! “ (Hk 95) angedeutet. Andererseits ist die Wahrnehmung altersbedingter Vergemeinschaftung darauf zurückzuführen, dass Generationen sich im öffentlichen Raum durch gleiche oder ähnliche Attribute und Kennzeichen zu erkennen geben. Weitere Markierungen der Generationszugehörigkeit sind auch im Roman Himmelskörper zu finden. Die Enkelgeneration steht als erzählende Generation im Zentrum des Interesses. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass sie noch keine feste Identität ausgebildet hat, sondern in Auseinandersetzung mit Geschlechterrollen, Körpererfahrungen und Familientraditionen nach einem eigenen Weg und Selbstbild sucht. 39 Indes ist diese Generation nicht nur diejenige, die den Prozess der Selbstfindung noch nicht abgeschlossen hat, sondern auch diejenige, die die Verantwortung hat, neue Lebensentwürfe zu entwickeln. Alte Rollenmuster bieten dieser Generation keine Orientierung mehr. Dies wird zum einen an Pauls Homosexualität gezeigt, es wird aber auch dadurch thematisiert, dass Freia nicht nur die erste Frau in ihrer Familie ist, die ein uneheliches Kind bekommt, sondern auch die erste, die eine Hochschule besucht (vgl. Hk 26) und nicht mit der Geburt ihrer Tochter ihre Berufstätigkeit aufgibt. Eine Erklärung für dieses Konzept der „Jugend ohne Vorbild“ 40 bieten kulturwissenschaft- 38 Ulrike Jureit; Michael Wildt: Generationen. In: Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs. Hrsg. von Ulrike Jureit und Michael Wildt. Hamburg 2005, S. 7-27, hier S. 9. 39 Zum Thema der Identitätsfindung vgl. Stüben, Erfragte Erinnerung - entsorgte Familiengeschichte, S. 173f. 40 Vgl. zum folgenden Modell: Margaret Mead: Der Konflikt der Generationen. Jugend ohne Vorbild. Deutsch von Thomas M. Höpfner. Olten, Freiburg 1971 (Original: Culture and Commitment. Garden City, New York 1970). Die grundlegenden Überlegungen von Margaret Mead zum Verhältnis von Kultur und Generation wurden in den letzen <?page no="239"?> 237 liche Studien, die demographische Veränderungen ebenso wie gesellschaftliche Rahmenbedingungen einbeziehen. In diesem Forschungsfeld ist bereits Anfang der 1970er Jahre ein Modell entwickelt worden, das das Verhältnis von sozialem Wandel und dessen Auswirkungen auf das Zusammenleben von Jung und Alt erklären soll. Hier lassen sich drei typische Konstellationen feststellen: - Die sogenannte postfigurative Kultur zeichnet sich durch einen langsamen sozialen Wandel aus, daher ist das Erfahrungswissen der alten Menschen für die Jungen überlebensnotwendig. - In der konfigurativen Kultur unterscheiden sich die Erfahrungen der jüngeren Generation von denen der älteren Generationen aufgrund eines beschleunigten sozialen Wandels. Daher müssen die jungen Menschen neue Lebensstile entwickeln. Sie erkennen die Führungsposition der Alten aber weiterhin an. Die präfigurativen Kulturen sind durch einen schnellen sozialen Wandel erkennbar, der sich nicht nur auf neue Normen und Werte, sondern auch auf die rasche Entwicklung neuer Technologien bezieht. Bedingt durch die rasanten Veränderungen verlieren die älteren Generationen ihre Vorbildfunktion und bieten den jüngeren damit keine Orientierung mehr. Der Lernprozess ist daher nicht mehr einseitig, vielmehr können die Älteren in dieser Phase auch von den Jungen lernen. Typisch für die Gegenwart und damit auch für den zeitgenössischen Familienroman ist die präfigurative Konstellation, wohingegen die Familienromane des ausgehenden 19. Jahrhunderts den Wandel des Familienbildes auf der Grundlage der konfigurativen Kultur darstellten. Damit fehlt in der Gegenwart der jungen Generation nicht nur eine anerkannte Autorität - Vater Peter und Großmutter Jo versuchen beide erfolglos diesen Platz zu besetzen -, sondern das Brüchigwerden traditioneller Familienrollen ist den Enkeln auch bewusst und wird im Roman thematisiert: Mit dem Bild einer Mutter verband ich eine laute, herrische Person, von der man abhängig ist und gegen die man sich gleichzeitig auflehnt. Mutter: Das ist eine personifizierte Nabelschnur. Doch Renate war anders [...]. (Hk 14) Die einzige Genreration, die noch an traditionellen Rollenmustern festhält, scheint die der Großeltern zu sein. Im Laufe der regelmäßigen Ferienaufenthalte lernen die Enkel die Großeltern, die in der Regel als Paar auftreten, als liebevolle Gesprächspartner kennen. Sie bringen zu ihren Besuchen Geschenke mit, der Großvater liest Märchen vor und die Großmutter erzählt beim Flechten von Freias Zöpfen aus ihrer Jugend. Dieses dreißig Jahren nur unwesentlich modifiziert. Vgl. Kurt Lüscher, Ludwig Liegle: Generationenbeziehungen in Familie und Gesellschaft. Konstanz 2003, S. 97f. <?page no="240"?> 238 idyllische Bild wird zwar hin und wieder gestört, dennoch wird erst die Wohnungsauflösung nach dem Tod der Großeltern zum Schockerlebnis für Freia. Dieses ist nicht nur dadurch bedingt, dass sie die ideologische Ausrichtung der Großeltern durchschaut. Zudem wird der Enkelin bewusst, dass die beiden alten Menschen zwar in einer Wohnung, aber mit getrennten Badezimmern und Kühlschränken lebten. Damit wird das wirksamste Modell des 19. Jahrhunderts, die Liebesehe, ad absurdum geführt. Dem oberflächlichen Bild einer Altersidylle nach dem Modell von Philemon und Baukis, das seit den Metamorphosen von Ovid 41 zu einem festen Bestandteil der abendländischen Kultur geworden ist, entsprechen diese Großeltern nicht mehr. 42 In noch offensichtlicherem Maße als die Eltern haben die Großeltern den Schein einer freundschaftlichen Beziehung aufrechterhalten, wohingegen die getrennten Kühlschränke als Symbol für die emotionale Kälte dieser Beziehung und dieser Generation steht. Die Ursache hierfür kann die Enkelin nach dem Tod der Großeltern nicht mehr ergründen - sie vermutet aber, dass sie in der sexuellen Frigidität der Großmutter zu suchen ist, die sich dem Großvater, der als Invalide aus dem Krieg zurückkehrte und damit keine „nordische Schönheit“ mehr ausstrahlte, verweigerte. Damit bricht Freia zum ersten Mal mit einem häufig im Zusammenhang mit alten Menschen und vor allem mit den eigenen Verwandten zu beobachtenden Tabu: Sie denkt über die Sexualität ihrer Großeltern nach. Diese wird nicht als mit zunehmendem Alter unwichtiger werdendes Geschehen dargestellt, sondern die Enkelin erkennt, dass nicht nur das soziale, sondern auch das biologische Geschlecht das Leben der Menschen bis ins hohe Alter prägt - und sei es nur aufgrund von Entscheidungen, die man in jungen Jahren getroffen hat. Somit werden Alter und Sterblichkeit - neben Fragen der Reproduktion - zu bedeutenden Variablen in der Gestaltung des eigenen Lebens. Sie ergänzen Freias Reflexion der Generationenabfolge und ihre Wahrnehmung der (weiblichen) Genealogie. Denn der weibliche Körper wird durch die Reproduktion zum Garanten für den Fortgang der Geschichte, er ist verantwortlich für die Entstehung von neuen Geschlechtern. 43 Im Rahmen der Erkundung ihrer Familiengeschichte und der Beschwerden der Schwangerschaft wird sich Freia der Zugehörigkeit zu ihrer Familie immer stärker bewusst. Diese Erfahrung trägt einerseits dazu bei, dass sie entdeckt, „wie stark der eigene Ort durch die Generationenfolge der familiären 41 Publius Ovidius Naso (Ovid): Metamorphosen. Das Buch der Mythen und Verwandlungen. Nach der ersten dt. Prosaübersetzung durch August von Rode neu übers. und hrsg. von Gerhard Fink. Düsseldorf 2001, S. 202-205. 42 Zwar war Freia aufgrund der alltäglichen Streitereien der Großeltern bewusst, dass diese sich „nicht sonderlich gut“ (Hk 123) verstehen, dass sie ihre Zweckbeziehung aber nur nach außen hin aufrechterhielten, wird ihr erst im Rahmen der Wohnungsauflösung der Großeltern bewusst. 43 Vgl. Weigel, Generation, Genealogie, Geschlecht, S. 170. <?page no="241"?> 239 Genealogie bestimmt ist“. 44 Zum anderen nimmt sie ihre Familie immer stärker als Einheit war, für die im Roman das Bild des Stammbaums, mit dem Hinweis auf die nationalsozialistische Vergangenheit der Großeltern verbunden wird: Ich bekam jetzt ein Kind wie so viele andere Frauen. Ich würde die Geschichte fortschreiben. Ich würde mit Haut und Haaren an einem neuen Krieg, vielleicht als besorgte Mutter, beteiligt sein, ich war nicht mehr die Sackgasse der Geschichte, [...]. Ich hing auf einmal mittendrin, der braune Strich, der auf unserem Stammbaum (als richtiger Baum mit Ästen eingezeichnet) alle Familienmitglieder miteinander verband, würde nicht bei ›Eva Maria Sandmann‹ aufhören, sondern durch mich hindurch und weiter gehen. (Hk 254) Das Bild des Baumes verweist hier durch den „braunen Strich“ auf die Last des Erbes, das mit der Parteimitgliedschaft der Großeltern und der deutschen Geschichte verbunden ist. Darüber hinaus ist der Baum aber auch als Metapher für die Natürlichkeit dieser Zusammengehörigkeit zu lesen, die die Voraussetzung allen Lebens ist. Eine andere Metapher, die Tanja Dückers für die Verbundenheit der Familienmitglieder wählt, ist die der Kette, sowohl in der Form einer „dicken, eingeschweißten Familienkette aus Schweigen, Totschlag und nochmals Schweigen“, die der Protagonistin Angst macht (Hk 272), als auch in Form einer Bernsteinkette, die die Großmutter und ihre Schwester um den Hals tragen. Die Kette symbolisiert die Verbindung der Familienmitglieder auf zweifache Weise - einerseits als Form des Zusammenhalts, andererseits als Zwang der Zugehörigkeit. Als Motiv ist der Bernstein mit dem Themenkomplex der Wahrheitssuche verknüpft. Der Stein steht wegen seiner Durchsichtigkeit für Freias Wunsch nach Ordnung und Aufklärung. 45 Allerdings ist er nicht ganz durchsichtig, sondern halb transluzid. Daher versinnbildlicht Bernstein zugleich den getrübten Blick auf die Wirklichkeit, die Unmöglichkeit, diese vollkommen zu rekonstruieren. Daher ist es auch kein Zufall, dass die Großmutter, die immer ihre eigene Version der Ereignisse vehement vertreten hat, eine Bernsteinkette trägt. Der Bericht Jos über die Nacht am Pier in Gotenhafen, die Hoffnung, doch noch auf das kleine Minensuch- 44 Sigrid Weigel: Familienbande, Phantome und die Vergangenheitspolitik der Generationsdiskurse. Abwehr von und Sehnsucht nach Herkunft. In: Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs. Hrsg. von Ulrike Jureit und Michael Wildt. Hamburg 2005, S. 108-126, hier S. 109. 45 Damit findet sich auch hier eine Parallele zwischen Freias familiärere Spurensuche und ihrer wissenschaftlichen Arbeit. Der Stein erinnert an die von Freia gesuchte Wolkenformation „Cirrus Perlucidus“ aufgrund seiner Durchsichtigkeit. Die Wolkenformation wird folgendermaßen beschrieben: „wie aus Seide, aus unendlich fein verschütteter Milch, aus Spucke, durchsichtig wie der so eigenartig fleischlose Körper von Quallen und doch deutlich erkennbar ihre Ränder“ (Hk 303). Vgl. zum Motiv der Wolken Stüben, Erfragte Erinnerung - entsorgte Familiengeschichte, S. 180ff. <?page no="242"?> 240 boot aufgenommen zu werden, und die Erkenntnis, dass es zum ersten Mal keinen Vorteil mehr bedeutete, in der Partei gewesen zu sein, schließt mit folgender Beschreibung: Ich preßte meine Hand um die Kette [die Bernsteinkette, die sie von ihrer Tante geerbt hat, M.S.] in meiner Tasche, aber spürte in den Fingerspitzen nur meinen eigenen schnellen Herzschlag. Durch Jos geschlossene dunkle Brokatvorhänge drang kaum Licht. Ein feiner, unendlich aufgefächerter schwacher Sonnenstrahl rann aus dem Spalt zwischen beiden Vorhanghälften und versickerte in Jos Wohnzimmer, nur im geöffneten Honigglas auf dem Tisch leuchtete er plötzlich, wie mit letzter Kraft, auf. (Hk 220) Dunkelheit herrscht in dieser Szene auf mehreren Ebenen und umgibt alle Generationen. Jo, die langsam ihre Erinnerung verliert, ist ebenso von ihr umgeben, wie das Kind im Bauch der Mutter und Freia, die sich in der familiären Vergangenheit so sehr zu verlieren droht, dass sie um die Gesundheit ihres Kindes fürchtet. Sie ist noch nicht bereit, die Bernsteinkette ihrer Tante selbst zu tragen, kann die Familiengeschichte aber auch nicht loslassen, sodass sie die Kette immer mit sich trägt. Sie ist damit Fessel und Halt zugleich. Die Bernsteinkette versinnbildlicht aber nicht nur die Bindung Freias an ihre Familie, Bernstein ist im Roman zugleich eines der zentralen Motive für die Wurzeln der Familie mütterlicherseits in Polen. In dem Land mit großen Bernsteinvorkommen haben die Großeltern mit dem polnischen Namen Bonitzky (Hk 78) die „glücklichste Zeit“ ihres Lebens verbracht. Die Bernsteinkette steht damit sowohl als Zeichen für die Kräfte der Natur, die durch kulturelle Prozesse überformt wurde, als auch für die verlorene Heimat der Familie. In diesem Kontext ist es kein Wunder, dass Freia, die sich um das familiäre Erbe bemüht, nicht nur die Bernsteinkette ihrer Großmutter, sondern auch die ihrer Tante erbt. In diesem Zusammenhang wird die Genealogie und die Verantwortung, die die Enkel tragen, noch einmal besonders hervorgehoben. Die Tante hatte die Nichte kurz vor ihrem Tod gebeten, ihr die geliebte Bernsteinkette abzunehmen und diese selbst anzuziehen: „»Freia, nimm mir die Kette ab, ich möchte sie noch an dir sehen! Ich möchte wissen«, und an diesem Punkt fing sie an zu schluchzen, »daß alles weitergeht.«“ (Hk 214) Jedoch ist diesem Schmuckstück die Schuld der Großelterngeneration eingeschrieben. Zum einen kann bereits die Tatsache, dass Renate die beiden Ketten von einer Polenreise als Geschenk mitgebracht hat, als Erinnerung an die Verfehlungen der Großelterngeneration gedeutet werden. Sie enthält damit die Anklage der missbrauchten Kindergeneration. Die Farbe des Bernsteins erinnert zugleich an den Sonnenuntergang, der Renate selbst als Symbol für die Festbeleuchtung der untergehenden ›Wilhelm Gustloff‹ immer an ihre Schuld gemahnt. Andererseits wird die Kette über ihre Farbe mit dem Honig in Verbindung gebracht, den die Großmutter vor ihrem Tod hemmungslos isst. Der Honig ist auch insofern mehrfach kon- <?page no="243"?> 241 notiert, als ihn der Großvater in seinen letzten Lebensmonaten als Imker hergestellt hat. Auch mit der Großvaterfigur ist eine Form der Hemmungslosigkeit verbunden, da der Honig für die Enkel untrennbar mit der Offenbarung der ideologischen Überzeugungen des Großvaters verknüpft ist (vgl. Hk 187f.). Allen Schilderungen der Genealogie ist also immer die Tradierung von Schuld eingeschrieben. Die Verstrickung der Großeltern in das Naziregime wird - neben ihrer Sozialisation in der Zwischenkriegszeit 46 und in der Jugendbewegung - zu einer wichtigen Facette der Generation, der sie angehören. Die Schuld, die damit verbunden ist, prägt auch noch die Identitätsfindung der Nachgeborenen. Fragen der weiblichen Genealogie, wie sie Dückers in ihrem Roman aufwirft, finden sich bereits in der Frauenliteratur der 1970er und 1980er Jahre. Wurde von den Autorinnen damals meist ein Scheitern des weiblichen Emanzipationsprozesses thematisiert, weil „über die Generationen hinweg bestimmte Strukturen, Verhaltensweisen sich immer wiederholten, obwohl die äußeren Verhältnisse ganz anders geworden sind als früher“ 47 , so zeigt sich in der Gegenwartsliteratur, dass die Lösung von traditionellen Rollenmustern - auch in Anbetracht des schnellen sozialen Wandels - notwendig ist, aber nicht zwangsläufig gelingt. Freia bringt nicht nur ein uneheliches Kind zur Welt und besteht trotz der innigen Beziehung zum Kindsvater auf getrennten Wohnungen (Hk 313), sie verweigert auch jede Form von Weiblichkeit. Ihre Kleidung ist betont burschikos, und ihre Haare rasiert sie ab (Hk 213). Lehnt Freia für sich traditionelle Weiblichkeitsmuster ab, so rebelliert ihr Bruder Paul durch das freie Ausleben seiner Homosexualität. Da mit dieser bei Paul genau die entgegengesetzte Neigung, ein tendenziell weibliches Auftreten, zu beobachten ist, kann man letztendlich nicht von einem gelungenen Emanzipationsprozess der dritten Generation sprechen. Diese zeichnet sich vielmehr durch eine Rollenkonfusion aus. Diese Haltung ist in der Gegenwart nicht ungewöhnlich, wird aber von anderen Autorinnen konsequenter durchgespielt. 48 Tanja Dückers vergibt vielmehr die Chance, die die geschlechtliche Verwirrung für die Deutung der Gegenwart mit sich bringt, und konzentriert sich stattdessen auf die weniger ergiebige Pflege des Traumas. Dadurch geraten die Enkelfiguren selbst in Gefahr, sich als Opfer zu stilisieren. In- 46 Im Zusammenhang mit Jo wird erwähnt, dass sie 1914, also im Jahr des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs, geboren ist (Hk 26). Der Großvater wird als eifriges Mitglied der Pfadfinder geschildert (Hk 97). 47 Shidan Wang: Generationenkonflikte in deutschsprachiger Frauenliteratur 1976- 1985. Hildesheim 1993, S. 150. 48 Vgl. zum Beispiel den im Anschluss interpretierten Roman von Kathrin Schmidt: Die Gunnar-Lennefsen-Expedition. <?page no="244"?> 242 dem auf diese Weise jede Form der Konfrontation gemieden wird, geht die Autorin hinter die Ansätze der Frauenliteratur der 1980er Jahre zurück. 49 Befremdend ist für die Enkel, dass beide Großeltern nicht das Gefühl haben, mit ihrer Parteimitgliedschaft, ihrer treuen Hitlernachfolge sowie ihren antijüdischen Ressentiments einen Fehler begangen zu haben. Kurz vor seinem Tod erklärt der Großvater seinen verdutzten Enkeln, dass für ihn die Juden in der Gesellschaft die gleiche Funktion haben wie die Kuckucksbienen im Bienenvolk. Sie sind Schmarotzer, die sich auf Kosten anderer bedienen (Hk 187f.). Hier zeigt sich ein neues, historisch bedingtes Großelternkonzept: die Nazioma und der Naziopa, die aufgrund von ideologischen Überzeugungen schuldig geworden sind, sich diese Schuld aber ein Leben lang nicht eingestehen. Charakteristisch ist für dieses Figurenpaar, dass beide bis ins hohe Alter an der nationalsozialistischen Idee festhalten und nun nicht mehr aus Rücksicht auf gesellschaftliche Konventionen das Gefühl haben, ihre Einstellung verheimlichen zu müssen, sondern auch den Enkeln gegenüber offen diese Theorien vertreten. Diese Geschichten erzählen sie weniger im Bewusstsein, dass man als alter Mensch nicht mehr ernst genommen wird, sondern dass man im Alter eine Art von Narrenfreiheit hat, die es ermöglicht, ohne mit Sanktionen rechnen zu müssen, die lange verheimlichte Einstellung zu formulieren. Damit findet sich im Familienroman ein historisch verankertes Alterskonzept, das das Bild der in der Tradition verhafteten alten Figur, wie sie z.B. Horváth zu Beginn des 20. Jahrhunderts in seinem Drama Geschichten aus dem Wiener Wald gestaltet hat, 50 auf eine neue Ebene hebt. Es ist nicht das Fehlverhalten der eigenen Familienmitglieder, das von der Großelterngeneration sanktioniert wird, sondern rassische Vorurteile führen zur Verurteilung einer ganzen gesellschaftlichen Gruppe. Lehren aus den historischen Erfahrungen werden von dieser Gruppe alter Menschen nicht gezogen. Damit ist erstmals in der Literatur eine Aufspaltung des Generationenkonflikts, 51 der bisher meist ein Vater-Sohn-Konflikt war, zu beobachten. Obwohl der Vater in historischer Perspektive gegenüber dem Sohn der Ältere ist, handelt es sich bei diesem in der Regel nicht um einen alten 49 Vgl. hierzu beispielsweise die Ausführungen von Shidan Wang zu Katja Behrens Roman Die dreizehnte Fee aus dem Jahr 1983. Hier hat die Enkelin zwar wesentlich bessere Ausgangsbedingungen als die früheren Generationen und sie erkennt auch die Fehler im Leben von Mutter und Großmutter. Dennoch bewahrt sie dieses Wissen nicht davor, die Fehler zu wiederholen. Vgl. Wang, Generationenkonflikte, S. 147-154 50 In Ödon von Horváths Drama tötet die Großmutter ihren Urenkel, weil er in einer ›wilden Ehe‹ gezeugt wurde und ihr Enkel damit nicht die Hoffnung in die Fortsetzung der Familientradition erfüllt hat. Ödon von Horváth: Gesammelte Werke. Hrsg. von Traugott Krischke unter Mitarbeit von Susanna Foral-Krischke. Bd. 4: Geschichten aus dem Wiener Wald. Frankfurt a.M. 2001. 51 Vgl. dazu auch das Kapitel Generationenkonflikt in: Irmgard Scheitler: Deutschsprachige Gegenwartsprosa seit 1970. Tübingen, Basel 2001, S. 235-249. <?page no="245"?> 243 Menschen, sondern um einen in der Gesellschaft verankerten, berufstätigen Mann und Ernährer der Familie. Charakteristisch für die Generationenkonflikte der Nachkriegszeit ist die Auseinandersetzung mit dem autoritären, dem Faschismus nahestehenden Vater, die in autobiographischer Form erst nach seinem Tod stattfinden kann und die Sprachlosigkeit zwischen den Generationen abbildet. 52 Der in Dückers’ Roman geschilderte Generationenkonflikt ist mit Freia und Paul auf die dritte Generation verlagert. Diese müssen sich nicht nur gegenüber ihren Eltern positionieren, sondern auch in der Auseinandersetzung mit ihren Großeltern zu einer eigenen Identität finden. 53 Diese Gestaltung des Generationenkonflikts ist bislang eher selten zu finden. Die Auseinandersetzung mit den Großeltern oder sogar den Urgroßeltern könnte aber wegen der steigenden Lebenserwartung zunehmen. Am Beispiel von Freia und Paul wird in diesem Zusammenhang aufgezeigt, dass die Verlagerung des Konflikts auf die Großeltern aufgrund der körperlichen Schwäche und sozialen Außenseiterposition der alten Menschen für die Enkelgeneration mit wesentlich mehr Schuldgefühlen verbunden ist. Zudem sorgen in der Gegenwart die fehlenden, auf den sozialen Wandel reagierenden Rollenvorbilder dafür, dass die Enkel kein eindeutiges Feindbild entwickeln können. Auf diese Weise bietet selbst der Generationenkonflikt keine Orientierungshilfe mehr zur Herausbildung einer eigenen Identität. Dadurch werden Großvater und Großmutter zwar einerseits ins Zentrum des Konflikts gestellt, andererseits verhindern sie das vehemente Ausleben desselben durch ihre Alter. Der Generationenkonflikt erhält damit in der Gegenwart unscharfe Konturen. Die Enkel sind in der Identitätsfindung in Auseinandersetzung mit dem Bild der Großeltern sehr viel stärker auf sich selbst verwiesen. 54 Eine besondere Bedeutung kommt in diesem Kontext der Familiengeschichte zu. Da es keine Rollenmuster zur Orientierung für die jüngeren Generationen gibt, stellen diese nicht mehr das Bindeglied zwischen den Generationen dar. Diese Funktion übernimmt nun die familiäre Geschichte. 52 Beispiele hierfür sind der posthum veröffentlichte Romanessay Die Reise (1977) von Bernward Vesper, Suchbild. Über meinen Vater (1980) von Christoph Meckel oder Lange Abwesenheit (1980) von Brigitte Schwaiger. 53 Aus den Aussagen von Tanja Dückers zu Günter Grass’ Roman Im Krebsgang geht hervor, dass es sich bei diesem Generationenkonflikt auch um einen innerliterarischen Konflikt handelt. Die Enkel übernehmen die Themen Flucht und Vertreibung und sind erstmals in der Lage, die von Sebald geforderte Literarisierung aufgrund ihrer größeren Distanz zu Opfern und Tätern zu leisten. 54 Eine Ermordung des Großvaters durch seinen Enkel wäre nahezu undenkbar. Das Motiv des Vatermords als Konflikt um die Übergabe von Macht zieht sich schon seit Sophokles’ König Ödipus wie ein roter Faden durch die Literatur. Kennzeichnend ist hier allerdings, dass es sich um einen Konflikt zwischen benachbarten Generationen handelt. <?page no="246"?> 244 Auf diese Weise kommt den Erzählungen der Großeltern ebenso wie deren Fixierung durch die Enkel eine wichtige Rolle zu. Altersrepräsentationen im Familienroman: die Großeltern Betrachtet man die Großelternrepräsentationen, so stellen sich diese auf den ersten Blick als positive Figuren dar. Im Verlauf des Romans fällt auf, dass die anfängliche Kategorisierung durch typische Großelterneigenschaften im Verlauf des Romans aufgebrochen wird. Die Großeltern werden zunehmend über Merkmale mit negativen Konnotationen charakterisiert. Dies führt zu Altersrepräsentationen, die letztendlich aufgrund ihres Changierens zwischen traditionellen Mustern und neuen Merkmalen zu einer Entkategorisierung beitragen. Diesen Prozess des Aufbrechens eines an sich positiven Rollenbildes möchte ich im Folgenden nachzeichnen, um abschließend die daraus hervorgehenden Alterskonzepte vorzustellen. Die Großeltern werden zu Beginn des Romans als Paar eingeführt. Das Jahrzehnte dauernde Zusammenleben, das häufige gemeinsame Auftreten führt dazu, dass sie im familiären Kontext meist als Paar wahrgenommen werden. Eine symbiotische Einheit - so hat die Interpretation der den Generationen zugeordneten Rollen bereits gezeigt - gibt es zwischen den Großeltern in Dückers’ Roman nicht. Stattdessen trifft auf sie Hannelore Schlaffers Beschreibung zur Wahrnehmung von Seniorinnen und Senioren im Alltag zu. Die Kulturwissenschaftlerin interpretiert das sorglose und finanziell unabhängige Seniorendasein in Anlehnung an das Leben des Adels in früheren Jahrhunderten als moderne Form der Aristokratie. Wie sich früher nur die Adligen ein Leben ohne Arbeit und im Wohlstand leisten konnten, so kommt diese privilegierte Lebensweise heute vielen Alten zu. Von einem solchen Wohlstand zeugen in Dückers’ Text neben der umfangreichen Plattensammlung vor allem die Photos von verschiedenen Reisen, die die Großeltern gemeinsam unternommen haben. 55 Darüber hinaus sieht Hannelore Schlaffer das Verhalten älterer Pärchen durch folgende Beobachtung treffend charakterisiert: „Männer über sechzig sind im Haus, im Familienleben und im Kreis der Freundinnen ihrer Frauen gefangen. Diesen gewährt das Schicksal nach so langer Unterwerfung einen bescheidenen Sieg.“ 56 Was Schlaffer in essayistischer Manier überspitzt darstellt, ist für den Großvater in Tanja Dückers Roman frühzeitig Realität geworden. Den Machtkampf gewinnt in der Paarbeziehung mit zunehmendem Alter immer häufiger die Frau. Der Verlust des Beines 55 „Winterurlaub in Davos, Herbstferien in der Lüneburger Heide, ein Wochenende in London, ein Trip in die Provence, Silvester bei Freunden in Wien, sogar eine Reise nach Miami hatten meine Großeltern, denen es an Geld nie gemangelt hatte, noch gemacht.“ (Hk 208) 56 Schlaffer, Das Alter, S. 72. <?page no="247"?> 245 brachte für den Großvater der Zwillinge eine neue innerfamiliäre Machtverteilung mit sich, in deren Folge er bereits als junger Mann 57 von seiner Frau zu einem alten, hilfsbedürftigen Familienmitglied gemacht wurde. Die neue Machtposition der Frau zeigt sich nicht nur in der Namensgebung - von Maximilian über Max zu Mäxchen 58 -, sondern auch darin, dass sie ihm die Geburt eines Sohnes, den er sich so sehr wünscht, verweigert (Hk 217). Damit wird er in eine geschlechtslose Rolle verwiesen und fortan wie ein Kind behandelt. Vergleicht man diese Paarbeziehung mit der in Martin Walsers Roman Augenblick der Liebe, dann wird trotz der unterschiedlichen Perspektive deutlich, dass die Freiheit, die Walsers Figuren und ihr Zusammenleben kennzeichnet und die als Voraussetzung für eine glückliche Paarbeziehung dargestellt wurde, in Dückers’ Text fehlt. Die Großeltern werden weitgehend als Paar wahrgenommen und haben keinen individuellen Handlungsspielraum. Insofern wird im Alter das Haus zum Gefängnis, die Beziehung zunehmend zur Qual. In Anbetracht der identitätsstiftenden Wirkung traditioneller Rollenmuster und Familienmodelle ist für die Angehörigen dieser Generation eine Scheidung undenkbar, die Trennung vollzieht sich nur innerhalb des geschützten Raumes. Kühlschrank und Badezimmer werden von den Großeltern nicht geteilt. „Ich habe ihnen mal wirklich was erzählt, Johanna! “ - der Großvater Die Familienmitglieder werden in Dückers Roman durch die Betrachtung von Familienphotos eingeführt. Das Bild des Großvaters Mäxchen wird von der Enkelin Freia wie folgt beschrieben: „Mäxchen mit Krücken am Bleichen See, vermutlich im Gespräch mit Silberlügenaalen, sehr nachdenklich.“ (Hk 9) Auffallend an dieser Beschreibung ist, wie der Großvater einerseits nicht in seiner familiären Rolle wahrgenommen wird, wie er andererseits bereits bei dieser ersten Beschreibung mit der Frage nach der Wahrheit konfrontiert wird, indem er sich mit den von den Kindern ausgedachten Fabelwesen der Silberlügenaale zu unterhalten scheint. Diese Kindheitseindrücke scheinen Freia so sehr geprägt zu haben, dass sie auch 57 Der Großvater verlor sein Bein mit 28 Jahren (Hk 97). Er wird also 1945 knapp über 30 Jahre alt gewesen sein. 58 An der Benennung von Renate als „Natilein“ (Hk 249), „Nati“ (Hk 249), „Renätchen“ (Hk 205) und „Renate“ (Hk 150) zeigt sich damit auch weniger die liebevolle Beziehung der Mutter zur Tochter als vielmehr der Versuch, die mütterliche Machtposition der Tochter gegenüber aufrechtzuerhalten. Dass Renate sich gegen diese Unterdrückungsversuche durchaus zur Wehr setzt, zeigt z.B. die Konfrontation zwischen Jo und Renate, nachdem den Kindern zum ersten Mal vom Krieg erzählt wurde, und Renate ihrer Mutter verbietet, den Kindern von der Flucht aus Gotenhafen zu berichten. Mit dem Entzug der Enkel hat Renate - zumindest solange die Kinder klein sind - ein Machtmittel gegen die dominante Mutter in der Hand (vgl. Hk 85f.). <?page no="248"?> 246 im Erwachsenenalter noch präsent sind. In dieser Denkerpose erhält die Figur aber auch eine gewisse Überlegenheit, die in scharfem Kontrast zu seinen Krücken steht. Der Großvater, der durch den Krieg gezeichnet ist, übernimmt wegen seiner eingeschränkten Bewegungsfreiheit weitgehend die großmütterliche Rolle und wird zum Vorleser von Märchen. Durch diese Verschiebung wird die Deklassierung des Großvaters noch einmal betont, da mit der Großvaterrolle traditionell eher die Aufgabe der Vermittlung von Bildung verbunden ist. 59 Allerdings zeigt sich, dass diese Rolle nicht selbstgewählt ist, sondern ihm von den Frauen der Familie aufgezwungen wurde, weil er den Kindern nicht vom Krieg erzählen soll. Als ihm die Spekulationen um sein verlorenes Bein zu viel werden, bricht er aus der ihm zugedachten Rolle aus. Er erzählt den Kindern, wie er sein Bein verloren hat und welche Erlebnisse er auf dem Russlandfeldzug machte (Hk 84). Damit übernimmt er eine traditionell dem Großvater zugeschriebene Rolle: die des „lebenden Geschichtenvermittlers“. 60 Hier zeigt sich, dass er zwar sowohl über Faktenwissen als auch über Erfahrungen verfügt, die die anderen Familienmitglieder nicht teilen, dass er aber nicht in der Lage ist, diese kindgerecht zu erzählen. Mit seinem Kriegsbericht, dessen emotionale Aufgeladenheit durch stockendes Erzählen und wiederholtes Husten angezeigt wird (Hk 86), überfordert er die Enkel und lässt sie bezeichnenderweise am Ende im „riesig gewordenen Eßzimmer allein“ (Hk 87). 61 Damit hat der Großvater als Erzieher aufgrund seiner fehlenden emotionalen Distanz versagt, und auch die Großmutter ist im Folgenden nicht bereit, die Fragen der Enkel zum Bombenkrieg zu beantworten (Hk 88). Die Enkel reagieren mit einer Phantasiegeschichte, in der sie versuchen, die Erzählung des Großvaters zu verarbeiten. Der Großvater, so erfährt der Leser im Verlauf des Romans den objektiven Tatbestand, kehrte aus dem Russlandfeldzug mit einem zerschossenen Bein und einer angegriffenen Lunge zurück (Hk 48). Dennoch war er während des Krieges weiterhin als Bauingenieur in Pillau und Gotenhafen zum Ausbau der Häfen eingesetzt (Hk 125). Nach Kriegsende erhielt der junge Familienvater keinen Arbeitsplatz mehr. Wegen seiner Behinderung wurde er zum Invaliden erklärt und verbringt fortan seine Zeit „in seinem aufgepolsterten Stuhl, sein rechtes Bein hochgelagert, Patiencen leg[end]“ (Hk 31). Damit hat die Figur in Anbetracht ihres Schicksals nicht nur text- 59 Göckenjan, Das Alter würdigen, S. 103-105. 60 Erhard Chvoijka: Geschichte der Großelternrollen vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Wien, Köln, Weimar 2003, S. 340. 61 Bei dieser Erzählung handelt es sich - legt man die Tradierungstypen von Welzer et al. zugrunde - um eine Überwältigungsgeschichte. Diese ist dadurch charakterisiert, dass ihre „szenische Kraft zur Identifikation und Perspektivenübernahme so intensiv einlädt, dass die Zuhörer über weite Strecken verstummen [...]“. Überwältigung zeigt der Großvater auch an anderen Stellen, wenn er Tränen in den Augen hat, wenn er vom Krieg spricht (Hk 97). Welzer et al., »Opa war kein Nazi«, S. 84f. <?page no="249"?> 247 immanent das Mitleid der Enkel, sondern auch die Lesersympathien auf ihrer Seite. Die mitleiderregenden Aspekte der Figur zeigen sich, wenn der Großvater beim Essen beschrieben wird. Dabei trägt er ein Lätzchen, seine Frau schneidet ihm das Essen in mundgerechte Stücke und nach dem Essen pult er Wurstreste aus den Backenzähnen. Die einzige Form des Widerstandes, die dem mit gesunden Armen ausgestatteten Mann bleibt, besteht darin, den Fettrand von der Wurst zu entfernen. Auch den Enkeln fällt die Degradierung zum Kleinkind auf, wenn die Großmutter ihm den Stumpf seines Beines eincremt: „Großvater lag dann mit gespreizten, sehr dünnen weißen Beinen auf dem Rücken im Bett - ein bißchen wie ein Baby, das gewickelt wird.“ (Hk 77) Bei der Konzeption des kindischen Alten greift Tanja Dückers auf einen Topos der Altersliteratur zurück. Hier verbindet sich die Vorstellung von der Feminisierung des Alters 62 mit dem Vergleich der beiden historisch gleichzeitig entstandenen Lebensphasen Kindheit und Alter. Die Gleichsetzung ist bedingt durch den Glauben, dass nicht nur der menschliche Körper, sondern auch der Geist mit zunehmendem Alter einem Abbauprozess unterliegt und der alte Mensch kurz vor seinem Tod wieder auf einer Entwicklungsstufe mit dem Kind steht. 63 Hier wird diese Form der Altersrepräsentation dazu verwandt, den Großvater als alten Menschen zu kennzeichnen, ohne auf sein kalendarisches Alter oder seine körperliche Konstitution zu verweisen. Im Unterschied zur Kindheit, so stellen die Zwillinge im Alter von circa zehn Jahren fest, scheint die Unselbstständigkeit des Großvaters eine privilegierte Stellung zu bedeuten, und sie spielen regelmäßig ›Prothese‹ (Hk 81). Dass Mäxchen nur durch die Annahme seiner Frau, dass er nicht mehr selbst für sich zu sorgen in der Lage sei und damit die funktionale Definition des Alters erfülle, alt gemacht wird, erschließt sich indes dem Leser recht schnell und zeigt sich insbesondere in den wenigen Momenten des Aufbegehrens, in denen er die klassische Rolle des pater familias ausfüllt. So zeigt sich seine geistige Agilität z.B. darin, wie er das von den Frauen der Familie erteilte 62 Die These, dass sich im Alter eine Umkehr der Geschlechtsrollen in der Feminisierung des Mannes und der Maskulinisierung der Frau bemerkbar macht, hat C.G. Jung bereits in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts in dem Aufsatz The stages of life aufgestellt. Erst in den letzten Jahren wurde diese durch empirische Untersuchungen widerlegt. Vgl. Pasqualina Perrig-Chiello: Lust und Last des Älterwerdens - psychologische Betrachtungen. In: Jenseits des Zenit: Frauen und Männer in der zweiten Lebenshälfte. Hrsg. von Pasqualina Perrig-Chiello und François Höpflinger. Bern u.a. 2000, S. 15-35, hier S. 21. 63 Bildlich dargestellt wird dieses Stufenmodell in den vom 16. bis zum 19. Jahrhundert populären Lebenstreppendarstellungen. Aufgrund der symmetrischen Anordnung des Lebenslaufes stehen Kind und alter Mensch auf einer Stufe. Vgl. hierzu: Kenneth G. Appold; Kupferstichkabinett Halle: Lebenslinien. Allegorische Darstellungen der Lebensalter aus dem Kupferstichkabinett der Universität. Halle 2004. <?page no="250"?> 248 Schweigegebot bricht und seinen Enkeln erzählt, wie er sein Bein wirklich verloren hat, oder in der Verachtung seines Schwiegersohnes (Hk 85). Die Entmachtung des Großvaters wird also weniger von den Kindern oder Enkeln betrieben, sondern von seiner eigenen Frau. Dass er durchaus noch körperlich leistungsfähig ist, zeigt die letzte Episode, in der er, obwohl er durch Prostatakrebs geschwächt ist, die Bienenzucht des verstorbenen Nachbarn übernommen hat: Solange ich ihn kannte, hatte Mäxchen [...] nie viel gesprochen, bei unseren Alltagsgesprächen stand er stets im Schatten von Jo. [...] Um so mehr erstaunte Paul und mich, wie selbstverständlich und weitschweifig unser Großvater nun über den Bienenstaat dozierte, um seiner Faszination für diese Welt in der Welt Ausdruck zu verleihen. Es schien uns manchmal, als hätte seine ganze unterdrückte Lebensenergie, nach Jahrzehnten eines Invaliden-Daseins, nach fünfzig Jahren in einem abgedunkelten Zimmer - einen feinmaschigen, mit Rosen bestickten Vorhang zwischen sich und der Welt - jetzt noch einmal Zeit und Raum für sich gefordert. In diesen Wochen redete Mäxchen mehr als vorher in Jahren. (Hk 179) Der Ortswechsel vom abgedunkelten Wohnzimmer in den Garten hat dem Großvater sehr gutgetan. Er wird jetzt nicht mehr als märchenerzählender Großvater geschildert, sondern übernimmt die Rolle des Lehrers und erzählt den Enkeln viel über die Bienenzucht. Mit der neuen Aufgabe geht also eine Aufwertung der Figur des Großvaters einher. Zeigen die Enkel anfangs Interesse an seinem neuen Hobby und gestehen dem alten Mann den Erfolg zu, „noch einmal als Autorität auf irgendeinem Gebiet zu gelten“ (Hk182), so sind sie mit zunehmender Dauer des Besuchs vom Verhalten des Großvaters und seinen ideologischen Einstellungen schockiert. Die Feststellung „jedes Volk braucht einen Führer“ (Hk 183) und seine Überzeugung, dass das Vorkriegsdeutschland die „fortschrittlichste Gesellschaft der Welt“ gewesen sei (Hk 183f.), verstören die jungen Menschen ebenso, wie sie der Vergleich der Kuckucksbienen mit den Juden entrüstet (Hk 187). Angesichts der Offenbarung der politischen Gesinnung des Großvaters sind die Enkel sprachlos. Zum Eklat kommt es beinahe, als Freia von ihrem Polenurlaub erzählt. Der ansonsten ruhige alte Mann schreit plötzlich laut auf (Hk 186). Hier deuten sich nicht nur lange angestaute Aggressionen an, sondern auch die Unmöglichkeit der Kommunikation zwischen Großvater und Enkeln. Auffallend an dieser Textstelle ist, dass der Großvater erstmals jenseits seiner Kriegsverletzungen als alter Mensch gezeichnet ist. Dazu trägt nicht nur die Krebserkrankung bei, sondern auch die Betrachtung seines gesamten Körpers. So beschreibt Freia z.B. „die faltige, fleckige Haut an seinem Hals“ (Hk 184) und „die große, gerötete Nase“ (Hk 184). Indes zeigt sich in der Schilderung des Großvaters keine innovative Gestaltung, die über das traditionelle Bildinventar hinausgeht. Das Gespräch mit den Enkeln kann also auch als Lebensrückblick des alten Mannes gesehen werden, der seinen Enkeln dieses eine Mal seine <?page no="251"?> 249 wahre Gesinnung offenbart, so wie er früher dem Bedürfnis nachgegeben hat, den Kindern zu erzählen, was er in Russland erlebt hat. Die Tatsache, dass er keinen Widerspruch duldet, verweist auf den Versuch, die Rolle des alten Patriarchen zu reaktivieren. Da er aber innerhalb der Familie keine Machtstellung innehat, ist dieser Versuch zum Scheitern verurteilt. Die Bienenepisode stellt darüber hinaus einen zentralen Aspekt des Altersdiskurses vor Augen. Von Pädagogen und Sozialwissenschaftlern wird in letzter Zeit verstärkt auf einen Schwachpunkt im gesellschaftlichen Umgang mit alten Menschen hingewiesen. Nach der sozialen Definition des Alters ist der Mensch alt, wenn er aus seinem Beruf ausscheidet und in Rente geht. Dabei wird meist vergessen, welchen enormen Einschnitt der Eintritt in die Rente für den Menschen bedeutet. Der Rentner ist nicht nur in eine „nachberufliche Freiheit“ entlassen, von einem Tag auf den anderen wird sein Wissen und Können bedeutungslos. 64 Da es noch überwiegend die Männer sind, die ihre Familie ernähren, und in Westdeutschland viele Frauen nach der Kinderpause nicht mehr in ihren Beruf zurückgekehrt sind, sind von diesem Prozess des plötzlichen Bewusstwerdens, dass hinter der Freiheit des Alters eine große Sinnlosigkeit steckt und dass es keine gesellschaftliche Rolle gibt, die den Alten zugewiesen wird, in erster Linie Männer betroffen. Diese Denkfigur wird am Beispiel der Figur des Großvaters in Dückers’ Roman ins Extreme getrieben. Allerdings zeigt sich, dass die Invalidität den Großvater zu einem kranken Menschen gemacht hat, der er tatsächlich nicht ist. Die letzte Erinnerung an den Großvater zeigt damit auch einen Emanzipationsprozess. Der Großvater wird damit am Ende seines Lebens aufgrund seiner neuen Aufgabe als der Großmutter überlegen gezeigt. Ihm gelingt der Ausbruch aus ihrem Machtbereich, und er setzt sich durch eine sinnvolle Beschäftigung gegen die Zuschreibung des nutzlosen Alten zur Wehr. Die positive Zeichnung des Großvaters bei Dückers wird evident, wenn man sie mit der Figurencharakterisierung in Doris Konradis Roman Fehlt denn jemand 65 vergleicht. Hier wird die Beziehung zum Großvater aus der Sicht der erstgeborenen Enkelin Juliane beschrieben. Das Verhältnis zwischen Großvater und Enkelin war sehr innig, solange diese klein war und die Autorität des Großvaters anerkannte. Der Bruch zwischen Enkelin und Großvater erfolgt, als sie nach seinen Kriegserfahrungen und seiner Rolle im Militär fragt. Der Großvater ist nicht bereit, über seine Erfahrungen in irgendeiner Art und Weise Auskunft zu geben. Dies legt sie ihm als Eingeständnis seiner Schuld aus. Der Großvater wird für sie zum Vertreter des nationalsozialistischen Deutschland. Unterstützt wird diese Sichtweise 64 Hartmut Meyer-Wolters: Altern als Aufgabe - oder wider die Narrenfreiheit der Alten. In: Altern ist anders. Hrsg. vom InitiativForumGenerationenvertrag. Münster 2004, S. 85-104, hier S. 87. 65 Doris Konradi: Fehlt denn jemand. Roman. Köln 2005. <?page no="252"?> 250 durch das Verhalten eines Freundes des Großvaters, der regelmäßig zu Besuch kommt, bis er eines Tages beim Abendessen zu Juliane sagt: Jules Haar ist so schwarz wie das von den kleinen Jüdinnen, sagte er eines Abends bei Kartoffelsalat und Bier und strich ihr mit seiner Zigarrenhand zärtlich über den Kopf. [...] Wenigstens habe ich ihnen die Haare abgeschnitten, so schöne Mädchen kann man doch nicht sterben sehen, und er schüttelte lange den Kopf. 66 Die Anspielung ist eindeutig: Der Besucher hat im Konzentrationslager den jüdischen Mädchen und Frauen die Haare abgeschnitten, bevor sie ermordet wurden. Da es sich bei dem Besucher um einen Generationsangehörigen und Freund des Großvaters handelt, ist zu vermuten, dass beide ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Das Umschlagen der Liebe in Hass versinnbildlicht ein zentrales Merkmal von Generationenbeziehungen: deren Ambivalenz. 67 Die Konfrontation zwischen Großvater und Enkelin bleibt in ihrer Vehemenz über viele Jahre bestehen. Der hochbetagte Mann, der inzwischen in einem Altersheim lebt, wird in der Romangegenwart als Patriarch beschrieben, dem von einigen Familienangehörigen jeder Wunsch von den Augen abgelesen wird. Für Julianes jüngeren Bruder Justin hat der Großvater hingegen wenig Bedeutung. Er erinnert ihn als den Mann, „der sonntags an einer Ecke des Esstisches saß wie eine Aufblaspuppe, die durch ihr Hin- und Herschwenken eine Art Lebendigkeit vermittelte.“ 68 Andererseits liefert der Großvater für den jugendlichen Rebellen die Begründung, warum er mit seiner älteren Geliebten Nelly die Familie für immer verlässt. Nelly stellt ihn ihren niederländischen Freunden so vor: „Da ist Justin, er hat Deutschland verlassen, weil sein Großvater ein Nazi war.“ 69 In einem Land, das unter der Besetzung durch das nationalsozialistische Deutschland sehr gelitten hat, ist diese Begründung ein schlagendes Argument, um anerkannt zu werden. Und dennoch erkennt Justin viele Jahre nach seinem Aufbruch, an dem Tag, an dem sein Sohn Maarten geboren wird, dass ihn doch mehr mit seiner Familie verbindet, als er bislang geglaubt hat. 70 Ist der Großvater über weite Teile des Romans hinweg als negative Figur gezeichnet, so findet am Ende eine Entkategorisierung statt. Ein alter Mann erzählt Justin die Geschichte seiner Schwester. Sie war während des 66 Ebd., S. 67. 67 Vgl. Kurt Lüscher: Generationenbeziehungen heute und das Postulat einer Generationenpolitik. In: Der neue Generationenvertrag. Hrsg. von Helmut Bachmaier. Göttingen 2005, S. 36-49, hier S. 43f. 68 Konradi, Fehlt denn jemand, S. 108. 69 Ebd., S. 107. 70 „Du kannst dich von deinen Eltern abwenden, aber das Erbe der Generationen ist in dir, ob du es willst oder nicht.“ Ebd., S. 109. <?page no="253"?> 251 Krieges im Untergrund tätig und hatte sich in einen deutschen Wehrmachtssoldaten verliebt, der sie mit Informationen versorgte. Als ihre Gruppe auffliegt, versuchte der Soldat seine Geliebte unter einem großen Esstisch zu verstecken, aber der leitende Offizier bemerkte dies und tötete die junge Frau mit einem Schuss durch die Tischplatte. Hier schließt sich für den Leser der Kreis, denn eben dieses Loch im Tisch entdeckt Juliane beim gemeinsamen Martinsgansessen, weil sie sich plötzlich daran erinnert, wie Justin als Kind unter dem Tisch saß und ihr das Loch gezeigt hat. Der auf diese Entdeckung folgende Herzinfarkt des Großvaters zeigt, wie sehr diesen das Erlebnis immer noch emotional berührt. Seine besondere Bedeutung erhält es dadurch, dass er während des Krieges bereits verheiratet war und so mit niemandem über seine Erfahrungen sprechen konnte, ohne seiner Frau und Familie gegenüber den Liebesverrat zu offenbaren. Damit erhält die Figur des herzlos erscheinenden Großvaters menschliche Züge, die beim Leser aber kein Verständnis wecken. Die Auswirkungen auf die Enkelgeneration sind auch in Konradis Roman nicht zu übersehen. Am Beispiel der männlichen Figur wird in diesem Fall die Bedeutung der genealogischen Weitergabe von Schuld thematisiert, wohingegen Juliane gerade aufgrund ihres Bewusstseins für die familiären Verstrickungen in den Nationalsozialismus für sich beschlossen hat, keine Kinder zu bekommen. Stattdessen verarbeitet sie die familiäre Schuld, indem sie sich mit der deutschen Geschichte intensiv auseinandersetzt und diese - ebenso wie die Enkel bei Dückers - in Literatur transformiert: Sie hat ein Theaterstück über Ulrike Meinhof geschrieben, 71 das kurz vor der Aufführung steht. Wie in Dückers’ Roman finden sich auch hier die zentralen Elemente des Familienromans der Gegenwart wieder: - Die Großelterngeneration erscheint im Hinblick auf ihre Verstrickung in den Nationalsozialismus nicht als Vorbild für die Enkel. Die Figur des alten Patriarchen wird ad absurdum geführt. Stattdessen steht die Figur des Großvaters als ehemaliger Soldat metaphorisch für die Schuld der Deutschen. Der Herzinfarkt des Großvaters am Ende von Konradis Roman symbolisiert zudem den Verlust der Deutungshoheit der schuldig gewordenen Großelterngeneration. - Die mittlere Generation erscheint hilflos. Ihre Vertreter können sich nicht aus der traditionellen Rolle des verantwortungsvollen Kindes lösen und halten verzweifelt an althergebrachten Rollenmustern fest. - Die dritte Generation lebt damit ohne Vorbilder. Der einzige Enkel, der selbst Vater wird, hat sich bereits vor langer Zeit von seiner Familie 71 Der Dramenfigur Ulrike Meinhof legt Juliane bezeichnenderweise folgenden Satz in den Mund: „Ich bin ein un-ge-zo-ge-nes Kind. Hört ihr, das ist Passiv. So was wie mich hat euer Schweigen gemacht. Bin nur gekommen, um zu hören, das Schweigen zu hören.“ Konradi, Fehlt denn jemand, S. 45. <?page no="254"?> 252 losgesagt. Die Auflösung der Rollenmuster zeigt nicht nur eine Orientierungslosigkeit der dritten Generation, sondern die Traumatisierung der Kriegskindergeneration wurde an die Enkel weitergegeben. Dies führt zu einer vehementen Ablehnung von Rollenmustern bei gleichzeitiger Übernahme familiärer Verantwortung und Tradierung der Familiengeschichte als Vater oder Mutter. - Die Enkelgeneration übernimmt die Aufgabe, die historischen Ereignisse in Bildende Kunst und Literatur zu übertragen. Damit sind sie es, die die erinnerungskulturstiftende Funktion der Kunst erkennen und zur Aufbewahrung der deutschen und europäischen Kultur nutzen. Doris Konradi zeigt mit der Gegenüberstellung der deutschen und niederländischen Kriegs- und Nachkriegsgeschichte zwei verschiedene Lesarten der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts und deren Folgen für die Nachkriegsgenerationen. Durch diesen Vergleich wird die Verwobenheit von Schuld und Unschuld betont. Dieses Gefühl des Unschuldig-Schuldigseins wird dem Neugeborenen als Erbe mitgegeben. Einen so differenzierten Blick auf die Geschichte liefert Tanja Dückers’ Roman nicht. Obwohl ihr Roman in Westberlin angesiedelt ist und einen Zeitraum von Mitte der 1980er Jahre bis zur Gegenwart abdeckt, wird die Nachkriegsgeschichte der geteilten Stadt völlig ausgeklammert. Dieses Beispiel zeigt die einseitige Sichtweise, die Tanja Dückers mit ihrem Roman vertritt und die auch in der traditionellen Zeichnung der Großelternfiguren zum Ausdruck kommt. „Nun reicht’s aber mal! “ 72 - die Großmutter Da die Großmutter innerhalb der familiären Machtkonstellation die zentrale Figur ist, wird ihre Entwicklung im Roman detaillierter geschildert. Zu Beginn ist sie allein durch ihre Rolle als Großmutter der Kinder Freia und Paul als alter Mensch gekennzeichnet. Diese hat Züge des Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen Bildes der großbürgerlichen Großmama. 73 Charakteristisch für das Figurenmodell ist im Roman unter anderem die geschmackvolle Kleidung (Hk 54, 213), das Wohnzimmer, das wie ein Salon aus dem 19. Jahrhundert anmutet (Hk 206), und die große Entfernung der Wohnorte von Großeltern und Enkeln. Letztere hindert die Großmutter aber nicht daran, regelmäßig aus dem westdeutschen Minden nach Westberlin zu reisen, um sich während der ausgedehnten Besuche für das Wohl der Enkel einzusetzen. Die Figur Jo repräsentiert im Laufe des Romans typisch weibliche Lebensbereiche und wird immer innerhalb des Hauses gezeigt. Meist verrichtet sie spezifische Hausfrauentätigkeiten wie 72 Hk 88. 73 Göckenjan, Das Alter würdigen, S. 212. <?page no="255"?> 253 nähen (Hk 31), Kompott kochen (Hk 89) oder Meerrettich reiben (Hk 261). Diese räumliche Beschränkung korrespondiert mit einer geistigen Immobilität. Bei ihr darf es keine Abweichung von der Norm geben, und Reinheit ist oberstes Gebot. 74 Die Großmutter Jo - so könnte man nach dieser Beschreibung vermuten - repräsentiert das im 19. Jahrhundert entwickelte Großmutterkonzept und stellt somit das Bild der alten, gutmütigen Frau mit einem strengen, grauhaarigen Dutt dar, das es in der Gegenwart kaum mehr gibt. Aber wie in anderen Darstellungen des ausgehenden 20. Jahrhunderts ist dieses Bild auch bei Dückers gebrochen. 75 Inwieweit die Gestaltung bei Dückers zu einem neuen Großmutterkonzept beiträgt, soll ein Vergleich mit einer Kurzgeschichte von Maike Wetzel zeigen. Die Autorin beschreibt in der Erzählung Schlaf 76 eine Großmutter aus der Enkelperspektive. Das Mädchen wird sehr kindlich gezeichnet, geht aber bereits zur Schule. Da die Mutter aufgrund einer psychischen Erkrankung in eine Klinik eingewiesen wird, zieht die Enkelin zur Großmutter aufs Land. Dort hat sie ein sehr angenehmes Leben: Sie muss nicht zur Schule gehen, weil die Großmutter der Meinung ist, dass sie von den deutschen Klassikern mehr lernen kann, und genießt auch sonst die Vorteile des Landlebens. Nimmt die Großmutter daher anfangs die Rolle einer großzügigen Großmutter ein, so beginnt im Verlauf der Erzählung ein Kampf zwischen Mutter und Großmutter um das Kind. In Folge der durchgehend kindlichen Perspektive wird nicht ersichtlich, wodurch dieser ausgelöst wurde. Eindeutig beschrieben wird aber der Gerichtstermin, bei dem Mutter und Großmutter vorsprechen, um das Sorgerecht für das Kind jeweils für sich zu beantragen. Nach diesem Termin verändert sich das Verhalten der Großmutter grundlegend. Die Enkelin muss nun regelmäßig in die Schule, sie wird streng überwacht, die alte Frau übernimmt vorher abgelehnte gesellschaftliche Regeln und Konventionen. Damit erhält die Figur der alten Frau Züge einer Mutterfigur. Die Grenzen 74 Die Erzählerin spricht von einer „Kernseifen-Obsession“ (Hk 260). 75 Vgl. zur Großmütterliteratur neben der Interpretation zu Judith Hermann in diesem Band auch den Aufsatz von Petra M. Bagley: Granny Knows Best: The Voice of the Granddaughter in ›Grossmütterliteratur‹. Bagley analysiert hier unter anderem die Erzählung Tand von Jenny Erpenbeck, Im tiefen Schnee ein stilles Heim von Karen Duve und Schlaf von Maike Wetzel. Problematisch an Bagleys Herangehensweise erscheint mir, dass sie die Texte explizit als Fortsetzung der autobiographischen Väterbzw. Mütterliteratur der 1970er und 1980er Jahre liest und sie auch im Kontext der Biographie der jungen Autorinnen verortet. Damit wird sie den fiktionalen Texten meiner Meinung nach nicht gerecht. Petra M. Bagley: Granny Knows Best: The Voice of the Granddaughter in ›Grossmutterliteratur‹. In: Pushing at Boundaries. Approaches to Contemporary German Women Writers from Karen Duve to Jenny Erpenbeck. Ed. by Heike Bartel and Elizabeth Boa. Amsterdam, New York 2006, S. 151-165. 76 Maike Wetzel: Schlaf. In: dies.: Lange Tage. Erzählungen. Frankfurt a.M. 2003, S. 115- 135. <?page no="256"?> 254 verschwimmen. Die Erzählung endet damit, dass die Mutter die Tochter nach sechs Monaten wieder abholt. Diese nimmt zuvor eine zunehmend kritische und aufmüpfige Haltung der Großmutter gegenüber ein, dennoch wird ihr Verhalten nur implizit in Frage gestellt, dies zeigt sich am offensichtlichsten darin, dass die Großmutter Katzen in einem Zimmer einsperrt. Die freiheitsliebenden Tiere werden nicht nur nicht artgerecht gehalten, sondern auch ihren natürlichen Verhaltensweisen entfremdet. Dies lässt sich auf die Enkelin übertragen, die z.B. keinen Sport treiben darf, weil sie sich dabei verletzen könnte, und damit in ihrem kindlichen Bewegungsbedürfnis sehr eingeengt ist. Andererseits wird die Großmutter aber auch als einsame Frau beschrieben, die kaum Kontakte hat und sich daher an die Enkelin klammert. Diese Vereinnahmung stößt allerdings bei dem Kind auf Widerspruch. Die Großmutter ist in Meike Wetzels Erzählung, wie in den anderen Texten der Großmütterliteratur, vom Podest der schönen Alten gehoben. Ihr Leben wird in verstärktem Maße als problematisch bezeichnet, Einsamkeit charakterisiert viele alte Frauen. 77 Der in Wetzels Kurzgeschichte geschilderte Kampf um die Enkelin findet sich in abgeschwächter Form auch in Dückers’ Roman. Hier streiten sich Renate und Jo darum, wer Freia Zöpfe flechten darf (vgl. Hk 62-67). Geht es vordergründig um die Nähe zu der Enkelin, so ist mit dem Motiv der Flechtens im Roman zugleich das der Deutungshoheit über die familiäre Vergangenheit verknüpft, da die Großmutter der Enkelin während des Flechtens Geschichten aus ihrer Kindheit erzählt. Diese sind aber nicht nur wenig kindgerecht, die Schmerzen, die die Großmutter der Enkelin beim Ziehen des Scheitels zufügt, verweisen ebenso darauf, dass alte Frau nicht rücksichtsvoll ist, wenn es um die Durchsetzung ihrer Interessen geht. Wie die Greisin kurz vor ihrem Tod der Enkelin Freia die Geschichte der Flucht aus Gotenhafen erzählt, verweist darauf, dass die alte Frau den Kampf letztendlich gewonnen hat. Im Unterschied zum Verhalten der einsamen und vermutlich auch emotional verkümmerten Alten bei Wetzel ist das Vorgehen der Großmutter bei Dückers aber nicht durch deren Einsamkeit motiviert, sondern durch Rücksichtslosigkeit und Machtstreben. Diese negativen Eigenschaften der alten Frau werden durch eine kleine Szene am Frühstückstisch illustriert. Während der Großvater und die etwa zehnjährigen Enkel noch essen, ist die Großmutter bereits beschäftigt. Sie bereitet Aprikosen für ein Kompott zu. Die Enkelin Freia stellt neugierige Fragen. Als Reaktion auf eine Erzählung des Großvaters zu seinen Erlebnissen während des Russlandfeldzuges möchte sie wissen, „wie denn die Bomber geklungen hätten“ (Hk 88), wird aber von der Großmutter mit einem unwirschen „Nun reicht’s aber mal! “ (Hk 88) - das zudem auch 77 Vgl. hier auch die Großmutter in Ende von Etwas oder die alte Bäuerin Friedel Wolgast in Monika Marons Roman Endmoränen. <?page no="257"?> 255 einer Fliege gelten könnte, die sich wiederholt auf die Aprikosen setzt - abgefertigt. Im Hinblick auf die Interaktion zwischen Großeltern und Enkeln ist diese Textstelle fatal. Der Großvater scheint vollkommen desinteressiert zu sein. Er kaut an einem Stück Blutwurst, „als wollte er nie mehr damit aufhören.“ (Hk 89) Damit wird über das Bild des Blutes an die im Russlandfeldzug erlebten Gräuel erinnert. 78 Gleichzeitig steht er innerhalb des familiären Machtgefüges auf einer Stufe mit den beiden Kindern. Wie sein Enkel Paul zieht er sich in ein teilnahmsloses Schweigen zurück, wenn er das Gefühl hat, dass eine unangenehme Situation bevorsteht. Da er den Kindern als erster vom Krieg erzählt hat, droht ihm die abermalige Auslösung des Konflikts, wenn er in Gegenwart der Großmutter, die Fragen der Kinder beantwortet. Die Großmutter ihrerseits ist nicht bereit, die Enkelin als gleichwertige Gesprächspartnerin anzuerkennen. Nur im Rahmen der Familienabende werden Fragen nach Erinnerungen an den Krieg beantwortet, nicht im alltäglichen Gespräch. Dies kann etwa in einem von den Eltern auferlegten Schweigegebot begründet sein, das den Großeltern verbietet, über die Kriegserinnerungen zu sprechen, und damit deren Macht einschränkt. 79 Das Verhalten der Großeltern kann aber auch auf ein grundsätzliches Versagen beider Großelternteile zurückgeführt werden, die nicht in der Lage sind, die traditionelle Funktion eines Erziehers einzunehmen. 80 Aber nicht nur von der Enkelin fühlt sich die Großmutter gestört, auch eine Fliege erregt ihren Unmut: Meine Großmutter verfolgte [...] mit ihrem Blick die dicke, schwarze Fliege, die sich erst auf unserer Butter, dann wieder auf den Aprikosen, auf den Brötchen und zu guter Letzt auch noch auf dem Rand des Nutella-Glases niederließ. 78 In der Verarbeitung der Russlanderzählung durch Paul spielt Blut auch eine wichtige Rolle: „[...] diesmal erzählte Paul, wie das Mädchen und der Junge durch einen besonders finsteren Wald liefen. Vögel fielen blutig von den Bäumen, Kleidung lag herum. Schüsse fielen. Am Horizont brannte eine Stadt. Der Wald war riesig und schwarz und hieß ›Russland‹. Es war kalt dort, und die beiden hatten erst rotgefrorene, dann weiße und schließlich schwarze Finger und Zehen, sie bluteten. [...] Dann wurde der Wald noch schwärzer, die Wolken bluteten, anstatt zu regnen, die Grübelmonster, die vorher ständig ihre beiden sich stets widersprechenden Köpfe aus dem Wasser gehoben hatten, stellten nie wieder eine einzige Frage, denn da war niemand mehr zum Antworten, die Futterneidhaie starben, dann da war niemand mehr, dem sie etwas wegnehmen konnten“ (Hk 83). 79 François Höpflinger verweist darauf, dass bereits sehr früh in der Etablierung der Großelternkonzepte die Norm aufgestellt wurde, dass diese sich nicht in die Erziehung der Enkel einmischen sollen. Vgl. Höpflinger, Enkelkinder und Großeltern, S. 95. 80 Vgl. zu Großeltern als Erzieher: Hans Thiersch: Großelternschaft. In: Die alternde Gesellschaft. Problemfelder gesellschaftlichen Umgangs mit dem Altern und Alter. Hrsg. von Karl Lenz, Martin Rudolph und Ursel Sickendiek. Weinheim, München 1999, S. 137- 148. <?page no="258"?> 256 Schließlich erhob sich Jo, aufrecht stand sie da, reckte das Kinn und fixierte den kleinen schwarzen Punkt auf dem Glasrand. Sie schritt zur Seite, wobei sie die Fliege nicht aus dem Auge ließ. [...] Die Fliege fraß weiter Schokolade, ihre gute Laune stieg und stieg, gegen Gefahr war sie jetzt immun. Die braune Droge. Die Augen meiner Großmutter funkelten, und auf einmal bekam ich Angst vor ihr. [...] Plötzlich fuhr die Klatsche nieder, ich spürte den kalten, steifen Luftzug an meinen Wangen, und die Fliege fiel leblos vom Nutella-Glas auf die rot-weißkarierte Tischdecke. [...] Meine Großmutter stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus und schloß für Sekunden ihre Augen. Sie ließ die Täterhand mit der Klatsche sinken, öffnete die Augen wieder und starrte unglaublich zufrieden auf den zerquetschten, in Rückenlage befindlichen Fliegenleib. Kurz nahm ich ein Zucken in ihrem Gesicht wahr, das mir Erinnerung an einen fernen Schmerz zu sein schien, den sie selbst erlitten haben mußte. Meine Großmutter legte jetzt die Fliegenklatsche, an deren schmutzigem weißem Netz noch einige gekrümmte Fliegenbeine klebten, neben den gefüllten Brotkorb. Sie stemmte beide Hände in die Hüften und stand einige Sekunden in dieser Pose am Esstisch. Dann stieß sie eine Nach- Seufzer aus, fuhr sich über die Stirn und ging schließlich gemütlich-schlurfend mit der Fliegenklatsche in die Speisekammer, wo sie die Klatsche an den für sie vorgesehenen Nageln hängte. (Hk 89f.) Die Großmutter ist nicht explizit negativ gezeichnet und trägt keine Merkmale der bösen Alten, wie dies bei Judith Hermann der Fall ist, dennoch ist die Figur in dieser Textstelle negativ besetzt. Das Vokabular ist mit Worten wie „Täterhand“ und „brauner Droge“ eindeutig als Hinweis auf die nationalsozialistische Vergangenheit der Großmutter zu lesen, und auch ihre „funkelnden“ Augen und ihr „unglaublich zufriedener“ Blick auf die tote Fliege lassen eine gewisse Lust an der Unterdrückung Schwächerer erkennen. Es fällt in dieser Sequenz aber auch auf, dass diese Episode mit einer gewissen Distanz erzählt ist. Es werden - für die Erzählung eher unüblich - nicht die Vornamen, sondern die Rollenbezeichnungen zur Beschreibung des Verhaltens herangezogen. Damit erhält die Episode über die Interpretation als Einzelfall hinaus auch die Funktion, die Großelterngeneration als Ganze zu charakterisieren. Vergleicht man Dückers’ Roman mit anderen Großelternerzählungen mit direktem Bezug zum Zweiten Weltkrieg, so fällt auf, dass ihre Kritik hier doch recht verhalten ausfällt. In Corinna Waffenders Erzählung Blut stinkt 81 entwirft ein Erzähler ein Porträt zweier Großeltern in der Nachkriegszeit aus der Perspektive des recht jungen Enkelkindes. Der Alltag ist geprägt von Grausamkeiten gegenüber dem Hund ebenso wie verbalen Ausbrüchen gegenüber den Nachbarn und dem „Depp“, einem geistig behinderten Mitglied der Dorfgemeinschaft. Das Kind wird mit nationalsozialistischem Gedankengut konfrontiert - „Zigeuner sind so ähnlich wie Juden. Wie Glücksjuden. 81 Corinna Waffender: Blut stinkt. In: Stadt Land Krieg. Autoren der Gegenwart erzählen von der deutschen Vergangenheit. Hrsg. von Tanja Dückers und Verena Carl. Berlin 2004, S. 164-170. <?page no="259"?> 257 Denn die leben noch. Die andern, die Pechjuden, sind tot.“ 82 - und spielt mit den „Nadeln mit den überkreuzten Haken“ und dem „Helm vom Speicher“ 83 . Zeichnet Waffender sehr direkt nach, wie der Prozess der Tradierung von nationalsozialistischem Gedankengut auch noch nach Kriegsende vor sich ging, so ist Dückers daran interessiert zu zeigen, wie überzeugte Anhänger des Nationalsozialismus in die Nachkriegsgesellschaft integriert waren. Ist die Enkelgeneration bei Dückers politisch in der Nachkriegsgesellschaft verankert, so ist aufgrund der Konfrontation mit Hass und Gewalt die Abgrenzung für die von Waffender beschriebene Enkelin beträchtlich komplizierter. Dückers’ Darstellung lässt erahnen, dass auch die Großeltern in Himmelskörper immer noch am völkischen Denken festhalten, angesichts ihrer Erfahrung als Flüchtlinge und während der sicher nicht einfachen Integration in Westdeutschland haben sie aber gelernt, ihre ideologischen Überzeugungen zu verheimlichen und sich nach außen hin der Nachkriegsgesellschaft anzupassen. Auf der Grundlage dieser Erfahrung wird auch die Viktimisierung 84 , also die Umkehr von historischen Täter- und Opferrollen, verständlich, die die Großeltern vornehmen, wenn z.B. der Großvater sich als Opfer der Militärführung sieht oder die Großmutter sich in der berühmten Bananengeschichte zum Opfer stilisiert, weil sie sich nicht getraut hat, einem jüdischen Kind eine Banane zu schenken (vgl. Hk 104f.). Die Großeltern werden aber nicht nur als agile Senioren beschrieben, im Verlauf des Romans rückt zunehmend das Alter als Verfallsprozess in den Fokus des Interesses. So weisen auch in Dückers’ Roman sowohl körperliche Veränderungen als auch kognitive Ausfälle auf Jos Alterungsprozess hin. Der Eintritt ins vierte Lebensalter wird durch eine Krebserkrankung und durch einen Oberschenkelhalsbruch, den die alte Frau sich bei einem Sturz in der Wohnung zuzieht und der sie zum Pflegefall macht (Hk 207f.), markiert. Infolge dieser Veränderung gibt die Großmutter alle bisher vertretenen Verhaltensregeln auf: Hemmungslos konsumiert sie Honig, und ihre Boshaftigkeit tritt offen zutage. 85 Trotz der Hinfälligkeit und der körperlichen Schmerzen wird der alte Körper nicht abwertend beschrieben. Die Enkelin empfindet keine Ablehnung gegenüber dem alten Körper, sondern nimmt dessen Eigenheiten wahr: Ich betrachtete meine Großmutter, die umherwandernden Augen, die in nicht enden wollendem Erstaunen hochgezogenen Augenbrauen, die eingefallenen Wangen, die schmalen knöchernen Schultern, die Bernsteinkette um ihren Hals, ihre kleinen, runzligen, im Schoß gefalteten Hände. Wie lange wird sie noch bei uns sein? [...] In diesen wenigen Minuten des Friedens wirkte meine Großmutter 82 Ebd., S. 168. 83 Ebd., S. 170. 84 Welzer et al., »Opa war kein Nazi«, S. 81ff. 85 „Boshaftigkeit beflügelte ihren Geist, das war mir schon aufgefallen.“ (Hk 244) <?page no="260"?> 258 fast elegant; ihre schmale, aufrechte Gestalt in dem mintgrünen taillierten Kleid, der Fächer, mit dem sie sich, egal ob Sommer oder Winter war, Luft zuwedelte, der Rubin an ihrem linken Ringfinger, die Bernsteinkette auf ihrem Dekolleté. (Hk 211-213) Dennoch ist sich die Enkelin der Todesnähe bewusst. Allerdings ist es weniger der körperliche und moralische Verfall, der die Enkelin beschäftigt, sondern das Nachlassen der geistigen Fähigkeiten, wodurch die Großmutter als alter Mensch gekennzeichnet wird. Die Enkelin, die der Großmutter das Geheimnis der Flucht entlocken möchte, erforscht mit Hilfe von Fragen und Photographien das nachlassende Gedächtnis der Greisin: Immer, wenn ich meine Großmutter besuchte, versuchte ich herauszufinden, woran sie sich noch erinnern konnte, und zu verstehen, warum andere Dinge spurlos ihrem Gedächtnis entglitten zu sein schienen. Ich hatte den Eindruck, dass hauptsächlich zwei Kriterien erfüllt werden mussten, damit eine Erinnerung Jo erhalten blieb: Das Ereignis musste vor langer Zeit stattgefunden haben, am besten in ihrer Kindheit und Jugend, und es mußte eine negative Erinnerung sein. (Hk 208) In ihren letzten Lebensmonaten wird die Großmutter für Freia zu einer Erzählerin, die sich von der Rolle der Reiseführerin an ausgewählte Erinnerungsorte entfernt, da sie die Distanz zur Vergangenheit verliert. Die Frage, ob sie ihre Wohnung aufgrund der näher rückenden russischen Armee verlassen soll, beschäftigt sie, als lebe sie im Jahr 1945. Es entsteht ein Spiel zwischen Großmutter und Enkelin. Freia übernimmt immer wieder die Rolle ihrer Tante Lena. Diese Schwester der Großmutter ist gemeinsam mit dieser und der fünfjährigen Renate aus Gotenhafen geflohen und spielt daher in der Erinnerung an diese Zeit eine wichtige Rolle. Mal durchschaut die Großmutter dieses Spiel der Enkelin und scheint glücklich darüber zu sein, dass sie zwischen Phantasie und Wirklichkeit zu unterscheiden vermag. 86 Wenige Minuten später scheint sie dagegen nicht wahrzunehmen, dass ihre Enkelin vor ihr steht (vgl. 221f., 217f.). Ob die Großmutter tatsächlich dement ist und nicht mehr zwischen Gegenwart und Vergangenheit unterscheiden kann, ist anhand des Textes kaum zu klären. Einerseits sind die einschneidenden Momente ihres Lebens sehr präsent, andererseits tun sich der Enkelin Freia jede Menge Erinnerungslücken auf, die nicht mehr zu füllen sind. Lässt der Text offen, inwieweit sich die Großmutter ihrer Situation bewusst ist, thematisiert Doron Rabinovici in seinem 2004 erschienenen Roman Ohnehin 87 die 86 Ein Beispiel hierfür findet sich auf Seite 213: „Plötzlich setzte sie sich gerade auf und guckte mich forsch an. Sie legte den Kopf nach rechts und links, dann schloß sie die Augen für einen Moment, und ein unglaubliches, glückliches, in seiner extremen Verzückung schon wieder beängstigendes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus./ »Freia ...«“ (Hk 213). 87 Doron Rabinovici: Ohnehin. Roman. Frankfurt a.M. 2004. <?page no="261"?> 259 Auswirkungen eines Gedächtnisverlustes. Der am Korsakow-Syndrom erkrankte ehemalige SS-Untersturmführer Herbert Kerber verfügt nur noch über ein sehr beschränktes Kurzzeitgedächtnis. Alle Ereignisse, die länger als fünfzehn Minuten zurückliegen, erinnert er nicht mehr. Zudem lebt er nicht in der Gegenwart, sondern in der Nachkriegszeit. Er glaubt, gerade aus dem Krieg zurückgekehrt zu sein und auf seine Verlobte zu warten. Seine Tochter Bärbel nutzt die Krankheit des Vaters aus, um Zugang zu seinen Erinnerungen zu erhalten: Sie führt Verhöre mit ihrem Vater durch, die zur Abrechnung mit ihm werden - ohne dass er erkennt, dass ihm seine Tochter gegenübersitzt. Rabinovicis Roman stellt somit die Frage, inwieweit ein Mensch, der sein Gedächtnis verloren hat, noch er selbst ist. 88 Muss der Greis - so fragt sich der Arzt Stefan Sandtner - nicht vor sich und seinen eigenen Familienangehörigen geschützt werden? Der Roman thematisiert aber auch, welche fatalen Auswirkungen das Verschweigen von Kriegserlebnissen auf den familiären Zusammenhalt haben kann. 89 Die Kinder werfen selbst dem alten und schwer kranken Vater sein Versagen noch vor und haben wenig Mitleid mit seiner Lage. Dennoch ist die Situation in beiden Romanen sehr verschieden. Freia möchte lediglich die Geschichte ihrer Familie kennen lernen, ohne dabei in irgendeiner Art und Weise eine Verurteilung der Großeltern vorzunehmen. So ist sie zwar schockiert über das, was sie erfährt, aber letztendlich ist sie ebenso neugierig wie die Großmutter froh, ihre Geschichte erzählen zu können. Einen ersten Versuch, die Geschichte der Flucht aus Gotenhafen zu erzählen, wird von der Großmutter mit den bewusst gewählten Worten „Weißt du was, Freia? “ (Hk 218) eingeleitet. Dann erzählt die alte Frau erstmals von ihrer Parteimitgliedschaft. Erst in einem späteren Gespräch berichtet sie die ganze Geschichte. Wie der Großvater nicht mehr mit seinen ideologischen Ansichten hinter dem Berg hält, so möchte nun auch die Großmutter dieses wichtige Ereignis aus ihrem Leben erzählen. Auch die Begründung gegenüber ihrer Tochter, die entdeckt hat, dass die Großmutter der Enkelin das Geheimnis der Flucht verraten hat, spricht eher dafür, dass sie immer noch Herrin der Lage ist: Freia versteht das ... wir waren Kinder unserer Zeit ... Freia hat uns nie Vorwürfe gemacht ... Freia ist nicht so wie du ... so ... so... was weiß ich ... bring mir Tee mit Honig. Mit Waldhonig. Ich bin das alles leid. Ich bin dich leid. Ich bin mich leid ... bring mir Tee. Mit Waldhonig. (Hk 252). 88 „»Bärbl«, fragte Stefan Sandtner laut und faßte sie an der Schulter: »Wieviel verbindet diesen greisen Patienten im Nebenraum noch mit dem einstigen Nazimörder Herbert Kerber? « / Sie schaute ins Leere, legte ihren Kopf seitwärts auf seine Hand, stieß bitter auf: »Ganz einfach, dieser Patient ist der Nazimörder Kerber.«“ Ebd., S. 109. 89 Damit ist der Roman hinsichtlich der Auseinandersetzung mit der familiären Vergangenheit mit dem Konradis vergleichbar. <?page no="262"?> 260 Hier scheint das Tradierungsmuster der Rechtfertigung auf, wodurch sich Freias Vermutung zu bestätigen scheint: „Wäre Jo noch gerissen genug, um mich anzulügen? Der Satz »ich erinnere mich nicht« könnte zur Ausrede werden“ (Hk 219). Das Verhalten der pflegebedürftigen alten Frau unterscheidet sich grundlegend von dem der Großmutter bei Judith Hermann, weil es ihr nicht um eine Weitergabe von Lebenserfahrung geht. Sie möchte damit lediglich das von der Tochter auferlegte Schweigegebot brechen. Eine Versöhnung zwischen Mutter und Tochter am Lebensende wird damit trotz der aufopferungsvollen Pflege Renates unmöglich. Das Bild der Großmutter ändert sich durch dieses Verhalten nicht. Wurde die Großmutter zu Beginn in einer Feldwebelpose charakterisiert (vgl. Hk 53), 90 so zeigt sie im Verlauf des Romans, dass sie ihre Macht auf sehr subtile Art und Weise, auch körperlich geschwächt, beibehalten kann. Damit ist die Großmutter in Dückers’ Roman eine der wenigen alten Figuren, die sich durch Kontinuität in der Figurenzeichnung auszeichnet. Die Großmutter hält auch als schwerkranke, alte Frau, die nicht mehr in der Lage ist, sich selbst zu versorgen, alle Fäden in der Hand. In ihrer Unberechenbarkeit, ihrem Schwanken zwischen Hilflosigkeit und Boshaftigkeit (Hk 247) zeichnet sich sehr eindeutig die Figur der bösen Alten ab. Ihre Macht zeigt sich darin, dass sie über das familiäre Wissen verfügt und selbst darüber entscheidet, wie viel sie davon an ihre Enkel weitergeben wird. Hier setzt sie sich auch gegen das Erziehungsverbot der Tochter durch, der es nicht gelungen ist, sich von der Mutter zu emanzipieren und die Rolle der aufopfernden Tochter abzulegen. Trotz des Festhaltens der Großmutter lässt sich feststellen, dass alte Figuren im Kontext des Familienromans nicht mehr als unfehlbare Autoritäten beschrieben werden, sondern sie werden zu alltäglichen Figuren mit Fehlern und Schwächen. Mit dieser Entmythisierung geht aber auch ein Prozess einher, der sie immer stärker ins Zentrum des Interesses der literarischen Produktion stellt und alte Figuren als Protagonisten entdeckt. Im Kontext des Familienromans ist diese Tatsache dadurch zu erklären, dass die Zeugen des Zweiten Weltkriegs langsam aussterben. Damit stellen die Familienromane auch den Versuch dar, die Erinnerungen zu bewahren. Wie aus den Vergleichen mit anderen Prosatexten hervorging, folgt Dückers’ Roman sehr einfachen Mustern und kann als Literarisierung von Welzers Studie Opa war kein Nazi gelesen werden. Ebenso wenig wie das spezifisch literarische Potenzial wird die kritische Funktion der Literatur von Dückers wahrgenommen. Eine Infragestellung tradierter Deutungsmuster ist weder im Hinblick auf den Familienroman noch in Bezug auf die Deutung der deutschen Geschichte intendiert. 90 An anderer Stelle bemerkt die Ich-Erzählerin, ihre Großmutter habe „immer noch die Stimme eines Fußballtrainers“ (Hk 188). <?page no="263"?> 261 Folglich bleibt auch die Gestaltung der Altersrepräsentationen herkömmlichen Mustern verhaftet. „Glaubst du, er wird jetzt noch mal ein anderer Mensch? “ 91 - Alterskonzepte in Himmelskörper Die Großeltern im Familienroman der Gegenwart vereinen in sich unterschiedliche Altersrepräsentationen. Das traditionelle Großelternkonzept wird ebenso aufgerufen und hinterfragt, wie die beiden alten Figuren das Modell der Senioren vertreten, die, finanziell gut ausgestattet, ein sorgenfreies Leben führen. Der Schwerpunkt liegt im Familienroman aber auf der Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg. In Fortsetzung der Väterliteratur der 1970er und 1980er Jahre gehören die Großeltern in Dückers’ Roman zu den Anhängern der Nationalsozialisten. Dabei ist die junge Autorin aber nicht in der Lage, das innovative und gesellschaftskritische Potenzial dieser Texte weiterzuentwickeln. Der Roman zeigt lediglich auf, wie die mit der Nazioma und dem Naziopa konfrontierte Enkelgeneration angesichts der moralischen Verfehlungen der Großeltern ratlos zurückbleibt. Eine über das Private hinausreichende Konsequenz folgt aus ihren Entdeckungen nicht. Die alten Figuren verweisen in Dückers’ Roman auf eine rollenspezifische Aufgabenteilung: Während der Großvater in erster Linie für die politisch-ideologische Dimension steht, verkörpert die Großmutter den familiären, erinnerungsgeschichtlichen Teil der Vergangenheit. Ursache für das häufigere Sprechen über Kriegserinnerungen scheint mir aber bei beiden Großelternteilen nicht nur die intensive Erinnerung an die glückliche Jugend zu sein, die viele ältere Menschen als wichtige Erfahrung des Alterns beschreiben, sondern das Gefühl, nun nicht mehr für nicht systemkonforme Meinungen bestraft zu werden - sie reklamieren für sich also eine gewisse Narrenfreiheit des Alters. 92 Da beide Großeltern allerdings zu 91 Hk 188. 92 Interessant wäre in diesem Zusammenhang auch, danach zu fragen, warum es für die Großmutter so wichtig ist, die Geschichte ihrer Flucht aus Gotenhafen zu erzählen. Verbunden mit der Flucht ist für sie nicht nur die Aufgabe ihres Heims, sondern der Verlust ihrer Identität als Deutsche sowie als (Ehe-)Frau (schließlich kann sie ihren Gatten nicht mehr als Mann anerkennen, sondern behandelt ihn wie ein Kind! ), erzählen dient in ihrem Fall aber nicht dazu, sich eine neue Identität zu schaffen, sondern lediglich dazu, die verlorene Identität zu aktualisieren und den entscheidenden Moment ihres Lebens zu vergegenwärtigen. Eine Neuentdeckung der Vergangenheit, die beispielsweise ihre Einsicht in ihre Schuld zur Folge haben könnte, ist nicht möglich. Stattdessen zeigt sie Stolz und gegenüber ihrer Tochter Unverständnis. Vgl hierzu auch Stefan Pohlmann: Das Alter im Spiegel der Gesellschaft. Hrsg. von Günther Böhme. Idstein 2004, S. 100: Entstehung von Schrulligkeit im Alter erklärt Pohlmann damit, dass das soziale Korrektiv wegfällt! <?page no="264"?> 262 diesem Zeitpunkt bereits sehr geschwächt sind, spielt diese nur noch innerhalb der Familie eine Rolle, dringt aber nicht mehr in die Öffentlichkeit. Im privaten Raum wird diese Haltung weitgehend toleriert. Das zeigt die Reaktion der Tochter Renate, die ihre Mutter nicht mehr zur Rede stellt 93 und ihre Tochter bittet, den Großvater zu schonen: »Ach, Freia, er ist alt und redet ein bisschen wirres Zeug. Er weiß nicht mehr, was er da erzählt. Und bitte, versaure ihm nicht noch die letzten Monate seines Lebens mit diesen Geschichten von früher. Glaubst du, er wird jetzt noch mal ein anderer Mensch? Er hat genug gelitten.« (Hk 188) Narrenfreiheit geht damit einher; für unmündig erklärt zu werden. Indes spielt es keine Rolle, ob der Großvater tatsächlich unzurechnungsfähig ist. Tatsache ist, dass er von diesen Einstellungen so sehr überzeugt war, dass er sie auch noch fünfzig Jahre nach Kriegsende voller Überzeugung referieren kann. Das Festhalten an diesem Gedankengut spiegelt sich auch in der Aufbewahrung des Buches zur Physiognomie, das Freia bei der Wohnungsauflösung findet. Damit wird aber vor allem die Rolle des Großvaters als Erzieher seiner Enkel ad absurdum geführt. Im Zusammenhang mit dem Gespräch zwischen Großvater und Enkeln über die Bienen und den Bienenstock hat man zum ersten Mal das Gefühl, der Großvater gibt tatsächlich Wissen an die Enkel weiter, das diese vielleicht auch eines Tages selbst anwenden können. Dieses Erfahrungswissen wird jedoch mit ideologischen Versatzstücken - z.B. dem Vergleich zwischen Juden und Kuckucksbienen angereichert -, sodass es damit für die Enkel nicht wirklich anwendbar ist, sondern sie immer, wenn sie Honig essen, an diese seltsame Situation, an den Moment der Fremdheit erinnert werden. Kritik wurde von der Ich-Erzählerin bereits vor dieser Episode am erzählerischen Talent des Großvaters geübt, 94 das den nach Orientierung suchenden Enkeln keinerlei Hilfestellung bot. An dieser Stelle wird aber evident, dass die Gestalt des Großvaters keine Altersweisheit verkörpert. Er ist kein „Vermittler von Weisheitsgut, klassischer Literatur und erbaulichen Geschichten“, 95 wie dies dem von der Aufklärung etablierten Bild des Greises entsprechen würde. Auch „Wissen um ein gelingendes Leben, eine Ars vivendi und moriendi unter den Bedingungen menschlicher Unvoll- 93 „Seitdem meine Großmutter dement war, hatte sie absolute Narrenfreiheit; was sie auch sagte, nahm niemand mehr ernst. Renate schluckte also ihren Ärger herunter [...]“ (Hk 246). Ein Streitgespräch, wie es die etwa achtjährige Freia zwischen Renate und Johanna im Badezimmer beobachtet, ist also mit der Großmutter im nun erreichten vierten Lebensalter nicht mehr möglich! (Hk 85). 94 Vgl. dazu beispielsweise ein Kommentar der Erzählerin zur Geschichte eines als heldenhaft eingestuften Bekannten, die der Großvater erzählt: „Mein Großvater blickte uns verschmitzt und amüsiert an. Er guckte nicht viel anders als früher, wenn er uns ein Märchen vorgelesen hatte: »An Drachen, Schlangen und Sümpfen vorbei machte sich unser junger Held auf den Weg.«“ (Hk 101) 95 Göckenjan, Das Alter würdigen, S. 103. <?page no="265"?> 263 kommenheit und Gebrechlichkeit“ 96 sind in dieser Figur nicht angelegt. Stattdessen wird der Großvater (und im Übrigen auch die Großmutter) als von einer Ideologie verblendet gezeigt, an der er trotz der schweren Kriegsverletzungen ein Leben lang festgehalten hat. Damit wird die Gattung des Alterslobes, der das Figurenmodell des alten Erzählers als Verkörperung von Weisheit und Zufriedenheit zuzurechnen ist, in Tanja Dückers’ Roman unterlaufen. Wie sich bereits in der Beziehung der Großeltern zueinander abzeichnet, dass die beiden kein zufriedenes Paar sind, sondern vermutlich nur aufgrund gesellschaftlicher Konventionen weiter in einem gemeinsamen Haushalt leben, so scheint ihnen der Einblick ins Wesentliche zu fehlen, sie sind überzeugte Nazis und gehören als solche zur Gruppe der unbelehrbaren Alten. Wie sich am Beispiel von Tanja Dückers’ Roman Himmelskörper gezeigt hat, bietet der deutsche Familienroman zu Beginn des neuen Jahrtausends eine Auseinandersetzung mit der komplexen deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Dabei stellt er verschiedene gegenwärtige Alterskonzepte dar, ohne eines zu favorisieren. Vielmehr ist ein Changieren zwischen einem Festhalten an überkommenen Rollen und einem Ausprobieren neuer Lebensformen zu beobachten, das bislang lediglich das Scheitern des traditionellen Familienmodells bestätigt. Da in In Tanja Dückers’ Roman wird die These entwickelt, dass die junge Generation infolge des kulturellen Wandels die Rollenmodelle der Eltern- und Großelterngeneration nicht übernehmen kann. Dies ist auch nicht erforderlich, denn für die junge Generation handelt es sich um ein ergebnisoffenes Zukunftsprojekt, in dem neue Rollenmodelle erprobt werden. Tanja Dückers thematisiert das allmähliche Fragwürdigwerden des Familien- und Ehekonzepts am Beispiel einer nach außen hin intakten Familie. Sowohl die Eltern als auch die Großeltern werden wiederholt in der Paarbeziehung vorgestellt. Mit Kathrin Schmidts Roman Die Gunnar- Lennefsen-Expedition 97 möchte ich zum Vergleich einen kurzen Blick auf einen Familienroman werfen, in dem ebenfalls die weibliche Genealogie im Vordergrund steht, die durch das Fehlen einer starken Männergeneration besondere Bedeutung gewinnt. 96 Aleida Assmann: Was ist Weisheit? Wegmarken in einem weiten Feld. In: dies., Weisheit. Archäologie der literarischen Kommunikation III. München 1991, S. 15-44, hier S.17. 97 Kathrin Schmidt, Die Gunnar-Lennefsen-Expedition. Roman. München 2000. Seitenangaben mit dem Kürzel „GLE“ beziehen sich auf diese Ausgabe. <?page no="266"?> 264 4.3 Eine andere weibliche Genealogie: Kathrin Schmidt Die Gunnar-Lennefsen-Expedition 98 Kathrin Schmidt behandelt eine ähnliche Thematik wie Tanja Dückers. Die Erkundung der Familiengeschichte wird hier durch die schwangere Josepha vorangetrieben. Allerdings wird kein zähes Ringen um die Deutungshoheit im Kontext der familiären Erinnerung gezeigt, sondern eine Reise durch die (Familien-)Geschichte des 20. Jahrhunderts als Gemeinschaftserlebnis der Urenkelin mit ihrer Urgroßmutter Therese. Die Romanhandlung ist in der DDR der 1970er Jahre angesiedelt. In der Gunnar- Lennefsen-Expedition steht damit zum einen die Weitergabe von weiblichem Erfahrungswissen im Fokus, zum anderen endet der phantastische Roman mit dem utopischen Bild der Flucht Josephas mit ihrem Baby aus der DDR. Dazu nutzt sie eine von der Urgroßmutter genähte Kugel, die die Urgroßmutter mit ihrem letzten Lebenshauch auf die Reise schickt. In diesem Bild symbolisiert Schmidt den geglückten Emanzipationsprozess, der aber nur aufgrund der Integration der Erfahrung der weiblichen Ahnen glücken kann. Diese konsequente Fortführung des Emanzipationsgedankens fehlt bei Dückers, weist aber den Weg zum Verständnis von Schmidts weiblicher Familiengeschichte. Die Frauen der Familie Schlupfburg in Kathrin Schmidts 1998 erschienenem Debütroman Die Gunnar-Lennefsen-Expedition zeichnen sich durch eine ungewöhnliche Form der Sensorik aus. Neben der Imagination der Zukunft durch Gerüche, taktile und visuelle Eindrücke ist es vor allem der Blick der Frauen, der die Wahrnehmung von Unsichtbarem ermöglicht. So mustert Josepha bei einer Klassenfahrt in der Moskauer Metro die Umstehenden mit einem „Blick, der keiner zu sein scheint“ (GLE 46). Diese Formulierung spielt darauf an, dass für die Betrachter im geöffneten Auge Josephas nur das Weiß des Augapfels zu sehen ist. Josepha selbst aber kann auf diese Weise mehr aufnehmen als die üblichen, an der Oberfläche bleibenden visuellen Eindrücke. Sie sieht durch die Kleider der Umstehenden hindurch, vergleicht schwarze und weiße Männer und registriert sexuelle Erregung. Eine andere Variante des Schlupfburgschen Blicks wendet ihre Großmutter Ottilie an. Sie richtet eher erstaunte denn wissende Augen auf einen Punkt in der Ferne [...], der immer näher zu kommen scheint und sich, als er etwa zwei Meter vor ihrer Nasenwurzel steht, als Abbild eines männlichen Neugeborenen entpuppt. 98 Bei den folgenden Ausführungen handelt es sich um einen stark überarbeiteten und an die Fragestellung des vorliegenden Kapitels angepassten Aufsatz. Dieser erschien unter dem Titel: »Jungsein im Altwerden«. Die ›Neue alte Frau‹ in Kathrin Schmidts Roman Die Gunnar-Lennefsen-Expedition. In: Altern ist anders: Gelebte Träume - Facetten einer neuen Alterskultur. Hrsg. vom InitiativForum Generationenvertrag (IFG) an der Universität zu Köln. Hamburg 2007, S. 235-256. <?page no="267"?> 265 Ottilie Wilczinski beginnt zu schielen, bis das Bild des Kindes durch die Pupillen hindurch ihren Körper erreicht, das Chiasma opticum passiert und sich als Gewißheit in ihrem Hirn einnistet: Sie ist schwanger. Sie spürt, wie sich der Keim in ihrem Bauch zur Morula teilt, und sie weiß, es wird noch viel, viel dicker kommen. (GLE 35) Weibliche Ahnungen und Körperbewusstsein, die auf die lange Zeit postulierte Natürlichkeit der Frau verweisen, werden in diesem Roman durch phantastische Schreibweisen hinterfragt. Die Verbindung von im Text als weiblich markierten Eigenschaften mit einer besonderen Art des (erkennenden) Sehens kann als literarische Bearbeitung von Sigrid Weigels theoretischen Überlegungen zur weiblichen Schreibpraxis gelesen werden. Die Kulturwissenschaftlerin fand für die Produktionsbedingungen, denen Frauen im Patriarchat ausgesetzt waren und sind, den metaphorischen Titel Der schielende Blick 99 . Literaturtheoretische Überlegungen zu einem neuen Frauenbild Sigrid Weigel arbeitet in ihrem Ende der 1970er Jahre entstandenen Aufsatz heraus, dass Frauen, wenn es ihnen in den vergangenen Jahrhunderten überhaupt möglich war, schriftstellerisch tätig zu sein, von männlichen Lesern und lektorierenden Vätern und Ehemännern abhängig waren. Daher sind „ihre Inhalte und Erzählformen [...] nicht umstandslos als originäre weibliche Ausdrucksformen zu beschreiben, sondern als Bewegungsversuche innerhalb der männlichen Kultur und als Befreiungsschritte daraus.“ 100 Unabhängige Frauenbilder 101 und weibliche Identitätsentwürfe konnten in diesem Umfeld nicht entstehen. Diese historisch eingeübte Sichtweise des männlichen Blicks auf sich selbst kann frau nur dann vollständig überwinden, wenn sich die „Frauenproblematik als Thema erübrigt, nämlich erledigt hat“. 102 In der Übergangsphase, in der wir uns - wie die täglichen Diskussionen um Geburtenzahlen, Krippenplätze oder die Erwartungen an Frauen, ihre Angehörige zu pflegen - immer noch befinden, bedarf es laut Sigrid Weigel der besonderen Aufmerksamkeit (schreibender) Frauen. Sie müssen ständig die gesellschaftliche Entwicklung von Frauenbildern, aber auch die Frauenfrage und damit die Erarbeitung eines weiblichen Selbstverständnisses im Blick haben. Da beide Weiblichkeitsentwürfe noch weit voneinander entfernt 99 Sigrid Weigel: Der schielende Blick. Thesen zur Geschichte weiblicher Schreibpraxis. In: Die verborgene Frau: sechs Beiträge zu einer feministischen Literaturwissenschaft. Hrsg. von Inge Stephan und Sigrid Weigel. 2. Aufl. Berlin 1985, S. 83-137. 100 Ebd., S. 87. 101 Der Begriff des Frauenbildes ist in der Forschung etabliert. Deshalb wird er im Folgenden trotz der im Forschungsüberblick zum Altersbild festgestellten Fragwürdigkeit des Bildbegriffs verwandt. 102 Weigel, Der schielende Blick, S. 104. <?page no="268"?> 266 sind, bedarf es eines „schielenden Blicks“, um zwischen beiden zu vermitteln. Die Vermittlung zwischen gesellschaftlichen Frauenbildern und weiblichem Selbstverständnis, die Weigel mit diesem Konzept einfordert und die in ferner Zukunft eine Gesellschaft verheißt, in der es keine notwendige Differenz zwischen beiden Geschlechtern geben wird, spielt auch in Kathrin Schmidts Roman eine wesentliche Rolle. Sie unterläuft in der Konzeption der Schlupfburgfrauen traditionelle Weiblichkeitskonzepte, indem sie bekannte Muster aufgreift und umschreibt. 103 Damit liefert sie einen Beitrag zur Herausbildung eines neuen Frauenbildes. Grundlegende Veränderungen gesellschaftlicher Rollenbilder werden gerne mit dem Adjektiv ›neu‹ gekennzeichnet. Finden sich gegenwärtig in den Medien häufig die ›neuen Alten‹ 104 , so wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts die ›Neue Frau‹ zum Leitbild erklärt. Das literaturwissenschaftliche Konzept der ›neuen Frau‹ findet sich erstmals in den sogenannten Goldenen Zwanzigern. Es entstand in Auseinandersetzung mit dem von der ersten Frauenbewegung Ende des 19. Jahrhunderts angeprangerten Ideal einer gefühlsbetonten, passiven und rechtlosen Weiblichkeit. Das Modell der ›neuen Frau‹ entwarf dagegen das Bild einer ledigen und selbstbewussten jungen Frau. 105 Diese zeichnet sich dadurch aus, dass sie aufgrund ihrer Berufstätigkeit ökonomisch unabhängig ist. Diese Ungebundenheit schlägt sich in einem neuen Lebensgefühl ebenso nieder wie in dem Erscheinungsbild, das durch Bubikopf, sachliche Kleidung und männlich besetzte Accessoires bestimmt ist. 106 Zwar handelt es sich bei dem Konzept der ›Neuen Frau‹ in erster Linie um ein in Massenmedien und 103 Vgl. Claudia Berger, die auf die Verwendung verschiedener feministischer Diskurse im Roman hinweist, aber lediglich das Konzept der Mimikry von Luce Irigaray näher ausführt. Claudia Berger: Postmoderne Inszenierungen von Gender in der Literatur: Meinecke, Schmidt, Roes. In: Räume der literarischen Postmoderne: Gender, Performativität, Globalisierung. Hrsg. von Paul Michael Lützeler. Tübingen 2000, S. 97-126, hier S. 108f. 104 Auch in der Forschungsliteratur findet sich immer wieder der Begriff der „Neuen Alten“. Vgl. hierzu beispielsweise Die ›neuen Alten‹ - revisited. Kaffeefahrten - freiwilliges Engagement - neue Alterskultur - intergenerative Projekte. Hrsg. von Fred Karl und Kirsten Aner. Kassel 2003. 105 Vgl. beispielsweise: Vicky Baum: Stud. chem. Helene Willfüer. Roman. München 1960 [EA 1929]; Rudolf Braune: Das Mädchen an der Orga privat. Roman. Frankfurt a.M. 2002 [EA 1930]; Irmgard Keun: Gilgi - eine von uns. Roman. Düsseldorf 1979 [EA 1931]; Marieluise Fleißer: Mehlreisende Frieda Geier. Roman vom Rauchen, Sporteln, Lieben und Verkaufen. Berlin 1931. 106 Gesa Kessemeier: Sportlich, sachlich, männlich: das Bild der ›Neuen Frau‹ in den Zwanziger Jahren. Zur Konstruktion geschlechtsspezifischer Körperbilder in der Mode der Jahre 1920 bis 1929. Dortmund 2000, S. 18-25. <?page no="269"?> 267 Literatur propagiertes, neues Weiblichkeitskonzept, 107 dennoch hatte dieses auch Auswirkungen auf den Alltag der Frauen, auch wenn es nicht eins zu eins umgesetzt wurde. In der Gunnar-Lennefsen-Expedition wird dieses Konzept und damit der Wandel von Geschlechterrollen nicht, wie das meist in Familienromanen der Fall ist, vom jüngsten Familienmitglied repräsentiert. Die dreiundzwanzig Jahre alte Josepha Schlupfburg steht zwar in der Tradition des in den 1920er Jahren entwickelten Konzepts der ›Neuen Frau‹ - wie Irmgard Keuns Protagonistin Gilgi 108 oder Vicky Baums Studentin Helene Willfüer 109 ist sie burschikos, verdient selbstständig ihren Lebensunterhalt, ist emanzipiert, lebt ihre sexuellen Wünsche aus und wird ungewollt schwanger - aber für sie stellt diese Form des Lebens keine Besonderheit dar. Sie steht damit in einer langen familiären Tradition. Bereits ihre Ururgroßmutter Agathe unterläuft das Konzept der bürgerlichen Familie, indem sie in ›wilder Ehe‹ elf Kinder zeugt und gemeinsam mit dem Vater aufzieht (GLE 27). Dies hindert Agathe und ihren Mann aber nicht, ihre Tochter Therese, die Urgroßmutter von Josepha, dazu zu nötigen, eine Konvenienzehe mit dem 32 Jahre älteren Adolf Erbs einzugehen. Bereits in dieser Episode aus Thereses Leben deutet sich an, dass die Frauen nicht bereit sind, die Prägung des gesellschaftlich dominanten Frauenbildes und die Unterdrückung weiblicher Bedürfnisse durch Männer weiter unwidersprochen hinzunehmen. Bevor sich Therese ihrem Bräutigam zeigt, spuckt sie in den Spiegel, in dem sie sich zuvor selbst betrachtet hat (GLE 48f.). Diese Veränderung ihres Spiegelbildes verweist einerseits auf ihre Unzufriedenheit mit ihrer Abhängigkeit von Eltern und ausgewähltem Bräutigam. Andererseits zeigt das Spiegelbild damit auch die Selbstentfremdung der jungen Frau, die mit dem Eingriff in ihre Persönlichkeitsrechte durch die arrangierte Ehe ihren Anfang nimmt. Es ist der jungen Therese bewusst, dass der wesentlich ältere Mann in ihr nicht einen liebenswerten Menschen sucht, sondern sie lediglich als Mittel zur Befriedigung seiner männlichen Lüste sieht. Damit rückt die Figur des Alfred Erbs in die Nähe zum Figurenmodell des Lustgreises. Durch ihre magischen Fähigkeiten wird Therese fortan mit seinen Wünschen spielen, indem sie ihre sechsjährige Tochter Ottilie das Aussehen einer sechzehnjährigen Frau annehmen lässt (GLE 50f.) und ihn durch dieses Spiel mit seiner Erregung angesichts der sechsjährigen Stieftochter in den Wahnsinn treibt. Damit verweist Kathrin Schmidt in der Metapher des zerstörten Spiegelbildes, analog zu Sigrid Weigels Hinweis, dass die Metapher des Spie- 107 Andrea Capovilla: Fiktionalisierung der ›Neuen Frau‹ im Kontext der Neuen Sachlichkeit. In: Geschlechter. Essays zur Gegenwartsliteratur. Hrsg. von Friedbert Aspetsberger und Konstanze Fliedl. Innsbruck 2001, S. 96-113, hier S. 97. 108 Keun, Gilgi. 109 Baum, Helene Willfüer. <?page no="270"?> 268 gelbildes nicht für ein neues Frauenbild taugt, auf den Bedarf an neuen Identifikationsmustern für junge Frauen. Erst Thereses Urenkelin ist diejenige, die von dem Kampf ihrer Ahninnen profitiert. Daher ist auch das Verhältnis zum Vater ihres Kindes, das für die ›neuen Frauen‹ immer eine zentrale Frage war, an der sich der tatsächliche Grad der Emanzipation messen ließ, kein wirkliches Problem. Der Vater des Kindes ist ein Student aus Angola. Er kehrt bereits nach der ersten gemeinsamen Nacht wieder in seine Heimat zurück. Es ist daher von Anfang an offenkundig, dass Josepha ihr Kind allein erziehen wird. Wichtiger, als ihr Kind in einer intakten Kleinfamilie aufwachsen zu lassen, ist für Josepha, dem Kind eine Geschichte zu geben, es in eine Familientradition zu stellen. Damit unterscheidet sich der Roman insofern von Tanja Dückers’ Familienentwurf, als das Konzept der Kleinfamilie ebenso wenig eine Rolle spielt wie die Frage, welchen Stellenwert die Ehe, verstanden als lebenslange Gemeinschaft, in der Gegenwart noch haben kann. Die Familie wird vielmehr als Schicksalsgemeinschaft verstanden, deren Erlebnisse und Erfahrungen unbewusst das eigene Leben prägen. Die Erkundung der Familiengeschichte steht daher auch im Zentrum des Romans. Da sie als bislang jüngstes Mitglied der Sippe diesen Ausflug in die familiäre Vergangenheit nicht alleine unternehmen kann, schließt sie sich mit dem ältesten lebenden Familienmitglied zusammen, ihrer Urgroßmutter Therese. Diese ist auch die weibliche Figur, - so meine These - die das Konzept der ›Neuen Frau‹ im Text auf eine neue Weise repräsentiert. 110 Damit ist auch das zentrale Moment meiner Überlegungen zu Kathrin Schmidts Roman angesprochen. Dieser entwirft kein neues Leitbild für junge Frauen, sondern entwickelt ein positives Alterskonzept für älter werdende Frauen. Untersuchungen zum Konzept der ›Neuen Frau‹ in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts haben gezeigt, dass für die Literatur die ikonische Beeinflussung durch die damals neuen Massenmedien eine wichtige Rolle spielte. 111 Analysiert man die mediale Präsenz älterer Frauen, so fällt auf, dass diese in den bildbasierten Medien unterrepräsentiert sind. 112 Da der alternde 110 Vgl. Friederike Eigler: Gedächtnis und Geschichte in Generationenromanen seit der Wende. Berlin 2005, S. 114f. Friederike Eigler bemerkt in ihrer Interpretation, dass Kathrin Schmidt traditionelle Weiblichkeitsbilder evoziert, um sie dann zu unterlaufen. Sie weist aber in erster Linie nach, dass das Mutterbild der Nationalsozialisten aufgebrochen und die patriarchale Lebensform hinterfragt wird. Die Darstellung der lustvollen, nicht negativ konnotierten Alten wird nicht weiter untersucht. 111 Irmgard Roebling: ›Haarschnitt ist noch nicht Freiheit.‹ Das Ringen um Bilder der Neuen Frau in Texten von Autorinnen und Autoren der Weimarer Republik. In: Jahrbuch zur Literatur der Weimarer Republik 5 (1999/ 2000), S. 13-76. 112 Vgl. Bärbel Kühne: Wrinkled ... Wonderful? Eine semiotische Erkundung neuer Altersbilder in der Werbung. In: Alter und Geschlecht. Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s. Hrsg. von Heike Hartung. Bielefeld 2005, S. 253-274; Susanne Frohriep, Hans W. Jürgens, Robin Lohmann: Das Bild des Alters in der Werbung. In: <?page no="271"?> 269 Körper bei vielen Betrachtern negative Assoziationen zu wecken scheint, schreckt man in der Werbeindustrie davor zurück, alte Frauen zu zeigen. 113 Gegenüber der visuellen Repräsentation eines alten Menschen ist die Altersrepräsentation in Texten daher insofern von Vorteil, als sprachliche Beschreibungen immer mit Leerstellen arbeiten. Selbst eine sehr detaillierte Schilderung ist nicht darauf angewiesen, jedes kleinste Merkmal des Körpers zu erfassen, weil der Leser aufgrund seines Weltwissens die einzelnen Merkmale zu einem Bild zusammenfügt. 114 Die sprachliche Altersrepräsentation hat aufgrund von texttypischen Leerstellen die Chance, von den Lesern angenommen zu werden und über die Imagination Eingang in das öffentliche Bewusstsein zu finden. Da, um ein imaginäres Bild eines alten Menschen zu erzeugen, nicht unbedingt der gesamte Körper in allen seinen (als unangenehm empfundenen) Einzelheiten beschrieben werden muss, ist die Annäherung in diesem textbasierten Medium einfacher. Ob sich diese These halten lässt, müssen umfassende Forschungen erweisen. Im Folgenden werde ich untersuchen, welches Alterskonzept in Abhängigkeit vom Figurenmodell der ›Neuen alten Frau‹ in der Gunnar- Lennefsen-Expedition entworfen wird und wie dieses im Genre des Familienromans zu verorten ist. Späte Freiheiten. Geschichten vom Altern, neue Lebensformen im Alter. Hrsg. von Hans- Liudger Dienel, u.a. München, London, New York 2000, S. 115-120. Von Interesse wäre in diesem Zusammenhang ein interdisziplinärer Ansatz, der die Darstellung alter Frauen in Plastiken und Tafelbildern mit anderen bildlichen Quellen synchron und diachron vergleicht. Es stellt sich in diesem Kontext die Frage, wie moralische Wertungen vermieden werden können bzw. ob sie vom Künstler angelegt sind. 113 Natürlich gibt es hier Gegenbeispiele, wie die sehr erfolgreichen Werbekampagnen von Nivea und Dove zeigen, die mit dem Bild des alten Körpers für ihre Produkte werben. Bezeichnenderweise handelt es sich dabei aber meist um Pflegeprodukte für die älter werdende Frau. 114 Vgl. hierzu die Besprechung zu Andreas Dresens Film Wolke 9 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Gerade die körperliche Präsenz der älteren Schauspieler wird von dem Rezensenten als problematisch empfunden: „Inge geht mit einer geänderten Hose bei Karl vorbei, murmelt wenig überzeugend, sie sei grade in der Gegend gewesen, und aus der Anprobe ergibt sich fast ansatzlos leidenschaftlicher Sex; der Bildhintergrund ist gleißend weiß, man sieht welkes Fleisch und Altersflecken, hängende Brüste und tiefe Falten statt jener turbogestylten Benutzeroberflächen, in welchen das Mainstream-Kino wie die Pornoindustrie den menschlichen Körper verwandelt haben [...].“ Der Rezension ist anzumerken, dass die Betrachtung der alten Körper den Journalisten nicht erfreut hat. Die Lektüre einer ähnlichen Textstelle könnte auf völlig andere Weise rezipiert werden. Peter Körte: Siebzig, verschmäht. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 31.08.2008. <?page no="272"?> 270 Die Romanhandlung Wie bei Tanja Dückers’ Roman Himmelskörper handelt es sich auch bei der 1998 veröffentlichten Gunnar-Lennefsen-Expedition um einen nachforschenden Familienroman. Beiden Romanen gemeinsam ist die Geburt eines Kindes als Auslöser für die Recherche im familiären Gedächtnis. Im Unterschied zu Dückers’ Roman dringen Kathrin Schmidts Protagonisten wesentlich tiefer in dieses Feld ein. Es wird nicht nach einem ungeklärten Ereignis geforscht, sondern es werden ganze Biographien entwickelt und im familiären Netz verortet. Damit entwirft Kathrin Schmidt mit ihrer Familie Schlupfburg ein Panorama der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Im Gegensatz zum historischen und räumlichen Panorama, das der Roman entwickelt, ist die Handlung in der Gegenwart des Jahres 1976 sehr beengt. Der Roman spielt in der thüringischen Kleinstadt W. Der Alltag der Protagonistinnen ist durch die materiellen wie geistigen Beschränkungen des DDR-Alltags gekennzeichnet. Aus dieser Enge brechen die Protagonistinnen, die achtzigjährige Therese und ihre Urenkelin Josepha Schlupfburg, in die Familiengeschichte auf, zu einer Reise in die Vergangenheit, die Licht ins familiäre Dunkel bringen soll. Die gemeinsame Unternehmung erhält den Namen ›Gunnar-Lennefsen-Expedition‹. Bei dieser handelt es sich nicht um eine reale, sondern um eine imaginäre Entdeckungsreise. Diese findet im Wohnzimmer der beiden Frauen statt: Die Frauen fallen sich nach laugendem Tanz in die Arme, wippen den Nachmittag aus in der Küche, kochen sich Kartoffel mit Zwiebel und Butter, machen sich dicht, indem sie die Vorhänge zuziehen, die Liddeckel schließen. Therese endlich im Ohrensessel, Josepha kauernd neben dem Expeditionsgepäck - Gunnar Lennefsen ruft, Therese antwortet mit dem Wort KNOPF- SCHACHTEL, das sie heute nicht aussprechen kann, sondern mit geriebenem Käse aufs Plastparkett streut. Sogleich spannt sich die imaginäre Leinwand, es scheppert, und der Inhalt einer voluminösen Knopfschachtel befällt den Zimmerfußboden, quirlt den Schriftzug aus geriebenem Käse durcheinander. Die Schachtel ist den Händen der Carola Hebenstreit geb. Wilczinski entglitten, als ihrem urplötzlich sich auftuenden Schoß ein untergewichtiges Zwillingspaar entfuhr. Man schreibt den 27. Januar 1925. (GLE 77) Diese phantastische Erzählweise ist charakteristisch für den Roman, der zwischen einer detaillierten Alltagsschilderung und surrealen Elementen changiert. In der Erzählgegenwart arbeitet Josepha als Druckerin im VEB Kalender und Büroartikel Max Papp und lebt mit ihrer Urgroßmutter Therese zusammen, da die beiden dazwischenliegenden Generationen, repräsentiert durch Thereses Kinder Ottilie und Fritz und Ottilies Sohn Rudolph, durch den Zweiten Weltkrieg, bzw. durch die Tätigkeit der Staatssicherheit von Therese getrennt wurden. Die Erzählergegenwart ist zeitlich auf einen nicht näher definierten Zeitpunkt nach der Wende ver- <?page no="273"?> 271 lagert. Der Roman beginnt mit der Feststellung von Josephas Schwangerschaft, die neun Schwangerschaftsmonate dienen als Gliederungselement für den sehr umfangreichen Text. Die ›Gunnar-Lennefsen-Expedition‹, die dem Roman den Namen gibt, hat keine reale Forschungsreise zum Vorbild. Als Äquivalent zu männlichen Entdeckungsreisen soll sie mit Hilfe einer imaginären Leinwand einen Vorstoß in den „äußersten Norden ihrer weiblichen Gedächtnisse“ (GLE 18) ermöglichen und verknüpft die Gegenwart des Jahres 1976 mit Episoden aus der Familiengeschichte. Damit liefert Kathrin Schmidt nicht nur einen Streifzug durch die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts, sondern gibt auch einen Überblick über die Biographie Thereses und die weibliche Genealogie. Mit Hilfe der Expedition kommt es zur Kontaktaufnahme mit der seit der Flucht vor der russischen Armee im Jahr 1945 verschollenen Ottilie, die als Witwe im bayrischen N. lebt und im Verlauf des Romans nach einer nur drei Monate dauernden Schwangerschaft im sensationellen Alter von sechzig Jahren ein gesundes Kind zur Welt bringt. Die achtzigjährige Therese nimmt die Position des alten Patriarchen im Familienroman ein. Dies ist unter anderem dadurch möglich, dass es in der Familie wenige Männer gibt. Nach der Hochzeit mit dem wesentlich älteren Alfred Erbs, der Geburt eines Sohnes und dem Tod des Mannes an einer Form des demenziellen Wahnsinns, heiratet Therese nicht wieder. Sie lässt vielmehr die Ehe annullieren, um die Erinnerung an diese Episode ihres Lebens zu verdrängen. Allerdings sind ihre Dominanz und ihre Versuche, die Familie zu beherrschen, in mittleren Jahren so groß gewesen, dass sie am Ende allein mit ihrer Urenkelin lebt und der Kontakt zur weitverzweigten Großfamilie weitgehend abgebrochen ist. Dieser wird erst durch die ›Gunnar-Lennefsen-Expedition‹ wieder hergestellt, scheitert aber auch hier aufgrund unterschiedlicher Lebenskonzepte. Die Figur der Urgroßmutter Therese als Verkörperung der ›Neuen alten Frau‹ Die von Therese und Josepha gemeinsam angetretene ›Gunnar-Lennefsen- Expedition‹ umfasst insgesamt elf Etappen und dauert neun Monate. Während der zehnten Etappe erscheint Therese als Sechzigjährige auf der Leinwand. In diesem Alter ist ihre Nähe zu traditionellen Zuschreibungen der Großmutterrolle am größten. Sie wird zur schönen Alten und faszinierenden Erzählerin, 115 wenn sich ihr Enkel Rudolph, der nach dem Verschwinden seiner Mutter Ottilie „an einer Wegbiegung zwischen den Orten Wuschken und Ruschken“ (GLE 13) bei Therese aufgewachsen ist, an ihre Fähigkeit erinnert, durch die Imagination von Ottilie und das 115 Vgl. Göckenjan, Das Alter würdigen, S. 202ff., dem zufolge dies zwei zentrale Elemente der im 19. Jahrhundert entworfenen Großmutterrolle sind. <?page no="274"?> 272 Erzählen von Geschichten auf wundersame Weise über den Verlust der Mutter hinwegzutrösten. Aber der „Schein des Zauberischen“ (GLE 324) verliert sich, als der Junge älter wird. Da Rudolphs Frau kurz nach der Geburt der ersten Tochter und Urenkelin Thereses stirbt, ist dieser zudem auf die Unterstützung Thereses bei der Kinderbetreuung und -pflege angewiesen. Therese versucht fortan, mit „Herrschsucht und Männerverachtung“ (GLE 353) ihre Dominanz über Enkel und Urenkelin ohne Rücksicht auf deren Gefühle zu behaupten. In solchen Momenten wird sie als zänkische Alte dargestellt, sie „hadert in einem ihrer beinahe alltäglich gewordenen Vorträge mit männlicher Triebhaftigkeit im allgemeinen und der Schlupfburgschen Ficklust im besonderen.“ (GLE 328) Wie kann Therese zum Inbegriff eines neuen Alterskonzeptes werden, wenn sie zwei so zentrale Momente traditioneller Altersrepräsentationen in sich vereint? In ihrem Verhältnis zu Josepha in der zwanzig Jahre später spielenden Erzählgegenwart des Jahres 1976 ist der Einfluss dieser Alterskonzepte relativ gering. Therese hat eine Entwicklung durchlebt, die ihr einen anderen Umgang mit der schwangeren Enkelin ermöglicht. Worin Thereses Veränderung besteht, werde ich im Folgenden darlegen. Grundvoraussetzung für den Wandel in der Repräsentation alter Frauen in der Literatur scheinen mir neben den grundlegenden Veränderungen im weiblichen Lebenslauf im 20. Jahrhundert, wie sie am Beispiel von Martin Walsers Roman Der Lebenslauf der Liebe für die Bundesrepublik dargestellt wurden, 116 auch in der Deutschen Demokratischen Republik die ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen gewesen zu sein. 117 Therese ist, auch wenn im Roman keine Hinweise auf eine berufliche Tätigkeit zu finden sind, finanziell unabhängig. Sie ist eingebunden in ein soziales Netz, das nicht nur aus Verwandten, sondern auch aus verschiedenen Freundinnen und Bekannten besteht. Zudem bietet die Ortsgruppe der Volkssolidarität alten Menschen die Möglichkeit, neue Kontakte zu knüpfen. Auf der einen Seite ist mit dieser Einrichtung also die Möglichkeit gegeben, der Vereinsamung alter Menschen entgegenzuwirken. Sie werden durch die Chance, die eine ehrenamtliche Tätigkeit bietet, selbst aufgefordert, aktiv ihren Alltag zu gestalten. Auf der anderen Seite wird diese Form der ›Rentnerbelustigung‹, die in erster Linie im gemeinsamen Nachmittagskaffee oder Ausflügen in die nähere Umgebung besteht (vgl. GLE 337f.), vom Erzähler auch ironisch kommentiert. Diese Freizeitkultur fördert allerdings weniger die Erlebnis-Alten, wie sie in den letzten Jahren verstärkt von der Presse präsentiert werden. 118 Vielmehr wurden diese 116 Vgl. Teil II Kapitel 3.2. 117 Hier zeigt sich die Emanzipation der Frau auch dadurch, dass alle Frauen einem Beruf nachgehen und, wie Josephas Meisterin, auch in Führungspositionen gelangen können. 118 Vgl. Göckenjan, Das Alter würdigen, S. 425. <?page no="275"?> 273 Veranstaltungen entwickelt, „ohne der Kraft zu achten, die hinter den faltigen Stirnen zu Hause ist“ (GLE 336). Dieser Erzählerkommentar verweist darauf, dass die Freizeitveranstaltungen nicht nur zur Unterhaltung der älteren Mitbürger dienen, sondern zugleich zu deren Kontrolle genutzt werden sollen. Dadurch, dass der auktoriale Erzähler darauf anspielt, dass auch alte Menschen durchaus noch in der Lage sind, sich gewinnbringend in eine Gemeinschaft einzubringen und nicht nur als Konsumenten betrachtet werden, werden sie auch zur Gefahr für ein totalitäres System. Denn gerade ihr tatkräftiges Handeln und ihre Phantasie sind es, die von Therese für sinnvolle und damit befriedigende Aufgaben eingesetzt werden. Jedoch verfolgt sie keine politischen Ziele, sondern übernimmt z.B. die Funktion einer Sozialarbeiterin und unterstützt eine mehrfache junge Mutter, indem sie sie regelmäßig besucht, mit Kondomen versorgt und ihre kleinen Kinder regelmäßig bei sich aufnimmt (GLE 241f.). Hier zeigt sich nicht nur eine für Therese charakteristische Solidarität unter Frauen, sondern diese Hilfeleistung, die vom Erzähler mit der „Häme der Nachbarn“ (GLE 241) kontrastiert wird, verweist auf einen anderen zentralen Aspekt des Alterskonzeptes: Ihr selbstbestimmtes Handeln ist durch eine Unabhängigkeit von den Normen und Konventionen der Gesellschaft charakterisiert und von einem natürlichen Gefühl des Zusammenhalts geleitet. Zwar kennzeichnet dieses Verhalten auch die junge Josepha, die sehr selbstbewusst das Agieren der Staatssicherheit und das Wegschauen der DDR-Bürger anprangert, doch an der Figur der Therese wird vorgeführt, dass es nicht immer möglich ist, gesellschaftlichen Zwängen zu entgehen. Die „Häme der Nachbarn“ kann durchaus auch darauf zurückgeführt werden, dass Therese selbst ein recht unkonventionelles Leben lebt. Nach der kurzen und unbefriedigenden Ehe mit dem zweiunddreißig Jahre älteren Adolf Erbs lebte sie ohne einen Mann an ihrer Seite. Stattdessen hat sie die Verantwortung für den unehelichen Sohn ihrer Tochter Ottilie und für die Erziehung ihrer mutterlosen Urenkelin Josepha übernommen. Das unkonventionelle Leben in Kombination mit der Übernahme von Verantwortung für schwächere Mitglieder der Gemeinschaft sind damit zwei Element des Figurenmodells der ›neuen alten Frau‹. Dabei werden die alten Frauenfiguren aber nicht zu Heldinnen stilisiert, sondern in der Ambivalenz, die ein langes Leben mit sich bringt, vorgeführt. So versagte Therese z.B., als ihr Sohn Fritz darunter litt, einem Wehrmachtskommando zugeordnet zu sein, das zur Tötung von jüdischen Frauen und Kindern abkommandiert war (vgl. GLE 166f.). Auch hat sie ihrem Enkel Rudolph nicht beigestanden, als dieser aufgrund seiner Beziehung zu seiner zweiten Frau von der Staatsicherheit bespitzelt wurde. Vielmehr hat sie die Trennung von Vater und Tochter vorangetrieben und selbst der Stasi zugearbeitet (vgl. GLE 326-329). In Passagen, die auf Thereses schuldhafte Verstrickung in die deutsche Geschichte verweisen, <?page no="276"?> 274 wird nicht nur die deutsche Vergangenheit aufgearbeitet. Es wird auch gezeigt, dass Menschen schuldig wurden, weil sie dem Druck von außen nicht standhalten konnten bzw. im Angesicht der Schuld anderer nicht in der Lage waren, darauf in angemessener Weise zu reagieren. 119 Therese durchlebt im Verlauf des Romans und der mit Josepha angetretene Expedition in die Vergangenheit einen sehr schmerzhaften Prozess der Auseinandersetzung mit den eigenen Fehlern. Die ›Gunnar- Lennefsen-Expedition‹ ist für die Greisin Lebensrückblick und Lebensbeichte zugleich. Gerade diese Bereitschaft, sich mit der eigenen Biographie auseinanderzusetzen und nicht nur die positiven Erlebnisse und Handlungen an die Urenkelin weiterzugeben, macht sie zu einem positiven Vorbild. Dabei verhindert Thereses grundsätzlich positive Lebenseinstellung ein Abgleiten in Depression oder Melancholie. Die Vergangenheitsbewältigung spielt nicht nur eine wichtige Rolle im Verhältnis zu ihrer Urenkelin, sondern auch für die Entwicklung der achtzigjährigen Therese. Es wird ihr durch das gemeinsame Nacherleben der Familiengeschichte mit Josepha bewusst, was sie alles verdrängt hat. Neben der verunglückten Beziehung zu ihrem Sohn spielt vor allem der Schock, den die kurze Ehe mit dem zweiunddreißig Jahre älteren Adolf Erbs bedeutet hat, eine wichtige Rolle. Erst durch die Expedition in die Vergangenheit gelingt es Therese, dieses Trauma zu überwinden, eine neue Identität herauszubilden und wieder ein ›normales‹ Verhältnis zu ihrem Körper und den männlichen Familienmitgliedern zu entwickeln. „So einen feinen Mann noch mal küssen dürfen und einkehren lassen“ 120 - die letzte Liebe Die Konfrontation mit dieser unglücklichen Ehe und die Aufarbeitung verdrängter Erfahrungen ist die Voraussetzung dafür, dass Therese sich lange unterdrückte sexuelle Wünsche eingesteht. Dies hat zur Folge, dass sie sehr gezielt nach einem Mann Ausschau hält, mit dem sie diese ausleben kann (vgl. GLE 211). Damit betont Kathrin Schmidt einen für ein neues Alterskonzept wichtigen Aspekt. Auch in diesem Roman wird die Vorstellung widerlegt, dass die Lebensphase Alter durch ein Nachlassen des sinnlichen Begehrens gekennzeichnet ist. Sehr nachdrücklich wird herausgestellt, dass Therese sich im Gegenteil, wie das jungen Menschen zugestanden wird, nach körperlicher Nähe und Sexualität sehnt und diese damit als wesentliche Komponente von Lebensqualität auch von alten Menschen beansprucht wird. Dass das lustvolle Ausleben sexueller Wünsche auch in Thereses Umfeld nicht selbstverständlich ist, zeigt ein gedachter Dialog zwischen der Urgroßmutter Therese und ihrer Urenkelin 119 Vgl. Eigler, Gedächtnis und Geschichte, S.126ff. 120 GLE 219. <?page no="277"?> 275 Josepha, der kurz vor dem Eintreffen des „zweiundneunzigjährige[n] rüstige[n] Rentner[s] Richard Rund“ (GLE 214) stattfindet: Josepha verärgert sich über der augenscheinlichen Gleichgültigkeit, wo doch Therese schon Schweißtröpfchen zeigt in Erwartung des Rentners Rund. Mit welchen Dingen geht denn das zu, doch nicht mit rechten? Und der alberne Nachmittagskaffee im volkssolidarischen Klub, das ist lachhaft, Therese, wie du auf einmal nur noch an dich denkst! Therese denkt gegenteilig zurück: So einen feinen Mann noch mal küssen dürfen und einkehren lassen, das ist doch ein festlicher Anlaß, der eignen Tochter nachzueifern im Glück! Da bin ich doch gleich viel mehr bei der Sache, sie gut zu begrüßen und ihr ein Zuhause vorzustellen, das nicht nur aus weiblichen Körpern besteht. Wie konnte ich das vergessen? Jetzt, wo der alte Erbs so redlich begraben liegt im Ostdeutschen, unter einer Flut von Worten, werde ich doch wieder Spaß finden dürfen an der Blutfülle und den lebhaften Folgen, was meinst du, Josepha? Wie wir neulich nachts, der Richard und ich, [...] nach Hause gingen, wie er mich sozusagen heimbrachte nach der ersten Annäherung, da habe ich gespürt, daß es gehen möchte mit uns. (GLE 219) In dieser Textstelle ist eine nicht zu vernachlässigende Sichtweise auf die älteste Generation aus der Perspektive der jüngeren zu beobachten. Josepha wehrt sich gegen die Veränderung im Zusammenleben mit der Urgroßmutter, die sich durch die unerwartete Ankündigung des Liebhabers anbahnt. Der formulierte Vorwurf, keine Rücksicht auf andere zu nehmen, ist ein Anzeichen dafür, dass Therese sich nicht so verhält, wie das generalisierte Altersbild der Gesellschaft dies alten Menschen vorgibt. In Thereses Pochen auf die Erfüllung ihrer Wünsche scheint ein Motiv durch, das ebenso wie das der ›neuen Frau‹ im Zuge der ersten Frauenbewegung entwickelt wurde, das Figurenmodell der unwürdigen Greisin. 121 Daran wird deutlich, dass für die ›Neue alte Frau‹ viele der Wünsche, um deren Erfüllung die ›unwürdige Greisin‹ ringen musste, selbstverständlich geworden sind. Sie ist finanziell unabhängig, und es wird keine Aufopferung für die Familie von ihr erwartet - lediglich der Kampf um das Recht auf Liebe im Alter erinnert noch an das ältere Figurenmodell. Am Beispiel der Beziehung von Josepha und Therese wird exemplarisch aufzeigt, dass die Urenkelin trotz des anfänglichen Protestes sehr schnell den Partner der Urgroßmutter akzeptiert. So wird von ihr gesagt: „Josepha, als sie nach Hause kommt, findet die beiden bei einem Blick in Thereses Zimmer friedlich ineinander schlummernd und kann sich darüber freuen“ (GLE 228). Die Zufriedenheit und das Glück, das Thereses neue Lebenssituation für das Zusammenleben im gemeinsamen Haushalt mit sich bringt, hat sie von der positiven Wirkung einer neuen (sexuellen) Beziehung im Alter überzeugt. Legitimiert wird die Altersliebe zudem 121 Vgl. Schlaffer, Das Alter, S. 95ff. <?page no="278"?> 276 durch die Differenz, die sie von den anderen im Roman geschilderten Paarbeziehungen unterscheidet. Die Liebe des hochbetagten Paares wird nicht als Kampf der Geschlechter beschrieben, 122 sondern ist durch ein liebevolles Auf-den-anderen-Eingehen charakterisiert. Die Beziehung ist durch gegenseitige Rücksichtnahme und Geduld gekennzeichnet, die sich von der Eile der anderen Generationen unterscheidet. Der Roman vollzieht damit auch den im gegenwärtigen Altersdiskurs zu beobachtenden „Wandel von der normverordneten Asexualität zur Erfüllung angeblich medizinisch indizierter Koitus-Quoten“ 123 als Garantie für ein gesundes Alter nicht nach, sondern stellt körperliche Nähe und Erotik in den Mittelpunkt. Es geht nicht darum, jugendliche Standards auch im Alter einhalten zu können, sondern eine neue Form der Sexualität zu entdecken. Als Gegenmodell zu diesem glücklichen alten Paar sind Ottilie und Franz Reveslueh gezeichnet. Durch die sexuelle Beziehung wird nicht nur die Geburt des Avraham Bodofranz ausgelöst, sie ist ebenso die Ursache für den Selbstmord von Revesluehs Frau. Diese stürzt sich aufgrund der außerehelichen Liebschaft ihres Mannes und der spektakulären Schwangerschaft der einundsechzigjährigen Ottilie aus dem Fenster (vgl. GLE 142). Gleichzeitig fehlt in der Beziehung dieses Paares die von Therese und Richard ausgestrahlte Harmonie völlig. 124 Im Gegensatz hierzu kann die sinnliche Erkundung der alten Körper durch Therese und Richard als Erkundung in Anlehnung oder als Fortsetzung der ›Gunnar-Lennefsen- Expedition‹ gesehen werden. Neben der positiven Erfahrung des alternden Körpers werden auch landläufig mit Ekel konnotiert körperliche Ausdünstungen und Ausscheidungen beschrieben. Die Ambivalenz des alten Körpers zwischen Verfall und Schönheit wird auf diese Weise als natürlich geschildert. Hierbei spielt die Besonderheit der alternden Sinne eine eindrückliche Rolle: Richard Rund wird ins Männerzimmer geschickt und fügt sich, wenn ihm auch eher nach einem Bettstündchen wäre mit Therese, die im Zustand der vollkommenen Sättigung wie ein Berg zu besteigen ist und beim Erreichen des Gipfels Rülpser und Fürze aus ihrer Reglosigkeit entläßt, sich öffnet wie ein Vulkan, aus dem die noch heißen Dünste der Speisen aufsteigen und Richard Rund, da er ja nicht mehr hören kann, erregen wie früher Worte und Seufzer, ja, das hätte er 122 Claudia Berger übersieht diese besondere Beziehung zwischen den beiden Rentnern, vielleicht weil der Aspekt des Kampfes in der Beziehung von Ottilie und Reveslueh immer wieder betont wird. Vgl. Berger, Postmoderne Inszenierungen von Gender in der Literatur, S. 111. 123 Utz Jeggle: Sexualität im Alter. In: Späte Freiheiten. Geschichten vom Altern, neue Lebensformen im Alter. Hrsg. von Hans-Liudger Dienel, Cornelia Foerster und Beate Hentschel. München 1999, S. 49-56, hier S. 55. 124 Dies verdeutlicht z.B. der Kuss während der Trauung: „Ihr Kuß fällt sehr tief aus, Ottilies Zunge glaubt das Zäpfchen zu spüren in Revesluehs Rachen, als sie sich erschrocken zurückzieht aus seinem Mund.“ (GLE 256) <?page no="279"?> 277 gern, und er nimmt den Gedanken daran mit einem Handkantenschlag in die Penisgegend zurück: Sehen soll man sie nicht, seine Lust aufs Bergsteigen. (GLE 295) Ekel, so zeigt diese Passage, evoziert der Text nicht anhand detaillierter Körperbeschreibungen. Ekel kommt höchstens angesichts der körperlichen Ausscheidungen, aufgrund der angesprochenen Rülpser und Fürze auf. Als Ursache für die Konzentration auf Olfaktorisches kann die Taubheit Runds und die damit einhergehende Veränderung der Wahrnehmung im Alter angesehen werden. Der Anklang von Ekel wird allerdings durch die poetische Sprache zurückgenommen. Die Metaphorik des Bergsteigens und des ausbrechenden Vulkans unterlaufen traditionelle Formen der Ekelmetaphorik mit poetischen Mitteln. Neben diesem subversiven Umgang mit dem alten Körper zeigt der Text aber auch andere Facetten der Körperwahrnehmung. Die Alterssexualität strahlt auch auf den literarischen Umgang mit dem alternden Körper aus. Auffallend an der Beschreibung von Thereses und Richards Körpern ist, dass Kathrin Schmidt zwar auch mit traditionellen Bildern wie etwa Falten, grauen Haaren und Unbeweglichkeit arbeitet, dass diese aber in einen neuen Kontext gestellt werden. So wird z.B. ein gemeinsames Frühstück hochbetagten Paares folgendermaßen geschildert: Der Nochsommer draußen legt dunkle Sonne auf Thereses Haut, nach der sich Richard vorsichtig streckt. Schwer werden will er ihr nicht, das hat er sich vorgenommen, aber wie sie zu spielen versteht, aus seinen und den eigenen Lüsten bauchige Dampfschiffe faltet und darauf die gemeinsamen Nächte durchschippert, das findet er schon unerwartet grandios und verlockend. Und sie versucht ihn auch gleich und schiebt ihre Hand übern Tisch nach der Buttermilch, dabei rutscht ihr der Ärmel des acetatseidenen Kleides, grau und mit Blümchen in Rosa und Lindgrün bedruckt, sehr langsam (weil sie bedächtig ausgreift) über den Handknöchel nach oben. Die Haut ist fein gefältet und duftet, milchkaffeefarbene Spritzer des Alters breiten sich darüber aus. (GLE 227f.) In einer sehr poetischen Sprache schildert Kathrin Schmidt auch hier die Anziehungskraft, die die beiden aufeinander ausüben, die Sehnsucht, die sie gemeinsam zu erkunden und zu stillen suchen, und die Schönheit des alternden Körpers. So assoziiert man beispielsweise mit „fein gefältet“ eigentlich keine alte Haut, sondern man denkt in diesem Kontext an einen feinen und wertvollen Stoff (im Gegensatz zu ihrem Kleid! ), der sehr liebevoll beschrieben wird. Die Erkundung des männlichen Körpers ist hier also eine zweite Expedition, auf die sich Therese begibt, wenn sie ihre „Fingerspitzen in Richards Falten aus[führt]“ (GLE 228). Diese Darbietung des alten Körpers ist aber keine Verherrlichung des alten Körpers. Kathrin Schmidts Schilderung berücksichtigt die Würde des alten Körpers ebenso, wie sie das Nachlassen seiner Kräfte detailliert beschreibt. Die Vereinbarkeit von emotionaler Entwicklung und körperlicher Degeneration wird auf diese Weise überzeugend dargestellt. <?page no="280"?> 278 Überraschend ist es daher nicht, dass in diesem Zusammenhang viele alltägliche Verrichtungen und detailgenaue Schilderungen von Nebensächlichem in die Erzählung einfließen, wie z.B. Thereses gedankenlos in den Mund geschobene Zahnprothese, das morgendliche Fußbad (GLE 15) oder die ersten Anzeichen von Inkontinenz, die von Therese als Hinweis auf ihre erneute Großmutterschaft interpretiert werden (GLE 149f). Trotz dieser Detailgenauigkeit in der Schilderung des Alternsprozesses wird das Altern der Frauen im Text nie als Verlust von Schönheit beschrieben. Die Veränderungen werden sehr genau registriert und ihnen innewohnende Momente des Schönen und Faszinierenden werden hervorgehoben. Durch den Wechsel in die interne Fokalisierung tritt das Staunen des Beobachters als authentische Erfahrung in den Vordergrund. Der nahende Tod Thereses wird beispielsweise aus der Perspektive Richard Runds beschrieben. Er wundert sich darüber, dass die Haut [Thereses, M.S.] viel mehr Falten wirft als noch vor wenigen Tagen, viel weiter sich schieben läßt von seinem Streicheln, als wär sie schon beinahe losgelöst vom darunterliegenden Fleisch [...]. (GLE 420) Der langsame Prozess des Loslösens von allem Irdischen ist dem Körper eingeschrieben. 125 Wie an anderen Stellen im Roman wird hier offensichtlich, dass Geschichte immer auch Körpergeschichte ist. So wird im Verlauf der Romanhandlung immer wieder auf Thereses körperliche Reaktionen auf historische Ereignisse 126 und die Auswirkung der Expedition in die Vergangenheit auf ihren Körper und ihre schwindenden Kräfte hingewiesen, auf „plötzliche[.] Attacken ihres altgewordenen Herzens“ (GLE 14) und die „Schwächen ihres achtzigjährigen Blutkreislaufes“ (GLE 12). Die ›Gunnar-Lennefsen-Expedition‹ stellt eine enorme Belastung für den alternden Körper dar, sodass Therese „von Zitteranfällen geplagt wird“, denen sie nur gewachsen ist, wenn sie sich „zu chemisch provoziertem Schlaf entschließt, da ihr die Schlaflosigkeit ein gut Teil ihrer Kräfte fortfressen würde“ (GLE 36) und Josepha sich Gedanken macht, ob die Psyche der Greisin den Anstrengungen gewachsen ist (GLE 185). Auf diese Weise wird auf einen weiteren und in der Gegenwartsliteratur meist kaum thematisierten Aspekt des Alterns hingewiesen - auf seine Medikamentalisierung. Therese nimmt nicht nur ab und zu Schlaftabletten, sondern auch ein „gefäßerweiterndes medizinisches Präparat [...], das ihr helfen soll, die Schwächen ihres achtzigjährigen Blutkreislaufs auszugleichen“ (GLE 12) und ein Kräftigungsmittel (GLE 185). Vergisst sie diese Medikamente, 125 Die Metapher der sich vom Fleisch lösenden Haut wurde schon im Mittelalter verwandt. Vgl. hierzu Andrea von Hülsen-Esch: Falten, Sehnen, Knochen: Zur Materialisierung des Alters in der Kunst um 1500. In: Alterskonzepte in Literatur, bildender Kunst, Film und Medizin. Hrsg. von Henriette Herwig. 2009, S. 13-43. 126 Vgl. Eigler, Gedächtnis und Geschichte, S. 126ff. <?page no="281"?> 279 dann wird ihr Puls schwach, sie beginnt zu zittern. Dies deutet darauf hin, dass ihr Herz die Unterstützung durch die Medikamente dringend braucht. Hiermit ist der wichtigste Aspekt der Medikamente genannt, die Verlängerung des Lebens dadurch, dass der Tod durch ›Altersschwäche‹ 127 hinausgezögert wird und sich die Alten länger gesund fühlen. Am Beispiel von Therese wird gezeigt, dass diese Verlängerung eines gesunden Alters durchaus sinnvoll und wünschenswert ist. Sie erlebt eine recht glückliche Lebensphase mit Richard Rund, die sie mit dem eigenen Körper und ihrem Verhältnis zu Männern versöhnt. Andererseits lebt sie lange genug, um der Urenkelin Josepha das Wissen weiterzugeben, das diese benötigt. Im Gegensatz zu der Demenzerkrankung, mit der die Großmutter bei Tanja Dückers sich langsam aus der Gegenwart in die Vergangenheit zurückzieht, stellt sich Therese voll und ganz in den Dienst der Zukunft. Metaphorisch wird dies in der Obduktion ihrer Leiche beschrieben (vgl. GLE 424). Damit befördert die Greisin den Wechsel der Generationen. Sie trägt zur Verankerung der jüngeren Familienmitglieder in der Familie bei, ohne dass für diese damit eine traumatische Bindung an dieselbe einhergeht. Vielmehr bricht Josepha am Ende mit ihrem Kind - bezeichnenderweise ein Junge - in die Freiheit auf. Therese fällt damit auch der Abschied von einem Leben, das sie in der Expedition noch einmal durchleben und reflektieren kann, leicht. Genauso wie sie als in sich ruhende, in ihrer Rolle als alte Frau aufgehende Persönlichkeit geschildert wird, nimmt sie auch den Tod als Teil des Lebens an und sieht ihm gelassen entgegen. An der Figur der Therese führt der Roman vor, dass das Alterskonzept einer Figur, das unter anderem an die psychische Entwicklung rückgekoppelt ist, sich verändern kann. In der Gestaltung der Figur der Therese ist eine Entwicklung von der garstigen Alten, die mit sich und der Welt unzufrieden ist, zur schönen Alten zu beobachten. Dieses Figurenmodell wird darüber hinaus mit dem der verliebten Alten verbunden. Interessanterweise folgt der Roman in der Entwicklung der Figur nicht dem chronologischen Ablauf der Persönlichkeitsentwicklung, sondern verortet dies auf zwei Erzählebenen. Repräsentiert Therese in der Erzählgegenwart das Konzept der ›Neuen alten Frau‹, so ist ihr auf der 127 Im Roman wird als Todesursache Altersschwäche genannt. Heute findet sie sich nicht mehr auf dem Totenschein, da die Mediziner davon ausgehen, dass für jeden Tod eine bestimmte Krankheitsursache bzw. das Versagen eines bestimmten Organs verantwortlich ist. Allerdings wird im Roman nach der Obduktion von Thereses Leiche von einem erstaunten Pathologen festgestellt, dass die Leiche durch eine „innere Leere“ gekennzeichnet ist, da der Leiche „buchstäblich jedes Fünkchen Substanz entzogen schien aus den übriggebliebenen Zellhüllen, daß er an eine Art Darre habe glauben wollen, und zwar psychischen Ursprungs. Die Alte habe sich sozusagen seelisch austrocknen lassen, um womöglich ihre Substanz anderweitig einsetzten zu können.“ (GLE 424f.) <?page no="282"?> 280 Ebene der Rückblenden in die Vergangenheit das Konzept der garstigen Alten zugeordnet. Für den Leser sind diese beiden Konzepte eindeutig zu trennen, sodass die Individualisierung der Figur damit nicht gebrochen, sondern eher noch vorangetrieben wird. Die Frage der Vereinbarkeit beider Konzepte wird an der Figur der Josepha aufgezeigt. Diese kann die garstige Alte nicht mit dem Erleben der Urgroßmutter in Verbindung bringen, die Möglichkeit eines Bruchs wird aufgezeigt, aber letztendlich überwunden. Damit kann die Figur der Josepha aufgrund ihrer Aussöhnung mit der schuldig gewordenen Urgroßmutter auch als Sinnbild für das Gelingen der deutsch-deutschen Einigung gelesen werden. Alter und Mutterschaft? Die (Groß-)Mutter Ottilie Als Kontrastfigur zu Therese ist ihre Tochter Ottilie angelegt. Diese hat sich bereits früh von der Familie losgesagt und ihren Sohn in den Wirren der letzten Kriegstage bei der Großmutter zurückgelassen. Damit wird Ottilie zum Sinnbild der unmütterlichen Frau, und es verwundert nicht, dass ihre in Westdeutschland geschlossene Ehe mit Bodo Wilczinski kinderlos bleibt und ihr Mann aufgrund der versagten Fortpflanzung mit Beginn ihrer Menopause stirbt (vgl. GLE 22f). Erst der Beginn der Gunnar-Lennefsen- Expedition verändert ihr bis dahin recht eintöniges Witwendasein. Die Gelassenheit Thereses im Umgang mit dem eigenen Altern fehlt ihrer Tochter Ottilie vollkommen. Ist Josepha als Kontrastfigur zu Therese in ihrem Umgang mit der Stasi gezeichnet, 128 so dient Ottilie als Gegenpol im Umgang mit dem Alter. Als ›alt‹ ist Ottilie nicht in erster Linie durch ihr kalendarisches Alter von sechzig Jahren gekennzeichnet, sondern vor allem dadurch, dass sie wie Therese regelmäßig Medikamente einnimmt, allerdings nicht nur Herzkräftigungsmittel, sondern auch Barbiturate. Dies sind Medikamente, die zur Schmerzbekämpfung, als Beruhigungs-, Schlaf- oder Narkosemittel und zur Unterdrückung von Krämpfen eingesetzt werden und zur Abhängigkeit führen können. Auch das Verhalten der „alternde[n] Kleinbürgerin“ Ottilie wird wiederholt als das einer alten Frau dargestellt. Nicht nur, dass sie ihre Erinnerung „nach dem Ende des letzten Krieges gewöhnlich mit Häkeldeckchen und Wohlfahrtspäckchen bedeckt hat“ (GLE 35), auch hat für sie der Fernseher, der sie über ihre Einsamkeit hinwegtäuscht, eine ähnliche Funktion in der Verdrängung ihrer realen Lebenssituation. Eine vergleichbare Wirkung haben für sie auch die Medikamente, die sie einnimmt, denn nach einer sexuellen Begegnung mit dem Fernsehtechniker Franz Reveslueh, geschieht das, was eigentlich nicht möglich erscheint. Sie wird mit sechzig Jahren schwanger und bringt einen gesunden Jungen zur Welt. Dies bedeutet, dass ihr Körper die Unterstützung durch die Medikamente tatsächlich nicht braucht, sondern 128 Vgl. Eigler, Gedächtnis und Geschichte, S. 135ff. <?page no="283"?> 281 dass diese für Ottilie in erster Linie eine psychische Hilfe darstellten. Wie in Monika Marons Roman Endmoränen gibt damit auch dem Leben der Ottilie eine einzige sexuelle Begegnung eine neue Richtung. Die Begegnung mit dem Fernsehtechniker Reveslueh ist letztendlich auf die Einflüsse der Zeitreise von Therese und Josepha zurückzuführen. Diese schlagen sich in Westdeutschland im Zerspringen der Bildröhre von Ottilies Fernseher nieder. Dadurch kommt es zur Begegnung mit Reveslueh. Da Ottilie bereits in einem Alter ist, in dem eine Schwangerschaft ohne hormonelle Eingriffe in den Körperhaushalt kaum mehr möglich ist, ruft die fiktive Berichterstattung der westdeutschen Presse zur sensationellen Mutterschaft der sechzigjährigen Ottilie und der gemeinsamen Unterbringung der „jungen“ Familie in einer bayrischen Entbindungsklinik, traditionelle Elemente des Figurenmodells der verliebten Alten auf. Die Titelzeile einer Zeitung wird im Roman zitiert: Frage eines unschuldig Geborenen: Hast du noch nicht genug, Mama? Verwitwete Seniorin empfing unehelich und gebar kleinen Wonneproppen. Vater ließ Frau und Kinder sitzen und darf bei seiner Liebschaft in Entbindungsklinik einwohnen! Deutschland, wie weit willst du noch gehen? (GLE 141) Dass diese Form der Berichterstattung zugleich eine enorme Beeinflussung der Zeitungsleser zur Folge hat, wird anhand der Begegnung des jungen alten Vaters Reveslueh vorgeführt. Ein Arzt, der zu Revesluehs selbstmordgefährdeter Frau gerufen wird, erkennt in ihm „den auf dem Gebärbett seiner Kebse ekstatisch sich windenden Altlüstling“ (GLE 143). Kathrin Schmidt zeigt also auf, dass ein normaler Umgang mit der Sexualität im Alter vonnöten ist, auch wenn sie hier mit ihrer phantastischen Erzählung einen Sonderfall einer in unerwartet hohem Alter gebärenden Frau zeigt. Die Verurteilung eines normalen Bedürfnisses als pervers schadet allen Beteiligten. Die späte Mutterschaft verändert Ottilies Selbstwahrnehmung und trägt zu einer weiteren Verdrängungsleistung bei. Dieses Mal ist es ihr tatsächliches Alter, das sie nicht mehr wahrhaben will. Ihre problematische Einstellung zum Alter wird ebenso wie die Thematik der alten Eltern bei einem Besuch bei der wiedergefundenen Mutter Therese in Ostdeutschland offensichtlich. Symptomatisch für Ottilies Verhältnis zum Alter ist ihre Reaktion auf die erste Begegnung mit ihrer erwachsenen Enkelin Josepha auf dem Bahnsteig: Da sie sich noch nie als Großmutter bezeichnet sah bis zu diesem folgenschweren Moment, stutzt die bayerische Ottilie in Revesluehs, der sich schneller besinnt, Gesicht hinein und macht einen Gurgelschrei los aus dem kratzfreien Rachen. Jedenfalls könnte man solchen Schrei für den eines Vergewaltigungsopfers halten, denkt wohl auch der diensthabende Transportpolizist und wähnt eine sonderbar sinnvolle Aufgabe in seinem Trapoalltag. (GLE 288) <?page no="284"?> 282 Abgesehen von der im Folgenden geschilderte komischen Suche nach einem Vergewaltigungsopfer durch den Transportpolizisten, birgt diese Szene einen sehr wichtigen Moment im Leben eines jeden Menschen: die Erkenntnis, von anderen als alt wahrgenommen zu werden. Im Fall von Ottilie wird dies an der sozialen Rolle der Großmutter festgemacht. Damit trifft Josepha einen wunden Punkt im Gefühlshaushalt der Verdrängungskünstlerin Ottilie. Diese hat vor Beginn der Expedition ein sehr tristes Witwendasein in einer stillen und einsamen Wohnung geführt. Bereits vor der Expedition zeigt sich also ein Unterschied zwischen den beiden zentralen alten Frauenfiguren im Roman. Ottilies Leben ist von Alterseinsamkeit gekennzeichnet, während Therese als sehr agil und kontaktfreudig beschrieben wird. Die Geburt des Kindes bringt die sechzigjährige Ottilie wieder in Kontakt mit anderen Menschen. Sie heiratet Reveslueh und wird in der Folge auch von seinen Kindern akzeptiert. 129 Sie geht also in der neuen sexuellen Beziehung und der Mutterrolle ganz auf, auch wenn der Erzähler regelmäßig darauf hinweist, dass sie von den Anforderungen, die das Kind an ihren Körper stellt, überfordert ist. So bricht sie beispielsweise auf einem Spaziergang zusammen, als sie ihr unerwartet hungriges Kind stillt (GLE 360). Zudem werden auch die Erziehungsmethoden der jungen-alten Eltern von der Erzählinstanz gerade auch im Vergleich mit der jungen Mutter Josepha hinterfragt (GLE 347) und die Überlegenheit, die der Säugling im Verhältnis zu seinen Eltern an den Tag legt, lässt trotz der phantastischen Erzählweise wenig Gutes für diese Familienkonstellation erwarten. Damit hinterfragt die Autorin den Kinderwunsch älterer Frauen, der als Wunsch, jung zu sein und zu bleiben, entlarvt wird. Verstärkt werden diese Bedenken, konfrontiert man sie damit, dass die im Roman als Utopie dargestellten Verhältnisse zur Realität werden könnten. Geburten von Frauen jenseits der sechzig sind aufsehenerregende Ereignisse. Ihnen geht eine lange Phase der Hormonbehandlung voraus, die die Veränderungen der Menopause rückgängig macht, sodass eine künstliche Befruchtung möglich wird. 130 Damit stellt die späte Geburt eine enorme körperliche 129 Eine starke Körperfixiertheit und gestörte Kommunikation zeigt sich übrigens auch bei den Kindern Revesluehs, die Ottilie und Avraham durch folgende Szene in ihre Mitte aufgenommen haben: „Der Anblick des unbekleideten Säuglings hatte auch die Revesluehkinder veranlaßt, sich auszuziehen. Franz und Ottilie hatten nicht unbeteiligt bleiben können und waren dem Beispiel gefolgt, so daß man sich in Revesluehs überfüllter Wohnstube endlich ganz nah zueinandergestellt und eine Art Hitze zwischen den Häuten erzeugt hatte, die mehr bedeuten mußte als jedes Gespräch, das sie miteinander hätten führen können.“ (GLE 256) 130 Auf diese Weise hat die Rumänin Adriana Iliescu im Alter von sechsundsechzig Jahren ein Kind geboren. (Sonja Kastilan, Mutter zu werden war immer mein Traum. In: Die Welt vom 20.01.2005.) Auch im Fall der derzeit ältesten Mutter der Welt, einer Spanierin, ging eine Behandlung in einer amerikanischen Spezialklinik voraus, die <?page no="285"?> 283 Belastung dar. Aber - und darauf kommt es mir im Zusammenhang mit dem Bild der ›Neuen alten Frau‹ an - eine jugendliche Höchstleistung von einem alternden Körper zu fordern, macht noch kein neues Alterskonzept aus. Wichtig ist in diesem Kontext die Lebenseinstellung und die Lebensqualität, die in der literarischen Darstellung zutage tritt. Untersucht man die Frauenfiguren in Kathrin Schmidts Roman daraufhin, dann wird sehr schnell deutlich, dass Therese der zwanzigjährigen Josepha sehr viel näher steht als die erst sechzig Jahre alte Ottilie. Lebensqualität ist in Ottilies Leben zwar möglich, wird von ihr aber nicht sinnvoll eingesetzt. Obwohl die in Westdeutschland lebende Witwe wesentlich mehr Freiräume hat, als ihre in der DDR lebende Mutter, nutzt sie diese nicht. Wie bereits ausführlich dargestellt, bringt auch Ottilies Beziehung zu Reveslueh keine Verbesserung der Verhältnisse, vielmehr wird das Leben durch die Ehe mit Reveslueh und die Geburt des Sohnes zum Kampf zwischen den Geschlechtern und den Generationen. Ein weiterer Hinweis auf Ottilies verkehrte Einstellung zum Alter ist ihre Weigerung, sich mit ihren familiären Wurzeln auseinanderzusetzen. Sie lehnt nicht nur eine gemeinsame Fortsetzung der Expedition, die Therese und Josepha als tatsächliche Familienzusammenführung begrüßen, ab (vgl. GLE 312f.), sondern anhand dessen, was der Erzähler von ihr preisgibt, wird offensichtlich, dass die Erinnerungen, die ihr wichtig sind, diejenigen an ihre unterschiedlichen Liebhaber sind (GLE 23; 56-59). Damit verkörpert Ottilie das Alterskonzept einer beziehungsunfähigen Alten. Trotz des Primats der Sexualität lebt die alternde Frau losgelöst von gesellschaftlichen Zusammenhängen. Ihre Ehe ist lediglich die Ausweitung ihrer Einsamkeit auf Mann und Kind. Diese kann nicht gutgeheißen werden kann. Verbunden ist diese Beziehungsunfähigkeit mit einer falsch verstandenen Jugendlichkeit. Das im Gegensatz dazu von Therese gelebte „Jungsein im Altwerden“ (GLE 336) ist durch eine Offenheit gekennzeichnet, die das Ziel des Lebens nicht in einer geglückten, egoistisch verfolgten Biographie sieht, sondern im Gelingen von zwischenmenschlichen Beziehungen. Der Weg zu dieser Einsicht war auch für Therese sehr lang, wie beispielsweise der Kampf um das Sorgerecht für Josepha zeigt. Am Ende ihres Lebens zeigt sich aber, dass sie das soziale Potenzial des Alters voll ausschöpft. diese aber lediglich aufgrund einer falschen Altersangabe erhielt. Die 67-Jährige brachte Ende Dezember 2007 zwei Jungen zur Welt. http: / / www.morgenpost.de / printarchiv/ panorama/ article18307755_statt_67_Jahre_ Aelteste_Mutter_ der_Welt _belog_Klinik.html [gesehen am 30.08.2008]. <?page no="286"?> 284 4.4 Zusammenfassung Der facettenreiche Familienroman von Kathrin Schmidt ist als Gesellschaftspanorama angelegt. Im Roman erscheint die ganz private Familie zur Zeit des Nationalsozialismus als ahnungslose Mikrogestalt des Regimes und seiner Ideologie [...] und die Positionen der Täter und Opfer, Vordenker und Nachbeter, Anführer und Mitläufer [werden] in den familialen Figuren und Vorgängen beispielhaft abgebildet [...] 131 Kathrin Schmidt präsentiert mit ihrem Roman Die Gunnar-Lennefsen- Expedition nicht nur die Geschichte einer Familie, sondern diese stellt zugleich eine umfassende Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert dar. Die subversive Geschichtsdarstellung aus der weiblichen Perspektive entwickelt ein neues Geschichtsmodell, das die gegenwärtige Historiographie der deutschen Geschichte in Frage stellt. In diesem Rahmen ist die Auseinandersetzung mit Rollenmustern für alte Menschen zu verorten. Der Roman zeigt in vielen kleinen Details zentrale Aspekte des sozialen Wandels und der Veränderung des Lebens in einer (familiären) Gemeinschaft auf. So findet sich beispielsweise auch eine sehr interessante Darstellung eines Pflegeheims, die ich im Zusammenhang mit den Pflegeheimromanen kurz beleuchten werde, 132 sowie ein gemeinsam gealtertes Paar, das als Gegenmodell zu Thereses männerlosem Familienleben ein Leben in einer geglückten Lebensgemeinschaft vorführt. Mit dem Wandel des Geschichtsbildes geht bei Schmidt ebenso ein Wandel historisch überlieferter Rollenmuster für alle Altersgruppen einher. 133 Im Gegensatz dazu beschränkt sich Tanja Dückers auf die Auseinandersetzung mit familiären Rollen, deren Fragwürdigkeit durch die Familiengeschichten im 20. Jahrhundert und die fragliche Identität als ›schuldige‹ Deutsche betont wird. Dückers entwirft damit aber kein neues Geschichtsmodell oder hinterfragt gar die offizielle Lesart der deutschen Geschichte. Vielmehr stellt ihr Roman eine ungelenke literarische Verarbeitung gegenwärtiger historisch-sozialer Forschung in Kombination mit Thesen der Frauenliteratur der 1970er und 1980er Jahre dar, die aufgrund 131 von Matt, Verkommene Söhne, S. 59. 132 Vgl. in Teil II das Kapitel 6.1. 133 Vgl. hierzu auch: Lily Tonger-Erk: Rückwärtstanten, Zahlväter, Spermamunition. Vom Ende der linearen Genealogie bei Kathrin Schmidt und Nicole Eisenman. In: Familienbande - Familienschande. Geschlechterverhältnisse in Familie und Verwandtschaft. Hrsg. von Eva Labouvie und Ramona Myrrhe. Köln, Weimar, Wien 2007, S. 95-117. Lily Tonger-Erk weist nach, dass „[d]as Neue an den Generationenromanen der Gegenwart ist, dass nichtlineare Genealogien mit spielerischer Leichtigkeit entworfen werden.“ (S. 97) Dabei unterscheidet sie allerdings nicht zwischen der linearen (weiblichen) Genealogie und den auf phantastischen Elementen beruhenden nichtlinearen Genealogien. Hierin scheint mir ein weiterer zentraler Aspekt des Romans zu bestehen, der im Folgenden aber nicht weiterverfolgt wird. <?page no="287"?> 285 ihres traditionell-konservativen Anstrichs keine neuen Erkenntnisse für den Leser mit sich bringen. Abschließend lässt sich sagen, dass im Familienroman der Gegenwart nicht mehr so sehr die patrilineare Erbfolge im Fokus steht, sondern dass die weibliche Genealogie als Weitergabe von Familiengeschichte im Zuge von feministischen Diskursen und einer intensiven Auseinandersetzung mit dem weiblichen Körper als Speicher von Erinnerung und Lebenserfahrung, immer mehr Bedeutung erhält. In beiden Romanen zeigt sich, dass die alten Frauen immer mehr Einfluss innerhalb der Familie erlangen, wohingegen die starke Figur des die Familie beherrschenden Patriarchen kaum mehr im Familienroman anzutreffen ist. Allerdings steht für die Frauen nicht der Erhalt der eigenen Machtposition im Fokus, sondern die Überlieferung von familiärem Wissen. In diesem Kontext ist auch eine Aufwertung der weiblichen Alterskonzepte zu beobachten. Stand die alte Frau historisch meist hinter dem dominanten männlichen Familienoberhaupt zurück, so bringt die berufliche und finanzielle Unabhängigkeit eine Aufwertung der Rolle der Großmutter im Familienroman mit sich. Diese Entwicklung wird durch das in Kathrin Schmidts Roman entworfene Konzept der ›Neuen alten Frau‹ wesentlich stärker herausgearbeitet als in Tanja Dückers’ traditionellen Denkmustern verhafteter Familienerzählung, da Dückers lediglich eine Greisin zeigt, die innerhalb der Familie die Rolle des Mannes übernommen hat, ohne diese inhaltlich neu zu füllen. 134 Zentral für das Konstrukt der ›Neuen alten Frau‹ ist, dass es keiner Schwarz-Weiß-Malerei unterliegt, sondern aus verschiedenen Facetten besteht, die sich zu einem stimmigen Gesamtbild ergänzen, das durchaus auch negative Seiten aufweisen kann. Wie sich im Vergleich mit den anderen analysierten Romanen zeigt, entspricht nicht jede dargestellte alte Frau diesem Konzept zwangsläufig, so wie nicht jede Frau im Roman der zwanziger Jahre dem Typus der ›neuen Frau‹ angehörte. Darüber hinaus zeigt Kathrin Schmidt mit der Gestaltung des innovativen Konzepts der ›neuen alten Frau‹, wie die in den 1970er und 1980er Jahren von feministischen Literaturwissenschaftlerinnen entwickelten Theoriekonzepte eine Neubewertung von Figurenmodellen für alte Frauen mit sich bringen können. Dabei sind neben der Darstellung des Alltags alter Menschen vor allem der Erhalt von Lebensqualität im Alter und die Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie zentrale Aspekte der Familienromane. Als ›jugendlich‹ kann in diesem Zusammenhang die 134 Auf die historische Dimension weiblicher Altersbilder in der deutschen Literaturgeschichte kann ich an dieser Stelle leider nicht ausführlicher eingehen. Mehr dazu in: Miriam Seidler: Zwischen Demenz und Freiheit. Überlegung zum Verhältnis von Alter und Geschlecht in der Gegenwartsliteratur. In: Graue Theorie. Die Kategorien Alter und Geschlecht im kulturellen Diskurs. Hrsg. von Heike Hartung, Dorothea Reinmuth, Christiane Streubel, Angelika Uhlmann. Köln 2007, S. 195-212. <?page no="288"?> 286 Offenheit für neue Erfahrungen und die Lebensfreude der zentralen Figur Therese bezeichnet werden. Indes kristallisierte sich im Laufe der Interpretation heraus, dass es sich beim Konzept der ›Neuen alten Frau‹ um eine Annäherung an ein neues Alterskonzept handelt, wobei das Alter der Protagonisten keine zentrale Rolle spielt. Ein Ergebnis der Analyse ist daher, dass für das gegenwärtige Alterskonzept auch gilt, was Sigrid Weigel in den 80er Jahren für das Frauenbild formuliert hat. Es bedarf bislang noch eines „schielenden Blicks“, um das Selbstverständnis alter Menschen und das Alterskonzept der Gesellschaft in Übereinstimmung zu bringen. Aufgrund dieses Mangels stehen weniger weibliche Eigenschaften im Zentrum des Interesses, sondern die Potenziale, über die das Alter als Lebensphase verfügt. Alter(n) kann in diesem Zusammenhang als soziale Leistung verstanden werden. 135 Dabei wird an der Gegenüberstellung von Therese und Ottilie gezeigt, dass auch die Rolle des alten Menschen nicht von heute auf morgen ausgefüllt werden kann, sondern dass der alternde Mensch in diese hineinwachsen muss. 135 Vgl. Göckenjan, Das Alter würdigen, S. 426. <?page no="289"?> 287 5 Zwischen Liebe und Entsorgung - das Altern der Eltern in der fiktionalen Darstellung Die Konfrontation mit dem Altern und dem Tod der Eltern ist eine existenzielle Erfahrung. Sie setzt die nachfolgende Generation dem Bewusstsein ihrer Sterblichkeit aus. Seit den 1960er Jahren und verstärkt nach den 1980er Jahren wurde der Sterbeprozess der Eltern in autobiographischen Texten wiederholt thematisiert und reflektiert. 1 Den Auftakt bildet Simone de Beauvoirs schonungslose Auseinandersetzung mit dem Sterben ihrer Mutter in dem autobiographischen Roman Ein sanfter Tod 2 aus dem Jahr 1964. Veronica Beucker hat in einer Auswertung autobiographischer Schriften, 3 die überwiegend in den 1990er Jahren veröffentlicht wurden, die zentralen Stationen dieser existenziellen Grunderfahrung herausgearbeitet. Die Nachricht von einer tödlichen Erkrankung bzw. dem Tod eines Elternteils löst bei den Kindern zuerst eine „emotionale Verstörung“ aus. Diese wird abgelöst von einer Phase, die von Schuldgefühlen den Eltern gegenüber bestimmt ist. Das Gefühl, nicht genügend Zeit mit den Eltern verbracht zu haben bzw. diesen nicht ausreichend Raum im eigenen Leben zugestanden zu haben, quält im Nachhinein viele Kinder. Andererseits trägt die Rollenumkehr in der Eltern-Kind-Beziehung im Fall von Krankheit oder Pflegebedürftigkeit der Eltern zur emotionalen Verwirrung bei. Diese wird verstärkt durch die Konfrontation mit dem verfallenden, kranken Körper der Eltern, der nicht mehr dem Bild der starken und überlegenen Eltern entspricht und bei den Kindern ein Gefühl der Scham auslöst. 4 Die Pflege der Eltern oder der Besuch am Krankenbett wird zur Konfrontation nicht nur mit dem zerstörten Elternbild, sondern wirkt auch auf die eigene Selbstwahrnehmung zurück. Entscheidungen über den Einsatz von lebensverlängernden Maßnahmen zwingen die Kinder zudem, über Leben und Tod der Eltern zu entscheiden. Der Tod der Eltern hinter- 1 Veronica Beucker: Nachgetragene Liebe. Altern und Sterben der Eltern in der autobiographischen Literatur der Gegenwart. In: Liebe und Tod. Brennpunkte menschlichen Daseins. Hrsg. von Tobias Trappe. Basel 2004, S. 127-155, hier S. 130. 2 Simone de Beauvoir: Ein sanfter Tod. Aus dem Französischen übertragen von Paul Mayer. Reinbek bei Hamburg 1965 [Original: Une Mort très douce. Paris 1964]. 3 Veronica Beucker untersucht unter anderem autobiographische Erzählungen von Ludwig Fels, Wilhelm Genazino, Peter Handke, Paul Kersten, Michael Lenz, Julian Schutting und Verena Stefan, vergleicht sie aber auch mit Texten nichtdeutschsprachiger Autoren wie Philip Roth, Michael Ignatieff oder Harry Mulisch. Vgl. Beucker, Nachgetragene Liebe. 4 Ebd., S. 145. <?page no="290"?> 288 lässt bei den Kindern das Gefühl des Verlassenseins - ein Mensch, der zeitlebens da war, ist unwiderruflich gegangen. Mit dieser Erfahrung geht selbst bei älteren Erwachsenen das Gefühl einher, dass die Kindheit nun definitiv zu Ende ist, sowie die Empfindung, dass der eigene Tod ein wesentliches Stück näher gerückt ist. Da dieses Schema in allen von Beucker untersuchten autobiographischen Texten in ähnlicher Weise zu finden ist, ist zu vermuten, dass es sich um einen natürlichen Prozess der Ablösung und Trauerarbeit handelt. Margit Schreiners Roman Heißt lieben, 5 den ich im Folgenden vorstellen werde, stellt wie die autobiographischen Texte das Altern und Sterben der Mutter ins Zentrum. Bei der Analyse des Romans wird neben der Untersuchung von Altersrepräsentation und -konzept die Frage leitend sein, welche Unterschiede zwischen der fiktionalen Darstellung alter Figuren und der autobiographischen Reflexion über die alternden Eltern bestehen. 5.1 Das Altern der Mutter: Margit Schreiner Heißt lieben Mit dem Roman Heißt lieben beschließt die österreichische Autorin Margit Schreiner ihre Trilogie der Trennungen. Nach der Auseinandersetzung mit der Alzheimer-Erkrankung des Vaters in Nackte Väter (1997) und dem Scheitern einer Ehe in Haus, Frauen, Sex (2001) steht im letzten Teil der Trilogie die Auseinandersetzung mit der Mutter und dem hoffnungsvollen Neubeginn der Tochter nach deren Tod im Vordergrund. Der Text setzt mit einer fulminanten und polarisierenden Schilderung der Mutter- Tochter-Beziehung aus der Perspektive der Tochter ein. Margit Schreiner beschreibt dennoch kein konkretes Mutter-Tochter-Verhältnis, sondern arbeitet mit Typisierungen und Generalisierungen: Ihre Protagonisten erhalten keine Namen, sondern werden lediglich mit ihren familiären Rollen bezeichnet, die Schreiner heftig kritisiert und in Frage stellt. Als 5 Margit Schreiner: Heißt lieben. Frankfurt a.M. 2003. Seitenangaben mit dem Kürzel „Hl“ beziehen sich auf diese Ausgabe. Der Text wird von der Autorin selbst nicht als „Roman“ bezeichnet, wie dies bei den anderen beiden Teilen der Trilogie der Trennungen der Fall ist. Die Autorin spielt also mit dem Genre der autobiographischen Erzählung, wodurch sich nach Paul de Man die Leserhaltung ändert. Dennoch verweisen die Strategien der Generalisierung und Typisierung darauf, dass es sich nicht um einen als Autobiographie angelegten Text handelt. Eine Reflexion, wie sie z.B. Peter Handke in Wunschloses Unglück zur Frage anstellt, welche Elemente der Biographie seiner Mutter exemplarisch für ihre Zeit stehen können, findet sich in diesem Text nicht. Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Martin Wedl, der anhand des Vorlasses der Autorin im Österreichischen Literaturarchiv den autobiographischen Schreibanlass von Scheiners Texten erläutert. Martin Wedl: » Immer kürze ich am Ende«. Schreibprozesse bei Margit Schreiner am Beispiel von Heißt lieben. In: Die Rampe. Porträtausgabe Margit Schreiner. Linz 2008, S.56-64. <?page no="291"?> 289 österreichische Autorin wird ihr damit von den Rezensenten die „Rolle eines weiblichen Bernhard“ 6 zugewiesen. Neben der an Thomas Bernhards Schreibstil erinnernden schonungslosen Abrechnung mit der Mutter finden sich in Schreiners Text aber auch liebevolle Beschreibungen und intime Reflexionen, die die emotionale Betroffenheit der Tochter sichtbar werden lassen. 7 Inhaltlich bietet der Text die Reflexion einer Tochter als Ich-Erzählerin über die Mutter-Tochter-Beziehung, die anhand dreier wichtiger Etappen beleuchtet wird: den plötzlichen und unerwarteten Einbruch des vierten Lebensalters ins Leben der Mutter, die kurz nach einem von der Tochter als traumatisch empfundenen Weihnachtsfest mit einem Herzinfarkt ins Krankenhaus gebracht, dort künstlich wiederbelebt und anschließend als Pflegefall in ein Heim eingeliefert wird; den Tod der Mutter, der bei der Tochter mit beruflichem Erfolg und einer neuen Liebe zusammenfällt; die Geburt eines Kindes macht die Tochter selbst zur Mutter, womit sich der familiäre Kreislauf fortsetzt. Zu Beginn des Textes arbeitet die Autorin überwiegend mit Klischees, die in der Tradition der Frauenliteratur der 1970er Jahre stehen. 8 Die Unmöglichkeit der Kommunikation zwischen Mutter und Tochter und das Nicht- 6 Leopold Federmair: Abschied von der Mutter. Margit Schreiner dekonstruiert Thomas Bernhard. In: Neue Zürcher Zeitung. Internationale Ausgabe vom 16.10.2003. 7 Ebd. 8 Für den Mutter-Tochter-Konflikt gibt es im Gegensatz zum Vater-Sohn-Konflikt vor dem 20. Jahrhundert kaum literarische Beispiele. Als Sujet dient er in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts vor allem dazu, die fragwürdig gewordene Rolle der Frau und Mutter zu thematisieren. In fiktionalen und autobiographischen Romanen verkörpert die Tochter die Suche nach einer weiblichen Identität jenseits der von der Mutter vorgelebten Rolle. Hier spiegelt die Literatur also direkt einen Kampf, der nicht nur in der Fiktion, sondern auch im Alltag ausgetragen wird. In Romanen wie beispielsweise Gabriele Wohmanns Ausflug mit der Mutter (1976), Jutta Heinrichs Das Geschlecht der Gedanken (1977) oder in Helga Novaks Die Eisheiligen (1979) leiden die Protagonistinnen, „weil sie nicht die ihnen traditionell von der Gesellschaft zugeteilte Funktion annehmen wollen bzw. können oder (besonders in Novaks Fall) weil sie die Unterdrückung des weiblichen Körpers nicht aushalten können. Sie alle leiden an der Mutter.“ Die Mütter sind in den Texten daher in ihrer Beziehung zu Männern als passiv-duldende, negativ-besetzte Wesen dargestellt. Eine Auflehnung ist nur gegenüber ihren Töchtern möglich, die nicht bereit sind, das von der Mutter vorgelebte Muster anzunehmen. Helga Kraft: Barbara Kosta, Das Angstbild der Mutter. Versuchte und verworfene Selbstentwürfe. In: Mütter - Töchter - Frauen: Weiblichkeitsbilder in der Literatur. Hrsg. von Helga Kraft und Elke Liebs. Stuttgart 1993, S. 215-241, hier S. 216. <?page no="292"?> 290 loslassenkönnen der Mutter 9 werden eindrucksvoll dargestellt. Die Traditionslinie, in der Schreiners Text zu verorten ist, zeigt sich in einem Vergleich mit einem Essay von Margarete Mitscherlich-Nielsen. Im Jahr 1980 hat die Psychoanalytikerin in der Frauenzeitschrift Emma einen Beitrag mit dem Titel Müssen wir unsere Mütter hassen? 10 veröffentlicht. Aufgrund des Abdrucks im Leitblatt der deutschen Frauenbewegung ist der Beitrag als Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen feministischen Diskurs um die Mutterrolle zu verstehen. Im Unterschied zu vielen anderen Wissenschaftlerinnen nimmt Mitscherlich-Nielsen in diesem Diskurs eine besondere Stellung ein, da sie nicht nur als Tochter, sondern auch als Mutter schreibt und damit - vergleichbar der Erzählerin in Schreiners Text - beide Perspektiven vertritt. Bereits der von Mitscherlich- Nielsen gewählte Titel verweist mit dem Hass auf die Mutter auf die negativ aufgeladene Beziehung zur Mutter, wie sie sich auch in Schreiners Text schon im ersten Satz offenbart. Mitscherlich-Nielsen geht in ihrem Beitrag von einer These der Psychoanalyse aus, die „die Mutter zur Hauptschuldigen für die Fehlentwicklung ihrer Kinder“ 11 macht. Diese alleinige Konzentration auf die Mutter als „Schuldige“ prangert Mitscherlich- Nielsen an und verortet im Folgenden die Mutter-Kind-Beziehung im gesellschaftlichen Kontext. Dabei gelingt es ihr zu zeigen, dass die Mutter gegenüber gesellschaftlichen Zwängen ebenso wie dem Fehlverhalten des Partners gegenüber machtlos ist, dass sie aber gleichzeitig als Projektionsfläche für viele Fehlentwicklungen herhalten muss. Die Auswirkungen sind meist erst im mittleren oder hohen Erwachsenenalter zu beobachten: Eine solche Entwicklung der Mutter-Tochter-Beziehung trifft die Mutter hart, wenn sie auf diese Weise zur Schuldigen für alle Enttäuschungen im Leben ihrer Tochter gemacht wird. Sie hat dann meist ein Alter erreicht, in dem sie mit der Einsamkeit nur schwer fertig werden kann, wenn ihre Kinder sie nicht mehr brauchen oder nichts mehr von ihr wissen wollen. 12 Der Rückgriff auf die literarische Tradition und den feministischen Diskurs der späten 1970er Jahre ebenso wie die Tendenzen zur Generalisierung bedeuten für den Entwurf von Altersrepräsentationen im literarischen Text, dass die Figuren weitgehend auf der Ebene der Kategorisierung zu verorten sind, da der Autorin letztendlich daran gelegen ist, ein Modell zu entwickeln, das nicht den individuellen Lebenslauf der eigenen Mutter abbilden soll - wie dies in den von Beucker untersuchten autobiographischen Texten der Fall ist -, sondern ein Muster zu entwerfen, dem die 9 Vgl. Shidan Wang: Generationenkonflikte in deutschsprachiger Frauenliteratur 1976- 1985. Hildesheim 1993, S. 57. 10 Margarete Mitscherlich-Nielsen: Müssen wir unsere Mütter hassen? In: EMMA. Das politische Magazin von Frauen 4 (1980) H. 4, S. 14-21. 11 Ebd., S. 15. 12 Ebd., S. 20. <?page no="293"?> 291 Auseinandersetzung mit dem Altern der Mutter folgt. In diesem Sinne kann die Darstellung der alten Mutter als repräsentatives Figurenmodell angesehen werden. Schreiners Roman ist eine Versuchsanordnung, die dem Kategorisierungsversuch von Veronica Beucker vergleichbar ist. Nicht nur die einzelnen Stationen finden sich im Text Schreiners wieder, auch die Perspektive der Tochter wird durchgehend verfolgt. Insofern wird diese Repräsentation der alten Mutter exemplarisch für die Auseinandersetzung mit dem Altern der Eltern in der Gegenwartsliteratur herangezogen. Die genannten Gesichtspunkte - die Mutter-Tochter-Beziehung und deren Auswirkung auf die Wahrnehmung der pflegebedürftigen Mutter sowie die Darstellung der alten Frau selbst - sollen im Folgenden näher beleuchtet werden. Um die Bedeutung des Alters der Mutter sowohl für die Selbstwahrnehmung der Tochter als auch für deren Alterskonzept in Margit Schreiners Text in gegenwärtige Diskurse einordnen zu können, werde ich weitere Prosa anderer Autorinnen heranziehen. „Am Ende bringen wir unsere Mütter um, weil wir nicht mehr lügen wollen.“ 13 - Der Mutter-Tochter-Konflikt aus der Tochterperspektive Mutterfiguren sind im Kontext dieser Arbeit schon wiederholt in Erscheinung getreten. Meist spielen sie jedoch eine untergeordnete Rolle, entweder weil sie keinen direkten Bezug zur Altersthematik zeigen oder weil sie nicht im thematischen Zentrum der jeweiligen Erzählung stehen. Meist wird die Mutterrolle im Altersdiskurs auch von der der Großmutter überlagert. Die Mutterfigur repräsentiert im Zusammenhang mit dem Thema Alter zwei zentrale Aspekte: einerseits die bereits bei Beucker angesprochene, für die eigene Identitätsfindung entscheidende emotionale Loslösung, andererseits haben die Eltern - auch im Hinblick auf das eigene Alterserleben - eine Vorbildfunktion. Diese betrifft nicht nur die Entwicklung von Identität und Lebensentwürfen in der Jugend und im jüngeren Erwachsenenalter, sondern auch im höheren Erwachsenenalter können Eltern noch als Vorbild im positiven wie im negativen Sinne dienen. Die Bedeutung der Mutter für das Erleben des eigenen Alters wird seltener in der Fiktion als vielmehr in autobiographischen Texten und Reflexionen über das Alter herausgestellt. Da in der neuen Frauenbewegung auch die Abgrenzung von der traditionellen Frauenrolle eine zentrale Rolle spielte, ist bis in die Gegenwart die Rolle der Mütter intensiv beobachtet und analysiert worden. Daher wird gerade der Bezug zum Altern der Mutter von Autorinnen und Wissenschaftlerinnen immer wieder betont. 14 13 Hl 7. 14 Vgl. hier stellvertretend Cora Stephans Überlegungen zum Gefühlten Alter: „Völlig egal, daß der äußere Befund dagegen zu sprechen scheint. Sicher, man braucht <?page no="294"?> 292 Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat mehrere Schriftsteller gebeten, sich mit dem Thema Alter und Altsein auseinander zu setzen. In diesen Essays wurde wiederholt das Verhältnis zur Mutter als zentral für die Erfahrung des Alternsprozesses thematisiert. Die Autorin Monika Maron stellt am Ende ihres Textes die Frage, wie sie wohl als altes Kind auf ihre Mutter wirkt: Am peinlichsten ist mir mein Alter vor meiner Mutter. Sie tut mir leid, weil sie nun so ein altes Kind haben muss. Aber irgendwie wohnt der Natur doch immer auch der Ausgleich inne. Meine Mutter sieht nicht mehr gut, was für sie natürlich sehr unangenehm ist, ihr hoffentlich aber den Anblick ihres alten Kindes gnädig verschönt. 15 Eine andere Akzentuierung der Fragestellung bietet die Kulturwissenschaftlerin Hannelore Schlaffer in ihrem Essay Das Alter. Ein Traum von Jugend: Der Spiegel, den die Gesellschaft der alternden Frau vorhält, verliert seinen Schrecken für die, die dem erblindenden Auge der Mutter entgegentritt. Mängel, und seien sie die des Alterns, will es nicht wahr haben. Das alternde Kind kann das Alter vergessen, wenn die Mutter es anschaut und immer noch schön findet. Alternde Männer befinden sich zur Jugend in einem antagonistischen Verhältnis, Frauen, wenn sie altern, kehren in die Symbiose mit der Mutter zurück. In dieser Symbiose lösen sich die Unterschiede von Jung und Alt auf. Die alternde Frau ist nur das alternde Kind einer alten Mutter. 16 Sowohl der Blick der 1941 geborenen Autorin Maron als auch der der 1939 geborenen Kulturwissenschaftlerin ist von einer Milde gegenüber der eigenen Mutter wie dem weiblichen Alter gezeichnet. Die Einheit von Mutter und Tochter wird hier als kulturelles Deutungsmuster des Alters in Form des Alterstrostes aufgerufen. Diese resignative Tendenz findet sich in Texten jüngerer Autorinnen kaum. Dies zeigt z.B. die Kurzgeschichte der 1967 geborenen Autorin Jenny Erpenbeck mit dem Titel Anzünden oder irgendwann Mut, um in den Spiegel zu schauen, wie überhaupt, wer alt werden will, kein Feigling sein darf; das Gesetz der Schwerkraft wird nur unwesentlich positiv beeinflußt von der genetischen Grundausstattung [...]. Wie man überhaupt in höheren Jahren mit einer Tatsache leben lernt, die den unbedingten Willen zur Selbstbehauptung und das Selbstbild eigener Einmaligkeit nachhaltig zu beschädigen geeignet ist: Es ist mehr ererbt als erworben. Knochenbau und Bindegewebe, Haut- und Haartypus, ja sogar die Stellen, an denen sich das Fett bevorzugt ablagert, geraten mit den Jahren mehr und mehr in die Form, die sie schon bei Mutter und (älterer) Schwester angenommen haben. Es empfiehlt sich daher, schon früh ein gutes Verhältnis zu beiden zu entwickeln.“ Cora Stephan: Gefühltes Alter. In: Kursbuch 151: Das Alter. Hrsg. von Ina Hartwig, Ingrid Karsunke und Tilman Spengler. Berlin 2003, S. 25-31, hier S. 26. 15 Monika Maron: Ich will, was alle wollen. Gedankengänge eines alten Kindes. In: Einmal und nicht mehr. Schriftsteller über das Alter. Hrsg. von Thomas Steinfeld. Stuttgart, München 2001, S. 23-28, hier S. 28 [Original: FAZ vom 28.12.1999]. 16 Hannelore Schlaffer: Das Alter. Ein Traum von Jugend. Frankfurt a.M. 2003, S. 101. <?page no="295"?> 293 Abreisen. Das böse Märchen vom Altern. In dieser wirft sie einen Blick auf die Familie, die aus der Großmutter, dem Geliebten, dem Vater und der Mutter besteht. Diese wird wie ein Gebäude beschrieben und auf ihre Bedeutung für die Ich-Erzählerin abgeklopft. In dem Text ist eine Klimax der Betroffenheit zu beobachten: Die mit dem Alter der Großmutter einhergehenden Nachlässigkeiten erwecken bei der Erzählerin Mitleid: „[W]eil sie nicht mehr gut sehen kann, pudert sie sich zu dick, zu rosig. Haare wuchern ihr aus dem Gesicht.“ 17 Die gestörte Selbstwahrnehmung und die zu beobachtenden körperlichen Veränderungen enden schließlich in einer Metamorphose: Ich sehe die, die meine Großmutter war, erst Mann werden, dann Tier werden, dann ein Wesen werden jenseits aller bekannten Gattungen. Mit einer Stimme, die keine menschliche Stimme mehr ist, höre ich meine Großmutter sagen: Wir haben alles gewollt, aber wir haben es nicht erreicht. 18 Ebenso wenig wie von der Metamorphose der Großmutter ist die Erzählerin vom Älterwerden ihres Geliebten beeindruckt. Der anschließend beschriebene Vater repräsentiert historisches Wissen. In der Fremde, in die die Familie aufbricht, verliert dieses Wissen aber zunehmend an Bedeutung und nimmt ihm den Blick auf die Realität. So verkörpert der Vater auch eine Facette des Alters: das Veralten von Wissen. Sind die Beschreibungen der ersten drei Figuren mit phantastischen Elementen ausgestattet, so ist die Beziehung zur Mutter sehr realistisch dargestellt. Aufgrund des engen Wechselspiels von körperlichem Altern und Identität 19 gestaltet sie die Mutter-Tochter-Beziehung komplizierter als die zu den anderen Familienangehörigen: Du wirst deiner Mutter immer ähnlicher, sagen sie mir, und ich erschrecke. Ich weiß es selbst, mein Nacken ist ihr Nacken geworden, mein Schweiß ihr Schweiß, meine Brüste ihre Brüste. All das, was ich an ihr gehaßt habe, bin ich geworden. Ich hungere, ich will meine Mutter aus meinem Leib heraushungern, aber mein Körper bleibt sie, bleibt rund und groß, wie er in den letzten Jahren geworden ist, es hilft nichts, ich werde ihr immer ähnlicher, sagen sie. Ich spreche wie sie, als hätte sie mich übergezogen, wäre in meine Haut geschlüpft und spräche aus mir - wo ich indessen geblieben bin, weiß ich nicht. Ich huste wie sie, ich lache wie sie, und wenn man mich kränkt, schlage ich mit blinden und dummen Sätzen um mich wie sie. Ich bin alt geworden, damit meine Mutter wieder eine Haut bekommt, in der sie sich breitmachen kann. Wo ich indessen geblieben bin, weiß ich nicht. 20 17 Jenny Erpenbeck: Anzünden oder Abreisen. Das böse Märchen vom Altern. In: Einmal und nicht mehr. Schriftsteller über das Alter. Hrsg. von Thomas Steinfeld. Stuttgart, München 2001, S. 87-92, hier S. 88 [Original: FAZ vom 05.07.2000]. 18 Ebd. 19 Vgl. Roberta Maierhofer: Salty Old Women. Eine anokritische Untersuchung zu Frauen, Altern und Identität in der amerikanischen Literatur. Essen 2003, S. 201. 20 Erpenbeck, Anzünden oder Abreisen, S. 91. <?page no="296"?> 294 Die Herausbildung einer eigenen Identität - so lässt die Beschreibung vermuten - ist der Erzählerin nur in Abgrenzung von der Mutter gelungen. Die für das Älterwerden typischen körperlichen Veränderungen machen diesen Prozess wieder rückgängig, was bei der Erzählerin zur Ablehnung der eigenen Person führt. Der bei Jenny Erpenbeck angesprochene Kreislauf, der über den Prozess der zunehmenden körperlichen Ähnlichkeit die Wesensgleichheit von Mutter und Tochter betont und durch die Zuschreibungen von anderen verstärkt wird, führt letztendlich zum Verlust der Identität der Tochter. Dieser Vorgang wird von der Tochter als sehr dramatisch erlebt, da sie sich nicht gegen die körperliche Einschreibung wehren kann. Auf diese Weise versinnbildlicht der Körper der Tochter die lebenslange Abhängigkeit von der Mutter. Den kurz vorgestellten Facetten der Mutter-Tochter-Beziehung vom Mitleid mit der alten Mutter bis hin zur Angst vor dem Verlust der Identität fügt Margit Schreiner mit dem Buch Heißt lieben eine neue Facette hinzu. Diese beruht in erster Linie auf der Erfahrung der Pflegebedürftigkeit der Mutter, die einen Einschnitt im Leben der Tochter bedeutet: Zuerst haben unsere Mütter uns ruiniert, als wir Kinder waren und alle Anlagen gehabt hätten, einmal ein vernünftiger Mensch zu werden, so daß wir, statt ein vernünftiger Mensch zu werden, immer nur Angst gehabt und schließlich aus lauter Angst womöglich geheiratet und selbst Kinder gemacht haben, die wir dann, wenn wir nicht höllisch aufpassen, auch ruinieren, und wenn wir dann völlig ruiniert sind, ängstlich und in jeder Hinsicht überfordert, dann sollen wir auch noch unsere Mütter zu uns nehmen. (Hl 41) Charakteristisch für die Komik der Beschreibung bei Schreiner ist, dass sie „etwas zutiefst Verstörendes, etwas, das Angst auslöst“ 21 , verdeckt. Wenn die Mutter alt ist, hat die Tochter keine Möglichkeit mehr, ihr zu entkommen, denn mit der Verantwortung für die Pflege der Mutter kann die räumliche Distanz nicht länger aufrechterhalten werden. Von Margit Schreiner wird damit nicht nur gefragt, wie mit dem Konfliktpotenzial zwischen Mutter und Tochter im Alter umgegangen werden kann, sondern das Thema wird auf eine neue Art und Weise variiert. Die Mutter kann sich in Margit Schreiners Roman nicht mehr zur Wehr setzen. Allerdings nicht, weil sie wie in der Frauenliteratur der 1970er Jahre als ein hilfloses Lebewesen gezeichnet ist, das das gesellschaftlich etablierte Rollenmuster verinnerlicht hat - ganz im Gegenteil: Die Mutter ist alt und aufgrund der von Schreiner vorgenommenen Verknüpfung von Alter und Pflegebedürftigkeit zunehmend auf die Unterstützung der Tochter angewiesen. Es wird somit eine Rollenumkehr angedeutete: Einerseits ist die Tochter durch die Gründung einer eigenen Familie selbst zur Mutter geworden, wodurch sich allerdings die Wahrnehmung der eigenen Mutter nicht verändert hat. 21 Daniela Strigl: Heißt lachen. Einiges zur Komik im Werk Margit Schreiners. In: Die Rampe. Porträtausgabe Margit Schreiner. Linz 2008, S. 51-55, hier S. 52. <?page no="297"?> 295 Andererseits macht sie die Pflegebedürftigkeit der eigenen Mutter auch in dieser Beziehung zur Verantwortlichen. 22 Nun sind die karitativen Muttereigenschaften der Tochter gefragt. Bevor ich auf die Auswirkungen der Pflegebedürftigkeit näher eingehe, möchte ich aber Schreiners Sichtweise der alltäglichen Mutter-Tochter- Beziehung und vor allem die Gestaltung der Mutterfigur aus der Perspektive der erzählenden Tochter vorstellen. Ausgangspunkt für Schreiners Analyse der Mutter-Tochter-Beziehung ist ein „Horrorszenario zwischen Christbaum, Notarzt und Malakofftorte“ 23 : das gemeinsam verbrachte Weihnachtsfest. Dieses ist in Margit Schreiners radikaler Darstellung kein fröhliches Familienfest, das in Erinnerung an die Geburt Jesu Christi begangen wird, sondern es entlarvt die Familie als Zwangsgemeinschaft. Die Festtage werden von der aus drei weiblichen Mitgliedern - Mutter, erzählende Tochter und deren siebenjährige Tochter - bestehenden Familie mit Essen und Fernsehen verbracht. Die Feiertage zeichnen sich also neben der gestörten Kommunikation durch eine maßlose und ungesunde Nahrungsaufnahme aus. 24 Das Familienfest bringt zudem für die Mutter der Erzählerin den Übergang vom selbstständigen dritten ins unselbstständige, von Krankheit geprägte vierte Lebensalter. Das familiäre Beisammensein wird nicht nur durch das für die Tochter unerträgliche Verhalten der Mutter belastet, sondern auch durch plötzlich auftretende Krankheitssymptome und eine unerklärliche körperliche Schwäche der alten Frau, die mit geistiger Verwirrung einhergehen. Da die Tochter bereits zu Beginn mehrfach auf die Hepatitiserkrankung der alten Frau hingewiesen hat, bergen diese plötzlichen Schwächeanfälle ein erneutes Gefahrenpotenzial für den alten Körper. An jedem der drei Weihnachtstage ruft die Tochter einen Notarzt - die unterschiedlichen Ärzte können aber keine ernsthafte Erkrankung diagnostizieren. Es scheint sich um altersbedingte Schwächeanfälle zu handeln, die nicht auf ein bestimmtes Krankheitsbild verweisen. Die Mediziner versagen, ihre Eingriffe verschlimmern den Gesundheitszustand der alten Frau, da die verordnete Einnahme von Penicillin und Antibiotika Unverträglichkeitsreaktionen zur Folge haben. Die Machtlosigkeit der Mediziner verweist die Lösung des Problems zurück an die hilflose Tochter. Erschwert wird die Lage zudem durch die für familiäre 22 Vgl. Beucker, Nachgetragene Liebe, S. 141f. 23 Daniela Strigl: Nach der Lüge der Tod. Illusionslos: Margit Schreiners Epitaph für die Mutter. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11.10.2003. 24 Das Weihnachtsfest spielt nicht nur in Schreiners Roman in Zusammenhang mit dem Alter eine wichtige Rolle. So läuft z.B. Jonathan Franzens Roman Die Korrekturen auf das Weihnachtsfest zu, das die Mutter aufgrund der Erkrankung des Vaters noch einmal mit der ganzen Familie gemeinsam feiern möchte. Wie bei Schreiner verläuft auch dieses Weihnachtsfest katastrophal. Jonathan Franzen: Die Korrekturen. Roman. Aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell. Reinbek bei Hamburg 2002. [Original: The Corrections. A Novel. New York 2001]. <?page no="298"?> 296 Beziehungen charakteristische Ambivalenz: Die Tochter fühlt sich emotional verpflichtet zu helfen, die Mutter lehnt die Hilfeversuche der Tochter aber ab, da diese nicht mit ihrem Rollenbild vereinbar sind. Im folgenden Machtkampf zwischen Mutter und Tochter deutet sich aber bereits der Rollentausch an (Hl 20f.). Emotional völlig überfordert ergreift die Tochter am Tag nach Weihnachten die Flucht - kaum zu Hause angekommen, erhält sie die Nachricht von der finalen Katastrophe: Die Mutter wurde von der Nachbarin unansprechbar in ihrer Wohnung aufgefunden und daraufhin ins Krankenhaus eingeliefert. Auf dem Weg in die Klinik, so erfährt die Tochter von der Ärztin, hat die Mutter einen Herzinfarkt erlitten und wurde durch Elektroschocks wieder ins Leben geholt (Hl 40f.). Der klinische Tod und die anschließende Wiederbelebung stehen im Roman symbolisch für den Übergang vom einen in das andere Lebensalter. Damit wird Krankheit als zentrales Charakteristikum des hohen Alters betrachtet. Durch diese verändert sich das Leben von Mutter und Tochter ebenso wie deren Beziehung auf unterschiedliche Art und Weise: Die Mutter wird zum Pflegefall. „Erst wenn unsere Mütter krank und hilflos geworden sind, überwinden wir unseren Ekel.“ 25 - Die Mutter als Pflegefall Mit der Nahtoderfahrung der Mutter verändert sich die Wahrnehmung der Tochter grundlegend. Als Kranke wird die alte Frau von ihrer Tochter als schöne Alte beschrieben. Dieses Figurenmodell entspricht zwar ihrem Alter und ihrem familiären Stand als Großmutter, dennoch erstaunt dieser plötzliche Wandel. Einerseits wurde die alte Frau bislang kaum in ihrer Großmutterrolle beschrieben, andererseits ist die Verknüpfung von Großmutterstatus und Schönheit äußerst problematisch. Das hat bereits die Analyse der Großelternfiguren im Familienroman gezeigt. Auch in Schreiners Text verkörpert die Greisin trotzt ihres Großmutterstatus diese soziale Rolle nicht. Zentral erscheint mir für Schreiners alte Frau vielmehr zu sein, dass sie ihre Großmutterrolle kaum wahrgenommen hat. Statt positives Vorbild zu sein, ging durch die ihre Hepatitiserkrankung vielmehr eine Gefahr für die Enkelin aus. Herkömmlich mit der Rolle der Großmutter verbundene Aufgaben wie die Sorge für die Enkelkinder kann die Greisin nach ihrer Einlieferung in die Klinik bzw. die Aufnahme ins Pflegeheim nicht mehr übernehmen, da sie nun ein Pflegefall ist und sich nicht mehr selbst versorgen kann. Daher spielt die Enkelin im Folgenden keine Rolle mehr. Zur Figur der schönen Alten wird die alte Frau in erster Linie durch den Blick der Tochter. Diese nutzt die sehr schweigsame Mutter als Projektionsfläche. Die Versuche der Tochter, Gefühle und Gedanken der Mutter 25 Hl 38. <?page no="299"?> 297 zu erraten, verraten mehr über die Unsicherheit der Tochter als über den Gesundheitszustand der Mutter. Als Symbol für die Zufriedenheit der Mutter interpretiert die Tochter ihr „neues Lächeln“ (Hl 54, 58, u.ö.). Die Tochter erfährt die Veränderung der Mutter damit nicht als negativ, sondern entwickelt eine neue emotionale Beziehung zu ihr, die sie folgendermaßen begründet: „Erst wenn unsere Mütter im Pflegeheim sind und keine Vorstellung mehr von den Menschen und Dingen haben, können wir sie lieben.“ (Hl 15) 26 Die Pflegebedürftigkeit ist also aus der Sicht der Tochter der Moment, in dem die Mutter sich kein Bild mehr von ihrer Tochter machen kann, sondern diese aufgrund ihrer Überlegenheit so annehmen muss, wie sie ist. Da aus der internen Fokalisierung der Tochter erzählt wird, muss diese Beschreibung relativiert werden. Es ist nun die Tochter, die sich ein Bild von der Mutter macht und ihr dieses aufzwingt. Damit wird der von Jenny Erpenbeck beschriebene Prozess umgekehrt: Nicht die Tochter verliert ihre Identität aufgrund der zunehmenden Ähnlichkeiten mit der Mutter, sondern die Alterserkrankungen nehmen der Mutter ihre Identität. Damit wird die Annäherung der Tochter aber erst möglich. Das Mutter-Tochter-Verhältnis erfährt durch die Rollenumkehr und den damit einhergehenden Machtwechsel einen grundlegenden Wandel, die Tochter muss von nun an die Verantwortung für ihre Mutter übernehmen. Der Konflikt, erwachsen zu sein und dennoch Kind zu bleiben, wird durch die Hilflosigkeit der pflegebedürftigen Mutter überwunden. Damit setzt die Krankheit der Mutter auch bei der Tochter einen Veränderungsprozess in Gang. Dies kommt in der Feststellung zum Ausdruck: „Wir werden erwachsen, wenn die Mütter sterben.“ (Hl 46) Indes scheint mir die Flucht in organisatorische Aufgaben auch eine Angst vor dieser Erfahrung zu symbolisieren. Ein psychischer Prozess setzt bei der Tochter erst nach dem Tod der Mutter ein. Durch die Pflegebedürftigkeit der Mutter ergibt sich nicht nur ein Handlungsbedarf, sondern auch ein sozialer Anspruch an die Tochter. Auf die Frage, wie es mit der Mutter weitergehen wird, fordert die Ärztin sie auf: Rehabilitation mit dreiundachtzig Jahren? fragte die Ärztin, die müde aussah, und sagte: Nehmen Sie sie nach Hause. [...] Ich wußte, daß dies von nun an eine unausgesprochene Forderung an mich bleiben würde. Und ich wußte ebenso genau, daß ich meine Mutter nicht zu mir nehmen würde. (Hl 41) Die Ärztin - die als sehr ungepflegt beschrieben wird - schildert der Ich- Erzählerin ihre eigene Biographie als nachahmenswertes Exempel: „Sie habe, sagte sie, ihre eigene Mutter sieben Jahre lang zu Hause gepflegt, sie 26 Hier zeigt sich die Umkehrung der Beziehung auch bereits darin, dass es nun die Tochter ist, die die Wahrnehmungsstörungen erleidet und die Mutter nur noch so sehen kann, wie es in ihr eigenes Konzept passt. <?page no="300"?> 298 sei deshalb aus der Großstadt in die Provinz gezogen und seither hier im Krankenhaus angestellt.“ (Hl 42) Hier zeigt sich eine Vermengung unterschiedlicher Aspekte. Die Ärztin, die qua ihres Berufes das Ideal der Hinwendung an andere verkörpert, wird zum Vorbild erklärt. Weil die Ärztin bereit war, für die Pflege ihrer Mutter ihr bisheriges Leben aufzugeben, kann sie dies nicht von der Tochter ihrer Patientin verlangen. 27 Damit wirft der Roman eine der dringendsten sozialpolitischen Fragen der Gegenwart auf, die im Rahmen der Diskussion um den demographischen Wandel bislang kaum berücksichtigt wurde: Wenn immer mehr Frauen ihre Selbstverwirklichung in der Kombination von Beruf und Familie suchen, wie kann dann die Pflege der alten Menschen gewährleistet werden? Susanne Mayer spitzt diese Fragestellung zu. In einem im Oktober 2006 in der Zeit erschienenen Artikel mit dem Titel Wohin mit den Eltern? Weshalb wir überfordert sind, wenn Mutter oder Vater zu Pflegefällen werden konstatiert sie: In einer Gesellschaft, in der seit Jahren leidenschaftlich über die Vereinbarkeit von Beruf und Elternschaft debattiert wird, fruchtlos natürlich, hat das Nachdenken über die Vereinbarkeit von Altersfürsorge und Familie und Beruf noch gar nicht eingesetzt. Wieso auch? 28 Die Erwartung, nicht nur Familie und Beruf zu meistern, sondern auch die Pflege älterer Familienmitglieder zu übernehmen, wird in erster Linie an Frauen gerichtet und ist damit eindeutig geschlechtsspezifisch. Dies wird im Artikel nicht explizit angesprochen - ergibt sich aber implizit aus der folgenden Berichterstattung. Ein männlicher Autor berichtet darüber, wie er die Pflege der Mutter mithilfe von ungarischen Haushälterinnen in der Wohnung der Mutter organisiert hat, wohingegen in einem Interview die einundsiebzig Jahre alte Schriftstellerin Ingrid Noll berichtet, wie sie ihre inzwischen einhundertundfünf Jahre alte Mutter zu Hause pflegt. 29 Die Anforderung an die Erzählerin in Schreiners Roman besteht also nicht nur darin, die emotionale und finanzielle Verantwortung für die Mutter zu übernehmen. Diese Forderung ist insofern akzeptabel, als sie auf 27 Auch Roberta Maierhofer zeigt am Beispiel von (autobiographischen) Romanen von Frauen auf, dass die Pflege der kranken Mutter eine sehr bereichernde Erfahrung sein kann. Sie entwickelt in ihrer Interpretation damit lediglich die Sichtweise des jeweiligen Textes weiter. Dies verwundert insofern, als Maierhofer einen emanzipatorischen Ansatz verfolgt. In diesem Zusammenhang hätte die Frage diskutiert werden sollen, die sich auch der Ich-Erzählerin Schreiners stellt: Ist es jeder Frau unter allen Umständen zuzumuten, dass sie für die Pflege ihrer Mutter ihr eigenes Leben aufgibt. Sind damit die Grenzen der Reziprozität nicht überschritten? Maierhofer, Salty Old Women, S. 216-248. 28 Susanne Mayer: Wohin mit den Eltern? Weshalb wir überfordert sind, wenn Mutter oder Vater zu Pflegefällen werden. In: Die Zeit vom 05.10.2006. 29 Sie ist eine Lady. Wie ist es, wenn die eigene Mutter wieder zu Hause einzieht? Ingrid Noll kennt sich damit aus - sie pflegt ihre 105 Jahre alte Mutter. Ein Gespräch mit der Schriftstellerin. In: Die Zeit vom 05.10.2006. <?page no="301"?> 299 die soziale Reziprozität als Grundlage für das Zusammenleben in einer Gesellschaft zurückgreift. Von der Erzählerin wird vielmehr eine völlige Selbstaufopferung verlangt, die an eine Aufgabe der Identität grenzt. Die Rückkehr in den Heimatort zur Pflege der Mutter würde einer Kapitulation im Kampf um die eigene Identität bedeuten, um die die Tochter seit Jahren in der Auseinandersetzung mit der Mutter ringt. Aus der Perspektive der Tochter ist die Unterbringung der alten Frau in einem Pflegeheim und die damit verbundene Zurückweisung jeder Forderung, die ihre persönliche Lebenssphäre betrifft, die richtige Entscheidung. Ihre Wahrnehmung der Mutter während der vierzehntägigen Besuche bestätigt ihr diese. Folgt man der Sicht der Ich-Erzählerin, so kommt es zu einer Aussöhnung zwischen Mutter und Tochter, die einerseits möglich wird, weil von beiden Seiten die Rollenumkehr akzeptiert werden kann und andererseits, weil die räumliche Trennung beiden Figuren Freiräume lässt. Diese positive Beschreibung lässt den Leser aber auch an der Plausibilität der Figurenzeichnung zweifeln. Sowohl die Figur der siechen Mutter als auch der Sterbeprozess selbst sind extrem stilisiert und idealisiert. Momente des Ekels vor dem alten Körper der Mutter finden sich keine. Die Pflege der Mutter, das intensive Erleben ihrer letzten Lebensmonate wird als äußerst positive Erfahrung geschildert. An die Stelle der anfänglichen hasserfüllten Beschimpfungen treten nun liebevolle Parallelismen, die in einer beinahe hymnischen Sprache die Nähe zwischen Mutter und Tochter feiern: Ich bin froh, daß ich noch einmal bei ihr war, bevor sie starb. [...] Ich bin froh, daß ich sie füttern durfte und frisieren und daß ich ihre Hand halten durfte beim Fernsehen. Ich bin froh, daß ich mit ihr Musik hören durfte und daß ich mit ihr schweigen durfte. Licht und Schatten und das Lächeln. Ich bin froh, daß meine Mutter nicht gleich nach Weihnachten in ihrer Wohnung gestorben ist, sondern noch durchgehalten hat [...] Ich war immer traurig, wenn ich wieder gehen mußte. (Hl 65f.) Diese Dankbarkeit wird nicht nur von der Tochter zum Ausdruck gebracht, sondern im Zusammenhang mit einem Röntgentermin im Krankenhaus zwei Tage vor ihrem Tod sagt auch die geschwächte Mutter: „Ich bin froh, dass Du dabei bist.“ (Hl 76) Dies ist eine der wenigen Aussagen der Mutter, die die Erzählerin in wörtlicher Rede wiedergibt. Daher erhält sie im Rahmen der Erzählung über die schweigsame und kranke Mutter sehr viel Gewicht. Sie verbirgt aber auch, dass die Tochter mit ihrem blinden Aktionismus - der Krankenhaustermin kommt ebenso wie der Friseurbesuch auf Wunsch der Tochter zustande - als Qual empfunden wird. In der neu gefundenen emotionalen Nähe zwischen Mutter und Tochter wird ein Motiv aufgerufen, das typisch ist für Erzählungen, in denen der Tod der Eltern geschildert wird: Die teleologisch auf den Tod hin angelegte Erzählung beschreibt die Aussöhnung der Familienmitglieder am Lebens- <?page no="302"?> 300 ende. Diese Aussöhnung wird dadurch symbolisiert, dass die bereits erwachsenen Kinder sich nach langen Jahren wieder in der Lage fühlen, ihre Eltern zu berühren, 30 beim Spazierengehen oder beim gemeinsamen Fernsehen die Hand der Mutter zu halten. 31 Damit wird der Sterbeprozess aus der Sicht der Kinder idealisiert. Wie sich die Eltern fühlen, wird nicht beschrieben, die Vermutungen der Kinder sind nicht immer als solche gekennzeichnet und werden zwangsläufig von einem egozentrischen Standpunkt aus geschildert. Damit ist die Innenperspektive der alten bzw. sterbenden Figur eine Leerstelle im Text. Margit Schreiner zeigt eine positive Lösung des Mutter-Tochter- Konflikts und damit der Selbstbehauptung der Tochter. Als Gegenbeispiel möchte ich kurz Helga Königsdorfs Roman Die Entsorgung der Großmutter 32 und die darin geschilderten Mutter-Tochter-Beziehung vorstellen. 5.2 Die Mutter-Tochter-Beziehung und die Alzheimerkrankheit: Helga Königsdorf Die Entsorgung der Großmutter Dass der Sterbeprozess der Eltern und die mit der Pflegebedürftigkeit der Eltern an die Kinder herangetragene Erwartung, die eigenen Eltern zu pflegen, nicht zwangsläufig ein versöhnlicher Prozess ist, sondern die Kinder auch unter einen enormen Druck setzen kann, der ihre gesamte Existenz bedroht, zeigt der Roman Die Entsorgung der Großmutter von Helga Königsdorf. Im Gegensatz zu Margit Schreiner arbeitet Königsdorf nicht mit einer symbolisch aufgeladenen Sprache, sondern verwendet einfache, kurze Sätze, die die Realität der Figuren sehr eindrücklich widerspiegeln. Die Familie als Lebensform und soziale Gemeinschaft ist Thema von Helga Königsdorfs Roman Die Entsorgung der Großmutter. Aus wechselnder interner Fokalisierung beschreibt die Autorin eine ganz normale Mittelstandsfamilie, die zu bescheidenem Wohlstand gekommen ist, was sie nicht zuletzt der Mutter der Frau verdankt, die bereits zu Lebzeiten ihr Haus an den Schwiegersohn überschrieben hat. Das Leben in der Familie Schrader ist von sozialer Kälte gekennzeichnet. Die Kindergeneration 30 Vgl. hierzu Claudia Wolff: Letzte Szenen mit den Eltern. München 2004, S. 101. 31 „Manchmal komme ich nach dem Abendessen noch einmal ins Pflegeheim und wir schauen zusammen einen Film im Fernsehen an. Ich weiß nicht, ob die Mutter versteht, worum es in dem Film geht. Es ist auch egal. Ich verstehe auch die meisten Filme, die wir zusammen anschauen, nicht. Es ist schön, daß wir noch einmal miteinander fernsehen können, ohne daß es zu intim ist. Manchmal halte ich jetzt ihre Hand.“ (Hl 63) 32 Helga Königsdorf: Die Entsorgung der Großmutter. Roman. Berlin 1997. Seitenangaben mit dem Kürzel „EdG“ beziehen sich auf diese Ausgabe. <?page no="303"?> 301 kommuniziert von Zimmer zu Zimmer per Mail. Zwischen Kindern und Eltern herrscht Sprachlosigkeit und Desinteresse. Auch in dieser Familie hadert die erwachsene Tochter mit ihrer alten Mutter: Sicher ist es nicht gerecht, der Großmutter an allem, was ihr mißlungen ist, die Schuld zu geben. Manchmal hat sie das Gefühl gehabt, vom alltäglichen Kleinkram regelrecht zerrieben zu werden. Die Erinnerung an viele Szenen, in denen sie gar nicht großartig reagierte, sondern kleinlich und gereizt, bedrückten sie jetzt. Aber es ist nichts mehr gutzumachen. (EdG 70) Dass „nichts mehr gutzumachen“ ist, liegt in diesem Fall aber nicht darin begründet, dass die Greisin unlängst gestorben wäre, sondern daran, dass sie in einem fortgeschrittenen Stadium an Alzheimer erkrankt ist. Eine Differenz zum Text von Schreiner ist auf zwei Ebenen zu erkennen: Die Tochter bezeichnet ihre Mutter als „Großmutter“, womit die Perspektive nicht auf das eigene Ich und die Mutter-Tochter-Beziehung gerichtet ist, sondern die Enkel bilden den Fixpunkt, von dem aus Rollenzuschreibungen vorgenommen werden. Mit der Erkrankung und dem Verlust der Erinnerung verliert die Großmutter ihr Selbstbewusstsein. Dies hat Auswirkungen auf die Tochter, die sich in erster Linie als Mutter und Hausfrau definiert. Damit eng verbunden ist der zweite Unterschied zu Schreiners Roman: die Unzufriedenheit der Tochter mit ihrer Lebenssituation und sich selbst, die sich zu Beginn des Romans in ihrer melancholischen Stimmung ausdrückt und im Laufe des Romans in einer Identitätskrise kulminiert. Damit findet sich in der Fiktion eine Entwicklung, die Roberta Maierhofer in autobiographischen Texten von Frauen, deren Mütter an Alzheimer erkrankt sind, beobachtet hat: Wenn die Mütter durch den Verlust ihrer Erinnerungen nicht nur Alltägliches vergessen, sondern auch die Grundwerte, wer sie sind und waren, dann verweigern sie sich jeglicher familiärer Beziehung und stellen somit auch die gesicherte Identität der Tochter in Frage. Ich kann in Texten, die sich mit Müttern, die an Alzheimer Krankheit leiden, beschäftigen, eine Neubewertung der Werte von Unabhängigkeit und Autonomie in der amerikanischen Kultur erkennen. 33 Was Maierhofer für die amerikanische Kultur feststellt, lässt sich anhand von Königsdorfs Text exemplarisch auf die deutsche Kultur übertragen. 34 Zunächst ist die Selbstwahrnehmung der Tochter allerdings noch überlagert von dem Schock, den die Erfahrung der Alzheimerkrankheit für die ganze Familie mit sich bringt. Der Prozess des schleichenden Ich-Verlusts verunsichert alle Familienmitglieder: 33 Maierhofer, Salty Old Women, S. 216f. 34 Zu einer differenzierteren Beurteilung müsste ein größeres Textkorpus untersucht werden. Die Darstellung von Alzheimer-Kranken ist bislang für die deutsche Literatur kaum untersucht. Literaturangaben finden sich in Teil II Kapitel 7. <?page no="304"?> 302 Der Krankheit der Großmutter waren sie nicht gewachsen gewesen. Die Großmutter veränderte sich. Diejenigen, die mit ihr ständig Umgang hatten, merkten es zuletzt. Erst nach und nach stellten sie mit Verwunderung fest, daß sich die Großmutter früher anders verhalten hatte. Aber keiner von ihnen kam auf die Idee, daß eine grausame Zerstörung am Werk war. Sie hatten nicht einmal von der Existenz dieser Krankheit gewußt, die sich wie eine mörderische Spinne im Kopf des Menschen einnistet und langsam, aber unaufhaltsam dessen Persönlichkeit aussaugt. (EdG 62) Emotional und organisatorisch völlig überfordert ist daher auch die Tochter in Königsdorfs Roman. Sie muss sich nicht nur mit unausgetragenen Mutter-Tochter-Konflikten und der damit zusammenhängenden Identitätskrise auseinandersetzen - wie das übrigens auch bei Margit Schreiner der Fall ist -, sie betreut zudem ihre demente Mutter rund um die Uhr. Alzheimer kann sich als furchtbare Beziehungsfalle entwickeln, befällt das Geflecht sozialer Beziehungen vor allem in Familien wie ein Virus. Weil sich das Objekt der geforderten Pflege nicht wehren kann, ist der Pflegende ganz sich selbst und seinen Wertvorstellungen überantwortet. 35 Dieser von Hans Jürgen Wulff geschilderte Prozess ist es, der in beiden Romanen beschrieben wird. Bei Königsdorf löst sich die Familie infolge der Alzheimererkrankung der Großmutter, die weitere psychische Probleme einzelner Familienmitglieder an den Tag bringt, langsam auf. Die für die Pflege der Mutter alleine verantwortliche Tochter ist einer besonderen Belastung ausgesetzt, da lange bestehende Beziehungsprobleme die Pflegesituation zusätzlich belasten. Im Rückblick fasst sie die Beziehung zu ihrer Mutter folgendermaßen zusammen: Aber sie will nicht mehr wegen anderen leiden. Nicht wegen einer bösen alten Frau, der es, solange Frau Schrader denken kann, Spaß gemacht hat, sie zu quälen. Die sie, als sie noch ein Kind war, gezwungen hat, aufzuessen und allein im Dunkeln zu bleiben. Die lachte, als sie vor Angst oder vor Ekel weinte. Die sie im Alter beschuldigte, ihr die falschen Tabletten zu geben, anstatt sich für die Fürsorge zu bedanken. Die ihr die Obszönität ihres alten Körpers aufgezwungen hat, daß sie den Ekel manchmal den ganzen Tag nicht loswurde. Einen Moment lang kommt Frau Schrader der Gedanke, es wären da auch Notschreie gewesen, auch Bitten um Liebe. Aber das verwirft sie sofort wieder. Das macht nur schwach. (EdG 89f.) Die Erkrankung der Großmutter wird hier als dramatische Zuspitzung der Mutter-Tochter-Beziehung erfahren und erhält damit symbolischen Wert. Von den anderen Familienmitgliedern erhält die Tochter, die sich völlig für ihre Familie aufopfert, keine Unterstützung. Als die Verwirrung der Groß- 35 Hans Jürgen Wulff: Vom Vergessen, vom Verlust, vom Terror: Gerontopsychiatrische Themen im Spielfilm. Am Beispiel der Alzheimer-Demenz. In: Schwierige Entscheidungen - Krankheit, Medizin und Ethik im Film. Hrsg. von Kurt W. Schmidt, Giovanni Maio und Hans Jürgen Wulff. Frankfurt a.M. 2008, S. 229-260, hier S. 240. <?page no="305"?> 303 mutter zunimmt und die Tochter sich der Situation nicht mehr gewachsen fühlt, bittet sie ihren Mann und ihren Sohn um Unterstützung. Eine Inanspruchnahme eines Pflegeheimplatzes kommt nicht in Frage, da die Familie damit das von der Großmutter geerbte Haus verlieren würde - die Schenkung liegt noch keine zehn Jahre zurück. Da der Schwiegersohn arbeitslos ist, würde damit die Existenz der gesamten Familie gefährdet. Unter enormem Druck entscheidet sich die Kindergeneration, die erinnerungslose Großmutter auszusetzen - der Enkel wird in die Planung eingeweiht, ohne nähere Details zu erfahren, die achtzehnjährige Enkelin erfährt nichts. Da die Großmutter weder ihren Namen noch ihre Adresse erinnert, besteht keine Gefahr, dass sie wieder zurückfinden könnte. Parallel zur Entwicklung der Familiengeschichte und der Positionen der einzelnen Familienmitglieder wird in einem zweiten Erzählstrang berichtet, wie die ausgesetzte alte Frau verwahrlost. Sie ernährt sich von Katzenfutter für streunende Katzen und übernachtet in einem alten Trafohäuschen. Zwar wird die Greisin von Frauen, die sich um die streunenden Katzen kümmern, gesehen, sogar einmal ins Krankenhaus gebracht, 36 aber ernsthafte Hilfe erhält sie keine. Sie lebt noch bis kurz vor Weihnachten. In einer kalten Nacht erfriert sie (EdG 115f.). Damit ist es nicht nur die Familie der Greisin, deren Verhalten als moralisch verwerflich geschildert wird, es wird auch die Gesellschaft als Ganzes verurteilt, die sich im Grunde nicht für die alte verwirrte Frau interessiert. Die streunenden Katzen erhalten letztendlich eine bessere Betreuung und sterben einen würdevolleren Tod als die Alzheimer-Kranke. Die Fragwürdigkeit eines solchen Verhaltens wird am Beispiel der Familie vorgeführt. Die ›Entsorgung der Großmutter‹ brachte nicht die gewünschte Erleichterung und trug auch nicht zur Rettung der Familie bei. Nach dem Tod der Großmutter erweist sich der Sozialverbund als so instabil, dass er nach der Verzweiflungstat zerbricht. Die Initiative geht in erster Linie von den Frauenfiguren aus. Bei der Geburt ihrer Tochter hatte die Mutter der mittleren Generation, Frau Schrader, sich erhofft, mit den Jahren eine Freundin heranziehen zu können (vgl. EdG 73), doch mit der Enkelin 36 Die Einlieferung ins Krankenhaus versinnbildlicht die im Roman dargestellte negative Haltung der Gesellschaft gegenüber alten und kranken Menschen. Eine Frau bringt die verwirrte und verwahrloste Greisin in die Notaufnahme: „Sie geht schnurstracks am Pförtner vorbei durch das Foyer bis zur Tür, auf der ›Anmeldung‹ steht. Den Wartenden ruft sie mit lauter Stimme zu: »Ein Notfall! Herrschaften! Sie sehen ja, ein Notfall.« / Sie läßt die Frau hinter dem Pult nicht erst zu Wort kommen. Sie sagt: »Ich bringe Ihnen ein Fundstück. Mein Gott. Was die Leute heute alles verlieren. Selbst ihre Omas.« Oben an der Wand hängt eine Uhr. Sie erschrickt. »Ich komme zu spät.« Als sie hinausstürmt und die alte Frau ihrem Schicksal überläßt, hat sie ein schlechtes Gewissen. Die Frau aus der Anmeldung ruft ihr etwas hinterher, wovon sich bei ihr nur das Wort ›Kostenträger‹ festhakt.“ (EdG 107) <?page no="306"?> 304 wiederholt sich die Mutter-Tochter-Konstellation, unter der Frau Schrader so sehr gelitten hat: Plötzlich wird Frau Schrader wütend. Immer standen die Antworten schon fest. Es wäre sinnlos gewesen, sich zur Wehr zu setzen. »Kinder brauchen nicht dankbar zu sein. Man hat es schließlich gern getan.« Unzählige Male hatte sie zu solchem Schwachsinn höflich mit dem Kopf genickt, weil alles andere sinnlos gewesen wäre. Sie fühlt, wie ihr das Blut in den Kopf steigt. Sie kann sich nicht erinnern, jemals so wütend gewesen zu sein. Ihr Gesicht hat längst einen Schafsausdruck. Ein Wunder, daß sie nicht blökt. Sie geht hinüber und sagt das alles ihrer Tochter. Und mehr. Was sich so zum Sagen aufgestaut hat. [...] Aber die Wörter, die ein Mensch spricht, verändern ihren Geschmack und ihren Geruch schon, wenn sie noch als Schallwellen die Luft bewegen. Für den einen ist es eine Bitte um Liebe. Für den anderen ist es nichts als eine ärgerliche Abkanzelung. (EdG 74) Die Achtzehnjährige ist wesentlich selbstbewusster als ihre Mutter. Sie entflieht der familiären Situation, packt wenige Tage nach dem Gespräch mit ihrer Mutter ihre Koffer, verlässt die Schule und sucht sich einen Job, der sie selbst ernährt (vgl. EdG 80-82). Die Bilanzierung trifft aber nicht nur die Tochter. Frau Schrader verändert ihr Leben, nachdem sie von der Pflege der Großmutter befreit ist. Sie stellt fest, dass sie nie ein eigenes Leben geführt hat und ihre Wünsche von den männlichen Familienmitgliedern völlig ignoriert werden (vgl. EdG 72f.). Dass ihr von der Familie die Aufgabe ihrer eigenen Träume und Wünsche, ja ihrer Identität abverlangt wurde, und sie dafür keine Dankbarkeit erwarten kann, trifft sie tief: Sie will sich nicht mehr grämen, nicht wegen Kindern, die sie verachten. Die mit gnadenlosen Buchhalteraugen Maß nahmen und selbstgewiß den Stab brachen. Sie will sich nicht mehr mit der Frage quälen, was sie falsch gemacht hat. Ihre Kinder waren erwachsen und für sich selbst verantwortlich. Sie will nicht mehr um Liebe betteln. Sie gesteht sich für alles, was geschehen war, mildernde Umstände zu. Nur für eines nicht. Nicht dafür, daß sie schlecht mit sich selbst umgegangen ist. (EdG 90) Die Erkrankung der Großmutter war der Katalysator für die Selbstfindung der Tochter, die die Zwangsgemeinschaft der Familie gegen ein autonomes Leben eintauscht. Sie trennt sich von ihrem Mann, nimmt wieder ihren Mädchennamen an und eröffnet eine kleine Pension (EdG 118-120). Eine Aussöhnung zwischen den beiden Mutter-Tochter-Paaren findet im Text nicht statt. Die Enkelgeneration scheint hiermit aufgrund der vielen Perspektiven kaum Probleme zu haben, sie ist aber auch in weniger Abhängigkeitsverhältnissen gefangen. Ein Grund für die Unmöglichkeit der Aussöhnung zwischen Frau Schrader und ihrer alten Mutter ist sicher die familiäre Situation, die selbst die erwachsene Tochter in totaler Abhängigkeit hält - sowohl von ihrem Mann als auch von der Mutter als der Besitzerin der <?page no="307"?> 305 familiären Wohnung -, sodass ihr letztendlich nur der Befreiungsschlag eine Rettung des eigenen Selbst ermöglicht. 37 5.3 „Ein Verharren und gleichzeitig ein Loslassen“ 38 ? Das Alterskonzept in Heißt lieben Das langsame Übergleiten in das Vergessen der eigenen Person, wie es bei Helga Königsdorf geschildert wird, ist eine krankhafte Veränderung, die im Alter allerdings häufig auftritt. Auch für das normale Älterwerden ist charakteristisch, dass es für die Beobachter ein schleichender Prozess ist. Der Eintritt des Alters kann selten an einem konkreten Ereignis festgemacht werden. So ist auch in Schreiners Roman die Mutter der Ich- Erzählerin bereits alt, bevor dies von der Tochter bewusst wahrgenommen wird. Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass gerade die Kinder lange von einer Kontinuität des mittleren Erwachsenenalters im Leben der Eltern ausgehen. Durch die Geburt der Enkelin hat sich zwar das Leben der Tochter grundlegend verändert, dennoch geht mit dem Großmutterwerden für die alte Frau keine Veränderung in den Augen der Tochter einher. Auch die Erkrankung der Mutter an Hepatitis bedingt keine Änderung des Verhältnisses von Mutter und Tochter. Zwar stellt die Erkrankung eine Gefahr für das Leben der Mutter dar, doch selbst in diesem Fall ist die Sorge um eine möglich Ansteckung der eigenen Tochter größer als die Angst um die Folgen der Krankheit für die Mutter. So bleibt die Mutter- Tochter-Beziehung aufgrund der langen Selbstständigkeit der alten Frau über viele Jahre konstant. Von einem Alterskonzept der Tochter in Bezug auf ihre Mutter kann daher erst mit dem Herzinfarkt der Mutter gesprochen werden. Für den Leser ist die alte Mutter - so wie sie die Tochter beschreibt - schnell einer Kategorie zuzuordnen. Sie ist die alte Matrone, die in der Familie den Ton angeben möchte und deren negative Eigenschaften, Dominanzstreben und Meinungsterrorismus sich im Alter als dominant erwiesen haben. 39 Die Mutter wird nach der Einlieferung in 37 Neben dem Mutter-Tochter-Konflikt und der totalen Persönlichkeitsveränderung der alzheimerkranken Großmutter steht auch in diesem Roman die sozialpolitische Dimension im Vordergrund. Die Angst vor dem Statusverlust und der Verarmung treibt die Familie in ein moralisch verwerfliches Handeln, an dem sie letztendlich zerbricht, weil damit auch andere Probleme nicht länger verschwiegen werden können. Die Frau und Tochter wird mit der Sorge um die Großmutter alleingelassen, es gibt keine Anlaufstelle, die sie unterstützen würde. 38 Hl 61. 39 Die These, dass sich die negativen Eigenschaften einer Person im Alter verstärken, hält sich hartnäckig. Pasqualina Perrig-Chiello weist anhand der Daten einer interdisziplinären Altersstudie plausibel nach, dass eine hohe Stabilität der Persönlichkeitsmerkmale vom mittleren zum höheren Lebensalter besteht. Pasqualina Perrig- Chiello: Lust und Last des Älterwerdens - psychologische Betrachtungen. In: Jenseits <?page no="308"?> 306 ein Krankenhaus als alt und pflegebedürftig beschrieben. Die körperliche Schwäche weckt bei der Tochter ein Verantwortungsgefühl, wohingegen die emotionale Einsamkeit der Mutter und ihr Wunsch, von der Tochter und der Enkelin besucht zu werden, vor der Erkrankung bei ihrem Kind eine Abwehrhaltung ausgelöst hat. Im Vergleich zu Romanen, die überwiegend im Pflegeheim spielen, 40 wird die alte Frau aber aus der Tochterperspektive nicht als abstoßend wahrgenommen, sondern das Verhältnis der Tochter zur Mutter verändert sich insofern, als die Tochter den Körper der pflegebedürftigen Mutter nicht mehr ekelhaft findet. Ekel wurde zwar als Empfindung während der Weihnachtstage, als die Tochter mehrfach das Erbrochene der Mutter entfernte, nicht thematisiert, dennoch scheint mir der Umgang mit dem Körper der Mutter sowohl im Vergleich mit den anderen im Rahmen dieser Arbeit untersuchten Texten als auch im Gegensatz zu den von Veronica Beucker untersuchten autobiographischen Schriften bemerkenswert. Die positive Wahrnehmung des alten Mutterkörpers kann darauf zurückgeführt werden, dass die Tochter als Besucherin im Pflegeheim nicht selbst für die Körperpflege der Mutter verantwortlich ist. Andererseits zeigt sich im Text eine merkliche Tendenz zur Idealisierung der Mutter-Tochter-Beziehung nach dem Herzinfarkt der Mutter. Die positive Schilderung kann also auch als Kompensation von Schuldgefühlen bzw. dem Wunsch nach Versöhnung vor dem Tod der Mutter angesehen werden. In beiden Fällen ist es die psychische Disposition der Erzählerin, die das positive Alterskonzept bedingt. Damit findet sich in diesem Roman eine Gegenbewegung zu den anderen untersuchten Romanen. Werden dort alte Menschen auch als ekelerregend oder abstoßend beschrieben, so ist es in Schreiners Roman das „Siechtum“, das die Mutter liebenswert macht. Dabei werden ebenso die Versuche der Greisin beschrieben, ihre Würde auch in dieser Situation zu bewahren, 41 wie die emotionale Nähe der Tochter zur Mutter, die den Körper der Mutter nicht mehr abstoßend findet: „Die Zeichen des Siechtums stoßen uns nicht ab. Im Gegenteil. Erst da beginnen wir den Körper der Mutter zu mögen.“ (Hl 46). 42 Die neue Beziehung der Mutter drückt sich darin aus, des Zenit: Frauen und Männer in der zweiten Lebenshälfte. Hrsg. von Pasqualina Perrig- Chiello und François Höpflinger. Bern, Stuttgart, Wien 2000, S. 13-36, hier S. 22f. 40 Vgl. in Teil II das Kapitel 6 Zwischen Faszination und Ekel: Der Pflegeheimroman. 41 Vgl. hierzu z.B. die Beschreibung des Essens, das vor allem bei kranken bzw. pflegebedürftigen Menschen als unappetitlich beschrieben wird: „Ich füttere sie und sie lächelt und ißt langsam und wenn nur der kleinste Brösel in ihrem Mundwinkel hängengeblieben ist, fährt sie ganz langsam mit der Hand zum Mund und wischt ihn mit der Serviette weg.“ (Hl 56) oder „Die Mutter hat oft nichts essen wollen. Wenn sie gegessen hat, hat sie wenig gegessen, sie hat langsam gekaut und vorsichtig geschluckt. Es war schön, ihr beim Essen zuzuschauen.“ (Hl 63) 42 Vgl. hierzu frühere Kommentare der Ich-Erzählerin: „[Wir haben] jahrelang ertragen müssen, daß unsere Mütter beim Fernsehen ihre Hand auf unsere legen und »Muß <?page no="309"?> 307 dass die Tochter ihre alte Mutter gerne berührt, wohingegen sie früher darauf geachtet hat, Distanz zur ihr zu wahren. 43 Als Bestätigung, dass auch die Mutter die Situation ähnlich empfindet, deutet die Erzählerin unter anderem das Lächeln der Mutter. Im Gegensatz zu autobiographischen Erzählungen, wie z.B. Simone de Beauvoirs Auseinandersetzung mit dem Sterben der Mutter in Ein sanfter Tod, ist die Darstellung von Margit Schreiner verklärt. Körperlicher Verfall, Schmerzen und Leid, die bei Simone de Beauvoir einen Gegenpart zum Lächeln 44 und Lebenshunger der Mutter darstellen, werden bei Schreiner weitgehend ausgeklammert. Im Fokus der Erzählung steht - auch wenn vordergründig die Greisin beschrieben wird - immer die Tochter und deren Alterskonzept. In diesem ist die Hilflosigkeit der Mutter das zentrale Charakteristikum der alten Frau. Dieses wird in Schreiners Darstellung dementsprechend zum positiven Altersmerkmal umgedeutet. Die kranke alte Mutter wird zur schönen Alten, gerade weil sie sich nicht mehr zur Wehr setzen kann, weil sie nicht mehr in der Lage ist, ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Der Zwang, der von diesem Alterskonzept für die Greisin ausgeht, zeigt sich im Friseurbesuch am Tag vor ihrem Tod. Die Tochter ist sehr begeistert davon, wie gut die alte Mutter aussieht, wobei sie nicht wahrnimmt, dass der Aufenthalt beim Friseur, das lange Warten und aufrechte Sitzen die Kräfte der Mutter übersteigt. Die Dankbarkeit der Mutter, ihre Bemühungen, sich nicht anmerken zu lassen, wie es ihr tatsächlich geht, das Lächeln, das über ihren wahren Zustand und eventuelle Schmerzen und Ängste hinwegtäuscht, gehen über das Alterskonzept der schönen Alten hinaus. Es ist das Konzept der würdevollen Alten, das die Greisin aus einer objektiven Perspektive in diesem Roman vertritt. 45 Sie möchte niemandem zur Last fallen und ist daher bei den Pflegekräften beliebt. Sie macht sich dadurch gewissermaßen unsichtbar und zieht sich aus dem Leben, das sie zunehmend überfordert, zurück. Darauf, dass sie unter ihrem Alter leiden könnte, verweisen lediglich ihre körperlichen Reaktionen. Nach der Einlieferung ins Krankenhaus verbessert sich ihr Gesund- Liebe schön sein« sagen, während sich im Film ein Paar in den Armen liegt und küßt. Dadurch entsteht der Ekel vor den Müttern, der bei den Männern Ekel vor den Frauen, bei den Frauen den Selbstekel zur Folge hat. Erst wenn unsere Mütter krank und hilflos geworden sind, überwinden wir unseren Ekel.“ (Hl 38) 43 Eine ähnliche Beobachtung findet sich auch in Claudia Wolffs Roman Letzte Szenen mit den Eltern. 44 Das Lächeln stellt bei Simone de Beauvoir eine Erinnerung an die glücklichste Zeit im Leben der Mutter dar. Vgl. Beauvoir, Ein sanfter Tod, S. 56. 45 Den Begriff der Würde verwendet die Ich-Erzählerin auch selbst: „Die Zeichen des Siechtums stoßen uns nicht ab. Im Gegenteil. Erst da beginnen wir, den Körper der Mutter zu mögen. Im Siechtum haben unsere Mütter eine Würde, die sie gesund nicht gehabt haben.“ (Hl 46) Den Grund für diese neue Würde der Mutter erkundet die Tochter aber nicht. <?page no="310"?> 308 heitszustand rasch, sobald sie auf die gerontologische Abteilung verlegt wird, geht es ihr ebenso rapide schlechter (Hl 45f.). Das bewusste Wahrnehmen des Alters scheint sich negativ auf den Gesundheitszustand der alten Frau auszuwirken. Insofern sind auch die Überlegungen der Tochter, ob sie mit ihrer Ankündigung der Wohnungsauflösung und ihres Umzugs nach Italien den Tod der Mutter beschleunigt habe (Hl 63), als ichbezogene Reflexion zu verstehen. Das langsame Nachlassen der Kräfte der Mutter bedeutet einen Abschied vom Leben. Diesen kann die Tochter ebenso wenig wie eventuell damit verbundene Ängste der Mutter wahrnehmen, weil ihr die mit dem Konzept der würdevollen Alten verbundene neue Distanz der Mutter dazu verhilft, sich von ihr abzugrenzen, eine emotional zufriedene Beziehung zu ihr aufzubauen und sich mit ihr zu versöhnen. „Erst wenn die Eltern tot sind, beginnen die Kinder zu sterben“ 46 - Auseinandersetzung mit dem eigenen Altern nach dem Tod der Mutter Ist der erste, umfangreichste Teil von Schreiners Textes eine intensive Auseinandersetzung mit der Mutter und ihrem Sterben, so steht im zweiten Teil mit dem Titel Hochzeit die Verarbeitung der Todeserfahrung im Fokus. Bereits der Tod des Vaters hat eine Leerstelle im Leben der Tochter hinterlassen, die sich somatisch niederschlägt. Seit dem Tod des Vaters hat die Tochter jedes Jahr im Winter einen Husten, der mit Antibiotika behandelt werden muss (Hl 9). Dass diese an sich für die kalte Jahreszeit nicht ungewöhnliche Erkrankung mit dem Tod des Vaters in Verbindung gebracht wird und dass die Tochter versucht, diese mit Antibiotika in den Griff zu bekommen, verweist darauf, dass sie zumindest unbewusst den Tod als drohende Gefahr wahrgenommen hat. Mit dem Tod der Mutter werden keine direkten körperlichen Veränderungen in Zusammenhang gebracht. Zentral für die Auseinandersetzung mit dem Tod der Mutter ist vielmehr eine emotionale Wende bei der Tochter. Zum einen fühlt sich diese trotz der vielen positiven Erfahrungen nach dem Herzinfarkt schuldig, die Mutter alleingelassen zu haben (Hl 91). Andererseits zeigt die Tochter ein reflexartiges Festhalten an ihrem neuen Geliebten. Die Beziehung ist eindeutig als Kompensation für den Verlust der elterlichen Liebe angelegt: Wirst du mir Gesellschaft leisten, im Winter, wenn es dunkel ist und kalt? Wirst du mich nicht verlassen? Ich werde mich in deinem Mundbett zusammenrollen, ich werde mich so klein machen, daß ich Platz habe überall in deinem Gesicht, so wie ich damals, als ich ein Kind war, Platz hatte in dem Gesicht meines Vaters: Der Mund paßte in seine Augenhöhlen, mein Finger an seinen Nasenflügel, die Fingerkuppe unter das Ohrläppchen, mein Kopf in die Schulterhöhle, 46 Hl 96. <?page no="311"?> 309 mein Körper paßte zu seinem, wenn ich mich zusammenrollte und wenn er aufpaßte, daß ich nicht hinunterfiel. (Hl 84) Der neue Geliebte ist aber nicht nur Ersatz für die Eltern und Gefährte in der mit der Jahreszeitenmetaphorik aufgerufenen Lebensphase Alter. Er begleitet die Ich-Erzählerin ins Leichenhaus. Beim Blick in den Sarg der Mutter überfällt die Tochter Angst. 47 [A]ls ich mich über meine immer noch von ihrem Tod blutende Mutter beugte und den Kirschzweig auf ihren Oberkörper legte, über die Stelle, an der das Blut ohne Körperöffnung aus ihrer Haut sickerte, und als ich ihre harten Hände berührte und einen Augenblick lang Angst hatte, sie würde mich hinunterziehen zu sich in den Sarg und mitnehmen in ihren kalten Tod, da bist du hinter mir gestanden und deine Hände sind auf meinen Schultern gelegen. (Hl 99) Die Trauer um die Mutter wird in dieser Szene überlagert vom Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit. Die Angsterfahrung am Sarg bringt für die Tochter eine zweifache Erkenntnis. Dies wird im Vergleich mit der Wiederholung der Sequenz wenige Seiten später deutlich. Die Konjunktion „als“ ist allerdings im ansonsten identischen Wortlaut durch „nachdem“ ersetzt. Die Klimax läuft nun nicht mehr auf die Berührung durch den Geliebten zu, sondern auf eine Einsicht: [...] da begriff ich auf einmal, daß sie mich gar nicht hinunterziehen konnte in ihre Kälte und mich auch nie hatte hinunterziehen wollen in ihre Kälte, sondern mich eigentlich immer hatte einhüllen wollen in ihre Wärme, auch, als sie mir damals, als ich zum erstenmal blutete, den Gürtel brachte und sagte: Jetzt bist du eine Frau! Wovor mir aber ekelte. Ich wollte keine Frau sein. (Hl 126) In der Begegnung mit der toten Mutter setzt sich damit die Aussöhnung zu Lebzeiten fort. Die Tochter erkennt, dass das Hadern mit der Mutter letztendlich nicht dieser galt, sondern die Auseinandersetzung mit dem eigenen Frau-Sein bedeutete. Der Ekel, den die Ich-Erzählerin vor dem Körper der Mutter empfindet, entspricht dem Ekel angesichts des eigenen menstruierenden Körpers. 48 Erst durch die Aussöhnung mit der Mutter und durch die Todeserfahrung kann die Tochter sich selbst annehmen. 49 So 47 Ein erstes plötzliches Angsterleben hat die Tochter bereits, bevor sie von dem Tod der Mutter erfährt, aber zu einem Zeitpunkt, zu dem die Mutter vermutlich bereits tot ist: „Plötzlich hatte ich Angst, ich könnte umfallen und mir den Kopf an einer Tischkante aufschlagen, so daß Blut aus der Wunde liefe, bis ich verblutete, ich könnte mich durch den Luftzug von den große Fenstern verkühlen, eine Lungenentzündung bekommen, ich könnte stürzen und innere Blutungen davontragen, ich könnte sterben und hätte ihn nie kennengelernt.“ (Hl 92) 48 In diesem Zusammenhang erklärt sich auch, warum der Körper der toten Mutter blutet und das gesamte zweite Kapitel immer wieder auf die Blutmetaphorik zurückkommt. 49 Vgl. hierzu Roberta Maierhofer: „Feministinnen haben [...] darauf hingewiesen, dass die negative Sicht auf die Mutter die Bildung der eigenen Identität verhindere, weil <?page no="312"?> 310 erklärt sich, dass die Geburt der Tochter als dritte zentrale Erfahrung des weiblichen Körpers den dritten Teil des Buches bildet. Mit der Sargszene ist eine weitere Erkenntnis verbunden: die Erfahrung der eigenen Sterblichkeit. Diese wiederum ist eng mit der Figur des neuen Geliebten verknüpft. Seine Hand ist es, die die Ich-Erzählerin zurück ins Leben zieht. Der Geliebte - so zeigt sich im Lauf des zweiten Teiles - ist kein realer Mann, sondern eine Imagination der Erzählerin. Als solcher kommen ihm zwei Funktionen zu: Er steht für die Auseinandersetzung der Erzählerin mit der eigenen Identität im Akt des Erzählens. 50 Der Geliebte wird in Anlehnung an den Schauspieler entworfen, der die Hauptrolle in dem am Abend des Todes der Mutter uraufgeführten Theaterstücks der Ich-Erzählerin spielt. Der Schauspieler entschwindet aber nach der Party und taucht später ebenso plötzlich wieder auf (Hl 92). Die Erzählerin imaginiert im Folgenden einen Geliebten 51 , der für sie alles aufgibt und mit ihr nach Italien zieht: Ich bin so froh, daß du bei mir bist und nicht verschwinden kannst. Denn du bist nichts als eine Erfindung, ein engelhafter Schemen, eine Erscheinung. So gehörst du zu mir. Auch wenn keiner dich sieht. Komm, gib mir deine Hand. Ich werde uns eine Vergangenheit und eine Zukunft erfinden. (Hl 101) Mit den Worten „ich bin so froh“ greift der Text Worte der Mutter auf (Hl 75, 76). Diese beziehen sich aber nicht auf die Anwesenheit der Tochter in der Sterbestunde, sondern auf den bereits zitierten Termin für eine Röntgenaufnahme im Krankenhaus. Die Erzählung bannt somit die Gefahr der Einsamkeit. Der Geliebte wird zur Projektionsfläche, 52 die das Weitersich daraus eine ablehnende Haltung gegenüber der eigenen Person entwickeln kann.“ Maierhofer, Salty Old Women, S. 208. 50 Vgl. ebd., S. 211. 51 „Nach jener Nacht, als du mich zum erstenmal allein gelassen, also verraten hattest und nachdem ich dann am Morgen darauf die Nachricht vom Tod meiner Mutter erhielt, was meine Angst vor der Liebe milderte und deinen Verrat, denn du warst auf einmal vom Fest verschwunden, ohne ein Wort zu sagen, was du später noch öfter machen wirst, [...] und ich dich dann endgültig erfunden hatte, und nachdem wir schließlich in meine Geburtsstadt gefahren waren, um das Begräbnis meiner Mutter vorzubereiten, und zuerst zum Friedhof fuhren, um ihren Sarg öffnen zu lassen [...].“ (Hl 124f.) 52 Vgl. hierzu Vera Görgen, die die an der Mutter beklagte Wahrnehmungsstörung auf die Mann-Frau-Beziehung im zweiten Teil bezieht: „Eben jene Projektion und Vereinnahmung, vor der sie sich schützen will, feiert sie aber in der Liebe zwischen Mann und Frau.“ Da ich die Figur des Geliebten als reine Imagination betrachte, spielt diese Nähe zur mütterlichen Nicht-Wahrnehmung der Tochter im Folgenden keine Rolle. Grundsätzlich ist zu bemerken, dass die Rezensenten der Geliebten-Sequenz sehr große Bedeutung zumessen, ohne allerdings die Verbindung zum Tod zu beachten. Vera Görgen: Die Mütter! Schaudert’s Dich? Margit Schreiners Roman Heißt lieben. In: Süddeutsche Zeitung vom 21.07.2004. <?page no="313"?> 311 leben ermöglicht (Hl 96). Gleichzeitig ist dem Prozess der Imagination das Todesmoment eingeschrieben: Er war der Sessel, auf dem ich saß, der Tee, den ich trank, und die Zigarette, die ich gerade anzündete, die Schreibmaschine, auf der ich schrieb. Ich tippte auf seinem Körper. Aus seinen Knochen geschnitzt die Tastatur, feine Kalkknochen, wie frisch aus Gebirgen geschlagen, zurechtgemeißelt, zusammengefügt mit Knochenleim, überzogen mit seiner Haut. Jede Taste ein Grübchen seines Körpers, ein Bett für meine Fingerkuppe. (Hl 97) Für das „er“ in dieser Sequenz gibt es zwei Referenzen. Einerseits der „Gedanke“ oder „irgendein schwitzender Mensch, zufällig herausgepickt aus Millionen, nur wie die Raum-Zeit-Koordinate stimmt“ (Hl 96). Die zweite Möglichkeit erscheint mir in diesem Zusammenhang, der um die Frage nach der Projektion kreist, plausibler. Die Schreibmaschine besteht symbolisch aus dem Körper des Geliebten. Dessen Zerlegung in Knochen und Sehnen findet sich auch an anderer Stelle (Hl 99, 128). Die traditionellen Kennzeichen des Todes als Gerippe sind also ein zentrales Merkmal dieser Figur, der Geliebte selbst wird mit dem Tod als Figur gleichgesetzt. Die Ich-Erzählerin erinnert sich an ein Kloster in der Nähe ihres neuen Wohnsitzes in Italien: Wenn man auf den Turm des Klosters klettert, kommt man an einer Nische vorbei, in der hinter Glas ein Totenkopf liegt. Darunter steht: »So wie du bist, bin ich gewesen, so wie ich bin, wirst du sein.« Im Schatten seines Kopfes fielen am Horizont die Lepinerberge sanft ab zum Meer hin. [...] Er mußte vor mir auf dem Schreibtisch sitzen, genau an jener Stelle, an der jetzt meine Schreibmaschine steht. Ich stand vor ihm. Wenn ich sein Gesicht in beide Hände nahm und mich an ihn lehnte, dann lag seine Stirn an meiner Brust. (Hl 88) Mit „seinem Kopf“ kann in diesem Textauszug nur der im ersten Abschnitt genannte „Totenkopf“ gemeint sein. Der Geliebte verkörpert also als Todesimago das Memento Mori 53 des Totenkopfes. Er ist das Sinnbild für die Sterblichkeit der Tochter, die den Tod der Mutter betrauert. Die Aussage: „So wie du bist, bin ich gewesen, so wie ich bin, wirst du sein“, lässt das Bewusstsein für die weibliche Genealogie und die Ähnlichkeit zwischen Mutter und Tochter ebenso greifbar werden, wie es durch die enge Verknüpfung zwischen Todesnachricht und Geliebtem immer präsent ist. Auf diese Weise kann auch der beständige Wechsel zwischen Du- Ansprache und Erzählung vom Geliebten in der Er-Form im zweiten Teil erklärt werden. Die Ich-Erzählerin selbst ist unsicher und kann den neuen 53 Daniela Strigl spricht in ihrer Rezension in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zwar auch von einem „Memento Mori“, bezieht dies aber als Gattungsbezeichnung auf den ganzen Text und nicht explizit auf die Figur des Geliebten. Strigl, Nach der Lüge der Tod. <?page no="314"?> 312 Erfahrungen (noch) keine eindeutige Position zuschreiben. Schreiben und Leben, Imagination und Liebeserfahrung kommen zur Deckung. Damit werden Liebe und Tod als existenzielle Erfahrungen gegenübergestellt. Die Liebe ist einerseits das Schutzschild gegen die Todeserfahrung, 54 ist andererseits aber auch eng mit dieser verbunden, wenn die Erzählerin feststellt: „Lieben heißt warten und warten heißt sterben. In kleinen Einheiten, die rasch vergehen.“ (Hl 148) Eine Auflösung dieses Chiasmus liefert der Text ebenso wenig wie eine Erklärung dessen, was Leben und Tod bedeuten. Er zeichnet aber nach, wie die Wahrnehmung der eigenen Sterblichkeit an den Tod der Eltern rückgebunden ist. Dabei spielt das Liebeskonzept eine wesentliche Rolle, das körperliche Altern der Eltern hingegen kaum. Das Altern der Erzählerin selbst ist deshalb nicht als kontinuierlicher Prozess zu verstehen, der anhand körperlicher Veränderungen erfahrbar wird, sondern wird als Schicksalsschlag erlebt. Dies zeigt sich auch daran, dass es weniger die Zahl der Lebensjahre als vielmehr die Anzahl der Toten ist, die sich wie in einem modernen Totentanz nachts am Bett der Erzählerin einfinden (Hl 148f.). In die Selbstwahrnehmung der Figur ist das Altern als Prozess nicht integrierbar, wie die erstaunte Feststellung im letzten Satz des Textes demonstriert: „Dabei war ich gestern erst zehn Jahre alt.“ (Hl 149) Zusammenfassung Margit Schreiner arbeitet in ihren Texten mit einem wiederkehrenden Vaterbzw. Mutterparadigma. Damit zeigt sie „den Schrecken kleinbürgerlicher Festlegung, und sie zeigt das Komische aller Anstrengungen, dagegen aufzubegehren.“ 55 Dies hat zur Folge, dass die Figur der alten Frau in Schreiners Text weitgehend eine Leerstelle bleibt, die nur implizit gefüllt wird. Aus den Aussagen der Tochter ist eine Altersrepräsentation abstrahierbar, deren zentrale Facetten aus beiläufig Erzähltem erschlossen werden können. Neben dem von der Erzählerin entwickelten Alterskonzept der schönen Alten lässt sich auf diese Weise auch das Alterskonzept der würdigen Greisin aus den wenigen Beschreibungen der alten Frau herauslesen. Im Gegensatz zur Beschreibung in autobiographischen Texten stellt die von Margit Schreiner gewählte Form der Generalisierung und Typisierung Alter und Tod nicht ins Zentrum der Erzählung. Sie beleuchtet einen anderen für die Altersrepräsentation zentralen Aspekt, den Prozess der Bewusstwerdung der Sterblichkeit der mittleren Generation. Dennoch 54 „[...] die warme Hand auf meiner Schulter bewahrte mich vor dem Erstarren, vor der erneut aufsteigenden Kälte und vor dem ganzen Horror, der das Leben ist./ Ich küsse deine Hand, die immer noch auf meiner Schulter liegt. Und während das Land vor uns in immer tieferem Blauviolett versinkt, spüre ich dein Handgelenk unter der Haut, die verschiedenen Knochen. Willst du mich heiraten? “ (Hl 127) 55 Strigl, Heißt lachen, S. 53. <?page no="315"?> 313 handelt es sich um einen zentralen Aspekt der Erfahrung des Älterwerdens, den Margit Schreiner mit Heißt lieben in den Blick nimmt. Dieser wurde in den bislang untersuchten Figurenmodellen überwiegend durch den Blick in den Spiegel und die damit einhergehenden Wahrnehmung der körperlichen Veränderungen ausgelöst. Die Texte, die alte Eltern in den Fokus stellen, zeigen, dass dieser Prozess auch durch andere Erfahrungen - wie den Anblick der alten oder toten Mutter - in Gang gesetzt werden kann. <?page no="317"?> 315 6 Zwischen Faszination und Ekel: Der Pflegeheimroman 6.1 Einführende Überlegungen und Begriffsbestimmung In den letzten Jahren ist auch in der erzählenden Literatur das Interesse an Fragen der Pflegebedürftigkeit und Hilfsbedürftigkeit alter Menschen gewachsen. 1 Im Fokus der folgenden Überlegungen stehen keine Prosatexte, die das Sterben alter Menschen behandeln, 2 sondern Romane, in denen der Eintritt in das sogenannte funktionale Alter im Zentrum steht. 3 Damit ist Alter als die Lebensphase angesprochen, in der ein Mensch aufgrund von altersbedingten körperlichen oder geistigen Veränderungen nicht mehr in der Lage ist, für sich selbst zu sorgen. Leichtere Fälle der Unterstützung bestehen in der Inanspruchnahme von Pflegediensten oder Essen auf Rädern, 4 als Extremfall kann die Pflegebedürftigkeit mit Bettlägerigkeit ebenso wie schwere Fälle von Demenz angesehen werden. 5 Neben Texten aus Sicht der jüngeren Generation, die die Pflegebedürftigkeit von Ehepartnern, 6 Eltern oder Großeltern thematisieren und auf das 1 Zum öffentlichen Diskurs vgl. meine Überlegungen im Sammelband Alterskulturen und Potentiale des Alter(n)s: Liebe oder Entsorgung? Überlegungen zur Thematisierung der Pflegebedürftigkeit der Eltern in Literatur und Printmedien. In: Alterskulturen und Potentiale des Alter(n)s. Hrsg. von Heiner Fangerau u.a. Berlin 2007, S. 175-190. 2 Beispiele hierfür sind z.B. Ulla Berkéwiczs Romane Josef stirbt aus dem Jahr 1982, in dem eine Tochter in ihre Heimat reist, um das Sterben des Vaters zu begleiten, oder der aktuelle Roman der Autorin Überlebnis, in dem das Sterben des Ehemannes thematisiert wird. Oder Inka Pareis 2005 erschienener Roman Was Dunkelheit war, der mit den letzten Stunden eines erschöpft im Bett liegenden alten Mannes erzählt und dessen Geschichte mit der des Hauses verknüpft, das er kurz vor seinem Tod geerbt hat. 3 Im Folgenden gehe ich lediglich auf Prosa ein. Es ließe sich aber auch zeigen, dass es im Gegenwartsdrama durchaus Stücke gibt, die sich mit der Frage der Pflegebedürftigkeit im Alter und dem Leben im Pflegeheim auseinandersetzen. Beispiele sind von Gundi Ellert Elena und Robert, Sibirien von Felix Mitterer oder von Cornelius Schnauber Irme und Erna. Eine heitere Komödie. 4 Vgl. beispielsweise Wilhelm Genazino: Die Liebesblödigkeit. München 2005. Hier wähnt sich der fünfzigjährige Protagonist plötzlich alt und überlegt, ob er sich nicht „Essen auf Rädern“ bestellen soll (S. 29). 5 Vgl. hierzu beispielsweise Björn Kern, der in seinem Roman Die Erlöser AG den Fall einer Frau beschreibt, die ihren Körper aufgrund einer Muskelerkrankung nur noch rudimentär beherrscht und verzweifelt auf das Aussetzen ihrer Atmung wartet. Björn Kern: Die Erlöser AG. Roman. München 2007, S. 176-182. Seitenangaben mit dem Kürzel „EAG“ beziehen sich auf diese Ausgabe. 6 Vgl. Teil II Kapitel 7.2. <?page no="318"?> 316 familiäre Umfeld als Ort der Pflege eingegrenzt sind, 7 gibt es in jüngster Zeit auch einige Neuerscheinungen, die sich mit dem Leben in der Institution Pflegeheim auseinandersetzen. 8 Der Romantyp Pflegeheimroman ist weitgehend unbekannt und es stellt sich die Frage, inwieweit ein in erster Linie mit körperlichem und geistigem Verfall assoziierter Ort das Leserinteresse wecken kann. Der erste Roman dieser Textsorte ist der bereits im Rahmen der Interpretation von Monika Marons Ach Glück vorgestellte Roman Das Hörrohr der surrealistischen Künstlerin Leonora Carrington. 9 Dieser im Jahr 1974 erstmals in Paris in englischer Sprache veröffentlichte Text wurde 1986 ins Deutsche übersetzt und 2008 im Suhrkamp-Verlag neu aufgelegt. 10 Er erzählt die Geschichte der zweiundneunzig Jahre alten, schwerhörigen Marian Leatherby. Da sie der Familie ihres Sohnes zunehmend zur Last fällt, entscheidet sich diese dazu, die Greisin in ein Heim für senile Damen zu geben. Glücklicherweise hat die Protagonistin kurz vor ihrem Umzug von ihrer Freundin Carmella ein Hörrohr geschenkt bekommen, sodass sie Kontakt zur Außenwelt pflegen kann. Das von Leonora Carrington geschilderte Seniorenheim hat wenig mit einer realen Residenz für pflegebedürftige Damen zu tun und erfüllt die von der Protagonistin imaginierte Gefängnisatmosphäre nicht. Die Greisinnen wohnen in kleinen Hütten, die unterschiedlichste Formen, z.B. ein Iglu, ein Turm oder ein Pilz, haben. Betreut werden sie von einem Verwalterehepaar, das weniger um das körperliche als vielmehr um das geistige Wohl der alten Damen besorgt ist. Die alten Frauen werden als 7 Beispiele sind Barbara Bronnen: Die Überzählige. München 1984; Leonore Suhl: Frau Dahls Flucht ins Ungewisse. Roman. Düsseldorf 1996; Helga Königsdorf: Die Entsorgung der Großmutter. Roman. Berlin 1997; Margit Schreiner: Heißt lieben. Frankfurt a.M. 2003 und Nackte Väter. Roman. Frankfurt a.M. 2004 [EA 1997]; Claudia Wolff: Letzte Szenen mit den Eltern. Roman. München 2004. Vgl. hierzu auch in Teil II Kapitel 4.2 und 5. 8 Zentrale Texte sind: Erica Pedretti: Kuckuckskind oder Was ich ihr unbedingt noch sagen wollte. Roman. Frankfurt a.M. 1998; Marc Wortmann: Der Witwentröster. Roman. Köln 2002; Annegret Held: Die letzten Dinge. Roman. Frankfurt a.M. 2005; Harald Parigger: es tut fast gar nicht weh. Düsseldorf 2005; Annette Pehnt: Haus der Schildkröten. Roman. München, Zürich 2007; Kern, Die Erlöser AG. 9 Eine sehr frühe Darstellung eines Heims für alleinstehende ältere Frauen findet sich im Roman Die Fürstin des russischen Autors Anton echov aus dem Jahr 1889. Die Fürstin lässt hier ein Heim errichten, das ihren eigenen Ansprüchen genügen würde, aber nicht den Bedürfnissen der einfachen Frauen entspricht. Diese fühlen sich wie in einer ›Haft‹ und sind froh, als sie das Haus wieder verlassen können. Vgl. Dietrich von Engelhardt: Medizin in der Literatur der Neuzeit. Bd. I: Darstellung und Deutung. Stuttgart 1991, S. 313. 10 Die Aktualität dieses Textes zeigt sich übrigens daran, dass der Roman 2008 beim Verlag Hörbuch Hamburg als Hörbuch veröffentlicht und bei Suhrkamp als Taschenbuch neu aufgelegt wurde. Ich zitiere im Folgenden die deutsche Erstausgabe: Leonora Carrington: Das Hörrohr. Roman. Aus dem Englischen von Tilman Spengler. Frankfurt a.M. 1986 [Original: The Hearing Trumpet. Paris 1974]. <?page no="319"?> 317 sehr selbstständige, aber skurrile Bewohnerinnen beschrieben. So wundert es auch nicht, dass sie in Hungerstreik treten, als das Verwalterehepaar sich weigert, einen Mordfall zu untersuchen. Der Roman endet schließlich damit, dass die Welt ihre Bahn verlässt, eine Eiszeit ausbricht und die alten Damen mit Bienen, Ziegen, von einer Werwölfin angeführten Wölfen und anderen Tieren zusammenleben, um der Göttin Hecate Zam Pollum den Heiligen Gral zurückzuerobern. Trägt der Roman von Leonora Carrington im Unterschied zu den meisten Pflegeheimromanen der Jahrtausendwende surrealistische Züge, so erfüllt er doch das zentrale Merkmal der Romanart. Wie der Name bereits andeutet, ist der Pflegeheimroman durch eine relativ ungewöhnliche Kategorie bestimmt, durch den Ort der Handlung, das Pflegeheim. Diese Romanform kann in zwei Textsorten unterteilt werden: Romane, die überwiegend im Kontext Pflegeheim angesiedelt sind. Diese nenne ich geschlossene Pflegeheimromane. Daneben gibt es auch Romane, die nur teilweise im Pflegeheim spielen und als offene Pflegeheimromane bezeichnet werden können. Um den unterschiedlichen Konzeptionen gerecht zu werden, werde ich im Folgenden verschiedene Romane in den Blick nehmen. Zum ersten Typus, den man auch als geschlossenen Pflegeheimroman charakterisieren könnte, gehört neben Marc Wortmanns Erfahrungsbericht eines Zivildienstleistenden im Roman Witwentröster 11 zum Beispiel Annegret Helds Roman Die letzten Dinge. 12 In diesem Text wird der Alltag auf der Station III im ›Haus Abendrot‹ beschrieben, wobei neben den Sorgen und Nöten der Bewohner auch das Lebensumfeld der Pflegekräfte großen Raum einnimmt. Auch weitgehend auf das Lebensumfeld Pflegeheim konzentriert ist der Roman Königsmatt des aus der deutschsprachigen Schweiz stammenden Autors Pierre Chiquet. 13 Dieser Roman erzählt die Geschichte eines in der Schweiz angesiedelten Altersasyls für gutbetuchte Pensionäre. Als eines Tages das Essen nicht rechtzeitig serviert wird, erwachen die alten Figuren aus ihrer Lethargie und organisieren ihren Alltag in der Folge wieder selbst. Alter wird in diesem Roman als Selbstfindungsprozess entworfen. Vermittelt Pierre Chiquet zwischen der aus der Nullfokalisierung erzählten Sicht der Pfleger und den inneren Monologen der Bewohner, so gibt es auch Romane, die weitgehend aus der Perspektive der Heimbewohner erzählt sind. Beispiele hierfür sind Erica Pedrettis Roman Kuckuckskind oder Was ich ihr unbedingt 11 Marc Wortmann: Der Witwentröster. Roman. Köln 2002. Seitenangaben mit dem Kürzel „Wt“ beziehen sich auf diese Ausgabe. 12 Annegret Held: Die letzten Dinge. Roman. Frankfurt a.M. 2005. Seitenangaben mit dem Kürzel „DlD“ beziehen sich auf diese Ausgabe. 13 Pierre Chiquet: Königsmatt. Roman. Zürich 2003. <?page no="320"?> 318 noch sagen wollte 14 oder die vorsichtige Liebesgeschichte zwischen zwei Pflegeheimbewohnern in Jürg Schubigers Roman Haller und Helen. 15 Zur Gruppe der offenen Pflegeheimromane gehört beispielsweise Björn Kerns Roman Die Erlöser AG, in dem der Autor der Frage nachgeht, welche Auswirkungen es für eine überalterte Gesellschaft hat, wenn die Sterbehilfe legalisiert wird. Im Gegensatz zu dieser Dystopie ist Annette Pehnts Roman Haus der Schildkröten 16 aus dem Jahr 2007 in der Gegenwart angesiedelt. In Pehnts Roman sind die alten Figuren Frau von Kanter, der Professor, Frau Hint und Herr Lukan über den situativen Kontext des Pflegeheims und durch dessen typische Handlungsabläufe charakterisiert, wohingegen die jüngeren Protagonisten Regina und Ernst nicht an diesen räumlichen Kontext gebunden sind. Ebenfalls dieser Form zugehörig ist der Kriminalroman es tut fast gar nicht weh. 17 Dieser beginnt mit einem für ein Pflegeheim nicht ungewöhnlichen Vorfall: Die alte Ruth Kleinschmidt wird eines Morgens tot in ihrem Bett aufgefunden. Die junge Altenpflegerin ist etwas verwundert über den plötzlichen Tod der alten Dame, da diese in den letzten Tagen sehr ängstlich war. Die Behauptung der Freundin am offenen Grab, dass Ruth Kleinschmidt einem Verbrechen zum Opfer fiel, bestätigt die junge Frau in ihrem Verdacht und sie beginnt, Nachforschungen anzustellen. Da die Romanform des Pflegeheimromans eher unbekannt ist, möchte ich eine kurze synoptische Gegenüberstellung mehrerer Romane anschließen. Dabei werden zentrale Handlungs- und Darstellungselemente sowie die charakteristischen Figurengruppen im Fokus stehen. Exemplarisch werde ich im Anschluss daran den Roman Der Witwentröster von Marc Wortmann analysieren. Altenghetto? Haus Abendrot? - Der Ort der Handlung Betrachtet man die Geschichte der Institution Pflegeheim, so befindet sich diese in der Gegenwart in einem Wandel begriffen. Entstanden sind Alten- und Pflegeheime - so wie wir sie heute kennen - erst Mitte der 1980er Jahre. Gab es über viele Jahrhunderte hinweg lediglich die öffentliche Aufgabe, armen Menschen, Waisen, Kranken, Irren und anderen gesellschaftlichen Randgruppen eine Minimalversorgung durch Schlafplätze und Lebensmittelversorgung zur Verfügung zu stellen, so wandelte sich das Bild spezieller Altenheime bereits in den 1960er und 1970er Jahren. In Anlehnung an Krankenhäuser wurde die Voraussetzung für eine rationelle Pflege geschaffen. Ein Beispiel für ein solches Altersheim alten Typs findet 14 Pedretti, Kuckuckskind. 15 Jürg Schubiger, Haller und Helen. Roman. Innsbruck 2002. 16 Annette Pehnt: Haus der Schildkröten. Roman. München. Zürich 2007. Seitenangaben mit dem Kürzel „HdS“ beziehen sich auf diese Ausgabe. 17 Parigger, es tut fast gar nicht weh. <?page no="321"?> 319 sich in Kathrin Schmidts Roman Die Gunnar-Lennefsen-Expedition, der im Jahr 1976 spielt. Die alte Protagonistin Therese besucht ihre langjährige Freundin Erna Pimpernell, die „[...] nach den schweren Unfällen des Alterns, einem gewaltigen Hirnschlag und zwei Infarkten“ 18 in einem Pflegeheim mit dem beschönigenden Namen „Feierabendheim“ (GLE 68) lebt, das von mürrischen Schwestern geführt wird. Erna liegt in einem Mehrbettzimmer und scheint von der Gegenwart, der schlechten Versorgung und der unangenehmen Atmosphäre nicht mehr sehr viel wahrzunehmen (GLE 69-71), lediglich der in regelmäßigen Abständen hervorgestoßene Ruf nach „Blutwurst“ ist ein Indiz für ihre Unzufriedenheit. Auf etwas mehr als zwei Seiten entwirft Kathrin Schmidt ein eindrucksvolles Bild eines Lebens im Pflegeheim, das von Demenz und körperlichem Verfall beherrscht ist. Sie zeichnet dabei eine Einrichtung, die an dem Defizitmodell des Alters orientiert ist, das alte Menschen als inaktive, durch Krankheit und andere körperliche Abbauprozesse gezeichnete Menschen ansieht, denen eine Unterkunft im Alter angeboten wird. Eine wohnliche Atmosphäre - wie sie Therese bei ihrem Besuch zu schaffen versucht 19 - wird dabei von der Heimleitung oder den Pflegekräften nicht angestrebt. Diese Struktur hat sich in den letzten dreißig Jahren grundlegend geändert. Nicht nur die architektonische Gestaltung nimmt inzwischen die Bedürfnisse der alten Menschen wahr. Zwei- und Mehrbettzimmer sind weitgehend abgeschafft, die Einrichtungen versuchen Wohn- und Pflegebedürfnisse zu koordinieren und gehen zum größten Teil von einem Kompetenzmodell des Alters aus. 20 Das Alten- oder Pflegeheim 21 ist ein Ort, der typischerweise mit dem Alter verbunden ist. Neben den negativ besetzten Pflegeheimen gibt es 18 Kathrin Schmidt: Die Gunnar-Lennefsen-Expedition. Roman. München 2000, S. 69. Vgl. zur Interpretation des Romans meine Überlegungen in Teil II Kapitel 4.3. 19 „Es macht ihr Spaß, was Therese ihr einflötet, sie beginnt zu murmeln zwischen den Zähnen und antwortet auf ihre Art: Sie schreit: BLUTWURST! [...] Therese weiß schon, sie ist vorbereitet auf den Besuch. In ihrer knautschledernen Handtasche hat sie ein Viertelpfund Blutwurst mitgebracht, mit fetten Einsprengseln, wie die Freundin sie mag. Therese bittet die Schwestern, das Wurststück braten zu dürfen. [...] Als Therese mit dem Füttern fertig ist, klappert auf dem Flur der Essenswagen, die Zimmergefährtinnen Erna Pimpernells erheben sich im Dämmerzustand aus ihren Betten, schlurfen zur Tür und fassen, blaugeädert ihr Griff, nach den Schüsseln, die ihnen gereicht werden.[...] Leichte Übelkeit bringt Thereses Frühstücksspeckmus durcheinander. Sie drückt die gute Erna Pimpernell fest an ihre Brust, knöpft ihr die Bluse bis zum Hals zu, weil ihr das würdevoller erscheint, und läuft mit trippligen Schritten, kopflos beinahe, davon.“ (GLE 69-71) 20 Einen kurzen Überblick über die Entwicklung der Alten- und Pflegeheime in Deutschland gibt: Hans-Werner Prahl: Soziologie des Alterns: eine Einführung. Paderborn, u.a. 1996, S. 155-158. 21 Als Heime werden im deutschen Heimgesetz Einrichtungen definiert, „die dem Zweck dienen, ältere Menschen oder pflegebedürftige oder behinderte Volljährige aufzunehmen, ihnen Wohnraum zu überlassen sowie Betreuung und Verpflegung <?page no="322"?> 320 aber auch einen Raum, der für Menschen im dritten Lebensalter zunehmend an Attraktivität gewinnt: die Seniorenresidenz. Hierbei handelt es sich um Einrichtungen neuen Stils. 22 Sie nehmen die alten Menschen bereits auf, solange sie körperlich und geistig noch gesund sind, und bieten ihnen ausreichend Wohn- und Lebensraum sowie das Versprechen, dass sie im Fall der Pflegebedürftigkeit im Haus selbst betreut werden können. Damit ist es also weniger die Gebrechlichkeit, die als gemeinsames Merkmal der Bewohner dient, als vielmehr der Wunsch, im Alter versorgt zu sein und den Kindern nicht zur Last zu fallen. Die rüstigen Alten können bei ihrem Einzug meist viele persönliche Gegenstände mitnehmen und ihre eigene kleine Wohnung nach persönlichen Vorlieben und Gewohnheiten einrichten. 23 Damit bleibt die Individualität auch im Rahmen einer Einrichtung für ältere Menschen gewahrt. Eine besondere Form einer solchen Seniorenresidenz wird in Pierre Chiquets Roman Königsmatt beschrieben. Hier sind die Räumlichkeiten des Altersasyls dadurch als Raum für Außenseiter charakterisiert, dass das Altenheim in den Räumen einer ehemaligen psychiatrischen Klinik unterzur Verfügung zu stellen oder vorzuhalten, und die in ihrem Bestand von Wechsel und Zahl der Bewohnerinnen und Bewohner unabhängig sind und entgeltlich betrieben werden“. Auffallend an dieser Definition ist, dass Bewohner eines Heims sich immer durch ein Defizit auszeichnen: Alter, Pflegebedürftigkeit oder Behinderung. Damit ist das Heim als Einrichtung immer negativ konnotiert. Bundesministerium der Justiz: Heimgesetz §1, zitiert nach: http: / / bundesrecht.juris.de/ heimg/ [gesehen am 22. Juni 2008]. Ich unterscheide im Folgenden nicht zwischen Alten-, Alters- und Pflegeheimen, da auch im Pflegeheim in der Regel aus ökonomischen Gründen rüstige, alte Menschen aufgenommen werden, die noch nicht als Pflegefall zu bezeichnen sind. In der ehemaligen DDR wurde darüber hinaus der Begriff des Freizeitheims verwandt; in der deutschsprachigen Schweiz findet sich der Begriff Altenasyl, der indes nicht negativ besetzt ist. 22 Vgl. hierzu beispielsweise den Kriminalroman von Harald Parigger, es tut fast gar nicht weh. Hier wird der Wandel in der Heimkultur mehrfach thematisiert. Es wird wiederholt darauf hingewiesen, dass der Heimleitung ebenso wie der Betreibergesellschaft sehr wichtig ist, dass die Heimbewohner, die als Gäste oder Kunden bezeichnet werden, ihre Individualität und Selbstständigkeit bewahren und jeden Komfort erhalten, den sie sich wünschen (S. 12). 23 Ein Beispiel für die Ansiedelung einer Romanhandlung in einer Seniorenresidenz ist Ulla Hahns Roman Unscharfe Bilder. Der Romananfang verdeutlicht die Besonderheit dieser Heimform: „Seine Möbel hatte er, soweit sie Platz fanden, mitnehmen können, selbst einen großen Teil der Bibliothek, den Rest wußte er bei seiner Tochter gut untergebracht. [...] Er fand sich gut zurecht in dem großzügigen Haus am Hafen. Seine Pension reichte für ein Appartement auf der richtigen Seite, dort, wo man die Sonne im Elbstrom untergehen sah, dort, wo der Blick auf die Wellen ging, als versichere ihr gleichmäßiger Schlag, daß alles noch lange - immer und immer - so weitergehen könne. Die weniger Betuchten des Seniorenheims, Residenz, wie man das hier nannte, schauten auf Fischhallen und heruntergekommene Häuser.“ Ulla Hahn: Unscharfe Bilder. Roman. München 2003, S. 9. <?page no="323"?> 321 gebracht ist. Entsprechend wird das von den Pflegern organisierte Leben als stumpfsinnig und sinnentleert dargestellt. Der Autor spielt hier also mit der Nähe des Pflegeheims zum Gefängnis. Allerdings geht das Konzept der Leitung nicht auf. Die alten Menschen haben zu Beginn des Romans enorme Probleme damit, sich in ihrem Lebensumfeld zurechtzufinden, nehmen dann aber das Gebäude (und ihr Leben) langsam in Besitz. Symbolisiert wird dies dadurch, dass die alten Menschen zuerst ihre Zimmer, dann das ganze Gebäude und später auch den angrenzenden Ort mit Ornamenten verzieren und damit die Räume zum Singen bringen. 24 Grundsätzlich gilt für jedes Pflegeheim, dass es metaphorisch gelesen ein „Ort hoher moralischer Verantwortung und darüber hinaus die buchstäbliche Heimstatt des Verdrängten“ 25 ist. Neben den lebensweltlichen Aspekten sind es gerade diese beiden Gesichtspunkte, die das Pflegeheim für die literarische Bearbeitung interessant machen. Dabei darf freilich der Mehrwert der literarischen Darstellung nicht vernachlässigt werden. In der fiktiven Beschreibung des Pflegealltags spielt es beispielsweise eine zentrale Rolle, ob der Pflegeheimroman der Gattung Kriminalroman angehört oder ob er eher eine Sonderform des Entwicklungsromans vorstellt, in dem beispielsweise die Bildung eines jungen Zivildienstleistenden im Vordergrund steht. In der fiktiven Darbietung werden Heime unterschiedlichster Ausprägung entworfen. Sie bilden einen Mikrokosmos durch ihre Abgeschlossenheit und die Eigentümlichkeit ihrer Bewohner. Mit Michel Foucault kann man das Pflegeheim daher als ›anderen Raum‹ begreifen, da er zwar einen Platz in der Gesellschaft hat, gleichzeitig aber einen Unort, einen blinden Fleck im gesellschaftlichen Diskurs beschreibt. 26 Durch diese 24 Die Entdeckung des Ornaments im Gemeinschaftsbereich durch den Pfleger Peschke gibt einen sehr guten Eindruck von der Gestaltung des Kunstwerkes: „Allmählich überliessen sich seine Augen dem Farben- und Formenreichtum, folgten den Ornamentgirlanden, entdeckten immer neue Motive, gehorchten dem Rhythmus der Linien, liessen sich leiten von den Akanthusblättern, die sich entlang der Salontür hinaufrankten bis zu den fleischigen roten Blumen, die über der Leibung blühten und umgeben waren von einem Gewirr farbtrunkener Knospenornamente, verweilten einen Augenblick lang bei einem Meer vielfarbiger Blattrosetten über der Konsole, glitten weiter zu den Fenstern, zu den verschiedenfarbigen Rocaillen und stilisierten Spielkarten, von denen Diamant- und Mäanderbänder zur Decke führten, und jetzt glaubt er in jedem Ornament, in jedem Motiv die unverwechselbare Handschrift jeden Pensionärs, ja, diese selbst zu erkennen, hinter jedem Strich eine bestimmte Gebärde, hinter jedem Bogen eine Geste, hinter jedem Farbtupfer ein Mienenspiel. Als wären den Pensionären die Farben eines langen Lebens zu Linien und Formen zusammengeflossen.“ Chiquet, Königsmatt, S. 102. 25 Petra Kohse: Versuch mal Rosenöl. Annegret Held erzählt aus dem Inneren eines Altenheims. In: Frankfurter Rundschau vom 07.12.2005. 26 Michel Foucault zählt das Altenheim zu den Heterotopien. Diese sind durch die Abweichung von gesellschaftlichen Normen gekennzeichnet. Im Fall der Altenheime definiert Foucault den Widerspruch zur Norm der Freiheit im Müßiggang als zentrales Kennzeichen der Altenheime. Diese Beobachtung ist zwar sehr interessant, <?page no="324"?> 322 Verortung der Pflegeheime am Rande der Gesellschaft sind sie prädestiniert, sowohl die Gesellschaft selbst als auch ihre Mitglieder zu charakterisieren. Hier ist das Außenseitertum des in einem solchen Heim lebenden alten Menschen durch zwei Merkmale betont: Einerseits wird Alter als Krisenerfahrung und andererseits als Abweichung von der Norm des jugendlichen, gesunden Körpers empfunden. Das Leben in einem Heim, das oft erst dann beginnt, wenn der alte Mensch sich nicht mehr selbst versorgen kann, widerspricht den gegenwärtigen Erwartungen an alte Menschen. Wenn Alter als soziale Leistung gesehen wird, dann bedeuten die Aufgabe von Selbstständigkeit und der Verzicht auf vielfältige Freizeitaktivitäten eine Entfernung von der Gesellschaft. Wie in der Beschreibung des Pflegeheims als ›anderem Ort‹ bereits zum Ausdruck kam, werden die Bewohner eines solchen an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Gerade von den Rändern aus ist aber manchmal ein differenzierterer Blick auf gesellschaftliche Entwicklungen und Missstände möglich. Eine sehr detaillierte Raumkonzeption weist Annegret Helds Roman Die letzten Dinge auf, da hier nicht nur die Räume der Pflegestation beschrieben werden, sondern ein Gesamtkonzept des Gebäudes vorgestellt wird. Dem gesamten Roman liegt die Tendenz zugrunde, das Pflegeheim nicht als letzte Station im Leben eines Menschen zu sehen, sondern das Pflegeheim wird als Lebensraum beschrieben. Der für die Romanhandlung ebenso wie für das Alltagsleben zentrale Gebäudebereich ist die Pflegestation III. Die Gestaltung der Station findet sich in ähnlicher Weise in allen Romanen. Zur Station gehören neben dem Aufenthaltsraum für die Bewohner auch der Personalraum, die Wohnräume der alten Figuren und der Flur. In diesen Räumen spielt sich ein großer Teil der Handlung der Romane ab. Meist werden sie nur rudimentär beschrieben, da die Autoren davon ausgehen, dass jeder Leser eine Vorstellung davon hat, wie ein Pflegeheim aussieht. Annegret Held geht zwar auch von einer intuitiven Zuordnung aus, dennoch finden sich im Roman immer wieder realistische doch leider ist der Begriff der Heterotopien zu weit gefasst, um als heuristisches Mittel für die Textanalyse nutzbar gemacht werden zu können. (Michel Foucault: Andere Räume. In: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Hrsg. von Karlheinz Barck, Peter Gente, Heidi Paris und Stefan Richter. Leipzig 1990, S. 34-46, hier S. 40f.) Bei Foucaults Interpretation muss zudem mitbedacht werden, dass sie in die Zeit der gesellschaftlichen Diskussion der Disengagementtheorie der frühen 1960er Jahre fällt. Diese von Cumming und Henry entwickelte Theorie geht davon aus, dass das Alter durch den Verlust von Kontakten und Aktivitäten geprägt sei. Da dies ein natürlicher Vorgang ist, müsse dies vom älter werdenden Menschen hingenommen werden, um erfolgreich zu altern. Heute wird hingegen vielfach die Aktivitätstheorie vertreten, die Krankheit und körperliche Beeinträchtigungen als negative Seite des Alternsprozesses bewertet. Diese stellen aber keine zwangsläufigen Beeinträchtigungen dar und sind daher so lange wie möglich zu bekämpfen, um den Menschen ein erfolgreiches Altern zu ermöglichen. <?page no="325"?> 323 Beschreibungen der Räume, die zugleich auch Rückschlüsse auf die Figuren selbst zulassen. So fällt z.B. der Tochter eines Heimbewohners in Annegret Helds Roman nicht nur auf, dass die Räume hell und freundlich gestaltet sind, sie assoziiert die jahreszeitliche Dekoration und die Basteleien an den Wänden sofort mit der Raumgestaltung in Kindergärten (DlD 41). Hiermit zeigt sie, dass sie mit alten Menschen wenig zu tun hat, sondern in ihrem Alltag ihr eigenes Kind eine wichtige Rolle spielt. In diesem Kontext wird aber auch die traditionelle Verbindung von Kindheit und Alter aufgerufen. So unmündig wie Kinder sind auch die alten Menschen, die im Pflegeheim untergebracht sind. Allerdings kann die räumliche Gestaltung auch andere Funktionen als die der Figurencharakterisierung haben. So wird z.B. durch die Gestaltung des Gebäudes von der Heimleitung eine Rangordnung unter den Bewohnern festgelegt. Dies beschreibt Thomas Lang in seinem Roman Am Seil aus Sicht des Bewohners Bert wie folgt: Der blaue Trakt, die Höchststrafe. Wer in den roten wechseln muss, ist bereits raus; wer in den blauen kommt, ist praktisch tot. Bert selbst wohnt im grünen Trakt, gewissermaßen an der Grenze. Gut ist nur Orange. - Wer denkt sich so was aus? Ein sublimes Foltersystem für alle, die bei klarem Verstand hierher kommen. Vier Farben, vier Schritte auf dem Weg ins Grab. 27 Eine solche Raumbeschreibung sagt schon sehr viel über das implizite Alterskonzept eines Textes aus. Wenn - wie in diesem Beispiel - die Übersiedlung in einen Bereich für Pflegebedürftige mit Begrifflichkeiten aus der Strafjustiz belegt wird und die Raummetaphorik an die Beschreibung eines Gefängnisses erinnert, dann wird das Erreichen der Lebensphase Alter nicht nur als Verlust von Freiheiten angesehen, sondern der Pflegebedürftige selbst wird nicht als Inhaber eines kranken Körpers interpretiert, sondern für seine Lage selbst verantwortlich gemacht. Der alte Mensch selbst hat versagt und wird hierfür bestraft. Hier ist eine Rückkehr zu alttestamentarischen Denktraditionen zu vermuten: Der Gerechte wird von Gott mit einem langen Leben belohnt, wohingegen derjenige, der die christlichen Gebote nicht befolgt, bestraft wird. 28 Dieses restriktive Alterskonzept wird von Thomas Lang in seinen negativen Auswirkungen thematisiert, gegen die sich die alten Menschen in seinem Roman nicht auflehnen. Neben der Station als Lebensmittelpunkt der alten Menschen gibt es weitere Räume, die das Konzept eines Pflegeheimes erweitern. 27 Thomas Lang: Am Seil. Roman. München 2006, S. 33f. 28 Vgl. Kathrin Liess: ›Der Glanz der Alten ist ihr graues Haar‹. Zur Alterstopik in der alttestamentlichen und apokryphen Weisheitsliteratur. In: Alterstopoi. Das Wissen von den Lebensaltern in Literatur, Kunst und Theologie. Hrsg. von Dorothee Elm u.a. Berlin 2009, S. 19-48. <?page no="326"?> 324 Der Keller stellt in Annegret Helds Roman einen abschreckenden Ort dar. Hier befindet sich zum einen ein Raum, in dem verstorbene Heimbewohner aufgebahrt werden. Die Verdrängung des Todes findet also selbst in einem Haus statt, in dem der Tod den Aufenthalt eines jeden Bewohners in der Regel beendet. Zudem werden die letzten Hinterlassenschaften - Möbel, Lampen und anderes Inventar - hier aufbewahrt. Im Keller finden sich aber auch Lagerräume für Verbrauchsmaterialien wie Windeln und die Technik, die der Betrieb des gesamten Hauses voraussetzt. So wird z.B. die Problematik der völligen Überforderung der Pflegekräfte durch eine ineffektive Heimleitung in Annegret Helds Roman auch dadurch symbolisiert, dass die Heizung, die das gesamte Haus mit warmem Wasser versorgen soll, wochenlang defekt ist. Es kann nicht in allen Räumen auf warmes Wasser zugegriffen werden. Die Stationsleiterin möchte sich daraufhin beim Hausmeister beschweren und findet sich in einer kafkaesken Situation wieder. Der unter der Heizung hervorkriechende Hausmeister schildert ihr die Unmöglichkeit, den Schaden zu beheben, ebenso wie er sich aufgrund seiner Arbeitsbelastung außerstande sieht, sich um andere dringende Reparaturen zu kümmern (DlD 255f.). Schwester Rosalinde muss daher unverrichteter Dinge wieder auf ihre Station zurückkehren. Die erhoffte Arbeitsentlastung erhält sie nicht. Aber es gibt nicht nur die Räume unter dem Haus, es werden auch Räume über der Station beschrieben. In einer „Kleiderkammer unter dem Dachjuchhee“ (DlD 8) werden neben der Nähmaschine und diversen Nähutensilien viele alte Kleider aufbewahrt. In diesen Kleidern - so empfindet es zumindest die Pflegekraft Gianna - sind die bereits verstorbenen Heimbewohner noch präsent. Gianna verspürt ein Unbehagen, wenn sie diesen Raum betritt: »Der Sommer, seiner Feste müd, hält seinen Kranz in welken Händen ...« So stand es auf dem Kalender im Speisesaal. »... Nun löst sich sacht, der letzte Tanz, der Regen stürzt, es fliehn die Gäste ...« Herbert Hesse oder so. Hier oben waren auch alle schon geflohen. Das Leben war aus den Kleidern geflohen. Die Franziskanerinnen, die das Haus früher betreut hatten. Gianna wollte auch fliehen. Aus dieser staubigen Kleiderkammer, mit all ihrem Geflüster, den allzu eng gehängten Geschichten, dem ineinander verwebten und verhäkelten ewigen Spinnengesang seiner Bewohner. (DlD 9) Allerdings ist in diesem Raum nicht nur die Geschichte des Hauses lebendig, es geschehen auch ungewöhnliche Dinge. Mehrere Figuren sehen eine weiße, nebelartige Gestalt, die sich als die Seele einer früheren Ordensschwester entpuppt, die noch nicht in der Lage war, das Haus zu verlassen. Hier zeigt sich also auch ein phantastisches Element, mit dem dem vielfachen Sterben in einem Pflegeheim Rechnung getragen wird. Der Tod beschäftigt auch die Bewohnerin eines anderen Raumes. Der Hilfskraft Lotta wurde von der Heimleitung angeboten, dass sie kostenlos <?page no="327"?> 325 in einem Zimmer im Pflegeheim wohnen kann. Da Lotta relativ wenig Geld und nach einem längeren Englandaufenthalt kaum soziale Kontakte hat, entscheidet sie sich dafür, das Zimmer unter dem Dach zu beziehen. Bei dieser Entscheidung spielt aber auch die Räumlichkeit selbst eine wichtige Rolle. Lotta hat sich sofort in das Zimmer verliebt, weil es ein hohes, bogenförmiges Fenster hat (DlD 18), das ihr den Blick über die Stadt ermöglicht und somit auch zum Symbol für Lottas Freiheitsdrang wird. Auch wenn es ihr in dem fünfeckigen Zimmer sehr gut gefällt, so sind doch die negativen Assoziationen mit dem Gebäude Pflegeheim bei ihr präsent und sie stellt sich die Frage: „Konnte man Luft holen in einem Zimmer, das über einem Pflegeheim lag? War das Luft? “ (DlD 19) Aufgrund mangelnder Perspektiven, weil in ihrem Zimmer alles „gut und frisch“ (DlD 19) riecht, verdrängt Lotta ihre Bedenken und nimmt das Memento Mori, dem sie nun auch in ihren Privaträumen ausgesetzt ist, in Kauf. Im Lauf des Romans zeigt sich, dass Lotta sich in diesem Zimmer sehr wohl fühlt. Sie erforscht darüber hinaus mit dem Pfleger Ivy die kleine Dachterrasse, die auch während des Dienstes für Raucherpausen genutzt wird. Die Erkundung des Hauses korrespondiert hierbei mit Lottas Auseinandersetzung mit dem Pflegeberuf und den Problemen der alten Menschen. Von der alltäglichen Pflege bis zur Sterbebegleitung lernt sie alle Aufgabenbereiche kennen und entscheidet sich dann, eine Ausbildung zur Altenpflegerin zu machen. Ein Raum, der von Held weitgehend ausgegrenzt wird, ist das direkte Umfeld des Gebäudes. Die meisten Heime verfügen über einen Garten, sodass zumindest kleinere Spaziergänge der Bewohner möglich sind. Aber auch der Anblick des Gartens vom Fenster aus symbolisiert die Sehnsucht nach Freiheit und dem früheren Leben. Der Garten kann aber auch die Hoffnung auf Verjüngung symbolisieren. So blüht der Apfelbaum im Garten der Luisenstiftung in Marc Wortmanns Roman Der Witwentröster nach Jahren plötzlich wieder. Zwar gibt es dafür eine rationale Erklärung, der Küster hat ein altes Mittel angewandt und das Wurzelwerk mit Komposterde umgeben (Wt 297), aber dennoch zeigt die Freude der alten Damen an dem blühenden Baum, dass sie diesen auch in Beziehung zu ihrem eigenen Leben setzen. Dies tut übrigens auch der Zivildienstleistende. Dass der Apfelbaum nur in dem Sommer blüht und Früchte trägt, in dem er in der Luisenstiftung tätig ist, interpretiert er als Bestätigung seiner Arbeit (Wt 343). In der Regel werden die Räumlichkeiten, wenn nicht von einem außenstehenden heterodiegetischen Erzähler, dann meist aus der Perspektive von Personal oder Angehörigen beschrieben. Hier herrscht also ein Blick von außen auf den Heimalltag vor. Eine eigene Sichtweise entwickelt die Protagonistin von Erica Pedrettis Roman Kuckuckskind oder Was ich ihr <?page no="328"?> 326 unbedingt noch sagen wollte. Der gesamte Roman ist aus der internen Fokalisierung einer alten Frau erzählt. Diese freut sich über die scheinbar unpersönliche Atmosphäre im Pflegeheim, weil die weißen Wände für sie die Erlösung von einem Leben bedeuten, in dem sie nicht glücklich war. 29 Der Ortswechsel wird daher auch nicht als negatives Erlebnis thematisiert, sondern erlaubt - gerade aufgrund der Unbesetztheit des Pflegeheims - ein Eintauchen in Erinnerungsräume und das Aufarbeiten der eigenen Lebensgeschichte. Das Leben im Pflegeheim wird damit in diesem Text als bewusst erlebte Phase des Abschieds dargestellt. Anders gelagert ist der Blick auf das Leben im Heim vor allem dann, wenn der Pflegeheimroman im Grenzfall der Seniorenresidenz angesiedelt ist. Die literarische Darstellung erinnert hier eher an Sanatoriumsdarstellungen wie z.B. in Thomas Manns Roman Der Zauberberg. Das Heraustreten aus der Gesellschaft ist bei den Bewohnern nicht durch körperliche Defizite - hier sind sich Sanatorium und Pflegeheim sehr ähnlich -, sondern durch die soziale Rolle des Rentners oder Pensionärs gekennzeichnet. In Ulla Hahns Roman Unscharfe Bilder wird en passant der Alltag in einer solchen Residenz geschildert. Besonders das tägliche Zusammentreffen mit den gleichen Menschen ruft Parallelen zu den Tischgesellschaften im Zauberberg hervor. Und auch die weitgehende Abgeschlossenheit gegenüber äußeren Einflüssen und die Erinnerung an ein früheres Leben außerhalb des Heims macht die Seniorenresidenz zu einem für die Lebensphase Alter typischen Ort. 30 Hingegen steht das Leben in der Seniorenresidenz nicht im Fokus des Romans. Dieses liefert lediglich den Rahmen für die Auseinandersetzung zwischen Vater und Tochter um seine Vergangenheit. Ulla Hahns Roman ist damit ein gutes Beispiel dafür, dass durch den größeren 29 „Ich möchte keine geblümte Tapete mehr, möchte überhaupt keine farbigen Tapeten, möchte auch kein Haus mehr. Und das ist längst vorbei, das war noch zu Hause, wohin ich in Wahrheit gehöre, wohin ich gehörte, eine Ewigkeit her, schon mehr als mein halbes Leben her./ Hier gibt es nur noch weiße Wände. Hier, wohin ich jetzt gehöre. Das Fenster steht offen, beide Flügel weit offen, die Frühlingssonne fällt auf den Teppich und wärmt das Fußende des Betts, wärmt meine Füße, die müden Füße, ein angenehm leichter Wind zieht herein.“ Pedretti, Kuckuckskind, S. 7f. 30 „Trotz der Jahre, die Hans Musbach hier schon so wohlumsorgt verbracht hatte, fand er noch immer wenig Gefallen an diesen gemeinsamen Mahlzeiten. Es fiel ihm schwer, Gespräche zu begleiten, die oft von der Gegenwart nur mehr aufnehmen wollten, was aus ferner Vergangenheit betrachtet wichtig zu sein schien. Wie ein langsam vertrocknender Teich, dem der einst quellende Bach versiegt war [...] Musbach wußte nur zu gut, was ihm fehlte. Es war nicht der Verlust seiner gewohnten Häuslichkeit, die er erst verlassen hatte, als er spürte, daß Katja zuviel Zeit und besorgtes Nachdenken für sein tägliches Leben aufwenden mußte. Er vergaß auch nicht, daß er mit diesem Platz an der Elbe, umgeben von liebgewonnenen Gegenständen, so etwas wie das große Los gezogen hatte. Ihm fehlte das Gespräch mit jungen Leuten, das war nun mal die unausweichliche Folge des Alters.“ Hahn, Unscharfe Bilder, S. 10f. <?page no="329"?> 327 Bewegungsradius der Figuren in Seniorenresidenzen in diesem Romantyp auch eine breitere Themenpalette zu finden ist. In den Pflegeheimromanen stehen überwiegend Heime im Fokus, die an dem in der Realität weitgehend überholten Leitbild des Krankenhauses orientiert sind 31 und somit nicht den aktuellen Stand der Heimgestaltung wiedergeben. 32 Diese Konzeption verweist ebenfalls darauf, dass das mit den Pflegeheimromanen verbundene Alterskonzept nicht die aktuelle Vielfalt nachzeichnet, sondern noch an Defizitmodellen orientiert ist. Allerdings stellt sich bei der Heterogenität der Bewohner einer Pflegestation die Frage, inwiefern sich negativ gefärbte Alterskonzepte unterscheiden und ob Alter hier tatsächlich überwiegend als biologischer Verfallsprozess dargestellt wird oder ob andere Aspekte des Alters im Fokus stehen. Auf einen weiteren wichtigen Aspekt des realen Heimalltags möchte ich an dieser Stelle hinweisen, da er auch für die Interpretation der Romane immer wieder eine Rolle spielen wird: die Wirtschaftlichkeit. Da Heime entgeltlich betrieben werden, stellt sich die Frage, wie sich die Bezahlung für die Betreuung auf das Verhältnis zwischen Heimleitung, Personal und Heimbewohnern auswirkt. Gerade die Auswirkung der ökonomischen Bedingtheit auf die zwischenmenschlichen Beziehungen wurde in der soziologischen Forschung immer wieder thematisiert und diskutiert. So stellen beispielsweise Dießenbacher und Schüller mit der sogenannten ›Lohnpflegetheorie‹ die These auf, dass die Voraussetzung für eine gute Pflege den Einfluss der älteren Menschen auf den Lohn ihrer Pflegekräfte voraussetzt. Solange dies nicht der Fall ist, werden die alten Menschen für ihre Pflegekräfte nicht von Belang sein, bzw. diese begegnen ihnen gleichgültig. 33 Von der Heimverwaltung erteilte Anweisungen müssen die Pflegekräfte andererseits weitgehend unwidersprochen hinnehmen, da ein Streik als Affront gegen die alten Menschen auf enormen gesellschaftlichen Widerstand stoßen würde. 34 Damit sind das Leben im Pflegeheim und die zwischenmenschlichen Beziehungen nach Ansicht von Dießenbacher und Schüller auf vielfältige Art und Weise beeinträchtigt. Der Konflikt, der aus der Unvereinbarkeit von Vorgaben der Heimleitung und dem realen Pflegealltag resultiert, wird in mehreren Romanen thematisiert. Führt dieser in der sehr stark idealisierten Darstellung Annegret Helds zu einer familienähnlichen Gemeinschaft der Pflegekräfte, so führen z.B. in Wortmanns Roman gerade die schwer einzuhaltenden Zielvorgaben zu Konkurrenzkämpfen unter den Pflegekräften, die auf 31 Einen kurzen Überblick über die Entwicklung der Alten- und Pflegeheime in Deutschland gibt: Prahl, Soziologie des Alterns, S. 155-158. 32 Am offensichtlichsten ist dies bei Wortmanns Witwentröster. Hier teilen noch mehrere Pflegeheimbewohnerinnen ein Zimmer. Aber auch die Romane von Annegret Held, Annette Pehnt und Björn Kern vertreten ein veraltetes Heimkonzept. 33 Prahl, Soziologie des Alterns, S. 175. 34 Ebd. <?page no="330"?> 328 Kosten des Zivildienstleistenden und der pflegebedürftigen alten Damen ausgetragen werden. Reine Tristesse? Wiederkehrende Handlungsmuster Der Plot ist in diesen Romanen meist recht einfach gestaltet. So wie der Tagesablauf in Pflegeeinrichtungen einem festgelegten Rhythmus folgt, so sind diese Romane überwiegend chronologisch erzählt und durch wiederkehrende Ereignisse im Heimalltag strukturiert. Typische Handlungsabläufe wie Körperpflege, Essensausgabe, Besuchszeiten und Gemeinschaftsveranstaltungen wie Gymnastikstunden oder der gemeinsame Nachmittagskaffee nehmen einen sehr großen Raum ein. Diese werden auch zur Strukturierung der Romane eingesetzt und haben oftmals leitmotivischen Charakter. So wiederholt sich beispielsweise in Annegret Helds Roman Die letzten Dinge immer wieder folgende Szene: Dreizehn Kännchen Kaffee wackelten auf dem Tablett hin und her, als Lotta ihren Wagen schob. Die Kännchen hatten keine Deckel und ihre Zuten waren angeschlagen. Aber der Kaffee duftete über den ganzen Flur von Zimmer zu Zimmer und über die Gänge von Station zu Station durch das ganze Haus. Sieben Schnabelbecher wackelten ebenso und jeder Schnabelbecher hatte einen anderen Deckel. Gelbe Becher hatten blaue Deckel, blaue Becher hatten grüne Deckel und die meisten Becher waren gelblich weiß und ihre Schnäbel leicht zerbissen. (DlD 6) Bereits diese kurze Textpassage enthält sehr viele Informationen. Das Verhältnis von Kaffeekännchen und Schnabelbecher zeigt an, wie viele Bewohner Lotta zu versorgen hat und in welchem Gesundheitszustand sich diese befinden. Wer aus einer Tasse trinken kann, ist noch sehr selbstständig, wohingegen körperlich stark beeinträchtigte Bewohner nur noch aus einem Schnabelbecher trinken können. Der Hinweis auf den Kaffeeduft im ganzen Haus zeigt die Wohnlichkeit des Hauses an und den Versuch der Mitarbeiter, ein behagliches Umfeld zu schaffen. Dies ist für einen Pflegeheimroman insofern wichtig, als oftmals der olfaktorische Sinn - entweder in Bezug auf den Geruch von Seife und Desinfektionsmittel 35 35 Vgl. Königsmatt von Pierre Chiquet. Hier ist ein Pfleger regelmäßig damit beschäftigt, mit einem Duftspray den Geruch der alten Körper zu überdecken. Vom Erzähler wird diese Handlung folgendermaßen kommentiert: „Zweimal täglich eilte Karloff sprühend von Stockwerk zu Stockwerk durch die Gänge und Räume, als atmeten sie das ranzig-säuerliche Aroma eines üblen Geschäfts oder eines Grabgewölbes, als wären alle Möbel, Teppiche und Tapeten von der Düsternis des Alters glasiert, als wolle er den Geruch des Alters bändigen und den Moder von Krankheit und Tod gar nicht erst aufkommen lassen. [...] Die Pensionäre sprachen von der chemischen Meeresbrise, von der Königsmatter Duftkeule. Nicht einmal mehr die Luft gehörte ihnen, nicht einmal im Atmen waren sie frei.“ Chiquet, Königsmatt, S. 24. <?page no="331"?> 329 oder auch der Geruch 36 (oder je nach Wahrnehmung Gestank 37 ) der alten Menschen - betont wird. Die Ordnung des Pflegeheimes scheint aber auch gestört zu sein. Die Zuten der Kaffeekännchen sind angeschlagen und die Zeit, zu jedem Schnabelbecher den passenden Deckel herauszusuchen, scheint Lotta nicht zu haben. Auch wenn die Buntheit der Schnabelbecher auf Kreativität und auf Behaglichkeit verweist, so deuten sie doch auch darauf hin, dass ein Konflikt zwischen der Sorge um die alten Menschen und den Rahmenbedingungen der Pflege bestehen könnte. Neben alltäglichen Handlungsabläufen gibt es zum einen Begebenheiten, die in unregelmäßigen Abständen eintreffen, wie z.B. der Tod eines Heimbewohners und die anschließende Aufnahme eines neuen Bewohners. Daneben spielen auch Erkrankungen eine besondere Rolle, da sie für den alten Menschen die Gefahr eines baldigen Todes sichtbar machen und das Pflegepersonal vor besondere Herausforderungen stellen. Selten sind Formen der Auflehnung wie in Pierre Chiquets Königsmatt zu finden. Meist bestehen Pflegeheimromane aus mehreren Handlungssträngen. Hier können z.B. im geschlossenen Pflegeheimroman die Probleme einiger weniger Heimbewohner im Fokus stehen, oder in der offenen Romanform wird der Alltag auf der Station mit privaten Erfahrungen bzw. Entwicklungen von Angehörigen (vgl. Pehnt) oder Personal (vgl. Held) verknüpft. Durch den Tod eines Bewohners kann auch ein Handlungsstrang abbrechen bzw. durch die Aufnahme eines neuen Bewohners eine neue Handlungsebene eröffnet werden. Neben Auflehnung und Tod gibt es aber auch andere Motive, die immer wiederkehren: „Der Eros stirbt zuletzt, erst mit der Person, egal wie hinfällig und abwesend die Witwe mittlerweile sein mag.“ 38 Diese Feststellung von Lutz Hagestedt in seiner Rezension von Marc Wortmanns Witwentröster spricht einen Aspekt an, der im Pflegeheimroman nicht erwartet wird, 39 der aber dennoch in allen Romanen präsent ist: Auch die 36 „Nicht der Geruch war es, der sie irritierte, es war der Geruch, der so ähnlich in den meisten Zimmern des Altenheims hing, süßlich-muffig, nach welker, nicht mehr schwitzender Haut und selten gelüfteten Kleidern, nach alten Möbeln, nach Mottenpulver und Lavendel.“ Parigger, es tut fast gar nicht weh, S. 17. 37 Vgl. Wortmann, Der Witwentröster, S. 9. 38 Lutz Hagestedt: Das Bettzeug war stärker. Witwentröster Marc Wortmann erobert die Herzen der stolzesten Frauen. In: literaturkritik.de (2001) Nr. 1. http: / / www.literaturkritik.de/ public/ rezension.php? rez_id=5537 [gesehen am 04.07.2008]. 39 Hier spiegelt sich auch eine lange Zeit in den Sozialwissenschaften vertretene These wieder, dass nämlich die Bewohnern von Pflegeheimen kein Interesse an Sexualität mehr zeigten. Inzwischen wurde festgestellt, dass dieses Ergebnis weniger an den Bedürfnissen der alten Menschen orientiert war, sondern vielmehr Ergebnis des Fragedesigns sozialwissenschaftlicher Studien war, das zum einen Fragen nach der Sexualität alter Menschen nur sehr zaghaft stellte und andererseits Sexualität im Rahmen von Krankheitsstudien abfragte. Vgl. Rüdiger Lautmann: Soziologie der <?page no="332"?> 330 Bewohner von Pflegeheimen haben sexuelle Sehnsüchte und Wünsche. 40 In Annette Pehnts Roman Haus der Schildkröten wird nicht nur die Liebesbeziehung zwischen zwei Angehörigen entwickelt, sondern auch zwei Heimbewohner kommen einander näher. Die körperlich etwas gehandicapte, aber geistig rege Frau Hint nimmt sich rührend ihres Zimmernachbarn, des durch einen Schlaganfall gelähmten Herrn Lukan, an. Ist das Pflegepersonal anfangs erfreut, da durch die Anwesenheit der alten Dame der Betreuungsaufwand geringer ist, so kippt die Stimmung als das alte Paar gemeinsam in seinem Bett liegt. Da dem alten Mann, der sich nicht mehr verständigen kann, nicht nur Wehrlosigkeit, sondern auch Desinteresse an dieser Form körperlicher Nähe unterstellt wird, wird die alte Frau gebeten, das Heim zu verlassen. Pehnt wirft damit zwei zentrale Fragen auf: Warum wird alten Menschen unterstellt, dass sie kein Bedürfnis nach körperlicher Nähe und Sinnlichkeit haben? Warum gehen gesunde Menschen davon aus, dass sie eindeutig entscheiden können, was für Menschen, die nicht mehr mit Sprache kommunizieren können, das Beste ist? Aus soziologischer Sicht wird für die Abwehr von Alterssexualität die These herangezogen, dass jemand, der für andere nicht sexuell attraktiv ist, sich auch nicht zu anderen hingezogen fühlen könne und solle. 41 Damit ist also die vermeintliche Unattraktivität und damit das an Jugendlichkeit und Reproduktion orientierte gesellschaftliche Körperbild 42 die Ursache für die Tabuisierung von Alterssexualität. Andererseits stellt sich dem Pflegeheimpersonal in der Regel eine sehr spezielle Situation dar. Die alten Menschen sind von körperlichem Verfall gezeichnet und auf ihre Unterstützung in allen Lebensbereichen angewiesen, sodass ein Ausleben sexueller Wünsche nur schwer denkbar ist. Zudem kommt die Besonderheit des Ortes hinzu. In Pflegeheimromanen steht die letzte Lebensphase im Fokus, daher wird der Tod und vor allem der Umgang mit dem Sterben der alten Menschen immer wieder thematisiert. Hier kann es sich einerseits um einen Sexualität. Erotischer Körper, intimes Handeln und Sexualkultur. München, Weinheim 2000, S. 100. 40 Vgl. z.B. die Reflexion eines alten, nach drei Krebsoperationen stark geschwächten Mannes mit nicht mehr heilender Bauchdecke und Kotsäckchen, das den Inhalt seines Darms auffängt: „[...], sie legte ihre weichen Hände an Hermanns stachelige Wangen, und Hermann Borges wollte sich nicht eingestehen, dass er Diana Millers Auftritt verabscheute und gleichzeitig ihren Körper unter sein Laken sehnte, da war man vierundsiebzig geworden, hatte drei Krebsoperationen hinter sich und soeben mit der AMK telefoniert, um aus dem Leben zu scheiden, und dann dachte man beim Anblick eines zugegebenermaßen außergewöhnlichen Busens sofort wieder an Sex.“ (EAG 144) 41 Lautmann, Soziologie der Sexualität, S. 100. 42 Dass alten Figuren nicht zwangsläufig Unattraktivität unterstellt wurde, zeigt unter anderen das auf Seite 336 angeführte Beispiel aus dem Roman Die Schule der Nackten von Ernst Augustin. <?page no="333"?> 331 unnatürlichen Tod handeln, sodass der Pflegeheimroman mit dem Kriminalroman verknüpft ist. Mit dieser Variante spielt beispielsweise Harald Parigger. Sein Roman es tut fast gar nicht weh beginnt mit dem Tod einer bislang sehr gesunden, aber in den Tagen vor ihrem Tod sehr ängstlichen alten Dame. Der Arzt macht sich nicht die Mühe, sie näher zu untersuchen, und da keine Spuren von Gewalteinwirkung zu erkennen sind, geht er aufgrund ihres hohen Alters von Herzversagen aus. 43 Der Leser erfährt im Verlauf des Romans zwar, dass die alte Frau mit einer Überdosis Insulin ermordet wurde, offiziell wird der Mord aber nicht aufgedeckt. Eine weitere eher ungewöhnliche Todesart ist der freie Entschluss einer alten Figur, zu sterben und mit Sterbehilfe durch einen Mediziner oder Verwandten aus dem Leben zu scheiden. Dies thematisiert Björn Kern, der mit der Erlöser AG eine Institution beschreibt, die es sich nach der fiktiven Abschaffung des Paragraphen 216 zur Aufgabe gemacht hat, Sterbewillige zu unterstützen. Wesentlich häufiger ist in dieser Romanform in Folge des Alters der Protagonisten allerdings der natürliche Tod. Bei der Integration von Sterben und Tod in den Pflegeheimroman ist interessant zu beobachten, wie in einer Umgebung, in der das Sterben mehr oder weniger zum Alltag gehört, mit dem Tod umgegangen wird. Es fällt auf, dass zwar oftmals die Zeit für eine intensive Sterbebegleitung fehlt, dass es den Pflegekräften aber dennoch wichtig ist, die Sterbenden angemessen zu begleiten. So wacht z.B. in Annegret Helds Roman die junge Aushilfe Lotta bei einer sterbenden Heimbewohnerin und gibt ihr - aufgrund ihrer Ratlosigkeit im Umgang mit dem Tod - die letzte Ölung und liest eine Sterbelitanei (DlD 190-203). Religiöse Riten dienen hier in abgewandelter Form dazu, sich dem Sterbenden zu nähern und die Todesbegegnung zu ritualisieren. Bei erfahreneren Pflegekräften wird die Trauer über den Tod eines Menschen meist durch die Maske der Professionalität überspielt, dies bedeutet aber nicht, dass es für die Mitarbeiter keine Belastung ist, regelmäßig mit dem Tod konfrontiert zu sein. Einen sehr pragmatischen Umgang mit dem Tod zeigt die Stationsschwester Rosalinde im Roman Die letzten Dinge. Sie nimmt sich für jeden Bewohner, von dem sie sich verabschiedet, zehn Minuten Zeit, in denen sie die gemeinsame Zeit Revue passieren lässt. Dann wird der Körper ein letztes Mal gewaschen und liebevoll hergerichtet (DlD 204f., 208-211). Aus der Perspektive der Angehörigen oder auch der Mitbewohner lassen sich die Reaktionen auf das Todeserlebnis bzw. eine Todesnachricht nicht so leicht kategorisieren. Hier gibt es dann je nach Art der Beziehung unterschiedlichste Umgangsformen bzw. Arten, die Trauer auszudrücken und sie zu verarbeiten. Da sich diese nicht immer im Pflegeheim abspielen, 43 „Sie hatte tachykarde Herzrhythmus-Störungen und erhöhten Blutdruck. Herzstillstand nach Infarkt, würde ich sagen.“ Parigger, es tut fast gar nicht weh, S. 20. <?page no="334"?> 332 werden sie auch seltener thematisiert. Allgemein lässt sich feststellen, dass gerade der Umgang mit Sterben und Tod im Pflegeheim - ebenso wie das Verhältnis zur Alterssexualität - ein Gradmesser für die in einer Gesellschaft verankerte Humanität ist. Die soziale Welt: das Figurenensemble Das Figurenensemble ist in dieser Untergattung sehr einfach charakterisierbar: Es besteht aus den Pflegebedürftigen bzw. Heimbewohnern selbst, dem Pflegepersonal und den Angehörigen, die zu Besuch kommen. Je nach Intention des Romans steht mehr die eine oder mehr die andere Figurengruppe im Zentrum. Meist spielt hierbei aber das Alter eine wichtige Rolle, indem nämlich mit Kontrastrelationen zwischen jungen und alten Figuren gespielt wird. Aufgrund des eher gradlinigen Plots stehen in der Regel zwei Fragen im Zentrum der Erzählung: Wie gehen die einzelnen Figuren mit ihrem Altern und der Pflegebedürftigkeit um? Was macht den Menschen aus, wenn seine Körperfunktionen und sein Gedächtnis nachlassen? Tattergreis und Witwe - die alten Figuren Die Bewohner eines Pflegeheimes kann man auf unterschiedliche Weise charakterisieren. Am offensichtlichsten ist die Unterscheidung nach dem Status des körperlichen Degenerationsprozesses und den vorhandenen kognitiven Fähigkeiten. Aus der Kombination dieser beiden Merkmale entstehen folgende, vom Leser meist intuitiv erfasste Altersrepräsentationen: bettlägerige und demente Bewohner, die zeitweise oder dauerhaft nicht mehr in der Lage sind, auf ihre Umwelt zu reagieren; bettlägerige Bewohner, die körperlich sehr stark geschwächt sind, aber nur unter geringen geistigen Behinderungen leiden; demente oder psychisch kranke Bewohner, die aber körperlich wenig beeinträchtigt sind und daher große Aufmerksamkeit verlangen; körperlich und geistig kaum beeinträchtigte Bewohner, die weitgehend selbstständig ihren Alltag bewältigen können. Diese Gruppe findet sich in den anderen, in dieser Arbeit untersuchten Themenbereichen häufiger. Im Rahmen des Pflegeheimromans stellt sie meist die Mitglieder des Heimbeirates. Da es sich in der Regel bei der Figurenrezeption im Pflegeheimroman - zumindest was die alten Figuren betrifft - um einfache Kategorisierungen handelt, kann der Leser die alten Figuren sehr schnell einer der genannten Gruppen zuordnen. Selbst bei einem Wechsel in eine andere Figurengruppe aufgrund von voranschreitenden Abbauprozessen würde ich nicht <?page no="335"?> 333 von einer Änderung der Kategorisierung in bezug auf die Individualität der Figur sprechen. 44 Diese würde ich in dieser Romanform in erster Linie dann ansetzen, wenn wegen der ausführlichen Schilderung der Lebensgeschichte bzw. der intensiven Auseinandersetzung mit dem Leben im Pflegeheim - wie dies z.B. in Erika Pedrettis Roman der Fall ist - eine erhebliche Veränderung des Merkmalssatzes zu erkennen ist. Die alten Figuren sind aber mit diesem Kategorisierungsmuster nur sehr oberflächlich erfasst, da es ihre Persönlichkeit nicht berücksichtigt. Es greift eine Tendenz auf, die mit einer anderen Gemeinsamkeit aller Figuren im Pflegeheimroman korrespondiert: Die alten Menschen haben ihren Wohnraum aufgegeben, um ihren Lebensabend in einem Altenheim, einem Pflegeheim oder einer Seniorenresidenz zu verbringen. Lässt letztere einen sehr großen individuellen Spielraum, so sind Alten- und Pflegeheim dadurch charakterisiert, dass dem alten Menschen neben den Gemeinschaftsräumen nur noch ein Raum zur Verfügung steht, in dem er sich überwiegend aufhält. Leben, Essen und Schlafen finden somit auf engstem Raum statt. Selbst die Struktur dieses Zimmers ist oftmals vorgegeben. Nur wenige persönliche Gegenstände konnten aus dem früheren Wohnraum mitgenommen werden. Durch die Einheitlichkeit der Räume kommt diesen für die Charakterisierung der Figuren eine wichtige Rolle zu, denn je weniger persönliche Gegenstände der Figur zugeordnet werden, umso wichtiger sind diese wenigen Dinge für ihre Charakterisierung. Raumgestaltung und Figurencharakterisierung hängen also auch im Pflegeheimroman eng zusammen. Die Reduzierung von Individuellem hat auch Auswirkungen auf die Wahrnehmung der alten Menschen durch die Pflegepersonen. So vergleicht die Soziologin Irmhild Saake die Bedingungen ambulanter und stationärer Pflege und kommt zu dem Ergebnis, dass durch den biographischen Bezug, den die Wohnung ermöglicht, eine individualisierte Pflege möglich ist, die sich auf das Vertrauensverhältnis zwischen dem Pflegenden und dem Pflegebedürftigen positiv auswirkt. 45 Da diese persönliche Komponente im Pflegeheim weitgehend fehlt, werden die alten Menschen weniger über persönliche Eigenheiten, sondern vor allem über den zu erwartenden Betreuungsaufwand kategorisiert. Aufgrund von Beobachtungen im realen Pflegealltag hat Saake sechs Typen herausgearbeitet: 46 der Verwirrte der Kommandeur 44 Vgl. hier beispielsweise die im Rahmen von Marc Wortmanns Roman Der Witwentröster vorgestellte Figur der Witwe Meldorf. 45 Irmhild Saake: Theorien über das Altern: Perspektiven einer konstruktivistischen Alternsforschung. Opladen 1998, S. 183. 46 Ebd., S. 186. <?page no="336"?> 334 die Unauffällige (sehr häufig bei Frauen zu beobachten) der Apathische der Verweigerer der Helfer. Lassen diese Typen in der fiktionalen Darstellung einer Figur durchaus auch Rückschlüsse auf die Eigenschaften der Figur und auf das Leben vor dem Umzug ins Pflegeheim zu, so sind sie doch zu allgemein, um als alleinige Kategorisierungsmerkmale für die Gestaltung einer Altersrepräsentation herangezogen zu werden. Vielmehr müssen andere Charakterisierungselemente berücksichtigt werden. Neben der Klassifikation über die Umgebung spielt bei Figuren auch immer die Charakterisierung über die Sprache eine wichtige Rolle. Durch altersbedingte Beeinträchtigungen ist die Kommunikation mit alten Menschen oft erschwert. In der fiktionalen Darstellung gibt es Möglichkeiten, diese Kommunikationsdefizite zu thematisieren. So kann aus der Perspektive der alten Menschen gezeigt werden, wie problematisch Kommunikationsschwierigkeiten für die alten Figuren selbst sind. Sehr sensibel und mit einem ironischen Unterton geht Annette Pehnt mit dieser Thematik um. Die Autorin wählt über weite Strecken eine wechselnde interne Fokalisierung. Eine heterodiegetische Erzählstimme hat Einblick in die Gedanken aller Protagonisten, sodass zum Beispiel auch die Gedanken einer durch einen Schlaganfall schwer im Sprechen beeinträchtigen Frau wiedergegeben werden können. Diese zeigen, dass die alte Frau keinesfalls so dement ist, wie sie aufgrund ihrer körperlichen Verfassung scheint, sondern sehr genau registriert, was um sie herum geschieht. Wie sich in den bisherigen Interpretationen gezeigt hat, ist es fast immer der sich verändernde Körper, der das Alter des Menschen anzeigt und den Altersdiskurs auslöst. Eine Altersidentität wird in Auseinandersetzung mit der sich verändernden Körperlichkeit herausgebildet. 47 Angesichts des ständigen Ausgeliefertseins des Körpers im öffentlichen Raum des Pflegeheims kommt dem Körper eine neue Funktion zu. Er ist nicht mehr nur Motor der Entwicklung einer Altersidentität, sondern deren Herausbildung ist meist nur noch im Rückzug in den eigenen Körper möglich. 48 Andererseits werden die Körper weitgehend entindividualisiert und infantilisiert, auch dadurch, dass den alten Menschen jede Form von Attraktivität und Sexualität abgesprochen wird. Der alte Körper im Pflegeheim unterliegt erfahrungsgemäß der Annahme, hässlich zu sein, weil er sich in einem fortgeschrittenen Zustand des biologischen Alterns befindet. 47 Vgl. Martin Rudolph: Alter und Körper. In: Die alternde Gesellschaft. Problemfelder gesellschaftlichen Umgangs mit Altern und Alter. Hrsg. von Karl Lenz, Martin Rudolph und Ursel Sickendiek. Weinheim, München 1999, S. 195-208, hier S. 195. 48 Ebd., S. 206. <?page no="337"?> 335 Dass diese - in soziologischen und kulturwissenschaftlichen Studien geäußerte - Ansicht nicht unbedingt die Realität eines Pflegeheimes widerspiegelt oder doch zumindest in Frage gestellt werden kann, beschreibt Annegret Held. Die junge Aushilfe Lotta hat ihre Hilfe beim Waschen der alten Menschen angeboten, nachdem der krankheitsbedingte Ausfall zweier Pflegekräfte den täglichen Ablauf auf der Station durcheinandergebracht hat. Sie steht daraufhin etwas ratlos vor dem Bett der alten Frau Wissmar, findet sich dann aber schnell zurecht. Die Morgentoilette der alten Dame wird folgendermaßen beschrieben: Warmes Wasser, Seifenschaum, der weiße Frotteehandschuh, der sich mit Seifenwasser tränkte und das Gesicht der alten Dame reinigte und ihre Haut einen Moment lang beinahe rosig erscheinen ließ, die Stirn, die schmale Nase, die hohen Wangenknochen; sie schienen sich in den warmen Waschlappen hineinzuschmiegen, ihn zu suchen, zart und sachte wusch Lotta den Hals, die Ohren, die Hände, folgte den Gliedmaßen, erschrak vor den Stellen des von Adern und Unebenheiten gezeichneten Körpers, die sie so nie gesehen hatte und die jetzt noch barmherzig im Halbdunkel der Nachttischlampe lagen. Lotta schluckte und wusch. (DlD 54) Der alte Körper wird hier in seine Einzelteile zerlegt - vielleicht um ihn nicht als Ganzes in seinem Elend wahrnehmen zu müssen. Dabei lässt der Text eine große Achtung vor dem alten Körper erkennen. Die junge Lotta ist zwar bestürzt, aber dennoch gibt sie sich alle erdenkliche Mühe. Die Stimmung, die der Text evoziert, ist die der Andacht. Ganz anders schildert Marc Wortmann in seinem Roman Der Witwentröster die ersten Erfahrungen des Zivildienstleistenden Jan Oltrogge in einer vergleichbaren Situation. Dessen erster selbstständiger Arbeitstag beginnt in Zimmer vier. Nachdem er die Witwe Greimel auf den Klostuhl gehoben hat, beginnt er bei Witwe Seligmann mit der Morgentoilette: Ich löste das Bettgitter, schlug die Decke zurück, schob das Nachthemd bis zur Hüfte hinauf und streifte die Netzhose herunter. Dann nahm ich vorsichtig die Windel zwischen den Beinen heraus. Ein Geruch stieg auf: scharf und vergiftet - der Zellstoff der Windel hatte sich vollgesogen mit einer schwarzen, dünnflüssigen und alkoholisch stechenden Flüssigkeit. An den Rändern der Windel lag ein rötlicher Schatten, als wenn die Witwe Seligmann geblutet hätte. [...] Mit dem Waschlappen fuhr ich über den Unterleib der Witwe Seligmann. [...] Ich drehte sie auf die Seite, um ihren Rücken abzuwaschen, die Wundstelle auf dem Rücken war so groß wie der Deckel einer kleinen Cremedose und lag knapp oberhalb der Windelzone. Die Witwe Seligmann stöhnte leise auf, als ich mit dem Waschlappen versehentlich den Rand der Wunde berührte. (Wt 44) Obwohl in den Texten von Held und Wortmann ein ähnlicher Vorgang beschrieben wird, akzentuieren die beiden Autoren die Handlung auf unterschiedliche Art und Weise. Wählt Annegret Held eine liebevolle und bedachte Beschreibung, so geht es Wortmann in erster Linie darum, die ekelerregenden Seiten dieser morgendlichen Reinigung herauszustellen. <?page no="338"?> 336 Statt der Achtung vor dem alten Körper, scheint dieser hinter dem Aussehen und dem Geruch der Windel zurückzutreten. Der Verfallsprozess des Körpers hat dessen individuelle Geschichte für den jungen Zivildienstleistenden bereits ausgelöscht. 49 Eine pointierte Gegenposition zu einem derart negativen, weil rein körperfixierten Alterskonzept nimmt Ernst Augustin in seinem Roman Die Schule der Nackten ein. Sein Protagonist ist von einer Gruppe agiler Altenheimbewohnerinnen, die regelmäßig den Nacktbadebereich des Jakobi- Bades in München besucht, sehr angetan und sucht immer wieder deren Nähe. Sehr beeindruckt ist Augustins Ich-Erzähler von Frau Wieland: Sie bestand nur aus Runzeln, niemals im Leben hatte ich so viele Runzeln an einem Platz gesehen. Man kennt die delikate, hochgeehrte Haut der alten Damen, die sich zartblaß eintausendmal in haarfeine Falten gelegt hat, und man kennt sie bis zu den weißen Krägelchen. Man denkt, hier endet die Dame. Hier endet sie aber nicht. [...] Bis sie sich dann ausgezogen hatte, und da war sie das reinste Wunder. Denn unterhalb des Krägelchens setzt sich das delikate Netzwerk der feinen und feinsten Runzeln tausendfach fort, zehntausendfach. Was sage ich, Runzeln? Sie war eine kostbare Klöppelarbeit, jeder Zentimeter. Die Knie, die Oberschenkel, die Bauchhaut waren feinste Brüsseler Spitze, und der Rücken mit dem geraden Gesäß reinstes bestes Kroningen, sogar formal symmetrisch ausgelegt. Ich sehe, ich gerate ins Abstrakte, aber das war es auch, ein wirklich gutes Blatt, würde der Kunstkenner sagen. 50 Mit dieser Idealisierung des alten Körpers als Kunstwerk verzichtet Augustin weitgehend auf traditionelle Elemente der Körperbeschreibung. Er formuliert stattdessen ausgehend vom negativ besetzten Bild der „Runzeln“ ein Lob des Körpers, das auch in der literarischen Darstellung einen Sonderstatus einnimmt. Gerade die Beschreibung des Körpers im Vergleich mit Spitzendeckchen, die in den Wohnungen vieler alter Damen zu finden sind, zeigt trotz der Tendenz zur Verklärung die Freude an einem Körper, dessen einziger Zweck darin besteht, seinen Betrachter - und seine Besitzerin, die ihn hingebungsvoll pflegt - zu erfreuen. 49 Hiermit möchte ich nicht behaupten, dass es nicht auch bei Held ekelerregende Szenen gibt. So reinigt beispielsweise Schwester Rosalinde jeden morgen die offenen Wunden von Herrn Wickert und ist dabei auf eine harte Probe gestellt: „Der Geruch war unbarmherzig, pestilenzartig, durchdringend. Gott hatte Rosalinde den Ekel genommen und den Geruchsinn: Sie konnte Windeln wechseln und Erbrochenes aufwischen, sie konnte Fäkalien beseitigen, ohne mit der Wimper zu zucken. Aber bei Herrn Wickerts Beinen hatte Gottes Allmacht ein Ende. Rosalinde musste sich bezwingen, um keinen Brechreiz zu bekommen.“ (DlD 132f.) Wie der Vergleich mit der Textstelle aus Wortmanns Roman zeigt, geht es Held hier in erster Linie darum, die Herausforderung für die Pflegekräfte zu thematisieren und nicht gezielt Ekel beim Leser zu evozieren. 50 Ernst Augustin: Die Schule der Nackten. Roman. München 2003, S. 64f. <?page no="339"?> 337 Neben dem Körper als Zeichen der sich wandelnden Selbstwahrnehmung im Alter spielen auch Gedächtnis und Erinnerung für die Entwicklung einer Altersidentität eine zentrale Rolle. Sie sind einerseits als Gedankenräume im Pflegeheimroman präsent, 51 darüber hinaus verkörpern sie aber auch eine andere Form des Zeiterlebens. Zum einen bewerten ältere Menschen auf dem Hintergrund ihrer Erfahrungen vieles anders als jüngere Menschen, zum anderen hat das Wissen um die immer kürzer werdende Lebensdauer eine wichtige Bedeutung für die Selbstwahrnehmung. „Am Ende des Lebens herrscht die totale Gegenwart“, so wirbt der Piper Verlag auf dem Cover von Annette Pehnts Roman Haus der Schildkröten. Die totale Gegenwart, so lässt der Text vermuten, ist darin begründet, dass die Bewohner des Pflegeheims ›Haus Ulmen‹ keine Zukunft mehr haben. Sie sind gewissermaßen am Ende ihres Lebensfadens angekommen und warten nur noch darauf, dass er von der Schicksalsgöttin Atropos durchtrennt wird. Diese „Verengung des Zeitgitters“ 52 beeinflusst die Wahrnehmung der alten Menschen in besonderer Weise. Kann der alte Mensch sich darauf einlassen, werden die Wahrnehmungen intensiver, wehrt er sich gegen diese Verengung, so kann im Extremfall eine Schockstarre das Ergebnis sein. Eine sehr intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte stellt neben Schubigers Roman Haller und Helen Erica Pedrettis Text Kuckuckskind oder Was ich ihr unbedingt noch sagen wollte dar. Aus der Erkenntnis, dass nach ihrem Tod ein großer Teil ihres Wissens verloren geht, erzählt die Protagonistin Frau Morlang ihre Lebensgeschichte und reflektiert ihren Alltag im Pflegeheim. So beschreibt der Roman den langsamen Loslösungsprozesse der Protagonistin vom Leben. Man könnte auch von einem erzählten Sterbeprozess sprechen. Die alten Figuren im Pflegeheimroman sind also durch zwei Komponenten charakterisiert: einerseits durch den Grad ihrer Pflegebedürftigkeit und andererseits durch die Bedeutung, die ihr Leben vor dem Einzug ins Pflegeheim aufgrund von Erinnerung, Besuche der Familienangehörigen und andere Faktoren noch hat. Wie dieses Zusammenspiel von alterstypischen Veränderungen und Kontinuität im Hinblick auf Selbstwahrnehmung und gesellschaftliche Rolle in früheren Lebensphasen konkret ausgestaltet werden kann, werde ich am Beispiel des Romans Der Witwentröster von Marc Wortmann ausführlich darstellen. 51 Vgl. hier Pedrettis Roman Kuckuckskind oder Was ich ihr noch sagen wollte, in dem der Protagonistin die Realität immer mehr abhanden kommt, während sie sich zunehmend in ihrer Erinnerung bewegt. 52 Christine Hartmann; Marcus Hillinger: Alter(n)stopografien. In: Altern in Gesellschaft. Ageing - Diversity - Inclusion. Hrsg. von Ursula Pasero, Gertrud M. Backes und Klaus R. Schroeter. Wiesbaden 2007, S. 289-306, hier S. 291. <?page no="340"?> 338 „Flügellahme Engel“ 53 ? - Das Pflegepersonal Mit dem Figurenmodell der Altenpflegerin wird in der Regel - die Namensgebung weist in vielen Fällen darauf hin 54 - auf ein anderes, typisch weibliches Figurenmodell zurückgegriffen: das der Krankenschwester. Dieses ist sowohl in der Realität als auch in der Fiktion durch die Verbindung von pflegender Zuwendung und christlicher Barmherzigkeit gekennzeichnet. 55 In mancher Hinsicht ist es eng mit der Vorstellung der speziellen Eignung der Frau für pflegende Berufe verbunden, indessen wird das Figurenmodell in der literarischen Ausgestaltung oft als Vorbild für menschliche Beziehungen genutzt. 56 Die Darstellung im Pflegheimroman greift die Implikationen des Figurenmodells der Krankenschwester in der Regel für die Figur der Stationsleiterin auf, wohingegen die anderen Pflegekräfte ihren Beruf nicht als Berufung ansehen, sondern als reine Form des Broterwerbs. Zudem ist im Pflegeheimroman Personal beiderlei Geschlechts vorzufinden, ohne dass hierbei eine besondere Eignung der weiblichen Figuren hervorgehoben wird. So erhält beispielsweise der Pfleger Maik in Annette Pehnts Roman Haus der Schildkröten aufgrund seiner hervorragenden pflegerischen Leistungen das Angebot, in ein nobles Seniorenstift zu wechseln. Da ihm die von ihm betreuten Personen ans Herz gewachsen sind, lehnt er diesen beruflichen Aufstieg allerdings ab (HdS 131-133). Eine problematische Darstellung männlicher Pflegekräfte findet sich hingegen in Pierre Chiquets Roman Königsmatt. Hier wird die Betreuung durch zwei männliche Pfleger als einengend und übertrieben fürsorglich beschrieben, sodass sich die Bewohner zunehmend gegen diese Form der Aufsicht zur Wehr setzen. An diesem Beispiel zeigt sich bereits ein wichtiger Einflussfaktor hinsichtlich der Gestaltung des Pflegepersonals. Obwohl es sich um fiktive Figuren handelt, steht bei der Ausformung dieser Figurengruppe oftmals weniger die literarische Gestaltung als vielmehr die sozialkritische Zielrichtung im Vordergrund. Die Heimleitung, die in vielen Texten lediglich als Allegorie der Wirtschaftlichkeit ohne Gesicht auftritt, 57 erschwert den 53 Den Begriff des flügellahmen Engels gebraucht Annegret Held bereits in der Widmung ihres Romans Die letzten Dinge: „Ich widme dieses Buch all jenen, die ihre Tage beschließen und sich der Obhut helfender Menschen anvertrauen müssen./ Ich widme es ebenso den unzähligen, flügellahmen Engeln auf Erden, die sich ihrer annehmen./ Ihnen meine tiefste Achtung, meinen höchsten Respekt.“ (DlD 5) 54 So werden beispielsweise bei Marc Wortmann alle Altenpflegerinnen mit der Berufsbezeichnung Schwester benannt, bei Annegret Held nur die Stationsleiterin Schwester Rosalinde. 55 Engelhardt, Medizin in der Literatur der Neuzeit. Bd. I, S. 323. 56 Ebd., S. 324. 57 Vgl. z.B. Annette Pehnts Haus der Schildkröten. Hier versteckt sich die Heimleiterin wiederholt hinter ihrer Brille und wird als Kopf mit braunen Haaren bezeichnet (HdS 122, 130). <?page no="341"?> 339 Alltag der Pflegekräfte auf den einzelnen Stationen. Vertritt die Heimleitung in der Regel ökonomische Interessen, so befinden sich die Pflegekräfte in einem durch zeitliche und organisatorische Vorgaben ausgelösten Zwiespalt. Zwar möchten sie die alten Menschen unterstützen, doch bleibt gerade für die persönliche Betreuung und kurze Gespräche, also für die emotionale und seelische Betreuung aufgrund von effizienzsteigernden Vorgaben bzw. Personalmangel zu wenig Zeit. Dieses Dilemma beschreibt Annegret Held in ihrem Roman Die letzten Dinge am Beispiel der für die Station verantwortlichen Schwester Rosalinde, die das Ideal der sich aufopfernden Krankenschwester verinnerlicht hat: Wunddokus. Die Wunddokus. Sie musste alles schreiben heute, egal, rücksichtslos, sie musste sich taub stellen, wenn jemand klingelte, sie durfte nicht pflegen, sie durfte nicht, denn wenn die Heimaufsicht kam und die Papiere stimmten nicht, dann wurde sie gescholten, als hätte sie jemanden umgebracht. Rosalinde war der Rechtfertigungen müde. Sie rechtfertigte sich vor der Heimaufsicht, vor der Pflegedienstleitung und vor den Angehörigen. Die Pflegeberichte ... Die Bedarfsmedikation ... Die Kärtchen. Krankenhaus, wer war zurzeit im Krankenhaus? Zwei Rollstühle mussten repariert werden. Bei der Übergabe musste sie dringend erwähnen, dass Frau Friedrich aus dem Krankenhaus zurückkam - und MRSA 58 dort bekommen hatte. Multiresistente Keime. Ein Alptraum. Sie würden das Zimmer in eine Quarantänestation verwandeln müssen. Schutzanzüge her, oder sterile Kittel, Mundschutz, Hauben, Plastikgeschirr, alles musste herbei. (DlD 83) 59 Im Vergleich zu einer soziologischen Studie zu Pflegebedingungen in Altersheimen kann die literarische Beschreibung aus der internen Fokalisierung die ausweglose Situation der Pflegekräfte dramatischer darstellen. Dass Rosalinde kein Einzelfall ist, wird durch den Einsatz einer wechselnden internen Fokalisierung verdeutlicht. Dem Leser wird damit die Lebens- und Arbeitssituation jeder Pflegekraft vor Augen führt. Die atemlos aneinandergereihten, stakkatohaften Gedanken der Stationsleiterin zeigen im zitierten Textbeispiel ihren inneren Konflikt. Sie möchte ihre Arbeit gut machen, die Umstände lassen dies aber kaum zu. Da sie ein großes Verantwortungsbewusstsein hat - die Szene spielt vor ihrem offiziellen Arbeitsbeginn - und zudem unter einem Helfersyndrom leidet, beutet sie sich selbst und ihren Körper aus. Wirft Annegret Helds Roman 58 Hierbei handelt es sich um eine Bakterieninfektion, die aufgrund der Resistenz der Bakterien gegen Antibiotika nur sehr schwer zu behandeln ist. Neben harmlosen Furunkeln können durch die Bakterien u.a. schwere Wundinfektionen, Pneumonien und Sepsisfälle hervorgerufen werden. Vgl. das MRSA-Merkblatt des Universitätsklinikums Köln unter http: / / www.unikoeln.de/ med-fak/ immh/ hygiene/ mrsa.html [gesehen am 01.07.2008]. 59 Das gleiche Figurenmodell vertritt in Marc Wortmanns Roman die Figur der Schwester Therese, die die alten Frauen aufopferungsvoll pflegt und als einzige Pflegekraft aus einem inneren Bedürfnis heraus die Arbeit im Heim verrichtet. <?page no="342"?> 340 auf den ersten Blick einen rein sozialkritischen Blick auf den Alltag im Pflegeheim, so zeigt sich aber gerade am Beispiel der Stationsleiterin, dass die Autorin sich der Frage widmet, wie ein Mensch mit einem Helfersyndrom in einer solchen Umgebung zurechtkommen kann. 60 Das Ideal der barmherzigen Schwester wird in diesem Zusammenhang insofern in Frage gestellt, als dargelegt wird, dass die moderne Institution Pflegeheim ein allein an den Bedürfnissen der alten Menschen ausgerichtetes Pflegepersonal ausbeutet und zugrunde richtet. Die vorgestellte Lohnpflegetheorie könnte die geschilderte Selbstausbeutung noch unterstützen, da diese durch finanzielle Belohnung gefördert wird. Hier müsste es vielmehr die Aufgabe der Pflegeheimaufsicht sein, die Bedürfnisse der Pflegenden ebenso wie die der zu Pflegenden zu definieren und deren Einhaltung zu kontrollieren. Die Figur Rosalinde macht im Lauf des Romans eine Entwicklung durch, deren Ziel es ist, ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen eigenen Bedürfnissen und der angemessenen Sorge um die alten Menschen zu entfalten. Nachdem sie ihren Körper beinahe ruiniert und ihre Ehe aufs Spiel gesetzt hat, erkennt sie zwar, dass sie anderen nur helfen kann, wenn sie dabei sich selbst nicht vernachlässigt, 61 dennoch hat sie nicht die Kraft, ihre persönliche Situation oder auch die Verhältnisse auf der Pflegestation zu verändern. Erst als die Arbeitsbelastung so groß ist, dass sie nicht mehr in der Lage ist, Gefahren einzuschätzen, führt ein Arbeitsunfall dazu, dass Rosalinde Verantwortung abgeben kann und sich die Sorge um das eigene Leben über das Wohlergehen der ihr anvertrauten Menschen stellt. So wird in der fiktionalen Nachzeichnung eines Pflegeheimalltags beleuchtet, dass es einerseits das System ist, das krank macht, 62 aber andererseits auch die falsche Einschätzung der Menschen, die in ihm gefangen sind. 60 So wird z.B. von Rosalinde gesagt: „Tränen stiegen ihr in die Augen. Die Fürsorge von Abdul tat ihr wohl und beschämte sie. Sie war es nicht gewöhnt, verwöhnt zu werden. Dachte immer, dass sie auf der Welt sei, um anderen zu helfen. Wenn sie selbst etwas Freundliches bekam, geriet sie völlig aus dem Konzept.“ (DlD 148) 61 „Dann sah sie das Gesichtspeeling da stehen. Und da konnte sie nicht widerstehen, sie griff zu und nahm alles, was Frau Doktor da stehen hatte, sie peelte ihr Gesicht, nahm ein wenig teure Hautcreme, legte Rouge auf, bürstete das Haar. Es sah sie ja niemand. Aber der Effekt war erstaunlich, das Peeling hatte ihre Haut rosig durchblutet, das Rouge auf Wangen und Nasenspitze ließ sie augenblicklich frischer aussehen, ein wenig Puder ließ die Haut goldbraun schimmern. Rosalinde lachte ihrem Spiegelbild zu. Wirklich erstaunlich. Das würde Abdul gefallen. Ja, wie konnte sie sich nur so gehen lassen? [...] Wenn sie so weitermachte, hatte er nur noch eine ganz kaputte Frau. Das hatte er nicht verdient. Abdul hatte ein Recht auf eine gesunde, glückliche Frau, die sich auch um ihn ein wenig kümmerte. Sonst hatte er eines Tages genug von ihr.“ (DlD 167) 62 Am Ende des Romans wird angedeutet, dass das in freier Trägerschaft betriebene Pflegeheim, von einem gemeinnützigen Träger - der Arbeiterwohlfahrt oder der Caritas - übernommen wird (DlD 364). <?page no="343"?> 341 Zwar wird das menschliche Drama um die Stationsschwester Rosalinde sehr überzeugend entwickelt, allerdings wird das sozialkritische Potenzial dieser Figur durch die extreme Idealisierung der Gemeinschaft der Pflegekräfte unterlaufen. Mit Ausnahme der Pflegekraft Sarah, die sich für acht Wochen krankgemeldet hat, aber nicht wirklich krank ist, 63 bilden die Mitarbeiter auf der Station III ein eingeschworenes Team: „Ein Überlebensteam, ein menschlicher Rettungsring, eine fest verschweißte Kette, eine eingeschworene Crew, die das schwankende Schiff Abendrot durch die Unwetter steuerte.“ (DlD 170) Gerade aufgrund der enormen Belastung, unter der die Pflegekräfte arbeiten, und des geringen Gehalts, das sie hierfür bekommen, ist diese Nachzeichnung der Station als „idyllische[r] Ort der Solidarität“ 64 utopisch. Im Gegensatz zum realen Pflegealltag muss bei der literarischen Darstellung immer mitbedacht werden, dass das Verhalten des Pflegepersonals die Einstellung der Gesellschaft zu alten Menschen widerspiegelt und damit keine exakte Nachzeichnung der realen Bedingungen im Vordergrund der Erzählung steht. So kann mit der extrem positiven Beschreibung ein Appell an mehr Menschlichkeit im Umgang mit alten Menschen verknüpft sein. Diese Akzentuierung findet sich aber nicht in allen Pflegeheimromanen. Die Illustration eines äußerst inhumanen Heimalltags findet sich in Björn Kerns Roman Die Erlöser AG. Hier werden die unwürdigen Zustände in einem staatlichen Pflegeheimkomplex in nicht allzu ferner Zukunft schonungslos präsentiert. In einer Umgebung, die durch Lieblosigkeit und Ruhigstellung der Bewohner durch Medikamente gekennzeichnet ist, vergisst die Stationsleiterin über dem Geschlechtsverkehr mit einem ihrer Pfleger in ihrem Büro eine gerade eingelieferte alte Frau (EAG 90-93) und schiebt sie später, da sie keinen freien Raum hat, notdürftig versorgt und im Rollstuhl mit Klebestreifen fixiert, kaum bekleidet und völlig verwirrt in eine Besenkammer, in der diese die Nacht verbringt (EAG 100f.). 65 Hier kommt die Geringschätzung der Alten - wie 63 Ivy begegnet ihr eines Tages auf dem Rummel, sodass ihr Betrug auffällt. Im gesamten Roman taucht sie immer nur als fehlende Arbeitskraft auf (DlD 365). 64 Katharina Deschka-Hoeck: Idyllische Misere. Die Autorin Annegret Held und ihr Roman über ein Pflegeheim. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19.08.2005. 65 Dass es sich bei diesem Szenario um die siebenundneunzigjährige Elsa Lindström nicht um reine Schwarzmalerei des Autors handelt, zeigt der Fall einer neunundvierzigjährigen Jamaikanerin, die im Juni 2008 in einer Klinik für Psychiatrie in New York ums Leben kam. Nachdem die mit einer Psychose eingelieferte Frau bereits vierundzwanzig Stunden in der Notaufnahme wartete, brach sie zusammen und lag längere Zeit zuckend am Boden, bevor sie verstarb. Weder andere Patienten noch die Pflegekräfte kamen der Frau zu Hilfe. Vgl. hierzu die Titelseite der Süddeutschen Zeitung vom 3. Juli 2008, auf der mehrere Bilder der Überwachungskamera gezeigt werden, die das fahrlässige und menschenunwürdige Handeln der Angestellten der Klinik belegen. <?page no="344"?> 342 sie für eine überalterte Gesellschaft vermutet wird 66 - unverhohlen zum Ausdruck. Neben dem Betreuungsaspekt kommt aber auch der Generationendifferenz eine entscheidende Bedeutung zu. Für den Alltag im Pflegeheim ist es charakteristisch, dass die zu pflegende Person bzw. in der fiktionalen Darstellung die alte Figur wesentlich älter ist als diejenige, die für die Pflege zuständig ist. Damit wird das gesellschaftliche Machtgefüge umgekehrt, die Jungen sind nun mächtiger als die Alten. Mit diesem Machtgefälle kommen einerseits nicht alle alten Menschen zurecht, zumal hieraus auch ein Potenzial zum Machtmissbrauch bei jungen Menschen entstehen kann. 67 Hier zeigt sich ein interessanter Aspekt, der gerne in Pflegeheimromanen thematisiert wird und bei der Detailanalyse von Marc Wortmanns Witwentröster eine prominente Rolle spielen wird. Eine weitere zentrale Differenz geht zudem von den sehr jungen Pflege- und Hilfskräften aus. Gerade diese jungen Menschen erhalten aufgrund ihrer Kontrastfunktion im Pflegeheimroman besondere Aufmerksamkeit. Sie sind häufig mit Selbstfindungs- und Beziehungsproblemen beschäftigt und werden in ihrem Freizeitverhalten 68 gezeigt, das dem der Pflegebedürftigen diametral entgegengesetzt ist. Abschließend lässt sich sagen, dass das Pflegepersonal infolge der körperlichen Leistungen, die es erbringt, als Kontrastgruppe zu der der alten Menschen angelegt ist. Die Pflegekräfte vertreten somit auch als unabhängige und geistig unbeeinträchtigte Menschen die Gesellschaft, wohingegen die alten Figuren eine Außenseiterrolle einnehmen. Andererseits zeigt sich ein fundamentaler Unterschied zum realen Pflegealltag. Sind die dort vorzufindenden alten Menschen und ihre Pfleger Spezialfälle in der gesellschaftlichen Alterswahrnehmung, 69 so werden sie als literarische Figuren zur Repräsentanten der gesellschaftlichen Wahrnehmung des Alters. Die Symbolik der Darstellung weist also auch in diesem Fall nicht nur weit über die Nachzeichnung der Realität hinaus, sondern lässt ebenso Rückschlüsse auf die Rolle der alten Menschen in einer Gemeinschaft wie auf ihre Wertschätzung sowie auf sozialpolitische Fragestellungen zu. 66 Vgl. hierzu auch Frank Schirrmacher: Das Methusalem-Komplott. München 2004, vor allem das Kapitel Krieg der Generationen, S. 54-60. 67 Prahl, Soziologie des Alterns, S. 175. 68 Hier ist es sehr oft der Besuch von Discotheken, der aufgrund der hier zum Ausdruck kommenden enormen Lebendigkeit und Beweglichkeit mit der Jugend eng verbunden ist. Vgl. z.B. Parigger, es tut fast gar nicht weh, S. 62-64; Held, Die letzten Dinge, S. 128-131. 69 Saake, Theorien über das Altern, S. 196. <?page no="345"?> 343 Erbschleicher und Enkelkind - die Angehörigen Die Palette der Angehörigen ist meist noch bunter als die der Pflegeheimbewohner selbst. Daher möchte ich hier nur einige allgemeine Beobachtungen anführen und weniger eine detaillierte Kategorisierung vornehmen, wie ich das bei den anderen Personengruppen versucht habe. Das Verhältnis der Angehörigen zu den alten Menschen ist wesentlich komplizierter als das der Pflegekräfte, da hier die individuellen Erfahrungen vor dem Umzug ins Heim zentral für die Wahrnehmung der Eltern-Kind- Beziehung auch im hohen Alter sind. Gerade Kinder haben gegenüber ihren alten Eltern nicht nur Schuldgefühle, weil sie sie nicht selbst pflegen können, sondern empfinden auch Aggressionen, manchmal sogar Hass, weil das Verhältnis in ihrer Kindheit und Jugend nicht einfach war und sie nun das Gefühl haben, trotz einer als lieblos erfahrenen Kindheit die Verantwortung für die alten Eltern übernehmen zu müssen. Hier wird also die am Beispiel von Margit Schreiners Roman Heißt lieben untersuchte Beziehung zu den alten Eltern noch einmal differenzierter betrachtet. Eine neue Dimension erhält das Eltern-Kind-Verhältnis in fortgeschrittenem Erwachsenenalter auch dadurch, dass im Pflegeheim keine Privatheit mehr hergestellt werden kann. Die Familie ist nun immer im öffentlichen Raum präsent und wird von anderen Heimbewohnern, Gästen und vor allem dem Pflegepersonal beobachtet. Diese Situation führt bei den Angehörigen oft dazu, dass das Personal als Kontrollinstanz wahrgenommen wird. Diese Empfindung führt dazu, dass die Angehörigen in einer solchen Situation ein schlechtes Gewissen entwickeln. 70 Problematisch kann es auch sein, wenn die Angehörigen ungewollt in die Pflege mit eingebunden werden. So ergreift in Pehnts Roman die Tochter immer kurz vor dem Abendessen die Flucht (HdS 20), wohingegen in Helds Roman eine Szene beschrieben wird, in der eine Pflegerin die Tochter des russischen Ingenieurs bittet, ihrem Vater einen Brei zu geben: Valerija aber, schnaubend, zähneknirschend, gnadenlos, schaufelte den Löffel wieder hochvoll, und dann stopfte sie den Grießbrei hadernd und zaudernd, grausam und ungeduldig, Löffel für Löffel in seinen Schlund. (DlD 47) Wurde der Besuch der Tochter bereits vorab durch ein Hin und Her der Gefühle charakterisiert, so überwiegen am Ende die Aggressionen. Der Vater ist nicht in der Lage, seiner Tochter zu vermitteln, dass er diesen Brei nicht essen möchte, und sie quält ihn, um die für sie quälende Situation so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Durch das eigentlich gut 70 Vgl. z.B. den Besuch der Tochter des schwerkranken russischen Architekten Schiwrin im Haus Abendrot: „Schnell das Zimmer suchen, hineingehen, eine Flasche Rotbäckchen hinstellen und wieder verschwinden. Denn wenn Nadjeschda sie sah, würde sie sagen: Warum Sie sind nicht gekommen! Vater ganze Zeit alleine! “ (DlD 41) <?page no="346"?> 344 gemeinte Angebot der Pflegekraft kann auf diese Weise das Verhältnis der Familienmitglieder grundlegend gestört werden. Zwar gibt es im Pflegeheimroman Angehörige und Bekannte, die sich liebevoll um die alten Menschen kümmern, allerdings stellen diese eine Minderheit dar, da sie für den Romankontext weniger Konfliktpotenzial bieten und daher meist nur oberflächlich charakterisiert werden. Ein beachtenswertes Beispiel beschreibt Leonie Ossowski in dem Roman Die schöne Gegenwart. Ihre Protagonistin leidet nach der Trennung von ihrem langjährigen Ehemann daran, keine Aufgabe mehr zu haben. Da sie immer im familieneigenen Betrieb mitgearbeitet hat, hat sie mit der Trennung nicht nur ihren Ehemann, sondern auch ihren Arbeitsplatz verloren. Bei einem Spaziergang durch den Park trifft sie auf eine Frau Griese. Die alte Frau ist verwirrt und erzählt von dem Besuch ihrer Tochter aus Amerika. Dieser hat sie sehr verwirrt, da sie ihre Tochter nicht erkannt hat. 71 Die Erzählung, die sich im Nachhinein als Wahnvorstellung der alten Frau herausstellt, macht die Protagonistin nachdenklich. Die Erkenntnis, dass sich im Seniorenheim niemand wirklich um die Sorgen und Nöte der alten Menschen kümmert, lässt sie in den folgenden Tagen wieder zu einem Besuch im Pflegeheim aufbrechen. Aus dieser zufälligen Begegnung entwickelt sich eine Freundschaft, die ebenso eine Verbesserung des psychischen Zustandes von Frau Griese herbeiführt wie auch der neunundsechzigjährigen Protagonistin zu neuem Lebensmut verhilft. 72 Obwohl ihre Besuche im Seniorenheim freiwillig geschehen, erkennt sie im Rückblick, welche Herausforderung diese für sie bedeuten: Nach und nach gewöhnte ich mich nicht nur an sie [Frau Griese, M.S.], sondern auch an die übrigen Bewohner des Seniorenheims. Wenn ich zu Besuch kam, rannte ich nicht mehr den Gang entlang, um nur ja nicht auf einen Zuruf oder ein Bitte reagieren zu müssen. Ich grüßte, blieb stehen, wenn ich angesprochen wurde, und setzte mich immer öfter in den Aufenthaltsraum [...]. Nur - so selbstverständlich wie das alles klingt, war es damals nicht für mich. Nie werde ich das Bedürfnis vergessen, mir minutenlang die Hände zu waschen, wenn ich aus dem Seniorenheim nach Hause kam, als sei Alter ansteckend. Mit der Zeit wurde mir meine Angst vor dem eigenen Alter bewußt, die ich bisher nie zugegeben hatte. 73 In Leonie Ossowskis Roman werden damit sehr treffend die Ängste beschrieben, die mit dem Pflegeheim für Verwandte und Freunde verbunden sein können. Einerseits ist die Angst auf das eigene Leben bezogen: Werde ich selbst einmal so abhängig sein? Andererseits zeigt sich aber auch der gesellschaftliche Umgang mit alten Menschen, die aus dieser Warte als Außenseiter der Gesellschaft gesehen werden. In Auseinander- 71 Leonie Ossowski: Die schöne Gegenwart. Roman. München 2001, S. 24-28. 72 Ebd., S. 98f. 73 Ebd., S. 99. <?page no="347"?> 345 setzung mit der Wahrnehmung des Alters als krankheitsähnlichem Zustand und der Erfahrung, dass zumindest einige Prozesse bei guter Betreuung bei Frau Griese reversibel sind, entwickelt die Protagonistin ein neues Alterskonzept. In einem Haus, das sie überraschend erbt, gründet sie eine Wohngemeinschaft mit anderen alten Menschen. Alter - so eine Lehre dieses Romans - ist auf Gemeinschaft angewiesen. Allerdings sollten ältere werdende Menschen die Chance nutzen, die Form des Zusammenlebens selbst zu wählen. Zeigt Leonie Ossowski die positiven Auswirkungen, die der Aufenthalt im Pflegeheim für alle Beteiligten haben kann, so zeichnet sich der Pflegeheimroman oftmals durch das Fehlen der besuchenden Angehörigen aus. Besondere Beachtung finden in diesem Kontext die Verwandten, die die Beziehung nur aufgrund des zu erwartenden Erbes aufrecht erhalten. Ein sehr imposantes Beispiel einer solchen ›Erbschleicherin‹ schildert Annegret Held in dem Roman Die letzten Dinge. Die Verwandtschaft der alten Frau Eisbrenner besucht sie erst im Heim, als sie infolge eines Sturzes schwer verletzt ist. Aufgrund des bald zu erwartenden Ablebens der alten Dame sitzt die Verwandtschaft, die von der alten Frau nicht erkannt wird, um deren Bett. Besonders unverfroren ist das Verhalten der Nichte der alten Frau Eisbrenner nach deren Tod. Sie kommt bereits wenige Stunden nach dem Tod ihrer Tante ins Pflegeheim. Besonders an ihrem Auftritt ist, dass sie schon einen Lieferwagen mit dabei hat. Da die Greisin Antiquitätenhändlerin war und sehr wertvolle Möbel und Schmuckstücke besaß, hofft sie, auf diese Weise ihren anderen Verwandten zuvorzukommen. Für die verstorbene Tante oder die Umstände ihres Todes interessiert sie sich nicht (DlD 347f.). Nur in Ausnahmefällen werden im Rahmen von Pflegeheimromanen auch Kinder als Protagonisten eingeführt. Im Gegensatz zu den erwachsenen Figuren gehen sie sehr viel unverkrampfter und offener mit den Pflegebedürftigen und ihren Krankheiten oder Eigenarten um. Mit ihrer Spontaneität erreichen sie die alten Figuren auf einer emotionalen Ebene, die von den distanzierten erwachsenen Besuchern oft nicht erreicht wird. So wird in Annette Pehnts Roman die kleine Lili beim Besuch ihres Großvaters gezeigt (HdS 60-62). Ist das Gespräch zwischen Vater und Sohn immer durch unausgesprochene Erfahrungen und frühere Enttäuschungen überschattet, so verstehen sich Großvater und Enkelin hervorragend. Für die kleine Lili ist es dabei völlig unerheblich, dass der Großvater in ihr seine verstorbene Frau Anna sieht, wichtig ist alleine die Aufmerksamkeit, die sie von ihm bekommt. Die Gruppe der Besucher, so zeigte dieser kurze Überblick, ist weitaus heterogener als die der Pflegeheimbewohner. Gemeinsame Merkmale gibt es kaum. Ihr Verhältnis zu den alten Menschen spiegelt aber in gewisser Weise das Ansehen der alten Menschen in der Gesellschaft wider. <?page no="348"?> 346 Perspektivierung des Erzählens Wie ich bereits mehrfach herausgestellt habe, ist gerade im Pflegeheimroman die Perspektivierung des Erzählens zentral für die Ausgestaltung der Altersrepräsentation. Die Aussage und die Darstellung des Alters ist nicht nur sehr stark davon abhängig, welche Personengruppe im Fokus steht. Auch die vorherrschende Fokalisierungstendenz hat einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Altersdarstellung. Zudem ist auch zu beachten, ob durch einen Wechsel der Perspektiven der Alltag im Pflegeheim differenzierter geschildert wird, oder ob nur eine Sichtweise eingenommen wird. An Annegret Helds Roman, der vielfach mit märchenhaften Sentenzen ebenso wie Anspielungen auf Liedtexte und Gedichte arbeitet, zeigt sich, dass über einen traditionellen allwissenden Erzähler auch Elemente aufgerufen werden können, die das Geschehen transzendieren. 74 Die christlichen Deutungsangebote, die hierbei anklingen, werden durch komische Elemente weitgehend in der Schwebe gehalten, sodass sie einen interessanten Gegenpol zum Geschehen auf der Station bieten, ohne dem Leser allzu sehr eine christliche Lesart aufzudrängen. Im Roman des Schweizer Autors Pierre Chiquet wechseln Kapitel, die aus der Nullfokalisierung die Sicht der Pfleger und der Heimleitung beleuchten, mit solchen aus der internen Fokalisierung der zwölf Bewohner des Altenasyls ab. Dadurch wird das Geschehen im Pflegeheim sowie die Befindlichkeit der Bewohner detailliert in den Blick genommen. Die, von außen betrachtet, an Wahnsinn grenzenden Aktionen der alten Menschen werden durch die Innensicht plausibilisiert. Dadurch wird die Unmenschlichkeit des Heimalltags wie der Pflegekräfte aufgedeckt, die keinen Raum für die Individualität der Bewohner lassen. Das Altenstift wird in dieser Perspektive als Mikrokosmos zum Spiegel der Gesellschaft. Wird oftmals die Differenz in der Wahrnehmung junger und alter Figuren im Pflegeheimroman gegenübergestellt und durch den Fokalisierungswechsel angezeigt, so veranschaulicht Pierre Chiquets Roman, dass auch alte Menschen eine der Pubertät vergleichbare Entwicklung durchlaufen können, bis sie sich in ihrer Altersrolle zurechtfinden und eine Altersidentität ausgebildet haben. Dieser Prozess ist in der externen Fokalisierung bzw. ohne Rückgriff auf die Innenperspektive der Figur nur schwer nachzuzeichnen. Bereits hingewiesen habe ich auf die wechselnde interne Fokalisierung, die Annette Pehnt für ihren Roman wählt. Sie nutzt diese Form des Wechsels der Innensicht, um einen Blick auf das Selbsterleben der alten Menschen zu werfen. Das Besondere hieran ist, dass Pehnt alte Figuren 74 Ein Beispiel hierfür wäre der Glaube der italienischen Pflegekraft Gianna, dass die Seele der Toten das Heim durch die Fenster verlässt. Der plötzliche Tod einer neuen Bewohnerin wird dann auch vom Erzähler damit begründet, dass die Seele der Dame, die vorher den Raum bewohnt hat, die Nachtruhe der neuen Bewohnerin stört, sodass diese durch einen Unfall ums Leben kommt. (DlD 262, u.ö.) <?page no="349"?> 347 darstellt, die sich nicht mehr verständigen, ihre Gefühle und Gedanken nicht mehr in Sprache fassen können. Dennoch, so stellt die Autorin eindrücklich heraus, verfügen auch diese Figuren über eine sehr genaue Wahrnehmung ihrer Umwelt und sehnen sich nach Nähe und Aufmerksamkeit. Insofern kann der Perspektivenwechsel nicht nur eine Möglichkeit sein, den Alltag im Pflegeheim in allen seinen Facetten auszuleuchten und allen Personengruppen gerecht zu werden, sondern er kann auch dazu dienen, für Bedürfnisse und Wünsche zu sensibilisieren, die nicht ausgesprochen werden. Damit kann der Pflegeheimroman auch didaktischaufklärerische Funktionen erfüllen. 75 Der Pflegeheimroman im literarischen Diskurs Bislang standen die in der Literatur aufgenommenen realen Aspekte im Vordergrund der Betrachtung. Im Folgenden soll einerseits der literarische Ort des Pflegeheims näher bestimmt werden. Anschließend wird anhand von Marc Wortmanns Roman Der Witwentröster das spezifisch literarische Potenzial eines Romans aufgezeigt, der weit über die reale Darstellung des Pflegealltags hinausgeht. Wortmanns Roman ist insofern für diese Fragestellung besonders geeignet, als er einer der ersten zeitgenössischen Pflegeheimromane ist und in den wichtigen deutschsprachigen Tageszeitungen rezensiert wurde. Den besonderen literaturwissenschaftlichen Rang des Romans fasst Lutz Hagestedt folgendermaßen zusammen: Marc Wortmanns Buch ist praktisch eine Unmöglichkeit und literaturgeschichtlich ein Novum. Denn diese Welt der Witwen wäre früher, als Gegenstand der Belletristik, ausgeschlossen gewesen. Man war es gewöhnt, sich mit jugendlichen Helden und ihrer Initiation zu beschäftigen, oder mit der Blütezeit des Lebens und dem Erzählreservoir der Familiensaga (Walter Kempowski), nicht aber mit dem sujet- und ereignislosen Einerlei des hässlichen Alters. Die Väter- und Mütterliteratur der siebziger und achtziger Jahre war eine Auseinandersetzung mit der schuldig gewordenen Elterngeneration (Ruth Rehmanns Roman Der Mann auf der Kanzel, 1979), war zugleich Suchbild (so Christoph Meckel 1980) und ›Selbstbild‹ (Karin Strucks Die Mutter, 1975), gab sich als ›tätige Erinnerung‹ (Peter Handkes Wunschloses Unglück, 1972) und als Nachgetragene Liebe (Peter Härtling, 1980). Immer aber gab es etwas zu holen im erfahrungsgesättigten Vor-Leben der eigenen Sippe. 76 Was Lutz Hagestedt in seiner Rezension für Wortmanns Witwentröster feststellt, gilt auch für die anderen Pflegeheimromane: Das Alter wird hier vom primär familiären Blick - wie ihn z.B. Margit Schreiners Roman Heißt lieben verkörpert - gelöst und in einer allgemeineren Dimension gezeigt. Die Thematik ist ungewöhnlich, und auf den ersten Blick scheint sie für einen Roman aufgrund der eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten 75 Vgl. hierzu ausführlicher in Teil II das Kapitel 7 Alter und Krankheit. 76 Hagestedt, Das Bettzeug war stärker. <?page no="350"?> 348 äußerst unattraktiv zu sein. Die vorgestellten Romane zeigen hingegen eine breite Palette an thematischen Gestaltungsmöglichkeiten, die bei Weitem noch nicht ausgeschöpft ist. Der Pflegeheimroman kann verschiedenen Romangattungen angehören. Die Zuordnung ist stark von der Handlung und dem übergeordneten Thema des jeweiligen Romans abhängig. Steht die Konfrontation eines jungen Menschen mit dem körperlichen und geistigen Verfall im Alter sowie den extremen Herausforderungen der Arbeitswelt Pflegeheim im Fokus, so sind zumindest Tendenzen des Entwicklungsromans erfüllt. Aber auch Kriminalromane können sich die Atmosphäre des Ortes zunutze machen. Da in der Institution Pflegeheim das Sterben zum Alltag gehört, ist der Ort prädestiniert, um einen Mord zu vertuschen. Darüber hinaus bieten die Lebensgeschichten der alten Figuren jede Menge Geheimnisse und Verfehlungen, die ein Verbrechen bedingen können. Andererseits nimmt der Pflegeheimroman auch literarische Tendenzen und Motive auf und bearbeitet sie auf neue Art und Weise. Hier ist zum einen das bereits angesprochene Motiv des Lebensrückblicks, verbunden mit einer Lebensbeichte, oder zumindest die Auseinandersetzung mit verdrängten Erlebnissen ein zentrales Element der Handlung. Es findet sich aber auch eine neue Form der Aufarbeitung der Generationenthematik. Bestand die Auseinandersetzung mit der Elterngeneration in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts in der Auflehnung gegen eine als übermächtig empfundene Väterbzw. Müttergeneration, so sind diejenigen, gegen die man sich eigentlich auflehnen möchte, inzwischen selbst weitgehend machtlos und versuchen gerade aus diesem Grund, emotionale Macht auf die Kinder (manchmal auch auf die Enkel, wie die Preisträgergeschichte des Ingeborg-Bachmann-Preises von Tilman Rammstedt zeigt 77 ) auszuüben. Hieraus entstehen sehr unterschiedliche Romane. Monika Marons Roman Stille Zeile Sechs zeigt die Abrechnung einer jungen Frau mit einem SED-Funktionär der ersten Stunde. Es ist offensichtlich, dass der alte Herbert Beerenbaum in diesem Kampf auch zum Stellvertreter des bereits verstorbenen Vaters der Protagonistin wird. In dieser Traditionslinie ist auch Margit Schreiners Roman Heißt lieben zu verorten, in dem die Tochter sich verzweifelt aus der Bindung an ihre Mutter zu lösen versucht, als diese zum Pflegefall wird aber eine völlig neue Beziehung zu ihr aufbauen kann. Zur Gruppe der Pflegeheimromane, die das Alter in Abhängigkeit von der Biographie der alten Menschen stellen, und die Frage nach der Beziehung zu den alten Eltern stellen, zählt auch Annette Pehnts Roman Haus der Schildkröten. Regina von Kanter und Ernst Sander leiden beide unter der gestörten Bindung an ihre Eltern, für die sie nun verantwortlich sind. Sie sind aber nicht in der Lage, sich ihrem Problem zu stellen, bzw. es 77 Vgl. Tilman Rammstedt: Der Kaiser von China. Roman. Köln 2008. <?page no="351"?> 349 ist zu spät, um mit ihren Eltern in einen Dialog zu kommen. So leiden sie zusätzlich daran, das von ihnen scheinbar geforderte Bild des liebenden Kindes nicht erfüllen zu können. So wenig in dieser Situation eine Auflehnung möglich ist, so wenig durchschauen sie auch ihre eigene Situation. Sie befinden sich in einem Kreislauf, der auch durch den Tod der Eltern nicht mehr aufgehoben werden kann. Der Pflegeheimroman erstellt hiermit gewissermaßen eine Topologie familiärer Gefühle jenseits der idealisierten Familie, wie sie z.B. der Familienroman zu evozieren versucht. Damit liefert er eine Gesellschaftsdiagnose, die infantile Tendenzen in der Gegenwart zu erklären versucht. Nicht zuletzt verfolgt der Pflegeheimroman, wie an anderer Stelle angedeutet, auch eine aufklärerisch-didaktische Zielsetzung. Dem in der Öffentlichkeit kaum präsenten Leben im Pflegeheim wird eine Plattform geschaffen. Dies kann einerseits durch eine beschwingte, märchenhafte Darstellung wie bei Annegret Held geschehen, die um Sympathie für ihre Bewohner und für die überlasteten Pflegekräfte wirbt. Es kann aber auch das Elend der Bewohner nachgezeichnet werden, um die Leser darauf hinzuweisen, dass die Würde alter Menschen, vor allem, wenn sie sich nicht mehr selbst versorgen bzw. ihre Wünsche artikulieren können, gewahrt werden muss. Den gesellschaftlichen Ängsten vor einer Überalterung der Gesellschaft oder der Pflegefalle, auf die die westlichen Gesellschaften zusteuern, wird damit durch einen realistischen Blick begegnet. 78 Dieser beschönigt die Situation nicht, schließt sich aber auch nicht der Panikmache der populärwissenschaftlichen Literatur an. 79 In ihrer Rezension zu Annegret Helds Roman Die letzten Dinge hebt Petra Kohse den „Echtweltgehalt“ der Darstellung hervor und schließt mit der Bewertung: „Im Grunde handelt es sich bei Die letzten Dinge um eine literarische Doku-Soap. Was durchweg wertschätzend gemeint ist.“ 80 Das Pflegeheim ist also mit den vorgestellten Romanen zur Jahrtausendwende in der Literatur angekommen. Einerseits verfolgen die Romane das Ziel, die Leser zu unterhalten. Andererseits sind die literarischen Texte ein Medium zur Verbreitung medizinischer und allgemeiner Kenntnisse über den Lebensraum Pflegeheim. 81 Damit haben sie das Ziel, in eine fremde Welt einzuführen. Ein dritter zentraler Aspekt ist die literarische Innovation am Beispiel einer bislang wenig bekannten Romanform. Als ein solches innovatives, literarisches Projekt möchte ich Marc Wortmanns Witwentröster im Folgenden vorstellen. 78 Oder sie werden durch den Roman erst geschürt. Vgl. Kern, Die Erlöser AG. 79 Vgl. z.B. Schirrmacher oder Gronemeyer. 80 Kohse, Versuch mal Rosenöl. 81 Hier sind die Pflegeheimromane durchaus den Sanatoriums- und Krankenhausromanen in ihrer Zielsetzung vergleichbar. Vgl. Engelhardt, Medizin in der Literatur der Neuzeit. Bd. I, S. 15. <?page no="352"?> 350 6.2 Zivildienst im Witwenheim: Marc Wortmann Der Witwentröster In Marc Wortmanns Roman tritt ein junger Zivildienstleistender als Ich- Erzähler auf. Jan Oltrogge hat gerade sein Abitur bestanden, als er im Oktober 1985 in der Luisenstiftung, einem Altersheim für Frauen in Hamburg-Altona, seinen Wehrersatzdienst ableistet. Der Erzähler versteht seinen Erfahrungsbericht als Anleitung für andere junge Männer, die auch als ›Witwentröster‹ tätig werden wollen. Eine Witwe, so schlägt der Zivildienstleistende im Wörterbuch nach, ist „die ihres Mannes Beraubte“. Der Wortstamm ist „indogermanisch »uidheua«, zu »uidh«, »leer werden«, »Mangel haben«.“ (Wt 17) Aus dieser Definition zieht er den Schluss, dass die alten Frauen nicht nur unter dem Tod ihres Mannes leiden, sondern dass daraus auch ein „Mangel“ resultiert, den es zu beheben gilt. Denn dieser Mangel - so vermutet der junge Mann - ist es, der olfaktorisch die Arbeit im Pflegeheim beherrscht, denn er kommt im Gestank, der von den Witwen ausgeht, zum Ausdruck. Aufgrund der Berufung, die der junge Mann für sich aus dieser Erkenntnis herleitet, besteht der Roman aus exemplarischen Erzählungen von Alltagserlebnissen des Zivildienstleistenden, die immer wieder durch Reflexionen zur Tätigkeit des Witwentröstens unterbrochen werden. In Anlehnung an den zwanzig Monate umfassenden Wehrersatzdienst orientiert sich der Handlungsverlauf an der chronologischen Abfolge der Ereignisse. Die traditionelle Jahreszeitenmetaphorik wird von Wortmann aufgegriffen, wenn der Erzähler den Winter aufgrund des Stillstands der Natur als die den alten Frauen entsprechende Jahreszeit beschreibt, 82 wohingegen die Frauen im Frühjahr von einer Unruhe ergriffen werden (Wt 110, 113), die im April ihren Höhepunkt erreicht (Wt 125) und im Sommer in eine erschöpfte Starre übergeht (Wt 227). Ebenso wie die Abfolge der Jahreszeiten Einfluss auf das Leben im Heim hat, sind die Erfahrungen des jungen Mannes am Jahreslauf ausgerichtet. Neben der chronologischen Ordnung besteht der Erfahrungsbericht aus fünf Teilen, die noch einmal nach Monaten in Kapitel unterteilt sind. Der erste Teil Die trostlosen Witwen beschreibt die Einblicke, die der junge Mann in den ersten drei Monaten im Pflegeheim in den Heimalltag und das Leben der alten Frauen gewinnt. Der Zivildienstleistende ist weitgehend sprachlos und mit der Situation völlig überfordert. Er schafft nicht nur sein Arbeitspensum nicht, er kann auch kaum etwas essen (Wt 52f.) und wird in seinen nächtlichen Träumen von den Witwen verfolgt (vgl. Wt 49f., 75, 81, u.ö.). Dies liegt zum einen daran, dass er eine innere 82 „Für die Witwen ist der Winter die artgemäße Jahreszeit. Im Winter stellt das Leben keine Forderungen. Nichts erinnert daran, dass es draußen, außerhalb des Witwenheims, überhaupt Leben gibt.“ (Wt 66) <?page no="353"?> 351 Abwehrhaltung gegen die aus seiner Sicht in erster Linie durch ihren Gestank ausgezeichneten Witwen aufbaut, 83 dass er sich aber auch erst in der Welt des Pflegeheims und den vielfältigen Anforderungen, die der Arbeitsalltag an ihn stellt, zurechtfinden muss. Von Januar bis April reicht der zweite Teil des Romans mit dem Titel Unruhe. Nicht nur die alten Damen sind unruhig, auch der junge Mann erwacht aus seiner Lethargie. Das Initiationserlebnis hat er in der Silvesternacht. Er geht durch das Haus und hört die Stimmen der Witwen, deren Klagen er auf sich und seine Handlungsunfähigkeit bezieht (Wt 87). Zwar lässt der Erschöpfungszustand des jungen Mannes vermuten, dass es sich bei den Stimmen um Halluzinationen handelt, dennoch hat dieser Abend Auswirkungen auf sein künftiges Verhalten. Er geht im Folgenden direkt auf die Witwen zu und stellt ihnen teilweise auch unangenehme Fragen, um ihren Mangel zu ergründen, und schafft es im Januar erstmals, sein Arbeitspensum allein zu bewältigen. Ab dem Monat Mai zeigen die offensiven Fragen des selbst ernannten Witwentrösters erstmals Wirkung und er feiert einen Sommer der Erfolge. Diese bestehen darin, dass einige Witwen sich erinnern und ihm ihre Lebensgeschichten und Geheimnisse anvertrauen. Es gibt aber auch Witwen, die nicht bereit sind, ihr Leben vor ihm auszubreiten. Diese werden vom Zivildienstleistenden systematisch unter Druck gesetzt. So quält er z.B. die Witwe Heesch damit, dass er immer, wenn er sie in der Nähe weiß, grundlos zu lachen beginnt, abends schleicht er sich sogar vor ihre Tür und lacht, tagsüber ruft er sie an und lacht. Ein solches Verhalten kann kaum als gutgemeinter Hilfeversuch gewertet werden, sondern hierbei handelt es sich eindeutig um seelische Grausamkeit. Da es auch andere zweifelhafte Moment im Verhalten des ›Witwentrösters‹ gibt, die zeigen, dass er psychischen Druck auf die Greisinnen ausübt, und vermuten lassen, dass er ein Problem damit hat, wenn es einer Witwe gut geht, erscheint sein angeblich vorbildliches Verhalten in zunehmend schlechtem Licht. Zu denken gibt auch die Tatsache, dass sich die Frauen ihm kaum entziehen können, der einzige Ausweg ist letztendlich der Tod. 84 83 Treffend ist die Feststellung des Pastors beim ersten Gespräch mit dem Zivildienstleistenden: „Die Frauen, die hier wohnen, haben ihr Leben gelebt. Und Sie laufen herum mit einem Gesicht, als würden Sie sie unerträglich finden! Warten Sie mal ab, bis Sie in diesem Alter sind.“ (Wt 75) 84 Dies ist bei der bereits genannten Witwe Heesch der Fall. Aufgabe des Zivildienstleistenden ist es, ihr Stützstrümpfe anzuziehen. Damit hat er große Schwierigkeiten. Darüber entspinnt sich ein Gespräch, in dem er erfährt, dass die alte Frau, die als Trümmerfrau beim Aufbau nach dem Krieg Schwerstarbeit leisten musste, für die Wehrdienstverweigerung des jungen Mannes nicht viel Verständnis aufbringt. (Wt 57) Damit zieht sie das Interesse des jungen Mannes auf sich. Er versucht, aus ihr eine Geschichte herauszupressen, ohne dass dem Leser klar wird, worum es sich handeln könnte. Als Auslöser gibt der Witwentröster den unbedachten Spruch „Wer lacht, hat <?page no="354"?> 352 So sterben in diesem ›Sommer der Erfolge‹ dreizehn der fünfundvierzig Greisinnen. Der vierte Teil Hochzeit ist der kürzeste. Hier wird das Sommerfest des Heims beschrieben. Die Witwe Meldorf, die sich bislang dem jungen Mann trotz seiner intensiven Bemühungen recht geschickt entzogen hat, möchte an diesem Tag ihre Beziehung zu ihm durch eine etwas ungewohnte Art der Hochzeit - einen Kuss vor allen Anwesenden - auf eine neue Ebene heben. Der Zivildienstleistende hat dieses Ereignis nicht vorhergesehen, ist völlig überrascht, stößt die Witwe entsetzt von sich und ergreift die Flucht. Dieses Ereignis beendet die Tätigkeit des ›Witwentrösters‹ im Luisenstift. Im letzten Romanteil Verbannung und Rückkehr findet er sich im Keller wieder, mit dem Auftrag, alte Wäsche zu sortieren. Statt sich dieser Aufgabe zu widmen, verkriecht er sich wochenlang in alten Kleidern. Erst personelle Engpässe auf der Station ermöglichen ihm im Januar die Rückkehr in den Pflegedienst. Hier ist er einerseits enttäuscht, dass die Ergebnisse seiner Arbeit inzwischen verpufft sind, traut sich aber dennoch nicht mehr, das Witwentrösten wieder aufzunehmen. Freilich endet der Roman an dieser Stelle nicht mit einem Happy End, das den Witwen in Zukunft ihre Ruhe sichert, sondern am Ende steht eine Drohung: Der junge Mann hat sich auf eine Stelle in einem anderen Pflegeheim beworben, die er nach seinem Auszug aus dem Luisenstift antritt. Damit - so ahnt der Leser - beginnt der Kreislauf in einem anderen Heim von vorn. Wie sich in der Inhaltsskizze bereits angedeutet hat, arbeitet Wortmann sehr subtil mit Elementen des Grusel- oder Horrorromans. Die alten Damen werden von dem jungen Mann, der sich als ihr selbst ernannter Retter sieht, weitgehend kontrolliert, isoliert und unter Druck gesetzt. Ich werde im Folgenden anhand des vom jungen Pfleger imaginierten Berufsbilds des Witwentrösters und des in diesem implizit angelegten Alterskonzeptes diesen Prozess der ›Tröstung‹ näher vorstellen. Anschließend werde ich die Charakterisierung des Zivildienstleistenden und einige ausgewählte Altersrepräsentationen analysieren, um den innovativen Beitrag des Romans sowohl zum Pflegeals auch zum Altersdiskurs zu verdeutlichen. Witwentröster - das Berufsbild des Jan Oltrogge und sein Alterskonzept Eine Witwe ist eine Frau, die aufgrund der Tatsache, dass sie ihren Mann verloren hat, an einem Mangel leidet. Daraus schließt Jan Oltrogge: noch Reserven“ (Wt 57, 129) an. Da er auf seine Nachfragen keine befriedigende Antwort erhält, lacht er nun immer, wenn er weiß, dass die Witwe in seiner Nähe ist. Mit dieser Zermürbungstaktik hat er Erfolg. Der Widerstand der zu Beginn schlagfertigen Witwe wird gebrochen, sie bittet um einen Aufschub von sechs Wochen, bis sie ihm ihre Geschichte erzählen wird (Wt 276f.) und stirbt vor dem genannten Termin. <?page no="355"?> 353 Ein Witwentröster ist also einer, der die Leere zu füllen versucht. Der den Mangel behebt. Ein Witwentröster nimmt frei gewordene Plätze ein. Das sind die wesentlichen Kennzeichen meines Berufs. (Wt 17) Diese Definition umschreibt etwas verklausuliert, worin der junge Zivildienstleistende und Ich-Erzähler im Verlauf des Romans seine Aufgabe sieht: Er fühlt sich nicht in erster Linie als Pfleger, sondern die pflegerische Tätigkeit ist der des Witwentröstens untergeordnet. Da das Berufsbild unbekannt ist, versucht der junge Mann im Folgenden immer wieder, sein Aufgabenfeld und vor allem die besondere Bedeutung des Witwentröstens hervorzuheben. In den Reflexionen zum Berufsbild finden sich viele eingängige Floskeln und Bilder, die insofern suggestiv sind, als sie die Bedeutung der Figur des ›Witwentrösters‹ und ihre Leistungen nicht hinterfragen, sondern diese wiederholt positiv hervorheben. So wird der ›Witwentröster‹ beispielsweise als „Joker“ (Wt 169, 183) bezeichnet, der den durch das Witwentum oder andere zentrale Ereignisse im Leben der Frauen freigewordenen Platz einnimmt. Das an sich nicht negativ besetzte Bild erscheint als fraglich, wenn man bedenkt, dass sich der Zivildienstleistende in die Erinnerungen der alten Frauen einschleicht und sie zentrale Erlebnisse noch einmal durchleben lässt. Hierbei handelt es sich meist nicht um angenehme Begebenheiten. So nimmt er z.B. für die Witwe Reimers den Platz eines jungen Russen ein, der sie als junge Frau vergewaltigt hat (Wt 255-257). Welche Auswirkungen die Wiederholung des traumatischen Erlebnisses für die alte Frau hat, wird nicht thematisiert. Einerseits weil der junge Mann mit der - aus seiner Perspektive - erfolgreichen Tröstung das Interesse an der Greisin verliert, andererseits kann es durchaus sein, dass die Folgen die positive Sichtweise, die der junge Mann auf seine eigenen Handlungen hegt, in Frage stellen. Um den angesprochenen „Platz“ im Leben einer Witwe einnehmen zu können, ist viel Vorarbeit nötig. Der junge Mann vergleicht hier seine Arbeit mit einem Fußballspiel. Neben dem im Training erworbenen Wissen und der vielfachen Übung kommt im Alltag der Improvisation eine wichtige Rolle zu: [...] von dem Moment an, wo der Ball sich bewegt, zählt vor allem die Improvisation - das geschulte Ballgefühl, die geschulte Aufmerksamkeit, das geschulte Reaktionsvermögen. [...] Und Improvisation bedeutet nicht: verantwortungslos und aufs Geratewohl zu probieren. Improvisation hat Regeln. Improvisation basiert auf einem Vorrat von Erfahrungen. Improvisation vertraut auf handwerkliches Können, im Fußball wie im Witwentrösten. In den Begriffen des Witwentrösters: Improvisation kennt noch nicht das Ergebnis, aber Improvisation erkennt falsche Töne und weiß Wahrheit von Lüge zu unterscheiden. (Wt 248f.) Dem jungen Mann ist es also wichtig, auf seine besondere Eignung zu verweisen. Intuition und Verantwortungsbewusstsein - so suggeriert seine <?page no="356"?> 354 Gegenüberstellung - sind wichtige Momente seines Handelns. Die Bildlichkeit, die der Pfleger selbst benutzt, stellt aber - z.B. in der Verwendung der Spielmetapher - nicht nur die Verkennung der Realität heraus, sondern legt in einem anderen Vergleich seine wahren Beweggründe offen: Er ekelt sich vor den alten Frauen und ihren Ausscheidungen. Der Gestank im Witwenheim wird von ihm personifiziert und mit einem Drachen verglichen: Der Gestank in einem Witwenheim ändert ständig sein Wesen und seine Gestalt und findet immer neue Ausdrucksformen und Angriffsflächen. Der Gestank in einem Witwenheim ist ein Lebewesen, das die Zimmer und die Korridore beherrscht, das frühmorgens mit den Witwen erwacht, das gähnt, das sich reckt, das müde mit dem Schwanz schlägt, das sich schüttelt, das sich erhebt. Der Gestank in einem Witwenheim ist ein gewaltiger Drache, der in der Dunkelheit den Schlaf der Witwen bewacht, der nun, am Morgen, seine Dämpfe ausstößt, der seinen übel riechenden, schuppigen Leib von einer Seite auf die andere wälzt, der seinen Schwanz wie eine Peitsche knallen lässt, und stinkende Schuppen segeln herab. Und der Witwentröster ist der einzige, der erkennt, dass das ganze Witwenheim von diesem gewaltigen Lebewesen beherrscht wird, dass der gesamte Tagesrhythmus des Witwenheims ausgerichtet ist am Tagesrhythmus dieses gewaltigen Drachens. (Wt 85f., fast wortgleich 295) Der Zivildienstleistende ist nun derjenige, der wie im mittelalterlichen Epos den Kampf mit diesem scheinbar unbesiegbaren Drachen aufnimmt: Der Witwentröster, 19 Jahre alt, gerade aus der Schule entlassen und durch nichts auf seine Aufgabe vorbereitet, steht jeden Morgen allein vor diesem gewaltigen Drachen. Übernächtigt und müde, unbewaffnet und ohne Rüstung, hält er den Atem an und spürt die Gänsehaut auf seinen Armen und auf seinem Rücken und auf seiner Brust. (Wt 86) Damit entwirft der Erzähler eine märchenhafte Konstellation: der mutige junge Mann, der einzog, ein ganzes Witwenheim zu befreien. Zwar gelingt es ihm nicht, den Drachen zu töten, aber immerhin, der Drache liegt still (Wt 295). In dieser Erzählung von Verlassenheit und einsamem Kampf zeigt sich die Problematik des Berufsbildes: Es handelt sich bei dem Kampf des jungen Zivildienstleistenden nicht nur - um Miguel de Cervantes‘ Parodie des mittelalterlichen Heldentums aufzugreifen - um einen Kampf gegen Windmühlen, sondern um eine absolute Verkennung der Realität. Die Gegner des jungen Mannes sind Figuren, die nicht bedrohlich, sondern aufgrund ihres Alters und der dadurch bedingten körperlichen Schwäche auf die Unterstützung der Pflegekräfte angewiesen sind. Als selbst ernannter Tröster versucht der Ich-Erzähler therapeutische Aufgaben zu übernehmen. Allerdings zeigt sich hier, dass der Vergleich mit dem Fußballspiel hinkt. Der junge Pfleger hat keinerlei Ausbildung erfahren. Laienpsychologie und Intuition leiten den jungen Mann, der, anstatt seine pflegerischen Aufgaben zu erledigen, die Frauen psychisch unter Druck setzt und seine Machtposition im Heim ausnutzt. Mit dem Konzept der <?page no="357"?> 355 Witwe entwirft er ein Feindbild, dessen Bedrohung aber nicht verständlich wird, sondern lediglich für den jungen Mann selbst ein Problem darstellt. Das Berufsbild des ›Witwentrösters‹, wie Jan Otrogge es im Verlauf des Romans entwirft, ist nur vordergründig an den alten Frauen und ihren Bedürfnissen ausgerichtet. Es charakterisiert daher in erster Linie den jungen Mann, der den Beruf des ›Witwentrösters‹ ergreift, lässt aber auch implizit Rückschlüsse auf das Alterskonzept zu, das mit dem Leben der alten Frauen in der Luisenstiftung verbunden ist. Problematisch erscheinen mir an der Definition des Begriffs „Witwe“ zwei Aspekte. Das biologische Alter der Frauen, das zwangsläufig zu Beeinträchtigungen führt, wird nicht berücksichtigt. Zwar ist es für die literarische Fiktion durchaus nicht ungewöhnlich, dass bei der Darstellung von Krankheiten weniger die konkrete als vielmehr die symbolische Bedeutung im Vordergrund steht, 85 darin ist ja letztendlich die Leistung der Literatur zu sehen. Dennoch ist die Verdrängung der konkreten Krankheitsursachen bzw. Alterserscheinungen charakteristisch für den Umgang des jungen Mannes mit den teilweise hochbetagten Damen. Er nimmt sie nur so wahr, wie er sie sehen möchte: als auf seine Unterstützung angewiesene, an einem Mangel leidende Frauen. Als einziger Mann im Pflegedienst kann dieser Mangel auch nur von ihm verstanden und bekämpft werden, da er den weiblichen Pflegekräften grundsätzlich unterstellt, dass sie den Mangel nicht wahrnehmen bzw. dieser sich bald auch bei ihnen einstellen wird. 86 Hier kommt also bereits die Hybris des jungen Mannes zum Ausdruck, der in seiner beruflichen Stellung als Zivildienstleistender allen anderen Mitarbeiterinnen untergeordnet ist. Der zweite zentrale Kritikpunkt ist, dass er in den alten Frauen ›Witwen‹ sieht, d.h. dass er sie auf eine Rolle beschränkt. Im Grunde geht er hierbei von einer traditionellen Sichtweise aus, die der Frau keine eigene Identität zubilligt, sondern sie immer nur in Abhängigkeit von ihrem Mann sieht. Historisch gesehen trifft er damit den wunden Punkt der zwischen 1900 und 1915 geborenen Frauen, das durch die Kriegserfahrung der Frauen und die Traumatisierung der Männer problematische Geschlechterverhältnis. Die in der Luisenstiftung lebenden Frauen haben nicht nur zwei Weltkriege, sondern auch die Zwischenkriegsjahre mit Inflation und Weltwirtschaftskrise sowie die Zerstörungen und den Wiederaufbau im Nachkriegsdeutschland erlebt. 87 Für die älteren Bewohnerinnen brachte der 85 Vgl. hierzu beispielsweise Susan Sontags Untersuchung Krankheit als Metapher aus dem Jahr 1978 bzw. die 1989 erschienenen Überlegungen zum Thema Aids und seine Metaphern und das Kapitel Alter und Krankheit in dieser Arbeit. 86 „Ich lernte, dass die Witwen die Schwestern zu künftigen Witwen erziehen“ (Wt 66), vgl. auch Wt 17f. 87 Vgl. zum folgenden historischen Überblick über die historischen Erfahrungen der alten Frauen: Ursula Lehr: Zur Situation der älterwerdenden Frau. Bestandsaufnahme und Perspektiven bis zum Jahr 2000. München 1987. Als Vergleich bezüglich der histo- <?page no="358"?> 356 Erste Weltkrieg schon in der frühen Jugend enorme Veränderungen mit sich: Väter und Brüder und in manchem Fall vielleicht schon der Verlobte zogen in den Krieg. Viele Männer kehrten nicht zurück bzw. waren von den Kriegserlebnissen traumatisiert. Andererseits eröffnete der Krieg vielen Frauen erstmals die Möglichkeit, einen Beruf auszuüben. Die Zwischenkriegszeit war neben den kurzen Goldenen Zwanzigern, in denen sich das Leben normalisierte, geprägt von der Inflation 1924 und der Weltwirtschaftskrise 1929. Die damit einhergehenden finanziellen Belastungen und die hohe Arbeitslosigkeit trafen sowohl junge Familien als auch alleinstehende Frauen schwer. Die Konsolidierung zu Beginn der 1930er Jahre und nach der Machtergreifung Hitlers brachte nicht nur eine weitgehende Vollbeschäftigung, sondern auch für alle Mütter eine bislang nicht gekannte Anerkennung ihrer Leistungen. Indes währte auch diese Phase nur kurz. Mit dem Kriegsbeginn wurden die Frauen wieder ihrer Männer und Söhne beraubt; viele Frauen wurden zu Kriegswitwen und hatten aufgrund des kriegsbedingten Männermangels kaum Hoffnung, einen neuen Lebensgefährten zu finden. Zudem waren im Zweiten Weltkrieg die Auswirkungen an der ›Heimatfront‹ wesentlich härter als im Ersten Weltkrieg. Evakuierungen und Bombenangriffe bedrohten nicht nur das Leben des Einzelnen, sondern hatten den Verlust von Familienangehörigen und des Vermögens zur Folge. Nach dem Krieg waren die Frauen dieser Generation als ›Trümmerfrauen‹ für den Wiederaufbau der deutschen Städte unentbehrlich und wieder enormen körperlichen Belastungen unterworfen. 88 Für die ›jüngeren‹ Pflegeheimbewohnerinnen verschiebt sich diese historische Perspektive etwas. Den Ersten Weltkrieg erlebten sie als Kleinkinder, fühlten sich aber - da die Zeit der Familiengründung mit dem Zweiten Weltkrieg zusammenfiel - um ihre besten Jahre betrogen. Ein Zusammenwachsen der Familie war aufgrund des Kriegseinsatzes der Männer häufig nicht möglich. Wenn diese aus dem Krieg zurückkehrten, waren sie oft traumatisiert, ihren Frauen und Kindern entfremdet und hatten kein Verständnis für die Sorgen und Nöte ihrer Frauen. Das Leben der von Jan Oltrogge betreuten Frauen war also einerseits geprägt durch Entbehrungen, Verzicht, Kummer und Härte und andererrischen Situation ist diese Untersuchung insofern wichtig, als sie mit ihrem Untersuchungsgegenstand genau die Generationen umfasst, die Marc Wortmann in seinem in den Jahren 1985/ 86 spielenden Roman im Blick hat. 88 So weist z.B. der Sohn der Witwe Sudek den jungen Zivildienstleistenden darauf hin, dass die Witwen Achtung verdienen: „Diese Frauen haben es verdient, dass man sich um sie kümmert! Diese Frauen haben zwei Kriege miterlebt! Einen, als sie noch Kinder oder Jugendliche waren, den zweiten, als sie selbst schon Familie hatten. Und nach dem zweiten Krieg standen sie in den Trümmern und hatten ihr Heim und ihre Männer und ihre Söhne verloren! Und haben unser Land wieder aufgebaut! Haben Sie sich das mal bewusst gemacht? “ (Wt 57f) <?page no="359"?> 357 seits durch das Fehlen der Männer. Wenn sie verheiratet waren, war infolge kriegsbedingter Traumatisierung ein normales Eheleben kaum möglich. Unter Traumatisierungen konnten aber auch die Frauen leiden. So sind die Bombennächte an der Stadtbevölkerung nicht spurlos vorbeigegangen, zudem wird z.B. von einer Witwe berichtet, die von einem jungen Russen vergewaltigt wurde (Wt 255-257). Nun sehen sich die von solchen Erfahrungen geprägten Frauen einem jungen, gesunden Zivildienstleistenden gegenüber. Dadurch werden in den alten Frauen lange unterdrückte Gefühle wach, eine Unruhe entsteht unter den Witwen. Die negativen Eheerfahrungen sind ebenso wieder präsent, wie das Aufflammen verloren geglaubter sexueller Lüste irritiert. Beide Gefühle sind unterschwellig vorhanden, auch wenn kaum eine Frau sich ihre Wünsche bewusst eingesteht, und viele aufgrund fortgeschrittener körperlicher und geistiger Abbauprozesse vermutlich keine sexuelle Lust mehr empfinden. Dass die Witwen nicht als asexuelle Wesen betrachtet werden dürfen bzw. ihr hohes Alter nicht das Verschwinden körperlichen Begehrens zur Folge hat, zeigt sich im Ausleben von verborgenen Lüsten, die durchaus als Ersatzbefriedigungen gesehen werden können und mit Scham besetzt sind. Diese verborgenen Sehnsüchte erschweren die Pflege der alten Damen. So wird beispielsweise der nächtliche Schokoladenkonsum der Witwe Schulz und die anschließende Verstopfung in allen Einzelheiten beschrieben (Wt 40). Lust und Schmerz lassen die Witwen ihren eigenen Körper erfahren. Am offensivsten fordert die Witwe Antoni die Befriedigung ihrer körperlichen Bedürfnisse ein. Die alte Frau leidet unter schwerem Rheuma, sodass sie jeden Abend mit einer Salbe eingerieben werden muss. Diese Aufgabe übernimmt der Zivildienstleistende. Allerdings möchte sie nicht nur die schmerzenden Kniekehlen behandelt haben, sondern sie fordert den jungen Mann mit den Befehlen: „Die Innenseite! Fester! Machen Sie doch fester! “ und „Kommen Sie höher, höher, höher, junger Mann! “ (Wt 19) zur Befriedigung ihrer sexuellen Bedürfnisse auf. Eine leichte Form des Trostes (Wt 18) - so kommentiert der selbst ernannte Witwentröster diesen abendlichen Dienst. Die Wünsche und Probleme anderer Frauen sind nicht so intuitiv erfassbar. „Ich bin der Froschkönig! “ (Wt 203) so versucht er beispielsweise die Witwe Ahrens zu beeindrucken, die eine Vorliebe für Galazeitschriften hat, in denen sie die neuesten Ereignisse aus den europäischen Königsfamilien verfolgt. Im von den Brüdern Grimm überlieferten Volksmärchen ist die weibliche Hauptfigur eine junge Königstochter, von der gesagt wird: „Sie war so schön, daß die Sonne selber, die doch so vieles gesehen hatte, sich verwunderte, sooft sie ihr ins Gesicht schien.“ 89 Schönheit kann der junge Jan Oltrogge im Gesicht der 89 Dieser Satz findet sich allerdings erst in der Ausgabe letzter Hand aus dem Jahr 1857. Vgl. Lutz Röhrich: Wage es, den Frosch zu küssen. Das Grimmsche Märchen Nummer Eins in seinen Wandlungen. Köln 1987, S. 13-18. <?page no="360"?> 358 Protagonistinnen keine mehr entdecken. Sie sind alle vom Leben gezeichnet, haben Runzeln und Falten, weißes Haar und Krampfadern. Aber Schönheit ist auch nicht das Thema des Märchens. Zwar bezeichnet sich der junge Zivildienstleistende als „Froschkönig“, möchte man aber Korrespondenzen zwischen dem Witwentröster und dem zitierten Prätext finden, so sind diese auf einer anderen Ebene zu suchen. Der Kinderpsychologe Bruno Bettelheim kommt in seinem Buch Kinder brauchen Märchen zu dem Ergebnis, dass das Märchen Der Froschkönig einen wichtigen Entwicklungsschritt junger Menschen thematisiert: die Überwindung des Ekels vor der Sexualität. 90 In einer Rollenumkehr wird der Ekel von dem jungen Mann als dem „Froschkönig“ auf die alten Frauen projiziert. Somit wird der Ekel, so meine These, zum Hauptantriebsmotiv des Zivildienstleistenden. Dies wird bereits in der ersten Beschreibung des Pflegeheims offensichtlich: Ich konnte die Witwen an ihren Gerüchen erkennen, bevor ich ihre Namen wusste. Jedes Paar Witwenaugen, das mir morgens durch die Bettgitter entgegensah, bedeutete für mich einen bestimmten Gestank. Es gab Witwengesichter, die mir in die Magengrube schlugen, und Witwengesichter, die sträubten mir die Haare auf dem Unterarm. Bei manchen Gesichtern schüttelte es mich, und mir rasten Kälteschauer über den Rücken, andere Gesichter drückten mir auf die Lunge und auf die Atemwege und trieben mich zur Eile an. (Wt 9) Dieser kurze Auszug aus dem Romananfang veranschaulicht, dass es sich bei der wiederholten Beschreibung des Gestanks und seiner Ursachen um einen Euphemismus handelt. Die Empfindung, die ungenannt mitschwingt, ist: Ekel. Ekel, so definiert Winfried Menninghaus, ist das vom Ästhetischen, vom Ideal des Schönen abgegrenzte Andere. 91 Repräsentiert wird dieses Andere, wie sich bereits im Überblick zum Figurenmodell der verliebten Alten gezeigt hat, in Theorie und Praxis sehr häufig im Bild der ekelerregenden alten Frau. Die Gegenüberstellung von schön und hässlich bzw. ekelerregend findet sich auch in Wortmanns Roman. Jan Oltrogge ist mit neunzehn Jahren nicht nur Vertreter der Jugend, sondern die „Musterung auf dem Kreiswehrersatzamt hatte Tauglichkeitsstufe eins ergeben“ (Wt 34). Er ist jung und stark. Damit stellt er das Gegenstück zu den vom Alter gezeichneten Körpern der alten Frauen dar. 92 Diese werden 90 Bruno Bettelheim: Kinder brauchen Märchen. Aus dem Amerikanischen von Liselotte Mickel und Brigitte Weitbrecht. München 1990, S. 335-341. 91 Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Frankfurt a.M. 1999, S. 15. 92 Idealisierung und Typisierung sind die zentralen Stilmittel des Romans. So kommt es z.B. auch, dass keinerlei Freizeitaktivitäten des Zivildienstleistenden genannt werden und der Eindruck erweckt wird, das Pflegepersonal arbeite durchgehend 365 Tage im Jahr, ohne freie Tage oder Urlaub zu haben. Dies entspricht der Omnipräsenz, die den Witwentröster auszeichnet. <?page no="361"?> 359 immer wieder in realistischer Manier und mit Konzentration auf ekelauslösende Details beschrieben. Neben den für Pflegeheimromane unverzichtbaren Speichelfäden, Krampfadern und Verdauungsproblemen werden bei Marc Wortmann vor allem die Gerüche im Pflegeheim ausführlich beschrieben. Damit nimmt der Text nicht nur explizit Bezug auf den „Geruchssinn [als den] eigentliche[n] Stammesort des Ekels“ 93 , sondern stellt den Leser ebenso wie den jungen Zivildienstleistenden auf eine harte Probe, denn die ekelerregenden Ausscheidungen werden ebenso wie die Körper der alten Damen eingehend behandelt. Das Wort Ekel selbst findet sich im ganzen Roman nicht. 94 Dass die Empfindung nicht explizit beim Namen genannt wird, hat mehrere Ursachen, die unter anderem in der Ich- Erzählperspektive begründet sind 95 : Die Achtung vor den alten Frauen verbietet es einerseits, diesen Affekt zu nennen. Andererseits wäre die längerfristige Ausübung der Pflegtätigkeit gar nicht möglich, wenn das Personal sich eingestehen würde, dass es von den Körpern der alten Frauen angewidert ist. Zentral ist aber vor allem der beschriebene Ekel als unausgesprochener Auslöser für die Tätigkeit des Witwentröstens. Ekel kann man mit dem Philosophen Aurel Kolnai fassen als passive Abwehrreaktion des Subjekts. Im Unterschied zu anderen Abwehrreaktionen wie Missfallen, Hass oder Angst zeichnet er sich durch zwei Merkmale aus: Bezweckt die Angst, von ihrem Gegenstand loszukommen, seiner ledig zu werden, der Haß aber, seinen Gegenstand zu vernichten oder doch in einem vernichtungsähnlichen Sinne zu schwächen oder umzuschaffen, so nimmt der Ekel hier etwa eine Mittellage ein: wohl ist ihm in Bezug auf das G e s c h e h e n , das H a n d e l n mehr daran gelegen, seinen Gegenstand aus der Umgebung der Subjektperson zu entfernen, der letzteren also vor ihm ›Ruhe zu schaffen‹ [...]. 96 Aus diesem Wunsch des sich ekelnden Subjekts, den ekelerregenden Gegenstand zu entfernen, leitet er ein zweites Merkmal der Ekelreaktion, eine Bestimmung des ekelauslösenden Gegenstandes her. Dieser muss so beschaffen sein, dass das Subjekt „eine gewisse Geringschätzung ihres Objekts, ein Gefühl der Überlegenheit“ 97 verspürt, andererseits aber eine Faszination vom Auslöser des Ekels ausgeht, die eine „Lust an seinem 93 Aurel Kolnai: Der Ekel. In: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung. Hrsg. von Edmund Husserl. Bd. 10. Halle (Saale) 1929, S. 515-569, hier S. 533. 94 Lediglich das Verhalten der Witwe Wiese wird als „eklig“ bezeichnet. In diesem Zusammenhang ist das Adjektiv aber nicht auf die Empfindung des Witwentrösters bezogen, sondern auf die Lebensweise der Witwe Wiese. Vgl. hierzu S. 371f in dieser Arbeit. 95 Vgl. hierzu Annegret Helds Beschreibung von Schwester Rosalinde, die beim Versorgen der offenen Beine von Herrn Wickert von Ekel übermannt wird (DlD 132f.). Vgl. hierzu auch die allgemeinen Überlegungen zu Körperdarstellungen im Pflegeheimroman in diesem Kapitel. 96 Kolnai, Der Ekel, S. 525f. 97 Ebd., S. 526. <?page no="362"?> 360 Erreger“ 98 voraussetzt. Dieses Ambivalenzmoment zeichnet die Ekelerfahrung vor anderen negativen Affekten aus und kennzeichnet auch das Vorgehen des jungen Mannes. Zwar ist er von den alten Frauen beeindruckt, doch möchte er den Mangel der Witwen beseitigen. Sein wirkliches Ziel und somit das handlungskonstituierende Moment muss also - folgt man Kolnai - darin bestehen, den Auslöser des Ekels, der eine Störung seines Daseins darstellt, 99 zu entfernen. Da er die Witwen nicht einfach aus dem Heim wegschaffen kann, kann er dies nur tun, indem er die Witwen von ihrem krankmachenden Leiden ›erlöst‹, das muss heißen, ihnen den Mann ersetzt, - oder die Witwen selbst entfernt. Da sie mit dem Pflegeheim in ihrer letzten irdischen Wohnung angekommen sind, kann dies in letzter Konsequenz nur ihren Tod bedeuten. Auffallend ist, dass in dem Moment, da er das Gefühl hat, endlich erfolgreich zu sein, innerhalb weniger Tage dreizehn Witwen sterben, obwohl in den vorigen Monaten nicht ein einziges Mal der Tod einer Bewohnerin erwähnt wurde. Ist also die Arbeit des Witwentröstens tatsächlich so positiv zu bewerten, wie dies der Ich-Erzähler darstellt oder handelt es sich nicht vielmehr um Mord durch psychischen Terror? Aufschluss hierüber geben die impliziten Charakterisierungen der Figur des selbst ernannten Witwentrösters. „Der junge Mann, der Witwentröster, der junge Kavalier“? 100 - Die implizite Charakterisierung des Jan Oltrogge Der Witwentröster ist ein Roman über alte Frauen, die in einem Altenpflegeheim leben. Er ist aber auch und in erster Linie ein Roman über einen jungen Zivildienstleistenden, der zum ersten Mal nach dem Verlassen der Schule mit der Realität konfrontiert wird. Daher ist bei dem jungen Mann eine Entwicklung zu erwarten. Statt aber selbst eine Entwicklung zu durchleben, kompensiert er die Leere seines Lebens durch das Eindringen in die Leben fremder Menschen. Er wird „Sohn, Ehemann und Liebhaber. Er [spricht] mit der Stimme des verstorbenen Vaters, sein Lächeln war das Lächeln des verstorbenen Bruders, seine Hände waren die Hände des verstorbenen Mannes [...].“ (Wt 287) Indem er in fremde Rollen schlüpft, möchte er angeblich den Witwen ihren Mangel vor Augen führen und ihnen helfen. Die Kapitelüberschriften beschreiben vordergründig einen Erfolgsprozess. Ist Kapitel drei überschrieben mit Der Witwentröster schafft seine Arbeit nicht, so signalisiert Kapitel acht Der Witwentröster macht Fortschritte, dass der Zivildienstleistende sich langsam im Pflegeheimalltag zurechtfindet. Die Kapitel neun bis zwölf sind unter der Überschrift Ein 98 Ebd., S. 527. 99 Ebd., S. 529. 100 Wt 139. <?page no="363"?> 361 Sommer der Erfolge (Wt 145) zusammengefasst und deuten damit auf eine zufriedenstellende Erfüllung der Aufgaben durch den jungen Mann hin. Da der Roman aus der Perspektive des Zivildienstleistenden geschrieben ist, wird die von ihm angewendete Gewalt nur implizit wahrnehmbar. Die Grenzüberschreitungen des Pflegers werden soweit verklärt, dass auf den ersten Blick tatsächlich der Eindruck entsteht, er würde den alten Frauen den Alltag erleichtern. Der junge Mann, so wurde deutlich, hat nicht aufgrund seines selbst ernannten Witwentröstertums, sondern durch seine Geschlecht und seine Jugend eine Sonderstellung im Heim. Er verkörpert das Andere der alten Frauen. Diese Position weiß er im Lauf des Romans geschickt zu nutzen und auszubauen. Zum einen dadurch, dass er Zwietracht unter den Witwen sät, 101 zum anderen, indem er immer mehr Aufgaben übernimmt. So verteilt er z.B. nachmittags Obst und hat so Zutritt zu allen Zimmern. Mit der zusätzlichen Übernahme der Medikamentenausgabe hat er dann sogar ein Druckmittel gegenüber den alten Frauen in der Hand, das es ihm ermöglicht, den bislang nur durch Fragen aufgebauten psychischen Druck durch den angedrohten Medikamentenentzug zu erhöhen. Dieses Verhalten gegenüber den Witwen lässt an seiner Eignung für den Pflegeberuf ebenso zweifeln, wie seine Selbstwahrnehmung auf Selbstüberschätzung und Ignoranz in Bezug auf die von ihm betreuten Frauen schließen lässt. Dabei missbraucht er nicht nur wiederholt seine Macht, sondern mit der Zeit wirkt er geradezu besessen von seiner Mission: Ich arbeitete fieberhaft. Wenn ich einen Augenblick stillstand, war mir gleich schwindelig. Schweiß tropfte mir von der Stirn. Ich wischte mir mit dem Kittel über die Stirn und arbeitete weiter. Ich brachte Obst, ich brachte Medikamente, ich brachte Wasser, ich stellte Fragen. Und nachts führte ich meinen Kampf gegen die Träume. [...] Die Träume des Witwentrösters waren heilende Träume. Die Träume des Witwentrösters waren die Träume eines Medizinmannes, der sich in Trance versetzt, um die richtige Medizin zu träumen. Und ich wusste: Auch die Witwen träumten von mir. - Woher ich das wusste? Sie sagten es mir. (Wt 229) Die Schwestern bemerken den Machtmissbrauch des jungen Mannes nicht. Dies liegt teils daran, dass sie sich für den bei ihnen wenig beliebten jungen Mann nicht interessieren. Ein Grund hierfür ist aber auch darin zu sehen, dass er als Berufsanfänger nicht in der Lage ist, die sehr hohen Erwar- 101 Ein Beispiel hierfür ist, wie er die Freundschaft der Witwen Rüther und Schumann untergräbt, indem er jeweils in Anwesenheit der anderen Witwe einer der beiden ins Ohr flüstert, wie grauenhaft er die Schweinerei fand, die sie in der letzten Nacht in ihrem Bett verursacht habe. Da die Witwe aus Scham der Freundin nicht mitteilen kann, was der junge Mann gesagt hat, entsteht das Gefühl, die Freundinnen hätten Geheimnisse voreinander. Dann versteckt er die Windeln der Witwe Rüther an unterschiedlichen Orten, u.a. in der Handtasche der Witwe Schumann. Damit ist die Freundschaft der alten Damen beendet (Wt 206-208). <?page no="364"?> 362 tungen - er soll die Stationsleiterin als Pflegekraft ersetzen, damit diese sich um die Verwaltung kümmern kann - zu erfüllen